Öffentlichkeit als Waffe
Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags in Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
0513
2024
978-3-7398-8203-1
978-3-7398-3203-6
UVK Verlag
Jan Siegemund
10.24053/9783739882031
Schmähende Schriften stellten in der Frühen Neuzeit ein nahezu allgegenwärtiges Instrument des Konfliktaustrags dar. Sie kamen in vielfältigen Formen und unterschiedlichsten Situationen zum Einsatz: In persönlichen Nachbarschaftsstreitigkeiten, als Mittel des Protests und der Obrigkeitskritik oder in territorialpolitischen Großkonfliktlagen. Da die Herabsetzung durch libelli famosi stets publikumsbezogen inszeniert wurde, bietet die Analyse von Schmähschriftenkonflikten nicht nur einen Einblick in vormoderne Streitkulturen, sondern auch einen Zugang zu Strukturen und Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit.
Auf der Grundlage von Kriminalakten erstellte, mikrohistorische Fallstudien zeigen, wie Schmähschriften eingesetzt und verbreitet wurden, welche Effekte sie zeitigten und wie Betroffene sich gegen die oft anonymen, öffentlichkeitswirksamen Angriffe zur Wehr setzten. Die Studie verdeutlicht den Sonderstatus der Schriften im Repertoire der damaligen Mittel eines ehrbezogenen Konfliktaustrags, der bedingt war durch eine neuartige Öffentlichkeitssensibilität am Beginn der Frühen Neuzeit, und verweist auf die Existenz einer öffentlichen Meinung avant la lettre.
Jan Siegemund Öffentlichkeit als Waffe Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags in Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Öffentlichkeit als Waffe Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven Herausgegeben von Carola Dietze · Joachim Eibach · Mark Häberlein Gabriele Lingelbach · Ulrike Ludwig · Dirk Schumann · Gerd Schwerhoff Band 41 Wissenschaftlicher Beirat: Norbert Finzsch · Iris Gareis Silke Göttsch · Wilfried Nippel · Gabriela Signori · Reinhard Wendt Jan Siegemund Öffentlichkeit als Waffe Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags in Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783739882031 © UVK Verlag 2024 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 1437-6083 ISBN 978-3-7398-3203-6 (Print) ISBN 978-3-7398-8203-1 (ePDF) ISBN 978-3-7398-0613-6 (ePub) Einbandmotiv: „Von Schmähungen mit Schrifften“, aus: Joos de Damhouder, Praxis rerum criminalium Gründlicher Bericht und anweisung […], Frankfurt am Main 1565 [VD16 D61], fol. 248 v . Digitalisat der Universitätsbibliothek Heidelberg, CC PDM 1.0 DEED. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderfor‐ schungsbereichs 1285 ‚Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung‘ an der TU Dresden. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Meiner Familie ist dieses Buch gewidmet. 13 15 1 17 1.1 18 1.2 24 1.3 28 1.4 31 2 37 2.1 37 2.2 40 2.3 44 2.3.1 45 2.3.2 61 3 67 3.1 67 3.2 70 3.3 73 4 79 5 85 5.1 86 5.2 88 5.3 93 Inhalt Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vielfalt des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmähschriften in der Ehr- und Konfliktforschung . . . . . . . . Schmähschriften in der Öffentlichkeitsforschung . . . . . . . . . . Arbeitsdefinition und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . Invektivität als Leitperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehre in der frühneuzeitlichen Streitkultur . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit . . . . . . . . . . Öffentlichkeit als Kommunikationsnetz: Öffentliche Orte und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentlichkeit als gesellschaftliche Instanz . . . . . . . . . . Methodisches: Die Logik der Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praxeologisch-mikrohistorische Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Überlieferungssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl der Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Kontext: Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Behandlung von Schmähschriften in Rechtstexten . . . . . . . . . . . . . . Mittelalterliche Beichtsummen, Land- und Stadtrechte . . . . . . Reichsgesetzgebung am Beginn der Frühen Neuzeit . . . . . . . . Kursächsische Bestimmungen im 16.-Jahrhundert . . . . . . . . . . 6 97 6.1 99 6.2 105 6.3 109 6.3.1 109 6.3.2 112 6.3.3 115 6.4 118 6.4.1 118 6.4.2 122 6.5 127 6.5.1 127 6.5.2 131 6.5.3 134 6.6 136 7 139 7.1 140 7.1.1 140 7.1.2 143 7.2 150 7.2.1 151 7.2.2 151 7.2.3 160 7.2.4 164 7.3 170 7.3.1 170 7.3.2 174 7.4 183 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften in der frühneuzeitlichen Stadt. Zwei anonyme Pasquille in Leipzig (1588) . . . . Der Inhalt der Leipziger Pasquille und die Effekte des Komischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Verhältnis von Pasquillen und Rügebräuchen . . . . . . . . . Kontextualisierung der Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betroffene Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intentionen des Pasquillanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Obrigkeitliches Interesse und strafrechtliche Konsequenzen Einleitung des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Untersuchung durch das Stadtgericht . . . . . . . . . . . Schmähschriftenkommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg des ‚Männerpasquills‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handschriftliche Schmähschriftenkommunikation . . . Mündliche Schmähschriftenkommunikation . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmähschriften als weapons of the weak und die Bedeutung mündlicher Kommunikation. Die Scheltbriefe des Andreas Langener in Dresden (1569) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Schmähschriften im Konfliktverlauf . . . . . . . . . . Eine asymmetrischen Konfliktkonstellation - die Akteure Langener und Pflugk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Konfliktverlauf und Langeners Schmähschriften als weapons of the weak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußerliche Eigenschaften der Schriften . . . . . . . . . . . . . Die Nutzung öffentlicher Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechanismen der Identifizierung als Schmähschrift . . „das gerücht tödt den man“ - Gerüchte im Fall Langener Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess . . . . . . . . . . . „Ein Appell an die Interessen des Gemeinwesens“ . . . . Konfligierende Sichtweisen und der Gemeine Nutzen . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt 8 187 8.1 190 8.2 193 8.2.1 193 8.2.2 208 8.2.3 218 8.3 220 8.3.1 221 8.3.2 223 8.3.3 228 8.3.4 231 8.3.5 234 8.4 236 8.4.1 236 8.4.2 238 8.4.3 244 8.5 246 8.6 249 9 253 9.1 258 9.1.1 258 9.1.2 260 9.2 266 9.2.1 266 9.2.2 271 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus. Ein Pasquillus gegen den Zwickauer Stadtrat (1599) . . . . Schmähschriften als Mittel der Obrigkeitskritik . . . . . . . . . . . . Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf . . . . . . . . . . . . . . . Muster der Eskalation - vom Zweiparteienprozess zur öffentlichen Infragestellung des Stadtregiments . . . . . . Das Erscheinen des Pasquillus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Instrument des Konfliktaustrags mit Sonderstatus - der Pasquillus als Kippmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußerliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmähung von Einzelpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adressatenkreise und intendierte Öffentlichkeit . . . . . Gegen den Rat - die Schmähschrift als Angriff und Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komik und Obrigkeitskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe für die Wirkung des Pasquillus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themen städtischer Unruhen in der Frühen Neuzeit . . Die ‚Krise‘ um 1600 und die Situation in Zwickau . . . . Der Pasquillus als individuelles Protestmedium oder Ausdruck kollektiven Unbehagens? . . . . . . . . . . . . . . . . Die Haltung der Landesherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft. Eine Schmähschriftenkampagne in der Grafschaft Mansfeld (1590/ 91) . . . . . Die Schmähschriftenkampagne in Artern . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Setting: die Stadt Artern in der Grafschaft Mansfeld Die Ereignisse der Jahre 1590 und 1591 im Überblick . Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verschuldung der Grafen von Mansfeld und die Sequestration ihrer Grafschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reformierte Konfessionalisierung und Streit um die Superintendentur in Eisleben 1590 . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 9.3 283 9.3.1 283 9.3.2 295 9.4 300 9.5 306 9.5.1 306 9.5.2 311 9.5.3 318 9.5.4 322 9.5.5 327 9.6 331 9.6.1 332 9.6.2 335 9.6.3 337 9.7 341 10 345 10.1 345 10.2 348 10.3 348 353 1. 353 2 355 2.1 355 2.2 357 2.3 357 2.4 361 2.5 366 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und reformierter Konfessionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Colloquium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die übrigen Schmähschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Anschlusskommunikation: Öffentlichkeit als Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und involvierte Personen . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Die Arbeit eines semiprofessionellen Pasquillanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zugriff auf die Verdächtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befürchtungen der Landesherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod Christians I. - vorläufiges Ende und Richtungswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative Lesarten - quellenkritische Betrachtung . . . . . . . Sollbruchstellen in der Rekonstruktion der Ereignisse Die Verschwörung als Gegendarstellung . . . . . . . . . . . . „Der Richter und der Historiker“ - quellenkritische Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung von Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmähschriften als Ausdruck einer öffentlichen Meinung? . Schmähschriften und frühneuzeitliche Öffentlichkeit . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht über die Akten mit Schmähschriftenbezug im Sächsischen Hauptstaatsarchiv bis 1600 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transkriptionen der behandelten Schmähschriften . . . . . . . . . Frauenpasquill, Leipzig 1588 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männerpasquill, Leipzig 1588 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheltbrief des Andreas Langener, Dresden 1569 . . . . . Pasquillus des Johann Offneyer, Zwickau 1599 . . . . . . . Das „letzte Lied von Artern“, Artern um 1590 . . . . . . . . 10 Inhalt 2.6 371 2.7 375 2.8 385 2.9 386 2.10 387 389 389 391 393 394 423 Das „Liedt vom Radt zu artthern“, Artern um 1590 . . . Colloquium, Artern 1590 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zettel I, Artern 1590 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zettel II, Artern 1590 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zettel III, Artern 1590 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quelleneditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 11 Abkürzungsverzeichnis * Eigene Paginierung ADB Allgemeine Deutsche Biographie DWB Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/ 23, URL: <https: / / www.woerterb uchnetz.de/ DWB> EDN Ezyklopädie der Neuzeit GuG Geschichte und Gesellschaft HStD Hauptstaatsarchiv Dresden HZ Historische Zeitschrift LaSA Landesarchiv Sachsen-Anhalt NDB Neue Deutsche Biographie Pfarrerbuch Verein für Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen e. V. (Hg.): Pfarrerbuch der Kirchen‐ provinz Sachsen, Bd.-1-10, Leipzig 2003-2009 RAW Ratsarchiv Wittenberg StadtAD Stadtarchiv Dresden StadtAL Stadtarchiv Leipzig StC Staatsarchiv Chemnitz ZHF Zeitschrift für Historische Forschung - - Danksagung Wie alle umfangreicheren Arbeiten lässt sich auch eine Dissertation nur gut bewältigen, wenn man sie in einem günstigen Umfeld, professionell wie privat, in Angriff nehmen kann. Ich kann mich glücklich schätzen, dass dies bei mir der Fall war. Die vorliegende Arbeit wurde im Januar 2022 als Dissertation zur Erlan‐ gung des Doktorgrades (Dr. phil.) an der Technischen Universität Dresden eingereicht und für den Druck überarbeitet. Entstanden ist sie ebendort am Sonderforschungsbereich 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ und somit in einem Rahmen, den ich rückblickend nur als privilegiert bezeichnen kann. Der erste Dank gilt Gerd Schwerhoff, der die Arbeit in einer gelungenen Mischung aus Freiraum beim Entwurf eigener Ideen und Unterstützung bei der Entwicklung selbiger betreut hat, sowie Alex Kästner, der mir auch bei kurzfristig(st)en Anfragen immer mit Rat zur Seite stand. Ich bin froh darüber, dass aus dem professionellen Verhältnis bald auch ein freundschaftliches wurde. Gleiches gilt für meine SFB-Kolleg: innen: Stefan Beckert, Philipp Buchallik, Gabriel Deinzer, Ludovica Sasso, Katja Schulze, Franziska Teckentrup, Wiebke Voigt und die Fußballmannschaft „Zwietracht Falkenbrunnen“. Ulrike Ludwig sei nicht nur dafür gedankt, dass sie das Zweitgutachten übernommen hat, sondern auch für die pointierte und konstruktive Kritik, welche die Arbeit wesentlich verbessert hat. Hiram Kümper ist der Grund dafür, dass ich den Weg in die Wissenschaft einschlagen konnte, hierfür und für seine Unterstützung seit nunmehr zehn Jahren bin ich sehr dankbar. Mit Benny Seebröker und Max Rose wusste ich nicht nur zwei ausgezeichnete Frühneuzeitler, sondern auch gute Freunde an meiner Seite. Ohne Freund: innen und Familie wäre dieses Buch sicher nicht entstanden, auch bei ihnen möchte ich mich bedanken: bei Lisa dafür, dass sie sich alles anhört und mir immer wieder auf die Beine hilft; bei Dani, Sascha, Melanie und Lukas weil sie mich schon so lange treu begleiten; bei Kaddi für ihr bedingungsloses Wohlwollen; bei Michael für sein Verständnis und das ein oder andere Doppelbock. Besonderen Dank verdienen meine Eltern Kerstin und Uwe, die alle Grundlagen gelegt und es mir ermöglicht haben, bis hierher zu kommen, meine Schwester Anna, die immer an mich glaubt, und Franzi, die mir Halt gibt und mich stets daran erinnert, was im Leben eigentlich wichtig ist. Euch ist dieses Buch gewidmet. 1 StadtAL, Tit. I Nr. 22 k - Verschiedene Ratsnachrichten, 16.-17. Jahrhundert, fol. 245. Quellenzitate sind im Folgenden leicht normalisiert wiedergegeben: Abbre‐ viaturen werden aufgelöst, Großschreibung erfolgt nur bei Eigennamen sowie am Satzanfang, i/ j sowie u/ v werden nach ihrem Lautwert notiert. 2 Im Folgenden wird immer dann eine geschlechtsneutrale Formulierung mittels des Doppelpunkts verwendet, wenn es sich um gemischtgeschlechtliche Gruppen handelt oder das Geschlecht der bezeichneten Personen unbekannt ist. Aus Gründen der Einheitlichkeit wird der inter- und transsexuelle Identitäten integrierende Doppelpunkt auch für Personen des Untersuchungszeitraums verwendet, womit jedoch nicht die Existenz entsprechender gesellschaftlicher Vorstellungen von Inter- und Transsexualität in der Vormoderne behauptet werden soll. Einen Zugang zur Problematik bietet: B R I N K , Anachronismen (2021). 3 Vgl. Kap. 5 und 7.3.2. 4 Eine Ausnahme bildet die umfangreiche Forschung zur sogenannten Kontroversli‐ teratur, um die es im Folgenden jedoch nicht gehen soll. Zur Abgrenzung s. Kap. 1.4. 1 Einleitung Am 25. Juni 1594 erließ der Magistrat der Stadt Leipzig ein Mandat gegen offenbar vielfach in der Stadt zirkulierende famos schrifften, paßquill und anderr schand und schmehekedichte, die zu nichts anders, denn zu aufruhr, vorkleinerung, despect, mißverstand und verbitterung führten und weder herren noch knechtes verschonten. 1 Nicht nur die Autor: innen 2 der Schmäh‐ schriften sollten verfolgt und mit harten Strafen belegt werden, sondern auch diejenigen, die sie verbreiteten, ganz gleich ob öffentlich oder heimlich. Bei dieser Verordnung handelte es sich keineswegs um einen Leipziger Einzelfall, im Gegenteil: Das Mandat berief sich explizit auf bestehendes Reichsrecht. Tatsächlich finden sich ausführliche Bestimmungen gegen schmähende Schriften in den relevantesten Gesetzeswerken des 16. Jahrhunderts, im Strafrecht der Carolina ebenso wie in den Reichspolizeiordnungen und wich‐ tigen Werken der Rechtspraktiker wie beispielsweise Joos de Damhouders praxis rerum criminalium (1554). 3 Das Delikt der Anfertigung und Verbrei‐ tung von libelli famosi wird in diesen Verordnungen insgesamt als weit verbreitete, äußerst schädliche Praxis bezeichnet. Die Carolina führt es etwa zwischen kapitalen Verbrechen wie Münzfälschung oder Zauberei. Das in diesen Rechtstexten durchscheinende, zeitgenössische große Interesse an Schmähschriften steht im Kontrast zur weitgehenden Vernachlässigung des Gegenstands durch die historische Forschung. 4 Dabei wurden sie schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Johannes V O I G T als wichtige Quelle 5 V O I G T , Schmähschriften (1834). Einen umfassenden Überblick über die Behandlung des Delikts ‚Schmähschrift‘ in den Rechtstexten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit liefert S C H M I D T , Libelli famosi (1985). 6 V O I G T , Schmähschriften (1834), S.-330, 328. 7 L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S. 161. Diese Bewertung ergibt sich im Umkehrschluss aus der Aufwertung der von ihm betrachteten Scheltbriefe. 8 S C H W E R H O F F , Invektivität und Geschichtswissenschaft (2020), S. 2. Ausführlich zur Bedeutung des Invektivitätskonzepts für diese Arbeit s. Kap. 2.1. 9 Diese These bildete die Grundlage für die Arbeit des Teilprojekts G „Pamphlete, Pasquille und Parolen. Invektive Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit“ des Sonderforschungsbereichs 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ an der TU Dresden, innerhalb dessen die vorliegende Arbeit ent‐ standen ist. Für einen Überblick über die theoretischen Ansätze und die Arbeitsbe‐ reiche des Teilprojekts s. B E C K E R T u.-a., Invektive Kommunikation (2020). der Geschichtswissenschaft beschrieben. 5 V O I G T erklärte die Existenz der schmähenden Schriften (die er von akademischen Streitschriften abgrenzte, mit der nur „ein Gelehrter gegen einen Gelehrten“ hätte kämpfen können) mit der streitbaren Natur des Menschen und nahm sie als vox populi ernst, als „Stimmen aus jener Zeit, die uns den Grimm und Zorn der Zeitgenossen über des Kaisers Geistesbann, ihr Seufzen und Klagen über den schweren Druck des kaiserlichen Herrscherjoches jetzt noch vernehmen lassen.“ 6 Jüngere Forschungen, die sich dem Phänomen ‚Schmähschriften‘ unter aktuellen, kulturgeschichtlichen Fragestellungen widmen, sind hingegen äußerst rar gesät. Dies liegt wohl auch daran, dass in „anonymen und heimlich in Umlauf gesetzten libelli famosi und Pasquille[n] […] Zeugnisse ungezügelter Zornesausbrüche [und] schlicht Kuriositäten einer ‚finsteren‘ Zeit“ gesehen werden. 7 Im Gegensatz dazu erfolgt die Annäherung an die behandelten Schmähschriften in dieser Arbeit über die Leitperspektive des Invektivitätskonzepts, das Herabsetzungsphänomene zu relevanten Untersu‐ chungsobjekten bei der Analyse sozialer Prozesse und Strukturen erhebt. 8 In‐ vektivität, so die These, die den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet, stellt einen zentralen Aspekt für ein angemessenes Verständnis von den Mechanismen und Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit dar. 9 Schmähschriften bieten dabei einen konkreten Zugang zur Bedeutung von Öffentlichkeit im Alltag der Menschen des 16.-Jahrhunderts. 1.1 Vielfalt des Untersuchungsgegenstands Beim Begriff ‚Schmähschrift‘ handelt es sich zunächst um eine vorrangig rechtliche Containerkategorie, die auf den Unrechtscharakter des Gegenstands 18 1 Einleitung 10 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 27. 11 So lautet der Untertitel der Akte: „Item was mit den buchführern furzunehmen, so vordechtige bücher uff die jarmerckte und sonsten nach Leipzigk bringen unnd vorkauffen wollen.“ 12 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 08987/ 03, 89. Vgl. K U N D E , Zerstörung des Benno-Grabmals (2017). 13 Zu ihrer Verteidigung gaben sie an: „Aber uns gar nichts vorsehen, das dorynnen eynicher personen gedacht ader iniurieret. Als bald wyr aber des ynnen worden, das etzlicht mit yhren nahmen genennet, haben wyr dieselbigen schriffte getilget, und gar keynen gefallen darynnen gehabt auch selber personlich nie gelessen noch andern zu lessen mit willen gestattet. Wayl wyr als geystliche leuthe tragen gut wissen, das wir niemandt mit schmehe worthen, viel weniger mitt schrifften belestigen sollen. Unnd was auch die geystlichen und weltlichen rechte vor straffe, denen die solchs thun zuerkennen.“, HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 08987/ 03, fol. 18 v . Die beiden Geistlichen kamen letztlich gegen Urfehde frei. abhebt. Dass sich hinter diesem Begriff eine große Vielfalt an Schriften, ganz unterschiedlich in Form und Inhalt und aus verschieden gelagerten Kontexten, verbirgt, belegt ein kurzer Blick in einige sächsische Archive. Beispielhaft versammelt eine zwischen 1583 und 1588 entstandene Akte unter der Überschrift schmeschrifften und famos libel mehrere Schriftstücke unterschiedlicher Couleur, die jeweils eine landesherrliche Untersuchung pro‐ voziert hatten. 10 Eine wichtige Gruppe bilden gedruckte Bücher, zumeist konfes‐ sionell-politische Traktate, die entweder in Sachsen erschienen, oder außerhalb gedruckt aber von Buchhändlern auf der Leipziger Messe verkauft worden waren. 11 So beklagte sich der Humanist Nicodemus Frischlin (1547-1590) bei Kurfürst August (1553-1586) über ein in Magdeburg gedrucktes Traktat, durch das er sich als Schmäher des deutschen Adels verleumdet fühlte. Er regte nicht nur eine Inquisition gegen den Drucker an, sondern lieferte das für eine Drucklegung gedachte Manuskript seiner Antwort gleich mit. Ebenso Eingang in die Akte fand ein handschriftlich verfasstes, gereimtes Pasquill, das der Leipziger Bürger Abraham Bötticher gegen den calvinistischen Hofprediger Johann Salmut (1552-1622) verfasst und in der Thomaskirche ausgelegt hatte. Für den Besitz eines schmehebuchleins, das die Zerstörung des Altars des Hei‐ ligen Benno im Meißner Dom thematisierte, mussten sich 1542 zwei Bautzner Kaplane rechtfertigen. 12 Sie gaben an, ein Reisender aus Polen hätte ihnen das Werk erfolgreich als ‚neue Zeitung‘ angepriesen. Tatsächlich handelte es sich vor allem um einen schriftlichen Angriff auf die Ehre namentlich genannter Einzelpersonen - was die beiden Kaplane nach eigener Aussage erst zu spät bemerkt hätten. 13 Ebenfalls als ‚schriftliche Schmähung‘ bezeichnete die Landesregierung eine Sammlung lateinischer und deutscher Lieder sowie 1.1 Vielfalt des Untersuchungsgegenstands 19 14 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09667/ 25. 15 Die Überschrift des Briefes beschreibt das Thema aller genannten Schriften: „De idololatria avaritiae regionis Misnensis sub principe Augusto et eius tyrannide“ (Vom Götzendienst des Geizes in der Region Meißen unter Fürst August und dessen Tyrannis), ebd., fol. *2 r . Die Pharao-Metapher als Ausdruck von heidnischer Tyrannei und Steu‐ erproblematiken ist kein Einzelfall, wie die Episode um die Prophezeiungen des aus Gerlingen bei Stuttgart stammenden Winzers Hans Keil zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges zeigt, s. S A B E A N , Das zweischneidige Schwert (1990), S.-93. 16 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09669/ 02; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 28. Der Fall steht im Zusammenhang mit den calvinistischen Tendenzen des jungen Kurfürsten und in diesem Fall insbesondere mit der Abwendung von den Lehren des Theologen Polycarp Leyser (1552-1610). 17 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 36060, Rep. 09, Sect. 1, Nr. 0163. Der Fall wird bearbeitet in der Masterarbeit Rose, Schmähschriften (2020), S. 15-22. Zu diesem und einigen weiteren Fällen in Freiberg s. N E U M A N N , Die Ordnung des Berges (2021), S.-177-185, 324-331. 18 HStD, 10084 Appellationsgericht, 00956. 19 Vgl. Kap. 9. Predigtexte, derentwegen sie 1574 den Küster Matthäus Dorn inhaftieren ließ. 14 Dieser hatte die Texte verfasst, teilweise in der Kirche ausgelegt, schließlich unter der Überschrift Pharao Ultimo gesammelt und gemeinsam mit einem unterzeichneten Brief an den kurfürstlichen Hof geschickt. 15 In die gleiche Kerbe schlug als famos und injuri schrifft ein lateinisches Gedicht des Studenten Michael Rosinus, das sich gegen Kurfürst Christian I. (1586-1591) richtete und für dessen Anfertigung und Verlesung im Stipendiatenhaus er gemeinsam mit seinem Cousin des Landes verwiesen wurde. 16 In gänzlich weltlichen Angelegenheiten wurden in Freiberg im Jahr 1560 ‚Schmähschriften‘ an den Toren des Doms und des kurfürstlichen Schlosses Freudenstein angebracht. Es handelte sich um Beschwerdeschriften neue Me‐ thoden der Erzschmelze betreffend, in denen die kurfürstliche Verwaltung harsch angegriffen wurde. 17 Eine derartige Kritik an der Obrigkeit findet sich aber auch in anderen Konstellationen und in unterschiedlichen medialen Formen. So verfasste der Bürgermeister von Rochlitz 1574 mutmaßlich ein ‚Schmähgedicht‘ gegen den örtlichen Schösser und hängte es am Rathaus auf. 18 Ende des 16. Jahrhunderts ließen gar die Grafen von Mansfeld unter anderem ein anonymes, bissiges pasquil und schmeschrifft auf den Kurfürsten, sowie ein Spottgedicht gegen einen ihnen unliebsamen Bürgermeister anfertigen und veröffentlichen. 19 Im sächsischen Hauptstaatsarchiv finden sich außerdem typische, zwecks Einforderung von Schulden ausgestellte ‚Scheltbriefe‘ inklusive entsprechender Darbietungen von defäkierenden Säuen und Eseln sowie Schandstrafen, ent‐ 20 1 Einleitung 20 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 07262/ 10; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09705/ 33. 21 Vgl. Kap. 7. 22 Vgl. Kap. 6. 23 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr. 404. Vor dem Hintergrund eines Streits um den Eintritt in die Meisterschaft bezichtigte der Autor des Zettels Müller des Diebstahls und der Münzfälschung. 24 So ähnlich schon W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S.-143. 25 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-409. weder als aufwendige Zeichnung oder als einfachere textliche Darstellung. 20 Vergleichbare schmähende Schriften entstanden auch in anderen Kontexten: So schlug der Händler Andreas Langener 1569 in Dresden mehrseitige, offiziell anmutende und unterzeichnete Klageschriften gegen einen Adligen an, um diesen zum gerichtlichen Austrag eines seit längerem bestehenden Streits zu bewegen. 21 Daneben finden sich auch ‚Pasquille‘ in Form von kurzen, anonymen und komischen Spottgedichten, wie sie beispielsweise in Leipzig 1578 gegen mehrere Bürger: innen verbreitet wurden. 22 In Hinblick auf den literarischen Anspruch sicherlich am unteren Ende der großen Skala der Schmähschriften‐ qualität anzusiedeln ist schließlich ein ‚Pasquill‘ in Form eines ungelenken Zweizeilers, das dem Obermeister der Leipziger Schlosser, Hans Müller, mit Fäkalien an die eigene Werkstatt geklebt wurde. 23 Die kurze Übersicht macht deutlich, dass die Gegenstände, die unter dem Begriff Schmähschrift oder verwandten Namen gefasst wurden, buchstäblich vom rüde drohenden Schmierzettel aus der Feder nahezu illiterater Personen bis hin zum ausgefeilten, gedruckten theologischen Traktat reichen. 24 Vielfalt ist auch hinsichtlich des Umfangs sowie der ästhetischen und materiellen Aus‐ gestaltung zu konstatieren: Es finden sich Handschriften und Drucke, einzelne Zettel und gebundene Bücher, stark beleidigende und förmliche Sprache, Prosa und Gedichte, aufwendige Zeichnungen und schmuckloser Text. Hinsichtlich der Zielpersonen sind vor allem solche Schriften zahlreich vertreten, welche die Obrigkeit kritisierten, jedoch finden sich unter den Betroffenen auch Geistliche, einfache Adlige oder reiche Mitglieder der Bürger- und Handwerkerschaft. Auch Anlässe und Inhalte unterscheiden sich deutlich: Neben den Themenfeldern Po‐ litik und Religion konnten alle Formen von (behaupteter) Devianz aufgegriffen werden, wobei Vorwürfe abweichender Sexualmoral sowie ökonomisches Fehl‐ verhalten besonders häufig sind. Es ist also Ulinka R U B LA C K zuzustimmen, dass die Schmähschriften „uns in die Welt des politischen Protests und der kleinen Komödien, der Nachbarschaftszwiste und Arbeitskonflikte“ führen. 25 Systematische Studien zur Begriffsgeschichte und zum Gebrauch der ein‐ zelnen Bezeichnungen liegen bislang nicht vor. Eine Ausnahme bildet der Begriff 1.1 Vielfalt des Untersuchungsgegenstands 21 26 S C H W E R H O F F , Pasquillus Germanicus (2023); D E R S ., Pasquill (2021). 27 Siehe zur Herleitung des Begriffes aus dem Brauch, Spottgedichte an der römischen Statue entsprechenden Namens anzuheften: S C H W E R H O F F , Pasquill (2021), S. 85-87; G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S.-44f. 28 S. Kap. 5. 29 S. Kap. 7.3.2. So auch bereits in S C H W E R H O F F , Pasquill (2021), S. 89f.; S I E G E M U N D , Schmäh‐ schriftenprozess (2020), S. 143-148. Für eine detailliertere Studie zur Entwicklung des Pasquillus-Begriffs, zur zunehmenden Kriminalisierung invektiver Schriften und zu daraus ableitbaren Aussagen zur ‚frühmodernen Kultur der Kritik‘ s. S C H W E R H O F F , Pasquillus Germanicus (2023). 30 Mit ‚Scheltbrief ‘ ist das spezifische, von Matthias Lentz untersuchte Rechtsinstrument der Schuldeinforderung angesprochen, bezüglich dessen in der Frühen Neuzeit ein uneinheitlicher Wortgebrauch vorherrschte. Im Folgenden ist zur Klarheit immer von ‚Scheltbriefen‘ die Rede, da der Begriff den im Mittelalter stärker konturierten des Pasquills, dessen Eingang ins Deutsche am Beginn der Frühen Neuzeit zuletzt einige Aufmerksamkeit erfahren hat. 26 Entstanden im Zusammenhang mit humanistisch geprägten Gebräuchen, den römischen Pasquinaden, bezeich‐ nete ‚Pasquill‘ zunächst satirische Spottgedichte, die durchaus eine gewisse Legitimität für sich beanspruchen konnten. 27 Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allerdings zunehmend als Synonym für illegitime Schmähschriften allgemein gebraucht. In den für diese Arbeit konsultierten Akten zeichnen sich Pasquille gegenüber anderen Schmäh‐ schriften aber durch den zusätzlichen Gebrauch von literarischen Stilmitteln (Reime, satirische und komische Elemente) und ihre Anonymität aus. Es ließe sich also etwas überspitzt formulieren, dass im vorliegenden Betrachtungszeit‐ raum zwar alle Pasquille als Schmähschriften, nicht aber alle Schmähschriften als Pasquille bezeichnet werden konnten. Die im Lauf des Jahrhunderts zuneh‐ mend bedeutungsgleiche Verwendung der beiden Begriffe kann nach Gerd S C HW E R H O F F auf zwei Weisen interpretiert werden, nämlich als ‚Aufwertung‘ der Schmähschriften, denen über die Aufnahme der Pasquille eine gewisse Akzeptanz als Medium potentiell legitimer Kritik zukam, oder als obrigkeitlicher Versuch, alle Schmähschriften - also auch Pasquille - zu kriminalisieren. Der Blick auf die Entwicklung der Rechtsnormen 28 und den in den Fallstudien dieser Arbeit sichtbar werdenden Umgang mit den schmähenden Schriften legt nahe, der zweiten Lesart zu folgen - wenngleich auch Positionen zu finden sind, in denen den libelli famosi unter bestimmten Umständen Legitimation zugesprochen wurde. 29 In Anlehnung an den Sprachgebrauch der Quellen wird ‚Schmähschrift‘ im Folgenden als Oberbegriff verwendet, unter dem ähnliche Bezeichnungen (etwa ‚Schmähgedicht‘, ‚-zettel‘, ‚-buch‘ oder lateinische Begriffe wie libelli famosi), aber auch die spezifischeren Begriffe ‚Pasquill‘ und ‚Scheltbrief ‘ 30 22 1 Einleitung Aspekt des ‚Scheltens‘ im Vergleich zum offeneren ‚Schmähen‘ hervorhebt, vgl. auch die gesetzlich geregelte „Ehrenschelte“ oder „Scheltklausel“: L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S.-44-68; S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-76-87. 31 Auch der sächsische Rechtsgelehrte Benedikt Carpzov (1595-1666) betrachtete im folgenden Jahrhundert ‚Pasquill‘ als umgangssprachliche Entsprechung zu ‚libellus famosus‘, den er als schriftliche, anonyme oder pseudonyme Herabsetzung an öffent‐ lichen Orten definierte. Bei ihm findet sich auch bereits die Herleitung des Wortes vom Namen der entsprechenden römischen Statue: C A R P Z O V , Practicae Novae II (1646), Quaestio 98, §1-3, S.-415. 32 S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S. 11-21. Die Probleme, die mit einem rechtsdogmati‐ schen Umgang mit der Schmähschriftenthematik einhergehen, wurden von Schmidt zwar erkannt und benannt (S. 22-27), eine Fixierung auf klare Definitionen der Straftatbestände jedoch aus didaktischen Gründen beibehalten. 33 Gleiches gilt für das Formenspektrum invektiver Texte insgesamt, s. dazu M Ü N K L E R , Grundüberlegungen (2021). 34 K U H N , Ballads (2010), S.-1618. subsumiert werden. 31 In der bislang einzigen umfassenden Untersuchung zu Schmähschriften nimmt Günter S C HMID T aus rechtshistorischer Perspektive eine Systematisierung der genannten Vielfalt vor, indem er seine Gegenstände auf Grundlage von Rechtstexten in libelli famosi im weiteren Sinn (die er mit ‚Pasquillen‘ gleichsetzt), libelli famosi im engeren Sinn (die einen anonymen Straftatvorwurf enthalten), Scheltbriefe zur Schuldeinforderung und Schriften der Kontroversliteratur einteilt. 32 Zwar ist diese Einteilung der von S C HMIDT angestrebten Übersichtsdarstellung sicherlich zuträglich. Einer am historischen Phänomen selbst und der Perspektive der Menschen des 16. Jahrhunderts interessierten Untersuchung erweist sie sich hingegen weniger zweckdienlich, da sie eine scheinbar präzise Unterscheidung vornimmt, die allenfalls auf einen Teil der Quellen angewandt werden kann und zudem dem zeitgenössischen, auf die Schmähung konzentrierten funktionalen Verständnis der Schriften nicht entspricht. Schmähschriften, Pasquille und verwandte Quellen lassen sich nur schwer mit traditionellen, auf formalen Aspekten gründenden Gattungsbe‐ griffen fassen. 33 Insofern der Begriff Schmähschrift (unrechte) Herabsetzungen, Angriffe auf die Ehre von Personen oder Gruppen etikettiert, handelt es sich bei ihm vielmehr um eine „category of action“. 34 Eine systematische Annäherung an diese Kategorie bedarf dementsprechend der Betrachtung dieser Herabsetzungshandlungen, also der Praxis der Anwendung von und Reaktion auf Schmähschriften, die von der Rechtsgeschichte bislang ausgespart wurde. 1.1 Vielfalt des Untersuchungsgegenstands 23 35 Beispielhaft seien hier genannt: N E U M A N N , Die Ordnung des Berges (2021), S. 177-185; L I D M A N , Zum Spektakel und Abscheu (2008), S. 242-248; S C H W E R H O F F , Kornmesser (1997). 36 Vgl. die rechtshistorisch ausgerichtete Arbeit von M Ü L L E R , Verletzende Worte (2017). Schmähschriften finden sich hier zumeist in den Fußnoten oder innerhalb von Quellen‐ zitaten, erfahren aber kaum eine eigene Thematisierung. Siehe hier auch den Überblick über die Forschung zu vormodernen Injurien (S.-26-36). 37 Zum Sonderstatus der Schmähschrift als schwere Injurie vgl. auch B A R T E L S , Dogmatik der Ehrverletzung (1959), S.-44-46. 38 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-153-187; S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-135- 140. Ebenso für die politische Ereignisdichtung: K E R T H , Politische Ereignisdichtungen (1997), S.-319. 39 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-168. 1.2 Schmähschriften in der Ehr- und Konfliktforschung Als Akte der Herabsetzung stellen sich Schmähschriften zunächst als Gegen‐ stand der historischen Ehr- und Konfliktforschung dar, innerhalb derer sie jedoch lediglich am Rande thematisiert werden. Das verhältnismäßig geringe Interesse überrascht schon angesichts der großen Aufmerksamkeit, welche die Zeitgenoss: innen den Schmähschriften schenkten. Allerdings finden sich Bezüge auf die Verwendung von Schmähschriften relativ häufig in Fallstudien, die den Gegenstand nicht in den Fokus stellen. 35 Im Folgenden sind daher vorrangig Werke aufgeführt, die sich dem Thema explizit und zentral widmen. Historische Arbeiten zu Beleidigungen beziehungsweise Injurien zählen Schmähschriften zwar erwartungsgemäß zu ihren Gegenständen, lassen diesen aber häufig keine allzu große Aufmerksamkeit zukommen. 36 Lediglich Ralf- Peter F U C H S widmet in seiner maßgeblichen Arbeit zu westfälischen Belei‐ digungsklagen vor dem Reichskammergericht zwischen 1525 und 1805 den Schmähschriften ein eigenes Kapitel und betont dabei ihre Bedeutung, die weite Verbreitung der Praxis und das ihnen innewohnende Drohpotential, das sie von anderen Formen der Injurie abhob. 37 Das 16. Jahrhundert bezeichnet er, wie S C HMIDT , als Hochphase des Pasquillenwesens. Ursächlich waren seines Erach‐ tens nach die Ausbreitung der Drucktechnik sowie Themen und Streitkultur der Reformation. 38 F U C H S unterscheidet in seinen Ausführungen verschiedene Formen von Schmähschriften, nämlich die bereits genannten Scheltbriefe, Pam‐ phlete der humanistischen und konfessionellen Streitkultur (beide zusammen‐ gefasst als „Adels- und Konfessionspasquille“) 39 sowie solche Schmähschriften, die im Verlauf von Rechtsverfahren ‚entstanden‘: Mit der entsprechenden Eti‐ kettierung von Prozessschriften der Gegenpartei versuchten die Akteur: innen, vor allem Anwälte, sich gegen unsachgemäße Beschuldigungen zur Wehr zu setzen. Die Praxis, dem Gegenüber das Anfertigen verleumderischer Schmäh‐ 24 1 Einleitung 40 Ebd., S.-187. 41 Ebd., S.-168. 42 Ebd., S.-172. 43 K E S P E R -B I E R M A N N ; L U D W I G ; O R T M A N N -(Hg.), Ehre und Recht (2011); B A C K M A N N ; E C K E R - O F F E N H Ä U S S E R -(Hg.), Ehrkonzepte in der frühen Neuzeit (1998); V O G T ; Z I N G E R L E -(Hg.), Ehre (1994). 44 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995). 45 Ebd., S.-383-387. schriften zu unterstellen, konnte durch die naheliegende Erwiderung des Vor‐ wurfs zu einem prozesstechnischen „Fass ohne Boden“ werden. 40 Dabei ist eine zentrale Erkenntnis, dass es sich bei dem Begriff ‚Schmähschrift‘ vor allem um eine Zuschreibung handelt, die unter Umständen über den bezeichneten Gegenstand wenig aussagt, denn „[g]rundsätzlich konnte fast alles, was schrift‐ lich fixiert worden war, durch eine entsprechende Interpretierung zu einer Schmähschrift werden.“ 41 Im von F U C H S herangezogenen Quellencorpus, den Reichskammergerichtsakten, finden sich beinahe ausschließlich Vertreter der dritten, in den „Juristenduellen“ 42 entstandenen Form der Schmähschriften, auf die sich seine Detailstudien entsprechend beziehen. Genuine, zwecks Her‐ absetzung außerhalb des Prozesswesens entstandene Schmähschriften erfahren daher nur überblicksartige Betrachtung. In den einschlägigen Sammelbänden zur Ehrforschung wird das Thema kaum behandelt. 43 Einzige Ausnahme stellt ein für die vorliegende Arbeit richtungsweisender Aufsatz von Ulinka R U B LA C K zu Schmähschriften als „An‐ schläge[n] auf die Ehre“ dar. 44 R U B LA C K betont die weite Verbreitung der Praxis im europäischen Raum, wobei sie sich nicht auf die bei F U C H S genannten Prozessschriften oder konfessionelle Kontroversliteratur bezieht, sondern auf anonyme, schriftliche Angriffe auf Individuen. Im Rahmen dieses Aufsatzes stellt sie schlaglichtartig wichtige Thesen zur Schmähschriftenpraxis auf, denen auch die vorliegende Arbeit nachgeht: Mit Blick auf ihre Funktionen und Effekte in Konfliktverläufen werden Schmähschriften von R U B LA C K als Endpunkte eines von Invektiven geprägten Vorspiels behandelt, die sich anhand dreier Merkmale von anderen Formen der Injurie abhöben. Erstens verhinderten sie durch ihre Anonymität die ansonsten in Ehrhändeln typischerweise umgehend erfolgenden Reaktionen der Betroffenen. Zweitens führten sie zu einem beson‐ ders großen Publikum, wobei das Interesse aus dem Unterhaltungswert, der Bekanntheit der Betroffenen und der Brisanz der Inhalte resultierte. Drittens ermöglichten Schmähschriften persönliche wie politische Kritik an Personen, die ansonsten nicht angreifbar waren. 45 Insgesamt wird jedoch die Bedeutung von Schmähschriften im frühneuzeit‐ lichen Konfliktmanagement - auch im Vergleich zu anderen Streitmitteln 1.2 Schmähschriften in der Ehr- und Konfliktforschung 25 46 Vgl. B A U M A N N ; B E C K E R ; S T E I N E R -W E B E R (Hg.), Streitkultur (2008); E R I K S S O N ; K R U G - R I C H T E R -(Hg.), Streitkulturen (2003). 47 Vgl. die Forschungsüberblicke bei H Ä R T E R , Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte (2018); S C H W E R H O F F , Historische Kriminalitätsforschung (2011). Schmähschriften als Sanktion bei gescheiterter Konfliktlösung bei F R A N K E , Schimpf und Schande (2013), S.-86; H Ä R T E R , Infrajustiz (2012), S.-138. 48 Bspw. G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S. 48: „Pasquillen waren also ein auf allen Ebenen der Gesellschaft verbreitetes Phänomen der Rüge.“; zum Rügebrauch vgl. K R U G - R I C H T E R , Vom Rügebrauch zur Konfliktkultur (2005). 49 S C H A R F E , Zum Rügebrauch (1991), S. 195f. Zum Vergleich von Schmähschriften und Formen gemeinschaftlicher Rüge s. Kap. 6.2. Für die britische Forschung s. I N G R A M , Rough Music (1988). 50 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-388. 51 So auch G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S. 45: „Die Tatsache der schriftlichen Verbreitung der Vorwürfe gab den Pasquillen in jener Zeit aber auch eine besondere Bedeutung und hob sie im Rahmen einer semioralen Kultur juristisch von den Verbalinjurien und Gerüchten ab. Was geschrieben war, hatte besonderes Gewicht.“ 52 K U H N , Urban Laughter (2007), S.-77. 53 K U H N , Urban Laughter (2007); G E S T R I C H , Schandzettel (1997); W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S. 133-156. Ausführlich zu Schmähschriften als Mittel der Obrigkeitskritik: Kap. 8.1. - bislang von der Forschung zur vormodernen Konflikt- oder Streitkultur nicht thematisiert. 46 Gleiches gilt für die artverwandte Historische Kriminali‐ tätsforschung, die Schmähschriften zwar als Form der informellen sozialen Sanktion nach gescheiterter Konfliktlösung kennt, ihnen darüber hinaus jedoch keine systematische Betrachtung widmet. 47 Derart als soziale Sanktion und Praktik außergerichtlicher Konfliktregulierung betrachtet, stehen die Schmäh‐ schriften außerdem den vormodernen Rügebräuchen, wie etwa dem Charivari, nahe. 48 Die deutschsprachige Forschung zur Rügekultur, die inhaltliche große Schnittmengen mit der Historischen Kriminalitätsforschung aufweist, beachtet Schmähschriften jedoch - im Gegensatz zur britischen - entweder nicht oder schließt sie gar explizit von Untersuchungen aus. 49 In ihren Betrachtungen unterscheidet R U B LA C K persönliche von obrigkeitskri‐ tischen Schmähschriften. Besonders letzteren spricht sie eine große Wirkkraft zu, die sich aus ihrer Fähigkeit ergebe, eine „Gegenöffentlichkeit“ zur Selbst‐ repräsentation der Obrigkeit herzustellen. 50 Damit spricht sie den Schmäh‐ schriften wie F U C H S eine Sonderrolle zu. 51 Ebenfalls auf Pasquille als Form der Obrigkeitskritik und „popular media of protest“ 52 gehen Andreas G E S T R I C H , Christian K U HN und Andreas W ÜR G L E R ein - allerdings aus einer öffentlichkeits‐ bezogenen Perspektive. 53 Dabei verweisen die Arbeiten auf die Wirkmächtigkeit des Mediums sowie eine besondere Sensibilität der Obrigkeiten ihm gegenüber, die vorrangig aus einem von diesen wahrgenommenen Zusammenhang zwi‐ 26 1 Einleitung 54 G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S.-55f. 55 Diese Unterscheidung anhand der zugrundeliegenden Trennung zwischen persönli‐ chen und politischen Konflikten fließt auch in den Aufbau dieser Arbeit ein, ist jedoch zu problematisieren, s. Kap. 3.3. Auch in der englischen und französischen Forschung stehen obrigkeitskritische bzw. antimonarchische Pamphlete im Fokus, vgl. pars pro toto zuletzt: L A P O R T A , Performative Polemic (2021); M I L L S T O N E , Manuscript Circulation (2016). 56 So schon im Titel: L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004). 57 Ebd., S.-27. 58 Ebd., S. 57-68. Zu dem sich aus diesem Dualismus von Rechtssystemen ergebenden Konflikt um die Legitimität von Schmähschriften und ihren potentiellen Beitrag zum Gemeinen Nutzen s. Kap. 7.3. schen Schmähschrift und Aufruhr resultiert habe. Nach G E S T R I C H entstanden handschriftliche Schmähschriften in Württemberg gar ausschließlich innerhalb eines größeren politischen Kontexts. 54 Schmähschriften, die keine Obrigkeits‐ kritik ausdrückten und in Konflikten zwischen Untertan: innen ohne offensicht‐ lich politischen Streitgegenstand entstanden, kennt die Forschung zwar, sie trennt sie jedoch strikt von den obrigkeitskritischen, die deutlich im Fokus stehen. 55 Eine Ausnahme hinsichtlich der Bedeutung von Schmähschriften im Kon‐ fliktaustrag jenseits von Obrigkeitskritik bildet die für diese Arbeit instruktive Studie von Matthias L E N TZ zu den „Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit“. 56 L E N TZ erkennt das Problem des man‐ gelnden Praxisbezugs in der rechtshistorisch orientierten Schmähschriftenfor‐ schung und setzt ihm eine systematische Untersuchung entgegen, ausgerichtet an einer „Sozialgeschichte des Rechts“. 57 Gegenstand sind die von ihm strikt definierten Scheltbriefe als institutionalisierter Rechtsbrauch zur Schuldeinfor‐ derung, die er als ein Instrument der Ordnungserhaltung und Konfliktbewäl‐ tigung identifiziert, das sich der Reziprozität, also dem Eingebundensein des Individuums in ein soziales Netz aus wechselseitigen Rechten und Pflichten, als wichtigstem gesellschaftlichen Regulativ bedient, um säumige Schuldner an ihrer Ehre zu fassen und so zur Räson zu bringen. Die Scheltbriefe werden von L E N TZ als ein Element der Selbsthilfe des älteren, genossenschaftlich getragenen Rechts gefasst, das seit dem Spätmittelalter von herrschaftlich ausgeübter Jurisdiktion zurückgedrängt wurde. 58 Es war demnach das Ziel der Ersteller der Scheltbriefe, erfahrenes Unrecht als gemeinschädlich zu offenbaren und an die Allgemeinheit zu appellieren, die gute Ordnung wiederherzustellen. Zu diesem Zweck sprachen sie ein Publikum an und ließen eine okkasionelle Öffentlichkeit entstehen. An der konkreten Struktur dieser entstehenden Öffentlichkeit und den Mechanismen ihrer Herstellung ist L E N TZ hingegen nicht interessiert. 1.2 Schmähschriften in der Ehr- und Konfliktforschung 27 59 Ebd., S.-57. 60 Ebd., S. 161. Diese Bewertung ergibt sich im Umkehrschluss aus der Aufwertung der von ihm betrachteten Scheltbriefe. 61 D I N G E S , Die Ehre (1995), S.-50. 62 S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-142-144, 177-179. Seinen Untersuchungsgegenstand grenzt er klar von „unspezifisch schmä‐ hende[n] ‚kurze[n] Schreiben‘ jedweden Inhalts“ ab, als deren Merkmale er An‐ onymität und fehlende Regelhaftigkeit feststellt. 59 Derartige Schmähschriften aus anders gelagerten Konfliktkontexten blendet L E N TZ aus, da er ihnen einen Ausnahmestatus attestiert und ihren Urheber: innen fehlende Rationalität un‐ terstellt. 60 Beide Begründungen scheinen nicht haltbar: Zum einen kann mit Blick auf die große Menge überlieferter Schmähschriften und der unter anderem in der zeitgenössischen Rechtsetzung sichtbar werdenden Relevanz des Themas schwerlich von einem Ausnahmestatus gesprochen werden; zum anderen er‐ scheint es als methodisch problematischer Vorgriff, dem Handeln der histori‐ schen Akteur: innen Irrationalität zuzusprechen, ohne sich auf entsprechende Fallstudien stützen zu können. Es erscheint daher durchaus lohnenswert, L E N TZ ‘ Ergebnisse aufzugreifen und mit Blick auf eine breiter gefasste Praxis des ‚Libellierens‘ weiterzudenken. 1.3 Schmähschriften in der Öffentlichkeitsforschung Die genannten Arbeiten verweisen bereits auf eine Verbindung zwischen der Wirkmacht der Schmähschriften und ihrer Fähigkeit, eine große Anzahl an Personen zu adressieren und so eine Öffentlichkeit herzustellen. Demnach heben ehrbezogene Konflikte, in deren Verlauf Schmähschriften zum Einsatz kamen, die „konstitutive Bedeutung des Öffentlichkeitscharakters der Ehre“ besonders hervor und bieten sich entsprechend an, dem Aufruf von Martin D IN G E S zu folgen, die Analyse von (lokalen) Öffentlichkeiten in die Untersu‐ chung von Ehrkonflikten miteinzubeziehen. 61 Schon S C HMIDT deutet anonyme Schmähschriften als Versuche der Autor: innen - die Anonymität lässt durchaus Spielraum für weibliche Autorinnen, wenngleich quasi ausschließlich Männer zu identifizieren sind -, den vorgebrachten Inhalt unter dem Eindruck einer „neuen Form von Öffentlichkeit“ im 16. Jahrhundert weniger als ihre persön‐ liche Meinung denn als eine Form der vox populi zu präsentieren. 62 Diese wegweisenden Anmerkungen zur Rezeption bleiben in seiner Untersuchung jedoch Episode und auch die Öffentlichkeitsforschung hat den Zugang über Schmähschriften bislang erst in Ansätzen genutzt. 28 1 Einleitung 63 K U H N , Urban Laughter (2007); D E R S ., Schmähschriften und geheime Öffentlichkeit (2008). Bislang nicht veröffentlicht wurde Kuhns Habilitationsschrift: Die Politik des Pasquino. Schmähschriften, Protestgelächter und Öffentlichkeiten in politischen Konflikten Alteuropas (ca. 1540-1750), Otto-Friedrich-Universität Bamberg 2016. 64 W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S. 133-156. Unter Bezug auf Habermas besteht für Würgler eine politische Öffentlichkeit immer dann, wenn „‚das Prinzip der Publizität gegen die etablierten Autoritäten‘ gewendet wird“ (S.-41). 65 E G A N , Libel in the Provinces (2022); M I L L S T O N E , Manuscript Circulation (2016); B E L L A N Y , Libels in Action (2001); C R O F T , Libels (1995); D I E S ., The Reputation of Robert Cecil (1991). 66 C R O F T , Libels (1995), S.-283. Zur Kritik an dieser Interpretation s. Kap. 6.2. 67 K E L L E R M A N N , Abschied vom „historischen Volkslied“ (2000); K E R T H , Politische Ereignis‐ dichtungen (1997). 68 K E R T H , Politische Ereignisdichtungen (1997), S. 281; außerdem: D I E S ., Polemik und Parodie (2008), S.-135f. Christian K U HN setzt sich intensiv mit politischen, sprich obrigkeitskritischen Pasquillen der beginnenden Frühen Neuzeit auseinander, die eine Gegenöffent‐ lichkeit („counter-public sphere“) entstehen ließen. Diese Gegenöffentlichkeit habe in ihren Funktionen, nämlich Legitimation beziehungsweise Delegitima‐ tion politischen Handelns und ‚unabhängige Beobachtung‘, bereits Grundlagen für das Entstehen der bürgerlichen oder politischen Öffentlichkeit in der Zeit der Aufklärung gelegt. 63 Dabei verweist K U HN auf die Relevanz von multimedialen Kommunikationswegen und öffentlichen Räumen, ohne allerdings diesbezüg‐ lich ins Detail zu gehen. Vergleichbare Aussagen trifft Andreas W ÜR G L E R , der für das 18. Jahrhundert ebenfalls eine Form politischer Öffentlichkeit konstatiert und in obrigkeitskritischen Schriften Appelle an das Publikum sieht. 64 Auch die Forschung zu den britischen libels betrachtet diese vor allem als wichtigen Bestandteil der politischen Welt sowie als Ausdruck einer schon im 16. Jahr‐ hundert relevanten öffentlichen Meinung und eines politischen Bewusstseins der breiten Bevölkerung. 65 Mitunter werden sie hier, etwa von Pauline C R O F T , durchaus als unmittelbarer Ausdruck dieser öffentlichen Meinung gesehen und mit sozialen Rügebräuchen wie dem Charivari gleichgesetzt. 66 Zu einem ähnli‐ chen Befund gelangt aus einer anderen, nämlich literaturwissenschaftlichen Fachrichtung kommend die Forschung zur historisch-politischen Ereignisdich‐ tung. 67 Bei den von den Autor: innen bearbeiteten Schmähliedern handelt es sich zumeist um „Propagandaprodukte der politischen Führungsschicht“, der ‚Gemeine Mann‘ hingegen tritt hier kaum je als Autor auf. 68 Unter der von ihr zuletzt funktional bestimmten Gattung fasst Kellermann ereignisbezogene Texte des Spätmittelalters und der Reformationszeit, die sich im Rahmen poli‐ tischer Konfliktkonstellationen gezielt an eine Öffentlichkeit wandten. Diese Vorform der politischen Öffentlichkeit wird hauptsächlich über eine Analyse 1.3 Schmähschriften in der Öffentlichkeitsforschung 29 69 Selbiges gilt für die Forschung zu französischen Pamphleten, wie etwa zuletzt zum ‚war of words‘ gegen Ludwig XIV. und dessen absolutistische Herrschaft: L A P O R T A , Performative Polemic (2021). 70 B E L L I N G R A D T , Gülich Rebellion (2012); D E R S ., Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011); D E R S ., Zeddel (2009). 71 B E L L I N G R A D T , Zeddel (2009), S.-208. 72 Bellingradt selbst spricht davon, dass Schmähschriften eine von Mündlichkeit geprägte Kommunikationssituation dramatisieren und auch dazu verwendet wurden, ganz gezielt Gerüchte anzustoßen: B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S.-26; D E R S ., Zeddel (2009). 73 F O X , Oral and Literate Culture (2000), S.-299-334; D E R S ., Ballads (1994). der Textinhalte herausgearbeitet, Verbreitungswege und Resonanzen geraten selten in den Blick. 69 Die konkrete Kommunikationspraxis in Bezug auf schmähende „Zeddel“ um das Jahr 1700 wird von Daniel B E L LIN G R ADT untersucht, wobei er von einem technischen Öffentlichkeitsverständnis im Sinne einer Sphäre verdichteter Kommunikation ausgeht. 70 Er zeigt auf, wie Schmähschriften in einer multime‐ dialen Kommunikationssituation Wirkung entfalteten, fokussiert jedoch stark auf einen Kommunikationsweg vom Mündlichen zum Druckschriftlichen: Im konkreten Beispiel zeigt sich, wie aus der Öffentlichkeit des audiovisuell Wahrge‐ nommenen, des Hören-Sehens, eine Öffentlichkeit des Gerüchts wurde, aus welcher sich „Zeddel“ und vereinzelte Flugdrucke generierten, deren Inhalte dann wiederum von neuen Flugdrucken aufgegriffen wurden; letztendlich „wanderte“ das zunächst audiovisuell wahrgenommene, dann mündlich tradierte, schließlich gedruckt-kom‐ mentierte Anliegen in die zeitgenössischen regionalen und reichsweiten Presseperi‐ odika. 71 Eine derartige kommunikative ‚Einbahnstraße‘ - die B E L LIN G R ADT auch nicht durchgehend derart holzschnittartig präsentiert - wird dem medialen Zusam‐ menspiel von Schmähschriften und mündlichen Kommunikationsformen aller‐ dings kaum gerecht. 72 Starke Wechselwirkungen zwischen libels, anderen hand- und druckschriftlichen Medien und oralen Kommunikationsformen wie dem gesungenen Lied, aber auch Gerücht und Gerede konstatiert Peter F O X in seiner Studie zur britischen Kommunikationssituation, die er als von Mündlichkeit geprägt, aber bereits von Schriftlichkeit durchdrungen beschreibt. 73 Mit Blick auf den deutschsprachigen Raum verbleiben hinsichtlich der Verortung von Schmähschriften in der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit drei zentrale Leerstellen: Erstens beziehen sich die bestehenden Untersuchungen beinahe ausschließlich auf die Zeit um und nach 1700. Schmähschriften aus 30 1 Einleitung 74 Neben Bellingradt beziehen sich auf die Zeit nach 1700: K U H N , Schmähschriften und geheime Öffentlichkeit (2008); G E S T R I C H , Schandzettel (1997); W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995). Auf eine Forschungslücke für die Zeit nach der Reformation verweist bereits G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S. 48. Dies deckt sich mit der allgemeinen Öffentlichkeitsforschung, die vor allem die Großereignisse Reformation und 30-jähriger Krieg fokussiert, die Zeit dazwischen und somit den hier vorliegenden Untersuchungs‐ zeitraum aber seltener bespielt, s. B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S.-22f. 75 B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S. 14f. Exemplarisch für den allgemeinen Fokus auf Druckmedien sei auf W Ü R G L E R , Medien in der Frühen Neuzeit (2013) verwiesen. Kapitel über mündliche Kommunikationsformen oder handschrift‐ liche Medien fehlen hier gänzlich. Dieser Vorrang der Druckmedien ist in der britischen Forschung zumindest weniger stark ausgeprägt. Für einen Überblick s. T E N G E R ; T R O ‐ L A N D E R , Early Modern Publication (2010). 76 Konflikt wird im Folgenden im Sinn von Max Webers „Kampf “ verstanden, also als eine soziale Beziehung zwischen Akteur: innen oder Gruppen, deren Handeln das Durchsetzen eigener Interessen gegen den Widerstand des Gegenübers zum Ziel hat. Die Wahrscheinlichkeit, die eigenen Interessen durchzusetzen, hängt von der zur Verfügung stehenden Macht ab, die wiederum in den sozialen Verhältnissen begründet der Zeit vor 1700 wurden bislang kaum systematisch thematisiert. 74 Durch die Fokussierung auf politische Großereignisse und Unruhen gerät zweitens die Bedeutung von Öffentlichkeit in alltäglicheren Situationen und individuellen, persönlichen Konflikten zumeist nicht in den Blick. Drittens steht der seit langem ostentativ betonten Multimedialität der frühneuzeitlichen öffentlichen Kommunikation eine starke Betonung der Druckpublizistik entgegen. So will auch B E L LIN G R ADT zwar die gesamte mediale Breite in den Blick nehmen, fokussiert letztlich aber primär auf Druckschriften, erklärt den Druck gar zum Teil der „gemeinsamen definitorischen Klammer“ der Flugpublizistik und ordnet Handschriften deutlich unter. 75 Eine an den instruktiven Arbeiten von F O X orientierte Untersuchung der Verbreitung handschriftlicher Schmähschriften unter Beachtung der potentiellen Wechselwirkungen unterschiedlicher Medien und Kommunikationsformen steht noch aus. 1.4 Arbeitsdefinition und Fragestellung Aus den zerstreuten Ansätzen der Beschäftigung mit Schmähschriften ergibt sich die Perspektive der vorliegenden Arbeit: Als category of action (K U HN ) zusammengefasst, können die hier untersuchten Schmähschriften als Instru‐ mente des Konfliktaustrags definiert werden, die dazu dienten, eine dritte Instanz in einen bestehenden Konflikt einzubeziehen, um das Gegenüber vor dieser oder mit deren Hilfe herabzusetzen. 76 Diese dritte Instanz ist als ein 1.4 Arbeitsdefinition und Fragestellung 31 ist, die darum in die Konfliktanalyse einbezogen werden müssen. S. B O N A C K E R , Kon‐ flikttheorien (2008), S.-59-64. 77 Vgl. R U M M E L ; V O L T M E R , Hexen und Hexenverfolgung (2008), S.-96-98. 78 D I N G E S , Kommunikative Gattungen (1993), bes. S. 389-391; zuletzt ausführlich: L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S. 238-244; grundlegend: L U C K M A N N , Kommunikative Gattungen (1986); Zusammenfassung der relevanten Forschung bei: A Y Aẞ , Kommuni‐ kative Gattungen, mediale Gattungen (2011); zur Möglichkeit, Invektivphänomene als kommunikative Gattungen zu fassen vgl. E L L E R B R O C K u.-a., Invektivität (2017), S.-19f. 79 D I N G E S , Kommunikative Gattungen (1993), S.-390. 80 Ebd., S. 382; in Bezug auf Verbalinjurien: K R U G -R I C H T E R , Rauf- und Ehrenhändel (2003), S.-290-296. tatsächliches oder imaginiertes Publikum zu denken, das in seiner Struktur und Funktion - so viel kann bereits gesagt werden - als Öffentlichkeit angesprochen werden kann. Die über die Schmähschriften verbreiteten Anschuldigungen oder Beleidigungen müssen dabei nicht zwingend mit dem Thema der ursächlichen Auseinandersetzung korrespondieren, wie dies auch für andere Formen der Beleidigung und Verleumdung festzuhalten ist - zu denken ist beispielsweise an Hexereibezichtigungen, die in ursächlich wirtschaftlichen oder politischen Konflikten instrumentalisiert wurden. 77 Derart gefasste Schmähschriften können darüber hinaus als ‚Kommunikative Gattung‘ verstanden werden, wie sie von Thomas L U C KMAN N konzipiert und zuerst von D IN G E S auf unterschiedliche Formen frühneuzeitlicher Ehrhändel angewandt wurde. 78 Kommunikative Gattungen bieten den Akteur: innen in bestimmten Situationen konventionalisierte Handlungsmuster. Sie sind „Teil des gesellschaftlichen Wissensvorrats […] im konkreten kommunikativen Handeln typisch erkennbar [und] ermöglich[en] die Voraussagbarkeit des Kommunika‐ tionsverhaltens“. 79 Wie viele Instrumente des Ehrkampfs sind Schmähschriften damit zugleich individuell und standardisiert: Sie stellen eine in medialer Form, Verbreitung und Aussage situativ zugeschnittene Auswahl aus einem beste‐ henden Repertoire dar. 80 Eine derart kommunikationsfunktionale Betrachtung vermeidet die Engführung einer Gattungszuordnung anhand formaler Aspekte, kommt dem zeitgenössischen Verständnis des Gegenstands als Ursache für die eingangs beschriebene Vielfalt der Begriffe und Phänomene entgegen und bietet zugleich die Basis für eine auf Herabsetzung, Konflikt und Öffentlichkeit bezo‐ gene Untersuchung. Der ungelenke Zweizeiler am Haus des Schlossermeisters kann damit ebenso wie das mehrseitige anonyme Pasquill gegen den Stadtrat oder der förmliche Scheltbrief innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens analysiert werden. Die vorgeschlagene Arbeitsdefinition umfasst potentiell auch solche, zumeist gedruckte, theologische oder politische Schriften, die von der Forschung in der 32 1 Einleitung 81 Zur Bedeutung des invektiven Kommunikationsmodus in der „reformatorischen Öf‐ fentlichkeit“ vgl. S C H W E R H O F F ; K Ä S T N E R , Narrheit (2021), S.-63-74. 82 Siehe bspw. M A H L M A N N - B A U E R , Gender (2013). 83 B R E M E R , Religionsstreitigkeiten (2005), S. 63. Bremer selbst grenzt die von ihm behan‐ delten Streitschriften von ‚Pasquillen‘ und ‚Satiren‘ ab, die nicht auf den Dialog ausgerichtet sind (S.-6f.). 84 Vgl. beispielhaft in Bezug auf Pasquille: S C H W E R H O F F , Pasquill (2021),-bes. S.-89f. 85 Für eine entgegengesetzte, von den (gedruckten) Streitschriften ausgehende Perspek‐ tive auf den Zusammenhang von Invektivität, Öffentlichkeit und politisch-konfessio‐ nellem Konflikt siehe die Arbeiten von Stefan Beckert und Wiebke Voigt, die ebenfalls im Teilprojekt G des Dresdner SFB 1285 entstanden: B E C K E R T , Macht der Öffentlichkeit (2022); V O I G T ; K Ä S T N E R , Öffentlichkeit in der Reformation (2020). Regel als Teil der Streit- oder Kontroversliteratur gefasst werden. Diese sollen in der vorliegenden Arbeit jedoch keine Untersuchung erfahren. Zwar spielten auch in ihnen Herabsetzungen, theologisch-politischer Konflikt und die Einbe‐ ziehung einer relevanten Öffentlichkeit eine zentrale Rolle. 81 Allerdings waren diese Texte im Gegensatz zu den hier behandelten Schmähschriften zumeist auf einen breiteren thematischen Diskurs, auf die schriftliche Erwiderung und somit den Dialog ausgerichtet. Ihre Autoren, und in nicht wenigen Fällen auch Autorinnen, 82 handelten weniger innerhalb einer begrenzt-situativen Konfliktsituation, in denen die Schriften lediglich Mittel zum Zweck waren, sondern vielmehr innerhalb eines gesellschaftsübergreifend relevanten Sachzu‐ sammenhanges und - zumindest im Fall der konfessionellen Kontroversliteratur - oft aus einem seelsorgerischen Grundgedanken heraus. 83 Auch nahm die Auseinandersetzung in der Sache in den Streitschriften tendenziell mehr Raum ein als die explizite Beleidigung. Damit soll jedoch nicht einer strikten Trennung von sachbezogener Kritik und bloßer Schmähung das Wort geredet werden, die das der Arbeit zugrundeliegende Invektivitätskonzept gerade zu überwinden sucht, indem es Formen invektiver Kommunikation als wichtigen Bestandteil öffentlicher Kritik (nicht nur) in der Frühen Neuzeit betrachtet. 84 Schon die eingangs aufgeführten Beispiele von ‚Schmähschriften‘ belegen die Relativität der Beurteilung eines Textes als primär herabsetzend. Allerdings lassen sich die meisten Texte durchaus innerhalb eines breiten Spektrums zwischen rein inhaltlich argumentierenden und direkt über Beschimpfung herabsetzenden Schriften verorten. Bei der vorgenommenen Abgrenzung handelt es sich also um eine äußerst unscharfe Trennung mit großen Grauzonen, die an dieser Stelle auch aus praktischen Gründen vorgenommen wird. 85 Die genannte Unterscheidung von konkreten Konfliktsituationen und ge‐ sellschaftsübergreifenden Sachzusammenhängen lässt eine in der Forschung hinsichtlich Schmähschriften oft vorgenommene Differenzierung zwischen 1.4 Arbeitsdefinition und Fragestellung 33 86 Siehe zur Einteilung der hier behandelten Fälle in obrigkeitskritische und persönliche und eine vorläufige Problematisierung Kap. 3.3. 87 Mit der Verwendung des Begriffs ‚Alltag‘ soll an dieser Stelle nicht auf komplexere Theorieangebote der Alltagsgeschichte (und die damit zusammenhängenden Diskus‐ sionen) zurückgegriffen werden. Für einen Überblick und weiterführende Literatur s. B E H R I N G E R , Art. „Alltag“. Gemeint ist schlicht das Interesse an den subjektiven Er‐ fahrungen und Wirklichkeitswahrnehmungen der individuellen Akteur: innen sowie am ‚Alltagswissen‘ als Grundlage ihres Handelns. Methodisch legt dieses Interesse mikrohistorische Fallstudien nahe, s. Kap. 3.1. privaten und politischen beziehungsweise öffentlichen Konflikten anklingen. Inwiefern eine solche Dichotomie für die lokalen Streitfällen entstammenden Schmähschriften dieser Arbeit übernommen werden kann und was dies für den Umgang mit den Kategorien ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ in der Vormoderne bedeutet, sollen die Fallstudien zeigen. 86 Ausgehend von der vorgenommenen Problematisierung von Gegenstand und Forschungslage sollen die kursächsischen Schmähschriftenfälle des 16. Jahr‐ hunderts im Folgenden anhand zweier zentraler Fragestellungen untersucht werden, um so einen Beitrag zur Ehr- und Konfliktforschung einerseits sowie zur Öffentlichkeitsforschung andererseits, aber auch zur Verbindung beider Richtungen zu leisten: Erstens stellt sich die Frage, welche Funktionen den Schmähschriften im Konfliktaustrag zukamen und welche Wirkung ihr Ge‐ brauch im konkreten Kommunikations- und Handlungskontext zeitigte. Dabei gilt es zu zeigen, wie Schmähschriften sich in die bekannten Dynamiken frühneuzeitlicher Ehrkonflikte einfügten und wie sie sich hinsichtlich Motiva‐ tionslagen und Auswirkungen von anderen Instrumenten des Konfliktaustrags absetzten. Diesbezüglich ist zu unterscheiden zwischen den Kalkülen der Ak‐ teur: innen, also einer intendierten Funktion, und den tatsächlichen Effekten. Hinsichtlich der Intention soll untersucht werden, welcher individueller Stra‐ tegien sich die Verfasser: innen bedienten, um möglichst effektive ‚Treffer‘ bei ihrem Gegenüber zu erzielen. Zweitens gilt es, nachdem der besondere Öffentlichkeitsbezug der Schmäh‐ schriften bereits betont wurde, danach zu fragen, wie Schmähschriften kon‐ kret Öffentlichkeit herstellten, welche Mechanismen in der Kommunikation mit und über Schmähschriften sichtbar werden und welchen Einfluss dies auf die Konfliktdynamik nahm. In den Momenten des ‚Aufglühens‘ von Öffent‐ lichkeit im Schmähschriftenstreit werden neben Auffassungen von Strukturen und Mechanismen öffentlicher Kommunikation auch diesbezügliche Ängste durch die Akteur: innen artikuliert, wodurch die Bedeutung frühneuzeitlicher Öffentlichkeit im Alltag der Menschen greifbar wird. 87 Kann für Konflikte insgesamt festgehalten werden, dass sich in ihnen zentrale gesellschaftliche 34 1 Einleitung 88 K R U G -R I C H T E R , Streitkulturen (2010), S. 331 bezeichnet Praktiken des Konfliktaus‐ trags als „zentrale[n] Schlüssel zum Verständnis einer Gesellschaft“. Werte und Normen offenbaren, so ermöglichen es Schmähschriftenstreite, Einsichten in grundlegende und weit verbreitete Öffentlichkeitsvorstellungen zu erhalten. 88 1.4 Arbeitsdefinition und Fragestellung 35 1 Grundlegend: E L L E R B R O C K u. a., Invektivität (2017); aus historischer Perspektive: S C H W E R H O F F , Invektivität und Geschichtswissenschaft (2020). 2 E L L E R B R O C K u.-a., Invektivität (2017), S.-3. 3 Ebd., S.-11. 4 Schon Lentz identifiziert die drohende Exklusion der Betroffenen durch die Schand‐ briefe als Sanktionsmechanismus: L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S. 162 und passim. 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 2.1 Invektivität als Leitperspektive Die in den Fragestellungen betonte Verbindung von Öffentlichkeit und Ehre wird nahegelegt durch das Konzept der ‚Invektivität‘, das die Leitperspektive bei der Erarbeitung der in dieser Arbeit präsentierten Fallstudien darstellte und daher an dieser Stelle kurz expliziert werden soll. 1 Invektivität wird als Grundphänomen menschlicher Vergesellschaftung verstanden und bezeichnet Aspekte von Kommunikation - mündliche, schriftliche und nonverbale -, „die dazu geeignet sind, herabzusetzen, zu verletzen, oder auszugrenzen“. 2 Auch situative oder strukturell bedingte Akteurskonstellationen, Machtstruk‐ turen und Ressourcenzuteilungen können als invektiv wahrgenommen werden. Die Effekte von Invektiven sind potentiell destruierender, chaotisierender, dynamisierender, aber auch stabilisierender Art, wobei die produktive Seite herabsetzender Kommunikation der destruktiven gleichwertig zur Seite gestellt wird. Am augenfälligsten erscheinen die produktiven Kräfte im Bereich von Inklusions- und Exklusionsmechanismen, da Invektiven „je nach Konstellation […] dazu angetan [sind], den Kreis von Betroffenen entweder in einer Gruppe zu solidarisieren, die Invektierten in Scham zu vereinzeln oder den Fluss der Interaktionen zu unterbrechen und damit Spielräume für Kreativität, Reflexion, Abweichung oder Protest zu eröffnen.“ 3 Derartige Mechanismen spielten auch für die Funktion von Schmähschriften und die Intentionen ihrer Urheber: innen eine wichtige Rolle. 4 Ein besonderes Augenmerk wird im Folgenden auf die Bil‐ dung von Wir-Kollektiven durch Schmähung gelegt, die bei der demonstrativen Formulierung von Gruppeninteressen in vielen Schmähschriften von zentraler Bedeutung war. 5 Zu den relevanten Faktoren zählt auch die emotionale Komponente von Invektivität. Zentral vor allem hinsichtlich der Sanktionierungsfunktion ist dabei das Gefühl der Scham, das individuell wie im sozialen Miteinander wirkt. Daneben spielt eine große Bandbreite unterschiedlicher Emotionen, wie „Stolz und Überheblichkeit, Zorn, Wut oder Ekel“ eine Rolle, die zu einer relativen Unvorhersehbarkeit des Kommunikations‐ geschehens führen. S. E L L E R B R O C K ; S C H W E R H O F F , Spaltung (2020), S.-6-9, Zitat S.-9; vgl. auch: E L L E R B R O C K ; F E H L E M A N N , Beschämung (2019). 6 Vgl. zur Konstellationsanalyse als wichtiger Methode zur Untersuchung von Invekti‐ vität: E L L E R B R O C K u. a., Invektivität (2017), S. 12-21. Zur Anlage der Fallstudien dieser Arbeit s. Kap. 3. 7 S C H W E R H O F F , Invektivität und Geschichtswissenschaft (2020), S. 6; B E C K E R T u. a., Invektive Kommunikation (2020), S. 40. Zu einem triadischen Modell des Streitens, bestehend aus Subjekt, Objekt, kritischer Instanz und Thema vgl. S T E N Z E L , Rhetorischer Manichäismus (1986). Zur Kritik daran, dass dieses Modell zwingend einen themati‐ schen Mittelpunkt des Streits benötigt s. B R E M E R , Religionsstreitigkeiten (2005), S.-62. Zwei Grundannahmen des Invektivitätskonzepts sind für die vorliegende Arbeit von Bedeutung: Erstens ist davon auszugehen, dass sich die herabset‐ zende Qualität von Äußerungen und Handlungen vorrangig in der konkreten Kommunikationssituation und in der Anschlusskommunikation manifestiert. Die Intention der Invektierenden sowie Form und Inhalt der Invektiven sind hier zwar relevante, aber nicht alles entscheidende Faktoren im Herabsetzungs‐ geschehen. 5 Diese Bedeutung des sozialen Kontextes legt für die Untersuchung von Herabsetzungen eine Kontext- und Konstellationsanalyse nahe, die ent‐ sprechend in den mikrohistorisch ausgerichteten Fallstudien dieser Arbeit vorgenommen wird. 6 Damit einher geht zweitens, dass sich invektive Kommunikationsakte nicht allein zwischen Invektierenden und Invektierten, sondern unter Einbezug einer dritten Instanz abspielen. 7 Dieses triadische Modell der Herabsetzungssituation liegt auch der bereits gegebenen Schmähschriftendefinition zugrunde. Die dritte Instanz kann als Publikum gefasst werden, vor dem und mit dessen Hilfe die Herabsetzung erfolgt. An dieser Position der Triade werden zudem die gesellschaftlichen Werte und Normen wirkmächtig, auf die sich die intendierte Herabsetzung bezieht, die aber auch zur Beurteilung der Invektierenden selbst herangezogen werden: Für eine ‚gelungene‘ Herabsetzung muss das Publikum einerseits die normativen Grundlagen der Beleidigung teilen (beispielsweise Vorstellungen von einem angemessenem Sexualverhalten bei der Beschimpfung als ‚Hure‘), es darf aber andererseits das Verhalten der Beleidigenden selbst nicht als übermäßig deviant beurteilen (indem es sie zum Beispiel als Stören‐ friede abtut). Die Rollen der Triade können entsprechend rasch wechseln und Invektierende und Invektierte die Positionen tauschen, wenn die dritte Instanz die ursprüngliche Herabsetzung als unangemessen bewertet und somit gegen 38 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 8 Ein gutes Beispiel in Bezug auf Schmähschriften bietet der Fall einer Schreinersfrau aus Memmingen, die nach dem Auftauchen einer Schmähschrift gegen sie die Öffent‐ lichkeit von ihrer Redlichkeit überzeugte und so eine „Gegenöffentlichkeit“ gegen den ursprünglichen Verfasser herstellte. Vgl. R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-407-409. 9 Zur Öffentlichkeit als Fiktion vgl. F R A S E R , Rethinking the Public Sphere (1990); vgl. Kap.-2.3.2. 10 So in Bezug auf frühneuzeitliche Ehrhändel: K R U G -R I C H T E R , Rauf- und Ehrenhändel (2003), S.-294f. 11 B E C K E R T u.-a., Invektive Kommunikation (2020), S.-40. 12 So bereits formuliert in: ebd., S.-71f. 13 Entsprechend wurde die Eignung von Schmähschriften als Untersuchungsgegenstand derjenigen Öffentlichkeit, in der sie ihre Wirkung entfalteten, bereits betont, s. B E L L I N ‐ G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S. 25f.; S C H W E R H O F F , Öffentliche Räume (2004), S.-130-132. die Invektierenden richtet. 8 Bei dem abstrakt gedachten Dritten kann es sich um ein real versammeltes, aber auch ein potentiell erreichbares Publikum oder gar eine rein imaginative Größe handeln; es darf somit auch als Öffentlichkeit bezeichnet werden. 9 Zugleich widerspricht die Betonung einer dritten Instanz im Streit nicht der Beobachtung, dass Konflikte auch dort eskalieren, wo die Akteur: innen lediglich zu zweit und unter Ausschluss von Zuschauenden agieren. 10 Auch in einem solchen Fall ist von einer verinnerlichten, letztlich außerhalb des Individuums liegenden normativen Instanz - quasi einem imagi‐ nierten Publikum - auszugehen. Existiert ein realweltliches Publikum, ist dieses nicht als monolithischer Block zu denken, sondern als Vielzahl von Rollen: Als Multiplikatoren, Effekt-vermittelnde Mediatoren und Effekt-gestaltende Moderatoren; konkreter als „passive Rezipienten, resonanzgebende Verstärker oder begeisterte Gefolgschaft, als Schiedsrichter oder Mit-Invektierte“. 11 In der Rekonstruktion der Schmähschriftenfälle sind diese Rollen, für die sich auch Klagende, Angeklagte und Richter interessierten, von wesentlicher Bedeutung. Demnach müssen adressierte und erreichte Publika sowie die medialen Aspekte ihrer Involvierung durch die Schmähschriften und unterschiedliche Formen der Anschlusskommunikation ebenso in die Konstellationsanalyse einbezogen werden wie die direkt am Konflikt beteiligten Personen. Durch diese Berücksichtigung des Publikums und seiner Adressierung steht eine am Invektivitätskonzept orientierte Untersuchung frühneuzeitlicher Schmähschriften gewissermaßen an der Schnittstelle der Forschung zu Ehre einerseits und Öffentlichkeit andererseits. 12 Diese Verbindung wurde innerhalb beider Forschungsrichtungen bereits nahegelegt: Besonders prägnant zum einen durch Rudolf S C HLÖG L , der die Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit als in besonderer Weise von Konflikten geprägt charakterisiert, 13 zum anderen durch 2.1 Invektivität als Leitperspektive 39 14 D I N G E S , Die Ehre (1995), S.-50. 15 K R U G - R I C H T E R ; E R I K S S O N , Einführung (2003), S.-1. 16 F R A N K E , Schimpf und Schande (2013), S.-95f. 17 Diejenigen Mittel, die vor oder neben dem Gerichtsprozess Anwendung fanden, werden aus kriminalitätshistorischer Perspektive als „Infrajustiz“ bezeichnet. Elemente, die geringen oder keinen Bezug zum Rechtssystem hatten und der „autonomen sozialen Selbstregulierung“ zuzuordnen sind, geraten bei diesem Konzept jedoch nicht in den Blick. Vgl. H Ä R T E R , Infrajustiz (2012), Zitat S.-142. 18 K R U G - R I C H T E R ; E R I K S S O N , Einführung (2003), S.-1. 19 W A L Z , Agonale Kommunikation (1992). Martin D IN G E S , der seit langem die konstitutive Bedeutung der Öffentlichkeit für das Thema Ehre herausstellt: Erst die konstitutive Bedeutung des Öffentlichkeitscharakters der Ehre sichert auch deren Erforschbarkeit anhand objektivierbarer äußerer Zeichen. Damit wird die Analyse lokaler Öffentlichkeiten zu einem wichtigen Bestandteil der Analyse von Ehr‐ verletzungen. Ich nenne die geschlechtsspezifische Zusammensetzung ihrer Träger, die Räume der Öffentlichkeit wie Plätze, Nachbarschaften, Brunnen, Kneipen und die Medien wie das Gerücht, das Pasquill oder das Pamphlet. 14 2.2 Ehre in der frühneuzeitlichen Streitkultur Den Menschen der Frühen Neuzeit stand eine Vielzahl an Instrumenten des Kon‐ fliktaustrags zur Verfügung, die individuell, gemeinschaftlich oder obrigkeitlich sowie institutionalisiert oder informell angewandt wurden. 15 Ihr Gebrauch unterlag keiner Entweder-oder-Entscheidung, sondern sie wurden abwechselnd und parallel genutzt. 16 Zu diesen Instrumenten zählte der Gang vor Gericht ebenso wie Beschickung und Schlichtung, mehr oder weniger stark ritualisierte Rügebräuche oder Drohung, Beleidigung und Gewalt. 17 Auch Schmähschriften im Sinn der gegebenen Arbeitsdefinition stellten einen dieser Pfeile im Köcher der Streitenden dar. In Bezug auf individuelle Konfliktbearbeitungswege ist die Frühe Neuzeit als besonders konflikthaft (aber auch konfliktfähig) beschrieben worden. 18 Nach dem wegweisenden Ansatz von Rainer W AL Z hatte diese Streit‐ anfälligkeit vor allem zwei Gründe: Die Summenkonstanz der Ressourcen, die zu Neid und Missgunst führte, und die Art der Kommunikation unter Anwesenden, die stark auf Ehre gepolt war. 19 Die Feststellung, dass man es bei Ehre mit einem ‚Grundprinzip der Stände‐ gesellschaft‘ ( VAN D ÜLM E N ) zu tun hat, ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass sich dieses Grundprinzip bis heute gegen wirklich griffige Arbeitsdefini‐ 40 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 20 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S. 52; S C H R E I N E R ; S C H W E R H O F F , Verletzte Ehre (1995), S.-2. 21 D I N G E S , Die Ehre (1995), S.-32-34. 22 So etwa bei: F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S. 20-24. In Abgrenzung dazu schlagen S C H R E I N E R ; S C H W E R H O F F , Verletzte Ehre (1995), S.-11 ein eher binäres Schema vor. 23 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-53-56. 24 Ebd., S.-56. 25 Anders etwa D E U T S C H , Hierarchien der Ehre (2011), S. 37f., der Ehre als eine Kategorie neben diesen anderen betrachtet. 26 R O H R S C H N E I D E R , Reputation (2010). Kardinal Richelieu (1585-1642) erhob die Reputation des Herrschers als politischen Faktor gar über dessen Militär: „La reputation est d’autant plus nécessaire aux princes que celuy duquel on a bonne opinion fait plus avec son seul nom que ceux qui ne sont pas estimés avec des armées.” (zitiert nach ebd., S.-336). 27 S C H R E I N E R ; S C H W E R H O F F , Verletzte Ehre (1995), S.-9f.; D I N G E S , Die Ehre (1995). tionen sperrt. 20 Grund dieses Problems ist auch ein diffuser Begriffsgebrauch in den Quellen, der unter anderem auf die vielfältigen Dimensionen der Ehre zurückzuführen ist: Zu nennen sind sakrale, genealogische, ständische, berufs‐ bedingte, juristische, ökonomische, politische (im Sinne höfischer Reputation) und verinnerlichte, auf das Gewissen bezogene Dimensionen, außerdem die verwandte Unterscheidung zwischen Ehrlich- und Unehrlichkeit. 21 Diese teils widersprüchlichen Ehrbezüge erscheinen verständlicher, wenn man Ehre nicht als feste Größe - zum Beispiel als eine Form symbolischen Kapitals 22 - sondern als ‚paradoxen Code‘ (D IN G E S ) versteht, worauf noch zurückzukommen ist. Ein solches analytisches Verständnis verkennt jedoch die Perspektive der Menschen der Frühen Neuzeit, die sich durchaus auf die Ehre als konkretes Gut bezogen. Einen Lösungsansatz bietet die Trennung der Fiktion(en) von Ehre vom Vollzug ehrbezogener Handlungen. 23 Auf die Fiktion von Ehre als einer „transzendenten Bezugsgröße“ 24 haben Historiker: innen zwar keinen unmittelbaren Zugriff, sie war jedoch von größter Bedeutung für die Zeitgenoss: innen des 16. Jahr‐ hunderts. Ehre stand gewissermaßen über allen anderen Kategorien sozialer Positionierung wie Alter, Geschlecht, Wohlstand etc. 25 Auch auf Ehre als harten rechtlichen Faktor - hier als Leumund zu bezeichnen - muss an dieser Stelle verwiesen werden, sowie auf die Ehre der Herrschenden, ihre Reputation, die Michael R O H R S C HN E ID E R zu den wichtigsten Faktoren frühneuzeitlicher Politik zählt. 26 Auf der Vollzugsebene kann Ehre als kommunikatives Regelwerk aufgefasst werden, über das ganz unterschiedliche Inhalte und Ansprüche der Kommuni‐ kationsteilnehmenden verhandelt wurden. 27 Zentrales Charakteristikum dieses Regelwerks oder Codes ist der Zwang, sich auf den Ehrdiskurs und damit auf 2.2 Ehre in der frühneuzeitlichen Streitkultur 41 28 S C H W E R H O F F , Duell (2013), S. 220: „In der direkten Konfrontation werden die sehr heterogenen Motive, Interessen und Konfliktursachen durch die Ehre neu codiert und erfahren damit eine mehr oder weniger starke Transformation. Der eigentliche Anlass rückt damit in den Hintergrund, und die Austragungsformen werden dominant. Der Streit gebiert auf diese Weise weiteren Streit.“ Die Zwangsläufigkeit des Verhaltens in Ehrkonflikten wird auch durch deren Konzeption als kommunikative Gattung erklärt: Als ritualisierte und nicht erklärungsbedürftige Handlungsmuster werden Aktionen in Ehrkonflikten ohne die Notwendigkeit weiteren Nachdenkens mit entsprechend automatisierten Reaktionen beantwortet, s. L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-238-244. 29 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-256-280. 30 Wettkampfspiele bestehen aus der wechselseitigen Herausforderung und Erwiderung im Rahmen einer agonalen Gruppenkultur. Entgleisungskonflikte resultieren aus Fehl‐ tritten, die als Angriff auf die Ehre wahrgenommen und entsprechend beantwortet werden. Beiden Formen des Ehrkonflikts liegt somit kein ursprünglicher Konflikt um eine wie auch immer geartete Sache zugrunde. 31 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-257. 32 Ebd., S. 52. Unter Bezug auf: A S C H , Adel in der Frühen Neuzeit (2008). Zur Verlagerung vom Interessenszum fundamentalen Wertekonflikt s. S C H W E R H O F F , Historische Krimi‐ nalitätsforschung (2011), S.-124. eine Verlagerung des Konfliktaustrags auf eine andere Ebene einzulassen. 28 Allerdings gilt dies nicht für alle Formen von Ehrhändeln. Ehrkonflikte können nach L U DWI G in Wettkampfspiele, Entgleisungskonflikte und Stellver‐ treterkonflikte unterschieden werden. 29 Während bei Wettkampfspielen und Entgleisungskonflikten keine Transformation von der Sachauf eine Ehrebene stattfand, 30 überführten Stellvertreterkonflikte eine Auseinandersetzung in der Sache in einen diese ersetzenden Streit um die Ehre und boten so „die Möglich‐ keit, jenen ursprünglichen Konflikt neu zu verhandeln beziehungsweise den Gegner, der dazu unter Umständen sonst nicht bereit gewesen wäre, mit Hilfe einer öffentlichen Beleidigung zu einer Neuverhandlung zu zwingen.“ 31 Sie sind somit als Form der Konfliktregulierung anzusehen. Mit Blick auf den Verlauf der im Folgenden analysierten schmähschriftenbezogenen Auseinandersetzungen ist hervorzuheben, dass Stellvertreterkonflikte oft nach einer ersten Phase ver‐ baler und physischer Aggression abgebrochen und dann vor Gericht angezeigt wurden. Wurde ein Sachkonflikt einmal auf eine ehrbezogene und entsprechend emotionsgeladene Ebene verlagert, war eine Rückkehr zur Aushandlung ur‐ sprünglich relevanter Diskussionspunkte beinahe unmöglich. Zugleich machte der Verweis auf die gekränkte Ehre eine Erklärung dieser Kränkung zunächst überflüssig, was in Bezug auf den ursprünglichen Sachkonflikt (sofern ein solcher vorlag) eine enorme Komplexitätsreduktion bedeutete. 32 Da in der extrem ehrsensiblen Gesellschaft der Frühen Neuzeit potentiell jede Kritik in 42 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 33 D E U T S C H , Hierarchien der Ehre (2011), S.-32. 34 Immer noch grundlegend: W A L Z , Agonale Kommunikation (1992), hier S. 222f. Re‐ torsion bedeutete, das Gegenüber selbst solange für unehrenhaft zu halten, bis der vorangegangene Vorwurf bewiesen werden konnte. 35 So schon R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-383f. 36 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-247. 37 K R U G - R I C H T E R , Rauf- und Ehrenhändel (2003), S.-290-296. 38 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-190-192. der Sache als Schmähung und Angriff auf die eigene Person verstanden werden konnte, nahm das kommunikative Regelwerk der Ehre größten Einfluss auf die Entwicklung und Dynamik von vielfältigen Konfliktformen. Dabei war nicht die Steigerung der eigenen Ehre dominierend, sondern die Angst, Ehre zu verlieren oder der Wunsch, dem Gegner entsprechend zu schaden. 33 Der vorrangig ‚binären Logik‘ (S C H R E IN E R / S C HW E R H O F F ) der Ehrverletzung folgend, tasteten die Akteur: innen Kommunikation durchgehend auf Ehrverletzungen ab und waren jederzeit bereit, sich einer solchen zu erwehren - das neben einer Klage üblichste Mittel stellte dabei die Erwiderung oder Retorsion dar, sodass es zu regelrechten Beschimpfungsspiralen kommen konnte. 34 Diesbezüglich ist von einer Sonder‐ rolle der Schmähschriften auszugehen, da die eigentlich dringend gebotene Erwiderung durch die Abwesenheit oder Unbekanntheit der Verfasser: innen er‐ schwert oder gar unmöglich gemacht wurde. 35 Es stellt sich daher in besonderem Maße die Frage nach den Reaktionsmöglichkeiten der Betroffenen und den Erfolgsaussichten in Abhängigkeit von den ihnen verfügbaren Machtmitteln sowie nach dem Einfluss dieser Sonderrolle auf die Perzeption der Schmäh‐ schriften im Vergleich zu anderen Konfliktaustragsmitteln. Bei der Steigerung solcher Ehrkonflikte markierten bestimmte Formen beleidigenden Verhaltens die Überschreitung von Eskalationsstufen. 36 Besonders augenfällig wird dies bei Übergängen von verbalen Beleidigungen zur gestischen Androhung physischer Gewalt, etwa durch das Ziehen der Waffen. Die Verhandlung von Ehre vor allem über eine binäre Logik bedeutete also nicht, dass Angriffe nicht unterschiedlich stark wahrgenommen wurden. Im Gegenteil: Die Akteur: innen nutzten spezifi‐ sche Strategien, um gezielte „Treffer“ bei ihren Gegenübern zu landen. 37 Dabei gab es sowohl standesspezifische Ehrverletzungen als auch solche, die auf all‐ gemeingültige Werte und Normen rekurrierten. Für Angriffe auf die Ehre stand ein fixes Instrumentarium an beleidigenden Handlungen, Gesten und Worten zur Verfügung, das aber kreativ und mit großem Handlungsspielraum genutzt wurde; man darf bei aller Regelhaftigkeit daher nicht von rein mechanischen oder zwangsweisen Handlungsverläufen ausgehen. 38 Beleidigungen konnten nicht nur zwischen Gleichrangigen ausgetauscht, sondern durchaus auch als 2.2 Ehre in der frühneuzeitlichen Streitkultur 43 39 N E U M A N N , Schmähung als „Meisterstück“ (1997), S.-632. 40 D I N G E S , Die Ehre (1995), S.-57. 41 H O F F M A N N , „Öffentlichkeit“ und „Kommunikation“ (2001), S.-110. 42 Die reichhaltige Diskussion um das Phänomen hat ihren wichtigsten Grund wohl darin, dass das weiterhin dominante Öffentlichkeitskonzept von Jürgen Habermas, das Grundlage für viele historische Arbeiten bleibt, stark auf die Gegenwartsanalyse und weniger auf historische Betrachtungen abzielte: H A B E R M A S , Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990). 43 Diese Unterscheidung lehnt sich an die Arbeit Eva-Maria Schnurrs an, die zwischen Öffentlichkeit als gesellschaftlichem Teilsystem und kommunikativem Phänomen unterscheidet: S C H N U R R , Religionskonflikt und Öffentlichkeit (2009), S. 34. Für eine grundsätzlichere Unterscheidung unterschiedlicher Öffentlichkeitsdimensionen s. V O N M O O S , „öffentlich“ und „privat“ (1998), S. 174-180; K Ö R B E R , Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit (1998), S.