Tourism NOW: Industrie und Tourismus
Zwischen Fabrikruinen, Markenwelten und Kreativquartieren
0613
2022
978-3-7398-8190-4
978-3-7398-3190-9
UVK Verlag
Albrecht Steinecke
10.24053/9783739881904
Vom Industrierelikt zum Tourismusmagnet
Es müssen nicht immer Berge oder Strände sein. Auch Industrielandschaften, Zechen oder Fabrikhallen haben touristisches Potenzial, wie Albrecht Steinecke in diesem Band zum Industrietourismus zeigt.
Dabei geht er auf die Merkmale und Besonderheiten dieses jungen Tourismussegments ein und skizziert im Detail dessen Bedeutung, etwa für strukturschwache Regionen. Zudem zeigt er Erfolgsfaktoren, Marketingstrategien und Zukunftsperspektiven auf.
Eine spannende Lektüre für Destinationsmanager:innen und für Verantwortliche in historischen Industriedenkmälern. Für Studierende und Lehrende an Tourismushochschulen bietet das Buch viele Impulse.
<?page no="0"?> mit Beispielen aus aller Welt Albrecht Steinecke Industrie und Tourismus Zwischen Fabrikruinen, Markenwelten und Kreativquartieren <?page no="1"?> Tourism NOW: Industrie und Tourismus <?page no="2"?> Nach dem Studium in Kiel und Dublin war Prof. Dr. Dr. h. c. (BSU) Albrecht Steinecke zunächst Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin und der Universität Bielefeld. Zu den weiteren beruflichen Stationen zählen langjährige Tätigkeiten als Geschäftsführer des Eu‐ ropäischen Tourismus Instituts (Trier) und als Hochschullehrer an der Universität Paderborn. Auf der Grundlage seiner Forschungs- und Beratungserfahrungen hat er zahlreiche, teilweise preisgekrönte Studienbücher zu aktuellen touristischen Themen verfasst. <?page no="3"?> Albrecht Steinecke Tourism NOW: Industrie und Tourismus Zwischen Fabrikruinen, Markenwelten und Kreativquartieren UVK Verlag · München <?page no="4"?> DOI: https/ / doi.org/ 10.24053/ 9783739881904 © UVK Verlag 2022 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2702-7821 ISBN 978-3-7398-3190-9 (Print) ISBN 978-3-7398-8190-4 (ePDF) ISBN 978-3-7398-0583-2 (ePub) Umschlagabbildung: © Travel_Motion | iStockphoto | Altes Fabrikgebäude illuminiert bei Nacht, Land‐ schaftspark Duisburg Nord. Autorenbild: © Universität Paderborn Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 1 13 1.1 14 1.2 20 1.3 24 2 31 2.1 32 2.2 35 2.3 42 2.4 46 2.5 52 2.6 59 2.7 64 3 73 4 79 4.1 82 4.2 89 4.3 96 4.4 105 4.5 115 5 129 139 143 159 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Wertschätzung der Industriekultur: Pioniere - Pressure-Groups - Förderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Industrietourismus: Merkmale - Bedeutung - Nachfrager . . . . . . . . . . . . . . . Die Effekte des Industrietourismus: Einnahmen - Arbeitsplätze - Emotionen . . Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Industrielle Revolution: Innovationen - Umbrüche - Missstände . . . . . . . . . Die altindustriellen Regionen: Probleme - Herausforderungen - Perspektiven . Lost Places und Geisterstädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stillgelegte Industriebetriebe und Industriemuseen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabrikgebäude, Unternehmervillen und Arbeitersiedlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale Traditionen und Bräuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebsbesichtigungen, Firmenmuseen und Markenwelten (Brand Lands) . . . . Das Destinationsmanagement altindustrieller Regionen: Erfahrungen eines Praktikers Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen . . . . . . . . Profilierung - die Nutzung des industriekulturellen Erbes als Alleinstellungsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Netzwerkbildung - der gemeinsame Marktauftritt mit anderen Anbietern . . . . . Erlebnisorientierung - die kundengerechte Gestaltung des Angebots . . . . . . . . . Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungs- und Tabellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> Vorwort „Du bist keine Schönheit Vor Arbeit ganz grau Du liebst dich ohne Schminke Bist ’ne ehrliche Haut Leider total verbaut Aber grade das macht dich aus […] Du Blume im Revier.“ Herbert Grönemeyer „Bochum“ (1984) Hässlich, düster und verschandelt - auf den ersten Blick entsprechen Industriestädte nicht den gängigen Vorstellungen von einem Traumreiseziel, das seinen Gästen einen unbeschwerten Auf‐ enthalt in einer schönen Umgebung bietet. Ihr herber Charme und die offene Art ihrer Bewohner scheinen sich erst bei genauerem Hinschauen zu erschließen - und solche Eigenschaften sind touristisch auch nur schwer zu vermarkten. Dieses spröde Flair ist für Städte und Regionen ein großes Handicap, wenn sie sich erfolgreich auf dem Tourismusmarkt positionieren wollen. Dort agieren bereits zahlreiche Anbieter, die über eine attraktive Produktpalette verfügen und die Erwartungen ihrer anspruchsvollen Kunden erfüllen. Kein Wunder also, dass die „Blume im Revier“ und andere Industriestädte lange Zeit im Schatten von eleganten Seebädern, pittoresken Bergdörfern und pulsierenden Kulturmetropolen standen - und allenfalls Destinationen eines beruflich bedingten Reisever‐ kehrs waren. Angesichts dieser harten Konkurrenz und ungünstigen Voraussetzungen ist es umso erstaun‐ licher, dass sich einige altindustrielle Räume - wie Phönix aus der Asche - in den vergangenen vier Jahrzehnten zu populären Reise- und Ausflugszielen entwickeln konnten (der Begriff „altindus‐ triell“ bezieht sich auf früh industrialisierte Räume, die innerhalb des Industrialisierungsprozesses eine Pionierrolle eingenommen haben). Ihre Renaissance verdanken sie vor allem dem Erhalt und der touristischen Erschließung spektakulärer Industrierelikte. Von Orten der Arbeit und Produktion zu Stätten der Erholung und des Konsums - dieser Transformationsprozess ist jedoch nicht durch eine spontane Neugier und ein leidenschaftliches Begehren der Nachfrager ausgelöst worden. Vielmehr bedurfte es enormer Anstrengungen von Denkmalpflegern, Politikern und internationalen Organisationen, um das industriegeschichtliche Erbe zu bewahren und das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken. Inzwischen haben immer mehr Industrieregionen das ökonomische Potenzial des Tourismus erkannt und ein breites Spektrum zeitgemäßer Angebote entwickelt. Es reicht von Industriemu‐ seen und Grubenfahrten über Rundgänge und Themenrouten bis hin zu Vorführungen und Events. Damit sprechen sie vor allem ein Reisepublikum an, das auf der Suche nach neuen Erlebnissen jenseits der ausgetretenen Touristenpfade ist. Informative und erlebnisreiche Zeitreisen in die Geschichte der Industriellen Revolution sind allerdings nur ein Marktsegment des Industrietourismus. Der Begriff umfasst zudem die touristische Nutzung der gegenwärtigen Industriekultur, denn neben öffentlichen Einrichtungen treten auch zahlreiche produzierende Unternehmen als Akteure auf dem Freizeit- und Reisemarkt auf. Im Rahmen ihrer Kommunikationspolitik nutzen sie öffentliche Werksführungen, eigene Firmenmuseen und aufwändig gestaltete Markenwelten (Brand Lands), um die Besucher zu <?page no="8"?> informieren, ihre Produkte emotional aufzuladen und die Markenloyalität der Konsumenten zu steigern. Parallel zur Entwicklung des Industrietourismus hat sich die Tourismuswissenschaft mit diesem Phänomen beschäftigt. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, den aktuellen Stand der Forschung verständlich und anschaulich darzustellen - u. a. auch durch zahlreiche Beispiele aus der touristischen Praxis. Im Mittelpunkt steht dabei die Beantwortung folgender Fragen: ■ Was waren die treibenden Kräfte bei der Entwicklung des Industrietourismus? ■ Welche Besonderheiten weist dieses Marktsegment auf ? ■ Was sind typische Merkmale, Motive und Verhaltensweisen von Industrietouristen? ■ Wie sind die vielfältigen Aspekte der historischen und gegenwärtigen Industriekultur bislang touristisch in Wert gesetzt worden? ■ Welche Bedeutung hat der Industrietourismus in Deutschland und anderen Ländern? ■ Welche wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen werden durch die industrietouristische Nachfrage ausgelöst? ■ Welche Perspektiven bestehen für dieses Marktsegment und welche Ansprüche werden die Kunden in Zukunft haben? Als Grundlage dient dabei der breite Fundus an wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema, die seit den 1980er-Jahren auf nationaler und internationaler Ebene erarbeitet worden sind. Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass sie vor Beginn der Coronapande‐ mie (2020) entstanden sind. Deren Auswirkungen auf die künftige Entwicklung des Industrie‐ tourismus sind gegenwärtig schwer abzuschätzen: Kurzfristig haben die industrietouristischen Attraktionen - wie alle Unternehmen der Reisebranche - einen erheblichen Rückgang der Gästezahlen verzeichnet; mittelfristig wird jedoch wieder ein Anstieg der Nachfrage erwartet. Da in den Bundesländern bzw. Staaten unterschiedliche Aktivitäts- und Mobilitätseinschrän‐ kungen bestanden, ist es zu einer Verzerrung des Wettbewerbs gekommen (u. a. zwischen Outdoor- und Indoor-Einrichtungen). Die aktuellen Daten bilden also die atypische Krisen‐ situation ab; sie können nicht als Basis generalisierender Aussagen benutzt werden. Aus Gründen der Validität und Vergleichbarkeit beziehen sich die quantitativen Angaben zu Besucherzahlen, regionalwirtschaftlichen Effekten etc. deshalb jeweils auf die Jahre vor Beginn der Coronapandemie. Bei den Arbeiten an diesem Buch bin ich auf vielfältige Weise unterstützt worden; dafür möchte ich mich bei allen Beteiligten herzlich bedanken: ■ Dipl.-Geogr. Axel Biermann (Geschäftsführer der Ruhr Tourismus GmbH, Oberhausen) hat sich die Zeit genommen, in einem Interview über seine langjährigen Erfahrungen im Destinationsmanagement einer altindustriellen Region zu berichten. ■ Prof. Dr. Angela Schwarz und Dr. Daniela Mysliwietz-Fleiß (Universität Siegen - Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte) sowie Prof. Dr. Marcus Herntrei, MBA und Yuliya Tsvilik, M. A. (Technische Hochschule Deggendorf - Fakultät European Campus Rottal-Inn) haben mir den Zugang zu wichtigen Literaturquellen ermöglicht. ■ Tim, mein Sohn, hat die heikle Aufgabe übernommen, das Manuskript zu korrigieren und konstruktiv zu kommentieren. ■ Dipl.-Ökonom Rainer Berger (UVK Verlag, München) war erneut ein kreativer, kompetenter und zuverlässiger Ratgeber. 8 Vorwort <?page no="9"?> Mein besonderer Dank gilt jedoch meiner Frau Renate, die sich auch bei der Arbeit an diesem Band - wie bei meiner wissenschaftlichen Tätigkeit in den vergangenen 40 Jahren - als eine liebevolle und sachkundige, kritische und aufmunternde Gesprächspartnerin erwiesen hat. Überlingen, im Frühjahr 2022 Albrecht Steinecke Genderhinweis Aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet der Autor auf verkürzte Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinneren und verwendet in der Regel das gene‐ rische Maskulinum. Damit folgt er der Empfehlung des „Rats für deutsche Rechtschreibung“ vom 26.03.2021. 9 Vorwort <?page no="10"?> Der wasserspeiende Riese mit seinen glitzernden Augen scheint die unterirdischen Schätze zu bewachen, die in den Swarovski Kristallwelten in Wattens bei Innsbruck präsentiert werden. Die Markenwelt des österreichischen Glas- und Schmuckkonzerns mit ihren zahlreichen „Wunderkammern“ basiert auf Ideen des Künstlers André Heller. Seit ihrer Eröffnung im Jahr 1995 gehört sie zu den populärsten Attraktionen der Alpenrepublik. Im Jahr 2019 verzeichnete sie ca. 650.000 Besucher; neben Österreich, Deutschland und Italien gehörte dabei Indien zu den wichtigsten Herkunftsländern der Gäste. Markenwelten (Brand Lands) Dorfplätze der Großstadt - die Trinkhallen im Ruhrgebiet sind weit mehr als nur Verkaufsstände für Getränke, Süßigkeiten, Zeitungen etc. Bereits seit dem 19. Jahrhundert spielen sie in den Stadtvierteln eine wichtige Rolle als informelle soziale Treffpunkte. Die Ruhr Tourismus GmbH hat das touristische Potenzial der ca. 18.000 Büdchen bereits mehrere Male durch einen „Tag der Trinkhallen“ genutzt. Bei dem regionalen Event dienen die Trinkhallen als Schauplätze von Live-Musik, poetry slams , Mitmachaktionen etc. Orte der Alltagskultur Ein hoch aufragendes Fördergerüst, alte Schuppen mit Wellblechdächern sowie rostige Schienen und Loren - solche Relikte gehören zum Standardinventar vieler Industriemuseen. In Wales erinnert das Big Pit National Coal Museum an die zweihundertjährige Geschichte des Bergbaus in dieser Region; aufgrund ihrer universellen kulturellen Bedeutung wurde sie im Jahr 2000 in die UNESCO- Welterbeliste aufgenommen. Das Besucherbergwerk ist einer der Ankerpunkte der „Europäischen Route der Industriekultur (ERIH)“ und verzeichnet jährlich ca. 170.000 Besucher. Industrierelikte Wie eine Filmkulisse aus einem Western mit John Wayne, Clint Eastwood oder Kevin Costner - die windschiefen Gebäude in Bodie (Kalifornien) stammen teilweise noch aus der Zeit des Goldrausches im 19. Jahrhundert. Als sich der Betrieb der Minen in den 1930er-Jahren nicht mehr lohnte, kam es zu einem rapiden Niedergang der einstigen Boomtown. Die Einwohner zogen in andere Orte um und ließen viele Möbel, Alltagsgegenstände und Kleidungsstücke in den Häusern zurück. Da die Geisterstadt in diesem Zustand weitgehend erhalten blieb, bietet sie ihren Besuchern einen anschaulichen Einblick in die früheren Lebensverhältnisse. Geisterstädte <?page no="11"?> Eine dreischiffige Basilika mit mächtigen Pfeilern, eleganten Spitzbögen und filigranen Zierrippen - die Gießhalle der Sayner Hütte in Bendorf wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem neogotischen Stil errichtet. Die Gusseisen-Fertigteile stammten aus der eigenen Produktion und der Hochofen stand genau an der Stelle, wo sich in den frühchristlichen Kirchenbauten der Chor befand. Neben den Gießereien in Gleiwitz und Berlin war das Werk eine der größten in Preußen. Zunächst wurden dort Rohre, Schienen, Kanonen und Munition für die nahegelegenen Festungen in Koblenz hergestellt, später auch zahlreiche Artikel aus Eisenkunstguss wie Leuchter, Teller, Schmuck etc. Architekturikonen Ein repräsentatives Portal für ein technisches Meisterwerk - mit Hilfe des Schiffshebewerks Henrichenburg in Waltrop konnten die Schiffe auf dem Dortmund-Ems-Kanal eine Geländestufe von 14 Metern Höhe überwinden, für die sonst mehrere Schleusen notwendig gewesen wären. Bei ihrer Eröffnung im Jahr 1899 wurde die Anlage als Symbol des wirtschaftlichen Fortschritts gefeiert, doch in den 1960er-Jahren drohte ihr der Abriss, weil sie aufgrund der größeren Schiffe funktionslos geworden war. Es ist dem Engagement einer lokalen Bürgerinitiative zu verdanken, dass das Schiffshebewerk erhalten blieb. Nach dem Umbau in ein Museum hat es sich zu einem beliebten Ausflugs- und Reiseziel entwickelt. Technische Denkmäler Ind us t r ie un d T ouri s mus <?page no="13"?> 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? „Eine mittelalterliche Garnisonsstadt mit Stadtmauer, Fachwerkhäusern und Fürstenresidenzen schön finden, das kann jeder. Aber auf dem Gasometer in Oberhausen stehen, sich umgucken und sagen: Wat ’ne geile Gegend! , das muss man wollen.“ Goosen 2010 1 | Ist das ein Denkmal oder kann das weg? Als der Gasometer in Oberhausen im Jahr 1988 stillgelegt wurde, sorgte diese Frage in der Stadt für leidenschaftliche Diskussionen. Durch das Engagement von Bürgern, Denkmalpflegern und Politikern konnte der Abriss des einst größten Gasbehälters in Europa verhindert werden. Seit der Umwandlung in eine Ausstellungshalle (mit einer Aussichtsplattform in 117 Meter Höhe) hat er sich zu einem bekannten Veranstaltungsort und einem markanten Wahrzeichen der Stadt entwickelt. Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters - diese Tatsache gilt nicht nur für Menschen und Objekte, sondern auch für Landschaften. Bei der Wahrnehmung und der Bewertung von Natur- und Kulturräumen wie Gebirgen, Küstenregionen etc. handelt es sich nicht um anthropologische Konstanten; vielmehr haben sie sich im Verlauf der vergangenen 200 Jahre grundlegend verändert. Von den Bewohnern wurden die Alpen z. B. zunächst als unheimlich und gefährlich empfunden und für die wenigen Reisenden waren sie eher bedrohliche Transiträume als attraktive Reiseziele. Es bedurfte einer völlig andersartigen Sichtweise, um sie zu den vielbesuchten Destinationen werden zu lassen, die sie gegenwärtig sind. Der neue touristische Blick auf die Berge und auch das Meer wurde <?page no="14"?> wesentlich durch Maler und Literaten geprägt, die deren elementare Kraft und ungebändigte Wildheit romantisch verklärten bzw. dramatisch überhöhten - es sei nur an die Gemälde von Caspar David Friedrich und William Turner oder die Gedichte von Lord Byron und Albrecht von Haller erinnert. Diese künstlerische Idealisierung löste seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunächst bei europäischen Adeligen und Besitzbürgern ein großes Interesse an entlegenen Bergdörfern und verschlafenen Fischersiedlungen aus. Mit ihrem Reiseverhalten fungierten sie als gesellschaftliche Trendsetter für die wachsende Mittelschicht der Beamten, Angestellten etc. In der Folge erwies sich die Industrielle Revolution als entscheidender Steuerungsfaktor für die Expansion des Tourismus und die Ausdehnung der Reiseperipherie. Speziell der Bau von Eisenbahn‐ strecken ermöglichte es nun einem massenhaften Reisepublikum, schnell, bequem und preisgünstig nach Brighton, Margate und Blackpool oder Davos, St. Moritz und Zermatt zu gelangen. Während viele periphere und ländliche Regionen von diesem Boom profitieren konnten, führten die Industriestädte lange Zeit ein touristisches Schattendasein. Sie verfügten nicht über die Attraktivität weitläufiger Residenzstädte, gepflegter Kurorte oder mondäner Seebäder; vielmehr wurde ihr Stadtbild durch rasch errichtete industrielle Funktionsbauten geprägt. Sie waren keine Orte des Müßiggangs und des Konsums, sondern der Arbeit und Produktion. Sofern die urbane Bevölkerung über die entsprechende Freizeit und die finanziellen Mittel verfügte, versuchte sie, dem alltäglichen Umfeld mit seinen rauchenden Schornsteinen, überbevöl‐ kerten Wohnquartieren und mangelhaften hygienischen Bedingungen an den Wochenenden bzw. während des Jahresurlaubs zu entfliehen. An dieser Situation änderte sich lange Zeit nichts: Bis in die 1980er-Jahre waren die Industrieregionen in Europa und den USA keine Zielgebiete, sondern vor allem touristische Quellmärkte (abgesehen von einem Geschäfts- und Dienstreiseverkehr). Um den ästhetischen Reiz, die architektonische Qualität und auch die touristische Attraktivität von Fördergerüsten, Stahlwerken und Maschinenhallen zu erkennen, waren - wie beim Gebirge und dem Meer - erneut ein grundlegender Perspektivwechsel und eine positive Umdeutung erforderlich. 1.1 Die neue Wertschätzung der Industriekultur: Pioniere - Pressure-Groups - Förderer Die Initiative ging in diesem Fall nicht - wie im 18. Jahrhundert - von Malern und Schriftstellern aus, sondern von weitsichtigen Persönlichkeiten, diversen gesellschaftlichen Interessengruppen sowie mehreren internationalen und staatlichen Organisationen. Zunächst waren es Fotografen, die das öffentliche Interesse an der Industriekultur weckten. Zu den Vorreitern der deutschen Industriefotografie gehören u. a. Bernd und Hilla Becher. Seit den 1970er-Jahren bereisten sie mehrere europäische Industrieregionen, um dort Hochöfen, Gasbehäl‐ ter, Wassertürme etc. in eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu dokumentieren. Da viele dieser Gebäude vom Abriss bedroht waren, wurden die beiden zu wichtigen Chronisten des aus‐ gehenden Industriezeitalters. In dieser Tradition stehen gegenwärtig auch die zeitgenössischen Fotografen, die ihre Arbeiten auf kuratierten Internetplattformen wie „Pixelprojekt_Ruhrgebiet“ oder „PixxelCult“ publizieren (vgl. Liedtke 2015, S. 31). Darüber hinaus setzten sich auch Architekten, Denkmalschützer, Historiker und Archäologen für die Bewahrung des industriekulturellen Erbes ein. Berühmte Architekten wie Fritz Schupp und Martin Kremmer hatten bereits in den 1930er-Jahren auf den besonderen architektonischen Wert von Industriebauten hingewiesen. 14 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="15"?> „Wir müssen erkennen, dass die Industrie mit ihren gewaltigen Bauten nicht mehr nur ein störendes Glied in unserem Stadtbild und in der Landschaft ist, sondern ein Symbol der Arbeit, ein Denkmal der Stadt, das jeder Bürger mit wenigstens ebenso großem Stolz dem Fremden zeigen soll wie seine öffentlichen Gebäude.“ Fritz Schupp/ Martin Kremmer (Architekten zahlreicher Industriebauten) (1931) (vgl. Buschmann 2013, S. 1) Ein allgemeiner öffentlicher Bewusstseinswandel fand in Deutschland allerdings sehr viel später statt (vgl. Schwarz 2008a, S. 52-54; Föhl 2014, S. 200-201; Meier/ Steiner 2018, S. 22-23): ■ In der Deutschen Demokratischen Republik wurden bereits in den 1950er-Jahren erste In‐ ventarisierungen des industriellen und technischen Erbes durchgeführt, das - entsprechend der staatlichen Ideologie - als Beweis für die zivilisatorischen Leistungen der werktätigen Bevölkerung galt. ■ In der Bundesrepublik Deutschland reichen die Anfänge der Industriedenkmalpflege bis in die 1970er-Jahre zurück. Zu den ersten Maßnahmen gehörte das „Nordrhein-Westfalen-Pro‐ gramm 1975“, in dem die Landesregierung öffentliche Zuschüsse für den Erhalt industriege‐ schichtlicher und technischer Anlagen zur Verfügung stellte. Außerdem wurden mehrere stillgelegte Einrichtungen in Industriemuseen umwandelt und in den Denkmalämtern neue Stellen für fachlich qualifizierte Mitarbeiter geschaffen. 2 | Eine Kathedrale der Arbeit - die spektakuläre Maschinenhalle der Zeche Zollern II/ IV in Dortmund ist 1902/ 03 nach Plänen des Architekten Bruno Möhring errichtet worden. Aufgrund einer Petition von Künstlern, Kunsthisto‐ rikern und Architekten an den NRW-Ministerpräsidenten wurde das Jugendstilgebäude im Jahr 1969 als erstes Industriedenkmal Westfalens unter Denkmalschutz gestellt. 15 1.1 Die neue Wertschätzung der Industriekultur: Pioniere - Pressure-Groups - Förderer <?page no="16"?> Darüber hinaus engagierten sich zunehmend auch Einwohner für den Erhalt industriegeschichtlicher Gebäude bzw. Anlagen (vgl. Berger/ Golombek/ Wicke 2015, S. 28; Claßen 2021; Scheytt 2021): ■ Nach langen Auseinandersetzungen gelang es z. B. einer Bürgerinitiative in Oberhausen, den geplanten Abriss der Siedlung Eisenheim in den 1970er-Jahren zu verhindern. Die anderthalb- und zweigeschossigen Häuser waren bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts für Hüttenarbeiter und Bergleute errichtet worden; damit gilt die Siedlung als älteste Arbeiter- und Zechenkolonie des Ruhrgebiets. ■ Durch eine ähnliche Aktion konnte auch der Gebäudekomplex der Zeche Carl in Altenessen gerettet werden, der seitdem als soziokulturelles Kultur- und Kommunikationszentrum genutzt wird. ■ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es in Deutschland ca. 800 Initiativ-Gruppen für Industriedenkmalpflege - davon allein in Nordrhein-Westfalen ca. 350. Denkmal - kulturelles Erbe - Heritage: grundlegende Begriffe für unterschiedliche Erinnerungskonzepte Fotografen, Politiker, Denkmalpfleger, Einwohner und (mit einem Zeitverzug) auch Destina‐ tionsmanager - jede dieser Interessengruppen engagiert sich aus spezifischen Motiven für den Erhalt von Industrierelikten. Die jeweiligen Ziele kommen auch in der Verwendung unterschiedlicher Begriffe zum Ausdruck (vgl. Prietzel 2009, S. 55-56; Meier/ Steiner 2018): ■ Bei Denkmälern handelt es sich um Gebäude und Objekte, die aus wissenschaftlicher, gesellschaftlicher bzw. politischer Sicht als wichtige Zeugnisse der kulturellen Vergan‐ genheit bewertet werden. Ihre Errichtung bzw. ihr Erhalt dienen dazu, die Betrachter an bedeutende Ereignisse bzw. Persönlichkeiten zu erinnern und das Identitäts-, Heimats- und Geschichtsbewusstsein zu stärken. Denkmäler gehören zu den elementaren Bestand‐ teilen einer öffentlichen Gedenkkultur, die durch den jeweiligen Zeitgeist bestimmt wird (der z. B. bei den Kriegerdenkmälern des Ersten und Zweiten Weltkriegs besonders deutlich wird). ■ Der Begriff des industriekulturellen Erbes beinhaltet hingegen nicht nur die Würdigung positiver historischer Geschehnisse - z. B. beeindruckender technischer Innovationen oder herausragender Leistungen von Unternehmern und Arbeitern. Vielmehr umfasst er auch die Reflexion über die Schattenseiten der Industriegeschichte - z. B. die ausbeu‐ terischen Arbeitsverhältnisse in der Frühphase der Industriellen Revolution oder die Zwangsarbeit in diktatorischen Herrschaftssystemen. ■ Unter dem Terminus des Heritage werden zumeist kulturtouristische Projekte subsu‐ miert, die überwiegend kommerzielle Verwertungsinteressen verfolgen. In ihnen findet eine gegenwartsorientierte Auswahl historischer Ereignisse statt, bei der die sperrigen und „dunklen“ Dimensionen der Industrialisierung weitgehend ausgeblendet werden. Stattdessen wird die Vergangenheit in einer unterhaltsamen und leicht konsumierbaren Weise vermittelt - z. B. durch Reenactments in historischen Erlebniswelten oder anima‐ tive „Mitmachaktionen“ in Museen. Angesichts der unterschiedlichen und teilweise divergierenden Interessen kommt es zwischen den Akteuren immer wieder zu Konflikten über den angemessenen Umgang mit Industrierelik‐ ten - speziell zwischen Touristikern, die für eine Erschließung plädieren, und Denkmalpfle‐ gern, die sich für den sachgerechten Erhalt der Objekte einsetzen (bei Vorträgen hat der Autor 16 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="17"?> z. B. mehrfach erlebt, dass Denkmalpfleger in den anschließenden Diskussionen erklärten, sie seien überhaupt nicht an einer touristischen Nutzung „ihres“ Denkmals interessiert). Als konfliktträchtig erweist sich auch das Verhältnis zwischen Denkmalpflegern und lokalen Initiativen, die sich speziell für die Instandsetzung historischer Maschinen und Lokomotiven einsetzen. Sie legen häufig größeren Wert auf eine spektakuläre Inbetriebnahme als auf eine historisch korrekte Rekonstruktion (vgl. Cossons 2008, S. 19). Trotz des zivilgesellschaftlichen und politischen Engagements zur Bewahrung des industriekul‐ turellen Erbes spielten Industrierelikte und -regionen weiterhin noch keine wichtige Rolle im Tourismus. Offensichtlich bedurfte es zusätzlicher Impulse, um eine breite Öffentlichkeit auf deren kulturellen Wert und ungewöhnliche Attraktivität aufmerksam zu machen. Als Gunstfaktor für spätere Entwicklung des Industrietourismus hat sich dabei die Aufnahme historischer Industrieeinrichtungen in die UNESCO-Welterbeliste erwiesen. In dieser Liste waren zunächst (zumindest in Europa) nur Kathedralen, Burgen, Schlösser, historische Stadtquartiere und archäologische Stätten vertreten - also Objekte, die unter traditionellen kunst- und archi‐ tekturhistorischen Kriterien als besonders wertvoll galten. Mit den Salzbergwerken in Wieliczka und Bochnia (Polen) wurden im Jahr 1978 erstmals auch Industrierelikte entsprechend gewürdigt (vgl. Chybiorz/ Piwowar 2017, S. 7). Seitdem sind weltweit ca. 50 Objekte der Industrie und Technik in die Liste aufgenommen worden; dazu zählen u. a. stillgelegte Industriebetriebe, historische Infrastruktureinrichtungen (Kanäle, Brücken, Schiffshebewerke etc.), umfangreiche Industriekomplexe, Industriedörfer bzw. -städte sowie weitläufige Industriekulturlandschaften. Angesichts einer Gesamtzahl von mehr als 1.100 Einträgen spielen diese Relikte allerdings immer noch eine geringe Rolle im breiten Spektrum der Welterbestätten (vgl. Röhr 2015, S. 9; Höhmann 2016, S. 19). Deutsche Industrie- und Technikobjekte auf der UNESCO-Welterbeliste - die Leuchttürme des industriekulturellen Erbes ■ Rammelsberg - Museum & Besucherbergwerk, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft (1992; Erweiterung 2010) ■ Völklinger Hütte, Völklingen (1994) ■ Industriekomplex Zeche Zollverein, Essen (2001) ■ Fagus-Werk, Alfeld (2011) ■ Hamburger Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus (2015) ■ Augsburger Wassermanagement-System (2019) ■ Montanregion Erzgebirge/ Krušnohoří (2019; Deutschland/ Tschechien) Die Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste stellt für historische Industrieeinrichtungen den kulturellen und zugleich touristischen Ritterschlag dar. Sie gelten nun - quasioffiziell - als global bedeutende „Meisterwerke der menschlichen Schöpferkraft“ und stehen damit auf einer Ebene mit namhaften Kulturstätten wie der Akropolis, der Chinesischen Mauer oder den Pyramiden von Gizeh (vgl. Kesternich 2020, S. 28). Obwohl mit der Auszeichnung primär ihr kultureller Wert gewürdigt wird, nutzen die Welterbestätten den Titel auch als touristisches Gütezeichen, mit dem sie sich - speziell auf dem internationalen Markt - als einzigartige Besucherattraktionen vermarkten. Allerdings sind 17 1.1 Die neue Wertschätzung der Industriekultur: Pioniere - Pressure-Groups - Förderer <?page no="18"?> empirische Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass das begehrte Label kaum zu einer Steigerung der Nachfrage beiträgt (max. +3 Prozent). Allenfalls die weniger bekannten Welterbestätten können in stärkerem Maße davon profitieren (vgl. PwC 2007, S. 82; Quack/ Wachowiak 2013, S. 291-292; Voit 2017, S. 101-102). Während die UNESCO vor allem für die symbolische Nobilitation der Industriekultur sorgte, trat in den 1990er-Jahren die Europäische Union als weiterer Akteur auf, indem sie Mittel zur Anschubbzw. Kofinanzierung industrietouristischer Projekte zur Verfügung stellte. Durch die Rückbesinnung auf das gemeinsame industriekulturelle Erbe sollten das Identitätsbewusstsein und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer gestärkt werden. Außerdem ging es um eine Unterstützung altindustrieller Regionen, die erhebliche wirtschaftliche, soziale und ökologische Probleme zu bewältigen hatten. 3 | Von einer boomenden Bergbaustadt zu einem populären Touristenort - durch den Abbau und die Verarbeitung von Kupfererz erlebte das norwegische Røros bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Blüte. Seit der Stilllegung der letzten Grube im Jahr 1977 hat sie sich mit ihren grasbedeckten Arbeiterhäusern und bunt bemalten Holzgebäuden zu einem beliebten Reiseziel entwickelt. Sie wurde bereits im Jahr 1980 in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen und ist eine Station der „Europäischen Route der Industriekultur (ERIH)“. Im Mittelpunkt der kulturbzw. wirtschaftspolitischen Fördermaßnahmen stand dabei die trans‐ nationale Verknüpfung von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Partnern aus mehreren Ländern in Form von Netzwerken, Themenrouten, Arbeitsgemeinschaften etc. Inhaltliche Schwerpunkte 18 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="19"?> waren museumsdidaktische Themen, die Kombination von Denkmal- und Sozialgeschichte sowie die Gestaltung des touristischen Angebots (vgl. Wilhelm 2003; Soyez 2006, S. 76). Trotz ihres innovativen Charakters und ihrer Subvention durch die Europäische Union mussten viele Initiativen ihre Arbeit jedoch am Ende des Förderzeitraums wieder einstellen. Eine Ausnahme ist die „Europäische Route der Industriekultur (ERIH)“. Sie geht auf eine Initiative von Institutionen aus Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden im Jahr 1999 zurück und ist bis zum Jahr 2008 im Rahmen diverser INTERREG-Programme finanziell unterstützt worden. Die Route gilt als Modell einer erfolgreichen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit; im Jahr 2019 wurde sie als Kulturroute des „Europarates“ zertifiziert (vgl. ERIH 2017) (→ 4.2). Die Europäische Union hat die Förderung entsprechender industrietouristischer Initiativen bis in die jüngere Zeit fortgesetzt - speziell im Rahmen der LEADER-, INTERREG-, EFRE- und ERDF-Programme; dazu zählen u. a.: ■ das Projekt „SHIFT-X. Employing cultural heritage as promoter in the economic and social transition of old-industrial regions“ (2012-2014), in dem ein Wissens- und Erfahrungstrans‐ fer von Einrichtungen in Österreich, Deutschland und Belgien mit Partnern in Tschechien und Polen erfolgte (vgl. Albrecht/ Walther 2017, S. 43-44); ■ das Projekt „InduCult 2.0“ (2016-2019) - eine Kooperation von industriell geprägten Städten und Landkreisen sowie Hochschulen aus mehreren mittel- und osteuropäischen Ländern (vgl. Harfst/ Pizzera/ Simic 2016; Wust/ Lang/ Haunstein 2017; Görmar u. a. 2019); ■ die Unterstützung der bilateralen Zusammenarbeit von industriekulturellen Institutionen im Rahmen der Kampagne „Europäisches Kulturerbejahr 2018“. Politischer Wille, kulturelle Akzeptanz und die Interessen gesellschaftlicher Lobbygruppen waren also die wesentlichen Triebkräfte, die zu einer wachsenden Bedeutung des Industrietourismus geführt haben. Im Gegensatz zu anderen Segmenten des internationalen Tourismus handelt es sich um einen Angebotsmarkt, dessen gegenwärtige Struktur weniger auf dem Nachfragedruck der Konsumenten beruht als vielmehr auf dem Engagement öffentlicher und privater Akteure (vgl. European Parliament 2013, S. 26). Von der Reisebranche ist das ökonomische Potenzial der historischen (und auch gegenwärtigen) Industriekultur hingegen recht spät erkannt worden. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts war der Industrietourismus „eine sehr randliche, fast exotische Sonderform der Tourismuswirtschaft“ (Soyez 2006, S. 75). Dieser geringe Stellenwert war nicht zuletzt auf die Vorbehalte vieler Praktiker zurückzuführen, wie eigene Erfahrungen des Autors aus Beratungsprojekten exemplarisch deutlich machen: ■ In den 1990er-Jahren wehrte sich der Geschäftsführer des Tourismusverbandes in einer altindustriellen Region vehement gegen den Vorschlag, die regionalen Industrierelikte aktiv zu vermarkten; stattdessen wollte er in der Werbung ausschließlich die landschaftliche Schönheit der Destination herausstellen. ■ Die Geschäftsführerin der Tourismusorganisation in einer westdeutschen Großstadt zeigte im Jahr 2007 nur wenig Interesse an dem Vorschlag, die zahlreichen traditionellen Industrie‐ unternehmen der Region in das Marketing-Konzept der Destination einzubinden - z. B. durch einen jährlichen „Tag der offenen Tür“ bzw. eine lokale Themenroute. Entsprechende Hemmnisse und Unkenntnisse bestehen vielerorts noch in jüngerer Zeit. So haben z. B. auch die Verantwortlichen im Elsass lange Zeit das Image einer landschaftlich reizvollen Destination mit attraktiven mittelalterlichen Stadtquartieren gepflegt, obwohl die Region über zahlreiche gewerblich-industrielle Relikte verfügt. Dadurch blieben die Chancen einer Diversifi‐ 19 1.1 Die neue Wertschätzung der Industriekultur: Pioniere - Pressure-Groups - Förderer <?page no="20"?> zierung des Angebots und einer Ansprache neuer Zielgruppen weitgehend ungenutzt (vgl. Michna 2019). 1.2 Der Industrietourismus: Merkmale - Bedeutung - Nachfrager Im Vergleich zu anderen Reisearten handelt es sich beim Industrietourismus also um einen late mover, der nur auf eine relative kurze Geschichte zurückblicken kann. Um ihre Attraktivität zu signalisieren, nutzen manche stillgelegte Industrieeinrichtungen deshalb den Vergleich zu populären Sehenswürdigkeiten, die bereits einen festen Platz im Repertoire beliebter Reiseziele haben. Dabei dient speziell der Eiffelturm in Paris als Maßstab: So werden das Fördergerüst der Zeche Zollverein in Essen und auch die Abraumförderbrücke F60 in Lichterfeld (Brandenburg) jeweils als regionale „Eiffeltürme“ vermarktet. Ein solcher Rückbezug auf bekannte Vorbilder ist im Tourismus nichts Ungewöhnliches. Seit dem 19. Jahrhundert versuchen z. B. weltweit ca. 200 Regionen, am exklusiven Image der Schweiz als Playground of Europe zu partizipieren, indem sie die zusätzliche Bezeichnung „Schweiz“ verwenden - u. a. die Fränkische Schweiz, die Holsteinische Schweiz oder die Kleine Luxemburger Schweiz. Trotz der zögerlichen Haltung vieler Destinationsmanager ist es einigen stillgelegten Indust‐ rieeinrichtungen gelungen, sich erfolgreich auf dem Tourismusmarkt zu positionieren. Zu den internationalen Besuchermagneten zählen die Zeche Zollverein in Essen und das Salzbergwerk Wieliczka (Polen) mit jeweils mehr als einer Million Besucher, das Iron Bridge Gorge Museum im englischen Shropshire (545.000) und die Völklinger Hütte im Saarland (225.000). Allerdings lassen solche positiven Beispiele keine Rückschlüsse auf den Gesamtumfang der industrietouristischen Nachfrage zu, der sich generell nicht exakt bestimmen lässt: Zum einen wird diese Reiseart weder in staatlichen Statistiken noch in nationalen Repräsentativbefragungen gesondert erfasst. Zum anderen publiziert die Mehrzahl der Einrichtungen - trotz hoher öffent‐ licher Zuschüsse - keine Angaben zum Besucheraufkommen, so dass die Gästezahlen nur mit einem hohen Rechercheaufwand und allenfalls exemplarisch ermittelt werden können (z. B. auf der Grundlage von persönlichen Anfragen bzw. Artikeln in Tageszeitungen). Außerdem beziehen sich die Daten einzelner Industriemuseen nicht immer nur auf die Kernzielgruppe der Gäste, die sich ausschließlich für die industrielle Vergangenheit interessieren. Speziell die größeren Einrichtungen in situ dienen häufig als Locations von Events, mit denen sie ein unterhaltungsorientiertes Publikum ansprechen. So werden die imposanten Großgeräte im Industriemuseum Ferropolis in Gräfenhainichen (Sachsen-Anhalt) - einem ehemaligen Tage‐ baugelände - jährlich nur von ca. 32.000 Tagesausflüglern und Touristen besichtigt. Hingegen verzeichnen die populären Festivals „Melt! “, „Splash! “ bzw. „With Full Force“, die regelmäßig vor der spektakulären Kulisse stattfinden, mehr als 100.000 Teilnehmer (vgl. Schröder 2020, S. 32) (→ 4.5). Angesichts dieser methodischen Probleme liegen gegenwärtig nur Schätzungen zum Nachfra‐ gevolumen in Deutschland und anderen europäischen Ländern vor: Danach beläuft sich der Anteil des Industrietourismus an der Gesamtzahl der Übernachtungen auf weniger als ein Prozent. Nach Einschätzung von Experten verfügt der Industrietourismus jedoch über ein großes Wachstums‐ potenzial, da das industriekulturelle Erbe vielerorts noch nicht hinreichend genutzt wird. Mit Hilfe professioneller Marketing- und Management-Maßnahmen können die Industriemuseen und die Destinationen ihr Besucheraufkommen künftig erheblich steigern (vgl. ift 2010, S. 16; European Parliament 2013, S. 36; Baum 2014, S. 56). 20 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="21"?> Es sind jedoch nicht nur fehlende aktuelle Marktforschungsdaten, die präzise Aussagen zum Umfang des Industrietourismus unmöglich machen. Als zusätzliches Problem erweist sich die Tatsache, dass der Begriff „Industrietourismus“ einen janusköpfigen Charakter hat: ■ Zum einen umfasst er die Besichtigung historischer Industrierelikte und öffentlicher Indus‐ triemuseen (in der englischen Fachliteratur: industrial heritage tourism); ■ zum anderen bezeichnet er aber auch den Besuch produzierender Industrieunternehmen (industrial tourism). So verfügen einige Industriebetriebe bereits seit langem über firmeneigene Museen, in denen sie ihre Unternehmensgeschichte präsentieren. Darüber hinaus werden häufig auch Führungen angeboten, um den Besuchern einen Einblick in den Produktionsablauf zu ermöglichen und damit die Kundenbindung zu stärken (speziell Unternehmen der Konsumgüterindustrie nutzen diesen direkten Kontakt mit den Verbrauchern auch als zusätzlichen Vertriebskanal). Zu den innovativen Instrumenten der Unternehmenskommunikation zählen Markenwelten (Brand Lands), die in den vergangenen Jahrzehnten von mehreren internationalen Konzernen errichtet worden sind. Durch den Einsatz attraktiver Inszenierungstechniken gelingt es diesen multifunktionalen Infotainment-Einrichtungen, ein breites Publikum anzusprechen. Zugleich definieren sie damit die zeitgemäßen Präsentations- und Vermittlungsstandards, die auch für die öffentlichen Industrierelikte und -museen gelten. Erfolgreiche Beispiele solcher Markenwelten sind u. a. die BMW Welt in München mit drei Millionen Besuchern/ Jahr, die Autostadt in Wolfsburg (2,1 Millionen) und die Swarovski Kristall‐ welten in der Nähe von Innsbruck (650.000) (→ 2.7). Industrietourismus stillgelegte Industriebetriebe (in situ) neue Industriemuseen (ex situ) traditionelle Industrielandschaften historische Industriekultur (industrial heritage tourism) gegenwärtige Industriekultur (industrial tourism) produzierende Handwerks-/ Industriebetriebe (in situ) zusätzliche Attraktionen (in bzw. ex situ) (Brand Lands) Firmenveranstaltungen (ex situ) (Brand Events) Industriekultur als ein Alleinstellungsmerkmal Industriekultur als Zusatznutzen (Multifunktionalität) Konversion in neue Besucherattraktionen Betriebsbesichtigungen/ -führungen/ -vorführungen Museen zur Unternehmensgeschichte Infotainment- Einrichtungen, Restaurants, Shops, Events Abb. 4 4 | Weit mehr als nur ein nostalgischer Blick zurück in die Vergangenheit - das industrietouristische Angebots‐ spektrum umfasst nicht nur historische Relikte und öffentliche Industriemuseen. Zu den Akteuren auf dem Touris‐ musmarkt zählen auch zahlreiche Handwerks- und Industriebetriebe. Sie organisieren Führungen und betreiben Firmenmuseen bzw. Markenwelten, um die Besucher zu informieren und langfristig an das Unternehmen zu binden. 21 1.2 Der Industrietourismus: Merkmale - Bedeutung - Nachfrager <?page no="22"?> Industrietourismus: Definition Unter diesem Oberbegriff werden zwei unterschiedliche Arten von Tagesausflügen und Ur‐ laubsreisen zusammengefasst: Zum einen die Besichtigung von historischen Industrierelikten und Industriemuseen, bei denen es sich zumeist um öffentliche Einrichtungen handelt; zum anderen der Besuch von produzierenden Industrieunternehmen, die Betriebsführungen an‐ bieten bzw. über eigene Firmenmuseen oder eine Markenwelt (Brand Land) verfügen. Darüber hinaus gibt es noch einen berufsbezogenen Industrietourismus in Form von Geschäfts- und Dienstreisen (der hier allerdings nicht weiter behandelt wird). Angesichts dieser unterschiedlichen Akteure und Angebote, aber auch einer unbefriedigenden Datenlage ist es nicht möglich, ein idealtypisches Profil der Industrietouristen zu entwerfen: In Firmenmuseen und Markenwelten sind z. B. keine empirischen Erhebungen durch Außenstehende möglich, da es sich um privatwirtschaftliche Einrichtungen handelt. Aus Konkurrenzgründen erteilen die Betreiber auch keine Auskünfte über eigene Gästeanalysen (sofern sie die überhaupt durchführen). Zu den Besuchern der öffentlichen Industriedenkmäler und -museen liegen gegenwärtig einige empirische Untersuchungen und Fallstudien vor, die allerdings nur einen recht groben Überblick über die Merkmale, Motive und Verhaltensweise dieser Zielgruppe vermitteln (vgl. Pasternak/ Terörde 2008, S. 340; inspektour 2016, S. 18; dwif/ RVR 2018, S. 11; Hausmann 2018, S. 5-7; ERIH/ RVR 2019; Köchling 2021, S. 52-54): ■ Nachfragepotenzial: In einer bundesweiten Erhebung gaben 28 Prozent der Befragten an, sich grundsätzlich für industriekulturelle Attraktionen zu interessieren. Damit ist die Zielgruppe für Fabriken, Zechen und Industriemuseen deutlich kleiner als für klassische Sehenswürdigkeiten wie Burgen, Schlösser und Kathedralen (50 Prozent) bzw. Parks und Gärten (46 Prozent). Speziell in Bundesländern mit einer langen Industrietradition und einem breiten Angebot entsprechender Sehenswürdigkeiten besteht bei der Bevölkerung ein überdurchschnittlich hohes Interesse an einer Besichtigung von Industrierelikten bzw. -museen (z. B. in Nordrhein-Westfalen). ■ Einzugsbereich und Ausgaben: Industriemuseen sind zumeist Ziele eines monofinalen Tages‐ ausflugsverkehrs (bei dem also nur ein Ziel auf dem Programm steht). Die Mehrzahl der Gäste kommt aus der näheren Umgebung und benötigt 30 bis 90 Minuten für die Anreise. Nur ca. 10-17 Prozent verbinden ihren Besuch mit einer Übernachtung. Diese Zielgruppe ist für die Destinationen jedoch von besonders großer Bedeutung, da sie weitaus höhere Ausgaben tätigt als die Tagesausflügler (117 vs. 29 Euro/ Person). ■ Saisonalität: Die industrietouristische Nachfrage weist eine antizyklische Saisonalität und eine Konzentration auf die Wochenenden auf. Normalerweise ist der Samstag der besucher‐ stärkste Tag und vor allem im Frühjahr sowie Herbst sind Nachfragespitzen zu verzeichnen. Da die Sommermonate eher für Haupturlaubsreisen zu Zielen am Meer oder im Mittelbzw. Hochgebirge genutzt werden, verzeichnen die Einrichtungen in dieser Zeit relativ niedrige Besucherzahlen. ■ Besuchsmotive: Hinsichtlich der persönlichen Beweggründe sind die empirischen Untersu‐ chungen zu widersprüchlichen Resultaten gekommen: In einer englischen Fallstudie gaben die Befragten vor allem eine allgemeine Neugier und ein historisches Interesse an; außerdem wollten sie einen abwechslungsreichen Tag mit der Familie verbringen (und ihre Kinder 22 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="23"?> sinnvoll beschäftigen). Die Gäste der Zeche Zollverein in Essen interessierten sich hingegen für die gesamte Anlage sowie die Industriekultur und Technik generell. ■ Zielgruppen: Neben Schulklassen gehören vor allem Familien, Senioren und Kulturtouristen zu den Museumsbesuchern. Bei vielen Individualgästen handelt es sich um das typische bil‐ dungsbürgerliche Publikum, das über ein hohes Bildungsniveau und ein besseres Einkommen verfügt. Da die Technikaffinität bei Männern generell stärker ausgeprägt ist als bei Frauen, stellen sie in zahlreichen Häusern die Mehrzahl der Gäste. Abb. 5 9%10% 13% 15% 15% 19% 24% 28%29% 29%30%31%32%33% niedrige Bildung An-/ Ungelernte 18-24 Jahre 25-34 Jahre geringes Einkommen Angestellte/ Facharbeiter Bevölkerung insgesamt Haushalte mit Kindern hohe Bildung freie Berufe, Selbstständige 45-54 Jahre 65-74 Jahre hohes Einkommen höhere Angestellte 5 | Eine beliebte Sehenswürdigkeit des städtischen Bürgertums und älterer Menschen - nahezu jeder vierte Einwohner hat das Museum Industriekultur in Nürnberg in den vergangenen fünf Jahren einmal besichtigt. Bei jungen Erwachsenen und im unteren Bildungs-, Einkommens- und Sozialmilieu stößt das Angebot des Hauses jedoch nur auf ein relativ geringes Interesse. Allerdings können diese Resultate nicht auf alle industriegeschichtlichen Sehenswürdigkeiten übertragen werden, da jede Einrichtung eine spezifische Besucherstruktur aufweist. Wesentliche Steuerungsfaktoren sind dabei die attraktive Gesamtkonzeption, die spezifische Thematik, die ungewöhnlichen Exponate und die zeitgemäßen Vermittlungsformen. Die Betreiber müssen deshalb regelmäßig eigene Gästebefragungen durchführen, um über eine solide Datenbasis für ein professionelles Marketing und Management zu verfügen. Der Industrietourismus als Forschungsobjekt Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des Industrietourismus setzte im deutschsprachigen Raum in den 1980er-Jahren ein. Seitdem sind konzeptionelle Überlegun‐ gen und empirische Fallstudien in zahlreichen Artikeln, Sammelbänden und Lehrbüchern veröffentlicht worden (vgl. Soyez 1986; Fontanari/ Treinen/ Weid 1999; Hinterhuber/ Pechla‐ ner/ Matzler 2001; Mf WA 2003; Schwark 2004; Steinecke 2007, S. 246-272). Auf internationaler Ebene liegt inzwischen eine unüberschaubare Fülle an Publikationen zu dem Thema vor: So verzeichnet „Google Scholar“ unter den Suchbegriffen industrial heritage tourism bzw. industrial tourism 1,6 Millionen bzw. 2,6 Millionen Einträge. Dabei handelt es sich zumeist um Bestandsaufnahmen des industriellen Erbes sowie um Potenzialanalysen zur touristischen bzw. anderweitigen Nutzung von Relikten (Konversion) - zunehmend auch unter dem Aspekt einer nachhaltigen Entwicklung (vgl. Ifko 2016). 23 1.2 Der Industrietourismus: Merkmale - Bedeutung - Nachfrager <?page no="24"?