-1-22. Waffe im Kampf der Schwächeren gegen die Stärkeren eingesetzt werden. 39 Hinsichtlich der Analyse von Ehrhändeln ist - bei aller Berechenbarkeit - auch ein psychologisches Moment im Sinne einer Ventilfunktion und der Stressverarbeitung zu berücksichtigen, das zu einem nicht geringen Grad zur Unvorhersehbarkeit der Konfliktverläufe beitrug und die interpretatorische Suche nach logischen Handlungsmotiven begrenzt. 40 Auf welche Weise die Autor: innen von Schmähschriften ihre Gegenüber gezielt herabsetzten, welche Strategien sie anwandten und auf welche gesellschaftlich geteilten Wissensbe‐ stände sie dabei zurückgriffen, ist bislang kaum bekannt. 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit „Wir müssen in Zukunft zumindest sagen, von welcher Öffentlichkeit wir sprechen […]! “ 41 Öffentlichkeit kann getrost als einer der problematischsten, da lang und intensiv diskutierten, Begriffe der Geschichtswissenschaft gelten und bedarf daher in besonderem Maß der expliziten Konzeptualisierung. 42 Um einerseits die Bedeutung des Öffentlichkeitsaspekts in den zu untersuchenden Schmähschrif‐ tenkonflikten herauszuarbeiten und andererseits auf diese Weise Einsichten in die Herstellung dieser Öffentlichkeit sowie in deren Mechanismen zu gewinnen, sollen zwei Perspektiven auf den Gegenstand eingenommen werden: eine technisch-deskriptive in Anlehnung an die Kommunikations- und Medienge‐ schichte sowie eine normative, der ein gesellschaftlich-funktionales Verständnis von Öffentlichkeit zugrunde liegt. 43 44 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 44 K Ö R B E R , Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit (1998), S. 19; R A U , Konstitution öffentli‐ cher Räume (2011). 45 R E Q U A T E , Öffentlichkeit und Medien (1999), S. 9 mit dem Hinweis, dass der Begriff „öffentliche Sphäre“ weniger stark belastet sei als „Öffentlichkeit“. 46 So ähnlich auch K R I S C H E R , Rituale (2011), S.-129f. 47 Die Dimensionen wurden gewählt in Anlehnung an: S C H N U R R , Religionskonflikt und Öffentlichkeit (2009), S. 47 (Medien, Teilnehmende, Themen); B E L L I N G R A D T , Flugpubli‐ zistik und Öffentlichkeit (2011), S. 23 (mediale Bausteine, Dynamiken, Akteur: innen, Strukturen). 48 R A U , Konstitution öffentlicher Räume (2011); S C H W E R H O F F , Öffentliche Räume (2004). 49 S C H W E R H O F F , Stadt und Öffentlichkeit (2011), S.-12. 2.3.1 Öffentlichkeit als Kommunikationsnetz: Öffentliche Orte und Medien Aus kommunikationshistorischer Sicht lässt sich Öffentlichkeit zunächst als ein durch einzelne Kommunikationsakte gebildetes Netz 44 oder als eine Sphäre 45 beschreiben, wobei letzteres den räumlichen Charakter hervorhebt. ‚Öffentlich‘ ist Kommunikation in diesem Zusammenhang, wenn sie nicht intim, sondern in möglichst hohem Grad frei zugänglich ist. 46 Dieses Netz lässt sich in den Dimensionen Teilnehmende, Medien, Orte bzw. Räume, Zeiten und Inhalte analysieren. 47 Über die Erfassung dieser Dimensionen können Strukturen des Netzes, Mechanismen des Öffentlichmachens und somit auch Strategien derje‐ nigen, die Öffentlichkeit adressierten, sichtbar gemacht werden. Öffentliche Orte Öffentliche Orte fungieren gleichsam als Knotenpunkte dieses Kommunikati‐ onsnetzes. 48 Charakteristischerweise sind sie zugänglich für Menschen unter‐ schiedlichster Herkunft, unterschiedlichen Standes und Geschlechts; an ihnen finden komplexe soziale Austauschbeziehungen, Meinungsbildungsprozesse und eben auch Konflikte statt. 49 Auf die öffentlichkeitskonstituierende Bedeu‐ tung verweist nicht zuletzt der häufige Quellenbegriff in publico loco, der sich auf Kirchen ebenso beziehen kann wie auf Wirtshäuser, Garküchen, Straßen und Brücken. Ihre Relevanz erhalten diese Orte zum einen durch ihre Symbolkraft, was etwa bei Kirchen, Rathäusern oder herrschaftlichen Residenzen besonders augenfällig wird, zum anderen durch ihre Frequentierung. Letztere hängt stark vom Faktor Zeit ab: Kirchen wurden vor allem zum Hauptgottesdient, Marktplätze zur Marktzeit aufgesucht, was sich entsprechend auch auf die Anzahl von Personen auf Straßen und Brücken auswirkte. 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 45 50 B E L L I N G R A D T ; R O S P O C H E R , Early Modern Communication (2019), S. 11. Besonders ein‐ gängig die Metapher der „Medienpartitur“ in: S C R I B N E R , Flugblatt und Analphabetentum (1981), S.-75. 51 B E L L I N G R A D T ; R O S P O C H E R , Early Modern Communication (2019), S.-11. 52 Pars pro toto: W Ü R G L E R , Medien in der Frühen Neuzeit (2013). Würgler erkennt in seinem Handbuch zwar an, dass sich Druckschriften, Handschriften und Mündlichkeit in der Frühen Neuzeit „symbiotisch“ ergänzten (S. 65f.), systematisch in die Betrachtung aufgenommen werden jedoch ausschließlich Druckschriften. Auch Bellingradt, der das Medienensemble in seiner Gesamtheit in den Blick nehmen möchte, fokussiert letztlich stark auf den Druck, den er zur „definitorischen Klammer“ der Flugpublizistik macht, und ordnet die Handschriften aufgrund „mangelnder Herstellungseffizienz“ unter, B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), Zitat S. 14 f. Gleiches gilt für die Zensurforschung, die sich häufig nur auf die Buchproduktion und -distribution konzentriert, wie bspw. H A S S E , Zensur (2000); sowie die Öffentlichkeitsforschung, z.B.: S C H N U R R , Religionskonflikt und Öffentlichkeit (2009); A R N D T , Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit (2013). Das gleiche konstatiert Peter Burke, der zwar eine sich wandelnde Tendenz seit den 2000ern erkennt, die sich jedoch auf Italien und England beschränkt: B U R K E , Oral and Manuscript Cultures (2019), S.-22. 53 Im 16. Jahrhundert überholte zwar die Produktion gedruckter Publikationen diejenige von Handschriften, allerdings war die pragmatische und damit alltägliche Schriftlich‐ keit im staatlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, beruflichen, religiösen und intimen Bereich weiterhin eine handschriftliche, s. S T E I N , Schriftkultur (2006), S. 225- 229. Vgl. auch zu literarischen Texten: L O V E , Scribal Publication (1993), bes. S.-3-34. 54 Andreas Würgler verweist hinsichtlich der Nutzung von Streitschriften in frühneuzeit‐ lichen Protesten darauf, dass „für die Diskussionen vor Ort die analytische Trennung von handschriftlich oder gedruckt verbreiteten Texten von geringerer Bedeutung ist, als vorerst zu vermuten wäre“, W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S.-134. Medien der ‚Anwesenheitsgesellschaft‘ Die Betrachtung der Vielfalt kommunikativer Akte und Medien, des gesamten ‚Medienensembles‘, kann als analytischer Standard der Kommunikationsge‐ schichte gelten. 50 In den Blick geraten somit mündliche, hand- und druckschrift‐ liche, bildliche, gestische sowie - im Folgenden weniger relevant - akustische wie olfaktorische Medien. 51 Hinsichtlich der schriftlichen Kommunikation ist für die Frühe Neuzeit, an deren Beginn der Eintritt in die ‚Gutenberg-Galaxie‘ (M C L U HAN ) vollzogen wurde, eine starke Fokussierung der Forschung auf Druckschriften und tendenziell eine Vernachlässigung der Manuskriptmedien zu konstatieren. 52 Die in dieser Arbeit behandelten Schmähschriften wurden hingegen allesamt handschriftlich verfasst. Somit ergibt sich die Möglichkeit, die Potentiale der Handschrift, die für weite Teile der Frühen Neuzeit das für den Alltag der Menschen entscheidende Medium blieb, 53 hinsichtlich der Herstellung und Adressierung von Öffentlichkeit auszuloten. 54 46 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 55 Dieser Umstand wird vor allem von der auf die Stadt bezogenen Forschung hervorge‐ hoben, vgl.: B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S. 24; K R I S C H E R , Rituale (2011), S.-130; E G A R T N E R , Öffentlichkeit (2007), S.-51. 56 Pointiert bereits in: S C H L Ö G L , Politik beobachten (2008); D E R S ., Anwesende und Abwe‐ sende (2014); zuletzt D E R S ., Public Sphere (2019). Schlögls komplex konzipiertes, auf Luhmanns Systemtheorie aufbauendes Bild vom gesamtgesellschaftlichen Wandel in der Frühen Neuzeit soll hier nur in Ansätzen aufgegriffen werden. Zentral ist für Schlögl die Feststellung, dass in der Anwesenheitsgesellschaft der Frühen Neuzeit Abwesende in der Interaktionskommunikation bedeutsam werden, also auch schrift‐ liche Kommunikation in mündlicher aufgehen musste. Der mediale Wandel seit dem ausgehenden Spätmittelalter sorgte demnach dafür, dass sich die Möglichkeiten der Abwesenheitskommunikation und somit auch die Rolle Abwesender in den kommuni‐ kativen Prozessen der Vergesellschaftung veränderten, woraus sich eine Steigerung der Komplexität der Sozialzusammenhänge ergeben habe, auf welche die Gesellschaft reagieren musste. Das Soziale änderte sich also, da sich die medialen und kommunika‐ tiven Bedingungen änderten. 57 S C H L Ö G L , Anwesende und Abwesende (2014), S.-336, 340. 58 Ebd., S. 38f. und passim. Schlögl spricht mit Luhmann von „Erfolgsmedien“, die eine eindeutige Bestimmung der Kommunikation des Senders sicherstellen. Hierunter zählt er „Geld, Recht oder Macht“ (S. 38). Macht, hier verstanden als die Fähigkeit, eigene Interessen gegen Widerstände durchzusetzen (s. Kap. 1, Anm. 76), liegt jedoch so betrachtet quer zu anderen „Erfolgsmedien“. Daher ist im Folgenden von „Machtmit‐ teln“ die Rede, womit ökonomische, soziale, politische oder physische Ressourcen angesprochen sind, die von den Akteur: innen im Konflikt mobilisiert werden konnten. Besondere Bedeutung für die frühneuzeitliche Öffentlichkeit kam der Kom‐ munikation unter Anwesenden in Form direkter Interaktion zu. 55 Rudolf S C HLÖG L spricht diesbezüglich gar von einer ‚Anwesenheitsgesellschaft‘. 56 Als Kennzeichen dieser Kommunikation unter Anwesenden erscheint die Tatsache, dass Sender und Inhalt nicht voneinander zu trennen waren und ersterer sich somit der unmittelbaren Reaktion der Anwesenden und damit einem erhöhten Konsensdruck ausgesetzt sah. Hieraus erklärt sich für S C HLÖG L zugleich der augenscheinlich „agonal[e], polemogen[e] Grundzug“ der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit, in der die Positionen der Kommunikationsteilnehmenden - artikuliert durch Praktiken der Ehre - unmittelbar aufeinanderprallten und über Inklusion und Exklusion verhandelt wurden. 57 Dabei hatten diejenigen Akteur: innen das größte Potential zur Durchsetzung ihrer eigenen Anliegen beziehungsweise zur Unterdrückung der öffentlichen Kommunikation ihres Gegenübers, die situativ die größeren Machtmittel einsetzen konnten. 58 Schrift‐ lichkeit kam besonders dann, wenn anonym publiziert wurde, eine Sonderrolle in der Anwesenheitsgesellschaft zu, da sie die Entkopplung von Sender und Nachricht ermöglichte: Der Sender konnte sich potentiell der direkten Reaktion 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 47 59 S C H L Ö G L , Politik beobachten (2008), S. 592-598; vgl. aus medienwissenschaftlicher Perspektive: O N G , Orality and Literacy (2009), S.-43. 60 S C H L Ö G L , Anwesende und Abwesende (2014), S. 217-220 in Bezug auf die Reformatoren, welche die neuen Mittel des Druckes gegen die althergebrachten Machtmittel der katholischen Seite einsetzten. 61 H O H K A M P , Art. „Klatsch“. 62 So bspw.: S C H W E R H O F F , Historische Kriminalitätsforschung (2011), S.-82-85. 63 H E I D E G G E R , Soziale Kommunikationsräume (2005), S. 184. Weiterhin besonders promi‐ nent: H O L E N S T E I N ; S C H I N D L E R , Geschwätzgeschichte(n) (1992), S. 69f.; hier und andern‐ orts zumeist unter Verweis auf S A B E A N , Das zweischneidige Schwert (1990), S.-173f. 64 Bspw.: H Ü C H T K E R , Räubergesindel (2001); H E I D E G G E R , Soziale Dramen und Beziehungen im Dorf (1999). seines Gegenübers entziehen. 59 Schriftliche Kommunikation ließ sich somit gegen althergebrachte Machtmittel einsetzen, sie entzog sich der Kontrolle darüber, ob gelesen wurde und wer las. 60 Gerücht und Gerede Die große Bedeutung der face to face-Kommunikation in der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit führt bereits zu der Erwartung, dass auch die Schmähschriften‐ praxis ihre Wirkung zu nicht unwesentlichen Teilen im „mündlichen Kom‐ munikationsgefüge“ 61 entfaltete. Im Gegensatz zum Umgang mit Printmedien werden die Erscheinungsformen mündlicher Kommunikation selten konkret benannt und konzeptuell unterfüttert. Die Forschung grenzt die verschiedenen Bestandteile des angesprochenen Kommunikationsgefüges (zumeist bezeichnet mit Gerede, Geschwätz, Gerücht, Klatsch und Tratsch, Geschrei, Gemeine Rede oder Sag u. ä.) unterschiedlich scharf voneinander ab und profiliert sie entsprechend ihrer Erscheinungsform und Dynamik, ihrer Teilnehmerkreise und Funktionen und nicht zuletzt ihres Öffentlichkeitsbezugs. Dabei ist der Wortgebrauch zum einen uneinheitlich, zum anderen werden die verwendeten Begriffe und die zugehörigen Konzepte häufig nicht klar definiert. So unter‐ streicht die häufige gemeinsame Nennung von ‚Gerücht und Gerede‘ die her‐ ausragende Bedeutung beider Kommunikationsformen bei der Konstituierung von Öffentlichkeit. 62 Unter Gerede werden entweder die unterschiedlichsten Arten mündlicher Kommunikation subsumiert, oder es erfolgt eine Einordung in einen dynamischen Prozess von aufeinanderfolgenden und sich zuspitzenden Phänomenen, nämlich Gerede - Gerücht - Geschrei, wobei es sich vor allem um die Verdichtung von Kommunikation und Verschiebung vom privaten in den semi-öffentlichen und schließlich öffentlichen Bereich handelt. 63 Zudem werden Gerede, Geschrei, Gerücht und andere Begriffe teils synonym gebraucht, was zum einen Spiegel der Quellensprache ist, 64 zum anderen jedoch - hier vor 48 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 65 V O G E L , Politik des Gerüchts (1996), S. 4. Als beispielhaft kann die Studie Ulinka Rublacks gelten, die u. a. die Regeln des „Geredes“ thematisiert und diesbezüglich höchst einflussreich war: R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S. 19-34. Sie beschreibt das Gerücht als Gegenpol zum Gerede, als „bloßes Gerücht“ (S. 24), das unwahre Informationen transportiert. Der auch in der Quellensprache äußerst präsente Begriff wird jedoch nicht konzeptualisiert. Im Gegensatz dazu verwendet Regina Schulte in ihrer kaum weniger einflussreichen Analyse des dörflichen Geredes die Begriffe Gerede und Gerücht - angelehnt an die Quellensprache - weitgehend synonym: S C H U L T E , Das Dorf im Verhör (1989), S.-166-176. 66 K A P F E R E R , Gerüchte (1996), S.-10. 67 Für diese Metapher sei Alex Kästner herzlich gedankt. 68 H O H K A M P , Art. „Klatsch“. Als elementare Kommunikationsform kommt ihm größte Bedeutung bei der „sozialen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Berger/ Luckmann) zu, allem an der undifferenzierten Verwendung der Begriffe Klatsch, Geschwätz und Gerücht zu erkennen - Ausdruck vielfältiger, uneinheitlicher und sich ver‐ mischender Bedeutungsaufladungen in der Alltagssprache. 65 Es gilt insgesamt, was der Soziologe Jean-Noël K A P F E R E R über das Gerücht sagt: Jeder meint, er könne ein Gerücht erkennen, wenn er [es] mit einem zu tun bekomme, keiner vermag indes, dafür eine zufriedenstellende Definition zu geben. Kurz gesagt, jeder glaubt zwar felsenfest, daß es Gerüchte gibt, doch es besteht keinerlei Überein‐ stimmung, wo genau die Grenzen zu ziehen sind, an denen dieses Phänomen beginnt und endet. 66 An dieser Stelle scheint es daher geraten, einige definitorische und konzeptu‐ elle Überlegungen zu den wichtigsten Formen mündlicher Kommunikation anzustellen und mithin invektive Potentiale derselben auszuloten. Ziel ist es, ein grundlegendes Verständnis für mündliche Kommunikationsphänomene zu erhalten, nicht aber, diese anschließend im Rahmen der Fallstudien in jedem Fall eindeutig zu identifizieren und streng voneinander abzugrenzen, was weder die Konzepte selbst aufgrund ihrer relativen Unschärfe, noch die Quellen wirklich zulassen. Als zentrale Formen können zum einen das ‚Gerede‘ als Grundform ge‐ meinschaftlicher Kommunikation und zum anderen das ‚Gerücht‘ als dasjenige Phänomen, das den stärksten Öffentlichkeitsbezug aufweist, gelten. Stellt das Gerede gleichsam den schwer einsehbaren Ozean mündlicher Kommunikation dar, so treten die Gerüchte als sichtbare Wellen aus diesem hervor an die Öffentlichkeit. 67 Gerede Das Gerede stellte nicht nur in der Frühen Neuzeit die Grundform alltäglicher Kommunikation dar und kann im neutralen Sinn als „Bereden von alltäglichen Dingen als Form der Wissensweitergabe“ 68 definiert werden. Es lässt sich weder 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 49 bei Sinnproduktion und als Grundlage praktischen Handelns, s. S C H U L T E , Gerede (1992), S.-72; H E I D E G G E R , Soziale Dramen und Beziehungen im Dorf (1999), S.-210. 69 H E I D E G G E R , Soziale Dramen und Beziehungen im Dorf (1999); G L E I X N E R , „Das Mensch“ und „der Kerl“ (1994); S C H U L T E , Das Dorf im Verhör (1989). 70 R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S.-26. 71 S C H U L T E , Gerede (1992), S.-72. 72 H O L E N S T E I N , Anzeige (2001), S.-127; H Ü C H T K E R , Räubergesindel (2001), S.-162f. 73 S C H U L T E , Das Dorf im Verhör (1989), S. 166: „Träger des Geredes ist eine anonyme Instanz, welche in gewisser Weise das Dorf repräsentiert.“; ebenso: G L E I X N E R , „Das Mensch“ und „der Kerl“ (1994), S. 181; R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S.-19-34. 74 Grundlegend: B E R G M A N N , Klatsch (1987). Aus historischer Perspektive: W I C K H A M , Gossip (1998); H O H K A M P , Art. „Klatsch“; H O L E N S T E I N ; S C H I N D L E R , Geschwätzge‐ schichte(n) (1992). 75 Vgl. B E R G M A N N , Klatsch (1987), S.-19. auf spezifische Themen noch auf bestimmte Kommunikationsteilnehmende beschränken. Jedoch war das Gerede in der Sphäre lokaler Gemeinschaft beson‐ ders wirkmächtig, grundlegende Untersuchungen zu seiner Funktion beziehen sich daher auf das Dorf. 69 Das Gerede sorgte dafür, dass den Mitgliedern der Gemeinschaft „alle Informationen zugänglich waren, die über die Ehre einer Person bestimmten“ und erfüllte dadurch eine ordnungswahrende Funktion. 70 Besonders die Vermittlung sozialer Normen und die diskursive Konstruktion von Delinquenz durch das Gerede werden von der Forschung hervorgehoben. 71 Es bereitete gewissermaßen Anzeigen bei der Obrigkeit vor, die entweder persönlich erstattet wurden, oder die entsprechenden Instanzen in Form von Ge‐ rücht oder Geschrei erreichten, 72 wobei sein zugleich kollektiver wie anonymer Charakter Legitimationskraft barg und Schutz des Einzelnen ermöglichte. 73 Als eine Sonderform des Geredes kann der Klatsch (auch abfällig Geschwätz, englisch gossip) gelten, der - im Gegensatz zu Gerede und Gerücht - sehr klare Merkmale und einen besonderen Bezug zur Invektivität aufweist. 74 Als ‚Sozialform der diskreten Indiskretion‘ (B E R G MAN N ) bezeichnet Klatsch das Reden über nichtanwesende Dritte, wobei Intimsphäre und Diskretionsnormen verletzt werden. Er bedarf einer bestimmten sozialen Konstellation: Klatsch‐ produzierende, -rezipierende und -objekte müssen sich kennen und Teil der gleichen sozialen Gemeinschaft sein. Das unterscheidet den Klatsch vom Gerede und vom Gerücht, die auch mit Fremden geteilt werden können. Da er vorrangig hinter vorgehaltener Hand kommuniziert wird und idiographische, oft banal erscheinende Themen beinhaltet, weist Klatsch nur einen vergleichsweise geringen Öffentlichkeitsgrad auf. 75 Obwohl der Gehalt des Klatsches und seine 50 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 76 Bezeichnet Michaela Hohkamp den Klatsch in der ‚Enzyklopädie der Neuzeit‘ als „abwertende Rede“, so betont Chris Wickham in seinem emphatischen Aufruf zur Untersuchung von gossip die Offenheit dieser Kommunikationsform: “[Gossip] can also be characterized a little further through statements about what it is not: it is not necessarily malicious […]; it is not gendered […]; it is not necessarily idle or arbitrary […]; it is not necessarily about secret behaviour […]; and, finally, it is certainly not necessarily untrue.”, W I C K H A M , Gossip (1998), S. 11. Diese offene Betrachtungsweise erscheint insofern sinnvoll, als das Augenmerk einer historischen Untersuchung von Klatsch vor allem den zeitgenössischen Einschätzungen dieses Phänomens gilt. Vgl. zur Entwertung des „Geschwätzes“ und zum „ebenso hartnäckigen wie aussichtslosen Kampf [des Untertanenstaates] gegen den Volksmund“: H O L E N S T E I N ; S C H I N D L E R , Ge‐ schwätzgeschichte(n) (1992), Zitat S.-76. 77 Zitat: H O L E N S T E I N ; S C H I N D L E R , Geschwätzgeschichte(n) (1992), S. 42. Außerdem: B E R G ‐ M A N N , Klatsch (1987), S. 198-202; aus historischer Perspektive: W I C K H A M , Gossip (1998), S. 11; C A P P , When Gossips Meet (2003), S. 57-59; aus medienwissenschaftlicher Sicht: B R U H N , Gerüchte (2004), S.-16. 78 Zu den Inhalten zählen nach B E R G M A N N , Klatsch (1987), S. 21 oft „Charakterfehler, Diskrepanzen zwischen realem Verhalten und moralischem Anspruch, Unarten, sozial nicht akzeptierte Verhaltensweisen, Verfehlungen, Ungehörigkeiten, Unterlassungen, Anmaßungen, blamable Fehltritte, Missgeschicke, Niederlagen“ und die Beziehungen zwischen Mann und Frau. 79 Zitat aus dem Film „Mademoiselle“ (F/ GB 1966), zitiert nach N E U B A U E R , Fama (2009), S.-172. herabsetzende Wirkung unterschiedlich bewertet werden, 76 lässt sich ein großes invektives Potential konstatieren, das aus seinen beiden primären Funktionen resultiert: Zum einen erscheint die Teilnahme am Klatsch als „Markenzeichen der Zugehörigkeit zu face-to-face-communities“. 77 Die Art und Weise, in der man mit Personen über Dritte spricht - oder eben nicht -, kann Inklusion aber eben auch Exklusion markieren und vollziehen. Die weitaus größere invektive Wirkung wird potentiell allerdings in Bezug auf die Klatschobjekte erzielt. Auch wenn der Klatsch nicht zwingend einen abwertenden Charakter aufweist, so wird inhaltlich doch zumeist ein Normbruch des Klatschobjekts konstatiert, woraus sich eine entsprechende Herabsetzung desselben ergibt. 78 Hiermit ist zugleich die Funktion der sozialen Kontrolle angesprochen, die der Klatsch mit Gerede und Gerücht teilt. Gerüchte „Alle sagen es.“ - „Wer ist alle? “ - „Niemand Bestimmtes. Aber es liegt was in der Luft.“ 79 Das Gerücht nimmt eine besondere Stellung in der (geschichtswissenschaftli‐ chen) Auseinandersetzung mit Formen mündlicher Kommunikation ein. Ver‐ gleichbar mit dem Klatsch ist auch der Begriff ‚Gerücht‘ mit vielfältigen 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 51 80 Ebd., S. 11: „Wer sie [Gerüchte] erwähnt, meint eine Nachricht und zugleich ihr Medium, die Botschaft und den Boten.“ 81 Stets zu beachten ist, dass die Ergebnisse dieser zumeist mit einer Normalvorstellung von Öffentlichkeit und Kommunikation operierenden Forschung nicht ohne weiteres auf die Quellen vergangener Epochen angewandt werden können. 82 N E U B A U E R , Fama (2009), S.-11. 83 B R U H N , Gerüchte (2004), S.-15. 84 G L U C K M A N , Gossip and Scandal (1963), S.-312. 85 Bezeichnenderweise stehen sich hier die beiden bedeutendsten historisch ausgerich‐ teten Monographien konträr gegenüber. Kapferer bezeichnet seinen Untersuchungsge‐ genstand schon im Titel als „ältestes Massenmedium der Welt“, wogegen Neubauer explizit anschreibt, s. K A P F E R E R , Gerüchte (1996); N E U B A U E R , Fama (2009), S. 13. Die Frage nach dem Medienstatus des Gerüchts ist allerdings insofern eine Scheinfrage, als dass sie gänzlich vom verwendeten Medienbegriff abhängt. Dieser unterliegt wiederum keiner übergreifenden Definition, sondern wird entsprechend der Fragestellung, zu deren Klärung er beitragen soll, gewählt, vgl. K I R C H M A N N , Gerücht und Medien (2004), S. 69f. Kirchmann kritisiert zurecht, dass sowohl Kapferer als auch Neubauer zwar mit Verve für beziehungsweise gegen die Bezeichnung von Gerüchten als Medien argumentieren, ihren Medienbegriff jedoch nicht explizieren. Bedeutungsaufladungen versehen und bezeichnet potentiell sowohl die Art der Kommunikation als auch ihren Inhalt. 80 Es erscheint lohnenswert, sich diesem konstitutiven Faktor frühneuzeitlicher Öffentlichkeit über zwei ver‐ schiedene Zugänge anzunähern: Erstens sollen Ansätze der Gerüchteforschung aufgegriffen werden, die einen gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit formulieren, um ein grundlegendes Verständnis der Kommunikationsform zu erhalten. 81 Zweitens müssen die vorliegenden Erkenntnisse der historischen Forschung zum Phänomen ‚Gerücht‘ Beachtung finden; hier erscheint es aufgrund der genannten Etikettfunktion des Gerüchts notwendig, den Wortge‐ brauch des 16. Jahrhunderts kurz zu thematisieren, denn ein Gerücht ist auch „[…] das, was man als solches bezeichnet, also eine sich geschichtlich wandelnde Konvention, die ganz verschiedene Phänomene meinen kann.“ 82 Die Forschung bietet bislang keine allgemeingültige Definition des Gerüchts, ja in vielerlei Hinsicht stellt das Thema noch immer ein weitgehendes For‐ schungsdesiderat dar. 83 Dies verwundert umso mehr, als die große praktische Bedeutung von Gerüchten schon lange bekannt ist; Max G L U C KMAN N rechnet sie, gemeinsam mit dem Klatsch, gar unter die „wichtigsten gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene“. 84 Schon die (scheinbar) grundlegende Frage, ob es sich beim Gerücht um ein Medium handelt oder nicht, sorgt für Streit. 85 Im Folgenden soll das Gerücht als prinzipiell medienoffene Kommunikationsform verstanden werden, deren primäres Medium das gesprochene Wort und entsprechend wichtigste Bezugsgröße das Hörensagen ist. Das Gerücht ist jedoch nicht an selbiges gebunden, sondern wird - und das ist mit Blick auf die Funktion der 52 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 86 H U N T , Rumour (2014), S.-147. 87 M I E R A U , Fama (2011), S.-273. 88 N E U B A U E R , Fama (2009), S.-11. 89 E B E R L E , Gerücht oder Faktizität (2004), S.-17. Schmähschriften besonders hervorzuheben - auch im Medium der Handschrift und des Drucks transportiert. So konnte John H U N T für das frühneuzeitliche Rom bereits nachweisen, dass mündlich kommunizierte Gerüchte Eingang in Zeitungen und Schmähschriften fanden, selbige aber wiederum Gerüchte anstoßen konnten, man es also mit intermedialen Wechselwirkungen zu tun hat. 86 Theoretische Annährungen an das Gerücht Im Folgenden wird eine Beschreibung des Phänomens ‚Gerücht‘ über dessen Eigenschaften angestrebt, die der sozial-, medien- und kommunikationswissen‐ schaftlichen, aber zum Teil als Vorgriff bereits der historischen Theoriearbeit entnommen sind. Ein Verständnis dieser Eigenschaften kann helfen, auch die Dynamiken und Funktionen der Kommunikationsform in den Falluntersu‐ chungen zum 16.-Jahrhundert besser zu verstehen. Neben der primären Verbreitung über das Hörensagen wird der kollektive und prozesshafte Charakter des Gerüchts übereinstimmend hervorgehoben. Das Gerücht verbreitet sich demnach kettenhaft ‚von Mund zu Mund‘ und erreicht dabei eine hohe Geschwindigkeit. Die Gerüchtekommunikation beschränkt sich nicht zwingend auf miteinander bekannte Personen oder einzelne Gemein‐ schaften, wie für Klatsch oder Gerede festgestellt. Sie ist im Gegenteil gerade dazu geeignet, sich besonders weit und über räumliche wie soziale Grenzen hinweg zu bewegen. Die kettenhafte Verbreitung führt zudem zur Anonymität, da man in Bezug auf den „gestaffelten Kommunikationsakt“ des Mündlichen immer nur das letzte Glied der Übertragungskette kennt. Alle vorherigen Kom‐ munikationsteilnehmenden bleiben hinter der anonymen Instanz des ‚man sagt‘ verborgen. 87 Ebendiese Instanz dient zugleich zur Legitimation des Gesagten: „[W]as alle sagen, ist noch kein Gerücht, sondern das, von dem man sagt, dass es alle sagen“ 88 - Gerüchte haben also selbstreferenziellen Charakter. Ihr Kommunikationsinhalt ist im Gegensatz zum Klatsch offen, er kann Personen-, Objekt- oder Ereignisbezug aufweisen. 89 Allerdings bedarf das Gerücht, damit es als solches Verbreitung finden kann, der - wenn auch nur subjektiv wahr‐ genommenen - Relevanz für die Gemeinschaft. Diese Relevanz ergab sich in der Vormoderne oft aus einem impliziten Bezug zum Gemeinen Nutzen, 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 53 90 Exemplarischen Charakter haben diesbezüglich kursierende Nachrichten über Ehe‐ bruch und Schwangerschaft in ihrem direkten Einfluss auf die Güterverteilung in der dörflichen Gemeinschaft, vgl. S C H U L T E , Gerede und Arbeit (2012). Zur Verbindung von Gerüchten und Gemeinem Nutzen vgl. für das Mittelalter: M I E R A U , Fama (2011). 91 M I E R A U , Fama (2011), S. 242. Die Kommunikationswissenschaft spricht von leveling (Verkürzung), sharpening (Konkretisierung) und assimilation (Anpassung) der Inhalte, s. M E R T E N , Zur Theorie des Gerüchts (2009), S.-23. 92 K A P F E R E R , Gerüchte (1996), S.-12-17 mit Verweisen auf die ältere Literatur. 93 K I R C H M A N N , Gerücht und Medien (2004), S.-74f. 94 E B E R L E , Gerücht oder Faktizität (2004), S. 94. Für Eberle bilden Gerüchte mit ihren gemeinsamen Merkmalen eine Gattungsfamilie, die sich durch eingeschränkten Gel‐ tungsanspruch und kettenhafte Verbreitung definiert. 95 M E R T E N , Zur Theorie des Gerüchts (2009), S. 31-34 spricht bei den absichtlich lancierten und potentiell schädlichen Gerüchten von „Artefaktgerüchten“. sodass Normüberschreitungen als prädestinierte Gerüchteinhalte erscheinen. 90 Andersherum kann der Inhalt im Lauf der Verbreitung seine Gestalt verändern: „Durch subjektive Wahrnehmungen, Missverständnisse und sich anlagernde Vermutungen wandelt sich der Inhalt meist so, dass die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Bedürfnisse und Ängste klarer hervortreten.“ 91 Eine wichtige Eigenschaft des Gerüchts betrifft dessen Beziehung zur Wahr‐ heit. Dabei kann man Gerüchte nicht per se als kontrafaktisch definieren, wie es in der älteren Forschung häufig geschehen ist. 92 Nicht nur stellen sich Gerüchte vielfach als wahr heraus, mehr noch: Erst ihre potentielle Glaubwürdigkeit macht sie interessant. Sie befinden sich in einem Prozess der Wahrheitsüberprüfung, der aus dem Gerücht erst eine Lüge, eine üble Nachrede, oder eben eine wahre Nachricht macht. 93 Da diese Prüfung für ein Gerücht immer erst noch aussteht, kann der explizit eingeschränkte Geltungsanspruch als ein charakteristisches Merkmal bezeichnet werden. 94 Die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes wird dabei jedoch subjektiv durch die einzelnen Kommuni‐ kationsteilnehmenden vorgenommen; was für die eine Person ‚bloßes Gerücht‘, also die Unwahrheit ist, nimmt die andere gegebenenfalls als sichere Nachricht wahr. Gerüchte erfüllen potentiell unterschiedliche Funktionen. Auf der Ebene der kommunizierenden Person können sie unbewusst dem Abbau von Span‐ nungen und Affekten dienen oder aber strategisch-bewusst eingesetzt werden, um einen persönlichen Vorteil zu erzielen - sei es die Diskreditierung von Kontrahent: innen oder die Selbstdarstellung als moralisch überlegen oder gut informiert. 95 Beides fördert die Verbreitung von Gerüchten. Auf der Ebene der Gesellschaft wird Gerüchten zudem eine substitutive Funktion zugesprochen. Demnach ersetzen sie als mangelhaft oder fehlend wahrgenommene ‚offizielle‘ 54 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 96 Bruhn spricht hierbei von psychoanalytischen, strategischen und situativen Motiven beziehungsweise Funktionen, B R U H N , Gerüchte (2004), S.-26-28. 97 Wem die Autorität zustehen sollte, derart ‚offizielle‘ Nachrichten zur Verfügung zu stellen, wird auch von Kapferer nicht thematisiert, obwohl er die fehlende offizielle Bestätigung zum definitiven Merkmal der Gerüchte erklärt. Vgl. die entsprechende Kritik bei V O G E L , Politik des Gerüchts (1996), S. 5. Die Surrogatthese gilt aber auch in der medienwissenschaftlichen Forschung zum Teil als widerlegt, da die massenmediale Verfügbarkeit „offizieller“ Nachrichten keineswegs zur abnehmenden Bedeutung von Gerüchten geführt habe, s. K I R C H M A N N , Gerücht und Medien (2004), S.-73. 98 K A P F E R E R , Gerüchte (1996), S. 66. Dabei ist der Inhalt des Gerüchts zunächst zweitrangig, da es allein um die Teilhabe an der Kommunikation als solcher geht. Allerdings wirken sich bestehende Gruppenzugehörigkeiten durchaus auf den Umgang mit Gerüchten aus. Es ist davon auszugehen, dass ein einer Bezugsperson schädliches Gerücht tenden‐ ziell weniger freizügig geteilt wird als dasjenige, welches verfeindeten oder fremden Personen schadet. Informationen. 96 Diese sogenannte Surrogat-These erweist sich allerdings für die historische Forschung als höchst problematisch, da sie sich nur schwer auf vormoderne Öffentlichkeitskonzepte anwenden lässt. 97 Außerdem geht sie mit einem Defizit-Bias einher, der von vornherein zur Betrachtung von Gerüchten und ihrer Rezeption als einer Art Mangelerscheinung verführt. Unstrittig hingegen erscheint die enorme Wirkmächtigkeit von Gerüchten. Als Teil der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit transportieren sie soziale Normen und erfüllen, wie für den Klatsch bereits beschrieben, eine wichtige Funktion bei der Bildung von Zugehörigkeiten, denn „[e]ine Beteiligung am Gerücht ist auch eine aktive Beteiligung an der Gruppe.“ 98 Gerüchte in der Frühen Neuzeit Im Folgenden sollen kurz diejenigen Ansätze zu Mechanismen und Funktionen von Gerüchten sowie deren Rezeption in der Frühen Neuzeit vorgestellt werden, die potentiell aufschlussreich sind für die Erklärung der Wirkung von Schmäh‐ schriften im von Mündlichkeit geprägten Kommunikationsgefüge der Zeit. Besonders eindrücklich werden vormoderne Vorstellungen von Gerüchten von Geoffrey Chaucer (1342-1400) in Worte gefasst; in seiner Allegorie Das Haus der Fama beschreibt der Dichter auch ein Unhaus des Hörensagens und der Gerüchte. Dieses Haus ist negativ konnotiert und voller Unsicherheit, hier verändert und vermehrt sich das Gerücht durch beständiges Weitererzählen. Sein Ursprung hingegen lässt sich nicht fassen: Ich aber sah aus diesem Grund Sofort dahin, denn Alles lief Dem Orte spornstreichs zu und rief: 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 55 99 C H A U C E R , Das Haus der Fama (1883), Z. 1054-1068. Vgl. N E U B A U E R , Fama (2009), S. 91-98. 100 Eine epochenübergreifende Perspektive bietet lediglich die einflussreiche Arbeit Hans- Joachim Neubauers, die allerdings keinen systematischen Zugang aufweist, sondern den Wandel der Denkfigur Fama sowie die „historischen Echos“ des Phänomens in tendenziell essayistischer Manier untersucht, vgl. S Ä L T E R , Rezension zu: Neubauer, Fama (2000). Die zweite einflussreiche Monographie zum Thema legte der französi‐ sche Soziologe Jean-Noël Kapferer vor. Diese bietet aber jenseits durchaus guter Denkanstöße keine methodisch fundierten Aussagen, vgl. die entsprechende Kritik bei: E R N S T , Mutmassungen (1996). Zu einer Verknüpfung von sozial-, medien- und kommunikationssowie geschichtswissenschaftlichen Zugängen kam es bislang kaum. Sozialwissenschaftliche Studien nutzen zwar seit langem historische Fallbeispiele, um zu verallgemeinerbaren Aussagen im Sinne einer ‚Gerüchtetheorie‘ zu gelangen, ebenso die Medien- und Kommunikationswissenschaft. Dabei wurden jedoch Öffentlichkeits- und Kommunikationskonzepte nicht in einen angemessenen historischen Rahmen gesetzt, sondern ein (moderner) Normalzustand derselben unterstellt, vgl. A L T E N H Ö N E R , Kommunikation und Kontrolle (2008), S. 2-4. Die Geschichtswissenschaft setzt sich ihrerseits in aller Regel kaum mit den theoretischen Angeboten der Gerüchteforschung auseinander. Positive Gegenbeispiele bieten die Studien von Joachim Eibach, Tobias Kies und Florian Altenhöhner, die jedoch allesamt in der Neuzeit angesiedelt sind: E I B A C H , Gerüchte im Vormärz (1994); K I E S , Hörensagen (2004); A L T E N H Ö N E R , Kommu‐ nikation und Kontrolle (2008). „Was gibt es hier? “ - und Andre sprachen: „Wir wissen’s nicht! “ - und damit brachen, Die hinten standen, allgemein Auf ihre Vorderleute ein Und kletterten auf ihre Nacken Und traten sie mit ihren Hacken, Indem empor ein Jeder schrie, Und stampften, wie den Pfeffer, sie. Und schließlich sah ich einen Mann, Welchen ich nicht nennen kann, Indessen soviel scheint mir klar, Daß er von großem Ansehn war. 99 Dass der Mann, der gleichsam als Quelle der Gerüchte im Zentrum des Unhauses steht, zwar nicht zu identifizieren ist, aber dennoch großes Ansehen genießt, verdeutlicht bereits, welche Relevanz dieser flüchtigen Kommunikationsform begeimessen wurde. Zwar sind in den vergangenen Jahren durchaus viele Arbeiten zu Gerüchten in Mittelalter und Früher Neuzeit entstanden; eine größer angelegte, systemati‐ sche Untersuchung des Gegenstands steht allerdings noch aus. 100 Die Forschung konzentriert sich bislang vorrangig auf die Effekte von Gerüchten auf dem Feld des Politischen. Von Seiten der Herrschenden konnten Gerüchte im politischen 56 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 101 D E C R A E C K E R - D U S S A R T , La rumeur (2012), S.-175. 102 Siehe zuletzt bspw. M Ü N S C H , Gerüchte und ihre Verbreitung (2016); sowie die Beiträge von Isaïa, Brocard, Depreux, Lecuppre/ Lecuppre-Desjardin und Billoré in S O R I A ; B I L ‐ L O R É -(Hg.), La rumeur au Moyen Âge (2011). 103 E I B A C H , Gerüchte im Vormärz (1994), S.-246. 104 Siehe zuletzt H U N T , Rumour (2014); M I E R A U , Fama (2011); N A D R I G N Y , Rumeur et opinion publique (2009). Vgl. auch K O S C H O R K E , Das Volk als Gerücht (2008). 105 N E U B A U E R , Fama (2009), S.-112. 106 Mierau spricht schon für die Zeugenverhöre des Mittelalters von der Anonymität als „Sicherungsmechanismus gegen die Macht“; vgl. M I E R A U , Über Gerüchte schreiben (2008), S.-63. 107 R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S.-33. 108 Das Gerüfte entwickelte sich zunächst aus dem Hilfeschrei des Opfers eines Verbre‐ chens. Dieser diente dazu, die Mitglieder der Gemeinschaft herbeizurufen, um die Täter: innen bei ‚handhafter‘ Tat zu stellen. Die herbeigeilten Personen konnten im anschließenden Prozess als ‚Schreimänner‘ die Tat bezeugen - ähnlich der heute verbreiteten Vorstellung von Augenzeugen. Das Offenbarmachen der Tat war gewis‐ sermaßen Voraussetzung einer öffentlichen Strafgerichtsbarkeit. Das Konzept des Kampf als ‚Instrumente der Macht‘ 101 und als Werkzeuge der Propaganda Verwendung finden. 102 Weit häufiger wird jedoch die gegensätzliche, nämlich subversive Kraft der Gerüchte betont: Aus dieser Perspektive erlaubte die Kom‐ munikationsform den Austausch von Meinungen und Ideen auf der Ebene der Untertan: innen; auf diese Weise konnte eine „Gegenöffentlichkeit“ 103 entstehen, welche die politische Partizipation auch der unteren sozialen Schichten ermög‐ lichte. 104 Von Zeitgenoss: innen wurde das Gerücht daher zum Teil als „Feind der Staatsmacht“ und „Gegner der Ordnung“ 105 wahrgenommen. Unkontrollierbar‐ keit und die verdeckte, anonyme Kommunikation als „Sicherungsmechanismus“ gegen die Obrigkeit stellten von dieser Warte betrachtet die Hauptmerkmale der Kommunikationsform dar. 106 Eine andere, kriminalitätshistorische Perspektive auf Gerüchte untersucht deren Rolle beim Öffentlichmachen und Anzeigen von Fehlverhalten, betont also eine den Obrigkeiten eher nützliche Funktion. Bei Verdacht auf Normüber‐ schreitungen entstand demnach im Gerede „ein kollektiver Informationspro‐ zess, der die Wahrscheinlichkeit des abweichenden Verhaltens einer Person auslotete.“ 107 Im Ergebnis gebar das intime bis halböffentliche Gerede ein öffentliches Gerücht oder Geschrei, das eine anonymisierte Anzeigefunktion erfüllen und eine Reaktion der Obrigkeiten bewirken konnte. Hinsichtlich dieser Funktion, nämlich derjenigen des Öffentlichmachens von Normbrüchen, steht das Gerücht in einer engen Verbindung zum Gerüfte, das sich im späten Mittelalter aus der Beschreiung der Täter: innen durch Augenzeug: innen zu einer allgemeineren Form der öffentlichen Bezichtigung entwickelte. 108 Auch wer nicht bei Ausübung der Tat erwischt und beschrien, 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 57 Gerüftes wurde im Verlauf des Mittelalters ausgeweitet: Auch, wenn der/ die Täter: in nicht bei Ausübung seiner Tat beschrien, sondern anderweitig „bezichtigt“, oder „ins Gerede gebracht“ wurde, musste er sich vor der Gemeinschaft und gegebenenfalls vor dem Gericht verantworten, vor dem er gleichsam anonym angeklagt worden war. S. H O L Z H A U E R , Gerüfte (1989). Entsprechend kennt das Grimmsche Wörterbuch als Bedeutung des Gerüchts: „not-, hülfs- oder zetergeschrei, unter welchem der auf der that ertappte verbrecher verfolgt und vor gericht geschleppt wurde“, s. Art. „Gerücht“, in: DWB. 109 T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S.-22. 110 H O L E N S T E I N , Anzeige (2001); H Ü C H T K E R , Räubergesindel (2001). 111 T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S. 49. Zum Zusammenhang von Öffentlichkeit und Recht in der Vormoderne s. Kap. 2.3.2. 112 H Ü C H T K E R , Räubergesindel (2001), S.-162f. Zu Rügebräuchen vgl. Kap. 6.2. 113 B U B E R T , Fakten, maßgeschneidert? (2021), S.-251. 114 E B E R L E , Gerücht oder Faktizität (2004), S.-99. sondern lediglich „ins Gerede gebracht“ wurde, musste sich vor der Gemein‐ schaft und gegebenenfalls vor Gericht verantworten. 109 Dieser Mechanismus tritt am deutlichsten in Gestalt der Rügegerichte zutage. Hierbei wurden durch Amtspersonen, mancherorts auch durch alle vollwertigen Rechtspersonen, Vergehen an die Gerichtsbehörde gemeldet, welche die Anzeigenden nicht selbst betrafen, ihnen aber - z. T. nur vom Hörensagen - bekannt waren. 110 Diese Praxis des Öffentlichmachens stand in Zusammenhang mit der weit verbreiteten gesellschaftlichen Sorge, Normbrüche könnten unerkannt und ungesühnt bleiben. 111 Besonders in einer Zeit, in der sich die Verfolgung von Straftaten von Amts wegen (Offizialmaxime) noch nicht vollständig durchge‐ setzt hatte, spielte die zum Teil anonyme, vor allem aber nicht ausschließlich vom Opfer erhobene Anklage durch Öffentlichmachen eine große Rolle. Diese Form der gerüchteartigen Berichterstattung bot zum einen den Informant: innen durch die Anonymität Schutz (etwa vor Verleumdungsklagen), zum anderen einen hohen Grad an Legitimation, da sie als Ausdruck der vorangegangenen Kommunikation in der Gemeinde betrachtet werden konnte. 112 Insgesamt ist der argumentative Verweis auf Gerüchte vor frühneuzeitlichen Gerichten allerdings als paradox zu bezeichnen: nutzte man sie einerseits zur „Inszenierung von ‚Offenkundigkeit‘“, 113 konnte die Etikettierung einer Information als ‚bloßes Gerücht‘ andererseits auch eine rhetorische Strategie darstellen, um diese als kontrafaktisch abzuwerten. 114 Der zweite Begriff, anhand dessen man sich der Bedeutung von Gerüchten im Rechtswesen annähern kann, ist der Leumund als die Essenz aus zugespro‐ chener Ehre, Ruf und sozialem Status. Ein schlechter Leumund konnte durch negative Gerüchte konstruiert werden und zu ähnlichen Effekten führen wie das 58 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 115 Besonders fatal war ein übler Leumund im ‚Leumundsprozess‘, der zur Verfolgung und Verurteilung ‚landschädlicher Leute‘ eingeführt wurde. Dabei wurden den schlecht beleumundeten Angeklagten Möglichkeiten der Verteidigung (zum Beispiel der Reini‐ gungseid) entzogen, sodass sie weitgehend formlos abgeurteilt werden konnten. S. T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S.-51. 116 B A U E R , „gemain sag“ (1981), S.-150. 117 Art. „Gerücht“, in: DWB. 118 Helfricus Emmelius, sylva quinquelinguis vocabulorvm et phrasium germanicae, la‐ tinae, græcae, hebraicae, gallicae linguae (1592), zitiert nach: ebd. 119 Magdeburger Polizeiordnung von 1688, zitiert nach: ebd. 120 Johann Agricola, Sprichwörter (1570), zitiert nach: ebd. 121 Georg Rollenhagen, Froschmeuseler (1595), zitiert nach: ebd. genannte Gerüfte, da ‚auf Leumund‘ gerichtet werden konnte. 115 Einen guten Leumund zu haben bedeutete im wahrsten Sinne des Wortes ‚unbescholten‘ zu sein - im Umkehrschluss werden Unehrliche in den Quellen oft als „Berüchtigte“ oder „Verleumdete“ bezeichnet. 116 Ein kurzer Blick auf den zeitgenössischen Wortgebrauch belegt, dass viele der bisher genannten Eigenschaften und Funktionen von Gerüchten den Menschen der Frühen Neuzeit durchaus bewusst waren. Eine Annäherung ermöglicht das Grimmsche Wörterbuch. 117 Demnach bezeichnete das Gerücht ursprünglich neutrale Phänomene des lauten Rufens und Schreiens, sowie die gemeine […] red die under dem gemeinen volck herumb gehet, 118 also das, worüber eine relevante Anzahl an Mitgliedern einer Gemeinschaft redete und Bescheid wusste. Der kollektive Charakter und die Mündlichkeitsaffinität waren demnach anerkannte Merkmale. Darüber hinaus existierten vor allem seit dem Übergang vom Spät‐ mittelalter zur Frühen Neuzeit wertende Bedeutungszuschreibungen. So trat die Ungewissheit als Charakteristikum hervor: ungewisses gerede, unbestimmte nachricht, rumor incerti auctoris. Gemeint ist also eine Ungewissheit bezüglich des Ursprungs, womit die Anonymität des Gerüchts angesprochen ist, als auch des Wahrheitsgehalts der Nachricht. Letzteres wird in den Belegen auch hinsichtlich der üblichen Verwendung von Gerüchten im Gerichtsverfahren problematisiert: wann ein gerüchte wegen einer missethat entstanden, hat der richter zuförderst wohl zu erkundigen und reiflich zu erwägen …, ob das gerüchte beständig oder unbeständig sei. 119 Auch der erwähnte Bezug von Gerüchten auf soziale Normbrüche findet seinen Beleg (wenn nun jemand … übel gehan‐ delt, davon ein geruchte und gemeine sage gehet), 120 ebenso derjenige auf die Konstruktion von Delinquenz (denn wen das gerücht zum buben macht, der bleibt sein lebenlang veracht). 121 Es verwundert daher wenig, dass das Gerücht in direkter Verbindung zu Verleumdung und übler Nachrede stand. Sebastian Franck (1499-1542) führte unter den verbreiteten Sprichwörtern seiner Zeit auf: 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 59 122 Sebastian Franck, Sprichwörter (1541), zitiert nach: ebd.; S T U P P E R I C H , Art. „Franck, Sebastian“ (1961). 123 [Anonym], antea dictus gemmula. modo vocabulorum gemma (1495), zitiert nach: Art. „Gerücht“, in: DWB. 124 Siehe allein die Beiträge von Walker, Capern und Broomhall/ van Gent in K E R R ; W A L K E R (Hg.), Fama and her sisters (2015); sowie Wickham, Kuehn und Cavi‐ ness/ Nelson in F E N S T E R ; S M A I L -(Hg.), Fama (2003). 125 Vgl. W Ü R G L E R , Fama und Rumor (1996), S.-28. 126 M I E R A U , Über Gerüchte schreiben (2008), S.-48. 127 W Ü R G L E R , Fama und Rumor (1996) betont die Alltäglichkeit des Gerüchts, handelt diese jedoch letztlich in einem Satz ab: „Gerüchte über den guten Ruf einer Person waren natürlich auch außerhalb der Unruhen von eminenter Bedeutung, etwa für die dörfliche und städtische Sozialkontrolle und Sittenzucht, für Hexenprozesse und überhaupt für das Funktionieren sozialer Exklusions- und Etikettierungsmechanismen.“ (S.-28f.). das gerücht tödt den man. 122 Schließlich bezeichnete das Gerücht im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch auch eine feste Größe, de[n] ruf, in welchem man in der leute mund steht. Hiermit konnte sowohl ein guter als auch ein schlechter Ruf beziehungsweise Leumund gemeint sein (fama est nomen malarum et bonarum rerum). 123 Der Einfluss dieser Form der Kommunikation auf die Ehre einer Person und auf ihren gesellschaftlichen wie rechtlichen Status war also im Wortgebrauch festgeschrieben. Alles in allem wies die Gerüchtekommunikation ein hohes invektives Poten‐ tial auf, das sich vor allem auf das Gerüchteobjekt bezog, wie die vielfältigen Arbeiten der letzten Jahre zur Verbindung von Gerücht und Reputation be‐ legen. 124 Da die Ehre einer Person im öffentlichen Diskurs konstruiert wurde und Gerüchte vornehmlich angebliche oder tatsächliche Normbrüche transpor‐ tierten, konnten Gerüchte unmittelbaren Einfluss auf das soziale Ansehen und somit das Leben des Individuums nehmen. 125 Hier existieren Schnittmengen zum Klatsch, der jedoch in der privaten Kommunikation verhaftet war. Die - stärker als der Klatsch und das Gerede - öffentlichen Gerüchte beförderten zudem die Tragweite der thematisierten Normbrüche in besonderem Maß, denn „[d]as Reden über ein Vergehen potenzierte den Skandal.“ 126 Besonders aus Sicht der Obrigkeiten stellten Gerüchte eine kaum zu kontrollierende Form der kollektiven Kommunikation von hoher Verbreitungsgeschwindigkeit und öffentlichem Charakter dar, die in der Lage war, Herrschafts- und Machtstruk‐ turen zu unterlaufen. Über die genannte Bedeutung des lauten Rufens und Schreiens bestand außerdem eine Verbindung zu Tumult und Aufruhr, die beim Begriff ‚Rumor‘ besonders augenfällig wird, der sowohl das Gerücht als auch den Aufruhr bezeichnete. 127 Auch in der Forschung wird diese Verbindung starkgemacht: Die allermeisten Untersuchungen rücken die Rolle von Gerüchten im Rahmen 60 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 128 M E R T E N , Zur Theorie des Gerüchts (2009), S.-554. 129 Zu den theoretischen Grundlagen besonders prägnant: K I E S , Hörensagen (2004), S. 49- 51. 130 Neubauer bezieht sich dabei auf eine Bedeutungsverschiebung des Begriffes Fama seit der Renaissance. Demnach stand ‚Fama‘ seit dieser Zeit vor allem für den Ruf oder Ruhm einer Person, „statt die Ambivalenz des Hörensagens in einem kohärenten Bild zu verkörpern.“, N E U B A U E R , Fama (2009), S.-89f. 131 R E Q U A T E , „Kultur der Neuigkeiten“ (2002), S. 253. Requate definiert Gerüchte allerdings als nicht belegte Nachrichten. B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S.-26. 132 H O H K A M P , Art. „Gerücht“. 133 Bruhn bezeichnet Gerüchte als „Phänomene der zwischenmenschlichen und öffentli‐ chen Kommunikation“, B R U H N , Gerüchte (2004), S.-21. 134 Zur Normativität der Habermasschen Öffentlichkeit in Anlehnung an Bernhard Peters vgl. S C H W E R H O F F , Stadt und Öffentlichkeit (2011), S.-6. von Ausnahmezuständen, Unruhen und Revolutionen in den Mittelpunkt, in denen sie als ein Moment „sozialer Selbsthilfe“ 128 den Menschen die kollektive Interpretation der Wirklichkeit ermöglichen. 129 Die Bedeutung des Gerüchts als Phänomen alltäglicher Kommunikation jenseits von Unruhe und Anzeige wird hingegen äußerst selten thematisiert, man kann mit N E U B A U E R von der „Lücke im Hörensagen“ sprechen. 130 Dabei misst die Forschung zur frühneuzeit‐ lichen Öffentlichkeit den Gerüchten als Teil der mündlichen Kommunikation durchaus eine große Bedeutung bei; sie gelten nach Jörg R E Q UAT E für die Zeit bis zum 19. Jahrhundert als Normalfall des Nachrichtenaustauschs und auch Daniel B E L LIN G R AD T hält fest, dass das (politische) Wissen der Menschen des 18. Jahrhunderts neben Beobachtungen und Nachrichten gerade auf Gerüchten aufbaute. 131 In der Enzyklopädie der Neuzeit werden Gerüchte gar als „eine Form kollektiver Kommunikation, die Öffentlichkeiten konstituiert“, bezeichnet. 132 Für eine Untersuchung der Mechanismen des Öffentlichmachens in der Frühen Neuzeit stellen Gerüchte daher zentrale Gegenstände dar. Mehr als Gerede und Klatsch wandten sie sich der öffentlichen Sphäre zu und bildeten eine der Scharnierstellen zwischen dem Geheimen und dem Öffentlichen. 133 2.3.2 Öffentlichkeit als gesellschaftliche Instanz Über die Analyse des beschriebenen Kommunikationsnetzes hinaus lassen sich Aussagen über gesellschaftliche Funktionen von Öffentlichkeit treffen. In diesem nicht technischen, sondern stärker normativen Sinn meint Öffentlich‐ keit mehr als die Summe einzelner Kommunikationsakte. 134 Wenngleich die Menschen des 16. Jahrhunderts das Substantiv ‚Öffentlichkeit‘, das erst in der 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 61 135 H Ö L S C H E R , Öffentlichkeit (1997), S. 14. Für weitere Literatur zur Diskussion dieses ‚kon‐ trollierten Anachronismus‘‘ s. S C H N U R R , Religionskonflikt und Öffentlichkeit (2009), S.-33. 136 H A B E R M A S , Strukturwandel der Öffentlichkeit (1990), Zitat S.-13. 137 F R A S E R , Rethinking the Public Sphere (1990). 138 Eine intensive Auseinandersetzung mit Habermas aus frühneuzeitlicher Perspektive bietet K Ö R B E R , Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit. (1998), S. 4-22. Außerdem: G E ‐ S T R I C H , The Public Sphere and the Habermas Debate (2006); R A U , Konstitution öffentli‐ cher Räume (2011), S.-39-45. 139 B E C K E R T u.-a., Invektive Kommunikation (2020), S.-37-42. Zeit der Aufklärung als politisch-sozialer Grundbegriff entstand, nicht kannten, ist es doch sinnvoll, nach funktionsäquivalenten Vorstellungen zu fragen. 135 Diese Perspektive auf Öffentlichkeit steht bis heute in starkem Bezug zu Jürgen H A B E R MA S ’ Arbeit zur ‚bürgerlichen Öffentlichkeit‘, deren Grundlage zwar ebenfalls ein „relativ dichtes Netz öffentlicher Kommunikation“ ist, die sich aber vor allem über ihre Funktion als Legitimationsinstanz des Politischen und ihre Fähigkeit zum Räsonieren, also zur vernünftigen Sachdiskussion über Legitimation von Herrschaft und allgemeindienliche Politik, definiert. 136 Es ist jedoch zu betonen, dass diese eine Öffentlichkeit, auch im Rahmen einer Gegenwartsbeschreibung, eine Fiktion ist. Beschränkte Zugangsmöglichkeiten, ungleiche Statuszuschreibungen und eine Vielzahl von öffentlichen Arenen und Formen der Teilhabe am öffentlichen Leben führen letztlich immer zu einer Pluralität von Öffentlichkeiten. 137 Vergleichbar mit den frühneuzeitlichen Vorstellungen von Ehre stellt die eine Öffentlichkeit als feste Größe jedoch durchaus einen Referenzpunkt und eine Adressierungsinstanz dar. Hinsichtlich der umfangreichen Kritik an den von H A B E R MA S beschriebenen historischen Öffentlichkeitstypen kann an dieser Stelle nur auf bestehende Überblicke verwiesen werden. 138 Für die vorliegende Arbeit relevant ist die anhand des Invektivitätskonzepts formulierte Kritik an der Fokussierung auf die angesprochene vernünftige Deliberation und die damit einhergehende Ausklammerung aller Formen öffentlicher Kommunikation, die als invektiv bezeichnet und deren Wirkmächtigkeit weder in aktuellen, noch in historischen öffentlichen Kommunikationssettings bestritten werden kann. 139 Auch wenn H A B E R MA S ’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht ohne Einschränkungen auf die Zeit vor dem 18. Jahrhundert übertragen werden kann, scheinen doch einige der Funktionen und konstitutiven Merkmale des Phänomens bereits von Bedeutung gewesen zu sein. Eine Untersuchung öffent‐ lichkeitsbezogener Schmähschriften muss einerseits diesbezüglich bestehende Ansätze einbeziehen, andererseits kann sie helfen, diese Ansätze zu überprüfen und gegebenenfalls weiterzudenken. Das zentrale Merkmal der Herrschaftslegi‐ 62 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 140 B A U E R , „gemain sag“ (1981), S. 261 außerdem S. 5: „In spätmittelalterlichen Wendungen wie ‚geschrey‘ oder ‚gemein sag‘ teilt sich eine politisch-soziale Funktion mit, die auch dem modernen Wortverständnis und Anwendungsbereich von ‚öffentlicher Meinung‘ immanent ist.“ 141 A R N D T , Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit (2013), S. 25. Ebenso zur politischen Öffentlichkeit der mittelalterlichen Stadt: M O N N E T , politische Öffentlichkeit (2011), bes. S.-358. 142 R E P G E N , Westfälischer Frieden (1997), S. 48. Ähnlich sieht das bereits V O N M O O S , „öffentlich“ und „privat“ (1998), S. 189: „Wenn es eine vorbürgerliche ‚öffentliche Meinung‘ gab, so entstand sie nicht als eine ihren Trägern bewußte Gegenmacht, sondern als Schreckgespenst der Herrschenden.“ 143 S. Kap. 2.3.1. 144 T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S. 18. Seine Ausführungen beziehen sich zwar auf das Mittelalter, lassen sich jedoch auf die Zeit nach 1500 übertragen (S.-49). timation durch Öffentlichkeit entstand nach der vielleicht zu wenig beachteten Arbeit Martin B A U E R S zur ‚gemain sag‘ bereits im Spätmittelalter. B A U E R S zen‐ trale Aussage ist, dass „im Volk kursierende Nachrichten, Gerüchte und Urteile“ eine „öffentliche Meinung“ formten und so eine „politische Öffentlichkeit“ zustande kam, die in das Handeln der Obrigkeiten miteinbezogen wurde. 140 Auch Johannes A R N DT spricht in seiner Untersuchung zur Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 17.-Jahrhunderts davon, dass schon im Spätmittelalter eine Rückbindung der beobachteten politischen Phänomene durch die Herrschaftsun‐ terworfenen an den allgemeinen Rahmen der politischen Normen und Wertvorstel‐ lungen statt[fand], wodurch Legitimationszwänge aufgebaut und eine herrschaftsbe‐ grenzende Funktion erzielt wurde. 141 Konrad R E P G E N bezeichnet die Öffentlichkeit der Zeit des Westfälischen Friedens gar als „Drohgespenst und Appellationsinstanz“. 142 Wie es die oben angesprochene Bedeutung von Gerüchten für das frühneu‐ zeitliche Anzeigeverhalten bereits nahelegt, 143 findet sich eine umfassender gedachte Öffentlichkeit außerdem im Zusammenhang mit vormodernen Vor‐ stellungen von Recht und guter Ordnung. So argumentiert Bernd T H U M : Das mittelalterliche Sozialverhalten war in Politik und Recht, also dort, wo es um Ordnungen des Zusammenlebens größerer Gruppen ging, durch eine elementare dominante Erwartung geprägt: daß die betroffene Gemeinschaft an der Herstellung und Beurteilung dieser Ordnung teilhaben konnte. 144 Grundlage dieser Teilhabe war das Öffentlich- oder Offenbarmachen, ganz praktisch zu ersehen am ‚Gerüfte‘ als institutionalisierter Einleitung eines Strafverfahrens. Eng verbunden mit dieser Funktion von Öffentlichkeit als „dem Feld, auf dem sich das Recht durchsetzen, die rechte Wahrheit offenbaren 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 63 145 Ebd., S.-37. 146 Ebd., S.-56. 147 M I E R A U , Fama (2011), S.-247. 148 Ebd., S.-272. 149 K Ö R B E R , Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit (1998), zu den Grundbedeutungen bes. S. 1-22. Als Öffentlichkeit der Macht bezeichnet Körber den Kreis derjenigen ‚öffent‐ lichen‘ Personen, die in unterschiedlicher Abstufung Macht über andere Personen‐ gruppen ausüben konnten. Mit der Öffentlichkeit der Bildung sind all diejenigen angesprochen, die an dem christlichen, „religiös-erzieherischen Ideal“ teilhatten (S. 14) und dadurch, dass sie die Herrschaft an diesem Ideal maßen, eine der bürgerlichen Öffentlichkeit vergleichbare Legitimationsfunktion erfüllten, wobei nicht nur Geist‐ liche und Gelehrte hinzuzuzählen sind, sondern auch stärker passive Rezipierende, die etwa dem Gottesdienst beiwohnten. Die Öffentlichkeit der Information schließlich umfasste nach Körber all jene Kommunikationsinhalte, die allen zugänglich waren. Diese Öffentlichkeit, die eben keine Personenkreise beschreibt und damit auf einer anderen Ebene zu verorten ist als die beiden vorherigen, entspricht eher dem im vorherhigen Kapitel thematisierten Kommunikationsnetz. 150 Ebd., S.-20. 151 B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S.-21. würde“, 145 ist die bereits benannte Bedeutung von Öffentlichkeit bei der Zu- und Aberkennung von Ehre und bei der Konstituierung des Leumunds. Zwar war Öffentlichkeit nach T H U M im Mittelalter in den Teilhabenden an der öffentlichen Gewalt institutionalisiert, konkret adressiert wurde jedoch eher ein Abstraktum, etwa die gesamte Christenheit als ‚zuständiges‘ Kollektiv, wobei weniger gelehrtes Recht als vielmehr volksrechtliche Vorstellungen angesprochen waren 146 - man könnte sagen: Vorstellungen von Öffentlichkeit. Und so sieht auch Heike M I E R AU die christianitas als die Öffentlichkeit des Mittelalters an. 147 Die adressierte christianitas war dabei von unspezifischer Größe und konnte sowohl den Nahbereich der lokalen Gemeinschaft als auch die gesamte Christenheit meinen. Die weltumfassende Fama als Inbegriff dieser Öffentlichkeit war demnach eine „Standardfiktion“ der Zeit: fama est per totum orbem. 148 Eine solcherart verstandene Öffentlichkeit wäre demnach nicht als passives Publikum, sondern als handelnde Größe auf dem Feld des Rechts und der Wahrung oder Wiederherstellung der guten Ordnung angesehen worden. Als besonders einflussreich im Bereich der auf die Frühe Neuzeit bezogenen Öffentlichkeitsforschung erscheint die Arbeit von K ÖR B E R , die den Funktionen der Öffentlichkeit in ihren drei Grundbedeutungen Macht, Bildung und Infor‐ mation im 16. und frühen 17. Jahrhundert nachspürt. 149 Auch wenn K ÖR B E R explizit keine personell getrennten Kommunikationskreise einführte, 150 ent‐ wickelte sich in der Folge eine Tendenz der Frühneuzeitforschung, fragmen‐ tierte Teilöffentlichkeiten oder stärker technisch gedachte, „sozialdistinktive“ 151 64 2 Streit, Ehre, Öffentlichkeit - Perspektiven der Arbeit 152 Selbiges konstatieren: ebd., S. 21f.; S C H W E R H O F F , Stadt und Öffentlichkeit (2011), S. 8. Teilöffentlichkeiten finden sich bei: M O N N E T , politische Öffentlichkeit (2011), S. 342; S C H N U R R , Religionskonflikt und Öffentlichkeit (2009), S. 39; E G A R T N E R , Öffentlichkeit (2007), S. 35; O P G E N O O R T H , Publicum - privatum - arcanum (2002), S. 28-30. Zur Pro‐ blematisierung des Begriffs ‚Teilöffentlichkeit‘ hinsichtlich der zwangsweisen Pluralität von Öffentlichkeit s. H O F F M A N N , „Öffentlichkeit“ und „Kommunikation“ (2001), S.-80f.; V O N M O O S , „öffentlich“ und „privat“ (1998), S.-172. 153 V O N M O O S , Das Öffentliche und das Private (1998), S.-35. 154 K Ö R B E R , Öffentlichkeiten der Frühen Neuzeit (1998), S.-12. Öffentlichkeiten auszumachen und zu konzipieren. 152 Die in dieser Arbeit vorgestellten Fallstudien sollen helfen zu klären, ob und inwiefern die Vorstel‐ lungen der Menschen des 16. Jahrhunderts vom Phänomen ‚Öffentlichkeit‘ und seiner gesellschaftlichen Funktionen solch fragmentarischen Konzepten entsprachen. Dass diesbezüglich einige Skepsis angebracht ist und Öffentlich‐ keitsvorstellungen und damit zugleich -funktionen schon im späten Mittelalter der modernen Öffentlichkeit recht nahe kommen konnten, legt Peter V O N M O O S nahe, der auf das mittelalterliche imaginaire einer ungeteilten Öffentlichkeit hinweist. 153 Hinsichtlich der Funktionen konstatiert K ÖR B E R selbst, dass die Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts bereits die Kennzeichen „Unabhängigkeit, Orientierung an einem Publikum und Legitimation von Herrschaft“ aufwies. 154 2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit 65 1 E L L E R B R O C K u.-a., Invektivität (2017), S.-12-21. 2 Ebd., S.-12. 3 Methodisches: Die Logik der Fallstudien 3.1 Praxeologisch-mikrohistorische Fallstudien Welche Herangehensweise soll nun im Folgenden gewählt werden, um sich der Bedeutung von Schmähschriften und dem Faktor Öffentlichkeit im Konfliktge‐ schehen anzunähern? Das Invektivitätskonzept legt für die Untersuchung von Herabsetzungsphänomenen die Konstellationsanalyse nahe. 1 Drei Gruppen von Analyseaspekten sind für diese Arbeit zentral: erstens die Ausdifferenzierung der Konstellationen nach Akteur: innen, ihre soziale Verortung anhand von Kategorien wie Stand, Vermögen, Bildung, Geschlecht und Alter sowie ihre Zugehörigkeit zu Interessensgruppen und die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Ziele, wozu auch die eingesetzten Medien zählen; zweitens die Bestimmung der Funktion der Invektivschriften durch den Einbezug des Vorgeschehens und der Anschluss‐ kommunikation in die Analyse; drittens die „[epochen]spezifischen Eigenheiten invektiver Phänomene“, 2 deren Herausarbeitung zum einen Ziel der Studien ist, zum anderen über die Rezeption der bestehenden Forschung zu Ehre und Konfliktaustrag in der Frühen Neuzeit ihren Hintergrund bildet. Relevante Positionen der invektiven Konstellation stellen neben den Autor: innen der Schmähschriften und den Herabgesetzten vor allem die Personen des Publi‐ kums dar, welche die Schmähschriften entweder direkt, durch Lesen oder Hören des Texts, oder indirekt, also lediglich durch kommunizierte Bezüge auf diesen, rezipierten. Dabei ist noch einmal zwischen tatsächlichen und lediglich befürchteten oder behaupteten, insgesamt also imaginierten Rezipierenden zu unterscheiden, wobei auch letztere für die erfahrene Herabsetzung von großer Bedeutung waren. Mit Blick auf die genannten Eigenheiten frühneuzeitlicher Öffentlichkeit ist ein besonderes Augenmerk auf das Zusammenspiel von schriftlicher und mündlicher Anschlusskommunikation und dessen Bedeutung einerseits für die Verbreitung, andererseits und damit zusammenhängend für die herabsetzende Wirkung der Schmähschriften zu legen. In eine ähnliche Richtung weist die kommunikationshistorisch ausgerich‐ tete Öffentlichkeitsforschung, die als Untersuchungsmethode die Analyse der 3 B E L L I N G R A D T ; R O S P O C H E R , Early Modern Communication (2019), S.-12. 4 F R E I S T , Historische Praxeologie (2015). 5 Ebd., S.-62. 6 Ebd., S.-71f. 7 Grundlegend: M E D I C K , Mikro-Historie (1994); zuletzt: U L B R I C H T , Mikrogeschichte (2009). jeweils spezifischen Kommunikationssituation in den bereits beschriebenen Di‐ mensionen unter Berücksichtigung der Intentionen der Akteur: innen sowie der rechtlichen Rahmenbedingungen vorschlägt. 3 Ausgehend von beiden Ansätzen muss das Ziel also die breitestmögliche Kontextualisierung der Schmähschriften und des betreffenden Konflikts sein. Konkret soll es dabei um die detaillierte Rekonstruktion des Konfliktverlaufs vor und nach Eintrag der Schmähschriften und um die Einordnung in über den Streit selbst hinausweisende Zusammen‐ hänge und gegebenenfalls strukturelle Konfliktlagen gehen sowie um die Art und Reichweite der Kommunikation mit den und über die Schmähschriften und deren Auswirkungen auf den Konfliktverlauf. Das Mittel der Wahl stellen vier konkrete, praxeologisch-mikrohistorisch ausgerichtete Fallstudien dar. Elementarer Bestandteil dieser Fallstudien ist stets auch eine inhaltliche Analyse der Schmähschriften, die unerlässlich ist zur Iden‐ tifizierung von Herabsetzungsstrategien sowie Motivlagen und Vorstellungen der Autor: innen, zur Rekonstruktion der konkreten Streitzusammenhänge und für die Einordnung der Auseinandersetzung in übergreifende Konfliktfelder anhand entsprechender Bezugnahmen. Die Verbindung praxeologischer und mikrohistorischer Zugänge wurde kürzlich von Dagmar F R E I S T hervorgehoben und bietet sich naturgemäß für eine Arbeit an, die sich für die Schmähschriftenpraxis in ihrer Breite interessiert. 4 Praktiken werden dabei als Einzelhandlungen gedacht, die aber Teil kollektiver Handlungsmuster und Alltagsroutinen sind, „in deren praktischen Vollzügen kollektive Wissens-, und Deutungsschemata fortlaufend aufgerufen, bestätigt, irritiert und verändert werden.“ 5 Dabei zielt die Perspektive nicht nur auf das Freilegen von Logiken und die Einbindung des individuellen Handelns in gegebene Strukturen ab: Neben dem „feeling for the game“ der Beteiligten - das weiterhin ein zentrales Interesse der Untersuchung ist, die ja gerade auf das kollektive ‚game‘, also die geteilten Wissensbestände, abzielt - bleibt Platz für Kontingenz der Handlungen und Kreativität der Handelnden. 6 Die Mikrohis‐ torie mit ihrem Anspruch, über die Verkleinerung des Beobachtungsfeldes auf den einzelnen Fall und wenige zentrale Personen eine Erweiterung der Erkennt‐ nismöglichkeiten zu erreichen, ermöglicht es, eine Vielzahl an verfügbaren Quellen auszuwerten und aufeinander zu beziehen. 7 Durch den Zuschnitt der 68 3 Methodisches: Die Logik der Fallstudien 8 Vgl. U L B R I C H T , Mikrogeschichte (2009), S.-19. 9 S Üẞ M A N N , Fallstudienforschung (2007), S.-16. 10 Für eine ausführliche, geschichtstheoretisch angemessene Beantwortung dieser Frage bedarf es einigen argumentativen Aufwands, wie zuletzt Matthias Pohlig demonstriert hat: P O H L I G , Fallstudie (2013). 11 Ebd., S.-315-318. Untersuchungen sollen nach Möglichkeit Handlungsspielräume, Sichtweisen und Strategien der Betroffenen, der Verfasser: innen, ihrer Helfer: innen und Mitgliedern des Publikums erschlossen werden. 8 Daneben bieten Fallstudien stärker affektive Vorteile, sozusagen einen ge‐ wissen Charme, der als Movens bei ihrer Erarbeitung nicht ohne Bedeutung war: Und wir alle verwenden sie [Falldarstellungen] […] zu den unterschiedlichsten Zwecken: nicht nur argumentierend als Beweismittel; auch genießerisch, um uns etwas in vielen Einzelheiten vor Augen zu stellen und dadurch zu emotionalisieren; auch didaktisch, um abstrakte Sachverhalte anschaulich zu machen oder zu erläutern; auch mnemonisch, um uns etwas einzuprägen, das wir bei Bedarf erinnern und an dem wir uns orientieren. Offenbar ist es gerade die Anschaulichkeit der Fallerzählung: dass sie ein Beispiel darstellt, statt es begrifflich zu analysieren; dass sie sich zuerst an die Sinne wendet, statt an den Verstand; dass sie einen Gegenstand mannigfaltiger präsentieren kann als jeder Begriff und entsprechend vielschichtiger, uneindeutiger, ambivalenter, d.-h. auch emotionaler, einprägsamer […]. 9 Die Verwendung von Fallstudien führt aber auch immer zur grundsätzlichen Frage nach der Repräsentativität der Ergebnisse, also nach der Beziehung des Besonderen zum Allgemeinen. 10 Grundsätzlich soll diesbezüglich im Folgenden nach den zuletzt von Matthias P O HLI G aufgestellten Grundsätzen vorgegangen werden: Die Fallstudien werden an die bestehende Forschung rückgebunden (andernfalls würden sie sich im luftleeren Raum abspielen), die Plausibilität der Interpretation wird durch größtmögliche Transparenz gesteigert (zu diesem Zweck werden in Kapitel 9.6 abweichende Interpretationsmöglichkeiten ex‐ pliziert) und eine lockere Typisierung der Schmähschriftenfälle nach Kon‐ fliktkonstellationen erleichtert die Anschlussfähigkeit weiterer Forschungen. 11 Wichtiger noch erscheint jedoch die praktische Begründung der Auswahl des Materials, ausgehend von der gegebenen Überlieferungssituation. 3.1 Praxeologisch-mikrohistorische Fallstudien 69 12 B A U E R , Pasquille in den Fuggerzeitungen (2008). 13 K U H N , Urban Laughter (2007). 14 Vgl. B A U E R , Pasquille in den Fuggerzeitungen (2008), S.-27. 15 S. Übersicht (Anh. 1). 16 In Kursachsen war dies für alle schriftsässigen Adligen der Fall, vgl. L Ü C K , landesherr‐ liche Gerichtsorganisation (1991), S.-301-303. 17 Für einen Überblick über die Quellen der kursächsischen Strafverfolgung und ihre Auswertungsmöglichkeiten s. L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-25-33. 3.2 Quellen und Überlieferungssituation Der Zugriff auf schmähschriftenbezogene Konflikte kann für das 16. Jahrhun‐ dert beinahe ausschließlich über Kriminalakten erfolgen, die im Rahmen ge‐ richtlicher Prozesse oder außergerichtlicher Verfolgung von Pasquillant: innen durch die Obrigkeiten entstanden. Zwar finden sich einzelne Schmähschriften immer wieder als Einzelfunde in unterschiedlichen Zusammenhängen und Beständen sowie in nach bestimmten Gesichtspunkten zusammengetragenen Sammlungen, wie den Fuggerzeitungen 12 oder dem Augsburger Herbrot-Buch 13 . Derartige Bestände bieten jedoch zumeist nicht das nötige Material zur Kontex‐ tualisierung der Schmähschriften sowie zur Rekonstruktion ihrer Entstehungs‐ situation und ihrer Verbreitungswege. 14 Demgegenüber bieten die Kriminalakten außerordentlich reichhaltiges Mate‐ rial, das in mehreren Fällen neben den Schmähschriften selbst auch umfassende Informationen zum Kontext und zu den involvierten Personen enthält. Derartige Akten liegen für Kursachsen im 16. Jahrhundert zudem in besonders großer Zahl vor: Mit mindestens 36 Konvoluten allein im sächsischen Hauptstaatsar‐ chiv präsentiert sich hier ein für Deutschland wohl einzigartiges Material. 15 Am umfangreichsten stellt sich der Bestand des Geheimen Rates dar: Für den genannten Zeitraum existieren 32 Aktenbestände zu Fällen von Schmäh‐ schriftenverbreitung, die sich gegen die Landesregierung oder deren Amtleute richteten, konfessionelle (und damit zugleich politische) Themen berührten oder in Ausnahmefällen Adlige betrafen, als deren zuständige Gerichtsinstanz die Landesregierung fungierte. 16 Vereinzelte, aber umfangreiche Fälle finden sich außerdem in den Beständen des Finanzarchivs und des Appellationsgerichts sowie der einzelnen Ämter. Diese Akten enthalten zumeist Berichte der lokalen Gerichte und Amtsträger, Protokolle, Zwischen- und Endurteile, außerdem Suppliken und herrschaftliche Befehle. 17 Neben dem sächsischen Hauptstaats‐ archiv wurde auch die städtische Überlieferung stichprobenartig durchsucht, wobei sich nur vereinzelte Funde ergaben, deren Überlieferungsqualität eine Untersuchung ermöglicht hätte - lediglich der Bestand ‚Richterstube‘ des Stadtarchivs Leipzig steuerte eine Fallstudie zur vorliegenden Arbeit bei. Die 70 3 Methodisches: Die Logik der Fallstudien 18 Es ist wahrscheinlich, dass die städtische Überlieferung in Strafsachen erst zum Ende des 16. Jahrhunderts reichhaltiger wird, wie dies auch für den Bestand ‚Richterstube‘ in Leipzig gilt, s. R Ü D I G E R ; R O M M E L , Bestand Richterstube (2007), S. 77. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die städtische Überlieferung noch vereinzelte Fälle enthält, die über die üblichen Findmittel nicht ohne weiteres zu erschließen waren. 19 Eingesehen wurden: StD, Gerichtsbücher, 2.4.3-004, Gerichtsbuch (1556-1572); RAW, Gerichtsprotokolle, 35 (Bc 24); HStD, 10085 Schöppenstuhl zu Leipzig, Nr.-6. 20 In den vorliegenden Fällen verwiesen Zeugen mehrfach beiläufig auf andere, ihnen bekannte Schmähschriften, was zeigt, dass es sich nicht um singuläre Ereignisse handelte. Im ersten Fall wurden im Haus eines Zeugen gleich zwei Pasquille parallel abgeschrieben (Kap. 6.5) und ein Bezug auf eine Schmähschrift in einer anderen Stadt hergestellt (Kap. 6.3.1). Im vierten Fall wurde ein zurückliegender Fall relevant, in dem einer der Grafen von Mansfeld eine Schmähschrift gegen einen Bürgermeister der Stadt Artern hatte anfertigen lassen (Kap. 9.5.1). Im Fall der ‚Herr Niemands Predigt‘ traten Verwechslungen mit zeitgleich veröffentlichten Schmähschriften auf, s. R O S E , Herr Niemand (2021). systematische Suche in allen städtischen Archiven auf ehemals kursächsischem Gebiet erschien aufgrund der Ergebnisse der Stichproben arbeitspragmatisch nicht sinnvoll. 18 Urfehde- und Gerichtsbücher wiederum weisen zwar potentiell Schmähschriftenfälle aus, eignen sich aber aufgrund ihrer summarisch-kurzen Angaben nicht für eine qualitative Untersuchung. 19 Um den Charakter des Schmähschriftendelikts und an dieses angelegte Normen besser greifbar zu machen, wurden außerdem Gesetzestexte der Reichs- und Territorialebene, städtische Mandate sowie Werke der juristischen Praxisliteratur herangezogen. Es ist eine für die Interpretation der vorhandenen Quellen wesentliche Einsicht, dass vor allem die wenigen Fälle Eingang in die Überlieferung fanden, die es gleichsam vor Gericht ‚geschafft‘ hatten. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass das Gros der Schmähschriftenkonflikte nicht überliefert ist. Die untersuchten Fälle, ebenso wie die genannten Schmähschriftensammlungen sowie die Prominenz des Themas in den Rechtsnormen der Zeit verweisen auf eine breite, niedrigschwellige Praxis der Herstellung und Verbreitung von Schmähschriften, die heute nicht mehr zugänglich ist. 20 Die in dieser Arbeit behandelten Fälle heben sich durch das erregte Aufsehen und ihre Konsequenzen für die Beteiligten von der Masse ab: Sie gerieten gewissermaßen außer Kontrolle. Die Gründe unterscheiden sich je nach Einzelfall, zumeist lagen sie in der besonderen Tragweite der Ehrverletzung, der sozialen Position der Betroffenen, einer weiten Verbreitung der Schmähschriften oder einem besonderen herrschaftlichen Interesse. Eine grundsätzliche, aber keinesfalls immer gegebene, Voraussetzung für die Einleitung eines Prozesses war au‐ ßerdem die Identifizierung mutmaßlich verantwortlicher Personen. Wenn es in den folgenden Fallstudien um die den Konflikt dynamisierende Funktion 3.2 Quellen und Überlieferungssituation 71 21 Vgl. F U C H S ; S C H U L Z E , Zeugenverhöre (2002), S. 8. In Kapitel 9.6 wird die Aussagekraft der Quellen nochmals ausführlich thematisiert. 22 M E D I C K , Mikro-Historie (1994), S.-46. 23 Zusammenfassend: H Ä R T E R , Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte (2018), S. 101- 136; S C H W E R H O F F , Historische Kriminalitätsforschung (2011), S. 63-71. Besonders zur Arbeit mit Zeugenverhören s. F U C H S ; S C H U L Z E , Zeugenverhöre (2002). Zu Vorteilen und Problemen der Arbeit mit Kriminalakten siehe außerdem: S C H N A B E L -S C H Ü L E , Ego- Dokumente (1996). 24 S C H W E R H O F F , Historische Kriminalitätsforschung (2011), S.-67. von Schmähschriften geht, ist diese daher nicht allgemein, sondern immer nur im Vergleich mit im selben Fall ebenfalls sichtbaren weiteren Mitteln des Konfliktaustrags zu bestimmen. Da Schmähschriften ohne dynamisierende Funktion überlieferungsbedingt kaum greifbar sind, können diesbezüglich eher Potentiale ausgelotet denn allgemeingültige Aussagen getroffen werden. Die Kriminalakten kommen dem Ziel der Untersuchung, Vorlauf und Kontext der Schmähschriftenverbreitung zugänglich zu machen, entgegen, da es sich zum Teil mit den Anliegen der Gerichtsinstanzen deckt, nämlich einen Überblick über die Umstände der Tat zu erhalten sowie Dispositionen und Handlungsmo‐ tive der Beteiligten aufzudecken. 21 Auch die angesprochene ‚Dramatik‘ der aus dem Ruder gelaufenen Fälle erweist sich aus dieser Perspektive durchaus als zweckdienlich: Sie lässt Handlungserwartungen und Ängste in Bezug auf die Schmähschriften umso deutlicher hervortreten und zeigt, welches Potential ihnen durch die Zeitgenoss: innen zugemessen wurde. In der Sprache der Mikro‐ historie bilden die behandelten Fälle das ‚außergewöhnliche Normale‘ (G R E N DI ) ab, sodass die zugrundeliegenden „außergewöhnlichen Quellen und von ihnen ausgehend[e] Rekonstruktionen zur Erhellung alltäglicher und normaler, doch in den Quellen gewöhnlich verschwiegener Sachverhalte, Handlungen und Ereignisse“ dienen können. 22 Den zur Anfertigung der Fallstudien dieser Arbeit herangezogenen Krimi‐ nalakten muss mit der für diesen Quellentypus üblichen quellenkritischen Umsicht begegnet werden: 23 Neben der Verzerrung und Verknappung mündli‐ cher Aussagen in den schriftlichen Protokollen ist zum einen der psychische und physische Zwang zu beachten, der vielen Geständnissen und auch manchen Zeugenaussagen zugrunde lag. Gerade die durch Suggestivfragen strukturierten Verhöre lassen zwar durchaus auf die Vermutungen und Befürchtungen der Fragenden schließen, nicht aber auf tatsächliche Vorgänge, die von den Ver‐ hörten beschrieben wurden. Zum anderen stehen Geständnisse, Klagen und Zeugenaussagen, aber auch Supplikationen und Berichte in besonderem Maß unter dem „Imperativ des strategischen Anliegens“, 24 da die Akteur: innen darum bemüht waren, sich selbst in ein positives Licht zu rücken und möglichst weit 72 3 Methodisches: Die Logik der Fallstudien 25 In Bezug auf den Umgang mit Ehrstreitigkeiten: L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-55. 26 Bezüglich sozialer Normen spricht Niels Grüne in einem vergleichbaren Sinn von „diskursiven Ressourcen“ und betont damit, dass sich Aussagen über prinzipiell nach‐ vollziehbare Normhorizonte treffen lassen, da die Normbezüge zwar nicht zwingend der Überzeugung der sich äußernden Person entsprechen, aber strategisch in der Argumentation funktionieren mussten: G R Ü N E , Konsistenzerwartungen (2015), S. 123. So hinsichtlich schmähschriftenbezogener Normen bereits: S I E G E M U N D , Schmähschrif‐ tenprozess (2020), S.-138. 27 S. Kap. 9.6. 28 Übersicht (Anh. 1), Nr. 11, 13, 15, 23, 26, 28, 33, 34, 36. Für die umfangreichen Vorarbeiten hierzu sei Alex Kästner herzlich gedankt. Die Akte zum Fall Heinrich Gratz (Kap. 6) aus dem Stadtarchiv Leipzig reichte, typisch für die städtische Überlieferung, zwar nicht an den Umfang der landesherrlichen Quellen heran, wurde aber als Beispiel eines rein innerstädtisch verhandelten Schmähschriftenkonflikts aufgenommen. Die teils unbefriedigende Quellenlage konnte durch die gute Forschungslage zur Leipziger Stadtgeschichte in Teilen aufgewogen werden. vom Verbrechen zu distanzieren, oftmals auf Kosten anderer. Außerdem ist von starken Nachrationalisierungen durch die Befragten auszugehen, die in der Rückschau - absichtsvoll-strategisch oder unbewusst - ihr Handeln oft als einzig mögliche Reaktion stilisierten. 25 Allerdings mussten auch oder gerade diese nachrationalisierten Aussagen im Verfahren argumentativ funktionieren. Damit ermöglichen sie einen Zugriff auf Realitätsvorstellungen, die im gesell‐ schaftlichen Interpretationshorizont relevant und plausibel waren. 26 Bezüglich der Rekonstruktion der Ereignisse aus den gegebenen Quellen sind naturgemäß abweichende Interpretationen möglich. Da dies bei anonymen Schmähschriften (vor allem hinsichtlich der Frage nach der Autorenschaft) von besonderer Brisanz ist, finden die Alternativinterpretationen in einem eigenen Kapitel gesondert Berücksichtigung. 27 Damit wird zugleich der Tat‐ sache Rechnung getragen, dass die Quellen eine obrigkeitliche Perspektive und entsprechende Vorinterpretation hinsichtlich Täter: innen und Motiven überbetonen. 3.3 Auswahl der Fallstudien Die Auswahl der präsentierten Fallstudien orientiert sich zunächst an der für eine möglichst umfassende Kontextualisierung und Situationsanalyse notwen‐ digen Überlieferungsqualität. Von den 36 in die Bestandsübersicht aufgenom‐ menen Einzelfall- und Sammelakten wiesen neun eine größere Überlieferungs‐ dichte auf und wurden eingehender untersucht. 28 Von diesen wurden nach 3.3 Auswahl der Fallstudien 73 29 Hierbei handelt es sich allerdings zumindest potentiell um ein Überlieferungsproblem, das aus den unterschiedlichen Reaktionsweisen der Betroffenen resultieren könnte. Es ist davon auszugehen, dass Betroffene der unteren sozialen Schichten als Reaktion sel‐ tener den gerichtlichen Weg einschlugen. Die Einschätzung ist aber insofern begründet, als für Betroffene aus unteren Schichten zumindest ein sporadischer Niederschlag in der Überlieferung zu erwarten wäre. der Maßgabe, möglichst verschieden gelagerte Konfliktkonstellationen und ein breites Spektrum an ‚Einsatzmöglichkeiten‘ von Schmähschriften abzubilden, vier zur Erarbeitung der Fallstudien ausgewählt. Hinsichtlich der Konstellationen und der sozialen Position der Akteur: innen ist hervorzuheben, dass die für Kursachsen überlieferten Fälle des 16.-Jahrhun‐ derts alle ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Machtgefälle zwischen Invektierten und Pasquillant: innen aufweisen - bislang konnte für die Region kein Schmähschriftenkonflikt ausgemacht werden, in dem Verfasser: in und Angegriffene: r sozial gleich positioniert waren, oder der gar eine Stoßrichtung von oben nach unten aufwies. Dieser Umstand weist Schmähschriften bereits als ein Instrument des Konfliktaustrags aus, das vorrangig von den zunächst Unterlegenen eingesetzt wurde. 29 Die Fallstudien sollen diesbezüglich klären, inwiefern Schmähschriften in der Lage waren, in solch asymmetrischen Kon‐ fliktkonstellationen Wirkung zu entfalten. Die vier Studien der Arbeit wurden so ausgewählt, dass sie einerseits eine von Fall zu Fall zunehmende soziale Position der Konfliktparteien - vom einfachen Bürger bis zum Kurfürsten -, andererseits einen steigenden sozialen Abstand zwischen den Beteiligten abbilden: Der erste Fall präsentiert mit Heinrich Gratz einen Pasquillanten der gehobenen Mittelschicht, dessen Schmähschrift Bürger: innen der Leipziger Oberschicht, mithin seine Nachbar: innen, dem Gespött aussetzte; im zweiten Fall ist es der Händler und Zuckerbäcker Andreas Langener, der in der Dresdner Altstadt gleich mehrere Schmähschriften gegen seinen Gegner, den einfluss‐ reichen Adligen Tham Pflugk, anschlug, womit ein standesübergreifender Streit vorliegt; einen Konflikt zwischen Untertan und städtischer Obrigkeit bietet der dritte Fall, in dessen Zentrum der Pasquillus des Juristen Johann Offneyer steht, der, am Rathaus angeschlagen, den Zwickauer Stadtrat angriff und die Bürgerschaft zur Revolte aufrief; ebenfalls herrschaftsbezogen war der umfangreiche Streit zwischen den Grafen von Mansfeld und der sächsischen Landesregierung (vierter Fall), in dessen Verlauf eine regelrechte Schmähschrif‐ tenkampagne losgetreten wurde. Der Unterschied der sozialen Positionen der Akteure dieses letzten Falls gestaltet sich sogar größer als auf den ersten Blick ersichtlich: Die Mansfelder hatten kurze Zeit zuvor all ihre Herrschaftsrechte und finanziellen Mittel im Rahmen einer Zwangsverwaltung durch Kursachsen 74 3 Methodisches: Die Logik der Fallstudien 30 B E N N ; G A U S , The Public and the Private (1983). 31 V O N M O O S , „öffentlich“ und „privat“ (1998), S. 176-179. Zwar handelt es sich nach von Moos bei der Verwendung der Begriffe um einem „kontrollierten Anachronismus“, allerdings finden sich entsprechende Bedeutungsaufladungen, wie er selbst nachweist, bereits bei mittelalterlichen Philosophen und Juristen. S. V O N M O O S , Das Öffentliche und das Private (1998), S.-32-46. 32 V I N C E N T , Privacy (2016), S.-3. 33 Art. „Öffentlich“, in: DWB. verloren, die einen Teil des Geschlechts beinahe macht- und mittellos zurück‐ ließ. Die gesellschaftliche Position der Invektierten wird also von Fall zu Fall höher und damit die Reaktionsmöglichkeiten und die zur Unterdrückung öffentlicher Kommunikation theoretisch verfügbaren Machtmittel größer. Es ist zu überprüfen, inwiefern die Betroffenen entsprechend steigende Chancen hatten, den Schmähschriften effektiv und erfolgreich zu begegnen. Neben den Unterschieden in der sozialen Position der Invektierten werden in den Fallstudien unterschiedliche Kommunikationsreichweiten sichtbar: von der Involvierung der städtischen Öffentlichkeit über die Beteiligung von Umland und Region bis zum Einbezug des Kurfürsten und anderer Reichsfürsten. Zwei Klammern unterteilen die vier Fallstudien und greifen die bereits angesprochene, von der Forschung häufig vorgenommene Unterscheidung in private (Kap. 6 und 7) und öffentliche beziehungsweise politische (Kap. 8 und 9) Konflikte und somit Schmähschriften auf. Das Gegensatzpaar ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ wurde, entsprechend der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Öffentlichkeit, breit in der historischen Forschung diskutiert. Peter V O N M O O S unterscheidet, unter Bezug auf Stanley B E N N und Gerald G AU S , 30 drei Be‐ deutungsdimensionen der Begriffe ‚öffentlich‘ und ‚privat‘: Interesse (interest), Handlungsbefugnis (agency) und Zugänglichkeit (access). 31 Zwei Dimensionen, nämlich Zugänglichkeit und Interesse, sind für die Kategorisierung der Schmäh‐ schriften von Bedeutung; sie lassen sich den beiden oben beschriebenen tech‐ nisch-kommunikationshistorischen und normativen Öffentlichkeitskonzepten zuordnen. Mit Blick auf die Zugänglichkeit, am ehesten dem technischen Konzept entsprechend, können Kommunikationsakte als öffentlich gelten, wenn sie nicht intim, also nicht auf ausgesuchte Kommunikationsteilnehmende beschränkbar, sondern potentiell allen zugänglich sind. Als privat (hier auch im Sinne von geheim) kann Kommunikation entsprechend beschrieben werden, wenn sie in einem „enclosed universe of communication“ 32 stattfindet, wie David V IN C E N T es formuliert. Diese Qualität des Öffentlichen war in Form des Wortes „offenlich“ 33 auch im 16.-Jahrhundert geläufig und kann ausweislich der unter‐ suchten Fälle als ein Charakteristikum der Schmähschriftenkommunikation und eine Hauptsorge der Betroffenen gelten. Die Dimension des Interesses (erfolgt 3.3 Auswahl der Fallstudien 75 34 D E W E Y , The public and its problems (1991), S. 3-36, bes. 12 f.; das Folgende nach: V O N M O O S , „öffentlich“ und „privat“ (1998), S.-174-176. 35 V O N M O O S , „öffentlich“ und „privat“ (1998), S.-174. 36 H O F F M A N N , Rechtmäßiges Klagen (2004), S.-318. 37 A R N D T , Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit (2013), S.-11. 38 G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S.-56; R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-387. 39 Zuletzt: E G A N , Libel in the Provinces (2022). Egan trennt zwar strikt politische von privaten Schmähschriften, expliziert und problematisiert diese Unterscheidung aber kaum. Am ehesten betrachtet sie solche libels als politisch, die den/ die König: in oder die Regierung angriffen (S.-77). die Handlung aus Gemein- oder Eigennutz? ) wird besonders prägnant im nor‐ mativen Ansatz John D E W E Y S behandelt. 34 Demnach sind solche Interaktionen als öffentlich anzusehen, deren Folgen nicht nur die direkt Involvierten be‐ treffen, sondern auch Dritte, also größere oder kleinere Gruppen der Allgemein‐ heit. Aus diesen Handlungsfolgen wird ein Kontrollbedarf abgeleitet, somit ist „[d]ie Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen […] die Reichweite der kontrollbedürftigen Handlungsfolgen“ 35 - öffentlich in diesem Sinne ist also, was gesamtgemeinschaftlich kontrolliert und gegebenenfalls sanktioniert werden muss. Dieser Bezug auf das Gemeinwesen verbindet das Öffentliche mit dem Politischen, so betrachtet etwa Philip H O F F MAN N -R E HNITZ solche Konflikte als politisch, die Probleme mit kollektiv verbindlichem Entscheidungsbedarf thematisieren. 36 Darüber hinaus spielen auch die beteiligten Akteur: innen eine wichtige Rolle bei der Definition: Für Johannes A R N D T beispielsweise sind politische Konflikte „Auseinandersetzungen, bei denen verschiedene staatliche, wirtschaftliche oder kulturelle Institutionen um Machtchancen miteinander streiten oder einzelne Bürger, eventuell in Gruppen organisiert, gegen diese Institutionen vorgehen.“ 37 Inwiefern eine solche Unterscheidung in politisch und privat, wie sie etwa von Ulinka R U B LA C K und Andreas G E S T R I C H , 38 besonders aber von der britischen libel-Forschung getroffen wird, 39 in Bezug auf das historische Phänomen ‚Schmähschrift‘ sinnvoll vorzunehmen ist, muss sich in den Fallstudien zeigen. Zu diesem Zweck behandeln die ersten beiden Fälle augenscheinlich private Konflikte zwischen Personen, die in keiner Herrschafts‐ beziehung zueinander standen. Zu fragen ist, inwiefern hier tatsächlich die Bedeutung des Gemeinen Nutzens und damit eines öffentlichen Interesses sinnvoll ausgeklammert werden kann. Die folgenden zwei Fälle nehmen im An‐ schluss die gegensätzliche Perspektive ein: bei ihnen handelt es sich ausweislich des Inhalts der ostentativ obrigkeitskritischen Schmähschriften um politische Konflikte, die den Zwickauer Stadtrat beziehungsweise die kursächsische Lan‐ desregierung direkt involvierten. Zweifel ob der Sinnhaftigkeit einer derart strikten Unterscheidung scheinen schon insofern angebracht, als etwa R U B LA C K 76 3 Methodisches: Die Logik der Fallstudien 40 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S. 400; ähnlich: I N G R A M , Rough Music (1988), S. 187; ausführlich zur Verwebung der Rollen angegriffener Personen als private Bürger und Amtsträger: E G A N , Libel in the Provinces (2022); zur Schwierigkeit der Trennung von Sachkonflikt und Ehrhändel s. S C H W E R H O F F , Historische Kriminalitätsforschung (2011), S.-124. selbst darauf verweist, dass sich die Zuschreibung und Aberkennung von Ehre im persönlichen, familiären Umfeld selbstverständlich auch auf die ‚Amtsehre‘ einer Person übertrug, eine entsprechende Unterscheidung nach Rollen also nicht getroffen wurde und zudem eine Beschränkung von Konflikten auf die kritische Auseinandersetzung in der (politischen) Sache ohne Auswirkungen auf die (private) Ehre der Betroffenen kaum denkbar scheint. 40 Die vier Fallstudien fokussieren je unterschiedliche Aspekte der Schmäh‐ schriftenpraxis. Der erste Fall (Kap. 6) bildet gewissermaßen eine Basis für die übrigen, indem er einen Überblick über den Umgang mit typischen Pas‐ quillen in der frühneuzeitlichen Stadt sowie über Reaktionsmöglichkeiten und übliche Verbreitungswege bietet. Über einen Vergleich mit invektiven Rügebräuchen wie dem Charivari werden Funktionen und Besonderheiten der Schmähschriften herausgearbeitet, wobei der Fokus auf dem Einsatz und der Wirkung komischer Elemente sowie dem omnipräsenten Bezug auf den Ge‐ meinen Nutzen liegt. Die Quellenbasis der zweiten Fallstudie (Kap. 7) erlaubt es, die Funktionsweise von Schmähschriften in der konkreten Auseinandersetzung zweier Männer näher zu betrachten und Gründe für ihre augenscheinliche Wirkmächtigkeit auszuloten. Im ersten Fall als grundlegend vorgestellte Ver‐ breitungsmechanismen können hier mit einem besonderen Fokus auf das Zu‐ sammenwirken von Schmähschriften und Formen mündlicher Kommunikation, allen voran Gerüchten, vertiefend analysiert werden. Die in Kapitel fünf darge‐ stellte Behandlung der Schmähschriften im Recht wird um die Perspektive der juristischen Praxis erweitert und die von den Beteiligten des Falls, aber auch der zeitgenössischen juristischen Literatur geführte Diskussion um die Legitimität des Einsatzes von Schmähschriften nachgezeichnet. Die dritte Fallstudie (Kap. 8) untersucht die Sonderrolle von Pasquillen als anonyme Medien der Obrigkeits‐ kritik und des Protests aus der Perspektive der akzeptanzorientierten Herrschaft (B R AK E N S I E K ) und thematisiert, inwiefern sich Schmähschriften in ihren Effekten von anderen Mitteln des Konfliktaustrags unterschieden. Anhand des Pasquillus eines Zwickauer Bürgers und im Vergleich mit den vorherigen Schriften wird aufgezeigt, wie problematisch sich die Unterscheidung in politische und private Schmähschriften gestaltet. Die vierte Fallstudie (Kap. 9) belegt nicht nur die Existenz von semiprofessionellen Pasquillanten, die ihre Texte als Auftragsar‐ beiten anfertigten, sondern auch, dass Schmähschriftenkommunikation im Ein‐ 3.3 Auswahl der Fallstudien 77 41 Zum Nutzen der ‚politischen Ereignisdichtung‘ für die Ereignisgeschichte s. K E L L E R ‐ M A N N , Abschied vom „historischen Volkslied“ (2000), S.-16f. zelfall durchaus weite, hier gar reichsweite Kommunikation anstoßen konnte. An die Ergebnisse der vorherigen Studien anschließend wird gezeigt, wie Schmähschriften unter bestimmten Umständen auch auf höchster, nämlich kur‐ fürstlicher Ebene Wirkmacht entfalteten und welche Reaktionsmöglichkeiten seitens der territorialen Herrschaft bestanden. Grundlage ist die Verortung einer Schmähschriftenkampagne innerhalb eines komplexen, persönliche und politische Auseinandersetzungen vermengenden Konfliktzusammenhangs. Darüber hinaus thematisiert jede der Studien die übergreifenden Fragestel‐ lungen in Bezug auf die Funktion der Schmähschriften im Konfliktaustrag, die Verbreitung der durch sie angestoßenen Kommunikation sowie die auf Seiten der Akteur: innen erkennbaren Öffentlichkeitsimaginationen. Zuweilen bietet die Aufarbeitung der jeweiligen Konflikte und ihre Kontextualisierung auch einen lokal- und landesgeschichtlichen Erkenntnisgewinn. 41 78 3 Methodisches: Die Logik der Fallstudien 1 L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S. 272. Einen Überblick über die politische Geschichte Kursachsens in der betreffenden Zeit bietet: K E L L E R , Landesgeschichte Sachsen (2002), S.-128-140. 2 Grundlegender Überblick bei: L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S. 38-55. Außerdem: B L A S C H K E , Behördenkunde (1956); K Ö T Z S C H K E , Landesverwaltungsreform (1940). 4 Historischer Kontext: Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts Die skizzierten Untersuchungen beschränken sich räumlich auf das Territorium des Kurfürstentums Sachsen und zeitlich auf die zweite Hälfte des 16. Jahr‐ hunderts. Für diesen Zeitraum zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg liegen bislang nur wenige öffentlichkeitsorientierte oder gar auf Schmäh‐ schriften bezogene Untersuchungen vor. Der zeitliche Zuschnitt ergibt sich außerdem aus der für eine Untersuchung der Schmähschriftenpraxis geeig‐ neten Überlieferung, die zwar bereits um 1500 einsetzt, allerdings erst ein halbes Jahrhundert später als wirklich ertragreich bezeichnet werden kann. Grund hierfür ist unter anderem die zu dieser Zeit weitgehend abgeschlos‐ sene Zentralisierung der kursächsischen Verwaltung. Damit ergibt der Unter‐ suchungszeitraum auch aus landeshistorischer Sicht Sinn, da Kursachsen ab ca. 1550 ein „vergleichsweise umfassend bürokratisch durchorganisiertes und damit auch herrschaftlich durchdrungenes Territorium“ darstellte. 1 Zu diesem Zeitpunkt war die Modernisierung und Vereinheitlichung der Verwaltungs- und Gerichtsstrukturen weitgehend abgeschlossen und bot ein gewisses Maß an Homogenität, das der Vergleichbarkeit der Fallstudien förderlich ist. 2 Ein kurzer Überblick über die Struktur der kursächsischen Verwaltung sowie die politischen Geschichte bietet sich an, um ein Verständnis für die Logik der verwendeten Kriminal- und Verwaltungsakten zu schaffen, die Untersuchung historisch zu verorten und zeitwie ortstypische Verhältnisse zu klären. Die grundlegende Verwaltungseinheit in Kursachsen bildeten, wie in den meisten Territorien des Reiches, die Ämter. Jedes Amt unterstand ursprüng‐ lich einem Amtmann und einem Amtschösser. Unter Kurfürst August (1526- 1586) wurden den durchgehend adligen Amtmännern jeweils mehrere Ämter und die Aufsicht über die dort zuständigen Schösser zugeteilt. Die auch als ‚Amthauptleute‘ bezeichneten Amtmänner hatten nun vor allem militärischpolitische Befugnisse, wohingegen die bürgerlichen Schösser die Finanz- und Wirtschaftsverwaltung besorgten. Die Ämterverwaltung war zur Zentrale in 3 Kommissionen wurden eingesetzt, wenn sich die Betroffenen direkt an den Kurfürsten gewandt hatten, wenn schriftsässiger Adel betroffen war (im Gegensatz zum landsäs‐ sigen, der den Gerichtsherrn im Amt hatte), wenn sich über unrechte Prozessführung beschwert wurde oder wenn die Zuständigkeit der Gerichte strittig war, s. L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-43. 4 Nach: ebd., S.-58f. 5 B R U N I N G , August (2007), Zitat S. 111; siehe neuerlich auch: M Ü L L E R u. a. (Hg.), Kurfürst August von Sachsen (2017). Dresden beziehungsweise Torgau hin ausgerichtet, wo der Kurfürst als oberster Gerichtsherr und höchste Appellationsinstanz residierte. Diesem zur Seite standen seit dem Erlass der Kanzleiordnung von 1547 Hofrat und Kanzlei, die auch als ‚Regierung‘ bezeichnet wurden. Ebenfalls seit 1547 existierte als oberste Landesbehörde der Geheime Rat, dessen Vorschläge in Justizsachen der Landesherr zumeist lediglich bestätigte. Für aufwendige Untersuchungen konnte die Landesregierung Kommissionen einsetzen, so auch in den Verfahren der Fallstudien in den Kapiteln 7, 8 und 9. 3 Urteile in Strafsachen musste die Landesregierung bei den Obergerichten und Spruchgremien einholen. Seit 1547 waren dies die Schöppenstühle in Leipzig und Wittenberg, das Witten‐ berger Hofgericht, das Leipziger Oberhofgericht, die Juristenfakultäten der Universitäten dieser beiden Städte, das Appellationsgericht sowie in ehemals kirchenrechtlichen Angelegenheiten die Konsistorien. Diese Obergerichte und Spruchgremien fällten Zwischen- und Endurteile auf der Grundlage ihnen zugesandter Akten. Darunter lag die lokale Ebene der Gerichte des Amts sowie der intermediären Gewalten, der Rittergutsbesitzer und Städte. Eine Appellation in Strafsachen war Angeklagten eigentlich nicht gestattet; da allerdings nicht selten Unklarheit bezüglich der Art des Prozesses (Inquisition, Akkusation, bür‐ gerliches Verfahren in peinlicher Sache oder gerichtlich legitimierter Vergleich) 4 herrschte, kam es dennoch oft zur Appellation. Supplikationen an den Landes‐ herrn waren hingegen stets zulässig, wurden entsprechend häufig genutzt und beinhalten zumeist verfahrensrechtliche Beschwerden oder Gnadengesuche. Im Inneren wurde die kursächsische Geschichte von der (Konfessions-)Politik der Kurfürsten beziehungsweise deren Landesregierung bestimmt. Aus dieser Politik ergaben sich zentrale Konfliktlinien, die auch in den Schmähschrif‐ tenkonflikten eine Rolle spielten und daher an dieser Stelle schon einmal Erwähnung finden sollen. Kurfürst August wurde in der Vergangenheit wahl‐ weise als „tyrannischer Despot“ oder als „Vater August“ stilisiert. 5 Die aktuelle Forschung äußert sich ausgewogener und betont vor allem die juristischen und wirtschaftlichen Impulse seiner Regierung. Letztere zielten auf die finanzielle Sanierung des Kurfürstentums ab: Sein Vorgänger Moritz (1541-1553) hatte ihm beinahe zwei Millionen Gulden Schulden hinterlassen - unter August wurden 80 4 Historischer Kontext: Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts 6 Für einen Schmähschriftenfall in Bezug auf Augusts Finanzpolitik s. R O S E , Herr Niemand (2021). 7 Das Thema wird ausführlich besprochen in Kapitel 9.2.2. Aktuelle Studien zum soge‐ nannten sächsischen Kryptocalvinismus liegen nicht vor, daher kann nur verwiesen werden auf: H A S S E , Zensur (2000), S.-137-182; K L U C K H O R N , Kryptocalvinisten (1867). 8 K E L L E R , Landesgeschichte Sachsen (2002), S.-171. 9 Überblick bei: N I C K L A S , Christian I. und Christian II. (2007). Eine ausführliche Auseinan‐ dersetzung mit der sogenannten Zweiten Reformation in Kursachsen findet in Kapitel 9.2.2 statt. 10 S C H I L L I N G , Nochmals „Zweite Reformation“ (1996); S C H I L L I N G , Zweite Reformation (1986); K L E I N , Zweite Reformation in Kursachsen (1962). Zur Kritik an diesem Begriff s. Kap.-9, Anm.-118. daraus 865.000 Gulden jährliche Nettoeinnahmen. 6 Die Charakterisierung als tyrannisch rührte unter anderem von den Reaktionen des Kurfürsten auf die mit ‚Kryptocalvinismus‘ umschriebenen konfessionellen Wirren des Jahres 1574 her. 7 August hatte zuvor eine vermittelnde Position im Konflikt zwischen den Anhängern Philipp Melanchtons und orthodoxen Lutheranern eingenommen, witterte in diesem Jahr aber eine umfassende Verschwörung seines engsten Umfelds mit dem Ziel, das Land zum Calvinismus zu führen. Scheinbar voller Jähzorn ließ August seinen zuvor geschätzten Kanzler Georg Cracow (1525- 1575) verhaften und einer derart grausamen Folter unterziehen, dass Cracow letztlich den ihm zugefügten Verletzungen erlag. Vor allem aber wurde das Land von diesem Zeitpunkt an streng am Luthertum ausgerichtet: 1577 entstand die Konkordienformel und 1580 das Konkordienbuch sowie eine gegen den Calvinismus gerichtete Kirchen- und Schulordnung. 8 Augusts Sohn Christian I. (1560-1591) trieb die Zentralisierung der Herr‐ schaft weiter und verband sie - unter Federführung seines Kanzlers Nikolaus Krell (1550-1601) und ganz entgegen der Politik seines Vaters - mit einer konfessionellen Öffnung zum reformierten Glauben, der somit zum zweiten Mal in der kursächsischen Geschichte Bedeutung erlangte. 9 Die Landesregierung entfernte sich mit dieser Politik von den Landständen, aber auch von der zu großen Teilen lutherischen Bevölkerung des Landes. Die Forschung spricht in Bezug auf diese reformierte Konfessionalisierung auch von der „Zweiten Reformation“ in Kursachsen. 10 Christians plötzlicher Tod 1591 verhinderte jedoch eine Fortführung der mutmaßlich gefassten Pläne. Gemeinsam mit der Kurfürstin Witwe Sophie von Brandenburg (1568-1622) ging der kursächsische Administrator Friedrich Wilhelm von Sachsen-Weimar (1573-1602) gegen den befürchteten Calvinismus im Land vor und richtete es erneut am orthodoxen Luthertum aus. Aufgrund dieser Konfessionspolitik stellte die Betitelung als Calvinist spätestens seit 1574 einen regelrechten Universalvorwurf dar, der 4 Historischer Kontext: Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts 81 11 K E L L E R , Landesgeschichte Sachsen (2002), S.-170-173; C Z O K , Calvinistensturm (1992). 12 Einen Überblick über die städtische Entwicklung bei: K E L L E R , Landesgeschichte Sachsen (2002), S.-188-201. 13 Ausführliche Informationen und die entsprechende stadthistorische Literatur findet sich in den jeweiligen Fallstudien. 14 Nach der Typologie von I S E N M A N N , Die deutsche Stadt im Mittelalter (2014), S.-62. in den Schmähschriften entsprechend präsent war. Besonders in den Städten kam es des Öfteren zu einer Teilung der Einwohnerschaft in orthodoxe Luthe‐ raner: innen und unterschiedlich stark reformiert gesinnte Personen, wobei letztere häufiger Mitglied der Oberschichten und des Magistrats waren. Es entstanden heftige Konflikte, die sich besonders deutlich in den sogenannten ‚Calvinistenstürmen‘ in Leipzig (1591/ 1593), Zwickau, Torgau und Dresden (je 1593) niederschlugen. 11 Auf der Ebene der Städte erlebte das Land im 16. Jahrhundert zunächst einen demographischen Aufschwung, immerhin neun von ihnen, nämlich Annaberg, Bautzen, Dresden, Freiberg, Görlitz, Leipzig, Wittenberg, Zittau und Zwickau, erreichten Einwohnerzahlen von über 5.000. 12 Auch die in dieser Arbeit unter‐ suchten Schmähschriftenfälle spielten sich hauptsächlich in Städten, teils auch in deren Umland ab. Dabei handelt es sich um vier Orte recht unterschiedli‐ cher Couleur: Leipzig, Dresden, Zwickau und Artern. 13 Leipzig bildete die im 16. Jahrhundert größte Stadt Kursachsens mit etwa 16.000 Einwohner: innen (um 1600) und einer selbstbewussten Bürgerschaft, deren Oberschicht durch Handel und Investitionen im Bergbau zu Wohlstand gelangt war. Dresden hin‐ gegen stand Anfang des 16.-Jahrhunderts noch am Beginn seiner Entwicklung, brachte es aber schon 1561 auf knapp 10.000 Bewohner: innen (knapp 15.000 bis 1600). Als Residenzstadt der sächsischen Kurfürsten war sie politisches und juristisches Zentrum des Landes, Ort des kurfürstlichen Hofes und damit adliger Repräsentation sowie der wichtigsten Behörden wie Landesregierung und Geheimer Rat. Mit einer Bevölkerung von ca. 7.000 Personen war Zwickau im Untersuchungszeitraum zwar etwas kleiner, zählte aber ebenfalls zu den führenden Städten des Landes. Die Konkurrentin Leipzigs befand sich allerdings spätestens ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Abstieg und war von Konflikten zwischen oligarchischem Rat und Bürgerschaft, aber auch von Autonomiekämpfen mit der Landesregierung geprägt. Einen gänzlich anderen Stadttyp bildete die in der Grafschaft Mansfeld gelegene „kleine Kleinstadt“ 14 Artern mit ihren wohl nicht einmal 1.000 Bewohner: innen. Zwar verfügte auch Artern über eine städtische Selbstverwaltung bestehend aus Bürgermeistern und Rat, allerdings stand die Stadt unter starkem Einfluss ihrer Stadtherren, der Grafen von Mansfeld-Artern - zumindest bis diese ihre Rechte im Jahr 82 4 Historischer Kontext: Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts 15 S. Kap. 9.2.1. 16 I S E N M A N N , Die deutsche Stadt im Mittelalter (2014), S.-62. 1570 verloren, was zu starken Konflikten mit den Bürger: innen, aber auch mit der Landesregierung führte. 15 Auch wenn drei der vier Städte ausweislich ihrer Einwohnerzahl zu den „größeren Mittelstädten“ zählten, 16 bedeutete die aus heutiger Sicht kleinstädtische Dimension auch damals intensiven persönlichen Umgang der Menschen miteinander, die Bekanntheit vieler Gesichter und insgesamt wenig Anonymität. Die Bedingungen der bereits angesprochenen Anwesenheitsöffentlichkeit kamen hier besonders deutlich zur Geltung. 4 Historischer Kontext: Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16.-Jahrhunderts 83 1 V O N T H I E S S E N , Normenkonkurrenz (2015), Zitat S. 243; D I N G E S , Normsetzung (1997), S. 39. Für einen Überblick über die Forschung zu Normierungsprozessen im 16. Jahr‐ hundert s. L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-16-19. 2 L A N D W E H R , Normdurchsetzung (2000). 3 V O N T H I E S S E N , Normenkonkurrenz (2015), S. 258. Grundlage dieser Aussage ist das Verständnis von frühneuzeitlicher Herrschaft als ‚akzeptanzorieniert‘, s. B R A K E N S I E K , Akzeptanzorientierte Herrschaft (2009) und Kap. 8.1. 5 Die Behandlung von Schmähschriften in Rechtstexten Im Folgenden soll es um diejenigen Rechtsnormen gehen, die explizit die Anfertigung und Verbreitung von Schmähschriften thematisierten. Sie bieten eine zwar vorrangig, nicht aber ausschließlich obrigkeitliche Perspektive auf das Phänomen, da sie wichtiger Bestandteil eines über längere Zeit gewach‐ senen epochenspezifischen Normhorizonts waren und ihnen eine Prägekraft auf die Vorstellungen der Menschen vom Wichtigen und Richtigen zuge‐ schrieben werden kann. 1 Andersherum hat die Forschung herausgestellt, dass obrigkeitliche Normsetzung nicht losgelöst vom Denken und Handeln der Untertan: innen erfolgte, sondern das Ergebnis eines wechselseitigen Kommuni‐ kationsprozesses darstellte. 2 So entsprachen besonders gemeinwohlorientierte Normen, zu denen auch die auf Schmähschriften bezogenen zählten, oftmals einem Willen ‚von unten‘, sodass die Normsetzung an dieser Stelle für die Herrschenden durchaus legitimatorisches Potential bot. 3 Ein Blick auf die Rechtsnormen bietet sich also an, um einen grundlegenden Eindruck von den Vorstellungen der Herrschenden wie der Beherrschten zu erhalten, davon, wie sie über Schmähschriften, ihr Drohpotential und mithin über die Bedeutung öffentlicher Kommunikation allgemein dachten. Auf dieser Basis können die Fallstudien aufbauen. Es erscheint dabei lohnenswert, einen kurzen Blick auf die historische Entwicklung dieser Normen zu werfen, um Be‐ sonderheiten des 16. Jahrhunderts sowie mögliche Wandlungsprozesse sichtbar zu machen. Zudem bilden die Bestimmungen einen groben Rahmen für die Schmähschriftenprozesse und die Argumentation der Beteiligten vor Gericht, da sie neben der allgemeinen Feststellung der Strafwürdigkeit des ‚Libellie‐ rens‘ und der Strafzumessung auch definitorische Merkmale des Delikts sowie relevante Rechtsziele vorgaben. Dass in die folgende Betrachtung nicht nur die Gesetzgebung auf der Ebene Kursachsens, sondern auch die des Reichs wesentlich miteinbezogen wird, erscheint insofern berechtigt, als Reichs-, 4 Zu den Verbindungen der verschiedenen Bereiche gesetzgeberischer Tätigkeit s. B R A U N ‐ E D E R , Frühneuzeitliche Gesetzgebung (1998), S.-113-119. 5 Sofern nicht anders angegeben, bezieht sich das Folgende auf: S C H M I D T , Libelli famosi (1985). Die folgenden Ausführungen beinhalten keine Auseinandersetzung mit Ent‐ wicklungen von Rechtsbestimmungen bezüglich Injurien, Verleumdungen etc., die in Mittelalter und am Beginn der Frühen Neuzeit getrennt waren von solchen zu schmähenden Schriften, die einen gesonderten Tatbestand darstellten, s. M Ü L L E R , Verletzende Worte (2017), S. 19, hier auch der Überblick über die rechtshistorische Injurienforschung (S.-26-36). 6 Schwabenspiegel, L. 174a, S. 253. Die harte Strafe des Räderns ist wahrscheinlich auf eine Verwechslung von „Verreder“ und „Verräter“ zurückzuführen. Land- und Stadtrecht eng verklammert waren - ein Umstand, der sich für die Schmähschriftenbestimmungen ganz deutlich zeigt. 4 5.1 Mittelalterliche Beichtsummen, Land- und Stadtrechte Die strafrechtliche Verfolgung von schmähenden Schriften hat in Europa eine lange Tradition, wenngleich die Belegdichte über Jahrhunderte eher dünn erscheint. 5 Schon die griechische und römische Antike kannte das Delikt der libelli famosi, wobei im römischen Recht zwischen satirischen Schriften und schriftlichen Angriffen auf die Reputation von Individuen unterschieden wurde. Dabei hatten letztere eine Doppelstellung als Injurien und Majestätsverbrechen (crimen laesae maiestatis) inne. Aus dem Mittelalter stammende Belege für das Deliktfeld sind nur spärlich überliefert. Der Sachsenspiegel (1220-1235) enthält keine Artikel zum Umgang mit Schmähschriften, allerdings erfahren sie in der Glosse des Johann von Buch (ca. 1290-1356) Beachtung, der sich dabei wahrscheinlich auf römisches Recht bezog. Im Schwabenspiegel (1275) hingegen finden sich Bestimmungen zu Schmähschriften in Form von öffentlich ausgeworfenen Briefen: verrater das sind die mit ir red ainen uerpalmundent das sy in sagent von der christenhait also das sy sagent auf in er sey ain sodomit oder er hab das vich geunraint oder er sey ain keczer. mugen si das auf in nicht erzeugen die sol man radprechen. vnd die es nicht geturren gereden die schreyben prieff oder haissent sy ander leut schreiben vnd seczend die selben dran mit iren namen vnd werfent die prief an die strass das sy die leut lesen vnd auf heben das ist ain gros mort. vnd wer ain tod noch erger dann radprechen man solt ymen tun. 6 Der Schwabenspiegel verweist somit auf eine mittelalterliche Praxis des Aus‐ werfens von Schmähschriften in der Öffentlichkeit der Straße. Diese Öffent‐ 86 5 Die Behandlung von Schmähschriften in Rechtstexten 7 Die Kalumnie kann insofern von der Verleumdung unterschieden werden, als sie die gegen besseres Wissen erhobene gerichtliche Klage bezeichnet, M Ü L L E R , Verletzende Worte (2017), S. 112. Die Unterscheidung wird in der Forschung aber selten konsequent getroffen. 8 Anzumerken ist, dass in mittelalterlichen Rechtsquellen im Allgemeinen nicht trenn‐ scharf zwischen Verleumdung und Beleidigung unterschieden wurde, ebd., S.-108. 9 S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-228. 10 S. Kap. 8.1. lichkeitsdimension, konkret in Form eines die Schriften aufsammelnden und lesenden Publikums, bildet ein zentrales Charakteristikum des Verbrechens. Der verleumderische Inhalt der Schriften stellte das zweite Charakteristikum dar: Die Strafe für das Verbreiten von Schmähschriften ergibt sich im Schwa‐ benspiegel aus der Verbindung zur mündlichen Verleumdung oder Kalumnie, also der Verlautbarung unbewiesener Anschuldigungen; 7 exemplarisch werden Sodomie und Ketzerei genannt. Schmähschriftenverbreiter: innen sind für die Verfasser des Schwabenspiegels solche Personen, die es nicht einmal wagen (geturren), derartige Anschuldigungen selbst auszusprechen, sondern sie statt‐ dessen in schriftlicher Form ausstreuen. Diese Verbindung von Schmähschrift und Verleumdung blieb in der Gesetzgebung lange prägend. 8 Daneben lebte das römische Recht vor allem in Beichtsummen wie der summa confessorum des Johann von Erfurt (1250-1320) weiter. In dieser wurde zwischen mündlicher und schriftlicher detractio unterschieden, wobei erst die Anonymität die schriftliche detractio zur eigentlichen Schmähschrift, zum libello famoso machte. Außerdem unterschied Johann von Erfurt zwischen schuldig und un‐ schuldig geschmähten Personen, wobei die Schmähung tatsächlich schuldiger Personen keine Strafe nach sich zog - damit akzeptierte die Beichtsumme explizit einen Wahrheitsbeweis zur Verteidigung der Angeklagten. Im Bereich städtischer Gesetzgebung finden sich ebenfalls Beispiele für das Verbot schriftlicher Schmähungen. In vielen Fällen wurden sie jedoch nicht explizit von mündlichen Injurien unterschieden. Wenn eine solche Unterschei‐ dung vorgenommen wurde, geschah es aufgrund der im Vergleich zur münd‐ lichen Beleidigung gesteigerten Publizität und Dauerhaftigkeit der Schriften. Laut S C HMID T lag der Grund der städtischen Verbote vor allem in der Sorge um die öffentliche Ordnung: Man ging davon aus, dass Schmähschriften Unruhen hervorrufen konnten. 9 Diese Ansicht vertritt auch die Forschung zu politischen Pasquillen, was allerdings zu problematisieren ist. 10 Darüber hinaus betonten einige Stadtrechte die Bedeutung von öffentlichen Orten für die Verbreitung und Wirkung von Schmähschriften. So nennt die Nürnberger Stadtrechtsreform von 1484 neben Haustüren auch das Rathaus und die Kirchentür als besonders 5.1 Mittelalterliche Beichtsummen, Land- und Stadtrechte 87 11 „Von verpott aller offenlichen anschlahung pey bestympter peene vnd vrlawbung herprachter gewonlicher vberantwurttu(n)g vnd eroffnung der hendele. UErleümüt‐ tung. Vnere. Vngelimpf vnd vnfrewntschafft zefürkomen. so sol hinfür nyemant vber de(n) andern eynich brief noch schrifft offe(n)lich anschlahen an das Rathaws. die kirchtüren. Stöcke. hawßtüren noch anderswo In einich weis.“, Nürnberger Reformation 1497, fol.-40 r . 12 „Wy brive an kake oder anders war henget hemeliken sunder der radmanne wille, begrippet men, man richten als eynen velscher.“, Berlinisches Stadtbuch, S.-31. 13 S C H W E R H O F F , Pasquill (2021), S. 84f. Zur Carolina siehe mit weiterführender Literatur: I G N O R , Geschichte des Strafprozesses (2002), S.-41-44. 14 Carolina, Art. 110, S.-73. Gleichlautend der Artikel der Bambergensis, Art. 84, fol. 38. problematische Orte. 11 Auf die symbolische Funktion von Orten wie etwa dem Pranger verweist beispielsweise das Berliner Stadtbuch aus dem 14. Jahrhun‐ dert. 12 Diese Bestimmungen deuten damit auf konkrete Traditionen der Praxis des ‚Libellierens‘ hin, die auch in den vorliegenden Fallstudien greifbar werden. 5.2 Reichsgesetzgebung am Beginn der Frühen Neuzeit Im 16. Jahrhundert kam es zu einer Massierung von Bestimmungen gegen schmähende Schriften, die von einer gesteigerten Sensibilität der Obrigkeiten gegenüber Medien und Öffentlichkeit zeugen. Die peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. oder Cautio Criminalis Carolina (1532) und ihre direkte Vorläuferin, die Bambergische Peinliche Halsge‐ richtsordnung (1507) gelten als reichsrechtliche Zäsur im Umgang mit schmä‐ henden Schriften. 13 In Artikel 110 der Carolina heißt es zur Straff schrifftlicher vnrechtlicher peinlicher schmehung: ITem welcher jemandt durch schmachschrifft zuo latein libel famoß genant / die er außbreittet vnnd sich nach ordnung der recht mit seinem rechten tauff vnd zuonamen nit vnderschreibt / vnrechtlicher vnschuldiger weiß laster vnd übel zuomist / wo die mit warheyt erfunden würden / daß der geschmecht an seinem leib / leben oder ehren peinlich gestrafft werden möcht / der selbig boßhafftig lesterer soll nach erfindung solcher übelthat als die recht sagen / mit der peen / inn welche er den vnschuldigen geschmechten durch sein böse vnwarhafftige lesterschrifft hat bringen wöllen / gestrafft werden / Vnd ob sich auch gleich wol die auffgelegt schmach der zuogemessen that inn der warheit erfünde / soll dannoch der außruoffer solcher schmach nach vermög der recht vnd ermessung des richters gestrafft werden. 14 Bestraft werden sollte also der anonyme, schriftliche Verbrechensvorwurf und dessen willentliche Verbreitung. Das Strafmaß wurde in Abhängigkeit 88 5 Die Behandlung von Schmähschriften in Rechtstexten 15 So eine zentrale These von L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004). 16 Dies ist auch insofern wenig überraschend, als in die Carolina die Regelungen des am römischen Recht orientierten Reichskammergerichts sowie „Landesgewohnheiten und -gebräuche“ aufgenommen werden sollten. Vgl. S C H R O E D E R -(Hg.), Carolina (2000), S.-132. 17 Zum Folgenden s. B U E H L E R , Cencorship (2015); C R E A S M A N , Cencorship (2012). vom Wahrheitsbeweis festgelegt: Waren die verbreiteten Vorwürfe ungerecht‐ fertigt oder nicht zu beweisen, sollte das Talionsprinzip greifen, also den Verfasser: innen der Schmähschrift diejenige Strafe zugedacht werden, die auf das den Geschmähten vorgeworfene Verbrechen üblicherweise erfolgte. Gelang den Verfasser: innen jedoch der Beweis der Vorwürfe, so führte dies nicht zur Straffreiheit, sondern unterwarf sie dem Ermessen des zuständigen Richters - was einer Strafmilderung gleichkommen konnte. Damit wurde der Wahrheitsbeweis im Vergleich etwa zur Beichtsumme des Johann von Erfurt in seiner Wirkung deutlich abgeschwächt. Dies kann als Bemühung gewertet werden, diese Art der Bezichtigung und gleichzeitigen Sanktionierung durch Schmähung als Form der Selbstjustiz oder „genossenschaftlichen Selbsthilfe“ zurückzudrängen und so die zentralisierte obrigkeitliche Strafjustiz zu stärken. 15 Wahre Anschuldigungen sollten schließlich vor Gericht gebracht werden. Die schriftliche Schmähung ist die einzige Form der Injurie, die in der Carolina als schweres Verbrechen aufgeführt und entsprechend mit peinlicher Strafe bedroht wird, was ihre besondere Bedeutung im Vergleich zu den mündlichen oder gestischen Beleidigungen hervorhebt. Bambergensis und Carolina stehen im Umgang mit Schmähschriften in einer Traditionslinie, der auch die mittelal‐ terlichen Stadtrechte und der Schwabenspiegel zuzurechnen sind. Sie zielten auf die Praxis der anonymen schriftlichen Anschuldigungen und Beleidigungen in persönlichen oder zumindest lokalen Kontexten ab 16 - ganz im Gegensatz zu den auf den entstehenden Druckmarkt bezogenen Zensurbemühungen am Beginn der Frühen Neuzeit. Schon vor der Carolina wurden in den Reichsabschieden von Worms (1521), Nürnberg (1523/ 24), Speyer (1526/ 29) sowie Augsburg (1530) im Kampf gegen die Reformation Zensurbestimmungen erlassen. 17 Zwar stellten 1521 vor allem die Schriften Martin Luthers den Stein des Anstoßes dar, doch wurde bereits zu diesem Zeitpunkt eine allgemeinere Zensur gedruckter Bücher angestrebt. Betroffen waren demnach auch Ander bücher, sie seien in welcher facultet begriffen was sie wöllen, die sollen mit wissen und willen der ordinarien und außerhalb derselben kainswegs gedruckt, 5.2 Reichsgesetzgebung am Beginn der Frühen Neuzeit 89 18 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 2, VII, Nr. 92, Mai 8, S. 658. Vgl. S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-248. 19 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 4, B, VIII, Nr. 149, April 18, S. 604. Vgl. S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-249. 20 B U E H L E R , Cencorship (2015), S. 54: „Legal ambiguity meant libel was determined on a case-by-case basis, subject to contextual considerations and the subjective interests of the law’s administators and enforcers […]“; C R E A S M A N , Cencorship (2012), S.-25-27. 21 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V., Bd. 4, Nr. 941, §40, S. 3613: „Ferrer haben wir befunden, das die schmachschriften, so im hl. reich hin und widder an meher orten außgebreit werden, gemeinem friden nit wenig verhinderlich und verletzlich sein, auch zu allerhandt unruhe und weitherung gelangen mochten, demnach uns mit Kff., Ff. und gemeinen stenden verglichen, das hinfuran in dem hl. reich kein schmachschriften, wie die namen haben mochten, gedruckt, veylgehabt, kauft noch verkauft, sonder, wo die dichter, trucker, kauffer oder verkauffer betretten, daruf ein jede oberkeit vleissig ufsehens zu haben verfugen, das dieselben nach gelegenheit der schmeeschriften, so bey inen erfunden, ernstlich und hertiglich gestraft werden sollen.“ 22 „34/ 1: […] So befinden wir doch/ das ob derselben unser satzung gar nichts ge‐ halten/ Sonder das solliche schmeliche Bücher schrifften/ gemälts und gemechts/ je verkauft nach zu drucken oder zu verkaufen unterstanden, verschaffet noch gestattet werden, in kainer weise. 18 Den Kontext bildeten jedoch deutlich die konfessionellen Auseinanderset‐ zungen der Zeit. Auf dem Reichstag von Nürnberg 1523/ 24 war dann noch offener von schmaheschrift und gemelts 19 die Rede. Die Vagheit der Formulie‐ rungen und die fehlende Definition dessen, was eine solche Schmähschrift ausmachen sollte, dienten nach Paul B U E HL E R und Allyson C R E A S MAN dazu, den Obrigkeiten möglichst große Spielräume bei der situativen Verfolgung allgemein unliebsamer Schriften zu ermöglichen. 20 Die Bestimmungen bezogen sich, anders als diejenigen in Carolina und Bambergensis, ganz eindeutig auf den Markt für Druckerzeugnisse. Entsprechend setzte die Zensur auch bei den Druckereien und Händler: innen an. Indem man seit 1530 den Druckereien vorschrieb, ihre Erzeugnisse mit ihrem Namen zu versehen, glaubte man zudem etwas gegen das Unheil der anonymen Veröffentlichungen unternehmen zu können. Als Begründung für diese Maßnahmen gab etwa der Reichsabschied von Regensburg 1541 den Schutz des gemeinen Friedens beziehungsweise der öffentlichen Ordnung vor Unruhen an, die durch die weit verbreiteten Schriften angeregt würden. 21 Die beiden skizzierten Stränge, strafrechtliche Verfolgung von gegen Ein‐ zelpersonen gerichteten verleumderischen Schmähschriften in Bambergensis und Carolina einerseits und ursprünglich konfessionsbezogener Zensur in den Reichsabschieden andererseits, liefen in der Reichspolizeiordnung von 1548 schließlich zusammen. 22 Ausgehend von dem Befund, dass das Anfer‐ 90 5 Die Behandlung von Schmähschriften in Rechtstexten lenger je mehr gedieht/ getruckt gemacht/ feyl gehabt/ unnd außgebreytet werden. Wann wir nun zu pflantzung/ unnd erhaltung Christenlicher Lieb und eynigkeyt/ und verhüttung/ unruhe und weitherung/ so daraus volgen möchte/ uns schüldig er‐ kennen/ inn dem gebürlich einsehens zuthun/ So setzen und ordnen wir auch/ hiemit ernstlich gebietendt/ das hinfüro alle Buchtrucker/ […] keyne Bücher/ kleyn oder groß/ wie die Namen haben möchten/ imm Truck außgehen lassen sollen/ dieselben seien dann zuvor/ durch ir ordentlich Oberkeyt/ eyns jeden orts/ oder ire darzu verordenten besichtigt/ und der Lehr der Christenlichen Kirchen/ Deßgleichen dem Abschiedt diß Reichßtags alhie/ […] gemeß befunden/ Darzu das sie nit auffrürisch oder schmelich/ es treff gleich hohe/ Nidere/ gemeyne oder sondere personen an/ und deßhalben approbiert unnd zugelassen. […] 34/ 2: Ferrer setzen/ Ordnen und wöllen wir/ das alle und jede Oberkeyten/ uns und dem heyligen Reich underworffen/ ernst‐ lich einsehens thun/ und verschaffen sollen/ das nit alleyn dem wie obgemelt/ trewlich nachkommen und gelebt werde/ Sonder das auch nichts/ so der Catholischen allge‐ meynen Lehr/ der heyligen Christenlichen Kirchen ungemeß und widerwertig oder zu unrhue und weitherung ursach geben. Deßgleichen auch nichts schmelichs/ Pas‐ quillisch oder anderer weiß/ wie das namen haben möchte/ disem itzo alhie auffge‐ richten Abschiedt/ […] ungemeß/ inn was schein das beschehen möchte/ gedicht/ ge‐ schrieben/ inn Truck bracht/ gemahlet/ geschnitzt/ gegossen oder gemacht/ Sonder wo solche und dergleichen Bücher/ Schrifften/ gemelde/ Abgüß/ geschnitz und ge‐ mechts/ imm Truck oder sunst vorhanden weren/ oder künfftiglich außgiengen und an tag kämen/ das dieselben nit feylgehabt/ gekaufft/ umbgetragen noch außge‐ breyt/ Sonder den verkäuffern genommen/ und soviel immer möglich undergedruckt werden/ und soll nit alleyn der Verkauffer oder Feylhaber/ sonder auch der Kauffer und andere/ bei denen solliche Bücher/ schmeschrifften oder gemälts/ Pasquils oder anderer weiß/ sie seien geschrieben/ gemalet oder getruckt befunden/ gefengklich angenommen/ gütlich/ oder wo es die notturfft erfordert peinlich/ wo ime solche Bücher/ gemeld oder schrifft herkommen/ gefragt […]“, Reichspolizeiordnung 1548, Kap. 34 „Von Schmeschrifften/ Gemäles und Gemechts“, §1 und §2, S.-207-209. 23 Vgl. die These Schwerhoffs, dass ‚Pasquill‘ seit Mitte des 16. zum Synonym für ‚Schmäh‐ schrift‘ wurde und dies als Ausdruck obrigkeitlicher Bemühungen anzusehen ist, Formen unliebsamer Kritik und Herabsetzung umfassend zu kriminalisieren: S C H W E R ‐ H O F F , Pasquillus Germanicus (2023); D E R S ., Pasquill (2021). tigen und Verbreiten von Schmähschriften trotz aller Verbote weiter zunahm, strebte die Verordnung den Schutz der katholischen Lehre und der christli‐ chen Kirche an, ergänzt um die bereits bekannte Sicherung des Friedens und den Schutz vor Unruhen. Neu war die nun allgemeinere Rede von schmälichs, pasquillischs Werken, worunter somit auch individuelle Schmäh‐ schriften fielen. 23 Zudem wurde das Spektrum der Betroffenen als breit und schichtunspezifisch erachtet, schließlich seien hohe/ Nidere/ gemeyne oder son‐ dere personen Opfer derartiger Angriffe gewesen. Nachdem in §1 wieder der Druckmarkt Ziel der Bestimmungen ist, wird in §2 nun auch die mediale Breite der möglichen schmählichen Veröffentlichungsformen abgebildet: gedicht/ ge‐ schrieben/ inn Truck bracht/ gemahlet/ geschnitzt/ gegossen oder gemacht/ […] Bücher/ Schrifften/ gemelde/ Abgüß/ geschnitz und gemechts/ imm Truck oder 5.2 Reichsgesetzgebung am Beginn der Frühen Neuzeit 91 24 Auf dem Speyrer Reichsabschied von 1570 wurden Winkeldruckereien verboten und Druckereien nur noch in Residenzstädten erlaubt, s. Reichsabschied 1570, §154-159, S.-1252f. 25 Reichspolizeiordnung 1577, Kap. 35, §6 und §7, S.-266f.; S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-253-256. 26 Reichspolizeiordnung 1577, Kap. 35, §3, S.-264. 27 Dies passt auch zur Beobachtung Michael Stolleis’, dass im Zuge des Buchdrucks, des Konfessionsstreits und der Staatsbildung ein Anspruch an Öffentlichkeit entstand, s. S T O L L E I S , Geschichte des öffentlichen Rechts (1988), S. 127. Zum invektiven Kom‐ munikationsmodus der Reformation s. S C H W E R H O F F ; K Ä S T N E R , Narrheit (2021). Zur Entwicklung der Guten Policey als Gesetzgebung s. I S E L I , Gute Policey (2009), S. 84-95. sunst. Zudem kriminalisierte die Polizeiordnung neben den Autor: innen, Dru‐ cker: innen und Verkäufer: innen auch diejenigen, die Schmähschriften besaßen oder verteilten und machte die Bestimmung so über den Druckmarkt hinaus relevant. Lediglich alte Schmähschriften durften im Besitz verbleiben, solange sie nicht verbreitet wurden, da dadurch die Schmach der Betroffenen erneuert würde. Bei der Suche nach den Urheber: innen wurde außerdem die peinliche Befragung erlaubt. Die Reichspolizeiordnung von 1548 markierte eine neue Dimension gesetz‐ geberischen Interesses an der Kriminalisierung, Verfolgung und Sanktionierung von unliebsamen Publikationen. Damit einher ging ein umfassender werdendes Verständnis von ‚Schmähschriften‘. Das Deliktfeld wurde medial wie inhaltlich weit gefasst, sodass ein großer obrigkeitlicher Handlungsspielraum entstand. In den Folgejahren wurden die Druckereien noch stärker überwacht 24 und in der Reichspolizeiordnung von 1577 endlich auch die Scheltbriefe gegen säumige Schuldner explizit verboten. 25 Bei dieser Gelegenheit strich man zudem das definitorische Merkmal der Anonymität, das schon im Speyrer Abschied von 1541 keine Erwähnung mehr gefunden hatte, explizit, indem man von Famoß‐ bücher[n]/ oder schrifften, es hab der Author seinen namen darunder gesetzt/ oder nit 26 sprach, wodurch das Deliktfeld nochmals erweitert wurde. Den Wahr‐ heitsbeweis zur zumindest teilweisen Legitimation führen die Reichspolizeiord‐ nungen nicht mehr an. Gründe für diese Entwicklung wie für die Zunahme der Schmähschriftenbestimmungen insgesamt sind - neben der allgemein gestei‐ gerten gesetzgeberischen und policeylichen Tätigkeit der Obrigkeiten - in den Erfahrungen mit der Nutzung von Druckmedien im konfessionellen Streit zu sehen, der grundsätzlich im Modus des Invektiven geführt wurde. 27 Von diesem Zusammenhang zeugen die engen Verbindungen zwischen Zensurbemühungen und strafrechtlichen Bestimmungen gegen schmähende Schriften. Als invektiv interpretierbare Publikationen egal welcher Form wurden als Einfluss auf die öffentliche Meinung ernstgenommen und als potentielle Bedrohung der 92 5 Die Behandlung von Schmähschriften in Rechtstexten 28 L Ü C K , Sühne und Strafgerichtsbarkeit (1999), S.-90. 29 Kursächsische Konstitutionen, Art. 44, fol. 95 v f. Zur Bedeutung und Entstehung der Konstitutionen s. S C H A T T K O W S K Y , Konstitutionen (2017). Die für die kursächsische Rechtsprechung äußerst relevanten Constitutiones ineditae von 1572 enhalten hingegen keine Bestimmungen zu Schmähschriften, vgl. Sächsische Landes- und Universitätsbi‐ bliothek, Mscr.Dresd.Q.188. Zur Bedeutung der Constitutiones ineditae s. L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-86-89. 30 L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-78. 31 S. Kap. 7.3.2. 32 Kursächsische Konstitutionen, Kap.-XLVI, fol. 96 v . öffentlichen Ordnung und des Friedens eingeschätzt. Es entstand ganz allgemein ein gesteigertes Bewusstsein, ja eine neue Sensibilität für Öffentlichkeit. Auch die Beurteilung handschriftlich verfasster Texte wurde auf diese Weise indirekt von den Entwicklungen des Buchdrucks beeinflusst und die entsprechenden Schmähschriften bezogen ihr gesteigertes Drohpotential zu nicht geringen Teilen aus den Eindrücken der Wirkkraft der Druckerpresse. 5.3 Kursächsische Bestimmungen im 16.-Jahrhundert Auch in Kursachsen waren die Bestimmungen des Reichsrechts, allen voran die Carolina und die Reichspolizeiordnungen, Vorbilder für die Landesgesetz‐ gebung und Bezugspunkte für die Begründung von Urteilen. 28 Das zentrale Regelwerk bildeten die Kursächsischen Konstitutionen von 1572, die ebenfalls das Delikt der schand und famos Schrifften aufführen. 29 Der entsprechende Artikel übernimmt die Bestimmungen der Reichspolizeiordnungen sowie des Speyrer Abschieds von 1570, die lediglich ergänzt werden: Für anonym handelnde Verbreiter: innen verleumderischer Schriften gilt die Strafe (Staupenschlag mit anschließendem Landesverweis oder Gefängnis) explizit auch, wenn die vorgebrachten Beschuldigungen bewiesen werden können. Der Wahrheitsbe‐ weis zwecks Legitimation wird also ausgeschlossen. Da die Konstitutionen zur ‚Streitfragengesetzgebung‘ zählen, also der Vereinheitlichung der zuvor divergierenden Spruchpraxis dienten, 30 verweist diese explizite Thematisierung des Wahrheitsbeweises auf eine diesbezüglich strittige Rechtsprechung, die auch in den Fallstudien sichtbar wird. 31 Interessanterweise unterschieden die Konstitutionen in Artikel 46 bezüglich der Verjährungsfrist zwischen famos schrifften und andern schriftliche[n] iniurien. 32 ‚Famosschriften‘ fielen dabei unter die höheren Injurien mit einer Verjährungsfrist von 31 Jahren, während für einfache schriftliche Injurien lediglich eine einjährige Frist galt. Der Unterschied wird in den Consultationes Constituorum Saxonicorum von 1599 erläutert: 5.3 Kursächsische Bestimmungen im 16.-Jahrhundert 93 33 S C H N E I D E W E I N ; W E S E N B E C K ; T H O M I N G , Consultationes II (1599), S.-174. 34 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-168. 35 S C H N E I D E W E I N ; W E S E N B E C K ; T H O M I N G , Consultationes II (1599), S.-173. 36 S C H N E I D E W E I N ; W E S E N B E C K ; T H O M I N G , Consultationes I (1599), fol. 102 v f. 37 So auch F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-153. 38 H A S S E , Zensur (2000). Die schoepffenstuele aber haltens darfuer / das wo einer ein famoßschrifft ma‐ chet / unnd sich darzu mit seinem rechten namen bekennet / das solchs eine simplex iniuria sey / und das die innerhalb jahres und tages praescribirt werde / als der woertlichen jniurien. Da aber der diffamator seinen namen nicht bekennet / keinen oder falschen namen setzet / das dan gravius delinquirt und derwegen dißfals die actio iniuriatum perpetua sey. 33 Anonymität machte also den entscheidenden Unterschied aus. Wahrscheinlich unterschied man damit auch unterschiedliche Praktiken. Auf der einen Seite standen die lange geduldeten Scheltbriefe und auch diejenigen Schriften, die im Rahmen gerichtlicher Prozesse anfielen und von gegnerischer Seite oft aus taktischen Gründen als schmähend bezeichnet wurden. 34 Auf der anderen Seite befanden sich die anonymen Pasquille und größere wie kleineren Schmäh- und Drohzettel im Rahmen außergerichtlicher Konflikte. Gerade letztere galt es offensichtlich von Seiten der Obrigkeit zu bekämpfen. Außerdem hob man in den Consultationes mit Blick auf das Strafmaß solche Schmähschriften hervor, die sich gegen die Obrigkeit oder Standespersonen richteten, sowie solche, die an besonderen öffentlichen Orten angebracht waren. 35 Die Kursächsischen Konstitutionen betonen in der Vorrede zum genannten Schmähschriftenartikel die weite Verbreitung dieser Praxis, wie es auch die Reichspolizeiordnungen taten. Dabei handelt es sich zwar um eine typische Be‐ gründungsfigur obrigkeitlicher Gesetzgebung in der Frühen Neuzeit, allerdings finden sich Hinweise auf die Alltäglichkeit von Schmähschriften ungewöhnlich häufig. Die Consultationes von 1599 beschäftigen sich daher auch mit der Frage, wofür man solche schmehekarten / so auch täglich fliegen unnd außgehen / neben andern injurien durch schreiben geschehen / halten solle. 36 Dabei zog man ihre Zuordnung zu den wirklich schweren Injurien in Zweifel. Dies legt den Eindruck nahe, dass in diesem Fall die Häufigkeit der Normsetzung ein starkes Indiz für die Häufigkeit der Normtransgression, also der Verbreitung von Schmäh‐ schriften ist. 37 In Sachen Zensur hatte Sachsen eine Vorreiterrolle im Reich inne. Die Entwicklung, ebenfalls ausgehend von konfessionell-politischen Konflikten, ähnelt derjenigen des Reichs und ist bereits ausführlich untersucht worden. 38 An dieser Stelle seien mit Blick auf die folgenden Fallstudien daher nur zwei 94 5 Die Behandlung von Schmähschriften in Rechtstexten 39 Codex Augusteus, Sp. 1045-1046. 40 Ebd., Sp. 27-30. Das Mandat bezieht sich explizit auf ein vorangegangenes gegen „Schand-, Schmäh- und Straffbücher“ in Religionssachen vom 25. April 1549. 41 Ebd., Sp. 29. konkrete Mandate hervorgehoben. Zum einen eines gegen den Wucher, welches bereits am 9. Oktober 1529 die Praxis des Anbringens von Scheltbriefen verbot 39 , und zum anderen ein Ausschreiben im Namen des Kurfürsten Moritz und seines Bruders August vom 12. November 1550, in dem es heißt: Es werden in unsere lande schrifften, lieder und gemählde geschoben, die zu besorg‐ lichen gefahren gerichtet, damit man unsere unterthanen bewegen will. […] gebieten, wo hinfürder iemand solche lieder, schrifften oder gemählde, in unsere Lande heimlich oder öffentlich bringen, die darinne weisen, lesen, verkäuffen oder verschencken wird, daß derselbige zu stund gefänglich eingezogen, und an ihm alle umstände, und wie er dazu kommen, erkundet, und uns dasselbige, neben uberschickung der schrifft, lieder oder gemählde, zugeschrieben werden […] 40 Zwar bezieht sich die Bestimmung auf den Druckmarkt und vor allem auf von außerhalb nach Sachsen importierte Werke, jedoch zeigt sich die hier anbefohlene Verfolgungspraxis, nach Möglichkeit alle umstände, also die kon‐ kreten Verbreitungswege und die Quelle der Schriften ans Licht zu bringen, auch in den Schmähschriftenprozessen der Fallstudien. Formuliertes Ziel dieser Bestimmungen war es, neben der Religion auch die gute Ordnung und den öffentlichen Frieden zu schützen. Die Schmähschriften galten insofern als Gefahr, als ihnen das Potential zugesprochen wurde, den gemeinen mann […] von der römischen käyserl. majestät […] und unsern gehorsam abzuwenden. 41 Die für die kursächsische Rechtsprechung relevanten rechtspraktischen Schriften, die tendenziell eine Ausdifferenzierung der Strafen und Strafmaße, mitunter eine Legitimierung vornahmen, werden in Kapitel 7.3.2 exemplarisch in Bezug auf die Argumentationsmöglichkeiten angeklagter Schmähschriften‐ verbreiter: innen untersucht. Inwiefern sich auch städtische Obrigkeiten mit dem Problem schmähender Schriften auseinanderzusetzen hatten, zeigt der folgende Leipziger Fall. 5.3 Kursächsische Bestimmungen im 16.-Jahrhundert 95 1 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-29 r -30 r . 2 Ebd., fol. 11 r . 3 Ebd. 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften in der frühneuzeitlichen Stadt. Zwei anonyme Pasquille in Leipzig (1588) Am 5. August 1588 richtete der Leipziger Bürger Heinrich Gratz aus seiner Gefängniszelle heraus eine Supplik an Bürgermeister und Rat. 1 Zwecks einer Geschäftsreise ins Ausland bat er um vorübergehende Haftentlassung, ohne die es ihm nicht möglich sei, sich um Frau und Kinder und die heußliche nahrung zu kümmern. Grund für seine Misere war laut Gratz ein große[r] unfall, wegen eines angeschlagenen pasßquilli, das er abgeschrieben und andern gezeiget habe. Ausweislich eines Zwischenurteils des Leipziger Schöffenstuhls hatte er tatsächlich zuvor gestanden, etwa zur Zeit der Fastnacht ein bereits in der Stadt umlaufendes Pasquill an sich genommen, kopiert, mehreren Personen gezeigt und zur erneuten Abschrift zur Verfügung gestellt zu haben. 2 Da er dabei keineswegs heimlich vorgegangen war, sondern im Gegenteil einiges Aufsehen erregt hatte, kam es zur Anzeige durch einen der im Pasquill geschmähten Männer und schließlich zu Gratz‘ Inhaftierung. Auch nach seinem Geständnis saß Gratz weiter im städtischen Gefängnis ein, da Rat und Bürgermeister ihn verdächtigten, das Pasquill nicht nur abgeschrieben, sondern nebst mindestens einem weiteren selbst verfasst zu haben - was er jedoch abstritt. Der Schöffen‐ stuhl legitimierte daher in seinem Zwischenurteil, Gratz mit der scherfe, jedoch ziemlicher weiß, angreifen und befragen zulassen. 3 Leider ist nicht bekannt, wie mit dem Gefangenen weiter verfahren wurde, da die Überlieferung im Anschluss an die eingangs genannte Supplik versiegt. Die verhältnismäßig schmale Akte des Falls aus dem Bestand „Richterstube“ des Leipziger Stadtarchivs enthält neben Fragstücken und Aussagen des Ange‐ klagten wie der Zeugen, einem kurzen Bericht über den Prozessverlauf sowie der angesprochenen Supplikation und dem Zwischenurteil des Schöffenstuhls auch die Originale der beiden Pasquille, deren Verfertigung Gratz zur Last gelegt wurden. Es handelt sich um zwei kurze Schmähgedichte von je einer Seite, die handschriftlich und anonym verfasst worden waren und in derben, teilweise satirischen sowie potentiell komischen Versen mehrere angesehene, im Text 4 Auch wenn hier und im Folgenden vom „Stadtgericht“ gesprochen wird, kann keine klare Trennung zwischen diesem Gericht und dem Leipziger Stadtrat vorgenommen werden. Zwar wurden in der Theorie beiden Instanzen verschiedenartige Fälle zuge‐ ordnet, jedoch geschah dies situativ und von Fall zu Fall durchaus unterschiedlich. Daneben existierten große personelle (die Ratsherren sprachen als Beisitzer des Stadtrichters, der ebenfalls aus dem ruhenden Rat kam, Recht) sowie räumliche (die ‚Richterstube‘ befand sich im Leipziger Rathaus) Überschneidungen. Der Leipziger Schöppenstuhl hingegen wurde 1574 in eine landesherrliche Einrichtung umgewandelt und unterstand nicht länger dem Stadtrat. Er urteilte aber auch in der Folge für das Stadtgericht, s. R Ü D I G E R ; R O M M E L , Bestand Richterstube (2007); D Ö R I N G , Justizwesen (2016). 5 Bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts überschritt die Stadt die Grenze von 10.000 Einwohner: innen, bis 1600 erhöhte diese sich nochmals auf etwa 16.000, s. D Ö R I N G , Reformation bis Dreißigjähriger Krieg (2016), S.-38. 6 So wurden im frühen 16. Jahrhundert beispielsweise etwa 40 Prozent des Kupferhandels der Fugger über Leipzig abgewickelt, ebd., S.-39. namentlich genannte Bürger: innen der Leipziger Oberschicht des Ehebruchs bezichtigten. Da das Verfahren gegen Heinrich Gratz vor dem Leipziger Stadtgericht verhandelt wurde - Leipzig hatte im 15. Jahrhundert die gesamte hohe und niedere Gerichtsbarkeit vom Landesherrn erworben 4 -, bietet die Überlieferung Zugang zu einem für das 16. Jahrhundert typischen Schmähschriftenprozess an einem städtischen Gericht. Mit etwas unter 16.000 Einwohner: innen handelte es sich bei Leipzig nach damaligen Maßstäben um eine ansehnliche, national wie international relevante Groß- und Messestadt. 5 Als solche wies sie eine selbstbewusste patrizische Oberschicht auf, die vor allem durch den Handel, aber auch durch Unternehmungen im Bergbau zu Wohlstand gekommen war. 6 Mehrere Personen, die von den Schmähschriften im Fall Gratz betroffen waren, entstammten dieser reichen Oberschicht. Ein Teil des Handels wurde wöchent‐ lich oder täglich an den wichtigen öffentlichen Orten der Stadt abgehalten, vor allem auf dem zentralen Marktplatz, aber auch auf der wichtigsten Straße, dem Brühl, wo die hier behandelten Pasquille Verbreitung fanden. Eine Analyse des Inhalts der Pasquille sowie ihres Entstehungs- und Verbrei‐ tungskontexts ermöglicht es, einige grundlegende Aussagen zu Funktionen, Verbreitungswegen und Wahrnehmungen von Schmähschriften in einer Groß‐ stadt am Ende des 16. Jahrhunderts zu treffen. Auf den ersten Blick ähneln die Pasquille aufgrund ihrer satirischen Gestaltung und der Anprangerung von Verfehlungen einzelner Bürger: innen bekannten Formen von Rügebräu‐ chen, wie etwa dem Charivari, und erwecken damit den Anschein, einem gemeinschaftlichen Anspruch auf Offenbarung und Sanktionierung von Fehl‐ verhalten zu entsprechen. Die Kontextualisierung der Schriften erlaubt es, 98 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 7 Vgl. Kap. 5. 8 Der Angeklagte wurde in den Verhören nach seinem Wissen über beide Texte befragt und die Zeugen mussten Auskunft geben, ob er ihnen neben dem Männerpasquill auch das zweite, das Frauenpasquill, gezeigt oder wenigstens darüber gesprochen hatte: StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-4 r , 8 v , 9 v . mögliche Motive des Pasquillanten aufzuzeigen und die Schmähschriften in ihrer Funktion mit bekannten Rügebräuchen der Zeit zu vergleichen und letztlich von diesen abzugrenzen (Kap. 6.1 und 6.2). Anhand der im Rahmen des Prozesses niedergeschriebenen Reaktionen der Kommunikationsteilnehm‐ enden und mehrerer fast zeitgleich publizierter Mandate des Leipziger Rats bezüglich Schmähschriften lässt sich außerdem die bereits für die Gesetzgebung auf Reichs- und Territorialebene konstatierte gestiegene Sensibilität im Umgang mit Schmähschriften in ihrer lokalen Ausprägung betrachten (Kap. 6.3 und 6.4). 7 Zuletzt bieten die Akten einen ersten Eindruck von den Medien und Praktiken der Schmähschriftenkommunikation (Kap. 6.5), wobei sich bereits deutlich die Relevanz mündlicher Kommunikation abzeichnet, die in der zweiten Fallstudie intensiver ausgeleuchtet wird. Der unfall des Heinrich Gratz dient also dazu, bestehende Ansätze der Schmähschriftenforschung zusammenzuführen und am konkreten Beispiel zu veranschaulichen. Damit schafft er eine Grundlage für die folgenden Kapitel, welche die hier angesprochenen Erkenntnisse in je unterschiedlichen Gewich‐ tungen weiter ausführen. 6.1 Der Inhalt der Leipziger Pasquille und die Effekte des Komischen Die beiden im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Heinrich Gratz über‐ lieferten Schmähschriften ähneln sich stark: Es handelt sich um zwei handbe‐ schriebene Zettel, die je ein kurzes, gereimtes Gedicht von 20 beziehungsweise 31 Versen in deutscher Sprache beinhalten. Sie können als typische Pasquille gelten, die in einer Stadt wie Leipzig im 16. Jahrhundert nicht ungewöhnlich waren, zeitweise wohl sogar zum Alltag gehörten. Die beiden Schmähschriften müssen kurz hintereinander erschienen sein, da sich ein Gedicht direkt auf das andere bezog und dessen Erzählung fortschrieb. Gleichsam folgerichtig legte das Stadtgericht Gratz die Autorenschaft und die Verbreitung beider Pasquille zur Last. 8 6.1 Der Inhalt der Leipziger Pasquille und die Effekte des Komischen 99 9 Ebd., fol.-6 r . 10 Für den Text der beiden Pasquille s. Frauenpasquill (Anh. 2.1); Männerpasquill (Anh. 2.2). Aufgrund des geringen Umfangs der Gedichte wird im Folgenden auf Zeilenan‐ gaben verzichtet. 11 F I S C H E R , Kaufmännische Einwanderung (1929), S. 53; V O G E L , Leipzigisches Geschicht- Buch (1714), S.-314. 12 F I S C H E R , Kaufmännische Einwanderung (1929), S.-326f. 13 Ebd., S.-54. 14 Vgl. W E I N R I C H , Leichpredigt (1593). 15 „Dr. Andreas“ könnte auf den Leipziger Juristen, mehrmaligen Rektor der Universität und Assessor am Oberhofgericht, Andreas Scheffer (1543-1610) hindeuten. Allerdings war seine erste Frau bereits 1585 verstorben und erst 1589, also im Jahr nach Erscheinen des Pasquills, heiratete er erneut. S. W E I N R I C H , Christliche Leichpredigt (1610). 16 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-6 v . Die zwei Texte prangern auf satirische Weise den Ehebruch namentlich genannter Bürger: innen Leipzigs an. Im ersten, in den Akten als Weiberzettel 9 und im Folgenden als ‚Frauenpasquill‘, das Gegenstück entsprechend als ‚Män‐ nerpasquill‘, bezeichnet, stellt die Erzählinstanz einen Soldatenzug aus huren zusammen. 10 In diesen Zug sollen insgesamt sieben Bürgerinnen eintreten, die, mit Ausnahme einer Frau namens Magrit Frobel, über die Namen ihrer Ehemänner angesprochen werden. Sofern sie greifbar sind, lassen sich die betroffenen Ehepaare mit einiger Wahrscheinlichkeit der gehobenen Mittel‐ schicht und Oberschicht der Stadt zuordnen. Bei Jermis (Hieronymus) Hofmann (†1596), Hans Fuchs und Clemens Schwartz handelte es sich um wohlhabende Kaufleute. Hofmann stammte aus einer reichen und weit verzweigten Familie, war Inhaber der ‚Morenapotheke‘ und amtierte seit 1591 als Ratsherr, 11 Fuchs stand als Kaufmann und Hoffaktor in engem Kontakt mit Kurfürst August von Sachsen 12 und mit Schwartz adressierte das Pasquill mutmaßlich einen Kramer, der 1545 als Meister seiner Zunft in Erscheinung trat. 13 Lediglich eine Vermutung muss bleiben, dass es sich bei Magrit Frobel um die Frau des Ratsherrn Jacob Frobel (1509-1593) handeln könnte. 14 Darüber hinaus schmähte das Pasquill die Ehefrauen zweier Männer mit universitärer Bildung: Magister Kramer und Doktor Andreas. 15 So bezichtigt die Erzählinstanz die Kramerin des Umgangs mit Franzosen und welsche[n] in ihren engen hosen, sowie die Ehefrau des Doktor Andreas des Ehebruchs mit ihrem Schreiber, wobei der Wohlstand des Ehepaars zusätzlich hervorgehoben wird (ein gulden funfhundert mangelt ihn nit). Der Zeugenaussage des Heinrich Gratz ist zu entnehmen, dass es sich bei zwei der Frauen um die bierfuhrerinn, und die ambtz kochin 16 handelte, was als weiterer Hinweis auf eine Verbindung der bezichtigten Personen zum Leipziger Magistrat gedeutet werden kann. 100 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 17 R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S.-218. 18 S C H W E R H O F F , Historische Kriminalitätsforschung (2011), S. 152-155; F U C H S , Beleidi‐ gungsprozesse (1999), S. 228-254; R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S.-311-315, 380f. 19 Besonders präsent waren Beleidigungen der ‚Gehörnten‘ im Italien der Renaissance, s. B U R K E , Städtische Kultur (1996), S.-96-110. 20 B E I D E R B E C K , Religionskrieg (2005), S. 92-103, 126-135. Zur Musterungspraxis s. B A U M A N N , Landsknechte (1994), S.-72-79. Die Herabsetzung der Frauen erfolgte auf gleich mehreren Ebenen. An erster Stelle stand der Vorwurf des Ehebruchs; der hier verwendete Begriff ‚Hure‘ stellte das „der züchtigen Hausfrau entgegengesetzt[e] kulturell[e] Denkbild“ der Zeit dar. 17 Er war das Mittel der Wahl um besonders verheiratete, höherge‐ stellte Frauen in ihrer Ehre zu verletzen. Anschuldigungen wegen ‚Hurerei‘ und Ehebruchs konnten gravierende Folgen nach sich ziehen, neben dem sozialen Schaden an der Ehre drohten unter Umständen harte strafrechtliche Sanktionen. Es handelte sich um ein schwerwiegendes Kriminaldelikt, da Frauen im Gegensatz zu Männern über den Ehebruch nicht nur sündiges Verhalten, sondern auch die Gefährdung gesellschaftlicher Ordnung zur Last gelegt wurde. Diese Ordnung beinhaltete eben auch die Geschlechterhierarchie, welche die Unterordnung der Frau unter den Mann vorsah. 18 Natürlich bedeutete der Vorwurf des Ehebruchs auch eine empfindliche Schmähung der ‚gehörnten‘ Ehemänner. 19 Eine Ausweisung der Frauen aus der Gemeinschaft, wie sie das Pasquill beschreibt, konnte in der Logik der Zeit als angemessene Reaktion auf den weiblichen Ehebruch gelten. Die Schmähschrift lancierte über diesen ehrverletzenden Vorwurf gewissermaßen einen Appell an das Publikum, dem Normbruch mit der sozialen Sanktion des Ehrentzugs zu begegnen. Daneben trug auch der satirische Charakter der Schrift zur Herabsetzung der Frauen bei. Auf spöttische Weise zeichnet das Pasquill das Bild eines Trupps Landsknechte: Den Frauen werden unterschiedliche zeittypische Dienstgrade zugeteilt (rittmeister, leutnant, fenderich [Fähnrich], profos und steckenknecht) und sie erhalten, ganz der gängigen Praxis entsprechend, ihren ersten Monats‐ sold auf dem muster platt, um anschließend in den Krieg nach Frankreich zu ziehen. Damit wurde zugleich ein Realitätsbezug hergestellt, da die Hugenotten‐ kriege in Frankreich insofern allgegenwärtig waren, als auch in Kursachsen für die Beteiligung in diesen Kriegen trotz Verboten geworben wurde. 20 Der Prozessionscharakter des Umzugs der gleichsam als Landsknechte verkleideten Frauen vermittelt einen karnevalesken Eindruck, der sich den Lesenden auch dadurch aufgedrängt haben musste, dass das Pasquill offenbar zur Fastnachtszeit 6.1 Der Inhalt der Leipziger Pasquille und die Effekte des Komischen 101 21 Dieses Datum geht aus den Fragstücken für die Zeugen sowie den Antworten des Cuntz Cunrad und Heinrich Gratz hervor: StadtAL, Bestand Richterstube, Nr. 187, fol. 8 r , 19 r , 27 r . Zu den Leipziger Fastnachtsbräuchen der Frühen Neuzeit, zu denen auch das Verkleiden, unter anderem als Soldat, zählte, s. K U S C H E , Ritual versus Disziplin (2005). 22 Zur Wahrnehmung der Söldner im 16. Jahrhundert beziehungsweise den zu dieser Zeit üblichen, stereotypen Bildern s. H U N T E B R I N K E R , Söldner (2010), S. 119-151; B A U M A N N , Landsknechte (1994), S.-202-206. 23 H U N T E B R I N K E R , Söldner (2010), S.-87-96. 24 B A U M A N N , Landsknechte (1994), S.-206. 25 L U D W I G , Differenzkategorien (2018), S.-344. 26 Rüdiger Zymner etwa unterscheidet die Satire von der Polemik als argumentierender Bloßstellung zur moralischen oder intellektuellen Vernichtung des Gegners und vom Pas‐ quill als einer „meist anonymen oder maskierten Vernichtung eines bestimmten Gegners [und] verleumderischen Verletzung der Ehre vor der Öffentlichkeit“ sowie vom Pamphlet als einer „polemisch-pasquillantischen, publizistischen Angriffsschrift“. Die Grenzen zwischen den Kategorien verschwimmen jedoch und die vorliegenden Schriften weisen Elemente aller genannten Genres auf. Wichtige Stilelemente der Satire, die sich häufig in den Pasquillen finden, sind Verstellung, Verspottung, Entrüstung, Ironie, Übertreibung, Gruppen- und Einzelcharakterisierung, Andeutungen, Anspielungen, Wortspiele sowie Stilisierung, Fiktionalisierung und Symbolisierung. S. Z Y M N E R , Satire (2017), S.-22. 27 Vgl. Kap. 8.2.2. 28 Eine Zusammenfassung der ‚Zutaten des Humors‘ mit der aktuellen Literatur bietet K U I P E R S , Humor Styles (2009), S. 220-223. Die folgenden Informationen sind diesem Aufsatz entnommen, sofern nicht anders angegeben. erschienen war. 21 Die Darstellung der Frauen als Landsknechte bedeutete schon insofern eine Verunglimpfung, als die Söldner von der Bevölkerung seit der Mitte des 16. Jahrhunderts vorrangig negativ gesehen, sogar gefürchtet und verachtet wurden. 22 Zugleich unterstützte sie den Vorwurf des Ehebruchs, da zum einen gerade die fragwürdige Sexualmoral eines der den Landsknechten zugeschrieben Charakteristika darstellte und zum anderen das Image von Frauen in militärischen Kontexten allgemein äußerst negativ besetzt, sexualisiert und mit schwacher Moral verbunden war. 23 Es spricht für sich, dass der Begriff ‚Landsknecht‘ auch eine Geschlechtskrankheit bezeichnen konnte. 24 Noch drastischer wirkte sich mutmaßlich die Verkehrung der Geschlechterrollen durch die Darstellung der Frauen als (männliche) Söldner aus, denn „[m]it Waffen kämpfende Frauen galten den Zeitgenossen als Monstrosität, als verkehrte Welt.“ 25 Wenngleich die hier behandelten Schmähschriften nicht in die enge Gattungs‐ definition der Satire gezwängt werden sollen, so enthält das Frauenpasquill doch deutlich satirische und vor allem potentiell komische, belustigende Elemente. 26 Zwar kann eine komische Wirkung der Schrift nicht über entsprechende la‐ chende Reaktionen nachgewiesen werden, allerdings ist dies für vergleichbare Texte durchaus möglich. 27 Auch die Humorforschung bietet Ansätze, die es erlauben, dem Frauenpasquill ein komisches Potential zuzusprechen. 28 Am offen‐ 102 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 29 Für Beispiele obszönen Witzes in mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Literatur (aller‐ dings unter Heranziehung veralteter Theorien) s. B E U T I N , Lachen über das Obszöne (1994). 30 M A I N T Z , Komik mit lyrischen Mitteln (2017), S.-236. 31 Zum Zusammenhang von Komik und Invektivität s. T E C K E N T R U P , Komik als Vermitt‐ lungsmodus (2020). Einen Überblick über die sozialen Funktionen der Komik bietet K A P I T Z A , Komik, Gesellschaft und Politik (2017). 32 R Ö C K E , Theater im Mittelalter (2017), S.-188. sichtlichsten erscheint die karnevaleske Umkehr der sozialen und Geschlechter‐ rollen in der Darstellung der Frauen als Söldner. Derartige Inkongruenzen - also die Verbindung von eigentlich nicht zusammenpassenden Elementen - erzeugen in der Regel einen komischen Effekt. Damit einher geht üblicherweise, wie auch hier, die Transgression sozialer Normen. Darüber hinaus ist das Ansprechen von Tabus und sensiblen Themen zu nennen, Sex und Gender sind diesbezüglich prädestinierte Objekte der Komik. Auch das Obszöne - etwa in Form derber sexualisierter oder skatologischer Sprache - ist potentiell in der Lage, Lachen hervorzurufen. 29 Komisch wirken solche Inhalte aber nur dann, wenn sie als nicht-ernsthaft gerahmt werden. Dieser Rahmung dient auch die, zudem die Komik unterstützende, formale Gestaltung der Texte. Unter den Schmähschriften finden sich besonders häufig in Endreimen verfasste, spöttische Gedichte, da komische Lyrik allgemein eine „Affinität zu traditionellen Formschemata, zu festen, wiederkehrenden Mustern und Techniken - insbesondere zum Reim sowie regelmäßiger Metrik, einheitlichem Vers- und Strophenbau“ aufweist. 30 Sofern sie gelingt, also beim Publikum eine entsprechend belustigte Reak‐ tion hervorruft, unterstützt Komik die invektive Wirkung sowie den Appell der Schmähschrift, indem sie sanktionierende und gruppenbildende Effekte zeitigt. 31 Das Aus- oder Verlachen bedeutet eine Einteilung der Kommunikati‐ onsteilnehmenden in eine lachende Wir-Gruppe und eine lächerlich gemachte Fremd-Gruppe. In Bezug auf das Frauenpasquill gilt, was Werner R ÖC K E zum mittelalterlichen Theater schreibt: Sehr beliebt sind ebenso sexistische wie misogyne Spiele, in denen der weibliche Körper einer genauen Betrachtung unterzogen und zum Gespött wird. […] In all diesen (und anderen) Spielen haben wir es mit einem exklusiven Lachen über ‚schädliche Leute‘ zu tun sowie mit dem Versuch, ihre Vergehen am Gemeinwohl lachend zu heilen. 32 Damit steht die komische Schmähschrift in enger Verwandtschaft zu den Rügebräuchen, was noch zu thematisieren ist. Auf die Lachenden hat Komik potentiell mehrere positive Effekte: Sie kann Vergnügen bereiten, besonders bei der Thematisierung von Tabuthemen psy‐ 6.1 Der Inhalt der Leipziger Pasquille und die Effekte des Komischen 103 33 Diese Funktionen des Komischen wurden zumeist über die sogenannte Überlegenheits‐ theorie, die auf die Wahrnehmung der Verlachten als unzulänglich fokussiert, oder die - mittlerweile oft kritisierte - Entlastungstheorie angesprochen, die die Lust betont, die Menschen bei der kurzzeitigen Befreiung von moralischen und rationalen Kontrollansprüchen empfinden, s. K I N D T , Komik (2017). 34 ’ T H A R T , Humour and Social Protest (2007), S.-18. 35 Vermutlich ist hier das Wirtshaus auf der Hainstraße gemeint, das seit 1586 zunächst als „blauer Stern“ in den Ratsbüchern und seit mindestens 1659 als „blauer und güldener Stern“ in den Ratsleichenbüchern auftaucht. Eine informelle Bezeichnung als „Goldener Stern“ schon vor 1659 ist zumindest nicht unwahrscheinlich. S. M Ü L L E R , Häusernamen (1931), S.-31. 36 Die „Goldene Eule“ auf dem Brühl ist seit 1532 über das Schöffenbuch belegt, ihr Besitzer wurde 1547 erstmalig als „Wirt zur Eule“ bezeichnet. S. Ebd., S.-5. 37 S T E P N E R , Inscriptiones Lipsienses (1686), Nr. 910, S. 191; F I S C H E R , Kaufmännische Einwanderung (1929), S.-190, 329. chische Entlastung bieten, eine Ventilfunktion erfüllen und nicht zuletzt die Position der Sprechenden aufwerten. 33 Komische Inhalte als ‚kommunikative Werkzeuge‘ führen daher zu einem gesteigerten Interesse und einer größeren Aufmerksamkeit und helfen so, die Schmähschrifteninhalte zu verbreiten und die Botschaft der Autor: innen zu transportieren. 34 Der Autor des Männerpasquills, mutmaßlich Heinrich Gratz, kannte das Frauenpasquill und schrieb es gewissermaßen fort, indem er gleich zu Beginn an es anknüpfte: also ir liebenn herrn dieweil wir die hurenn hebenn genand so mitt vorn sollenn gegenn ein polen landt so mussenn wir auss Leipzig nemenn die ehbrecher ins polen lannt damit sey dortt auch werdenn bekanndt unndt vonn do an grobenn polenn werdenn flugs zu dott damit sie hinfortt die weiber nicht brinngen inn nott Die Erzählinstanz verweist mit der Aussage, dass die hurenn bereits genannt worden seien, auf das vorangegangene Pasquill, allerdings ist in diesem Fall nicht von Frankreich, sondern von Polen die Rede. Auch in diesem Text geht es darum, ehebrüchige Bürger als Soldaten aus der Stadt Leipzig heraus in den Krieg zu führen, wobei nun ausschließlich Männer adressiert werden. Die acht namentlich genannten Bürger entstammten ebenfalls der Leipziger Oberschicht. Bei ihnen handelte es sich um den Wirt zum Goldenen Stern 35 und den ‚Eulenwirt‘ 36 - als weiteres berühmtes Wirtshaus wird Auerbachs Keller (Arbacken kellerleinn) genannt - sowie die zwei Handwerksmeister Simon der Schneider und Lukas der Grobschmied. Außerdem wurde Sebastian Cunrad (1513-1590) 37 benannt, dessen Sohn Cuntz Cunrad beziehungsweise Conradus 104 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 38 Khunrath gelangte später als Alchimist zu einiger Berühmtheit, s. L E N Z - (H G .), Conrad Khunrath (2006). 39 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S. 244; R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S.-218. 40 H O L E N S T E I N , Anzeige (2001), S. 142f.: „Das Öffentlichmachen und öffentliche Be‐ nennen von Verhaltensweisen, die gegen akzeptierte soziale Ordnungsvorstellungen verstießen, charakterisiert bereits die Rüge als (volks-)kulturelle Praxis im Dorf (Cha‐ rivari, Rügebräuche u.ä.).“ Khunradt (1555-1613) 38 später mit dem Pasquillanten Heinrich Gratz wegen der Verbreitung der Schmähschrift in Streit geriet. Sebastian Cunrad ließ sich 1555 für zwei Schock Groschen Bürgergeld in die Bürgerliste der Stadt aufnehmen. Er war nicht nur Garn-, Leinwand- und Vitriolhändler, sondern auch Faktor eines Nürnberger Kaufmanns. Inhaltlich beschränkt sich der Text auf den Vorwurf des Ehebruchs, satirische Elemente fehlen im Gegensatz zum Frauenpasquill weitgehend. Lediglich die Einleitung mit ihrem Bezug auf die Kriegswerbung kann als ein solches Element betrachtet werden, das allerdings dem ersten Pasquill entnommen zu sein scheint. Die Sprache des Männerpasquills wirkt einfacher und derber, die Qua‐ lität der Reime insgesamt geringer. Am Ende des Textes droht die Erzählinstanz damit, in Zukunft noch weitere Ehebrecher öffentlich namhaft zu machen, [d]a mitt sie jdermannlichenn lernet kennenn. Zwar erreicht das Pasquill nicht die Qualität des vorangegangenen, an das es sich offensichtlich anlehnt. Dennoch ist von einem gewissen komischen Potential auszugehen, das vor allem aus der derben und stark sexualisierten Sprache resultierte. Die Deutung liegt nahe, dass der Verfasser des Männerpasquills das Frauenpasquill herangezogen hatte, um seine eigene Agenda verfolgend eine Fortsetzung zu verfassen. Es ist hervorzuheben, dass der Vorwurf des Ehebruchs für die angespro‐ chenen Männer zumindest theoretisch weniger dramatisch war als für die betroffenen Frauen. Zwar wurden männlicher und weiblicher Ehebruch gesetz‐ lich seit dem 16. Jahrhundert gleichbehandelt, jedoch gestaltete sich zum einen die Strafpraxis durchaus anders (Frauen wurden in aller Regel härter bestraft als Männer), und bildeten weibliche Treue und sexuelle Reinheit zum anderen zentrale Elemente der Ehre und Identität der Frauen, was für die Männer nicht im gleichen Maß galt. 39 6.2 Zum Verhältnis von Pasquillen und Rügebräuchen Die beiden Pasquille stehen durch das „öffentliche Benennen von Verhaltens‐ weisen, die gegen akzeptierte soziale Ordnungsvorstellungen verstießen“, 40 6.2 Zum Verhältnis von Pasquillen und Rügebräuchen 105 41 K R U G - R I C H T E R , Vom Rügebrauch zur Konfliktkultur (2005), S.-28. 42 Martin Scharfe etwa zählt „demokratische Volkslieder“ und „kritische Bilder“ zwar zu den Rügebräuchen, lässt sie jedoch nicht als Untersuchungsgegenstand zu, da es ihm um Handlungen, nicht um Objekte gehe, S C H A R F E , Zum Rügebrauch (1991), S.-195f. 43 K R U G - R I C H T E R , Vom Rügebrauch zur Konfliktkultur (2005). 44 Weiterhin grundlegend: T H O M P S O N , Le Charivari anglais (1972); D A V I S , Reasons of Misrule (1971). Für Deutschland s. S C H I N D L E R , Widerspenstige Leute (1992), S. 175-197; H I N R I C H S , Charivari und Rügebrauchtum (1991). 45 I N G R A M , Rough Music (1988). sowie durch die beschriebenen karnevalesken Elemente den Rügebräuchen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit nahe. Die Forschung zu den deutschen Rügebräuchen ist eher begrenzt, 41 schmähende Schriften oder Lieder werden nur am Rande erwähnt und kaum in die Analysen einbezogen. 42 Ein Vergleich von Schmähschriften und typischen Formen der Rügekultur scheint allerdings angebracht, um Funktionen und Mechanismen der ersteren besser zu verstehen. Bei Rügebräuchen handelt es sich um öffentliche, ritualisierte und von Gruppen im Namen der lokalen Gemeinschaft ausgeführte Aktionen der sozialen Kontrolle sowie der Sanktionierung von Normverletzungen durch Offenbarmachung und Herabsetzung. Mit Barbara K R U G -R I C HT E R können sie als Instrumente kollektiven Konfliktaustrags verstanden werden. 43 Die bekannteste Form des Rügebrauchs ist wohl das Charivari, bei dem sich Mitglieder der Gemeinschaft maskiert vor dem Haus der sanktionierten Person versammelten und Lärm, eine Art Katzenmusik, veranstalteten. Daneben existierten aber auch andere Formen, wie etwa der karnevaleske Umzug des Gerügten rittlings auf einem Esel, oder das Blochziehen. 44 Die Rügebräuche bezogen sich zumeist auf Normen der Sexualität sowie der Ordnung der Geschlechter und unterschieden sich je nach Art der Normverletzung. So richtete sich das Charivari typischer‐ weise gegen Männer, die sich von ihren Frauen hatten bevormunden oder schlagen lassen, wohingegen sich das Blochziehen vor allem gegen vorgeblich heiratsunwillige Frauen wandte. Der Normbezug, die soziale Sanktionierung durch Herabsetzung und das relevante Öffentlichkeitselement verbinden auf den ersten Blick Rügebräuche mit Pasquillen von der Art des Leipziger Falls. Dementsprechend rechnet etwa die englische Forschung libels zu den Rügebräuchen zwecks Sanktionierung gemeinschädlichen Verhaltens. 45 Tatsächlich stellen sowohl das Männerals auch das Frauenpasquill inhaltlich zunächst eine Anklage des Bruchs sexueller Normen in Form einer auf Herabsetzung abzielenden, öffentlichen Inszenierung dar - also ein Element sozialer Kontrolle. Gleich einer öffentlichen Denunzia‐ tion schickten sich die Schmähschriften an, ebenso wie die Rügebräuche, „Verletzungen des Ordnungs- und Gerechtigkeitssinnes der Nachbarschaft 106 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 46 D A V I S , Narrenherrschaft (1987), S. 127f. Von der Funktion der Denunziation spricht auch T H O M P S O N , Le Charivari anglais (1972), S.-289. 47 K A S C H U B A , Ritual und Fest (1992), S.-256. 48 So auch F O X , Oral and Literate Culture (2000), S.-31. 49 K A S C H U B A , Ritual und Fest (1992), S. 251-253, 258; D A V I S , Narrenherrschaft (1987), S. 129. 50 Zitat: S C H I N D L E R , Widerspenstige Leute (1992), S. 179. Zu den Rügebräuchen als Urteil der Gemeinde vgl. T H O M P S O N , Le Charivari anglais (1972), S. 219. Auch Burke vergleicht Rügebräuche und anonyme Schmähschriften: „[Die Schmähschriften] stellen sich selbst als die Stimme der öffentlichen Meinung, fama commune, dar, oder zumindest als Stimme der Nachbarschaft“, B U R K E , Städtische Kultur (1996), S.-138. zu brandmarken“, von denen die Autor: innen glaubten, dass sie ansonsten geheim geblieben wären. 46 Sie waren ebenfalls Medien einer populären „Stra‐ ßenöffentlichkeit“, wie Wolfgang K A S C H U B A dies für karnevaleske Rituale und Rügebräuche formuliert. 47 Von Bedeutung ist hier die eingangs beschriebene grundlegende Funktion des Öffentlichmachens für die (Wieder-)Herstellung von Recht und Ordnung. Der Inhalt der Pasquille und die enthaltenen Anspie‐ lungen bezogen sich daher oft auf Ereignisse und Individuen einer spezifischen, kleineren Gemeinschaft wie etwa der Nachbarschaft. Außerhalb dieser wirken sie banal und obskur, wie etwa die Details über den Schreiber der Ehefrau des Dr. Andreas. 48 Dies machte die Anschuldigungen sehr effektiv, da sie Personen betrafen, die gleichsam dem gesamten Publikum bekannt waren und der Schmähung kaum entkommen konnten. Die erhobenen Vorwürfe mussten zwar keinesfalls einen realen Hintergrund aufweisen, allerdings ist davon auszugehen, dass Beleidigungen besser verfingen und empfindlicher trafen, wenn sie sich auf einen wahren und vielen Menschen bekannten Kern oder aber auf bestehende Gerüchte bezogen. Den Obrigkeiten war diese Entfaltung von Kommunikation im öffentlichen Raum häufig ein Dorn im Auge, da sie mit ihrem Kontroll- und Sanktionierungsanspruch kollidierte. Darüber hinaus bildeten Schmähschriften wie auch die Rügebräuche - gerade wenn sie gegen die herrschenden oder allgemein höhere Schichten gerichtet waren - einen Kanal der Kritik, der besonders dann genutzt werden konnte, wenn die Situation kein legales Artikulationsmuster mehr zuließ. 49 Die Autor: innen anonymer Pasquille inszenierten sich also als „Stellvertreter des kommunalen Gewissens“ und ihre Schriften als Stimme der Gemeinschaft, als vox populi. 50 Implizit (und manchmal ganz explizit) nahmen sie für sich in An‐ spruch, eine ordnungswahrende Funktion zu erfüllen und damit dem Gemeinen Nutzen zu dienen. Allerdings unterschieden sich Schmähschriften und übliche Formen der Rügebräuche vor allem in zwei zentralen Eigenschaften. Zum einen konnte eine Schmähschrift von nur einer Person angefertigt und veröffentlicht werden, wohingegen zur Durchführung eines typischen Rügebrauchs eine 6.2 Zum Verhältnis von Pasquillen und Rügebräuchen 107 51 Diesen Vorteil im Vergleich zu den Rügebräuchen sieht auch C R O F T , Libels (1995), S. 283. 52 K A U F M A N N , Anonyme Flugschriften (1998), S.-193f. 53 Ebd., S.-243. 54 So zuletzt auch S C H L Ö G L , Public Sphere (2019), S.-34. 55 Was nicht bedeutet, dass sich nicht auch in Rügebräuchen kleinere Teile der Gemeinde als Vertretung der Gesamtheit inszenieren konnten, so zum Beispiel die jungen ledigen Männer beim Abhalten des ‚Blochziehens‘, s. S C H I N D L E R , Widerspenstige Leute (1992), S. 179. Dass Schmähschriften offen für Manipulation im Sinne des Vortäuschens einer öffentlichen Meinung waren, konstatiert auch B U R K E , Städtische Kultur (1996), S. 138. Er sieht hierin allerdings keinen grundlegenden Unterschied zu Charivaris. relevante Anzahl an Teilnehmenden notwendig war. 51 Zum anderen - und dieser Aspekt führt zu einem grundlegenden Unterschied zwischen beiden Praktiken - bot eine Schmähschrift den Autor: innen die Möglichkeit, anonym zu handeln. Zwar konnten sich auch die Teilnehmenden von Rügebräuchen hinter Maskierungen und starker Ritualisierung verstecken, vollständige An‐ onymität - in schriftlicher Kommunikation durch das Loslösen von Sender und Empfänger ermöglicht - erreichten sie jedoch nicht, da die Teilnehmenden körperlich präsent und damit greifbar sein mussten. Anonymität bot Schutz vor direkten Reaktionen der Betroffenen sowie vor Verfolgung durch die Obrigkeit und prädestinierte die Pasquille als Waffen gegen Überlegene in asymmetrischen Konfliktlagen. Führte die Anonymität in der älteren Forschung teils dazu, die Schriften tatsächlich als „Stimmen aus dem Volk“ zu interpre‐ tieren, so konnte Thomas K A U F MAN N für anonyme Dialogflugschriften der Frühreformation nachweisen, dass es sich zumeist um „literarische Akte einer gezielten Parteinahme“ in lokalen Diskussionszusammenhängen handelte. 52 Nach K AU F MAN N „ist die Anonymität ein literarisch gezielt eingesetztes Mittel, um den Anspruch auf allgemeine Wahrheitsrepräsentanz im Raum der Öffent‐ lichkeit zu artikulieren, beziehungsweise diese ‚Öffentlichkeit‘ […] allererst zu schaffen.“ 53 Die von den Autor: innen der Pasquille vertretene Meinung wurde durch die Anonymität als allgemein anzuerkennende Position dargestellt und eine Repräsentation der öffentlichen Meinung, der Stimme der Gemeinschaft selbst zum Ausdruck gebracht. 54 Anders als die Rügebräuche, die von Natur aus ein Mittel kollektiver Sanktionierung waren, erlaubten es Schmähschriften auch Einzelpersonen, selbiges zu inszenieren. 55 Die Pasquillant: innen konnten Personen und Gruppen in aller Öffentlichkeit denunzieren und herabsetzen, dabei individuelle, persönliche Motive verfolgen und diese hinter einer Fassade der Gemeinnützigkeit verbergen - sie bildeten also ein vorrangig individuelles Mittel des Konfliktaustrags. Im Vergleich zu den Rügebräuchen war weniger das Kritisieren und Sanktionieren von als sozialschädlich bewertetem Fehlver‐ halten, sondern vielmehr die Schmähung an sich charakteristisch. Allerdings 108 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 56 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S. 407: „Bei Schmähschriften wie Schmäh‐ zeichen kam es letztendlich aber entscheidend darauf an, daß die Öffentlichkeit die Entehrung überzeugend fand und sie unterstützte.“ 57 K A S C H U B A , Ritual und Fest (1992), S. 245. In ähnlicher Weise unterscheiden Hinrichs und Scharfe zwischen konkreten Anlässen und der Funktion von Rügebräuchen: H I N R I C H S , Charivari und Rügebrauchtum (1991), S. 443-450; S C H A R F E , Zum Rügebrauch (1991), S.-208. 58 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-29 r -30 r . konnten auch Pasquille durchaus ein Instrument gemeinschaftlicher Bestrafung darstellen, dies hing aber von der Rezeption durch das Publikum ab. Erst wenn die Schriften zum gemeinschaftlichen Verlachen genutzt wurden, erfüllten sie eine den Rügebräuchen vergleichbare Funktion. 56 K A S C H U B A geht davon aus, dass auch die karnevalesken Rügerituale in den frühneuzeitlichen Städten Auseinandersetzungen auf einer sozialmoralischen Ebene austrugen, bei denen es sich ursächlich um konkrete politische oder wirtschaftliche Konflikte handelte. 57 Die Existenz solcher ‚eigentlichen‘ Kon‐ fliktebenen ist für die Schmähschriftenpraxis entsprechend noch häufiger zu erwarten. Um diese hintergründigen Ebenen sichtbar zu machen, bedarf es der Situationsanalyse und der Rekonstruktion der Beziehungen zwischen Invektierenden und Invektierten, um in einem zweiten Schritt auf die Motive der Pasquillant: innen, im vorliegenden Fall also des Heinrich Gratz, schließen zu können. 6.3 Kontextualisierung der Schriften 6.3.1 Betroffene Personen Bedingt durch das beinahe vollständige Fehlen von über die Namen hinausge‐ henden Personenangaben lassen die Prozessakten zum Fall Heinrich Gratz nur indirekte Aussagen zu den Beteiligten zu. Informationen zu Gratz selbst sind beinahe ausschließlich seiner Supplik an den Leipziger Rat zu entnehmen. 58 In dieser betont er, typisch für diese Quellengattung, die Last seiner andauernden Gefangenschaft, die ihn von seiner Ehefrau und seinen Kindern trennte, ihn vor allem aber davon abhielte, seinen Geschäften nachzugehen. Kurze Zeit vor Anfertigung der Supplik hatte er die Erlaubnis zu einer geschäftlichen Reise nach Dänemark erhalten, allerdings erst nach Hinterlegung einer Kaution von Tausend Gulden. Gratz war davon ausgegangen, dass diese Kaution es ihm auch im Anschluss an die erste Reise ermöglichen würde, sich im Rahmen seiner Arbeit gelegentlich frei bewegen zu dürfen. Da dies offenbar nicht der 6.3 Kontextualisierung der Schriften 109 59 Ebd., fol.-18 r . 60 F I S C H E R , Kaufmännische Einwanderung (1929), S.-191. 61 Ebd., S.-353, 306. 62 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-9 r . 63 F I S C H E R , Kaufmännische Einwanderung (1929), S.-232. Fall war, bat er, der Rat solle ihn ahn seiner narung, welche der gestalt gantz gering werden wollte, ferner auch nicht hindern, sondern hin und wiederumb solcher gefengklichen haft entledigen. Er gab an, zu diesem Zeitpunkt wieder sehr nötig verreisen zu müssen, um nicht am Bettelstab zu enden. Auch die Zeugenbefragung legt nahe, dass Gratz Beziehungen in den Norden des Reichs hatte; im elften Frageartikel an die Zeugen heißt es: Wahr unnd zeugen bewust, das Gratz dazumahl das pasquils, so zu Rostock vor diesem sol angeschlagen worden sein, mit keinem worth gedacht. 59 Es bleibt unklar, worauf sich dieser Artikel genau bezieht. Fest steht lediglich, dass vor den Leipziger Ereignissen ein Pasquill in Rostock angeschlagen worden sein musste, das in Verbindung entweder zu Heinrich Gratz oder zum Leipziger Männerpasquill stand. Da es sich bei Gratz ausweislich seiner Abschrift des Pasquills um einen geübten Schreiber handelte, er finanziell in der Lage war, tausend Gulden zu hinterlegen und beruflich regelmäßig Fernreisen antrat, erscheint es nicht abwegig, in ihm einen Kaufmann von einigem Wohlstand zu sehen. Womöglich handelt es sich um jenen Heinrich Grätz, der 1580 als Handelsmann Bürger der Stadt wurde und dabei zehn Taler Bürgergeld entrichtete. 60 Im Vorgriff auf die Rekonstruktion der Schmähschriftenverbreitung können einige der Gesprächspartner Gratz’ sozial verortet werden. Die meisten zählten zur gehobenen Handwerkerschicht: Mit einiger Wahrscheinlichkeit zu identi‐ fizieren sind der Sattlermeister Bartel Bethman, der Wagner Georg Fischer sowie der Kürschner Valentin Schreyer, der vermutlich ebenfalls die Position eines Meisters innehatte. 