> Während sich zunächst Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Westeuropa sowie den USA mit diesem Thema beschäftigt haben, sind in jüngerer Zeit zahlreiche Untersuchungen in Süd-, Südost- und Mitteleuropa, in Südamerika sowie in Asien durchgeführt worden. Exemplarisch soll auf Studien in folgenden Ländern verwiesen werden: ■ Albanien (vgl. Nepravishta/ Mezini/ Baruti 2019) ■ Australien (vgl. Chatterjee/ Dupre 2019) ■ Brasilien (vgl. Corá/ César/ Merlotti Herédia 2019) ■ China (vgl. Ren 2014; Yin u. a. 2015; Yang 2017; Wang/ Fu 2019; Xie/ Lee/ Wong 2019; Yuan u. a. 2019; Zhang u. a. 2020) ■ Griechenland (Agaliotou 2015; Ferranti 2019) ■ Kosovo (vgl. Spahija/ Aliu/ Veliu 2017) ■ Polen (vgl. Pawlikowska-Piechotka 2009; Dołzbłasz 2012; Buchczyk 2015; Barski/ Zathey 2018; Lamparska 2019) ■ Rumänien (vgl. Cercleux/ Merciu/ Merciu 2011) ■ Serbien (vgl. Tufegdzic 2013; Ćopić/ Tumarić 2015; Nedeljković Knežević u. a. 2019) ■ Slowenien (vgl. Gorjup-Kavčič u. a. 2010; Balažič 2011; Marot/ Harfst 2012) ■ Spanien (vgl. Pozo/ González 2012; Prat Forga/ Cànoves Valiente 2015) ■ Südafrika (vgl. Merwe/ Rogerson 2013, 2018) ■ Thailand (vgl. Yiamjanya 2020) ■ Tschechien (vgl. Bujok u. a. 2015; Bosák/ Nováček/ Slach 2018; Jelen 2018; Lamparska 2019) ■ Türkei (vgl. Günay 2014; Gül/ Gül 2020) 1.3 Die Effekte des Industrietourismus: Einnahmen - Arbeitsplätze - Emotionen Touristen haben generell - unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrer Nationalität oder ihren Reisemotiven - zwei wichtige Eigenschaften, die sie aus Sicht der Zielgebiete besonders interessant machen: Als Ortsfremde sind sie auf bestimmte Dienstleistungen angewiesen und treten deshalb in den Destinationen immer als zusätzliche Konsumenten auf. Durch ihre Nachfrage lösen sie zum einen tangible Effekte aus (also monetäre Wirkungen, die über Kennzahlen leicht zu erfassen sind), zum anderen aber auch schwer messbare intangible Wirkungen - z. B. Image-, Struktur- und Netzwerkeffekte (vgl. Murray 2016, S. 2-3). Zu den direkten Nutznießern des touristischen Konsums zählen zunächst die Besucherattraktio‐ nen, die Einnahmen durch den Verkauf von Tickets, die Veranstaltung von Führungen und Events, die Nutzung ihrer Räumlichkeiten als Locations bzw. den Vertrieb von Merchandising-Produkten in ihren Shops erzielen. Im Vergleich zu den Betriebs- und Erhaltungskosten sind diese Umsätze - speziell in den öffentlichen Industrieeinrichtungen - jedoch gering, da sie aufgrund ihres Bildungsauftrags in der Regel nur niedrige Eintrittspreise erheben: 24 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="25"?> Abb. 6 Effekte des Industrietourismus direkte Effekte durch die Besucher (Ausgaben für Tickets, Souvenirs, Verpflegung bzw. Übernachtung) indirekte Effekte (Multiplikatorwirkung auf vor- und nachgelagerte Wirtschaftszweige) tangible Effekte intangible Effekte direkte Effekte durch die Einrichtungen (Ausgaben für Produkte und Dienstleistungen) symbolische Effekte (regionale Erinnerungs- und Identifikationsobjekte) Struktureffekte (Erweiterung des Freizeit-/ Kulturangebots, Netzwerkbzw. Clusterbildung) Imageeffekte (höherer Bekanntheitsgrad und besseres Image durch Presse-/ TV-Berichte) 6 | Regionaler Wirtschaftsfaktor, positiver Imageträger, nachhaltiger Impulsgeber - die Wirkungen des Industrie‐ tourismus beschränken sich nicht auf die direkten Einnahmen aus dem Verkauf von Eintrittskarten und Souvenirs. Zahlreiche Unternehmen, aber auch die einheimische Bevölkerung profitieren auf direkte oder indirekte Weise von der touristischen Nutzung des industriekulturellen Erbes. ■ Das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum hat z. B. im Jahr 2019 nur 6,6 Prozent seines Budgets durch eigene Einnahmen erwirtschaftet sowie weitere 9,6 Prozent durch das Ein‐ werben von Drittmitteln für Forschungsprojekte. Die wichtigsten Einnahmequellen waren öffentliche Zuschüsse durch den Bund, das Land Nordrhein-Westfalen, die Stadt Bochum u. a. Sie beliefen sich auf 17,1 Millionen Euro/ Jahr - d. h., jeder Besuch der knapp 170.000 Gäste wurde mit ca. 100 Euro subventioniert (vgl. Deutsches Bergbau-Museum 2020, S. 101). ■ Mit diesem hohen Zuschussbedarf stellt das Deutsche Bergbau-Museum keinen Einzelfall dar. So ist eine Erhebung unter den Partnern der „Europäischen Route der Industriekultur (ERIH)“ zu dem Ergebnis gekommen, dass zwei von drei Einrichtungen durch eigene Ein‐ nahmen nur einen Kostendeckungsgrad von höchstens 50 Prozent erreichen (vgl. ERIH/ RVR 2019, S. 12). ■ Obwohl es sich bei Kulturtouristen generell um eine konsumkräftige und ausgabenfreudige Zielgruppe handelt, stoßen die Shops der Industriemuseen häufig nur auf geringes Interesse. In den Einrichtungen des Museumsverbunds „National Museum Wales“ hat z. B. nur jeder vierte Besucher Einkäufe getätigt (vgl. Thurley 2017, S. 34). ■ Außerdem sind die Pro-Kopf-Ausgaben der Gäste für Souvenirs recht gering. Im walisischen Big Pit National Coal Museum betrugen sie z. B. nur 1,86 Euro (bei diesem Wert ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Konsumverhalten der Besucher wesentlich durch die Lage sowie das Ambiente und Sortiment der Geschäfte beeinflusst wird) (vgl. Thurley 2017, S. 35). Großer Aufwand und niedriger Ertrag - ein solches Missverhältnis besteht auch in kommerziellen industrietouristischen Attraktionen: So decken die relativ hohen Eintrittsgelder der Autostadt in Wolfsburg nur ca. 70 Prozent der operativen Kosten und die Salines de Guérande (Pays de la Loire) erzielen nur 0,7 Prozent ihres Gesamtumsatzes durch den Verkauf von Salz an Touristen (vgl. Otgaar/ Klijs 2010, S. 13, 15). 25 1.3 Die Effekte des Industrietourismus: Einnahmen - Arbeitsplätze - Emotionen <?page no="26"?> Abb. 7 Eintrittsgelder £2.436.328 Shops/ Merchandising £1.210.596 Subventionen/ Spenden/ Erbschaften £1.725.582 Vermietung/ Pacht £175.783 Zinsen £12.826 andere Einnahmen £257.500 7 | Sogar industrietouristische Besuchermagneten wie das Ironbridge Gorge Museum (Shropshire) sind auf eine öffentliche Förderung angewiesen: Im Jahr 2019 lag der Anteil der Subventionen, Spenden und Erbschaften bei ca. 30 Prozent des Gesamtbudgets. Darüber hinaus erhält die gemeinnützige Organisation projektbezogene Mittel von nationalen Stiftungen und der Europäischen Union, um notwendige Erhaltungs- und Restaurierungsarbeiten durchführen zu können. Auf den ersten Blick scheint es sich bei der touristischen Nutzung des industriekulturellen Erbes also um ein Zuschussgeschäft zu handeln. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass durch die Besucherattraktionen erhebliche externe ökonomische Effekte ausgelöst werden. So profitieren zahlreiche Unternehmen aus anderen Branchen in weitaus größerem Umfang vom Tourismus als die Einrichtungen selbst: ■ Zu den Nutznießern zählen Restaurants, Unterkunftsbetriebe, Verkehrsunternehmen sowie Einzelhändler, da die auswärtigen Gäste Verpflegungs-, Übernachtungs-, Transport- und Versorgungsleistungen in Anspruch nehmen. So ist z. B. eine Untersuchung im Lowell National Historical Park (Massachusetts) zu dem Ergebnis gekommen, dass 90 Prozent der touristischen Gesamtausgaben solchen Anbietern zugutekommen und die Museumsanlage nur zu zehn Prozent daran partizipiert (vgl. Lupsiewicz 2016). ■ Um ihren Gästen ein zeitgemäßes und attraktives Produkt bieten zu können, müssen die Sehenswürdigkeiten für den Betrieb sowie für Renovierungs- und Modernisierungsmaßnah‐ men zahlreiche Produkte und Dienstleistungen von anderen Firmen erwerben - z. B. von Hoch- und Tiefbaubetrieben, Handwerkern, Banken, Versicherungen etc. Die tourismusbe‐ dingten Umsätze in den Sehenswürdigkeiten und in diesen Wirtschaftszweigen fließen in Form von Löhnen, Gewinnen, Zinsen etc. aus den Betrieben heraus und sorgen in weiteren Unternehmen für Einnahmen. Der Umfang dieser Multiplikatoreffekte ist in mehreren Fallstudien ermittelt worden (vgl. Wood‐ house 2014; MSP 2015, S. 36; Wakelin 2016, S. 46; Cudny 2017, S. 71): ■ Für die Völklinger Hütte wurden jährliche Einkommenswirkungen in einer Gesamthöhe von 12,2 Millionen Euro berechnet, die überwiegend zu einer Stärkung der saarländischen Wirtschaft führen. Rechnerisch ergibt sich hieraus ein Beschäftigungseffekt von mindestens 400 Arbeitsplätzen. 26 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="27"?> ■ Die ökomischen Wirkungen des Ironbridge Gorge Museum, die durch die Gehälter der 200 Angestellten sowie die Ausgaben des Museums ausgelöst werden, belaufen sich jährlich auf ca. 23 Millionen Euro. ■ Als wichtiger regionaler Wirtschaftsfaktor erweist sich auch das Big Pit National Coal Museum in Blaenavon (Wales), in dem ca. 65 Vollzeitarbeitskräfte tätig sind. Seine gesamten Effekte werden auf ca. 9,8 Millionen Euro/ Jahr beziffert. Obwohl einzelne industrietouristische Attraktionen also für die Standorte und das Umfeld eine große wirtschaftliche Bedeutung haben, können selbst die Besuchermagneten bei weitem nicht den Verlust an Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen kompensieren, der durch die Stilllegung der Industriebetriebe entstanden ist. In der Hochphase der Industrialisierung waren z. B. in der Zeche Zollverein in Essen ca. 8.000 Bergleute im Schichtwechsel beschäftigt. Gegenwärtig arbeiten dort 120 ehemalige Kumpel als Gästeführer; darüber hinaus sind auf dem Areal knapp 2.000 neue Arbeitsplätze in Kultur-, Design- und Hochschuleinrichtungen geschaffen worden (vgl. Stiftung Zollverein 2018; Bösch 2019, S. 20; Grütter/ Noll 2020). Am Beispiel der Zeche Zollverein lässt sich zugleich verdeutlichen, dass der Erhalt und die Nutzung von Industrierelikten nicht nur wegen der „harten“ tangiblen Wirkungen sinn‐ voll sein können, sondern auch aufgrund der „weichen“ intangiblen Effekte. Der weitläufige Industriekomplex war seit der Eröffnung im Jahr 1851 bis zur Schließung im Jahr 1986 der Arbeitsplatz von schätzungsweise 600.000 Menschen. Sie haben die Kohlenwäsche, die Kokerei und das charakteristische Doppelbock-Fördergerüst nicht als architektonische bzw. technische Sehenswürdigkeiten wahrgenommen, sondern einfach nur als Gebäude, in denen sie ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Mit der „Maloche auf Zollverein“ verbinden sie zahllose persönliche Erinnerungen, die sie - über Generationen hinweg - in der Familie sowie im Bekann‐ ten- und Freundeskreis weitergeben haben (und die inzwischen zu einem festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden sind). Vor dem Hintergrund dieser arbeitsweltlichen Erfahrungen stoßen Planungen zur touristischen Nutzung stillgelegter Anlagen bei den früheren Beschäftigten zunächst auf Unverständnis und Vorbehalte, da sie eine Musealisierung der ökonomischen Krise befürchten, die für sie mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verbunden war (→ 4). Erst mit größerem zeitlichem Abstand zur Schließung von Fabriken und Zechen findet dann ein Einstellungswandel statt: So ist eine qualitative Befragung von ehemaligen Beschäftigten und Anwohnern des Hüttenwerks in Duisburg-Meiderich z. B. zu dem Ergebnis gekommen, dass die negativen Aspekte der harten Arbeitsbedingungen immer mehr in den Hintergrund rücken. Stattdessen findet eine nachträgliche Verklärung statt, bei der vor allem das harmonische Betriebsklima und das teilweise fürsorgliche Verhalten der Vorgesetzten im Mittelpunkt stehen. Zum anderen verändert sich aber auch die Wahrnehmung der Industrierelikte, die nun nicht mehr als Mahnmale des Niedergangs gelten, sondern zu Erinnerungs- und Identifikationsobjekten werden (vgl. Schwarz 2001, S. 246). „Das Ruhrgebiet im Sinne einer Identitätsregion ist ja eine junge Erfindung, die erst in der nostalgischen Rückschau wirklich an Festigkeit gewann.“ Eilenberger 2021 Von besonderer Bedeutung sind dabei hoch aufragende Gebäude, die zu den charakteristischen Merkmalen der historischen Industriearchitektur zählen. Speziell die Schornsteine waren einst die „Kirchtürme der Industriellen Revolution“ und galten - nicht zuletzt aufgrund ihrer phal‐ lusartigen Form - als Wahrzeichen der wirtschaftlichen Potenz und des gesellschaftlichen 27 1.3 Die Effekte des Industrietourismus: Einnahmen - Arbeitsplätze - Emotionen <?page no="28"?> 8 | Eine Fabrikanlage mit fünf hoch aufragenden Schornsteinen als Wahr‐ zeichen des Fortschritts - das schles‐ wig-holsteinische Neumünster hat die‐ ses Symbol im Jahr 1930 in sein Stadtwappen aufgenommen, um den Stolz auf seine bedeutende Tuch-, Leder- und Metallindustrie zum Aus‐ druck zu bringen (der Schwan und das Nesselblatt erinnern an die ältere Ge‐ schichte des Ortes). Wohlstands. Inzwischen sind viele Schlote gesprengt worden, doch Gasometer, Fördertürme, Abraumförderbrücken etc. dienen bis in die Gegenwart als eindrucksvolle Landmarken (vgl. Prietzel 2009, S. 67). Inzwischen haben zahlreiche Städte und Regionen die äs‐ thetische Strahlkraft beeindruckender Industrierelikte er‐ kannt und nutzen sie auf dem Tourismusmarkt als Markenzei‐ chen, um über ein visuelles Alleinstellungsmerkmal zu verfügen und ihr Image zu verbessern (dieses Branding ist ein weiterer intangibler Effekt, der durch die Inwertsetzung des industriekulturellen Erbes ausgelöst werden kann). So wird z. B. das markante Fördergerüst der Zeche Zollverein medienwirksam als „Eiffelturm des Ruhrgebiets“ vermarktet und als Logo auf zahlreichen Merchandising-Produkten verwendet - von Armbanduhren über Badezusätze bis hin zum „Ruhrgold‐ senf“. Zur bundesweiten Popularität hat auch die Darstellung der Zeche auf einer Briefmarke der Deutschen Post beigetragen: Ihre Silhouette diente im Jahr 2003 als aussagekräftiges Motiv einer 55-Cent-Sondermarke zur „Industrielandschaft Ruhrgebiet“ (an‐ lässlich der Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste war bereits im Jahr 1996 eine Marke mit einer Darstellung der Völklinger Hütte erschienen) (vgl. Schwarz 2008a, S. 22). Angesichts eines begrenzten Fundus an einprägsamen his‐ torischen Wahrzeichen sind im Ruhrgebiet, aber auch in an‐ deren altindustriellen Regionen mancherorts auch neue Land‐ marken geschaffen worden, die sinnbildhaft an die industrielle Vergangenheit erinnern sollen - z. B. in Form von spektakulä‐ ren Kunstinstallationen auf ehemaligen Abraumhalden (vgl. Ćopić u. a. 2014, S. 47-48) (→ 4.1). Das Spektrum der intangiblen Wirkungen des Industrietourismus beschränkt sich jedoch nicht auf diese marktbezogenen Imageeffekte und die symbolische Bedeutung für die einheimische Bevölkerung; vielmehr fungiert die touristische Nachfrage auch als Impulsgeber für einen Struk‐ turwandel der lokalen bzw. regionalen Wirtschaft - u. a. durch: ■ Netzwerkeffekte: Bei der Darstellung der Multiplikatoreffekte ist bereits deutlich geworden, dass Tagesausflügler und Touristen zahlreiche Leistungen in Anspruch nehmen, die von unterschiedlichen Unternehmen erbracht werden. Um den Kunden ein attraktives Gesamt‐ produkt bieten zu können, müssen die Akteure der Tourismus- und Kulturbranche eng mit Betrieben und Organisationen aus anderen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft zusammenarbeiten. Zu den gemeinsamen Aufgaben gehören ein einheitlicher Marktauftritt, die Bildung thematischer Schwerpunkte (Industriekultur, Radbzw. Wandertourismus etc.) und die Festlegung klarer Qualitätsstandards. Als typische Formen der Netzwerkbildung im Industrietourismus sind Themenrouten, Destinations Cards sowie regionale Cluster zu nennen (→ 4.2). ■ Kompetenzeffekte: Da der Tourismus in altindustriellen Regionen traditionell keine große Bedeutung gehabt hat, verfügen die Akteure zu Beginn einer touristischen Entwicklung über keine umfassenden Markt-, Management- und Marketing-Kenntnisse. Die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen bietet ihnen die Möglichkeit, von deren praktischen Erfahrungen 28 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="29"?> zu lernen und ihren Wissensstand zu erweitern. Durch einen intensiven Informationsaus‐ tausch können sie außerdem ein besseres Verständnis für die Ziele, Interessen und Aufgaben der Partner entwickeln. ■ Struktureffekte: Für die touristische Inwertsetzung von Industrierelikten sind zunächst umfangreiche Erschließungsmaßnahmen erforderlich (Sicherung und Restaurierung der Gebäude, Anlage von Wegen und Parkplätzen, überörtlich und lokale Beschilderung etc.). Deshalb dient der Industrietourismus häufig auch als Katalysator einer generellen infrastruk‐ turellen Entwicklung, die - angesichts der zu erwartenden Einnahmen - aus Mitteln der öffentlichen Hand finanziert wird. ■ Der Industrietourismus ist also nicht nur für die Reisebranche und das Gastgewerbe von Bedeutung, sondern bietet auch dem Standortmanagement, der Stadt- und Regionalplanung sowie der Politik mehrere Vorteile: Er kann als Instrument genutzt werden, um die Wirtschaft zu beleben, das Heimatgefühl der Bevölkerung zu stärken, das Image zu verbessern und den Wandel der strukturschwachen altindustriellen Regionen zu befördern. Als Gunstfaktor erweist sich dabei die große Vielfalt der historischen und gegenwärtigen Industrie‐ kultur: Sie reicht von Fabrikgebäuden und Fördergerüsten über Fabrikantenvillen und Arbeiter‐ siedlungen bis hin zum regionalen Brauchtum und zu produzierenden Betrieben. Diese Potenziale und Attraktionen werden im folgenden Kapitel anhand ausgewählter Beispiele erläutert. Literatur und Informationsquellen zum Industrietourismus Xie, P. F. (2015): Industrial Heritage Tourism, Bristol/ Buffalo/ Toronto (Tourism and Cultural Change; 43) Umfassende Darstellung des Themas mit theoretisch-konzeptionellen Überlegungen sowie aus‐ führlichen Fallstudien in den USA, Taiwan, Neuseeland, Portugal und den Niederlanden ISB (Institut für soziale Bewegungen) (Hrsg.; 2021): Bibliography, Bochum (▷ http: / / isb.ruhr-uni-bochum.de/ industrial-heritage/ bibliography.html.en) Aktuelle Zusammenstellung wissenschaftlicher Beiträge zum Industrietourismus sowie zur In‐ dustriearchäologie und -kultur in Deutschland, mehreren europäischen Ländern sowie Australien, Japan und den USA ICOMOS (International Council on Monuments and Sites) (Hrsg.; 2015): Industrial and technical heritage/ Patrimoine industriel et technique. A bibliography/ Une bibliographie, Charenton-le-Pont Umfangreiche Bibliografie mit Angaben zu einzelnen Typen von Industrierelikten (Fabriken, Kanäle etc.), generellen Fragen der Industriekultur (Erhalt, Erschließung etc.) sowie Beispielen einer Umnutzung in zahlreichen Ländern Vargas-Sánchez A. (2015): Industrial Heritage and Tourism: A Review of the Literature. - In: Waterton, E./ Watson S. (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Contemporary Heritage Research, London, S. 219-233 (DOI: https: / / doi.org/ 10.1057/ 9781137293565_14) Inhaltliche Analyse von Artikeln zum Industrietourismus, die auf Einträgen in den Datenbanken „Scopus“ und „ISI Web of Knowledge“ basiert - differenziert nach Sprachen, Ländern, Erschei‐ nungsjahr, Fachgebieten, inhaltlichen Schwerpunkten, Methoden etc. 29 1.3 Die Effekte des Industrietourismus: Einnahmen - Arbeitsplätze - Emotionen <?page no="30"?> „Reviersteiger. Altbergbau, Untertage, Fotografie“ (▷ https: / / www.reviersteiger.com/ ) Private Website mit zahlreichen Fotos und umfangreichen Informationen zu Besucherbergwer‐ ken/ -museen sowie zu stillgelegten, öffentlich nicht zugänglichen Bergwerken „Bergbau-Adressen“ (▷ http: / / www.bergbau-adressen.de/ index.php) Private Website mit detaillierten Angaben zu Besucher- und Schaubergwerken sowie zu Berg‐ manns-, Hütten- und Knappenvereinen - differenziert nach Bundesländern 30 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? <?page no="31"?> 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen „Die Mauern liegen nieder, die Hallen sind zerstört. Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht. Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.“ Ludwig Uhland (1787-1862) 9 | Ein gigantisches Zeugnis „verschwundner Pracht“ - nach ihrer Gründung am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Völklinger Hütte im Saarland rasch zum größten Eisenträgerhersteller Deutschlands. Zu ihren Blütezeiten in den 1960er-Jahren waren dort mehr als 17.000 Menschen beschäftigt. Mit dem Slogan „Aufbruch statt Abbruch“ setzten sich Denkmalschützer und Kulturschaffende in den 1980er-Jahren mit Erfolg für den Erhalt der stillgelegten Anlage ein, deren universale kulturelle Bedeutung im Jahr 1994 durch die Aufnahme in die UNESCO-Welterbeliste gewürdigt wurde. „Der entfesselte Prometheus“ - unter diesem Titel hat der US-amerikanische Wirtschaftshistori‐ ker David Landes im Jahr 1969 ein bahnbrechendes Werk zur Geschichte der Industrialisierung veröffentlicht. Er bezog sich dabei auf eine bekannte Gestalt der griechischen Mythologie: Der Titan Prometheus hatte den Göttern das Feuer entwendet und den Menschen gebracht; zur Strafe wurde er an einem Felsen des Kaukasusgebirge festgeschmiedet. Das Feuer war dabei ein Symbol der Wärme und Energie - aber vor allem der menschlichen Fähigkeit, scheinbar schicksalhafte (gottgegebene) Einschränkungen zu überwinden. <?page no="32"?> Um einen solchen Prozess der Befreiung von vermeintlichen Zwängen hat es sich auch bei der Industriellen Revolution gehandelt, deren Wurzeln bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück‐ reichen. Sie basierte jedoch nicht auf der Unterstützung durch eine antike Sagengestalt, sondern auf technischen Innovationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Erfindung neuartiger Maschinen, die Nutzung fossiler Rohstoffe und die spätere Einführung der Elektrizität führten dazu, dass sich die Menschheit aus ihrer bisherigen Abhängigkeit von der eigenen bzw. tierischen Muskelkraft sowie von den natürlichen Energiequellen (Wasser und Wind) befreien konnte. Dadurch wurde ein grundlegender Wandel der Produktionsweisen und Standortvoraussetzungen von Unternehmen ausgelöst, der dramatische Veränderungen der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Umwelt zur Folge hatte (vgl. Androsch/ Gadner 2015; SMWK 2019, S. 10-11). 2.1 Die Industrielle Revolution: Innovationen - Umbrüche - Missstände Als Leitbranche fungierte der Textilsektor, der durch den Einsatz von Spinnmaschinen wie der legendären „Spinning Jenny“ ( James Hargreaves; 1764) und der mechanischen Webmaschine (Edmund Cartwright; 1785) revolutioniert wurde. Außerdem kam es in der Eisenproduktion zu technischen Verbesserungen. So war es z. B. durch das Puddelverfahren (Henry Cort; 1783) nun möglich, größere Mengen in besserer Qualität und in unterschiedlichen Rohformen herzustellen (Träger, Stangen etc.) (vgl. Bortis 2014, S. 27-35). Darüber hinaus trug die Verbesserung der Dampfmaschine durch James Watt (1769) wesentlich zur Dynamik der Industrialisierung bei. Während z. B. die Textilindustrie zuvor noch Wasser als Energiequelle für den Antrieb der Maschinen genutzt hatte, war sie nun nicht mehr auf Standorte in Flusstälern angewiesen. Durch ständige Leistungsverbesserungen - u. a. den Bau der Dampflokomotive (George Stephenson; 1814) - konnte sie zunehmend auch im Transportwesen eingesetzt werden. Dabei erwies sich das Eisenbahnwesen als ein weiterer Motor der Industriellen Revolution. Zum einen trat es als wichtiger Nachfrager auf, denn für einen Schienenstrang von einem Kilometer Länge wurden 190 Tonnen Eisen benötigt. Zum anderen sorgte es durch die schnellen und preiswerten Transportmöglichkeiten für eine intensive Vernetzung der Industriebetriebe und eine Erschließung neuer Absatzmärkte. In Großbritannien - das generell eine Pionierrolle einnahm - wuchs das Streckennetz z. B. seit der Eröffnung der ersten öffentlichen Linie zwischen Darlington und Stockton (1825) innerhalb weniger Jahrzehnte von 40 auf 10.000 Kilometer (vgl. Liedtke 2012, S. 39). „Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.“ Heinrich Heine in Paris (1843) Der wichtigste „Treibstoff “ der Industrialisierung war die Kohle, die aufgrund ihrer großen Energieeffizienz bei der Verhüttung von Erzen und für den Antrieb von Maschinen, Lokomotiven etc. verwendet wurde. Durch den Abbau von ober- und unterirdischen Rohstoffvorkommen entstanden weitläufige Industrielandschaften, die sich an der Ausdehnung der Grubenfelder orientierten - z. B. in Wales, Cornwall und West Devon (Großbritannien) sowie in Nord-Pas-de Calais (Frankreich) (vgl. Höhmann 2016, S. 22-23). Da sich in räumlicher Nähe zu den Zechen auch eisen- und stahlverarbeitende Betriebe ansiedelten, entstand dort eine Verbundwirtschaft mit einer vertikalen Konzentration der ver‐ 32 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="33"?> schiedenen Produktionsstufen. Durch die Dominanz der Montan- und Schwerindustrie wiesen Regionen wie z. B. das Ruhrgebiet eine Monostruktur auf, die sich im 20. Jahrhundert als großes Hemmnis bei dem notwendigen Strukturwandel erweisen sollte. An die Stelle der handwerklichen Heimarbeit und des traditionellen Manufaktursystems trat nun das Fabrik- und Maschinensystem. Die Arbeitsplätze konzentrierten sich in großen, neu errichteten Gebäudekomplexen, die in der Regel im Privatbesitz wohlhabender Unternehmer waren. Der Arbeitsablauf wurde durch den Rhythmus der Maschinen diktiert, die aufgrund des hohen Kapitaleinsatzes möglichst effizient genutzt werden sollten. Da die Organisation des Produktionsprozesses in Form einer normierten und strikt kontrollierten Arbeitsteilung erfolgte, konnten an- und ungelernte Arbeitskräfte eingesetzt werden - häufig auch Frauen und Kinder. „In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. […] In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebenden Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.“ Karl Marx (1867) Durch die Schaffung einer großen Zahl neuer Arbeitsplätze wurde nicht nur eine Land-Stadt-Wan‐ derung aus der näheren Umgebung der Industriestandorte ausgelöst, sondern auch eine Fernwan‐ derung von Arbeitskräften aus peripheren Agrarregionen (z. B. den Ostprovinzen des Deutschen Reiches). Diese Migrationsprozesse trugen zu einer rasanten Urbanisierung bei. Zum einen erlebten traditionelle Orte eine rasche Expansion - wie z. B. die Reichs- und Hansestadt Dortmund, deren Einwohnerzahl seit der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von ca. 10.000 auf mehr als 144.000 stieg. Zum anderen entwickelten sich kleine Landgemeinden in wenigen Jahren zu weitläufigen Industriedörfern und in direkter Nähe zu den Fabriken, Schachtanlagen und Hochöfen entstanden neue Arbeitersiedlungen und Zechenkolonien (vgl. Czierpka 2019, S. 15; Vonde 2021) (→ 2.5). Das explosionsartige Wachstum und der wirtschaftliche Aufschwung der Städte hatten jedoch auch Schattenseiten. Aufgrund der planlosen und unkontrollierten Entwicklung herrschten speziell in den Arbeiterquartieren gravierende soziale und städtebauliche Missstände, die Friedrich Engels z. B. in seiner Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845) eindrucksvoll beschrieben hat - von baufälligen Mietshäusern über eine unzureichende Wasserversorgung und Kanalisation bis hin zu einer enormen Überbelegung der Wohnungen (u. a. durch Schlafgänger, die ein Bett nur für einige Stunden mieteten und es während der Abwesenheit des Wohnungsinhabers nutzten). Zu den negativen Begleiterscheinungen der Industriellen Revolution gehörte auch der rück‐ sichtlose Umgang mit der Natur. Mit dem Bau und Betrieb von Fabriken, Hochöfen etc. war nicht nur eine erhebliche Veränderung des Landschaftsbildes verbunden, sondern häufig auch eine Verunreinigung der Böden und des Grundwassers. Um Kohle und Erze abzubauen, wurde unter Tage Hunderte Kilometer lange Stollen angelegt, die inzwischen baufällig werden und immer wieder zu Tagesbrüchen führen, bei denen es zu Schäden an Häusern, Eisenbahnschienen etc. kommt. Zu den Umweltschäden zählten auch die Staub-, Asche- und Rußemissionen: Noch in den 1970er-Jahren waren sie im Ruhrgebiet so hoch, dass die Wäsche nicht zum Trocknen in das Freie gehängt werden konnte und die Häuser nicht gestrichen wurden, da sie schnell wieder verdreckt gewesen wären (vgl. Schreckenberg 2018). „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Willy Brandt auf einem SPD-Wahlkongress am 28. April 1961 33 2.1 Die Industrielle Revolution: Innovationen - Umbrüche - Missstände <?page no="34"?> 10 | Drangvolle Enge herrschte in den common lodging-houses, die es im viktorianischen England in vielen Industriestädten gab. Die Zuwanderer vom Land lebten dort unter äußerst kargen, unhygienischen und auch unmoralischen Bedingungen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Eigentümer dazu verpflichtet, eine funktionierende Wasserversorgung sicherzustellen und die Wände zwei Mal im Jahr durch einen Kalkanstrich zu desinfizieren. Außerdem durften Männer und Frauen nicht mehr gemeinsam in einem Raum übernachten. Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion - die „dunklen“ Seiten der Industriegeschichte Soziales Elend, Ausbeutung und Unterdrückung - diese gesellschaftlichen Missstände in der Frühphase der Industriellen Revolution sind bereits von zeitgenössischen Wissenschaftlern, Schriftstellern, Malern, Journalisten etc. vielfach angeprangert worden (exemplarisch soll hier auf die Werke von Charles Dickens und Gerhart Hauptmann verwiesen werden) (vgl. Zimmermann 2020). Zu den düsteren Aspekten der Industriegeschichte gehört jedoch nicht nur die soziale Lage des Proletariats im 19. Jahrhundert, die durch die staatliche Sozialgesetzgebung zunehmend 34 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="35"?> verbessert wurde (z. B. durch die Einführung einer öffentlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung). Auch im 20. Jahrhundert ist es noch in vielen Industriebetrieben zu einer unmenschlichen Behandlung der Arbeiter gekommen - speziell in politischen Unrechts‐ systemen (vgl. Soyez 2014, S. 36-37; 2016, S. 63-65; Li/ Soyez 2017, S. 3-4): ■ In der Sowjetunion bestand seit den 1920er-Jahren das als Gulag bezeichnete System von knapp 500 Lagerkomplexen, in denen politische Gegner, Kriegsgefangene, Kriminelle etc. inhaftiert waren - speziell in Sibirien. Dort mussten die Insassen unter extremen Bedingungen (Kälte, Hunger etc.) schwere körperliche Tätigkeiten in der Land- und Forstwirtschaft, im Bergbau und in verschiedenen Industriezweigen verrichten. Schät‐ zungen gehen davon aus, dass bis Mitte der 1950er-Jahre mehr als 20 Millionen Menschen zur Sklavenarbeit in den Lagern gezwungen worden sind. 4,5 Millionen Häftlinge starben bereits während des langen Transports oder später an Erschöpfung (vgl. Knigge/ Scher‐ bakowa/ Landau 2014). ■ In Japan wurden während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Zwangsarbeiter aus den annektierten Ländern Korea, China etc. sowie alliierte Kriegsgefangene unter harten und diskriminierenden Behandlungen in Kohlegruben, Fabriken etc. eingesetzt. Sie stellten z. B. auf der Insel Hashima/ Gunkanjima mehr als 1.700 der insgesamt 5.000 Bergleute; viele von ihnen starben an Unterernährung und Krankheiten bzw. bei Arbeitsunfällen. Wissenschaftler aus Korea und anderen Ländern bemängeln, dass diese historische Tatsache bei Führungen und auf Informationstafeln verschwiegen wird - trotz einer entsprechenden Vereinbarung mit der japanischen Regierung bei der Aufnahme der Insel in die UNESCO-Welterbeliste im Jahr 2015 (vgl. Hong 2015; Palmer 2018; Sanggu 2020) (→ 2.3). ■ „Vernichtung durch Arbeit“ - unter diesem menschenverachtenden Motto nutzte auch das nationalsozialistische Regime die Arbeitskraft von Deportierten, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen. In der Völklinger Hütte im Saarland handelte es sich z. B. Ende der 1940er-Jahre bei 35-40 Prozent der Beschäftigten um Zwangsarbeiter und Kriegs‐ gefangene aus der Sowjetunion, Frankreich etc., die unzureichend ernährt und häufig misshandelt wurden. Zur Disziplinierung der Arbeiter verfügte der Betrieb sogar über eigene Schnellgerichte und ein Erziehungslager (vgl. Lemmes 2009). In Deutschland ist die Darstellung dieser unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen bereits ein fester Bestandteil der Erinnerungskultur - z. B. in der KZ-Gedenkstätte Mittel‐ bau-Dora (Thüringen), der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Bayern) bzw. dem Historisch-Tech‐ nischen Museum Peenemünde (Mecklenburg-Vorpommern). Einige Experten warnen deshalb davor, diese ausbeuterische Praxis unter den Begriffen „Industriegeschichte“ bzw. „Industrie‐ kultur“ zu subsumieren und damit zu relativieren (vgl. Häder 2017, S. 23). 2.2 Die altindustriellen Regionen: Probleme - Herausforderungen - Perspektiven Trotz solcher ökologischen und gesellschaftlichen Probleme hatten die Industrieregionen über einen langen Zeitraum hinweg eine große Bedeutung als nationale Innovations- und Wirtschafts‐ zentren. In England wurden z. B. Manchester und Leeds mit ihren boomenden Textilfabriken als „wonders of the world, bustling with prosperity and civic pride“ betrachtet und das Ruhrgebiet galt 35 2.2 Die altindustriellen Regionen: Probleme - Herausforderungen - Perspektiven <?page no="36"?> vor dem Ersten Weltkrieg als die „(schwer-)industrielle Herzkammer des Deutschen Reiches“ (Cossons 2011, S. 4; Berger 2019, S. 5). Gleichwohl kam es immer wieder zu strukturellen Krisen, die durch politische bzw. wirtschaft‐ liche Faktoren ausgelöst wurden; dazu zählen z. B. (vgl. Hollmann 2011, S. 87-90): ■ Kohlenkrise: Bereits seit Ende der 1950er-Jahre sank die Nachfrage nach Kohle, da in der Industrie, im Transportwesen und in privaten Haushalten zunehmend Mineralöl als Energieträger eingesetzt wurde. Aufgrund des Wegfalls von Zöllen konnte Kohle außerdem preisgünstig aus anderen Fördergebieten importiert werden (USA, Großbritannien etc.). ■ Werftenkrise: Der Ausbau der Schiffsbaukapazitäten in Asien ( Japan, Südkorea etc.) ver‐ schärfte die Wettbewerbssituation der deutschen Werften. In der Folge mussten mehrere Traditionsbetriebe ihre Produktion einstellen und ihre Mitarbeiter entlassen. ■ Textilkrise: Ein ähnlicher Rückgang fand im deutschen Textil- und Bekleidungsgewerbe statt. Angesichts sinkender Umsätze und hoher Herstellungskosten stellten viele Unternehmen die Produktion ein oder verlagerten sie in Niedriglohnländer in Südostasien, Osteuropa und Mittelamerika (sweatshops). Seit 1970 hat die Branche ca. neun Zehntel der Betriebe und Beschäftigten verloren. ■ Stahlkrise: Die wachsende internationale Konkurrenz (speziell aus Japan, Brasilien, Indien und China) führte seit Ende der 1960er-Jahren auch auf dem Stahlmarkt zu Überkapazitäten und einem ruinösen Preiskampf. Die Zahl der Beschäftigten in der deutschen Stahlindustrie ging im Zeitraum 1960-2020 von 417.00 auf 87.000 zurück. In diesen Krisen spiegelte sich der generelle Wandel von der Industriegesellschaft zur Informations- und Wissensgesellschaft wider, der seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland stattgefunden hat. So ist der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen von 1950 bis 2019 auf 24 Prozent gesunken, während er im Dienstleistungsbereich auf 75 Prozent stieg. Durch den Prozess der Deindustrialisierung wurden die altindustriellen Räume in Europa und den USA zu Problemregionen, deren Umstrukturierung und Revitalisierung bis in die Gegenwart andauert (vgl. Weigl 2011, S. 12; Fleiß 2014, S. 58-59; Görmar u. a. 2019, S. 25): ■ Traditionell wird die Wirtschaft durch große Industriebetriebe aus der Frühphase der Industrialisierung geprägt. Aufgrund der Dominanz einer bzw. weniger Branchen (Bergbau, Schwer- und Textilindustrie etc.) weist auch der Arbeitsmarkt eine einseitige Struktur auf. Deshalb verfügen die Beschäftigten nur über eine traditionelle Ausbildung als Bergmann bzw. Industriearbeiter; für eine Tätigkeit in anderen Wirtschaftsbereichen sind sie nicht hinreichend qualifiziert. ■ Durch konjunkturelle Krisen bzw. einen generellen Strukturwandel kommt es zu einer zu‐ nehmenden Zahl von Entlassungen bzw. Betriebsschließungen (auch in den Zuliefererbran‐ chen). Sie führen zu einer wachsenden Arbeitslosigkeit sowie zur Abwanderung jüngerer Bevölkerungsgruppen und Überalterung einzelner Stadtviertel. ■ Speziell die Langzeitarbeitslosigkeit bringt die Betroffenen in eine wirtschaftliche und soziale Notlage. Typische Folgen sind eine schlechte körperliche und seelische Verfassung, aber auch eine Zunahme des Alkoholbzw. Drogenmissbrauchs sowie der Kleinkriminalität. ■ Als weiteres Problem erweist sich die regionale Siedlungs- und Infrastruktur. Da sie ausschließlich auf die speziellen Interessen der Industrieunternehmen ausgerichtet ist, entspricht sie nicht mehr den zeitgemäßen Anforderungen neotechnischer Betriebe. 36 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="37"?> ■ Die industrielle Produktion war vielerorts mit erheblichen Eingriffen, Umgestaltungen oder Belastungen der Natur und Umwelt verbunden. Vor einer anderweitigen Nutzung der Standorte müssen z. B. häufig erst die ökologischen Altlasten beseitigt werden. ■ Angesichts dieser Defizite haben altindustrielle Regionen ein schlechtes Binnen- und Au‐ ßenimage (vgl. Roters/ Seltmann/ Zöpel 2019, S. 57-78 zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Vorurteilen über das Ruhrgebiet). 11 | Zugenagelte Fenster und heruntergelassene Rollläden: Der industrielle Niedergang hat auch schwerwiegende Folgen für andere Wirtschaftszweige - speziell den örtlichen Einzelhandel. Da viele Bewohner arbeitslos werden oder in andere Regionen abwandern, sinkt die lokale Kaufkraft. Aufgrund der geringen Umsätze müssen zahlreiche Läden schließen und es entstehen ganze Straßenzüge mit leerstehenden Geschäftshäusern. In dieser desolaten Situation haben die Verantwortlichen große Schwierigkeiten, neue Investoren zu gewinnen (wie in der englischen Hafenstadt Birkenhead). Im Rahmen des angestrebten Strukturwandels müssen die altindustriellen Regionen zahlreiche Hemmnisse, Vorbehalte etc. überwinden; dazu bedarf es großer Anstrengungen seitens der Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Das Aufgabenspektrum umfasst dabei drei Maßnahmenbereiche (vgl. Weigl 2011, S. 14): ■ die strukturelle Regeneration - z. B. durch die Ansiedlung neuer, wettbewerbsfähiger Unter‐ nehmen sowie die Unterstützung von Klein- und Mittelbetrieben, ■ die Nachnutzung von Standorten - z. B. durch die Sanierung ehemaliger Industrieflächen sowie die Schaffung neuer Geschäfts- und Bürostandorte, 37 2.2 Die altindustriellen Regionen: Probleme - Herausforderungen - Perspektiven <?page no="38"?> ■ die Neunutzung von Gebäuden und Arealen - z. B. durch die Umwandlung von Industriere‐ likten in Museen, Hotels, Veranstaltungsorte etc. sowie die Konversion von Brachflächen in Erholungslandschaften. Der Tourismus stellt also nur ein Instrument der Revitalisierung altindustrieller Regionen dar. Aus Sicht der Verantwortlichen sind mit dem Erhalt und der touristischen Nutzung stillgelegter Einrichtungen folgende Ziele und Erwartungen verbunden (vgl. Neumann/ Trettin/ Zakrzewski 2012, S. 86; Murray 2016, S. 5): ■ Zum einen können Industrierelikte als Identifikationsobjekte für die Bewohner dienen, um deren Stolz auf die eigene Geschichte zu fördern und die regionale Verbundenheit zu stärken. ■ Zum anderen geht es darum, die touristische Nachfrage zu beleben und dadurch zusätzliche Einnahmen zu erzielen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. ■ Schließlich soll das desolate Bild in der Öffentlichkeit verbessert werden, um die Attraktivität der Städte und Regionen für Investoren, Arbeitskräfte und auswärtige Besucher zu steigern (vgl. Tomann 2014 zum Versuch der polnischen Industriestadt Katowice, sich als „Stadt der Gärten“ zu vermarkten). Abb. 12 4,2 4,3 4,7 4,7 4,7 4,8 4,85,0 5,0 5,05,2 5,2 5,7 6,5 7,2 7,7 Duisburg Gelsenkirchen Oberhausen Hagen Leverkusen Hamm Bochum Mönchengladbach Essen Mülheim/ Ruhr Wuppertal Dortmund Durchschnittswert Münster München Hamburg 12 | „Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil“ - dieser Satz von Albert Einstein trifft auch auf das negative Image der Industriestädte in Nordrhein-Westfalen zu, das selbst durch mehrere Werbekampagnen bislang nicht verbessert werden konnte. In einem bundesweiten Ranking weisen sie jeweils eine besonders niedrige Markenstärke auf. Dieser Indexwert basiert auf der subjektiven Einschätzung von 10.000 Bundesbürgern, die in einer Befragung u. a. folgende Merkmale der Städte bewertet haben - die Lebens- und Wohnqualität, den guten Ruf, die Einzigartigkeit, die generelle und touristische Attraktivität sowie die zukünftige Entwicklung. 38 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="39"?> Die touristischen Potenziale des industriekulturellen Erbes Diese Zielvorstellungen erweisen sich insofern als realistisch, weil altindustrielle Regionen durchaus über Potenziale als Ausflugs- und Reiseziele verfügen; dazu zählen u. a. (vgl. Marot/ Harfst 2012; Wirth/ Černič Mali/ Fischer 2012a, S. 20-25; Harfst/ Wust/ Nadler 2018): ■ Kulturelle Potenziale: Generell sind durch die Industrielle Revolution enorme technische, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen ausgelöst worden. In diesem Kontext ist eine spe‐ zifische Industriekultur entstanden, die sich zu einem in materiellen Relikten wie Gebäuden, technischen Anlagen und Infrastruktureinrichtungen widerspiegelt. Zum anderen umfasst der Begriff jedoch auch immaterielle Elemente der Alltags- und Festkultur wie Sprache, Brauchtum, Vereinswesen etc., die selbst nach der Schließung von Fabriken und Zechen von der einheimischen Bevölkerung noch gepflegt werden (zu den Pionieren einer ganzheitlichen Betrachtung des industriekulturellen Erbes gehörte der Kulturhistoriker Hermann Glaser, der bereits in den 1980er-Jahren auf diese gesellschaftlichen Aspekte verwiesen hat). In ihrer Gesamtheit stellt die facettenreiche Industriekultur für die altindustriellen Regionen eine wichtige Ressource dar, die in vielfältiger Weise touristisch genutzt werden kann - z. B. durch Museen, Besucherbergwerke, Ausstellungen, Events etc. ■ Natürliche Potenziale: In den ehemaligen Bergbauregionen sind beim unterirdischen Abbau von Kohle und Erzen hohe Abraumhalden aufgeschüttet worden, die - nach einer Renatu‐ rierung und Erschließung - als Aussichtspunkte und Naherholungsgebiete dienen können. Auch die stillgelegten Tagebauflächen des Braunkohleabbaus bieten Möglichkeiten einer neuen Nutzung als Erholungsflächen - z. B. durch die Anlage von Seenlandschaften mit Hilfe einer natürlichen bzw. künstlichen Flutung. Darüber hinaus gibt es europaweit mehrere Modellprojekte für eine Nutzung der erneuerbaren Energie (Biomasse, Thermalwasser etc.) (→ 4.5). Abb. 13 Potenziale altindustrieller Regionen erneuerbare Energie natürliche Potenziale kulturelle Potenziale Landschaften (Halden, Seen) Gebäude/ Relikte Infrastruktureinrichtungen Traditionen/ Brauchtum Größer 13 | Die Krise als Chance - auf den ersten Blick erscheinen altindustrielle Regionen als strukturschwache Problem‐ regionen, die mit Arbeitslosigkeit, Armut und Abwanderung zu kämpfen haben. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sie auch über zahlreiche natürliche und kulturelle Potenziale verfügen, die touristisch inwertgesetzt werden können. Bislang haben sich Politiker, Stadtplaner, Initiativgruppen und Touristiker vor allem auf die Bewahrung und Nutzung altindustrieller Einrichtungen und Regionen konzentriert. Gleichwohl handelt es sich beim Niedergang einzelner Industrie- und Energiezweige am Standort Deutschland nicht um einen abgeschlossenen Prozess (vgl. Meier/ Steiner 2018, S. 29): ■ Bereits seit den 1990er-Jahren haben viele Unternehmen ihre Produktionsstätten nach Mittel- und Osteuropa, Asien und in die Länder des Globalen Südens verlagert, um Kostenvorteile zu nutzen und neue Märkte zu erschließen. 39 2.2 Die altindustriellen Regionen: Probleme - Herausforderungen - Perspektiven <?page no="40"?> ■ Durch den geplanten Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahr 2022, der im Jahr 2011 von der Bundesregierung nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima beschlossen wurde, wird es in naher Zukunft in Deutschland zahlreiche Relikte dieser umstrittenen Art der Energieerzeugung geben (vgl. Kieselhorst 2017; Geppert 2019 zu den touristischen Potenzialen stillgelegter atomarer Anlagen). ■ Im Jahr 2020 ist das „Kohleausstiegsgesetz“ in Kraft getreten, mit dem der Umbau der Energieversorgung auf nachhaltige Energie vorangetrieben werden soll. Es sieht aktuell vor, sämtliche Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke in Deutschland bis spätestens 2038 stillzulegen. Durch diesen anhaltenden Prozess der Deindustrialisierung werden auch künftig neue Industrie‐ ruinen und Bergbaufolgelandschaften entstehen. Allerdings haben nicht alle funktionslosen Fabri‐ ken oder stillgelegten Tagebaue eine derart große historische, architektonische bzw. technische Bedeutung, dass sie als Denkmäler für nachfolgende Generationen dienen können; vielmehr kommt es in der Regel zu einem Abriss (→ 4). Doch selbst Industrierelikte, die unter denkmalpflegerischen Kriterien erhaltenswert sind, verfügen nicht per se über ein Potenzial als touristische Sehenswürdigkeiten. Um auf ein breiteres öffentliches Interesse zu stoßen, müssen sie ungewöhnliche, möglichst einzigartige Eigenschaften aufweisen. Solche Alleinstellungsmerkmale sind z. B. eine beeindruckende Größe, eine markante Architektur bzw. eine spektakuläre Technik. Darüber hinaus spielen auch geographische und logistische Standortfaktoren eine große Rolle - wie die Nähe zu Ballungsgebieten, die Verkehrs‐ anbindung bzw. die touristische Infrastruktur in der Region etc. (vgl. Craveiro/ Dias-Sardinha/ Mil‐ heiras 2013; Somoza/ Monteserín-Abella 2021). Vor Beginn einer jeden Musealisierung bzw. Touristifizierung muss also zunächst eine Stär‐ ken-/ Schwächen-Analyse erstellt werden, in der die Attraktivität und Marktfähigkeit der Objekte untersucht wird. Exemplarisch ist hier die Bestandsaufnahme des industriekulturellen Erbes in Sachsen-Anhalt zu nennen, in der die folgenden Kriterien zur Klassifizierung von mehr als 300 Orten und Denkmälern verwendet worden sind (vgl. Staatskanzlei 2020, S. 26): ■ zeugnishafte Aussagekraft für regionale Leitindustrien, ■ herausragendes Beispiel des Ingenieurbaus, ■ bereits bestehende Bedeutung als Besucherattraktion bzw. außerschulischer Lernort, ■ wichtiger Ort der lokalen Identitätsbildung und Erinnerungskultur (Landmarken), ■ produzierender Betrieb in einem denkmalgeschützten Objekt, ■ attraktives Beispiel für die erfolgreiche Neunutzung eines industriellen Gebäudes, ■ ruinöser Bau, der als „letzter seiner Art“ erhaltenswert ist. Im Falle einer touristischen Erschließung bedarf es umfangreicher Sicherungs-, Restaurierungs- und Erschließungsmaßnahmen, um Besuchern einen gefahrlosen Zutritt zu ermöglichen. Außer‐ dem müssen die Verantwortlichen ein professionelles Marketing und Management betreiben: ■ Durch umfangreiche Kommunikationsmaßnahmen sollte zum einen sichergestellt werden, dass die Einrichtungen bei den Nachfragern einen festen Platz im evoked set - dem Spektrum möglicher Reiseziele - einnehmen. ■ Zum anderen geht es darum, mit Hilfe leistungspolitischer Instrumente kundengerechte und zeitgemäße Produkte zu entwickeln (Ausstellungen, Führungen, Präsentation etc.). 40 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="41"?> Im Folgenden soll dieser Transformationsprozess anhand ausgewählter Typen industrietouristi‐ scher Sehenswürdigkeiten erläutert werden - von Lost Places und Geisterstädten über stillgelegte Industriebetriebe bis hin zu privaten Firmenmuseen und Markenwelten. Organisationen, Initiativen und Informationsquellen im Bereich der Industriekultur Neben der UNESCO, die u. a. für die Aufnahme materieller und immaterieller Kulturgüter bzw. -traditionen in die Welterbeliste zuständig ist, setzen sich mehrere internationale bzw. nationale Organisationen für den Erhalt, die Erschließung und die Vermittlung der Industriekultur ein (vgl. Mihić/ Makarun 2017): ■ International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) - u. a. mit der Formulierung von Grundsätzen und Richtlinien wie der „International Cultural Tourism Charter“ (1999), der „Charter on Cultural Routes“ (2008), den „Dublin Principles“ (2011) und der „Burra Charter“ (2013) (→ 5) (▷ https: / / www.icomos.org/ ) ■ The International Committee for the Conservation of the Industrial Heritage (TICCIH) - u. a. mit der Verabschiedung der „Nizhny Tagil Charter for the Industrial Heritage“ (2003) und der „Taipei Declaration for Asian Industrial Heritage“ (2012) (▷ https: / / ticcih.org/ ) ■ Trans Europe Halles - eine Kooperation von Akteuren in 39 europäischen Ländern, die sich für die Nutzung historischer Industriegebäude als Kultur- und Kunstzentren engagieren (▷ https: / / teh.net) ■ E-FAITH - European Federation of Associations of Industrial and Technical Heritage - eine Plattform zur Förderung der Zusammenarbeit von Freiwilligen und Non-Profit-Or‐ ganisationen in Europa (▷ http: / / www.e-faith.org/ home/ ) ■ Industrial Heritage Network - eine englische Dachorganisation, in der sich zahlreiche Initiativen aus mehreren Teilen des Landes zusammengeschlossen haben (▷ https: / / indu strialheritagenetworks.com/ ) ■ Industrie.Kultur.Ost - eine Initiative, deren Mitglieder sich ehrenamtlich für die Erfas‐ sung, Vermittlung und Bewahrung von Industrierelikten in Ostdeutschland einsetzen (▷ https: / / www.industrie-kultur-ost.de/ ) Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Informationsquellen und Publikationen zu diesem Thema; dazu zählen u. a.: ■ Industriekultur. Magazin für Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Tech‐ nik-geschichte - eine Fachzeitschrift, die seit 1995 über aktuelle Entwicklungen, Projekte, Publikationen etc. berichtet (▷ https: / / industrie-kultur.de/ ik/ zeitschrift/ ) ■ Denkmalradar - eine Datenbank mit Angaben zu bedrohten Baudenkmäler und beispiel‐ haften Denkmalsanierungen in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt (u. a. auch zu zahlreichen Industrierelikten) (▷ http: / / denkmalradar.de/ ) ■ Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.; 2021): Zukunft der Industriekultur, Bonn (Kultur‐ politische Mitteilungen; III/ 174) Themenheft der Fachzeitschrift mit zahlreichen Artikeln zu den Perspektiven der Industrie‐ kultur (Entwicklungspotenziale, Diversität, Multiperspektivität, Mobilisierung bildungsfer‐ ner Gruppen etc.) ■ Land Nordrhein-Westfalen u. a. (Hrsg.; 2014): Industriekultur 2020. Positionen und Visionen für Nordrhein-Westfalen, Essen 41 2.2 Die altindustriellen Regionen: Probleme - Herausforderungen - Perspektiven <?page no="42"?> Umfangreicher Sammelband mit Beiträgen zu unterschiedlichen Aspekten der Industrie‐ kultur (Lobbygruppen, Netzwerkbildung, Bildung, Partizipation etc.) und zum künftigen Handlungsbedarf („Charta Industriekultur NRW 2020“) sowie mit Fotos und Beschreibungen zahlreicher Industriedenkmäler in Nordrhein-Westfalen 2.3 Lost Places und Geisterstädte 14 | Ein einsamer Spaziergang durch eine Geisterstadt - bis zum Jahr 1974 befand sich auf der Insel Hashima/ Gun‐ kanjima in der Nähe von Nagasaki (Japan) eine Kohlezeche. Um die 5.000 Beschäftigten und ihre Familien unterzubringen, wurden neben den Förderanlagen auch große Wohnkomplexe, Restaurants, Schulen etc. errichtet. Seit 2009 kann die Insel im Rahmen von Bootstouren besichtigt werden und im Jahr 2015 wurde sie als eine von 23 Stätten des Bergbaus, der Schwerindustrie und des Schiffbaus aus der Meiji-Zeit (1868-1912) in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen. „Tote Stadt“ - unter dieser unheimlichen Bezeichnung ist die verlassene Zechensiedlung auf der japanischen Insel Hashima/ Gunkanjima weltweit bekannt geworden. Für ihre große Popularität hat vor allem der Spielfilm „James Bond 007 - Skyfall“ gesorgt, in dem sich der Schurke Raoul Silva in der Ruinenstadt versteckt. Aus Sicherheitsgründen konnten dort zwar keine Dreharbeiten stattfinden, doch die verfallenen Gebäude haben als Vorlage für eine spektakuläre Studiokulisse gedient. Seit dem Erscheinen des Films im Jahr 2012 sind die Besucherzahlen deutlich gestiegen; gegenwärtig verzeichnet die Insel jährlich ca. 300.000 Gäste. 42 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="43"?> Selbst wenn nur wenige Industrierelikte eine derartig große internationale Aufmerksamkeit erzielen können, so werden Industrieeinrichtungen kurz nach der Stilllegung häufig als Schau‐ plätze bzw. Drehorte von Spielfilmen genutzt - speziell Krimis, Spionagefilmen und dystopischen Science-Fiction-Filmen. Im Gegensatz zu vielen anderen Locations geht es dabei nicht um einen exakt lokalisierbaren Ort. Vielmehr dienen solche Lost Places als archetypische Szenarien des Schreckens und der Gewalt, in denen die unschuldigen Opfer gequält werden oder das finale Shoot-Out stattfindet (vgl. Steinecke 2016, S. 24-31 zu den Realkulissen von Dreharbeiten; Fraser 2015 zur Funktion urbaner Ruinen als Schauplätze von Computer- und Videospielen). „Vor ihrem inneren Auge sieht sie von zu Hause abgehauene Jugendliche, die mit ihren Schlafsäcken in den verfallenen Treppenaufgängen kauern und sich am Lagerfeuer wärmen, sie stellt sich düstere Drogendeals vor oder wilde Schießereien in den hallenden Ruinen.“ Bericht über den Location Scout Andrea Giesel in Hannover (Tonn 2017) Selbst wenn das Kino- und TV-Publikum solche spektakulären Bilder von verlassenen Fabrik‐ hallen, verrosteten Hochöfen und überwucherten Gleisen goutiert, so tragen sie aus Sicht der altindustriellen Regionen dazu bei, das negative Image zu bestätigen und zu verfestigen. Damit besteht die Gefahr, dass sie auf der mental map der Zuschauer dauerhaft als desolate und gefährliche Räume verankert werden. Entsprechende Befürchtungen hatten z. B. die Verantwortlichen in Duisburg: Nach der endgül‐ tigen Schließung des Krupp-Stahlwerks im Jahr 1993 verloren viele Menschen ihre Arbeitsplätze. Speziell der Stadtteil Rheinhausen galt aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der Schließung von Geschäften lange Zeit als „Tothausen“. Die Lokalpolitiker unternahmen große Anstrengun‐ gen, andere Unternehmen auf dem Gelände anzusiedeln und vor allem auch das Bild in der Öffentlichkeit zu verbessern. Für Proteste sorgte deshalb der Westdeutsche Rundfunk (WDR), der dort im Jahr 2008 eine Folge der TV-Reihe „Tatort“ drehte und Duisburg in einer Presseerklärung als einen „vom Niedergang bedrohten Ort“ bezeichnete. Zu ähnlichen Reaktionen kam es auch im Jahr 2019, als der Dortmunder Oberbürgermeister in einem offenen Brief an den WDR-Intendanten gegen die klischeeartige und unrealistische Darstellung seiner Stadt in einer anderen „Tatort“-Folge protestierte (vgl. Schrapers 2008; Wahl-Immel 2019). Industriegeschichtliche Lost Places werden jedoch nicht nur als Drehorte von Filmen genutzt, sondern sind inzwischen auch zu beliebten Motiven von Berufs- und Hobbyfotografen geworden, die ihre Werke in Bildbänden, auf Websites und in den Sozialen Medien publizieren. Ihnen geht es zumeist nicht um die architekturhistorische Bedeutung der Bauten (wie z. B. Bernd und Hilla Becher als Pionieren der Industriefotografie), sondern um die sinistre und unheimliche Schönheit dieser Orte. Damit stehen sie in der Tradition der Ruinenromantik des 18. und 19. Jahrhunderts, als verfallene und von Pflanzen überwucherte Gebäude beliebte Sujets von Dichtern wie Joseph von Eichendorff und Malern wie Caspar David Friedrich waren. Damals wie heute findet in den Darstellungen eine idyllische Verklärung des Verfalls statt - während menschliche Schicksale und soziale Probleme der Vergangenheit weitgehend ausgeblendet werden (vgl. Prietzel 2009, S. 58-59; Steinecke 2021, S. 95). „Industriekultur, das ist heute bisweilen ‚Industrial Porn‘, verfallene Industrieruinen, die als coole Fotolocations taugen, oder ‚Industrial Design‘, Vintageästhetik.“ Misik 2020, S. 23 43 2.3 Lost Places und Geisterstädte <?page no="44"?> Fasziniert von dieser pittoresken, melancholischen und geheimnisvollen Aura sind auch die Urban Explorers, die sich weltweit auf die Suche nach verlassenen bzw. öffentlich nicht zugänglichen Gebäuden machen - von Industrierelikten über leerstehende psychiatrische Anstalten bis hin zu stillgelegten U-Bahn-Tunneln. Ihre Motive reichen von einer nahezu kindlichen Vorliebe am Obskuren über ein fachliches Interesse an Technik und Architektur bis hin zu einem anarchistischen Drang, neue Erfahrungen jenseits der Grenzen des Erlaubten zu machen (vgl. DeSilvey/ Edensor 2012; Garrett 2013). Die Urban Explorers führen ihre Erkundungen auf eigene Faust oder allenfalls in kleineren Gruppen durch. Weil sie eine striktere Überwachung oder vollständige Schließung befürchten, werden die Informationen zu den Orten ihrer Begierde innerhalb ihrer community zumeist als Geheimtipps gehandelt (vgl. Fraser 2012). Ausgewählte Websites zum Urban Exploring und zum Filmtourismus ■ „rottenplaces.com. Magazin rund um verfallene Bauwerke, Denkmalschutz & Industrie‐ kultur“ (▷ http: / / www.rottenplaces.de/ main/ ) ■ „marodes.de. Urban Exploration - Lost Places - Schönheit des Verfalls“ (▷ https: / / marodes.de/ ) ■ „Geheime Welten. Dein Portal für Urban Exploring“ (▷ https: / / geheime-welten.de/ ) ■ „Urbex Direct“ (▷ https: / / urbex.direct/ ) ■ „Lost Places Google-Maps-Karte - Urbex Elite“ (▷ https: / / www.chip.de/ downloads/ Lost-Places-Google-Maps-Karte-Urbex-Elite_183695 879.html) ■ „vnv-urbex.de - Schaubergwerke, Schauhöhlen und Museumsbunker“ (▷ https: / / www.vnv-urbex.de/ ) ■ „lost-places.com. Online-Bilderarchiv“ (▷ https: / / www.lost-places.com/ ) ■ „filmtourismus.de. Die Welt der Drehorte“ (▷ https: / / www.filmtourismus.de/ drehorte/ ) Kurz nach der Schließung der Einrichtungen befindet sich der Industrietourismus also noch in einer ungeordneten Embryonalphase. In der Regel versuchen die privaten Besitzer bzw. die öffentlichen Träger sogar, den Zutritt aus Sicherheitsbzw. Haftungsgründen zu verhindern. Erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand beginnt dann in einigen Fällen eine gezielte Öffnung für den Tourismus. Eine wesentliche Voraussetzung ist dabei der Erhalt stillgelegter Industrieanlagen. So hat eine Studie in England ergeben, dass elf Prozent der Gebäude und Einrichtungen, die als denkmalwürdig klassifiziert worden sind, ein Zerfall bzw. Abriss droht; damit sind sie weitaus gefährdeter als andere historische Monumente wie Kirchen, Park- und Gartenanlagen etc. (vgl. Kelleher 2012, S. 20). In der Initialphase des Industrietourismus werden die Relikte den Besuchern zunächst in dem Zustand präsentiert, in dem sie stillgelegt bzw. verlassen worden sind (arrested decay). Zu den besonders eindrucksvollen Beispielen gehören ehemalige Bergbauorte, aus denen die Bewohner nach 44 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="45"?> dem Abbau der Rohstoffvorkommen rasch weggezogen sind und das Mobiliar sowie überflüssige persönliche Gegenstände zurückgelassen haben. Auf diese Weise sind kulissenartige Geisterstädte entstanden - wie z. B. (vgl. Hotten 2011, S. 55-71; Hashimoto/ Telfer 2016; Wood 2020): ■ die Diamantenstadt Kolmannskuppe in Namibia, ■ die Goldgräbersiedlungen Bodie in Kalifornien und Rhyolite in Nevada, ■ die Zechenstadt auf der Insel Hashima/ Gunkanjima in Japan, ■ die (teilweise noch bewohnte) Industriestadt Fordlândia in Brasilien, die Henry Ford in den 1920er-Jahren gründete, um dort Autoreifen aus Kautschuk herstellen zu lassen. 15 | Vom Winde verweht - die stattlichen Gebäude der ehemaligen Diamantensiedlung Kolmannskuppe versinken wieder im Sand der namibischen Wüste, auf dem sie Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet worden sind. Inmitten dieser kargen Umgebung bot die Stadt ihren Bewohnern einen ungewöhnlichen Luxus. Sie wurden mit Strom und Eis (für die Kühlschränke) versorgt und in ihrer Freizeit konnten sie sich in einem Schwimmbad, einer Kegelbahn und einem Ballsaal vergnügen. Als Sonderfall einer solchen Geistersiedlung ist die sozialistische Modellstadt Prypjat in der Ukraine zu nennen: Nach der Explosion eines Reaktors des Kernkraftwerks Tschernobyl am 26. April 1986 wurden die ca. 50.000 Einwohner evakuiert. Da sie davon ausgingen, nach wenigen Tagen zurückkehren zu können, nahmen sie nur die notwendigsten Utensilien mit. Aufgrund der hohen nuklearen Belastung richtete die ukrainische Regierung jedoch eine Sperrzone ein, die lange Zeit nur von Arbeitern und Wissenschaftlern sowie (zu bestimmten Anlässen) auch von den früheren Bewohnern betreten werden durfte. Erst seit 2011 wurde sie zunehmend für organisierte Ausflugstouren geöffnet. Seitdem haben sich die Geisterstadt und der havarierte Reaktor zu „dunklen“ Attraktionen entwickelt, die jährlich von ca. 100.000 Touristen besichtigt werden (vgl. Steinecke 2021, S. 93-100). Von den Besuchern werden die Geisterstädte und ähnliche Industrieruinen zumeist als authen‐ tische Orte betrachtet, an denen die historischen Arbeits- und Lebensbedingungen - wie in einer Zeitkapsel - konserviert worden sind und direkt wahrgenommen werden können. Diese Sicht‐ 45 2.3 Lost Places und Geisterstädte <?page no="46"?> weise wird noch durch die öffentlichen bzw. privaten Betreiber verstärkt, die in ihrer Werbung und Öffentlichkeitsarbeit den unveränderten Originalzustand der Gebäude herausstellen. Am Beispiel der Geisterstadt Prypjat lässt sich verdeutlichen, dass es sich bei dieser Wahr‐ nehmung bzw. diesem Produktversprechen allerdings um eine Schimäre handelt (vgl. Coup‐ land/ Coupland 2014; Rutherford-Morrison 2015; Schwarz 2017; Spode 2020 zu generellen Ausein‐ andersetzungen mit dem Begriff der Authentizität im Tourismus): ■ Zum einen war sie seit der Evakuierung - trotz strikter Zugangsbeschränkungen - das Ziel von Plünderern, die ihr kontaminiertes Diebesgut in anderen Regionen der Ukraine verkauft haben. ■ Zum anderen haben Berufs- und Hobbyfotografen sowie Touristen die zurückgelassenen Habseligkeiten der Bewohner häufig effektvoll arrangiert, um die Morbidität und das Un‐ heilvolle besonders eindrucksvoll darzustellen (z. B. Puppen, Kleidungsstücke, verblichene Fotos kommunistischer Führer). Vor Beginn einer touristischen Nutzung müssen in Geistersiedlungen und anderen Industrierelik‐ ten außerdem einige bauliche und logistische Maßnahmen durchgeführt werden, um die Sicherheit der Gäste zu gewährleisten und den zunehmenden Besucherstrom zu steuern; dazu zählen u. a.: ■ die Restaurierung bzw. Sperrung einsturzgefährdeter Gebäude, ■ die Anlage eines Wegesystems, das auf einer Auswahl sehenswerter Relikte basiert bzw. dem Schutz besonders erhaltenswerter und sensibler Objekte dient, ■ die Lenkung der Besucher durch eine Beschilderung an (Fern-)Straßen, ■ die Information der Gäste (Info-Tafeln, Führungen etc.), ■ der Bau zusätzlicher Basisinfrastruktureinrichtungen (Parkplätze, Toiletten etc.). Letztlich führen diese Eingriffe und Ergänzungen dazu, dass die Touristen selbst an diesen scheinbar unberührten Orten keine unmittelbaren und unverfälschten Erfahrungen machen können; stattdessen wird ihnen dort eine inszenierte Authentizität geboten. 2.4 Stillgelegte Industriebetriebe und Industriemuseen Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln - auf diesen Grundsätzen basiert die Arbeit der öffentlichen Industriemuseen, die vor allem seit den 1970er- und 1980er-Jahren in Deutschland eröffnet worden sind - also nur mit einem geringen time-lag zum Niedergang der industriellen Produktion. Ihre Gründung erfolgte vor dem Hintergrund eines neuen gesellschaftlichen Zeitgeistes, der historischen Objekten und Gebäuden generell eine besondere Bedeutung zuschreibt und extreme Formen einer Fetischisierung annehmen kann (z. B. bei Oldtimern, Antiquitäten etc.). Ein Blick in die Geschichte macht deutlich, dass diese Wertschätzung keineswegs selbstverständlich ist. In früheren Epochen der menschlichen Zivilisation hat ein weitaus sorgloserer, teilweise utilitaristischer Umgang mit dem kulturellen Erbe stattgefunden: Ruinen mittelalterlicher Burgen wurden z. B. häufig als Ställe, Scheunen oder sogar Steinbrüche genutzt und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war es noch üblich, die Fassaden und das Interieur von Kirchenbauten jeweils à la mode umzugestalten. „Wir sind die erste Kultur der Weltgeschichte, die Altes verehrt, nur weil es alt ist, und unsere Museen sind Hochburgen der Konservierung unserer untoten Vergangenheiten.“ Blom 2008 46 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="47"?> Der Drang, das (industrie-)kulturelle Erbe zu bewahren, zu musealisieren oder sogar zu rekon‐ struieren (wie im Fall des Berliner Schlosses), ist in Öffentlichkeit, Kulturwissenschaften und Politik zum Gegenstand eines breiten Diskurses geworden: ■ Die Kritiker betrachten ihn als Ausdruck einer irrationalen Flucht vor der Zukunft und einer Skepsis gegenüber der Gegenwartskultur (speziell der zeitgenössischen Architektur). Darüber hinaus monieren sie die nostalgische Verklärung der Vergangenheit, die - nicht zuletzt für den touristischen Markt - trivialisiert und kommerzialisiert wird (→ 4.3). ■ Die Befürworter verweisen auf die wichtige Funktion von Relikten und Museen als identitäts‐ stiftende Erinnerungs-, Orientierungs- und Lernorte in einer Zeit rasanter Veränderungen - vom grundlegenden Wandel der Landschaft und Umwelt durch Wohnungs-, Wirtschafts- und Infrastrukturbauten über die Dynamik der Arbeitsbedingungen durch neue Technolo‐ gien und Kommunikationsformen bis hin zur sinkenden Halbwertzeit wissenschaftlicher Forschungen und Erkenntnisse (vgl. Lübbe 2004). Ungeachtet dieser Diskussion hat sich in Deutschland und anderen europäischen Ländern (speziell Großbritannien) in den vergangenen Jahrzehnten eine breite industriegeschichtliche Museumslandschaft entwickelt: ■ In Deutschland werden die Industrie-, Bergbau- und Hüttenmuseen in den jährlichen Erhebungen des Instituts für Museumsforschung (Berlin) unter der Kategorie „Naturwissen‐ schaftliche und technische Museum bzw. Freilichtmuseen“ erfasst. Ihre Zahl ist seit 1981 von ca. 200 Einrichtungen (in der BRD) auf mehr als 800 Häuser im wiedervereinten Deutschland gestiegen. Im Jahr 2018 verzeichneten sie 16,8 Millionen Besuche [sic! ] und erreichten damit einen Anteil von 15 Prozent aller Museumsbesuche. ■ In Europa lässt sich die Erweiterung des Angebots exemplarisch an der „Europäischen Route der Industriekultur (ERIH)“ verdeutlichen, die im Jahr 2008 650 Partner hatte. Gegenwärtig werden auf der Website dieses Informationsnetzwerks ca. 2.000 Industriekulturorte aus allen Ländern Europas präsentiert. Grundsätzlich können zwei Typen von Industrie- und Technikmuseen unterschieden werden: Zum einen handelt es sich um stillgelegte Betriebe am historischen Standort (in situ), die in Museen umgewandelt worden sind - wie z. B. das Ruhr Museum auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen oder das Museum Industriekultur in Nürnberg, das in einer ehemaligen Schraubenfabrik aus den 1920er-Jahren untergebracht ist. Zum anderen wurden neue Einrichtungen - speziell Technikmuseen - an anderen Standorten (ex situ) gegründet (z. B. das Technik Museum Sinsheim in Baden-Württemberg oder das Central Museum of Firefighting im polnischen Mysłowice) (vgl. Szromek/ Herman 2019, S. 12). Aus Sicht der Touristen und auch der Destinationsmanager sind jedoch nicht alle Industriemu‐ seen gleichermaßen von Interesse. Angesichts der Fülle und Vielfalt von Einrichtungen, aber auch der großen Zahl konkurrierender Kultur-, Freizeit- und Unterhaltungsangebote müssen sie jeweils über spektakuläre Alleinstellungsmerkmale verfügen, um sich erfolgreich auf dem Tourismusmarkt behaupten zu können. Vor diesem Hintergrund weist die industriehistorische Museumslandschaft hinsichtlich der Gästezahlen eine ausgeprägte Hierarchie auf (vgl. IfM 2019; ERIH/ RVR 2019): ■ Nur einige Industriemuseen konnten sich bislang zu Sehenswürdigkeiten mit einer überre‐ gionalen touristischen Bedeutung entwickeln - wie z. B. der Rammelsberg in Goslar, die Henrichshütte in Hattingen oder die Zeche Zollern II/ IV in Dortmund, die jeweils mehr als 47 2.4 Stillgelegte Industriebetriebe und Industriemuseen <?page no="48"?> 100.000 Gäste/ Jahr verzeichnen. Auch unter den 2.000 Partnern der „Europäischen Route der Industriekultur (ERIH)“ gibt es mit 100 Ankerpunkten nur wenige Besuchermagneten; sie gelten als „Meilensteine europäischer Industriekultur“ und werden in der Öffentlichkeitsar‐ beit besonders herausgestellt. 16 | Ein Industrierelikt der Superlative - der Rammelsberg bei Goslar ist bis zu seiner Schließung im Jahr 1988 mehr als 1.000 Jahre nahezu ununterbrochen in Betrieb gewesen. Aufgrund seiner historischen Bedeutung wurde er im Jahr 1992 - zusammen mit der Altstadt von Goslar - als erstes deutsches Industriedenkmal in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen. ■ Bei der Mehrzahl der Industriemuseen handelt es sich hingegen um kleinere Einrichtungen mit einem lokalen bzw. regionalen Einzugsbereich, die von weniger als 25.000 Gästen/ Jahr besichtigt werden. Angesichts ihres geringen Bestands an Exponaten können sie nur niedrige Eintrittsgelder erheben. In der Regel beschäftigen diese Einrichtungen wenige hauptamtliche Mitarbeiter und ein Teil von ihnen ist nicht ganzjährig geöffnet, sondern stellt seinen Betrieb in den nachfrageschwachen Wintermonaten ein. Aufgrund der begrenzten finanziellen Mit‐ tel bzw. der unzureichenden Personalausstattung verfügt jedes fünfte naturwissenschaftliche und technische Museum z. B. nicht über eine eigene Homepage. Stattdessen präsentieren viele Einrichtungen ihr Angebot auf anderen Websites (Tourist Info, Stadt, Gemeinde, Land etc.) bzw. auf übergreifenden touristischen bzw. regionalen Portalen. 48 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="49"?> Industriemuseum Besucher/ Jahr Ruhr Museum und Denkmalpfad Zollverein, Essen 415.000 Völklinger Hütte, Völklingen 225.000 Deutsches Bergbau-Museum, Bochum 169.000 Schiffshebewerk Niederfinow (Brandenburg) 150.000 Henrichshütte, Hattingen 112.000 Zeche Zollern II/ IV, Dortmund 120.000 Rammelsberg - Museum & Besucherbergwerk, Goslar 100.000 Staatliches Textil- und Industriemuseum, Augsburg 100.000 Portal der Industriekultur, Essen 100.000 Schiffshebewerk Henrichenburg, Waltrop 83.000 Museum Industriekultur, Nürnberg 50.000 Ziegeleimuseum, Lage 48.000 Sächsisches Industriemuseum, Chemnitz 45.000 Textilwerk, Bocholt 42.000 Zeche Nachtigall, Witten 38.000 Zeche Hannover, Bochum 32.000 Industriemuseum, Solingen 31.000 Industriemuseum, Lauf 20.000-25.000 Glashütte Gernheim, Petershagen 20.000 Industriemuseum, Brandenburg 15.000 Industriemuseum, Elmshorn 14.000 1 | Besucherzahlen ausgewählter Industriemuseen in Deutschland Angesichts dieser Merkmale wird deutlich, dass die Industriemuseen offensichtlich keine zentrale, sondern eher eine ergänzende Rolle auf dem nationalen Tourismusmarkt spielen. Gleichwohl können sie in den altindustriellen Regionen zu einer Verbreiterung der Produktpalette beitragen: ■ Zum einen bedienen sie das Bedürfnis der Nachfrager nach neuen Erlebnissen und Er‐ fahrungen jenseits der standardisierten Urlaubsangebote und abseits der ausgetretenen Touristenpfade. ■ Zum anderen bieten sie den Tourismusdestinationen die Chance, auf dem gesättigten Markt mit seinem Überangebot an Attraktionen ungewöhnliche Alleinstellungsmerkmale zu entwickeln und sich von den Wettbewerbern abzugrenzen. ■ Schließlich haben sie eine große Bedeutung als außerschulische Lernorte für Kinder und Jugendliche, die dort nicht nur einen Einblick in die Arbeitswelt früherer Zeiten erhalten, sondern auch als Multiplikatoren fungieren können, indem sie Eltern, Verwandte etc. zu Besuchen animieren. 49 2.4 Stillgelegte Industriebetriebe und Industriemuseen <?page no="50"?> Um diese Aufgaben zu erfüllen, müssen Industriemuseen ihr Angebot jedoch regelmäßig ständig an die steigenden Erwartungen der Gäste anpassen - z. B. durch eine anschauliche und erlebnisorientierte Präsentation des Themas. Gegenwärtig scheinen jedoch nicht alle Einrichtungen diesen Anforderun‐ gen gerecht zu werden, denn die naturwissenschaftlichen und technischen Museen verzeichneten in Deutschland z. B. im Jahr 2018 einen überdurchschnittlich hohen Rückgang der Besucherzahlen gegenüber dem Vorjahr (-5,7 vs. -2,4 Prozent Durchschnittswert) (vgl. IfM 2019, S. 7). Generell unterliegen die industrietouristischen Einrichtungen den gleichen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die auch für Konsumgüter gelten. Sie durchlaufen einen mehrphasigen Produktlebenszyklus, der am Beispiel des Rhondda Heritage Park in Wales erläutert werden soll (vgl. RCTCBC 2016): ■ Markteinführung und Wachstum: Aufgrund seines Neuigkeitswertes konnte er nach der Eröffnung im Jahr 1990 zunächst einen raschen Anstieg der Gästezahlen auf mehr als 75.000 Besucher verzeichnen. ■ Reifephase: Mit zunehmender Dauer des Marktauftritts sank das Interesse und das Gästeauf‐ kommen stagnierte eine Zeit lang auf hohem Niveau. ■ Degenerationsphase: In den folgenden Jahren standen den Betreibern nicht hinreichend Mittel zur Verfügung, um eine notwendige Aktualisierung und Verbesserung ihres Angebots vorzunehmen, sodass die Nachfrage auf knapp 30.000 Gäste zurückging. ■ Relaunch: Im Jahr 2017 erhielt die Einrichtung einen öffentlichen Zuschuss in Höhe von 576.000 Euro, der u. a. für den Bau des spektakulären Hightech-Ride „Dram: The Cinematic Experience“ - einer simulierten Zechenfahrt - verwendet wurde (ähnliche Attraktionen gehören seit langem zum Standardrepertoire von kommerziellen Themenparks und Marken‐ welten). Diese Innovation führte zu einem erneuten Anstieg der Besucherzahl auf 40.000 im Jahr 2019. 17.759 28.357 38.167 46.139 51.481 61.961 75.68972.850 56.259 32.317 58.608 54.820 54.163 53.093 53.665 54.603 49.863 46.887 44.428 47.476 41.586 38.707 31.383 29.884 36.911 31.890 17 | „Ach wie bald, ach wie bald, schwinden Schönheit und Gestalt“ - auch bei Industriemuseum verfliegt der Reiz des Neuen nach einer gewissen Zeit (wie z. B. beim Rhondda Heritage Park in Wales). Nur durch eine regelmäßige Anpassung an die steigenden Erwartungen der Gäste können sie sich dauerhaft als zeitgemäße Sehenswürdigkeiten auf dem Tourismusmarkt behaupten. 50 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="51"?> Schiffshebewerke, Kanäle, Aquädukte - historische Infrastruktureinrichtungen als Besucherattraktionen 18 | Ein Fahrstuhl für Schiffe - und ein beliebtes Ausflugsziel: Seit 1934 dient das Schiffshebewerk Niederfinow in Brandenburg (links im Bild) dazu, den Höhenunterschied von 36 Metern zwischen dem Oder-Havel-Kanal und der Oder zu überwinden. Da die Anlage den gegenwärtigen Anforderungen der Schifffahrt nicht mehr entspricht, wird seit 2009 ein größeres Hebewerk errichtet (rechts im Bild). Ein wesentlicher Motor der Industriellen Revolution waren technische Innovationen im Ver‐ kehrswesen: Durch die Entwicklung von Dampflokomotiven und -schiffen sowie den Bau von Eisenbahnlinien und Kanälen konnten Menschen, Rohstoffe und Waren nun kostengünstiger und schneller transportiert werden als in den Jahrhunderten zuvor. Die Zeitgenossen reagierten auf diesen epochalen Umbruch mit einer Mischung aus fort‐ schrittsgläubiger Begeisterung und konservativer Kritik: Die einen betrachteten die Eisenbah‐ nen als Wegbereiter einer neuen Völkerverständigung und eines florierenden Handels, andere warnten vor den gesundheitlichen Schäden bei der Benutzung dieser modernen Teufelswerke. Selbst wenn solche Bedenken - angesichts der geringen Geschwindigkeit der damaligen Züge - heute skurril erscheinen, so ist doch auch die frühere Technikeuphorie inzwischen einer skeptischeren Sichtweise gewichen. Im Rahmen der Diskussion über eine nachhaltige Entwicklung sind die negativen Wirkungen der Verkehrserschließung zunehmend thematisiert worden - speziell die gravierenden Eingriffe in die Natur sowie der enorme Landschaftsver‐ brauch (vgl. Murray 2017, S. 108-109). Gleichwohl strahlen historische Infrastruktureinrichtungen als Symbole menschlicher Krea‐ tivität und Willenskraft gegenwärtig noch eine besondere Attraktivität auf Touristen aus: So wird z. B. das schiffbare Pontcysyllte-Aquädukt in Wales, das in knapp 40 Metern Höhe 51 2.4 Stillgelegte Industriebetriebe und Industriemuseen <?page no="52"?> den Fluss Dee überquert, jedes Jahr von ca. 500.000 Touristen besichtigt. Auch die Forth Bridge in Schottland und das Schiffshebewerk Niederfinow in Brandenburg haben sich zu Besuchermagneten entwickelt (117.000 bzw. 150.000 Gäste/ Jahr). Aufgrund ihres außergewöhnlichen universellen Werts für die Weltgemeinschaft sind einige Verkehrseinrichtungen in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen worden. Neben dem Pontcysyllte-Aquädukt (2009) und der Forth Bridge (2015) zählen dazu u. a. (vgl. Höhmann 2016, S. 20-21): ■ Canal du Midi (Frankreich; 1996) ■ Semmeringeisenbahn (Österreich; 1998) ■ Dampfpumpwerk von Wouda (Niederlande; 1998) ■ Schiffshebewerke des Canal du Centre (Belgien; 1998) ■ Himalaya-Gebirgsbahn nach Darjeeling, Nilgiri-Bergbahn und Kalka-Simla-Gebirgs‐ bahn (Indien; 1999/ 2005/ 2008) ■ Biskaya-Brücke bei Bilbao (Spanien; 2006) ■ Chhatrapati Shivaji Terminus (früher Victoria Station) in Mumbai (Indien; 2004) ■ Rideau-Kanal (Kanada; 2007) ■ Rhätische Bahn in der Kulturlandschaft Albula/ Bernina (Schweiz; 2008) ■ Leuchtturm von Cordouan (Frankreich; 2021) 2.5 Fabrikgebäude, Unternehmervillen und Arbeitersiedlungen „Ein merkwürdig nüchternes Aussehen haben unsere Gemeinden behalten. Leute, die zum Vergnügen hier im Industriegebiet wohnen, gibt es wohl nicht“ - mit diesen Zeilen hat die „Wanner Zeitung“ im Jahr 1912 die unwirtlichen Lebens- und Wohnbedingungen in den Städten des Ruhrgebiets beschrieben. Das regionale Siedlungsgefüge wurde überwiegend durch die Standortwahl der industriellen Großbetriebe geprägt, die einen enormen Zustrom von Arbeits‐ kräften ausgelöst hatten. Auf diese Weise entwickelte sich eine Industrielandschaft, die aus einem unübersichtlichen Gewirr von Fabriken, Zechen, Wohnhäusern, Verkehrsanlagen und landwirtschaftlichen Restflächen bestand (vgl. Schenk 2016, S. 78-79; Wehling 2016, S. 93-95; Vonde 2021). Bis in die Gegenwart ist diese ungeplante, fragmentierte und polyzentrische Siedlungsstruktur ein charakteristisches Merkmal vieler Industrieregionen - und aus Sicht von Destinationsmana‐ gern stellt sich die Frage, wie dieses schwierige, „hässliche“ Erbe genutzt werden kann, um markt‐ gerechte Freizeit- und Urlaubsangebote zu kreieren. Angesichts ihrer offenkundigen ästhetischen Defizite lassen sich solche industriellen Kulturlandschaften kaum in toto als attraktive Zielgebiete vermarkten. Vielmehr muss das touristische Interesse gezielt auf einzelne Objekte gelenkt werden, die architektonische oder städtebauliche Besonderheiten aufweisen bzw. einen exemplarischen Einblick in die früheren gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichen; dazu zählen z. B. ikonenhafte Fabrikgebäude, pompöse Unternehmervillen, schlichte Arbeiter- und Beamtensiedlungen sowie wegweisende Modell- und Mustersiedlungen. 52 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="53"?> Fabrikgebäude Während die handwerklichen Tätigkeiten in der vorindustriellen Zeit zu Hause bzw. in kleinen Werkstätten ausgeübt wurden, machte das Fabrik- und Maschinensystem mit seinen großen Produktionsanlagen und der räumlichen Konzentration zahlreicher Arbeitsplätze den Bau weit‐ läufiger und hoher Hallenbauten erforderlich. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstanden zunächst prunkvolle Gebäudekomplexe, die nach den Vorbildern von Adelspalästen sowie Schlossbzw. Kirchenbauten gestaltet wurden - wie z. B. (vgl. Prietzel 2009, S. 33): ■ die Bernhard’sche Spinnerei in Chemnitz-Harthau, deren Gebäudefront durch vier kolossale Säulen und einen klassizistischen Ziergiebel geprägt wird ( Johann Lohse; 1799-1800); ■ die Gießhalle der Sayner Hütte in Bendorf, die in Form einer dreischiffigen Basilika errichtet worden ist (Carl Ludwig Althans; 1830); ■ das Verwaltungsgebäude der Zeche Zollern II/ IV in Dortmund, dessen Schaufassaden mit neugotischen Staffelgiebeln geschmückt sind (Paul Knobbe; 1902). Als Reaktion auf diesen eklektischen Historismus entwickelte sich um 1900 die Jugendstil-Be‐ wegung. Die Ideale dieser neuen Kunstrichtung waren eine Verknüpfung von Ästhetik und Nützlichkeit. In Abkehr von der bisherigen Schwere und Symmetrie verwendeten Künstler, Architekten und Handwerker nun vor allem leicht wirkende Stilelemente aus der Natur - speziell dekorativ geschwungene Linien und florale Ornamente. Zu den wenigen erhaltenen Beispielen im Bereich der Industriearchitektur zählen z. B. die Maschinenhalle der Zeche Zollverein II/ IV in Dortmund (Bruno Möhring; 1902/ 03) und das Wasserpumpwerk in Guntersblum (Wilhelm Lenz; 1907). Zu einem radikalen Umbruch der Industriekultur kam es jedoch erst durch Architekten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Funktionsbauten im Stil der Klassischen Moderne entwarfen. Bei diesen Gebäuden wurden neue Werkstoffe wie Glas, Stahl und Beton als Baumaterialien verwendet - z. B. bei der AEG-Turbinenhalle in Berlin-Moabit (Peter Behrens; 1908/ 09) oder dem Fagus-Werk in Alfeld (Walter Gropius; 1911). Ein typisches Element vieler Fabrikhallen waren die Sheddächer, die seit Mitte des 19. Jahrhun‐ derts in England aufkamen. Sie verfügten über parallel angeordnete, pultartige Aufbauten mit einem schrägen Mauerteil und einer steileren Fensterfläche, die den Bauten eine sägeähnliche Kontur verliehen. Die Gebäude wurden zumeist nach Norden ausgerichtet, so dass die Dächer einen blendfreien Lichteinfall von oben ermöglichten; außerdem konnte dadurch eine Hitzeent‐ wicklung durch direkte Sonneneinstrahlung vermieden werden (vgl. Michna 2019, S. 65-66). Auf der Grundlage dieses baugeschichtlichen Erbes haben einige lokale und regionale Touris‐ musorganisationen marktfähige Produkte entwickelt, mit denen sie neben Experten (Historiker, Architekten etc.) auch ein breites Ausflugs- und Reisepublikum ansprechen; dazu zählen u. a.: ■ Self-guided-Touren - z. B. die „Industriekultur Spaziergängerbzw. Fahrrad- und Segway-Route“ in Chemnitz bzw. die Themenroute „Bauhaus und Industriekultur“ im Ruhrgebiet, ■ Themenführungen - z. B. der Rundgang „Industriekultur am Handelshafen“ in Mannheim bzw. die Führung „WMF - die Geislinger Weltfirma und Geislingens Industrialisierung“ in Geislingen an der Steige, ■ Pauschalangebote - z. B. die Gruppenreise „Industriekultur in Leipzig und Region“, bei der u. a. auch zahlreiche Industriebauten in der Westvorstadt, im Stadtteil Plagwitz sowie im Leipziger Neuseenland auf dem Programm stehen. 53 2.5 Fabrikgebäude, Unternehmervillen und Arbeitersiedlungen <?page no="54"?> 19 | Ein Tempel der Technik - mit großen Fensterfronten und wenigen, klaren Stilelementen ist die AEG-Turbinenhalle in Berlin-Moabit eine Ikone der modernen Industriearchitektur. Sie wurde 1908/ 09 nach Entwürfen von Peter Behrens im Auftrag der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) errichtet. Die Halle steht seit 1956 unter Denkmalschutz und dient auch gegenwärtig noch zur Herstellung von Großturbinen. Unternehmervillen Elegante Unternehmervillen und schäbige Arbeiterquartiere - diese gegensätzlichen Bautypen sind steingewordene Chiffren der krassen sozialen Gegensätze zwischen den wohlhabenden Fabrik‐ besitzern und den pauperisierten Arbeitern. Dabei lebten die Betriebsbesitzer in der Frühphase der Industriellen Revolution zunächst noch in schlichten Häusern auf dem Werksgelände. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer zunehmenden Trennung von Wohn- und Produktionsstätten. Mit der Errichtung prunkvoller Villen versuchten die Großindustriellen (Schlotbarone), ihren neu erlangten wirtschaftlichen Wohlstand und politischen Einfluss öffentlich zur Schau zu stellen. Die freistehenden Gebäude befanden sich häufig in einer exponierten Lage und waren von einem weitläufigen Park umgeben. Bei der Gestaltung der imposanten Fassade orientierten sich die Architekten an den herrschaftlichen Bauten des Adels, wobei sie Elemente aus unterschiedli‐ chen kunstgeschichtlichen Epochen freizügig miteinander kombinierten - u. a. mittelalterliches Fachwerk, barocke Portale und italienische Loggien. Dieser Eklektizismus herrschte auch im luxuriös ausgestatteten Inneren, das durch eine monumentale Eingangshalle mit Marmorsäulen, Wandvertäfelungen und Stuckaturen erschlossen wurde. Außerdem gab es im Erdgeschoss mehrere repräsentative Gesellschaftsräume wie einen Speisesaal, einen Musiksalon sowie ein Herren- und Damenzimmer, die jeweils in einem anderen Stil dekoriert und eingerichtet waren (Tiroler Gotik, Danziger Renaissance etc.) (vgl. Vaupel 2017). 54 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="55"?> Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts führte das rasche wirtschaftliche Wachstum dazu, dass auch die aufstrebenden Besitzbürger (Bankiers, Händler etc.) aufwändige Landhäuser mit großen Gärten errichten ließen. Da die wohlhabenden Hausbesitzer nicht durch den Rauch, Ruß und Staub der zahlreichen Industriebetriebe belästigt werden wollten, lagen die neuen Villenviertel - aufgrund der in Mitteleuropa vorherrschenden Westwinde - zumeist am westlichen Stadtrand (bis heute gilt das „Westend“ in Großstädten wie London, Berlin, Frankfurt am Main etc. als besonders exklusive Wohngegend). 20 | Ein Schloss für den „Kanonenkönig“ - am Ende des 19. Jahrhunderts ließ der Großindustrielle Alfred Krupp in Essen die Villa Hügel als Wohn- und Repräsentationsgebäude errichten. Die imposante Villa verfügte über 269 Zimmer und war ingenieurtechnisch auf dem neuesten Stand. Zur Ausstattung gehörten u. a. eine Telefonanlage, eine Warmluftheizung, eine zentrale Belüftungsanlage und sogar ein eigenes Wasser- und Gaswerk. Inzwischen beherbergt die Villa eine Ausstellung zur Familie Krupp und dem traditionsreichen Unternehmen. Außerdem finden dort regelmäßig Ausstellungen, Konzerte etc. statt. Das touristische Potenzial der Unternehmervillen besteht nicht nur in ihrer eindrucksvollen Architektur, sondern auch in ihrer symbolischen Aussagekraft als bauliche Zeugen früherer Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Allerdings erweist sich eine touristische Inwertsetzung häufig als schwierig, weil viele Bauten weiterhin im Privatbesitz sind und deshalb nur von außen besichtigt werden können. Diese Einschränkung gilt z. B. für zahlreiche Stationen der „Themenroute 20: Unternehmervillen“ der „Route der Industriekultur“ im Ruhrgebiet und die „Promenade der großen Villen“ in Getxo (Spanien). Gleichwohl gibt es in Deutschland einige 55 2.5 Fabrikgebäude, Unternehmervillen und Arbeitersiedlungen <?page no="56"?> Villen, die öffentlich zugänglich sind, da sie als Museen, Hotels, Veranstaltungsorte etc. genutzt werden; dazu zählen u. a. die Villa Hügel in Essen, der Hohenhof in Hagen bzw. die Villa Esche in Chemnitz. Arbeiter- und Beamtensiedlungen Lange Zimmerfluchten, Badezimmer und eine Zentralheizung - von derart komfortablen Wohn‐ bedingungen konnte die Masse der Bevölkerung nur träumen. In den Arbeitervierteln herrschten drangvolle Enge und unhygienische Lebensbedingungen, die bereits von den zeitgenössischen Sozialreformern und Philanthropen heftig kritisiert wurden: „Man kann einen Menschen mit einer Wohnung genauso töten wie mit einer Axt“ - so hat der Zeichner und Fotograf Heinrich Zille am Ende des 19. Jahrhunderts die unwürdigen Wohnverhältnisse in den Berliner Mietskasernen beschrieben. Nicht viel besser waren die Arbeiterquartiere in englischen Industriestädten mit ihren langen Reihen eintöniger Back-to-back-Häuser. 21 | Home, sweet home? Als die britischen Industriestädte im 19. Jahrhundert einen explosionsartigen Anstieg der Bevölkerungszahl verzeichneten, musste rasch billiger Wohnraum für die Arbeiter geschaffen werden. Deshalb wur‐ den ganze Straßenzüge mit einfachen Häusern bebaut, die sich eine gemeinsame Rückwand teilten (back-to-back). Da drei von vier Wänden fensterlos an Nebenbzw. Hintergebäude grenzten, wiesen die Häuser eine schlechte Belichtung und eine unzureichende Ventilation auf (eine Querlüftung war nicht möglich). 56 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="57"?> Dieser historische Baubestand ist inzwischen weitgehend abgerissen, renoviert bzw. modernisiert worden - doch selbst im Originalzustand würde er wohl nur eine kleine Gruppe von Besuchern ansprechen, die ein ausgeprägtes historisches, städtebauliches oder soziales Interesse haben. Über ein weitaus größeres touristisches Potenzial verfügen hingegen die zahlreichen Zechen-, Werks- und Beamtensiedlungen, die bis in die Gegenwart erhalten geblieben sind. Diese Siedlungen lagen häufig direkt vor den Toren der Fabriken, Zechen, Hüttenwerke etc. und boten den Bewohnern nicht nur einen kurzen Weg zum Arbeitsplatz, sondern einen relativ hohen Wohnkomfort (fließendes Wasser, Ofenheizung etc.). Sie wurden von den Unternehmen mit dem Ziel errichtet, die Arbeiter und Angestellten („Beamten“) längerfristig an den Betrieb zu binden und auch zu kontrollieren. Deshalb waren das Arbeits- und das Mietsverhältnis aneinandergekoppelt, so dass bei einer Kündigung oder einem Streik auch der Verlust des Wohnrechts drohte (vgl. Buschmann 2017, S. 25). Viele Siedlungen entstanden unter dem Einfluss der englischen Gartenstadtbewegung, die auf Ideen des Stadtplaners Ebenezer Howard (1850-1928) zurückgeht. Typische Merkmale waren eine aufgelockerte Bauweise, die Verwendung unterschiedlicher Haustypen, eine aufwändige Gestaltung der Fassaden sowie die Ausstattung mit Nutzgärten, Plätzen und Grünflächen. Mit ihrem alten Baumbestand und ihren restaurierten (häufig denkmalgeschützten) Gebäuden machen die Siedlungen gegenwärtig einen nahezu idyllischen Eindruck (vgl. Teves 2020). Im Ruhrgebiet sind einige Arbeiter- und Beamtensiedlungen im Rahmen einer Themenroute der „Route der Industriekultur“ touristisch erschlossen worden. Den Besuchern wird dort mit Hilfe von Info-Tafeln, Flyern, Museen, rekonstruierten Musterwohnungen bzw. Führungen ein anschaulicher Einblick in die früheren Lebensverhältnisse der Bewohner vermittelt; als Beispiele sind u. a. zu nennen: ■ Siedlung Eisenheim, Oberhausen (1846-1903), ■ Siedlung Schüngelberg, Gelsenkirchen (1897-1919), ■ Alte Kolonie Eving, Dortmund (1898-1899), ■ Margarethensiedlung, Duisburg (1903-1927/ 28), ■ Siedlung Margarethenhöhe, Essen (1906-1938), ■ Alt-Siedlung Friedrich-Heinrich, Kamp-Lintfort (1907-1914), ■ Siedlung Teutoburgia, Herne (1909-1923). Modell- und Mustersiedlungen Eine weitere städtebauliche Besonderheit der Industriellen Revolution waren Modell- und Muster‐ siedlungen, die seit Ende des 18. Jahrhunderts von sozialreformerischen Unternehmern gegründet wurden. Das berühmteste Beispiel ist sicherlich die weitläufige Industriesiedlung New Lanark (South Lanarkshire). Ihre Geschichte reicht bis in das Jahr 1785 zurück, als im Tal des River Clyde eine Textilfabrik eröffnet wurde, die das Wasser des Flusses zum Antrieb der Spinnmaschinen nutzte (wie viele andere Betriebe in der Frühphase der Industrialisierung). 57 2.5 Fabrikgebäude, Unternehmervillen und Arbeitersiedlungen <?page no="58"?> 22 | Eigentum verpflichtet! Nach diesem Grundsatz schuf der Fabrikant und Sozialreformer Robert Owen bereits am Ende des 18. Jahrhunderts eine philanthropische Mustergemeinde - die Industriesiedlung New Lanark (South Lanarkshire). Der visionäre Unternehmer gewährte den Arbeitern zahlreiche betriebliche Sozialleistungen, die für die damalige Zeit ungewöhnlich waren - und steigerte damit zugleich die Produktivität seiner Baumwollspinnerei. Unter der Leitung von Robert Owen entwickelte sich das Werk zur größten Textilproduktionsstätte Schottlands. Zugleich verwirklichte er dort seine Ideen einer gerechten Gemeinschaft, in der die Arbeiter - unter seiner paternalistischen Führung - einen fairen Anteil an dem Wohlstand erhalten sollten, der maßgeblich durch sie geschaffen wurde (vgl. Veser 2000): ■ Er ließ z. B. helle, saubere und gut belüftete Wohnhäuser für die ca. 2.000 Beschäftigten errichten. Die Gebäude waren an ein Kanalisationssystem angeschlossen und die Abfälle wurden regelmäßig entsorgt, um Seuchen zu verhindern. ■ Die Arbeiter konnten in einem Genossenschaftsladen günstig Lebensmittel, Kleidung etc. erwerben und wurden im Krankheitsfall durch Zahlungen aus einem firmeneigenen Fonds unterstützt. ■ Während Kinder damals von vielen Unternehmern als billige Arbeitskräfte in Fabriken und Bergwerken eingesetzt wurden, ließ Robert Owen sie bis zum Alter von zehn Jahren kostenfrei eine Schule besuchen. Sein innovatives Konzept stieß in ganz Europa auf eine große Resonanz - und New Lanark entwickelte sich rasch zu einem „Mekka der Reformgeister“. Zwischen 1800 und 1825 trugen sich ca. 20.000 Politiker, Geistliche, Humanisten etc. in das Gästebuch ein (vgl. Brie 2015, S. 14). Der endgültige Verfall der stillgelegten Fabrik konnte in den 1970er-Jahren durch das En‐ gagement des „New Lanark Conservation Trust“ erfolgreich verhindert werden. Nach umfang‐ reichen Restaurierungsarbeiten sind dort u. a. ein Besucherzentrum sowie mehrere Museen 58 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="59"?> untergebracht. Die jährliche Besucherzahl beläuft sich auf ca. 400.000 Besucher, von denen jeder Fünfte aus dem Ausland kommt. Außerdem wurden Teile des Gebäudekomplexes, der seit 2001 auf der UNESCO-Welterbeliste steht, in ein Drei-Sterne-Hotel, eine Jugendherberge und (Ferien-)Wohnungen umgewandelt (vgl. TCR 2016, S. 102). Neben New Lanark gibt es weitere Beispiele für industrielle Modell- und Mustersiedlungen, die u. a. als Stationen der „Europäischen Route der Industriekultur (ERIH)“ touristisch erschlossen worden sind; dazu zählen z. B. (vgl. Veser 2013; Murray 2017; Lippert 2017/ 18; Caignet 2020): ■ Saltaire (West Yorkshire) - eine Spinnerei mit einem model village, das aus Arbeiterquar‐ tieren, Sportplätzen, Parkanlagen, Kultureinrichtungen etc. bestand (benannt nach dem Gründer Sir Titus Salt und dem Fluss Aire), ■ Port Sunlight (Merseyside) - eine Gartenstadt für die Arbeiter und Angestellten einer Seifenfabrik (mit Cottages, Villen, Pubs und einer Gemäldegalerie), ■ Portlaw in der irischen Grafschaft Waterford - ein Industriedorf, das einen barocken Polyvium-Grundriss aufweist (mit mehreren Straßen, die auf einen Hauptplatz ausgerichtet sind, und einer zentralen Straße, die zur Textilfabrik führte), ■ Crespi d’Adda (Bergamo) - ein planmäßig angelegtes Arbeiterdorf aus der Frühphase der Industrialisierung, dessen Konzeption ebenfalls durch die Gartenstadtbewegung beeinflusst worden ist (u. a. mit Gärten, in denen die Beschäftigten der Textilfabrik Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anbauen konnten). 2.6 Regionale Traditionen und Bräuche „Glück auf, Glück auf. Der Steiger kommt“ - das traditionsreiche Steigerlied, dessen Wurzeln bis in das 16. Jahrhundert zurückreichen, ist auch nach der Stilllegung der Zechen und Stollen im Erzgebirge, Ruhrgebiet und Saarland noch ein fester Bestandteil der Alltagskultur. Bis in die Gegenwart wird es bei Bergparaden, Konzerten etc. gesungen - und nicht zuletzt bei den Heimspielen von Fußballvereinen wie Schalke 04, Rot-Weiss Essen und FC Erzgebirge. Die emotionale Bedeutung dieser inoffiziellen Hymne lässt sich an einer Aktion der Essener Philharmoniker während der Coronapandemie verdeutlichen: Um ein Zeichen der Verbundenheit zu setzen, forderten die Musiker alle Bewohner der Stadt auf, an einem Sonntagabend an Fenstern, auf Balkonen und in Gärten gemeinsam das Steigerlied zu spielen. Diese Initiative stieß nicht nur in der Stadt Essen, sondern im gesamten Ruhrgebiet auf breite Resonanz. Das Lied steht symbolisch für die grundlegenden Eigenschaften, die speziell den Bergleuten und generell den Menschen in Montanregionen zugeschrieben werden: Solidarität und Zuverlässig‐ keit, Bodenständigkeit und Ehrlichkeit. In ihnen spiegeln sich die harten Arbeitsbedingungen in den Zechen wider, denn beim gefährlichen Abbau von Kohle und Erz waren die Kumpel aufeinander angewiesen und mussten sich auf die Kollegen verlassen können. Obwohl die Ära des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet mit der Schließung des Bergwerks Prosper-Haniel (Bottrop) im Jahr 2018 endete, hat sich dieser Kumpel-Mythos zu einem beliebten Narrativ entwickelt, das von unterschiedlichen Gruppen genutzt wird: ■ So verweisen Politiker bei öffentlichen Auftritten gerne auf die typischen Attribute der Bergleute, um einen gemeinsamen Wertekanon heraufzubeschwören oder das Publikum von den eigenen Qualitäten zu überzeugen (es sei nur an die Wahl des CDU-Vorsitzenden im Januar 2021 erinnert, als der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet 59 2.6 Regionale Traditionen und Bräuche <?page no="60"?