61 Auch die Söhne eines Leipziger Panzermachers und eines Barbieres sowie die Tochter eines Weinmeisters, die von Gratz des ehebrecherischen Verhaltens verdächtigt wurden, zählen zu dieser Gruppe. 62 Der von Gratz gezielt aufgesuchte Michael Hoffmann war mutmaßlich mit dem im Pasquill genannten Hieronymus Hoffmann verwandt und Inhaber der Hoffmannschen Materialsammlung. 63 Wie bereits gezeigt, griffen die beiden Leipziger Pasquille des Jahres 1578 vorrangig Menschen der bürgerlichen Oberschicht und eventuell Teile des Leip‐ ziger Rats an. Gratz und der Kreis der Personen, mit denen er über das Pasquill sprach, sind zu größeren Teilen ebenfalls einer gehobenen Schicht zuzuordnen, 110 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 64 G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S.-51. 65 Siehe in dieser Arbeit die Kapitel 8 und 9 sowie die Aktenbestände Nr. 3, 11, 13, 15 und 17 der Übersicht (Anh. 1). 66 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-3 r . 67 B R A U N ; L I E R M A N N (H G .), Feinde, Freunde, Zechkumpane (2007), S. 29-115; S I M O N - M U S C H E I D , Gewalt und Ehre (1991). 68 Ausführlich zum Problem der Delinquenz junger Männer in Leipzig im 16. und 17.-Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Studenten und Handwerker s. S A I T O , Jugendliche Gewaltkultur (2018). Kompakter: R U D E R S D O R F , Stadt und Universität (2016), S.-383f. 69 B E L L I N G R A D T , Zeddel (2009), S.-219. 70 K A S C H U B A , Ritual und Fest (1992), S.-251-253. Grundlegend: D A V I S , Reasons of Misrule (1971). standen jedoch nicht auf Augenhöhe mit den Geschmähten. Eine Einordnung des Befundes darüber hinaus gestaltet sich schwierig, da die deutschsprachige Forschung bislang keine detaillierte Kenntnis von der Gruppenspezifik der Schmähschriftenpraxis hat. Einige Ansätze lassen sich aber mit Blick auf das Leipziger Beispiel und weitere sächsische Schmähschriften stützen. Andreas G E S T R I C H betrachtet Pasquille vor allem als Medium städtischer Mittelschichten, was der Leipziger Situation entspricht. 64 Zu dieser pasquillaffinen Gruppe zählten auch bildungs- und dadurch schriftnahe Gruppen, was in anderen Quellen durch die gesteigerte Präsenz von niederen Geistlichen, Juristen und Studenten Niederschlag fand. 65 In Bezug auf zwei Jungen, von denen Gratz das Pasquill vorgeblich erhalten hatte, fragte das Stadtgericht: Was vor buben [es] gewesen, ob es studenten oder handwergks knaben, oder sonst andere gewesen. 66 Dass man hinter dem Pasquill Studenten oder Handwerksgesellen vermutete, hatte seinen Grund darin, dass es sich bei diesen Gruppen um bekannte Störer des städtischen Friedens handelte, die zudem eine stark ausgeprägte, gruppenbezogene Ehrkultur aufwiesen. 67 Auch Leipzig kannte die Konflikte mit Studentengruppen zur Genüge: Öffentliches Geschrei, lautes Singen von Liedern, nächtliches Herumtreiben und das Tragen von Waffen waren häufige Steine des Anstoßes. 68 B E L LIN G R AD T benennt Studenten zudem als Träger medial ausgetragener Konflikte. 69 Darüber hinaus waren Studenten und Handwerker Hauptakteure der städtischen Rügekultur, aus deren Reihen somit solcherart Angriffe die Sexualmoral der Bürger: innen betreffend zu erwarten waren. 70 Dabei bleibt aber zu beachten, dass die Schmähschriften, wie noch zu zeigen ist, vor allem im Mündlichen, in Gerücht und Gerede ihre Wirkung entfalteten und in dieser Form sozial entgrenzter Kommunikation auf großes Interesse auch in niedrigeren Schichten stießen, wie die Untersuchungen für England 6.3 Kontextualisierung der Schriften 111 71 F O X , Oral and Literate Culture (2000), S. 302; C R O F T , Libels (1995), S. 280. Ebenso für Italien: B U R K E , Städtische Kultur (1996), S.-136. 72 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-404. 73 Vgl. Kap. 7.2.3 und 9.4. 74 Eine ähnliche Breite an Reaktionsmöglichkeiten attestiert F O X den Betrachter: innen öffentlich angeschlagener Pasquille im frühneuzeitlichen England: F O X , Oral and Literate Culture (2000), S.-329. 75 Fischer hatte ihn nach eigener Aussage „darumb gestrafft“. Sofern nicht anders ange‐ geben, basiert das Folgende auf dem Zeugenverhör in: StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-19 r -27 r . 76 Vgl. auch Kap. 9.4. und Italien es bereits nahelegen. 71 Für Kursachsen belegen dies Fälle, in denen Schmähschriften niedrigsten Niveaus entstanden, wie der eingangs erwähnte Zweizeiler gegen einen Leipziger Schlossermeister, 72 aber auch solche, in denen die Landbevölkerung gerüchteweise in die Schmähschriftenkommunikation eingebunden wurde oder Personen unterer Schichten direkten oder indirekten Umgang mit den Pasquillen hatten. 73 6.3.2 Reaktionen Heinrich Gratz erreichte mit dem herumgezeigten Pasquill unterschiedliche Reaktionen bei seinen Gesprächspartnern, die von regem Interesse und Belus‐ tigung bis zur empörten Ablehnung reichten. 74 Die deutlichste Absage wurde Gratz von Georg Fischer erteilt, den er als erstes aufsuchte. Nach Fischers Aussage wollte Gratz ihm das Pasquill zu lesen geben, was er allerdings wütend ablehnte. 75 In dieser Version der Geschichte drängte Gratz ihm den Inhalt jedoch nahezu auf, denn als er [Fischer] den pasquil nicht lesen wollen, hebe ihm Gratz auswendig gesagt, was der inhalt wehre. Daraufhin schickte Fischer ihn vorgeb‐ lich mit der Warnung fort, ihn bloß nicht erneut mit der Sache zu belästigen. Zwar ist hier mit Blick auf die Situation des Zeugenverhörs in Verbindung mit der Strafbarkeit der Verbreitung von Schmähschriften die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Fischer sich durch die Distanzierung von Gratz und dem Pasquill in ein gutes Licht rücken wollte. Allerdings passen die Aussagen zu denen von Gratz, der zwar von einem Treffen mit Fischer berichtete, ihn aber nicht unter die Personen zählte, die er das Pasquill hatte lesen lassen. Die Äußerungen ver‐ deutlichen, dass das Hantieren mit Schmähschriften risikobehaftet sein konnte und bestimmten Regeln unterlag. Für nicht unmittelbar betroffene Personen erschien es ratsam, zumindest in offiziellen Befragungen einen distanzierten bis ablehnenden Umgang zu betonen. 76 112 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 77 So übereinstimmend die Aussagen von Gratz und Vetter. Nachdem Fischer ihn fortgeschickt hatte, suchte Gratz den Sattlermeister Jacob Vetter auf, dem er das Pasquill zeigte. Vetter las es und ließ es sogar bereitwillig von einem Diener abschreiben. 77 Vetters Interesse an der Sache schien gerechtfertigt, da er selbst im Pasquill des Ehebruchs bezichtigt wurde. Er schickte außerdem eine Abschrift des Pasquills an Georg Weinhart, der mut‐ maßlich ebenfalls von den Schmähungen betroffen war. Dass Vetter so freimütig hiervon berichtete, lässt diese Art der Verbreitung unter den direkt Betroffenen als eher unproblematisch erscheinen, sie verstanden es offenbar als ihr gutes Recht, das Objekt ihrer Schmach in Augenschein zu nehmen. In Bezug auf das zweite Pasquill über die Frauen war Vetter dieser Logik entsprechend strenger. Gratz hatte nach eigener Aussage davon erfahren, dass Vetter das Frauenpasquill zur Anfertigung einer Abschrift im Haus hatte und wollte es ebenfalls gerne lesen, was Vetter jedoch nicht zuließ. Auch hier erschien der Umgang mit dem Pasquill den Beteiligten als problematisch und damit regulierungsbedürftig. Vor allem waren es die Betroffenen, die verständlicherweise verhindern wollten, dass diejenigen, die ihnen potentiell mit einer solchen Schrift schaden konnten, sie genauer lasen. Von Vetter ging Gratz weiter zu Barthel Bethman. Erneut scheint es ihm wichtig gewesen zu sein, Bethman vom Inhalt des Pasquills in Kenntnis zu setzen. Dieser stand dem Ganzen offenbar interessiert gegenüber, sodass er sich den Text von Gratz vorlesen ließ, da er selbst des Lesens nicht mächtig war. In gleicher Weise trat Gratz an Matthes Stöcker und Michael Hoffman heran, um ihnen den Inhalt zumindest ungefehr nahezubringen. Die beiden Männer reagierten ebenfalls nicht ablehnend. Zwischen den Zeilen der Aussagen scheint eher Erheiterung durch, wenn Valentin Schreyer berichtet, Stöcker habe ihn mit den Worten hier kumpt auch einer! hinzugerufen. Damit trug er der Tatsache Rechnung, dass Schreyer persönlich im Zettel genannt wurde. Obwohl dieses offene, diskretionslose Herbeirufen und die damit einhergehende Zuordnung Schreyers zur Gruppe der Geschmähten offenbar eine Herabsetzung darstellte, reagierte Schreyer zunächst gelassen. Er wandte sich nicht gegen Gratz und forderte keine Abschrift, sondern ging offenbar einfach seines Weges, sodass er nach eigener Aussage erst später von seiner Frau erfuhr, dass Gratz inhaftiert worden sei, weil er das Pasquill angefertigt haben sollte. Weit weniger gelassen reagierte jedoch Cuntz Cunrad, der ebenfalls zur Gruppe der Männer hinzustieß. Auch er war, wenngleich indirekt, von der Schmähschrift betroffen, da sein Vater Sebastian Cunrad darin als Ehebrecher genannt wurde. Cuntz Cunrad regte sich offenbar über Gratz auf und fragte ihn, 6.3 Kontextualisierung der Schriften 113 78 Worauf Gratz sich an dieser Stelle bezog, ist unklar. 79 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-9 r . wie er dazu komme, die Inhalte des Pasquills öffentlich zu verbreiten. Gratz re‐ agierte darauf, indem er ihm nahelegte, sich die Sache nicht so sehr zu Herzen zu nehmen und zugleich darauf verwies, dass viele Leute betroffen sein, eventuell sogar Gratz’ eigene Frau. 78 Gleichzeitig ließ er aber durchblicken, dass er die Bezichtigungen für nicht ganz ungerechtfertigt hielt, schließlich könnten noch etliche junkerch als Ehebrecher offenbart werden - an dieser Stelle scheint Gratz’ Einstellung zur seines Erachtens fraglichen Moral in Kreisen der Bürgerschaft durch. Außerdem stellte er öffentlich Mutmaßungen darüber an, dass sich einige der Männer wohl bei den Töchtern der Bürger Kolbenschlag und Broschwitz aufhielten, eine kaum verhohlene Anschuldigung. Daneben behauptete Gratz offenbar, die Handschrift zweier Söhne aus der Leipziger Handwerkerschaft zu kennen. 79 Die Akten geben nicht an, in welchem Zusammenhang diese Aussagen getroffen wurden, aber wahrscheinlich stellte Gratz hier Vermutungen über potentielle Schreiber des Pasquills an. Auch solche Bezichtigungen stellten natürlich einen mehr oder weniger offenen Angriff auf die betroffenen Familien dar. Die Ereignisse um Heinrich Gratz und die Verbreitung des Pasquills wurden überhaupt nur deshalb aktenkundig, weil sich der Wirt des Gasthauses zum Goldenen Stern als Betroffener schließlich über das Pasquill beschwerte und Gratz beim Stadtgericht als Urheber anzeigte. Er ging in seiner Reaktion damit über diejenigen von Georg Fischer und Cuntz Cunrad hinaus, deren harte Worte auf Gratz zunächst scheinbar keinen Eindruck gemacht hatten. Hinsichtlich der überlieferten Reaktionen aller Beteiligten kann konstatiert werden, dass die Schmähschriften zwar relativ großes Interesse erregten, jedoch keinen ausgewachsenen Skandal darstellten. Neugier war als Reaktion weitaus häufiger anzutreffen als Empörung und die meisten Leute wollten die Schriften sehen oder lesen. An den ablehnenden Reaktionen der Minderheit lässt sich jedoch ein allgemeines Unrechtsbewusstsein erkennen. Dies bedeutet wiederum nicht, dass Schmähschriften unter stärker sozialnormativen Gesichtspunkten nicht durchaus gutgeheißen werden konnten, etwa im Sinne gebotener Rüge. Das belegt schon die oft weite Verbreitung, die durch eine starke und konsequente Ablehnung behindert worden wäre. Insgesamt ist der Einschätzung F U C H S ’ also mit Abstrichen zuzustimmen: Auch die strengen Strafen, die für Schmähschriften teilweise in Edikten angesetzt wurden, wirkten hier keineswegs abschreckend. Ebensowenig verhinderte ein allge‐ 114 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 80 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-188. 81 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol. 7 r . 82 Dies geht aus den Aussagen Cunrads, Sattlers, Wagners und Hoffmans hervor: ebd., fol.-19 r , 21 r , 22 r , 25 r . mein vorhandener, im Grunde tief wurzelnder gesellschaftlicher Konsensus darin, daß die Herstellung von Schmähschriften etwas Verwerfliches sei, deren Ausbreitung. 80 Letztlich konnte auch die Klage das Reden über das Pasquill sicher nicht stoppen. Sie hatte allerdings großen Einfluss auf Gratz, der kurz nach Einreichung der Klage persönlich vor Gericht erschien und scheinbar reumütig einen Zettel überantwortete, der sich als das beklagte Männerpasquill herausstellte. 81 Da man ihm sowohl Verbreitung als auch Urheberschaft nicht nur dieses, sondern auch des Frauenpasquills vorwarf, wurde er umgehend festgenommen. In den anschließenden Verhören bestritt Gratz stets, auch der Verfasser der Schriften zu sein. Seine Rolle bei der Verbreitung des Männerpasquills konnte er nicht in Abrede stellen. 6.3.3 Intentionen des Pasquillanten Warum ging Gratz derart freizügig, ja offensiv mit dem Pasquill um und mit welcher Intention suchte er scheinbar gezielt Fischer, Vetter und Bethman auf ? Etwas abstrakter formuliert stellt sich in diesem, wie in vielen anderen Fällen, die Frage nach der Motivation der Pasquillant: innen sowie nach der Funktion der verbreiteten Schmähschriften. An der zentralen Rolle des Heinrich Gratz bei der Verbreitung zumindest des Männerpasquills besteht kein Zweifel. Auch wenn er im Anschluss sicher nicht der einzige war, der von der Schmähschrift erzählte, war er doch einer der ersten. Dies beweisen die erregte Neugier und die Aussagen darüber, dass die Menschen bereits das Frauen-, nicht aber das Männerpasquill kannten. Gratz hatte ein großes Interesse daran, die Schmähschrift mehreren Bürgern zu zeigen oder ihnen den Inhalt zumindest in Teilen kundzutun. Er ging dabei soweit, die Schmähschrift auswendig zu lernen, womit er sich äußerst verdächtig machte. 82 Mehrere, sicherlich zusammenwirkende Motive kommen zur Erklärung seines Verhalten infrage. Erstens suchte er die Aufmerksamkeit der Menschen und eine Gelegenheit, sich über die Präsentation des komischen Texts zu profilieren. Die Versuche, seinen Gesprächspartnern etwas Neues zu bieten, sind offensichtlich: So ging er auf Barthel Bethman zu und rief da habe ick aber was neues[! ], womit er sich der Aufmerksamkeit seines Gegenübers sicher sein konnte. Schon allein die Tatsache, dass man sich öffentlich und in der 6.3 Kontextualisierung der Schriften 115 83 Ebd., fol.-26 r . 84 U K E N A , Tagesschrifttum (1977), S. 43f. Besonders augenscheinlich wird das Interesse am Neuen bei den Grußformeln, die häufig die Frage nach neuen ‚Zeitungen‘ enthielten, vgl. P E T T E G R E E , The Invention of News (2014), S.-1. 85 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-20 r , 21 r , 24 r , 26 r . 86 Ebd., fol.-23 r . 87 Ebd., fol. 6 r . Dazu passt, dass die Fragen an die Zeugen nahelegen, dass Gratz bestimmte Personen nur diejenigen Passagen lesen ließ, die sie persönlich betrafen, vgl. ebd., fol. 8 v . Gruppe über ein Schriftstück amüsierte, erregte die Neugier von Unbeteiligten. Scheinbar rechnete man sogar mit spannenden und skandalträchtigen Schmäh‐ schriften, die so alltäglich waren, dass Michael Hoffman en passant zu Protokoll gab, von mehreren Pasquillen gehört zu haben, aber nur das Männer- und das Frauenpasquill wirklich zu kennen. 83 Das Pasquill bot Gratz also die Möglichkeit im Mittelpunkt zu stehen und seinen Gesprächspartnern interessante Informa‐ tionen und Neuigkeiten zu liefern, was ein kommunikatives Grundbedürfnis (nicht nur) in der Frühen Neuzeit darstellte. 84 Zumindest nicht auszuschließen ist zweitens, dass Gratz gerüchteweise von diversen Fällen von Ehebruch gehört und sich darüber tatsächlich empört hatte, sodass in ihm das Bedürfnis entstand, die Verfehlungen und Normbrüche seiner Mitbürger: innen im Sinn der Rügebräuche öffentlich anzuprangern. Gesteigert wurde diese Grundmotivation eventuell durch seinen Charakter, denn offensichtlich hatte man es bei Heinrich Gratz mit einem streitsüchtigen Mann zu tun, dessen Hang zu Beleidigungen und Beschimpfungen mehreren Zeugen bekannt war, einigen galt er gar als Störenfried. 85 Georg Fischer, der allerdings Gratz insgesamt nicht wohlwollend gegenüber stand, attestierte ihm ein unnutzes maul. 86 Diese Informationen sind jedoch mit äußerster Vorsicht zu genießen, da die Darstellung eines mut‐ maßlichen Pasquillanten als Querulant eine häufig zu beobachtende Strategie darstellte. In seiner Befragung gab Gratz ein drittes, wohl hauptsächliches Motiv selbst an, nämlich bestimmten Personen gezielt schaden zu wollen. Dies tat er nach eigenen Aussagen als opportunistischer Finder des Pasquills, nicht aber als dessen Autor. Auf die Frage, warum er das Männerpasquill abgeschrieben habe, lautete seine Antwort: weil er gesehen, das der eulenwirt und der Schmidt darinnen begriffen, so hette er in abgeschrieben, damit er sie mit solchem zettel vexiren könnt, welches auch er gethan, und den elenwirtt und den Schmidt damit gevexirt. 87 ‚Vexieren‘ kann ausweislich des Grimm’schen Wörterbuchs sowohl ein harm‐ loses Verspotten oder Ärgern als auch ein ernsthaftes Verhöhnen oder Quälen 116 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 88 Art. „Vexieren“, in: DWB. 89 „[…] des Gratz eigen schweher habe es gegen zeugen geclagt, das er selbst eine iniurien sache mit ihm hette, und von ihm wieder die warheit angriffen worden“, StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-20 r . 90 Gratz hatte derartige Anschuldigungen in Gegenwart dreier Zeugen getätigt, darüber hinaus waren sie ins Gerede eingeflossen, ebd., fol.-19 v f., 21 v f., 23 v . 91 Ebd., fol.-28 r . 92 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-398. 93 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-257. Vgl. Kap. 2.2. 94 Dass Heinrich Gratz vielleicht aus dem Norden des Reiches oder aus Dänemark nach Leipzig gezogen war, um die Tochter eines Leipziger Bürgers, eventuell aus der Handwerkerschicht, zu ehelichen und in der Folge in Konflikt mit einer Gruppe um seinen Schwiegervater geriet, muss reine Spekulation bleiben. bedeuten. 88 Da Gratz den Begriff freimütig in seiner Aussage verwendete, war er an dieser Stelle wohl harmlos gemeint. Dies bedeutet hingegen nicht, dass sein ursprüngliches Motiv nicht ernsthafterer Natur war: Die Prozessakten enthalten einige spärliche Indizien auf bestehende Konflikte zwischen Gratz und mehreren Bürger: innen. Dazu zählen die Hinweise auf seinen Hang zu Beschimpfungen und hier vor allem die konkrete Aussage von Cuntz Cunrad, dass Gratz in ein Injurienverfahren gegen seinen eigenen Schwiegervater verwickelt sei. 89 Womöglich hingen auch die Bezichtigungen Gratz’ gegen die Töchter und Söhne mehrerer Bürger: innen wegen mutmaßlichen Ehebruchs mit diesen Konflikten zusammen. 90 Gratz widersprach den ihn belastenden Zeugenaussagen mit dem Hinweis, dass die Männer ihre Angaben vor allem aus Neid und in der Absicht, ihm zu schaden, gemacht hätten. 91 Das Vorhanden‐ sein eines Ursprungskonflikts passt zur Beobachtung R U B LA C K S , dass zu einer Schmähschrift zumeist Vorspiele existierten, die selbst bereits verschiedene Invektiven enthielten. 92 Bei der Verbreitung und gegebenenfalls Verfassung des Männerpasquills durch Gratz handelte es sich nach dieser Deutung um einen ty‐ pischen Stellvertreterkonflikt, also um die „Überführung eines ursprünglichen Konflikts in einen Ehrkonflikt“. 93 Dieser ursprüngliche Konflikt bleibt jedoch im Dunkeln, eventuell handelte es sich um Auseinandersetzungen bezüglich der sozialen Position des erst vor wenigen Jahren zugezogenen Neubürgers Gratz. 94 Es erscheint aber insgesamt plausibel, dass Gratz aufgrund unbekannter Differenzen oder seines streitlus‐ tigen Charakters mit einem nicht näher zu bestimmenden Kreis an Personen in Konflikt geriet. Das Pasquill, ob selbst angefertigt oder gefunden, diente Gratz in dieser Konstellation als Mittel des Konfliktaustrags. Es bot ihm die Möglichkeit, den Leumund einzelner Personen und Familien anzugreifen, seinem Ärger Luft zu machen und kam seinem Bedürfnis nach, den seiner Meinung nach schädlichen Charakter der Betroffenen oder konkrete Untaten zu offenbaren. 6.3 Kontextualisierung der Schriften 117 95 So ähnlich auch F O X , Oral and Literate Culture (2000), S.-329. 96 Skandale wirken umso größer, je höher die Fallhöhe der betroffenen Personen ist, s. B Ö S C H , Historische Skandalforschung (2004), S.-446. 97 Vgl. Kap. 5. 98 StadtAL, Tit. I Nr. 22 k - Verschiedene Ratsnachrichten, 16.-17. Jahrhundert, fol. 243- 248. Persönliche Motive wie Neid oder Rache konnten ebenso eine Rolle spielen wie ein gemeinschaftsbezogener Sinn für Gerechtigkeit. 95 Dazu trat er entweder an die Betroffenen selbst oder an ihre relevante Bezugsgruppe heran. Die aufgebrachten Reaktionen Cuntz Cunrads und Georg Fischers verdeutlichen, dass er seine Gegner mit der Aktion in gewisser Weise empfindlich getroffen hatte. Zumindest bezüglich der Verbreitung des Männerpasquills wird also deutlich, dass sich unter dem Gewand der Rüge ein ganz individuelles Instrument des Konfliktaustrags und eine gezielte Schadensabsicht verbarg. Die Reaktionen des Publikums, dessen Teilnahme an der potentiellen Rüge - sei es auch nur in Form von Belustigung oder Zustimmung - essentiell war, stellten sich lediglich interessiert bis verhalten dar. Obwohl keine allgemein ablehnende Haltung gegenüber den Pasquillen zu konstatieren ist, schien das komische Potential der Schriften auch nicht wirklich verfangen zu haben. Vielmehr führte das Skandalöse, das den Herabsetzungen gerade der hochrangigen Mitglieder der Gesellschaft anhaftete, zu gesteigerter Aufmerksamkeit, die sich jedoch nicht im Sinne des Verbreiters auswirkte. 96 6.4 Obrigkeitliches Interesse und strafrechtliche Konsequenzen 6.4.1 Einleitung des Prozesses Das anhand der Gesetzgebung des 16. Jahrhunderts bereits dargestellte ge‐ steigerte Interesse der Obrigkeit an öffentlichen Schmähschriften fand seine Entsprechung auch auf der lokalen Ebene. 97 Der Magistrat der Stadt Leipzig musste sich am Ende des 16. Jahrhunderts nachweislich des Öfteren mit Schmäh‐ schriften auseinandersetzen, was auf ein diesbezügliches Problembewusstsein und eine einigermaßen verbreitete Praxis schließen lässt, zu der auch der Fall des Heinrich Gratz zu zählen ist. In zeitlicher Nähe zu diesem publizierte der Rat drei aufeinanderfolgende Mandate zur Denunzierung von Pasquillant: innen (1591) und zur Enthaltung der Verbreitung von Schmähschriften (1594/ 95). 98 118 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 99 Siehe für Esslingen: R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S. 387. Für Köln: B E L L I N ‐ G R A D T , Gülich Rebellion (2012), S. 565. In Augsburg beschäftigte der Stadtrat darüber hinaus Informanten, deren Bezahlung für letztlich schuldig befundene Delinquenten fix geregelt war, s. C R E A S M A N , Cencorship (2012), S.-46. 100 Siehe ausführlich zu diesem Thema Kap. 9.2.2. 101 StadtAL, Tit. I Nr.-22 k---Verschiedene Ratsnachrichten, 16.-17.-Jahrhundert, fol.-245 r . 102 Ebd., fol.-248 r . Das Mandat vom 11. August 1591 berichtet davon, dass einige Tage zuvor viele passquill und schmeheschrifften auf mehrere Theologen und Prediger ausgestreut worden waren, wobei die Suche nach den Autor: innen erfolglos geblieben war. Daher versprach man Personen, die bereit waren, Informationen über die Verfasser: innen oder Mitwissende preiszugeben, 200 Taler Belohnung - eine nicht unübliche Vorgehensweise. 99 Informant: innen und ihre Familien würden darüber hinaus vom Rat geschützt und geheim gehalten. Ursächlich waren wahrscheinlich die einleitend genannten Unruhen im Zusammenhang mit der reformierten Konfessionalisierungspolitik in Sachsen unter Christian I., die von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wurde und zu Protesten führte. 100 Das Mandat belegt eindrücklich, wie stark die Obrigkeit bei der Suche nach anonymen Schmähschriftenautor: innen auf die Hilfe der Einwohnerschaft angewiesen war, die aber häufig nicht freiwillig erfolgte. Letzteres mag man in diesem Fall der Tatsache anlasten, dass der Calvi‐ nismus keine Unterstützung in der Bürgerschaft fand, weswegen gegen seine Anhänger: innen gerichtete Pasquille tendenziell gutgeheißen wurden. Aber auch das Mandat vom 25. April 1594 legt nahe, dass die Verbreitung unterschied‐ lichster Schmähschriften unter der Bevölkerung der Stadt auf wenig Ablehnung stieß, wie es auch die Reaktionen im Fall Gratz zeigen. Das Mandat reagierte darauf, dass kürzlich viele famos schrifften, paßquill und anderr schand und schmehekedichte verbreitet und auch in Druck gegeben worden waren, die demnach weder herren noch knechte verschonten und zu nichts anders, denn zu aufruhr, vorkleinerung, despect, mißverstand und verbitterung führten. 101 Das dritte Mandat gleichen Inhalts begründet das Verbot ähnlich eindrücklich: Weil dann solches auch zu nichts anders, als zur aufhebung aller guten politischen ordnung, aufwiglung des kemeinen mannes, und zu allerhand mißverstanden verbitterung der gemüther und andern unheil ursach gibt. 102 Wie bereits für die Reichspolizeiordnungen festgestellt, legen auch die Leipziger Mandate nahe, dass Schmähschriften alle Schichten der Bewohnerschaft involvierten. Der ‚Gemeine Mann‘ rezipierte sie, konnte aber ebenso wie auch die Mitglieder höherer Stände zum Ziel der Schmähungen werden. Die Leipziger Mandate gegen die Schmähschriften wurden vordergründig erlassen, um die gute Ord‐ 6.4 Obrigkeitliches Interesse und strafrechtliche Konsequenzen 119 103 Vgl. Kap. 8.1. 104 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-184f. 105 Ebd., S.-182f. 106 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 20. Weißbrot war neben der Schmähschrift auch wegen Ehebruchs verurteilt worden. 1530 wurde er aufgrund des Bruchs seiner Urfehde hingerichtet. S. V O L K M A R , Reform statt Reformation (2008), S.-540; H A S S E , Antiklerikalismus (2005). 107 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-7 r . nung sowie den städtischen Frieden zu wahren und Unruhe zu verhindern. Dabei verboten sie sowohl die öffentliche als auch die heimliche Verbreitung, was auf unterschiedliche Praktiken schließen lässt, die das Anheften und Ausstreuen an öffentlichen Orten, aber auch das Zirkulieren unter der Hand in kleineren Gruppen umfassten. Beide Mandate beriefen sich zudem auf den Speyrer Reichsabschied von 1570, was den Einfluss der Reichsgesetzgebung auf lokale Bestimmungen verdeutlicht. Es ist unklar, inwiefern sich die Bestimmungen auf die Verfolgung von Pasquillant: innen wie Heinrich Gratz auswirkten, da Studien zu rechtlichen Reaktionen bislang ausschließlich zu obrigkeitskritischen Schmähschriften vorliegen. 103 Für Schmähschriften zwischen Untertan: innen gibt F U C H S einige Eindrücke wieder. Die harten Strafen der Carolina fanden demnach keinen Eingang in die juristische Praxis; statt der angedrohten Talion waren Geld- und Gefängnisstrafen in Verbindung mit Widerruf üblich, dabei war die Wie‐ derherstellung der Ehre der Verletzten das vorrangige Ziel. 104 Zu diesem Zweck konnten die Geschädigten die Verbrennung der Schriften fordern, was jedoch durch den dadurch wiederum bei der Gegenseite hervorgerufenen Ehrschaden zu regelrechten Prozessketten führen konnte. 105 Ein aufsehenerregender Fall von Widerruf und Vernichtung des corpus delicti ereignete sich in Dresden im Jahr 1522: Der Dresdner Jobst Weißbrot musste, nachdem er über einen zufälligen Handschriftenvergleich als Verfasser eines Pasquills gegen die Geist‐ lichkeit überführt worden war, Widerruf leisten und seine Schmähschrift auf dem Markt der Stadt öffentlich verspeisen. 106 Indes machte sich Gratz über die Konsequenzen seiner Handlungen zunächst wenig Gedanken, wie sein offener Umgang mit dem Pasquill zeigt. Die interes‐ sierten Reaktionen der Männer auf dem Brühl legen nahe, dass er anfänglich tatsächlich ein eher geringes Risiko eingegangen war. Auf die wütende Reaktion Cuntz Cunrads reagierte Gratz daher mit einigem Unverständnis und präsen‐ tierte die Schriften als einen Spaß. Seine entspannte Einstellung verkehrte sich jedoch innerhalb kürzester Zeit ins Gegenteil, sodass er sich Tags nach dem Treffen mit Cunrad und den anderen Männern gezwungen sah, selbst mit dem Pasquill aufs Rathaus zu gehen, um sich zu stellen. 107 Er hatte offensichtlich 120 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 108 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S. 408. Vgl. den Spruch des Leipziger Schöffens‐ tuhls, überliefert in den Gerichtsprotokollen des Wittenberger Rats (o. D., 16. Jahrhun‐ dert): „Schilt einer alle frauen unnd jungfrauen in einer stadt: Hat einer aus merglicher grober vermessenheit euren weyben jungfrauen unnd töchteren schmehewort zuge‐ saget das keine frome frau oder jungfrau in eurem stettichen weren und so sich da zu bekanth und in wandel und abwag gegebenn, so muss ehr solche schmeheliche zusage unnd nachrede mit gesetzter büsse jegen einer jeden frauen und jungfrawen die solches alters were, das sie mit unstemiekeit wegen beschuldiget eder bezichtiget wardenn, abwagenn unnd verbussenn alleme genugsamlich zu rechte mehe vorbuessen vonn rechts wegen“, RAW, Gerichtsprotokolle, 35 (Bc 24), fol.-244 v f. 109 C R O F T , Libels (1995), S.-276. 110 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-167. 111 Ein bemerkenswertes Beispiel für eine Gegenschrift aus dem Jahr 1529 findet sich im Ratsarchiv Wittenberg: RAW, Kurfürstlich-Sächsische Mandate, 49 (Bc 38), fol. 55-57. davon erfahren, dass der Wirt zum Goldenen Stern ihn vor Gericht bezichtigt hatte, der Autor der Schrift zu sein. Hier zeigte sich das städtische Gerede in Aktion: Indem es das Gerücht verbreitete, Gratz sei der Autor der Pasquille, setzte es ihn unter Handlungsdruck. Dies belegt das allgemeine Wissen darum, dass das Anfertigen eines solchen Pasquills potentiell schwere Strafen nach sich ziehen konnte - das Verbreiten alleine, obgleich ebenfalls verboten, hingegen kaum. Zwei Faktoren brachten Gratz also gegen seine Erwartungen in Schwierig‐ keiten: Zum einen klagte einer der Betroffenen vor Gericht und bewegte damit den Stadtrat zum Eingreifen, zum anderen wurde Gratz neben der Verbreitung auch die Autorenschaft zur Last gelegt. In diesem Fall kam erschwerend hinzu, dass das Männermit dem Frauenpasquill in Verbindung gebracht wurde, wobei Gratz nur ersteres nachweislich verbreitet hatte. Ein Angriff auf die Ehre der Bürgerinnen, wie ihn das Frauenpasquill darstellte, bedrohte potentiell auch die Ehre der Stadt selbst und machte damit, zusätzlich zur Betroffenheit einiger Ratsfamilien, ein Einschreiten des Rates wahrscheinlicher. 108 Es ist davon auszugehen, dass nur sehr wenige Schmähschriften überhaupt zur Anzeige gebracht wurden, was die Differenz zwischen der in vielen Quellen sichtbar werdenden Allgegenwart der Schmähschriften und ihrer eher seltenen Überlieferung erklärt. Die Obrigkeit wurde ex officio in der Regel nur tätig, wenn sie selbst Ziel der Angriffe war, was wiederum den großen Anteil politischer Pasquille an der Gesamtüberlieferung erklärt. 109 F U C H S verweist darauf, dass gegen Pasquille selten geklagt wurde und man stattdessen die Gegenrede gesucht habe. 110 Allerdings bezieht er sich dabei vor allem auf konfessionelle Auseinandersetzungen zwischen Theologen; Gegenschriften entstanden ten‐ denziell in Konflikten, die in einem breiteren politischen oder konfessionellen Kontext wurzelten. In persönlichen Streits waren sie wohl nicht üblich. 111 Was 6.4 Obrigkeitliches Interesse und strafrechtliche Konsequenzen 121 Der Konflikt zwischen Henning Holstein und Claus Passau, in dessen Verlauf meh‐ rere Schmähschriften entstanden, weist die für konfessionell-politische Konflikte des 16. Jahrhunderts typische Verschmelzung von individuellem Ehrkampf und größerem Sachkonflikt auf. Passau und Holstein - zwei Adlige - lagen schon Jahre im Streit. Passau veröffentlichte im Verlauf der Auseinandersetzung eine Schmähschrift gegen Holstein, in der er ihn der Verschwörung gegen Herzog Albrecht von Brandenburg bezichtigte. Holstein wiederum antwortete auf den Vorwurf mit einem dreiseitigen gedruckten Bericht, in dem er die Dinge aus seiner Sicht schilderte und als Motiv für Passaus Unmut dessen Kampf gegen den Herzog und die Einführung der Reformation angab. Holstein endet damit, dass er feststellt: „Aber wenn schmehen und beunrechten kunst ist, so bleibt kein ehrlich und redlich man on makel und wandel.“ 112 B E L L A N Y , Libels in Action (2001), S. 105; F O X , Oral and Literate Culture (2000), S. 328; F O X , Ballads (1994), S.-145. 113 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-11 r . rechtliche Reaktionen angeht, verweist F O X für England darauf, dass vor allem höhergestellte Personen Prozesse wegen Schmähschriften anstrengten. 112 Aus den Quellen geht nicht hervor, warum der Wirt des Gasthauses zum Goldenen Stern sich anschickte, vor Gericht zu klagen. Wahrscheinlich hatte Gratz in mehrerer Hinsicht Grenzen überschritten: Das Pasquill nannte die Opfer beim Namen, Gratz ging bei der Verbreitung enorm offensiv und öffentlich vor und war zusätzlich vielleicht einfach an den falschen Mann geraten. Ob ein anderer Betroffener, wie etwa der gelassen reagierende Valentin Schreyer, vor Gericht gegangen wäre, ist zumindest fraglich. 6.4.2 Die Untersuchung durch das Stadtgericht Der Leipziger Schöffenstuhl fasste in seinem Spruch zur Erlaubnis der Folter die aus seiner Sicht relevanten Tatbestände zusammen: Ist ein pasquill angeschlagen worden, dorinnen ehrliche weiber und manner hurerey bezuchtiget worden, und der gefangene Heinrich Gratz ist gestendigk, das er zwene jungen, so neben Lotters thorwege gestanden, und einen zettel in handen gehabt, gefragt wo sie zu dem zettel kommen, denselben abgeschrieben, und aus dem zettel geendert, was uber den zeilen geschrieben, auch den in seiner aussage benanten personen gezeiget, lessen lassen, und abzuschreiben gegeben, und es haben hierüber die zeugen ausgesaget, das er solchen pasquil gar auswendigk gekont, und anderer mehr gedacht hab […] 113 Von den durch den Angeklagten gestandenen Punkten werden Abschreiben und Ändern der Schmähschrift, außerdem ihre Verbreitung über Zeigen sowie Lesen- und Abschreibenlassen hervorgehoben. Auch das Auswendiglernen machte Gratz verdächtig, wie es insgesamt als Argument gegen mutmaßliche 122 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 114 Ebd. 115 Ebd., fol.-3 r . 116 Vgl. Kap. 9.5. 117 R O S E , Herr Niemand (2021). Pasquillant: innen vorgebracht wurde. Die Folter wurde gestattet, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob er nicht solchen pasquil und andere mehr selbest gemacht, und angeschlagen hab, was er dazu gethan, und ihme darumb bewußt sey. 114 Man vermutete in ihm also nicht nur den Verbreiter, sondern auch den Autor der Schmähschrift. Der Inhalt des Pasquills spielte bei der Begründung des Schöffenspruchs lediglich eine untergeordnete Rolle. Worauf konzentrierten sich die Fragen des Stadtgerichts beim Verhör des Beschuldigten und der Zeugen? Zentrales Motiv für diese wie für viele Untersuchungen im Zusammenhang mit Schmähschriften stellte die Suche nach den Autor: innen dar. In ihnen sah man den Kern allen Übels, die Quelle der Schmähschriftenverbreitung, die es zu verschließen galt. Diesem primären Zweck dienten auch die Verhaftung und gegebenenfalls das peinliche Verhör von Personen, die lediglich der Verbreitung verdächtigt wurden, wie es die Reichspolizeiordnungen vorschrieben. Die Richter verdächtigten zwar Gratz selbst, trotzdem folgten sie zusätzlich dem von ihm angegebenen Weg zum Ursprung des Pasquills über die zwei Jungen: Man erkundigte sich nach ihren Namen, nach Größe und Alter sowie nach ihrem Hintergrund. 115 Eng verbunden mit dieser Suche nach der Quelle war die Rekonstruktion der Verbreitungswege. Außerdem diente sie der Bemessung des durch die Schmähschriften entstandenen Schadens, der mit der Verbreitungsreichweite korrelierte. Schließlich konnte es das Ziel sein, aller Exemplare einer Schmäh‐ schrift habhaft zu werden, dabei stiegen mit dem obrigkeitlichen Interesse an der Verfolgung auch die in den Nachforschungen eingesetzten Mittel. Die größten Ausmaße erreichten sie dementsprechend bei Angriffen auf den Kurfürsten, wie der in dieser Arbeit besprochene Mansfelder Fall deutlich macht. 116 Max R O S E konnte zudem für einen kursächsischen Fall aus dem Jahr 1566 eine regelrechte ‚Schnitzeljagd‘ rekonstruieren, in deren Verlauf die mit der Untersuchung betrauten Amtleute ein Netz von mehr als 25 Personen aufdeckten, welche die betreffende Schmähschrift besessen oder verbreitet hatten. 117 In beiden Fällen war die Obrigkeit durch den von den Schmähschriften geschürten Glauben an eine Verschwörung gegen den Kur‐ fürsten zusätzlich motiviert. Aber auch im - aus obrigkeitlicher Perspektive vergleichsweise unproblematischeren - Leipziger Fall bestand eines der Hauptinteressen des Stadtgerichts in der Erlangung von Kenntnissen über potentielle Abschriften des von Gratz herumgezeigten Männerpasquills. So 6.4 Obrigkeitliches Interesse und strafrechtliche Konsequenzen 123 118 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-3 r -4 r . 119 Ebd., fol.-8 r . 120 B U R K E , Städtische Kultur (1996), S.-137. 121 Zum Extremfall des Wenzel Görtler, dem vorgeworfen wurde, bis zu 15 unterschied‐ liche Handschriften zu führen, s. Kap. 9.6.2. fragte man ihn danach, ob die Jungen die Zettel abgeschrieben hatten, wo, wie oft und warum er selbst Abschriften seines Exemplars angefertigt hatte, wem er sie gegeben oder solches zumindest in Aussicht gestellt hatte und wo man das andere Pasquill auf die Frauen finden könnte. 118 Ziel dieser Suche nach beteiligten Personen und Exemplaren der Schmähschrift war es, einen Überblick und die Kontrolle über eine Kommunikationssituation zu erlangen, welche die Obrigkeit, aber auch die Betroffenen als unkontrolliert und dadurch bedrohlich wahrnahmen. Diesem Wunsch nach Kontrolle verdanken wir letztlich die detailreichen Informationen über die öffentliche Verbreitung der Schmähschriften. Zu den Verbreitungstechniken zählten in diesem wie in vielen anderen Fällen vor allem Auswendiglernen und Abschreiben der Texte. Das Auswen‐ diglernen machte verdächtig, da es einige Mühen bereitete, sich den gesamten Inhalt der Schmähschriften zu merken. Damit legte man den Bezichtigten entweder bösartige Motive bei der Verbreitung der Schriften oder aber direkt die Urheberschaft nahe. Auf Heinrich Gratz, dem der Rat die vollständige Memorierung der Schmähschrift vorwarf, 119 traf beides zu: Zum einen glaubte der Rat, in ihm auch den Autoren gefunden zu haben, zum anderen hielt er dessen schlechten Absichten bei der Verbreitung für erwiesen, schließlich hatte Gratz selbst zugegeben, das Pasquill gezielt zur Herabsetzung genutzt zu haben. Das Abschreiben erschien dem Stadtrat noch deutlich bedrohlicher als das Auswendiglernen, da weitere Schmähschriftenexemplare in der Lage waren, an unterschiedlichen Stellen immer neues Gerede anzustoßen und dies gegebenenfalls auch an weit entfernten Orten, wodurch sie das Verbreitungs‐ potential enorm steigerten. Abseits seiner Bedeutung für die Verbreitung spielte das Abschreiben eine wichtige Rolle im Prozess, denn es barg für die Schreibenden immer auch ein Risiko: Der Handschriftenvergleich war das wichtigste kriminaltechnische Mittel zur Beschaffung von Indizien gegen die Angeklagten. In einigen Fällen wurden zur Identifikation von Täter: innen sogar professionelle Schreiber als Experten herangezogen. 120 Das verräteri‐ sche Potential der Handschriften war den Beteiligten bekannt, sodass viele Schmähschriften von ihren Autor: innen in verstellter Handschrift ausgeführt wurden. 121 Gleich mehrfach fand in den in dieser Arbeit behandelten Schmäh‐ schriften eine Handschrift Verwendung, die derjenigen des Frauenpasquills 124 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 122 Vgl. B E C K ; B E C K , Die lateinische Schrift (2007), S. 103-106 und die angeführten Beispiele. In einem anderen Fall wurden die Schmähschriften, die in einer Hand‐ schrift verfasst wurden, die derjenigen des Frauenpasquills stark ähnelt, als „teutsche lieder, mit lateinischenn buchstaben“ bezeichnet, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 6, fol.-*49 v . 123 So in einem Pasquill auf Johann Maior (1533-1600), HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 22, fol. 2; vgl. Übersicht (Anh. 1), Nr. 25. Für Italien sind solche Praktiken ebenfalls belegt, s. B U R K E , Oral and Manuscript Cultures (2019), S.-25. ähnelt und weniger einer kursiven und personalisierten Schreibschrift son‐ dern eher einer Antiquaschrift gleicht, wie sie oft für lateinische Texte und Passagen genutzt wurde. Besonders im Vergleich mit dem von Heinrich Gratz kopierten Männerpasquill fallen die Unterschiede zwischen den Schriften ins Auge (Abb. 1). Der Befund sollte nicht zu stark gewichtet werden, aber zwei Deutungen liegen nahe: Zum einen könnte die antiquaartige Schrift als eine Art Buchschrift schlicht den Versuch darstellen, eine bessere Lesbarkeit zu erreichen. Zum anderen machten es die weniger personalisierten Züge schwieriger, die Schreiber: innen anhand ihrer Handschrift zu überführen; in diesem Fall würde es sich um eine zwecks Anonymisierung absichtlich ver‐ stellte Schreibweise handeln. Allerdings finden sich vergleichbare Antiqua- Kursiven und Mischformen insgesamt häufig im humanistisch-universitären Milieu der Zeit, besonders im mitteldeutschen Raum. 122 Die Zuordnung der Verfasser: innen einer solchen Schrift zum Kreis der universitär gebildeten erschiene entsprechend naheliegend. Andere Pasquillant: innen gingen noch einen Schritt weiter und schnitten zur Anfertigung ihrer Schmähschriften Wörter und Buchstaben aus anderen Schriften aus, um ihre eigene Handschrift vollständig zu verbergen (Abb. 1). 123 Da er die eigenhändige Abschrift des Männerpasquills gar nicht in Abrede stellte, spielten Handschriften im Fall von Heinrich Gratz nur eine untergeordnete Rolle. Das Interesse der Obrigkeiten bezog sich besonders auf die Bewegung des Objekts Schmähschrift im städtischen Raum, sodass auch kleinsträumige Verbreitungswege erfragt und zu Protokoll gegeben wurden. Dank dieses Interesses wissen wir, dass Heinrich Gratz die Schrift in seiner Wohnung auf einer ganz bestimmten Truhe, dem ‚Schlesierkasten‘, abgeschrieben hatte. Auch andere Orte des Umgangs mit den Pasquillen wurden in den Verhören benannt, so der Keller, in dem Jacob Vetter das Männerpasquill durch einen Jungen abschreiben ließ, das obere Stockwerk desselben Hauses, wo sich zur gleichen Zeit mutmaßlich das Frauenpasquill zur Abschrift befand, oder der Keller des ‚langen Jorg‘, wo dieselbe Schrift im Beisein mehrerer Männer 6.4 Obrigkeitliches Interesse und strafrechtliche Konsequenzen 125 124 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-25 r . 125 Vgl. ausführlicher in Kap. 9.4. 126 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr. 187, fol. 1, 2; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 22, fol. 2. angeblich vorgelesen wurde. 124 Diese Detailverliebtheit in Bezug auf Orte des Umgangs mit den Schmähschriften stellt keine Eigenheit des Leipziger Falls dar, sondern gehörte vielmehr zum Standard bei der Rekonstruktion von Verbreitungswegen. 125 Abb. 1: Die vergleichsweise anonyme und an eine Antiqua erinnernde Buchschrift des Frauenpasquills im Vergleich mit der individuellen Kursive des Männerpasquills aus der Hand des Heinrich Gratz und den geklebten Buchstaben einer Schmähschrift gegen Johann Maior (v.o.). 126 Die Obrigkeit konzentrierte sich bei ihren Untersuchungen weniger auf die mündliche, sondern stärker auf die schriftliche Kommunikation, da sie den 126 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 127 F O X , Oral and Literate Culture (2000). 128 So auch in Bezug auf Kleindrucke: C A R N E L O S , Words on the Street (2016), S.-740. 129 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr. 187, fol. 5 r , 11 r , 21 r , 23 v , 26 r . Ausführlicher zur Funktion öffentlicher Orte: Kap. 7.2.2. Schriften ein gesteigertes Drohpotential zumaß. Diese Haltung entsprach der unterschiedlichen Beurteilung von mündlichen und schriftlichen Injurien in Rechtstexten. Die Nachverfolgung hätte auch eine Bestrafung derjenigen er‐ möglicht, die die Schriften zwar nicht verfasst, aber zumindest verbreitet hatten, wie dies auch in den einschlägigen Rechtsschriften gefordert wurde. Allerdings ist bislang kein Fall bekannt, in dem allein der Umgang mit oder das Weiterreichen von Schmähschriften eine Verurteilung nach sich gezogen hätte. Man konzentrierte sich auf die Autor: innen und diejenigen Personen, die eng mit ihnen zusammenarbeiteten. Dies war wohl auch der Alltäglichkeit der Praxis geschuldet - ein hartes Durchgreifen gegen all diejenigen, die Kontakt zu Pasquillen hatten, hätte sich nicht mit den Interessen der Gemeinde in Einklang bringen lassen. 6.5 Schmähschriftenkommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt Der Anspruch der Obrigkeit, Kontrolle über die Kommunikationssituation zu erlangen, führte zu entsprechenden Akteneinträgen, anhand derer sich exemplarisch zeigen lässt, wie sich die Schmähschriften, ihre Abschriften und allgemeiner die auf die Pasquille bezogene Kommunikation in der frühneuzeit‐ lichen Stadt verbreiteten. Die Verbreitung von Schriften auf einem Mikrolevel, also der Ebene der einzelnen Akteur: innen, wird von der deutschsprachigen Forschung nur selten in den Blick genommen. Arbeiten wie diejenige von F O X127 zur Alltagskultur der Schriftlichkeit und Mündlichkeit in England fehlen bislang. 128 6.5.1 Der Weg des ‚Männerpasquills‘ Der Startpunkt für die Verbreitung des ‚Männerpasquills‘ in Leipzig liegt weitestgehend im Dunklen. Grund dafür sind widersprüchliche Aussagen des Angeklagten, die aber alle auf bekannte Formen der Verbreitung rekurrieren. Zunächst ist vom Anbringen der Schriften an einem öffentlichen Ort die Rede, nämlich ‚Lotters Ecke‘ beziehungsweise ‚Lotters Torweg‘. 129 Es handelte sich of‐ fenbar um die Kreuzung von Brühl und Katharinenstraße, zweier Hauptstraßen 6.5 Schmähschriftenkommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt 127 130 In den Akten ist die Rede davon, dass sich ‚Lotters Ecke‘ auf dem Brühl befand. An der Ecke Katharinenstraße/ Brühl stand seit 1550 das Haus des bekannten sächsischen Bauleiters und Leipziger Bürgermeisters Hieronymus Lotter (um 1497-1580), sodass es sich mit einiger Sicherheit um diese Kreuzung handelte, s. S C H W A R Z , Architektur und Stadtbild, S.-698. Zu Lotter s. U N B E H A U N , Art. „Lotter, Hieronymus“ (1987). 131 V O L K , Historische Straßen (1979), S.-62. 132 Johann Gottlob Schulz: Beschreibung der Stadt Leipzig (1784), zitiert nach: G R Ä N I T Z , Verkehrsraum Leipzig (2016), S. 580. Die Katharinenstraße wurde als „die schönste von ganz Leipzig“ bezeichnet. 133 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-26 r . des frühneuzeitlichen Leipzig (vgl. Abb. 2). 130 Der Brühl war eine besonders verkehrsreiche Straße, an der sich viele Waren- und Gasthäuser befanden sowie Markt abgehalten wurde. 131 Eine Beschreibung aus dem 18. Jahrhundert verdeutlicht, wie stark der Brühl frequentiert war: Diese Straße ist sehr lebhaft, man findet da sehr viele Gasthöfe, wo die Fuhrleute ausspannen und ihr Gepacke auf und abladen. 132 An diesem höchst öffentlichen Ort war die Schrift angeschlagen oder, laut anderer Zeugen, angeklebt worden. Beide Praktiken finden sich in etwa gleich häufig in den Quellen. Einmal angebracht, konnten die Schriften entweder gelesen, vorgelesen oder zumindest betrachtet werden, oder man nahm sie ab - sei es zur Vernichtung oder zur weiteren Verbreitung. Was mit dem Männerpasquill genau geschah ist unklar: Heinrich Gratz war zwar in den Besitz der Schrift gekommen, allerdings hatte ein Mann namens George Schmidt noch am Abend desselben Tags ein Exemplar an ‚Lotters Ecke‘ angeschlagen gefunden und seinerseits abgenommen. Vielleicht hatte Gratz nur eine Abschrift erhalten, oder ein anderes Exemplar war zu einem späteren Zeitpunkt angeklebt worden. Bezüglich des Umgangs mit solchen öffentlich angebrachten Zetteln fehlen Belege dafür, dass sie frühzeitig von Unbeteiligten abgenommen wurden, um sie den Blicken des Publikums zu entziehen. Zumeist wurden erst die Betroffenen oder die Obrigkeit tätig. Auch in diesem Fall nahm Schmidt zwar das Pasquill ab, um es nach eigenen Angaben zu zerreißen (eventuell eine einfache Schutzbehauptung), aber auch er zeigte es zuvor noch mindestens einer weiteren Person. 133 Neben dem Aufhängen einer Schrift war es auch üblich, sie am Bestimmungsort abzulegen oder unauffällig fallenzulassen, was in den vorliegenden sächsischen Fällen die häufigste Methode darstellte. Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Täter: innen konnten sich sicher sein, im Gegensatz zum deutlich aufwendigeren Ankleben oder dem zudem lautstarken Anschlagen zunächst kein Aufsehen zu erregen. Eine weitere Art der Verbreitung sprach Gratz an, wenn er von den beiden Jungen berichtete, von denen er das Pasquill 128 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 134 Ebd., fol.-5 r . 135 Eigene Bearbeitung, Grundlage: M E R I A N , Topographia Superioris Saxoniae Thüringiae, Misniae Lusatiae etc. (1650), S. 112f., Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, CC0 1.0 DEED. angeblich erhalten hatte. Er kannte einen der beiden als singenden Verkäufer von gedruckten Liedern. 134 Abb. 2: Leipzig im Jahr 1650: Brühl, Katharinenstraße und das Haus Hieronymus Lotters, an dem das Pasquill angebracht wurde. 135 Nach Erhalt der Schrift fertigte Gratz zunächst in seiner Wohnung eine Kopie an, die er dann an die genannten Personen herantrug. Wie bereits dargestellt führte ihn sein erster Gang zu Georg Fischer, den er aufgrund seiner Weigerung, die Schrift zu lesen, mündlich von ihrem Inhalt in Kenntnis setzte. Da mehrere Zeugen betonten, dass Gratz den Text auswendig konnte, ist davon auszugehen, dass er ihn auch in dieser Situation rezitierte. Bei der Gelegenheit erfuhr Gratz außerdem vom Frauenpasquill, das Fischer persönlich gesehen hatte. Als nächstes suchte Gratz Jacob Vetter auf, der die Schrift zunächst las und dann 6.5 Schmähschriftenkommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt 129 136 Ebd., fol.-6. 137 Ebd., fol.-21 v . 138 Ebd., fol.-20 r -22 r . 139 Ebd., fol.-25 r . umgehend von einem Diener oder Gesellen abschreiben ließ - wahrscheinlich sogar gleich mehrfach, da er eine Kopie des Textes an den Bürger Georg Weinhart weiterreichte. Auch bei dieser Begegnung wurde das zweite Pasquill über die Frauen der Stadt thematisiert. Nach Aussage von Gratz bewahrte Vetter auch von dieser Schrift eine Abschrift im Haus auf. 136 Von Vetter ging Gratz weiter auf den Bauernmarkt beziehungsweise zum Haus Barthel Bethmans, das sich ebenfalls auf dem Brühl befand. Da Bethman nach eigener Aussage des Lesens nicht mächtig war, las Gratz ihm das Pasquill vor. 137 Zu den beiden Männern gesellten sich noch Matthes Stöcker und Michael Hoffman. 138 Hoffman sagte aus, dass Gratz aktiv auf ihn zugekommen sei, um ihm vom Pasquill zu berichten: Darauf berichtet zeuge, Gratz sey zu ihm aufen marckt kommen, ungefehlich umb fasnacht, und gefragt, ob er von dem pasquil wuste, zeuge geantwortet, ob es der wehre, darin die weiber stunden, Gratz geantwortet, nein es wehre ein neuer, darin stunde Jacob Vetter und der wirt zur eule, ihm auch ungefehr den inhalt gesagt. 139 Auf dem Marktplatz erregte er mit seinem Zettel offenbar größere Aufmerk‐ samkeit. Zunächst rief Matthes Stöcker den vorbeilaufenden Valentin Schreyer herbei und als letztes stieß Cuntz Cunrad zur Gruppe hinzu, dessen Vater im Text gedacht wurde. Ob er bereits vorher von den Umtriebigkeiten des Heinrich Gratz erfahren hatte und gezielt zum Ort des Geschehens geeilt war, oder ob er die beisammenstehenden Männer zufällig wahrnahm, ist nicht bekannt. Mit dem Streit zwischen Cunrad und Gratz endete der Weg der Schmähschrift, sofern er sich aus den Prozessakten nachvollziehen lässt. Da aber, wie erwähnt, noch am Abend desselben Tages eine gleichlautende Schmähschrift an ‚Lotters Ecke‘ gefunden wurde, ist davon auszugehen, dass noch weitere Exemplare existierten, die ihre je eigenen Wege durch die Stadt fanden. Anhand der rekonstruierten Ereignisse lassen sich mehrere Charakteristika der Kommunikation mit und über handschriftliche Schmähschriften im kom‐ munikativen Nahraum der frühneuzeitlichen Stadt hervorheben, die sich durch die Interaktion von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auszeichnete. 130 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 140 Auch Ulinka Rublack betont, dass Analphabetismus kein Hindernis für die Verbreitung von Schmähschriften darstellte, s. R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-403. 141 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-404. 142 S C H Ö N , Geschichte des Lesens (2016), S.-18. 143 Ebd. Zusammenfassung der Alphabetisierungsraten in der Forschung bei M E S S E R L I , Leser (2010), S. 464. Zur Kritik an den Raten zuletzt: S C H N E I D E R , Frühe Neuzeit (2015), S.-759. 144 F U C H S , Einleitung: Buch und Reformation (2014), S.-13. 145 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S. 403: „Das Motiv einer Schrift konnten Analphabeten also alleine nur durch Zeichnungen ersehen. Deshalb empfahl sich für Absender eine Kombination von Schrift und Bild." 146 So auch F O X , Oral and Literate Culture (2000), S.-38. 6.5.2 Handschriftliche Schmähschriftenkommunikation Es wird deutlich, dass die Pasquille weite Teile der Stadtbevölkerung erreichten - weitgehend unabhängig von deren Lesefähigkeit. 140 Das Interesse an Schmäh‐ schriften war auch bei Analphabet: innen groß, wie das Verhalten Barthel Bethmans exemplarisch zeigt. Dass Schmähschriften sogar von äußerst schrift‐ fernen Menschen aktiv genutzt werden konnten, belegt dasjenige Leipziger Pasquill, das einige Jahrzehnte nach den beschriebenen Ereignissen mit Kot an die Tür Hans Müllers, des Obermeisters der Schlosser, geklebt wurde. Nur mit Mühe war es dem Verfasser gelungen, unbeholfen einige Worte in unüblicher Orthographie auf das Papier zu kritzeln, die Müller als Dieb und Münzfälscher bezeichneten. 141 Der Umgang mit den Schmähschriften legt nahe, dass zumindest rudimentäre Lesefähigkeiten weit verbreitet waren. Die gegebe‐ nenfalls buchstabierende Entzifferung eines Pasquills von wenigen Versen und leichter Syntax war auch für solche Leser: innen möglich, die allenfalls in einem „lockeren Kontakt zur Schriftlichkeit“ 142 standen. Die Schmähschriftenfälle insgesamt lassen, bei aller berechtigten Kritik an quantifizierenden Alphabeti‐ sierungsraten, die von Erich S C HÖN nach oben korrigierten Schätzungen von bis zu 30 Prozent und in Einzelfällen 50 Prozent lesefähiger Stadtbevölkerung im Reich realistisch erscheinen. 143 Zumindest bestätigen sie den Eindruck von F U C H S , dass in den Städten des 16. Jahrhunderts eine „weitreichende zumindest rudimentäre Lesefähigkeit“ 144 bestand. Darüber hinaus enthielten viele Schmäh‐ schriften bildliche Darstellungen, die den Inhalt auch all jenen nahebrachten, die überhaupt nicht lesen konnten. 145 Illiterat zu sein bedeutete also nicht, dass man vom geschriebenen Wort nicht erreicht wurde. Die Alphabetisierung war ausweislich der Schmähschrif‐ tenprozesse zumindest so weit fortgeschritten, dass die meisten Menschen schnell jemanden zur Hand hatten, der entsprechende Texte vorlesen konnte. 146 Bedingt durch diesen Umstand stellte die Lesefähigkeit der Einzelnen (und daran 6.5 Schmähschriftenkommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt 131 147 S C H N E I D E R , Frühe Neuzeit (2015), S.-745. 148 M E S S E R L I , Leser (2010), S.-473-475. 149 Pauline Croft berichtet, dass es bei anonymisierten Schmähschriften gerade den Spaß der Stadtbewohner: innen ausmachte, herauszufinden, wer gemeint war: C R O F T , Libels (1995), S.-273. 150 B E L L A N Y , Libels in Action (2001), S.-101. 151 L O V E , Scribal Publication (1993), S. 79-83. Außerdem in Bezug auf Schmähschriften: C R O F T , The Reputation of Robert Cecil (1991), S.-45. angeschlossene Faktoren wie finanzielle Mittel oder Bildungsgrad) keinen aus‐ schlaggebenden Faktor zur Rezeption der Schriften dar, denn „Lesen, Vorlesen und Zuhören standen als Rezeptionsweisen relativ gleichberechtigt nebenein‐ ander.“ 147 Das Vorlesen gehörte zu den üblichen geselligen Tätigkeiten im Leben der Menschen und ermöglichte zugleich eine Erschließung des Textinhalts, die über die stille Einzellektüre hinausging, da es das Gespräch und so die Diskus‐ sion über den Text in der Gruppe erlaubte. 148 Bezüglich der Schmähschriften konnte man so die enthaltenen Bezüge und indirekt angesprochenen Personen gemeinsam identifizieren, was einen Teil des Unterhaltungswerts der Texte ausgemacht haben mag. 149 Die Verbreitung der schriftlichen Vorlagen für das Vorlesen wurde durch das wiederholte Abschreiben ermöglicht. Es kann allgemein als eine essenti‐ elle Praktik der frühneuzeitlichen Nachrichtenkultur gelten, zu der auch das Zirkulieren der Texte in sozialen Gruppen wie Nachbarschaften, Freundes- und Kollegenkreisen zählte. 150 Für das England des 17. Jahrhunderts spricht Harold L O V E gar von einer ‚Kultur des Abschreibens‘, die eine weite Verbrei‐ tung handschriftlicher Texte außerhalb des Zugriffs der Zensur ermöglichte, deren Bestimmungen sich vor allem auf Drucker und Buchhändler bezogen. 151 Kann diese Praktik in anderen Schmähschriftenfällen konkret nachvollzogen werden, liefert der Fall des Leipziger Männerpasquills nur wenige Hinweise. Nach eigener Aussage schrieb Heinrich Gratz das Pasquill zunächst bei sich zuhause ab, wobei seine Handschrift von einem geübten Schreiber zeugt. Die unregelmäßigen Abstände der Buchstaben und Wörter zueinander und der unsaubere Umgang mit der Tinte, der einige Buchstaben unleserlich machte, verdeutlichen zusammen mit der räumlichen Situation die Spontanität des Aktes. Demgegenüber nötigte ein Druck zu aufwendigen, langwierigen Vor‐ bereitungen und zum Einbeziehen von weiteren Personen, war also für das Verbreiten von Schmähschriften wenig geeignet. Es zeigt sich zudem der Vorteil eines kurzen Textes: Gratz konnte auch deswegen das Männerpasquill spontan und auf einem ohnehin vorhandenen kleinen Papierrest abschreiben, weil es sich lediglich um wenige Verse handelte. Anschließend suchte er gezielt Georg Fischer, Jacob Vetter oder Barthel Bethman auf, um ihnen die Schrift zu 132 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 152 M I L L S T O N E , Manuscript Circulation (2016), S. 53f. Diese Beobachtung widerspricht ein Stück weit dem von Love aufgestellten Paradigma der coterie-Zirkulation, die sich gerade dadurch auszeichnete, dass heikle Schriften nur innerhalb eines bestimmten Zirkels weitergegeben wurden und nicht für außerhalb bestimmt waren. So auch schon: M A Y ; B R Y S O N , Verse Libel (2016), S.-29. 153 Dies wurde zuletzt anschaulich für einen weiteren kursächsischen Schmähschriftenfall herausgearbeitet: R O S E , Herr Niemand (2021), S.-48f. 154 E I B A C H , Das offene Haus (2011). Zuletzt erneut: D E R S ., Domestic life (2020). 155 E I B A C H , Das offene Haus (2011), S.-624. 156 Ebd., S. 632. Eibach führt das Beispiel von Bürger: innen an, die sich am Fenster präsentierten, wobei über die Zuordnung des Fensters zum Geltungsbereich der Kleiderordnungen vor Gericht gestritten werden konnte. Andrea Iseli sieht gar in dem durch die Polizeiordnungen formulierten Anspruch auf die Durchsetzung der guten Ordnung die Schaffung eines öffentlichen Raumes begründet, s. I S E L I , Gute Policey (2009), S.-127. präsentieren und sie gegebenenfalls abschreiben zu lassen, was Vetter, ebenfalls spontan, von einem Gehilfen erledigen ließ. Auch letzteres, das Hinzuziehen eines Dieners zwecks Anfertigung einer Abschrift, entsprach dem Normalfall: Für England im 17. Jahrhundert konnte Noah M IL L S T O N E gerade die Beteiligung verschiedenster Personenkreise, unter ihnen auch Diener: innen, Gesellen, Rei‐ sende und Bekannte an der Kultur des Abschreibens nachweisen, die sich somit bis zu einem gewissen Grad durch die Überschreitung sozialer Grenzen auszeichnete. 152 Im Fall des Heinrich Gratz - und dies wird andernorts vielfach bestätigt - zeigt sich die sehr bedingte Privatheit derartiger persönlicher Begegnungen. 153 Dies gilt ganz offensichtlich für Begegnungen von zwei oder mehr Personen im öffentlichen Raum, wie die Episode um Gratz und Bethman verdeutlicht, die sich auf dem Brühl entspann, einem Ort zwischen belebter Straße und Markt. Bedingtheit privater, also intimer Kommunikation zeigte sich aber auch im Bereich des Hauses. Die Beobachtungen lassen sich an Joachim E I B A C H S Konzept des ‚Offenen Hauses‘ anschließen, das die Kontinuität der Kommunikation zwischen den verschiedenen Hausbewohner: innen und ihren Nachbar: innen sowie die nach heutigen Maßstäben kaum restriktiven Zugangs‐ beschränkungen des Wohnraums betont. 154 Auch zur Straße als öffentlichem „Ort nachbarschaftlicher Geselligkeit“ 155 hin bestand Durchlässigkeit, die sich nicht nur an geöffneten Türen und Fenstern zeigte, sondern auch an der Durchsetzung obrigkeitlichen Kontrollanspruchs zum Beispiel in Bezug auf Kleiderordnungen. 156 Das Haus war somit ein Ort obrigkeitlicher, aber auch sozialer Kontrolle und Sanktionierung, denn es war auch hier äußerst schwierig, Konflikte vor den Augen der Nachbarschaft zu verbergen. Damit konnte das Vorlesen, Vorzeigen oder Kopieren von Schmähschriften im Haus eine potentiell 6.5 Schmähschriftenkommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt 133 157 Im Arterner Fallbeispiel wird zudem deutlich, wie schnell sich durch die Anwesenheit Dritter Nachrichten über ausschließlich in Wohnungen gelesenen Schmähschriften verbreiten konnten, vgl. Kap. 9.4. 158 Vgl. C R O F T , Libels (1995), S.-266. 159 Fox liefert den Quellenbeleg dafür, dass auch den Menschen des beginnenden 17. Jahr‐ hunderts nicht nur das im Vergleich zur mündlichen höhere Verbreitungspotential schriftlicher Schmähung bekannt war, sondern auch die Vorteile von gereimten Texten, s. F O X , Ballads (1994), S.-61. 160 F O X , Oral and Literate Culture (2000), S. 27. Zur Bedeutung des Auswendiglernens in schriftfernen Kulturen insgesamt vgl. O N G , Orality and Literacy (2009), S.-34. 161 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-187, fol.-21 v . öffentliche, zumindest aber semiöffentliche Praktik darstellen. Dies belegt auch das Wissen mehrerer Zeugen um die Begegnungen in den Häusern von Fischer und Vetter. 157 6.5.3 Mündliche Schmähschriftenkommunikation Ausgehend von jedem Punkt, an dem die Schmähschriften betrachtet, gelesen oder vorgelesen wurden, verbreiteten sich grundlegende Informationen in Form mündlicher Kommunikation. Diese Art der Verbreitung war besonders relevant im kommunikativen Nahraum der frühneuzeitlichen Stadt, wo sich die Menschen kannten, Handlungen und Gespräche beobachtet oder zumindest wahrgenommen wurden und Austausch vorrangig in Anwesenheitskommuni‐ kation ablief. Die Episode um Heinrich Gratz macht augenfällig, wie wichtig die mündliche Kommunikation über die Schmähschriften war, sie konnte diejenige der schriftlichen durchaus übersteigen. 158 Die Forschung fokussiert bislang zumeist auf das Aufgehen mündlicher Kommunikation in schriftlichen Texten. Die in dieser Arbeit behandelten Fälle erhielten ihre Relevanz allerdings gerade durch den umgekehrten Kommunikationsfluss, nämlich dadurch, dass die Pasquille eine lebhafte mündliche Kommunikation anstießen und zumindest ihren invektiven Inhalt ins Gerede der Stadt einspeisten. Als relevanteste Technik der mündlichen Reproduktion der Texte ist das Auswendiglernen hervorzuheben. Kürze, Reimschema und einfache Syntax er‐ leichterten auch im Fall der Leipziger Pasquille die Memorierung des Inhalts und dessen Vortrag - Vorteile, die bereits den Zeitgenoss: innen bekannt waren. 159 Auswendig vorgetragene Lieder und Gedichte waren weit stärker als heute Teil des Alltags. 160 Dass über den mündlichen Vortrag auch präzise Inhalte vermittelt werden konnten, verdeutlicht die Aussage Bartel Bethmans, der sich zutreffend daran erinnerte, dass Bastian Cunrad als letzte Person im Männerpasquill na‐ mentlich genannt wurde. 161 Die mündliche Verbreitung auf diese Weise geschah 134 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 162 Vgl. auch B A U E R , Pasquille in den Fuggerzeitungen (2008), S.-23f. 163 Vgl. C A R N E L O S , Words on the Street (2016). 164 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09667/ 04. 165 Auch wenn es sich beim Verneinen des direkten Umgangs mit der Schrift womöglich um eine reine Schutzbehauptung handelte, belegen die Aussagen zumindest, dass über konkrete Schmähschriften gesprochen wurde. 166 B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S. 26; D E R S ., Zeddel (2009), S.-236. häufig im persönlichen Umgang, wie etwa durch Heinrich Gratz, der den Text einzelnen Personen vortrug. Der Verweis auf die jugendlichen Sänger, die ihre Lieder auch im Druck verkauften, legt nahe, dass die mündliche Verbreitung von Pasquillen aber auch ganz öffentlich vonstattengehen konnte. 162 An dieser Stelle muss jedoch differenziert werden: Das Gros des offen feilgebotenen Materials hatte nicht den Charakter unter der Hand zirkulierter Schmähschriften wie des Männerpasquills. Es orientierte sich stärker am freien Markt, war daher häufiger gedruckt und behandelte übergreifende politische und konfessionelle Themen oder solche der Naturbeobachtung. 163 Zwar wurden auch hier Personen herabgesetzt und angegriffen, was im Einzelfall für die Verkaufenden zu einem ernsten Problem werden konnte. So verlangte die Kurfürstinwitwe Katharina von Mecklenburg 1554 einen Jungen, der Lieder über sie auf den Gassen Dresdens gesungen hatte, über die Folter zu einem Geständnis zu bringen. 164 Allerdings waren Texte wie das Männerpasquill aufgrund des sehr beschränkten Rezipientenkreises und vor allem wegen des Risikos, das ein Angriff auf kon‐ krete Bürger: innen bedeutet hätte, für den Druckmarkt zumeist uninteressant. Neben der weitgehend wortgenauen Vermittlung des Textes im Vortrag offenbart das Leipziger Beispiel eine Form mündlicher Kommunikation über die Schmähschriften, die nicht den Text als solches verbreitete, sondern Infor‐ mationen über dessen Existenz und die grobe Stoßrichtung der Schmähungen. Dies verdeutlichen die Angaben der Zeugen: Mindestens fünf der acht Zeugen und Heinrich Gratz hatten vom Frauenpasquill gehört, es aber vorgeblich nicht selbst gesehen. 165 Diese Art der Kommunikation ist aufgrund ihrer Flüchtigkeit in der Forschung nur wenig präsent, war jedoch für die Bewertung eines Schmähschriftenvorfalls von größter Bedeutung. B E L LIN G R ADT hält fest, dass Zettel in der frühneuzeitlichen Stadt Aufmerksamkeit erzeugten und Einfluss nahmen auf ein Kommunikationssystem des Mündlichen und dass die kommu‐ nikativen Auswirkungen publizierter Schmähschriften in mündliche Gerüchte Teil des Kalküls der Verfasser: innen waren. 166 Gerücht und Gerede stellten daher eine zentrale Form der Kommunikation im Schmähschriftenkonflikt dar, deren Mechanismen und Auswirkungen bislang wenig Beachtung gefunden haben. 6.5 Schmähschriftenkommunikation in der frühneuzeitlichen Stadt 135 167 S. Kap. 7.2.4. 168 B E R G M A N N , Klatsch (1987), S.-21. 169 StadtAL, Bestand Richterstube, Nr.-404, fol.-25 v . Eine erste Tiefenbohrung auf diesem Gebiet nimmt daher die zweite Fallstudie vor. 167 Der Weg mündlicher Kommunikation in Hand- und Druckschriften ist für die hier betrachteten Schmähschriften kaum nachzuweisen. Allerdings ist davon auszugehen, dass derart persönliche Pasquille auf bekannte Personen und Ereignisse rekurrierten - und bekannt sein bedeutete, Teil des städtischen Geredes sein. Schmähschriften griffen dieses folglich auf, verarbeiteten es unterschiedlich stark und wirkten bei der Veröffentlichung wiederum massiv darauf ein, mit dramatisierenden und radikalisierenden Effekten. So ist auch davon auszugehen, dass Geschichten von ehebrecherischen Bürger: innen (ein ohnehin allgegenwertiges Klatschthema) 168 schon vor Erscheinen der beiden Pasquille bestanden. Darauf verweist die Aussage Michael Hoffmans, dass er von mehreren nicht näher genannten Personen erfahren habe, dass bei der Familie Kolbenschlag mehr Informationen zu den angesprochenen Vorfällen eingeholt werden könnten. 169 Die diffuse Aussage steht exemplarisch für die vielfältigen Kommunikationsakte im Gerede. Die verbreitete Schmähschrift hingegen war durchaus in der Lage, die zerstreuten Ansätze des Geredes zu einem konkreten Gerücht oder letztendlich gar zum Geschrei zu verdichten - was für die Betroffenen ein äußerst bedrohliches Szenario darstellte, wie der Gang des Wirts zum Goldenen Stern vor Gericht belegt. 6.6 Fazit Die zwei Pasquille, die den Kern des Prozesses gegen Heinrich Gratz bildeten, präsentierten sich über ihren Inhalt und dessen satirische Darbietung zunächst als eine Form der Rüge, also als ein Instrument der gemeinschaftlichen Sank‐ tionierung durch Herabsetzung. Zu diesem Zweck stellten das Frauen- und Männerpasquill namentlich genannte Bürger: innen der Stadt in einer Art und Weise bloß, die komisches Potential aufwies. Komik konnte, sofern sie beim Publikum reüssierte, die invektive Qualität der Texte unterstützen und zugleich die Verbreitung der Inhalte fördern, indem sie den Wert der Mitteilung steigerte und den Autor: innen die Möglichkeit bot, ihre eigene Position aufzuwerten. In diesem Fall zeigt sich eine große Bandbreite von Reaktionsmöglichkeiten, wobei bei nicht direkt betroffenen Personen Interesse vor Ablehnung stand. 136 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 170 B U R K E , Städtische Kultur (1996), S.-138. Ein ‚Erfolg‘ der Schmähschrift im Sinne allgemeiner Zustimmung durch das Publikum ist hingegen nicht nachweisbar. Es ist Peter B U R K E darin zuzustimmen, dass „scheinbarer Gemeinsinn […] privaten Groll verdecken“ konnte. 170 Bei näherer Betrachtung stellte die Ver‐ breitung und eventuell auch Anfertigung zumindest des Männerpasquills durch Gratz primär ein Mittel zum Austrag seiner Konflikte dar, wobei er wahrschein‐ lich an das in der Stadt bereits zirkulierende Frauenpasquill anknüpfte. Der Schmähschriftenkonflikt erscheint aus dieser Perspektive als Stellvertreterkon‐ flikt, dessen ursprünglicher Streit nicht zu rekonstruieren ist. Ob Gratz durch ein ehrliches Gefühl der Empörung und das Bedürfnis, im Sinne einer Rüge Recht walten zu lassen, motiviert wurde, oder ob sein riskantes Verbreiten der Schmähschrift letztlich darauf zurückzuführen ist, dass er es für einen Spaß hielt und dabei lediglich an die falsche Person geraten war, ist auf Grundlage der vorhandenen Quellen nicht zu entscheiden. Fest steht hingegen, dass aus dem mutmaßlichen Spaß schnell bitterer Ernst wurde und die Ereignisse eine Wendung nahmen, die von Gratz sicher nicht ein‐ geplant war und sich seiner Kontrolle entzog. In diesem Fall folgte auf die Klage eines Betroffenen ein Prozess und die längerfristige Inhaftierung, wenn nicht zu einem späteren Zeitpunkt gar eine peinliche Befragung des Angeklagten. Im Gegensatz zu vielen Personen, die zuvor mit Interesse und Belustigung auf die Pasquille reagiert hatten - obgleich auch das Wissen um die theoretische Verdammungswürdigkeit von Schmähschriften greifbar wird - herrschte im Leipziger Magistrat offenbar ein ausgeprägtes Problembewusstsein vor, das nur drei Jahre später auch in mehreren Mandaten gegen Schmähschriften zum Ausdruck kam. Im Fall Gratz rührte dies mutmaßlich auch von der persönlichen Betroffenheit mindestens einer Ratsfamilie her. Insgesamt muss aber mit Blick auf die Überlieferungssituation davon ausgegangen werden, dass Schmähschriften aus persönlichen Konflikten eher selten gerichtlich verfolgt wurden. Der Prozess gegen Gratz zeugt von einem Bedürfnis der Obrigkeit, vor allem die Autor: innen und existierende Abschriften ausfindig zu machen, um die Kommunikationssituation aufzuklären und unter die eigene Kontrolle zu bringen. Dieses Interesse der Obrigkeit an den Verbreitungswegen ermöglicht die Analyse der Schmähschriftenkommunikation auf dem Mikrolevel. Schon die in diesem Fall vergleichsweise spärliche Überlieferung verweist auf die enge Verschränkung mündlicher und schriftlicher Praktiken bei der Verbreitung der schmähschriftenbezogenen Kommunikation in der Stadt. Dabei ist zum 6.6 Fazit 137 einen das große Potential handschriftlicher Kommunikation zu betonen: Ab‐ schreiben und Vorlesen als zentrale Praktiken boten eine niedrigschwellige, spontan verfügbare, schnelle und damit effiziente Art der Verbreitung. Zum anderen wird bereits die große Relevanz mündlicher Kommunikation bei der Wirkungsentfaltung der Schmähschriften sichtbar. Das Auswendiglernen und vor allem der Eingang ins Gerede der Stadt waren die wohl wichtigste Art, Schmähschrifteninhalte zu verbreiten. 138 6 Grundlegendes zu Funktion und Verbreitung von Schmähschriften 1 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *178. 2 Dies geht aus einem Brief Langeners an den Amtschösser Kynast vom 10.08.1573 hervor, ebd. 3 Überliefert sind drei umfangreiche Akten: HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 24; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25. Sie enthalten vorrangig pro‐ zessrechtliche Korrespondenzen, Protestationen und Replikationen über Fristsetzungen, Kautionsforderungen und ähnliche Themen - die ältere Literatur spricht nicht zu unrecht von einem „unförmlichen“ Prozess, vgl. L U C I U S , Damian Pflugks’s auf Canitz Streit (1846), 7 Schmähschriften als weapons of the weak und die Bedeutung mündlicher Kommunikation. Die Scheltbriefe des Andreas Langener in Dresden (1569) Als der Gottesdienst in der Dresdner Kreuzkirche am Sonntagmorgen, dem 19. Juni 1569 endete und die Gläubigen den Bau verließen, bildete sich um einen an der Kirchentür angenagelten Aushang eine Menschentraube. Eine ganz ähnliche Szene spielte sich etwa gleichzeitig knappe zehn Gehminuten entfernt am Eingang des kurfürstlichen Residenzschlosses ab. Hier gruppierten sich Mitglieder des Hofes, die eben die Schlosskapelle verlassen hatten, ebenfalls um mehrere angeschlagene Bögen Papier. Der Autor dieser Schriften wieder‐ holte seine Aktion tags darauf an einem Tor der alten Elbbrücke. Es handelte sich um den eigentlich in Nürnberg wohnhaften Krämer Andreas Langener, der auf diese Weise gegen den sächsischen Adligen Tham Pflugk vorging. Hintergrund war ein Jahre zurückreichender Streit der beiden Männer um eine Entschädigungszahlung an Langener. Dieser gedachte, die Schmähschriften als Druckmittel gegen Pflugk zu verwenden, der Langener jedoch inhaftieren ließ und gemeinsam mit seinem Bruder in einem mehrjährigen Akkusationsprozess belangte. Die Zeit von Juni 1569 bis Herbst 1571 verbrachte der Angeklagte in einer Dresdner Gefängniszelle, bevor er auf Kaution entlassen wurde. 1 An dem Prozess, der vor einer Kommission der Landesregierung geführt wurde, die zu diesem Zweck mehrere Verhörtermine und Zeugenbefragungen ansetzte, nahm Langener mindestens seit Anfang August 1573 aus der Ferne, nämlich aus seiner Heimatstadt Nürnberg teil. 2 Ein Ausgang ist erneut nicht überliefert, die Quellen versiegen im Jahr 1574. Die Überlieferung stellt sich aber insgesamt ungleich besser dar als im Leipziger Fall, 3 sodass der konkrete Konfliktverlauf, der bereits Jahre vor den beschriebenen S. 91. Sie bieten der folgenden Untersuchung jedoch reichhaltiges Material in Form von Protokollen von Verhören und Zeugenbefragungen, Klage- und Leuterungsschriften, meh‐ reren Supplikationen des Angeklagten, Berichten der Kommission an die Landesregierung sowie Zwischenurteilen des Wittenberger Hofgerichts. Ereignissen einsetzte, und die Rolle der Schmähschriften innerhalb desselben Betrachtung finden können. Dabei wird der Charakter der Schmähschriften als Waffe in einer asymmetrischen Konfliktkonstellation akzentuiert, die sich aus den sehr unterschiedlichen sozialen Positionen der Kontrahenten ergab (Kap. 7.1). Außerdem gestattet es die Quellenlage, die Kommunikationsstrategie Lan‐ geners und die sich daraus ergebende Anschlusskommunikation in der Stadt en detail nachzuvollziehen, sodass die im vorherigen Kapitel angesprochenen Mechanismen schriftlicher und mündlicher Verbreitung in ihrer Wirkung auf die Herabsetzung eingehender untersucht werden können. Besondere Beachtung erfahren dabei öffentliche Orte und ihre Funktionen für Verbreitung und Wirkung der Schmähung, sowie die Verbindung von Schmähschriften und Gerüchten, die als relevanteste Kommunikationsform von der Klägerseite hervorgehoben wurden (Kap. 7.2). Ein weiterer Unterschied zum Fall des Heinrich Gratz besteht in der Art der Schmähschriften: Im Dresdner Prozess ging es nicht um kurze, anonyme und potentiell komische Pasquille, sondern um mehrseitige Anklagebzw. Drohschriften zur Handlungsaufforderung, die aufgrund ihres Inhalts und ihrer Funktion weitgehend den von Matthias L E N TZ bearbeiteten Scheltbriefen gleichen. Zwar wurde Langener zunächst verhaftet, die Beschaffenheit seiner Schriften bot ihm jedoch den notwendigen juristischen Spielraum, um Argumente zur Verteidigung seines Vorgehens vorzubringen. Daher bietet der Prozess die Möglichkeit, die juristische Praxis zu untersuchen, wobei sich im Vergleich zu den bereits behandelten Gesetzestexten zum Teil deutlich differenziertere Normen zum Umgang mit Schmähschriften zeigen, letztere sogar als Beitrag zum Gemeinen Nutzen angesehen werden konnten (Kap. 7.3). 7.1 Die Rolle der Schmähschriften im Konfliktverlauf 7.1.1 Eine asymmetrischen Konfliktkonstellation - die Akteure Langener und Pflugk Die Beteiligten des im Folgenden skizzierten Konfliktgeschehens zeichnen sich vor allem durch enorme Unterschiede nicht nur in ihrem Stand, sondern in ihrer sozialen Position insgesamt aus, was großen Einfluss auf den Verlauf des Streits nahm. 140 7 Schmähschriften als weapons of the weak 4 So amtierte Benno Pflugk († nach 1579) als kursächsischer Oberaufseher der sequest‐ rierten Grafschaft Mansfeld, Julius Pflugk (1499-1564) hatte als letzter katholischer Bischof von Naumburg unter anderem am Augsburger Interim von 1548 mitgearbeitet, sein Vater Cäsar Pflugk (†1524) hatte den Vorsitz bei der Leipziger Disputation inne. Unter Herzog Albrecht dem Beherzten, dem Gründer der albertinischen Linie der Wettiner, diente Sigmund Pflugk (†1510) als Kanzler. Andreas Pflugk (1480-1542) war unter anderem Richter am Leipziger Oberhofgericht. Schon dessen Vater Nickel Pflugk (†1482) war im 15. Jahrhundert Berater und Amtmann mehrerer sächsischer Herzöge und Kurfürsten gewesen. Die Daten und Informationen sind der Sächsischen Biographie des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (<https: / / saebi.isgv.de/ >) entnommen, siehe insbesondere: K U N Z E , Andreas Pflugk (2015); K U N Z E , Nickel Pflugk (2006). 5 „In Kursachsen etwa bezeichneten Zeitgenossen die Familien Bünau, Pflug, Schleinitz und Schönberg als die vier Säulen der meißnischen Ritterschaft - aber auch Carlowitze, die Herren von Miltiz, von Friesen und von Einsiedel sind hierher zu rechnen“, K E L L E R , Dresdner Hof (2001), S.-224. 6 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 24, fol.-24 r . 7 Greifbar wird Alexander Pflugk als Auftraggeber eines Buches über Pferde, s. A D E L U N G ; R O T E R M U N D , Gelehrten-Lexikon (1819), Sp.-30. 8 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *12-*18. Die Klägerseite bestand aus den Brüdern Tham und Alexander Pflugk. Sie entstammten einem sächsischen Uradelsgeschlecht, dessen Mitglieder im 16. Jahrhundert immer wieder wichtige Ämter in Kursachsen bekleideten. 4 Der große Einfluss der Familie und ihre starke Vernetzung zeigen sich im Prozess gegen Andreas Langener an den von den Brüdern aufgerufenen Zeugen, die allesamt bedeutenden sächsischen Adelsfamilien entstammten, nämlich den von Bünau, Schönberg, Schleinitz, Miltitz und Carlowitz. Mit den meisten dieser Familien - vier wurden von den Zeitgenoss: innen als „Säulen der meißnischen Ritterschaft“ bezeichnet 5 - waren die Pflugk verschwägert. Ein im Prozess angefallener Konflikt über die Aufstellung der Zeugen beweist darüber hinaus, wie eng die Verbindungen zur Landesregierung waren: Einige der ursprünglich vorgesehenen Zeugen wurden abgelehnt, da es prozessrechtlich verboten war, zugleich Zeuge und Teil derjenigen Instanz zu sein, die das Urteil fällte, in diesem Fall die Landesregierung. 6 Tham Pflugk, das Ziel der Schmähschriften, hatte seinen Wohnsitz in Canitz bei Riesa, etwa einen halben Tagesritt von Dresden entfernt, und war Lehnsmann des sächsischen Kurfürsten. Sein Bruder Alexander, der als Kläger vor Gericht fungierte, war kurpfälzischer Hofrat und Landrichter zu Auerbach, außerdem Schlossbesitzer zu Thurndorf in der Oberpfalz. 7 An dem Tag, an dem Langener die Schmähschrift an ein Tor der Elbbrücke anschlug, war Alexander zufällig auf dem Weg nach Dresden, sodass er die Schrift persönlich abnehmen und Langener verhaften lassen konnte. 8 7.1 Die Rolle der Schmähschriften im Konfliktverlauf 141 9 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *9 r : „gibt vor, Zuckermacher zu sein“; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 24, fol. 15 v : die Unterschrift unter der angeschlagenen Schmähschrift lautet „andreas langener von suhle“. 10 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol.-*149 r . 11 M E I N H A R D T , Dresden im Wandel (2009), S. 583. Außerdem wird in den Akten auch der Dresdner Apotheker Johannes under der Linden als Ersatzlieferant für Zuckerwaren erwähnt: HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol.-*198 v . 12 H I R S C H , Biographisches Lexikon (1886), S.-607. 13 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *158 r -*161 r . 14 L A N G N E R , Promptuarium (1575). 15 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. 16 Ebd., fol. *68 r f.: „Durchleuchtigste hochgebornne kunigin, und churfurstin genedigste frau. Auf e. c. g. bevelich habe ich noch zwehene stocke zu richten lassen, dieweils aber meines bedunkens alhie ins geldt lauffen möchte, will e. churf. gn. underthenigst Gerade dass der Angeklagte Andreas Langener weitaus schwerer zu greifen ist, verdeutlicht seine geringere soziale Position. Im Prozess wird er von den Klägern und Zeugen als zuckermacher aus Suhl benannt, wobei es sich hierbei zugleich um eine Selbstbezeichnung handelte. 9 Die Kommission nannte ihn in einem Bericht an die Regierung einen apoteker, 10 eine Doppeltätigkeit, die im 16. Jahrhundert auch in Dresden eher die Regel als die Ausnahme dar‐ stellte. 11 Daneben liegen keine weiteren gesicherten Informationen zur Person Langeners vor. Folgt man jedoch den oben genannten Spuren, stößt man auf einen Andreas Langner (*1548), der etwa zur selben Zeit als praktizierender Arzt aus Suhl in Erscheinung trat. 12 Auch der Angeklagte Langener gab an, medizinisch tätig gewesen zu sein: […] das er schlaghaffttige patienten, so alhie alle medici pro desperatis geachtet, curirtt undt zue irer gesundtheitt mitt gottes hulffe restituirtt hatt. 13 Die bekannteste Schrift des Arztes aus Suhl erschien zudem nur drei Jahre nach der Entlassung Langeners aus der Haft in Leipzig, dem Ort, wo Langener und Pflugk sich zum ersten Mal begegnet waren. 14 Aber auch ohne eine sichere Identifizierung Langeners lässt sich festhalten, dass er über ein nicht unerhebliches Maß an Bildung verfügte und in der Lage war, seine Schriften selbst zu verfassen. Dabei bewies er sowohl Lateinkenntnisse als auch profundes Wissen über sächsisches Recht, vor allem in Bezug auf einzuhaltende Fristen, die Zulassung von Zeugen und die Bereitstellung von Kautionen. Professionelle Unterstützung erhielt er offenbar nicht, da er sich nach eigener Aussage keinen Anwalt leisten konnte. 15 Diese Betonung seiner Armut war jedoch vorrangig taktischer Natur, da aus seinen Supplikationen an die sächsische Kurfürstin Anna hervorgeht, dass sich seine Handelstätigkeiten immerhin bis an den Hof erstreckten. 16 Wie später noch zu zeigen sein wird, flossen seine Bildung und sein juristisches Knowhow wohl in die von ihm 142 7 Schmähschriften als weapons of the weak heimstellen, unnd bescheits erwartten, ob e. churf. gn. die zugesagte wappen entweder alhie oder zu nurenbergk will geschnitten haben […]“. 17 Ebd. 18 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *58 r . 19 Eine alte und teils fehlerhafte Darstellung der Ereignisse findet sich in: L U C I U S , Damian Pflugks’s auf Canitz Streit (1846). 20 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *147-*153. 21 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *196 r . verfassten Schmähschriften ein und verhinderten ein schnelles Urteil. Daneben ist auf sein Temperament und streitbaren Charakter hinzuweisen, der vor allem bei seinen drastischen Angriffen auf den Anwalt der Gegenseite durchscheint, den er u. a. als wunderbarlich monstrum bezeichnete. 17 Sogar die Kommission, ansonsten in ihren Berichten weitestgehend neutral, hielt gegenüber der Regie‐ rung fest, dass Langener als Querulant zu gelten habe: dieweil wir ohne diß berichtett, daß der Langener, ein solcher mensch dem niemandt es recht thun kann [sei]. 18 Es ist gerade diese Mischung aus Intelligenz und kaum gezügelten Affekten, die Langeners Handeln prägte. Die Unterschiede in der sozialen Position der streitenden Parteien waren letztlich groß: auf der einen Seite der wohlhabende Adlige Tham Pflugk, der nicht nur auf kursächsischem Territorium lebte, sondern auch politischen und gesellschaftlichen Einfluss geltend machen konnte - auf der anderen Seite Andreas Langener, ein ortsfremder Zuckerbäcker, dessen finanzielle Lage zumindest fraglich und der selbst ohne nennenswerten Einfluss war. 7.1.2 Der Konfliktverlauf und Langeners Schmähschriften als weapons of the weak Der Streit zwischen Tham Pflugk und Andreas Langener, der sich über mindes‐ tens 7 Jahre hinzog und sich über Berichte der Beteiligten sowie die Aussagen der Zeugen rekonstruieren lässt, begann im Sommer 1567. 19 Die beiden Männer lernten sich zunächst als Geschäftspartner in Leipzig kennen, als Pflugk bei Langener Süßspeisen für seine Hochzeit bestellte. Ob sie bei dieser Gelegenheit einen schriftlichen Kaufvertrag geschlossen hatten, war später strittig. Langener sagte aus, den Vertrag lediglich verloren, Tham Pflugk verneinte, jemals einen schriftlichen Vertrag geschlossen zu haben, entsprechend könne Langener auch keine Niederschrift desselben vorlegen. 20 Allerdings wussten Pflugks eigene Zeugen von der Existenz eines tagszeddel[s]. 21 Man hatte also zumindest eine informelle Abmachung über die Lieferung zum Hochzeitstermin getroffen. Für den weiteren Ereignisverlauf brachten beide Parteien unterschiedliche Versionen vor. 7.1 Die Rolle der Schmähschriften im Konfliktverlauf 143 22 Ebd. 23 Ebd., fol.-*36 v . 24 Ebd., fol. *36 v f. 25 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-250. 26 Vgl. S C H I N D L E R , Widerspenstige Leute (1992), S.-59-61. 27 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *150 r . Langener behauptete, dass er zunächst die Ware wie bestellt und unter der Aufbringung großer Unkosten nach Canitz gebracht habe. Dort sei sie von Tham Pflugk zunächst inspiziert und für gut befunden worden. Als Langener ihm jedoch einen Preis genannt habe, sei Pflugk zornig geworden und habe nicht nur den Preis, sondern die Ware insgesamt abgelehnt. Schnell sei es zu Beleidigungen, Sachbeschädigung, schließlich zu physischer Gewalt und einer Art ‚Hausfriedensbruch‘ gekommen. Dabei habe Pflugk ihn einen Schelm gescholten und einen töhnern berenn 22 (vermutlich zur Herstellung von Mar‐ zipanfiguren oder als Dekoration) zerstört. Daraufhin habe Langener seinen Wagen gepackt, während Pflugk ihm aus seinem Fenster hinterhergerufen habe: du schelm laß die wahr do, oder ich will dich gruelich abschmieren[! ] 23 Nachdem Langener die Bezeichnung als Schelm von sich gewiesen habe, sei Pflugk ihm In einen langen schlaff peltz nachgefolgett und mit einer langen starcken stangen, forne mit eisen beschlagenn, auff den kopff mit grim geschlagen, davon ihme eine grosse beull auf gelossenn, und ihn zugleich mehr vor einen schelmen gescholten, und sonsten also ihn zuvor gewaltigenn vorgenehmen, daß er beneben den seinen hett entfliehen, und seine wahre hinder sich vorlossen mussen. 