> bei seiner Bewerbungsrede die alte Bergmannsmarke seines Vaters als Beleg für seine Glaubwürdigkeit präsentierte). ■ Außerdem haben Unternehmen längst das wirtschaftliche Potenzial des Themas erkannt. Im Ruhrgebiet sind z. B. mehrere Modelabels mit einem regionaltypischen Retrolook entwickelt worden. Sie versehen ihre Produkte mit den Logos von Industrierelikten, Ruhrpott-Sprüchen etc. oder verwenden traditionelle Materialien wie die Stoffe der blauweißen Grubenhemden (ReDesign). 23 | Lebendige Tradition - in den Montanregionen wird das bergmännische Brauchtum vielerorts durch Män‐ nerchöre, Blasmusikkapellen etc. gepflegt, bei denen die Mitglieder in dem uniformähnlichen Bergmannshabit auftreten und an die früheren Zeiten erinnern (wie hier bei einem Auftritt des Knappenchors des „Steinkohleberg‐ bauvereins Zwickau“ auf dem 4. Sächsischen Bergmanns-, Hütten- und Knappentag 2012 in Jöhstadt). Dabei war dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit im Ruhrgebiet zunächst nicht selbstverständ‐ lich, denn seit dem 19. Jahrhundert stammte ein großer Teil der Bevölkerung aus anderen Regionen. Der große Bedarf an Arbeitskräften hatte eine massenhafte Zuwanderung von Menschen ausgelöst - u. a. von arbeitssuchenden Polen aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches. Deshalb sind im Ruhrgebiet auch typische polnische Familiennamen weit verbreitet, die auf -ski, -ska oder -tzki enden (z. B. Podolski, Scherlitzki etc.) (vgl. Rein 2020). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Ruhrgebiet zunächst zum Ziel von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten, später auch von Flüchtlingen aus der Deutschen Demokratischen Republik sowie von „Gastarbeitern“ aus Südeuropa und der Türkei. 60 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="61"?> Auf diese Weise entstand dort eine vielfältige Migrationsgesellschaft, die sich aus unterschied‐ lichen Gruppen zusammensetzte - der eingesessenen Bevölkerung und den Zuwanderern, Deutschen und anderssprachigen Migranten. Ihr gemeinsamer Bezugspunkt war vor allem die Arbeit in den Fabriken und Zechen; darüber hinaus organisierten sie sich in zahlreichen Vereinsnetzwerken, um sich zu treffen, gegenseitig zu unterstützen bzw. gemeinsam die Freizeit zu verbringen (vgl. Berger 2019, S. 5). Neben Gesangs-, Theater-, Kleingartenbzw. Turnvereinen zählten dazu vor allem die Fuß‐ ballvereine. Am Ende des 19. Jahrhundert war das Fußballspiel noch eine exklusive bürgerliche Freizeitaktivität gewesen, doch seit den 1920er-Jahren entwickelte es sich zu einem populären proletarischen Aktivbzw. Zuschauersport und die Vereine erlebten einen enormen Zuwachs ihrer Mitgliederzahlen In der Anfangsphase waren die Vereine stark in das jeweilige soziokulturelle Milieu eingebun‐ den; so gab es z. B. protestantische, katholische und sozialdemokratische bzw. polnische und türkische Vereine. Später haben sich die - teilweise konfliktträchtigen - weltanschaulichen Ori‐ entierungen zunehmend aufgelöst und die Vereine trugen wesentlich zu einer gesellschaftlichen Harmonisierung und gemeinsamen Identitätsbildung bei (speziell die Kinder und Enkel polnischer und türkischer Einwanderer kickten nun in deutschen Vereinen und einige sogar in der deutschen Nationalmannschaft) (vgl. Lenz 2006; Blecking 2019, S. 28). „Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets. Da antwortet man auf die Frage nach der Nationalität Schalke, Dortmund oder Bochum. Für uns ist Integration kein Thema, sondern Selbstverständlichkeit.“ Leon Goretzka (deutscher Nationalspieler) Die (Fußball-)Vereine sowie die Bergmannstraditionen sind nicht die einzigen Elemente der regionaltypischen Alltagskultur, die sich im Kontext der Industrialisierung entwickelt haben. Als weitere Besonderheit ist das Brieftaubenwesen zu nennen, dessen Geschichte bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Speziell im Ruhrgebiet gehörte die Haltung und Züchtung von Brieftauben zu den beliebten Hobbys der Berg- und Stahlarbeiter. In den 1960er-Jahren kam die Mehrzahl der 100.000 Mitglieder des damaligen Verbands Deutscher Reisetaubenliebhaber e. V. aus der Region zwischen Rhein und Ruhr; seitdem sind die Züchterzahlen generell stark zurückgegangen. Die Tiere galten als die „Rennpferde des kleinen Mannes“, da die Besitzer mit ihnen bei Wettflügen Preisgelder erzielen konnten, die höher als ein Wochenlohn waren. Aufgrund seiner historischen Bedeutung ist das Brieftaubenwesen - wie auch das Steigerlied sowie die Trinkhallen- und die Bolzplatzkultur - in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes von Nordrhein-Westfalen aufgenommen worden; eine Nominierung als nationales Kulturerbe scheiterte am heftigen Widerstand von Tierschutzorganisationen. 61 2.6 Regionale Traditionen und Bräuche <?page no="62"?> 24 | „Gut Flug! “ Dieser traditionelle Gruß der Taubenzüchter war im Ruhrgebiet früher häufig zu hören, denn in vielen Gärten der Siedlungshäuser stand ein Taubenschlag. Als Reminiszenz an diese Tradition ist in Castrop-Rauxel das Taubenvatta-Denkmal errichtet worden, das einen Taubenzüchter bei der Fütterung und Pflege seiner Tiere zeigt. Neben Tauben wurden häufig auch Kaninchen, Schweine und Hausziegen gehalten. An diese „Bergmannskühe“ wird in Herne und Oelsnitz (Erzgebirge) mit ähnlichen Denkmälern erinnert. Selbst wenn solche Traditionen für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielen, erweist sich eine touristische Inwertsetzung in der Regel als schwierig (vgl. Vidal Casellas u. a. 2018, S. 44): ■ Immaterielle Kulturgüter haben zumeist einen ausgeprägt lokalen bzw. regionalen Charak‐ ter; deshalb sind auswärtige Besucher kaum in der Lage, die Funktion und das Regelwerk zu verstehen. Es bedarf also kompetenter Vermittler (cultural brokers), die den historischen Entstehungskontext und die gegenwärtige Bedeutung erläutern. ■ Während Bergparaden, Knappenfeste und Fußballspiele bewusst ein massenhaftes Publikum ansprechen, handelt es sich bei einigen Bräuchen wie dem Brieftaubenwesen um individuelle Freizeitaktivitäten. Da sie in der Privatsphäre der Akteure stattfinden, werden sie der Öffentlichkeit nur zu bestimmten Anlässen und in begrenztem Umfang zugänglich gemacht („Tag der Brieftaube“). ■ Darüber hinaus besteht bei einer touristischen Nutzung des immateriellen Kulturerbes generell die Gefahr der Trivialisierung und Kommerzialisierung. Durch die Anpassung an die Erwartungen der Touristen können regionaltypische Veranstaltungen ihres ursprünglichen Sinngehalts beraubt und zu pseudofolkloristischen Events degradiert werden (speziell in ländlich geprägten Bereichen sind solche negativen Entwicklungen seit langem zu beobach‐ ten - z. B. bei Heimat-, Schuhplattler- und Jodelabenden, Almabtrieben etc.). 62 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="63"?> Angesichts dieser Restriktionen gibt es im Industrietourismus bislang kaum Beispiele für eine umfassende Transformation des regionalen Brauchtums in ein marktfähiges touristisches Pro‐ dukt. Als erfolgreiches Projekt ist der „Tag der Trinkhallen“ zu nennen, der erstmalig im Jahr 2016 von der Ruhr Tourismus GmbH organisiert worden ist. Bei dieser volksfestartigen Aktion finden an den beliebten „Büdchen umme Ecke“ zahlreiche Pop- und Jazz-Konzerte, poetry slams etc. statt. Das abwechslungsreiche Programm zieht jedes Jahr Tausende Besucher an (aufgrund seiner imagebildenden Wirkung und medialen Reichweite wurde die Aktion im Jahr 2017 vom Deutschen Tourismusverband/ DTV mit dem Deutschen Tourismuspreis ausgezeichnet). Künftig soll auch der Fußball als „ein sehr prägendes Element in der Ruhrgebietsidentität“ stärker genutzt werden, um die Angebotspalette der Destination zu erweitern. Mit einem Fördervolumen von 1,1 Millionen Euro ist im Jahr 2021 das dreijährige Projekt „Ruhr.Fußball - innovative, digitale Inwertsetzung des touristischen Potenzials von Fußballveranstaltungen und artverwandten Events und Angeboten“ gestartet worden. Zu den Partnern der Ruhr Tourismus GmbH gehören einige Stadtmarke‐ ting-Organisationen, die DFB-Stiftung Deutsches Fußballmuseum, der Westdeutsche Fußballverband und mehrere Fußballvereine aus unterschiedlichen Ligen (vgl. RTG 2021). Regionale Traditionen, Fabrikgebäude und Unternehmervillen, stillgelegte Industriebetriebe und Industriemuseen, Geisterstädte - diese Relikte sind wesentliche Bestandteile der historischen Industrie‐ kultur, die prinzipiell als touristische Ressourcen fungieren können (industrial heritage tourism). Außerdem umfasst der Begriff „Industrietourismus“ auch die touristische Nutzung der gegen‐ wärtigen Industriekultur, die im folgenden Kapitel erläutert werden soll. Bei diesem industrial tourism handelt es sich keineswegs um ein Phänomen des 21. Jahrhunderts; vielmehr weist die Besichtigung produzierender Industriebetriebe eine lange Tradition auf. Abb. 25 Industrietourismus stillgelegte Industriebetriebe (in situ) neue Industriemuseen (ex situ) traditionelle Industrielandschaften historische Industriekultur (industrial heritage tourism) gegenwärtige Industriekultur (industrial tourism) produzierende Handwerks-/ Industriebetriebe (in situ) zusätzliche Attraktionen (in bzw. ex situ) (Brand Lands) Firmenveranstaltungen (ex situ) (Brand Events) Industriekultur als ein Alleinstellungsmerkmal Industriekultur als Zusatznutzen (Multifunktionalität) Konversion in neue Besucherattraktionen Betriebsbesichtigungen/ -führungen/ -vorführungen Museen zur Unternehmensgeschichte Infotainment- Einrichtungen, Restaurants, Shops, Events Andere Farbe 25 | Wie wird Salz abgebaut, Kristallglas geschliffen oder Schokolade hergestellt? Schon in früheren Zeiten haben sich Reisende für die gewerblichen und industriellen Produktionsverfahren interessiert. Inzwischen nutzen zahlreiche Unternehmen dieses touristische Nachfragepotenzial, indem sie ihre Betriebe für Besucher öffnen und ihnen dort ein breites Spektrum an Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten bieten 63 2.6 Regionale Traditionen und Bräuche <?page no="64"?> 2.7 Betriebsbesichtigungen, Firmenmuseen und Markenwelten (Brand Lands) „Die jungen Herren von Pedrosy bitten um Erlaubnis, in das Salz-Bergwerk in Hala einzufahren. In allem sind wir 5 Persohn von Wienn“ - so demütig formulierten Reisende im Jahr 1777 ihren Antrag, das Salzbergwerk Dürrnberg in Hallein besichtigen zu dürfen. Sie waren jedoch nicht die Wegbereiter dieser Art des Industrietourismus: So belegen historische Quellen, dass sich auswärtige Besucher bereits seit dem 15. Jahrhundert für Schächte und Stollen interessiert haben (vgl. Schröder 2007, S. 212). Im 18. Jahrhundert entwickelten sich einzelne Bergwerke, Manufakturen etc. zunehmend zu Must-see-Attraktionen der jungen Adeligen, die im Rahmen ihrer Grand Tour mehrjährige (Aus-)Bildungsreisen durch zahlreiche europäische Länder unternahmen. Auf dem Programm standen nicht nur das Erlernen von Sprachen, die Einübung gesellschaftlicher Umgangsformen (und natürlich das Vergnügen), sondern auch die Besichtigung von Unternehmen, die in der damaligen Zeit als innovativ galten. Der Adel hat also auch beim Besuch produzierender Betriebe - wie bei der touristischen Entdeckung des Meeres und der Hochgebirge - eine wichtige Rolle als Trendsetter eingenommen (vgl. Stadler 1974, S. 271; Belford 2009, S. 28; Vossenkuhl 2020). Im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert trugen dann Reiseführer und -handbücher zu einer weiteren Popularisierung von Betriebsbesichtigungen bei: In den Baedeker-Bänden „Nord-West-Deutschland“ und „Die Rheinlande“ wurden z. B. neben klassischen Sehenswürdig‐ keiten wie Kathedralen, Burgen und Denkmälern auch 50 industrielle Ziele aufgeführt (vgl. Fleiß 2010, S. 209). Für das Bürgertum galten Fabriken, Maschinen und technische Anlagen als Symbole der Moderne, des Fortschritts und der nationalen Leistungsfähigkeit: So bewunderten die Reisenden vom Kontinent bei ihren Touren durch England z. B. die gut ausgebauten Straßen, die öffentliche Gasbeleuchtung in London oder die neuen Schiffswerften in Liverpool. „Die Maschine als Kunstwerk, der Bahnhof oder die Fabrik als Kathedrale: bürgerliche Fortschrittsvisionen als ästhetischer Genuß und pathetische Anmutung“. Kaschuba 1991, S. 46 Im Rahmen der fortschreitenden Industrialisierung stieg auch in Deutschland das Interesse an Betriebsbesichtigungen. Exemplarisch soll hier auf die Beamtenvereine verwiesen werden, in denen sich die kaufmännischen Angestellten der elektrotechnischen Großindustrie organisierten. In ihrer Freizeit nahmen die Mitglieder an gemeinsamen Bildungs-, Sport- und Geselligkeitsaktivitäten teil. Zu den beliebten Ausflugszielen zählten Schuh-, Bleistiftbzw. Nagelfabriken und sogar die Werkhallen der Unternehmen, in denen sie beschäftigt waren. Aufgrund der Arbeitsteilung wurden die Produktionsstätten als neuartige, exotisch erscheinende Sehenswürdigkeiten wahrgenommen. Für die Angehörigen dieses kleinbürgerlichen Milieus dienten die Rundgänge jedoch nicht nur der Information; vielmehr boten sie die Möglichkeit, sich von der Industriearbeiterschaft abzugrenzen und den eigenen gesellschaftlichen Status zu betonen (vgl. Lauterbach 2012, S. 102-103). Dieses Bedürfnis nach Selbstvergewisserung und Distinktion hatten auch die Angehörigen des gehobenen Bildungsbürgertums wie Gymnasiallehrer, Juristen, Ingenieure etc., die als Einzelper‐ sonen oder in Gruppen eine Betriebsbesichtigung beantragten - und bei bestimmten Anlässen zu einem mehrgängigen Abendessen im „Beamtenkasino“ (der Kantine für die Angestellten) eingeladen wurden (vgl. Fleiß 2010, S. 213). Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts erkannten viele Firmen das wirtschaftliche bzw. kommunikationspolitische Potenzial dieses touristischen Interesses. Großunternehmen wie die Bayer-Werke und die Krupp Gussstahlfabrik organisierten Touren durch ihre Anlagen. Ange‐ 64 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="65"?> sichts der wachsenden Nachfrage gründeten sie spezielle Abteilungen zur Gästebetreuung, die standardisierte Besucherformulare entwickelten und exakte Statistiken führten (Beruf, Wohnort etc.). Als wichtige Werbemittel produzierten die Firmen Bildbände, Informationsbroschüren und Ansichtspostkarten, die damals beliebte Sammel- und Tauschobjekte waren (vgl. Mysliwietz-Fleiß 2020, S. 216-219). Gegenwärtig bieten zahlreiche Betriebe in Deutschland wie auch in anderen Ländern Werks-, Fabrikbzw. Betriebsführungen an. Allein der Reise- und Eventveranstalter „Globetrotter Erlebnis GmbH“ hat z. B. auf seiner Homepage ca. 100 entsprechende Einzel- und Gruppenangebote zu‐ sammengestellt - von einem Rundgang durch die Airbus-Produktionshallen in Hamburg-Finken‐ werder über eine Beck’s-Brauereitour in Bremen bis hin zu einer Besichtigung der Meyer-Werft in Papenburg (▷ https: / / werksfuehrung.de/ ). „Muss man als Flugzeug-Fan gesehen haben! Interessante Werksführung über das riesige Gelände des Airbuswerkes Finkenwerder. Wir hatten einen sehr fachkundigen Führer, der dort in seiner aktiven Zeit auch gearbeitet hatte. […] Schon die Größe der Hallen ist beeindruckend. Ebenso die Montage der Flieger. Highlight für uns waren die Montagehallen für den A380.“ Bewertung der Airbus-Werksführung bei TripAdvisor 26 | Die Zigarettenfabrik als pittoreskes Postkartenmotiv und touristische Sehenswürdigkeit - speziell die Hersteller von Konsumgütern nutzen bereits seit langem Werksführungen, um die Verbraucher zu informieren, die Kunden‐ bindung zu stärken und den Absatz zu fördern (wie z. B. die American Tobacco Company, die in den 1960er-Jahren mit einer adretten Hostess für eine Besichtigung ihrer Produktionsstätte geworben hat). Allerdings ist die Daten- und Forschungslage zu Werks-, Fabrik- und Betriebsführungen äußerst unbefriedigend: Zum einen wird die Zahl der Führungen nicht systematisch erfasst; zum anderen erteilen die Unternehmen aus Wettbewerbsgründen in der Regel keine Auskünfte zum Umfang der 65 2.7 Betriebsbesichtigungen, Firmenmuseen und Markenwelten (Brand Lands) <?page no="66"?> Nachfrage und zur Struktur der Besucher (eine Ausnahme ist die Volkswagen AG in Wolfsburg: der Automobilhersteller beziffert die Zahl der Teilnehmer an den Werksführungen auf ca. 200.000/ Jahr). Einen indirekten Hinweis auf die touristische Bedeutung der Touren liefert die beträchtliche Zahl der „Google“-Einträge zu den Suchbegriffen „Fabrikführung“ (10.000), „Werksführung“ (270.000) und „Betriebsführung“ (1,8 Millionen). Die Angaben deuten darauf hin, dass dieses Marktsegment häufig unterschätzt wird. Zwei Gründe sprechen dafür, dass Betriebsbesichtigungen künftig sogar noch eine größere Bedeutung erlangen werden: ■ Bei vielen Konsumenten ist ein wachsendes Interesse an der Herstellung und Herkunft von Waren zu beobachten, die von ihnen häufig benutzt werden und deshalb besonders vertraut sind (diese Neugier wird im TV bereits seit langem von der beliebten „Sendung mit der Maus“ befriedigt - z. B. durch kurze, kindgerechte Beiträge zur Produktion von Gummibärchen, Luftballons, Magneten etc.). ■ Von den Unternehmen können die Touren dazu genutzt werden, ihre (potenziellen) Kunden direkt zu informieren und auch persönlich kennenzulernen. Sie erweisen sich damit als ein innovativer below-the-line-Kommunikationskanal, um eine unmittelbare Form der Werbung und Imagepflege zu betreiben. Darüber hinaus verfügen viele Betriebe - speziell in der Genussmittel-, Textil- und Sportartikelindustrie - über Shops bzw. Outlets, in denen die Gäste nach der Führung die firmeneigenen Produkte zu reduzierten Preisen erwerben können. Kojo Moe - die Begeisterung der Japaner für nächtliche Besichtigungen von industriellen Großbetrieben Spektakulär beleuchtete Erdölraffinerien, Kraftwerke mit dampfenden Schornsteinen und riesige Krananlagen gehören zu den Attraktionen der abendlichen Busbzw. Bootstouren, die seit einigen Jahren in mehreren japanischen Städten angeboten werden (kojo moe = Vernarrtheit in Fabriken). Den Teilnehmern geht es dabei nicht um einen Einblick in die Produktionsverfahren (wie bei klassischen Betriebsführungen); vielmehr begeistern sie sich ausschließlich für die beeindru‐ ckenden visuellen Eindrücke, die sie in den Sozialen Medien teilen. Als Auslöser dieser besonderen Art des Industrietourismus gelten zum einen Science-Fic‐ tion-Filme bzw. Thriller wie „Blade Runner“ und „Black Rain“ (Ridley Scott; 1982, 1989), deren apokalyptische Geschichten in industriell geprägten Metropolen spielen. Zum anderen haben mehrere Fotobände für ein rasches Wachstum dieses night-time factory tourism gesorgt. Obwohl inzwischen auch internationale Medien über die Touren berichtet haben, werden die Angebote vor allem von einem einheimischen Publikum genutzt - jungen, zumeist männlichen Großstädtern, die auf der Suche nach ungewöhnlichen Erlebnissen jenseits ihres beruflichen Alltags und ihrer Lebenswirklichkeit sind. In der Kanto-Region, die neben der Greater Tokyo Area auch die Städte Yokohama und Kawasaki umfasst, werden solche Touren einbis zweimal in der Woche veranstaltet. Dabei übersteigt die Nachfrage bei weitem das Angebot: So sind die Rundfahrten zumeist mehrere Monate im Voraus ausgebucht (vgl. Orange 2017). Ein weiteres Instrument zur Information und Ansprache der Verbraucher sind die privatwirt‐ schaftlichen Firmenbzw. Unternehmensmuseen. Im Mittelpunkt dieser dauerhaften Ausstellungen stehen zumeist die Geschichte, die Produktpalette und die Herstellungsverfahren, die anhand 66 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="67"?> von Fotos, Infotafeln, Objekten etc. und im Rahmen von Führungen präsentiert werden. Den Betreibern geht es dabei um eine firmenspezifische Darstellung der eigenen Tradition, Leis‐ tungsfähigkeit und Innovationskraft. Aufgrund dieser partikularen Perspektive unterscheiden sie sich von den öffentlichen Industrie- und Technikmuseen, in denen die Entwicklung einzelner Wirtschaftszweige bzw. Regionen in einen breiteren volkswirtschaftlichen, geschichtlichen und politischen Zusammenhang eingeordnet werden (→ 2.4). Die selektive Vorgehensweise privatwirtschaftlicher Anbieter lässt vor allem beim Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus verdeutlichen: Zu den Attraktionen der Autostadt in Wolfsburg - einer Markenwelt der Volkswagen AG - gehört z. B. das museumsähnliche „ZeitHaus“. In der umfangreichen Sammlung an Fahrzeugen fehlte bis vor kurzem der militärische Geländewagen des Typs 82, bei dem es sich um das erste in Großserie produzierte Modell gehandelt hat. Auf diese Weise wurde den Besuchern der Eindruck vermittelt, die Geschichte des Unternehmen habe erst im Jahr 1945 mit dem Bau des legendären VW-Käfers begonnen. Dabei reichen die Anfänge des Volkswagen-Werks bis in das Jahr 1938 zurück. Bei seiner Grund‐ steinlegung war zunächst geplant, dort preisgünstige Autos für die Bevölkerung zu produzieren. Obwohl Hunderttausende bereits einen Sparvertrag für den Erwerb des „Kraft-durch-Freude-Wa‐ gens“ abgeschlossen hatten, wurde er nie in großer Zahl gebaut (die Bezeichnung stammte von der NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude/ KdF“, die für das Projekt zuständig war). Stattdessen fertigte das Werk seit 1940 ca. 50.000 Kübelwagen und später auch Kampfflugzeuge, Minen sowie Flugbomben. Aufgrund des Mangels an Arbeitskräften mussten dort mehr als 20.000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten; gegen Kriegsende stellten sie bis zu zwei Drittel der Gesamtbelegschaft (vgl. Krebs 2020). Die Volkswagen AG hat ihre Firmengeschichte von Historikern aufarbeiten lassen und ist auch den Entschädigungsansprüchen von Überlebenden (zumindest teilweise) nachgekommen. Zum Gedenken an die Opfer wurde an einem der Werkseingänge eine Gedenktafel angebracht und in einem ehemaligen Luftschutzbunker befindet sich eine Erinnerungsstätte. In der Markenwelt hat der Konzern jedoch diesen Teil seiner Historie lange Zeit verschwiegen. Offensichtlich befürchteten die Verantwortlichen, dass „die weniger schönen Fakten […] den Eindruck der sorgfältigen Inszenierungen bei den Besuchern beschädigen“ könnten (Soyez 2016, S. 65). Gegenwärtig werden Firmen- und Unternehmensmuseen von vielen Betrieben und in zahlrei‐ chen Branchen als Kommunikationsinstrumente genutzt - von der Automobilindustrie über die Haushaltsgeräte- und Spielindustrie bis hin zur Kleidungs- und Möbelindustrie. Schätzungen gehen davon aus, dass es in Deutschland ca. 130-300 solcher Einrichtungen gibt. Neben Betrieben der Konsumgüterindustrie treten auch Unternehmen im Bereich der erneuer‐ baren Energien als Akteure auf dem Tourismusmarkt auf. Dazu zählen mehrere Wasserkraftwerke in Österreich und der Schweiz sowie eine Reihe von Windparks, Geothermiekraftwerken und Photovoltaikanlagen in Großbritannien, Island, Kanada und den USA. Das Spektrum ihrer touristischen Angebote reicht von Informations- und Besucherzentren über Themenwanderwege und Klettersteige bis hin zu Schrägaufzügen und einer „grünen“ People Power-Achterbahn, die ausschließlich mit Hilfe der Schwerkraft und des Gewichts der Passagiere betrieben wird (vgl. Widmann 2013; Beer/ Rybár/ Kalavský 2017). Als Beispiel für ein privatwirtschaftliches Firmenmuseum soll hier das Miele-Museum in Gütersloh erläutert werden. Dort wird auf ca. 1.000 Quadratmetern Fläche die Geschichte des Un‐ ternehmens präsentiert. Zu den Ausstellungsstücken gehören u. a. Milchzentrifugen, Staubsauger, Waschmaschinen, Geschirrspüler sowie Zweiräder. Ein inhaltlicher Schwerpunkt ist dabei das Thema „Waschen“, das mit Hilfe historischer Werbeanzeigen, alter Radio- und TV-Spots etc. vermittelt wird („Nur Miele, Miele, sagte Tante, die alle Waschmaschinen kannte“). 67 2.7 Betriebsbesichtigungen, Firmenmuseen und Markenwelten (Brand Lands) <?page no="68"?> Das eindrucksvollste Exponat ist eine Buttermaschine, die Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, und als „Mutter der Waschmaschinen“ gilt. Mit Hilfe eines Explosionsmodells erhalten die Besucher einen Einblick in die einfache, aber effiziente Konstruktion (vgl. ▷ https: / / printarchiv.absatzwirtschaft.de/ ). Selbst wenn historische Waschmaschinen bei vielen Hausfrauen (und Hausmännern) auf Interesse stoßen, so stehen die Industrieunternehmen mit ihren traditionellen Firmenmuseen und Werksführungen doch in einer harten Konkurrenz zu anderen Kultur-, Freizeit- und Unterhal‐ tungseinrichtungen. Um sich von den Wettbewerbern zu unterscheiden und über Alleinstellungs‐ merkmale zu verfügen, müssen sie den Kunden offensichtlich ein ungewöhnliches Erlebnis und einen emotionalen Zusatznutzen bieten. Vor diesem Hintergrund sind seit den 1990er-Jahren zahlreiche Markenwelten (Brand Lands, Brand Parks, Corporate Lands) entstanden. Unter diesem Begriff werden multifunktionale Mi‐ xed-Use-Center zusammengefasst, die von Unternehmen der Konsumgüterindustrie betrieben werden - speziell weltweit agierenden global players. Ihr Angebot besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher Attraktionen; dazu zählen u. a. (vgl. Löffler 2015, S. 10; Cudny/ Horňák 2016 zu einer Fallstudie des Audi Forums in Ingolstadt): ■ klassische Dauerausstellungen bzw. Museen, ■ Sonderausstellungsbereiche und Aktionsflächen, ■ multimediale und interaktive Informations- und Experimentierstationen, ■ Kunstobjekte und Installationen, ■ Simulatoren, (360-Grad-)Kinos, Fahrgeschäfte etc., ■ Restaurants und Shops, ■ VIP-Lounges, ■ Werkstouren, Events und Festivals, ■ Auslieferungszentren für Neuwagen (in den Markenwelten der Automobilindustrie). Wesentliche Grundprinzipien der Markenwelten sind die Erlebnisorientierung, die Interaktivität, die Inszenierung und die Eigeninitiierung der Teilnehmer. Da diese Merkmale auch für Events gelten, können die Brand Lands als stationäre und dauerhafte Formen des Event-Marketings klassifiziert werden (vgl. Nufer/ Scheurecker 2008, S. 14). Markenwelten (Brand Lands): Definition „[…] örtlich gebundene Zentren, Ausstellungen oder Themenparks […], die das Ziel verfolgen, Marke(n) und Produkte für ihre Kunden umfassend, interaktiv und authentisch erlebbar zu machen. Hierbei wird versucht, die Facetten einer Marke möglichst multisensual und nachhaltig zu kommunizieren; der Kunde soll in die Welt der Marke ‚eintauchen‘“ (Besemer 2021, S. 629). Grundsätzlich lassen sich zwei Typen von Markenwelten unterscheiden, die jeweils spezifische Zielgruppen ansprechen (vgl. Steinecke 2011, S. 247): ■ Die informations- und bildungsorientierten Einrichtungen sind zeitgemäße Infotainment-Cen‐ ter, in denen die Besucher auf unterhaltsame und lehrreiche Weise über die Geschichte der Firma, die Marken und den Produktionsprozess unterrichtet werden. Zumeist befinden sie sich am Standort des Unternehmens - entweder in historischen Gebäuden oder in spektakulären Neubauten, die nach Entwürfen bekannter Architekten errichtet worden sind (corporate architecture). Diese Markenwelten stoßen vor allem bei Gästen aus mittleren 68 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="69"?> und höheren Alters-, Bildungs- und Einkommensgruppen auf Interesse (also dem typischen Museumspublikum). Als Beispiele sind die Autostadt in Wolfsburg, das Vitra Design Museum in Weil am Rhein oder das Informationszentrum „The House of Villeroy & Boch“ in Mettlach zu nennen. ■ Die spaß- und unterhaltungsorientierten Brand Lands weisen mit ihren zahlreichen Fahrge‐ schäften große Ähnlichkeiten zu Themenparks auf (obwohl sie nicht von Freizeit-, sondern Industrieunternehmen betrieben werden). Es handelt sich um großflächige Anlagen, die - nach dem Vorbild der „Disney“-Parks - in einzelne Themenbereiche gegliedert sind. Als Standorte werden verkehrsmäßig gut erschlossene Flächen in beliebten Destinationen bzw. im Einzugsbereich von Großstädten bevorzugt (sie befinden sich also nicht in der Nähe der Produktionsstätten). Beispiele für diesen Typ von Markenwelten, die vor allem von Familien mit Kindern besucht werden, sind u. a. der Playmobil Fun-Park in Zirndorf, der Legoland-Park in Günzburg oder das Ravensburger Spieleland in Meckenbeuren. 27 | Ein Grund zum Feiern - in der Autostadt in Wolfsburg wurde im Jahr 2016 das 2,5-millionste Fahrzeug an die stolzen Käufer übergeben. Generell gehört die Auslieferung von Neuwagen zu den Kernfunktionen von Markenwelten der Automobilindustrie. In Wolfsburg wird jedes vierte Fahrzeug von den Kunden persönlich abgeholt. Ungeachtet der jeweiligen Ausrichtung handelt es sich bei den Markenwelten zumeist nicht um renditeorientierten Profitcenter. Vielmehr werden sie von den Firmen vor allem als Kom‐ munikationsplattformen genutzt, mit denen sie (potenziellen) Kunden, aber auch Mitarbeitern und Geschäftspartnern ihre zentralen Markenbotschaften vermittelt wollen - z. B. Qualität, Kreativität, soziale Verantwortung, Umweltbewusstsein. Selbst wenn in einigen Brand Lands auch Betriebsführungen angeboten werden, sind sie keine Kathedralen der Arbeit (wie die 69 2.7 Betriebsbesichtigungen, Firmenmuseen und Markenwelten (Brand Lands) <?page no="70"?> Fabrikgebäude des 19. und frühen 20. Jahrhunderts), sondern „Tempel der Unternehmenskultur“ (Bayer 2013, S. 185; vgl. auch Chow u. a. 2017, S. 2). Um diese Ziele zu erreichen, betreiben speziell die Konzerne einen hohen finanziellen Aufwand: So beliefen sich die Investitionen für das Mercedes-Benz Museum in Stuttgart auf 150 Millionen Euro, für die Autostadt in Wolfsburg auf 425 Millionen Euro und für die BMW Welt in München auf 500 Millionen Euro. Darüber hinaus sind ständig weitere Ausgaben erforderlich, um das Angebot an die sich wandelnden Bedürfnisse der Besucher anzupassen. Im Rahmen einer Erweiterung ihrer Fläche haben die Swarovski Kristallwelten in Wattens bei Innsbruck z. B im Jahr 2015 Investitionen in Höhe von 34 Millionen Euro getätigt. Im Vergleich zu anderen Kommunikationsinstrumenten bieten die Markenwelten den Unter‐ nehmen mehrere strategische Wettbewerbsvorteile: ■ Angesichts einer zunehmenden Sättigung der Konsumgütermärkte und einer prinzipiellen Austauschbarkeit der Waren können die Hersteller ihre Produkte in den Brand Lands affektiv aufwerten und ihnen ein unverwechselbares Profil verleihen. Diese Maßnahmen tragen dazu bei, die Markenloyalität der Konsumenten zu stärken (vgl. Neuburger/ Koller/ Stumpf 2016, S. 6). ■ Da sich die Gäste mehrere Stunden in den Markenwelten aufhalten, ist die Werbewirkung weitaus intensiver als bei der klassischen TVbzw. Printwerbung. Dieser Effekt konnte in einer Fallstudie in der Autostadt in Wolfsburg empirisch erfasst werden: Nach der Besichtigung stieg der Anteil der Besucher, die sich für den Kauf eines Fahrzeugs des VW-Konzerns interessierten, von 58 auf 65 Prozent (vgl. Otgaar/ Klijs 2010, S. 18). ■ Mit ihrem attraktiven Angebotsmix bedienen die Brand Lands den Wunsch der Konsumenten nach neuen, ungewöhnlichen Erlebnissen. Wenn diese Erwartung erfüllt wird, fungieren die Gäste freiwillig als authentische Werbeträger für die Markenwelt und das Unternehmen, da sie ihre Erfahrung zuhause mit Familienmitgliedern, Freunden u. a. teilen oder in den Sozialen Medien darüber berichten (analoge bzw. virtuelle Mund-zu-Mund-Propaganda). „Eine unglaublich toll gemachte Welt, die einem über das Staunen die Welt der Kristalle auf kreativste Weisen öffnet! Die Kreativität von André Heller und der anderen Künstler/ -innen ist unfassbar reich. […] Eine wundervolle Einladung an all unsere Sinne und unsere Perspektiven.“ Bewertung der Swarovski Kristallwelten bei TripAdvisor Mit ihrem erlebnisorientierten Infotainment-Konzept stoßen die Markenwelten generell auf gro‐ ßes öffentliches Interesse, das sich in einer breiten medialen Resonanz und hohen Besucherzahlen widerspiegelt. So verzeichnen z. B. die Brand Lands der deutschen Automobilhersteller BMW, Volkswagen und Mercedes-Benz jeweils ca. 850.000 bis 3.000.000 Gäste/ Jahr - die Spitzenreiter unter den öffentlichen Industriemuseen hingegen nur 169.000 bis 415.000 (→ 2.4). Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich nicht alle Markenwelten erfolgreich auf dem Freizeit- und Tourismusmarkt behaupten konnten. Zu den negativen Beispielen gehört das Brand Land Opel Live in Rüsselsheim, das aufgrund geringer Nachfrage bereits zwei Jahre nach der Eröffnung (1999) wieder geschlossen wurde. Auch der RWE-Meteorit in Essen - eine Markenwelt zum Thema „Elektrizität“ - musste seinen Betrieb einstellen, da die Besucherzahlen im Zeitraum 1998-2003 deutlich unter den Erwartungen des Energiekonzerns geblieben waren (vgl. Steinecke 2009, S. 40-41; Löffler 2015, S. 45-46). 70 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="71"?> 28 | Schlange stehen für eine säkulare Hostie - im Schokoladenmuseum Lindt in Köln überreicht eine Mitarbeiterin den geduldig wartenden Gästen eine Waffel, die sie zuvor in den scheinbar ewig fließenden Schokoladenbrunnen getaucht hat. Die Inszenierung solcher besonderen Momente und die multisensuale Ansprache der Besucher gehören zu den Erfolgsfaktoren von Brand Lands. Damit gelingt es ihnen, ihre Produkte emotional aufzuladen und zugleich unvergessliche Erinnerungen an den Besuch zu kreieren. Firmenmuseum/ Markenwelt Produkte Besucher/ Jahr Hershey’s Chocolate World, Hershey (Pennsylvania) Nahrungs- und Genussmittel 4.000.000 BMW Welt, München Automobile 3.000.000 Autostadt, Wolfsburg Automobile 2.115.000 Guinness Storehouse, Dublin Nahrungs- und Genussmittel 1.700.000 World of Coca-Cola, Atlanta (Georgia) Nahrungs- und Genussmittel 1.250.000 Heineken Experience, Amsterdam Nahrungs- und Genussmittel 1.180.000 Mercedes-Benz Museum, Stuttgart Automobile 850.000 Swarovski Kristallwelten, Wattens bei Innsbruck Schmuck/ Glas 650.000 Cadbury World, Birmingham Nahrungs- und Genussmittel 600.000 Schokoladenmuseum Lindt, Köln Nahrungs- und Genussmittel 575.000 Tayto Park, Kilbrew Nahrungs- und Genussmittel 500.000 71 2.7 Betriebsbesichtigungen, Firmenmuseen und Markenwelten (Brand Lands) <?page no="72"?> Porsche-Museum, Stuttgart Automobile 442.000 Audi Forum, Ingolstadt Automobile 400.000 Ravensburger Spieleland, Meckenbeuren Spielwaren 400.000 Vitra Design Museum, Weil am Rhein Möbel 179.000 Gläserne Manufaktur (Volkswagen), Dresden Automobile 146.000 Erwin Hymer Museum, Bad Waldsee Wohnmobile 100.000 Dr. Oetker Welt, Bielefeld Nahrungs- und Genussmittel 50.000 2 | Besucherzahlen ausgewählter Firmenmuseen und Markenwelten Aus Sicht der Destinationen (speziell der Großstädte) handelt es sich bei den Markenwelten um wichtige Sehenswürdigkeiten, die zur Verbesserung des Images, zur Erweiterung des touristischen Produktspektrums und zur Steigerung der Nachfrage beitragen. Fallstudien im französischen Pays de la Loire und in Shanghai sind zu dem Ergebnis gekommen, dass dort sechs bis elf Prozent der Touristen produzierende Betriebe bzw. Markenwelten besichtigen (z. B. die STX Europe-Werft und die Airbus-Produktionshallen bzw. ein Volkswagen- und ein Baosteel-Werk) (vgl. Otgaar/ Klijs 2010, S. 11; Wang/ Fu 2019, S. 19). Allerdings ist davon auszugehen, dass die lokale Wirtschaft nur zu einem Teil an den Ausgaben dieser Industrietouristen partizipiert. Um hohe Einnahmen in den eigenen Restaurants und Shops zu erzielen, versuchen die Unternehmen, die Besucher zu einem möglichst langen Aufenthalt zu animieren. Deshalb treten die multifunktionalen Markenwelten als Konkurrenten der Gastgewerbes und Einzelhandels in den Standortgemeinden auf (die Autostadt in Wolfsburg agiert mit dem Luxushotel The Ritz-Carlton sogar als autarkes Reiseziel) (vgl. Otgaar 2010 mit Fallstudien zu den wirtschaftlichen Effekten in Köln, Rotterdam, Turin und dem Pays de la Loire). Auch für die öffentlichen Industriemuseen hat sich die Wettbewerbssituation durch die Brand Lands erheblich verschärft, da diese Einrichtungen mit ihrem attraktiven Inszenierungsmix aus Architektur, Kunst, Technik etc. gegenwärtig den state of the art der Präsentation definieren - und damit auch die Erwartungen der Gäste beim Besuch anderer Kultur- und Freizeiteinrichtungen prägen. In Großbritannien und Australien gibt es zwar einige Beispiele für öffentliche Industrieer‐ lebniswelten bzw. -landschaften, die sich konsequent am Vorbild der privatwirtschaftlichen Markenwelten orientieren und ihre industrielle Vergangenheit auf unterhaltsame, interaktive und kommunikative Weise vermitteln (→ 4.3). Die Mehrzahl der Industriemuseen ist jedoch aufgrund knapper Budgets, niedriger Einnahmen und einer geringen Personalausstattung kaum in der Lage, vergleichbar aufwändige Techniken einzusetzen. Dennoch können sie die Grundprinzipien der Markenwelten für sich nutzen, indem sie ihr Publikum durch eindrucksvolle Exponate, spannende Vorführungen und einzigartige Events überraschen, zum Staunen bringen und begeistern (Wow-Effekt). Doch wie lassen sich diese Ziele erreichen? Welche Marketing-Instrumente müssen öffentliche Museen und Destinationen einsetzen, um auf dem (industrie-)touristischen Markt erfolgreich aufzutreten? Wie kann die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure verbessert werden? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des folgenden Interviews mit einem Praktiker, der über seine langjährigen Arbeitserfahrungen berichtet. 72 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen <?page no="73"?> 3 Das Destinationsmanagement altindustrieller Regionen: Erfahrungen eines Praktikers „Das Ruhrgebiet hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, das Recht erarbeitet, sich hemmungslos zu stilisieren und sich zu dem zu bekennen, was es einzigartig macht, nämlich eben die Arbeit. Zumindest die von früher.“ Goosen 2010 29 | Eine Ikone der Industriekultur in Deutschland - das eindrucksvolle Doppelbock-Fördergerüst der Zeche Zoll‐ verein in Essen ist zu einem Wahrzeichen des Transformationsprozesses geworden, der im Ruhrgebiet stattgefunden hat. Bei seinem Bau in den 1920er-Jahren wurde es als ein Symbol des Fortschritts betrachtet, denn die Zeche war die leistungsstärkste Steinkohleförderungsanlage der Welt; mit ihrer Schließung wurde die Konstruktion jedoch zunächst zu einem Emblem des wirtschaftlichen Niedergangs. Inzwischen gilt die Anlage als Beispiel für die erfolgreiche Konversion eines Industrieareals, denn das Gelände dient als Standort zahlreicher Kultur-, Bildungs- und Wirtschaftseinrichtungen und als beliebte Eventlocation. Interview mit Dipl.-Geogr. Axel Biermann, Geschäftsführer der Ruhr Tourismus GmbH (Oberhausen) Das Ruhrgebiet konnte sich in den vergangenen drei Jahrzehnten erfolgreich als neue Destination auf dem nationalen und internationalen Tourismusmarkt positionieren. Welche Widerstände <?page no="74"?> und Hemmnisse mussten überwunden werden, um diese positive Entwicklung zu initiieren und voranzutreiben? Die größte Herausforderung intern war die Schaffung von Tourismusbewusstsein bei den politischen Entscheidungs- und Geldgebern. Das Ruhrgebiet war - von seiner Historie her betrachtet - genau das Gegenteil einer attraktiven Tourismusdestination. Insofern musste von den Entscheidungsträgern viel Mut und Fantasie aufgebracht werden, um diesen Weg zu gehen. Hohe Arbeitslosigkeit, Abwanderung junger Menschen, ökologische Altlasten - als Folge der Deindustrialisierung müssen altindustrielle Regionen zahlreiche Strukturprobleme bewältigen. Politiker und Planer betrachten häufig den Tourismus als zentralen Motor einer postindustriellen Entwicklung. Kann er Ihrer Meinung nach diese Erwartungen tatsächlich erfüllen? Mittlerweile ist überall die Erkenntnis gewachsen, dass zwischen der touristischen Attrak‐ tivität einer Region und ihrer Lebensqualität für Einheimische ein direkter Zusammenhang besteht. Deshalb sind Investitionen in das touristische Angebot sowie in seine Vermarktung auch immer Treiber für eine positive Entwicklung der Destination in Bezug auf Lebensqua‐ lität, Freizeit- und Kulturangebot. Man spricht heute schon davon, dass Tourismus ein sehr starker Motor für eine positive Regionalentwicklung sein kann. Dies gilt natürlich gerade für Regionen, die hier noch erhebliche Defizite aufzuholen haben. Ein besonderes Handicap altindustrieller Regionen ist das negative Image, mit dem auch das Ruhrgebiet - trotz zahlreicher aufwändiger Werbekampagnen - immer noch zu kämpfen hat. Welche Möglichkeiten sehen Sie, das Bild der Destination in der Öffentlichkeit dauerhaft zu verbessern? Der entscheidende Hebel ist das direkte haptische Erleben des Ruhrgebiets durch die Gäste von außerhalb. Dabei werden Vorurteile entkräftet, Erwartungshaltungen meistens stark übertroffen und positive Berichte nach dem Besuch ausgelöst. Darüber hinaus sind die vielen Studierenden in der Region wichtige Botschafter. Sie haben keine Vorurteile und erkunden die Region auf ihre unkonventionelle Weise. Dies muss natürlich mit intelligenten Kommunikationskampagnen flankiert werden, die neugierig auf das Ruhrgebiet machen. Die Diskussion über die geplante Aufnahme des Ruhrgebiets in die UNESCO-Welterbeliste hat gezeigt, dass die Rückbesinnung auf die Industriegeschichte in der Region auch auf Kritik stößt. Statt einer nostalgischen Musealisierung wünschen sich einige Verantwortliche klare Signale für den Aufbruch in eine postindustrielle Zeit. Ist das industriekulturelle Erbe für Sie als Destinationsmanager eher eine Last oder vielmehr eine Chance? Wir betrachten es eindeutig als Chance. Zum einen ist die Industriekultur der historische Anker der Region, den jede Destination als „Erzählung“ braucht; zum anderen symbolisie‐ ren die Orte der Industriekultur den Wandel und Aufbruch der Region, weil gerade an diesen Orten neue Nutzungen beispielsweise in den Bereichen Kultur, Veranstaltungen und Ausstellungen entstanden sind. Außerdem sind sie oft Orte neuer wirtschaftlicher Dynamik, beispielsweise durch Start-up-Unternehmen oder größere Neuansiedlungen auf den ehemaligen Brachflächen. Wie in jeder anderen Destination gibt es auch im Ruhrgebiet eine Fülle von öffentlichen und privaten Akteuren, die teilweise gegensätzliche Interessen verfolgen (Denkmalpfleger, Touristiker, Stadtplaner etc.). Welche Erfahrungen haben Sie bei der Zusammenarbeit mit anderen Partnern in der Region gemacht, die für einen schlagkräftigen Marktauftritt erforderlich ist? 74 3 Das Destinationsmanagement altindustrieller Regionen: Erfahrungen eines Praktikers <?page no="75"?> Man muss Angebotsformate entwickeln, die im Rahmen einer Dachmarkenstrategie die Eig‐ nungen und Talente aus den einzelnen Kommunen bündeln. Mit dieser Strategie haben wir bisher gute Erfolge erzielt. Dachmarken wie der „Ruhrtalradweg“, die „RuhrKunstMuseen“ oder die „ExtraSchicht - Die Nacht der Industriekultur“ haben sich etabliert und zahlen auf die gesamte Region mit ihren Kommunen und Kreisen ein. Diese Dynamik strahlt dann auch in benachbarte Disziplinen wie Denkmalpflege und Wirtschaftsförderung aus und erhöht die Bereitschaft zur Mitarbeit. Industrierelikte sind keine klassischen touristischen Sehenswürdigkeiten. Obwohl ihre histori‐ sche Bedeutung und ihre ästhetische Qualität bereits in den 1970er-Jahren erkannt worden sind, stoßen sie beim Reisepublikum längst noch nicht auf ein breites Interesse. Was müssen Desti‐ nationen tun, um die Akzeptanz dieses sperrigen kulturellen Erbe zu steigern und attraktive, marktgerechte Produkte zu schaffen? Es geht einerseits darum, die Authentizität der Standorte erlebbar zu machen, z. B. durch Führungen, die von ehemaligen Mitarbeitern gemacht werden, und andererseits darum, das „Geheimnisvolle“ zu bewahren. Zechen und Fabriken waren früher „verbotene Orte“, die man jetzt besichtigen kann. Das muss spürbar bleiben. Letztendlich geht es aber auch um Neunutzungen, die den Charme der alten Architektur als Kulisse nutzen, z. B. als Standort für Tagungen und Kongresse. Mit Events wie der „Ruhrtriennale“ und der „ExtraSchicht - Die Nacht der Industriekultur“ verfügt das Ruhrgebiet über populäre Veranstaltungsformate im Bereich der Hoch- und Alltags‐ kultur. Aufgrund des harten Wettbewerbs im Städtetourismus stehen die Destinationen aber vor der Herausforderung, immer wieder neue Angebote zu entwickeln. Gibt es aus Ihrer Sicht noch regionaltypische Themen, die künftig für weitere Events inwertgesetzt werden können? Ein schönes Beispiel ist hier der „Tag der Trinkhallen“, den wir bereits zwei Mal durchgeführt haben. Er beleuchtet einen interessanten Teil der Ruhrgebietsidentität und nutzt ihn als Rahmen und Standort für ein außergewöhnliches Kulturprogramm für Jedermann. DJs, Live-Musik, Autorenlesungen, Kleinkunst und Kabarett haben an oder in den Trinkhallen stattgefunden und für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt. Generell müssen wir mehr Angebote entwickeln, die ein junges, neugieriges, unkonventionelles und vorurteilsfreies Publikum erreichen. Pop-Konzerte in stillgelegten Hüttenwerken, Theateraufführungen in ehemaligen Maschinen‐ fabriken - bei solchen Veranstaltungen besteht die Gefahr, dass die widerspruchsvolle Geschichte dieser Produktionsstätten (die teilweise auch Orte der Ausbeutung und Zwangsarbeit waren) in den Hintergrund rückt und die Industrierelikte nur noch als spektakuläre Kulissen wahrge‐ nommen werden. Gibt es für Sie moralisch-ethische Grenzen der Eventisierung? Es muss bei der Neunutzung, z. B. durch Pop-Konzerte, Theateraufführungen oder ähnliche Veranstaltungen, immer Platz für die Geschichte des Ortes bleiben. Sei es durch Informa‐ tions- und Kommunikationsmaßnahmen vor Ort oder digital auf dem mobilen Endgerät. Idealerweise weisen die neuen Formate in ihrer Kommunikation auch auf die ursprüngliche Nutzung hin. Dies darf allerdings nicht aufgesetzt oder oberlehrerhaft erfolgen, sondern muss spielerisch und unterhaltsam sein. 75 3 Das Destinationsmanagement altindustrieller Regionen: Erfahrungen eines Praktikers <?page no="76"?> 30 | Kunstobjekt, Freizeitattraktion, Fotomotiv - das Werksschwimmbad auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen wurde im Jahr 2001 von den Künstlern Dirk Paschke und Daniel Milohnic errichtet. Sie wollten mit dieser Installation, die aus zwei zusammengeschweißten Industriecontainern besteht, an die Bädertradition im Bergbau erinnern. Aufgrund seiner skurrilen Lage und Atmosphäre gehört der Pool - laut einem Ranking des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs (ADAC) - zu den 13 besten Instagram-Spots im Ruhrgebiet. Anhand von Besucherbefragungen in Industriemuseen und bei Kulturevents wird deutlich, dass diese Angebote überwiegend von einem älteren Mittelschichtpublikum mit besserer Bildung und höherem Einkommen genutzt werden. Welche Möglichkeiten sehen Sie, künftig auch stärker junge Erwachsene, bildungsferne Gruppen und Menschen mit Migrationshintergrund als Gäste anzusprechen? Die Angebotsformate müssen diese Zielgruppen ansprechen: Innovative Sportprojekte wie die „Ruhr Games“ oder Bouldern im „Landschaftspark Duisburg Nord“ sowie Contemporary Street Culture wie das Projekt „urbanatix“ in Bochum sind Beispiele für solche Angebote. Auch die „ExtraSchicht - Die Nacht der Industriekultur“ entwickelt sich mit digitalen Kunst-Performances in diese Richtung weiter. Bei unserem Event „Tag der Trinkhallen“ hatten wir auch viele Besucher mit Migrationshintergrund, da von ihnen oft die Trinkhallen betrieben werden und sie ihre community angesprochen haben. Der Tourismusmarkt hat sich in den vergangenen Jahren als äußerst dynamisch erwiesen: Die Reiseentscheidungen werden immer kurzfristiger getroffen, die Digital Natives stellen neue Informationsansprüche und die Konkurrenz durch andere Destinationen nimmt ständig zu. Wenn Sie angesichts solcher Veränderungen einen Blick in die Zukunft werfen: Wie wird der Tourismus im Ruhrgebiet im Jahr 2040 aussehen und welche Bedeutung wird die Industriekultur dann noch haben? Da sich die Nachfragezyklen in unserer Zeit immer schneller entwickeln, ist es wirklich sehr schwer, exakte Prognosen zu erstellen. Allerdings werden zwei Megatrends die Entwicklung 76 3 Das Destinationsmanagement altindustrieller Regionen: Erfahrungen eines Praktikers <?page no="77"?> massiv beeinflussen: Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Im Bereich der Digitalisierung wird der freie Zugang zu Onlinedienstleistungen während der gesamten customer journey das prägende Element werden: Inspiration, Information, Buchung, Aufenthalt und Besuchsma‐ nagement vor Ort, aber auch Bewertung und Weiterempfehlung nach der Reise werden online abgewickelt, ob stationär oder mobil. Sämtliche benötigten Dienstleistungen müssen abrufbar und buchbar sein. Im Bereich der Nachhaltigkeit wird - neben der sozialen Verträglichkeit des Tourismus - vor allem die CO 2 -arme Mobilität und der damit zusammen‐ hängende Mobilitätsaufwand eine entscheidende Rolle spielen. Für das Reiseziel Ruhrgebiet bergen diese Megatrends erhebliche Chancen: Zum einen können große Destinationen mit einem umfangreichen Angebot ihre Kompetenzen voll ausspielen, indem sie ihre Kunden mit Hilfe digitaler tools umfassend und qualitätsvoll informieren. Zum anderen sind die digitalen Medien eine große Hilfe beim optimalen Management des Aufenthalts. Außerdem können die Standorte der Industriekultur ihre beindruckende Geschichte und frühere Funktion durch digitale Erlebnisformate wie augmented reality erneut erlebbar machen. Schließlich lassen sich durch digitale Anwendungen im Bereich der Besucherlenkung lokale Nachfragespitzen und unnötige Fahrten verhindern. Neben diesem solitären Effekt der Digitalisierung für einen nachhaltigen Tourismus wird die Mobilitätsfrage das Reiseverhalten verändern. Aufgrund der stark steigenden Mobilitätskosten und des (allerdings noch langsam kommen‐ den) Bewusstseinswandels ist künftig von einer spürbaren Steigerung des Nahtourismus auszugehen. Hiervon kann das Ruhrgebiet aufgrund seiner geografischen Lage - verbunden mit seinem bevölkerungsreichen Einzugsgebiet - stark profitieren. Tagestourismus und Kurzurlaub werden die prägenden Reiseformen sein. Da neben der Industriekultur auch das radtouristische Angebot eine immer größere Rolle spielt, werden aber auch längere Erholungsaufenthalte im Ruhrgebiet zukünftig keine Träumerei mehr sein. Axel Biermann ist seit 2008 hauptamtlicher Geschäftsführer der Ruhr Tourismus GmbH (RTG) in Ober‐ hausen. Der Diplom-Geograph war nach seinem Studium zunächst Geschäftsführer des Verkehrsvereins Saarburger Land e. V. und anschließend mehr als zehn Jahre Geschäftsführer der Tourismus & Marketing Oberhausen GmbH. Neben seiner beruflichen Tätigkeit war er immer wieder als Lehrbeauftragter mit dem Themenschwerpunkt „Kulturtourismus“ tätig - u. a. an der Universität Paderborn, der Fachhochschule Harz in Wernigerode, der Internationalen Fachhochschule Bad Honnef sowie der International School of Management (ISM) in Dortmund. Darüber hinaus ist er Mitglied in folgenden Gremien: Vorstand Tourismus NRW e. V., Marketingausschuss der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT), Tourismusausschuss Deutscher Industrie und Handelskammertag (DIHK), Arbeitsgruppe Tourismuspolitik Deutscher Tourismusverband (DTV). Der gebürtige Stuttgarter ist verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn und lebt mit seiner Frau in Oberhausen. 77 3 Das Destinationsmanagement altindustrieller Regionen: Erfahrungen eines Praktikers <?page no="79"?> 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen „Rocket yourself back to the age of steam and see life more than 100 years ago at our open-air museum! ” Werbeslogan des Ironbridge Gorge Museum (Shropshire) 31 | Ein sperriges historisches Erbe - angesichts ihrer enormen Größe und ihrer zahlreichen Funktionsbauten können stillgelegte Industrieanlagen zumeist nur mit einem erheblichen finanziellen Aufwand touristisch oder anderweitig genutzt werden. Als wesentliches Hemmnis erweist sich auch die Beseitigung von ökologischen Altlasten, die durch die unsachgemäße Lagerung von Abfällen entstanden sind. So ist der Boden im ehemaligen metallurgischen Kombinat „Stahl der Partei“ im albanischen Elbasan - einst das industrielle Herz des Landes - bis zu einer Tiefe von 50 Zentimetern verseucht worden. Vom historischen Industrierelikt zur zeitgemäßen Besucherattraktion - dieser Transformati‐ onsprozess hat sich häufig als steinig und schwer erwiesen. Speziell in der Initialphase des Industrietourismus in den 1980er-Jahren sind die Initiatoren dabei auf zahlreiche Hemmnisse und Vorbehalte gestoßen. Auf der Nachfrageseite musste zunächst ein Bewusstsein für den Wert des industriekulturellen Erbes geschaffen werden, das nicht dem traditionellen Verständnis von Hochkultur entsprach. Schließlich traten Eisenhütten, Bergwerke und Porzellanfabriken auf dem Tourismusmarkt als neue Konkurrenten von Kathedralen, Burgen und Schlössern auf, die sich seit nahezu 200 Jahren zu Must-see-Zielen von Besichtigungs- und Kulturtouristen entwickelt hatten (die wichtige Rolle <?page no="80"?> der UNESCO-Welterbeliste bei der Erweiterung des Verständnisses von „Kultur“ ist bereits an anderer Stelle erläutert worden) (→ 1.1). Für ein breites Reisepublikum waren (und sind) stillgelegte Industrieeinrichtungen einfach nur unästhetische Gebäudekomplexe, die zudem negative Assoziationen zur beschwerlichen Arbeitswelt auslösen (selbst wenn inzwischen immer weniger Menschen in Industriebetrieben beschäftigt sind). Sie stoßen häufig auf geringes Interesse, da Ausflüge und Reisen vor allem unternommen werden, um einen Tapetenwechsel vorzunehmen, vergnügliche Eindrücke zu haben und sich einfach nur zu erholen. Neben diesem generellen Akzeptanzproblem mussten (bzw. müssen) bei der industrietouristi‐ schen Inwertsetzung von Industrierelikten aber auch mehrere Hemmnisse auf der Angebotsseite überwunden werden; dazu zählen mental-kognitive, ökonomische, rechtliche und physische Barrieren (vgl. Soyez 1993, S. 49-56; Jelen 2018, S. 98-99). Als eine Herausforderung erwiesen sich dabei die mental-kognitiven Barrieren: Aus Sicht der früheren Arbeiter und Angestellten stießen entsprechende Planungen zumeist auf Unverständnis und Ablehnung. Für sie waren die Gebäude Mahnmale des Niedergangs der Industrie, die bittere Erinnerungen an eine bessere Zeit auslösten (Stilllegungstrauma) (vgl. Xie/ Lee/ Wong 2019, S. 142). „Die Kumpel haben sich schlapp gelacht, als sie von den Plänen hörten [erinnert sich ein ehemaliger Bergmann]. Alle sagten, die spinnen doch. Das hat es noch nie gegeben. Ein Pütt als Denkmal! “ Bösch 2019, S. 20 Darüber hinaus bestand in den altindustriellen Regionen häufig auch die Angst vor einer Mu‐ sealisierung: Einwohner, Politiker und Gewerkschaftler befürchteten die dauerhafte Festschrei‐ bung eines negativ besetzten historischen Zustands; stattdessen wünschten sie sich Signale für den Aufbruch in eine postindustrielle Zeit. Selbst gegenwärtig gibt es noch Beispiele für eine solche skeptische Haltung: Der Oberbürgermeister von Bochum hat Überlegungen, die Industrielandschaft des Ruhrgebiets in die UNESCO-Welterbeliste aufnehmen zu lassen, als „zu rückwärtsgewandt“ bezeichnet. Auch andere Städte stehen der geplanten Bewerbung kritisch gegenüber (vgl. Berger 2021; Heinemann 2021). Eine weitere Schwierigkeit sind ökonomische Barrieren: Bei einer touristischen Nutzung können mögliche Veräußerungsgewinne nicht realisiert werden (z. B. der Schrottwert der stillgelegten Produktionseinrichtungen sowie der Wert von Gebäuden und Grundstücken). Außerdem fallen zunächst hohe Kosten für notwendige Sicherungs- und Erhaltungsmaßnahmen an. Später sind in der Regel öffentliche Zuschüsse für den laufenden Betrieb erforderlich. Angesichts begrenzter Mittel und einer großen Zahl von Industriedenkmälern (allein in Nordrhein-Westfalen ca. 3.500) muss eine Abwägung erfolgen, welches Relikt bewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Dabei stehen Industrieeinrichtungen in einem direkten Wettbewerb mit anderen Projekten der Denkmalpflege, aber auch der (Hoch-)Kultur generell (vgl. Hay 2011, S. 13-14; Gawehn 2012, S. 126). Neben rechtlichen und organisatorischen Barrieren (Verfügungsgewalt, unklare Zuständigkei‐ ten, Versicherungsproblematik) gibt es schließlich noch physische Hemmnisse, da die Altlasten häufig eine zukunftsorientierte Stadtplanung und -entwicklung behindern. Vor diesem Hintergrund ist es altindustriellen Regionen vielfach zu einem Abriss von Industrie‐ relikten gekommen (vgl. Nevell 2020): 80 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="81"?> ■ Mit 660 Gruben war z. B. das Siegerland im 19. Jahrhundert ein Zentrum des europäischen Eisenerzbergbaus. Von den zahlreichen Fördergestellen ist keines mehr erhalten geblieben (vgl. Fleiß 2014, S. 179). ■ Auch im ausgedehnten Kohlerevier des Rhondda-Tals (South Wales) sind in den 1980er-Jah‐ ren mehr als 50 Zechenanlagen direkt nach der Schließung abgerissen worden - bis auf die Lewis Merthyr Colliery, die als Rhondda Heritage Park an die Geschichte des Bergbaus erinnert. ■ Teilweise plädierten sogar die Einwohner selbst für die Schließung und den Abriss - wie z. B. im Saarland. Dort ist es Anfang des 21. Jahrhunderts häufig zu Bergabsenkungen gekommen, die u. a. auch Schäden an Wohn- und Geschäftshäusern verursachten und deren Wert min‐ derten. Während große Teile der Bevölkerung früher gegen geplante Betriebsstilllegungen demonstriert hatten, forderten sie nun zunehmend ein Ende des regionalen Bergbaus (vgl. Gawehn 2012, S. 115-118). 32 | Nicht jedem funktionslosen Schornstein wird eine Würdigung als Denkmal bzw. Besucherattraktion zuteil, doch inzwischen wird der Abriss häufig als spektakuläres Event inszeniert. Im Februar 2019 nahmen z. B. Tausende Schaulustige an der Sprengung des Kohlekraftwerks Gustav Knepper in Dortmund/ Castrop-Rauxel teil. Außerdem wurde die Aktion per Livestream auf dem Facebook-Kanal des Abrissunternehmens übertragen. Nach umfangrei‐ chen Sanierungsarbeiten soll das 58 Hektar große Gelände als Logistik- und Gewerbepark genutzt werden. Angesichts dieser zahlreichen Barrieren standen Denkmalpfleger, interessierte Einwohner und später auch Destinationsmanager vor der Aufgabe, eine breite Akzeptanz für den Erhalt und die Nutzung der Relikte zu schaffen. Als zusätzliches Hemmnis erwies sich dabei die soziale Kluft zwischen den Skeptikern, die direkt von der Deindustrialisierung betroffen waren, und den 81 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="82"?> Befürwortern, die zumeist keine persönliche Arbeitserfahrungen in Industriebetrieben hatten oder aus anderen Regionen stammten (vgl. Zwegers 2018 zu einer Fallstudie in Cornwall). Neben Fachleuten und Politikern hat sich dabei speziell das städtische (Bildungs-)Bürgertum für die Errichtung von Museen und Erinnerungsorten eingesetzt - und damit Sehenswürdigkeiten initiiert, die überwiegend von Mitgliedern des eigenen gesellschaftlichen Milieus genutzt werden. Die Bewahrung des industriekulturellen Erbes markiert also den Beginn eines umfassenden Gentrifizierungsprozesses. Inzwischen wird die Diskussion allerdings nicht mehr nur durch solche Partikularinteressen geprägt; vielmehr ist in jüngerer Zeit ein wachsendes öffentliches Bewusstsein für den Wert des industriekulturellen Erbes zu beobachten - wie die Resultate einer empirischen Erhebung in England deutlich machen (vgl. Kelleher 2012, S. 21): ■ 80 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass Industrierelikte genauso erhaltenswert sind wie Burgen und Herrenhäuser. ■ Drei von vier Probanden betrachteten sie als wichtige Erinnerungs- und Lernorte. ■ 71 Prozent plädierten für eine Umbzw. Neunutzung unter Bewahrung des historischen Charakters. ■ Bei jedem Dritten bestand sogar ein Bezug zur eigenen Familiengeschichte. Mit dem Erhalt und der Öffnung von Industrierelikten sind jedoch nur die notwendigen Voraus‐ setzungen für eine touristische Nutzung geschaffen worden. Um sich zu populären Ausflugs- und Reisezielen zu entwickeln, stehen den Betreibern zahlreiche bewährte Marketing- und Management-Strategien zur Verfügung. Da es zu weit führen würde, dieses Instrumentarium en détail zu beschreiben, sollen im Folgenden einige Maßnahmen exemplarisch erläutert werden (vgl. Steinecke 2013, S. 41-146 zu einer ausführlichen Darstellung): ■ Profilierung - die Nutzung des industriekulturellen Erbes als Alleinstellungsmerkmal (→ 4.1), ■ Netzwerkbildung - der gemeinsame Marktauftritt mit anderen Anbietern (→ 4.2), ■ Erlebnisorientierung - die kundengerechte Gestaltung des Angebots (→ 4.3), ■ Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe (→ 4.4), ■ Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucher‐ attraktionen (→ 4.5). 4.1 Profilierung - die Nutzung des industriekulturellen Erbes als Alleinstellungsmerkmal „Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden; die Provinz, die diesen Namen trägt, weil man keinen anderen für sie fand, ist weder in ihren Grenzen noch in ihrer Gestalt genau zu bestimmen“ - so hat der Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll seine Reiseeindrücke in einem aufsehenerregenden Buch beschrieben, das er im Jahr 1958 gemeinsam mit dem Kölner Fotografen Chargesheimer veröffentlichte. Auf der touristischen Landkarte war die Region damals also noch eine Terra incognita - und es bedurfte großer Anstrengungen, ihr ein klares Profil als attraktive Destination im Städte-, Besichtigungs- und Industrietourismus zu verleihen (vgl. Hollmann 2011, S. 103-104; Fleiß/ Strelow 2008, S. 236-237; Fleiß 2013, S. 66-67): 82 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="83"?> ■ In den 1960er-Jahren wurde die „graue“ industrielle Vergangenheit in der Kommunikations‐ politik zumeist ausgeblendet. Auf Postkarten sowie in Broschüren und Bildbänden standen stattdessen die guten Einkaufsmöglichkeiten, die kulturelle Vielfalt und die landschaftliche Schönheit im Mittelpunkt - wie z. B. in der Imagekampagne „Essen ist ganz anders“, die mit bunten, heiteren Bildern für einen Besuch der Industriestadt warb. ■ Einen eher selbstironischen Charakter hatte der Slogan „Neues aus RußLand. Treffen Sie Ihre Vorurteile“, der Anfang der 1970er-Jahre verwendet wurde und zu heftigen Protesten in der Region führte. Rückblickend gilt die Aktion aus Sicht von Experten als eine der „sieben peinlichsten Regionalmarketing-Kampagnen“ in Deutschland (vgl. Blum 2016). ■ In den 1980er- und 1990er-Jahren fand dann eine bewusste Rückbesinnung auf die industrie‐ geschichtlichen Traditionen statt - u. a. mit den Kampagnen „Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland“ bzw. „Der Pott kocht“ (dieser Slogan spielte auf die umgangssprachliche Bezeichnung der Region als „Kohlenpott“ an). ■ Gegenwärtig wirbt die „Metropole Ruhr“ mit dem selbstbewussten Leitsatz „Wenn, dann hier“ für die „Stadt der Städte“ und versucht damit, neben Touristen auch Investoren, Arbeitskräfte und Kreative von ihren Standortqualitäten zu überzeugen. Um als altindustrielle Region erfolgreich mit anderen Destinationen konkurrieren zu können, reicht ein ausdrucksstarker Markenbegriff jedoch bei weitem nicht aus; vielmehr muss dieses Produktversprechen durch ein vielfältiges Spektrum attraktiver Kultur-, Erlebnis- und Aktivitäts‐ angebote eingelöst werden (vgl. Oevermann 2020). In Deutschland hatte das Ruhrgebiet eine Vorreiterrolle bei der Transformation eines Industrie‐ gebiets in ein Reiseziel, bei der die Industriekultur konsequent als ein Alleinstellungsmerkmal zur Markenbildung genutzt worden ist. Allerdings war diese Strategie auch alternativlos, da die Region - angesichts ihrer extremen Prägung durch die Montan- und Schwerindustrie - nur über dieses eine historische Narrativ verfügte (hingegen können andere industriell geprägte Gebiete in Europa auf einen breiten Fundus an image- und identitätsstiftenden Themen zurückgreifen) (vgl. Berger/ Golombek/ Wicke 2019, S. 84). Die touristische Profilierung des Ruhrgebiets durch die „Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ Eine zentrale Bedeutung bei der Neudefinition und Modernisierung der Region kam der „Inter‐ nationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ zu, die über einen Zeitraum von zehn Jahren durchgeführt wurde (1989-1999). Im Mittelpunkt der Planung stand dabei die Emscherzone im nördlichen Ruhrgebiet, die von der Deindustrialisierung besonders stark betroffen war. Die Geschichte solcher „Internationalen Bauausstellungen (IBA)“ reicht bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück; speziell in Deutschland wurden sie mehrfach als Instrumente der Stadt- und Regionalpolitik eingesetzt. Berühmte Beispiele sind u. a. die beiden Ausstellungen in Berlin - die „Interbau“ (1957) mit der Neugestaltung des Hansaviertels und die „Internationale Bauaus‐ stellung“ (1987) zur kritischen Rekonstruktion und behutsamen Erneuerung mehrerer Stadtteile. Einen ausgeprägt industriellen Hintergrund hatte - neben der Aktion im Ruhrgebiet - auch die „Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land“ (2000-2010) in Brandenburg, bei der ehemalige Tagebaugelände saniert und in neue Erholungslandschaften umgewandelt wurden (→ 4.5). Mit der „Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ waren folgende übergeordnete Zielsetzungen verbunden (vgl. Burggräf 2013, S. 203-238; Roters/ Seltmann/ Zöpel 2019, S. 31): 83 4.1 Profilierung - die Nutzung des industriekulturellen Erbes als Alleinstellungsmerkmal <?page no="84"?> ■ die Renaturierung von industriellen Brach- und Restflächen („Emscher Landschaftspark“), ■ der ökologische Umbau des Emschersystems (der stark verschmutzte Fluss war damals ein offener Abwasserkanal und galt als „Kloake des Ruhrgebiets“), ■ die Modernisierung der monostrukturell geprägten Wirtschaft durch die Ansiedlung inno‐ vativer Industrie- und Gewerbebetriebe („Arbeiten im Park“), ■ die Verbesserung der Lebensqualität durch die Renovierung traditioneller Werkssiedlungen und die Schaffung neuer Quartiere („Wohnen im Park“), ■ der Erhalt und die Erschließung von Industriedenkmälern als Besucherattraktionen und identitätsstiftende Bauwerke („Industriekultur und Tourismus“). In Kooperation mit 17 Kommunen sowie zahlreichen Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Initiativen organisierte die Bauausstellung 120 Projekte. Für die Umsetzung stand ein Budget von ca. zwei Milliarden Euro zur Verfügung, das zu zwei Dritteln aus Mitteln der öffentlichen Hand stammte (vgl. Neumann/ Trettin/ Zakrzewski 2012, S. 32). Mit diesen Maßnahmen trug die „Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ wesent‐ lich dazu bei, das Ruhrgebiet als Destination auf dem deutschen Urlaubsreisemarkt zu platzieren (bis dahin war es überwiegend eine wichtige Quellregion bzw. ein Ziel von Geschäftsreisenden gewesen). Mit Hilfe mehrerer öffentlichkeits- und medienwirksamer Leuchtturm-Projekte schuf sie die Grundlage für die Entwicklung markfähiger touristischer Produkte; dazu zählten u. a.: ■ die Konzeption und Realisierung der „Route der Industriekultur“ - einer industriegeschicht‐ lichen Themenroute (→ 4.2), ■ die Umgestaltung eines ehemaligen Industrieareals in den „Landschaftspark Duisburg-Nord“ (→ 4.3), ■ die Neunutzung des Gasometers in Oberhausen als Ausstellungs- und Veranstaltungsraum sowie der Zeche Zollverein in Essen als Kultur- und Freizeitzentrum, ■ die Sanierung und Erweiterung der Siedlung Schüngelberg in Gelsenkirchen. Darüber hinaus veränderte die Bauausstellung den Blick auf die Industriegeschichte und die weitläufige Industrielandschaft - im symbolischen wie wörtlichen Sinn. Sie setzte sich nicht nur für die Bewahrung markanter historischer Gebäude bzw. Relikte ein, sondern initiierte auch neue, künstlerisch gestaltete Landmarken, die auf ehemaligen Abraumbzw. Schlackehalden errichtet wurden - wie z. B: ■ der „Tetraeder“ - eine 50 Meter hohe Stahlkonstruktion mit mehreren Aussichtsplattformen auf der Halde Beckstraße in Bottrop (1995), ■ die „Sonnenuhr“ - eine Landschaftsskulptur auf der Halde Schwerin in Castrop-Rauxel (1995), ■ die „Bramme“ - ein Kunstwerk des amerikanischen Bildhauers Richard Serra auf der Halde Schurenbach in Essen (1998), ■ das „Nachtzeichen“ - eine Lichtinstallation auf der Halde Rungenberg in Gelsenkirchen (1999). 84 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="85"?> 33 | Die Abraumhalde als Ausflugsziel - wo früher Förderrückstände, Schlacke und Bauschutt gelagert wurden, können nun Besucher den weiten Blick über die Stadt Duisburg und den Rhein genießen. Die begehbare Skulptur „Tiger and Turtle - Magic Mountain“ ist eine von mehreren Landmarken, mit denen die Städte im Ruhrgebiet seit der „Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ ihren Strukturwandel symbolisch kommunizieren. Mit dieser künstlerischen Aufwertung und eindrucksvollen Inszenierung nutzte die „Interna‐ tionale Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ das Instrument der iconic architecture, das von zahlreichen Städten und Regionen im globalen Wettbewerb um Investoren, Arbeitskräfte und Touristen eingesetzt wird. Mit Hilfe ungewöhnlicher Gebäude, Brücken, Installationen etc. versuchen sie, sich symbolisch als attraktive und zukunftsorientierte Standorte zu profilieren (vgl. Rumpel u. a. 2010; Kress/ Schalenberg/ Schürmann 2011; Ortiz-Moya 2015 zum rebranding der Industriestadt Manchester). Das bekannteste Beispiel für diese Strategie ist sicherlich die Industrie- und Hafenstadt Bilbao, die sich in den 1990er-Jahren im Niedergang befand. Durch den Neubau des spektakulären Guggenheim Museums (Frank O. Gehry; 1997) gelang ihr eine Neupositionierung als internationale Kultur- und Tourismusmetropole. Der charakteristische Museumsbau ist nicht nur zu einem Wahrzeichen und Imageträger geworden, sondern auch zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in der struktur‐ schwachen Region. Seit der Eröffnung verzeichnete er mehr als 20 Millionen Besucher und die ökonomischen Gesamteffekte belaufen sich seitdem auf schätzungsweise 4,6 Milliarden Euro (das Fünfzigfache der Baukosten) (vgl. Haarich/ Plaza 2010; Roost 2011, S. 73-76; Schulz 2017). Einschränkend muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass dieser „Bilbao-Effekt“ nicht an jedem Standort beliebig reproduzierbar ist - wie das Kunst-, Architektur- und Designmu‐ seum Marta in Herford deutlich macht. Das eindrucksvolle Gebäude ist zwar ebenfalls von Frank O. Gehry entworfen worden, hat aber bei weitem nicht für eine derart große internationale Aufmerksamkeit gesorgt wie der Museumsbau in der baskischen Stadt. Auch die direkten touristischen und wirtschaftlichen Effekte waren relativ gering (vgl. Hoge/ Kreisel/ Reeh 2011). Mit ihrer Strategie einer Ästhetisierung der Industrielandschaft hatte die „Internationale Bau‐ ausstellung (IBA) Emscher Park“ eine Vorbildfunktion für andere altindustrielle Regionen in Deutschland. Mit einem deutlichen time-lag sind z. B. im Saarland seit Beginn des 21. Jahrhunderts 85 4.1 Profilierung - die Nutzung des industriekulturellen Erbes als Alleinstellungsmerkmal <?page no="86"?> ähnliche Landmarken errichtet worden (das lag nicht zuletzt auch daran, dass Karl Ganser, der geistige Vater und frühere Geschäftsführer der Bauausstellung im Ruhrgebiet, später den Vorsitz der Kommission „Industrieland Saar“ innehatte) - wie z. B. (vgl. Gawehn 2012, S. 131-132): ■ das „Saarpolygon“ - eine begehbare Großskulptur auf der Halde Duhamel im saarländischen Ensdorf, ■ der „Himmelspfeil“ - ein rampenförmiges Landschaftsbauwerk auf dem Gelände der ehema‐ ligen Grube Göttelborn in Quierschied. Selbst wenn sich diese künstlerisch gestalteten Landmarken inzwischen zu viel beachteten Wahrzei‐ chen und populären Ausflugszielen entwickelt haben, so basieren sie doch auf einer Depolitisierung der historischen Industriekultur mit all ihren gesellschaftlichen Widersprüchen, Ungerechtigkeiten und Konflikten. Bei einigen handelt es sich um Artefakte, die keinen inhaltlichen Bezug zum jeweiligen Standort aufweisen (wie die begehbare Achterbahn „Tiger and Turtle - Magic Mountain“ auf der Heinrich-Hildebrand-Höhe in Duisburg). Andere Landmarken kommen als nostalgische Reminiszenz daher wie „Das Geleucht“ - ein Turm in Form einer überdimensionalen Grubenlampe auf der Rheinpreußen-Halde bei Moers, der nachts beleuchtet wird. „Ist die Ästethisierung [sic! ] von Kohle und Stahl nicht auch eine Verhöhnung derjenigen, die im Bergwerk und auf der Hütte eine äußerst dreckige, gesundheitsgefährdende, gefährliche und oftmals ungeliebte Arbeit machen mussten? “ Berger 2019, S. 10 Aus Sicht der regionalen Tourismusorganisationen bieten die weithin sichtbaren Landmarken jedoch zahlreiche neue Möglichkeiten, den Bekanntheitsgrad der Destination zu steigern und zusätzliche Produkte zu entwickeln. So vermarktet die Ruhr Tourismus GmbH die touristisch erschlossenen Halden auf ihrer Website z. B. als „Die Berge des Ruhrgebiets“ und der Regional‐ verband Ruhr (RVR) hat eine spezielle Themenroute zu diesen Sehenswürdigkeiten entwickelt. Markenkommunikation und Qualitätsmanagement Imposante Landmarken, historische Industrierelikte sowie erlebnisorientierte Kultur- und Frei‐ zeiteinrichtungen - das sind wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche touristische Profilierung und Markenbildung altindustrieller Räume. In einem weiteren Schritt stehen diese Regionen vor der Herausforderung, ständig eine aktive Kommunikation der Marke zu betreiben, um ihr neues Image zu festigen und Kunden zu gewinnen bzw. zu binden. Dabei können die öffentlichen und privaten Anbieter im Industrietourismus generell auf einen gut gefüllten Handwerkskasten an klassischen Instrumenten der Kommunikationspolitik zurückgreifen (vgl. Steinecke 2013, S. 126-132): ■ Er enthält zum einen Maßnahmen in den Quellgebieten der Touristen (also vor Antritt der Reise). Dazu zählen eine kontinuierliche Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, der Auftritt auf Tourismusmessen sowie eine intensive Onlinekommunikation. ■ Zum anderen umfasst er Vor-Ort-Maßnahmen in den Destinationen, um Einheimi‐ sche und auswärtige Besucher zu einem spontanen Besuch zu animieren (Banner/ Pla‐ kate/ City-Light-Poster, Auslage von Prospektmaterial in Hotels etc., Außenwerbung an Bussen, Straßenbahnen etc., Präsentation von Replika spektakulärer Exponate an zentralen Orten etc.). 86 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="87"?> Ergänzend soll hier auf zwei alternative Kommunikationskonzepte hingewiesen werden, die zu‐ nehmend eingesetzt werden - das Guerilla Marketing und die Werbung mit Testimonials. Angesichts der medialen Informationsüberflutung erweist es sich für Unternehmen und Organi‐ sationen im 21. Jahrhundert als immer schwieriger, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Vor diesem Hintergrund sind mehrere kreative Kommunikationsformen entwickelt worden, mit denen die Neugier und das Interesse der Nachfrager geweckt werden sollen - z. B. das Guerilla Marketing (überraschende Aktionen auf öffentlichen Plätzen), die Alternative Ambient Media (Platzierung von Werbung an ungewöhnlichen Orten) sowie das Ambush Marketing (die Nutzung von Events anderer Anbieter zur Präsentation eigener Produkte) (vgl. Steinecke/ Herntrei 2017, S. 86-87). Eine weitere Möglichkeit der Kundenansprache ist die Werbung mit Testimonials, die von Un‐ ternehmen der Konsumgüterindustrie bereits seit langem praktiziert wird. Angesichts begrenzter Budgets und hoher Aufwendungen erweist es sich für öffentliche Tourismusorganisationen allerdings als schwierig, populäre Prominente wie Dirk Nowitzki, Dieter Bohlen, Jürgen Klopp etc. als Testimonials zu gewinnen. Stattdessen kommt in einigen (auch altindustriellen) Destinationen das relativ kostengünstige Botschafter-Modell zum Einsatz. Es basiert auf der freiwilligen Mitwirkung engagierter Bürger und Unternehmer. Sie treten in der Öffentlichkeit als authentische und glaubwürdige Persönlichkeiten auf, um für die Region zu werben. Zur Unterstützung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit erhalten sie umfangreiche Unterlagen (Visitenkarte, Imagebroschüren, Urkunde etc.). Außerdem werden sie auf einer Website vorgestellt und regelmäßig zu Treffen und Veranstaltungen des Botschaf‐ ter-Netzwerks eingeladen (vgl. Verein Steirische Eisenstraße 2014). Vor dem Hintergrund steigender Ansprüche der Kunden spielt - neben der Kommunikations‐ politik - auch das Qualitätsmanagement der Anbieter eine immer größere Rolle. Dabei geht es nicht nur darum, die Erwartungen an eine zeitgemäße Infrastrukturausstattung und einen besucherorientierten Service zu erfüllen, sondern die Gäste durch einen emotionalen bzw. materiellen Zusatznutzen zu überraschen und zu begeistern (persönliche Ansprache, kleine gimmicks etc.). Wesentliche Grundlage des Qualitätsmanagements sind regelmäßige Besucherbefragungen, die den Verantwortlichen wichtige Hinweise auf die Stärken und die Defizite ihrer Einrichtungen geben. Auf der Basis der Ergebnisse können dann gezielt Marketing- und Management-Maßnah‐ men zur Verbesserung des Angebots durchgeführt werden. Neben der betrieblichen Qualitätssteigerung dient ein professionelles Qualitätsmanagement auch dazu, den eigenen Leistungsstandard extern zu kommunizieren (wie z. B. bei den Klassifika‐ tionen von Hotels und Restaurants mit Hilfe des mehrstufigen „Sterne“-Systems). Exemplarisch soll hier auf zwei Möglichkeiten hingewiesen werden, mit denen industrietouris‐ tische Anbieter potenziellen Besuchern ihr hohes Qualitätsniveau verdeutlichen können: ■ Qualitätssiegel „Q“: Von der Initiative „ServiceQualität Deutschland“ ist eine dreistufige Me‐ thode entwickelt worden, um die Qualität von Dienstleistungsunternehmen zu optimieren und die Kundenzufriedenheit zu steigern. Von öffentlichen Industriemuseen wird dieses Instrument jedoch sehr zögerlich genutzt. Bislang sind bundesweit nur 17 Einrichtungen mit dem Qualitätssiegel ausgezeichnet worden und mit einer Ausnahme agieren die zertifizierten Einrichtungen erst auf der unteren Stufe des Bewertungssystems (▷ https: / / www.q-deutsch land.de/ q-betriebe). ■ Auszeichnungen und Preise: Mehrere europäische Institutionen vergeben Auszeichnungen, mit denen das professionelle Qualitätsmanagement von Kultureinrichtungen bzw. das Engagement für den Erhalt und die Umnutzung des kulturellen Erbes gewürdigt werden. 87 4.1 Profilierung - die Nutzung des industriekulturellen Erbes als Alleinstellungsmerkmal <?page no="88"?> 34 | Die Fußgängerzone als Werbefläche - solche großflächigen Graffitis waren Teil einer umfangreichen Marke‐ ting-Kampagne, die von der Ruhrgebiet Tourismus GmbH im Herbst 2018 in der niederländischen Stadt Arnhem durchgeführt worden ist. Aufgrund des 3D-Effekts hatten die Passanten den Eindruck, sich in dem Bild zu befinden (z. B. der Erzbahntrasse zwischen Bochum und Gelsenkirchen). Im Rahmen der Kampagne wurde auch ein Fotowettbewerb veranstaltet. Als Preis für das beste Selfie, das mit den 3D-Graffitis gemacht und auf Instagram geteilt wurde, winkte dem Gewinner eine Reise in das Ruhrgebiet. 88 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="89"?> Als Beispiele sind u. a. zu nennen: die Ehrung als „Europäisches Museum des Jahres“, die „European Heritage Awards/ Europa Nostra Awards“ bzw. die „Destination of Sustainable Cultural Tourism Awards“ (vgl. Laconte 2014; Hanus u. a. 2021). Für Aufmerksamkeit sorgen, Qualität garantieren und Kompetenz signalisieren - diese Strategien stehen vor allem Industrierelikten zur Verfügung, die sich aufgrund ihrer Größe und Attraktivität als Solitäre im Wettbewerb mit anderen Kultur-, Freizeit- und Unterhaltungseinrichtungen behaup‐ ten können. Die Mehrzahl der weniger bekannten Industriedenkmäler muss nach anderen Wegen suchen, um aus dem Schatten solcher Besuchermagneten zu treten und im Überangebot der Ausflugs- und Reiseziele wahrgenommen zu werden - z. B. durch eine Kooperation mit Partnern aus Kultur und Wirtschaft. 4.2 Netzwerkbildung - der gemeinsame Marktauftritt mit anderen Anbietern „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das schaffen viele“ - dieser programmatische Satz des Sozialreformers Friedrich Wilhelm Raiffeisen trifft nicht nur auf die Genossenschaften zu, deren Gründung er im späten 19. Jahrhundert initiiert hat. Das Prinzip gilt auch für kleinere industrietouristische Einrichtungen, die nur über eine geringe Finanz- und Personalausstattung verfügen. Die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren bietet ihnen mehrere Vorteile (vgl. Bangstad 2011; Theurl 2017): ■ Sie können die öffentliche Aufmerksamkeit steigern (z. B. mit Hilfe einer gemeinsamen Kommunikationsbzw. Dachmarkenpolitik), eine breitere mediale Resonanz erzielen und auch auf effizientere Weise öffentliche bzw. private Mittel beschaffen. ■ Industrierelikte, die bislang nur eine Bedeutung als lokale Erinnerungsstätten haben, werden in einen regionalen bzw. (trans-)nationalen Kontext eingebunden und damit als kulturtou‐ ristische Sehenswürdigkeiten aufgewertet. ■ Durch den Austausch von Know-how und Arbeitserfahrungen erweitern die Verantwortli‐ chen ihren eigenen Horizont und können die Angebotsqualität verbessern. ■ Der gemeinsame Einkauf von Materialien bzw. die Koordinierung von Marketing- und Wei‐ terbildungsmaßnahmen tragen zu einer Nutzung von Synergieeffekten und zur Reduzierung von Kosten bei. ■ Durch eine abgestimmte Vertriebspolitik können die Einrichtungen neue Zielgruppen ansprechen und ihre Besucherzahl steigern - z. B. durch Kombitickets. Neben dieser horizontalen Kooperation, bei der öffentliche Akteure der Kulturwirtschaft wie z. B. Museen und Denkmäler zusammenarbeiten, gibt es noch die vertikale Vernetzung mit Betrieben aus vor- und nachgelagerten Bereichen der touristischen Wertschöpfungskette - z. B. in Form von Kombitickets mit Verkehrsunternehmen oder Pauschalangeboten mit Unterkunftsbetrieben. Im Industrietourismus bieten sich außerdem produzierende Firmen als mögliche Partner an, da sie häufig über eigene Museen verfügen, Werksrundgänge und Schauvorführungen anbieten bzw. ihre Produkte in einem Shop vertreiben. Als innovatives Beispiel ist das Black Country Living Museum in Dudley (West Midlands) zu nennen, das an die Industriegeschichte der mittelenglischen Region erinnert. Gemeinsam mit der regionalen Sadler’s Brewery hat es im Jahr 2015 eine eigene Biersorte auf den Markt gebracht. Das „Bottle & Glass Ale“ wird in einem Pub aus dem frühen 19. Jahrhundert ausgeschenkt, dessen historisches Gebäude vom ursprünglichen Standort transloziert und originalgetreu wiederaufgebaut worden ist. 89 4.2 Netzwerkbildung - der gemeinsame Marktauftritt mit anderen Anbietern <?page no="90"?> Darüber hinaus nutzt das Freilichtmuseum seinen hohen Bekanntheitsgrad als Drehort der populären britischen TV-Serie „Peaky Blinders“, indem es in seinem Shop diverse lizensierte Merchandising-Produkte anbietet - z. B. Herringbone Flat Caps, Kalender etc. (vgl. TCR 2016, S. 71) (→ 4.3). Eine dritte Form der Zusammenarbeit - die projektbezogene laterale Kooperation von Akteuren, zwischen denen kein direkter bzw. thematischer Zusammenhang besteht - wird von industrie‐ touristischen Anbietern bislang kaum praktiziert. Alle Formen der Kooperation beinhalten jedoch nicht nur Chancen, sondern auch Risiken: Sie reichen von dem hohen Abstimmungs- und Organisationsaufwand über mögliche Konflikte aufgrund divergierender Zielvorstellungen bis hin zu einem unterschiedlichen Engagement der Partner („Trittbrettfahrer“-Phänomen) (vgl. Steinecke 2013, S. 65). Ein klassisches Instrument der horizontalen Vernetzung im Kulturtourismus sind Themenrou‐ ten bzw. Ferienstraßen, bei denen Einrichtungen und Städte in einer Region bzw. über größere Distanzen hinweg zusammenarbeiten: ■ Die ersten Ferienstraßen sind bereits seit den 1920er-Jahren vor dem Hintergrund der zunehmenden Motorisierung gegründet worden. Wesentliches Ziel war zunächst die Er‐ schließung eindrucksvoller Landschaften für Auto- und Bustouristen (Deutsche Alpenstraße, Schwarzwaldhochstraße etc.). ■ In den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden dann zahlreiche weitere Angebote zu unter‐ schiedlichen Themen wie Geschichte, Architektur, Landwirtschaft etc. (Straße der Staufer, Deutsche Fachwerkstraße etc.). Gegenwärtig gibt es in Deutschland ca. 150 Themenrouten und Ferienstraßen (wobei sich die beiden Begriffe nicht exakt voneinander abgrenzen lassen). Lange Zeit handelte es sich dabei nur um einen lockeren Zusammenschluss und die Kooperation beschränkte sich häufig auf die Beschilderung der Streckenführung bzw. der Sehenswürdigkeiten. Inzwischen werden jedoch weitaus höhere Anforderungen an Themenrouten und Ferienstraßen gestellt. Entsprechende Qualitätskriterien und Richtlinien sind vom Deutschen Tourismusverband (DTV) formuliert worden (vgl. DTV 2017; Albrecht/ Walther 2017, S. 22-23): ■ ein aussagekräftiges und attraktives Leitthema, das einen engen Bezug zu landschaftlichen, kulturellen bzw. wirtschaftlichen Besonderheiten aufweist (Einzigartigkeit), ■ eine dauerhafte und klare Routenführung (ohne die Benutzung von Bundesautobahnen bzw. Schnellstraßen), ■ eine durchgängige und einheitliche Beschilderung (Logo, Touristische Unterrichtungstafeln, außer- und innerörtliche Hinweisschilder etc.), ■ eine Ausstattung der einzelnen Stationen mit Informationstafeln, die den Besuchern eine individuelle Nutzung ermöglichen (Self-guided-Tour) - ohne zeitliche Einschränkungen bzw. ohne die Teilnahme an Gästeführungen, ■ eine zentrale Informationsstelle und eine eindeutig verantwortliche Trägerschaft (Satzung, Zuständigkeiten etc.), ■ eine zeitgemäße Kommunikationspolitik (Website mit interaktiver Karte, möglichst mehr‐ sprachige Informationsmaterialien etc.), ■ eine kontinuierliche Qualitätssicherung (Erfolgskontrolle, Weiterbildungsangebote, Netz‐ werktreffen etc.). 90 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="91"?> 35 | Für die Bochumerinnen und Bochumer ist sicherlich das bunte Plakat des „Augsburger Kasperle“ von größerem Interesse als die braunen Hinweisschilder - schließlich wissen sie längst, wo das Deutsche Bergbau-Museum liegt. Die auswärtigen Gäste verfügen jedoch nicht über die notwendigen Ortskenntnisse, um es schnell zu finden. Eine klare und einheitliche Beschilderung der Streckenführung und der einzelnen Stationen gehört deshalb zu den Standards einer industriegeschichtlichen Themenroute (z. B. der „Route der Industriekultur“). Europaweite bzw. grenzüberschreitende Themenrouten und Ferienstraßen ■ Europäische Route der Industriekultur (ERIH) ■ Wollroute/ Route de la laine/ Wolroute (Deutschland/ Belgien/ Niederlande) ■ Itinéraire de la Culture Industrielle (ICI) (Frankreich/ Belgien) ■ Eisenroute in den Pyrenäen (Frankreich/ Spanien) ■ Porzellanstraße International (Bayern/ Tschechien) ■ Sächsisch-Böhmische Silberstraße (Sachsen/ Tschechien) ■ Lernstraße Energie (Sachsen/ Polen/ Tschechien) ■ Industrial Heritage Route (Litauen/ Lettland) Regionale Themenrouten ■ Route der Industriekultur (Ruhrgebiet) ■ Bayerische Eisenstraße (Bayern) ■ Glasstraße (Bayern) ■ Porzellanstraße (Bayern) ■ Energie-Route Lausitzer Industriekultur (Brandenburg) ■ Route der Industriekultur Rhein Main ■ Dampfbahn-Route (Sachsen) ■ Route der Industriekultur in Sachsen ■ Sächsische Kohlenstraße ■ Mitteldeutsche Straße der Braunkohle (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) ■ Erlebnisroute Kohle.Dampf.Licht.Seen (Sachsen, Sachsen-Anhalt) ■ Thüringisch-Fränkische Schieferstraße (Thüringen, Bayern) 91 4.2 Netzwerkbildung - der gemeinsame Marktauftritt mit anderen Anbietern <?page no="92"?> ■ Steirische Eisenstraße (Österreich) (vgl. Osebik 2012; Harfst/ Pizzera/ Simic 2016; Harfst/ Sandries‐ ter/ Fischer 2021) ■ Yorkshire Industrial Heritage Trail (Großbritannien) ■ Route der Technischen Denkmäler in der Woiwodschaft Schlesien (Polen) Lokale Themenrouten ■ Warmes Licht und kühles Bier. Fahrradroute der Industriekultur, Berlin ■ Elektropolis, Berlin-Schöneweide (vgl. Feucht 2013) ■ Route der Industriekultur, Geesthacht ■ Wege zur Industriekultur, Mannheim ■ Industrieroute „Pößneck um 1900“, Pößneck ■ Weg zur Industriekultur, Zwickau 3 | Ausgewählte Beispiele industrietouristischer Themenrouten und Ferienstraßen Als positives Beispiel einer industrietouristischen Themenstraße gilt die „Route der Industriekultur“ im Ruhrgebiet, die im Jahr 1999 eröffnet wurde. Sie war ein Leuchtturmprojekt im Rahmen des systema‐ tischen Ausbaus der Tourismuswirtschaft im Ruhrgebiet, der auf der Grundlage des „Masterplans für Reisen ins Revier“ erfolgte. Die 400 Kilometer lange Route besteht aus einem gestuften System von insgesamt 57 industriegeschichtlichen Attraktionen (auf einem ähnlichen Konzept basiert auch die „Europäische Route der Industriekultur/ ERIH“) (vgl. Ebert 2008, S. 59-60; Hauge/ Bradel 2021): ■ Bei den 27 Ankerpunkten handelt es sich um historisch bedeutende und zugleich touristisch attraktive Industriedenkmäler. Sie sind die Highlights der Route und dienen als zentrale Informations- und Erlebnisorte. Ihr Angebot umfasst Ausstellungen, Multimedia-Stationen, Führungen, Events etc. (Aquarius-Wassermuseum in Mühlheim an der Ruhr, Kokerei Hansa in Dortmund etc.). ■ Die 17 Panoramen bieten weite Ausblicke auf die Industrielandschaft des Ruhrgebiets. Häufig liegen sie auf ehemaligen Abraumhalden, die durch Kunstinstallationen symbolisch aufge‐ wertet wurden und sich zu weithin sichtbaren Landmarken sowie populären Ausflugszielen entwickelt haben („Tiger & Turtle“ in Duisburg, „Tetraeder“ in Bottrop etc.). ■ Ein weiterer Bestandteil der Route sind 13 Arbeitersiedlungen, in denen sich die städtebau‐ liche Entwicklung und die sozialen Verhältnisse widerspiegeln (Margaretenhöhe in Essen, Flöz Dickebank in Gelsenkirchen etc.). ■ Darüber hinaus gibt es mehr als 30 lokale und regionale Themenrouten zu unterschiedlichen Aspekten der regionalen Industriegeschichte (Kanäle und Schifffahrt, Brot, Korn und Bier, Bahnen im Revier etc.). Die „Route der Industriekultur“ hat sich als touristisches und wirtschaftliches Erfolgsmodell erwiesen (vgl. dwif/ RVR 2018, S. 4, 1; Berger 2019, S. 10): ■ Seit der Eröffnung ist die Zahl der Gäste in den größeren Einrichtungen, die Eintrittsgelder erheben bzw. Führungen anbieten, von knapp 2,4 Millionen auf mehr als sieben Millionen (2017) gestiegen. Diese Daten bilden aber nicht das gesamte Besucheraufkommens ab, da zahlreiche Sehenswürdigkeiten nur von außen besichtigt werden können - z. B. Unterneh‐ mervillen und Arbeitersiedlungen. 92 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="93"?> ■ Durch die Ausgaben der einheimischen und auswärtigen Ausflügler sowie der Übernach‐ tungsgäste werden jährlich Einnahmen in Höhe von 135,5 Millionen Euro erwirtschaftet und ca. 6.250 Vollzeitarbeitsplätze geschaffen (tatsächlich handelt es sich jedoch überwiegend um Teilzeit-, Saisonbzw. Nebenerwerbstätigkeiten). Das zusätzliche Steuereinkommen beläuft sich auf ca. 26,9 Millionen Euro. 36 | „Die Perlen der Industriekultur“ - unter diesem Slogan wirbt die Ruhr Tourismus GmbH für die zahlreichen Sehenswürdigkeiten entlang der „Route der Industriekultur“. Neben klassischen Informationsmaterialien hat sie u. a. den Digital Guide „Perspektivwechsel“ herausgegeben. In drei Erlebnisräumen (Muttental, Erzbahnstraße, Zollverein) erhalten die Besucher einen anschaulichen Einblick in die Geschichte der Industrialisierung. Dort berichten virtuelle Protagonisten - ein Bergarbeiter und seine Frau sowie ein Industrieller - über ihre Arbeit und ihren Alltag. Allerdings partizipieren nicht alle Attraktionen und Kommunen in gleichem Umfang an diesen ökonomischen Effekten. Aufgrund des knappen Zeitbudgets und des selektiven Blicks der Touristen konzentriert sich die Nachfrage auf besonders spektakuläre Sehenswürdigkeiten: Mehr als die Hälfte der erfassten Gästezahlen entfällt auf vier Ziele (Zeche Zollverein in Essen, „Landschaftspark Duisburg Nord“, Innenhafen in Duisburg, Gasometer in Oberhausen). Darüber hinaus sind erhebliche öffentliche Zuschüsse für den Erhalt und die Modernisierung der Einrichtungen erforderlich: So werden die „Route der Industriekultur“ und der „Emscher Land‐ schaftspark“ im Zeitraum 2017-2026 vom Land Nordrhein-Westfalen und dem „Regionalverband Ruhr (RVR)“ mit Mitteln in Höhe von 120 Millionen Euro gefördert. 93 4.2 Netzwerkbildung - der gemeinsame Marktauftritt mit anderen Anbietern <?page no="94"?> Obwohl die „Route der Industriekultur“ auf (inter-)nationaler Ebene eine Vorreiterrolle hatte, haben Kritiker die intransparente und unsystematische Auswahl der Objekte bemängelt, durch die ein verzerrtes und defizitäres Bild vermittelt wird (vgl. Soyez 2016, S. 57-59): ■ Nach ihrer Einschätzung basiert die Selektion der präsentierten Industrierelikte nicht auf einer umfassenden und nach einheitlichen Kriterien durchgeführten Bestandsaufnahme. ■ Im Mittelpunkt stehen Großunternehmen und eindrucksvolle Relikte der Hochindustrialisierung aus dem Kohleabbau sowie der Eisen- und Stahlindustrie, während kleinere Betriebe aus anderen Branchen kaum berücksichtigt werden (obwohl sie in einem engen funktionalen Zusammenhang zur Montanindustrie standen - z. B. die Energieerzeugung und der Maschinenbau). ■ Die Besucher erhalten kaum Informationen zu den alltäglichen Lebenswelten türkischer Bergleute und ihrer Familien sowie jüngerer Migrantengruppen. ■ Außerdem finden die transnationalen Einflüsse auf den Industrialisierungsprozess im Ruhr‐ gebiet keine hinreichende Erwähnung (speziell aus Großbritannien - dem „Mutterland der Industriellen Revolution“). ■ Schließlich gibt es nur wenige Hinweise auf die „dunklen“ Seiten der Industriellen Revolution und der jüngeren Industriegeschichte (z. B. die sozialen und ökologischen Probleme sowie die Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion). Allerdings hat sich die Verknüpfung unterschiedlicher Stationen und Standorte zu einer indust‐ rietouristischen Themenroute nicht immer als Erfolgsstory erwiesen, obwohl die Projekte in der Startphase von der Europäischen Union substanziell gefördert worden sind: ■ So gab es Ende der 1990er-Jahre im Saarland mehrere Initiativen zur grenzüberschreitenden Zu‐ sammenarbeit im Bereich der Industriekultur, die sich nicht dauerhaft auf dem Tourismusmarkt behaupten konnten; dazu zählen u. a. das „Netzwerk zu Industriekultur und Tourismus in Europa (NEKTAR)“ sowie die „Wege zur Europäischen Industriekultur (WEIKU)“ (vgl. Wilhelm 2003). ■ Auch die im Jahr 1998 gegründete „Waldviertler Textilstraße“ (Österreich) hat ihren Betrieb offensichtlich eingestellt, da sie gegenwärtig nicht mehr über eine eigene Website verfügt. Das regionale Tourismusprojekt ging auf die Anregung von drei Textilmuseen zurück und umfasste 40 Stationen. Die Gäste konnten sich die Besichtigung jeweils durch einen Stempel bestätigen lassen und auf diese Weise ein „Gesellenbzw. Meisterdiplom“ erwerben. Um einen derartigen Misserfolg zu vermeiden, dürfen sich die Betreiber zeitgemäßer Themen‐ routen und Ferienstraßen nicht auf die Beschilderung beschränken, sondern müssen ein proaktives Management betreiben. Zusätzlich zum Standardangebot sollten regelmäßig Events organisiert werden, um frühere Gäste zu einem erneuten Besuch anzuregen. Außerdem trägt eine intensive Zusammenarbeit zwischen Industrieeinrichtungen und Partnern aus der lokalen Wirtschaft dazu bei, die Attraktivität der Netzwerke zu steigern (vgl. ILD 2015, S. 14-17). Neben der Vernetzung industriegeschichtlicher Sehenswürdigkeiten in Themenrouten und Ferienstraßen gibt es noch weitere Möglichkeiten der Kooperation (vgl. Klenner 2014 zu industrie‐ kulturellen Netzwerken in Nordrhein-Westfalen): ■ Destination Cards: Bei diesen Karten handelt es sich um ein klassisches preis- und kommuni‐ kationspolitisches Instrument des Destinationsmanagements, das inzwischen in zahlreichen Städten und Regionen eingesetzt wird. Mit dem Erwerb der Karte erhalten die Besucher einen freien bzw. reduzierten Eintritt in zahlreichen Unterhaltungs-, Freizeit- und Kultureinrich‐ tungen; in einigen Zielgebieten können sie auch die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen. Die Destination Cards bieten speziell kleineren industrietouristischen Attraktionen 94 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="95"?> die Chance, ein breiteres Reise- und Ausflugspublikum auf sich aufmerksam zu machen und neue Zielgruppen anzusprechen. 