24 Die Ware sei anschließend in ein feuchtes Kellerloch gebracht worden, um darin zu verrotten. Die Betonung der Stockschläge in Langeners Schilderung hob die herabsetzende Qualität der Angriffe hervor, handelte es sich doch um eine Form der physischen Gewalt, die „ein hierarchisches Gefälle zwischen demjenigen, der die Gewalt ausübte, und demjenigen, dem die Gewalt zugefügt wurde“ vermittelte. 25 Insgesamt zeichnen die Ausführungen Langeners das typische Bild eines adligen Habitus, der am Beginn der Frühen Neuzeit noch stark von Gewalt und Jähzorn geprägt war. 26 Pflugk bestritt jedoch, Langener in seinem Haus geschmäht, einen Schelm ge‐ nannt und zwischenn den thorenn ubell vergewaltiget, geschlagenn unnd beraubet [zu] habenn. 27 Er und sein Bruder machten allerings keine genaueren Angaben zum Ablauf der Ereignisse des Jahres 1567. Nach den Aussagen des Rudolf von Carlowitz war Langener erst einige Tage nach dem vereinbarten Zeitpunkt in Canitz eingetroffen - als die Hochzeit bereits vorbei war. Da er die Abmachung gebrochen habe und Pflugk die Süßspeisen verständlicherweise nun nicht mehr 144 7 Schmähschriften als weapons of the weak 28 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *198 v -*200 r . 29 Ebd., fol. *124 r -*127 v . habe gebrauchen können, habe dieser die Annahme und Bezahlung der Ware verweigert. Pflugk war also im Vorfeld bereits von einer Verspätung Langeners ausgegangen und hatte zwischenzeitlich einen Dresdner Apotheker beauftragt, der einige Tage vor Langener und damit rechtzeitig geliefert hatte. Carlowitz zufolge war es Langener, der den Streit vom Zaun gebrochen hatte. Pflugk habe sich lediglich zur Verteidigung mit einer straidgabel bewaffnet und nur versehentlich den genannten tönernen Bären beschädigt. Im Anschluss sei Langener davongegangen und habe die Ware zurückgelassen, welche Pflugk daraufhin nicht etwa in ein Kellerloch, sondern in die Kirchensakristei verbracht habe. 28 Die Schuldfrage ist nicht mehr zu klären. Es lässt sich hier aber eine typische Auseinandersetzung nach den Regeln frühneuzeitlicher Streitkultur ausmachen: Von einem Dissens über einen bestimmten Sachgrund ausgehend (wer hat für die angefertigte Ware zu zahlen, wer hatte sich ‚vertragsgemäß‘ verhalten? ) fühlten sich beide Seiten betrogen und damit in ihrer Ehre gekränkt. Auf diese Kränkung reagierten die zwei Männer ihrerseits mit Beschimpfungen, die dem zeittypischen Kanon entstammten (schelm) und zum Hintergrund der Auseinandersetzung passten (dieb). Auf diese Weise kam es zu einer Eskalations‐ spirale, die letztlich in Gewalt und die Vertreibung des Unterlegenen mündete. Der Sachkonflikt wurde dabei jedoch zunächst nicht gelöst. Diese Auseinandersetzung wurde offenbar von Langener vor Gericht ge‐ bracht. Leider liegt diesbezüglich nur eine Kopie des daraus hervorgegangenen Abschieds der kurfürstlichen Regierung vom August 1568 vor, aber kein Pro‐ zessschriftgut. 29 Aus dem Abschied geht hervor, dass Langener die Angriffe gegen ihn und den Verlust seiner Ware vor der Landesregierung beklagt hatte. Die Angelegenheit fiel in deren Zuständigkeitsbereich, da es sich bei der Familie Pflugk um schriftsässigen Adel handelte. Die Regierung vermittelte an einem ersten Verhörtag am 2. Januar 1568 einen Kompromiss des Inhalts, dass Pflugk Langener seine Ware zurückgeben und 25 Taler zahlen sollte. Über die hierauf folgenden Ereignisse existieren wieder zwei unterschiedliche Versionen. Pflugk behauptete, er habe seinen Richter instruiert, Langener bei seiner Ankunft in Canitz die Waren und das Geld auszuhändigen. Der Richter habe Langener auch die Waren angeboten, sich jedoch wegen des Geldes erneut mit Pflugks Schösser besprechen wollen. Ob der Richter im Anschluss Langener das Geld überreicht hatte oder nicht, geht aus den Beschreibungen des Vorgangs nicht hervor, auf jeden Fall war Pflugk der Meinung, dem ersten kurfürstlichen Befehl genüge 7.1 Die Rolle der Schmähschriften im Konfliktverlauf 145 30 Ebd., fol.-*126 r . 31 Ebd., fol. *127 v . 32 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *69 r -*70 r . 33 Besonders deutlich wurde Langener bezüglich dieser Vorwürfe in einem Brief an Johann Casimir von Pfalz-Simmern, ebd., fol. *74 v -*76 v . getan zu haben. Langener hingegen beklagte sich darüber, dass er in Canitz zwar vom Richter empfangen worden wäre, dieser ihm jedoch weder Ware noch Geld ausgehändigt, sondern ihn aufgefordert hätte dz ehr sich auß seinen gerichten weg machen solte. 30 Langener blieb nach eigener Aussage noch vier Tage in Canitz, allerdings ohne Erfolg. Infolgedessen wurde ein zweiter Anhö‐ rungstermin festgelegt, der am 14. August 1568 stattfand. Zu diesem Zeitpunkt war Langener nicht mehr bereit, die Ware und die 25 Taler anzunehmen, die zuvor ausgehandelt worden waren. Er verlangte nun die waghalsige Summe von 300 Gulden, die angeblich dem zuvor geschlossenen Kaufvertrag entsprach. Pflugk hingegen behauptete, es hätte gar keinen schriftlichen Kaufvertrag gegeben und war entsprechend nicht zur Zahlung bereit. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Langener den Räten seinen Kalender aus dem Vorjahr vorlegte, auf dem die Abmachung schriftlich festgehalten war. Neben diesen Unstimmigkeiten in der Sache warfen sich Langener und Pflugk nun gegenseitig Injurien vor. Da keine Einigung im Guten erreicht werden konnte, wurden die Parteien von den kurfürstlichen Räten auf den Rechtsweg verwiesen. Sie sollten die Klagen in der Hauptsowie der Injuriensache zu recht an geburlichen ortten anbringen. 31 Es drängt sich der Eindruck auf, dass Pflugk sich des Konfliktes weitestgehend entziehen wollte, auch der Kompromiss schien ihm lästig. Darauf verweist schon die Tatsache, dass - wie der Befehl kritisch festhält - er zum ersten Anhörungstermin im Januar nicht persönlich erschienen war, sondern lediglich seinen Schösser geschickt hatte und dies zudem mit unzureichenden Instruktionen. Gegen die von Langener vorgelegten Aufzeichnungen zur ge‐ meinsamen Übereinkunft konnte er genauso wenig gute Argumente anführen wie gegen die Tatsache, dass Langener offenbar nicht direkt sein Geld und seine Ware erhalten hatte. Nach dem zweiten Befehl versuchte Langener erfolglos, Pflugk auf dem darin angeratenen Rechtsweg zu begegnen. Seiner Meinung nach waren die Parteien aufgefordert worden, innerhalb von zwei Monaten zwei schriftliche Rechtferti‐ gungen vorzulegen, um einen Austrag des Streits zu ermöglichen. 32 Nach eigener Aussage habe er eine solche Rechtfertigung vorgelegt, sein Gegenüber sei ihm jedoch die Antwort schuldig geblieben und habe auch mit rechtlichen Mitteln und durch Aufforderungen der obrigkeitlichen Amtsleute nicht dazu gebracht werden können. 33 Insgesamt blieb Langener in Erwartung einer rechtlichen 146 7 Schmähschriften als weapons of the weak 34 Ebd., fol. *71 r -*72 v . Die Abschrift der Supplikation enthält keine Datumsangabe, ihr Inhalt lässt jedoch darauf schließen, dass sie kurz vor der Anbringung der Schmäh‐ schriften angefertigt wurde. Auseinandersetzung nach eigenen Aussagen fünf Quatember - also über ein Jahr - in Dresden, was seine finanziellen Ressourcen massiv belastete. Darüber hinaus war er überzeugt, dass Pflugk rechtlich verpflichtet worden sei, bis zum Austrag der Angelegenheit in Dresden zu verweilen und die Stadt nicht zu verlassen. Dass Pflugk sich nach Canitz begeben hatte, legte Langener ihm somit als unerlaubtes Entfernen und als Missachtung obrigkeitlicher Gebote aus. Da Pflugk sich nicht regte, wandte sich Langener zunächst in einer Supplik an Kurfürst August, die von Pflugk später ebenfalls als Schmähschrift bezeichnet wurde. Er gab darin vor, sich weiterhin an den geschlossenen Kompromiss halten zu wollen, der vorsah, dass beide Parteien innerhalb von zwei Monaten schriftlich Position bezogen und sich an das darauf erfolgende Urteil zu halten. Bezüglich Pflugk führte er aus: […] hat nuhn mein kegentheil ehr, erbarkeith redligkeit lieb, und weis sich gerecht, so verwillige auch darein. […] Will ehr aber das jederman ihn (Tham Pflugk uf Kanutz meine ich) fur einen losen ehrenlosen, ehrenvergessenen man (doch den adellichen stand hiemit unangetastet) haltten und scheltten soll, der kein ehr, kein redligkeith mehr noch erbarkeith noch sein sehll sehligkeith noch got im himmel mehr achte noch liebe, so verwiedere sich in vorgehalttenem compromis zuverwilligen, wirdt ehr sich mit der anthwordt seumen will ich furwehr bey meinen ehren, ihn öffentlich gleichergestaldt wie itzo geschieht ahnschlagen und ermahnen, damit ehr zum bahren gebracht werde das nit ohn ursachen geschehen soll mit underthenigster bith e. churf. gn. wolle sich dieses nicht ahnnehmen, sondern der zeith erwartten, bitz man sehe das einer gerecht und wieder got und alle pilligkeit beschweret und der ander ein loser verlogener unflath gewesen sey. 34 Die Supplik drückt zum einen noch einmal deutlich Langeners Frustration dar‐ über aus, dass Pflugk sich weder von ihm noch von den kurfürstlichen Erlassen dazu bewegen ließ, den rechtlichen Austrag des Streits zu suchen. Zum anderen verdeutlicht sie bereits, was an anderer Stelle noch ausführlicher besprochen wird: Langener drohte hier ganz offen mit dem öffentlichen Anschlag einer Schrift für den Fall, dass Pflugk sich weiterhin verweigern sollte. In dieser Darstellung behandelte er einen solchen Aushang somit keinesfalls als illegale Schmähschrift, sondern eher als konsequenten nächsten Schritt innerhalb des gebotenen rechtlichen Rahmens. Zugleich stellte er mit diesem Schreiben bereits Pflugks Ehre vor der Landesregierung offen in Frage. 7.1 Die Rolle der Schmähschriften im Konfliktverlauf 147 35 Ebd., fol. *2 r . 36 Ebd., fol. *6 r . 37 L E N T Z , Defamatory Pictures and Letters (2000), S.-146. 38 Vgl. R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-398. Nach Aussage Pflugks hatte Langener anschließend nun sein eigen richter sein wollen. 35 Diesmal sei er persönlich zur Regierung gelaufen und habe darum gebeten, die angedrohte Schmähschrift über Pflugk anschlagen zu lassen, was ihm unter Androhung von Strafe verboten worden sei. Allerdings habe er sich davon nicht abhalten lassen und die Schriften schließlich eigenmächtig angebracht. 36 Aus Langeners Sicht dienten die Schmähschriften einzig dazu, Pflugk wieder nach Dresden und zum Einreichen einer Rechtfertigungsschrift zu fordern. Für ihn, das zeigt schon die selbstbewusst vorgebrachte Aufforde‐ rung an die Regierung, die Schmähschriften aufhängen zu lassen, handelte es sich bei diesen um ein legitimes, ja legales Mittel. Von diesem Eindruck, nämlich im umfassenden Sinn im Recht zu sein, brachte ihn auch das Verbot der Regierung nicht ab. Der Gang vor Gericht hatte den Konflikt zunächst zwar in geordnetere, nämlich rechtliche Bahnen gelenkt, ihn allerdings nicht gelöst. Als der rechtliche Austrag aus Sicht Langeners stagnierte und ihn einer befriedigenden Lösung nicht näherbrachte, griff er zum vielleicht letzten ihm noch zur Verfügung stehenden Mittel: Über den Anschlag von Schmähschriften wandte er sich an die Öffentlichkeit, um Pflugk zum Handeln zu bewegen. Er verließ damit nach eigener Überzeugung jedoch nicht die Sphäre legitimer Konfliktbewältigung, ja nicht einmal den rechtlich gebotenen Rahmen. Offenbar wollte Langener den Konflikt nicht unkontrolliert eskalieren lassen, es ging ihm lediglich darum, Pflugk an den Verhandlungstisch zurückzuholen. Im Gegensatz zu den verbalen Aggressionen des ursprünglichen Streits handelte es sich bei den Schmähschriften nicht allein um spontane affektive Ausbrüche, sondern um wohlüberlegte und gezielt ausgeführte Angriffe auf die Ehre des Tham Pflugk. Sie sind in dieser Hinsicht, abgesehen von der Tatsache, dass es Langener nicht allein um die Begleichung finanzieller Schulden ging, der Gruppe der Scheltbriefe zuzuordnen: Sie wurden in einem Moment der Hilflosigkeit genutzt, um Vertragsbestimmungen durchzusetzen und machten den privaten Disput über ein finanzielles Problem zu einer Sache öffentlichen Interesses. 37 Die Ereignisse zeigen deutlicher noch als der vorangegangene Fall des Heinrich Gratz, dass die Schmähschriften nicht für sich standen, sondern eingebettet waren in einen bestehenden Konflikt, in dessen Verlauf bereits meh‐ rere Instrumente des Konfliktaustrags und Invektiven zum Einsatz gekommen waren. 38 Und auch hier stellte der Schmähschriftenstreit einen prototypischen 148 7 Schmähschriften als weapons of the weak 39 L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S.-257. 40 V O N T R O T H A , Distanz und Nähe (1986), S. 31-33, 31: „Gewalt ist grundsätzlich gegen‐ wärtig, weil Gewalt eine Handlungsweise für jedermann, eine Jedermanns-Ressource ist.“ 41 Ebd., S.-32. 42 S C O T T , Weapons of the Weak (1985), bes. S.-28-37. 43 Ebd., S.-36: „Everyday forms of resistance make no headlines.“ Stellvertreterkonflikt dar. Der Einsatz der Schmähschriften „bot die Möglichkeit, jenen ursprünglichen Konflikt neu zu verhandeln beziehungsweise den Gegner, der dazu unter Umständen sonst nicht bereit gewesen wäre, mit Hilfe einer öffentlichen Beleidigung zu einer Neuverhandlung zu zwingen.“ 39 In Form der Schmähschriften hatte Langener einen Hebel gefunden, der standesübergrei‐ fend und weitgehend unabhängig von den verfügbaren Machtmitteln Wirkung entfaltete. Zuvor hatte Pflugk die Situation offenbar für mehr als ein Jahr einfach aussitzen können, hatten Langeners schriftliche Aufforderungen und alle Supplikationen an die Obrigkeit nichts bewirkt. Pflugk war durch seine soziale Position, das Wohlwollen seiner Standesgenoss: innen bei Hof und nicht zuletzt seine Abwesenheit geschützt gewesen. All dies verhinderte jedoch nicht, dass die von Langener angebrachten Schmähschriften ihn empfindlich treffen und zur Reaktion zwingen konnten. Dass die Schmähschriften weitgehend unabhängig von den verfügbaren Ressourcen oder Machtmitteln eingesetzt werden konnten, macht sie zu einer Art „Jedermanns-Ressource“ im Sinne Trutz V O N T R O THA S . 40 Freilich ist diese Zuordnung insofern einzuschränken, als V O N T R O THA den Begriff auf Gewalthandlungen anwendet und damit eine Fähigkeit beschreibt, die dem Menschen gleichsam instinktiv und von Geburt an als „situationsunabhängiges Können“ 41 zur Verfügung steht. Dies trifft auf Schmähschriften, die ein gesteigertes Maß an Situationsbewusstsein und Kalkül sowie einen zumindest indirekten Zugang zu Bildung und Alphabetisierung voraussetzen, so nicht zu. Allerdings verweist V O N T R O THA hinsichtlich der Situationsunabhängigkeit des Gewalteinsatzes auch explizit auf das Beispiel David gegen Goliath. Bezüglich solcher asymmetrischen Konfliktkonstellati‐ onen, wie sie der Fall des Andreas Langener exemplifiziert, scheinen Schmäh‐ schriften aber noch stärker als physische Gewalt eine Handlungsoption der Unterlegenen, gleichsam „Weapons of the Weak“ 42 dargestellt zu haben. Auch dieser durch den Politologen James C. S C O TT geprägte Begriff, der Formen alltäglichen, gleichsam geräuschlosen und konfrontationsfreien Widerstands von Untertan: innen gegen sie beherrschende Schichten beschreibt, passt nicht in Gänze zu den gerade auf Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit abzielenden Schmähschriften. 43 Jedoch hebt er die Bedeutung dieser ‚Waffen‘ in solchen 7.1 Die Rolle der Schmähschriften im Konfliktverlauf 149 44 Ebd., S.-27, eigene Hervorhebung. Konflikten hervor, in denen sich die Parteien durch große Unterschiede in den verfügbaren Ressourcen auszeichnen, ordnet sie den individuellen Mitteln der Selbsthilfe zu und betont (Kommunikations-)Formen, die auch in den vorliegenden Schmähschriftenfällen relevant sind: „Only ‚backstage‘, where gossip, tales, slander, and anonymous sabotage mocks and negates the public ritual order, does elite control fall away.” 44 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus Die von Langener am 19. und 20. Juni 1569 in der Dresdner Innenstadt ange‐ schlagenen Schriften stellten inhaltlich vor allem eine Anklage gegen Tham Pflugk dar. Langener sprach seinen Gegner darin namentlich an und schilderte die Ereignisse des Jahres 1567 aus seiner Sicht. Damit stellte er Pflugk als wortbrüchigen, ausfälligen und gewalttätigen Mann dar. Er forderte ihn auf, sich nicht weiter dem rechtlichen Austrag zu entziehen, sondern nach Dresden zu kommen, um in der Sache eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Einem Druckmittel gleich sprach Langener außerdem ein Publikum an, dass dazu aufgerufen wurde, Pflugk bei Missachtung dieser Aufforderung als ehr‐ losen Mann anzusehen. Die Schriften erzielten umgehend Wirkung: Tham Pflugk kam innerhalb weniger Tage nach Dresden. Beide Pflugk-Brüder zeigten sich von den Schmähschriften empfindlich getroffen, was nicht allein aus ihrer Anklage hervorgeht, sondern auch aus der Tatsache, dass sie die Kosten für die Haft Langeners trugen und sich noch dazu nicht scheuten, hochadlige Zeugen vorladen zu lassen. Im Prozessverlauf wird durch die Anklageschriften Pflugks und im Zeugen‐ verhör deutlich, dass diese Wirkung der Schmähschriften nicht primär von ihren Inhalten oder den gebrauchten Worten herrührte (mit diesen befasste man sich nur am Rande), sondern vor allem aus der öffentlichen Verbreitung der Schmähung. Pflugk fürchtete den Eingang der Schriften ins Gerede und die Entstehung von Gerüchten. Die Thematisierung der Verbreitung der Schmäh‐ schriftenkommunikation vor der Kommission lässt Antworten auf die Fragen zu, wie Langener eine Öffentlichkeit ansprach und wie sich die Schmähung im Kommunikationsnetz der Stadt Dresden, aber auch darüber hinaus verbreitete. Es zeigen sich kommunikative Mechanismen, die im vorherigen Fall des Hein‐ rich Gratz unsichtbar blieben. 150 7 Schmähschriften als weapons of the weak 45 Die Angabe bezieht sich auf die Abschriften, da die Originale leider nicht vorliegen. 46 Scheltbrief des Andreas Langener (Anh. 2.3), Z.-1-3. 47 Ebd., Z.-113f. 48 B U R K E , Städtische Kultur (1996), S.-134. 7.2.1 Äußerliche Eigenschaften der Schriften Langeners Schmähschriften waren mit sechs Seiten für einen öffentlich an‐ geschlagenen Text außergewöhnlich lang. 45 Das Lesen, Vorlesen oder auch Abschreiben einer gesamten Schrift hätte definitiv einige Zeit in Anspruch genommen. Zum spontanen Abschreiben waren sie keinesfalls geeignet, ebenso wenig zum Auswendiglernen, zumal der Text keine die Mnemonik fördernde Reimform aufwies. Der Mangel dieser Eigenschaften beeinflusste die Form der Anschlusskommunikation erheblich, die, wie noch zu zeigen ist, primär mündlich und ohne detaillierte Text- oder Inhaltswiedergabe ablief. Da die Originale der Schmähschriften nicht überliefert sind, ist von ihrem äußeren Erscheinungsbild nichts bekannt. Allerdings hätten etwaige Bilder sicher Eingang in die Prozessüberlieferung gefunden, sodass von einem Fehlen derselben auszugehen ist. Bilder hätten zudem nicht zum offiziell anmutenden Charakter der Schriften gepasst, den Langener ganz bewusst inszenierte. Zu diesem Zweck versah er sie mit einer Übersowie Unterschrift. Die Überschrift lautete mit kaiserlicher maitt: privilegien angeschlagenn. Wieder kai: maitt: geleit unnd gewalt protestirent und verlieh dem folgenden Text somit explizit die Autorität des Kaisers. 46 In seiner Unterschrift (Andreas Langener von Suhla) 47 gab sich Langener eindeutig als Autor zu erkennen. Peter B U R K E unterscheidet Schmähschriften nach zwei Stilen. Der erste entspricht umgangssprachlichen Beleidigungen und Bedrohungen; die Schreiber achteten nicht auf Grammatik oder Rhetorik. Der zweite hingegen wird von B U R K E als ein literarischer oder poetischer, oft auch bürokratischer Stil beschrieben, der öffentliche Verlautba‐ rungen nachahmt, um dem Text durch diesen offiziellen Anstrich Autorität zu verleihen. 48 Langener verfasste seine Schmähschriften in einem ebensolchen bürokratischen, von langen verschachtelten Sätzen bestimmten Stil und un‐ terstützte dessen Wirkung noch durch das Anbringen an Orten, die selbst offiziellen oder obrigkeitlichen Charakter aufwiesen. 7.2.2 Die Nutzung öffentlicher Orte Andreas Langener hatte eine präzise Vorstellung von den Mechanismen öf‐ fentlicher Kommunikation in der Stadt Dresden. Bei der Anbringung seiner Schmähschriften nutzte er geschickt institutionalisierte Orte, Wege, Zeiten und 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 151 49 Vgl. R A U , Konstitution öffentlicher Räume (2011), S.-45, 59. 50 Ebd., S.-31; H O C H M U T H ; R A U , Einführung (2006), S.-19; S C H W E R H O F F , Öffentliche Räume (2004), S.-117. 51 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *11. Ähnlich lautend in HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 24, fol.-9 r . 52 Diese Ausnutzung von Gottesdiensten bei der Verbreitung von Schmähschriften wurde auch noch gut 200 Jahre später praktiziert, vgl. K U H N , Schmähschriften und geheime Öffentlichkeit (2008), S.-373. 53 Zur Konzentration auf den Sonntagsgottesdienst s. M A U R E R , Sonntag (2006), S. 80-88. Bemerkenswert erscheint, dass in Sachsen für die Dauer des Sonntagsgottesdienstes nicht nur die Niederlegung des Bergbaus (abgesehen von Notsituationen) angeordnet Kommunikationspraktiken, um seiner öffentlichen Schmähung Dynamik zu verleihen. 49 Besonders die Nutzung öffentlicher Orte erwies sich als wirkungs‐ voll. Langener wählte für den Anschlag der Schriften eine Tür der Kreuzkirche, ein Tor des Residenzschlosses sowie ein Tor der Elbbrücke. Alle drei Stellen können als ‚öffentliche Orte‘ bezeichnet werden, wie sie von Susanne R A U und Gerd S C HW E R H O F F gefasst werden: Sie waren durch die Bewegung von Menschen in der Stadt kommunikativ vernetzt und wiesen einen kaum regulierten Zugang und somit ein wechselndes Publikum auf. Ihre Lage an zentralen Plätzen und Wegen machte sie darüber hinaus zu relevanten Orten der Anwesenheitskom‐ munikation und der Meinungsbildung. 50 Die einzelnen Orte des Anschlags waren aber unterschiedlich geprägt und er‐ füllten verschiedene Funktionen, die auf die Wirksamkeit der Schmähschriften Einfluss nahmen und dabei über die reine Gewährleistung der Verbreitung hinausgingen. Kreuzkirche Item wahr daß desselbenn sontages denn 19. juni die articulirten famoßi und schme‐ heschriefft gleichs lautts unnd untter des angeclagten Anders Langeners nahmen an die pfahrkirche zu Dresdenn zum heiligenn creuz under der fruhe predigtt auch offentlich angeschlagenn, gewesen, damit dieselbige vonn wegenn menninge der leuthe, so damalß auch in grosser anzall, inn der kirche gewesenn unnd herauß gegangenn, desto weitter spargirtt wurde […] 51 Die erste Schrift schlug Langener am Sonntagmorgen zur Zeit des Frühgottes‐ dienstes an einer der Türen der Kreuzkirche an. 52 Seit der Einführung der Reformation konzentrierte sich das religiöse Leben besonders stark auf den Sonntag, an dem jedermann angehalten war, entweder zum Vormittags-, oder zum Nachmittagsgottesdienst zu erscheinen, so auch in Dresden, dessen reli‐ giösen Mittelpunkt die Kreuzkirche bildete. 53 Sie war zu dieser Zeit der größte 152 7 Schmähschriften als weapons of the weak wurde, sondern die Kirchenordnung von 1580 auf die Schließung der Stadttore festlegte (S. 85, Anm. 50). Zur Bedeutung der Dresdner Kreuzkirche s. H A S S E , Kirche und Frömmigkeit (2005), S. 461. Hasse bezieht sich zwar auf die Zeit vor der Reformation und bemisst den Wert der Kreuzkirche über die Anzahl der gehaltenen Messen. Aber auch wenn deren Zahl mit Einführung der Reformation stark reduziert wurde, ist nicht davon auszugehen, dass sich die zentrale Stellung der Kreuzkirche schlagartig änderte. 54 Zu dieser Multifunktionalität zusammenfassend: S C H W E R H O F F , Sakralitätsmanagement (2008), S.-49-52. 55 R O S S E A U X , Städte in der Frühen Neuzeit (2006), S.-99. 56 B R U N N E R , Öffentlichkeit in und um Kirchen (2007), S.-189. 57 Zum Verweis vieler Schmähschriften auf die göttliche Gerechtigkeit s. R U B L A C K , An‐ schläge auf die Ehre (1995), S.-390f. 58 B R U N N E R , Öffentlichkeit in und um Kirchen (2007), S.-189. Kirchenbau der Stadt und nahm auch durch ihre zentrale Lage am Marktplatz - wo sich zudem das Rathaus befand - eine besondere Position im städtischen Raum ein. Dank seines Timings zum Hauptgottesdienst konnte Langener sich also eines großen Publikums sicher sein, da ein großer Teil der Gemeinde auf dem Weg aus der Kirche an seinen Schriften vorbeigehen musste. Sakrale Räume zeichneten sich in Mittelalter und Früher Neuzeit durch ihre Multifunktionalität aus. 54 Neben der religiösen hatten Kirchen auch eine „zentrale Funktion in der weithin oralen Kommunikationskultur der frühneu‐ zeitlichen städtischen Gesellschaften [inne.] Als Orte, an denen sich regelmäßig und zuverlässig große Menschenmengen einfanden, eigneten sich die Kirchen in besonderer Weise für die mündliche Weitergabe von Informationen.“ 55 Hier tauschten sich die Menschen über aufregende Neuigkeiten genauso aus wie über Angelegenheiten des Alltags; von hier trug man die Informationen weiter in die Wohnhäuser und zu anderen Knotenpunkten städtischer Kommunikation. Darüber hinaus war die Tür einer Kirche zumeist der traditionelle Ort der Veröffentlichung offizieller Nachrichten und Mandate. 56 Die Menschen achteten also gewohnheitsmäßig darauf, ob an dieser Stelle etwas Neues zu sehen und zu lesen war. Außerdem konnte sich Langener die Autorität der an dieser Stelle gewöhnlich angehefteten Schriften zunutze machen und den durch die Er‐ scheinung der Schmähschrift bereits ausgedrückten offiziellen Charakter noch unterstreichen. Schließlich formulierten die Schriften durch ihre Platzierung an der Kirche symbolisch einen Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit, waren die Gotteshäuser doch Ort der geistlichen Gerichtsbarkeit und ihrer öffentlichen Schandstrafen. 57 Der Platz vor der Kirchentür wurde schon im Mittelalter häufig für Gerichtssitzungen genutzt, weil er einen „großen Grad an Öffentlichkeit bot und eine Verhandlung dort mit der Symbolik des Ortes als Pforte zu Gottes Gerechtigkeit in Verbindung gebracht werden konnte.“ 58 Dies fügte sich gut in 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 153 59 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *10 v f. 60 Zur baulichen Situation des Schlosses und der Schlosstraße s. O E L S N E R , Residenzschloss (2005). 61 B L A S C H K E , Dynastie - Regierung - Schloss (2005), S.-425. 62 Vgl. M Ü L L E R , Der Fürstenhof in der frühen Neuzeit (2004), S.-30. 63 K E L L E R , Dresdner Hof (2001), S.-209. 64 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *7 r . ‚Hoflager‘ hier in der Bedeutung einer ‚festen Residenz eines Fürsten‘, vgl. Art. „Hoflager“, in: DWB. 65 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 24, fol.-9 v . das Ansinnen Langeners ein, der in seiner Schrift die Ungerechtigkeiten Pflugks offenbaren und dadurch austilgen wollte. Residenzschloss Am selben Tag und zu ähnlicher Zeit, als auch am Hof des Kurfürsten Got‐ tesdienst gehalten wurde, nagelte Langener eine gleichlautende Schrift an ein Tor des Dresdner Residenzschlosses. Die Akten sprechen lediglich vom ‚Schlosstor‘ ohne genau zu spezifizieren, welches gemeint war. Da aber von der Frequentierung des Ortes durch adlige und nicht adlige und vom Kirchgang derselben gesprochen wird, 59 liegt der Schluss nahe, dass es sich entweder um das Tor der Hofkapelle handelte, oder aber um das zentrale Tor an der Schlossstraße. Letzteres scheint aufgrund der exponierten Lage wahrscheinli‐ cher: Die Schlossstraße führte vom Marktplatz am Schloss vorbei und durch das Georgentor zur Elbbrücke. 60 Da in Dresden keine räumliche Abgrenzung von Residenzschloss und Stadt existierte und das Gebiet um das Schloss einen zentralen Ort auch des bürgerlichen Lebens darstellte, war also wiederum ein großes Laufpublikum garantiert. 61 Vor allem war das Schloss der Ort des kurfürstlichen Hofes, der zwar noch keine barocken Ausmaße erreicht hatte, aber schon mehrere hundert Personen umfasste. 62 Langener sprach mit der Platzierung seiner zweiten Schrift also ganz gezielt ein Publikum an, das sich von demjenigen an der Kreuzkirche unterschied, schließlich war der Hof „Kristallisationspunk[t] jeweils regional begrenzter Adelsgesellschaften“, 63 in diesem Fall der sächsischen. Dies war der Grund dafür, dass Pflugk der Angriff auf seine Ehre am churfurstlichen hoff‐ lager 64 besonders beklagenswert erschien: Langener hatte Pflugks relevanteste Bezugsgruppe in den Konflikt involviert. Am Hof hielten sich besonders viele Personen auf, zu denen er intensive Beziehungen pflegte, häufig aus verwandten oder verschwägerten Familien, wie die Anwesenheit seines Schwagers Rudolf von Carlowitz belegt, der die Schrift letztlich abriss. 65 Diese Gruppe entschied in besonderem Maß über Pflugks Ehre, eine Herabsetzung im Kreis seiner adligen Peergroup und im direkten Umfeld seines Lehnsherrn konnte er noch 154 7 Schmähschriften als weapons of the weak 66 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *12 v f. 67 Zur Gestalt der Brücke im 16.-Jahrhundert s. O E L S N E R , Dresdner Elbbrücke (2008). 68 In Bezug auf die Brücke in Lyon verweist Rau auf ihre vielfältigen öffentlichen Funktionen, etwa als Marktplatz, Weg von Prozessionen, Hinrichtungsstädte und städtisches Symbol: R A U , Konstitution öffentlicher Räume (2011), S.-49. 69 H A S S E , Kirche und Frömmigkeit (2005), S.-461. 70 B L A S C H K E , Elbbrücke (2005). weniger unbeantwortet lassen als die vorherige im Kreis der Einwohner: innen. Da der Hof Ort adliger Standesrepräsentation war, sorgte sich Tham Pflugk entsprechend um seine Familien- und Standesehre: [Langeners Angriffe betrafen] nicht alleinn in gemein das uhralte adeliche ritterlich geschlecht der Pflugen, in allen vorneme adelich wirden jhe und alle wege loblich gestanden, geehrett und angesehen worden, sondern auch gedachte[n] Damian Pflugk [der] sich von jugent auff biss anhero an allen unnd jden ohrtenn mitt sein thun und lassenn, aller ehrlich adelich tugenden und lob wirdigen wandels, wie einem ehrlibenden adelich rittermessigen man anstehett und gezimet zum hochsten gebraucht unnd gehalten[…] 66 Hinzu kommt eine symbolische Funktion des Ortes, die der des ersten glich: Auch hier nahm die Schmähschrift gewissermaßen die Autorität des kurfürst‐ lichen Schlosses für sich in Anspruch. Elbbrücke Am darauffolgenden Montag schlug Langener seine dritte und letzte Schmäh‐ schrift an, diesmal an einem der drei Tore der Elbbrücke, an denen man im 16. Jahrhundert den Zugang von Altendresden nach Dresden kontrollierte. 67 Da Langener sich bereits zuvor am Residenzschloss orientiert hatte, kann man wohl vom stadtseitigen Georgentor ausgehen, das ganz in der Nähe des genannten Schlosstors lag. Brücken bildeten in Städten der frühen Neuzeit potentiell herausragende öffentliche Orte, wie Susanna R AU für Lyon zeigen konnte. 68 Der öffentliche Charakter der Dresdner Stadtbrücke wird unter anderem durch die Existenz einer eigenen Kapelle belegt, auf der bis zur Reformation einmal täglich Messe gehalten wurde. 69 Ihre Relevanz wird noch unterstrichen durch die Tatsache, dass sie zu den ältesten städtischen Strukturen zählt sowie dadurch, dass sie als Weiterführung der Schlossstraße die Hauptachse des Grundrisses der Stadt bildete. 70 Die Bedeutung für die Wirkung der Schmähschrift lag primär in der großen Frequentierung der Brücke begründet: Da es sich um die einzige Brücke über die Elbe handelte, war man auf dem Weg von Westen nach Osten 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 155 71 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *15 v . 72 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 24, fol.-14 r . 73 Johann Casimir regierte als Landesherr von Pfalz-Lautern seit 1576 und war von 1583 bis zu seinem Tod 1592 Regent der Kurpfalz, s. P R E S S , Art. „Johann Casimir“ (1974). 74 L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-153. oder umgekehrt gezwungen, sie zu nutzen. Besonders Kaufleute auf dem Weg nach Altendresden und in die Lausitz oder andersherum mussten an dieser Stelle den Fluss überqueren. Langener hatte gerade diesbezüglich erneut einen für ihn günstigen Zeitpunkt gewählt, da er die Schmähschrift anbrachte als in deren [allen gemeinsten ohrten] enden vornehmer margkt gehalten worden. 71 Damit bestand auch eine Verbindung des Ortes zum dem Inhalt der Schrift: Dass Langener sich eines gebrochenen Kaufvertrags wegen beschwerte, konnte bei den die Brücke passierenden Händlern auf Interesse stoßen und bedrohte zumindest theoretisch die Kreditwürdigkeit der Familie Pflugk. Unter dem Aspekt der kommunikativen Netzstruktur der Stadt stellte beson‐ ders die Brücke eine Anbindung an regionale und überregionale Netzwerke dar und ermöglichte damit die Verbreitung der Diffamierung über die Grenzen der Stadt hinaus. Die Akten belegen, dass dies auch eine Sorge der Kläger war, wenn es in Bezug auf das Brückentor heißt: Welche ende viel wandernte leuthe vom adell und sonst von wegen dero doselbst durchgehendenn landtstrassen, aus und einzureissen und zugehen pflegen. 72 Damit stellte die Brücke einen öffentlichen Ort dar, der durch das Fehlen jeglicher Zugangsbeschränkungen und damit eine besonders offene soziale Struktur geprägt war. Supplikationen an den Hof Zu den von Langener produzierten und verbreiteten Schmähschriften zählte die Anklage auch mehrere Supplikationen, die dieser vor und während seiner Gefangenschaft an Kurfürst August, dessen Frau Anna und Johann Casimir von Pfalz-Simmern (1576/ 1583-1592), den zukünftigen Pfalzgrafen bei Rhein, Ehemann der sächsischen Prinzessin Elisabeth (1552-1590) 73 und Lehnsherrn des Klägers Alexander Pflugk, schickte. Inhaltlich erscheint dies insofern be‐ rechtigt, als Langener in diesen Bittschriften dieselben Vorwürfe wie in den Schmähschriften erhob, sich einzelne Passagen sogar gleichen. Die Supplikationen können nicht im engeren Sinn zu den öffentlich angeschla‐ genen Schriften gezählt werden, da sie individualisiert und für die jeweils Adres‐ sierten gedacht waren. Allerdings wurde in diesen Briefen durchaus ein Publikum angesprochen, das über die einzelnen Adressat: innen hinausging, da man wusste, dass etwa die an den Kurfürsten gerichteten Suppliken von der Landesregierung bearbeitet wurden. 74 Man kann von einer Öffentlichkeit der Landesherrschaft 156 7 Schmähschriften als weapons of the weak 75 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *62 r . 76 Beispiele bei: K Ö S L I N , Ehrverletzung (1855), S.-424-426. 77 D A M H O U D E R , Praxis rerum criminalium (1571), fol.-248 r . 78 „Weil aber den hoffgerichten in ihrer ordnung freylassen / bißweilen die straffe zu‐ erhöhen / so haltens die schoepffenstuele nicht fuer ungelegen / wo die iniurien in kirchen und Rahthäusern und befreyten ortern / oder hohen fuer=nehmen personen geschehen.“, S C H N E I D E W E I N ; W E S E N B E C K ; T H O M I N G , Consultationes II (1599), S.-173. oder des Hofes sprechen, zu deren Teilnehmerkreis eben auch die Freund- und Verwandtschaft der Pflugks gehörte. Die Brüder erhielten entsprechend Nachricht über alle drei Supplikationen, von denen sie glaubwirdig berichtet wurdenn. 75 Diese Zirkulation der Information über die Briefe und ihre herabsetzende Qualität in privaten Kommunikationsnetzen bezeugt die Durchlässigkeit einer derartigen Teilöffentlichkeit. Die Anklage stellte diese Schriften daher den öffentlich ange‐ schlagenen gleich, wenn sie auch etwas weniger Wert auf erstere legte, da zusätzliche Beschwerden über die Umstände der Veröffentlichung, wie sie in Bezug auf Kirche, Schloss und Brücke erhoben wurden, fehlen. Die Funktionen Öffentlicher Orte Die Hervorhebung der öffentlichen Orte durch die Anklage sticht ins Auge. Darin teilt sich eine Funktion dieser Orte in Bezug auf die erlittene Schmä‐ hung mit, allerdings spielten auch rechtlich-argumentative Gründe eine Rolle: Beleidigungen an öffentlichen Orten oder solchen von gesteigerter Symbol‐ kraft galten vor Gericht als besonders schändlich und wurden daher härter bestraft. Entsprechende Bestimmungen finden sich schon für das Mittelalter, zumeist unter Nennung konkreter Orte im Stadtbild. 76 Für die Rechtspraxis auf Reichsebene im 16. Jahrhundert kann exemplarisch auf den einflussreichen Jost de Damhouder (1507-1581) verwiesen werden, der festhielt, dass sich die schmähende Wirkung tätlicher Injurien vor allem aus Zeit und Ort der Tat ergab: Und wird also die ubermaß der schmaheyte / auß gelegenheit der zeite und ortes geachtet / nemlich / wann sie etwa am ostertage / an sontagen oder anderen hohen festen / unter der messe / inn der kirche / auff dem kirchoffe / spilhause / marcket oder offenen plätzen / im rathause / an des fürstes hoffe / vor gerichte / in gegenwärtigkeyte des richters / burgermeisters / etc. oder zu und an anderen dergleichen zeite und orten. 77 Vergleichbare Bestimmungen finden sich auch bei sächsischen Juristen der Zeit. 78 Der Verweis auf Sonntage, Zeiten der Messe, auf die Kirche oder den Kirchhof und offene Plätze passt nicht zufällig zum Vorgehen Langeners in Dresden. An dieser Stelle zeigt sich vielmehr eine verbreitete Praxis der Nutzung öffentlicher Räume und der kommunikativen Strukturen frühneuzeitlicher 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 157 79 „Qui definitur: compositio in scriptis facta ejus, quod autor probare non vult ad infamiam alicujus, in publico loco, occult nomine adfixa”, C A R P Z O V , Practicae Novae II (1646), Quaestio 98, §2, S.-415. 80 Innerhalb dieser Arbeit kann verwiesen werden auf die am Fastnachtssonntag ange‐ schlagenen Pasquille an einer bekannten und belebten Straßenkreuzung Leipzigs (Kap. 6.5), auf den Anschlag des Pasquillus am Zwickauer Rathaus Sonntags vor dem Gottesdienst (Kap. 8.2.2), sowie auf die Lieder, die vor das Arterner Rathaus gelegt wurden (Kap. 9.3.2). 81 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *17 r . 82 Ebd. 83 Vgl. R A U , Konstitution öffentlicher Räume (2011), S. 51; K U H N , Schmähschriften und geheime Öffentlichkeit (2008), S.-380. 84 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *63 v . 85 Ebd. Städte zum Zweck der gezielten Herabsetzung von Gegner: innen. Bezüglich der Schmähschriften nahm Benedikt Carpzov (1595-1666) die Verbreitung in locis publicis schließlich in seine Definition des Tatbestands auf. 79 Langeners Schmähschriftenangriff ist diesbezüglich nicht als Sondersondern vielmehr als Regelfall anzusehen, wie es auch mehrere andere Fälle im sächsischen Hauptstaatsarchiv belegen. 80 Entsprechend dieser Rechtslage forderte der Anwalt der Brüder Pflugk die Berücksichtigung der Orte der Veröffentlichung bei der Wahl des Strafmaßes: [Die Urteilsfinder sollen] sonderlich aber des diffamanten vohr und nach begangener diffamation, liderlich gefurten wandel, hantirung, auch thun und leben, dazu di gelegenheitt des orthes, an welche die diffamation geschehen, beschlislich auch, die zu offtmallen gemennirte vorleimdung behertzigen und erwegen. 81 Auch die genannten Gründe für die Bedeutung der Orte lieferte die Anklage mit. Erstens kommt die starke Frequentierung darin zum Ausdruck, dass im Prozessschriftgut häufig die Rede ist von den allen gemeinsten ohrten, da die von allermenniglich haben gesehen unnd vorlesen werden mugen. 82 Öffentliche Orte wurden dabei als Räume verdichteter mündlicher Kommunikation wahrge‐ nommen, an denen Multiplikationseffekte erzielt werden konnten, 83 die Anklage sprach von locis publicis, do teglich viel leuthe zugehen unnd sonst zu conversiren pflegen. 84 Hervorgehoben wurde außerdem die Anschlusskommunikation auch über die Stadt hinaus. Pflugk beschrieb geradezu ein (Kommunikations-)Netzwerk mit vielen Pfaden, wenn er anmerkte, dass Langener die atrocitet [Abscheulichkeit] dieser schmach in viel wege geheuft habe. 85 Zweitens ließ sich über die Wahl der Orte die Zusammensetzung des Publikums bestimmen, was großen Einfluss auf die Schlagkraft der Schmähung nahm. Dadurch, dass sich öffentliche Orte zwar durch weitgehend freie Zugänglich‐ 158 7 Schmähschriften als weapons of the weak 86 S E N N E F E L D , Libelling (2008), S.-153. 87 B E L L A N Y , Libels in Action (2001), S. 114f. unterscheidet zwei Funktionen: Publikums‐ vermittlung und Bedeutungsaufladung. 88 S E N N E F E L D , Libelling (2008), S.-156. 89 H O G E N B E R G ; B R A U N , Civitates orbis terrarvm (1593), S. 28a, Digitalisat der Universitäts‐ bibliothek Heidelberg, CC PDM 1.0 DEED. keit auszeichneten, zugleich jedoch durch die verschieden starke Nutzung von unterschiedlichen Teilnehmerkreisen durchaus eine bestimmte soziale Prägung aufweisen konnten, 86 boten sie einerseits eine Möglichkeit, die Schmähung gezielt an die Gegnerschaft anzupassen. Andererseits drohte aber auch die Gefahr des Kontrollverlusts, da die Kommunikation zwischen dem Zeitpunkt des Anbringens und der Abnahme der Schrift empfängeroffen war. Gerade das Erreichen eines nicht nur großen, sondern auch diversen Publikums, von ‚edlen und unedlen‘, wie Pflugk betonte, war ein Merkmal der Schmähschriftenkommunikation. Drittens umfasste die Funktion der Orte unterschiedliche Formen symboli‐ scher Bedeutungsaufladung. 87 Es gilt: „[T]he most common site for libelling was also the most important political place in the city.“ 88 Dass dies auch im Fall der von Langener genutzten Örtlichkeiten gilt, zeigt eine Stadtansicht Dresdens aus dem Jahr 1593, die eben die Kreuzkirche, das Schloss und die Elbbrücke als im Stadtbild besonders präsente Bauwerke hervorhebt (Abb.-3). Abb. 3: Die Orte, an denen Langener seine Schriften anschlug, sind deutlich hervorge‐ hoben und teils bezeichnet: Die Kreuzkirche („Pfar Kirchen“), das Schloss und die Brücke über die Elbe (v.l.). 89 Die Inanspruchnahme obrigkeitlich geprägter Orte sollte in diesem Fall zum Abfärben der von ihnen ausgehenden Autorität auf die Schmähschriften führen. Darüber hinaus verwiesen die Orte mit ihrem Bezug zur göttlichen und weltli‐ chen Gerechtigkeit auf das überindividuelle Motiv, das Langener zur Legitima‐ tion seines Textes angab. Die Orte des Anbringens dienten überdies in vielen anderen Fällen der Adressierung: Sie wurden an die Fenster und Türen von 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 159 90 B U R K E , Städtische Kultur (1996), S.-126; D I N G E S , Die Ehre (1995), S.-51. 91 S E N N E F E L D , Libelling (2008), S.-152. 92 Vgl. Kap. 8 und 9. 93 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *195 r , *235 v . 94 Zu mündlichen Praktiken der Verbreitung insgesamt s. Kap. 6.5.3. Wohnungen, bei der Schmähung des Magistrats an die Wände des Rathauses, an kurfürstliche Amtssitze und Residenzen, wenn sie sich gegen die landesherrliche Obrigkeit richteten, oder an Pfarrhäuser und Kirchen geheftet, wenn die Geist‐ lichkeit im Fadenkreuz stand. Eng mit der Adressierungsfunktion verbunden war die Herabsetzung der Betroffenen durch die Verletzung geschützter Räume, besonders deutlich erkennbar beim Ankleben von Schriften an Wohnhäusern. 90 Diese Orte oder Gebäude konnten durch die Schmähschriften eine Umdeutung erfahren, wie Karin S E N N E F E L D91 betont. Das Rathaus wurde unter Umständen vom Ort obrigkeitlicher Machtrepräsentation zum Ausweis der Ohnmacht des Magistrats, wie im Fall des Johann Offneyer, oder das repräsentative Wohnhaus zum Aushang der Schande, wie im Fall Michael Meyenburgs. 92 7.2.3 Mechanismen der Identifizierung als Schmähschrift Die Überlieferungssituation ermöglicht es, die Entwicklung der schmähschrif‐ tenbezogenen Kommunikation ausgehend vom Anschlag der Schriften an den beschriebenen Örtlichkeiten zu rekonstruieren. Es stellt sich heraus, dass die Mechanismen der initialen Identifizierung einen nicht geringen Einfluss auf die Wirkung der Schmähschriften hatte. Die beiden Zeugen, welche die Schmähschriften selbst an den Orten des Anschlags gesehen hatten, sprachen im Prozess davon, dass sich jeweils viel volck um das Brückenbeziehungsweise Schlosstor geheuffet habe. 93 Die Schmähschriften erregten also Aufsehen. Allerdings wurden sie wohl nicht von vielen Menschen unmittelbar gelesen, dafür war der Andrang zu groß - es war nur jeweils ein Exemplar aufgehängt - und die Schriften zu umfang‐ reich. Ein zügiges Weiterreichen und individuelles Lesen, wie es bei einem kurzen Zettel möglich gewesen wäre, erscheint unwahrscheinlich. Es ist daher davon auszugehen, dass sie vorgelesen wurden. Zu diesem Zweck bildeten sich um die Schriften Menschentrauben, wie sie die Zeugen beschrieben. 94 Langeners Schmähschriften eigneten sich aufgrund ihrer Länge, ihres fehlenden komischen Potentials und sperrigen Schreibstils nicht zum Auswendiglernen, ja kaum zum spontanen Lesen im Vorübergehen. Es erscheint auch unwahrschein‐ lich, dass sich die Zuhörenden besonders viele Details merken konnten. Ein Abschreiben war zwar theoretisch möglich, jedoch hätte es praktisch einigen 160 7 Schmähschriften als weapons of the weak 95 An der Kreuzkirche rissen kurfürstliche Räte die Schrift ab, am Schlosstor Rudolf von Carlowitz und am Brückentor Alexander Pflugk persönlich. HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *195 r , *235 v ; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 24, fol.-10 r . 96 Dies rührte vor allem von der Verteidigungsstrategie Langeners her, die Etikettierung seiner Schriften als ‚Schmähschriften‘ abzustreiten, s. unten Kap. 7.3. 97 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *188 v . 98 Ebd., fol.-*183 r . 99 Ebd., fol.-*213 r . 100 Ebd., fol.-*223 v . Aufwandes bedurft. Da die ansonsten detailreichen Quellen von keinen Kopien berichten, ist davon auszugehen, dass Langeners Schriften nicht abgeschrieben wurden. Die Originale wurden zudem jeweils abgerissen und so der Zirkulation entzogen. 95 Medialität und die Rezeption am Ort ihres Anschlags legen also nahe, dass nur wenige Details der Inhalte aus den Schmähschriften ihren Weg in die Anschlusskommunikation fanden. Die Aussagen der von Pflugk geladenen Zeugen scheinen diese Vermutung zu bestätigen. Während des Verhörs wurden sie mit Fragen bezüglich der Beschaffenheit von Schmähschriften konfrontiert. 96 Rudolf von Bünau konnte vor Gericht nicht erklären, welcher Teil des Schreibens Pflugk an der Ehre verletzt hatte, weil er den Inhalt schlicht nicht kannte. 97 Alles, was er zur Sache wusste, war ihm zugetragen worden: Er wisse hiervon nichts das was er von Jeronimus unnd Benno Pflugenn gehörett, das der zuckermacher uber Tham Pflugenn die zeitt zu Canitz ein schmeheschriffet zu Dresdenn angeschlagenn sollt aber hab ers zuvorn nicht gesehenn noch hörenn lesenn. 98 Ähnlich dürftige Informationen hatten Haubolt von Schönberg erreicht, der aussagte: [V]iel hab er davon hören redenn, das Anders Langner durch einen öffentlichen anschlags brieff Tham Pflugenn hefftig soll iniuriertt unnd geschmehett haben, hab aber den schmehe brieff […] nicht gesehen. 99 Heinrich von Miltitz, der gemeinsam mit Rudolf von Carlowitz aus der Schloss‐ kapelle gekommen war und die Schrift gesehen hatte, bezog sich bei seiner Aussage ebenfalls nicht auf deren Inhalt. Trotzdem identifizierte er sie als Schmähschrift, da sie einer schmeheschrifft sehr einlich [aber] einer [rechtlichen] vorbitt nicht einlich gesehen habe. 100 Carlowitz, der die Schrift am Schlosstor abgerissen hatte, musste auf Nachfrage zugeben, Langener nicht selbst beim Anbringen gesehen zu haben, aver von andern leuthen hab ers gehörtt, das es 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 161 101 Ebd., fol.-*203 r . 102 Ebd., fol.-*215 v f. 103 Ebd., fol. *237 r . 104 T E U S C H E R , Erzähltes Recht (2007), S.-260-263. 105 S. Kap. 9.4. geschehen sey. 101 Ebenso hatte Lorenz von Schönberg lediglich gehört, dass schmeheschriften angeschlagen und von Alexander Pflugk abgerissen worden seien. 102 Der letzte Zeuge, Hans von Schleinitz, war 1569 anwesend gewesen, als Pflugk den Zettel am Brückentor entdeckt, gelesen und abgerissen hatte. Seine Ausführungen bezüglich der Verbreitung der Schmähung ähneln jedoch denen der vorherigen Zeugen: Sagtt zeuge in diesenn landenn hab er davon hörenn redenn, das Langner schmeheschrifften uber Tham Pflugenn angeschlagenn habenn soll. 103 Die Zeugen äußerten sich nicht näher zum Inhalt der Schriften, weil sie ihn nicht kannten. Was sie wussten, war ihnen entweder von anderen Personen zugetragen worden, oder beruhte, wenn sie vor Ort gewesen waren, auf einem offensichtlich durch oberflächliche Betrachtung gewonnenen Eindruck. Die Aussagen legen somit nahe, dass die kommunizierten Informationen lediglich aus dem invektiven Gehalt der Schriften - dem allgemeinen Wissen um Anschuldigung, Drohung oder Beleidigung - und dem Adressaten desselben bestanden. Sie verweisen außerdem darauf, dass die initiale Identifizierung der Schriften als Schmähschriften durch diejenigen, die sie direkt in Augenschein nehmen konnten, weniger auf einer Auseinandersetzung mit dem Textinhalt ba‐ sierte, sondern mehr auf ihrer visuellen Wahrnehmung als Objekte im Raum und dem zugrundeliegenden Vorgang des öffentlichen Anschlagens. Der öffentliche Anschlag kann, abgesehen von seiner juristischen Bedeutung, als relevantes Merkmal bei der Identifizierung einer Schmähschrift angesehen werden. Diese Beobachtung über den Objektcharakter der Schriften entspricht derjenigen Simon T E U S C H E R S zur Behandlung von Rechtsdokumenten durch die Schweizer Landbevölkerung im 15. Jahrhundert. Demnach gingen die Menschen, wenn sie sich in Aussagen auf Dokumente (zumeist Urkunden) bezogen, vor allem darauf ein, auf welche Weise bestimmte Personen mit ihnen hantierten. Dabei thematisierten die Menschen vor allem, wer genau die Schrift an welchen Orten in Händen gehalten oder vorgezeigt hatte. 104 Auch bezüglich Langeners Schmähschriften gaben die Zeugen durchgehend den Ort sowie die Art und Weise der ‚Präsentation‘ an. Ähnliches zeigte sich bereits bezüglich der Leipziger Pasquille (Kap. 6) und auch im vierten Fall gab man nach dem Auffinden eines Pasquills im Jahr 1590 detailliert zu Protokoll, wer es wo in Händen gehalten, an wen weitergereicht und an welchem Ort abgeschrieben hatte. 105 T E U S C H E R betont 162 7 Schmähschriften als weapons of the weak 106 „Überhaupt stellte die materielle Erscheinung eines Schriftstücks in vielen Fällen einen fast ebenso wichtigen Zugang zu seiner Bedeutung dar wie sein Textinhalt.“, T E U S C H E R , Erzähltes Recht (2007), S.-262. 107 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *51. 108 T E U S C H E R , Erzähltes Recht (2007), S.-263. 109 S C H L Ö G L , Symbole (2004), S.-13-21, Zitat S.-18. 110 S C H L Ö G L , Anwesende und Abwesende (2014), S.-163. 111 Zur Bedeutung des kommunikativen Raums für das Symbol s. S C H L Ö G L , Symbole (2004), S. 17: „Während bei ikonischen und indexikalischen Zeichen Objekt und Zeichen durch einen ‚naheliegenden‘, häufig in der sinnlichen Wahrnehmung selbst abgesi‐ cherten Verweis miteinander verbunden sind, ist die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem im Symbol durch einen Interpretanten begründet, der die frei gewählte Bedeutungsbeziehung setzt. Sozialer Ort dieses Interpretanten ist der kommunikative Raum, in den ein Symbol eingebracht wird, da dessen Bedeutung sich als die Summe all dessen konstituiert, was in sozialer Hinsicht aus der Akzeptanz eines Symbols folgt.“ außerdem die Relevanz der materiellen Erscheinung als Zugang zur Bedeutung eines Schriftstücks. Die Akteur: innen seiner Untersuchung bezeichneten Doku‐ mente beispielsweise als zedel oder als pergamentene Briefe. 106 Dies findet seine Entsprechung in denjenigen Zeugenaussagen, die Langeners Schriften als einer Schmähschrift ähnlich sehend bezeichneten. Im Arterner Fall (Kap. 9) sprachen die Befragten je nach Beschaffenheit von papiern buchlein oder ‚Zetteln‘ oder wurden noch präziser: ein brieff […] ein halber bogen papier, auff einer seitenn foller geschrieben. 107 Da „die Inszenierung der materiellen Gestalt eines Doku‐ ments eine prominente Rolle [spielte] - eher eine prominentere als dessen Textinhalte“, kann man mit T E U S C H E R von „Ostentationsakten“ sprechen. 108 Die Aussagen zur Identifikation und Bewertung der Schriften nicht über ihre Inhalte, sondern über ihre materielle Existenz verweisen darauf, dass sie nicht nur als Zeichen und Referenzen auf eine sich zuvor realisierte Schmähung fungierten, sondern die Schmähung als Symbole im Sinne der „alteuropäischen Semantik des Symbols“ vergegenwärtigten, ja verkörperten. 109 Zu dieser Funk‐ tion schriftlicher Texte in Anwesenheitsgesellschaften führt S C HLÖG L aus: In einer Welt, in der soziale Wirklichkeit gewöhnlich im Vollzug von Interaktion und in der performativen Vergegenwärtigung von Ordnungsmustern entstand, führte die Verschriftlichung performativer Akte […] offenbar dazu, dass in den entsprechenden Speichermedien der Zeichen- und Referenzcharakter von Schrift durch Ikonizität und Symbolizität überlagert wurde. 110 In der von Interaktionskommunikation geprägten Gesellschaft war es gerade der performative Akt des Anschlagens einer Schmähschrift, beziehungsweise das Angeschlagensein am öffentlichen Ort, der diese mit Bedeutung auflud. 111 Die Symbolhaftigkeit spiegelt sich auch in den Maßnahmen gegen Schmäh‐ 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 163 112 S E N N E F E L D , Libelling (2008), S. 161; G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S. 56; S C H M I D T , Libelli famosi (1985), S.-110. 113 Vgl. Kap. 6, Anm. 106. 114 Vgl. zum Folgenden die Ausführungen in: B E C K E R T u. a., Invektive Kommunikation (2020), S. 76. Zum Konzept der self-fulfilling prophecy s. M E R T O N , Self-Fulfilling Prophecy (1948). 115 C R O F T , Libels (1995), S.-283. 116 Sebastian Franck, Sprichwörter (1541), zitiert nach: Art. „Gerücht“, in: DWB. schriften wieder, die teils verbrannt oder anderweitig vernichtet wurden. 112 So diente das erzwungene öffentliche Verspeisen seiner Schmähschrift durch einen Dresdner Bürger im Jahr 1528 neben der Herabsetzung des Pasquillanten eben auch der Vernichtung des corpus delicti. 113 Außerdem liegt hierin sicher auch einer der Gründe für das Streben der Obrigkeiten nach Identifikation und Habhaftwerden möglichst aller Kopien besonders von solchen Schmähschriften, die sich gegen sie wandten. Der Mechanismus, der die Schrift zur Bedrohung der Ehre Tham Pflugks machte, ähnelt demjenigen einer self-fulfilling prophecy, wie sie von Robert M E R T O N konzipiert wurde. 114 Der Begriff bezeichnet eine Vorhersage, die über einen positiven Rückkopplungseffekt - indem sich das Verhalten der Personen, die um sie wissen, im Sinne der Vorhersage ändert - wesentlich selbst dafür sorgt, dass sie zutrifft. In Bezug auf Langeners Schreiben bedeutete dies, dass die initiale Wahrnehmung als Schmähschrift und die Kommunikation darüber zwangsweise zur Verletzung von Pflugks Ehre führen musste, denn „[t]here was a general assumption that to be libelled was a shameful thing“ - die Beobachtung der öffentlichen Kommunikation über die Schmähschriften wirkte für den Invektierten bereits als Schmähung. 115 Die Schriften konnten somit weitgehend unabhängig von ihrem konkreten Inhalt zu Schmähschriften werden, nachdem sie einmal als solche wahrgenommen wurden. Da die Texte nicht reproduziert wurden oder selbst zirkulierten, standen sie ohnehin nicht zur Verifizierung der ursprünglichen Klassifikation durch eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt zur Verfügung. 7.2.4 „das gerücht tödt den man“ 116 - Gerüchte im Fall Langener Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass die relevante Invektivkommuni‐ kation im Fall Langener mündlich verlief. Alle Zeugen berichteten, die Schriften nicht selbst gesehen zu haben, sondern nur vom Anschlag derselben unterrichtet worden zu sein, die meisten hatten, wie Heinrich von Miltitz, lediglich offt unnd viel hören davon redenn. Die Schmähschriften und der Vorgang des Anschlagens 164 7 Schmähschriften als weapons of the weak 117 B A U E R , „gemain sag“ (1981), S.-48. 118 Vgl. Kap. 2.3.1. 119 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *63 v . 120 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *14 r . 121 Art. „schallbar, adj.“, in: DWB. 122 Vgl. für das Mittelalter M I E R A U , Fama (2011), S.-256. 123 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *13 v . 124 Ebd., fol.-*207. bildeten effektive Start- und Referenzpunkte dieser Kommunikation, da sie durch ihren Skandalcharakter Interesse hervorriefen. 117 Einleitend wurde die Bedeutung der verschiedenen Formen mündlicher Kommunikation in der Anwesenheitsgesellschaft beleuchtet; 118 sie finden ihre Entsprechung in den Aussagen der Zeugenvernehmung. Das Gerede als Grund‐ lage mündlicher Kommunikation, als alltägliches, themenoffenes Sprechen in der Gemeinschaft, ist gemeint, wenn Pflugk beklagt, dass die Schmähschriften dort angeschlagen worden seien, wo die Menschen zu conversiren pflegten. 119 Als besonders präsent in den Aussagen über die Wirkung der Schmähschriften erscheint das Gerücht. Zur Hervorhebung der Bedeutung der Schmähschriften und der weiten Verbreitung der auf diese bezogenen Kommunikation betonte die Anklage, dass die Aktion Langeners in weiten Teilen Kursachsens ein schelber gerucht unnd gemeinn sage gewesen sei. 120 Schelber, also ‚schallbar‘, bedeutete in diesem Zusammenhang ‚bekannt‘, aber eben auch im negativen Sinn ‚berüchtig‘ oder ‚anrüchig‘. 121 Der Einfluss des Gerüchts auf die Einschätzung des ange‐ richteten Schadens an der Ehre der Geschmähten war derart relevant, aber auch zugleich umstritten, dass sich ein ganzer Absatz der Zeugenbefragung mit diesem Thema befasste. Dabei werden beide eng miteinander verbundenen Bedeutungsebenen des Begriffs abgebildet: Das Gerücht wird zum einen als Kommunikationsform mit starkem Öffentlichkeitsbezug und zum anderen als Ruf des Betroffenen, als öffentliche Meinung über seine Person beschrieben. Die Aussagen des Prozesses gegen Andreas Langener belegen die Fähigkeit von Gerüchten, räumliche und soziale Grenzen zu überwinden. 122 Seine Aktion war vorgeblich nicht nur in der Bürger- und Einwohnerschaft bekannt, sondern auch bei hohenn unnd furstlichen personenn und beim Adel insgesamt sehr ruchbar [ge]worden. 123 Die Aussage des Rudolf von Carlowitz, [e]s sey so lautt, und werde so viel darvon geredett, das auch die bauern uffn dörffern davon wissen, 124 verdeutlicht neben der sozialen bereits die räumliche Entgrenzung: Die Kommunikation über den Vorfall hatte demnach die Stadtmauern überwunden und die Dörfer des weiteren Dresdner Umlands erreicht. Gerade diese Verbrei‐ tung an vielen Orten erschien der Anklage und ihren Zeugen hervorhebenswert, sie vermutete gar eine Verbreitung im ganzen Kurfürstentum und darüber 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 165 125 Ebd., fol. *14 r . 126 S E N N E F E L D , Libelling (2008), S.-147. 127 Selbiges gilt für die Entstehung von öffentlichkeitswirksamen Skandalen, s. B Ö S C H , Historische Skandalforschung (2004), S.-459. 128 Gerüchte über die Untersuchungen des Kurfürsten gegen die Grafen von Mansfeld wegen des Anfertigens von Schmähschriften hatten sich über Korrespondenzen bis Straßburg verbreitet, s. Kap. 9.4. 129 Vgl. die Formulierung bei S C H W E R H O F F , Stadt und Öffentlichkeit (2011), S.-23. hinaus. 125 Inwiefern dies der Realität entsprach, lässt sich nicht überprüfen, da jedoch keine konkreten Belege für die Behauptung aufgeführt werden, erscheint sie eher unwahrscheinlich. Die Aussage hätte aber ihre Wirkung vollends verfehlt, wäre eine solche Behauptung völlig aus der Luft gegriffen und nicht zumindest vorstellbar gewesen - man traute der gerüchteweisen Kommunikation also ein entsprechend entgrenzendes Potential zu. Mit der schnellen und flüchtigen Verbreitung über das gesprochene Wort ging einher, dass Gerüchte kaum zu begrenzen oder zu kontrollieren waren. Karin S E N N E F E L D hält entsprechend fest: “Libels were quickly torn down, either by city or state officials, or by concerned readers. The rumours that they had been posted, and where, lived on in oral lore.” 126 Das Konfiszieren der Schriften konnte nicht verhindern, das weiter über sie gesprochen wurde. Im schlimmsten Fall erreichte ein entsprechender Versuch gar das Gegenteil, rief erneute Aufmerksamkeit hervor und lieferte so immer neue Ansatzpunkte für mündliche Anschlusskom‐ munikation. 127 Gerüchte konnten aber auch erneut in schriftliche Kommunikation ein‐ fließen, die etwa in Form von Briefwechseln in der Lage war, weite Strecken zu überwinden und am Zielort erneut Anschlusskommunikation in mündlicher Form anzustoßen, wie es sich für das Arterner Fallbeispiel belegen lässt. 128 Diese Verbindung von mündlicher und schriftlicher Anschlusskommunikation, von lokaler Verdichtung und überregionaler Verbreitung, 129 trug ihren Teil zum großen Drohpotential der Schmähschriften bei. Zwei weitere, einleitend erwähnte Charakteristika der gerüchteweisen Kom‐ munikation waren für deren Nutzen im Sinne der Pasquillant: innen von Bedeutung: Kollektivität und Anonymität. Sie werden in den Prozessakten durch Fragstücke Langeners greifbar, die sich auf das Wesen des Gerüchts beziehen. Die Fragen zielten darauf ab, das muss bei ihrer Interpretation stets mitgedacht werden, die Beweisführung des Anklägers zu kritisieren oder zu entkräften. Pflugk hatte in seinen Beweisartikeln auf das Vorhandensein von schmählichen Gerüchten als Ergebnis der angebrachten Schriften verwiesen, anhand ihrer Verbreitung bemaß er die Schwere der Injurie. Langener griff nun zur Erwiderung das Konzept ‚Gerücht‘ an, indem er fragte 166 7 Schmähschriften als weapons of the weak 130 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *42 v f. Da das Gerücht besonders in der Bedeutung des Leumunds oder der fama gerichtsrelevant war, gehörte das Abklopfen des Verständnisses dieses Konzepts zum Repertoire bereits mittelalterlicher Zeugenbefragungen. In der Stadt Marseille wurde beispielsweise gefragt: „What is fama? “, „Where is the public voice and fama? “, “Does it proceed from his enemies or ill-wishers? ”, “How many people make the fama? ”. Langeners Fragen standen in der entsprechenden Tradition. S. F E N S T E R ; S M A I L , Introduction (2003), S.-2. 131 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *189 v . 132 M I E R A U , Fama (2011), S.-237. 133 Im Sinne der Verteidigung stellte diese Frage die Aussage der Anklage infrage. Wäre das Gerücht von Personen erschollen, die dem Betroffenen nicht gut gesonnen waren, hätte es womöglich an juristischer Bedeutung verloren. Eventuell wollte Langener mit dieser Frage auch dem Vorwurf, Gerüchte in Umlauf gebracht zu haben, den Wind aus den Segeln nehmen. Sollten die Zeugen keine konkreten Personen nennen können, wäre dem Beweisstück die Kraft entzogen worden. 134 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *208 v . 135 Ebd., fol.-*188. 136 Ebd., *237 r . IIII. Was ein gemein gerucht sey, unnd von wievil personen solches muß erschollen seinn, V. Vonn wem solchs gemein gerücht erschollen sey unnd vonn wem es sey gehörtt, 130 Frage IIII zielte auf ein Kernelement der Wahrnehmung von Gerüchten ab: ihren kollektiven Charakter, bemessen an der Anzahl der beteiligten Personen. Damit mündliche Kommunikation als Gerücht begriffen wurde, musste also eine angemessen große Personenzahl involviert sein - wie groß diese jedoch sein musste, konnten oder wollten die Zeugen nicht festlegen und überließen die Einschätzung dem Gericht, wie etwa Rudolf von Carlowitz: Was viel leut redenn achtt er vor ein gemein gerucht. Wie viel leutth aber derzugehören, das lass er zu recht erkennen. 131 Sprach man von einem Gerücht, brachte man damit in gewisser Weise zum Ausdruck, dass eine „kritische Meinungsbildung“ erreicht war, wobei es sich jedoch um einen durchaus subjektiven Eindruck handelte. 132 Langeners Fragstück V thematisierte Sender und Empfänger der Gerüchte. 133 Die Befragten waren nicht in der Lage, konkrete Personen zu anzugeben, sodass sie außer den persönlich Betroffenen (also den Brüdern Pflugk) lediglich eine anonyme Masse als Sender benennen konnten: Rudolf von Carlowitz sagte aus, wer die personen sein welche alle hiervon geredett, das könne er nicht gewiss wissenn, aber doch hab er viel leutt darvon hören redenn; 134 Rudolf von Bünau hatte es von mennigklicen an vielen oerten gehörtt; 135 Hans von Schleinitz hatte lediglich in diesenn landen […] darvon hörenn redenn 136 und Heinrich von Miltitz sowie Haubolt von Schönberg hatten offt unnd viel hören darvon 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 167 137 Ebd., fol.-*213 r , *224 r . 138 Vgl. M I E R A U , Fama (2011), S.-243. 139 N E U B A U E R , Fama (2009), S.-50. 140 Vgl. M I E R A U , Fama (2011), S.-273. 141 Ebd., S. 256. H U N T , Rumour (2014), S. 158, zählt Gerüchte dementsprechend selbst zu den weapons of the weak. 142 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *42 v f. Langeners Ziel war es, die Befragten durch den Eid dazu zu zwingen, die mangelnde Glaubwürdig‐ keit von Gerüchten anzuerkennen und damit die Position der Anklage zu schwächen. 143 Ebd., fol.-*209 r . redenn. 137 Die Aussagen lassen zwei Rückschlüsse zu: Entweder, es fiel den Zeugen deshalb schwer, konkrete Personen als Verbreiter: innen zu benennen, weil es gar kein verbreitetes Gerücht gab. In diesem Fall hätte die Anklage den Bezug auf öffentliche Gerüchte strategisch eingesetzt, indem sie über die kaum überprüfbare Behauptung eines bestehenden Gerüchts eventuell vereinzelt getätigte Aussagen als allgemein verbreitet und akzeptiert erscheinen ließ. 138 Oder diese Aussagen legen Zeugnis von der weitgehenden Anonymität der Gerüchtekommunikation ab: Das Gerücht transportierte aus dieser Perspektive letztlich das Urteil einer „abwesende[n] Menge“, die sich hinter der anonymen Instanz des ‚man sagt‘ verbarg. 139 Die Anonymität machte es schwer, auf die Gerüchtekommunikation zu reagieren oder sie einzudämmen, da die Kommu‐ nikationsteilnehmenden nicht zu greifen waren. Damit schützte sie sowohl Verbreiter: innen als auch Urheber: innen vor Reaktionen der Betroffenen wie der Justiz. 140 Lag der Ursprung des Gerüchts nicht offen zutage, war es kaum mög‐ lich, einen solchen zu rekonstruieren. Dieses Charakteristikum unterstützte die Funktion der Schmähschrift als weapon of the weak, denn „Gerüchte erweisen sich […] nicht selten als indirekte Strategie zur Schwächung eines Gegners, der eigentlich aufgrund seiner gesellschaftlichen Würde nicht angreifbar schien.“ 141 Die Bedeutung und Wirkkraft der Gerüchte war eng verbunden mit ihrer Glaubwürdigkeit. Diese war von einer starken Zwiespältigkeit geprägt. Zwar wurden Gerüchte im Prozess durchaus als Fakten behandelt, sie begründeten als Leumund die Glaubwürdigkeit der Beteiligten und galten als Stimme des Volkes, wodurch den als Gerücht bezeichneten Informationen eine gewisse Allgemeingültigkeit zugesprochen wurde. Im Prozess gegen Andreas Langener antwortete Rudolf von Carlowitz auf die Frage, ob zeuge bey seiner aidt aussagen durff wie allgemeine gerucht wahr sein sollen, 142 allerdings: gemeinenn geruchts reden seindtt eins theils wahr, zum theil erlogen und fügte hinzu, dass es sogar fatal wäre, entsprächen sie allesamt der Wahrheit, da sie zumeist negative Inhalte transportierten. 143 Rudolf von Bünau gab zu Protokoll, er könnte nicht sagen das alle gemeine gerucht wahr sein soltenn, dan offtt ein gemein gerucht ausskomptt 168 7 Schmähschriften als weapons of the weak 144 Ebd., fol.-*190 r . 145 Ebd., fol.-*237 v . 146 W Ü R G L E R , Fama und Rumor (1996), S.-27. Vgl. auch B A U E R , „gemain sag“ (1981), S.-9. 147 Im vierten Fall etwa verbreiteten sich Gerüchte über sog. ‚Mordbrenner‘, s. Kap. 9.5.4. 148 B A U E R , „gemain sag“ (1981), S.-264. 149 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *12 v . Als weitere Begriffe in diesem Sinn wurden ‚Ehre‘, ‚Name‘, ‚Rum‘ und ‚Glimpf ‘ genannt. 150 T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S.-34. es wehre nicht gutt das es wahr wehre, 144 und auch Hans von Schleinitz hielt nicht alles vor wahr […], was in gemein geredett werde. 145 Die Janusköpfigkeit von Gerüchten hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit war sprichwörtlich, so lautete es entweder vox populi, vox dei oder aber mit Vergil nihil enim incertus est rumore populi, nihil fama mendacius. 146 Zuletzt ist noch auf die Wandlungsfähigkeit von Gerüchten hinzuweisen, die vorrangig solche Inhalte verbreiten, die gesellschaftliche Bedürfnisse und Ängste betreffen. Es wurde bereits aufgezeigt, dass die Zeugen lediglich vom Anschlag von Schmähschriften gegen Tham Pflugk gehört hatten. Es lässt sich somit eine Reduktion des Inhalts auf für die Beteiligten Wesentliches konsta‐ tieren. Informationen über Ehre und besonders Ehrverlust einzelner Mitglieder der Gesellschaft waren Themen, die auf öffentliche Neugier stießen. In anderen Fällen waren es vor allem Ängste, die für reges Interesse sorgten und in den Gerüchten besonders deutlich hervortraten. 147 Dass es zu keiner intensiveren Auseinandersetzung mit den Inhalten der Schmähschriften Langeners kam, oder diese zumindest nicht nachvollziehbar ist, liegt auch an einer weiteren Eigenschaft von Gerüchten: Sie eignen sich per se kaum zum Räsonnement, zu „abstrakten Denkanstrengungen“. 148 Pflugks Unbescholtenheit und somit sein guter Leumund waren das Angriffs‐ ziel Langeners; so klagte der Geschmähte, dass er an sein ehrn, gutten leumundt und geruchte angegriffen worden sei. 149 Die rechtlichen Konsequenzen eines schlechten Leumunds, gar ein Leumundsverfahren hatte Pflugk als Adliger jedoch nicht zu fürchten. Da allerdings das Recht noch kein abgeschlossenes System bildete, entsprechend noch keine spezifische Sphäre der Rechtssprache mit exklusiver Begriffsverwendung existierte und lebensweltliche und recht‐ liche Normen mithin nicht voneinander getrennt gedacht wurden, 150 ist die rechtliche Dimension für die invektive Wirkung der Schmähschriften auch in diesem Fall nicht gänzlich irrelevant und kann als Spiegel internalisierter so‐ zialer Vorstellungen verstanden werden. Die durch Langeners Schmähschriften ausgelösten Gerüchte kamen einer öffentlichen Anklage Pflugks - eine zentrale und von Langener beabsichtigte Funktion der Schriften, mit der er auf die verbreitete gesellschaftliche Sorge einging, Normbrüche könnten unerkannt 7.2 Die Schmähschriften im Kommunikationsnetz der Stadt und darüber hinaus 169 151 Die Überlieferung beginnt im September 1569 und bricht nach der Zeugenbefragung im Oktober 1574 ab. 152 L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004). 153 T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S.-18. und ungesühnt bleiben - gleich und mussten schon von daher von selbigem beantwortet werden. 7.3 Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess Der Prozess um die Schmähschriften Andreas Langeners wurde über mindes‐ tens fünf Jahre geführt. 151 Dabei befasste sich das Gros der Schriftwechsel zeittypisch mit prozessrechtlichen Angelegenheiten, allen voran der Setzung und (Nicht)Einhaltung von Fristen. Allerdings versuchte Langener durchaus Argumente zur Verteidigung seiner Schmähschriften vorzubringen, wobei deut‐ liche Normenkonkurrenzen zum Vorschein kommen, die auf eine ambivalentere Beziehung von Schmähschriften, Öffentlichkeit und Gemeinnutz verweisen, als es die bisher betrachteten Rechtstexte nahelegen. Die zentrale Frage des Prozesses war letztlich, ob es sich bei den von Langener angebrachten Schriften überhaupt um illegale (und illegitime) Schmähschriften handelte, oder ob er sich eines legalen Instruments des Konfliktaustrags be‐ dient hatte. Die konkurrierenden Sichtweisen verweisen auf einen Wandel der Rechtsauffassungen vom genossenschaftlichen, die Selbsthilfe akzeptierenden hin zum rein herrschaftlich ausgeübten Recht, den schon L E N TZ für die Schelt‐ briefe im Zusammenhang mit Schuldverschreibungen herausgearbeitet hat. 152 Langeners Schrift stand offenbar in einer ähnlichen Tradition, die es nahelegt, L E NT Z ’ Befunde stärker auf andere Untersuchungsgegenstände auszuweiten. 7.3.1 „Ein Appell an die Interessen des Gemeinwesens“ 153 Um die Argumentation Langeners und seine (vorgeblichen) Motive zu ver‐ stehen, ist zunächst ein Blick auf die von ihm verfassten Schmähschriften nötig. Schon rein äußerlich enthob sie die Tatsache, dass Langener sie mit eigenem Namen unterschrieben hatte, der Kategorie der anonymen Schmähschriften, womit sie nach den Kursächsischen Konstitutionen strenggenommen nicht 170 7 Schmähschriften als weapons of the weak 154 Vgl. Kap. 5.3. Die Kursächsischen Konstitutionen erschienen erst 1572, also im Verlauf des Prozesses. Sie bezogen sich allerdings auf Entscheidungen in strittigen Fällen aus der Zeit vor ihrer Veröffentlichung. 155 Scheltbrief des Andreas Langener (Anh. 2.3), Z.-4. 156 Ebd., Z.-85-96. unter die schwerwiegenden famos schrifften, sondern die einfachen schriftlichen Injurien fielen. 154 Der Inhalt des Textes besteht aus einer mit Vorwürfen gespickten Nacher‐ zählung des vorangegangenen Streits zwischen Langener und Pflugk aus der Sicht des Verfassers und einer Aufforderung an Pflugk, sich vor Gericht zu verantworten. Gleich zu Beginn wird der Geschmähte namentlich und förmlich angesprochen: Du Tham Pflugk auff Kanitz. 155 Es folgt eine Schilderung der Ereignisse in Canitz, wobei die gewaltsame und ehrschändliche Vertreibung Langeners im Zentrum steht. Schließlich erinnert Langener sein Gegenüber an den Kompromiss, den beide eingegangen seien. Da Pflugk diesem nicht nachgekommen sei, wird er öffentlich dazu aufgerufen, innerhalb einer Frist von zwei Monaten sein Rechtfertigungsschreiben einzureichen, sodass man sich vor Gericht einigen könne. Bei Missachtung drohe ihm der völlige Ehrverlust. Der Text schließt mit dem Aufruf an das Publikum, seine Schrift nicht abzunehmen, sodass Gerechtigkeit walten könne. Der Stil changiert zwischen nüchtern-bürokratisch und emotional-ankla‐ gend, ist jedoch weit entfernt von der beleidigenden Sprache anderer Schmäh‐ schriften. Langener war offensichtlich bemüht, den Text als gerechtfertigte Klage erscheinen zu lassen, die seiner Auffassung nach in einem juristischen Kontext zu verorten war. Damit passt die verwendete Sprache zur offiziellen Aufmachung der Schriften. Übliche Beleidigungen wie ‚Schelm‘ oder ‚Dieb‘ fehlen gänzlich. Die enthaltenen Schmähworte werden indirekt oder in Form von Drohungen formuliert: Willtu aber das alle ehrliebende menschen die von got erschaffenn und itzo in der weldt leben (doch den gemeinen adellichen standt hiemit nit gemeihnet, ich rede allein mit deiner person) vor einen losen verlogenen ehre vergessenen hudler, und buben jeder zeit haltten und schelten sollen, der keine ehre mehr keine erbarkeith keine redlichkeit mehr achte, nicht werth seÿ bey einem ehrlichen manne zu sitzen noch mit redtlichen leutten gemeinschaft zu haben, und der gottes unnd der ewigen wohlfarthen schon verwogen, so verwiedere dich im vorgehalttenen compromiss zuverwilligen 156 Tham Pflugk wird nicht direkt als lose[r] verlogene[r] ehre vergessene[r] hudler, und bub[e] bezeichnet, sondern nur im Sinne einer Handlungsaufforderung mit 7.3 Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess 171 157 Ebd., Z.-11-19. 158 S. Kap. 5.3. 159 Scheltbrief des Andreas Langener (Anh. 2.3), Z.-20-27. diesen Beschimpfungen bedroht. Auf die gleiche Weise gebraucht Langener die Beschreibungen eines unehrlichen Mannes, der aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden müsse. Die Schmähung erfolgt mehr auf inhaltlicher denn sprachlicher Ebene über die vorgebrachten Anschuldigungen und Vorwürfe: [Du hast] ohne alle usache mein armudt, mit gewaldt genommen, mich offenlich ohne ursache ein schelmen gescholten, unnd mich in dem deinigen, do ich mich nicht habe wehren dorffen, ane ursache ubel geschlagen, das ich mit meiner geselschafft habe fliehen mussen, dardurch kay: mayt: unsers aller gnedigsten herrenn, geleidt, und meine privilegien fursezlich angetast, und gebrochen. 157 Langener wirft Pflugk Diebstahl seiner Güter (armuth), schwere Beleidigung als Dieb und Schelm, Körperverletzung im eigenen Quartier sowie den Bruch kaiserlichen Rechts vor - die Palette an Anschuldigungen ist also groß und die rechtlich vorgesehene Strafe darauf wären zumindest theoretisch hart gewesen. Bei einer derartigen Verleumdung beziehungsweise üblen Nachrede galt vereinfachend: je drastischer das nachgesagte Verbrechen, desto schwerer wog die Tat des Verleumders. Am deutlichsten wird dieses Prinzip in denjenigen Rechtsbestimmungen, die eine Talionsstrafe vorsahen. Auf die Talion wollte Pflugk jedoch zu keinem Zeitpunkt hinaus, er verlangte Staupenschläge und Landesverweis, was dem in den Rechtstexten vorgesehen Strafmaß für das Vergehen entsprach. 158 Zusätzlich zu diesen Anschuldigungen warf Langener Pflugk unehrenhaftes und verbrecherisches Verhalten im anschließenden Rechtsstreit vor: [Auf meine Klage] dargegen du dych mit unerbarn auszugen (doch den adelichenn standt hiemit nit gemeinet) behulfest, jderman damit bescheist, unnd betreugest. Auch wieder deinn gewissen auf deinem hochmudt dich vorlest, eine mutwillige rechtfertigunge vorzunehmen, unterstehest, wie der losern zahlern art ist […]. 159 Unehrliche Ausreden, Betrug an der Allgemeinheit und das Verhalten eines säumigen Schuldners charakterisieren demnach das Verhalten des Adligen. Hier wählte Langener zudem eine derbe Sprache (bescheist, unnd betreugest) und beleidigte Pflugk mittelbar als losern zahlern, vermied jedoch erneut die direkte Ansprache. Es scheint augenfällig, dass Langener darum bemüht war, die Anschuldigungen und auch handfesten Beleidigungen in seiner Schmäh‐ schrift derart zu verpacken, dass die juristische Handhabe gegen ihn erschwert 172 7 Schmähschriften als weapons of the weak 160 F R A N C K , Sprüchwörter (1545), fol.-CLXX r . 161 Scheltbrief des Andreas Langener (Anh. 2.3), Z.-98-105. wurde. Dieses Kalkül war ihm insofern zuzutrauen, als dass er verschiedentlich seine Kenntnis in Rechtsangelegenheiten bewies, unter anderem, indem er Detailwissen um speziell kursächsische Fristen, Bestimmungen bezüglich zu stellender Kaution und Zeugenauswahl offenbarte und anwandte. Zu seinen Vorsichtsmaßnahmen lässt sich auch der zweifache explizite Hinweis rechnen, dass seine Anschuldigungen lediglich Tham Pflugk persönlich galten und nicht dem Adelsstand. Da er eine schnelle und endgültige Verurteilung scheinbar vermeiden konnte, war seinem planvollen Vorgehen in gewisser Weise Erfolg beschieden. Ausweislich seiner Schmähschriften handelte Langener nicht aus egoisti‐ schen Motiven, sondern um Gerechtigkeit auch im Sinne der Gemeinschaft herzustellen und so dem Gemeinen Nutzen zu dienen. Bereits die Orte, an denen er die Schmähschriften anbrachte, wiesen einen Bezug zur göttlichen und weltlichen Gerechtigkeit auf. Ganz im Sinne des eingangs beschriebenen Zu‐ sammenhangs von Öffentlichkeit und Recht war nach Langeners Erachten dazu das Offenbarmachen der Wahrheit, also der Verbrechen Pflugks notwendig. Hierzu passte auch das Motto, das Langener unter seine Schriften setzte: Veritas premitur sed non opprimitur. Es handelt sich um ein bekanntes Sprichwort, das bereits 1541 Einzug in Sebastian Francks deutschsprachige Sprichwortsamm‐ lung gefunden hatte als Die warheit lydt wol not / aber nit den todt. 160 In der Schmähschrift wird das Publikum als alle ehrliebende[n] menschen, redlich[e] leutt[e] oder christ[en] explizit einbezogen, Langener spricht es gar direkt an: und bitte alle ditz ahnschlages, ahnsichtigen zum hochsten als ein christ den anderen bitten magk so lieb einen jeden sein ehr sey, wolle sich an kay: mayt: nicht vergreiffen, noch sich dorein legen und diesen ahnschlagk unberurt lassen damit die sache zum ahnfangk und ende komme, die erbarkeith sampt der gerechtigkeit geföddert, und eines ehrlichen mannes ehre, so hochlich ahngetastet, möge errettet werdenn. 161 Langener konstruiert so implizit ein Wir-Kollektiv, bestehend aus der Ge‐ meinschaft aller ehrlichen Menschen beziehungsweise der Christenheit. Dies entspricht der von M I E R A U für das Mittelalter konstatierten christianitas-Öffent‐ lichkeit, die als unspezifische, aber potentiell universale und handlungsfähige Größe imaginiert wurde. Seinen Gegner stellte Langener als Verbrecher dar und drohte ihm ganz konkret mit dem Ausschluss aus dieser Gemeinschaft. Pflugk wird somit in der Schmähschrift ganz explizit in den Status der Liminalität, also einen prekären, von dauerhafter gesellschaftlicher Exklusion bedrohten 7.3 Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess 173 162 Vgl. zum Begriff der Liminalität D E W A A R D T , Ehrenhändel (1995). 163 Scheltbrief des Andreas Langener (Anh. 2.3), Z.-94f. 164 T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S.-56. 165 Nach Lentz sprachen die Scheltbriefe zwecks Wiederherstellung der Ordnung ein Kollektiv an, das als Idealzustand gedacht wurde, situativ unterschiedlich gelagert war und aus sozial und rechtlich vollwertigen Menschen bestand. Ziel der Scheltbriefe war es, die Gemeinschaft von einem eingetretenen Verstoß gegen ihre Normen in Kenntnis zu setzen und an diese zu appellieren, da es zur Wiederherstellung der guten Ordnung einer Reaktion bedurfte. S. L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S.-30f., 154-157. 166 Zum Folgenden bereits hinsichtlich vorliegender Normenkonkurrenzen: S I E G E M U N D , Schmähschriftenprozess (2020). 167 L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S. 126-148. In der folgenden Interpretation folge ich daher in vielen Punkten der Darstellung Lentz’. 168 N E U M A N N , Schmähung als „Meisterstück“ (1997), S.-627-629. Zustand gesetzt, 162 der nicht nur das irdische Leben, sondern auch sein Seelen‐ heil betraf - er müsse sich daher schon gottes und des ewigen wohlfarth 163 wegen fügen. Langeners Appell an die Öffentlichkeit über die Schmähschriften stellte in diesem Fall also durchaus eine Form der „außergerichtliche[n] oder vorgerichtliche[n] Selbstjustiz“ dar, die T H U M als zentrales Motiv schon der spätmittelalterlichen Publizistik hervorhebt. 164 Damit entspricht sein Text als Rechtsforderung und Ordnungsapell funktional den Scheltbriefen zur Schuld‐ einforderung und bedient sich der gleichen, auf die Reziprozität als Kontrollme‐ chanismus abzielenden Wirkungsweise. 165 7.3.2 Konfligierende Sichtweisen und der Gemeine Nutzen 166 Langeners Sicht auf sein Handeln geht nicht nur aus seinen Schmähschriften hervor, sondern auch aus seiner Verteidigung vor der kurfürstlichen Kommis‐ sion. Die Argumentation beider Seiten gleicht bis in Details hinein derjenigen eines Prozesses am Reichskammergericht von 1572-1585, den L E NT Z zur Ana‐ lyse des Rückgangs der Praxis der Scheltbriefe am Ende des 16. Jahrhunderts heranzieht. 167 Offensichtlich handelt es sich also im Prozess Langener gegen Pflugk um einen in der Sache typischen Streitfall des 16. Jahrhunderts, in dem unterschiedliche, sich teils konträr gegenüberstehende Normen dieser Zeit sichtbar werden. Wie Frederike N E U MAN N für Verbalinjurien herausstellt, ging es den Kla‐ genden darum, die Beleidigungen als klageerheblich zu kennzeichnen. Neben dem Inhalt der Schmähung waren dabei der böse Vorsatz (animus iniurandi) der Angeklagten sowie der bei der Beleidigung erreichte Grad der Öffentlichkeit relevant, wobei auch der Ort des Geschehens von Belang war. 168 Der Blick auf das Reichs- und Territorialrecht legt nahe, dass Langeners Position zu Beginn des 174 7 Schmähschriften als weapons of the weak 169 S. Kap. 5.2 und 5.3. 170 M A Y ; B R Y S O N , Verse Libel (2016), S.-5. 171 Siehe vor allem: B L I C K L E , Der Gemeine Nutzen (2001). Blickle bezeichnet den Gemeinen Nutzen als „leitende Norm der Gesetzgebungstätigkeit des Landesherrn“ (S. 93). Vgl. auch I S E L I , Gute Policey (2009), S.-125-130. 172 S C H U L Z E , Vom Gemeinnutz zum Eigennutz, S. 598. Zur Entstehung des Gemeinen Nutzens als Legitimationsfigur s. B L I C K L E , Beschwerden (2003). 173 B L I C K L E , Der Gemeine Nutzen (2001), S.-93. Prozesses keine gute war, da seine Tat durchaus die in der Carolina beschrieben Merkmale schrifftlicher unrechtlicher peinlicher schmehung aufwies. Besonders mit Blick auf die kursächsische Rechtslage konnte er aber zumindest von einem gewissen argumentativen Spielraum ausgehen, der sich aus der genannten Zuordnung zu den einfachen schriftlichen Injurien und der ausweislich der Kursächsischen Konstitutionen zumindest strittigen Bedeutung des Wahrheits‐ beweises ergab. Neben den Straftatbeständen selbst lassen sich den Rechtstexten, die sich mit schmähenden Schriften befassen, unterschiedliche Rechtsziele entnehmen: Schutz der Geschmähten, Zurückdrängung der Selbstjustiz sowie Erhalt des Friedens und der öffentlichen Ordnung. 169 Eine Störung der öffentlichen Ord‐ nung war nicht nur zu befürchten, wenn Schmähschriften sich gegen die Herrschaft richteten, sondern auch, wenn die Schmähung von Individuen zu einer Eskalation des Streites führen konnte: „Because a libel ‚robbed a man of his good name‘, in a society that depended on reputation, the victim would be forced to defend himself by whatever means he could, even by breach of the peace.“ 170 Als gemeinsame Basis der Verordnungen wie der gesetzgeberischen Tätigkeit am Beginn der Frühen Neuzeit insgesamt kann die Förderung des Gemeinwohls (bonum commune) beziehungsweise des Gemeinen Nutzens (utilitas publica) gelten. 171 Hierüber hinaus wurde der Gemeine Nutzen nicht nur als Leitlinie politischen, sondern auch individuellen Handelns angesehen. Entstanden be‐ reits in den Städten und dörflichen Gemeinschaften des Spätmittelalters, bildete das Konzept ein zentrales „Regulativ für das individuelle Wohlverhalten des einzelnen Bürgers“. 172 Dabei handelte es sich beim Gemeinen Nutzen keineswegs allein um einen den politischen Traktaten der Zeit entnommenen, abstrakttheoretischen Begriff, sondern vielmehr um einen des geläufigen, alltäglichen Sprachgebrauchs. 173 Als relevantester Gegenbegriff zur Abwertung von Fehl‐ verhalten erscheint demgegenüber der Eigennutz. Im betrachteten Fall konnte der Gemeine Nutzen von beiden Seiten argumen‐ tativ in Stellung gebracht werden. Die Kläger warfen Langener vor, er habe 7.3 Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess 175 174 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *151 v . 175 Ebd, fol. *152 r . 176 Ebd., fol. *182 v . darnach hin und wieder under die leute spargiret und letzlichenn auch damitt es jederman kund wurde offentlichen unnd in publico an etzlichenn ortenn do umb meysten Leute zu schaffen habenn, angeschlagenn, das es mit guttem bedacht et deliberate und aus lautern besem versag geschehen. So ist auch das nicht der modus dardurch man die leute zu rechte bringen und dinstellig machen soll, sondernn die recht haben viel andere mittel dazu geordentt. 174 Die Position der Brüder Pflugk lag auf der Hand: Sie sahen sich in erster Linie in Ehre und Leumund verletzt und konzentrierten sich im Sinne der Injurienklage darauf, den erlittenen Schaden zu betonen. Dies taten sie, wie bereits dargestellt, vorrangig über die Betonung der weiten Verbreitung der aus ihrer Sicht beschämenden Inhalte der Schmähschrift. Dabei stellten sie den animus iniurandi Langeners heraus, der aus lautern besem versag gehandelt habe. Zusätzlich beklagten sie, Langener habe Selbstjustiz betrieben - ein Vorwurf, den dieser wiederum zurückspielte, da er Pflugks Weigerung, sich an den Schiedsspruch zu halten, ebenfalls als Selbstjustiz ansah. Neben unzähligen Verweisen auf den schlechten Leumund Langeners kon‐ zentriert sich die Pflugksche Seite darauf, seine Vorwürfe abzustreiten; so gab man etwa nicht zu, dass es je einen Kaufvertrag gegeben, dass Tham Pflugk Langener in Canitz beleidigt und angegriffen oder, dass Pflugk sich ungehorsam gegenüber obrigkeitlichen Weisungen verhalten habe. Damit einhergehend sprach man Langener auch das Recht iniurandi sed sui defendendi ab, also das Recht zur Retorsion, zur Verteidigung gegen Beleidigungen durch Belei‐ digungen, da keine Provokation vorliege. 175 Im Zentrum der Beweisführung der Kläger stand jedoch die Feststellung, dass die angeschlagenen Schriften gleichsam aus sich selbst heraus ihren beleidigenden Charakter bewiesen und somit als Schmähschriften zu gelten hätten. Dass Langener seine Autorenschaft nicht in Abrede stellte, wurde folgerichtig als Geständnis gewertet. Der Angeklagte bestritt hingegen grundlegend, dass es sich bei den von ihm veröffentlichten Schriften um rechtswidrige libelli famosi gehandelt habe, da neque animus injurandi, neque propositum conviciandi auß dem kann dargethan, oder erwiesen werden. 