37 | „Viel entdecken. Viel erleben“ - unter diesem Motto bietet die „Saarland Card“ Übernachtungsgästen die Möglichkeit, während ihres Aufenthalts mehr als 100 Sehenswürdigkeiten kostenlos zu besichtigen und öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Zu den Partnern gehören Attraktionen im Saarland sowie in angrenzenden Regionen in Rheinland-Pfalz und Luxemburg - darunter auch mehrere industriegeschichtliche Einrichtungen wie die Völklinger Hütte, das Saarländische Bergbaumuseum und das Erlebnisbergwerk Velsen. ■ Bildung lokaler bzw. regionaler Cluster: Als Beispiel ist das Projekt „FLOEZ - Future for Lugau-Oelsnitz-Zwickau” zu nennen - eine gemeinsame Initiative von neun sächsischen Städten und Gemeinden. Im Mittelpunkt steht dabei die aufwändige Sanierung und Revitali‐ sierung ehemaliger Steinkohlebergbaulandschaften. Darüber hinaus versuchen die Projekt‐ partner aber auch, das industriekulturelle Erbe stärker touristisch zu nutzen und attraktive Produkte zu entwickeln - z. B. thematische Führungen sowie Wander- und Radwege (vgl. Harfst/ Wirth 2012; Harfst/ Fischer 2014). Bei der Netzwerkbildung industrietouristischer Einrichtungen handelt es sich zunächst nur um einen ersten organisatorisch-administrativen Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Produktentwicklung. Um Besucher anzusprechen, zu begeistern und mittelfristig an die Attrak‐ tionen zu binden, sind jedoch weitere Marketing-Maßnahmen erforderlich - dazu zählt u. a. ein erlebnisorientiertes Infotainment-Konzept. Literatur und Informationsquellen zu industrietouristischen Themenrouten dwif-Consulting GmbH/ RVR (Regionalverband Ruhr) (Hrsg.; 2018): Ökonomische Effekte der Route der Industriekultur, München/ Essen Empirische Analyse der wirtschaftlichen Wirkungen, die durch die „Route der Industriekultur“ ausgelöst werden (Umsatz, Arbeitsplätze, Steueraufkommen), sowie Empfehlungen zu einer einheitlichen Datenerfassung (Besuchertypen, Einnahmequellen, Gästebefragungen etc.) Website der „Europäischen Route der Industriekultur (ERIH)“ (▷ https: / / www.erih.de/ ) Informationen zu den Ankerpunkten und Stationen sowie Texte zur Industriegeschichte europäi‐ scher Länder, zur Entwicklung ausgewählter Industriezweige sowie zu den Biografien wichtiger Persönlichkeiten der Industriegeschichte 95 4.2 Netzwerkbildung - der gemeinsame Marktauftritt mit anderen Anbietern <?page no="96"?> Website des „bzi. Berliner Zentrum Industriekultur“ (▷ https: / / industriekultur.berlin/ de/ ) Informationen zur Fahrradroute „Warmes Licht und kühles Bier“ sowie Beiträge zu unterschied‐ lichen Aspekten der Industriekultur in Berlin 4.3 Erlebnisorientierung - die kundengerechte Gestaltung des Angebots 38 | Hitze und Ruß, Dreck und Schweiß - kein anderer deutscher Künstler hat die dramatische Atmosphäre einer Fabrikhalle im 19. Jahrhundert so anschaulich dargestellt wie Adolph von Menzel in seinem Ölgemälde „Das Eisen‐ walzwerk“ (1872/ 75). Mit der Stilllegung haben die Industrieanlagen diese bedrohliche und zugleich faszinierende Ausstrahlung verloren. Die industrietouristischen Attraktionen stehen deshalb vor der Herausforderung, ihren Gästen ein wirklichkeitsnahes Bild der harten körperlichen Arbeit in früheren Zeiten zu vermitteln. Leere Fabrikhallen, dunkle Stollen und verrostete Maschinen - solche spröden Industrie- und Bergbaurelikte stoßen bei der Mehrzahl der reiseerfahrenen und anspruchsvollen Touristen des 21. Jahrhunderts nicht auf ein besonders ausgeprägtes Interesse. Offensichtlich bedarf es einer marktgerechten Aufbereitung, Information und Präsentation, um dieses sperrige kulturelle Erbe als Ressource für die Gestaltung zeitgemäßer Besucherattraktionen zu nutzen. Als besondere Schwierigkeit erweist sich dabei die Komplexität industrieller Produktionsabläufe: Während handwerkliche Herstellungsverfahren wie der Druck von Holzstichen oder das Schmie‐ den von Hufeisen vielerorts auf dem Programm von Museen stehen, kann der Abstich eines Hochofens oder das Walzen von Eisenbahnschienen nach der Stilllegung nicht mehr sachgerecht präsentiert werden. Mit Hilfe von informativen Schautafeln, alten Sepiafotos und historischen Gerätschaften lässt sich aber die spezifische Aura der Zechen, Hüttenwerke und Webereien kaum wieder heraufbeschwören. 96 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="97"?> Selbst ungewöhnliche Vermittlungsmethoden stoßen bei der Lösung dieses grundsätzlichen museumspädagogischen Problems an ihre Grenzen - wie ein Beispiel aus den USA deutlich macht: Um den Besuchern das Ausmaß der Umweltverschmutzung im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu verdeutlichen, ließ der Kurator des „The Henry Ford - Museum, Greenfield Village & Rouge Factory“ in Dearborn (Michigan) im Hof des ehemaligen Fabrikgebäudes einen riesigen Schrott- und Abfallhaufen aufschütten. Obwohl er damit den früheren Zustand historisch korrekt rekonstruierte, stieß seine Aktion bei Gästen und Mitarbeitern nur auf wenig Verständnis und Akzeptanz (vgl. Hay 2011, S. 16-17). Offensichtlich erwarten die Besucher eine verständlich aufbereitete, unterhaltsame und nicht allzu verstörende Präsentation der Industriegeschichte. Schließlich handelt es sich bei ihnen zumeist nicht um Experten mit umfassenden technischen bzw. historischen Vorkenntnissen, sondern um neugierige und interessierte Laien. So ist eine bundesweite Repräsentativuntersuchung z. B. zu dem Ergebnis gekommen, dass die Lernerfahrung bei Kulturtouristen generell nur eine untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr suchen sie nach einer Abwechslung vom Alltag und möchten einen erlebnisreichen Tag mit dem Partner bzw. der Familie verbringen (um ihren Freunden und Bekannten dann zu Hause darüber berichten zu können) (vgl. Steinecke 2013, S. 17). Bei der Konzeption von Ausstellungen und Führungen sollten deshalb einige methodisch-di‐ daktische Prinzipien beachtet werden, die sich in anderen Segmenten des Kulturtourismus bewährt haben (Stadtführungen, Studienreisen etc.); dazu zählen u. a.: ■ Bezug zur Gegenwart statt Vermittlung trockener historischer Daten - z. B. durch anschauliche Vergleiche zwischen den aktuellen und den früheren Lebensverhältnissen (Arbeitszeiten, Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten, Wohnungsgröße, sanitäre Verhältnisse etc.), ■ exemplarische Vorgehensweise statt enzyklopädischer Vollständigkeit - z. B. durch eine Aus‐ wahl von Exponaten, die aus fachlicher Sicht besonders aussagekräftig sind und von den Gästen als eindrucksvoll wahrgenommen werden, ■ anschauliche Hands-on-Exponate statt Vitrinen und Flachware - z. B. durch Modelle und Experimente, mit denen die Besucher die Funktionsweise von Maschinen selbst erproben können (speziell Kinder und Jugendliche), ■ Darstellung gegensätzlicher Standpunkte statt eindimensionaler Informationsvermittlung - z. B. durch Berichte über Interessenkonflikte zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen (Fabrikanten vs. Arbeiter, Einheimische vs. Zuwanderer etc.), ■ Personalisierung und Storytelling statt einer allgemeinen Darstellung - z. B. durch exemplarisch ausgewählte Lebensläufe von Unternehmern und Arbeitern bzw. zeitgenössische Schilde‐ rungen der Arbeitsbedingungen in den Fabriken bzw. unter Tage. Um diese Prinzipien umzusetzen und die Erwartungen der Besucher zu erfüllen, nutzen viele Industrieeinrichtungen inzwischen ein breites Spektrum unterschiedlicher Animationsmethoden; dazu zählen u. a. (vgl. Pietroni 2019; Hain/ Hajtmanek 2020 speziell zum Einsatz von Mixed bzw. Virtual Reality-Techniken): ■ Rundgänge mit ehemaligen Bergleuten bzw. Arbeitern, die als Zeitzeugen über ihre eigenen Erfahrungen berichten (wobei diese Methode mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Stilllegung der Zechen bzw. Fabriken obsolet wird) (z. B. in der Zeche Zollverein in Essen), ■ Kostümführungen in historischer Kleidung (z. B. im LVR-Industriemuseum St. An‐ thony-Hütte, Oberhausen), ■ Vorführungen der historischen (Dampf-)Maschinen (z. B. im LWL-Industriemuseum Zeche Nachtigall, Witten), 97 4.3 Erlebnisorientierung - die kundengerechte Gestaltung des Angebots <?page no="98"?> ■ Grubenfahrten mit Förderkörben, Werkbahnen bzw. Booten in zahlreichen Besucherberg‐ werken (allein in Deutschland gibt es mehr als 170 Schaubergwerke), ■ Schaugießen (z. B. in der Giesserei Heinrichshütte, Wurzbach), ■ Schmiedekurse (z. B. im Beckedorfer Schmiedemuseum, Schwanewede), ■ Multimedia-Installationen, Soundstories und 3D-Animationen (z. B. im Aquarius Wassermu‐ seum, Mühlheim an der Ruhr), ■ Smartphone-Applikationen (z. B. im LWL-Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichen‐ burg, Waltrop). 39 | Kumpel auf Zeit - die Grubenfahrten in stillgelegten Bergwerken werden von manchen Teilnehmern wohl nicht nur aufgrund des Interesses am Bergbau unternommen, sondern auch wegen der unheimlichen Atmosphäre in den engen Stollen, die Assoziationen zu Fahrten mit einer Geisterbahn auslöst (z. B. im Hornonitriansky-Bergbaumuseum im slowakischen Sebedražie). Beim Einsatz dieser Methoden handelt es sich jedoch immer um eine Gratwanderung zwischen einer sachgerechten, lebendigen Information und einem oberflächlichen, effekthaschenden Spek‐ takel - wie das Beispiel der Führungen mit ehemaligen Bergleuten deutlich macht. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine besonders authentische Form der Wissensvermittlung zu handeln, da die Gästeführer über ihre persönlichen Arbeitserfahrungen unter Tage berichten. Untersuchungen in anderen Bereichen des Kulturtourismus (z. B. dem Gefängnis- und dem Schlachtfeldtourismus) haben jedoch gezeigt, dass auch dieses Zeitzeugen-Konzept eine zuneh‐ mende Tendenz zur Standardisierung und Inszenierung aufweist (vgl. Steinecke 2021, S. 73, 144). 98 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="99"?> „Heute ist [die Zeche] Zollverein über Tage Weltkulturerbe - ein schillerndes Denkmal wie der Kölner Dom. Ein Museums-Touristenmagnet, wo die ein Dutzend verbliebenen Bergleute wie Exoten aus einer Disney-Inszenierung wirken. Als [der Gästeführer] Mike Hartung eines Tages von Schacht II zu Schacht XII lief, musste er schmunzeln, weil sich Touristen ungläubig die Augen rieben. ‚Die haben wirklich gedacht, ich sei ein Statist, ein verkleideter Kumpel-Darsteller.‘“ Niewerth 2014 Dennoch sind solche Animationstechniken unverzichtbar, wenn sich Industriemuseen auf dem übersättigten Kultur-, Freizeit- und Unterhaltungsmarkt erfolgreich behaupten wollen; speziell die jüngeren Zielgruppen (Digital Natives) erwarten inzwischen unterhaltsame, aktive und kom‐ munikative Formen der Informations- und Wissensvermittlung. Die Standards eines zeitgemäßen Infotainments werden im Industrie- und Techniktourismus von den Science Centern und vor allem von den Markenwelten (Brand Lands) gesetzt, die von einigen global players der Konsumgüterindustrie eröffnet worden sind. Diese Unternehmen verfügen über hinreichende finanzielle Mittel, um ihre Markenbotschaft auf eindrucksvolle Weise inszenieren zu können - z. B. mit Hilfe von spektakulären Gebäuden, Fahrsimulatoren, (360-Grad-)Kinos, Kunstinstallationen etc. (→ 2.7). Industriegeschichtliche Erlebnislandschaften bzw. -welten Während bei den Industriemuseen in Deutschland immer noch die klassischen Aufgaben eines Museums im Mittelpunkt der Arbeit stehen (Sammeln, Bewahren, Forschen, Vermitteln), haben sich die Verantwortlichen im angloamerikanischen Raum bereits seit längerem an diesen privat‐ wirtschaftlichen Wettbewerbern orientiert und industriegeschichtliche Erlebnislandschaften bzw. -welten geschaffen. Als weltweit bekanntestes Beispiel gilt das Ironbridge Gorge Museum in der englischen Grafschaft Shropshire. Im Zentrum steht dabei die erste Gusseisenbrücke der Welt, die im Jahr 1779 errichtet wurde (zuvor waren jahrhundertelang Stein bzw. Holz als Materialien verwendet worden). Aufgrund ihrer neuartigen Konstruktionsweise galt sie zur damaligen Zeit als Sensation. Sie entwickelte sich nicht nur rasch zu einer Must-see-Attraktion des englischen Adels und Bürgertums, sondern beeindruckte auch die Eliten auf dem Kontinent. So ließ Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau wenige Jahre später in seinem Gartenreich Dessau-Wörlitz eine verkleinerte Nachbildung errichten, um seine Untertanen mit dieser technischen Innovation vertraut zu machen (vgl. Belford 2009, S. 28; Acheson 2018, S. 59-60). Seit 1967 befindet sich die Brücke in Trägerschaft der gemeinnützigen Organisation „Ironbridge Gorge Museum Trust“, die diesen Superlativ als Alleinstellungsmerkmal nutzt und unter dem (durchaus umstrittenen) Slogan „The Birthplace of Industrial Revolution“ auf dem internationalen Tourismusmarkt vermarktet. Angesichts der vielen spektakulären Brücken, die seitdem weltweit gebaut worden sind (z. B. Golden Gate Bridge in San Francisco, Bay Bridge in Sydney), macht die Ironbridge auf heutige Betrachter jedoch einen recht bescheidenen Eindruck. Sie verfügt allenfalls für technikaffine und historisch interessierte Besucher über eine besondere Anziehungskraft; ansonsten nimmt die Besichtigung (einschließlich der üblichen Fotos) nur kurze Zeit in Anspruch. 99 4.3 Erlebnisorientierung - die kundengerechte Gestaltung des Angebots <?page no="100"?> 40 | Eine kleine. alte Brücke als Besucherattraktion? Als die Ironbridge im Jahr 1779 in der englischen Grafschaft Shropshire gebaut wurde, weckte sie - als erste Eisenbrücke der Welt - bald das Interesse des damaligen Reisepublikums. Im 21. Jahrhundert erwarten die anspruchsvollen Touristen jedoch mehr als einen Spaziergang über die historische Eisenkonstruktion. Um die Brücke herum ist deshalb vielfältige industriegeschichtliche Erleb‐ nislandschaft geschaffen worden - mit mehreren Museen, Shops und Infotainment-Einrichtungen. Um die Tagesausflügler und Touristen zu einem längeren Aufenthalt (und damit zu höheren Ausgaben bzw. auch zu Übernachtungen) zu animieren, hat der „Ironbridge Gorge Museum Trust“ in der näheren Umgebung zahlreiche weitere Besucherattraktionen eröffnet; dazu zählen u. a.: ■ das Coalport China Museum, ■ der Tar Tunnel, ■ das Coalbrookdale Museum of Iron, ■ die Darby Houses, ■ das The Ironbridge & Tollhouse, ■ das Museum of The Gorge, ■ das Jackfield Tile Museum, ■ die Broseley Pipeworks. Darüber hinaus ist der Bestand an historischen Industrierelikten um zwei neuartige Erlebniswelten erweitert worden: ■ Bei der Blists Hill Victorian Town handelt es sich um die Rekonstruktion einer viktoriani‐ schen Stadt mit Werkstätten, Shops, Restaurants etc. Viele Gebäude dieses living museum sind aus anderen Teilen des Landes transloziert und vor Ort wiederaufgebaut worden, einige wurden nach historischen Vorbildern neu errichtet. Dort finden regelmäßig Events und 100 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="101"?> Reenactments statt - z. B. Vorführungen von Handwerkstechniken durch Mitarbeiter in historischen Kostümen, Kutsch- und Traktorfahrten etc. ■ Außerdem wurde im Jahr 2002 das Museum of Iron & Enginuity eröffnet - ein interaktives Design- und Technologiezentrum für Kinder im Stil eines Science Centers. Zu den spektaku‐ lären und medienwirksamen Aktionen dieses Hauses gehörte u. a. der Bau einer Brücke aus mehr als 205.000 LEGO-Steinen. Aufgrund ihrer Länge von 34 Metern und Spannweite von 16,92 Metern wurde sie als längste LEGO-Brücke der Welt im Jahr 2020 in das „Guinness Book of World Records“ aufgenommen (das im Freizeit- und Unterhaltungssektor eine ähnlich nobilitierende Bedeutung hat wie die UNESCO-Welterbeliste im Kulturbereich). Bei vielen Fachleuten stößt diese marktorientierte Erweiterung des Angebots allerdings auf Kritik: Aus ihrer Sicht weisen die beiden Infotainment-Einrichtungen keinen inhaltlichen Bezug zur Geschichte des Ortes auf. Außerdem werden die authentischen Industrierelikte durch die artifiziellen Inszenie‐ rungen überlagert und in den Hintergrund gedrängt (vgl. Storm 2008, S. 109-110; Cossons 2008, S. 22; Cudny 2017, S. 69-70; zu einer positiven Sichtweise vgl. Rutherford-Morrison 2015). 41 | Eine betreute Suche nach der verlorenen Zeit - in Heritage-Einrichtungen wie der Blists Hill Victorian Town wird den Gästen ein idyllisches und politisch-konservatives Bild der Vergangenheit vermittelt, in dem kein Platz ist für die Ausbeutung der Arbeiter, die Streiks um bessere Löhne und die Diskriminierung von Frauen. Vielmehr vermarkten sich die Museen mit Vorführungen alter Handwerkstechniken, pittoresken Gebäuden und anheimelnden Restaurants als attraktive Ziele für einen unterhaltsamen und harmonischen perfect day out. Damit besteht aber die Gefahr, dass sie nur noch als Freizeitattraktionen für auswärtige Besucher wahrgenommen werden und ihre ursprüngliche Bedeutung als Erinnerungs- und Identifikation‐ sorte für die lokale Bevölkerung verlieren. Dieser Transformations- und Gentrifizierungsprozess lässt sich am Beispiel der ehrenamtlichen Mitarbeiter verdeutlichen: In der Anfangsphase der 101 4.3 Erlebnisorientierung - die kundengerechte Gestaltung des Angebots <?page no="102"?> touristischen Erschließung waren es überwiegend frühere Fabrikarbeiter und deren Familienmit‐ glieder, die einen persönlichen Bezug zu den Industrierelikten hatten und dort als Zeitzeugen auftraten. Inzwischen sind es zumeist neu hinzugezogene Mittelschichtangehörige, die aus historischem Interesse bzw. bürgerschaftlichem Engagement freiwillig in dem Museumskomplex mitarbeiten (vgl. Fleiß 2014, S. 185-186). Die zehn Attraktionen verzeichnen ca. 545.000 Besucher/ Jahr; damit zählt diese industriege‐ schichtliche Erlebniswelt nicht nur in Großbritannien, sondern auch weltweit zu den industrie‐ touristischen Leuchttürmen. Gleichwohl spielt sie eine geringe Rolle im britischen Incoming-Tou‐ rismus, denn jeder zweite Gast kommt aus der Region West Midlands, weitere 43 Prozent aus anderen Teilen Großbritanniens und nur sieben Prozent aus dem Ausland. Eine ähnliche Besucherstruktur weist auch das Freilichtmuseum Sovereign Hill im australischen Ballarat (Victoria) auf, das seinen Gästen die Möglichkeit bietet, sich in die Zeit des Goldrausches vor 170 Jahren zurückversetzen zu lassen: Nur bei 15 Prozent der 500.000 Besucher/ Jahr handelt es sich um ausländische Touristen (vgl. Schwartz/ Critchley 2012, S. 89-92; Bell 2020). Einrichtungen Besonderheiten Besucher/ Jahr Beamish - The Living Museum of the North (Durham) Freilichtmuseum aus translozierten bzw. rekonstruierten Gebäuden, kostümierte Mitarbeiter, Fahrten mit Dampflokomotiven 800.000 Ironbridge Gorge Museum (Shropshire) älteste Eisenbrücke der Welt, zehn Museen bzw. Attraktionen, Vorführungen traditioneller Hand‐ werkstechniken, Events, Hochzeiten 545.000 Sovereign Hill, Ballarat (Victoria/ Australien) kulissenartige „Westernstadt“, Minentour mit einer Tram, Militärparaden, abendliche Light-and-Sound-Show 500.000 Black Country Living Museum, Dudley (West Midlands) Industriesiedlung des frühen 19. Jahrhunderts aus translozierten Häusern, Fahrten mit einem Trolley-Bus, Location von TV-Serien 385.000 Rhondda Heritage Park (Wales) Unter-Tage-Führungen, nachgebaute Dorfstraße, Multimediaschauen, High-Tech-Ride „Dram: The Cine‐ matic Experience“ 40.000 Bursledon Brickwork Industrial Museum, Swanwick (Hampshire) viktorianische Fabrik zur Produktion von Backsteinen, Vorführung der historischen Maschinen, Fahrten mit einer Schmalspurbahn 7.000 4 | Industriegeschichtliche Erlebniswelten: Beispiele - Besonderheiten - Besucherzahl Ecomuseen - Bewahrung der regionalen Identität statt Schaffung spektakulärer Besucherattraktionen Ein Gegenmodell zu solchen industriegeschichtlichen Erlebniswelten stellen die Ecomuseen dar, die seit den 1970er-Jahren - ausgehend von Frankreich - in zahlreichen Ländern entstanden sind. Sie dienen der Untersuchung, dem Erhalt und der Vermittlung traditioneller Wirtschaft- und Lebensweisen. Ecomuseen sind großflächige Museumslandschaften, die zumeist aus einer zentralen Forschungs- und Ausstellungseinrichtung sowie mehreren Außenstellen bestehen. Im Sinne eines ganzheitli‐ chen Kulturverständnisses werden nicht nur Gebäude, Einrichtungen und Gebrauchsgegenstände 102 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="103"?> präsentiert, sondern auch traditionelle Bräuche (Lieder, Tänze etc.) sowie typische Pflanzen- und Tierarten (vgl. Casanelles 2014, S. 75-76; Canavese/ Gianotti/ Varine 2018). Wesentliches Ziel der Ecomuseen ist die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung beim Erhalt ihrer Alltagskultur und der nachhaltigen Entwicklung ihres heimatlichen Le‐ bensraums. Sie sind typische Projekte eines community-based tourism, in dessen Konzept die Akzeptanz und Mitwirkung der Betroffenen eine zentrale Bedeutung haben (vgl. Borrelli/ Da‐ vis 2012; Riva 2017). Die Mehrzahl der weltweit ca. 400 Ecomuseen liegt in ländlichen Räumen; als Beispiele von Ecomuseen zur Industrie- und Technikgeschichte sind u. a. zu nennen: ■ Écomusée du Creusot-Montceau (Frankreich) ■ Parc de Wesserling - Écomusée textile (Frankreich) ■ Ecomuseum Bergslagen (Schweden) ■ Ecomuseum im Gebiet um den Elbląg/ Oberland-Kanal (Polen) ■ Ecomuseo delle Ferriere e Fonderie di Calabria (Italien) ■ Ecomuseo del Granito (Italien) ■ Écomusée du fier monde (Kanada) In Deutschland gibt es gegenwärtig weder industriegeschichtliche Ecomuseen noch Industrie‐ erlebnislandschaften bzw. -welten. Gleichwohl sind an einigen altindustriellen Standorten mul‐ tifunktionale Erholungs-, Freizeit- und Unterhaltungskomplexe entstanden - wie die folgenden beiden Beispiele deutlich machen. Postindustrielle Erlebnisräume Der „Landschaftspark Duisburg-Nord“ gehörte - neben der „Route der Industriekultur“ - zu den Leuchtturmprojekten der „Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park“. Er wurde im Jahr 1994 auf dem weitläufigen Areal des stillgelegten Meidericher Hüttenwerks eröffnet (vgl. Schwarz 2001a zu den widersprüchlichen Reaktionen der früheren Beschäftigten und Anwohner). Im Namen der Anlage spiegelt sich das Konzept des Landschaftsarchitekten Peter Latz wider, der für die Planung und Umsetzung zuständig war. Es ging ihm nicht um eine typische Musealisierung der Industrierelikte, sondern um eine innovative Symbiose aus Industrie- und Naturlandschaft. Er bewahrte den Bestand an vorhandenen Gebäuden, nahm nur wenige Eingriffe in die Fauna und Flora vor (die sich seit der Schließung im Jahr 1985 auf den Brachflächen ungestört entwickelt hatten) und ergänzte sie um neue Gärten, Treppen und Landmarken (vgl. Storm 2008; Pang 2016; Eiringhaus 2018). Auf diese Weise entstand eine postindustrielle Parklandschaft, in der es - im Sinne des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel - zu einer dreifachen „Aufhebung“ des genius loci kommt: Zum einen werden die Relikte als Zeugen der abgeschlossenen Phase der Industrialisierung präsentiert, zum anderen aber auch als Erinnerungsobjekte für künftige Generationen bewahrt. Durch die bewusste Kombination dieses statischen zivilisatorischen Erbes mit der dynamischen natürlichen Umwelt verfügt der Ort aber eine höhere Erlebnisqualität als ein klassisches Indus‐ triedenkmal oder eine städtische Grünanlage. Darüber hinaus wurden zahlreiche Freizeiteinrichtungen geschaffen, um die Attraktivität des Landschaftsparks für die einheimische Bevölkerung und auswärtige Besucher zu steigern - neben Wander- und Fahrradwegen auch ein „Tauchgasometer“, ein Klettergarten sowie ein Lehr- und 103 4.3 Erlebnisorientierung - die kundengerechte Gestaltung des Angebots <?page no="104"?> Lernbauernhof. Zudem wird das Gelände als Eventlocation genutzt: Im Jahr 2019 war es z. B. Schauplatz der „Ruhr Games“; dabei handelt es sich um eine der größten Jugendsportveranstal‐ tungen in Europa, die seit 2015 in zweijährigem Rhythmus vom Regionalverband Ruhr (RVR) organisiert wird (vgl. RVR 2019). Inzwischen zählt der Landschaftspark zu den industriekulturellen Besuchermagneten im Ruhrge‐ biet; selbst während der Coronapandemie (2020) konnte er knapp eine Million Gäste verzeichnen. Als zweites - völlig gegensätzliches Beispiel - soll die „Neue Mitte“ in Oberhausen erwähnt werden, die seit 1996 auf dem Gelände der ehemaligen Gutehoffnungshütte errichtet worden ist. Aus Sicht von Planung und Politik konnte die Ansiedlung neuer, großer Industriebetriebe auf dieser riesigen Brachfläche ausgeschlossen werden (die mit 140 Hektar eine Ausdehnung von knapp 200 Fußballfeldern hatte). Gleichzeitig verfügte der verkehrsmäßig gut erschlossene Standort aber über ideale Bedingungen für Konsum- und Unterhaltungseinrichtungen: In einem Radius von 30-Minuten-Fahrzeit lebten ca. fünf Millionen Menschen und innerhalb von 60 Minuten konnte er von 15 Millionen Einwohnern erreicht werden. Nachdem Überlegungen zum Bau einer gigantischen, zentral verwalteten Shopping Mall (nach den Vorbildern der US-amerikanischen West Edmonton Mall bzw. der britischen Meadowhall) nicht realisiert werden konnten, entstand dort sukzessive ein heterogenes Konglomerat aus einzelnen, weitgehend unverbundenen Attraktionen - vom Shopping-Center CentrO und dem Legoland Discovery Center über das Multiplex-Kino CineStar und die König-Pilsener-Arena bis hin zum Aquarium Sea Life und dem Erlebnisbad Aquapark. Zum Wahrzeichen dieser fragmentierten postindustriellen Erlebnislandschaft wurde der hoch aufragende Gasometer - eine der wenigen Reminiszenzen an die lange Industriegeschichte des Areals (vgl. Röhr 2015, S. 9). 42 | Gasometer und Riesenrad: Diese beiden Landmarken prägen die Silhouette der „Neuen Mitte“ in Oberhausen. Sie sind Symbole des radikalen Strukturwandels, der auf dem Gelände der stillgelegten Gutehoffnungshütte statt‐ gefunden hat - von einem Zentrum der Eisen- und Maschinenproduktion zu einer postindustriellen Einkaufs- und Unterhaltungslandschaft. Als Leitbetrieb fungiert dabei das CentrO, das mit 125.00 Quadratmetern Verkaufsfläche der Spitzenreiter unter den deutschen Shopping-Centern ist (vorne links im Bild). 104 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="105"?> Da die Einrichtungen von unterschiedlichen Akteuren betrieben werden, liegen keine Angaben zur Gesamtnutzerzahl der „Neuen Mitte“ vor. Als Besuchermagneten gelten das Shopping-Center CentrO mit ca. 20 Millionen Kunden/ Jahr und der Gasometer, der bei Sonderausstellungen regel‐ mäßig mehrere Hunderttausend Gäste verzeichnet (Spitzenreiter war die Ausstellung „Wunder der Natur“ im Jahr 2016/ 17 mit 1,35 Millionen Besuchern). Allerdings haben sich nicht alle Attraktionen als derart erfolgreich erwiesen: In jüngerer Zeit sind z. B. der Abenteuer Park und das Metronom Theater wieder geschlossen worden. Ungeachtet der jeweiligen unternehmerischen Gründe stehen die Anbieter auf dem Reise- und Freizeitmarkt generell vor der Herausforderung, auf den gesellschaftlichen Wertewandel zu reagieren, der seit einiger Zeit stattgefunden hat - weg von der extrovertierten Spaß- und Erlebnisgesellschaft der 1990er-Jahre und hin zu einer introvertierten Sinngesellschaft des 21. Jahrhunderts. Obwohl ein Teil des Publikums weiterhin auf der Suche nach schrillen Reizen ist, bevorzugen immer mehr Touristen ruhigere Erholungsarten, bei denen Genuss, Muße und Geselligkeit mit Gleichgesinnten im Mittelpunkt stehen (vgl. Kreilkamp 2013). Diese Ambivalenz von hedonistischer Erlebnisorientierung und individueller Erfahrungssuche stellt auch die öffentlichen industrietouristischen Sehenswürdigkeiten vor neue Herausforderun‐ gen: Bei einer allzu starken Ausrichtung auf die Erwartungen vergnügungssüchtiger Ausflügler und Touristen besteht die Gefahr, dass sie ihren authentischen (Marken-)Kern preisgeben. Zu‐ gleich reichen die klassischen musealen Vermittlungsformen wie Exponate, Führungen etc. aber nicht mehr aus, um neue Zielgruppen jenseits des klassischen Bildungsbürgertums anzusprechen - und frühere Gäste zu erneuten Besuchen anzuregen. 4.4 Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe Industriemuseen und Besucherbergwerke teilen ein gemeinsames Schicksal mit Tropfsteinhöh‐ len: Sie verfügen nur über ein recht schmales Spektrum an unterschiedlichen Exponaten bzw. Attraktionen. Beim erstmaligen Besuch stoßen sie damit zwar auf Interesse und sorgen für Staunen. Zugleich handelt es sich aber - zumindest aus Sicht des breiten Laienpublikums - bei den stillgelegten Maschinen und düsteren Stollen bzw. den Stalagmiten und Stalaktiten auch um Objekte, die den Eindruck des Immergleichen vermitteln. Angesichts dieser prinzipiellen Austauschbarkeit des Angebots bedarf es innovativer Marketing- und Management-Maßnahmen, um weitere Besuchsanlässe zu schaffen und eine lokale Stamm‐ kundschaft aufzubauen bzw. auswärtige Besucher als zusätzliche Gäste zu gewinnen. Dazu ist es erforderlich, dass sich industrietouristische Einrichtungen bzw. Destinationen als Bühnen verstehen, auf denen immer wieder neue Stücke mit anderen Mitwirkenden aufgeführt werden (z. B. Sonderausstellungen, Vorträge, Workshops etc.). Als effizientes Instrument, auf überregionaler, nationaler bzw. internationaler Ebene öffentliche Aufmerksamkeit und große Besucherströme zu erzeugen, haben sich dabei spektakuläre Events erwiesen. Allerdings wird es auch in diesem Bereich immer schwieriger, sich von anderen Anbietern zu unterscheiden, da bereits seit drei Jahrzehnten eine inflationäre Eventisierung und Festivalisierung stattgefunden hat. Ein wesentliches Merkmal von Events ist die zeitliche Begrenztheit. Sie dient dazu, auf dem übersättigten Freizeit-, Unterhaltungs- und Kulturmarkt eine Verknappung zu erzeugen und damit einen Begehrenskonsum auszulösen. Darüber hinaus gelten für Events einige inhaltlich-or‐ ganisatorische Prinzipien, die z. B. von der „Walt Disney Company“ für das Besuchserlebnis in deren Themenparks formuliert worden sind (vgl. TCR 2016, S. 13): 105 4.4 Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe <?page no="106"?> ■ die Überraschung und das Staunen der Gäste, ■ die Anregung zur Interaktion mit anderen Besuchern (um dauerhafte Erinnerungen zu schaffen), ■ die Einzigartigkeit und der innovative Charakter der Aktion, ■ die Authentizität des Erlebnisses. Im Industrietourismus wird die Strategie der Eventisierung auf betrieblicher Ebene von zahlrei‐ chen öffentlichen Besucherattraktionen eingesetzt; als Beispiele in Deutschland sind u. a. zu nennen: ■ Sommerferienangebot - Mit dem Museumsroboter auf Entdeckungstour (Industriemuseum, Chemnitz), ■ Geocaching-Tour. Die Schätze des Hettbergs (LWL-Industriemuseum, Witten), ■ Creative Days. Kunst an der Havel (Industriemuseum, Brandenburg an der Havel), ■ Feldbahnfahrten (Technoseum - Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim), ■ Die unsichtbare Skulptur. Der erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys (Sonderausstellung in der Zeche Zollverein, Essen). 43 | Vom Gasspeicher zur Showbühne - in Leipzig wird der ehemalige kleine Gasometer mit seiner nur teilweise restaurierten Dachkonstruktion als Eventlocation genutzt. Bei dem Gebäude im Hintergrund handelt es sich um den größeren Gasometer, in dem der Künstler Yadegar Asisi eindrucksvolle 360-Grad-Panoramen präsentiert. Im Jahr 2020 gehörten die beiden Gebäude zu den ca. 400 Museen, Schauanlagen etc., die an der Kampagne „Jahr der Industriekultur in Sachsen“ teilgenommen haben. Diese landesweite Aktion wurde von der Kulturstiftung des Freistaates organisiert und finanziell unterstützt. 106 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="107"?> Außerdem gibt es zahlreiche lokale, regionale und (trans-)nationale Aktionen, bei denen öffentliche Industriemuseen bzw. private Unternehmen gemeinsam publikumswirksame Events organisie‐ ren; dazu zählen z. B.: ■ Lange Nacht der Industrie (Berlin, Hamburg/ Schleswig-Holstein, MINT Netzwerk Branden‐ burg etc.), ■ Tag der Offenen Tür (bundesweite Aktion der Chemischen Industrie, Provadis - Industrie‐ park Höchst, Industriepark Premnitz etc.), ■ Tage der Industriekultur (Hamburg, Rhein-Main-Gebiet, Leipzig etc.), ■ Aktion „Industrieerleben“ - eine Veranstaltung der „Initiative Erfurter Kreuz“ (Zusammen‐ schluss von mehr als 100 Unternehmen), ■ Themenjahre zur Industriekultur (Thüringen 2018, Sachsen 2020, Brandenburg 2021 etc.) (vgl. Littkopf/ Frey 2021), ■ Europäisches Jahr des Industriellen und Technischen Erbes (2015) - eine Initiative der Organisation „E-FAITH - European Federation of Associations of Industrial and Technical Heritage“. Aufgrund der Vielzahl an Akteuren und Standorten ist es relativ schwierig, das Besucherauf‐ kommen und die Effekte solcher zeitlich begrenzten Veranstaltungen systematisch zu erfassen. Anhand einer Fallstudie im Museum der Eisen- und Stahlindustrie und des Bergbaus von Kastilien und León (Spanien) wird jedoch deren große Bedeutung deutlich: Dort verzeichneten zusätzliche Events wie Konzerte, Filmvorführungen, Workshops etc. in den Jahren 2016-2019 jeweils weitaus mehr Besucher als die Dauerausstellung (vgl. Somoza-Medina/ Monteserín-Abella 2021, S. 19). Events im Ruhrgebiet In Deutschland hat vor allem das Ruhrgebiet spektakuläre Events dazu genutzt, seine Vorreiter‐ rolle als industrietouristische Destination zu stärken. Für überregionale Aufmerksamkeit sorgten dabei mehrere Paukenschlag-Projekte - z. B. (vgl. Neumann/ Trettin/ Zakrzewski 2012, S. 9): ■ die Eröffnung der „Route der Industriekultur“ (1999), ■ die Aufnahme der Zeche Zollverein in die UNESCO-Welterbeliste (2001), ■ die Durchführung der Kampagne „RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas“ (2010), die im Folgenden erläutert werden soll. „Kulturhauptstadt Europas“ - dieser Titel wird bereits seit 1985 jährlich von der Europäischen Union an eine europäische Stadt vergeben (bzw. seit 2004 an mindestens zwei Städte). Die Idee zu der Aktion stammte von der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri. Durch die Auszeichnung und die finanzielle Förderung sollte der kulturelle Zusammenhalt innerhalb Europas gestärkt und zugleich ein vielfältiges Bild der europäischen Kultur nach außen vermittelt werden. In der Anfangsphase präsentierten die Städte ihre kulturellen Besonderheiten im Rahmen von Sommerfestivals - mit einer kurzen Planungsphase und ohne internationale Werbemaßnah‐ men. Seitdem ist aus der ursprünglich lokalen Veranstaltung ein internationales Kultur-Event geworden, das von den Verantwortlichen zumeist als Instrument der Entwicklung von Tourismus, Wirtschaft und Stadtquartieren genutzt wird. Entsprechend aufwändig sind auch die Vorbereitung und die Durchführung - u. a. durch Einbeziehung internationaler Künstler, Ansprache von Sponsoren und eine zentrale Marketing-Organisation (mit einem umfangreichen Budget und einer Vielzahl von Mitarbeitern). 107 4.4 Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe <?page no="108"?> Als die Stadt Essen - stellvertretend für die 53 Städte des Regionalverbands Ruhr (RVR) - im Jahr 2010 den Titel erhielt, handelt es sich also um ein bewährtes, vielfach praktiziertes Format der Festivalisierung auf europäischer Ebene. Die Akteure im Ruhrgebiet standen deshalb vor der Herausforderung, diese Kampagne - im Sinne der oben erwähnten Visitor Experience - innovativ, authentisch und interaktiv zu gestalten. Unter dem Leitmotiv „Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel“ wurden insgesamt 500 Projekte mit ca. 5.500 Veranstaltungen organisiert. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten zählten dabei die übergeordneten Themenbereiche „Mythos Ruhr begreifen“, „Metropole gestalten“ und „Europa bewegen“ sowie mehrere nutzerorientierte Programmfelder, die in Publikationen und im Internet jeweils durch ein visuelles Motiv gekennzeichnet wurden (vgl. Langsch/ Frohne 2010): ■ Bilder entdecken, ■ Theater wagen, ■ Musik leben, ■ Sprache erfahren, ■ Kreativwirtschaft stärken, ■ Feste feiern. Abb. 44 Metropolregion Ruhr Programm Erreichbarkeit Infrastruktur Kommunikation Institutionen/ Netzwerke Bauten/ Struktur kurzfristig langfristig Teilhabe 44 | „Metropole Ruhr“ - unter diesem Begriff sollte die vielfältige Städtelandschaft im Rahmen der Kampagne „RUHR.2010“ als neue Destinationsmarke auf dem Kultur- und Tourismusmarkt kreiert werden. Wesentliche Strategien waren dabei zunächst die Erfahrbarkeit der Region durch ein attraktives Programm und eine professio‐ nelle Kommunikation. Mittel- und langfristig ging es darum, Institutionen sowie Netzwerke zu schaffen und die Infrastruktur zu verbessern. Während des Veranstaltungsjahres fanden einige spektakuläre und massenwirksame Events statt, die einen besonders großen Effekt auf das „Wir-Gefühl“ der Bevölkerung und zugleich eine erhebliche Werbewirkung nach außen hatten (vgl. ZfKf 2011, S. 32-36): ■ Für das Volksfest „Still-Leben Ruhrschnellweg“ wurde die ansonsten stark frequentierte BAB A40 zwischen Dortmund und Duisburg einen Tag lang für den Autoverkehr gesperrt und konnte nur von Fußgängern, Fahrradfahrern etc. genutzt werden. Mit mehr als drei Millionen Teilnehmern gilt das „Still-Leben“ als erfolgreichste Veranstaltung des „RUHR.2010“-Kulturhauptstadtjahres. ■ Die Aktion „SchachtZeichen“ erinnerte auf symbolische Weise an die montangeschichtliche Vergangenheit der Region. Große, gelbe Ballone, die mit Helium gefüllt waren und in 80 Meter Höhe schwebten, markierten eine Woche lang die Standorte von mehr als 350 ehemaligen Schachtanlagen. 108 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="109"?> ■ Zu der Veranstaltung „! Sing - Day of Song“ kamen mehr als 60.000 Besucher in die Vel‐ tins-Arena in Gelsenkirchen. Dort sangen sie gemeinsam mit 600 Chören aus dem Ruhrgebiet und deren Partnerstädten deutsche Volkslieder, internationale Popsongs, italienische Opern‐ stücke - und natürlich die Hymne „Komm zur Ruhr“ von Herbert Grönemeyer. ■ Im Rahmen des Zyklus „Local Heroes“ konnten die beteiligten 52 Städte jeweils eine Woche lang ihr kulturelles Angebot eigenverantwortlich präsentieren (die Stadt Essen, die als An‐ tragsteller fungiert hatte, diente ganzjährig als Veranstaltungsort). Das Spektrum der Events, an denen ca. zwei Millionen Besucher teilgenommen haben, reichte von Kunstausstellungen über Lesungen bis hin zur Kirmes. 45 | Ausnahmsweise einmal keine freie Fahrt für freie Bürger - bei der Aktion „Still-Leben Ruhrschnellweg“ wurde die A40 zwischen Dortmund und Duisburg im Juli 2010 für einen Tag zu einer autofreien Flanier- und Picknick-Meile. Auf einer Länge von 60 Kilometern entstand dort die „längste Tafel der Welt“ - mit 20.000 Biertischen, an denen sich Vereine, Initiativen, Unternehmen etc. präsentierten. Bei der Konzeption und Durchführung der Aktion „RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas“ lag ein spezieller Fokus auf der Teilhabe der lokalen Bevölkerung - speziell auch von Migranten sowie Kindern und Jugendlichen (für diese Zielgruppe diente z. B. die bekannte Kinderbuchfigur Ritter Rost als „Kulturhauptstadtbotschafter“). Zu den wichtigen touristischen Marktsegmenten gehörten Tagesausflügler, Übernachtungsgäste (speziell Kultur- und Städtetouristen), Geschäfts‐ reisende sowie junge Erwachsene (vgl. Langsch/ Frohne 2010). 109 4.4 Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe <?page no="110"?> Für die Jahreskampagne stand der „RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas GmbH“ ein Ge‐ samtbudget in Höhe von knapp 81 Millionen Euro zur Verfügung. Dabei konnte die Organisation nur 3,5 Prozent durch eigene Einnahmen erwirtschaften (Tickets, Merchandising etc.). Bei drei Vierteln der Einnahmen handelte es sich um Zuschüsse von unterschiedlichen öffentlichen Trägern (Bund, Land NRW, Regionalverband Ruhr/ RVR etc.). Weitere 22 Prozent stammten aus eingeworbenen Drittmitteln; wichtige Sponsoren waren DB Mobility Networks Logistics, E.ON, Ruhrgas, Haniel, RWE und die Sparkassen-Finanzgruppe (vgl. ZfKf/ ICG 2011, S. 84). Abb. 46 4% 5% 5% 6% 6% 7% 9% 11% 14% 51% Bayern Dortmund Nordrhein-Westfalen München Berlin Hamburg Saarland Bochum Essen Ruhrgebiet 46 | Mit Abstand die bekannteste industrietouristische Destination in Deutschland - durch Projekte wie die „Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ oder die Kampagne „RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas“ hat sich das Ruhrgebiet klar auf der mental map der Nachfrager positionieren können. In einer bundesweiten Erhebung hielten 51 Prozent der Befragten das Ruhrgebiet für besonders geeignet, um eine Reise zur Industriekultur zu machen. Andere altindustrielle Regionen wurden weitaus seltener genannt (z. B. das Saarland). Die touristischen Effekte der Aktion wurden im Rahmen von statistischen Erhebungen und Besucherbefragungen ermittelt (vgl. ERV/ DZT 2010; RUHR.2010 GmbH/ Regionalverband Ruhr 2011; RTG 2016, S. 9): ■ Bei der Mehrzahl der Gäste handelte es sich um Tagesausflügler; nur jeder elfte Besucher übernachtete in der Region. ■ Trotz des geringen Anteils an Übernachtungsgästen stieg die Nachfrage in den gewerblichen Unterkunftsbetrieben im Jahr 2010 um 13 Prozent. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer dieser Besucher belief sich auf ca. drei Tage. ■ Für mehr als drei Viertel der auswärtigen bzw. ausländischen Touristen war die Kulturhaupt‐ stadt-Initiative der wesentliche Grund, eine Reise in das Ruhrgebiet zu unternehmen. Sie spielte damit eine weitaus größere Rolle als Kulturbzw. Sportevents in anderen Zielgebieten (z. B. Bundesgartenschauen, Biathlonbzw. Leichtathletik-Weltmeisterschaften). ■ Die Kampagne kam nicht nur den beteiligten Kultureinrichtungen zugute; vielmehr partizi‐ pierten auch andere lokale Anbieter von der zusätzlichen Nachfrage - speziell Restaurants, Clubs etc. sowie Einzelhandelsgeschäfte. ■ Das breite Angebot an Events führte dazu, dass zwei von drei Befragten „viel mehr“ bzw. „mehr“ Kulturveranstaltungen genutzt haben als gewöhnlich. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei die Industriekultur, die Geschichte, Feste und Events sowie die Architektur. 110 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="111"?> ■ Das Veranstaltungsprogramm wurde insgesamt sehr positiv bewertet: Nur fünf Prozent der Befragten gefielen die Events „nicht so gut“ bzw. „überhaupt nicht“. Entsprechend hoch waren auch Bereitschaft, das Ruhrgebiet als Reiseziel weiterzuempfehlen und die Destination in den kommenden Jahren erneut zu besuchen. Offenbar ist es der „Metropole Ruhr“ also gelungen, durch die Kampagne „RUHR.2010 - Kultur‐ hauptstadt Europas“ das Interesse am (industrie-)touristischen Angebot innerhalb der Region, aber auch darüber hinaus zu steigern. Aufgrund ihres einzigartigen und zeitlichen begrenzten Charakters besteht aber bei Events generell das Problem der prinzipiellen Nicht-Wiederholbarkeit, der fehlenden nachhaltigen Effekte und der mangelnden finanziellen Absicherung (vgl. Hollmann 2011, S. 137; ZfKf/ ICG 2011, S. 59; Biermann 2013, S. 265): ■ Ungewöhnliche Aktionen wie die „SchachtZeichen“ oder die Sperrung einer Autobahn für ein Volksfest haben zwar eindrucksvolle Bilder produziert, die lange im kollektiven Gedächtnis bleiben werden. Dennoch lassen sie sich nicht beliebig reproduzieren, da sie dann nicht mehr über die Aura des Besonderen und Einmaligen verfügen würden. ■ Häufig ist bei Events auch ein „Champagner-Effekt“ zu beobachten. Während des Kultur‐ hauptstadtjahres konnte die Zeche Zollverein in Essen z. B. einen rasanten Anstieg der Besucherzahl von 900.000 auf 2,3 Millionen verzeichnen, doch danach ging die Nachfrage auf 1,5 Millionen zurück (auch die Stadt Linz, die im Jahr 2009 den Titel getragen hatte, musste im Folgejahr erhebliche Einbußen im Tourismus hinnehmen). ■ Große Unternehmen lassen sich relativ leicht als Sponsoren für spektakuläre Großveran‐ staltungen gewinnen, da sich aufgrund des hohen Besucheraufkommens einen deutlichen Imagegewinn versprechen. In der Regel haben sie jedoch kein Interesse an einer dauerhaften Finanzierung von Kulturprojekten. Nach Abschluss des Events wird die Arbeit der Akteure nur durch geringe öffentliche Mittel unterstützt (im Ruhrgebiet z. B. statt eines hohen zweistelligen Millionenbetrags nur noch mit 2,4 Euro Millionen/ Jahr). Die Destinationen stehen also vor der Herausforderung, für eine Verstetigung der positiven Impulse zu sorgen, die durch Events generell und speziell die Kampagne „Kulturhauptstadt Europas“ ausgelöst worden sind. Die Ruhr Tourismus GmbH hat dabei drei Strategien verfolgt (vgl. Biermann 2013, S. 274-275; RTG 2016): ■ die Vermarktung der „RuhrKunstMuseen“ als Leitprodukt der „Kunstregion Ruhr“, ■ die Formulierung des „Marketingplans Tourismus“ (2012-2016 bzw. 2017-2022), ■ die Stärkung des Event-Marketings. Zu den herausragenden Events, die regelmäßig veranstaltet werden, gehört die Ruhrtriennale - ein renommiertes internationales Kulturfestival, das seit 2002 in einem dreijährigen Rhythmus unter wechselnder künstlerischer Leitung stattfindet. Eine Besonderheit sind dabei die Schauplätze der Inszenierungen, bei denen es sich zumeist um historische Industrierelikte wie die Jahrhundert‐ halle in Bochum, die Zeche Zollverein in Essen u. a. handelt. Im Jahr 2019 nahmen ca. 60.000 Besucher an den - häufig kostenlos zugänglichen - Aufführungen teil. Ein weiteres Beispiel für ein populäres Event ist die „ExtraSchicht - Die Nacht der Industrie‐ kultur“, die im Folgenden dargestellt werden soll. Die eintägige Aktion wird bereits seit 2001 durchgeführt und galt von Beginn an als eine „Kulturhauptstadt im Kleinen“. Das Angebot der „ExtraSchicht - Die Nacht der Industriekultur“, die jeweils von 18 bis 2 Uhr dauert, umfasst ein breites Spektrum an Veranstaltungen aus unterschiedlichen Kultursparten - vom 111 4.4 Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe <?page no="112"?> Straßentheater über Pop- und Rockkonzerte bis hin zu Performance Acts. Bei dem letzten Event vor der Coronapandemie traten im Jahr 2019 mehr als 2.000 Künstler an 50 Spielorten und in 24 Städten auf. Wie bei den „Langen (Museums-)Nächten“ in anderen Regionen ermöglichte das Ticket auch die kostenlose Nutzung von Shuttlebussen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Abb. 47 Volks-/ Hauptschule 7% Mittlere Reife 21% Abitur 22% Fachhochschule 15% Hochschule 35% 47 | Kultur für Alle? Selbst ein populäres Event wie die „ExtraSchicht - Die Nacht der Industriekultur“ wird vor allem von einem höhergebildeten Publikum genutzt. Fast drei Viertel der Besucher verfügen über das Abitur bzw. sogar einen Hochschulabschluss. Im Durchschnitt liegt der Anteil der Schulabgänger mit allgemeiner Hochschulreife in Nordrhein-Westfalen hingegen nur bei 40 Prozent (Erhebungs- und Bezugsjahr: 2014). Mit ca. 300.000 Teilnehmern verzeichnet die „ExtraSchicht“ weitaus mehr Gäste als populäre Musikfestivals wie der „BigCityBeats World Club Dome“ in Frankfurt am Main (120.000), das „Wacken Open Air“ (75.000) oder der „Rock am Ring“ (70.000). Im Rahmen einer umfassenden empirischen Analyse konnten die Merkmale, die Aktivitäten und die Zufriedenheit der Besucher ermittelt werden (vgl. RTG 2014): ■ Generell hat die „ExtraSchicht“ einen überwiegend lokalen bzw. regionalen Charakter: 75 Prozent der Besucher stammten aus der „Metropole Ruhr“ und nur jeder vierte Gast reiste aus anderen nordrhein-westfälischen Landesteilen bzw. (Bundes-)Ländern an. ■ Mit der Veranstaltung werden vor allem Teilnehmer aus mittleren und höheren Altersgrup‐ pen angesprochen: Im Jahr 2014 stellten sie knapp zwei Drittel des Publikums, obwohl sich der Anteil der 40bis 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in Nordrhein-Westfalen nur auf ca. 30 Prozent belief. ■ Als wichtige Informationsquellen dienten vor allem Empfehlungen von Freunden und Bekannten (die im Tourismus generell eine zentrale Rolle spielen) sowie großflächige Plakate und Presseberichte. ■ Die Gäste besuchten im Durchschnitt drei unterschiedliche Orte und verbrachten dort ins‐ gesamt ca. sieben Stunden; für die Anfahrt benutzten 68 Prozent öffentliche Verkehrsmittel. ■ Wie bei den Besichtigungen war auch bei diesem Event eine deutliche Hierarchie der Attraktionen zu beobachten: Zu den Spitzenreitern gehörten das Deutsche Bergbau-Museum in Bochum, die Zeche Zollverein und der Gasometer in Oberhausen. ■ Die Besucher, bei denen es sich zu 68 Prozent um Stammgäste handelte, bewerteten das An‐ gebot der „ExtraSchicht“ insgesamt mit der Schulnote 1,9. Besonders positive Beurteilungen erhielten dabei die Programmvielfalt, die Freundlichkeit des Personals, der Eintrittspreis und die Atmosphäre. 112 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="113"?> ■ Aufgrund dieser großen Zufriedenheit bestand eine hohe Wiederbesuchsabsicht: 95 Prozent der lokalen Gäste und 86 Prozent der externen Besucher beabsichtigten, auch an der „ExtraSchicht“ im folgenden Jahr teilzunehmen. Bei der Nutzung von Industrierelikten als Eventlocations stellt sich allerdings die Frage nach den Grenzen des touristischen Marketings - wie z. B. bei dem „Electro Magnetic“-Festival“ in der Völklinger Hütte. Diese Veranstaltung findet seit 2012 jedes Jahr in dem weitläufigen Industriekomplex der UNESCO-Welterbestätte statt. Zu den Attraktionen gehören Auftritte von Stars dieser Musikszene sowie eindrucksvolle Licht-, Pyro- und Nebeleffekte. Ist es moralisch vertretbar, ein solches hedonistisches Event an einem Ort mit einer „dunklen“ Vergangenheit zu veranstalten? Schließlich war er einst der Arbeitsplatz von Tausenden Beschäf‐ tigten, die unter harten Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, und während des Zweiten Weltkriegs wurden dort zahlreiche ausländische Zwangsarbeiter in der Produktion eingesetzt (vgl. Lemm 2018) (→ 2). Die Verantwortlichen betonen zwar in Pressemitteilungen die „Faszination“, die „die Indus‐ triekultur der Hochindustrialisierung und die Musik des 21. Jahrhunderts im Zusammenspiel ausüben“, doch mit der Durchführung des Events verfolgen sie wohl vor allem ökonomische Interessen. So verweisen sie auf die großen regionalwirtschaftlichen Effekte dieser Veranstaltung, die in einer Studie ermittelt wurden: Im Jahr 2014 verzeichnete das eintägige Festival z. B. 10.000 Besucher und kostendeckende Einnahmen in Höhe von 660.000 Euro. Die Nettowertschöpfung für das Saarland belief sich auf 343.000 Euro und das Event löste einen regionalen Beschäftigungsef‐ fekt von 10,5 Arbeitsplätzen aus (vgl. MSP 2015, S. 2). Industrieareale als Locations für Abenteuer- und Sportveranstaltungen Staub, Dreck und Abgase statt Musik, Tanz und Theater - nicht alle Destinationen nutzen ihre industriegeschichtlichen Relikte als Veranstaltungsorte für publikumswirksame Kultur-Events. Vielmehr verfolgen einige Standorte eine Hard, Loud & Rough-Strategie, mit der sie speziell an das traditionelle raue Image von Bergbauregionen anknüpfen und es zeitgemäß für touristische Special Interest-Gruppen modifizieren (vgl. Pizzera/ Osebik 2012, S. 220-222). Als bekanntestes Beispiel ist das „Red Bull Erzbergrodeo“ zu nennen, das als größtes und här‐ testes Offroad-Motorradrennen der Welt gilt. Es findet seit 1995 jedes Jahr in einem weitläufigen Tagebaugelände in Eisenerz (Steiermark) statt und hat sich inzwischen zu einem Mekka für Fans der Motocross-Szene entwickelt. Die Veranstaltung ist Teil des umfassenden Event-Marketings, das der österreichische Energydrink-Konzern „Red Bull“ weltweit betreibt (u. a. als Sponsor von Extremsport-Wettkämpfen, Formel-1-Rennställen sowie Fußball- und Eishockeyvereinen) (vgl. Laudenbach 2015). „Ein Menü aus endlosen Steilhängen und atemberaubenden Abfahrten, das Ganze im zarten Dialog mit endlosen Geröllwüsten und scheinbar unbezwingbaren Waldpassagen. Märchenwald, Badewanne, Rolling Stones - diese harmlos anmutenden Streckennamen bringen Motoren zum Kochen, erwachsene Männer zum Weinen und trennen die Spreu vom Weizen, aber ordentlich und dauerhaft! “ PR-Text zum „Mythos Erzbergrodeo“ Kettner 2017 113 4.4 Eventisierung - die Schaffung zusätzlicher Besuchsanlässe <?page no="114"?> 48 | Der Berg ruft - und jedes Jahr kommen 1.500 Enduro-Fahrer aus zahlreichen Ländern, um ihn beim „Red Bull Erzbergrodeo“ zu bezwingen. Bei dem viertägigen Event tragen die Teilnehmer mehrere Wettbewerbe aus. Von den 500 Teilnehmern des abschließenden und besonders anspruchsvollen Rennen („Red Bull Hare Scramble“) erreichen zumeist nur wenige das Ziel. Der Sieg gilt als besonders prestigeträchtig, da keine Preisgelder gezahlt werden. Mit seinem umfangreichen Veranstaltungs- und Begleitprogramm zieht das „Red Bull Erzbergro‐ deo“ jedes Jahr ca. 45.000 Zuschauer an, die durch ihren Konsum erhebliche wirtschaftliche Effekte in der strukturschwachen Region auslösen (während des Events sind die Unterkünfte im Umkreis von 100 Kilometern ausgebucht). Außerdem dient das Sport-Event als wichtiger Imageträger: Zum einen nehmen mehr als 300 Journalisten daran teil und sorgen für eine internationale Medienresonanz. Zum anderen nutzt der Veranstalter klassische und Soziale Medien als Kommunikationskanäle: Im Sender „ServusTV“, der dem Unternehmen „Red Bull“ gehört, findet z. B. eine Live-Übertragung statt und auf den Instagrambzw. Facebook-Seiten hat das „Red Bull Erzbergrodeo“ ca. 30.000 bzw. 195.000 Follower/ Fans (vgl. Katoch 2018). Angesichts dieser großen Bedeutung ist die Veranstaltung im Jahr 2014 von der Österreichi‐ schen Post mit einer Sondermarke gewürdigt worden. Das Tagebaugelände in der Steiermark ist nicht das einzige Areal, das für den Motorsport bzw. für Outdoor-Aktivitäten genutzt wird. Weitere Beispiele sind die Motocross-Rennstrecke Talkessel im Saalekreis (Sachsen-Anhalt), die Offroad-Touren mit Jeeps und Quads bei dem Besucherbergwerk Abraumförderbrücke F60 in Lichterfeld (Brandenburg), der Offroad Park Böser Wolf in Hessen, der mit dem eigenen Geländewagen oder sogar mit gemieteten Panzern befahren werden kann, sowie diverse Baggerparks. Industrie- und Bergbaurelikte als playgrounds für Extremsportler und Abenteuertouristen bzw. als Bühnen für Kultur- und Unterhaltungsveranstaltungen - bei solchen Arten der Eventisierung 114 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="115"?> rückt die widersprüchliche, konfliktgeladene Vergangenheit weitgehend in den Hintergrund und die Standorte werden ausschließlich auf ihre Funktion als spektakuläre Kulissen reduziert. Diese Gefahr einer Enthistorisierung und Dekontextualisierung ehemaliger Industriebetriebe und -landschaften besteht nicht nur bei der temporären Nutzung für Events, sondern speziell auch bei der Konversion - also der dauerhaften Umwandlung in nicht-museale Freizeit- und Tourismuseinrichtungen. 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen Die Musealisierung stellt nur eine Möglichkeit dar, funktionslose Zechen, Fabriken und Lager‐ hallen vor dem Abriss zu bewahren. Angesichts der Fülle an Relikten und der relativ geringen touristischen Nachfrage erweist sich diese Art der Nachnutzung in der Regel auch nicht als ökonomisch tragfähig. Vor diesem Hintergrund streben die Eigentümer zumeist eine anderweitige Verwertung ihrer Liegenschaften an - u. a. als Standorte von Freizeit- und Tourismuseinrichtungen. Abb. 49 Kultureinrichtung Themenpark Kreativquartier Gartenerlebniswelt Freizeit-/ Erholungslandschaft Hotel Industrierelikt/ -landschaft Urban Entertainment District 49 | „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen“ - stillgelegte Industriebetriebe bzw. Tagebaugebiete können auf vielfältige Weise für Freizeit- und Tourismuszwecke genutzt werden. Der Transformationsprozess von einem Industrierelikt zu einer Freizeitbzw. Tourismusattraktion verläuft dabei -idealtypisch - in drei Schritten (vgl. Hernàndez i Martí 2006; Xie 2015a): ■ In der Phase der Territorialization geraten die funktionslosen Fabriken und Areale in den Fokus unterschiedlicher Interessengruppen wie Immobilienunternehmen, Projektentwick‐ lern bzw. Stadtplanern. Sie betrachten die historischen Gebäude und Flächen unter dem Gesichtspunkt einer künftigen renditeorientierten Nutzung - z. B. für die Errichtung von Wohnbauten, die Ansiedlung von Gewerbebetrieben oder den Bau von Hotels. ■ Während der Deterritorialization kommt es zu Konflikten zwischen den Lobbygruppen hinsichtlich einer Neunutzung der Standorte. Aufgrund der kommerziellen Interessen rücken deren lokale Besonderheit und industriegeschichtliche Bedeutung weitgehend in den 115 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen <?page no="116"?> Hintergrund. Stattdessen orientieren sich die Akteure an den Erwartungen der Nachfrager, die dort leben, arbeiten bzw. sich vergnügen wollen. Das industriekulturelle Erbe dient dabei allenfalls als Fundus, um die neuen Einrichtungen durch ein Storytelling emotional aufzuladen oder ihnen ein einzigartiges Flair zu verleihen (z. B. durch ungewöhnliche architektonische Elemente wie Wassertürme, Fassadenteile etc.). ■ Am Ende dieser Entwicklung steht die Reterritorialization: Aus den ehemaligen Industrie‐ arealen sind nun neue Wohnviertel, Shopping-Center, Besucherattraktionen bzw. Kreativ‐ quartiere geworden. In diesem Prozess wird die Erinnerung an die „dunklen“ Dimensionen der Industrialisierung weitgehend ausgeblendet. Vielmehr findet häufig eine Ästhetisierung der Vergangenheit statt, die aus Sicht der Nutzer und Besucher als unkonventionell, skurril und pittoresk wahrgenommen wird (so verzichten die Betreiber teilweise auf eine umfas‐ sende Renovierung, um die morbide Atmosphäre des Verfalls zu erhalten). Konversion in Freizeit- und Tourismuseinrichtungen 50 | Norddeutsche Backsteinarchitektur in Venedig - am Ende des 19. Jahrhunderts ließ der Unternehmer Giovanni Stucky diese imposante Getreidemühle auf der Insel Giudecca errichten. Die Stilllegung der Produktion im Jahr 1955 führte dazu, dass das Gebäude lange Zeit vernachlässigt wurde und zusehends verfiel. Außerdem kam es durch einen Brand zu weiteren Schäden. Nach umfangreichen Renovierungs- und Rekonstruktionsarbeiten wird der historische Bau seit 2007 als Luxushotel genutzt, bei dem nur noch die Fassade an die ursprüngliche Funktion erinnert. Transformierte Industrieareale sind immer hybride Orte, die den Besuchern eine attraktive Mischung aus industrieller Vergangenheit und zeitgemäßen Konsumeinrichtungen bieten. Ihre besondere Atmosphäre verdanken sie zumeist der charakteristischen Architektur. Sie wird von den Betreibern vor allem als starkes visuelles Alleinstellungsmerkmal genutzt, um sich auf dem 116 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="117"?> globalen, zunehmend standardisierten Kultur-, Unterhaltungs- und Freizeitmarkt von anderen Wettbewerbern abzugrenzen. Damit können umgenutzte Industrierelikte für die Städte und Destinationen eine ähnliche Funktion als Imageträger und Besucherattraktionen haben wie spektakuläre Hotels, Museen bzw. Kongresszentren, die in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts als Neubauten errichtet worden sind - vom Burj Al Arab in Dubai (Tom Wright; 1999) über das Jüdische Museum in Berlin (Daniel Libeskind; 2001) bis hin zum Auditorio de Tenerife auf Teneriffa (Santiago Calatrava; 2003). Generell gibt es vielfältige Möglichkeiten einer freizeitbzw. tourismusbezogenen Nutzung stillgelegter Industrieeinrichtungen - wie die folgenden Projekte exemplarisch deutlich machen (vgl. Farrelly 2019 mit zahlreichen europäischen Beispielen): ■ In Köln ist der funktionslose Wasserturm - ein eindrucksvoller Backsteinrundbau - im Jahr 1990 nach Entwürfen der Pariser Designerin Andrée Putman in ein Luxushotel umgewandelt worden. Gegenwärtig wird es unter dem Namen „Wasserturm Hotel Cologne“ von der Hilton-Hotelgruppe betrieben. ■ Die Tate Gallery of Modern Art in London nutzt den Gebäudekomplex der früheren Bankside Power Station - eines Ölkraftwerks, das von 1952 bis 1981 in Betrieb war. Im Jahr 2019 konnte das Museum mehr als sechs Millionen Besucher aus aller Welt verzeichnen. ■ Auf dem Areal und in den Gebäuden eines Schnellen Brüters, die nie in Betrieb war, ist im Jahr 1995 am Niederrhein das Wunderland Kalkar entstanden. Der multifunktionale Freizeit- und Unterhaltungskomplex umfasst einen Familienpark, ein Hotel, ein Messe- und Kongresszentrum sowie Restaurants und Bars. Die Gesamtbesucherzahl in diesen Einrichtungen und bei Events belief sich im Jahr 2019 auf ca. 656.000 Gäste. ■ Der ehemalige Gasometer eines stillgelegten Hüttenwerks im „Landschaftspark Duis‐ burg-Nord“ wird als „Tauchgasometer“ genutzt. Mit einem Durchmesser von 45 Metern und einer Tiefe von 13 Metern gilt er als größte Indoor-Tauchanlage Europas. Zu den besonderen Attraktionen gehören ein künstliches Riff, das Wrack einer Motoryacht und der Rumpf eines Flugzeugs. ■ Zwei ehemalige Gasbehälter in Dresden und Leipzig, die im 19. Jahrhundert in massiver Ziegelbauweise errichtet worden sind, dienen nun als „Panometer“. Dort präsentiert der Künstler Yadegar Asisi eindrucksvolle 360-Grad-Panoramagemälde. Mit diesen Projekten hat er zur Renaissance einer künstlerischen Darstellungsform von Städten, Ländern und Ereignissen (speziell auch Schlachten) beigetragen, deren Wurzeln bis in das 18. Jahrhundert zurückreicht (vgl. Steinecke 2021, S. 68-69). ■ In vielen Fällen werden historische Architekturelemente ausschließlich als ornamentale Versatzstücke benutzt, um neu errichtete kommerzielle Gebäudekomplexe aufzuwerten. Ein Beispiel für diese Pastichebzw. Bricolage-Technik ist die Fassade der großen Shopping Mall Sukcesja [Erbe] im polnischen Łódź, für deren Gestaltung Relikte einer ehemaligen Baum‐ woll-Manufaktur verwendet worden sind (vgl. Kępczyńska-Walczak 2015a, S. 46; Walczak 2005, 2015). „Ob es nun die Umnutzung von Industriedenkmalen für Events ist (Stichwort: Festivalisierung) oder auch ihre reine Vermarktung ohne wirkliche Vermittlungsinhalte (Stichwort: Touristifizierung) - häufig steht hinter diesen Maßnahmen der ‚Inwertsetzung‘ heute eine, wie das Wort schon sagt, reine Verwertungslogik, die zumeist wirtschaftlich, zuweilen aber auch kulturell motiviert ist.“ Meier/ Steiner 2018, S. 25 117 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen <?page no="118"?> 51 | Ein Stadtspaziergang in luftiger Höhe: Seit 2009 gehört die High Line zu den beliebten Sehenswürdigkeiten in New York. Die Parkanlage wurde auf einer ehemaligen Hochbahntrasse für den Güterverkehr angelegt. Jedes Jahr flanieren ca. sieben Millionen Besucher durch diese urbane Gartenlandschaft. Allerdings handelt es sich bei der Umnutzung ehemaliger Industrieflächen für touristische Zwe‐ cke nicht um einen Königsweg - wie das Beispiel der Grube Reden im saarländischen Schiffweiler deutlich macht. Nach dem Willen der Landesregierung sollte sie als „Zukunftsstandort“ erhalten und neu genutzt werden. Damit wurde das primäre Ziel verfolgt, neue Arbeitsplätze zu schaffen und wirtschaftliche Impulse zu initiieren. Im Mittelpunkt der Maßnahmen stand das Erlebnismuseum „Gondwana - Das Prähistorium“, in dem die Themen „Urzeit“ und „Evolutionsgeschichte“ mit Hilfe von riesigen, beweglichen Dinosaurier-Modellen, nachgebauten Landschaften, Animationsshows und einem 3D-Kino ver‐ mittelt wurden. Seit der Eröffnung im Jahr 2008 konnte die privat betriebene Einrichtung die hohen öffentlichen Erwartungen allerdings nicht erfüllen; vielmehr gilt sie als „ein warnendes Beispiel für die häufig unglückliche Verquickung von Industriedenkmalpflege und Investitionen in themenfremde Prestigeprojekte“ (Gawehn 2012, S. 143): ■ So sind die jährlichen Besucherzahlen mit ca. 100.000 Gästen deutlich unter dem prognos‐ tizierten Wert von 200.000 geblieben, der betriebswirtschaftlich erforderlich ist. Selbst die aufwändige Erweiterung der Anlage durch eine zusätzliche Ausstellungshalle konnte nicht zur Verbesserung dieser prekären Situation beigetragen. Dadurch verzeichnet die Region erheblich weniger touristische Einnahmen als erhofft. Auch die direkten Effekte auf den Arbeitsmarkt haben sich als gering erwiesen, denn in der Erlebniswelt werden nur 25 Voll- und 25 Teilzeitarbeitskräfte beschäftigt. 118 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="119"?> ■ Aufgrund der geringen Nachfrage gab es immer wieder Spekulationen über eine bevorstehende Schließung des Themenparks. In diesem Fall würden Steuergelder in erheblicher Höhe ver‐ schwendet, da die notwendigen Infrastrukturmaßnahmen (Verkehrserschließung, Parkplätze etc.) im Jahr 2006 von der Landesregierung mit sechs Millionen Euro unterstützt worden ist; außerdem hat sie sich zur Zahlung von mindestens 44 Millionen Euro für die langfristige Anmietung des Verwaltungsgebäudes verpflichtet, das von Landesbehörden genutzt wird. ■ Darüber hinaus haben die komplizierten Eigentums- und Pachtverhältnisse dazu geführt, dass es bis in die jüngste Zeit zu zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen zwischen dem Betreiber und der landeseigenen Entwicklungsgesellschaft Industriekultur Saar (IKS) gekommen ist - z. B. über ausstehende Zahlungen, nicht erbrachte Leistungen und unzurei‐ chende Bodenverdichtungsmaßnahmen (vgl. Deppen 2020). Konversion in Kreativquartiere 52 | Graffiti statt Garne - zahlreiche Werke von Street Art-Künstlern zieren die Gebäude einer stillgelegten Textilfabrik in Lissabon. Nach der Schließung ist das weitläufige Gelände der „Companhia de Fiaç-o e Tecidos Lisbonense“ von einem privaten Immobilienunternehmen im Jahr 2007 in ein multifunktionales Kreativquartier umgewandelt worden - mit Galerien, Shops, Restaurants und Büros, in denen mehr als 1.500 Menschen arbeiten. Darüber hinaus werden in der „LX Factory“ häufig Live-Konzerte, Ausstellungen, Flohmärkte etc. veranstaltet. 119 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen <?page no="120"?> Für die Umwandlung ehemaliger Industrieareale in neue Kreativquartiere finden sich auf inter‐ nationaler Ebene inzwischen zahlreiche Beispiele - von Lissabon und Linz über Birmingham und Barcelona (El Poblenou) bis hin zu Lille und Łódz ́ (vgl. Noll 2014; Sowińska-Heim 2020). Auch in Deutschland sind die Potenziale ungenutzter historischer Industrie- und Gewerbebauten als kostengünstige Standorte für Start-up-Unternehmen erkannt worden. So hat z. B. im Zeit‐ raum 2013-2019 ein umfangreiches Forschungsvorhaben zur „Niedrigschwelligen Instandsetzung brachliegender Industrieanlagen für die Kreativwirtschaft“ stattgefunden, das von mehreren Bundesministerien finanziert worden ist. Auf der Website finden sich Hinweise auf zahlreiche Modellprojekte. Als überregional bekanntestes Beispiel ist die „Leipziger Baumwollspinnerei“ zu nennen, deren weitläufiges Areal von Ateliers, Werkstätten, Galerien u. a. genutzt wird (vgl. Chilingaryan 2014; ▷ https: / / www.kreative-produktionsstaedte.de/ ). Mit dieser Art der Neunutzung haben die Eigentümer der Immobilien bzw. die Städte auf die wachsende volkswirtschaftliche Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft reagiert, deren Umsatz allein in Deutschland im Zeitraum 2009-2019 von 134,3 auf 174,1 Milliarden Euro gestiegen ist. Kultur- und Kreativwirtschaft: Definition „Unter Kultur- und Kreativwirtschaft werden diejenigen Kultur- und Kreativunternehmen erfasst, welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/ oder medialen Verbreitung von kulturellen/ kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen. Das Wirtschaftsfeld Kultur- und Kreativwirtschaft umfasst folgende elf Kernbranchen oder Teilmärkte: Musikwirtschaft, Buchmarkt, Kunstmarkt, Filmwirtschaft, Rundfunkwirtschaft, Markt für darstellende Künste, Designwirtschaft, Architekturmarkt, Pressemarkt, Werbe‐ markt sowie Software/ GamesIndustrie“ (Söndermann u. a. 2009, S. XI). Zu den Vorreitern der Transformation eines Industrierelikts in ein Kreativquartier gehört der 798 Art District in Beijing. Mit Unterstützung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war auf dem weitläufigen Gelände am Stadtrand der chinesischen Hauptstadt in den 1950er-Jahren ein militärischer Industriekomplex errichtet worden, der 40 Jahre später nicht mehr benötigt wurde und abgerissen werden sollte. In der Phase des Leerstands entdeckten zahlreiche Künstler das Areal und nutzten die leerstehenden Gebäude als Ateliers. Durch eine Ausstellung zeitgenössischer Kunstwerke erzielte das Viertel im Jahr 2003 auch international große Aufmerksamkeit: Von den ca. 750.000 Besuchern kamen mehr als 40 Prozent aus dem Ausland und das US-amerikanische „Times“-Magazin nahm den 798 Art District in seine Liste der weltweit wichtigsten Kreativquartiere auf. Seitdem hat dort eine enorme Kommerzialisierung und Gentrifizierung stattgefunden: Aus dem einstigen Refugium chinesischer Kulturschaffender (u. a. auch des bekannten Künstlers Ai Weiwei) ist ein globalisiertes Kultur-, Freizeit- und Geschäftsviertel geworden (vgl. Yin u. a. 2015, S. 151-154; Guo/ Xiao/ Qi 2018, S. 634; Sepe 2018, S. 161-162): ■ Viele chinesische Künstler mussten ihre Ateliers aufgeben, da sie sich die hohen Mieten nicht leisten konnten, die aufgrund der wachsenden Nachfrage um das 10bis 15-Fache gestiegen sind. Andere produzieren nun nicht mehr Werke, die sich kritisch mit der chinesischen Gesellschaft auseinandersetzen, sondern vielmehr dem Geschmack der westlichen Kunden entsprechen. ■ Nach der Abwanderung der produktiven Kulturszene sind dort mehrere Hundert Galerien, Restaurants, Shops etc. eröffnet worden, die sich häufig im Besitz ausländischer Unterneh‐ men befinden. Mit ca. drei Millionen Besuchern/ Jahr gilt der 798 Art District - neben der 120 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="121"?> Großen Mauer und der Verbotenen Stadt - inzwischen als eine der wichtigsten Sehenswür‐ digkeiten im Reich der Mitte. Darüber hinaus hat er sich zu einem beliebten Treffpunkt der chinesischen bourgeois-bohémien-community (Bobos) entwickelt. ■ Inzwischen nutzen auch mehrere global players den großen Bekanntheitsgrad des Viertels, indem sie in direkter Nachbarschaft Firmenniederlassungen sowie Forschungs- und Ent‐ wicklungsabteilungen angesiedelt haben (Audi, Volkswagen, Canon etc.). 53 | Die Industrieruine als catwalk - das Areal des 798 Art District wird häufig als ungewöhnliche Kulisse für Modeaufnahmen und Fashion Shows genutzt. Eine Vorreiterrolle hatte dabei der italienische Modedesigner Giorgio Armani. Im Sommer 2012 veranstaltete er dort das Event „One Night Only in Beijing“, bei dem er seine neue Herbst- und Winterkollektion präsentierte - speziell für den chinesischen Markt, auf dem er inzwischen ca. 300 eigene Shops betreibt. Konversion in Urban Entertainment Districts Die Umwandlung ehemaliger Industriegebiete in Kreativquartiere (wie z. B. in Lissabon und Beijing) stellt dabei nur eine Möglichkeit der Revitalisierung und Reterritorialization dar. Weitaus häufiger findet eine Konversion in Urban Entertainment Districts statt, bei der die Brachflächen mit einem Mix aus Geschäften, Wohnungen, Büros und Freizeiteinrichtungen bebaut werden. Als Vorbilder dienen dabei die kommerziellen Urban Entertainment Center, die von Projektentwick‐ lungsgesellschaften konzipiert, errichtet und verwaltet werden. Das Angebot dieser großflächigen Gebäudekomplexe besteht aus den drei Schlüsselkomponenten Handel und Merchandising, Food und Beverage, Entertainment und Kultur sowie zusätzlichen Elementen wie Hotels, Tagungs- 121 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen <?page no="122"?> und Kongressräumen, Ausstellungen etc. Bekannte Beispiele sind u. a. die Mall of America in Minneapolis/ St. Paul, das Meadowhall Centre in Sheffield oder das CentrO in Oberhausen (vgl. Steinecke 2011, S. 264). Während die Urban Entertainment Center häufig auf der „Grünen Wiese“ errichtet werden und damit zu einem hohen Flächenverbrauch, einem wachsenden Verkehrsaufkommen und einer Suburbanisierung beitragen, handelt es sich bei den Urban Entertainment Districts um ein stadtplanerisches Instrument der Reurbanisierung: Die neuen Viertel sollen die Attraktivi‐ tät der zentrumsnahen Standorte erhöhen und die Abwanderung von Unternehmen sowie Einwohnern in das Umland stoppen. Dazu sind umfangreiche Sanierungs-, Infrastruktur- und Baumaßnahmen erforderlich, deren Organisation und Finanzierung häufig in Form von Public-Private-Partnerships erfolgt (also einer Mischung aus öffentlicher Förderung und un‐ ternehmerischen Investitionen). Außerdem verfolgen die Städte mit den Urban Entertainment Districts das Ziel, ihre touristische Attraktivität zu steigern. Bevorzugte Lagen sind dabei brachliegende Hafenareale, die aufgrund ihrer exponierten Lage am Wasser ein großes Potenzial als künftige Unterhaltungs-, Wohn- und Gewerbeviertel aufweisen. Bereits seit den 1960er-Jahren sind weltweit zahlreiche Viertel im Rahmen eines Waterfront Development revitalisiert worden (vgl. Cossons 2011, S. 8; Hay 2011, S. 15; Kostopoulo 2013). Projekte Fläche Umnutzung Inner Harbour, Baltimore (Maryland) 13/ 97 Hektar 1960/ 1964 Fisherman’s Wharf/ Pier 39, San Francisco (Kalifornien) 765 Hektar 1963/ 1977 Granville Island, Vancouver 20 Hektar 1970 London Docklands/ Canary Wharf, London 193 Hektar 1981 Darling Harbour, Sydney 54 Hektar 1988 Liverpool Waterfront, Liverpool (Merseyside) 3/ 15 Hektar 1983/ 2004 Dublin Docklands, Dublin 27/ 526 Hektar 1987/ 1997 Victoria & Alfred Waterfront, Kapstadt 123 Hektar 1988 HafenCity, Hamburg 157 Hektar 2008 5 | Waterfront Development: Beispiele - Fläche - Eröffnung Unter funktionalen Gesichtspunkten sind solche Urban Entertainment Districts weitgehend standardisierte und austauschbare Mixed-Use-Center mit einem breiten Spektrum an unterschied‐ lichen Angeboten - von Souvenir- und Einzelhandelsgeschäften über Bistros und (Ketten-)Re‐ staurants bis hin zu Aquarien, Museen und IMAX-Kinos. Ihre spezifische Aura erhalten sie durch einen Rückbezug auf die Geschichte der Hafen- und Industriequartiere, die vor allem 122 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="123"?> mit Hilfe ikonenhafter signature attractions vermittelt wird. Dabei handelt es sich zum einen um historische Gebäude, ungewöhnliche Brücken bzw. historische Schiffe, zum anderen um spektakuläre Neubauten wie z. B. die Elbphilharmonie in der Hamburger HafenCity, die auf einem alten Kaispeicher errichtet worden ist. 54 | Freilichtmuseum? Vergnügungspark? Einkaufsviertel? Mit ihrer Mischung aus historischen Gebäuden wie dem „Old Port Captain’s Building“, mehreren Museen sowie 500 Shops, 80 Restaurants und zwölf Hotels ist die Victoria & Alfred Waterfront in Kapstadt ein typisches Beispiel für einen Urban Entertainment District. Seit seiner Konversion im Jahr 1988 hat sich das Hafengelände zu einer der meistbesuchten Attraktionen in Afrika entwickelt. Durch diese Pastichebzw. Bricolage-Technik, bei der zeitgemäße Konsum- und Unterhaltungsein‐ richtungen mit markanten Relikten der Vergangenheit kombiniert werden, entsteht eine völlig neue Art städtischer Räume, die von Fachleuten und Besuchern unterschiedlich beurteilt werden (vgl. Mengüşoğlu/ Boyacioğlu 2013, S. 131-132; Kaya 2017, S. 215): ■ Kritiker beklagen den pseudo-urbanen und disneyfizierten Charakter der Viertel, in denen die historischen Bauten und Einrichtungen allenfalls als dekontextualisierte Versatzstücke fungieren. Außerdem bemängeln sie die unzureichende Einbeziehung der lokalen Bevöl‐ kerung in den Top-down-Planungsprozess; sie führt dazu, dass deren Interessen kaum berücksichtigt werden (z. B. der Wunsch nach Schaffung von bezahlbarem Wohnraum). ■ Beim (inter-)nationalen Reisepublikum stoßen die Urban Entertainment Districts hingegen auf große Akzeptanz: So verzeichnet z. B. die Fisherman’s Wharf in San Francisco jährlich mehr als 10 Millionen Besucher und rangiert bei TripAdvisor auf Rang 8 von 797 lokalen Aktivitäten. 123 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen <?page no="124"?> Konversion ehemaliger Tagebauregionen in Freizeit- und Erholungslandschaften Weitläufige Brachflächen, gigantische Restlöcher und funktionslose Schaufelradbagger - diese typischen Relikte des Braunkohletagebaus stellen Politiker, Planer und Touristiker vor besondere Herausforderungen, wenn die aufgegebenen Areale als neue Freizeit- und Erholungsräume inwertgesetzt werden sollen. Ein Modellprojekt für diesen Transformationsprozesses war die „Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land“, die im Zeitraum 2000-2010 in der Lausitz (Brandenburg) durchgeführt worden ist. Unter dem Motto „Eine Werkstatt für neue Landschaften“ sind dort zahlreiche Struktur- und Modernisierungsvorhaben initiiert und umgesetzt worden, die im Folgenden erläutert werden sollen. 55 | „Der liegende Eiffelturm der Lausitz“ - mit einer Länge von 502 Metern ist die Abraumförderbrücke F60 in Brandenburg sogar noch knapp 200 Meter länger als das Wahrzeichen der französischen Hauptstadt. Die eindrucksvolle Stahlkonstruktion gilt als eine der größten beweglichen Arbeitsmaschinen der Welt. Nach der Stilllegung des Tagebaus wurde sie in eine Besucherattraktion umgebaut, die jährlich von mehr als 60.000 Tagesausflüglern und Touristen besichtigt wird. Die Region war bereits seit dem 19. Jahrhundert durch die Braunkohleförderung im Tagebau nachhaltig geprägt und verändert worden. Speziell in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hatte die Braunkohle eine wichtige Rolle als Energieträger gespielt und die Lausitz galt als die „industrielle Herzkammer“ des Landes (Müller 2010). Nach der Wiedervereinigung ging die Bedeutung der Braunkohle zurück und zahlreiche Be‐ triebe (Kombinate) wurden stillgelegt - mit dramatischen sozialen und ökologischen Konsequenzen: Jeder vierte Beschäftigte verlor seinen Arbeitsplatz und ein Viertel der Bevölkerung wanderte ab. Zu den hässlichen Hinterlassenschaften des Tagebaus gehörte eine devastierte „Mondlandschaft“. Zentrale Ziele der Bauausstellung waren deshalb die Sanierung, Rekultivierung und Konversion dieses schwierigen industriellen Erbes (vgl. Kuhn 2005): 124 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="125"?> ■ Zum einen ging es um den Erhalt historisch bedeutsamer Industrierelikte; sie sollten als identitätsstiftende Erinnerungsorte für die Bevölkerung bewahrt und als Sehenswürdigkei‐ ten für auswärtige Besucher erschlossen werden. ■ Zum anderen sahen die Planungen vor, die ausgedehnten Restlöcher sukzessive zu fluten. Auf diese Weise soll mittelfristig ein zusammenhängendes Seengebiet mit 14.000 Hektar Wasserfläche entstehen, das für unterschiedliche Zwecken genutzt werden kann (Wasser‐ sport, Wandern/ Radfahren, Naturschutz etc.). ■ Mit Hilfe dieser Maßnahmen sollte die Wirtschaft - vor allem die Tourismusbranche - in der strukturschwachen und dünn besiedelten Region neue Impulse erhalten. Das Gesamtkonzept der Bauausstellung umfasste 30 Einzelprojekte, die sich auf neun Gebiete in der Lausitz verteilten. Diese Landschaftsinseln hatten jeweils einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt; exemplarisch sind zu nennen (vgl. Arnst 2009; Albrecht/ Walther 2017, S. 38-39): ■ die Landschaftsinsel im Raum Großräschen-Senftenberg mit dem Projekt „Industriepark und Gartenstadt Marga“ sowie den IBA-Terrassen - einem Informations- und Besucherzentrum an der einstigen Tagebaukante, das einen Blick auf die neu aufgestaute Seenlandschaft ermöglicht; ■ die Landschaftsinsel zum Thema „Industriekultur“ im Raum Lauchhammer-Klettwitz mit Landmarken wie der Abraumförderbrücke F60, dem Erlebnis-Kraftwerk Plessa und den 24 eindrucksvollen Biotürmen, die zur Aufbereitung von Abwässern bei der Koksproduktion gedient hatten; ■ die Landschaftsinsel „Lausitzer Seenland“ mit einer Kette von Seen, die durch schiffbare Kanäle miteinander verbunden sind, sowie Schwimmenden Häusern und mehreren Aus‐ sichtstürmen (u. a. dem 30 Meter hohen stählernen „Rostigen Nagel“ am Sedlitzer See). Für die Umsetzung der Projekte stand der „Fürst-Pückler-Land GmbH“ ein Budget von 44 Millionen Euro zur Verfügung, das zu 95 Prozent aus Fördermitteln des Landes Brandenburg und der Europäischen Union stammte; den restlichen Anteil trugen die beteiligten Landkreise und Kommunen (zum Vergleich: das Budget der „Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ belief sich auf ca. zwei Milliarden Euro). Um den Prozess der Umgestaltung öffentlichkeitswirksam zu kommunizieren und eine touris‐ tische Nutzung zu initiieren, entwickelte die Bauausstellung ein breites Veranstaltungsprogramm. Neben Ausstellungen, Kunstprojekten, Konzerten, Filmnächten etc. zählten dazu auch: ■ sinnliche Tagebauerkundungen („Canyons, Steppe und Giganten aus Stahl“, „Reise zum Mars“ etc.), ■ Touren in das Seeland („Von der Wüste aufs Wasser“ per Rad, Floß oder Kleinbus), ■ Self-guided- und Bustouren zur Industriekultur („Energie-Route Lausitzer Industriekultur“), ■ Touren in Grenzlandschaften (Bustouren in den deutsch-polnischen Grenzraum), ■ Touren in Kulturlandschaften („Von alten und neuen Kulturorten“). Eine umfassende Erfolgsbilanz der „Internationalen Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land“ erweist sich aufgrund ihres prozessartigen Charakter, aber auch der thematischen Vielfalt der Landschaftsinseln als schwierig. Als positiv werden die Einbeziehung und die Mobilisierung unterschiedlicher Partner aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc. betrachtet, die zu einer hohen Akzeptanz der Maßnahmen und zu einer Überwindung des bisherigen Kirchturmdenkens geführt haben (vgl. Lintz/ Wirth 2015, S. 232). 125 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen <?page no="126"?> Eine nachweisbar positive Wirkung hatte die Bauausstellung auf die regionale Freizeit- und Tourismusbranche: Bereits während der Laufzeit stießen die IBA-Projekte auf großes Interesse und auch in den folgenden Jahren verzeichnete die Region ein deutliches Wachstum der Nachfrage. Gleichwohl wurden die ursprünglichen Erwartungen der Akteure nicht erfüllt (vgl. zebra group/ Project M 2017, S. 12; TVB 2020): ■ So stieg die Zahl der Übernachtungen im Gebiet des Tourismusverbands Lausitzer Seenland (der auch einige sächsische Kommunen als Mitglieder hat) im Zeitraum 2012-2019 von 590.234 auf 834.856. Damit konnte jedoch die Zielgröße von 1,5 Millionen Übernachtungen nicht erreicht werden, die im „Marketingkonzept 2009“ formuliert worden war. ■ Als eine Ursache für diese Soll-/ Ist-Diskrepanz gelten nicht vorhersehbare Rutschungen von Uferflächen an einigen Seen. Sie führten dazu, dass dort ein Betretungsverbot erlassen wurde und die Planungen für die Ansiedlung gewerblicher Unterkunftsbetriebe nicht umgesetzt werden konnten. ■ Generell steht die Destination vor der Herausforderung, nicht nur als Naherholungsgebiet für Tagesausflügler aus Dresden und Berlin zu fungieren, sondern auch Übernachtungsgäste anzusprechen, da diese Zielgruppe weitaus höhere Ausgaben tätigt und damit eine größere Zahl von Arbeitsplätzen schafft. Die „Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land“ ist jedoch nicht das bekannteste Beispiel für die Konversion eines ehemaligen Bergbauareals in eine Freizeit- und Erholungsland‐ schaft. Für weitaus mehr internationale Aufmerksamkeit hat das „Eden-Project“ in Cornwall gesorgt, das im Jahr 2001 auf dem 50 Hektar großen Tagebaugelände einer stillgelegten Kaolin‐ grube eröffnet worden ist. Zu den spektakulären Attraktionen zählt ein Ensemble kuppelförmiger Bauten, die aus einem transparenten Kunststoffmaterial bestehen. Die beiden Hauptgebäude (Biome) sind gegenwärtig die größten Gewächshäuser der Welt; dort werden 5.000 Pflanzensowie einige Tierarten aus mehreren Klima- und Vegetationszonen präsentiert (tropischer Regenwald, subtropisch-trockene sowie mediterrane Ökosysteme) (vgl. Pribyl 2019). Darüber hinaus umfasst das Angebot auch zahlreiche gärtnerisch gestaltete Außenbereiche, Kunstobjekte und Freizeiteinrichtungen - u. a. eine Eisbahn und eine Seilrutsche. Außerdem ver‐ anstaltet das „Eden Project“ regelmäßig Events für unterschiedliche Zielgruppen (Marathonläufe, Konzerte mit bekannten Künstlern etc.). „In the beginning the idea was very simple - let’s take a place of utter dereliction and create life in it.“ Tim Smit (Initiator des „Eden Project“) Pribyl 2019 Mit seiner ungewöhnlichen Form des Ecotainments - also einer unterhaltsamen Vermittlung ökologischer Zusammenhänge - hat sich das „Eden Project“ zu einer populären Sehenswürdigkeit entwickelt, die jährlich von mehr als einer Million Ausflüglern und Touristen besichtigt wird. Angesichts dieses hohen Besucheraufkommens spielt es auch eine bedeutende Rolle als regionaler Wirtschaftsfaktor - wie eine Studie vor einigen Jahren belegen konnte (vgl. Simpson 2006): ■ Allein für den Bau der Anlage wurden Investitionen in Höhe von ca. 141 Millionen Euro getätigt und die jährlichen Ausgaben der Gartenerlebniswelt beliefen sich auf 23,5 Millionen Euro; die Aufträge kamen überwiegend Unternehmen in der Umgebung zugute. ■ Für jeden zweiten Gast war das „Eden Project“ ein wesentlicher Grund für die Reise in das Zielgebiet. Da es sich bei den Besuchern überwiegend um Übernachtungstouristen handelt, 126 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="127"?> profitieren auch Hotels, Restaurants, Einzelhändler etc. von dieser Sehenswürdigkeit (zum anhaltenden Erfolg des Projekts hat sicherlich die Tatsache beigetragen, dass die Kuppeln als Location des James Bond 007-Films „Stirb an einem anderen Tag“ mit Pierce Brosnan genutzt worden sind). ■ Aufgrund der Multiplikatoreffekte wurden die ökonomischen Gesamtwirkungen auf schät‐ zungsweise 153 Millionen Euro/ Jahr beziffert; dieser Wert entsprach ca. 3.000 Vollzeitbe‐ schäftigtenäquivalenten. Durch sein erfolgreiches Engagement für den Artenschutz und die Biodiversität, aber auch seine innovativen Ideen im Tourismus und in der Umwelterziehung hat sich das „Eden Project“ als Vorbild für Besucherattraktionen in anderen Ländern erwiesen: So gibt es u. a. in China, Australien, Costa Rica und der Republik Tschad Planungen für den Bau ähnlicher Attraktionen. 56 | Ein neu geschaffenes Paradies in einer ehemaligen Tagebaugrube - die futuristisch wirkenden Kuppeln des „Eden Project“ in Cornwall beherbergen mehr als 100.000 Pflanzen. In den Gewächshäusern können die Besucher mit allen Sinnen in die Natur eintauchen; zugleich erhalten sie Informationen zur wirtschaftlichen Nutzung und ökologischen Bedeutung der Pflanzen. Zentrales Ziel des Projekts ist es, die Gäste auf abwechslungsreiche Weise zu einem nachhaltigen Handeln anzuregen. Gartenerlebniswelten, künstliche Seenlandschaften, Urban Entertainments Districts, Kreativ‐ quartiere oder Hotels, Panoramen etc. - anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass historische Industrierelikte vielfältige Möglichkeiten einer Konversion in Erholungs- und Tourismuseinrichtun‐ gen bieten. Für die Verantwortlichen in Städten und Regionen ist die Freizeit- und Reisebranche jedoch nicht der einzige potenzielle Partner, um den notwendigen Strukturwandel von einem altindustriel‐ len Standort zu einem zukunftsorientierten Dienstleistungszentrum zu bewältigen - und dabei lokale 127 4.5 Konversion - die Umgestaltung von Industrierelikten und -landschaften in neue Besucherattraktionen <?page no="128"?> Traditionen mit globalen Trends zu verknüpfen. Das Spektrum anderer Akteure, die das bauliche Erbe erhalten und für ihre Zwecke inwertsetzen können, reicht von Hochschulen und Forschungs‐ zentren über Logistik- und IT-Unternehmen bis hin zu Einrichtungen der Gesundheitswirtschaft und Medizintechnik (vgl. Koutský/ Slach/ Boruta 2011; Pipan 2018; Bogumil/ Heinze 2019). Literatur zur Konversion von Industrierelikten und zu den Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen DNK (Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz) (Hrsg.; 2017): Gestern Industrie, heute Denkmal - was nun? Neue Konzepte zur Revitalisierung, Berlin (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz; 87) Anschauliche Dokumentation eines Studentenworkshops, in dem unterschiedliche Ideen für die denkmalgerechte Revitalisierung einer stillgelegten Maschinenfabrik in Metzingen (Baden-Würt‐ temberg) entwickelt worden sind - u. a. als imageprägendes Landmark, multifunktionales Freizeit- und Tagungszentrum bzw. neues Wohn- und Gewerbequartier Mihić, I. G./ Makarun, E. (2017): Policy Learning Guidelines in Industrial Heritage Tourism, Rijeka Praxisorientierte Publikation zu den erforderlichen Maßnahmen bei der Konversion von Indus‐ trierelikten (Restaurierung, Bedarfsanalyse, Präsentation) sowie mit Fallbeispielen aus mehreren europäischen Ländern (frühere bzw. aktuelle Nutzung, Schutzstatus, Besucherzahl, touristisches Potenzial etc.) Tourismus NRW (Hrsg.; 2019): Kulturtourismus. Ein Praxisleitfaden, Düsseldorf Lebendig gestaltetes Handbuch mit zahlreichen Tipps zu einer marktgerechten Nutzung endo‐ gener kultureller Ressourcen, die auch von industrietouristischen Akteuren erfolgreich genutzt werden können (Profilierung, Erlebnisorientierung, digitales Marketing, Vernetzung) Wolf, A. (2005): Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen. Eine Untersuchung zu Erfolgsfaktoren unterschiedlicher Angebotstypen und ausgewählter Einrichtungen in Großbritannien und Deutschland, Paderborn (Paderborner Geographische Studien zu Touris‐ musforschung und Destinationsmanagement; 18) Umfassende Studie mit theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zu dem Thema, zwei empiri‐ schen Fallstudien (Zeche Zollverein in Essen, CargoLifter World in Brandenburg) sowie einem komplexen „Industrial Mindscapes-Modell“, in dem 20 Erfolgsfaktoren - differenziert nach ihrer Bedeutung - zusammengestellt werden vbw (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft) (Hrsg.; 2017): Tourismus und Industrie - gemeinsame Erfolgsfaktoren. Eine vbw Studie, erstellt von der Prognos AG, München Empirische Untersuchung zu der Frage, welche Erfolgsfaktoren von Industrieunternehmen auf das Beherbergungsgewerbe übertragen werden können (Spezialisierung, Individualisierung, Qualitätssicherung, Markenpflege etc.) 128 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen <?page no="129"?> 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“ August Bebel (1840-1913) 57 | Eine zersiedelte Landschaft mit rauchenden Schloten und dampfenden Kraftwerken - Sehnsuchtsorte sehen anders aus. Auf der Weltkarte des internationalen Tourismus waren altindustrielle Regionen deshalb auch lange Zeit Terrae incognitae, für die sich zunächst vor allem Denkmalpfleger, Historiker, Fotografen und Urban Explorers interessiert haben. Das breite Reisepublikum musste (und muss) erst lernen, ihren kulturellen Wert zu erkennen und ihre herbe Schönheit zu bewundern. Tourismus und Industrie - diese Beziehung hat nicht als liebevolle Romanze oder leidenschaftliche Affäre begonnen. Vielmehr handelt es sich eher um eine Vernunftehe, bei der die Partner eigene Interessen verfolgten: ■ Die traditionellen Industriegebiete suchten nach alternativen Einnahmequellen, um die gravierenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Strukturprobleme zu lösen, die durch die Stilllegung von Zechen, Hüttenwerken und Fabriken entstanden waren. ■ Für die Destinationen und die Reisebranche ergab sich durch den Erhalt und die Erschließung von Industrierelikten die Möglichkeit, ihr Produktportfolio zu erweitern und neue Zielgrup‐ pen anzusprechen. ■ Darüber hinaus sind zunehmend auch produzierende Unternehmen als Akteure auf dem Freizeit- und Tourismusmarkt aufgetreten, da er ihnen ungewöhnliche Formen der direkten Kommunikation mit den Konsumenten bietet. Vor diesem Hintergrund ist in den vergangenen vier Jahrzehnten eine Fülle industrietouristischer Einrichtungen und Angebote entstanden - von Industrie- und Firmenmuseen über regionale, <?page no="130"?> nationale und grenzüberschreitende Themenrouten bis hin zu Markenwelten (Brand Lands), Urban Entertainment Districts und Kreativquartieren. Angesichts dieser hybriden Mischung aus öffentlichen und privaten, historischen und neuen Attraktionen ist es unmöglich, ein eindeutiges Resümee zu ziehen, das in gleicher Weise auf alle Typen industrietouristischer Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten zutrifft. Stattdessen soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einige Besonderheiten, Widersprüche und Herausforderungen dieses touristischen Marktsegments festzuhalten. Alleinstellungsmerkmal vs. Zusatznutzen Aufgrund einer unzureichenden statistischen Erfassung lässt sich der Stellenwert des Industrie‐ tourismus auf dem nationalen bzw. internationalen Tourismusmarkt nur schwer bestimmen. Einige Interessengruppen verweisen zwar auf das rasch wachsende Angebot und vor allem auf Leuchtturmprojekte wie die Zeche Zollverein in Essen, die jährlich mehr als 1,5 Millionen Besucher verzeichnet, oder die „Europäische Route der Industriekultur (ERIH)“ - eine Kooperation von mehr als 2.000 Partnern in allen europäischen Ländern. Beim Blick auf die Nachfrageseite wird jedoch deutlich, dass der Industrietourismus einen sehr niedrigen Anteil an allen Urlaubsreisen hat (unter ein Prozent). Außerdem gibt es nur wenige Zielgebiete, die ihr industriekulturelles Erbe konsequent als ein Alleinstellungsmerkmal nutzen - und selbst dort wird es zumeist in Kombination mit anderen Freizeitaktivitäten vermarktet (Radfahren, Wassersport, Events etc.). Abb. 58 Destination Standort Markt kulturelles Erbe produzierende Unternehmen (Firmenmuseen, Werksführungen bzw. Fabrikverkauf) Markenwelten (Brand Lands, Brand Parks) Industrierelikte in situ / Industriemuseen (Exponate, Rundgänge, Präsentationen) Themenrouten zur Industriekultur industriegeschichtliche Erlebniswelten/ -landschaften Ecomuseen Kreativquartiere Urban Entertainment Districts 58 | Ob öffentliche Museen oder privatwirtschaftliche Markenwelten - bei den industrietouristischen Sehenswür‐ digkeiten handelt es sich in der Regel um Ausflugsziele, die allenfalls zu einer Verbreiterung der Produktpalette beitragen. Nur in einigen Regionen stellen sie die Basis der touristischen Entwicklung dar - und nur wenige kommerzielle Einrichtungen treten als autarke Destinationen auf dem Tourismusmarkt auf. 130 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="131"?> Ein Beleg für die geringe Strahlkraft des Themas ist zum einen die Dominanz des Tagesausflugsverkehrs: Im Gegensatz zu Bade-, Wander- und Wintersportdestinationen konnten sich die altindustriellen Re‐ gionen bislang nicht zu Urlaubsreisezielen entwickeln, in denen die Gäste längere Zeit verweilen. Zum anderen sind im Industrietourismus bislang nur wenige multifunktionale Resortanlagen entstanden, die mit ihrem vielfältigen Übernachtungs-, Verpflegungs- und Unterhaltungsangebot als eigenständige Destinationen agieren (z. B. die Autostadt in Wolfsburg, das Wunderland Kalkar am Niederrhein sowie die Urban Entertainment Districts in den USA, Südafrika etc.). Für die Mehrzahl der industriell geprägten Zielgebiete erweist sich der Tourismus also nicht als ein tragfähiger, sondern allenfalls als ein zusätzlicher Wirtschaftszweig. Entsprechend nachrangig ist auch seine regionalwirtschaftliche Bedeutung: So können die Beschäftigungsmöglichkeiten, die in der Freizeit- und Tourismusbranche geschaffen werden, bei weitem nicht die Zahl der Arbeitsplätze ausgleichen, die durch die Stilllegung von Industriebetrieben weggefallen sind. Vor diesem Hintergrund sollte die Rolle des Tourismus im Transformationsprozess realistisch eingeschätzt werden. Obwohl er zu einer Belebung und Identitätsbildung altindustrieller Regionen beiträgt, müssen die Verantwortlichen weitere planerische und politische Instrumente nutzen, um die notwendige Modernisierung voranzutreiben (vgl. Soyez 2016; Harfst/ Sandriester/ Fischer 2021). Denkmäler vs. Mahnmale Der touristische Blick auf Bauwerke, Städte und Landschaften ist selektiv; im Fokus stehen immer das Spektakuläre und das Einzigartige. Eine solche Auswahl lässt sich auch im Industrie‐ tourismus beobachten, denn dort richtet sich das Interesse auf eindrucksvolle Fördergerüste, Schiffshebewerke, Hochöfen etc. Sie werden von den Urlaubern als Symbole menschlicher Krea‐ tivität und Schaffenskraft bewundert (und von den Destinationen als „Highlights“, „Perlen“ oder „Ankerpunkte“ entsprechend präsentiert). Dieses Narrativ ist wesentlich von den gesellschaftlichen Pressure-Groups entwickelt worden, die sich seit den 1970er-Jahren für die Bewahrung von Gebäudekomplexen und Anlagen einge‐ setzt haben. Sie wurden in ihrem Engagement durch die Aufnahme von Industrierelikten in die UNESCO-Welterbeliste unterstützt. Seitdem stehen z. B. die Völklinger Hütte im Saarland und die Zeche Zollverein in Essen auf einer Ebene mit weltweit bekannten Stätten wie dem Mausoleum Taj Mahal (Indien) oder der Tempelanlage Angkor Wat (Kambodscha). Die touristische und kulturpolitische Fokussierung auf besonders bedeutende Sehenswürdig‐ keiten hat jedoch ambivalente Konsequenzen: Zum einen führt die scheuklappenartige Wahr‐ nehmung der Urlauber zu einer ausgeprägten Hierarchie der Besucherattraktionen mit wenigen Besuchermagneten und vielen „Mauerblümchen“. Zum anderen besteht bei einer Konzentration auf die architektonische Bedeutung bzw. die Leistungen von Unternehmern und Ingenieuren die Gefahr, dass die Schattenseiten der Industriellen Revolution vernachlässigt werden - z. B. die Ausbeutung der Arbeitskräfte, aber auch die gravierenden Umweltschäden. „Die umfassende ökologische Verheerung der Landschaften, die von Menschen dort in wenigen Jahrzehnten angerichtet wurde, wird in Zehntausenden von Jahren noch zu spüren sein. […] Das Ruhrgebiet ist das Gestalt gewordene Anthropozän. Es nimmt vorweg, was wir in vielen Gestalten auf dem Planeten zu sehen und zu verwalten bekommen.