176 Er argumentierte ganz im Sinne des Inhalts seiner Schmähschriften, dass es nicht sein Ziel gewesen sei, Tham Pflugk zu schmähen, sondern die Gemeinschaft und mithin die Obrigkeit über dessen anhaltenden Normbruch zu informieren und ihn zur Verhaltensänderung aufzufordern: 176 7 Schmähschriften als weapons of the weak 177 Ebd. 178 Ebd., fol. *74 v . 179 Die in den griechischen Zusätzen des Danielbuchs enthaltene Erzählung handelt von der schönen und guten Susanna, die von zwei Richtern unter Androhung von Verleumdung und Todesstrafe zum Ehebruch gedrängt wird. Sie verweigert sich und scheint damit den Tod gewählt zu haben. Im letzten Moment wird sie jedoch vom Propheten Daniel gerettet, der durch ein getrenntes Verhör die beiden Richter der Falschaussage überführt. S. K O E N E N , Susanna (2007). 180 Ebd. […] wie er dardurch anclegers brudere, noch sunst yemandt an seinen ern zuverletzen, niemals in syn furgenomen, sunder allain dem geübtten gewaltt, undt unbilligkeit domitt zue eiffern, wie dan des alles der arme gefangene mitt guttem bestandt zuebeweissenn [dass Pflugk] nit allain den angeclagtten, sunder manchen redtlichen man, hiebevor gleicher gestaltt, ubel vorgewaltigtt […] insunderheitt aber, die weill er sich der ordentlichen obrigkeitt gebott, noch verbott zuhalten, unpflichtig erachtet [habe]. 177 Noch deutlicher wird Langeners Einschätzung der Lage in einer Supplik, die er aus der Haft heraus an den kurpfälzischen Administrator Johann Casimir richtete: Unschuldt halben vergleich ich mich gerne der liebe Susanna, welche hart kegen ihre obrigkeith durch neidt ahngegeben, bitz ihr goth der herre den lieben Daniel zuschickt durch dehnen sie aller ihrer noth entlediget wurden. Und wiss gewiss das got der almechtige habe mein embsiges gebeth [...] e. f. g. zu meinem Daniel zuerwehlen erhort, durch dehnen ich sol erhohret werden. 178 Unter Bezug auf die biblische Geschichte der Susanna im Bade stellt sich Langener gleich zu Beginn als Susanna, also als Opfer einer ihm übelwollenden Obrigkeit, nämlich der durch die Landesregierung eingesetzten Kommission, dar und bittet zugleich Johann Casimir, als Prophet Daniel seine Rettung zu veranlassen. 179 Langener setzte damit seiner Darstellung als Störer rechtlicher Ordnung eine Inszenierung als deren Bewahrer entgegen, schließlich möchte die biblische Erzählung „ihre Hörerinnen und Hörer ermutigen, in vergleichbaren Situationen dem Beispiel Susannas zu folgen und im Vertrauen auf Gottes Hilfe am Gesetz festzuhalten.“ 180 In drastischen Worten beschreibt er darüber hinaus das ihm bislang geschehene Unrecht: So kann ich mich noch der zeit nicht ruhmen, das mir recht oder gerechtigkeitt widerfare, ich thue was ich woll, so werde ich undergedruckt. Meinem kegentheil wirdt alle sein muttwill und unloblich begehren gefordert, das vorwahr gott die lange nicht wirt konnen zuesehen, und glaube nicht das mir solche unbilligkeit unter 7.3 Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess 177 181 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *75 v . 182 An dieser Stelle unterscheidet Lentz zwischen eigentlicher Schmähung und dem öffent‐ lichen Anprangern von Fehlverhalten und folgt damit gewissermaßen den Verfassern der Scheltbriefe und spricht ihnen eine Beleidigungsabsicht ab: L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S. 132. Eine solche Unterscheidung in Ehr- und Sachkonflikt kann meines Erachtens unter den Bedingungen der stets die Ehrverletzung fokussierenden frühneuzeitlichen Streitkultur nicht vorgenommen werden. Der öffentliche Vorwurf des Norm- und sogar Gesetzesbruchs entspricht einer starken Herabsetzung, die sicher auch als solche empfunden und von den Autor: innen intendiert wurde. 183 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 25, fol. *40 v -*41 v . 184 F U C H S , Rangordnung (2005), S.-171. turcken oder mammelucken begegnen möchte, […] In summe es gehet zu, das ein stein geschweig eines menschen hertz, unbilligkeit halben blutten möchte. 181 Dass es sich bei den von Langener angeschlagenen Schriften nicht um Schmä‐ hungen im engeren Sinn handeln sollte, war höchstens in einem juristischen Sinne logisch. Die Schmähung bestand vielmehr bereits im Vorwurf des Fehl‐ verhaltens und Gesetzesbruchs. 182 Gerade die schmähende Wirkung war es ja, die Langener nutzen wollte, um Pflugk dingstellig zu machen. Die Basis der Verteidigungsstrategie Langeners bildeten die Nachweise, dass es sich nicht um Schmähschriften im engeren Sinn handelte und dass die in ihnen erhobenen Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen. Welchen Charakter die Schriften seiner Meinung nach hatten, geht aus den durch ihn eingebrachten Artikeln der Zeugenbefragung hervor. In diesen stellte er die Frage, ob auch das vor schmeheschrieftten zu achten sei, wann sich einer wie ehr vorgewaltigt beclagtt, […] bey welchen einer den anderen zu einen rechtlichen außtrag begertt, unnd ermanett, […] do sich einer unfaugs [Unrechts] beclagtt, unnd zu seinem nahmenn bekandt, auch denn darinnen angezogenen gewaltt, darthun unnd beweisenn kahnn [und] darinnen einer umb Vorbiett anlangtt. 183 Langener hielt also eine öffentlich angeschlagene Schrift nicht für eine Schmähschrift, wenn sie einen Rechtsbruch anklagte, dabei die Beklagten zum rechtlichen Austrag des Konflikts vor Gericht zitieren ließ, die Anschuldigungen bewiesen werden konnten und der Urheber sie mit seinem Namen versehen hatte. Gerade diesem Wahrheitsbeweis diente das Gros der übrigen Fragen an die Zeugen, sodass sich der Prozess zu einem nicht unerheblichen Teil um die Aufarbeitung des Ursprungskonflikts drehte und auch darum herauszufinden, welche Partei ursprünglich den Bruch des gesellschaftlichen Friedens - und somit auch die Ehrverletzung - verursacht hatte. 184 Sowohl die Carolina als auch die Kursächsischen Konstitutionen schlossen eigentlich aus, dass der Wahrheitsbeweis zur Legitimation einer schmähenden Schrift herangezogen 178 7 Schmähschriften als weapons of the weak 185 Vgl. Kap. 5.2 und 5.3. 186 Nürnberger Reformation von 1564, fol.-71. 187 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *140 v . werden konnte. 185 Allerdings hatte sich diese Bewertung von Scheltbriefen zur Schuldeinforderung auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch nicht gänzlich durchgesetzt und Prozesse wie derjenige Langeners zeigen, dass die Praxis vereinzelt durchaus noch als anerkannter Rechtsbrauch betrachtet werden konnte. Einige Belege sollen im Folgenden zeigen, dass es sich bei der Einstellung des Andreas Langener keinesfalls um eine absurde Einzelmeinung handelte, sondern dass sich der Zuckerhändler hier durchaus in einer Grauzone bewegte, um die auch von juristischer Seite noch gestritten wurde. Im direkten Umfeld Langeners findet sich ein rechtliches Vorbild für dessen Handlungen: Die Reformation des Nürnberger Stadtrechts von 1564 hielt fest, wie man sich gegen einen säumigen und vor allem flüchtigen Schuldner zur Wehr zu setzen habe (Wie der truennigen namen offentlich angeschlagen / und irenthalben mandirt werden soll). 186 Das Stadtrecht gestattete die öffentliche Anprangerung der Schuldner, wenn auch nur in offizieller Form durch den Ma‐ gistrat. Da Langener in der Zeit des Prozesses und wohl auch zuvor in Nürnberg wohnhaft war, waren ihm diese Bestimmungen mit großer Wahrscheinlichkeit bekannt: So ainer fuer truennig oder fluechtig erkent / und die glaubiger bey dem burger‐ maister umb verner hilf anlangen wurden / soll inen auf des fluechtigen haab und gueter / ain verpot und arrest vergoent und gelegt werden. Und damit sich niemand der unwissenheit halb zuentschuldigen hab / so soll alßbald solchs under dem rath‐ hauß / oder an dem gewoenlichen ort des marckts allhie / angeschlagen und gepoten werden / nemlich. Langener betrachtete den vorliegenden Fall ganz ähnlich. Seiner Ansicht nach war ihm Pflugk weiterhin das Geld für die überreichten Waren schuldig; aus dieser Perspektive standen die beiden Männer also in einem Schuldner-Gläu‐ biger-Verhältnis. Zudem betonte Langener, dass Pflugk die Stadt rechtswidriger Weise verlassen habe, also fluechtig war, und die angeschlagenen Schriften primär dazu dienten, Pflugk dingstellig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. 187 Außerdem entsprach er, indem er zunächst zum Kanzler ging, um ihm die anzuschlagenden Schriften vorzulegen, dem in der Nürnberger Reformation geforderten Vorgehen. Auch erfolgten die Anschläge eben zu der Zeit, als an den entsprechenden Orten Markt gehalten wurde. Zwar befolgte Langener nicht konkret die Bestimmungen der Reformation, die gerade nicht das persönliche Anschlagen von schmähenden Schriften förderte, sondern von 7.3 Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess 179 188 D A M H O U D E R , Praxis rerum criminalium (1571), fol.-229 v -230 v . 189 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *12 r . 190 D A M H O U D E R , Praxis rerum criminalium (1571), fol.-230 r . offiziellen Schreiben sprach, die der Rat anbrachte und die Weisungen an die Bürger: innen im Umgang mit den Schuldner: innen enthielten. Dem Stadtrecht lag aber dieselbe Einschätzung zugrunde, nämlich, dass das öffentliche Ausrufen von Schuldner: innen grundsätzlich rechtens war. Dementsprechend empfand Langener seine Aktion als rechtmäßig im Sinn einer Rechtsgewohnheit und verteidigte sie entsprechend. Diese Geisteshaltung fand Unterstützung in einigen rechtspraktischen Schriften der Zeit, die durchaus die Meinung vertraten, dass schmähende Schriften unter Umständen legitim sein konnten. Damit nahmen sie eine diffe‐ renziertere Position ein als die Gesetzestexte, die lediglich umfassende Verbote und Höchststrafen kannten. Auf Reichsebene ist es der einflussreiche Jurist Jost de Damhouder (1507-1581), der in seinem bekanntesten Werk practica rerum criminalum an gleich zwei Stellen schmähende Schriften behandelte und dieser Praxis gewissermaßen eine Hintertür zur Legalität offenhielt. Im 125. Kapitel de diffamatione per libellos fasst er Schmähschriften als geistigen Diebstahl, da sie dem Opfer sein gut gerücht stählen. 188 Dazu passend wurde auch Langener in den Anklageschriften als rauberisch diffamant bezeichnet. 189 Als Höchststrafe sah Damhouder die Hinrichtung mit dem Schwert vor. Auch wären solche Personen zu strafen, die Schmähschriften finden und sie behalten oder gar weitergeben, anstatt sie wie geboten zu zerreißen oder zu verbrennen. Allerdings kannte und akzeptierte Damhouder den Wahrheitsbeweis: Welche aber ehrenverletztliche schriffte / von lebens verwircklichen und warhaff‐ tigen sachen / oder die er zubeweisen begert / erstlich macht oder außbreitet / der‐ selbig hat darumb keine mißhandlung auff sich allein daß er solche erbietung zubeweisen / vor gericht thue. Dann ausserhalb gerichtes will keinem gebüren / den andern mit schmälichen anklagungen anzutasten. Sonst anderer schmälicher schrifften halben / die keine lebensverwirckliche sach in sich haben / ist der dichter / schreiber oder außbreiter / zum abtrag zugefügter schmacheyte / unnd wi‐ derruffung seiner Schmähungen zustraffen. 190 Obwohl es niemandem gebühre, einen anderen außerhalb des Gerichts zu beschuldigen - Damhouder widerspricht sich an dieser Stelle -, sei eine ehrenschädigende Schrift legal, solange die Anschuldigungen im Nachgang vor Gericht bewiesen werden könnten. Langeners Versuche, die Wahrheit seiner Anschuldigungen zu belegen, standen im Einklang mit Damhouders Ausfüh‐ rungen. Der bedeutendste kursächsische Rechtspraktiker des 16.-Jahrhunderts, 180 7 Schmähschriften als weapons of the weak 191 König starb zwar bereits 1526, das angesprochene Prozesshandbuch wurde jedoch erst 1541 herausgegeben, nachdem es zuvor unter den Juristen in handschriftlicher Form kursierte. Sowohl vor wie auch nach der Drucklegung nahm es großen Einfluss auf die sächsische Rechtspraxis, s. V O N S T I N T Z I N G , Art. „König, Kilian“ (1882). Zur Bedeutung von Königs Schriften und deren Neuauflagen bis ins 17. Jh. hinein s. L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-57f. 192 K Ö N I G , Processus und Practica (1541), fol.-66 v f. Kilian König (1470-1526), ging in seiner Bewertung von wahrheitsgemäßen schmähenden Schriften sogar noch weiter. In seiner Schrift Processus und Practica von 1541 sammelte und diskutierte König systematisch Entscheidungen sächsischer Rechtsprechung, besonders des Hofgerichts. 191 Im Kapitel von der schmehelichen schrifft. De libello famoso 192 hält er fest: Wer ein schandtbrieff oder schendgesang von einem macht / oder wer die findet oder offenbart / und an tag bringet / der sol mit dem schwerd gestrafft werden. […] Es sey denn das derselbige / der sie macht oder findet und offenbart / die beweiset / das es war und also sey / wie in die schendbrieff oder gesang verleihet / als denn sol derselbige nicht alleine ungestrafft bleiben / sondern sol auch gelobet und begabet werden. Demnach galt, dass Schmähschriften und andere schriftliche Anschuldigungen unter bestimmten Umständen nicht nur straffrei bleiben, sondern gar als eine Art Dienst am Gemeinen Nutzen betrachtet werden konnten, dessen Erfüllung lob und belohnunge versprach. Jedoch war diese Bewertung an Bedingungen gebunden: […] das dieselbigen [Pasquillanten] sollen gestrafft werden / es were denn das dem gemeinen nutz nuetzlich und dienstlich were / solches wie das meldet zu wissen / als wenn das schendlied meldet / das einer ein auffruerisch / zenckisch / par‐ teisch / bennisch / aussetzig man ist / oder sonst mit dem laster / das dem gemeinen gut entgegen were / befleckt / so blibe der / welcher solch lied gemacht / wo er solchs beweiset / one straffe / und hette des darbey lob und belohnunge […] Were aber diese beruechtigung dem gemeinen gut / und also reipublicem nicht not zu wissen / als wenn einer einen in einem liede blind / lahm / hinckend / item das er ein ausgelauffen muench / oder sonst ein leichtfertiger man were etc. und ob er das beweiset / bliebe er dennoch nicht ungestrafft […] welchs auch stadt hat in den muendlichen und schrifftlichen iniurien. Um Strafbarkeit auszuschließen, mussten die in der Schmähschrift veröffent‐ lichten Informationen oder Anschuldigungen demnach nicht nur wahr, sondern auch relevant für diejenige Gemeinschaft sein, der sie kundgetan wurden. 7.3 Die Bewertung der Schmähschriften im Prozess 181 193 K Ö N I G ; G R E G O R I U S , Process vnnd Practica (1599), S. 326. König folgte hier im Wesentli‐ chen der für das Mittelalter prägenden Position des Bartolus de Saxoferrato (1313-1357), der den Wahrheitsbeweis beim Bestehen eines öffentlichen Interesses zuließ. S. B A R T E L S , Dogmatik der Ehrverletzung (1959), S.-175f. 194 S C H W E R H O F F , Pasquill (2021), S.-90. 195 F I S C H , Wandel des Gemeinwohlverständnisses (2004), S.-48. 196 C A R P Z O V , Practicae Novae II (1646), Quaestio 98 „De poena famosi Libelli, sive Pasquilli“, §40-44, S.-419f. 197 B A R T E L S , Dogmatik der Ehrverletzung (1959), S.-182. Hatten die Pasquillant: innen allerdings Vorwürfe erhoben, die ausschließlich der Herabsetzung des Opfers dienten, der Gemeinschaft aber keinerlei Nutzen brachten (zum Beispiel körperliche Gebrechen), galt ihr Handeln als Verbrechen und waren sie am Leben zu strafen. Königs Werk wurde vielfach aufgelegt und 1599 nochmals von dem kursächsischen Rechtsgelehrten Joachim Gregorius (1547-1602) bearbeitet. In Bezug auf die Schmähschriften betont dieser die Gültigkeit der Angaben auch zu seiner Zeit. 193 Der Appell an die Öffentlichkeit als zuständige Gemeinschaft konnte in dieser Betrachtungsweise also sowohl Unruhe stiftendes Übel als auch notwendiges Mittel zur Gefahrenabwehr und Beitrag zum Gemeinen Nutzen sein. Es zeigt sich hier, dass Schmähschriften zumindest unter bestimmten Umständen nicht, wie durch die Aufklärung propagiert, als absoluter Gegenpol vernünftiger öffentlicher Kritik zu sehen sind, sondern auch „mitten im Schnittfeld von persönlicher Schmähung und sachlicher Kritik“ 194 stehen konnten. Allerdings wussten schon die Zeitgenoss: innen um das Problem, dass Gemeinnutz zur Ver‐ folgung eigennütziger Ziele vorgeschoben werden, Langeners Argumentation also durchaus als wohlfeil zu betrachten sein konnte. 195 Beide Parteien waren in der Lage, sich bei der Verteidigung ihrer unterschiedlichen Standpunkte theore‐ tisch auf Verweise auf relevantes Rechtsschriftgut zu stützen. Erst im folgenden Jahrhundert wurden diese Widersprüche systematisch aufgegriffen und bear‐ beitet. Der für die deutsche Rechtsgeschichte so bedeutende Benedikt Carpzov beispielsweise wägte die unterschiedlichen Argumente 1646 gegeneinander ab, ließ den Wahrheitsbeweis letztlich nicht mehr zu und betrachtete die offizielle, mündliche Anzeige beim Magistrat, anstatt der außergerichtlichen anonymen Verleumdung, als einzig legitimen Weg der Offenbarung von Verfehlungen. 196 Damit leitete Carpzov gewissermaßen die letzte Etappe der Diskussion um die Bedeutung des Wahrheitsbeweises ein, der, nachdem er jahrhundertelang dis‐ kutiert worden war, im 17. und 18. Jahrhundert von den meisten Rechtsgelehrten abgelehnt wurde, unabhängig vom öffentlichen Interesse. 197 L E N TZ erklärt derartige Konflikte um schmähende Schriften mit einem im 15. und 16. Jahrhundert bestehenden Dualismus zwischen althergebrachtem ge‐ 182 7 Schmähschriften als weapons of the weak 198 L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S.-60-68. 199 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09710/ 23, fol. *178 r . 200 Ebd., Aktendeckel. nossenschaftlich getragenen Recht und progressiver herrschaftlich ausgeübter Jurisdiktion, die gegen genossenschaftliche Selbsthilfe vorging, zu der auch die Schmähschriften zu zählen sind. 198 Die aufgezeigten Quellen der Rechtsliteratur und die Argumentation Langeners legen nahe, dass dieser Wandel weg von genossenschaftlicher Selbsthilfe in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Kursachsen noch keineswegs abgeschlossen, schmähende Schriften zur Einforderung gewünschten Verhaltens unter bestimmten Bedingungen noch nicht endgültig für illegal erklärt worden waren. Allerdings stellt sich der Streit zwischen Langener und Pflugk nicht als ein solcher zwischen genossen‐ schaftlichem und obrigkeitlich getragenem Recht dar, wenn sich dergleichen auch in der Argumentation Pflugks findet. Andreas Langener wählte den Weg genossenschaftlichen Rechts nicht anstelle des obrigkeitlichen, sondern sah sein Handeln durchaus im Einklang mit letzterem, ja versuchte vorgeblich diesem Geltung zu verschaffen. Leider ist ein Urteil für den betrachteten Prozess nicht überliefert. Es ist aller‐ dings davon auszugehen, dass Langeners Argumentation wenigstens teilweise verfing, da er schon während des Prozesses er aus der Haft entlassen wurde. 199 Darauf, dass es wahrscheinlich zu keinem Endurteil kam, verweist der Vermerk auf einem der Aktendeckel: Sundt beide fort gestorben. 200 7.4 Fazit Die Schmähschriften des Andreas Langener, oder vielmehr ihr öffentlicher Anschlag in Dresden, waren als Instrumente des Konfliktaustrags integriert in einen mehrjährigen Streit um ein gescheitertes Geschäft und folgten auf den, aus Sicht Langeners erfolglosen, Einsatz anderer Mittel, nämlich der Beleidigung und der physischen Gewalt, aber auch des Beschreitens juristischer Wege. Sie wurden eingesetzt als Zwangsmittel des in jeder Hinsicht Unterlegenen in einer stark asymmetrischen Konfliktkonstellation: Langener konnte als Fremder keinerlei soziales oder gar politisches Kapital aufbringen, um Pflugk unter Druck zu setzen. Seine juristischen Mittel hatte er insofern ausgeschöpft, als Pflugk nicht zur erneuten Beschreitung des Rechtswegs bereit war. Selbsthilfe in Form physischer Gewalt gegen den auf seinem Schloss in Canitz residierenden Adligen versprach sicher keinen Erfolg. In dieser Situation zeitigte nun das Anbringen der Schmähschriften deutlich Wirkung und es zeichnet sich bereits 7.4 Fazit 183 201 B U T C H E R , Functions of Script (2004) bezeichnet die spätmittelalterliche Stadt und ihr Umland als verflochtene „speech community“. Das Konzept bezieht sich auf Praktiken sprechender Akteur: innen, die interaktiv miteinander in Verbindung standen und ein eigenes Sprachsystem nutzten. In der Betonung des eigenen Sprachsystems und dem Bezug auf geteilte Normen, lokalem Wissen, Glauben und Werten geht es jedoch über die hier gemachten Beobachtungen hinaus. ein Sonderstatus derselben innerhalb der frühneuzeitlichen Streitkultur ab. Langener hatte sich offenbar eines ständeübergreifend wirksamen Instruments des Konfliktaustrags bedient und eine Dynamisierung des stagnierenden Ver‐ laufs herbeigeführt; die Schmähschriften können in diesem Sinn durchaus als weapons of the weak bezeichnet werden. Vor allem aus den Beschwerdepunkten der Anklage, die den Schaden durch die Schmähschriften als möglichst gravierend darzustellen versuchte, lässt sich auf die Wirkungsweise derselben schließen. Als relevantestes Kriterium tritt, noch vor dem Inhalt, die weite, die Grenzen der Stadt überwindende Verbreitung hervor. Dabei handelte es sich jedoch nicht um die Verbreitung der Schriften selbst, die nicht abgeschrieben oder weitergereicht wurden, sondern um dieje‐ nige von Gerüchten um die öffentliche Schmähung Tham Pflugks. Aus medialer Sicht verwundert dies zunächst wenig: Anders als die behandelten Pasquille des Heinrich Gratz eigneten sich die Schmähschriften Langeners bedingt durch ihre Länge und ihren bürokratischen Stil nicht zur schnellen und spontanen Verbreitung. Wichtiger für ihre Wirkung war die initiale Identifikation als öffentlich ausgehangene Schmähschrift durch das Publikum, wodurch ihre Existenz zu einem kleinen Skandal wurde, der Aufmerksamkeit erregte und sie zum Gegenstand mündlicher Kommunikation machte. Langener verfolgte eine geschickte Verbreitungsstrategie, die auf ein weit verbreitetes Wissen um öffentliche Kommunikationsstrukturen schließen lässt. Zentraler Bestandteil dieser Strategie war die Wahl öffentlicher Orte. Als Knotenpunkte des städti‐ schen Kommunikationsnetzes und stark frequentierte Plätze sorgten sie für eine schnelle und weite Verbreitung. Der Kommunikationsraum Stadt endete nicht abrupt an der Stadtmauer, sondern war mit dem Umland verbunden. 201 Darüber hinaus konnten ausgewählte Orte den Zugriff auf ein auf Zielperson und Thema zugeschnittenes Publikum und eine Bedeutungsaufladung der Schmähschriften ermöglichen; so nutzte Langener die Autorität von Schloss und Kirche zur Untermauerung seines Anliegens. Pflugk und seine Zeugen präsentierten die Schmähschriftenkommunikation vor allem als weit verbreitetes Gerücht und sprachen damit eine zentrale Form öffentlicher Kommunikation in der Frühen Neuzeit an. Gerüchte zeigen sich in diesem Fall nicht als ein Phänomen allein von problematischen und unsicheren 184 7 Schmähschriften als weapons of the weak 202 K A P F E R E R , Gerüchte (1996), S.-262. 203 Zu derartigen Nachrationalisierungen s. L U D W I G , Das Duell im Alten Reich (2016), S. 151, 247-250. Situationen, als das sie die Frühneuzeitforschung häufig perspektiviert, sondern als Erscheinung des Alltags. Sie förderten die Verbreitungsgeschwindigkeit und wirkten entgrenzend sowohl in einem geographischen als auch sozialen Sinn. Ausweislich der Aussagen waren Gerüchte bereits im 16. Jahrhundert als ebenso relevantes wie paradoxes Phänomen bekannt: Sie standen in einem ambivalenten Verhältnis zur ‚Wahrheit‘. Die Etikettierung als Gerücht konnte eine Mitteilung einerseits als kontrafaktisch markieren (als ‚bloßes Gerücht‘), andererseits konnte sie einer Aussage jedoch größte Legitimität und damit Wirkkraft verleihen - ‚wahr‘ war in diesem Sinne das, von dem alle sagten, dass es wahr sei. Entsprechend konnten Gerüchte beinahe losgelöst von der tatsäch‐ lichen Faktizität ihrer Inhalte enorme Auswirkungen auf die Betroffenen haben. In ihrem Einfluss auf den Leumund liegt ein weiterer wichtiger Grund für ihre Bedeutung hinsichtlich der bezweckten Schmähung. Auf eine Kommunikation in Form von Gerüchten konnten die Invektierten zudem kaum reagieren und eine Kontrolle war letztlich nicht möglich. Gerüchte unterstützten durch ihre invektive Wirkung die Funktion der Schmähschriften als weapons of the weak, da sie großes Drohpotential aufwiesen, ohne vom Vorhandensein besonderer Ressourcen abhängig zu sein, „schließlich kostet ein Gerücht nichts, und das ist nicht sein kleinster Vorteil.“ 202 Wie auch die Autoren der Scheltbriefe sprach Langener zur Wiederherstel‐ lung der guten Ordnung das Ideal eines umfassend gedachten Publikums an. Was im Fall von anonymen und potentiell komischen Pasquillen wie denjenigen des Heinrich Gratz implizit vermittelt wurde, formulierte Langener ganz ex‐ plizit. Damit enthob er den Streit zwischen sich und Pflugk dem rein privaten, also ausschließlich die beiden Kontrahenten betreffenden Raum und machte ihn zu einer Sache allgemeinen Interesses - im Sinne der Eingangs behandelten Bedeutungsdimensionen ein Merkmal politischer Konflikte. Langener selbst hielt das Anbringen der Schmähschriften für sein gutes Recht und für ein legitimes Mittel, um seinen Kontrahenten im Sinne des Gemeinen Nutzens und auch der Obrigkeit zur Räson zu bringen. Grundsätzlich konnte es sich hierbei um Nachrationalisierungen Langeners handeln, um Versuche, das eigene Handeln rückblickend und vor dem Gericht als einzig verfügbare Option darzustellen. 203 Dieser Einwand kann jedoch durch zwei Aspekte wenn nicht beseitigt, so doch abgeschwächt werden. Erstens belegen Langeners Ankündi‐ gung der Schmähschrift in einer Supplik an den Kurfürsten sowie sein Gang zur Kanzlei seine Überzeugung, dass sein Vorhaben rechtens war. Zweitens 7.4 Fazit 185 204 Vgl. Kap. 2.3.2. 205 T H U M , Öffentlich-Machen (1980), S.-37. 206 M I E R A U , Fama (2011), S.-271. stellte diese Überzeugung keine individuelle, womöglich kuriose Eigenart in Langeners Denken dar, sondern stand in einer Tradition, die auch in der juristischen Praxisliteratur der Zeit sichtbar wird. Öffentlichmachen als Appell an die Gemeinschaft und Sanktionierung einer Normüberschreitung konnte im 16. Jahrhundert als wichtiges Element der Ordnungserhaltung und somit als Beitrag zum Gemeinen Nutzen bewertet werden. Zumindest in Ansätzen konnten also auch zur Zeit Langeners jene positiv konnotierten Funktionen des Publizierens zur Geltung gebracht werden, die T H U M für die spätmittelalterliche Gesellschaft beschreibt. 204 In Langeners Handeln kommt durchaus die „elemen‐ tare Erwartung“ zum Ausdruck, „dass die Öffentlichkeit das Feld sei, auf dem sich das Recht durchsetzen, die rechte Wahrheit offenbaren würde“. 205 Die von Langener imaginierte und auch angesprochene Öffentlichkeit war ausweislich seiner Schmähschriften universal und umfasste die Gemeinschaft aller guten Christ: innen. Damit bestand auch eine Verbindung zum Gerücht, das nach Heike M I E R A U im 15. Jahrhundert noch als anerkannter Beitrag zum Gemeinwohl gewertet werden konnte. 206 Aber auch die negative Sicht auf die Gerüchte als Gefahr für den Leumund des Einzelnen und als risikobehaftete, weil mit dem Unwahren verbundene Kommunikationsform wird deutlich. Diese Sicht tritt in der Perspektive der Obrigkeiten, die in den folgenden Kapiteln thematisiert wird, noch stärker hervor. 186 7 Schmähschriften als weapons of the weak 1 Der hier verwendete Name der Schmähschrift bezieht sich auf die zeitgenössische Überschrift der in den Akten überlieferten Abschrift, s. StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 902, fol. *25. 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus. Ein Pasquillus gegen den Zwickauer Stadtrat (1599) Der anonyme Pasquillus 1 , ein mehrseitiges Schmähgedicht, das am 4. Februar 1599 an einer Ecke des Zwickauer Rathauses angeklebt wurde, unterscheidet sich von den Pasquillen des Heinrich Gratz und dem Scheltbrief Andreas Langeners vor allem dadurch, dass sich die enthaltenen Schmähungen nicht nur gegen drei Mitglieder der Stadtregierung richteten, sondern der Angriff dem gesamten Zwickauer Magistrat als städtischer Obrigkeit galt und den expliziten Aufruf zum Aufstand und zur Neubesetzung des Rates beinhaltete. Als Autor wurde umgehend ein Jurist namens Johann Offneyer identifiziert. Verraten hatte ihn der Umstand, dass es sich bei den geschmähten Personen um Männer handelte, mit denen Offneyer in stadtbekannte Streitigkeiten verwickelt war und der Pasquillus zudem offensichtlich auf eben jene Auseinandersetzungen verwies. Obgleich auch aus heutiger Sicht kaum Zweifel an der Urheberschaft bestehen, bestritt Offneyer die Anschuldigungen und verteidigte sich hartnäckig in zwei parallel verlaufenden Prozessen (zum einen wegen der Schmähschrift, zum anderen wegen anderer Injurien gegen den Rat), die der Magistrat der Stadt kurz nach Erscheinen des Pasquillus gegen ihn anstrengte. Im Verlauf der Pro‐ zesse, die bis mindestens 1607 vor einer kurfürstlichen Kommission verhandelt wurden, wurde Offneyer 1601 zunächst für mehrere Wochen inhaftiert, dann aber entlassen. Bevor er 1602 erneut in Haft genommen werden konnte, floh er aus der Stadt und führte seine Verfahren bis 1607 aus dem Exil heraus. Zum Abschluss der Prozesse fehlen, wie zu erwarten, erneut jegliche Quellen. Die Untersuchung dieses Schmähschriftenkonflikts als eines Streits zwischen Untertan und Obrigkeit macht zunächst eine Verortung des Gegenstands ‚Schmähschriften‘ im Feld der Obrigkeitskritik und der Untertanenproteste erforderlich (Kap. 8.1). Die ungemein gute Überlieferungslage des Falls, in dem mehrere, sowohl vor dem Zwickauer Stadtgericht als auch vor den kurs‐ ächsischen Obergerichten ausgetragene Prozesse zusammenliefen, ermöglicht die Rekonstruktion eines jahrelang andauernden Konflikts und damit die 2 Im Bestand des Amtes Zwickau des Staatsarchivs Chemnitz sind in dieser Sache insgesamt neun Akten mit einer Gesamtstärke von knapp 2.400 Blatt überliefert, wobei sich durch Abschriften einige Dopplungen ergeben. Eingang in die Akten fanden Berichte des Stadtgerichts und einer für einen Prozess zwischen den Eheleuten Off‐ neyer gebildeten Kommission, Prozessschriftgut der in der Pasquill- und Injuriensache eingesetzten Kommissionen, Zwischenurteile mehrerer vorangegangener Prozesse, Zeugenaussagen, Verhöre des Angeklagten sowie Abschriften von Ratsprotokollen und privater Korrespondenz. Insgesamt zeigt sich eine ungewöhnlich breite, wenn auch von sperrigen prozessrechtlichen Schriftwechseln geprägte Materialbasis. 3 K E L L E R M A N N , Abschied vom „historischen Volkslied“ (2000), zur Gattungsbeschreibung bes. S.-49-65. 4 K E R T H , Politische Ereignisdichtungen (1997), S.-281, sieht in den „politischen Ereignis‐ dichtungen“ zumeist „Propagandaprodukte der politischen Führungsschicht“. Herausarbeitung des Einflusses der Schmähschrift auf dessen Dynamik. 2 Da im Verlauf der Streitigkeiten zwischen dem Pasquillanten Johann Offneyer und unterschiedlichen Parteien beinahe die gesamte Bandbreite frühneuzeitlicher Konfliktaustragsinstrumente zum Einsatz kam, bietet sich das Material an, um auf die Sonderrolle der Schmähschriften im Vergleich mit den übrigen Streitmitteln einzugehen (Kap. 8.2). Zur Erklärung der Wirkung des Pasquillus, der in einer optisch am Original orientierten Abschrift überliefert ist, wird zunächst dessen Inhalt analysiert (Kap. 8.3), wobei die Bedeutung komischer Elemente bei der Formulierung von Obrigkeitskritik thematisiert und eine Steigerungslogik sichtbar gemacht wird, in der sich die Schmähungen zunächst gegen drei Ratsmitglieder und schließlich gegen den Stadtrat als Ganzen richten. Der Pasquillus lässt sich letztlich der Gattung der ‚historisch-politischen Ereig‐ nisdichtung‘ zuordnen, die K E L L E R MAN N funktional über das Eingreifen der Texte in einen aktuellen politischen Konflikt mittels Adressierung einer breit gedachten Öffentlichkeit definiert. 3 Damit gehört der vorliegende Fall zu den wenigen, in denen ein Autor dieser ansonsten zumeist anonym veröffentlichten Texte greifbar wird. Noch dazu handelt es sich um einen Verfasser, der nicht der politischen Führungsschicht entstammte, wie dies etwa für die meisten der von Sonja K E R TH untersuchten Texte der politischen Ereignisdichtung der Fall zu sein scheint. 4 In Anlehnung an die Untersuchungen K E L L E R MAN N S und K E R TH S werden im Folgenden die vom Autor als selbstverständlich angenommenen Vorstellungen der adressierten Öffentlichkeit thematisiert. Die Wirkung des Pasquillus ist jedoch nur unter Einbeziehung der realweltlichen Situation in Zwickau zu erklären (Kap. 8.4). Hierzu werden vor dem Hintergrund des Kon‐ zepts der akzeptanzorientierten Herrschaft und unter Beachtung der um 1600 weit verbreiteten Angst der Obrigkeiten vor Unruhen die implizit wie explizit artikulierten Sorgen des Stadtrats untersucht. Die Frage nach der Berechtigung dieser Sorgen führt schließlich zur Auseinandersetzung mit dem ambivalenten 188 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 5 Zur Stadtgeschichte siehe vor allem: B R Ä U E R , Zwickau (2017); K U N Z E , Zwickau (2017). Die wichtigste Monographie zum frühneuzeitlichen Zwickau legte sicher Susan Ka‐ rant-Nunn vor: K A R A N T -N U N N , Zwickau in Transition (1987). Das Werk bietet eine detailreiche Studie zur Stadtgeschichte, die auf den politischen, sozialen und wirtschaft‐ lichen Wandel der Stadt in der Zeit vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis 1547 und insbesondere auf den Einfluss der Reformation fokussiert. Aufgrund des zeitlichen Zuschnitts können für die folgende Untersuchung allerdings nur einzelne Aspekte, vor allem hinsichtlich der Traditionslinien politischer Konflikte in der Stadt, herangezogen werden. 6 R O S S E A U X , Städte in der Frühen Neuzeit (2006), S.-62f. 7 K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-31-48, Zitat S.-40. Status des anonymen Pasquillus, der zwischen kollektivem und individuellem Protestmedium changiert. Dadurch, dass der Konflikt aus dem städtischen Zuständigkeitsbereich heraus in die territorialherrschaftliche Sphäre überführt wurde, kann außerdem die Reaktion der betroffenen mediaten Obrigkeit - also des Stadtrats - mit derjenigen des Landesherrn verglichen werden, wodurch der in den vorherigen Kapiteln gewonnene Eindruck von der obrigkeitlichen Verfolgung von Pasquillant: innen weiter ausdifferenziert wird (Kap. 8.5). Die Stadt Zwickau, das ‚Setting‘ des vorliegenden Falls, gehörte im ausge‐ henden 16. Jahrhundert mit über 7.000 Einwohner: innen zu den größten Städten Kursachsens. 5 Entsprechend existierte eine weitgehend autonome Stadtregie‐ rung, bestehend aus je einem regierenden und alten Rat sowie zwei Bürgermeis‐ tern. Das Stadtgericht hatte die niedere und hohe Gerichtsbarkeit inklusive der Blutgerichtsbarkeit inne, Prozesse in politischen Angelegenheiten führte aller‐ dings der Stadtrat. Die Mitglieder des Stadtrates, aus dessen Reihen man auch das Stadtgericht besetzte, wurden durch Kooptation bestimmt, wobei die An‐ wärter aus insgesamt etwa 60 einflussreichen Familien stammten. Wie in vielen anderen Städten der Zeit lässt sich auch in Zwickau von einer Oligarchisierung des Rates sprechen, die um 1500 einsetzte und zu einer zunehmenden Distanz zwischen herrschendem Rat und den Untertan: innen der Bürgerschaft führte. 6 Dabei kam es immer häufiger zu Konflikten, die beispielsweise in den Jahren 1509 und 1534 unter Hinzuziehung der Landesherrschaft geschlichtet werden mussten. Susan K A R ANT -N U N N sieht in Zwickau am Beginn des 16. Jahrhunderts gar einen „spirit of rebellion“. 7 Zuletzt kam es 1591 zur Entzweiung, als der Zwickauer Rat, dem Kurs der Landesregierung folgend, einen calvinistisch ge‐ prägten Superintendenten gegen die mehrheitlich lutherisch-orthodoxe Bürger‐ schaft verteidigte. Aber auch mit der Landesregierung, die besonders während der Herrschaft Augusts und Christians I. ihre Macht ausbauen konnte, rang der Rat um Zuständigkeitsbereiche und Gerichtsbarkeiten. Die wirtschaftliche und soziale Situation Zwickaus verschlechterte sich zum Ende des 16. Jahrhunderts 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 189 8 Vgl. ausführlich zur zugrundeliegenden Trennung von privaten und politischen Konflikten: Kap. 3.3. 9 K U H N , Urban Laughter (2007); G E S T R I C H , Schandzettel (1997); W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S.-133-156. zusehends. Als der Pasquillus angeschlagen wurde, hatten sich, bedingt auch durch das Ende des Bergbau-Booms in Schneeberg, die Gegensätze zwischen Arm und Reich sowie die Kluft zwischen Ratsfamilien und Bürgerschaft deutlich vergrößert. 8.1 Schmähschriften als Mittel der Obrigkeitskritik Der Pasquillus des Johann Offneyer stellt in Bezug auf die Überlieferungs‐ situation den Normalfall dar: Bei den meisten der für Kursachsen überlie‐ ferten Schmähschriften handelt es sich um solche, die gemäß der eingangs herangezogenen Definitionen öffentlichen beziehungsweise politischen Kon‐ flikten entstammten. Das heißt, sie thematisierten Probleme mit als kollektiv verbindlich verstandenem Entscheidungsbedarf oder richteten sich gegen einzelne Amtspersonen, städtische Magistrate, Grund- und Territorialherren. 8 Die in Kapitel sieben dargestellten Gründe für die Effektivität der Pasquille als Waffen in asymmetrischen Konfliktkonstellationen machte sie auch zu wirkungsvollen Instrumenten im Kampfs gegen Autoritäten: Es bedurfte keiner besonderen (Macht-)Ressourcen seitens der Pasquillant: innen, die zudem einer unmittelbaren Reaktion durch die Geschmähten auswichen. Die Tatsache, dass die strafrechtliche Verfolgung anonymer Autor: innen große Schwierigkeiten bereitete - sie mussten zuerst erkannt und dann überführt werden -, stimulierte sicher den Mut, sich derartiger Schriften zu bedienen. Schon der Dresdner Fall des Andreas Langener konnte jedoch zeigen, wie persönliche Konflikte der privaten Sphäre enthoben und als eine die Gemeinschaft betreffende, in Bezug auf die Bedeutungsdimension des Interesses also politische Sache inszeniert werden konnten. Im Folgenden dreht sich die Perspektive auf das Problem der Trennung zwischen politischen und persönlichen Konflikten um indem ein scheinbar eindeutig politischer Konflikt auch in Hinblick auf seine privaten Dimensionen untersucht wird. Von der Forschung wird die Funktion der Schmähschriften als Mittel des Protests gegen Obrigkeiten betont 9 - zumal ein vergleichsweise potentes Mittel, denn „Schrift bedrohte im Unterschied zu Worten die Herrschaft direkt, ihr Drohpotential wurde als viel höher eingeschätzt als das des gesprochenen 190 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 10 M A I S C H , Schwäbisch Hall (2014), S.-207. 11 G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S.-55-57, Zitat S.-55. 12 S. Kap. 6.2; zentral zu dieser Aussage für anonyme Dialogflugschriften: K A U F M A N N , Anonyme Flugschriften (1998). 13 S C H N A B E L - S C H Ü L E , Majestätsverbrechen (1994), S.-38f. 14 B E L L A N Y , Libels in Action (2001), S.-105. 15 B L I C K L E , Criminalization (1986). 16 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S. 388; ähnlich: S C H W E R H O F F , Stadt und Öffentlichkeit (2011), S.-21f. Wortes.“ 10 Dabei werden politische Pasquille zumeist streng von persönlichen Schmähschriften unterschieden. Schon aufgrund der ehrbezogenen Konflikt‐ kultur der Frühen Neuzeit, die eine Trennung von Sach- und persönlichem Ehrkonflikt kaum zuließ, ist diese Differenzierung allerdings zu hinterfragen. Konnte das Mitglied eines Stadtrats eine Schmähschrift gegen den Rat nicht als persönliche Ehrkränkung verstehen? Konnten andersherum Schmähungen von Ratsmitgliedern, gerade wenn sie deren Arbeit im Amt betrafen, den Rat als Institution nicht betreffen? Derartige Fragen wurden im Fall Offneyer implizit auch von den betroffenen Zeitgenossen verhandelt. Im Rahmen sich fortschreitend entwickelnder städtischer Konflikte werden Schmähschriften von Andreas G E S T R I C H als Vorstufe physisch-gewaltsamen Aufruhrs und als „Spitze des Eisbergs“ größerer Protestbewegungen be‐ zeichnet. 11 In Anlehnung an das Problem der Trennung von politischer und per‐ sönlicher Schmähschrift ist auch diese These zu hinterfragen: Stand hinter dem Gros der überlieferten Schmähschriften tatsächlich ein zum Aufruhr bereites Kollektiv, oder konnten nicht auch individuell agierende Pasquillant: innen das Potential anonymer Schriften nutzen, um eine Stimme des Volkes gleichsam vorzutäuschen, wie es schon der Vergleich von Pasquillen und Formen der Rüge nahelegt? 12 Es entspricht der obrigkeitlichen Perspektive des 16. Jahrhun‐ derts, hinter Schmähschriften und anderen herrschaftskritischen Akten eine Verschwörung mit mehreren Beteiligten und somit ein Unruhe- und Aufruhr‐ potential zu befürchten. 13 Schmähschriften im Rahmen politischer Konflikte wurden also in die Nähe (gewaltsamen) Widerstands gerückt. Dementsprechend war die beschriebene zunehmende Kriminalisierung der Schmähschriften als ‚literarischer Widerstand‘ 14 am Beginn des 16. Jahrhunderts nur konsequent, kam es doch nach Peter B LI C K L E seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zur Kriminalisierung von Widerstand insgesamt. 15 R U B LA C K sieht im Einfluss der Schmähschriften auf die Öffentlichkeit den Kern der Furcht der Herrschenden: Demnach waren Schmähschriften in der Lage, „Gegenöffentlichkeiten“ herzu‐ stellen, die das Vertrauen in die Obrigkeit untergraben konnten. 16 Gemeint 8.1 Schmähschriften als Mittel der Obrigkeitskritik 191 17 B R A K E N S I E K , Akzeptanzorientierte Herrschaft (2009). Brakensiek bezieht seine Ausfüh‐ rungen zwar vor allem auf die fürstliche Herrschaft, jedoch sind die Überlegungen auf das städtische Regiment übertragbar. Auch Christian Kuhn sieht in Schmähschriften ein Element einer reziprok gedachten politischen Kommunikation, dem eine stän‐ deübergreifende Steuerungsfunktion zukam: K U H N , Ballads (2010), S. 1633; D E R S ., Schmähschriften und geheime Öffentlichkeit (2008), S.-393. 18 B R A K E N S I E K , Akzeptanzorientierte Herrschaft (2009), S.-398. 19 Ebd., S.-400. 20 R U D O L P H , Supplikenwesen (2005), Zitat S. 421; siehe außerdem W Ü R G L E R ; N U B O L A , Einführung (2005). 21 W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995); in Bezug auf das Eingabewesen nochmals: D E R S ., Bitten und Begehren (2005), S.-29. 22 D E R S ., Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S.-133. ist eine Meinungsbildung ‚von unten‘, der das Potential zur Hervorbringung gewaltsamen Widerstands innewohnte. Grundlage der Betrachtung des folgenden innerstädtischen politischen Kon‐ flikts in Zwickau ist das von Stefan B R AK E N S I E K formulierte Konzept der akzeptanzorientierten Herrschaft. 17 Es geht von der Beobachtung aus, dass etwa ein angesichts „situativ aktivierbarer Partizipationsvorstellungen […] allzu unverblümt obrigkeitlich agierender Rat rasch an die Grenzen seiner Legiti‐ mitätsreserven gelangte“. 18 Zur Legitimation und damit zur funktionierenden Ausübung von Herrschaft war die Obrigkeit daher auf ein Mindestmaß an Kooperation der Gemeinde angewiesen. Um dieses zu erreichen, war einerseits das Vermitteln von allgemein akzeptierten Herrschaftsagenden geboten: Schutz und Förderung des rechten Glaubens, Wahrung des (städtischen) Friedens, Handhabung des Rechts und Förderung des Gemeinen Besten. Andererseits bedurfte es der reziproken Kommunikation, die eben auch bottom up-Elemente beinhaltete; bezüglich der Untertanenkommunikation spricht B R AK E N S I E K von einem „Fundamentalrecht des Gehör-Findens“. 19 Wesentliches Element dieser Kommunikation von unten nach oben bildete das Eingabewesen als „wichtige Form der Interessensartikulation, die in der Frühen Neuzeit über Besitz- und Standesgrenzen hinweg angewandt wurde“. 20 Eingaben stellten ein zentrales Instrument der Konfliktregelung besonders bei politischen beziehungsweise herrschaftsbezogenen Konflikten und einen integralen Bestandteil des Justizsystems dar. Sie waren außerdem ein wesentli‐ cher Faktor frühneuzeitlicher Protestbewegungen, die wiederum nach Andreas W ÜR G L E R am Anfang der Entstehung einer politischen Öffentlichkeit standen. 21 Unter die im Zusammenhang mit Unruhen erscheinenden Eingaben zählt W ÜR G L E R potentiell auch Pasquille. 22 Wie das Fallbeispiel zeigen wird, bieten letztere durch ihre Gestaltung und vor allem die anonyme Verbreitung andere Protestmöglichkeiten, die sie von offiziellen Eingabeschriften unterscheiden. 192 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 23 S C H O R N -S C H Ü T T E , Obrigkeitskritik im Alten Reich (2006); D I E S ., Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht (2004). 24 W Ü R G L E R ; N U B O L A , Einführung (2005), S.-14. 25 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 902, fol. *108 v . Darüber hinaus ist über seine Herkunft und Ausbildung nichts bekannt. 26 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol. 88. Im Kontext von Revolten und Unruhen sind zwei Aspekte des Eingabewesens hervorzuheben, die eine Verbindung mit der Schmähschrift im vorliegenden Zwickauer Fall herstellen. Erstens konnten Eingaben, allen voran Gravamina, der Rechtfertigung von Unruhen dienen, indem sie inhaltliche Kritik an den Obrigkeiten formulierten und öffentlich machten. Das frühneuzeitliche Recht auf Obrigkeitskritik und Protest baute nach Luise S C H O R N -S C HÜT T E auf Natur‐ recht, christlichem Amtsverständnis und Reichsverfassung auf und konnte zumindest theoretisch gemeindlichen Widerstand rechtfertigen, wenn er sich gegen eine politisch als ‚Tyrann‘ oder konfessionell als ‚Antichrist‘ zu bezeich‐ nende Obrigkeit richtete. 23 Zweitens spielten Eingaben eine insofern gewichtige Rolle in der Konfliktdynamik frühneuzeitlicher Proteste, als diese häufig in physischen Widerstand übergingen, wenn die üblichen Kommunikationswege zwischen Obrigkeit und Untertan: innen blockiert waren: Die „vergebliche Ausschöpfung der normalen und gesetzlichen Wege des Widerspruchs oder der Verhandlung“ 24 stellte einen der wichtigsten Gründe zur Rechtfertigung von Aufruhr und Widerstand dar. Dieser Mechanismus erinnert an die in Kapitel zwei getroffene Feststellung, dass auch Schmähschriften vorrangig dann zum Einsatz kamen, wenn andere Wege des Konfliktaustrags verschlossen waren oder keine Aussicht auf Erfolg versprachen. 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 8.2.1 Muster der Eskalation - vom Zweiparteienprozess zur öffentlichen Infragestellung des Stadtregiments Johann Offneyer zog 1593 gemeinsam mit seiner Frau Margarete von Zeitz nach Zwickau. 25 In der Klage gegen ihn merkte der Zwickauer Rat an, dass das Ehepaar Offneyer schon in Zeitz für seinen schlechten Lebenswandel bekannt gewesen sei und derartigen Ärger verursacht habe, dass es letztlich nicht mehr geduldet worden sei. Man stützte sich bei diesen Aussagen nicht auf eigene Erfahrungen, sondern darauf, dass die allgemein sage gangen wäre. 26 Ein Brief 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 193 27 Hertwig wurde 1589 in den Rat kooptiert und starb 1610, vgl. S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S.-467. 28 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1271, fol.-476. 29 So bezeichnete er neben Hertwig auch den Schultheißen und Stadtrat Wolf Zorn als Schwager, außerdem den kurfürstlichen Amtschösser Joachim Müller (seit 1596 im Amt), der zudem Taufpate eines seiner Kinder war. Die Beziehungen zu Zorn und Müller konnten jedoch auch nach Offneyers Umzug nach Zwickau entstanden sein. StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 901, fol. 339 r ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 902, fol. *44 r ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1270, fol. *33 r . Vgl. S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S.-452, 467. 30 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-75 v . 31 „Unnd daß ich wil helffen steuren, wer sich dem rhat wider recht widersetzet, unndt daß ich willigen will, alles was der rhat im bestenn erkennet, unndt will das nicht lassen umb keinerley sachen willen, als mir got helff, unndt sein heiliges wort.“, ebd., fol.-86. 32 Vgl. H O F F M A N N , Rechtmäßiges Klagen (2004), S.-327f., 348. 33 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-96 v -105 v . Offneyers an seinen Schwager, den Zwickauer Stadtrat Lorenz Hertwig, 27 vom September 1592 bestätigt das Gerücht: Offneyer, der zu diesem Zeitpunkt noch in Zeitz wohnte, thematisiert einige Rechts- und Handelssachen, um anschlie‐ ßend darauf zu sprechen zu kommen, dass die politischen und rechtlichen Zustände in Zeitz schlecht seien und er überlege, nach Zwickau zu ziehen, wo er seine Dienste für alle Seiten gewinnbringend anbieten könne. 28 Zugleich belegt der Brief, dass Offneyer zu diesem Zeitpunkt bereits berufliche wie verwandtschaftliche Beziehungen nach Zwickau pflegte. 29 Im Rat hatte man zunächst keine größeren Zweifel an Offneyers Leumund, sodass er am 30. Januar 1595 den Zwickauer Bürgereid schwören durfte. 30 Dieser enthielt, wie für bürgerliche Huldigungseide üblich, das Versprechen, dem Stadtrat als Obrigkeit Gehorsam zu leisten und seine Rechtsprechung zu akzeptieren, 31 was im späteren Rechtsstreit Relevanz erlangte, da man Offneyer durch seinen angeblichen Ungehorsam einen Bruch des Bürgereides zur Last legte - ein durchaus typischer Vorwurf in Konflikten zwischen Bürgerschaft und Stadtregiment. 32 Spätestens 1595 begann Offneyer als Advokat zu arbeiten. Viele seiner Fälle fanden als prozessrelevant Eingang in die vorliegenden Akten, zwölf wurden in eine der Klagen des Rates an den Kurfürsten im März 1600 aufgenommen. 33 Aus Offneyers Anwaltstätigkeit ergaben sich letztlich alle in Bezug auf die Prozesse wegen des Pasquills und der Injurien relevanten Streitigkeiten, sowohl solche persönlicher Natur mit einzelnen Bürger: innen, als auch politische mit Amtsträgern und dem Rat als städtischer Institution. Es wird zu zeigen sein, dass Offneyer persönliche und politische Konflikte strategisch vermischte. Von den einzelnen, miteinander über Streitinhalte und Akteur: innen verwobenen Gerichtsprozessen sollen im Folgenden nur einige wenige herausgegriffen werden, die exemplarisch die Inhalte und Mechanismen 194 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 34 Ebd., fol.-278 r -280 v . Zu Daniel Kratzbeer vgl. S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S. 467. Das Epitaph des Daniel Kratzbeer (†1594) und seiner Ehefrau (†1612) befindet sich heute in St. Marien in Zwickau. 35 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol. 100 v -101 v . 36 Ebd., fol.-101 v . 37 Ebd., fol.-281. 38 Ebd., fol.-276 r -277 v . des Streitaustrags und den Weg der voranschreitenden Konfliktverschärfung nachzeichnen, in deren Verlauf schließlich auch das Pasquill seine Wirkung entfaltete. Offneyer und Martin Fiedler gegen die Erben Kratzbeer Der Zwickauer Bürger Martin Fiedler hatte bis zum Jahr 1592 eine größere Summe Schulden gegenüber dem Stadtrat und mehreren privaten Gläubigern angehäuft. Da er zahlungsunfähig war, wurde sein in der Nähe des Rathauses gelegenes Haus vom Rat gepfändet und an den Ratsherrn Daniel Kratzbeer verkauft, der es an seinen Sohn Hans verlieh. 34 Nach Angabe des Stadtrats hatte Fiedler die Pfändung und den Verkauf mehrere Jahre lang stillschweigend akzeptiert, bis die Erben des zwischenzeitlich verstorbenen Daniel Kratzbeer - unter ihnen auch sein Sohn Michael - das Haus weiterverkaufen wollten. Nun entschied sich Fiedler auf Anraten seines Anwalts Johann Offneyer, gegen die Familie Kratzbeer zu klagen. Der Stadtrat scheiterte bei seinem Versuch, einen Kompromiss zu vermitteln, der einen Weiterverkauf des Hauses an Fiedler vorsah. 35 Offneyer und Fiedler weiteten nun ihre Klage auf den Stadtrat aus, indem sie dessen ursprüngliche Entscheidung, das Haus zu pfänden und zu verkaufen, als unrecht bezeichneten. Der Rat beschwerte sich daher, Offneyer weis[e] [Fiedler] den wegk innß hoffgericht. 36 Das Leipziger Oberhof‐ gericht entschied in zwei Urteilen 1599 und 1601 gegen Fiedler und bürdete selbigem außerdem die Prozesskosten auf. 37 Zuvor hatte Offneyer vergeblich versucht, Anspruch auf juramentum paupertatis zu erheben: Damit wäre Fiedler offiziell als arm anerkannt worden, sodass der Stadtrat die Anwaltskosten hätte begleichen müssen. 38 Offneyer trieb hier den Prozess eines verarmten Klienten mindestens voran, wenn er ihn nicht gar ursächlich angeregt hatte. In jedem Fall hatte er dafür gesorgt, dass sich der Rechtsstreit ausweitete und die ursprüngliche Rechtsprechung des Rates über einen Appellationsprozess infrage gestellt wurde. Exakt dieses Muster findet sich in gleich mehreren, allesamt erfolglosen Prozessen, an denen Offneyer beteiligt war. Dessen Hal‐ tung gegenüber Ratsbescheiden wurde von Günter von Bünau, der in einer 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 195 39 Ebd., fol.-336f. 40 F U C H S , Beleidigungsprozesse (1999), S.-168. 41 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-327 v f. 42 Die beiden Fälle hingen direkt zusammen: Walpurg Richter erhob 1598 Anspruch auf 100 Gulden, die der genannte Martin Fiedler ihrem verstorbenen Mann geschuldet hatte. Auch dieser Konflikt konnte nicht stadtintern geklärt werden und wurde vor dem Wittenberger Hofgericht verhandelt, das gegen Offneyer und seine Klientin entschied. StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 1271, fol. 305 r -307 r ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 901, fol. 326 r . Injuriensache gegen Offneyer an den Kurfürsten supplizierte, folgendermaßen zusammengefasst: Unndt ob ich wol solches bey einem erbarn rhat alhie zu clagen enntschlossen gewesen, so ist mir doch bewust, dass ehr [Offneyer] zu wider seiner burgerlichen pflicht, nichts aufn rhat giebt, auch do von gemeltem rhat etwas wider ihn decretiret unnd angeordenet werden sollte, daß ehr dasselbe mehr vor einen privatum affectum, als furs rechtmessige anordnung anziehen wurde. 39 In Rechtsstreitigkeiten vor dem Stadtgericht beziehungsweise Stadtrat sah Offneyer die nicht in seinem Sinne gefällten Urteile schlicht als unrechtmäßig an, sodass der jeweilige Konflikt unweigerlich über Appellationen aus der stadtinternen Gerichtsbarkeit in die territoriale überführt wurde. Offneyer gegen die Familie Kratzbeer Auf welche Art Offneyer Prozesse zu führen pflegte, zeigt sich deutlich in einem parallelen Injurienprozess gegen die angesprochene Familie Kratzbeer. Zwar war es durchaus üblich, auch normkonforme Prozessschriften der Gegenseite als injurierend und damit unrechtmäßig zu bezeichnen, 40 dieser Fall verdeutlicht jedoch einen darüber hinausgehenden Hang Offneyers zu derben persönlichen Angriffen und zur Drohung. So bezeichnete er die Aussagen des Zeugen Hans Henningk als schmehe charten unndt lesterschrifft, aufgrund derer man sowohl Henningk als auch den Anwalt der Gegenseite dem teufel alß dem lugen unndt lestergeist zum neuen jahr schicken sollte, beide würden ihren lohn zu rechter zeit wol bekommen. 41 Diese Diffamierung eines Zeugen der Familie Kratzbeer ereignete sich nicht im Prozess Fiedlers, sondern im Prozess der Walpurg Richter, die Offneyer ebenfalls als Anwalt gegenüber der Familie Kratzbeer vertrat. 42 Wie schon im vorherigen Fall zeichnet sich eine persönliche Feindschaft zwischen Offneyer und der Familie Kratzbeer ab, in deren Zentrum Michael Kratzbeer, Sohn des verstorbenen Daniel und Bruder von Hans, stand. War der Vater von 1571 bis zu seinem Tod 1594 Ratsmitglied gewesen, so folgte sein 196 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 43 S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S. 467f. Zuvor hatte er das Amt des Stadtsyndicus innegehabt, ebd., S. 473. Auch das Epitaph des Michael Kratzbeer (†1622) befindet sich heute in der Kirche St. Marien zu Zwickau. 44 Ebd., S.-458. 45 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol.-*109 v f. 46 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1177, fol.-*43 v . 47 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol.-*23 v . 48 „[…] das auch Hans Kratzbeer, Michels bruder, auf freyer churfürstlicher landstrassen sein rohr auf unschuldigen beclagten m. Offney hinderwarts abgedrücktt, ihm aber die buchse vorsagen, sonsten hette er ihnen rucksweise, wie ein heimlicher strassen mörder, vonn hintenzu erschossen, daruber er auch entlauffen, unndt sieder dehme im kriege umbkommen sein soll.“, StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1177, fol.-*35 r . Sohn Michael ihm diesbezüglich im Jahr 1598 nach. 43 Dass ihm die Auseinan‐ dersetzungen mit Johann Offneyer politisch nicht schadeten, verdeutlicht die Tatsache, dass er 1609 zum Bürgermeister gewählt wurde und dieses Amt bis zu seinem Tod 1622 innehatte. 44 Laut einer Klageschrift des Rates hatte Offneyer den Zwickauer Rat in beleidigender Absicht dazu aufgefordert, Michael Kratzbeer auszuschließen, da er des Amtes nicht würdig sei. Geschähe dies nicht, so würde gott selbst darein greiffen, dan do der landesfürst mit grund were berichtet worden, das Kratzbehrs zustand und gelegenheit, so würde er ihm zu solch ambt nicht confirmiret haben. 45 Durch diese Kritik an Kratzbeer als Amtsträger wurde der Stadtrat als Institution noch tiefer in den sich entwickelnden Streit hineingezogen. Offneyer verband - hier zeichnet sich deutlich ein Muster ab - individuelle und politische Konfliktlinien. Einer Zeugenaussage von 1607 ist zu entnehmen, dass er sich zwischenzeitlich mit seinem ehemaligen Klienten Martin Fiedler entzweit hatte. Es überrascht wenig, dass Fiedler schließlich eine Injurienklage gegen Offneyer vor dem Stadtrat anstrengte. Dass Ratsherr Michael Kratzbeer die Klage in seiner Funktion als Richter annahm, war für Offneyer ein weiterer Grund, sich von Kratzbeer schlecht behandelt zu fühlen. 46 Außerdem beklagte Offneyer, dass Fiedler, der zwischenzeitlich außerdem für Offneyer gearbeitet und anscheinend seinen Lohn nicht erhalten hatte - ebenfalls ein wiederkehrendes Muster -, überhaupt erst von Kratzbeer und dem damaligen Bürgermeister Christoph Faber gegen ihn aufgehetzt worden sei. 47 Der Streit mit der Familie Kratzbeer beschränkte sich jedoch keineswegs auf den gerichtlichen Bereich. Offneyer berichtete im Prozess, dass ihm Hans Kratzbeer außerhalb der Stadt aufgelauert habe und nur durch eine Fehlzündung seiner Waffe davon abgehalten worden sei, ihn hinterrücks zu erschießen. 48 Der Bericht, in dem Offneyer diese Bezichtigung vorbrachte, enthält kein Datum, aber es ist davon auszugehen, dass der Streit im Zusammenhang mit 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 197 49 Ebd., fol.-*35 v . 50 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 902, fol. *16 v . Offneyer gestand den Vorfall, wollte lediglich nicht seine Waffe gezogen haben, ebd., fol.-*87 v . 51 Schettler übte das Amt des Stadtschreibers und später Oberstadtschreibers seit 1580 aus und verstarb noch während des Prozesses gegen Offneyer im Jahr 1605. Vgl. S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S.-475. 52 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-103 r -104 r . 53 Ebd., fol. 169 r -170 r . Zu seiner Verteidigung berief er sich jedoch auf ein Missverständnis: Er habe nur im Scherz mit seinem Gesinde gesprochen und sei nicht davon ausge‐ gangen, dass dieses seine Worte für bare Münze nehmen würde; konsequenterweise seien die Betroffenen daher des Landes verwiesen worden, ebd., fol.-399 r . der Klage Fiedlers entstand. Auch hier lässt sich der zeittypische Übergang vom Sachkonflikt zum emotional aufgeladenen Ehrkonflikt beobachten, der wiederum schnell in offene Gewalt ausufern konnte. Offneyer stellte dieses Ereignis als Ursprung allen Übels dar; seither hätten Hass und Neid geherrscht, bis schließlich das Pasquill angeschlagen worden sei. 49 Aber auch Offneyer setzte Michael Kratzbeer außerhalb des Gerichtes zu: Am 10. Januar 1598 lauerte er dem Ratsherrn offenbar in einer Gasse der Stadt auf, zog seine Waffe und scheuchte ihn in eine nahegelegene Apotheke. Anschließend habe er vor dem Haus auf Kratzbeer gewartet und ihn provozierend herausgefordert. 50 Es zeigen sich die typischen Instrumente frühneuzeitlicher Ehrhändel: Verbale Beleidi‐ gungen und Drohungen, symbolisches Ziehen der Waffen und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Offneyer und Abraham Schultess gegen Oberstadtschreiber Martin Schettler Ein weiterer zentraler Konflikt entspann sich zwischen Offneyer und dem Oberstadtschreiber Martin Schettler und auch hier lassen sich persönliche und politische Konfliktlinien nicht trennen. 51 Den Anfang der Streitigkeiten bildete ein Vorfall des Jahres 1591, als Offneyer noch in Zeitz wohnte: Schettler wurde von einigen Bürger: innen vorgeworfen, seine Knechte angewiesen zu haben, die ‚Hürden‘ (Flechtzäune) des Bürgers Adam Krell zu stehlen - was diese dann in die Tat umgesetzt hätten. Da Krell seine Hürden jedoch einem Verbot zum Trotz aufgestellt hatte, handelte Schettler in seinen Anweisungen gewissermaßen im Sinne des Stadtrats. 52 Zwar gab Schettler die Hürden schließlich zurück und versprach, Schadenersatz in Höhe von 70 Gulden zu leisten. 53 Allerdings entwi‐ ckelte sich aufgrund dieses Vorfalls ein Protest gegen den Oberstadtschreiber. Ein Ausschuss der Bürgerschaft rief den Rat offen dazu auf, Schettler zu entlassen und wandte sich an eine kurfürstliche Kommission, die zu dieser Zeit Visitationen im Land vornahm. Der Protest richtete sich entsprechend 198 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 54 Ebd., fol.-104. 55 Ebd., fol.-210 r , 211 r . 56 Ebd., fol.-392 v . 57 Ebd., fol.-408. 58 Christoph Faber war zunächst seit 1591 Rektor der städtischen Schule, seit 1594 Ratsmitglied und von 1597 bis zu seinem Tod 1612 Bürgermeister. Vgl. S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S.-422, 458, 468. auch gegen den Stadtrat, der nicht bereit war, sich von Schettler zu trennen. Letztendlich wurde der Ausschuss aber von der Kommission abgewiesen. 54 Zu diesem Zeitpunkt war Offneyer noch nicht involviert, jedoch scheint ein späterer enger Freund und Mitarbeiter, Abraham Schultess, in den Protest gegen Schettler verwickelt gewesen zu sein. 1594 geriet Schultess erneut in einen Streit mit Schettler in Bezug auf dessen Amtsausübung. In einem Injurienprozess zwi‐ schen Schultess und Günter von Berbisdorf fungierte Schettler als Schreiber und stellte die Akten zur Versendung an den Schöffenstuhl zusammen. 55 Nachdem ein Urteil erlassen worden war, beschwerte sich Schultess - nunmehr mit Offneyer als Anwalt an seiner Seite - über diverse Verfahrensfehler: Schettler warf er vor, die Akten vor der Versendung manipuliert zu haben, und dem Rat keine ausreichende Akteneinsicht gewährt zu haben. Auf diese Beschwerde hin wurden die Akten im Beisein zahlreicher Zeugen geöffnet und überprüft, allerdings keine Fehler gefunden. Am 5. Oktober 1595 wurde Schultess im noch laufenden Verfahren gegenüber Schettler ausfällig - nach Angaben des Rats war er stark betrunken. 56 Im März 1599 wurde Schultess schließlich gemeinsam mit Johann Offneyer und einem weiteren Gefährten beschuldigt, für den Pasquillus verantwortlich zu sein. Welche Relevanz die Auseinandersetzung mit Schettler hatte, bezeugt auch das erste kurfürstliche Urteil gegen Offneyer vom 28. September 1599, in dem ihm vor allem aufgrund der Injurien gegen Schettler die Prokuratur aberkannt und seine Inhaftierung sowie die Einleitung eines Inquisitionsprozesses befohlen wurde. 57 Offneyer gegen seine Ehefrau und den Rat zu Zwickau Neben dem Ratsherrn Michael Kratzbeer und dem Oberstadtschreiber Martin Schettler geriet Offneyer mit einem weiteren Mitglied des Magistrats in Kon‐ flikt, nämlich Bürgermeister Christoph Faber. 58 Anfänglich traten Faber und Offneyer einträchtig auf: Zwischen 1595 und 1598 fungierte Offneyer in einem Rechtsstreit mit Wolf Zorn, dem bereits genannten Schwager Offneyers, als gerichtlicher Vormund von Fabers Frau Magdalena. Der Prozess drehte sich um ausstehende Schulden Zorns, die in einem Zusammenhang mit dem nicht unerheblichen patrimonium (Erbgut) standen, das Magdalena in die Ehe mit 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 199 59 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-268 v -274 r . 60 Ebd., fol.-275 v . 61 Ebd., fol.-341 v -347 v . 62 Ebd., fol. 347 r : „do solches beschehe, so wurden dieselben inn kurtzen zu ihrem undt ihrer kinder eusserstenn vorderbe voreussert, undt sie hette sich zu befahren, dass sie mit der zeit not unndt mangel leiden muste.“ Faber eingebracht hatte. Der Streit konnte vertraglich geschlichtet werden. 59 Es existieren keine Hinweise auf einen Konflikt zwischen Offneyer und den Fabers, erst später scheint Offneyer aus dem Vorgang eine unerfüllte Geldforderung abgeleitet zu haben. 60 Faber geriet seit 1598 vor allem über sein Amt als Bürgermeister zum Ziel der Angriffe Offeneyers. Als solcher war er zentral und zudem persönlich von Offneyers Widerspenstigkeit betroffen. Ein für Offneyer besonders inten‐ siver Konflikt, der ihn zudem weiter gegen den Rat aufbrachte, entspann sich zwischen ihm und seiner Frau Margarethe. 61 Diese richtete 1597 eine Klage an die Landesregierung, in der sie ihrem Mann Grausamkeit in der Ehe (saevitia maritam) vorwarf. Grund für die Auseinandersetzung und damit wohl auch für Johann Offneyers Gewalttätigkeit seiner Frau gegenüber waren finanzielle Differenzen - ein zentrales Movens nahezu aller seiner Handlungen. Margarethe hatte offenbar ein Haus, Gärten und Felder in die Ehe eingebracht, über die sie güterrechtlich unabhängig von ihrem Mann verfügen konnte. Dieser verlangte, Zugriff auf diese Güter zu erhalten, um damit Investitionen in die Malzherstellung und das Bierbrauen tätigen und auf diese Weise neue Einkommensquellen erschließen zu können; er stand offenbar kurz vor dem Bankrott. Margarethe verweigerte sich diesen Plänen jedoch, da sie ihrem Mann keinen gewissenhaften Umgang mit Geld zutraute. 62 Aufgrund seiner Gewaltausbrüche verließ Margarethe ihren Mann gemeinsam mit den Kindern bis zum Jahr 1601 insgesamt siebenmal, um bei Bekannten oder Verwandten Zuflucht zu suchen. Die Landesregierung befahl die Bildung einer Kommission, die sich aus dem Zwickauer Stadtrat und dem Superintendenten Vitus Wolfram zusammensetzte. Die Kommission hielt das Ehepaar Offneyer dazu an, wieder zusammenzuziehen und ihren Streit gütlich beizulegen - was nicht gelang. Zwar lassen sich aufgrund der summarischen Berichte keine einzelnen Vorgänge datieren, die Auseinandersetzung zog sich jedoch zwischen 1597 und mindestens 1601 hin. Festzuhalten ist, dass Offneyer nach Bericht der Kommission von Anfang an sowohl seiner Frau als auch dem Rat gegenüber ausfällig wurde. Dem bekannten Muster entsprechend hielt er sämtliche Bescheide der Kommission, sofern sie nicht ausdrücklichen seinen Forderungen nachkamen, für himmelschreiendes 200 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 63 Hier wurde das über die Mulde geflößte Holz aus dem Fluss gezogen und gestapelt, s. B R Ä U E R , Zwickau (2017), S.-92. 64 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-97 r . 65 L Ö F F L E R ; P E S C H K E , Chronik (1993), S.-49. Unrecht und er weigerte sich in der Folge, sie zu akzeptieren. Während seine Frau sich mit den Kindern bei Bekannten aufhielt, verweigerte er ihr sämtliche Geldzahlungen und forderte zudem den Rat auf, sie nicht nur festzunehmen, sondern allen Bürger: innen der Stadt zu verbieten, ihr Unterstützung zukommen zu lassen, was der Rat allerdings nicht umsetzte. Im Endeffekt schürte dieser Konflikt den Hass Offneyers gegen den Rat und den ihm zu dieser Zeit vorsit‐ zenden Bürgermeister Christoph Faber. Offneyers gescheiterter Versuch, seine Frau zur Überlassung ihrer Güter zu zwingen, verfestigte seine offensichtlich miserable finanzielle Lage. Die Schuld hieran schrieb er jedoch nicht sich selbst, sondern dem Rat zu, der seiner Meinung nach nicht gegen das unrechte Handeln Margarethes einschritt. Offneyer gegen Magdalena Berreuter und den Rat zu Zwickau Wie eng Offneyer persönliche Konflikte innerhalb der Nachbarschaft mit grund‐ sätzlichen Auseinandersetzungen mit dem Rat verband, die wiederum bezogen auf die Person Bürgermeister Fabers auf einer persönlichen Ebene ausgetragen wurden, zeigt der Fall der Magdalena Berreuter, genannt Rechenmeisterin. Magdalenas Mann Georg Berreuter war vor 1598 Rechenmeister des Zwickauer Holzangers gewesen. 63 Über dessen Amtsführung geriet das Ehepaar in Konflikt mit dem Rat, der Georg bezichtigte, falsch gewirtschaftet und so der Stadt große Verluste beigebracht zu haben, und ihn daher seines Amtes entließ. 64 In diesem Streit fungierte Offneyer als Anwalt der Berreuters und führte sie gegen den Rat vor das Leipziger Oberhofgericht. Außerdem waren Georg und Magdalena direkte Nachbarn Offneyers, man teilte sich eine Hauswand. Prozessschriften oder Urteile in diesem Fall sind nicht überliefert, es ist aber davon auszugehen, dass der Rat den Fall gewann. Georg Berreuter starb währenddessen oder kurz darauf an der Pest, die im Jahr 1598 in Zwickau wütete. 65 In diesem Jahr kam es auch zum Konflikt zwischen Offneyer und der frisch verwitweten Magdalena Berreuter, über den zwei unterschiedliche Versionen vorliegen: diejenige Offneyers und diejenige des Rates. Beide Versionen be‐ stätigen jedoch die grundlegenden Ereignisse. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Berreuter, wie auch ihre Kinder, im Haus ihres Nachbarn Offneyer Anstellung gefunden. Als Offneyer an der Pest erkrankte, übernahm sie seine Pflege, bis er genesen war. Nach Aussage des Rates behandelte Offneyer sie jedoch schlecht. Am 16. Dezember 1598 reichte Offneyer gemeinsam mit 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 201 66 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-322 r -323 r . 67 Ebd., fol.-317 v -319 v , 320 r -321 v . 68 Ebd., fol.-312 v f. zwei Nachbarn Klage gegen Berreuter beim Rat ein und bezichtigten sie der Beleidigung sowie der Vergrößerung der Pest- und Feuergefahr. Zusätzlich warf ihr Offneyer zweifachen Diebstahl vor. 66 Den ersten Diebstahl hatte er bereits im September den Stadtvögten Balthasar Gebhart und Michael Konrad gemeldet. 67 Er beschuldigte Berreuter, seiner zweiten Magd den Mantel gestohlen zu haben und forderte die Stadtvögte auf, sie darum festzunehmen und die Herausgabe des Diebesguts zu erzwingen. Stadtvogt Konrad ging noch am selben Tag zu Magdalena Berreuter, bekam hier jedoch lediglich die Antwort, dass sie den Mantel als Pfand für ausstehenden Lohn genommen habe, woraufhin Konrad unverrichteter Dinge abzog. Der zweite Diebstahl gestaltete sich nach Offneyers Aussage einigermaßen spektakulär. Berreuter hatte demnach Hopfen aus Offneyers Dachboden gestohlen, indem sie sich Zutritt über die Dächer ihrer beiden aneinandergrenzenden Häuser verschafft hatte, was noch auf dem Dach liegende Hopfenblätter beweisen würden. Der Diebstahl berührte sicherlich Offneyers Pläne, ins Bierbrauen einzusteigen. Er beklagte an dieser Stelle erneut das fehlende Durchgreifen der städtischen Obrigkeit, der er die seines Erachtens offensichtlichen Beweise, nämlich das Diebesgut und dessen Spuren auf seinem Dachboden und dem Dach des Hauses der Berreuter, doch umgehend präsentiert habe. 68 Daneben warfen Offneyer und seine Nachbarn der Frau vor, in ihrem Haus unvorsichtig mit Feuer umzugehen, was besonders gefährlich sei, liege die Nachbarschaft doch in unmittelbarer Nähe zum städtischen Pulverturm. Zudem beschwerten sich die Männer unter Federführung Offneyers, dass Magdalena Berreuter, obwohl in ihrem Haus doch die Pest geherrscht habe, erlaubt worden sei, frei in der Stadt herumzulaufen und sogar das Rathaus zu betreten, was anderen Menschen zu Zeiten der Epidemie grundsätzlich verboten gewesen sei. Hiermit schnitten sie zugleich das Thema des Gehörfindens an: Offneyer beschwerte sich des Öfteren darüber, im Rathaus nicht angemessen angehört zu werden. Als der Stadtrat nichts unternahm, wurde Offneyer noch im Jahr 1598 selbst tätig: Er jagte Magdalena Berreuter aus ihrem Haus, wobei er nach Angaben des Rates mit einer Holzaxt auf sie einschlug. Im Anschluss ließ der Rat das Haus zur Sicherheit der Nachbarschaft mit Brettern verbarrikadieren. Daraufhin einigte man sich zumindest mit den beiden Nachbarn, mit denen Offneyer die Beschwerde eingereicht hatte: Der Rat stellte eine Ergreifung der mittlerweile flüchtigen Berreuter in Aussicht; zu diesem Zweck sollte eine wärterin im Haus 202 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 69 Ebd., fol. 324 v . 70 Ebd., fol.-315 v . 71 Ebd., fol.-311 r -315 r . 72 Zur Bedeutung des Wahrheitsbeweises bei der rechtlichen Beurteilung von Injurien s. Kap.-7, Anm.-193. postiert werden. 69 Johann Offneyer hingegen war nicht Teil dieser Schlichtung. Er verlangte im April des Folgejahres erneut die Inhaftierung Berreuters, die zwar offiziell flüchtig war, sich aber offensichtlich gemeinsam mit ihrem Sohn Zutritt zum verbarrikadierten Haus verschafft hatte. Offneyer wandte sich erneut an den Rat, um einen Akkusationsprozess gegen Berreuter anzustrengen und sagte die zur Inhaftierung notwendige Kaution zu. Bereits in diesem Schreiben warf er Bürgermeister Faber vor, Wortbruch begangen zu haben, da Faber nicht dafür Sorge getragen habe, die mutmaßliche Diebin gefangen zu setzen. 70 In seinem Antwortschreiben lehnte der Rat den angestrebten Akkusati‐ onsprozess jedoch mit dem Hinweis ab, dass man Offneyer nicht für ausreichend begütert halte, um die entsprechende Kaution zuzusagen. Auch traute man ihm nicht zu, die notwendigen Bürgen stellen zu können - für Offneyer muss dies eine intensive Herabsetzung dargestellt haben. Die Gefangennahme der Magdalena Berreuter werde man ex officio zwar vornehmen, jedoch erst, wenn die aktuelle Pestwelle vorüber sei. Hierauf reagierte Johann Offneyer mit einem ausführlichen Schreiben an den Rat, das zeigt, wie er persönliche und öffentliche beziehungsweise politische Belange miteinander verband und wie er aus seinen sachbezogenen Vorwürfen eine generalisierte Obrigkeitskritik entwickelte, die sich gegen den Rat richtete und Offneyer zugleich als Anwalt der Wahrheit darstellte. 71 Erstens beschwerte sich Offneyer nochmals darüber, dass der Rat sich unter aller Augen weigern würde, gegen eine öffentlich überführte Diebin vorzugehen. Darauf folgte eine zweite Beschwerde, in der er auf den Einwand einging, nicht begütert genug zu sein, um einen Akkusationsprozess einleiten zu lassen. Seine schlechte finanzielle Lage sei allein die Schuld des Rates, da dieser ihm nicht den Zugang zu den Gütern seiner Frau ermögliche, was ebenfalls ein großes Unrecht dar‐ stelle. Drittens generalisierte Offneyer seinen ersten Vorwurf: Der Rat schütze insgesamt schädliche Leute, käme somit seiner Pflicht als gute Obrigkeit nicht nach und handele zum Schaden der Allgemeinheit. Dabei positionierte Offneyer sich selbst als Anwalt der Gemeinschaft und Verkünder von Wahrheiten - und schloss damit implizit aus, dass es sich bei seinen Aussagen um Injurien handelte. 72 Das vorgebrachte Motiv der Offenbarung von Wahrheiten zum Schutz und Nutzen der Gemeinheit verbindet Offneyer mit Andreas Langener, der seine Schmähschriften ebenfalls damit begründete, die Verfehlungen seines 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 203 73 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-314 v . Gegners im Sinne des Gemeinwohls öffentlich anprangern zu müssen. Viertens und abschließend weitete Offneyer seine Vorwürfe zu der Drohung aus, den Rat mithilfe von Kronzeugen aus den eigenen Reihen anzuklagen und durch eine höhere Obrigkeit abstrafen zu lassen: […] und anndere obrigkeit, ob got will, balde, wo ferne ihr nachmals euer ampt unndt gericht nicht bedennket, erfahren unndt geburlich vindiciren soll […] Sonndern ich kann solches auff dem notfall mit vielen ehrlichen leuten beweissen, […] daß sie nemlich, wann sie von euch dem rhat abgeschaffet, unndt angegriffen werden sollten, alß dann loßdrucken, unndt was sie von ihnen wusten, bekennen unndt sagen wollten […] 73 Diese am 5. Mai 1599 geäußerten Worte sind auch insofern bemerkenswert, als nur wenige Wochen zuvor das Pasquill ans Rathaus geheftet wurde, das mit ganz ähnlichen Vorwürfen und Drohungen operierte. Die Verwebung der Konflikte, an denen Offneyer beteiligt war, ergab sich letzt‐ lich auch aus der Personenkonstellation, insofern die Akteur: innen in verschie‐ denen Rollen agierten und so empfundene Ehrverletzungen in unterschiedliche Situationen hineintrugen. Am Ursprung vieler Auseinandersetzungen stand das Handeln Offneyers als Anwalt seiner Klient: innen, aus der sich für ihn persönliche Kränkungen ergaben, die er dem Rat als richterlicher Instanz zuschrieb. Besonders einem Ratsmitglied, Michael Kratzbeer, begegnete er darüber hinaus zum einen als Gegner einer seiner Klienten vor Gericht, zum anderen im ganz persönlichen Streit. Die Vermengung von Prozessen, in denen Offneyer als Anwalt wie als Kläger, seine Gegenüber als Beklagte wie als Richter in Erscheinung traten, führte im Ergebnis zu einer Verdichtung des Konfliktgeschehens um Johann Offneyer als Zentrum und letztlich zur Eskalation. Außergerichtliche, öffentliche Angriffe Bis zum Jahr 1599, in dem das Pasquill auftauchte, hatte sich aus den unter‐ schiedlichen Streitigkeiten eine explosive Konfliktkonstellation herausgebildet: Offneyer stand dem Stadtrat von Zwickau allgemein und mehreren seiner Mitglieder im Besonderen offen feindlich gegenüber. Aus Offneyers Sicht, die in der Diskussion des Pasquills noch ausführlicher Beachtung findet, war er selbst nebst dem Gros der Bürgerschaft Opfer einer Obrigkeit, die Willkür walten ließ und den eigenen Vorteil suchte. Die von Offneyer genutzten Rechtsmittel verdichteten sich ebenso wie Äußerungen und Handlungen zu einem allgemeinen Protest gegen den Stadtrat. In den Anklageschriften, die der Rat im Anschluss an das Erscheinen des Pasquills in den Jahren 1600 und 204 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 74 Ebd., fol. 77 v f: „Wahr, daß Offeney den regenten, gerichts unndt rhatspersohnen, wieder uffm rathausse, inn der kirchen, noch uff der gassen, schulde unndt geburliche ehrerbietung niemalß geleistet, auch in loco judicii dem rhat unndt gerichtspersohnen, keines ehren tittels wirdigk geachtet, welches dann nicht ohne geringe ergernus der burgerschafft geschehen“. 75 Ebd., fol.-55. 76 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-904, fol.-*43 v f. 77 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol.-*18 v . 78 „Es werde vom rath also haus gehaltten und mit der lieben justicien umbgangen das es fur wahr nicht wunder wert das gott von himmel selbsten drein sehen, griffe und mit feuer oder wasser straffett.“, ebd., fol. *111 v . Tatsächlich wurde der Stadtbrand in der Frühen Neuzeit zumeist als göttliche Strafe wahrgenommen oder gefürchtet. S. Z W I E R L E I N , Der gezähmte Prometheus (2011), S.-120-135. 1601 anfertigte, beschwerten sich die Ratsherren über von Offneyer ausgehende Angriffe in unterschiedlichster Form, die sowohl in loco judicii, 74 aber auch ganz öffentlich lanciert worden waren. Das Verhalten Offneyers vor Gericht wurde bereits in Bezug auf die Aus‐ einandersetzung mit der Familie Kratzbeer thematisiert. Er beließ es jedoch nicht bei injurierenden Aussagen im Prozessschriftgut, sondern wurde in der Gerichtsstube gegenüber einzelnen Parteien, aber auch gegenüber dem Rat insgesamt ausfällig: Wahr, daß inquisit nicht alleine inn meisten seinen schreiben, den rhat so wol alß partheyen, sondern auch munndtlichen, Schetlern, den ehr einen schelmen unndt dieb, item einen buben, inn gleichnuß magister Hechelmullern einen buben: Fincelium einen ehrenschender unndt anndere mehr in loco judicy angegriffen unndt gescholten. 75 Im Verlauf des Prozesses merkte der Stadtsyndicus gar an, dass es kaum möglich sei, Zeugen anzuführen, die nicht Ratsmitglied oder Beschäftigte des Rats seien, da die allermeisten Angriffe Offneyers auf dem Rathaus stattgefunden hätten. 76 Nur wenige Monate vor Erscheinen des Pasquills, am 16. Oktober 1598, sprach Offneyer nach Angaben des Rates diesem auf einer öffentlichen Versammlung jegliche Kompetenz ab und gab an, die herren des raths verstünden nichts, ein burgermeister in einem kleinen stadtlein oder ein dorfrichter verstünden mehr als sie und er selbst sei besser als ein solcher Bürgermeister. 77 Bei einer anderen Gelegenheit beschwor Offneyer göttliche Gewalt zur Abstrafung des Rates mittels Brand oder Flut. 78 Diese Worte mussten auch deswegen besonders brisant gewirkt haben, da Zwickau in den vorangegangenen Jahren des Öfteren von Naturkatastrophen heimgesucht worden war: Mehrere Erdbeben hatten einen Teil der Stadtmauer einstürzen lassen, eine langanhaltende Dürre führte seit Beginn des Jahrzehnts zu Hun‐ 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 205 79 L Ö F F L E R ; P E S C H K E , Chronik (1993), S.-49; H E R Z O G , Chronik (1845), S.-346-360. 80 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-78 r . 81 Ebd., fol.-307 r -308 v . 82 Ebd., fol.-80. 83 Ebd., fol.-102 v . gersnot und Teuerungen und neben der benannten Pestepidemie war die Stadt in mehreren Wellen von Fiebern und Krankheiten heimgesucht worden, die zu einer hohen Sterblichkeit insbesondere unter den Kindern geführt hatten. 79 Daneben stellte das Rathaus eine Sphäre dar, in welcher der Stadtrat einen besonderen Kontroll- und Ordnungsanspruch erhob und in dem Offneyers öf‐ fentliche Anschuldigungen daher umso unangebrachter erscheinen mussten. Neben den schriftlichen und mündlichen Beschimpfungen verdeutlichten auch symbolische Gesten, dass Offneyer nicht bereit war, sich dem Rat in dessen eigenem Haus unterzuordnen. So lehnte er es ab, beim Betreten der Gerichtsstube seine Wehr abzulegen. 80 Ein öffentlich angeschlagenes Mandat des Stadtrats vom 27. März 1600 wirkt wie eine direkte Reaktion auf Offneyers Verhalten. Hierin wird neben gebührlichem Verhalten (etwa eine offizielle Anmeldung vor Eintritt) und dem Absehen von Injurien und anonymen Ein‐ gaben auch das Ablegen der Wehr eingefordert. Lediglich Doktoren, Adlige, Beamte, sowie ansehenliche fremde personen waren hiervon ausgenommen. 81 Offneyers Weigerung, seine Waffen an der Tür abzugeben, war somit auch einen Akt sozialer Positionierung: Er stellte sich auf eine Stufe mit den im Mandat genannten Personengruppen. Der Konflikt mit dem Rat insgesamt erscheint aus dieser Perspektive auch als Konflikt um Anerkennung. Viele Angriffe Offneyers auf einzelne Ratspersonen spielten sich aber auch in aller Öffentlichkeit ab - was dem Stadtrat schon allein wegen der rechtlichen Bedeutung der Öffentlichkeit von Beleidigungen besonders erwähnenswert erschien. Einer der öffentlichen Orte der Stadt, an denen Offneyer sich zur Schmähung des Rates hinreißen ließ, war die Garküche, wo er im Beisein fremder und einheimischer Leute ehrenrührige Reden auf den Rat und dessen Zugetane gehalten habe. 82 Die öffentliche Dimension, hier wie im Fall Andreas Langener charakterisiert durch den Verweis auf das Publikum aus Einheimischen und Fremden, aus der Stadt und vom Land, wird auch in der Klage deutlich, dass der Rate ihme uff den bierbäncken unndt sonsten biss anhero uber seine lesterliche zunge haben springen mussen. 83 Im Alltag und in der ‚Öffentlichkeit der Straße‘ zeigte Offneyer seine Haltung gegenüber dem Rat in für jedermann lesbaren symbolischen Gesten. So weigerte er sich etwa, gegenüber Ratsmitgliedern seinen Hut abzunehmen oder drehte ihnen den Rücken zu. Diese Gesten entzogen laut Anklage der Obrigkeit die Ehre und damit zugleich den Gehorsam ihrer 206 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 84 Ebd., fol.-85 v . 85 Ebd., fol. 79 v f. 86 Für eine beispielhafte Analyse eines Kirchenbankstreits zweier Adliger Ende des 16. Jahrhunderts, der ebenfalls als Stellvertreterkonflikt vorangegangener Streitig‐ keiten fungierte, sowie eine Übersicht über die Forschung zum Thema s. D I E R K E S , Streitbar und ehrenfest (2007), S. 88-99. Für einen Überblick über die theoretischen Grundlagen der Analyse von Kirchenstuhlstreitigkeiten und die Situation in Kurs‐ achsen s. W E L L E R , Kirchenstuhlstreitigkeiten (2004). Für weitere Beispiele von platzbe‐ zogenen Konflikten im Kirchenraum s. H O L Z E M , Religion und Lebensformen (2000), S.-243-250. 87 S I G N O R I , Kirchengestühl (2002), S. 193. Ein vergleichbares Gestühl für „den Rat, für Doktoren und Lizentiatien, für die Pfarrer oder für die Assessoren des Schöppenstuhls“ existierte beispielsweise auch in Leipzig, s. W E L L E R , Kirchenstuhlstreitigkeiten (2004), S.-216f. 88 S C H M Ö L Z - H Ä B E R L E I N , Ehrverletzung als Strategie (1999). 89 P E T E R S , Platz in der Kirche (1985), S. 102; D I E R K E S , Streitbar und ehrenfest (2007), S. 90. Bürgerschaft. 84 Besonders deutlich wird Offneyers andauernder Kampf um seine eigene soziale Position und zugleich gegen den Rat in einer Episode, die typisch für frühneuzeitliche Rangkonflikte ist: Wahr, daß Offeney nicht allein dem rhat uffm rathausse, sondern auch inn der kirchen zu wider ist, unndt seinen mutwillen beweiset, inn deme, daß ehr aus seinem wol gelegenen stuel gewichen, und inn einem frembden stuel, welcher sonnsten edelleuten, doctoribus, unndt rahtspersonen geordnet ist, ohne erlaubnuß selbstthätig, unndt inn den obersten stand desselbenn stucks eingedrungen, daß ihme also itzt gemelte furnehme persohnen, so darin gehören, haben weichen mussen. 85 Offneyer nutzte die Kirche, um sich öffentlichkeitswirksam zu inszenieren, indem er sich in einen Bereich setzte, der eigentlich Adligen, Doktoren und Ratspersonen vorbehalten war. 86 Mit derartigem Sondergestühl wurden Privi‐ legien und Herrschaftsansprüche unterschiedlicher Gruppen zum Ausdruck gebracht. 87 Die Aktion stellte zum einen eine Strategie Offneyers dar, Anspruch auf eine höhere soziale Position innerhalb der Zwickauer Gesellschaft zu erheben - ein Verhalten, das Michaela S C HMÖL Z -H ÄB E R L E IN besonders Neu‐ bürger: innen wie Offneyer attestiert. 88 Zum anderen bedeutete sie einen Angriff auf den Rat, dem Offneyer hier provokant seinen Ungehorsam präsentierte und damit zugleich dessen Autorität untergrub, potentiell gesteigert dadurch, dass seine Anwesenheit im Sondergestühl andere Personen hieraus verdrängte. Es handelte sich keinesfalls um eine Belanglosigkeit; Auseinandersetzungen um Sitzplätze in der Kirche wurden als existenziell empfunden und endeten des Öfteren gewaltsam und/ oder vor Gericht. 89 Dass Offneyer in diesen Fällen zunächst weitgehend unbehelligt blieb, verdeutlicht, dass der Rat ihm entweder 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 207 90 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 901, fol. 87 v -111 v ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 902, fol. *13 r -*24 v , *82 r -*98 v , *103 r -*123 v ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 1177, fol. *31 r -*67 v ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1178. 91 Insgesamt erschienen die meisten Schmähschriften nachts und im Schutz der Dunkelheit, s. R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-384f. nicht recht beizukommen wusste, oder aber ein kaum ausgeprägtes Interesse bezüglich seines starrköpfigen Untertanen an den Tag legte. Diese vielfältigen Konflikte zwischen Offneyer, verschiedenen Bürger: innen und dem Rat waren über Gerücht und Gerede, so geht es aus den Zeugen‐ aussagen hervor, einem Großteil der Zwickauer Bevölkerung zumindest in Ansätzen bekannt. Indem jedes neue Ereignis umgehend in diese Konfliktsitua‐ tion eingeordnet und somit mit Bedeutung aufgeladen werden konnte, entstand ein großes Resonanzpotential. In dieser Situation tauchte nun am 4. Februar 1599 der Pasquillus auf und ließ die Entwicklung zuungunsten Offneyers kippen. 8.2.2 Das Erscheinen des Pasquillus Am Beginn des Jahres 1599 waren die meisten der beschriebenen Prozesse (und weitere mehr) noch nicht abgeschlossen, die Konflikte noch nicht geklärt und auch die öffentlichen Schmähungen Offneyers fanden kein Ende. Dessen Situation gestaltete sich indes zunehmend schwieriger: Er hatte bereits mehrere Prozesse verloren, auch vor den Appellationsinstanzen, und befand sich in finanziellen Nöten. Bislang waren sein Protestgebaren und seine Injurien jedoch weitgehend folgenlos geblieben. Zumindest rechtliche Sanktionen sind bis 1599 nicht überliefert. In dieser Situation wurde nun das Pasquill an der Rathauswand angebracht und damit der Konflikt zwischen Johann Offneyer und dem Stadtrat auf eine neue Ebene gehoben - mit drastischen Folgen für Offneyer. Dieser hatte sich infolge in gleich zwei von einer kurfürstlichen Kommission geführten Inquisitionsprozessen zu verteidigen, wurde ins städtische Gefängnis verbracht und musste schließlich für Jahre aus der Stadt fliehen. Der Tag des Anschlags Die Ereignisse um den Anschlag des Pasquills lassen sich aus den Klage-, Beweis- und Inquisitionsartikeln des Zwickauer Rates, den entsprechenden Antworten des Angeklagten hierauf, den durch ihn eingebrachten Fragstücken sowie den Ergebnissen der Zeugenbefragung rekonstruieren. 