“ Eilenberger 2021 131 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="132"?> Einige Experten plädieren deshalb für einen Perspektivwechsel in der Erinnerungsarbeit - weg von dem traditionellen Denkmalverständnis und hin zu einer neuen Mahnmalkultur (vgl. Murray 2017, S. 132). Erinnerungsorte vs. Besucherattraktionen Turbinenhallen, Kohlenwäschen und Kokereien - solche Gebäude wurden bei der Errichtung nicht als wertvolles Kulturgut verstanden, das für zukünftige Generationen zu bewahren ist. Vielmehr dienten sie ausschließlich als Funktionsbauten, die für die Verarbeitung von Rohstoffen und die Produktion von Waren erforderlich waren. Durch den Erhalt, die Renovierung und die Erschließung sind sie also aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und in einen neu konstruierten Sinnzusammenhang gestellt worden. In diesem Prozess der Musealisierung und Touristifizierung verändern sich aber der Charakter und die Wahrnehmung der Relikte. Obwohl sie mit dem Anspruch auf Authentizität vermarktet werden, bedarf es umfangreicher infrastruktureller und pädagogischer Maßnahmen, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Aufgrund der baulichen Veränderungen und der Auswahl von Exponaten wird den Besuchern deshalb ein bereinigtes und inszeniertes Bild der Vergangenheit vermittelt. Für die einheimische Bevölkerung (speziell die früheren Beschäftigten) verlieren die Anlagen zunächst ihren Charakter als Stätten widersprüchlicher Erinnerungen - von den harten Arbeits‐ bedingungen über die Solidarität der Belegschaft bis hin zum Trauma der Stilllegung. Erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand werden sie dann zu Identifikationsorten, die rückblickend positive Assoziationen auslösen. Auswärtige Besucher haben in der Regel keinen Zugang zu diesen persönlichen bzw. gemein‐ schaftlichen Erinnerungen (die touristisch auch schwer zu vermitteln sind). Sie betrachten Industrierelikte nur als neue, ungewöhnliche Ausflugs- oder Reiseziele, die ihnen einen informa‐ tiven, abwechslungsreichen bzw. nostalgischen Blick in die Vergangenheit ermöglichen sollen (vgl. Glorius/ Manz 2018, S. 34-36). Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind im Rahmen einer touristischen Erschließung zu berücksichtigen: Bei einer allzu ausgeprägten Ausrichtung auf die Interessen der Gäste besteht die Gefahr, dass Gebäude und Anlagen ihrer historischen Substanz beraubt werden und allenfalls als (letztlich austauschbare) Besucherattraktionen fungieren. Bewahren vs. Erleben Der Erhalt des industriekulturellen Erbes für künftige Generationen - mit diesem vorrangigen Ziel sind die öffentlichen Industriemuseen in den 1970er- und 1980er-Jahren gegründet worden. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen vorrangig wissenschaftliche Tätigkeiten wie das systematische Sammeln und das umfassende Forschen. Die publikumswirksame Präsentation der Exponate und die Wissensvermittlung sind also nur Teilbereiche eines weitaus breiteren Aufgabenspektrums. Angesichts ihrer dauerhaften Finanzierung durch die öffentliche Hand arbeiten sie mit einer anderen zeitlichen und finanziellen Perspektive als privatwirtschaftliche Unternehmen: Zum einen haben ihre Aktivitäten immer eine mittelbzw. langfristige Dimension; zum anderen stehen sie nicht unter dem Zwang, rentabel zu arbeiten bzw. Profite zu erzielen. Mit diesem administrativen, nicht-ökonomischen Ansatz unterscheiden sich Industriemuseen grundlegend von Betrieben der Freizeit- und Tourismusbranche, deren Eigentümer ausschließlich an der gewinnorientierten Nutzung der Industrierelikte interessiert sind. Um konkurrenzfähig zu 132 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="133"?> sein, müssen sie flexibel und pragmatisch auf Veränderungen der Nachfrage reagieren; deshalb planen und handeln sie in kürzeren Zeithorizonten - z. B. der Sommerbzw. Wintersaison oder dem Geschäftsjahr (vgl. Steinecke 2013, S. 33-34). Das Verhältnis zwischen diesen beiden Interessengruppen wurde lange Zeit durch ein mangeln‐ des gegenseitiges Verständnis, eine geringe Dialogbereitschaft und ungeklärte Zuständigkeiten bestimmt. Im Kern ging (und geht es) dabei jedoch um den Gegensatz von Kultur und Kommerz: Sollen historische Industrieeinrichtungen eher öffentliche Informations- und Lernorte sein oder vielmehr als lukrative Erlebnis- und Konsumzentren genutzt werden? Diese Frage nach den Grenzen der touristischen Vermarktung ist weiterhin umstritten. Tou‐ ristiker bemängeln häufig die traditionellen musealen Vermittlungstechniken, die nicht mehr den Edutainment-Ansprüchen speziell jüngerer Besucher entsprechen. Kulturvertreter stehen hingegen einer Anpassung an den Geschmack des breiten Reisepublikums skeptisch gegenüber, da sie eine Disneyfizierung ihrer Einrichtungen befürchten. „Leider hat man es versäumt, aus dieser großartigen Anlage etwas zu machen - die Zurschaustellung rostigen Stahls alleine ist heute einfach nicht gut genug.“ Bewertung der Völklinger Hütte bei TripAdvisor 59 | Mit dem Vierspänner zurück in die Zeit des Goldrausches - statt Exponaten, Vitrinen und Flachware nutzen living museums wie das Sovereign Hill (Ballarat/ Australien) Kutschtouren, Grubenfahrten, Militärparaden etc., um den Besuchern einen Einblick in den Alltag des 19. Jahrhunderts zu geben. Beim Publikum stößt dieses Histotainment auf große Akzeptanz. Aus Sicht von Experten vermitteln solche Heritage-Einrichtungen hingegen ein klischeeartiges und triviales Bild der Vergangenheit. Ein Blick in andere Länder macht zugleich deutlich, dass es erhebliche nationalbzw. kulturspezi‐ fische Unterschiede im Umgang mit dem industriekulturellen Erbe gibt. Speziell im angloamerika‐ nischen Raum setzen die Verantwortlichen häufig Methoden der Animation und Rekonstruktion sowie des Reenactments ein, um ihre Besucher auf anschauliche Weise zu informieren und sie emotional zu berühren (vgl. Baum 2014, S. 56-57; Brezovec u. a. 2018 zur Methode des Storytelling). 133 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="134"?> Materielles vs. immaterielles Erbe Das Brandenburger Tor in Berlin, der Eiffelturm in Paris oder die Tower Bridge in London - diese markanten Gebäude stehen seit langem auf der To-do-Liste von Städtetouristen, da sie mehrere Anforderungen erfüllen, die generell für Sehenswürdigkeiten gelten. Zum einen handelt es sich um charakteristische Bauwerke, die schon früh in Reiseführern als wichtige Sights klassifiziert wurden (und damit einen festen Platz im Pflichtprogramm des bildungsbürgerlichen Reisepublikums eingenommen haben). Zum anderen sind sie von den Tourismusverantwortlichen bewusst in der Öffentlichkeitsarbeit und Werbung als unverwechselbare Imageträger verwendet worden, um sich von anderen Destinationen abzugrenzen. Schließlich wird ihr weltweiter Bekanntheitsgrad durch die Urlauber selbst ständig gesteigert, die ihre persönlichen Reiseerfah‐ rungen in Berichten sowie mit Fotos breit kommunizieren. Auch altindustrielle Regionen nutzen den hohen Wiedererkennungswert ikonenhafter Indust‐ rierelikte und neu errichteter Landmarken als Branding-Instrument. Unter Marketing-Gesichts‐ punkten ist diese Fixierung auf die materiellen Aspekte der Industriekultur durchaus sinnvoll, da sie die Erwartungen der Nachfrager erfüllt, etwas Spektakuläres und Besonderes zu erleben. Sie führt jedoch dazu, dass die sozialen und politischen Dimensionen der Industriekultur, die keine vermarktbaren materiellen Zeugnisse hinterlassen haben, weitgehend ausgeblendet werden - z. B. die Zwangsarbeit und Rüstungsproduktion, aber auch die jüngere Migrationsgeschichte (vgl. Osses 2021). Bei Traditionen, die sich bis in die Gegenwart erhalten haben, beschränkt sich die touristische Inwertsetzung auf wenige Elemente wie die bergmännische Brauchtumspflege, das Brieftauben‐ wesen und die Trinkhallenkultur. Insgesamt entsteht dadurch ein lückenhaftes und verzerrtes Bild der Vergangenheit. Industriedenkmäler sollten künftig in stärkerem Maße dazu genutzt werden, nicht nur die früheren Konstruktionsweisen sowie Produktions- und Lebensbedingungen zu dokumentieren, sondern inhaltliche Bezüge zur postindustriellen Gegenwart herzustellen - z. B. der prekären sozialen Lage von Soloselbstständigen in Deutschland bzw. von Beschäftigten in sweatshops in Ländern der Dritten Welt (vgl. Zimmermann 2020; Rossmeissl 2021). Top-downvs. Bottom-up-Planung Die Initiative zur Bewahrung des industriekulturellen Erbes ging zunächst nicht von den direkt Betroffenen aus. Obwohl die Arbeiter während der großen Kohle-, Werft- und Stahlkrisen massenhaft gegen die geplante Schließung ihrer Betriebe demonstriert haben, standen sie einem späteren Erhalt der nutzlosen Gebäude, einer Musealisierung und einer touristischen Nutzung skeptisch gegenüber. Es waren vor allem externe Experten, urbane Bildungsbürger und (inter-)nationale Lobbygruppen, deren fachliches, zivilgesellschaftliches bzw. kulturpolitisches Engagement zum Erhalt von Industrierelikten geführt hat (bei der „Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park“ stammten z. B. weder der Geschäftsführende Direktor noch die sechs Wissenschaftlichen Direk‐ toren aus dem Ruhrgebiet). Mit dieser rationalen Herangehensweise unterscheidet sich die industriegeschichtliche Erinne‐ rungskultur von spontanen Arten des Gedenkens, die an anderen „dunklen“ Orten zu beobachten sind. So entwickeln sich z. B. die Schauplätze schrecklicher Ereignisse (Unfälle, Terroranschläge etc.) zu Orten privater und öffentlicher Trauerbekundungen, an denen informelle Schreine aus Blumen, Kerzen etc. errichtet werden. Auch bei der späteren Institutionalisierung des Erinnerns 134 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="135"?> in Form von Denkmälern, Informationszentren etc. spielen Familienangehörige sowie Veteranen- und Opferverbände eine zentrale Rolle als Pressure-Groups - z. B. auf Schlachtfeldern sowie in ehemaligen Konzentrationslagern und Foltergefängnissen (vgl. Steinecke 2021, S. 182). Von Wissenschaftlern und Organisationen wird der distanzierte Top-down-Ansatz beim Um‐ gang mit der Industriekultur seit langem kritisiert. Bereits im Jahr 1999 hat das „International Council of Monuments and Sites (ICOMOS)“ in seiner „International Cultural Tourism Charter“ gefordert, die lokale Bevölkerung umfassender in den Planungsprozess zu integrieren. Eine Bottom-up-Planung bietet den Einheimischen die Möglichkeit, ihre eigenen Ideen einzu‐ bringen und Interessen zu vertreten; damit trägt sie wesentlich zur Stärkung des Heimatbewussts‐ eins bei. Außerdem kann durch sie sichergestellt werden, dass ein großer Teil der Einnahmen aus dem Tourismus auch den Standortgemeinden und der lokalen Bevölkerung zugutekommt. Schließlich fördert sie das Verständnis für die hohen öffentlichen Aufwendungen, die zum Erhalt und Betrieb von industrietouristischen Sehenswürdigkeiten erforderlich sind. Bei dieser Vorgehensweise müssen - neben den regionalen Eliten - vor allem auch Angehörige bildungsferner und sozial schwacher Milieus mobilisiert werden, denen bislang wenig Partizipati‐ ons- und Repräsentationschancen geboten worden sind. Andernfalls wird die Industriekultur weiterhin ein exklusives Handlungsfeld bürgerlicher Gruppen sein (vgl. Mansfeld 2018; Berger 2021a). Nostalgie vs. Innovation Von Musterschülern zu Schmuddelkindern - durch den sozioökonomischen Wandel von der In‐ dustriegesellschaft zur Informations- und Wissensgesellschaft sind die einstigen „Herzkammern“ früh industrialisierter Länder zu krisengeplagten Gebieten geworden. Trotz ihrer gravierenden Strukturprobleme verfügten die altindustriellen Regionen jedoch auch über endogene Gunstfakto‐ ren - z. B. die brachliegenden Areale ehemaliger Großbetriebe, die zur Ansiedlung wettbewerbs‐ fähiger Unternehmen bzw. zur Schaffung neuer Wohngebiete genutzt werden konnten. Außerdem gab es einen umfangreichen Bestand an spektakulären Industrierelikten, die vielfäl‐ tige Möglichkeiten einer Konversion boten - nicht zuletzt auch als Besucherattraktionen. Obwohl sich einige dieser Einrichtungen zu populären Ausflugs- und Reisezielen entwickelt haben, birgt das Herausstellen des industriellen Erbes auch Risiken. Schließlich vermitteln leerstehende Fabrikhallen und funktionslose Fördergerüste widersprüchliche Botschaften: Einerseits erinnern sie an eine Periode des Aufbruchs und Wohlstands, andererseits sind sie aber auch Zeugnisse des Niedergangs und Bedeutungsverlustes. Damit besteht die Gefahr, dass sie das Verlierer-Image der Regionen dauerhaft fortschreiben und sich als Hemmschuhe einer Modernisierung erweisen. Statt ständig eine rückwärtsgewandte Nabelschau zu betreiben, sollten vielmehr Signale des Aufbruchs gesetzt werden - so lautet inzwischen die Forderung vieler Verantwortlicher (vgl. Berger/ Golombek/ Wicke 2019, S. 84). Angesichts globaler Veränderungen (Digitalisierung, Klimawandel etc.) stellt sich generell die Frage, ob das Konzept der Industriekultur als eine nachhaltige Leitidee fungieren kann oder nur als ein Zeitgeistphänomen des späten 20. Jahrhunderts zu betrachten ist. „Die Zukunft des Reviers liegt sehr wahrscheinlich ohnehin mehr in seinen Diversitäts-Potenzialen als in seiner industriekulturellen Vergangenheit.“ Heinemann 2021, S. 73 135 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="136"?> 60 | Respektvolle Reminiszenz oder nostalgischer Kitsch? Der Kumpel mit seinem Helm und seiner Grubenlampe ist im Ruhrgebiet längst zu einer Kultfigur geworden. Zahlreiche Städte erinnern mit solchen Ampelmännchen an ihre lange Bergbautradition. Außerdem wird die Figur als Logo auf Merchandising-Produkten wie T-Shirts, Schlüsselanhängern etc. genutzt. Die industrietouristischen Einrichtungen und Destinationen müssen jedoch nicht nur auf solche übergeordneten Entwicklungen reagieren, sondern sich auch auf dem Freizeit- und Reisemarkt gegenüber anderen Wettbewerbern behaupten (zu den direkten Konkurrenten des Ruhrgebiets und des Saarlands zählen z. B. Sachsen und die Metropolregion Mitteldeutschland, die in jüngerer Zeit große Anstrengungen zur Nutzung ihres historischen Erbes unternommen haben) (vgl. Metropolregion 2019; Staatskanzlei 2020). Dabei unterliegen sie (wie Konsumgüter) dem bereits beschriebenen Produktlebenszyklus: Zunächst sorgen sie aufgrund ihres Neuigkeitswerts für große öffentliche Aufmerksamkeit, die jedoch mit zunehmender Marktpräsenz zurückgeht. Um weiterhin das Interesse des Publikums zu wecken, müssen sie ihr Angebot regelmäßig an die steigenden Erwartungen der Gäste anpassen (vgl. Kunzmann 2021). Da die Mehrzahl der kleinen, schlecht ausgestatteten Sehenswürdigkeiten diese Anforderung kaum erfüllen kann, wird sich die bereits bestehende Hierarchie der Besucherattraktionen künftig noch verstärken. Zu den Gewinnern werden - neben wenigen öffentlichen Anbietern - vor allem die Markenwelten finanzstarker Unternehmen zählen, deren erlebnisorientiertes Inszenierungskonzept weniger Wert auf eine sachliche, retrospektive Wissensvermittlung legt als auf eine affektive, visionäre Produktpräsentation. Tourismusvs. Regionalmanagement Von Industriegebieten zu Tourismusdestinationen - um diesen Transformationsprozess einzulei‐ ten, bedarf es großer organisatorischer und finanzieller Anstrengungen. Generell müssen Urlaubs‐ reiseziele ihren Gästen ein umfassendes Angebot an Unterkunfts-, Verpflegungs- und Unterhal‐ tungseinrichtungen bieten. Die altindustriellen Regionen verfügen jedoch zunächst nur über die touristische Basisinfrastruktur, die von Geschäftsreisenden benötigt wird. Darüber hinaus haben die Verantwortlichen keine zielgruppenspezifischen Marktbzw. Marketing-Kenntnisse und bei der Bevölkerung besteht ein gering ausgeprägtes Tourismusbewusstsein (hingegen hat sich in den traditionellen Zielgebieten bereits seit dem 19. Jahrhundert eine Kultur der Gastlichkeit entwickelt). 136 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="137"?> Als weitere Herausforderung erweist sich der Querschnittscharakter des Tourismus: Eine Reise besteht immer aus einer Summe an Einzelleistungen, die von unterschiedlichen Unternehmen bzw. Organisationen erbracht werden. Um den Nachfragern ein breites Spektrum attraktiver Produkte bieten zu können, müssen deshalb zahlreiche Akteure eng miteinander kooperieren. Die notwendige Zusammenarbeit wird jedoch dadurch erschwert, dass Hoteliers, Gastwirte, Busunternehmer, Muse‐ umsvertreter etc. jeweils eigene Ziele verfolgen und teilweise miteinander konkurrieren. Bei dem Ausgleich der divergierenden Interessen, der Formulierung gemeinsamer Strategien und der Entwicklung marktfähiger Angebote spielen die lokalen bzw. regionalen Tourismusor‐ ganisationen eine zentrale Rolle. Für eine erhebliche Professionalisierung haben die (semi-)pri‐ vatwirtschaftlichen Destination Management Organisationen gesorgt, die vielerorts anstelle der traditionellen Verkehrsbzw. Fremdenverkehrsämter gegründet worden sind (Ruhr Tourismus GmbH, Tourismus Zentrale Saarland GmbH etc.). Ihre Tätigkeit basiert auf dem Grundverständ‐ nis, dass Reiseziele nicht Gegenstand von Verwaltungsentscheidungen sein dürfen, sondern als strategische Wettbewerbseinheiten im Incoming-Tourismus geführt werden müssen. Abb. 61 Tourismusorganisation/ Destination Management Company etc. Infrastruktur Gewerbe andere touristische Anbieter industrietouristische Attraktionen Destination natürliche Umwelt politische Umwelt ökonomische Umwelt gesellschaftliche Umwelt Nachfrager/ Märkte Hotels 61 | Das Ganze ist mehr als die Summe aller Teile - das Angebot einer Destination basiert immer auf der Kooperation zwischen Unternehmen der Tourismusbranche sowie Partnern aus anderen Wirtschaftszweigen. Nur durch einen gemeinsamen Marktauftritt und die Nutzung von Netzwerkeffekten ist es möglich, den Wunsch der reiseerfahrenen und anspruchsvollen Touristen des 21. Jahrhunderts nach einem „Produkt aus einer Hand“ erfüllen zu können. Allerdings ist inzwischen deutlich geworden, dass bei einem solchen monosektoralen Ansatz (also einer ausschließlichen Beschränkung auf touristische Belange) potenzielle Synergieeffekte nicht hinreichend genutzt werden. Immer mehr Destination Management Organisationen setzen deshalb auf eine engere Kooperation mit Partnern aus anderen Branchen (Landwirtschaft, Gewerbe, Handwerk etc.), um ihr Image zu verbessern, neue Zielgruppen anzusprechen und höhere Einnahmen zu erzielen. Speziell ländliche Destinationen wie die Eifel, Südtirol etc. haben eigene Gütesiegel für Produkte entwickelt, die in der Region hergestellt werden und hohe Qualitätskriterien erfüllen. Mit ihrem historischen Erbe aus stillgelegten Zechen und Hüttenwerken tun sich die ehema‐ ligen Montangebiete deutlich schwerer, dieses Regionalmarken-Konzept umzusetzen. Dennoch 137 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="138"?> stehen auch sie vor der Herausforderung, ihre Industriegeschichte umfassender als bisher inwert‐ zusetzen - z. B. durch die Wiederbelebung traditioneller Handwerkstechniken, die Förderung innovativer Gewerbebetriebe bzw. die Entwicklung neuer Gebrauchsgegenstände (ReDesign) (vgl. Harfst/ Fischer 2014, S. 25-26; Perfetto/ Vargas-Sánchez/ Presenza 2016, S. 255; Steinecke/ Herntrei 2017, S. 171-173). Quo vadis, Industrietourismus? In den vergangenen vier Jahrzehnten ist es zahlreichen Industrieeinrichtungen und altindustri‐ ellen Regionen gelungen, sich erfolgreich zu neuen Ausflugs- und Reiseziele auf dem Freizeit- und Tourismusmarkt zu entwickeln. In Zukunft wird es allerdings nicht ausreichen, wenn sie künftig nur eine Business-as-usual-Politik betreiben. Vielmehr müssen sie proaktiv und flexibel auf den ständigen Wandel des touristischen und wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umfelds reagieren. Bereits in der jüngeren Vergangenheit hat sich der Tourismus als äußerst dynamischer Wirt‐ schaftszweig erwiesen; wesentliche Veränderungen waren u. a. (vgl. Steinecke/ Herntrei 2017, S. 165; Cantoni 2018): ■ der Marktauftritt zusätzlicher Konkurrenten (auch aus anderen Branchen wie der Konsum‐ güterindustrie), ■ die rasche Verbreitung digitaler Medien als Informations-, Buchungs-, Kommunikations- und Bewertungskanäle, ■ die zunehmende Bedeutung neuer Zielgruppen (Senioren, Digital Natives) und Quellmärkte (China, Indien), ■ der anhaltende Wertewandel (Umwelt- und Sozialbewusstsein, Identitätsdiskussion), ■ die steigenden Ansprüche der Konsumenten (Markttransparenz, Preis-Leistungs-Verhältnis, Sinnsuche). Die industrietouristischen Akteure müssen deshalb große organisatorische und inhaltliche Anstrengungen unternehmen, um ihre Position zu behaupten und ihr Potenzial besser zu nutzen; wichtige Handlungsfelder sind dabei: ■ ein neues Managementverständnis der Destinationen, ■ eine Verknüpfung von Retrospektive und Zukunftsorientierung, ■ eine Erweiterung des Themenspektrums (Multiperspektivität, Diversität), ■ eine umfassende Einbeziehung der Bevölkerung in Planungsvorhaben, ■ eine zeitgemäße, emotional geprägte Gestaltung des Angebots. Zur Bewältigung dieser Aufgaben ist eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Kultur- und den Tourismusvertretern erforderlich, die in der Vergangenheit aufgrund unterschiedlicher Ziele und Arbeitsweisen nicht immer ganz einfach war. Gleichwohl sind in diesem Studienbuch die vielfältigen Chancen deutlich geworden, die sich aus einer engen Kooperation ergeben - von der Verbesserung des Images über eine Steigerung der Besucherzahlen bis hin zur Belebung der regionalen Wirtschaft. Selbst wenn die Partner bei ihrer ersten Begegnung keine „Schmetterlinge im Bauch“ hatten, so konnten beide Seiten doch einen erheblichen Nutzen aus dieser Vernunftehe ziehen. In Zukunft wird es darum gehen, die bisherige Erfolgsgeschichte durch innovative Ideen, gemeinsames Engagement und nachhaltiges Handeln fortzuschreiben. 138 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick <?page no="139"?> Abbildungs- und Tabellennachweis Abbildungen auf der Doppelseite zu Beginn Alle im Buch verwendeten Links waren am 1. Mai 2022 aktiv. „Geisterstädte“: ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ mobili/ 38235750385 „Industrierelikte“: ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Wales_blaenavon_bigpit.jpg; Steinsky „Technische Denkmäler“: ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ poly-image/ 13539616535/ „Architekturikonen“: ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Sayner_Hütte,_Gießhalle,_Westfront. jpg; Rolf Kranz „Orte der Alltagskultur“: ▷ https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Datei: Obermarxloh_Trinkhalle.jpg; Mabit1 „Markenwelten (Brand Lands)“: ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Swarovski_Kristallwelten - / media/ File: Riese.jpg; Swarovski Kristallwelten Porträt Axel Biermann: Ruhr Tourismus GmbH, Oberhausen Abbildungen im Fließtext 1 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: NRW,_Oberhausen,_Gasometer_02.jpg; Островский Александр, Киев 2 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ 141170608@N02/ 44212352272/ 3 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Rorosmartna_20070220.JPG; Hogne 4 | eigener Entwurf auf der Grundlage von Angaben in Fontanari/ Weid (1999, S. 17); Szromek/ Herman (2019, S. 7) 5 | eigener Entwurf nach Angaben in Deinlein (2019, S. 10) 6 | eigener Entwurf nach Angaben in Scherer/ Strauf/ Bieger (2002, S. 41) - ergänzt und modifiziert 7 | eigener Entwurf nach Angaben in Ironbridge Gorge Museum Trust Limited (2020, S. 21) 8 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Wappen_Neumuenster.png; http: / / www.thomas-mohr-sh.d e/ IMAGES/ Logos/ wappen_nms.JPG 9 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ christianwernerzh/ 36305559823 10 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Lodging_House_in_Field_Lane._Wellcome_L0009845.jpg; https : / / wellcomeimages.org/ indexplus/ obf_images/ 34/ db/ df630514b3034f88b768bf14e8f5.jpg 11 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Derelict_shops_on_Church_Road,_Tranmere.JPG; Rept0n 1x 12 | eigener Entwurf nach Angaben in Brandmeyer Markenberatung (2020, S. 10) 13 | eigener Entwurf auf der Grundlage von Angaben in Wirth/ Černič Mali/ Fischer (2012a, S. 21) 14 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ 130448072@N02/ 16962546231 15 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ wbayercom/ 26803186448/ 16 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Bergwerk_Rammelsberg.jpg; Gavailer 17 | eigener Entwurf nach Angaben in RCTCBC (2016, S. 56) 18 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: 18-06-12-Niederfinow_RRK4721.jpg 19 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Category: AEG-Turbinenfabrik? uselang=de - / media/ File: AEG -Turbinenfabrik.jpg; Oana Popa 20 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: NRW,_Essen-Bredeney,_Villa_Hugel.jpg, Островский Ал ександр, Киев <?page no="140"?> 21 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Harold_Grove_LS6_8_July_2017.jpg; Chemical Engineer 22 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ hagdorned/ 26217879915/ 23 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ littlereddaemon/ 7873370214 24 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ v230gh/ 50261850488 25 | eigener Entwurf auf der Grundlage von Angaben in Fontanari/ Weid (1999, S. 17); Szromek/ Herman (2019, S. 7) 26 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ shookphotos/ 4290573728/ 27 | Autostadt Wolfsburg; Mathias Leitzke 28 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ vike/ 5093063473/ 29 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Zeche_Zollverein_abends.jpg; Thomas Wolf 30 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Category: Werksschwimmbad - / media/ File: Werksschwimmba d103605.jpg; Rainer Halama 31 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Ruins_of_Elbasan_Steelworks_"Çeliku_i_Partisë".jpg; Erik Albers; vgl. Schröter (2013) zu den Daten über die ökologischen Schäden 32 | ▷ https: / / commons.m.wikimedia.org/ wiki/ File: Sprengung_Schornstein_Kraftwerk_Knepper.jpg; Hage dorn Unternehmensgruppe 33 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ sergeigussev/ 48022536878 34 | Ruhr Tourismus GmbH, Oberhausen 35 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Bochum_-_Herner_Straße_01_ies.jpg; Frank Vincentz 36 | Regionalverband Ruhr (RVR), Essen 37 | Tourismus Zentrale Saarland GmbH, Saarbrücken 38 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Adolph_Menzel_-_Eisenwalzwerk_-_Google_Art_Project. jpg; pgFVPI1J1YGXZA at Google Cultural Institute 39 | Albrecht Steinecke, Überlingen 40 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Ironbridge_29-7-2017_(37357194651).jpg? uselang=de; Mar‐ tin Pettitt 41 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ mdpettitt/ 37949878815/ 42 | ▷ https: / / live-fts.flickr.com/ photos/ dirkvorderstrasse/ 50580884966 43 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Panometer_Arena_Leipzig_Dachkonstruktion.jpg; Jacek Rużyczka 44 | eigener Entwurf nach Angaben in ZfKf (2011, S. 18) 45 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Kreuz_Duisburg_Still-Leben_Ruhrschnellweg_2010_Bild_ 2.JPG; Oceancetaceen Alice Chodura 46 | eigener Entwurf nach Angaben in Köchling (2021, S. 53) 47 | eigener Entwurf nach Angaben in RTG (2014, S. 5) 48 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Erzbergrodeo_2008.jpg, Christian Pichler 49 | eigener Entwurf 50 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ Category: Molino_Stucky_(Venice) - / media/ File: Molino_Stuc ky_(Venice).jpg; Didier Descouens 51 | Tim Steinecke, Oslo 52 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: LX_Factory_Lisbon_(44353483285).jpg; TJ DeGroat from San Francisco, CA, Los estados unidos 53 | Albrecht Steinecke, Überlingen 54 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ rkilpatrick21/ 6306414375/ 55 | ▷ https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Besucherbergwerk_Abraumförderbrücke_F60 - / media/ Datei: Lichterf eld_EE_09-2015_Foerderbruecke_F60_img6.jpg; A. Savin 56 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ angelganev/ 14785898860/ 140 Abbildungs- und Tabellennachweis <?page no="141"?> 57 | ▷ https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Duisburg_Blick_vom_Hochofen_des_Landschaftsparks_D uisburg-Nord_5.jpg; Zairon 58 | eigener Entwurf nach Angaben in Soyez (2016, S. 56) - ergänzt und modifiziert 59 | ▷ https: / / flickr.com/ photos/ chrisfithall/ 49386529141/ 60 | ▷ https: / / www.flickr.com/ photos/ 40948266@N04/ 45390036062/ 61 | eigener Entwurf nach Angaben in Bieger/ Beritelli (2013, S. 62) - ergänzt und modifiziert Tabellen 1 | eigener Entwurf auf der Basis von Literatur- und Internetrecherchen 2 | eigener Entwurf nach Angaben in TCR (2016, S. 109) sowie auf der Basis von Literatur- und Internetrecherchen 3 | eigener Entwurf auf der Basis von Literatur- und Internetrecherchen 4 | eigener Entwurf nach Angaben in TCR (2016, S. 69) sowie auf der Basis von Internetrecherchen 5 | eigener Entwurf auf der Basis von Literatur- und Internetrecherchen 141 Abbildungs- und Tabellennachweis <?page no="143"?> Literaturverzeichnis Acheson, C. 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Arena am Panometer, Leipzig 106 Armani, Giorgio 121 Arrested Decay 44 Asisi, Yadegar 106, 117 Ästhetisierung der Industrielandschaft 85 Audi Forum, Ingolstadt 68 Authentizität 46 Autostadt, Wolfsburg 21, 25, 67, 69f., 72 Back-to-back-Haus 56 Barrieren einer touristischen Nutzung von Industrierelikten 79 Beamten-, Werks- und Zechensiedlungen 57, 84 Beamtenvereine 64 Bebel, August 129 Becher, Bernd 14, 43 Becher, Hilla 14, 43 Begehrenskonsum 105 Behrens, Peter 53 Bergbau-Adressen (Website) 30 Bergmannskuh 62 Bernhard’sche Spinnerei, Chemnitz-Harthau 53 Besucherbergwerk Abraumförderbrücke F60, Lichterfeld (Brandenburg) 20, 114, 124 Betriebs-, Werksbzw. Fabrikführungen 65 Biermann, Axel 73 Big Pit National Coal Museum, Blaenavon (Wales) 25, 27 Bilbao-Effekt 85 Black Country Living Museum, Dudley (West Midlands) 89 Blists Hill Victorian Town, Ironbridge Gorge Museum (Shropshire) 100 BMW Welt, München 21, 70 Bodie (Kalifornien) 45 Böll, Heinrich 82 Bolzplatzkultur (Ruhrgebiet) 61 Botschafter-Modell 87 Bottom-up-Planung 134 Bourgeois-Bohémien-Community (Bobos) 121 Bramme, Essen 84 Branding/ Markenbildung 28, 83, 85 Brand Lands (Markenwelten) 21f., 99, 136 Besucherzahlen 72 Definition 68 Wettbewerbsvorteile 70 Brandt, Willy 33 Brauchtum 60 Bricolage-/ Pastiche-Technik 117, 123 Briefmarken (mit Industriemotiven) 28, 114 Brieftaubenwesen 61 Brosnan, Pierce 127 bzi. Berliner Zentrum Industriekultur 96 CargoLifter World (Brandenburg) 128 Cartwright, Edmund 32 Central Museum of Firefighting, Mysłowice (Polen) 47 CentrO, Oberhausen 122 Champagner-Effekt von Events 111 Chargesheimer (Fotograf) 82 Cluster (als Form der Netzwerkbildung) 95 Common Lodging-House 34 Community-Based Tourism 103 Computer- und Videospiele (mit urbanen bzw. industriellen Relikten als Schauplätzen) 43 Corporate Architecture 68 Cort, Henry 32 Crespi d’Adda (Provinz Bergamo) 59 Dampfmaschine 32 Dark Tourism 135 Das Geleucht, Moers 86 <?page no="160"?> Deindustrialisierung 36, 74 Dekontextualisierung von Industrierelikten 115 Denkmalradar (Datenbank) 41 Destination Cards 94 Destination Management Organisation 137 Destination of Sustainable Cultural Tourism Awards 89 Deterritorialization 115 Deutscher Tourismuspreis 63 Deutscher Tourismusverband (DTV) 63, 90 Deutsches Bergbau-Museum, Bochum 25, 112 Dickens, Charles 34 Digital Natives 76, 99 Diversität 138 Duisburg-Rheinhausen 43 Ecotainment 126 Eden Project (Cornwall) 126 E-FAITH - European Federation of Associations of Industrial and Technical Heritage 41, 107 Effekte des Industrietourismus 24, 72, 92, 113f., 126 Ehrenamtliche Mitarbeiter 101 Eichendorff, Joseph von 43 Einstein, Albert 38 Eisenbahn (als Motor der Industriellen Revolution) 32 Elbasan (Albanien) 79 Electro Magnetic-Festival, Völklingen 113 Elsass (industriekulturelles Erbe) 19 Emscher Landschaftspark 93 Energiewirtschaft (als touristischer Akteur) 67 Engels, Friedrich 33 Enthistorisierung von Industrierelikten 115 Erfolgsfaktoren industrietouristischer Anbieter Erlebnisorientierung 96 Eventisierung 105 Konversion 115 Literatur 128 Netzwerkbildung 89 Profilierung 82 Erlebnisorientierung 96 Erlebniswelten (industriegeschichtliche) 16, 99 Essener Philharmoniker 59 Europäische Route der Industriekultur (ERIH) 18f., 25, 47, 59, 92, 95, 130 Europäisches Jahr des Industriellen und Technischen Erbes (2015) 107 Europäisches Kulturerbejahr/ European Cultural Heritage Year (ECHY) 19 Europäisches Museum des Jahres 89 Europäische Union (Fördermaßnahmen) 18, 94 Europarat (Kulturroute) 19 European Heritage Awards/ Europa Nostra Awards 89 Eventisierung Merkmale 105 moralisch-ethische Grenzen 75, 113 Probleme 111 Ruhrgebiet 107 Sachsen-Anhalt 20 Event-Marketing 68, 111, 113 ExtraSchicht - Die Nacht der Industriekultur 75, 111 Fabrik-, Betriebsbzw. Werksführungen 65 Fabrik- und Maschinensystem 33, 53 Fagus-Werk, Alfeld 17, 53 Ferienstraßen 90 Ferropolis, Gräfenhainichen (Sachsen-Anhalt) 20 Filmtourismus 43f., 90, 127 Firmen-/ Unternehmensmuseen 66 FLOEZ - Future for Lugau-Oelsnitz-Zwickau 95 Ford, Henry 45 Fordlândia (Brasilien) 45 Forth Bridge (Großbritannien) 52 Friedrich, Caspar David 14, 43 Ganser, Karl 86 Gartenreich Dessau-Wörlitz (Sachsen-Anhalt) 99 Gartenstadtbewegung 57, 59 Gasometer, Oberhausen 13, 93, 112 Gehry, Frank O. 85 Geisterstädte/ Ghost Towns 42 Gentrifizierung 82, 101, 120 Ghost Towns/ Geisterstädte 42 Glaser, Hermann 39 Gondwana - Das Prähistorium, Schiffweiler 118 Goretzka, Leon 61 Grand Tour 64 Grönemeyer, Herbert 7, 109 Gropius, Walter 53 Grube Göttelborn, Quierschied 86 Reden, Schiffweiler 118 160 Stichwörter <?page no="161"?> Guerilla Marketing 87 Guggenheim Museum, Bilbao 85 Gulag (Sowjetunion) 35 Haller, Albrecht von 14 Hargreaves, James 32 Hashima/ Gunkanjima ( Japan) 35, 42, 45 Hauptmann, Gerhart 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 103 Heine, Heinrich 32 Hemmnisse einer touristischen Nutzung von Industrierelikten 74, 79 Henrichshütte, Hattingen 47 Heritage (Merkmale) 16 Hierarchie der Besucherattraktionen 47, 112, 131 Himmelspfeil, Quierschied 86 Historisch-Technisches Museum Peenemünde (Mecklenburg-Vorpommern) 35 Hornonitriansky-Bergbaumuseum, Sebedražie (Slowakei) 98 Howard, Ebenezer 57 Iconic Architecture 85 Identitätsdiskussion 138 Image altindustrieller Regionen 37f., 43, 74 Immaterielles Kulturerbe 39, 62, 134 InduCult 2.0 19 Industrial Heritage Network 41 Industrial Heritage Tourism 21, 63 Industrial Porn 43 Industrial Tourism 21, 63 Industrie.Kultur.Ost 41 Industriearchitektur 53 Industriedörfer 33 Industriekultur Organisationen, Initiativen und Informationsquellen 41 touristische Potenziale 39 Industriekultur. Magazin für Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte 41 Industriekultur Saar (IKS) 119 Industrielandschaften 32, 52 Industrielle Revolution 14, 32 Industriemuseum Animationsmethoden 97 Events 106 Ziele/ Aufgaben 46 Industrietourismus Definition 22 Effekte 24, 72, 92, 113f., 126 Embryonalphase 44 Forschungsstand 23 Initialphase 44 Merkmale/ Zielgruppen 22 Nachfragevolumen 20 Information Overload 87 Informations- und Wissensgesellschaft 36 Initiative Erfurter Kreuz 107 Instagrammability 76, 88, 114 Institut für Museumsforschung, Berlin 47 International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) 41, 135 Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park 83, 103, 134 Internationale Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land 83, 124 Ironbridge Gorge Museum (Shropshire) 20, 26, 99 James Bond 007 Skyfall 42 Stirb an einem anderen Tag 127 Katowice (Polen) 38 Knobbe, Paul 53 Kohleausstiegsgesetz 40 Kohlekraftwerk Gustav Knepper, Dortmund/ Castrop-Rauxel 81 Kojo Moe ( Japan) 66 Kolmannskuppe (Namibia) 45 Kommerzialisierung des immateriellen Kulturerbes 62 Konversion von Industrierelikten 115 Freizeit- und Erholungslandschaften 124 Freizeit- und Tourismuseinrichtungen 116 Kreativquartiere 119 Literatur 128 Urban Entertainment Districts 121 Kreativquartier 119 798 Art District, Beijing (China) 120 Leipziger Baumwollspinnerei 120 LX Factory, Lissabon 119 Kremmer, Martin 14 Krisen in altindustriellen Regionen 36 161 Stichwörter <?page no="162"?> Krupp, Alfred 55 Kultur- und Kreativwirtschaft 120 Kumpel-Mythos 59, 86, 136 KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Bayern) 35 Mittelbau-Dora (Thüringen) 35 KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter 35, 67 Landes, David 31 Landmarken 28, 84, 104, 125 Landschaftspark Duisburg-Nord 93, 103, 117 Landschaftswahrnehmung 13 Land-Stadt-Wanderung 33 Lange Nacht der Industrie 107 Laschet, Armin 59 Latz, Peter 103 Legoland-Park, Günzburg 69 Leipziger Baumwollspinnerei 120 Lenz, Wilhelm 53 Leopold III. Friedrich Franz, Fürst und Herzog von Anhalt-Dessau 99 Les Salines de Guérande (Pays de la Loire) 25 Living Museum 90, 100, 133 Local Heroes (Ruhrgebiet) 109 Lohse, Johann 53 Lord Byron 14 Lost Places 42 Lowell National Historical Park (Massachusetts) 26 LX Factory, Lissabon 119 Markenbildung/ Branding 28, 83, 85 Markenkommunikation 86 Markenloyalität 70 Markenwelten (Brand Lands) 21f., 99, 136 Besucherzahlen 72 Definition 68 Wettbewerbsvorteile 70 Marta - Museum für Kunst, Architektur und Design, Herford 85 Marx, Karl 33 Materielles Kulturerbe 39, 134 Menzel, Adolph von 96 Mercedes-Benz Museum, Stuttgart 70 Merchandising-Produkte 24, 28, 90, 121 Mercouri, Melina 107 Miele-Museum, Gütersloh 67 Milohnic, Daniel 76 Mixed-Use-Center 68 Modelabels (Ruhrgebiet) 60 Modell-/ Mustersiedlungen 57 Möhring, Bruno 15, 53 Molino Stucky, Venedig 116 Multiplikatoreffekte 26, 127 Mund-zu-Mund-Propaganda 70 Museum Industriekultur, Nürnberg 23, 47 Museum of Iron & Enginuity, Ironbridge Gorge Museum (Shropshire) 101 Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development) 23, 51, 103 Nachtzeichen, Gelsenkirchen 84 National Museum Wales 25 Netzwerkbildung industrietouristischer Akteure 74, 89 Netzwerk zu Industriekultur und Tourismus in Europa (NEKTAR) 94 Neumünster (Schleswig-Holstein) 28 New Lanark (South Lanarkshire) 57 Night-time Factory Tourism ( Japan) 66 Oberhausen CentrO 122 Gasometer 13, 93, 104, 112 Neue Mitte 104 Siedlung Eisenheim 16, 57 Opel Live, Rüsselsheim 70 Owen, Robert 58 Panometer Dresden 117 Leipzig 117 Paschke, Dirk 76 Pastiche-/ Bricolage-Technik 117, 123 Pays de la Loire (Frankreich) (Industrietourismus) 25, 72 Peaky Blinders (TV-Serie) 90 Pixelprojekt_Ruhrgebiet (Website) 14 PixxelCult (Website) 14 Playmobil Fun-Park, Zirndorf 69 Pontcysyllte-Aquädukt und Kanal (Großbritannien) 51 Portlaw (Co. Waterford, Republik Irland) 59 Port Sunlight (Merseyside) 59 Pressure-Groups des Industrietourismus 14, 131 162 Stichwörter <?page no="163"?> Produktlebenszyklus industrietouristischer Einrichtungen 50, 136 Prypjat (Ukraine) 45 Public-Private-Partnership 122 Putman, Andrée 117 Qualitätsmanagement 87 Raiffeisen, Friedrich Wilhelm 89 Rammelsberg - Museum & Besucherbergwerk, Goslar 17, 47f. Ravensburger Spieleland, Meckenbeuren 69 Red Bull Erzbergrodeo, Eisenerz (Steiermark) 113 ReDesign 60, 138 Reenactment 16, 101, 133 Regionalmarken 137 Regionalverband Ruhr (RVR), Essen 86, 93, 104 Reterritorialization 116 Reviersteiger. Altbergbau, Untertage, Fotografie (Website) 30 Rhondda Heritage Park (Wales) 50, 81 Rhyolite (Nevada) 45 Røros (Norwegen) 18 Route der Industriekultur (Ruhrgebiet) 55, 57, 92, 107 RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas 107 Ruhr.Fußball (Projekt) 63 Ruhr Games 104 Ruhr Museum, Essen 47 Ruhr Tourismus GmbH, Oberhausen 63, 73, 86, 111, 137 Ruhrtriennale 75, 111 Ruinenromantik 43 Rüstungsproduktion 34, 94 RWE-Meteorit, Essen 70 Saarland Card 95 Saarpolygon, Ensdorf 86 Saltaire (West Yorkshire) 59 Salzbergwerk Dürrnberg, Hallein 64 Salzbergwerke in Wieliczka und Bochnia (Polen) 17, 20 Sayner Hütte, Bendorf 53 SchachtZeichen (Ruhrgebiet) 108 Schiffshebewerk Canal du Centre (Belgien) 52 Henrichenburg, Waltrop 98 Niederfinow (Brandenburg) 51 Schlafgänger 33 Schlotbarone 54 Schokoladenmuseum Lindt, Köln 71 Schupp, Fritz 14 Schweiz (als Zusatzbezeichnung von Regionen) 20 Scott, Ridley 66 Selektiver Blick der Touristen 93, 131 Self-guided-Touren 53, 90, 125 Sendung mit der Maus 66 Serra, Richard 84 ServiceQualität Deutschland 87 Shanghai (Industrietourismus) 72 Sheddächer 53 SHIFT-X. Employing cultural heritage as promoter in the economic and social transition of old-industrial regions 19 Siedlung Alte Kolonie Eving, Dortmund 57 Alt-Siedlung Friedrich-Heinrich, Kamp-Lintfort 57 Eisenheim, Oberhausen 16, 57 Margarethenhöhe, Essen 57 Margarethensiedlung, Duisburg 57 Schüngelberg, Gelsenkirchen 57, 84 Teutoburgia, Herne 57 Signature Attractions 123 ! Sing - Day of Song (Ruhrgebiet) 109 Sinngesellschaft 105 Smit, Tim 126 Sonnenuhr, Castrop-Rauxel 84 Sovereign Hill, Ballarat (Victoria/ Australien) 102, 133 Spaß- und Erlebnisgesellschaft 105 Spinning Jenny 32 Steigerlied 59 Stephenson, George 32 Still-Leben Ruhrschnellweg (Ruhrgebiet) 108 Stilllegungstrauma 80 Storytelling 97, 116, 133 Stucky, Giovanni 116 Sukcesja, Łódź (Polen) 117 Swarovski Kristallwelten, Wattens bei Innsbruck 21, 70 Tag der Brieftaube 62 163 Stichwörter <?page no="164"?> der Industriekultur 107 der Offenen Tür 107 der Trinkhallen 63, 75 Tate Gallery of Modern Art, London 117 Taubenvatta-Denkmal, Castrop-Rauxel 62 Tauchgasometer, Duisburg 103, 117 Technik Museum Sinsheim (Baden-Württemberg) 47 Territorialization 115 Testimonials 87 Tetraeder, Bottrop 84 The Henry Ford - Museum, Greenfield Village & Rouge Factory, Dearborn (Michigan) 97 The House of Villeroy & Boch, Mettlach 69 The International Committee for the Conservation of the Industrial Heritage (TICCIH) 41 Themenjahre zur Industriekultur 107 Themenrouten 90 Beispiele 92 Literatur und Informationsquellen 95 Qualitätskriterien 90 The Ritz-Carlton, Wolfsburg 72 Tiger and Turtle - Magic Mountain, Duisburg 85 Top-down-Planung 123, 134 Tourismusverband Lausitzer Seenland, Senftenberg 126 Tourismuszentrale Saarland GmbH, Saarbrücken 137 Trans Europe Halles 41 Trinkhallen (Ruhrgebiet) 61 Trivialisierung des immateriellen Kulturerbes 62 Tschernobyl (Ukraine) 45 Turner, William 14 Uhland, Ludwig 31 Umweltverschmutzung/ -zerstörung 33, 97, 124, 131 UNESCO-Welterbeliste Bedeutung für den Tourismus 17 deutsche Industrie- und Technikobjekte 17 Ruhrgebiet/ Kritik 74, 80 technische Denkmäler 52 Unternehmens-/ Firmenmuseen 66 Unternehmervillen 54 Urban Entertainment Center 121 Urban Entertainment Districts 121 Urban Explorers 44 Vereinswesen 61 Vernetzung industrietouristischer Akteure 89 Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes von Nordrhein-Westfalen 61 Victoria & Alfred Waterfront, Kapstadt 123 Villa Hügel, Essen 55f. Vitra Design Museum, Weil am Rhein 69 Völklinger Hütte, Völklingen 17, 20, 26, 28, 31, 35, 133 Waldviertler Textilstraße (Österreich) 94 Walt Disney Company 105 Wasserpumpwerk, Guntersblum 53 Wasserturm Hotel Cologne, Köln 117 Waterfront Development 122 Watt, James 32 Wege zur Europäischen Industriekultur (WEIKU) 94 Weiwei, Ai 120 Werks-, Fabrikbzw. Betriebsführungen 65 Werks-, Zechen- und Beamtensiedlungen 57, 84 Wow-Effekt 72 Wunderland Kalkar (Niederrhein) 117, 131 Zeche Carl, Altenessen 16 Zollern II/ IV, Dortmund 15, 47, 53 Zollverein, Essen 17, 20, 23, 27f., 73, 93, 99, 106f., 111f., 128 Zechen-, Werks- und Beamtensiedlungen 57, 84 Zeitzeugen-Konzept 97 Zille, Heinrich 56 Zusatznutzen 87 Zuschussbedarf industrietouristischer Einrichtungen 25, 93 Zwangsarbeit 16, 34, 67, 94, 113 164 Stichwörter <?page no="165"?> BUCHTIPP Axel Dreyer Reisen zum Wein Weintourismus zwischen Reben, Vinotheken und Kultur 1. Auflage 2021, 177 Seiten €[D] 29,00 ISBN 978-3-7398-3125-1 eISBN 978-3-7398-8125-6 Weintourismus zwischen Reben, Vinotheken und Kultur Axel Dreyer stellt Weinregionen aus Deutschland und aller Welt vor und geht dabei auf die Besonderheiten dieser Destinationen ein. Zudem zeigt er, welche Eigenschaften Weintourist: innen ausmachen und wo neue Zielgruppen liegen. Elemente eines erfolgreichen Marketings erläutert er: Dazu zählen Werkzeuge der Kundengewinnung und -bindung sowie die Gestaltung attraktiver Angebote und Reiseerlebnisse. Auf die Erfolgsfaktor attraktiver Weingüter und Weinregionen geht er außerdem ein: Etwa Vinotheken, Keller- und Weinbergführungen sowie nicht zuletzt auch Verkostungen, Hoffeste und Weinhotels. Was genau hinter Weinerlebniswelten steckt und wie Weingüter durch architektonische Highlights auf sich aufmerksam machen können, zeigt er anhand illustrierter Beispiele. Ein unverzichtbare Lektüre für Winzer: innen und Destinationsmanager: innen. Auch für die Tourismuswissenschaft ein umfassendes Nachschlagewerk. UVK Verlag - Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="166"?> BUCHTIPP Bernd Eisenstein, Jule Kampen, Rebekka Weis, Julian Reif, Christian Eilzer (Hrsg.) Tourismusatlas Deutschland 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021, 242 Seiten €[D] 59,00 ISBN 978-3-7398-3042-1 eISBN 978-3-7398-8042-6 Kommen Sie mit auf eine spannende Reise zu attraktiven Reisezielen in Deutschland und seinen Regionen. Die deutschen Küsten, Berge und Städte werden jährlich von Millionen von Touristinnen und Touristen besucht. Doch welche touristische Position hat Deutschland im globalen Vergleich, wie ist das Reiseverhalten der Deutschen und wie gestalten sich das Angebot sowie die touristische Infrastruktur? Antworten geben die Expertinnen und Experten des Deutschen Instituts für Tourismusforschung (DITF) der FH Westküste in der zweiten, aktualisierten und deutlich erweiterten Auflage des Tourismusatlas Deutschland. Der Atlas enthält Beiträge von Daniela Aidley, Christian Antz, Julius Arnegger, Melanie Belitz, Olav Clemens, Christian Eilzer, Bernd Eisenstein, Sonja Göttel, Tim Gruchmann, Tim Harms, Eric Horster, Joelle Hupke, Jule Kampen, Anne Köchling, Manon Krüger, Sven Krüßel, Sylvia Müller, Torsten Nissen, Julian Reif, Axel Salzmann, Dirk Schmücker, Sabrina Seeler, Frank Simoneit, Patricia Thaden, Rebekka Weis, Anja Wollesen. Mit zahlreichen Infografiken von Georg Scheibe. UVK Verlag. Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="167"?> ISBN 978-3-7398-3034-6 ISBN 978-3-7398-3190-9 www.uvk.de Vom Industrierelikt zum Tourismusmagnet Es müssen nicht immer Berge oder Strände sein. Auch Industrielandschaften, Zechen oder Fabrikhallen haben touristisches Potenzial, wie Albrecht Steinecke in diesem Band zum Industrietourismus zeigt. Dabei geht er auf die Merkmale und Besonderheiten dieses jungen Tourismussegments ein und skizziert im Detail dessen Bedeutung, etwa für strukturschwache Regionen. Zudem zeigt er Erfolgsfaktoren, Marketingstrategien und Zukunftsperspektiven auf. Eine spannende Lektüre für Destinationsmanager: innen und für Verantwortliche in historischen Industriedenkmälern. Für Studierende und Lehrende an Tourismushochschulen bietet das Buch viele Impulse. Aus dem Inhalt: 1 Tourismus und Industrie - eine Liebe auf den zweiten Blick? 2 Die Industriekultur als touristische Ressource: Potenziale - Erschließung - Attraktionen 3 Das Destinationsmanagement altindustrieller Regionen: Erfahrungen eines Praktikers 4 Die Erfolgsfaktoren industrietouristischer Einrichtungen und Destinationen 5 Tourismus und Industrie: Fazit und Ausblick Nach dem Studium in Kiel und Dublin war Prof. Dr. Dr. h. c. (BSU) Albrecht Steinecke zunächst Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin und der Universität Bielefeld. Zu den weiteren beruflichen Stationen zählten die langjährige Tätigkeit als Geschäftsführer des Europäischen Tourismus Instituts (Trier) und als Hochschullehrer an der Universität Paderborn. Auf der Grundlage seiner Forschungs- und Beratungserfahrungen hat er zahlreiche, teilweise preisgekrönte Studienbücher zu aktuellen touristischen Themen verfasst.