90 In den über zwei Jahre später eingereichten Inquisitionsartikeln des Rates heißt es, dass am Sonntag, den 4.-Februar 1599 jemand des nachts, oder zumindest zu einer Zeit, als die Straßen noch leer waren, 91 ein Pasquill gegen den Ratsherrn Kratzbeer, Bürgermeister 208 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 92 S E N N E F E L D , Libelling (2008), bes. S.-152. 93 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-217 v -239 v . 94 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 902, fol. *20 v . Das Vorlesen wurde zudem von einem Zeugen bestätigt, der zugegen war, als Offneyer das Pasquill etwa zur Hälfte vorlas: StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 1178, fol. *17v. Offneyers Lachen, welches den satirisch-komischen Charakter der Schmähschrift unterstreicht, wird an mehreren Stellen hervorgehoben. Neben ihm ging offenbar auch sein Freund Abraham Schultess zum Pasquill und amüsierte sich ebenfalls über selbiges. Beide Männer trafen sich in der Folge in ihren Wohnungen Faber und Stadtschreiber Müller am Rathaus angeklebt habe. Wie schon im Fall des Andreas Langener war der Zeitpunkt klug gewählt: Das Anbringen vor dem sonntäglichen Hauptgottesdienst garantierte ein großes Publikum, da sich viele Menschen etwa zur gleichen Zeit auf den Weg in die Kirchen begaben. Der Ort des Anschlags erfüllte gleich mehrere Zwecke: Erstens lag er zentral am städti‐ schen Hauptmarkt und zugleich in der Nachbarschaft eines weiteren öffentlichen Orts, der Stadtkirche St. Marien. Damit hing die Schmähschrift in einer der ‚Einflugschneisen‘ der Gottesdienstbesucher: innen (Abb.-4). Zweitens erreichte der Täter mit seiner Entscheidung, das Pasquill am Rathaus als zentralem politi‐ schen Ort der Stadt anzubringen, eine zusätzliche Dimension der Schmähung. Es handelte sich um eine Penetration des Hoheitsbereichs des Stadtrates, der auf diese Weise zudem als Adressat der Schmähungen ausgewiesen wurde. Im Sinne S E N N E F E L T S wurde das Rathaus durch das öffentliche Anbringen der Schmähschrift als Ort umgedeutet: Das Symbol der Macht des Rates und seiner Ehre wurde zu einem Ausweis der Schmähung. 92 Bei der Schmähschrift handelte es sich um eine Handschrift von sieben Seiten Länge. Die insgesamt 188 Zeilen waren kaum dazu geeignet, im Vorübergehen gelesen zu werden, jedoch war das Pasquill mit drei Zeichnungen versehen, die den schmähenden Inhalt unterstützten. Neben der Imitation des Stadtwappens handelt es sich um zwei Hinrichtungsgegenstände: das Rad und den Galgen mit angelehnter Leiter. Auch für Personen ohne Lesekompetenz war zumindest die Stoßrichtung der angeklebten Schrift somit unmissverständlich. Schriftstück und Ort legen eine initiale Rezeption über gemeinsames Be‐ trachten und Vorlesen nahe, die auch weitgehend durch die Quellen bestätigt wird. Nach Aussage des Rates war Offneyer an jenem 4. Februar 1599 morgens zunächst zum Ehepaar Richter gegangen, das zu diesem Zeitpunkt von ihm in einem Rechtsstreit vor dem Leipziger Oberhofgericht gegen - wenig überraschend - die Familie Kratzbeer vertreten wurde. 93 Das Haus der Richters lag in unmittelbarer Nähe der Stadtkirche St. Marien, dennoch gingen die drei Personen nicht zur Kirche, sondern zum Rathaus. Dort las Offneyer der Anklage gemäß das Pasquill laut vor und ging anschließend lachend davon, ohne es abzureißen. 94 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 209 und haben gemeinsam und im Beisein Dritter „viel und offt darvon geredet und sich darmit geküzelt“, StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *21 v . 95 K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-16, eigene Bearbeitung. 96 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *83 r . Abb. 4: Stadtplan Zwickaus im 16. Jh. mit Markierung der für den Fall Offneyer relevanten Orte (A: St. Marien; B: Rathaus; C: unteres Ende der Hundsgasse; D: Pulverturm). 95 Offneyer bestätigte, die Schrift zumindest gesehen und auch die Bilder von Rad und Galgen erkannt zu haben. 96 Allerdings betone er, dass er den 210 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 97 „[…] hette wol geweist, das man solche famosschrifften abreisen und der obrigkeit bringen sollen hette es auch thun wollen, wen nicht albereit des ratths diener uber solchenn abnehmen gewesen weren und hette dem rathsherrn m. Liupold seliger der solchen pasquillem vor ihm gelesen heben solle, am besten angestanden solches abzureißen.“, ebd., fol.-93 r . 98 S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S.-467. Liupold war im Jahr 1601 verstorben, also etwa drei Jahre, bevor Offneyer diese Aussage tätigte. 99 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1177, fol. *56 v , *57 v . 100 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *92 v . Aushang wohl entfernt hätte, wäre nicht bereits ein Diener des Rats dabei gewesen, ihn abzunehmen. Außerdem, so Offneyer weiter, hätte es dem Ratsherrn Liupold, der den Pasquillus vor Offneyer betrachtet hätte, weit eher zugestanden, die Schmähschrift herunterzureißen. 97 Andere Zeugen be‐ stätigten, dass es ein Ratsdiener gewesen sei, der das Pasquill nach etwa einer Stunde abgenommen habe. Auch hier, wie schon im Fall Langener, schritt niemand aus dem Publikum zur Tat, sondern man ließ die Schrift hängen, obgleich man sich über ihren Charakter völlig im Klaren war. Das Betrachten und Lesen von Schmähschriften amüsierte die Menschen und wurde zwar nicht als schicklich, jedoch auch nicht als weiter gefährlich angesehen, so‐ lange man nicht anderweitig negativ auffiel. Der genannte Ratsherr Liupold steht pars pro toto für eine größere Personengruppe, die das Pasquill am Morgen des Anbringens betrachtet haben muss. Bemerkenswerterweise riss auch er es nicht eigenhändig ab, obwohl er als Mitglied des Rates theoretisch betroffen gewesen wäre. Allerdings sollte man Offneyers Verweis auf Liupold auch nicht allzu stark gewichten, schließlich benannte er an dieser Stelle ausgerechnet einen zwischenzeitlich Verstorbenen, der also selbst nicht mehr Stellung beziehen konnte. 98 In seinen Aussagen beschrieb Offneyer außerdem unter Nennung weiterer Personen eine größere Menschenmenge, die sich um das Pasquill versammelt hatte. 99 Auf die Frage des Rates, warum ihn sein Weg nicht direkt zum Gottesdienst, sondern erst zur Schmähschrift geführt habe, berichtete Offneyer, dass der hinckende Valtin der schieferdecker zu ihnen vor das Haus Georg Richters gekommen sei und vom Anschlag des Pasquills am Markt erzählt habe. 100 Diese Aussage kann als zusätzlicher Hinweis auf ein größeres Publikum gelesen werden. Außerdem belegt die Episode den Neuigkeits- und Attraktionswert der Schmähschriften, der dazu führte, dass man sich nicht nur bei Treffen davon berichtete, sondern die Menschen aktiv aufeinander zugingen, um sich über die kleine Sensation in Kenntnis zu setzen. Das Pasquill wurde relativ schnell vom Büttel ins Rathaus gebracht, von Abschriften berichten die Quellen nichts. Aber das Gerede über den Vorfall war 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 211 101 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1178, fol. *22 r ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *23. 102 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *33 v . 103 Vgl. Kap. 7.2. 104 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-309. 105 Ebd., fol.-309 v . auch in Zwickau nicht aufzuhalten. Offneyer stach dabei heraus, allerdings ist hier die Quellenlage zu bedenken, war der Prozess doch darauf ausgelegt, ihm als Angeklagtem eine möglichst große Nähe zur Schmähschrift nachzuweisen. So soll er in seinem Haus und an verschiedenen Orten im Beisein unterschiedlicher Personen ungewöhnlich viele Passagen des Textes auswendig vorgetragen haben. 101 Zu seiner Verteidigung brachte Offneyer vor, dass domals woll in der ganzen stadt [vom Pasquill] geredett worden sei. 102 Unterstützt wurde seine Aussage von mehreren Zeugen, die ebenfalls vom Gerede über die Sache zu berichten wussten. Die Anschlusskommunikation ähnelte insgesamt derjenigen des zuvor beschriebenen Dresdner Falls. 103 Reaktion des Rates Eine erste Reaktion des Stadtrats auf das Pasquill ist in einer Abschrift des Ratsprotokolls vom 8. Februar 1599, also vier Tage nach dem Anschlag, überlie‐ fert. 104 Hierin hielten die Ratsherren fest, dass man die famos schrifft ernst nehme und nicht billigen könne und dass weitere Nachforschungen zu ihrem Urheber anzustellen seien. Gleich mehrere Mitglieder betonten, dass der Pasquillant als nicht ehrenwert und als Ehrenschänder anzusehen sei. Ziel der Angriffe sei keine Einzelperson, sondern der Rat als Ganzes gewesen, woraus dieser die Forderung nach einem entschiedenen rechtlichen Vorgehen ableitete. Es wird zudem deutlich, dass Johann Offneyer von Beginn an der Autorenschaft verdächtigt wurde, allerdings vermieden es die Ratsherren, ihn explizit zu bezichtigen. So gab M. Reier zu Protokoll: Offeney enntschuldigt sich fast der schmehescrifft halben, stelle es ann seinen ort. 105 Offneyer hatte demnach voreilig begonnen, den Schmähschriftenvorwurf von sich zu weisen. Reier vermied es, Offneyer offen zu beschuldigen, sondern überließ es allen Anwesenden, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Wie auch in späteren Zeugenaussagen versuchte man offenbar, eine konkrete Bezichtigung und damit eine potentielle Verleum‐ dungsklage zu vermeiden. Die weiteren Abläufe bis zum Jahr 1607 gestalteten sich kompliziert und sind aus der Aktenüberlieferung nur schwer zu rekonstruieren, da parallel mehrere Prozesse mit denselben Beteiligten und großen inhaltlichen Überschneidungen geführt wurden; dazu zählten auch die bereits genannten, in denen Offneyer zumeist als Anwalt der Klägerseite fungierte. Offneyer selbst wurde schließ‐ 212 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 106 Ebd., fol.-166 r , 167 r , 381 r . 107 Ebd., fol.-408f. lich in zwei formal getrennten Prozessen vom Rat angeklagt, die von der Landesregierung anbefohlen und vor einer kurfürstlichen Kommission geführt wurden: Erstens wegen diverser Injurien gegen den Zwickauer Rat und einzelne Mitglieder desselben sowie wegen Ungehorsams. In diesem Verfahren wurden auch die bereits beschriebenen Konflikte und Prozesse der Jahre vor 1599 auf‐ gearbeitet und das Gebaren Offneyers dabei auf unrechtes Verhalten gegenüber seiner Obrigkeit überprüft. Das Pasquill war nicht eigentlicher Gegenstand dieses Prozesses, fand jedoch als besonders schweres Vergehen Offneyers wie‐ derholt Erwähnung. Das Verfahren bündelte zudem mehrere frühere Klagen und Beschwerden, die hauptsächlich von Stadtschreiber Schettler schon vor Februar 1599 bei der Landesregierung eingereicht worden waren. Den zweiten Prozess strengte der Rat des Pasquills halber an, die Hauptanklage gegen Offneyer lautete auf Anfertigung und Anbringung der Schmähschrift. Da das Pasquill jedoch unzählige Bezüge auf Ereignisse im Kontext der beschriebenen Konflikte zwischen Offneyer und mehreren Bürger: innen, Ratsmitgliedern und dem Rat als Ganzem aufwies, die hinsichtlich Indizien und Motiven mitverhandelt werden mussten, und der Rat das Pasquill als Gipfelpunkt eines von Offneyer geführten umfassenden Kampfs gegen ihn ansah, waren die Schnittmengen mit dem ersten Prozess enorm. Hinzu kam die bereits thematisierte Doppelrolle von Akteuren wie Christoph Faber und Michael Kratzbeer, die als injurierte Privatpersonen ebenso eine Rolle spielten wie als Ratsmitglied respektive Bürgermeister. Die ersten Schritte beider Prozesse sind nicht im Detail nachvollziehbar, da die entsprechenden Dokumente (Klageschriften, Urteile und Befehle) nicht überliefert sind. Sie können jedoch aus den vielfältigen Bezügen des vorhan‐ denen Prozessschriftguts rekonstruiert werden. Es ist auffällig, dass der Rat Offneyer zunächst nicht direkt beschuldigte, auf das Pasquill ansprach oder gar verhaftete. Am 26. März 1599 reichten die Ratsherren ohne das Wissen des Beschuldigten Bericht und Klage bei der Landesregierung ein, außerdem stellten sie ungefähr zeitgleich beim Wittenberger Hofgericht eine Anfrage bezüglich der Berechtigung zur Folter, 106 die offensichtlich abgelehnt wurde. Das früheste überlieferte Dokument ist ein kurfürstlicher Befehl unter Bezug auf ein vorangegangenes Urteil vom 28. September desselben Jahres, das Offneyers Prokuratur aberkannte und die Durchführung einer Inquisition und damit zusammenhängend seine Inhaftierung befahl. 107 Der Befehl bezieht sich explizit auf die vielfältigen Beschwerden und Eingaben - vor allem im Zusammenhang 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 213 108 Ebd., fol.-161, 167 r . 109 Ebd., fol.-177 v -178 v . 110 Z. B. Ebd., fol.-186 v . 111 Ebd., fol.-87 v -111 v . 112 Ebd., fol.-972. 113 Ebd., fol.-376 v . mit dem Konflikt um den Stadtschreiber Schettler - und noch nicht auf das an‐ geklebte Pasquill. Es kam jedoch nicht zur Ausführung: Am 16. Oktober erschien Offneyer in Begleitung seiner Unterstützer Abraham Schultess und Heinrich Reinholt in Dresden, um sich gegen die Vorwürfe des Rates zu verteidigen und sich über das Gebaren desselben zu beschweren. 108 Bei dieser Gelegenheit erfuhr Offneyer nach eigener Aussage zum ersten Mal überhaupt von dem genannten Foltergesuch. Die Verteidigung hatte Erfolg: Am 24. November erging ein kurfürstlicher Befehl an den Zwickauer Rat, der zwar erneut eine Inquisition in Auftrag gab, allerdings unter Bezug auf Offneyers Beschwerde dem Rat befahl, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. 109 Außerdem konnte Offneyer seine Prokuratur zurückerlangen. Nach mehreren prozessrechtlichen Beschwerden Offneyers bezüglich der Kommissionbesetzung, der Verfügbarkeit von Aktenmaterial, der Beschleuni‐ gung des Verfahrens u. ä. sowie einiger ihm wohlwollender kurfürstlicher Bescheide 110 reichte der Stadtrat schließlich am 9. März 1600 offiziell Klage gegen Offneyers Ungehorsam und die damit einhergehenden Injurien ein. 111 Diese Klage führte alle Streitigkeiten und Prozesse der Vergangenheit sowie das Erscheinen des Pasquills auf - ohne jedoch formal Anklage wegen des Verbreitens von Schmähschriften zu erheben. Hierauf wurde ein erster Verhör‐ termin angesetzt, der am 4. November desselben Jahres stattfinden sollte, zu dem Offneyer nicht selbst erschien, sondern Schultess und Reinholt als seine Vertreter entsandte. Da die Kommission aber die persönliche Anwesenheit Offneyers forderte, wurde der Termin vertagt. 112 Einige Monate später, am 26. Januar 1601, kam es zu ersten handfesten Maßnahmen. Johann Offneyer wurde vom Stadtrat kurzerhand festgenommen, wie er selbst ausführte: Nach dem ich vonn euch dem stadtvoigt Thomas Pitzschenn gestern acht tage, alß den sechs unndt zwenntzigisten martii vergangen, inn meinem hausse inn meinem schreibstublein unvorsehenns mit vielen butteln, unndt annderm volck uberfallen, unndt mir von euch angezeigt, dass der [kurfürstliche Administrator] bevohlen, dass ich mit euch gutwilligk zu gefengnuss gehen, oder ich nicht wollte, von euch mit genommen werden sollte, ich auch darauff gehorsamlich auff solchen bevehl mitgangen, […] 113 214 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 114 Ebd., fol.-7 r -12 r , 12 v -21 r . 115 Ebd., fol.-5. 116 Ebd., fol.-2 v . 117 Ebd., fol.-431 r . 118 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *131 r . 119 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1270, fol. *16 r . 120 Ebd., fol.-*2 r . 121 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1271, fol.-499 v -501 r . Den hier angesprochenen kurfürstlichen Befehl konnte der Rat allerdings nie vorweisen und dass er auch in keiner Weise Eingang in die ansonsten umfang‐ reichen Akten gefunden hat, lässt begründete Zweifel an seiner Existenz zu. Der Rat war offensichtlich nicht länger bereit, Offneyers rechtliche Winkelzüge hinzunehmen und griff daher zum Mittel der Dingfestmachung, um endlich einen Verhörtermin durchzusetzen. Dieser fand schließlich im Juli und August 1601 statt. Neben dem nun unfreiwillig anwesenden Offneyer sagten mehrere Mitglieder des Rates aus. 114 Am 20. Juli zwang ein kurfürstlicher Befehl den Magistrat, Offneyer auf freien Fuß zu setzen. 115 Allerdings datiert dieser Befehl bereits auf den 17. April und war somit schon einen Monat nach der Inhaftie‐ rung erlassen worden. 116 Der Rat leistete den schiedsrichterlichen Eingriffen aus Dresden offenbar nur widerwillig Folge. Hierbei handelt es sich um ein regelrechtes Muster, stimmte doch die Landesregierung im Verlauf der Prozesse häufiger Offneyers Begehren um Akteneinsicht, Geleit, Beschleunigung und Erklärung zu. Nach einem weiteren Inquisitionstermin 117 und einem gescheiterten Schlich‐ tungsversuch durch die Landesregierung 118 entsandte der Rat eine Abordnung nach Dresden, die ein rasches Urteil und die umgehende Vollstreckung desselben forderte. 119 Selbiges Urteil beziehungsweise der kurfürstliche Vollstreckungsbe‐ fehl erfolgte am 31. Mai 1602. Es lautete auf drei Jahre Landesverweis und öffentlichen Widerruf der Beschuldigungen durch Offneyer, 120 der damit eine erste Niederlage kassierte und nun - abgesehen von der Gefängnishaft - zu spüren bekam, dass er mit seinem Protest, und spätestens mit der Schmähschrift, zu weit gegangen war. Zu betonen ist jedoch, dass dieses Urteil ausschließlich auf die Injurienklage des Rates erfolgte. Bezüglich der Schmähschrift war bislang lediglich die Einsetzung einer Kommission anbefohlen worden: Da Offneyer und der Stadtrat vor den Räten der Landesregierung nicht im Guten verglichen werden konnten, sondern es von beydenn theilenn uff den vor dessen hieruber angefangenen inquisitions proces gestellett wordenn, sah der entspre‐ chende Befehl vom 30. April 1602 vor, drei Räte zu Kommissaren zu ernennen, die den Prozess führen sollten. 121 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 215 122 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1270, fol. *3 r . 123 Vgl. die Inhaftierung und den Transport eines Pasquillanten unter höchsten Sicher‐ heitsmaßnahmen in Kap. 9. 124 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1177, fol. *33 r . 125 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1270, fol. *5 r , *7 r . 126 Ebd., fol.-*9 r , *30 r . 127 Ebd., fol.-*28 r , *38 r . Auf den kurfürstlichen Befehl vom 31. Mai 1602 hin erging knappe zwei Wochen später der Folgebefehl der Kommission an das Zwickauer Schultheißge‐ richt, Offneyer in aller stille unde geheim aufzugreifen. 122 Man wollte mögliches Aufsehen, wohl im Wissen um Offneyers Fähigkeiten, selbiges für sich zu nutzen, vermeiden und bestand daher auf einen geheimen Zugriff. Diese Vor‐ sicht im Umgang mit mutmaßlichen Pasquillant: innen, die sich Schmähschriften gegen die Obrigkeit hatten zu Schulden kommen lassen, ist auch in weiteren Fällen erkennbar. 123 Sie resultierte aus einem Bewusstsein über die Gefahren öffentlichen Aufsehens und einer Sorge um die öffentliche Meinung auf Seiten der Obrigkeit. Die Beschreibung des Verhaftungsversuchs durch Offneyer offenbart auch den nicht geringen Aufwand der Aktion: Ja es hatt der rath beclagter m. Offney […] inn seinem garten hause vorm thor bey nebel und nacht durch ihr buttel stadtknecht und andere mit spiessen, wehren und buchsen, wie einen schelmen und ubelthetter, als der albereit denn hals und das leben vor wircket hette, gesuchet, aber nicht gefunden. 124 Schenkt man Offneyer Glauben, der von den Ereignissen nur aus zweiter Hand erfahren haben konnte, wurde die Verhaftungsaktion also aufwendig vorbe‐ reitet und mit Hilfe mehrerer Bewaffneter durchgeführt. Dies verdeutlich die zweite Seiten des obrigkeitlichen Vorgehens gegen derartige Pasquillant: innen: Man legte zwar Wert auf Geheimhaltung, betrieb jedoch zugleich einen großen Aufwand, der schwerlich unbemerkt bleiben konnte. In diesem Fall hatte Offneyer trotz aller Vorsicht von den Verhaftungsplänen erfahren, sodass er rechtzeitig aus der Stadt fliehen konnte. 125 In der Folge supplizierte er mehrfach an den Kurfürsten um Wiederaufnahme des Prozesses und um die Gewährung von Geleit, das es ihm ermöglichen sollte, in die Stadt zu‐ rückzukehren und sich zu verteidigen. 126 Zwar wurde ihm Geleit erteilt, jedoch nur bis zur Urteilsverkündung am 18. August 1602, zu der er konsequenterweise nicht erschien. 127 An seiner statt erschien seine Frau Margarethe, die allerdings - wie zuvor schon seine Freunde Schultess und Reinholt - abgewiesen wurde. 216 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 128 Nachweisbar sind die Orte Stolberg, Wernigerode und Nordhausen, vgl. StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *235 r . Damit hatte sich Offneyer aus dem kursächsischen Territorium entfernt, wahrscheinlich, um sich einem befürchteten Zugriff durch die Landesregierung zu entziehen. 129 Ebd., fol.-*35 r . 130 Ebd., fol.-*13 r -*24 v . 131 Ebd., fol. *289 r -*290 v . 132 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1177, Deckblatt. 133 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *394. 134 Ebd., fol.-*408 r -*411 v . 135 Ebd., fol.-444 r ; StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-905, fol.-1374 v . Während Margarethe in Zwickau verblieb, ging Offneyer ins Exil in den Harz 128 und führte von hier aus seine Prozesse weiter, allen voran denjenigen um das Pasquill, denn die Landesregierung erließ am 7. November 1603 einen Befehl, nicht auf sein Begehren einzugehen und die Vollstreckung des Urteils in Injuriensachen bis zur Klärung der Pasquillsache auszusetzen. 129 Nach erneuten, langwierigen Prorogationen durch den Rat und Beschwerden Offneyers bezüglich Akteneinsicht, übergab ersterer am 10. November 1603, also viereinhalb Jahre nach dem Ereignis, seine Inquisitionsartikel in der Pas‐ quillsache. 130 In der Folge entwickelte sich der Prozess zu einem ermüdenden Kampf um Geleit von Seiten Offneyers und um Erzwingung von dessen persönlicher Anwesenheit von Seiten des Rates. Zudem musste Offneyer sich über mehrere Supplikationen das Recht erkämpfen, vom Rat eine vollständige Kopie der Schmähschrift zugeschickt zu bekommen. Dieser wollte zunächst nicht einmal Ausschnitte herausgeben, da ihm die Gefahr einer weiteren Verbreitung zu groß erschien. 131 Erst im Februar 1607 betrat Johann Offneyer wieder nachweislich den Boden der Stadt Zwickau, um an einem für den 9. und 10. des Monats angesetzten terminus productionis teilzunehmen. 132 Auf diesen erfolgte zunächst ein Urteil des Leipziger Schöffenstuhls, das Offneyer die Kürzung seiner ausufernden Antwortartikel befahl, 133 der wiederum mit der Beschwerde konterte, dass der Rat nun konsequenterweise ebenfalls Kürzungen vornehmen müsse. 134 Zuletzt wurde für den 7. November 1608 ein Termin zur Zeugenbefragung angesetzt. 135 Diese hinsichtlich der Beurteilung der Pasquillsache durch die Zeitgenoss: innen mutmaßlich aufschlussreichen Zeugennaussagen sind leider nicht mehr überliefert. 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 217 136 Vgl. F R A N K E , Schimpf und Schande (2013), S.-95f. 8.2.3 Ein Instrument des Konfliktaustrags mit Sonderstatus - der Pasquillus als Kippmoment Aus der zeitlichen Vogelschau über den Verlauf der Ereignisse zwischen den Jahren 1592 und 1608 lassen sich einige Rückschlüsse auf die Rolle des Pas‐ quills ziehen, dessen Auftauchen ein Kippmoment darstellte. Zuvor schöpfte Johann Offneyer seit seiner Aufnahme in die Zwickauer Bürgerschaft und im Verlauf seiner unzähligen Streitigkeiten beinahe sämtliche Mittel des Kon‐ fliktaustrags aus, die ihm zur Verfügung standen. Seiner Tätigkeit als Anwalt entsprechend bildeten Gerichtsprozesse den Kern der meisten Auseinander‐ setzungen, wobei Offneyer hier über Supplikationen und Appellationen an die landesherrlichen Instanzen den Rahmen der innerstädtischen Gerichtsbarkeit zumeist verließ. Die von ihm verfertigten Prozessschriften enthielten, ebenso wie seine Aussagen vor Gericht, bereits Schmähungen und Herabsetzungen seiner Gegner: innen, die über das gewohnte Maß hinausgingen und die sich daraus ergebenden Injurienklagen nicht allein als taktische, sondern durchaus inhaltlich nachvollziehbare Akte erscheinen lassen. Aber auch außerhalb des Gerichts griff Offneyer zu verbalen Beleidigungen und Drohungen, vor allem gegenüber dem Ratsherrn Michael Kratzbeer, den er darüber hinaus zur Verteidigung seiner Ehre mit physischen Mitteln herausforderte. Zusätzlich bediente sich Offneyer öffentlicher symbolischer Gesten der Missachtung, wie die Episode um die Sitzplätze in der Kirche verdeutlicht. Insgesamt zeigt sich in diesem Fall die ganze Breite des Spektrums informeller, ritualisierter und formalisierter Konfliktaustragsmittel, die lang anhaltend nebeneinander zum Einsatz kommen konnten. 136 Als ebenso typischen Mechanismus der Streit‐ kultur der Zeit kann im Fall des Johann Offneyer die oft schnell ablaufende Transformation vom Sachzum Ehrkonflikt beobachtet werden. Jede der in die Überlieferung aufgenommenen Rechtsstreitigkeiten wurde von Offneyer auf eine prinzipielle, ehrbezogene Ebene überführt, vorrangig indem er all jene, die nicht in seinem Sinn aussagten oder entschieden, als seine persönlichen Feinde darstellte und behandelte. Bedingt durch diesen Mechanismus kam es zu einer zunehmenden Generalisierung der Beschwerden Offneyers. Seine Unzufriedenheit mit einzelnen Entscheidungen des Rates verdichtete sich zusehends zu einer allgemeinen Kritik am Stadtregiment, die in der noch zu analysierenden Schmähschrift ihren deutlichsten Niederschlag fand. Aber be‐ reits zuvor brachte Offneyer den Konflikt zu unterschiedlichen Gelegenheiten an die Öffentlichkeit, etwa in seinen aufrührerische Reden in der städtischen Garküche. 218 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus Durch das Erscheinen der Schmähschrift, das einen Kippmoment in der Dynamik der Konflikte darstellte, erreichten sowohl die Schmähung selbst als auch ihre Öffentlichkeitsdimension eine neue Qualität. Ausgehend vom Rathaus als Ort des Anschlags verbreitete sich die Information über das Pasquill im Gerede der Stadt. Offneyer machte sich durch seine offensiv zur Schau gestellte Belustigung schnell verdächtig - die inhaltliche Analyse der Schmähschrift wird diesen Verdacht erhärten. Nachdem der Rat zuvor auf die vielfältigen Konflikte sowie auf Offneyers Ungehorsamsbezeugungen und Herabsetzungen zumeist nur passiv reagiert hatte, wandte er sich bereits im ersten Monat nach Erscheinen der Schmähschrift an die Landesregierung und bat beim Wittenberger Hofgericht um Foltererlaubnis. Schon wenige Monate später erging ein erster Haftbefehl gegen Offneyer und obgleich dieser sich nicht unmittelbar auf das Pasquill bezog, so scheint das Tempo doch im Anschluss an dieses Ereignis deutlich zugenommen zu haben. Der Streit mit Schettler, auf den sich das Urteil vorrangig bezog, schwelte zu diesem Zeitpunkt immerhin seit über sieben Jahren. Außerdem war Abraham Schultess, der in diesen Streit ebenso verwickelt war, nicht im gleichen Maße von der Strafverfolgung betroffen wie sein Freund Offneyer, den man für den Autor hielt. Für Offneyer änderte sich die Situation spätestens im Moment seiner Inhaftierung am 26. März 1601 sowie nach seiner Flucht am 12. Juni 1602 dramatisch. Gefangenschaft und Exil bedrohten vor allem durch den Entzug des Einkommens sein gewohntes Leben in höchstem Maß. Das dynamisierende Potential der Schmähschriften, das in den ersten beiden Kapiteln für persönliche, individuelle Konflikte festgestellt wurde, muss also auch obrigkeitskritischen Schriften zugesprochen werden. Innerhalb des von Offneyer abgerufenen Repertoires an Instrumenten des Konfliktaustrags und der Obrigkeitskritik hatte die Schmähschrift entspre‐ chend eine Sonderrolle inne. Sie provozierte eine aktive Reaktion des Rates und eine stärkere Externalisierung des Streits, der nunmehr vorrangig unter Hinzuziehung der Landesregierung ausgetragen wurde. Diese Sonderrolle basierte zum einen auf einem strafrechtlich betrachtet größeren ‚Kaliber‘ des Vergehens, das im Vergleich zu Verbalinjurien und stärker symbolischen Angriffen auf die Ehre einzelner Ratsmitglieder oder den gesamten Rat eine härtere Gangart bei der Strafverfolgung legitimierte. Zum anderen verweist die Tatsache, dass der erste Prozess zunächst formal nicht wegen der Schmähschrift, sondern der Injurien halber angestrengt wurde, darauf, dass das Erscheinen des Pasquills nicht ausschließlich formalrechtliche Le‐ gitimation, sondern affektiver Beweggrund für das Vorgehen des Rates war: Das Libellieren zeitigte also emotional Wirkung, indem es eindeutig 8.2 Die Rolle des Pasquillus im Konfliktverlauf 219 137 Ein verbreitetes Merkmal politischer Ereignisdichtung: K E L L E R M A N N , Abschied vom „historischen Volkslied“ (2000), S.-52. 138 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-171-178. 139 Die Hundsgasse, die spätere Burgstraße, verlief in Zwickau im 16. Jahrhundert mittig von Norden nach Süden durch die Stadt, parallel zur Hauptstraße (Steinweg), vgl. Abb. 4 und K E N Z L E R , Wege durch das mittelalterliche Zwickau (2003). Es scheint erwähnenswert, dass der Bereich um die Hundsgasse im Rahmen der Konflikte um die Reformation als Wohnort der allermeisten ‚Unruhestifter‘, besonders der Anhänger Thomas Müntzers bekannt war, die daher auch „hundgesser“ genannt wurden, s. K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-116f. die Grenzen hinnehmbaren Verhaltens überschritt. Dazu passt auch das zeitweise eigenmächtige Agieren des Rates entgegen den Anweisungen der Landesregierung. 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte Das offensichtlich große Drohpotential, das dem Pasquillus innewohnte, und die Befürchtungen der Betroffenen sind nur über einen vertiefenden Blick auf den Inhalt der Schrift sowie auf die Klagepunkte des Rates zu verstehen. Die folgenden Ausführungen setzen voraus, dass es sich beim Autor des Pasquillus tatsächlich um Johann Offneyer handelte. Die Schnittmengen zwischen den im Text geschmähten Personen und den Feinden Offneyers, Gemeinsamkeiten in den aufgeführten Kritikpunkten und sein Verhalten am Tag des Anschlags lassen schwerlich einen anderen Schluss zu. In Strophe sieben nennt sich der Autor auf indirekte Weise selbst: 137 wolt ihr wissen wer ich bin vorwahr ich führ ein sorten sin nicht lang ists bin ich beug gesessen und mit euch von einer schötzkeul gessen Ulrich Schlürff bin ich genandt den Stephen Leiybeltz wolbekandt zu unterst in der huntsgassen man mus mich wol bassiren lassen 138 Über die Hinweise auf seine Identität durch Bezüge auf reale Ereignisse wie das gemeinsame Hammelessen (schötzkeul), Personen (Stephen Leiybeltz) und konkrete Orte (huntsgassen 139 ) spielte Offneyer ganz bewusst mit der Anony‐ mität beziehungsweise Pseudonymität. Damit weckte er potentiell Interesse 220 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 140 C R O F T , Libels (1995), S.-273. 141 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *22. 142 Zwar kennen wir seinen genauen Wohnort nicht, jedoch geht aus seiner Beschwerde bezüglich der Rechenmeisterin hervor, dass sich seine Nachbarschaft in der Nähe des Pulverturms befand, der in die östliche Stadtmauer eingebunden war. Daher ist davon auszugehen, dass Offneyers Nachbarschaft zwischen Hundsgasse und Stadtmauer, also im Bereich des ‚Tränkviertels‘ lag (vgl. Abb.-4). 143 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 902, fol. *25 r -*28 r . Dass es sich um eine Abschrift handelt, geht zum einen aus einer Anmerkung am Ende hervor, die darauf hinweist, dass statt der Federzeichnung ein nachgemachtes Siegel aus Papier angehängt war und zum anderen aus einer entsprechenden Aussage Offneyers, in der er die Unterschiede zwischen Abschrift und Original benennt. Ebd., fol.-*83 r . 144 So folgt das Bild des Galgens auf die Zeile „o naus mit ihm an diese stell“ (Z. 24). Das Bild des Rades ersetzt gar das entsprechende Wort und folgt auf „er hat dar zu vordienet das“ (Z. 30), wobei das Ende der folgenden Zeile einen Reim auf „Rad“ darstellt. beim Publikum, das Spaß am Erkennen der Bezüge und Erraten des Namens des Autors entwickeln konnte. 140 Durch die dreiste Preisgabe seiner Identität durch offensichtliche Anspielungen zeigte er außerdem seine Unerschrockenheit und stellte so den Rat bloß. Offenbar hatte einige Wochen zuvor tatsächlich ein gemeinsames Hammelessen von Offneyer, dem in der Schmähschrift ge‐ nannten Stadtschreiber David Müller und dem Amtsschreiber Michael Wolff stattgefunden, was im Prozess als Indiz für Offneyers Autorenschaft angeführt wurde. 141 Auch das Bassiren in der Hundsgasse, womit vermutlich Singen oder lautes Vortragen gemeint ist, spielt offensichtlich auf ein spezifisches Ereignis an. Eine Verbindung zu Offneyer lässt sich heute nur erahnen, grenzte doch die Hundsgasse an seine Nachbarschaft. 142 8.3.1 Äußerliches Bei der in den Akten befindlichen Version des Pasquillus handelt es sich um eine dem Original gleichende Abschrift. 143 Die 181 Verse des Gedichts bilden durchgehend einfache Paarreime und verteilen sich auf sieben Seiten, die zugleich grobe Sinnabschnitte darstellen. Neben der programmatischen Überschrift Pasquillus finden sich äußere Merkmale in Form dreier kleiner Zeichnungen (Abb.-5). Bei den ersten beiden Zeichnungen handelt es sich um zwei Hinrichtungsge‐ genstände, nämlich Rad und Galgen, die nicht nur den Text illustrieren, sondern in ihn einbezogen werden. 144 Damit greift der Autor auf in gemeinschaftlichen Wissensbeständen fest verankerte Symbole obrigkeitlicher Strafjustiz zurück, die sowohl die Verletzung der guten Ordnung als auch den Anspruch auf 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 221 145 Vgl. S C H W E R H O F F , Straf-Akte(n) (2006). 146 Dazu, dass schon der zufällige Kontakt mit dem Galgen oder privater Umgang mit dem Scharfrichter anfällig für den Vorwurf der Unehrlichkeit machen konnte s. N O W O S A D T K O , Scharfrichter und Abdecker (1994), S.-292-297. 147 Ebd., fol. *25, *28 r . ihre Wiederherstellung zum Ausdruck bringen. 145 Offneyer unterstreicht mit diesen Bildern gleichsam die Vorwürfe, die er gegenüber den Adressaten seiner Schmähschrift erhebt, nämlich verbrecherische Korruption und Missachtung ihrer Amtspflichten, und erklärt sie auch auf dieser Ebene zu Verbrechern, zu Sündern, die für ihre Taten zu büßen haben. Auch stellte die Verbindung zu den Instrumenten des Scharfrichters sicher einen zusätzlichen symbolischen Angriff auf die Ehre der Betroffenen dar. 146 Abb. 5: Vom Gerichtsschreiber angefertigte Skizzen der Abbildungen im Pasquillus: Galgen mit Leiter und Strick, aufgerichtetes Rad, mutmaßlich verfälschtes Siegel der Stadt Zwickau. 147 222 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 148 HStC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *14 v . 149 Vergleiche auch die Abbildung von Raben an den Hinrichtungsinstrumenten Galgen und Rad im Katalog der Schandbilder bei: L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004); sowie die Darstellungen in den Gerichtsakten bei: S C H W E R H O F F , Straf-Akte(n) (2006). 150 Art. „Rabendieb“, in: DWB. 151 Vgl. Art. „kratzen“, in: DWB. 152 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-9-12. 153 Art. „Kratzhart“, in: DWB. Die dritte Zeichnung befindet sich am Ende der Schmähschrift. Im Original fand sich an dieser Stelle auf einem angeklebten Schmierzettel das Zwickauer Wappen, wobei die drei Schwäne nicht weiß, sondern schwarz dargestellt waren. Das Bild imitierte das echte Wappen und verlieh dem am Rathaus angebrachten Pasquill den Anschein eines offiziellen, obrigkeitlichen Erlasses. Damit verhöhnte es auf satirische Art bereits den Stadtrat, der das echte Siegel führte, und schlug in eine ähnliche Kerbe wie mit den Darstellungen von Rad und Galgen, ebenfalls Instrumente der Herrschaft, die hier gegen den Magistrat gerichtet wurden. Eventuell handelte es sich bei den abgebildeten Vögeln auch nicht um schwarze Schwäne, sondern um Raben, wie es in den Inquisitionsar‐ tikeln des Zwickauer Rats heißt. 148 Raben finden sich auf vielen Scheltbriefen der Zeit, aber auch in anderen Darstellungen von Hinrichtungsstätten, etwa in reichsstädtischen Gerichtsakten, 149 und transportierten eine vielfältige Sym‐ bolik, wurden die Tiere doch als sogenannte ‚Galgenvögel‘ mit dem Richtplatz ebenso wie mit dem Dieb (‚Rabendieb‘ 150 ) in Verbindung gebracht. Allerdings ist es gut möglich, dass es sich bei der Deutung des Zwickauer Rats, Offneyer habe das Siegel entsprechend verfälscht, eher um eine Unterstellung handelte, die seinen bösartigen Charakter sowie den seiner Taten unterstreichen sollte. 8.3.2 Schmähung von Einzelpersonen Ratsherr Michael Kratzbeer Der erste Angriff gilt - wie die meisten folgenden - dem Ratsmitglied Michael Kratzbeer, dessen Namen zu Kratzebart verballhornt wird. Offneyer behauptet, dass Kratzbeer diesen Namen aufgrund seiner Untaten führen würde (‚kratzen‘ ist hier also im Sinne von ‚ärgern‘ zu verstehen) 151 und wirft ihm Betrug vor: Mit lauteren und unlauteren Mitteln (per fas et nefas) bereichere er sich an ehrlichen Menschen, im Ergebnis ‚platze‘ er fast vor Reichtum. 152 Auf den unmoralischen Umgang mit Geld zielt zusätzlich der genannte Spitzname, der an den Begriff ‚Kratzhart‘ für einen Geizhals oder Wucherer erinnert. 153 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 223 154 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-13-18, 26-28. 155 Eventuell handelt es sich außerdem um einen Bezug auf ein bestehendes innerstäd‐ tisches Konfliktthema; so war das Braurecht und im Speziellen die Malzerzeugung zumindest am Beginn des Jahrhunderts ein Zankapfel zwischen Rat und Bürgerschaft, s. K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-33-40. 156 Der Ehebruch von wohlhabenderen Männern mit Mägden ihres Hausstands war (schon aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses) nichts ungewöhnliches, ebenso wenig, dass im Fall einer Schwangerschaft eine ‚Regelung‘ gefunden wurde, s. R U B L A C K , Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten (1998), S.-307f. 157 Pasquillus (Anh. 2.4), Z. 46-66. Darüber hinaus prangert der Pasquillus den mutmaßlichen Ehebruch Kratz‐ beers mit einer Bürgersfrau und schließlich auch mit seiner eigenen Magd an: dann er eins ehrlichen mannes weib gar offt und viel den pfeffer reibtt er hat sie aus dermassen lieb drumb er sie in seiner mutter melzhaus furhett […] vorn ihre beschlieff er seine magdt schickt sie dernach in die Kratzbers bis er sie bracht wieder zu ehren 154 Mit dem Melzhaus seiner Mutter ist eine dem Publikum bekannte Lokalität angesprochen, die den Vorwurf konkretisiert und ihn in der Lebenswelt der Rezipierenden verortet. 155 Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Bezug auf bestehende Gerüchte, der allerdings nicht nachgewiesen werden kann. Auch der Ehebruch mit der Magd verweist offensichtlich auf ein tatsächliches Ereignis in der Vergangenheit: Anscheinend wurde die schwangere Magd für einige Zeit aus der Stadt hinaus und zu Verwandten geschickt, wo sie ihr Kind bekommen konnte, um anschließend wieder nach Zwickau und in den Dienst Kratzbeers zurückzukehren. 156 Die zwei folgenden Strophen thematisieren einen Konflikt, den Kratzbeer in der Vergangenheit mit Bauern und einigen Adligen ausgetragen hatte. Der Dialog zwischen Kratzbeer und einem sein Geld einfordernden Bauern ist zumal aufgrund der stetig wechselnden Sprecher nur schwer verständlich, scheint aber von der Bestechlichkeit des Ratsherrn zu handeln. Anstatt auf die Forderungen des Bauern einzugehen, genießt Kratzbeer in dieser Episode die Rehkeule eines adligen Junkers. Seine Bestechlichkeit wird angedeutet, wenn er freimütig angibt, die Angelegenheit zu vergessen, bekäme er neben der Rehkeule noch einen Hasen geschenkt. 157 Das Pasquill legt zudem nahe, dass Kratzbeer aufgrund derartiger Konflikte um Geld und Betrugsvorwürfe schon einmal die Stadt hatte 224 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 158 Ebd., Z.-38-40. 159 Vgl. K U H N , Urban Laughter (2007), S.-83. 160 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-77-80. 161 „ihn soll die Valtens vönne rühren“, ebd., Z. 159. Mit ‚Valentins Wonne‘ ist die Epilepsie gemeint, die früher als „Fallsucht“ bezeichnet und mit dem heiligen Valentin verbunden wurde. Vgl. Art. „Valentin“, in: DWB. 162 „und sein Catilina auch bekombt“, ebd., Z.-165. verlassen müssen. 158 Man kann davon ausgehen, dass die Geschichte erst vor dem Hintergrund realer Ereignisse vollständig zu verstehen ist und mit ihr konkrete Vorwürfe transportiert werden, die über das Anprangern allgemeiner Charaktereigenschaften hinausgehen. Auch wenn aus heutiger Sicht eine Rekon‐ struktion dieser Bezugspunkte der Schmähschrift nicht mehr möglich ist, ist davon auszugehen, dass die zeitgenössischen Rezipierenden über das notwendige Hintergrundwissen verfügten, um die realweltlichen Bezüge und Anspielungen als solche zu erkennen und den Text entsprechend zu interpretieren. 159 Kratzbeers Verbrechen sollten nach Offneyers Ansicht mit der Folter und dem Tod an Galgen oder Rad gesühnt werden: Gebt ich ein urtel fellen wolt das ihn der hencker krazen solt und ihn baar sprossen dehnen lenger dz man ihn müst an galgen hengen 160 In einer Gesellschaft, in der ‚Dieb‘ ein gravierendes Schimpfwort war und schon der Kontakt mit dem Scharfrichter eine Schande bedeuten konnte, stellten diese Verse einen schwerwiegenden Angriff auf Kratzbeers persönliche Ehre dar. Neben Folter und Hinrichtung wünscht der Autor Michael Kratzbeer die ‚Fallsucht‘ 161 und vergleicht ihn mit dem römischen Verschwörer Catilina. 162 Damit bewies Offneyer Kenntnisse antiker Literatur: Während der sogenannten ‚Catilinarischen Verschwörung‘ im Jahr 63 v. Chr. plante der römische Politiker Lucius Sergius Catilina durch einen Aufstand an die Macht zu gelangen, nachdem er auf dem üblichen Weg der Wahl gescheitert war. Kein geringerer als Marcus Tullius Cicero vereitelte diesen Plan, indem er die Verschwörung aufdeckte, den Staatsnotstand ausrief und Catilina zum Staatsfeind erklärte. In der Folge wurde Catilina aus der Stadt vertrieben, die von ihm aufgebotenen Truppen wurden militärisch besiegt, wobei er selbst auf dem Schlachtfeld sein Leben ließ, und seine Anhänger schließ‐ lich ohne regulären Prozess hingerichtet. Durch die Analogie wurde Kratzbeer somit der Verschwörung im Zwickauer Stadtrat und der Amtsanmaßung bezich‐ tigt und ihm zugleich das entsprechende Ende des Catilina gewünscht. Einem gelehrten Publikum war die Catilinarische Verschwörung durchaus bekannt, da 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 225 163 M A E S , Catilina (2013). 164 M Ü L L E R , Cicero (2013). 165 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-88-93. 166 Vgl. die Erwähnung in einer Predigt Martin Luthers von 1530: WA 30, 2, 576. 167 S C H U L Z E , Vom Gemeinnutz zum Eigennutz, S.-600. sie in Ciceros ‚Reden gegen Catilina‘ sowie Sallusts ‚de coniuratione catilinae‘ Eingang in den Kanon breit rezipierter antiker Literatur gefunden hatte und im Rahmen von Auseinandersetzungen um politische Parteiungen des Öfteren herangezogen wurde. 163 Innerhalb dieser Antikenreferenz nimmt Offneyer als Autor des Pasquillus die Rolle des Cicero ein, der als Gegner des Catilina dessen Machenschaften offengelegt und letztlich vereitelt hatte. In dieses Referenzsystem passt sich auch die Epilepsieverwünschung ein; sie stellt eine Analogie zwischen Michael Kratzbeer und Gaius Julius Caesar her, der in der Überlieferung des Plutarch (Caes. 17,2) an dieser Krankheit litt. Auch hier stellt sich Offneyer in die Rolle Ciceros, der Caesar, welcher sich als Diktator auf Lebenszeit über das System der Republik gestellt und dessen Ende eingeleitet hatte, als Tyrann bezeichnet und dessen Ermordung an den Iden des März begrüßt hatte. Abgerundet wird die Analogie schließlich durch die Ansage, dass der Autor die nova bona im Kampf gegen das korrupte Stadtregiment einen werde - der wohl berühmteste homo novus, worauf nova bona offensichtlich anspielt, war wiederum Cicero, der nach dem Tod Caesars die führende Rolle im Staat übernahm. 164 Bürgermeister Christoph Faber An der Seite Kratzbeers steht Bürgermeister Christoph Faber, der als schwach, heuchlerisch und pflichtvergessen gegenüber den Armen charakterisiert wird: wie michs bedruckt es ist nicht lang des panem propter deum sang itzund der armen ger vergist derweil er burgermeister ist und nuhr sein eige nutz bedencken den mantel noch dem winde hengten 165 Das panem propter deum (Brot für Gott)-Singen war eine im 16. Jahrhundert unter jungen Schülern verbreitete Art an den Türen der Bürger: innen Brot oder andere Almosen zu erbetteln. 166 Der Autor scheint damit auf eine einfache Her‐ kunft Fabers abzuzielen, die nicht verifiziert werden kann, allerdings in erster Linie der zusätzlichen Verächtlichmachung seines vorgeblich eigennützigen Verhaltens dient, das entsprechend des zeitgenössischen Gemeinnutzdiskurses als schädlich deklariert wird. 167 226 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 168 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-94-99. 169 Art. „Seichen“, in: DWB. 170 E C K A R T , Art. „Humorallehre“ (2019). 171 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *116 r . 172 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-108. 173 Identifizierung durch den Rat ausweislich der Inquisitionsartikel in der Pasquillsache: StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *14 v . Faber erscheint somit weniger böse und durchtrieben als Kratzbeer und eher als Opportunist und unfähige Witzfigur: Er het ein klein stoltz weibelein die secht ihm all nacht an ein bein das bringt ihm viel der feigtikeit daher bekombt er grosse klug heit, er hat sie gelt halben erfrütt es hat ihn nur einmal gemüt 168 Geht man davon aus, dass secht hier im Sinne von ‚Seichen‘ 169 als derbe Formulierung für Urinieren zu verstehen ist, handelt es sich eventuell um die Anprangerung devianter Sexualpraktiken. Darüber hinaus bezieht sich die ‚Feuchtigkeit‘ an dieser Stelle auf das aus der Antike überkommene Konzept der Humorallehre, das die vier Körpersäfte und ihr Verhältnis als Grundlage der Charaktereigenschaften und der Gesundheit des Menschen betrachtet und das nicht nur Bestandteil akademischer Diskurse, sondern auch der alltäglichen Medizin war. 170 Laut dem Autor des Pasquillus verdankte Faber also seine Klugheit und seinen Wohlstand lediglich dem Beischlaf mit seiner Ehefrau. Auch hierin versteckt sich ein Bezug auf ein reales Ereignis, nämlich den bereits beschriebenen Streit zwischen Faber, seiner Frau Magdalena und Wolf Zorn um Magdalenas Patrimonium: Offenbar war Christoph Faber erst über seine Heirat zu Wohlstand gekommen und hatte in diese auch vorrangig zu diesem Zweck eingewilligt. Dass diese Referenz zeitgenössisch als solche verstanden wurde, belegen die Beweisartikel des Zwickauer Rats im Pasquillprozess: Sie verweisen darauf, dass in Spalte vier der Schmähschrift Magdalenas Patrimonium gedacht werde und verwenden dies als Beweis für die Autorenschaft Offneyers. Auf‐ grund seiner Rolle in diesem Rechtsstreit habe ihm Faber im Vertrauen von selbigem berichtet. 171 Stadtschreiber David Müller Als dritte Person greift das Pasquill D. Narr Müller 172 an, bei dem es sich um den Stadtschreiber David Müller handelte. 173 D. Narr kann durch den Bezug auf 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 227 174 S C H M I D T , Chronica Cygnea (1656), S.-468, 475. 175 B R Ä U E R , Zwickau (2017), S.-92. 176 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-108-111. 177 K E L L E R M A N N , Abschied vom „historischen Volkslied“ (2000), S.-334. ‚Narr‘, aber auch ‚Denarius‘ als doppelte Verballhornung verstanden werden, die ähnlich wie Kratzbart auch auf den Geiz des Bezeichneten verweist. Unter Berücksichtigung der dem Pasquill vorangegangenen Konflikte würde man an dieser Stelle zunächst Daniel Schettler erwarten, der das Amt des Oberstadt‐ schreibers bekleidete. Müller war als Stadtschreiber am Konflikt zwischen Schettler und Schultess zwar am Rande beteiligt, fiel aber ansonsten nicht durch Streitigkeiten mit Offneyer auf. Die beiden Schreiber unterschieden sich jedoch in einer Sache: Schettler blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1605 Oberstadtscheiber, wohingegen Müller im Jahr 1604, also etwa fünf Jahre nach dem Auftauchen des Pasquills, in den Stadtrat kooptiert wurde. 174 Es handelte sich dabei um einen nahezu üblichen Karriereweg: Stadtschreiber ragten unter den Bediensteten heraus, da sie Einfluss nehmen konnten, Beziehungen pflegten und über Herrschaftswissen verfügten; zumeist wurden sie in der zweiten Lebenshälfte in den Rat berufen. 175 Damit hatte Müller etwas mit Christoph Faber und Michael Kratzbeer gemeinsam: Er war auf dem Weg zu einer anerkannten Position in der Stadtgemeinde, und das nach Meinung des Pasquillanten zu Unrecht, der ihn entsprechend als Emporkömmling hinstellte. Alle drei Männer bildeten laut Offneyer außerdem eine verschworene Gemeinschaft: Einer wird D. Narr Müller genand dem Kratzbart ist es wol bekandt der zeit bürgermeister will er sein tritt mit seim grossen beltzs herein 176 Müller hatte sich demnach also schon 1599 als ‚Möchtegernbürgermeister‘ aufgespielt und entsprechende Kleidung getragen. Dieses Streben nach einer hohen sozialen Position in Verbindung mit einer Art Vetternwirtschaft ist es, was den drei Männern neben den individuellen Verfehlungen im Pasquillus vorgeworfen wird. 8.3.3 Adressatenkreise und intendierte Öffentlichkeit Im Text des Pasquillus finden sich, wie K E L L E R MAN N es für die politische Ereig‐ nisdichtung des Mittelalters vielfach zeigen konnte, „signifikante Belege für die präsumtiven Adressaten und somit die intendierte Öffentlichkeit“. 177 Sehet ihr 228 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 178 Pasquillus (Anh. 2.4), Z. 3. 179 Fiktive Leserschaft meint hier im literaturwissenschaftlichen Sinne diejenige Gestalt, an die sich die Erzählinstanz wendet, vgl. L I N K , Rezeptionsforschung (1976), S.-16-38. 180 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-10, 13. 181 Ebd., Z.-117, 133. 182 Vgl. Kap. 6.2. 183 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-152-154. 184 Siehe ausführlicher Kap. 9.2.2. bürger allgemein, was das für neue zeitung sein 178 - mit diesen Worten wendet sich Offneyer direkt zu Beginn an eine fiktive Leserschaft. 179 Mit Bürgerschaft und Rat spricht er zwei realweltliche Personengruppen an. Als Geschädigte werden die guten Bürger: innen dargestellt (der ehrlich[e] man und des ehrlichen mannes weib), die unter dem Treiben Michael Kratzbeers und großer Teile des Rates zu leiden hätten. 180 Gegen Ende des Gedichts ordnet sich der Autor in diesen Adressatenkreis ein und die angesprochene Bürgerschaft wird zu einem Wir-Kollektiv: wir arme bürger. 181 Offneyer stilisierte sich im Pasquillus ebenso wie in den realweltlichen Auseinandersetzungen also als ein Fürsprecher der Bürger: innen aus ihren eigenen Reihen. Der zweite Adressatenkreis wird aus dem Wir-Kollektiv der Bürger: innen ausgeschlossen und somit zur Fremd-Gruppe. Zunächst sind hiervon Kratzbeer, Faber und Müller als Individuen betroffen. Analog zu den Leipziger Pasquillen des Heinrich Gratz inszenierte sich der Pasquillus des Johann Offneyer hier als eine Art schriftliche Rüge: Er offenbarte Normverletzungen der drei Männer auf besonders beschämende Art und Weise, rief zugleich das Publikum auf, sanktionierend einzugreifen und stellte dabei selbst schon eine Sanktion dar. 182 In einer Steigerungs- und Generalisierungslogik, die stark derjenigen Offneyers in dessen Auseinandersetzungen mit Einzelpersonen und dem Rat ähnelt, wird im Verlauf des Gedichts diese Gruppe auf den gesamten Rat ausgeweitet. Am Beginn von Strophe fünf werden die Ratsherren konkret beschrieben und in der Folge auch angesprochen. Der explizit formulierte Antagonismus ‚wir gegen sie‘, also Bürgerschaft gegen Rat, wird schließlich um eine konfessionelle Dimension erweitert: Schafft ab calvine und juristen und sazt dagegen fromme christen an ihr stadt ins regiment 183 Die calvinistischen Unruhen am Beginn der 1590er waren noch nicht lange vorüber und den Menschen entsprechend präsent. 184 Der Vorwurf des Calvi‐ nismus‘ grenzte den Rat nicht nur gegenüber der Gruppe frommer Bürger: innen, sondern gegenüber der Gemeinschaft guter Christ: innen insgesamt ab. Gleiches 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 229 185 S T O L L E I S , Juristenbeschimpfung (1996). 186 Es versteht sich gleichsam von selbst, dass diese Homogenität nicht der Realität entsprochen haben dürfte, vgl. K E L L E R M A N N , Abschied vom „historischen Volkslied“ (2000), S.-339. 187 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-170, 179-181. 188 L I N K , Rezeptionsforschung (1976), S. 27. B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlich‐ keit (2011), S. 17, 373 unterscheidet ebenfalls zwischen „dispersem“ Publikum und konkretem Adressatenkreis. 189 L I N K , Rezeptionsforschung (1976), S.-23. 190 Vgl. B E L L I N G R A D T , Flugpublizistik und Öffentlichkeit (2011), S. 88; K U H N , Urban Laughter (2007), S.-77. galt für den Bezug auf das weit verbreitete Sprichwort „Juristen, böse Christen“, das die landläufige Kritik an den Juristen bündelte, die durch ihre Nähe zur Macht und als Handlanger der höheren Schichten in Verruf geraten waren. 185 Offneyer konstruiert somit im Modus der Ausgrenzung zwei homogene Grup‐ penidentitäten. 186 Wenn der Autor beispielsweise dazu aufruft, die Verse im Vorübergehen sorgfältig zu lesen und das Pasquill nicht herunterzureißen, 187 spricht er neben den genannten Adressatenkreisen auch ein Publikum an, und zwar als „offene Menge all derer, denen das publizierte Werk im materiellen Sinn zugänglich ist […] ohne dass damit schon entschieden wäre, dass sie auch diejenigen sind, an die der Autor sich mit seiner Botschaft wendet.“ 188 Außerdem kann man aus literaturwissenschaftlicher Sicht noch eine weitere im Text enthaltene ideale (also der Wunschvorstellung des Autors entsprechende) oder implizite (im Sinne der „im Text enthaltene[n] Norm für den adäquaten Lesevorgang“ 189 ) Leserschaft identifizieren, die alle Wortspiele und Witze lustig findet, alle Anspielungen versteht, die Normen und Werte, die der Autor vermitteln will, teilt und dessen Appell aufnimmt. Dies verdeutlicht die Fiktion einer städtischen Öffentlichkeit durch den Autor, die mehrere Funktionen erfüllt: 190 Erstens ist sie Urteilsinstanz und zur Bewertung der angeprangerten Missstände, möglichst im Sinne des Autors, fähig. Zweitens ist sie Legitimationsinstanz, die mit ihrem Urteil über die Vergangenheit und die gegenwärtige Situation den Protest gegen die Obrigkeit legitimiert und, etwas überspitzt formuliert, den Rat damit zugleich delegitimiert. Drittens stellt sie eine Appellinstanz dar, die der Autor mit dem Ziel anruft, wirksam in die vorliegende Situation einzugreifen und die benannten Missstände zu beseitigen. Unabhängig davon, ob das Publikum dieser Rolle in der Realwelt gerecht wurde oder werden konnte, bildete diese Form städtischer Öffentlichkeit eine existente zeitgenössische Vorstellung - und zwar als eine Einheit der Bürgerschaft, die in anderen Fällen ausgeweitet 230 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 191 Vgl. Kap. 7.3.1. Auch Andreas Würgler konstatiert für Schmäh- und Streitschriften in politischen Konflikten, dass sich die vorgebrachte Kritik nie nur an die Obrigkeit gewandt habe, sondern immer auch an das Publikum, dass die Regierenden unter Druck setzen sollte. Der Appell ging dabei oft an die „gantze Ehrbare Welt“, W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S.-149. 192 Vgl. K U H N , Urban Laughter (2007), S.-77. 193 Korruption liegt nach Niels Grüne vor, wenn „ein ‚öffentlicher‘ Amtsträger unter Verletzung seiner Dienstpflichten einer Person Vergünstigungen gewährt und von ihr dafür - zumeist materielle - Vorteile annimmt.“, G R Ü N E , Korruptionsdebatten (2010), S.-412. 194 P O H L I G , Marlboroughs Geheimnis (2016), S. 358. Hier ebenfalls das Zitat aus P L U M P E , Korruption (2009), S.-30. werden konnte: in demjenigen des Andreas Langener etwa zur Gesamtheit der christlichen Gemeinschaft. 191 8.3.4 Gegen den Rat - die Schmähschrift als Angriff und Legitimation Der im Text der Schmähschrift konstruierte Antagonismus zwischen Bürger‐ schaft und Rat macht deutlich, dass der Pasquillus die persönliche Schmähung von Kratzbeer, Faber und Müller mit einer politischen Obrigkeitskritik verbindet beziehungsweise sie zu einer solchen ausweitet. Er kann somit als populäres Protestmedium gelten. 192 Über die Kritik an den beiden Ratsmitgliedern und dem Stadtschreiber werden zugleich Verfehlungen des gesamten Rats angeprangert, die mit dem Schlagwort ‚Korruption‘ umrissen werden können, das Bestechlich‐ keit, persönliche Bereicherung auf Kosten der Bürger: innen sowie Vetternwirt‐ schaft umfasste. 193 Als Mittel der Obrigkeitskritik wurde der Korruptionsdiskurs bereits in der Frühen Neuzeit häufig aufgerufen, besonders dann, wenn, wie in Zwickau, bürgerliche Partizipationsrechte durch eine Oligarchisierung des Magistrats eingeschränkt zu werden drohten. Der Korruptionsvorwurf erfüllte als Skandalon hinsichtlich städtischer Öffentlichkeiten eine mobilisierende und verschmelzende Funktion; als „kommunikatives Selbsterregungsschema“ war er politisierbar und im Sinne der Anklagenden somit nützlich. 194 Dem Rat insgesamt wird im Pasquillus nicht nur angelastet, derart beschol‐ tene Männer in seinen Reihen zu dulden und gar in höchste Ämter zu heben, sondern er wird auch als pflichtvergessen und teuer, seine Mitglieder als faul und vergnügungs- oder trunksüchtig bezeichnet. Insgesamt, heißt es, schenke der Magistrat den berechtigten Anliegen seiner Bürger: innen kein Gehör: Wen gleich und gleich sich gern geseltt und machens nur wies ihn gefeltt 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 231 195 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-113-122. 196 Ebd., Z. 127-132. Zu Nicolaus Wunderlich s. S C H M I D T , Chronica Cygnea, 458. 197 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-146. 198 Ebd., Z.-134. 199 S I M O N , Gute Policey (2004), S.-130-132. 200 B L I C K L E , Der Gemeine Nutzen (2001), S. 96; I S E L I , Gute Policey (2009), S. 130; S I M O N , Gute Policey (2004), S.-44. 201 Zitiert nach S C H U L Z E , Vom Gemeinnutz zum Eigennutz, S.-599. iewan sie dan kommen zusamen so rethen sie in der bierkannen komen wir bürger auf das hauß lauffen ein zehn Jahr ein und aus noch find man keine hülff der sachen als schon nur 18 d thut machen sie rethen offt ein ganzes jahr nichts rethen können und das ist wahr 195 Daneben sei, so der Pasquillus weiter, der Rat nicht in der Lage, hader und zank zu stillen - also den städtischen Frieden zu garantieren -, was aus dem Bezug auf den 1590 verstorbenen Bürgermeister Nicolaus Wunderlich deutlich wird, den Offneyer als positives Gegenbeispiel benennt. 196 Damit stellt er außerdem erneut einen realweltlichen Bezug her: Wunderlich war dem Publikum sicher noch ein Begriff, hatte er sein Amt doch ganze zwölf Jahre ausgeübt. Auch das Sühnen von Unrecht gehört zu denjenigen Pflichten, deren Missachtung dem Rat vorgeworfen wird. 197 Wie schon in Bezug auf Christoph Faber wirft Offneyer an dieser Stelle dem Rat insgesamt vor, mehr im Sinne des Eigennutzes denn des Gemeinnutzes zu handeln, 198 da es zur Förderung des letzteren eben auch der Er‐ haltung des städtischen Friedens und des Abschaltens von Ordnungsstörungen bedürfe. 199 Dabei verband der Gemeinnutz individuelles und politisches Handeln und konnte gegen den Einzelnen ebenso in Stellung gebracht werden wie gegen den Magistrat. Nicht nur wurden Obrigkeiten am Gemeinen Nutzen gemessen, die Orientierung am Gemeinen Nutzen schied gar die gute Obrigkeit von der tyrannischen. 200 Folgerichtig avancierte der Gemeine Nutzen seit Beginn des 16. Jahrhunderts zur grundlegenden Begründungsfigur für Beschwerden und entwickelte als „oppositionelle Leitvorstellung“ (E B E R HA R D ) großes herrschafts‐ kritisches Potential. 201 Aus diesen Vorwürfen wird im Pasquillus ein Recht zum Widerstand abge‐ leitet. Zunächst aber beschwört der Autor göttlichen Zorn herauf: Hagel und Feuer sollten ins Rathaus einschlagen; anschließend müsse man als ehrlicher 232 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 202 Pasquillus (Anh. 2.4), Z. 135-140. Derartige Strafgerichte, etwa in Form von Blitzein‐ schlägen und den daraus resultierenden Stadtbränden, waren eine übliche Vorstellung der Zeit, s. Z W I E R L E I N , Der gezähmte Prometheus (2011), S.-120-135. 203 Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-148-155. 204 Ebd., Z.-156-165. 205 Vgl. dazu die drei Funktionen der politischen Ereignisdichtungen nach Kerth: öffent‐ liche Anklage, Rechtfertigung und Einflussnahme auf die eigene und die gegnerische Partei, s. K E R T H , Politische Ereignisdichtungen (1997), S.-292-308. Bürger dem Herrn für ein solches Strafgericht danken. 202 Hierauf folgt der ganz konkrete Aufruf zur Revolte und zur gewaltsamen Neubesetzung von großen Teilen des bestehenden Rats: Man müsse, um den schlimmen Umständen abzuhelfen, calvine und juristen abschaffen den Rat mit frischem, anstendige[n] bürgerblut besetzen, was sich offenbar gegen alteingesessene Patrizierfamilien richtet. 203 Als wichtigstes Ziel wird die Verbannung Michael Kratzbeers ange‐ mahnt: werdt ihr Kratzbart nicht aus dem rath verstossen undt thun aus der stadt ein bessers ihm will componiren ihn soll die Valtens vönne rühren hierinns auch nicht allgemeindt die fromen excludiret sein die nova bona will ich einden ein freundt wol sie des andern seindt, damit es Bartt Kratz wol vornimmbt und sein Catilina auch bekombt 204 Damit setzt sich Offneyer als Autor des Pasquills an die Spitze einer Bewegung von ‚neuen guten‘ Bürger: innen (nova bona), welche die gewaltsame Vertrei‐ bung Kratzbeers und die Neugestaltung des Rates selbst in die Hand nehmen müsse - ein offener Aufruf zum Aufruhr im Gewand der Gegenwehr gegen den eigentlichen Umsturzversuch durch einzelne Ratsmitglieder. Die Schmähschrift vereinte in Bezug auf den Protest mehrere Funktionen: Erstens stellte sie selbst einen invektiven Angriff auf die Ehre einzelner Per‐ sonen und den Rat als städtische Institution dar. Zweitens rief sie die städtische Öffentlichkeit zum (gewaltsamen) Widerstand auf. Drittens stellte die Schmäh‐ schrift in ihrem Selbstverständnis eine Legitimation dieses Widerstands dar, was als inhaltliches Angebot durch das Publikum aufgenommen werden konnte. 205 Zu diesem Zweck zielte das Pasquill auf diejenigen Elemente ab, die im Sinne akzeptanzorientierter Herrschaft von der Obrigkeit kommunikativ vermittelt werden mussten: Schutz und Förderung des rechten Glaubens, Wahrung des 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 233 206 B R A K E N S I E K , Akzeptanzorientierte Herrschaft (2009), S.-400. 207 S C H O R N - S C H Ü T T E , Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht (2004). 208 W Ü R G L E R ; N U B O L A , Einführung (2005), S.-14. 209 Vgl. Kap. 6.1. 210 S C H I N D L E R , Widerspenstige Leute (1992), S.-85f., Hervorhebungen JS. Friedens, Handhabung des Rechts, Förderung des Gemeinen Besten. 206 Aus dem Vorwurf gegenüber den Obrigkeiten, diesen Agenden nicht genüge zu tun und unchristlich und tyrannisch zu herrschen, konnte zumindest in der Theorie ein Widerstandsrecht abgeleitet werden. 207 Eine dementsprechende legitimatorische Funktion im Zusammenhang mit Protest und physischem Widerstand wurde auch für die Eingabe und Veröffentlichung von Gravamina festgehalten und kann als zusätzlicher Baustein in der Drohkulisse gelten, die Offneyer mit seinem Pasquill aufzubauen gedachte. 208 8.3.5 Komik und Obrigkeitskritik Die Verweise auf das Gelächter Offneyers und seiner Freunde belegen, dass dem Pasquillus ein komisches Potential zugesprochen wurde. Dieses ergibt sich aus einigen der schon im Fall Gratz genannten Eigenschaften: 209 Traditionelle Formschemata, eine satirische Schreibweise mit vielfältigen Anspielungen, Wortspielen, Entrüstungsmomenten und Übertreibungen sowie unzählige Ob‐ szönitäten und Ausfälligkeiten. Schon die Spottnamen Kratzebart und D. Narr Müller dürften eine nicht geringe komische und damit subversive Kraft entfaltet haben. Die Macht der Spitznamen, die in der Gesellschaft und der spezifischen Öffentlichkeit des 16. Jahrhundert einen regelrechten Trend darstellten, wird von Norbert S C HIN D L E R auf den Punkt gebracht: Der Spitzname ist das Resultat der hohen Kunst, das Charakteristische einer Person sozusagen mit einem Pinselstrich zu zeichnen. Er drückt Nähe und Distanz, Zuneigung und Missfallen aus, er spricht bewundernde Anerkennung aus, aber er verhängt auch Sanktionen. Er bringt auf den Begriff, was die Leute von jemandem halten, und wird so zum Signal, das Weichen stellt im gesellschaftlichen Verkehr und die alltäglichen Umgangsformen prägt. Der Spitzname gehörte einer Öffentlichkeit an, in der man noch viel übereinander wusste, die noch kaum private Tabus kannte und sich nicht scheute, Wesensmerkmale einer Person durch Mundpropaganda publik zu machen. 210 Auch wenn das Publikum nur wenig vom Pasquillus zu lesen bekam: Der Spitzname Michael Kratzbeers wurde bereits im vierten Vers präsentiert und eignete sich durch seine Kürze und Prägnanz hervorragend dazu, im Gedächtnis 234 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 211 K A P I T Z A , Komik, Gesellschaft und Politik (2017), S.-142. 212 ’ T H A R T , Humour and Social Protest (2007), S.-8f., 18. 213 Ebd., S. 8: „Criticism expressed in a joking manner is more difficult to refute by ‘rational’ arguments. Authority and power can melt, as the invitation to laugh with one another appeals to all-human feelings and breaks down ‘official’ barriers. As such, humour certainly constitutes one of the ‘weapons of the weak’ (Scott).“ haften zu bleiben und im Gerede Verbreitung zu finden. Dabei erzielte er, wie die Angriffe auf die Ratsmitglieder insgesamt, eine mutmaßlich noch gesteigerte Wirkung, insofern bei Personen von hohem Rang die „Fallhöhe zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit“ wächst. 211 Auch die nahezu karikatureske Dar‐ stellung Kratzbeers und Fabers sowie die Charakterisierung der Ratsmitglieder als faule, trinksüchtige und geldgierige Gestalten stellen satirische Elemente des Texts dar, der die Darstellung von Missständen mit dem Appell verbindet, sie zu beheben. Dabei arbeitet der Text mit klaren Kategorien von Gut und Böse und berührt gesellschaftliche Tabus, was als typisch für Witze und Spottgedichte gelten kann. Das Lachen über schädliche Leute unterstützt auch im Pasquillus die, hier sogar explizit gemachte, Bildung einer Wir-Gruppe und einer Fremd- Gruppe sowie zugleich die Aufwertung des Sprechers selbst. Gerade im Falle einer offenbar hochgradig zur Empörung neigenden Person wie Johann Offneyer liegt es nahe, der komischen Schmähschrift eine Ventil‐ funktion zuzusprechen. Da es sich um eine Form der Obrigkeitskritik handelte, kommt jedoch ein weiterer, für die Funktion des Pasquillus essenzieller Aspekt hinzu, nämlich der spezifische Nutzen der Komik für die Lancierung von Protest. Hinsichtlich der Belange Offneyers ist zu betonen, dass Komik als kommunika‐ tive Strategie nicht nur für Aufmerksamkeit und Verbreitung sorgt, also einen Multiplikatoreffekt erzielt, sondern auch in der Lage ist, das Publikum dazu zu verführen, den gewünschten eigenen Standpunkt einzunehmen. Darüber hinaus kann Komik dem framing dienen, die Positionen der Betroffenen festschreiben und vergangene Ereignisse sowie Erfahrungen mit Bedeutung aufladen und miteinander verbinden. 212 Die beißende Komik des Spotts, den Offneyer über die Gruppe um Kratzbeer ausschüttete, unterstützte somit die Verortung derselben in der verachtenswerten Fremd-Gruppe und stellte über das Verweben der unterschiedlichen Bezüge den umfassenderen Wahrnehmungszusammenhang eines seit langem korrupten Stadtregiments her. Marjolein ’ T -H A R T , die sich als eine von wenigen Historiker: innen mit dem Zusammenhang von Humor und Protest auseinandersetzt, misst der Komik insgesamt eine große Wirkung im Bereich der Obrigkeitskritik bei und ordnet sie aufgrund dessen den weapons of the weak zu. 213 8.3 Der Charakter des Pasquillus als Schmähschrift und Aufruf zur Revolte 235 214 Vgl. Kap. 5. 215 B L I C K L E , Unruhen in der ständischen Gesellschaft (2012), S.-45. 216 Vgl. S A B E A N , Das zweischneidige Schwert (1990), S.-203-229. 217 Zusammenfassend: M A G E R , politische Ordnung (2004). Zur Oligarchisierung vgl. auch R O S S E A U X , Städte in der Frühen Neuzeit (2006), S.-62f. 8.4 Gründe für die Wirkung des Pasquillus Wie in der Darstellung der Konfliktverläufe gezeigt, stellte der Pasquillus ein Kippmoment dar: Der Rat wurde auf das Erscheinen der Schrift hin schnell und mittelfristig auch konsequent aktiv, was auf ein vergleichsweise großes Drohpotential schließen lässt. Auch in diesem Fall zeigt sich die Sonderrolle der libelli famosi, wie sie schon in Bezug auf die Entwicklung der Gesetzgebung seit den 1530er Jahren herausgestellt wurde. 214 Als bedrohliche Eigenschaften der Schmähschriften wurden bislang vor allem ihre Symbolkraft und die schnelle wie umfassende Verbreitung der Anschlusskommunikation betont. Den in diesem Fall etwas spärlicheren Hinweisen nach zu urteilen, war auch der Zwickauer Pasquillus schnell Thema im städtischen Gerede und die Verbindung zu Johann Offneyer ein beständiges Gerücht. Aus einem Vergleich der Darstel‐ lungen der Schmähschrift mit der realweltlichen Situation in Zwickau um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert und aus den Klagen und Supplikationen des Stadtrats lässt sich mittelbar darauf schließen, welche Art von Bedrohung das Pasquill für den Rat darstellte. 8.4.1 Themen städtischer Unruhen in der Frühen Neuzeit Die auch im Pasquillus dargestellte Polarisierung von Rat und Bürgerschaft war seit dem ausgehenden Mittelalter ein grundlegendes Muster städtischer Auseinandersetzungen. 215 Rat und Bürgerschaft bildeten in der Frühen Neuzeit zwei getrennte Korporationen. Die Ratsmitglieder waren keine Repräsentanten der Gemeinde im modernen Verständnis, weshalb die Beziehung zwischen beiden Gruppen komplexer Natur war und sich entsprechend konfliktanfällig gestaltete. 216 Nach S C HIL LIN G führte eine zunehmende Oligarchisierung der patrizisch dominierten Stadträte zu einem gesteigerten Konfliktpotential, da der entstehende Obrigkeitsanspruch gegen das traditionelle, genossenschaft‐ lich-kommunale Ordnungsmodell verstieß. 217 Familienstolz der Patrizier, auto‐ ritäres Auftreten, Familien- oder Cliquenherrschaft, Korruptionsvorwürfe und 236 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 218 B L I C K L E , Unruhen in der ständischen Gesellschaft (2012), S. 41-43, 101, 123; vgl. M E Y N , Frankfurt (1980), S.-44. 219 B L I C K L E , Unruhen in der ständischen Gesellschaft (2012), S.-45. 220 F R I E D R I C H S , The Early Modern City 1450-1750 (1995), S.-305, 317. 221 Ebd., S.-305. Ungleichheit konnten bei der Begründung von Aufständen, deren Träger oft mittlere Bürgerschichten waren, eine prominente Rolle einnehmen. 218 Allerdings waren es zumeist konkrete Missstände, die am Anfang kollektiver Protestbewegungen und Unruhen standen: Wirtschaftliche Problemlagen und vor allem finanzpolitische Veränderungen - allen voran Steuererhebungen - bil‐ deten oft den Stein des Anstoßes. 219 Konfessionelle Gegensätze, etwa zwischen Calvinismus und orthodoxem Luthertum, dienten der Legitimation bürgerli‐ cher Opposition, die oft auf eine Fraktionsbildung innerhalb der Oberschicht zurückzuführen war, oder zumindest von einer solchen begleitet wurde. 220 Christopher F R I E D R I C H betont die Furcht frühneuzeitlicher Obrigkeiten vor Unruhen und Situationen, in denen ein Kontrollverlust zu befürchten stand. Entsprechend sensibel reagierten die Magistrate auf jegliche Manifestierung von Unzufriedenheit. Eine wichtige Rolle in der Kommunikation zwischen Bürgerschaft und Magistrat spielten daher Petitionen, die den Bürger: innen eine Möglichkeit boten, sich Gehör zu verschaffen, sowie Gerichtsprozesse, die einen kontrollierten und vor allem friedvollen Konfliktaustrag versprachen. 221 Die im Pasquillus angebrachte Kritik entspricht diesen typischen Vorwürfen im Zusammenhang mit städtischen Unruhen: Misswirtschaft des Rates, eine repressive, korrupte und als oligarchisch empfundene Amtsführung, überheb‐ liches Auftreten, eine daraus resultierende finanzielle Not der Bürger: innen, Cliquenwirtschaft - zumindest der Gruppe um Michael Kratzbeer - konfes‐ sionelle Abweichung in Richtung Calvinismus und schließlich Missachtung bürgerlicher Beschwerden und Hilfsgesuche. Die Verbindung zu Unruhe und gewalttätigen Revolten wurde als logische Konsequenz im Text mitgeliefert. Der Autor sprach also mit seiner Schrift scheinbar gezielt das Wissen der Obrigkeit um diese Mechanismen städtischer Unruhen an. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, inwiefern die angeprangerten Missstände der realweltlichen Situation entsprachen. Bei bestehenden Hinweisen auf Unzufriedenheit in der Bevölkerung musste der Pasquillus umso bedrohlicher wirken, konnte er doch Ausdruck einer wütenden Gruppe in der Bürgerschaft sein und zu Unruhe anstacheln. Weiterhin ist zu fragen, ob Johann Offneyer als Autor des Pasquillus tatsächlich als Repräsentant einer solchen Gruppe oder doch als Einzeltäter agierte. 8.4 Gründe für die Wirkung des Pasquillus 237 222 R O S S E A U X , Städte in der Frühen Neuzeit (2006), S. 65-67; B L I C K L E , European Crisis (1985). Zur Krise des 17. Jahrhunderts in globalgeschichtlicher Perspektive s. P A R K E R , Global Crisis (2013). 223 L Ö F F L E R ; P E S C H K E , Chronik (1993), S. 49; H E R Z O G , Chronik (1845), S. 358. B R Ä U E R , Zwickau (2017), S.-93 geht von etwas über 7.500 Einwohner: innen im Jahr 1530 aus. 224 B R Ä U E R , Zwickau (2017), S.-106. 225 Ebd., S. 95; zur Zwickauer Stadtwirtschaft insgesamt: K A R A N T -N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-56-91, zur Aussage bezüglich der Wollweberei s. hier S.-91. 226 Karant-Nunn, Zwickau in Transition (1987), S. 87. Entsprechende Entwicklungen sieht Karant-Nunn schon um das Jahr 1547. 227 H E R Z O G , Chronik (1845), S. 367. Hierbei ging es konkret um den freien Getreidekauf durch Schneeberger Bürger. 8.4.2 Die ‚Krise‘ um 1600 und die Situation in Zwickau Unabhängig von Diskussionen um die Angemessenheit des Krisenbegriffs für Zustandsbeschreibungen der Frühen Neuzeit kann der Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert in Städten des Heiligen Römischen Reichs als Zeit größerer demographischer, ökonomischer, politischer, konfessioneller und konstitutio‐ neller Problemlagen und daraus resultierender Konflikte gelten. 222 Zwar liegt für diesen Zeitraum keine umfassende stadthistorische Arbeit für Zwickau vor, doch scheinen einige Hinweise die Existenz einer krisenhaften Situation in der Stadt nahezulegen. Zwickau wurde im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts Opfer mehrerer Seuchenzüge. Am schlimmsten wütete die Pest, die auch ein Thema der be‐ schriebenen Streitfälle bildet, im Jahr 1598: Die über 500 Toten dieses Jahres entsprachen vermutlich über fünf Prozent der Bevölkerung. 223 Hinzu kamen mehrere Dürreperioden, die zu Nahrungsmittelknappheit und in den Jahren 1590/ 91 und 1597/ 98 zu Hungersnöten und starken Preisanstiegen führten. 224 Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich Zwickau in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in wirtschaftlichem Abstieg befand, der am Ende der ersten Jahrhunderthälfte begonnen hatte und zum einen durch das Abklingen des ‚Silberbooms‘ in Schneeberg, zum anderen durch die krisenanfällige städtische Wirtschaft ausgelöst wurde, die stark von der Tuchweberei als einzigem Produk‐ tionszweig abhing. 225 Zugleich vergrößerte sich die Spaltung der Gesellschaft, soziale und wirtschaftliche Gegensätze verschärften sich. 226 Aus dieser Situation entstanden ganz konkrete Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft. Dass ersterer im Jahr 1603 eine neue Getreidemarktord‐ nung erließ, lässt auf vorangegangene Streitigkeiten über die Getreidepolitik schließen. 227 Zudem kam es mehrfach zu Auseinandersetzungen mit den Zünften, die 1600 und 1601 zur Verhängung der Turmhaft über elf Meister der 238 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 228 Ebd., S.-361-363. 229 „Wahr […], daß inquisit durch diese bose beschuldiung, des bierzehendenns unndt annders halbenn, gar leichtlich rebellion unndt ungehorsam bey der burgerschafft, wider einen rhat, so hernacher nicht bald zu stillen, erregen hette mögen“, StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 901, fol. 54 r . Die Tranksteuer war schon am Beginn des Jahrhunderts ein zentraler Streitgegenstand zwischen Rat und Bürgerschaft, s. K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-27. 230 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-53 v . 231 I S E N M A N N , Die deutsche Stadt im Mittelalter (2014), S.-525. 232 Vgl. oben Kap. 8.2.1. 233 B R Ä U E R , Zwickau (2017), S.-110f. 234 K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-31-48. Brauer- und Fleischerzunft führte. 228 Aus den Prozessakten in der Pasquillsache geht außerdem hervor, dass der Rat in den Jahren vor 1599 die Tranksteuer verändert, mutmaßlich also stark erhöht hatte, was offenbar nicht allein Off‐ neyers Unmut erregte, schließlich verlieh der Rat seiner Befürchtung Ausdruck, dass gerade diese Beschwerde zu einer Rebellion führen könnte. 229 Er sah sich außerdem genötigt, die Erhebung der Steuer als notwendig zu rechtfer‐ tigen. 230 Das Schicksal städtischer Finanznot und teils hoher Verschuldung teilte Zwickau mit vielen Städten der Zeit. Eine solche Verbrauchssteuer führte allerdings besonders dann, wenn sie auf Grundnahrungsmittel wie Bier oder Wein erhoben wurde, zur Verschärfung sozialer Ungleichheit, indem sie die ärmere Bevölkerungsschicht finanziell stärker belastete. 231 Ein Beispiel für orga‐ nisierten Protest der Zwickauer Bürgerschaft gegen die Politik des Rates bilden die bereits beschriebenen Auseinandersetzungen zwischen Offneyer, seinem Freund Schultess und dem Oberstadtschreiber Schettler, in deren Verlauf sogar ein Bürgerausschuss gebildet und eine kurfürstliche Kommission hinzugezogen wurde. 232 Die Entzweiung von Rat und Bürgerschaft wies in Zwickau starke Traditionslinien auf: Nachdem sich schon im Mittelalter eine Oppositionsbe‐ reitschaft der Bürgerschaft gezeigt hatte, wehrten sich die Bürger: innen 1509 gegen einen Bürgermeister, dem man u. a. Misswirtschaft, Eidbruch, Diebstahl, Beleidigung und Verleumdung vorwarf. In diesem Fall, wie auch in einem wei‐ teren aus dem Jahr 1534, musste der Landesherr schiedsrichterlich eingreifen. In beiden Konflikten wurden schließlich ein oder mehrere Bürgermeister und Ratsmitglieder aus dem Regiment entfernt. 233 Zur Zeit der frühen Reformation war die Politik des Rates insgesamt von einer ausgeprägten Angst vor Rebellion geprägt. 234 Wie sehr der Stadtrat auch knappe 70 Jahre später um Widerstand und Protest aus den Reihen der Bürgerschaft besorgt war, verdeutlicht nicht zuletzt der 1593 neuaufgesetzte Bürgereid, aus dem hervorging, dass man 8.4 Gründe für die Wirkung des Pasquillus 239 235 Ebd., S.-90. 236 Ebd., S.-101f. 237 B R Ä U E R , Zwickau (2017), S.-89. 238 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-108 v . 239 Schließlich wisse ein jeder, so Offneyer selbst, „was vonn solchen greulichen famos unnd schmeheschriefften, auch pasquillen, do sonderlich solch greulich henker wergk mit leitern, galgen, radt, raben, und andern angemahlt und beschrieben zu befinden, zuhaltten und was dieselben vor grosse schwere leibes strafen im rechten mitt sich bringen.“, StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-904, fol. *20 v f. entschieden gegen diejenigen vorgehen wollte, die sich dem Rat zu widersetzen wagten. 235 Neun Jahre vor Erscheinen des Pasquills war Zwickau zudem Schauplatz innerstädtischer konfessioneller Auseinandersetzungen geworden. Rat und Gemeinde entzweiten sich 1590/ 91 im Streit um reformierten Glauben und orthodoxes Luthertum. Dabei unterstützte der Rat den städtischen Superinten‐ denten, der dem Calvinismus zuneigte. 236 Es ist davon auszugehen, dass sich in Zwickau wie in vielen sächsischen Städten bei der folgenden Lagerbildung die Mehrheit der Bürger: innen der lutherischen Seite zuordnete. Schon die Gleichsetzung von Calvinisten und bösen Christen im Pasquillus zeigt, dass auch zehn Jahre nach den calvinistischen Wirren noch schmähendes und be‐ drohliches Potential im Calvinismusvorwurf steckte. Außerdem lässt sich auch für Zwickau ein oligarchisch besetzter, patrizischer Stadtrat feststellen, dessen Mitglieder aus wenigen Familien kooptiert, also durch Selbstergänzung ins Amt berufen wurden. 237 Der Anspruch, als Obrigkeit über den ‚Gemeinen Mann‘ zu herrschen, Bürger: innen somit zu Untertan: innen zu machen, geht schon aus den Gehorsamsforderungen des Rates in den Pasquillprozessen hervor, der seine burgere inn gehorsam, unndt bey billicher rechtmessiger weisung behalten wollte. 238 Unterschiedliche Äußerungen des Rates im Rahmen der beiden Prozesse gegen Offneyer - zum einen wegen verschiedener Injurien und Ungehorsam, zum anderen wegen Anfertigung der Schmähschrift - lassen Rückschlüsse zu auf die Befürchtungen des Rates bezüglich des Pasquillus und seine Einschät‐ zung der von der Schrift ausgehenden Gefahr. Die Klageschriften des Rats im Schmähschriftenverfahren sind diesbezüglich leider wenig aufschlussreich, da das Verbrechen als ein derart schwerwiegendes in den Reichs- und kursächsi‐ schen Gesetzen verankert war, dass es neben der Überführung des Täters keiner weiteren Begründung für die Verwerflichkeit der Tat bedurfte. 239 Allerdings sah der Rat den Prozess wegen Injurien und Ungehorsam aufs Engste mit der Schmähschrift und dem diesbezüglichen Verfahren verbunden, sodass sich Äußerungen in diesem Zusammenhang durchaus übertragen lassen. 240 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 240 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, 108 v -109 r . 241 „Wahr […], daß inquisit durch diese bose beschuldiung, des bierzehendenns unndt annders halbenn, gar leichtlich rebellion unndt ungehorsam bey der burgerschafft, wider einen rhat, so hernacher nicht bald zu stillen, erregen hette mögen“, ebd., fol. 54 r . 242 Ebd., fol.-106. Die Probleme, die der Rat mit Johann Offneyer hatte, fasste er in einem den Klageartikeln beigefügten Bericht an den Kurfürsten vom 5. März 1600 folgendermaßen zusammenfassen: […] weil die burger unnss so widerwertigk, unndt nicht mehr den geringsten respect auff den magistratum halten, allenthalben das ansehen, daß wo ferne diesem gesellen [Offneyer], welcher biß anhero res mali exempli gewesen, unndt autoritati nostrae reipublicae viel entzogen, nicht bey zeiten einhalt gethan wirdt, daß erweltes unser regiment ad irrecuperabilem iacturam (: willen wegen solcher gesellen conventicula unndt meuterey geschweigen : ) gebracht werden möchte […]. Damit wir nun unnser officium, tanquam bonam dei ordinatonem, desto ruhiger furen, die burgere inn gehorsam, unndt bey billicher rechtmessiger weisung behalten, des gemeinen guts, unndt unnser allerseits auffnehmen befördern, e. f. g. auch inn künnfftigk des vielfeltigen clagens unndt anlauffens geubriget werden möchte. Alß ist umb der lieben justitien willen, ann e. f. g. unnser unnterthenigstes unndt hochvleissiges bitten, dieselbe wollen diesen viel gemelten Offneien tanquam perriciosa nostra civitatis & reipublicae beluae, umb unnsers regiments und der ganntzen gemeinen stadt nutzes undt wolfart willen, wegen angezogener ausgefürten viel feltigen verbrechungen, damit wir mit ruhe unndt friede regieren, unndt den gehorsam bey der burgerschafft erhalten möchten, andern zum abscheulichen exempel, ernstlich steuren [und uns] inn gnedigisten schutz nehmen, unndt mit einer gnedigsten resolution versehen. 240 In dieser Darstellung war Offneyer nicht als einzelner Querulant oder Injurant problematisch, sondern in seiner Wirkung auf die Bürgerschaft. Als Aufrührer und schlechtes Beispiel (res mali exempli) halte er die Bürger: innen zu Respekt‐ losigkeit und Ungehorsam gegen den Rat an, dem er durch die Missachtung seiner Weisungen die Autorität entziehe. Der Magistrat fürchtete entstehende Unruhen in der Bürgerschaft und sprach gar von rebellion, wobei er sich auf die üblichen Themen städtischer Proteste, vorrangig auf die Steuererhebung, bezog. 241 Als ein angeborner feinndt aller guten policey unndt ordnung und damit Störer des städtischen Friedens sei Offneyer dem Gemeinen Nutzen abträglich. 242 An anderer Stelle wird die Angst des Magistrats vor Nachahmern deutlich: In einer Supplikation an den Kurfürsten vom Juli 1602 bat man darum, das bereits ergangene Urteil gegen Offneyer auf Widerruf und Landesverweis nicht zugunsten einer Geldzahlung abzumildern, da an ihm ein Exempel statuiert 8.4 Gründe für die Wirkung des Pasquillus 241 243 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-1270, fol. *15 r -18 v . 244 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *179 r . 245 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-386. 246 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 1177, fol. *55 v f. Bezeichnenderweise drohte Offneyer jedem Zeugen, der diese Sicht teilte, mit einer Verleumdungsklage. 247 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-34 v f. werden müsse. 243 Es liegt nahe, dass der Rat dieselben Befürchtungen vor Nach‐ ahmung, Ungehorsam, Meuterei und letztlich Unruhe auch in Bezug auf das Pasquill hegte. Einen Hinweis darauf liefert auch seine hartnäckige Weigerung, Offneyer aus Angst vor weiterer Verbreitung (divulgando vel spargendo) mehr als nur Auszüge des Pasquills zuzusenden. 244 Der Rat reagierte, indem er die Motive Offneyers herabwürdigte - eine übliche Vorgehensweise der Obrigkeiten im Umgang mit unliebsamen Schmäh‐ schriften. 245 Offneyer wurde als Aufwiegler dargestellt, der jedoch nicht als Sprachrohr einer größeren Gruppe von Bürger: innen agiere, sondern allein aus egoistischen Motiven, vor allem Geldgier, die aus seiner finanziellen Notlage resultierten. Erneut wurden also Gemeinnutz und Eigennutz zu wichtigen Argumentationsfiguren. Offneyer selbst formulierte die Einschätzung seiner Person durch den Rat wie folgt: [Er sei] ein gotts eydt undt pflicht vorgessener man, ein vorleumbder ein verrether ein auffruhrer ein auffwigler, ein gesetz zureisser, ein ehrenschender ein zancksuchtiger unruhiger unvortreglicher procurator der ein teufflisch gifftig gemuett habe, der eine unerhortte unmenschliche unndt teufflische bossheit an sich habe der zur meuterei geneigt, der nichts konne dann nur jederman schenden unndt schmehenn, dem der böse feindt viel böses eingebe unndt zu vielem bösenn treibe, der ein angeborener feindt aller guten policei unndt ordnung sey einn lugner unndt truger ein canis curiarum unndt deverator civium ein rathaus hundt unndt verschlinger der bürger ein schedlich thier der stadt unndt des regiments zu Zwickau. 246 Der Rat warf Offneyer vor, Zwietracht zwischen den Parteien zu säen, um sich so selbst Arbeit als Anwalt und rechtlicher Vormund zu verschaffen. Am Wohl seiner Klient: innen sei ihm bislang nicht gelegen gewesen, vielmehr wären diese am Bettelstab gelandet, wäre es nach Offneyers Plänen gelaufen. 247 Hintergrund dieser Vorwürfe war seine bereits erwähnte finanzielle Not. Und tatsächlich fällt hinsichtlich der Beziehungen zwischen Offneyer und seinen Klient: innen ein Muster auf: Offneyer regte zunächst das Aufnehmen neuer Prozesse an und zerstritt sich in deren Verlauf schließlich mit der eigenen Partei über unzureichende Bezahlung. Als beispielhaft kann der Fall der Maria Faustin gelten: Ihr versprach Offneyer 200 Gulden, die in einem Prozess gegen den Rat 242 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 248 Ebd., fol.-62 v f. 249 Ebd., fol.-339 r -340 r , Zitat 339 r . 250 Bspw. StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-902, fol. *87. 251 Vgl. Kap. 6. 252 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-904, fol. *250 v -*251 v . 253 Vgl. Kap. 9.6. zu erstreiten seien, sodass sie zunächst einen Kompromiss und die vom Rat in Aussicht gestellte Zahlung von 30 Gulden ablehnte. Erst als Offneyer im Jahr 1601 in Haft genommen wurde und folglich keinen Einfluss mehr auf Maria Faustin nehmen konnte, akzeptierte sie die angebotene Summe. Als Offneyer schließlich frei kam, verlangte er ein Drittel des Geldes und ließ seine ehemalige Klientin kurzerhand inhaftieren, damit diese seiner Forderung nachkam. 248 Der Brief, in dem Offneyer den Schultheiß Wolf Zorn noch aus der Haft heraus um die Gefangennahme der Frau bat, ist überliefert. Aus ihm geht die kaum gezügelte Wut Offneyers hervor, der von der Faustin als einer von allen menschen verlassenen hur[e] 249 sprach und damit genau auf jene Schmähungen zurückgriff, deren Verwendung gegenüber seinen Klient: innen durch den Rat er ansonsten stets anprangerte. 250 Gegenüber diesen Vorwürfen verteidigte sich Offneyer auf zweierlei Weisen, wobei erneut zwischen den Anschuldigen wegen Injurierens einerseits und wegen der Verfertigung des Pasquillus andererseits unterschieden werden muss. Offneyer bestritt ganz grundsätzlich, wie es auch Heinrich Gratz im Leipziger Fall tat, 251 Autor der Schmähschrift zu sein. Anders als Andreas Langener, der durch die Beschaffenheit seines nicht anonymen Scheltbriefes einigen juristischen Spielraum nutzen konnte, hätte Offneyer seinen Pasquillus keinesfalls rechtfertigen können und ein Geständnis hätte für ihn schlimme Folgen gezeitigt. Zu seiner Verteidigung gab Offneyer vor, Opfer einer Intrige zu sein, bei den rechten autores handele es sich nämlich um seine Feinde Faber und Kratzbeer und deren Anhang. Diese hätten, da sie mit ihren vorherigen Klagen gegen ihn nicht erfolgreich gewesen seien, mit der Schmähschrift einen rechtlichen Vorwand geschaffen, ihn ernsthaft zu belangen. Als Konsequenz forderte er, sie nach Talionsrecht an Leib und Leben zu Strafen, zumindest aber, sie zum Widerruf zu verpflichten, des Landes zu verweisen und seinen guten Ruf zu restituieren. 252 Dieses Verschwörungsnarrativ findet sich in meh‐ reren Schmähschriftenprozessen, weshalb es auch hinsichtlich quellenkritischer Überlegungen noch einmal gesondert aufgegriffen werden soll. 253 Gegen die übrigen Vorwürfe, deren Grundlage Offneyer nicht abstreiten konnte, wehrte er sich, indem er die von ihm vorgebrachten Kritik am Rat als berechtigt darstellte. Auf die große Schnittmenge zwischen dieser Kritik 8.4 Gründe für die Wirkung des Pasquillus 243 254 So fasste der Rat Offneyers Kritik gegenüber der Landesregierung zusammen: StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, fol.-59 v . 255 Ebd., Nr.-901, fol.-173 v f. 256 „So haben Faber undt Kratzbeer, als die vornembsten im rathe, die andern hern, als gemeine leien, so nicht studiert, dahin uberredt und bedrautt, das sie inn des ganzen Raths nahmen, alle auch ungegrundte und unbilliche klagen und berichte, uber den unschuldigen beclagten haben abgehen lassen.“, StC, 30023 Amt Zwickau, Nr. 1177, fol. *36 v . und den im Pasquillus vorgebrachten Anschuldigungen wurde bereits hinge‐ wiesen. Es spricht demnach einiges dafür, dass Offneyers Motive für die Anfertigung der Schmähschrift jenen glichen, die seinen übrigen Äußerungen gegenüber dem Rat zugrunde lagen. Zwei Themenkomplexe, die aus seinen eingangs beschrieben Konflikten mit Kratzbeer, Faber und dem Rat resultierten, waren ihm ein besonderer Dorn im Auge. Erstens beklagte er sich über die vorgebliche Parteilichkeit des Rates, die zu schlechter Rechtsprechung und letztlich ungerechten Urteilen führte. 254 Zweitens warf Offneyer dem Rat vor, die Bürgerschaft zu unterdrücken und insbesondere berechtige Kritik nicht nur nicht anzuhören, sondern gar als Meuterei zu kriminalisieren. So wüssten zwar viele Bürger: innen und sogar Mitglieder des Rates - Offneyer bezog sich hier primär auf den Stadtschreiber Schettler - von der Misswirtschaft des Magistrats, trauten sich jedoch nicht, dies offen kundzutun, da die Ratsmitglieder sich nicht einig seien und die Bürger: innen fürchteten, als auffrihrer unndt meut‐ macher gescholten zu werden. 255 Das hier artikulierte Gefühl, mit berechtigten Anliegen bei den Obrigkeiten kein Gehör zu finden, kann als Hauptmotivation vieler Verfasser: innen von Schmähschriften gelten, die dann die entsprechende Meinung oder Beschwerde umso lauter verkündeten. Mit der Uneinigkeit der Ratsherren bezog sich Offneyer auf die Gruppe um Kratzbeer und Faber, der er eine autoritäre, auf überlegener Bildung und mangelnden Skrupeln beruhende Führung des restlichen Rates vorwarf. 256 8.4.3 Der Pasquillus als individuelles Protestmedium oder Ausdruck kollektiven Unbehagens? Hatte der Rat nun mit seiner Einschätzung recht? War Johann Offneyer ein individuell agierender Querulant, der sich nicht für die Belange der Allgemein‐ heit einsetzte, sondern aus selbstbezogenen Motiven die Bürgerschaft dazu anstiftete, sich wie er selbst gegen den Rat zu stellen? Oder war Offneyers Schmähschrift Ausdruck des Protests einer größeren Gruppe Unzufriedener, die eine Umbesetzung des Rats forderten oder zumindest befürworteten? 244 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 257 Vgl. Kap. 6.2. Einiges spricht dafür, dass die Sorgen des Rates in Bezug auf Ungehorsam und mangelnden Respekt in der Bürgerschaft nicht unbegründet waren: Die Konflikte mit den Zünften, der Ausschuss gegen Stadtschreiber Schettler und nicht zuletzt die Aussagen des Rates selbst scheinen Zeugnis von einem unruhigen Stadtklima abzulegen. Dieses Klima steigerte naturgemäß das Drohpotential der Schmähschrift, indem es zum einen die Bürgerschaft empfänglicher machte für Kritik am und Spott gegen den Rat. Zum anderen führte es dazu, dass die im Pasquill angedrohten Maßnahmen, d. h. der Ausbruch offener Unruhe und Revolte, nicht ohne weiteres als leere Drohungen angesehen werden konnten. Inwiefern Offneyer tatsächlich Unterstützung oder Zuspruch aus der Bürgerschaft zuteilwurde, bleibt aber fraglich. Abgesehen von seinen Kompagnons Heinrich Reibolt und Abraham Schultess sowie seiner Frau, die qua sozialer Rolle für seine Belange eintreten musste, sind keine Fürsprecher: innen überliefert. Die von Offneyer thematisierte Fraktionsbildung innerhalb des Rates ist zwar schwerlich als freie Erfindung abzutun, da seine Behauptungen unter Bezug auf Einzelpersonen zu konkret erscheinen, sie war jedoch in keinem Moment so stark, dass auch nur ein Ratsherr bereit gewesen wäre, sich positiv oder zumindest milde gegenüber Offneyer zu äußern oder sich gegen Faber und Kratzbeer zu positionieren. Dass man die Frage danach, ob es sich um ein Medium individuellen oder kollektiven Protests handelte, nicht ohne weiteres beantworten konnte (und aus heutiger Sicht kann), muss als Wesensmerkmal politischer Schmähschriften angesehen werden, die einen hochgradig öffentlichen und zugleich anonymen Protest ermöglichten. Schon für die Leipziger Pasquille des Heinrich Gratz konnte gezeigt werden, dass Anonymität nicht nur Schutz bot, sondern zudem die Inszenierung der Schriften als Stimme eines Kollektivs, gar als vox populi ermöglichte. 257 Diesen Umstand nutzten die Pasquillant: innen als Teil einer aktiven Kommunikationsstrategie, die unter anderem Humor und die Auswahl von Verbreitungsorten und -zeiten beinhaltete. Die Ambiguität des Mediums Schmähschrift und die dadurch entstehende Unsicherheit bei den Betroffenen - besonders in konflikthaften Zeiten und bezüglich sorgenbehafteter Themen - machte die Schmähschriften zu wirkmächtigen Instrumenten des Protests auch eines Einzelnen gegen die Obrigkeit. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings wichtig zu betonen, dass wirk‐ mächtig nicht zugleich zielführend bedeutet. Für Johann Offneyer führte das Erscheinen des Pasquillus zu einem schwerwiegenden Einschnitt in sein privates und berufliches Leben. Auf der anderen Seite sind kaum Auswirkungen auf den Rat und die einzelnen Geschmähten zu konstatieren: David Müller wurde drei 8.4 Gründe für die Wirkung des Pasquillus 245 Jahre nach dem Vorfall in den Rat aufgenommen, Michael Kratzbeer 1609 sogar zum Bürgermeister ernannt. Die Schmähschrift und Offneyers Protest blieben somit Episode. 8.5 Die Haltung der Landesherrschaft Im Fall des Johann Offneyer wurde die Landesregierung von beiden Parteien zur Regelung des Konflikts in ihrem Sinne hinzugezogen, dieser somit externalisiert. Vor allem Offneyer hatte bereits vor Erscheinen des Pasquillus immer wieder nach Dresden suppliziert und an territoriale Gerichtsinstanzen appelliert. Das Einbeziehen der landesherrlichen Ebene erscheint im Konfliktaustrag somit als eine Handlungsoption unter mehreren, die von den Akteur: innen sehr bewusst und zu ihrem Vorteil eingesetzt wurde. Der Rat wandte sich, so legt es die Chronologie der Ereignisse nahe, im Jahr 1599 erstmalig an die Landesregierung, weil mit dem Pasquill in diesem Moment ein Tatbestand im Raum stand, der von der imperialen wie territorialen Gesetzgebung gleich mehrfach unter schwere Strafe gestellt worden war. Der im 16. Jahrhundert immer weiter ausgebaute Handlungsspielraum der Obrigkeiten bei der Verfolgung unliebsamer Schriften und ein steigendes Problembewusst‐ sein hinsichtlich öffentlicher Meinungsäußerungen lässt eigentlich eine strenge Reaktion aus Dresden erwarten. Daher waren die Ratsherren sich, das zeigt auch ihr voreiliges Ersuchen um Foltererlaubnis, einer landesherrlichen Antwort in ihrem Sinne äußerst sicher - zumal das Thema Aufruhr zu dieser Zeit auch auf territorialer Ebene virulente Sorgen ansprach. Im Fall des Pasquillus des Johann Offneyer reagierte die Landesregierung jedoch äußerst differenziert. Zwar be‐ fahl man im September 1599 zunächst die Aberkennung seiner Prokuratur, seine Inhaftierung und die Einleitung eines Inquisitionsprozesses, hob diesen Befehl jedoch in Teilen schon wenige Wochen später und auf Offneyers Einwände hin wieder auf. Im Anschluss reagierte die Landesregierung durchaus zustimmend auf seine Supplikationen zur Umbesetzung der Kommission und seine Klagen gegen den Rat, indem sie zumindest eine ausführliche Stellungnahme zu den Vorwürfen anordnete. Nachdem Offneyer im Lauf des Verfahrens verhaftet worden war, befahl sie seine Freilassung und reagierte damit erneut auf eine Supplikation. 1602 erfolgte dann das erste Urteil des Leipziger Oberhofgerichts auf Widerruf und dreijährige Landesverweisung, dem sich Offneyer durch Flucht entzog. In der Folge beharrte die Landesregierung trotz aller Einwände Offneyers auf diesem Urteil und lehnte eine Aussetzung für die Dauer des zweiten, auf das Pasquill bezogenen Verfahrens ab. Immerhin sicherte der 246 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 258 L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-97. 259 Ebd., S.-11. 260 W I N T E R , Schloss Osterstein (2008), S.-16-28. 261 B R Ä U E R , Zwickau (2017), S.-88. 262 H O L E N S T E I N , Empowering Interactions (2009). Kurfürst dem Flüchtigen aber Geleit zu, gab mehreren prozessrechtlichen Einwänden bezüglich der Eignung von Zeugen und der Beschleunigung des Verfahrens statt und forderte zudem den Rat mehrfach auf, Offneyers Bitte um Zusendung des Pasquills zu erfüllen. Offneyers mutmaßlicher Plan, die Landesregierung zur Disziplinierung des Rates zu nutzen, ging also zumindest in Teilen auf. Das Verhalten der Landesregierung folgt aber letztlich vor allem dem politischen Grundsatz, dass der Landesherr seine Rolle als Schieds‐ richter wahrzunehmen hatte, was Ulrike L U DWI G S Einschätzung entspricht, dass „Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Verfahrens und damit auch einer ‚gerechten Justiz‘ […] zentrales Anliegen landesherrlichen Eingreifens in die Verfahren vor Ort“ war. 258 Diese Rolle diente nicht zuletzt der Legitimation von Herrschaft, die sich eben über ein geregeltes, nachvollziehbares Justizregiment definierte, und nicht über willkürliche Entscheidungen des Kurfürsten. 259 Zwickau befand sich im 16. Jahrhundert und vereinzelt schon im 15. Jahrhundert wiederholt in Konflikten mit der landesherrlichen Administration über verschie‐ dene Rechte, Privilegien und damit über Machtansprüche. 260 Besonders unter August, Christian-I. und Christian II. (1591-1611) verminderte sich in Sachsen der städtische Einfluss zugunsten des landesherrlichen. 261 Die Einbeziehung landesherr‐ licher Institutionen in innerstädtische Konflikte zwischen Rat und Bürgerschaft stärkte dabei die Integrierung der Städte in die Mechanismen und rechtlichen Struk‐ turen des werdenden Staates. Die Eingaben der Untertan: innen stellten aus dieser Perspektive empowering interactions dar, die sowohl die Position der Untertan: innen als auch die Legitimität und Autorität der staatlichen Institutionen stärkten. 262 Dieser Aspekt erklärt zusätzlich ein geringes Interesse der Landesregierung an einer potentiellen informellen und prozessrechtlich möglicherweise fragwürdigen Abstrafung des Johann Offneyer. Man kann mit Blick auf den Zwickauer Fall also nicht von einem generellen, bedingungslosen Vorgehen gegen Pasquillant: innen durch die landesherrliche Obrigkeit sprechen. Dass man zu einem rigorosen, von institutionalisierten, geregelten Abläufen abweichenden und kompromisslosen Vorgehen gegen Schmähschriftenverfasser: innen und -verbreiter: innen allerdings durchaus be‐ reit und fähig war, wenn die politische Situation es erforderlich machte und vor allem kurfürstliche Herrschaftsinteressen direkt berührt wurden, zeigt die folgende, letzte Fallstudie dieser Arbeit. 8.5 Die Haltung der Landesherrschaft 247 Abb.-6: Epitaph des Michael Krazbeer im Dom St. Marien in Zwickau. 248 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 263 Zur Gestaltung des Epitaphs s. K I R S T E N ; B E Y E R , St. Marien zu Zwickau (1998), S.-43. 264 K A R A N T - N U N N , Zwickau in Transition (1987), S.-45. 265 StC, 30023 Amt Zwickau, Nr.-901, 109r. 266 S C H L Ö G L , Anwesende und Abwesende (2014), S.-230. 8.6 Fazit In der Kirche St. Marien in Zwickau befindet sich noch heute das Epitaph Michael Kratzbeers (Abb.-6). Es zeigt den Kampf der Engel gegen den siebenköpfigen Dra‐ chen der Johannesoffenbarung über dem Abbild der Familie Kratzbeer, bestehend aus Michael, seiner Frau und der einzigen Tochter. 263 Die lateinische Inschrift stellt eine Verbindung zwischen dem Verstorbenen und dem Erzengel Michael her (cui dederat Michael nomen et omen): Wie der Engel habe auch Kratzbeer gegen vielfältige Gefahren gekämpft, welche die Gemeinschaft bedrohten. Jenseits der offensichtlichen heilsgeschichtlichen Interpretation drängt sich eine Analogie zur sprichwörtlichen Hydra auf. In der Tat bezeichnete etwa zwei Generationen zuvor ein Zwickauer Stadtschreiber und späterer Ratsherr unter Bezug auf die Auseinandersetzungen zwischen Rat und Bürgerschaft letztere als vielköpfiges Monstrum. 264 Ähnlich musste Kratzbeer und den übrigen Rats‐ mitgliedern der Kampf mit Offneyer erschienen sein, so zahlreich, vielfältig und ausdauernd waren dessen Angriffe. Nicht umsonst nannte der Rat seinen wohl widerspenstigsten Bürger ein schedlich thier der stadt, eine reipublicae belva. 265 Dabei ist der Einschätzung Rudolf S C HLÖG L S zunächst zuzustimmen: Mit offenen oder verdeckten Angriffen auf die Ehre, mit Polemik, die eine Entgegnung notwendig machte, ließ sich deswegen etwas ausrichten in der Stadt. Tabubrüche, die Personen oder Einrichtungen ins Lächerliche zogen, konnten Institutionen ins Wanken bringen. 266 Zwar gibt es keine Hinweise darauf, dass der Zwickauer Rat tatsächlich ins Wanken geriet, sein energisches Vorgehen gegen Offneyer seit 1599 und die Hilfegesuche an die Landesregierung lassen jedoch zumindest auf ernsthafte Sorgen schließen. S C HLÖG L S Aussage muss aber nuanciert werden: Anonyme Schmähschriften wie der Pasquillus waren offenbar deutlich eher in der Lage etwas auszurichten als öffentlich ausgesprochene Schmähungen und symboli‐ sche Gesten - zumindest in einer Konfliktkonstellation wie der vorliegenden, in der es sich der überlegene Part lange Zeit leisten konnte, sein Gegenüber zu ignorieren. Die dynamisierende Funktion der Schmähschriften in persönlichen Auseinandersetzungen kann also auch in Streitigkeiten zwischen Untertan: in und Obrigkeit nachgewiesen werden. Hier bietet sich eine Beschreibung der 8.6 Fazit 249 267 Vgl. Kap. 7.1.2. 268 So schon: B E L L A N Y , Libels in Action (2001), S. 100. Für (gedruckte) anonyme Pamphlete zuletzt auch: L A P O R T A , Performative Polemic (2021). Mit ‚politischer Kultur‘ bezeichnet Volker Reinhard „regelmäßig zu beobachtendes politisches Verhalten […] politischsoziale Praxis von Königen wie von Bauern“ (S. 596), R E I N H A R D , Europäische politische Kultur (2001). 269 Zitiert nach R E I N H A R D , Europäische politische Kultur (2001), S.-595. 270 R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S. 397: „Deshalb gelang die Herausforderung oder Neutralisierung von Herrschaft am einfachsten, wenn man die Obrigkeit an den von ihr selbst postulierten Verhaltensmaximen maß.“ 271 Besonders stark macht diesen Punkt: E G A N , Libel in the Provinces (2022). Ein gutes Beispiel bietet der Augsburger Bürgermeister Jakob Herbrot (1493-1564), der wirt‐ schaftlich stark unter den auf ihn verfassten politischen Pasquillen zu leiden hatte, s. K U H N , Urban Laughter (2007). Schmähschriften als weapons of the weak aufgrund der vorliegenden Herr‐ schaftsbeziehung sogar noch stärker an. 267 Als Instrument der Obrigkeitskritik und des Protests im Alltag war der Pasquillus ein Kommunikationsmittel der politischen Kultur. 268 In diesem Sinn hilft der auch über die Schmähschrift ausgetragene Konflikt des Johann Off‐ neyer mit dem Zwickauer Stadtrat, ‚latente Regeln des täglichen politischen Lebens bloßzulegen‘ (B U R K E ). 269 Offneyer griff auf alle relevanten Themen frühneuzeitlicher städtischer Protestbewegungen zurück: Korruption und nach‐ lässige Amtsführung, ungerechte oder schädliche Steuererhebung sowie die daraus entstehende wirtschaftliche Not der Untertan: innen, Missachtung des Grundrechts auf Gehör-Finden und konfessionelle Verwerfungen. Durch diese Vorwürfe, die den Kern einer an Akzeptanz orientierten Herrschaft trafen, legitimierte sich die Schmähschrift zum einen implizit selbst, zum anderen legitimierte sie auch, gemessen am ‚Widerstandsrecht‘ der Zeit, gewaltsamen Protest, die gefürchtete Unruhe in der Bürgerschaft. 270 Dass die Schmähschrift entsprechende Sorgen beim Rat hervorrief, kann als empirische Unterstützung des Modells der akzeptanzorientierten Herrschaft interpretiert werden. Die Einordnung des Pasquillus in die Linien ihm vorangegangener Konflikte, die von einem fließenden Übergang von einzelnen (Rechts-)Streitigkeiten zum Angriff auf Ratsmitglieder und schließlich generalisierender Kritik am Magistrat geprägt waren, verweist auf die Problematik, hinsichtlich Schmähschriften zwischen persönlicher Schmähung und politischem Protest, mithin zwischen privatem und öffentlichem Konflikt zu unterscheiden. Dass sich die Schmä‐ hung einer Person im Amt auf ihre persönliche Situation, zum Beispiel ihr wirtschaftliches Auskommen auswirken konnte, muss kaum erwähnt werden. 271 Auch den deutlich persönlichen Schmähschriften wie denjenigen des Andreas Langener oder den Pasquillen im Gewand der Rüge des Heinrich Gratz wohnte, 250 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 272 Vgl. W Ü R G L E R , „Devianz“ in frühneuzeitlichen Konflikten (1999), S.-324f. 273 Ebd., S.-328. bedingt durch den impliziten oder expliziten Gemeinwohlbezug, eine politi‐ sche Dimension inne. Andersherum stellt sich hinsichtlich der Motivlage für den Fall Johann Offneyer das bereits genannte Problem, dass der Bezug auf den Gemeinen Nutzen individuelle Zwecke vordergründig verdecken konnte und sich private und genuin politische Konfliktlagen nicht sauber trennen lassen. Das Politische im Sinne eines Gemeinschaftsbezugs stellt sich für die Schmähschriften insgesamt nicht als trennendes, sondern eher als verbindendes Element dar. Bei der Schmähung von Rat und Einzelpersonen nutzte Offneyer ein Reper‐ toire, das vom Alltagsfluch bis zur Ciceroreferenz reichte. Mit der Herabsetzung ging der Appell an die Öffentlichkeit einher, im Sinne des Autors in die Zustände einzugreifen. Beide Funktionen wurden von einer dem Text inhärenten Komik unterstützt. Appell- und Legitimationspotential der Schrift wogen in der Dar‐ stellung des Rates weit schwerer als die Verletzung seiner Ehre, auch wenn beide Ebenen nur bedingt getrennt werden können, fallen sie doch in ihren Auswirkungen auf den Respekt der Bürgerschaft vor ihrer Obrigkeit zusammen. Die Bedrohlichkeit des Pasquillus, und dies kann als Wesenszug für anonyme politische Pasquille festgehalten werden, ergab sich auch aus der für die betrof‐ fenen Ratsherren wie für die heutigen Historiker: innen kaum falsifizierbaren Befürchtung, dass er die öffentliche Meinung, also die Haltung eines größeren Kollektivs der Bürgerschaft repräsentierte. Im Gegensatz zu anderen Formen des Protests, wie des öffentlichen Aufmarschs vor dem Rathaus oder der Eingabe offizieller Gravamina, bot eine Schmähschrift dem Einzelnen die Möglichkeit, ein Kollektiv zu inszenieren. Offneyer stellte für den Rat eine Art Rädelsführer dar, in dessen Person man der individuellen wie der kollektiven Devianz habhaft werden zu können glaubte. 272 Diese Behandlung als Rädelsführer mahnt aber zugleich zur Vorsicht bei der Quelleninterpretation hinsichtlich der Person Offneyer, verunglimpften Obrigkeiten solche Träger von Protesten doch oft als „widerspenstig, prozesssüchtig, zur Empörung geneigt“ und attestierten ihnen wirtschaftliches Versagen 273 - womit der Kern der aus dem Material zu gewinnenden Persönlichkeitsmerkmale Offneyers treffend beschrieben ist. Nicht zu übersehen ist jedenfalls eine offensichtliche Sorge des Rates um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Offneyer. Dieser wandte sich schon vor dem Einsatz des Pasquillus der städtischen Öffentlichkeit zu, beispiels‐ weise in den Episoden in der Kirche oder der Garküche. Mit der Schmähschrift überschritt er jedoch Grenzen. Offneyers Aktion erinnert, wenngleich er letzt‐ 8.6 Fazit 251 274 Vgl. B E L L I N G R A D T , Gülich Rebellion (2012). 275 Ebd., S.-567. 276 K U H N , Urban Laughter (2007), S. 84 bezeichnet diese Öffentlichkeitsvorstellung als „an independent third observer and judge of the past, present, and future“. 277 W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S.-133. lich keine auch nur im Ansatz vergleichbaren Effekte erzielte, an die Rebellion des Kölner Bürgers Nikolaus Gülich in den Jahren 1680-86. 274 In Köln fürchtete der Magistrat eine kleine Gruppe von Personen, die sich geschickt an die Öffentlichkeit wandte, damit eine große Menge handlungsbereiter Menschen mobilisieren konnte und somit zu einer realen Gefahr für den Magistrat wurde. Wie Offneyer warf auch Gülich dem Rat Korruption vor und verlangte die Wahl neuer Ratsherren. Durch ihre Befürchtungen definierten die Obrigkeiten in Köln wie in Zwickau die Öffentlichkeit der Stadt ex negativo als eine bedeutsame Arena politischer Handlungen. 275 Auch die Gegenseite, greifbar im Text des Pasquillus, hatte entsprechende Vorstellungen von einer aktiven Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit als handelnde Größe wurde als Appell- und Urteilsinstanz gedacht und angesprochen, weshalb sie sich durchaus als politische Öffentlich‐ keit bezeichnen lässt. 276 Stärker als die Beschreibung der allein textimmanenten Öffentlichkeit der politischen Ereignisdichtung unterstreicht die Untersuchung dieses zentral über eine Schmähschrift geführten Konflikts eines Bürgers mit der Obrigkeit noch einmal die Einschätzung Andreas Würglers von Unruhen als „Wurzel der politischen Öffentlichkeit“. 277 Die unterschiedlich ausgeprägten Reaktionen von Stadtrat und Landesre‐ gierung verweisen bereits darauf, dass die Verfolgung von Pasquillant: innen situativ erfolgte und stark von den jeweiligen Herrschaftsinteressen abhängig war. Die vierte Fallstudie widmet sich daher einer Schmähschriftenkampagne, die direkte Interessen des Kurfürsten berührte und entsprechend heftige Reak‐ tionen provozierte. 252 8 Die Wirkung obrigkeitskritischer Schmähschriften als Streitmittel mit Sonderstatus 1 Von der Ankunft Linseners im „Brühetrog“ berichten die ältesten Monographien, die den vorliegenden Fall im Rahmen der Ereignisse verhandeln, die dem böhmischpfälzischen Krieg als Auftakt des Dreißigjährigen Krieges vorausgingen. Über die der Verhaftung zugrundeliegenden Vorfälle wissen sie hingegen nichts zu berichten: L O N D O R P I U S , Die Ursachen desz Böhmischen/ vnd darausz erfolgten Teutschen Kriegs (1668), S.-951; M Y L I U S , gründlicher/ warhaffter Bericht (1620), ungez. 2 Zu den Anweisungen zum Transport Linseners s. HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *54 r , *56 r . 3 Ebd., fol.-*68 r . 4 Neben den in Anm. 1 genannten sind dies: B Ü L A U , Geheime Geschichten (1858), S. 33f.; E N G E L H A R D T , Biographie (1837), S. 596; K I E S L I N G , Historia Motuum (1770), S. 91-93. Vor allem Johann Rudolph Kiesling bemühte sich bereits im 18. Jahrhundert, die Umstände der Gefangennahme und Folter Johann Linseners in die historischen Konstellationen 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft. Eine Schmähschriftenkampagne in der Grafschaft Mansfeld (1590/ 91) Auch in der vierten und letzten Fallstudie soll ein inhaftierter, mutmaßlicher Verbreiter von Schmähschriften als Ausgangspunkt dienen. Dieser erreichte in einem Trosswagen, begleitet von einigen wenigen Knechten, in einer Juninacht des Jahres 1591 das Schloss Hohnstein, abgeschieden gelegen im Elbsandstein‐ gebirge, etwa 50 km östlich von Dresden. Auf der Ladefläche des Wagens, verborgen hinter Flechtwerk, saß ein Landsknecht, der dort lediglich einen ‚Brühetrog‘ zu bewachen hatte. In diesem Trog befand sich, in fremde Wäsche gekleidet, mit verbundenen Augen, gefesselt und geknebelt, der etwa sechzig‐ jährige vorgebliche Pfarrer Johann Linsener. 1 Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine mehrtägige Odyssee durch das sächsische Kurfürstentum hinter sich: Man hatte ihn in Weißensee bei Erfurt verhaftet und unter strengster Geheimhaltung, nur des Nachts reisend, über mehrere Stationen hergebracht. Nicht einmal die Schösser, die an den Zwischenstationen für Unterkunft und Verpflegung zu sorgen hatten, wussten, wer in ihren Schlössern verwahrt wurde - sie bekamen den Gefangenen lediglich als einen mordbrenner vorgestellt. 2 Der Landsknecht hatte zuvor einen Schwur geleistet, alles was er gesehen und gehört hatte, bis inn seine grube [zu] vorschwigen und geheim [zu] behalten. 3 Die spärlichen Hinweise, die allesamt der Literatur des 18. und 19. Jahrhun‐ derts zu entnehmen sind, bezeichnen den Gefangenen als „Pasquillanten“, als Verfasser einer Schrift gegen den Calvinismus und gegen Kurfürst Christian I. 4 und Konfliktlinien einzuordnen, wobei es ihm vor allem um den konfessionellen Streit um die Einführung des Calvinismus in Kursachsen ging. So beschreibt er, dass Linsener offiziell verhaftet worden sei, weil er in der Stadt Artern Brandstiftung betrieben und Drohbriefe wider den Kurfürsten „hin und wieder zum Fenster eingesteckt“ habe. Der eigentliche Grund sei jedoch gewesen, dass der Pfarrer auch mit „Liedern“ gegen Nikolaus Krell als Kanzler und die sogenannten „Kryptocalvinisten“ um ihn herum in Verbindung gebracht worden sei. Da Kiesling selbst lutherischer Theologe war und es ihm offensichtlich um eine Verteidigung der Lutheraner und entsprechende Verun‐ glimpfung Krells ging, ist seiner Interpretation zwar nicht vorbehaltlos zu folgen, die von ihm angesprochenen Konfliktebenen zeigen jedoch treffend die Vielschichtigkeit des Falls, vgl. W A G E M A N N , Art. „Kiesling, Johann Rudolf “ (1882). 5 Joachim Friedrich von Brandenburg war seit 1577 Administrator des Erzstifts Magde‐ burg und von 1598 bis zu seinem Tod Kurfürst von Brandenburg, s. S C H U L T Z E , Art. „Joachim Friedrich“ (1974). 6 Colloquium (Anh. 2.7); Original: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *6 r - *17 v ; Abschriften: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, eingefügt zwischen fol. 4 v und 5 r ; HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09739/ 20, fol. 14 r -26 v . 7 Vgl. Kap. 8.3. Indes bedürfen die enormen Bemühungen, die Ankunft Linseners und die Gründe für seine Inhaftierung geheim zu halten, in Verbindung mit der offen‐ sichtlichen Relevanz der Geschehnisse - die Anweisungen bezüglich seines Transportes kamen vom kursächsischen Kanzler Nikolaus Krell persönlich - weiterer Erklärung. Nimmt man die Spur Linseners auf, so stößt man auf einen bemerkenswerten Konflikt, in dessen Zentrum die Verbreitung mehrerer Schmäh- und Drohschriften in der Kleinstadt Artern auf dem Gebiet der Grafschaft Mansfeld stand und der letztlich Betroffene vom einfachen Bürger bis zum Administrator des Erzstifts Magdeburg und sogar die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg erfasste. Ausgangspunkt der Untersuchungen, die letztlich zur Verhaftung Linseners führten, war ein im Herbst 1590 in Artern ausgeworfenes Gedicht, genannt Colloquium. Es handelt sich um einen fiktiven Dialog, in dem die Politik des sächsischen Kurfürsten aufs schärfste verurteilt und diesem, aber auch Joachim Friedrich (1577/ 98-1608) 5 , dem Administrator des Erzstifts Magdeburg und späteren Kurfürsten von Brandenburg, mit Aufruhr und Mord gedroht wurde. 6 Sowohl vor Erscheinen des Colloquiums als auch danach fanden weitere Schmähschriften in Artern Verbreitung: zwei Schmählieder, die dem bereits besprochenen Pasquillus des Johann Offneyer gleichen, 7 sowie mehrere we‐ niger elaborierte Zettel mit schmähendem und drohendem Inhalt. Alle diese Schmähschriften richteten sich gegen die genannten Fürsten, gegen Mitglieder der kursächsischen Landesregierung, aber auch gegen lokale Amtsträger, den Arterner Stadtrat sowie den Pfarrer des Ortes. 254 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 8 Die Untersuchung der Vorkommnisse in Artern durch die Landesregierung hat in insgesamt zehn Akten im Bestand ‚Finanzarchiv‘ des Hauptstaatsarchivs Dresden Niederschlag gefunden: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1 bis 12034/ 4 und Nr. Loc. 12034/ 6 bis 12034/ 11. Daneben bieten Akten aus dem Bestand ‚Geheimer Rat‘ Einblick in die Interna des Kurfürsten und seines Kanzlers Krell sowie deren Korrespondenz mit dem Kurfürsten von Brandenburg: HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09739/ 20. Die relevanten Vorgänge in der Stadt Eisleben aus Sicht des Magdeburger Administrators können über Akten aus dem Landesarchiv Sachsen-Anhalt nachvollzogen werden: LaSA, A2, Nr.-375. Die aufwendigen Untersuchungen der Ereignisse durch die Landesregierung produzierten umfangreiche Aktenbestände, die weitgehend lückenlos überlie‐ fert sind: Korrespondenzen und Berichte von Beteiligten auf lokaler, regionaler und territorialer Ebene, Zeugenverhöre und Suppliken der Verdächtigen ermög‐ lichen einen multiperspektivischen Blick auf das Geschehen. Alle relevanten Schmähschriften liegen zudem sowohl im Original als auch in Kopie vor. 8 Gleich mehrere, aus geschichtswissenschaftlicher Sicht glückliche Zufälle führten außerdem dazu, dass den mit der Untersuchung betrauten Amtsinhabern belas‐ tendes Material in Form von privaten Korrespondenzen zwischen Verdächtigen sowie Arbeitsproben aus der Werkstatt eines Pasquillanten in die Hände fielen. Die Beschaffenheit dieser Quellen und die Geschichte ihrer ‚Entdeckung‘ we‐ cken jedoch Zweifel an ihrer Authentizität, die zu allgemeineren Überlegungen zur Interpretation des vorhandenen Materials zu Schmähschriften und ihren Verbreiter: innen führen (Kap. 9.6). Es gelang den Beteiligten unter Leitung des kursächsischen Kanzlers Niko‐ laus Krell relativ schnell, die Hintergründe der Schmähschriftenverbreitung aufzudecken. Der eingangs erwähnte, verhaftete Pfarrer Johann Linsener galt den Beamten dabei zunächst als Verbreiter der Schmähschriften, als Hinter‐ männer und Auftraggeber identifizierte man jedoch die Grafen von Mansfeld- Artern. Diese hatten die Schriften von einem lokalen Küster namens Ludwig ter Fine anfertigen und ihn, so mutmaßte man in Dresden, im Anschluss ermorden lassen. Die Untersuchung schritt bis zum Herbst 1591 voran und mündete in Vorbereitungen zur Erstürmung des Arterner Schlosses. Dieser kamen die Grafen aber zuvor, indem sie sich stellten und in Hausarrest begaben. Johann Linsener wurde schließlich freigelassen, nachdem sich seine Verhaftung als Verwechslung herausgestellt hatte. Bevor die Grafen verhört werden konnten starb jedoch der sächsische Kurfürst im Herbst des Jahres 1591 und die neue Landesregierung stellte das Vorgehen gegen die Mansfelder ein, die durchge‐ hend ihre Unschuld beteuerten. Als Hintergründe lassen sich komplexe, mehrdimensionale Konflikte um Herrschaft, Konfession und finanzielle Schulden identifizieren, die auch in den 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 255 9 Vgl. zu dieser Gattung Kap. 8. 10 K E R T H , Politische Ereignisdichtungen (1997), S.-281. Schmähschriften selbst thematisiert werden. Ein zentrales Ereignis war die 1570 eingeleitete Sequestration von Teilen der Grafschaft Mansfeld, die deren Integration in das kursächsische beziehungsweise magdeburgische Territorium sowie eine entsprechende Entmachtung der zuvor herrschenden Grafen von Mansfeld bedeutete. Den Grund für die Einführung der Zwangsverwaltung bildeten die enormen Schulden der gräflichen Familie. Besonders der Zweig Mansfeld-Artern war anschließend von einer gleichsam doppelten Demütigung betroffen: Nicht nur wurden die Mitglieder auf den Status kursächsischer Untertan: innen herabgestuft, zusätzlich mussten sie sich - zumindest in der Theorie - den eigenen Gläubigern unterordnen, die in mehreren Fällen in Ämter und damit lokale Herrschaftsrechte eingesetzt wurden. Die Sequestration ging darüber hinaus einher mit der konfessionellen Neuausrichtung Kursachsens am reformierten Glauben und mithin mit einer Neubesetzung vieler Kirchenämter während der kurzen Herrschaft Christians I. Hieraus ging schließlich auch der konkrete Anlass der Verbreitung der Schmähschriften in Artern hervor, nämlich die zwangsweise gegen den Willen der Grafen von Mansfeld durchge‐ setzte Einsetzung eines reformierten Superintendenten in der mansfeldischen Residenzstadt Eisleben 1589. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, bilden diese unterschiedlichen Vorgänge und die ihnen inhärenten Konfliktkonstellationen auf lokaler wie territorialer Ebene den gemeinsamen Hintergrund der an sich sehr heterogenen Schmähschriften. Deren Anfertigung und Verbreitung lässt sich daher als regelrechte Kampagne verstehen. Die Pasquille dieses Falls lassen sich gemäß ihrer Zielsetzung, nämlich mittels Öffentlichkeitsadressierung in einen politischen Konflikt einzugreifen, der historisch-politischen Ereignisdichtung zuordnen. 9 Der Fall Mansfeld-Artern verband, wie auch derjenige um Johann Offneyer, Konflikte tendenziell privater mit solchen politisch-struktureller Natur und umfasste, stärker als die drei vor‐ angegangenen Fälle, Beteiligte aus allen sozialen Schichten. Interessant ist, dass die Texte nicht als „Propagandaprodukte der politischen Führungsschicht“, 10 aber auch nicht als Protest einfacher Untertan: innen zu verstehen sind. Ihre Auftraggeber, die ihrer Herrschaftsrechte enthobenen Grafen von Mansfeld, wandten sich in ihnen ebenso gegen ehemalige Untertanen wie gegen ihren Landesherrn - dessen Status sie keinesfalls vollumfänglich akzeptierten. Hin‐ sichtlich der Konfliktkonstellation sowie der Reichweite seiner Auswirkungen geht der vorliegende Fall über das bisher Beschriebene hinaus, indem er den Einsatz einfacher, handschriftlicher Schmähschriften auf einer höheren, 256 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 11 S C H N A B E L -S C H Ü L E , Majestätsverbrechen (1994). Für die umfangreichste Arbeit zu früh‐ neuzeitlichen Majestätsverbrechen s. R U S T E M E Y E R , Dissens und Ehre (2006). Allerdings beschäftigt sich Rustemeyer in ihrer auf das Russland des 17. und 18. Jahrhunderts bezogenen Arbeit vorrangig mit Anzeigen bzw. Prozessen, die unter Verwendung des Etiketts ‚Majestätsverbrechen‘ bzw. crimen laesae maiestatis vonstattengingen. Ein expliziter Bezug auf den entsprechenden Straftatbestand konnte bislang in keinem der kursächsischen Schmähschriftenfälle nachgewiesen werden. 12 S C H N A B E L - S C H Ü L E , Majestätsverbrechen (1994), S.-29. sozusagen territorialen Ebene belegt. Entsprechend ist von einer Ausweitung des durch die Schmähschriften erreichten Kommunikations- und Resonanz‐ raums auszugehen, zumal sie in diesem Fall weniger allein in einer Stadt und mehr in einer ländlich geprägten Region ihre Wirkung entfalteten, nämlich in Teilen der Grafschaft Mansfeld. Diese Vermengung lokaler und territorialer, landesgeschichtlich bedeutender und unbedeutender Akteure, Themen und Wirkungsorte lässt den Fall Mansfeld innerhalb der historischen-politischen Ereignisdichtung weitgehend singulär erscheinen. Da die genannten Schmähschriften in ihrer Stoßrichtung durchaus einen obrigkeitskritischen Charakter aufweisen, lassen sich die Befunde des voran‐ gegangenen Kapitels hinsichtlich Wirkungsweise und Motivationslagen im Folgenden überprüfen. Darüber hinaus legt die Involvierung des Kurfürsten eine Zuordnung der Schmähschriftenangriffe zu den von Helga S C HNA B E L - S C HÜL E konzipierten Majestätsverbrechen nahe. 11 Diese sind definitorisch wie begrifflich nur schwer auf den Punkt zu bringen und umfassen insgesamt ein weites Feld an Delikten. Als zentrale Elemente gelten die Berührung von Herrschaftsinteressen, die Beteiligung einer relevanten Gruppe, die Sorge vor Aufruhr sowie die Verbindung zu innen- und außenpolitischen Problemlagen. Eine Erklärungspotentiale hinsichtlich der Reaktionen der Landesregierung bietende Zuordnung der Vorgänge zu Majestätsverbrechen ist entsprechend nur unter Rückgriff auf politische Zusammenhänge und den größeren Kon‐ text zu verstehen, in dem sie sich ereigneten. 12 Darum, sowie zur Klärung der Motivlagen der mutmaßlichen Pasquillanten und um die überlieferten Schmähschriften in einem Deutungsrahmen verorten zu können, erscheint es notwendig, nach einer kurzen Rekapitulation der Schmähschriftenkampagne in Artern (Kap. 9.1) zunächst deren komplexe Hintergründe, nämlich die angesprochene Sequestration der Grafschaft Mansfeld und ihre konfessionelle Neuausrichtung, zu rekonstruieren (Kap. 9.2). Zu diesem Zweck ist ein etwas weiterer Bogen zu schlagen, da die politische Geschichte Mansfelds am Beginn 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 257 13 So auch V Ö T S C H , Grafen von Mansfeld (2003), S.-164. Vötsch selbst gibt lediglich einen kursorischen Überblick über die Entwicklungen bis zur Sequestration der Grafschaft 1570. 14 Die Stadtgeschichte Arterns ist bislang nicht wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Die wenigen hier genannten Informationen sind dem älteren Aufsatz eines Arterner Lokalhistorikers entnommen: W A G N E R , Artern (1932). 15 I S E N M A N N , Die deutsche Stadt im Mittelalter (2014), S.-62. der Frühen Neuzeit ein weitgehendes Forschungsdesiderat darstellt. 13 Erst auf dieser Grundlage kann eine Analyse der Schmähschriften im Verbund vorgenommen werden, die Rückschlüsse auf ihre Funktion im Konfliktgemenge sowie auf Resonanzkalküle ihrer Autoren zulässt (Kap. 9.3). Anschließend gilt es, die tatsächlich erfolgte Anschlusskommunikation und mithin den Charakter der durch die Schmähschriften angesprochenen Öffentlichkeit nachzuzeichnen (Kap. 9.4). Der Fokus liegt schließlich auf den Reaktionen und Reaktionsmög‐ lichkeiten der Landesherrschaft, wobei erneut Öffentlichkeitsvorstellungen und ihre Wirkung auf höchster Ebene offengelegt werden (Kap. 9.5). 9.1 Die Schmähschriftenkampagne in Artern 9.1.1 Das Setting: die Stadt Artern in der Grafschaft Mansfeld Die Schmähschriften erschienen allesamt in der kleinen Stadt Artern, gelegen in der Grafschaft Mansfeld am östlichen Rand des Harzes. 14 Stadtherren waren seit 1452 die Grafen von Mansfeld gewesen, bis diese ihre Herrschaftsrechte 1570 im Rahmen des genannten Sequestrationsverfahrens an das Kurfürstentum Sachsen abtreten mussten. Artern besaß seit Beginn des 14. Jahrhunderts Stadtrechte, konnte sich aber nie stark von seinen Stadtherren emanzipieren. Genaue Einwohnerzahlen der Stadt sind erwartungsgemäß nicht überliefert, man kann für das 16. Jahrhundert jedoch eine Bevölkerung von 500-1.000 Personen annehmen. Artern fällt damit in die Kategorie einer „Kleinen Klein‐ stadt“ nach der Einteilung Eberhard I S E NMAN N S . 15 Die geringe Einwohnerzahl und der dörfliche Charakter der Stadt führten dazu, dass die Bewohner: innen sich kannten, über die meisten Geschehnisse innerhalb der Gemeinde informiert waren und Informationen durch das Gerede schnell zu allgemein verbreitetem Wissen wurden, wie der betrachtete Fall zeigen wird. Die Charakteristika des frühneuzeitlichen Kommunikationsraums Stadt traten in den Dimensionen einer solchen Kleinstadt besonders stark hervor: Eine Öffentlichkeit der Anwe‐ senden, geprägt von geringer räumlicher Distanz, performativen Akten, der 258 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 16 Vgl. K R I S C H E R , Rituale (2011), S.-129f.; S C H W E R H O F F , Stadt und Öffentlichkeit (2011). 17 W A L T E R , Wasserburg in Artern (1998); S C H M I D T , Sangerhausen (1882), S.-10. 18 Die Linien werden nach den durch den jeweiligen Familienzweig bewohnten Gebäuden im Stammsitz Schloss Mansfeld benannt. 19 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-3. 20 Johann Georg (1557-1615), Volrath (1558-1627), Philipp Ernst (1560-1632/ 31), Johann Ullrich (1567-1602), Albrecht Wolf (1562-1626), Adolph (1568-1609) und Karl Paul (*1574). Daneben existierten noch die Schwestern Anna (1561-1636), Dorothea (*1564) und Sara (1566-1637), die allerdings insgesamt schlecht und im Betrachtungsfall überhaupt nicht greifbar sind. S. S C H W E N N I C K E , Zwischen Weser und Oder (2000), Tafel 86; E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), Anlage 2, S.-167, ohne die Nennung Karl Pauls. 21 1526 wurde aber bereits der erste evangelische Gottesdienst in Artern gefeiert, s. B E R N D O R F F , Die Prediger der Grafschaft Mansfeld (2010), S.-43-45. 22 Ebd., S.-349. 23 Ebd., S.-308, Anm. 4f. Konstanz von Bevölkerung und Raum sowie einer Kultur der Anwesenheit und des Beobachtens kann hier optimal verortet werden. 16 Am westlichen Rand der Stadt, von dieser jedoch abgegrenzt und in die Stadtbefestigung integriert, befand sich das durch einen Wassergraben ge‐ sicherte Schloss Artern, 17 Wohnsitz der Grafen von Mansfeld-Artern. Das Geschlecht der von Mansfeld hatte sich seit dem 15. Jahrhundert mehrfach geteilt; zunächst 1501 in die drei Linien Vorderort, Mittelort und Hinterort. 18 Die vorderortische Linie, zu deren Herrschaft auch die Stadt Artern zählte, teilte sich 1563 erneut in die sechs Linien Bornstedt, Eisleben, Friedeburg, Arnstein, Artern und Heldrungen. 19 Der Arterner Linie entstammten in der hier relevanten Zeit insgesamt sieben männliche Grafen, die gemeinsam und zum Teil mit ihren Familien in beengten Verhältnissen in dem eher kleinen Schloss residierten. 20 Familienvorstand war in den Jahren 1585-1615 Johann Georg, der im Betrachtungsfall zumeist gemeinsam mit seinen Brüdern Volrath, Philipp Ernst, Albrecht Wolf und Adolph auftrat. Die Reformation hielt in der Grafschaft Mansfeld ab Mitte der 1520er Jahre Einzug, im Vorderort jedoch erst ab 1540. 21 Wie Lothar B E R N D O R F F zeigen konnte, entwickelte sich in der Folge ein theologisches „Mansfelder Sonderbewusstsein“ um Konfession und Kirchenordnung sowie ein ausdifferenziertes Synoden-, Visitations- und Konsistorialwesen. 22 Die selbstbewusste Mansfelder Geistlich‐ keit besaß ein starkes Sendungsbewusstsein und führte in den Jahren 1565 bis 1574 gar einen publizistischen Streit mit den mitteldeutschen Universitäten Wittenberg, Leipzig und Jena. 23 In dieser Auseinandersetzung, die üblicherweise in den Konflikt zwischen orthodoxen Lutheranern und Philippisten eingeordnet wird, bildete Mansfeld ein Zentrum des Luthertums. 9.1 Die Schmähschriftenkampagne in Artern 259 24 W E I N R I C H , Zwo Christliche Leichpredigten (1605). 25 N I C K L A S , Christian I. und Christian II. (2007), S. 130; B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986), S.-82f. 26 Die Autoren der hier genannten Schmähschriften und Bekennerschreiben können identifiziert werden. Da es sich ausschließlich um Männer handelt, wird im Folgenden die maskuline Form verwendet. 27 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *1 r . 28 Ebd., fol.-2 r . Ab Beginn des 16. Jahrhunderts gerieten die Grafen von Mansfeld zuneh‐ mend in wirtschaftliche Nöte, die Familie häufte riesige Schulden an. Mit der Sequestration, die 1570 einsetzte und eine Reaktion auf die enorme Schuldenlast darstellte, geriet der vorderortische Teil des Territoriums und somit auch Artern unter die Herrschaft Kursachsens. Zur Verwaltung wurde ein Oberaufseher eingesetzt. Die Grafen, ohnehin mit Armut geschlagen, verloren in diesem Prozess all ihre Herrschaftsrechte sowie beinahe sämtliche Einkünfte und lebten rechtlich gesehen als einfache Untertanen in den ihnen verbliebenen Schlössern. 9.1.2 Die Ereignisse der Jahre 1590 und 1591 im Überblick Im Winter 1590 erreichten beunruhigende Nachrichten aus Artern die höchsten Kreise der kursächsischen Landesregierung. Am 5. Dezember wandte sich der Oberaufseher der Grafschaft Mansfeld, Georg Vitzthum von Eckstedt (1531- 1605) 24 , an Kanzler Nikolaus Krell. Krells Position in Dresden glich zu dieser Zeit der eines ‚Premierministers‘, die in ihrer Bedeutung für die Landespolitik zuweilen diejenige des Kurfürsten übertraf. 25 In seinem Brief informierte Vitz‐ thum Krell darüber, dass am Haus des Arterner Bürgers Michael Meyenburg am 30. November eine schmeheschrift mit dem Titel ein colloquium, so sich zvischen einem mansfeldischen und landboten uf der strassen begeben gefunden worden sei. Vitzthum legte eine Kopie der Schmähschrift bei und verwies darauf, dass Meyenburg schon einige Verdächtigungen bezüglich der Autoren 26 angestellt habe. Für das weitere Vorgehen bot der Oberaufseher seine Hilfe an. 27 Dass die Schmähschrift offenbar einige Sprengkraft besaß, geht aus der Antwort hervor, die Krell bereits am Tag nach Erhalt des Briefes formulierte. Das Corpus Delicti wird darin als eine schwere und wichtige sachen beschrieben, darbey es guter vorsichtikeit, auch verschwigenheitt unde vleisses vonnöten habe. 28 In der Tat handelte es sich bei dem aufgefundenen Colloquium um ein mehrseitiges elaboriertes Gedicht, in dem nicht primär Meyenburg, sondern Kurfürst Chris‐ tian I., sein verstorbener Vater August sowie Administrator Joachim Friedrich beleidigt und die beiden noch lebenden Fürsten mit dem Tod bedroht wurden. Entsprechend schaltete sich Joachim Friedrich noch im Dezember eigenhändig 260 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 29 Ebd., fol. *3. 30 Tryller war von 1571 bis 1586 Amtschösser im nur wenig nördlich von Artern gelegenen Sangerhausen gewesen, bevor er von Christian I. bei dessen Regierungsantritt als Rentmeister nach Dresden beordert wurde. Vgl. zur Biographie: K O C H , Die Stiftung Kaspar Tryllers (1889). 31 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *50-*54. Dieser Zettel lässt sich jedoch nicht eindeutig identifizieren. 32 Vermutlich Zettel I (Anh. 2.8); HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *24 r . Dass es sich um diese Schmähschrift handelt, geht zum einen daraus hervor, dass sie sowohl in den eingebundenen Originalen in Loc. 12034/ 7 als auch im Verhörprotokoll Johann Linseners in Loc. 12034/ 2 als erste der Zettel und nach dem Colloquium eingebunden wurde. Zum anderen handelt es sich hier um den einzigen Zettel, der wie das Colloquium explizit Christian I. und Joachim Friedrich anspricht, wie es der Brief Joachim Friedrichs an Kurfürst Christian vom 28.12.1590 berichtet, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *3 r . Das Datum 22.12.1590 ergibt sich aus einem Brief Georg Vitzthums an Christian vom 2.1.1591: ebd., fol.-*5 r . 33 Dorothea wurde im Januar 1591 geboren und Ende des Monats getauft, s. B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986), S.-88. 34 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *2-*4; Das letzte Lied von Artern (Anh. 2.5); HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *11-*13; Lied vom Rat zu Artern (Anh. 2.6). in die Untersuchung ein, ebenso nahm der sächsische Kurfürst persönlich Anteil. 29 Daneben beteiligten sich der Landrentmeister Caspar Tryller (1542- 1625) 30 und der zuständige Hauptmann der Ämter Sachsenburg und Weißensee, Levin von Geusau, an der Suche nach den Schuldigen. Zwischenzeitlich war an Meyenburgs Haus eine weiterer anonymer zettel gefunden worden; 31 ein dritter wurde am 22. Dezember entdeckt. Bei letzterem handelte es sich um ein kurzes Gedicht, in dem ebenfalls die beiden genannten Fürsten angegriffen wurden. 32 Die Morddrohung wurde diesmal sogar noch präzisiert und als möglicher Termin eine kintteuffe genannt - ein Verweis auf die bevorstehende Taufe von Christians Tochter Dorothea, deren Geburt Ende 1590 unmittelbar bevorstand. 33 Außerdem wurden in dieser kurzen Schmäh‐ schrift zwei ‚Gedichte‘ angesprochen, die zuvor ausgelegt worden seien und dem Kurfürsten wie dem Administrator nicht gefallen hätten. Es handelt sich vermutlich um einen Bezug auf zwei längere Lieder, die den Akten zwar beiliegen, jedoch nicht kontextualisiert werden. 34 Sie stellten einen Angriff auf den Arterner Stadtrat dar: Ihre Autoren bezichtigten mehrerer Amtsträger schlimmer Vergehen gegen Stadt und Bürger: innen und forderten den Rat auf, sie zu entlassen, andernfalls würde man die Stadt in Brand setzen. Diese Drohung beinhaltete auch der genannte Zettel vom 22. Dezember; er schließt mit der Aufforderung an den Stadtrat, alle Schmähschriften an den Kurfürsten 9.1 Die Schmähschriftenkampagne in Artern 261 35 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *24 r . 36 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *3 v , *5 r . 37 Ebd., fol.-*16-*17. 38 Ebd., fol. *16. 39 Vgl. unten Kap. 9.2.2. weiterzureichen, sonst werde Artern mitt all [seinem] guth verbrennen im feur. 35 Die beginnenden Untersuchungen konzentrierten sich schnell auf die Grafen von Mansfeld-Artern. Bereits am 28. Dezember schloss Joachim Friedrich selbst aus, dass die Schmähschriften allein von privat personen stammen könnten und auch Georg Vitzthum vermutete graffenn unter den Verfassern. 36 In der ersten Jahreshälfte 1591 blieb es zunächst ruhig. Erst im Mai erstattete Michael Meyenburg, der mittlerweile für die kurfürstliche Regierung Ermitt‐ lungen anstellte, erneut Bericht. 37 Aus diesem geht hervor, dass die Grafen von Mansfeld-Artern etwa im April in heftigem Streit mit dem Arterner Pfarrer Johann Zelck, aber auch mit dem Stadtrat standen. Zelck hatte demnach mit Erlaubnis der Grafen zunächst zwei Grundstücke in der Stadt erworben und auf diesen ein Mietshaus errichtet. Allerdings geriet einer seiner Mieter, ein Gärtner der Grafen, mit den Anwohner: innen über das Abschneiden von Weidenzweigen in Konflikt, woraufhin er, nachdem vor dem Rat offiziell Beschwerde erhoben worden war, durch den Pfarrer der Wohnung verwiesen wurde. Da er offenbar renitent blieb, schuf Zelck Tatsachen: In Abwesenheit des Mannes räumte er die beweglichen Habe aus der Wohnung und brachte ein neues Schloss an der Tür an. Der Ausgeschlossene ging zu Graf Volrath, der daraufhin nicht nur persönlich das neue Türschloss abschlug, sondern den Pfarrer auch erheblich bedrohte. Laut Meyenburg rührte Vollraths Groll daher, dass der pfarherr der graffen eingesetzten superattendenten zu Eysleben Georgium Autumnum nicht annehmen, auch sich zu seiner investitur nicht gesellen wollen, sondern sich nach des nawen superattendenten befehlich, unnd vorordnunge gehalttenn. 38 Offenbar hatte der Pfarrer die Einsetzung eines neuen, von den Grafen präferierten Superintendenten in Eisleben, Georg Autumnus (1529- 1598), nicht akzeptieren wollen. Indem Zelck stattdessen den kurfürstlichen Kandidaten für das Amt unterstützte, hatte er sich klar gegen die Grafen posi‐ tioniert. Auf dieses für den Fall zentrale Ereignis, das im übrigen den konkreten Anlass zur Anfertigung und Verbreitung aller Schmähschriften bildete, wird noch zurückzukommen sein. 39 Der Unmut Graf Volraths und seiner Brüder saß offensichtlich tief und führte zu einer weiteren kuriosen Episode, die in ihrer Drastik erstaunt. Am 4. Mai 1591 hatten sich die beiden ältesten Grafen Philipp und Volrath in Begleitung 262 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 40 Das ‚Napptor‘. Vgl. zur Bezeichnung der Tore und eine Darstellung der Stadtbefesti‐ gung: S C H M Ö L L I N G , Artern als befestigte Stadt (1991). 41 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *16 v f. 42 Vgl. S C H I N D L E R , Widerspenstige Leute (1992), S.-59-61. 43 Bei der Bewertung dieser Episode ist aber zu beachten, dass wir ausschließlich Meyen‐ burgs Perspektive auf die Ereignisse kennen - sofern sie sich überhaupt auf diese Weise zugetragen haben. Denkbar, wenngleich vor dem Hintergrund der übrigen Informationen über die Situation der Grafen und die Stimmung in der Stadt eher unwahrscheinlich, ist auch eine harmlose Variante der Geschichte, in der die Kantorei freiwillig aufspielte und sich eine gemischte Gesellschaft zu einem spontanen Fest versammelte. einiger adliger Freunde und Diener bereits morgens vor eines der Stadttore 40 begeben, dort ein regelrechtes Gelage begonnen und sich dabei tholl, und voll gesoffen - so zumindest die Aussagen Meyenburgs. 41 Ziel der Gruppe war es, Pfarrer Zelck, der am Tag zuvor die Stadt verlassen hatte, aufzulauern um ihm eine Tracht Prügel zu verpassen. Zelck war jedoch gewarnt worden und hatte, einen Bogen um die aggressive Gesellschaft schlagend, die Stadt bereits durch ein anderes Tor betreten. In der Folge griffen die Grafen und ihr Gefolge andere vorbeilaufende Stadtbewohner: innen an, wobei es zur Anwendung leichter physischer Gewalt kam. Vor allem war das Geschehen jedoch hochgradig invektiv: Auf dem Höhepunkt der gräflichen Machtdemonstration zwang man angeblich die Kantorei der Stadt, vor dem Tor zum Tanz aufzuspielen, riss vorbeilaufenden megden die Schürzen ab und zwang sie, mit dem Gesinde der Grafen zur Musik zu tanzen, worüber man herzlich lachte. Auch wenn man ein gewisses Maß an Übertreibung Meyenburgs einrechnet, zeigt sich an dieser Episode, dass den von Mansfeld daran gelegen war, durch die Ernied‐ rigung der Stadtbewohner: innen die eigene Macht und überlegene Position zu demonstrieren. Dabei zeigten die Grafen einen adligen Habitus, der noch stark gewaltsame Züge aufwies und von Unbeherrschtheit und wildem Jähzorn geprägt war. Allerdings war dieser Habitus, wie es auch Norbert S C HIN D L E R rekonstruiert, bereits weitgehend zur Drohgebärde reduziert. 42 Abseits adligen Standesverhaltens und persönlicher Charaktereigenschaften lässt sich dieses Verhalten als Reaktion auf die faktische Herabsetzung erklären, welche die nunmehr theoretisch macht- und weitgehend mittellosen Herren von Artern im Rahmen der Sequestration erfahren hatten. 43 Kurze Zeit nach dieser Episode tauchten am 6. Mai 1591 erneut anonyme Schriftstücke auf. Kurioserweise meldete sich der Verbreiter der vorangegan‐ genen Schmähschriften in gleich zwei Bekennerschreiben persönlich zu Wort. Im ersten Schreiben, das an Michael Meyenburg, die Bürgermeister Jobst Sibensohn und Job Groß sowie den Rat der Stadt und die gesamte Bürgerschaft 9.1 Die Schmähschriftenkampagne in Artern 263 44 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *34 r . Hierbei handelte es sich vermutlich um die beiden angesprochenen Lieder, das Colloquium sowie die Zettel an Meyenburgs Haus. 45 Michael Meyenburg berichtete Tryller später von insgesamt drei Bränden. So sei es vor dem beschriebenen Brand am 8.5.1591 bereits am 22.8.1590 und am 11.2.1591 zu Feuern in der Arterner Altstadt gekommen, wobei es sich bei dem ersten angeblich um einen regelrechten Stadtbrand gehandelt hatte, dem „bis 20 wonhoefe, und so vil sheunen, stelle und ander gebeu, zu sambt alem vorrad an heu und getreidig“ zum Opfer gefallen seien: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 9, fol. *134. Dieser Brand ist auch der lokalhistorischen Forschung bekannt, wenngleich diese den Quellenbeleg schuldig bleibt: S C H M Ö L L I N G , Feuersbrünste in Artern (1999). 46 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *32 r . 47 Ebd., fol.-*35 r ; Zettel II (Anh. 2.9). Dieser Zettel ist als einziger mit dem klaren Hinweis versehen, dass er am 12. Mai 1591 zwischen zehn und elf Uhr unter dem Tor des Hauses von Michael Meyenburg durch dessen Boten Max Moslep gefunden wurde. adressiert war, bekennt sich der Schreiber zur Verbreitung von insgesamt vier schmeh schrifft[en] unndt bucher[n]. 44 Er schrieb außerdem, aus wirtschaftlicher Not heraus im Auftrag nicht namentlich genannter Dritter für Speis und Trank und unter dem Versprechen von Geld gehandelt zu haben. Als er jedoch außerdem angewiesen worden sei, das Pfarrhaus und ganz Artern in Brand zu setzen (wie es in dem Zettel an Meyenburgs Haus und den beiden Liedern angedroht worden war), habe er sich stattdessen entschlossen, die Stadt für immer zu verlassen. Zur Brandstiftung kam es nur zwei Tage später dennoch: In der Nacht des 8. Mai erfolgte eine Explosion in der Scheune hinter Michael Meyenburgs Haus. Das anschließende Feuer erreichte mehrere Ställe und Scheunen und konnte, so die Informationen des mittlerweile in die Untersuchungen involvierten Landrentmeisters Caspar Tryller, nur mit Mühe gelöscht werden. 45 Das zweite Bekennerschreiben wurde nach der Brandstiftung entdeckt, der Verfasser gestand: Ich hab umbs brodt viel gethan, unndt das nechst feur inn der altenstadt, im stall angelegt. 46 Der weitere Inhalt ist weitgehend identisch mit dem des ersten Schreibens, ergänzt um eine Beschreibung derjenigen Personen, die dem Brandstifter und Verbreiter der Schmähschriften seine Instruktionen gegeben hatten. Zwar wurden keine Namen genannt, allerdings eindeutig mehrere Männer aus der Dienerschaft der Grafen beschrieben. Am 12. Mai fand sich außerdem erneut ein Zettel am Haus der Meyenburgs. 47 Trotz des Fundorts wird in diesem nicht Michael Meyenburg, sondern Pfarrer Zelck angegriffen und als churfursten pfaff und supertentischer aff bezeichnet, womit auf die genannte Frontstellung zwischen den Grafen und der kurfürstli‐ chen Partei verwiesen ist. Darüber hinaus spielte der Verfasser direkt auf den Streit zwischen Graf Volrath und Pfarrer Zelck an. So heißt es: du hast ein schloß 264 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 48 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol.-*36 r . 49 Zu den Untersuchungen und den erbrachten Ergebnissen siehe ausführlich unten Kap. 9.5. 50 Vgl. Kap. 9.2.2. angelegt, das heute nicht mehr steht; und schon von zeitgenössischer Hand wurde in der Abschrift notiert: ditz schloß hatt graff Volrath selbst abgeschlagen. 48 Die Bekennerschreiben führten letztlich zum Verfasser der Schriften. 49 Es handelte sich um den Küster Ludwig ter Fine, der kurze Zeit nach Auftauchen der Schmähschriften zu Tode gekommen war. Man fand bei seiner Witwe jedoch Korrespondenzen, die nahelegten, dass er in Diensten der Grafen Philipp von Mansfeld-Artern, Otto von Mansfeld-Arnstein (1558-1600) und Wilhelm von Schwarzburg-Frankenhausen (1534-1598) gestanden hatte - die damit als Auftraggeber der Schmähschriften gelten können. Die Grafschaft Wilhelm von Schwarzburg-Frankenhausens grenzte unmittelbar an die Grafschaft Mansfeld, war jedoch nicht von der Sequestration betroffen, seine Motivation ist daher erklärungsbedürftig und ergibt sich aus den konfessionspolitischen Umständen der Zeit. 50 Ludwig ter Fine hatte, auch das belegte die bei seiner Witwe gefundene Korrespondenz, offenbar mit einem Pfarrer namens Johann Linsener zusammengearbeitet, der die Schmähschriften nach Artern gebracht und die Bekennerschreiben verfasst hatte. Man identifizierte ihn zunächst mit dem eingangs erwähnten Pfarrer, der verhaftet und unter größter Geheimhaltung erst nach Dresden und dann auf den Hohnstein verbracht wurde. Erst kurz vor Ende der Untersuchungen fanden sich Hinweise auf einen Mann namens Johann Leisener, der kurz zuvor weit entfernt in Frankreich gestorben war und die Arterner Schmähschriften bei sich gehabt hatte. Man glaubte in Dresden an eine Verwechslung und entließ Pfarrer Linsener aus der Haft. Letztlich führten die starken Indizien gegen die Grafen von Mansfeld dazu, dass der zuständige Amthauptmann Levin von Geusau die militärische Erstürmung des Arterner Schlosses vorbereitete. Dieser kamen die Grafen jedoch zuvor, indem sie sich im Herbst 1591 gemeinsam mit ihren Dienern freiwillig in Gefangenschaft begaben. Sie beteuerten dennoch ihre Unschuld und bezichtigten Wentzel Görtler, den Diener Michael Meyenburgs, die Pasquille angefertigt zu haben, um sie den Grafen unterzuschieben. Auf diese Beschuldi‐ gung hin ließ die Landesregierung auch Görtler verhaften. Alle inhaftierten Personen wurden aber bereits nach kürzester Zeit, nämlich unmittelbar nach dem plötzlichen Tod Kurfürst Christians am 25. September 1591, entlassen. 9.1 Die Schmähschriftenkampagne in Artern 265 51 Eisleber Abschied 1588, S. 201; E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), Anm. 102, allerdings mit falscher Seitenangabe. Der Konflikt bestand mindestens von 1559 bis 1602 und gründete auf einer Schuldenlast von über 50.000 Gulden, vgl. HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09751/ 14. 52 Das Abführen von Steuern an den Territorialherrscher wurde insgesamt als ehrab‐ schneidend empfunden, da es nicht dem Selbstverständnis des Adels entsprach. Die Steuerfreiheit bildete einen Grundzug des Sonderstatus adliger Lehnsträger, den diese 9.2 Hintergründe 9.2.1 Die Verschuldung der Grafen von Mansfeld und die Sequestration ihrer Grafschaft Die horrende Verschuldung der Grafen von Mansfeld bildete den Ausgangs‐ punkt für mehrere Konfliktlinien, die in der Arterner Schmähschriftenkam‐ pagne zusammenliefen. Sie spielte zum einen die entscheidende Rolle bei dem sich zunächst langsam anbahnenden und 1570-1580 vollendeten Verlust ihrer souveränen Herrschaftsrechte und dadurch bedingt auch bei den Streitigkeiten um ihr ius patronatus. Letztere kulminierten im genannten Konflikt um die Besetzung der Eisfelder Superintendentur, der als entscheidender Auslöser der Schmähschriftenaffäre gelten kann. Zum anderen führte die Verschuldung der Grafen zu Zerwürfnissen mit ihren Gläubigern und Bürgen. Auch diese traten in den Jahren 1590 und 1591 hervor, denn die von den Schmähschriften direkt betroffenen Brüder Michael und Caspar Meyenburg gehörten zu den wichtigsten Gläubigern der Grafen und die Stadt Artern zu ihren Bürgen. 51 Diese Konflikte verschärften sich zusätzlich dadurch, dass die Gläubiger nach der Sequestration zum Teil kurfürstliche Amtsinhaber wurden und damit Rechte wahrnahmen, die ehemals die Grafen innegehabt hatten. Somit führte die Zwangsverwaltung der Grafschaft letztlich zu einer Situation, in der sich die Grafen ökonomisch, rechtlich und sozial massiv herabgesetzt fühlten. Die Versuche der Herzöge und Kurfürsten von Sachsen, ihren Einfluss auf das mansfeldische Territorium zu vergrößern, begannen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und hatten die Lehnsherrschaft über die eigentlich reichs‐ freie Grafschaft zum Ziel. Zunächst erlangte man 1439 die Herrschaft über einzelne Städte wie Hettstedt und Arnstein und 1466 schließlich das wichtige Oberlehnsrecht über den Mansfelder Bergbau. Nachdem die Grafen vergebens versucht hatten, sich gegen diesen Vorgang vor dem kaiserlichen Kammerge‐ richt zu wehren, bestätigte Kaiser Friedrich III. 1485 die kursächsischen Rechte. Weitere Versuche der Unterordnung durch die Aufnahme in die zu besteuernden sächsischen Landstände, 52 die Einführung des Erbhuldigungseides anstelle des 266 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft ursprünglich auf ihren Dienst an der Waffe zurückführten. Vgl. A S C H , Adel in der Frühen Neuzeit (2008), S.-53. 53 V Ö T S C H , Grafen von Mansfeld (2003), S.-164-170. 54 Als Ursachen der Verschuldung besonders der vorderortischen Linie wurden in der Forschung bisher der Kinderreichtum der Familie und die entsprechenden Teilungen in immer kleinere Herrschaften, persönliche Charakteristika wie Prunk- und Verschwen‐ dungssucht sowie eine schlechte Wirtschaftspolitik angegeben. Aus einer eigentlich guten Ausgangslage im 15. Jahrhundert heraus - die Grafschaft war reichsunmittelbar, wurde durch eine Reihe von Gebietsgewinnen vergrößert und erlebte eine wirtschaft‐ liche Blüte gerade im Bereich des Bergbaus - entwickelte sich so bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts eine Fülle winziger Herrschaften mit einer enormen Verschuldung. In den sechziger Jahren betrug die Schuldenlast aller Grafen zusammen unglaubliche 2.721.916 Gulden, s. E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S. 4; K R U M H A A R , Grafschaft Mansfeld (1855), S.-318. 55 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-8. 56 Unter anderem integrierte man Stiftsgebiete der Bistümer Meißen, Merseburg und Naumburg/ Zeitz ins Kurfürstentum. 1567 erhielt Kursachsen als Dank für die Exekution der Reichsacht gegen Wilhelm von Grumbach und den Ernestiner Johann Friedrich II. vier ernestinisch-thüringische Ämter zum Pfandbesitz, die nie eingelöst werden sollten. 1583 kamen Teile der Grafschaft Henneberg in kursächsischen Besitz, 1569/ 75 das Vogtland, 1570 neben großen Teilen der Grafschaft Mansfeld auch Schutzvogteirechte über das Stift Quedlinburg. Siehe zusammenfassend: B R U N I N G , August (2007), S.-115. 57 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S. 2-7. Nach Vötsch bestritt Kursachsen aufgrund von fehlendem reichslehnbaren Territorialbesitz zwar die Reichsunmittelbarkeit der Lehnseides und der Vertretung Mansfelds auf dem Reichstag scheiterten zu‐ nächst an der fundierten Stellung der Grafen im Reich. 1557 verfügten jedoch Kurfürst August und der ernestinische Herzog Johann Friedrich II., dass die Grafen und Herren in Obersachsen zwar Lehnsmannen, aber auch sächsische Untertanen waren. 53 Die enorme Schuldenlast der Grafen von Mansfeld von über zwei Millionen Gulden 54 rief den Kaiser auf den Plan, der eine Kommission einrichten ließ, welche die Verschuldung und ihre Ursachen untersuchen und Gegenmaß‐ nahmen einleiten sollte. 55 An diesem Punkt intervenierte allerdings der sächsi‐ sche Kurfürst August, der in einer Phase allgemeiner territorialer Erweiterung und Konsolidierung die Gelegenheit nutzte, die Grafschaft Mansfeld endgültig in sein Kurfürstentum zu integrieren. 56 August zog die vom Kaiser beschlossene Zwangsverwaltung der Grafschaft an sich, indem er auf seinem Recht als Lehnsherr bestand. Dass sich die ganze Situation als rechtlich weitgehend unklar darstellte, zeigt die Tatsache, dass die Sequestration zwar tatsächlich von Kursachsen und Magdeburg bis 1580 abgeschlossen wurde, der Kaiser den Mansfeldern ihren Stand als Reichsgrafen, die eigentlich allein dem Reichskam‐ mergericht unterstanden, jedoch noch im Jahr 1594 bestätigte. 57 Die Arbeit der Kommission, die aus Vertretern Kursachsens, des Erzstifts Magdeburg und des 9.2 Hintergründe 267 Grafschaft, nicht aber den Reichsgrafenstand der Mansfelder, V Ö T S C H , Grafen von Mansfeld (2003), S.-165. 58 Kursachsen, Magdeburg und Halberstadt waren seit dem Mittelalter die wichtigsten, wenn auch nicht die einzigen Lehnsherren der Mansfelder Grafen, s. B E R N D O R F F , Die Prediger der Grafschaft Mansfeld (2010), S.-39. 59 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-8. 60 A S C H , Adel in der Frühen Neuzeit (2008), S.-18. 61 H O L E N S T E I N , Die Huldigung der Untertanen (1991), S. 420: „In der erfolgreichen Durch‐ setzung der Landes- und Erbhuldigung realisierte sich, auch nach Auffassung der zeitgenössischen Juristen, deren Meinung im Rechtsstreit ja entscheidend war, die Landeshoheit; die Huldigung war ein untrügliches Zeichen für die Ausübung der Landeshoheit.“ 62 B U S C H , Chronik der Grafschaft Mansfeld (1849), S.-179f. 63 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-9. Bistums Halberstadt bestand, 58 gipfelte 1570 im sogenannten Leipziger Hauptse‐ questrationsabschied. Dieser legte fest, dass „alle Ämter, Städte, Flecken, Dörfer, Vorwerke, Hölzer, Bergwerke und Hütten, alle Steuern, Nutzungen, […] die Regierung, Verwaltung, Jurisdiktion, Zwang, Botmäßigkeit, Dienstpflichten und Steuern und damit alle Rechte und Gerechtigkeiten, auch de[r] Treueeid der Untertanen“ von den Grafen von Mansfeld-Vorderort an ihre drei Lehnsherren übergingen. 59 Neben der ökonomischen Herabsetzung war es vor allem der Verlust der Herrschaftsrechte, der die Grafen in ihrer Identität traf, waren Herrschaftsrechte doch das Kernelement des Adelsstandes. 60 Zentrales Element dieses Statuswechsels und der Durchsetzung der Landeshoheit über den se‐ questrierten Teil der Grafschaft Mansfeld bildete die Übertragung des Treue- oder Huldigungseides der Untertan: innen auf die Lehnsherren. 61 Ein Jahr später erfolgte der Erfurter Abschied, der die Sequestration bis zur restlosen Abzahlung aller Schulden bestätigte. Im Anschluss sollten die Grafen wieder in ihre Rechte eintreten. Währenddessen blieben ihnen verschiedene Schlösser, darunter dasjenige in Artern, mit den dazugehörigen Gärten, dem Fischfang, der Jagd und zudem der Ertrag aus zehn Ackern Holz und für jede der Familien ein zusätzliches Einkommen von 2.000 Gulden jährlich. 62 In den Jahren 1573 und 1579 folgten zwei Permutationsrezesse, in denen die Lehnsherren Gebiete tauschten, sodass am Ende nur noch Magdeburg (zu zwei Fünfteln) und Kursachsen (zu drei Fünfteln) die Grafschaft regierten. Die im vorliegenden Fall wichtigen Städte und Ämter Eisleben, Artern, Arnstein und Heldrungen gehörten seither zu Kursachsen. Letztlich hörte Mansfeld Vorderort um 1580 auf, als eigenständige Grafschaft zu existieren und wurde zu einem Teil des kurfürstlichen beziehungsweise magdeburgischen Territoriums. 63 Der Kurfürst von Sachsen sowie der Administrator des Erzstifts Magdeburg setzten zur Wahrnehmung ihrer Herrschaftsrechte und zur Verwaltung der 268 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 64 Zettel II (Anh. 2.9), Z.-1. 65 HStD, 10036 Finanzamt, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *37. 66 Bereits der erste Oberaufseher Benno Pflugk (1570-1579) hatte damit zu kämpfen, dass die Grafen, aber auch die Kupferverleger und die Gläubiger versuchten, die Bestimmungen des Leipziger Abschieds zu unterlaufen. Otto von Dieskau (1584-1586) geriet sogar derart mit den Grafen aneinander, dass diese versuchten, ihn aus dem Amt zu heben. Auch er meldete in Briefen an den Kurfürsten, dass die Grafen, Gläubiger und Verleger sich nicht an die Bestimmungen halten würden. 67 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-45. 68 Ebd., S.-101. Grafschaft jeweils einen Oberaufseher ein. Dieser kontrollierte die Einnahmen aus Steuern, Zöllen und dem Bergbau, hatte die oberste Gerichtsgewalt und außerdem das Patronatsrecht inne, sodass er großen Einfluss auf das Kirchen- und Schulwesen nehmen konnte. Auch die Stadtvögte, Ratsherren und Amts‐ inhaber der Städte wurde vom Oberaufseher bestätigt, die Grafen behielten lediglich ein Vorschlagsrecht. Dieser Umstand verweist direkt auf die oben beschriebene Frontstellung zwischen dem Pfarrer sowie dem Rat von Artern und den Grafen von Mansfeld. Der churfursten pfaf, 64 die Bürgermeister Jobst Sibensohn und Job Groß sowie die übrigen amptleut[e] zu Arrtern, 65 allesamt von den Schmähschriften betroffen, waren zumindest rechtlich vom Oberaufseher und damit vom Kurfürsten in ihr Amt eingesetzt worden. Das Wirken der Oberaufseher in der Grafschaft war von Beginn an von Konflikten geprägt. 66 Dies zeigt sich bereits an der Instruktion des Oberaufse‐ hers von 1570: Diese forderte von den Untertan: innen der Grafschaft Mansfeld explizit den Eid auf das Kurfürstentum Sachsen und von den Grafen Gehorsam gegenüber dem Oberaufseher. 67 Zur Zeit des Oberaufsehers Curt Thilo von Berlepsch (1586-1589) und somit kurz vor Erscheinen der ersten Schmähschrift in Artern erfolgte 1588 der Eisleber Abschied, der unter Christian I. und dem Magdeburger Administrator Joachim Friedrich von Brandenburg erlassen wurde und die seit 1570 bestehenden Missstände zu beheben suchte. Die Durchsetzung des Hauptsequestrationsabschieds erschien notwendig, da sich „weder die Grafen, noch Städte, Bergherren und Amtsinhaber […] an die Befehle der kurfürstlichen Regierung gehalten“ hätten. 68 Der Abschied macht deutlich, dass die Grafen im sequestrierten Teil Mansfelds auch 1588 noch durchaus ver‐ suchten, Herrschaftsrechte auszuüben, allen voran solche der Gerichtsbarkeit. Die Untertan: innen der Grafschaft machten sich die Kompetenzstreitigkeiten zwischen gräflicher und kurfürstlicher Seite zunutze, indem sie im Sinne kluger Justiznutzung bei unbefriedigenden Entscheidungen die jeweils andere Seite 9.2 Hintergründe 269 69 Eisleber Abschied (1588), 232f.: „Item die einwohner der städte eines theils zu zeiten in ihren ungebührlichen sachen sich entweder an die gemeine regierung, unersucht des ober-auffsehers oder auch wohl an etliche grafen gehenckt, und wann sie an einen orte nicht gefälligen bescheid erlanget, bey den andern schutz und zuflucht zu ungleichen mißbrauch und beschwerlicher confusion ersucht, sich auch unterstanden, an die sequestrirenden grafen zu appelliren, und dadurch die iustitia an ihn selbst zu sonderlicher verkleinerung ihrer chur- und fürstlichen gnaden hohen obrigkeit superiorität auch der geschehenen heimstellunge und geleisten pflicht zuwieder, eludiren, und daß man dergestalt derselben zugleich und recht nicht mächtig seyn könne, daher den vielfältige unrichtigkeit und contrarietäten verursacht worden.“ 70 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-102. 71 Ebd., S.-68. 72 Ebd., S.-23. 73 Allein im auf die Schmähschriften bezogenen Material häufen sich Berichte über die finanziellen Probleme der Grafen. So konnten sie nicht das notwendige Geld für längere Reisen aufbringen oder waren gezwungen, sich zu fünft eine Kutsche zu teilen, sodass ihre Diener zu Fuß gehen mussten. Zudem standen einige von ihnen des Geldes wegen in Verhandlungen mit umherreisenden Anwerbern für den Krieg in Frankreich. Ein Koch, der nach eigener Aussage seit über sechs Jahren auf dem Arterner Schloss arbeitete, war aufgrund langjähriger fehlender Lohnzahlungen 1591 sogar bereit, der kurfürstlichen Seite Informationen über Schwachstellen der Befestigungsanlage zukommen zu lassen. S. HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *90 r , *162 r , *240 r . zwecks Appellation aufsuchten. 69 Im Eisleber Abschied bestimmte man unter anderem, dass die Städte zur Bezahlung der Gläubiger mit höheren Steuern zu belegen seien, da sie für die gräflichen Schulden hafteten. Diese Steuern sollten notfalls mit Gewalt eingezogen werden. 70 Ebenfalls in die Amtszeit des Oberaufsehers Berlepsch fielen heftige Auseinandersetzungen mit den Grafen bezüglich der Verwaltung des Bergbaus, aber auch mit den Berg- und Hüttenleuten selbst, die 1587 die Auszahlung offenbar lang überfälliger Löhne verlangten. Der Oberaufseher verfolgte diesbezüglich einen strengen Kurs und verlangte vom Berggericht die Verhängung harter Strafen, was dieses 1589 umsetzte. 71 Auch der folgende Oberaufseher, Georg Vitzthum, musste laut der bisherigen Forschung „seine gesamte Amtszeit lang einen unerbittlichen Kampf gegen die Einmischungspolitik der Mansfelder Grafen in seine Amtsgeschäfte führen.“ 72 Deren finanzielle Situation hatte sich durch die Sequestration noch einmal dramatisch verschlechtert. Auch die Akten des Schmähschriftenfalls belegen, dass die Grafen am Ende des 16. Jahrhunderts am Existenzminimum wirtschaf‐ teten. 73 Die Mansfelder erscheinen damit als Paradebeispiel eines Adels, der sich am Beginn der Frühen Neuzeit mit ökonomisch-rationalem Wirtschaftshandeln schwertat und aufgrund dessen oftmals in eine Schuldenkrise abzurutschen drohte. Auch hochadlige Dynastien konnten zumindest zeitweilig in starke 270 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 74 A S C H , Adel in der Frühen Neuzeit (2008), S. 71f. Zur Diskussion um einen allgemeinen wirtschaftlichen Abschwung des Adels s. hier S.-77f. 75 Wie sehr die Grafen von Mansfeld bereits vor der Sequestration um ihre soziale Position fürchteten, zeigt auch der Versuch, ihrem Geschlecht eine ruhmreiche Chronik anfertigen zu lassen. Dazu beauftragten sie mit Cyriakus Spangenberg (1528-1604) den bis zu seiner Vertreibung 1574 einflussreichsten mansfeldischen Theologen und Schüler Luthers (s. K A U F M A N N , Art. „Spangenberg, Cyriakus“ (2010), S. 623f.). Die Mansfelder bemühten sich mit diesem Auftrag darum, auch mit Blick auf die angelaufenen Konflikte um die Sequestration, über die Betonung der Verzahnung ihres Geschlechts mit der Region die Legitimation ihrer Herrschaft zu untermauern. Allerdings fehlten den Grafen nach dem Erscheinen eines ersten Bandes bezeichnenderweise die Mittel, die Arbeit fortsetzen zu lassen, s. C Z E C H , Legitimation und Repräsentation (2003), S.-44. 76 S. Kap. 9.3. Abhängigkeit ihrer zumeist städtisch-bürgerlichen Gläubiger oder ihres Landes‐ herrn geraten. 74 Die finanziellen Schwierigkeiten machten das Ausleben eines expressiven adligen Lebensstils beinahe unmöglich. 75 So lebten die Mitglieder der vorderortischen Linie und dessen Arterner Zweig seither als kurfürstliche beziehungsweise magdeburgische Untertan: innen ohne jegliche Herrschafts‐ rechte von einer überschaubaren jährlichen Rente - bei gleichzeitig stark ausgeprägtem adligen Standesbewusstsein und entsprechendem Distinktions‐ willen. Dieses Spannungsfeld zwischen adligem Habitus und realer Lebenswelt wurde noch dadurch verschärft, dass der soziale Abstand zu ihren früheren Untertan: innen, besonders zu den Gläubigern und neuen kurfürstlichen Amts‐ trägern, nahezu nivelliert worden war. Gleichzeitig hatte der Kurfürst seinen Anspruch auf die Herrschaft über die Grafschaft Mansfeld endgültig durch‐ setzen können. Als Reaktion auf diese vielfältigen Herabsetzungserfahrungen erscheinen die Schmähschriften in Artern demnach auch als ein Instrument des Konfliktaustrags in sozialen Differenzierungsprozessen, die sich um die Ausbildung von Herrschaftsschichten drehten. Diese von Invektiverfahrungen geprägte Gesamtsituation, die den Hinter‐ grund bildete für die Schmähschriftenkampagne der Jahre 1590 und 1591, kulminierte in der zwangsweisen Einsetzung des kurfürstlichen Kandidaten für die Eisleber Superintendentur, die den konkreten Anlass für die Anfertigung der Schmähschriften bildete. 9.2.2 Reformierte Konfessionalisierung und Streit um die Superintendentur in Eisleben 1590 Das Colloquium und mehrere der es begleitendenden Schmähschriften nehmen direkt oder indirekt Bezug auf den Streit um die Besetzung des Superinten‐ dentenamts in Eisleben 1590. 76 Dieser Streit erklärt sich zum einen aus den 9.2 Hintergründe 271 77 K L E I N , Zweite Reformation in Kursachsen (1962). Zur Kritik am Begriff s. unten Kap. 9, Anm.-118. 78 B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986), S.-88. 79 L A U , zweite Reformation in Kursachsen (1964), S.-152. 80 B E R N D O R F F , Die Prediger der Grafschaft Mansfeld (2010), S.-47-50. 81 Ebd., S.-50. politischen Gegebenheiten der Sequestration, nämlich aus einem Machtkampf zwischen den Grafen von Mansfeld und dem kursächsischen Oberaufseher Georg Vitzthum. Zum anderen erklärt er sich aus einem Grundkonflikt im Zuge der reformierten Konfessionalisierungsbestrebungen unter Christian I., der sogenannten „Zweiten Reformation in Kursachsen“. 77 Dieser Konflikt drehte sich in konfessioneller Hinsicht vor allem um die Gesinnung geistlicher Amts‐ inhaber und liturgische Änderungsmaßnahmen, vor allem die Abschaffung des Taufexorzismus, in politischer Hinsicht um ein Ausgreifen des sächsischen Territorialstaats auf Patronatsrechte und das weitgehenden Ausschalten land‐ ständiger Kräfte, was die Forschung in der Vergangenheit zur Beurteilung der Ereignisse als ‚Ankündigung des Absolutismus‘ 78 oder als „staatsabsolutis‐ tische Tendenzen“ 79 führte. Die Auseinandersetzungen um die Schmähschrif‐ tenkampagne in Artern lassen sich in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen einordnen, die über das Forschungsparadigma der Konfessionalisierung zu fassen sind, und verlieren in diesem Licht ihren rein lokalen Zuschnitt. Der Streit um die Eisleber Superintendentur Stellt sich die Sequestration von 1570 inklusive der vorangegangenen Schritte zur Mediatisierung der Grafschaft Mansfeld durch Kursachsen als ein Konflikt dar, der die allgemeinen Herrschaftsrechte der Grafen berührte, so drehten sich die Ereignisse in Eisleben 1590 speziell um das Patronatsrecht und damit auch um die konfessionelle Ausrichtung der Grafschaft. Das Amt des Eisleber Superintendenten (auch ‚Generalsuperintendent‘) wurde nach heftigen Streitigkeiten um die Patronatsrechte der unterschiedli‐ chen Mansfelder Linien 1546 im sogenannten pactum lutheri geschaffen. 80 Dieses Amt, das der Prediger der Eisleber St. Andreaskirche innehatte, sollte von den drei Grafenlinien in Übereinstimmung besetzt werden. Die Position war von größter Wichtigkeit, da dem Superintendenten die Aufsicht über alle Pfarrer der Grafschaft oblag. B E R N D O R F F spricht diesbezüglich vom „Primat des Super‐ intendenten“. 81 Um das Amt und dessen Rechte kam es vor und besonders nach der Einleitung der Sequestration 1570 immer wieder zu Konflikten, in denen die Lehnsherren Kursachsen und Magdeburg begannen, ihre Einflussnahme 272 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 82 Der Magdeburger Administrator Joachim Friedrich von Brandenburg hatte 1567 nach einer militärischen Auseinandersetzung mit den Grafen von Mansfeld-Hinterort das Aufsichtsrecht über die Pfarren in Rothenburg erhalten. Die Kirchenaufsicht des Amtes Arnstein wurde 1568 vom Leipziger Konsistorium übernommen, das im Zuge konfes‐ sioneller Streitigkeiten Pfarrstellen mit eigenen Kandidaten besetzen ließ. 1570 wurde Hieronymus Menzel, von 1560-1590 Superintendent in Eisleben, an der Visitation der Herrschaften Arnstein und Heldrungen durch deren kursächsische Verwalter gehindert. Auf den Verlust des Inspektionsrechts und die anschließende Vertreibung von Pfarrern reagierte die Mansfelder Geistlichkeit mit der Publikation mehrerer Druckschriften. Diese Episode verweist insofern bereits auf den vorliegenden Fall, als die Herrschaften Arnstein und Heldrungen in Händen eben jener Grafen lagen, die mutmaßlich die Verfertigung der Arterner Schmähschriften zu verantworten hatten (Graf Otto von Mansfeld-Arnstein war wohl einer der Hauptdrahtzieher, die fünf Grafen zu Artern zugleich Herren von Heldrungen). Vier Jahre nach diesem Vorfall griff Joachim Friedrich von Brandenburg militärisch in einen Streit zwischen Mansfelder Theologen ein, indem er mit 500 Landsknechten in die Stadt Mansfeld einrückte, um den Generaldekan Cyriakus Spangenberg zu verhaften. Dieser konnte zwar fliehen, jedoch wurden Pfarrer, Ratsmitglieder und Bürger als seine Parteigänger inhaftiert. In direkter Folge gingen die Oberaufseher Sachsens und Magdeburgs scharf gegen die Anhänger Spangenbergs vor, indem sie Prediger absetzten und verbannten. Daraufhin wandte sich Superintendent Menzel, Führer der gegen Spangenberg gerichteten Partei, dem sächsischen Kurfürsten zu und Mansfeld nahm 1580 die Konkordienformel an. S. Ebd., S.-72-75. 83 Ebd., S. 74. Um das Patronatsrecht zu erlangen, nutzte demnach der Oberaufseher Vitzthum einen Brief Martin Luthers, der ihm zugespielt worden war und bewies, dass das Besetzungsrecht bis 1542 bei Halberstadt gelegen und der damalige Bischof lediglich für seine Person auf das Recht verzichtet habe. Leider liefert Berndorff hierfür keinen Quellenbeleg. Dass er mit der grundlegenden Aussage, das Patronatsrecht sei wenn überhaupt, dann erst relativ spät auf Kursachsen übergegangen, richtig liegt, belegt schon der im Folgenden aufgegriffene Streit. Von einem sofortigen und scheinbar unwidersprochenen Übergang des Patronatsrecht bei Inkrafttreten der Sequestration berichten fälschlicherweise: E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S. 99; W A R T E N B E R G , Grafschaft Mansfeld (2006), S.-16. 84 B E R N D O R F F , Die Prediger der Grafschaft Mansfeld (2010), S.-75. auf die kirchlichen Angelegenheiten spürbar zu intensivieren. 82 Bis 1590 hatte der kursächsische Oberaufseher die Rechte der Mansfelder Kirchenaufsicht und des Eisleber Superintendenten zwar stark beschnitten und das Patronatsrecht bereits auf den unteren Hierarchieebenen wahrgenommen, jedoch war das ius patronatus grundsätzlich bei den Mansfelder Grafen verblieben. Erst jetzt ge‐ langte das Patronatsrecht für die Andreaskirche und damit die Superintendentur nach B E R N D O R F F in die Verfügungsgewalt Sachsens. 83 Im Februar 1590 verstarb nun Superintendent Hieronymus Menzel, der sich nach einigen Konflikten auf kurfürstlicher Linie befunden hatte und unter dessen Ägide zehn Jahre zuvor die Konkordienformel in Mansfeld angenommen worden war. Erst 1592 wurde Georg Autumnus als Nachfolger eingesetzt. 84 Für die dazwischenliegenden 9.2 Hintergründe 273 85 E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-118. 86 LaSA, A2, Nr. 375; die Vorgänge finden sich außerdem in: B I E R I N G E N , Clerus Mansfel‐ dicus (1742), S.-19-27. 87 Eine detaillierte Darstellung des Ablaufs des Gottesdienstes und der Einsetzung des Sperintendenten findet sich in: LaSA, A2, Nr.-375, fol.-2 r -4 v . 88 B E R N D O R F F , Die Prediger der Grafschaft Mansfeld (2010), S.-75. 89 LaSA, A2, Nr.-375, fol.-6. 90 Das Mansfelder Ministerium stellte die Führungsgruppe der Geistlichen der Grafschaft Mansfeld dar. Eine genaue Bestimmung ihrer Mitglieder ist aufgrund der Quellenlage nicht möglich, die größte Rolle spielten jedoch die Stadtgeistlichen von Eisleben, Mansfeld und Hettstedt. S. B E R N D O R F F , Die Prediger der Grafschaft Mansfeld (2010), S.-75f. 91 Es ist nur schwer zu beurteilen, inwiefern der Oberaufseher hier im Rahmen seiner Befugnisse handelte. Zum einen ist der Besitz des Patronatsrechts für den fraglichen Zeitpunkt aufgrund mangelnder Quellen nicht eindeutig nachzuweisen, zum anderen war dem Oberaufseher bereits in der ersten Instruktion 1570 die Aufsicht über Kirchen und Schulen zugesprochen worden, inklusive des Rechts, Pfarrer gegebenenfalls zu ersetzen. Vgl. E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-46. zwei Jahre liefert die Forschung einzig den Hinweis, dass der kurfürstliche Oberaufseher Vitzthum 1590 eigenmächtig und ohne Zustimmung der Grafen oder des Kurfürsten einen anderen Superintendenten eingesetzt habe. 85 Die Ereignisse lassen sich jedoch auf Grundlage einer Akte des Landesarchivs Sachsen-Anhalt relativ präzise rekonstruieren. 86 Nach dem Tod Menzels wurde am 16. März 1590 in Anwesenheit vieler Mansfelder Grafen, unter ihnen auch Hans Georg von Artern, ein neuer Superintendent eingesetzt. 87 Dabei handelte es sich um den bereits erwähnten Georg Autumnus, der seit 1579 das Amt des Mansfelder Dekans bekleidet hatte, was ihn zum zweitwichtigsten Geistlichen der Grafschaft machte. 88 Der Administrator des magdeburgischen Teils der Graf‐ schaft, Joachim Friedrich von Brandenburg, lehnte die Einsetzung allerdings ab und wies seinen Oberaufseher an, sich mit der kurfürstlich sächsischen Seite zusammenzutun, um einen qualificierten mann einsetzen zu lassen. 89 Jedoch war es der kursächsische Oberaufseher Vitzthum, der bereits am 18. März die Kon‐ frontation suchte und seinen Rentmeister anwies, dem Mansfelder Ministerium, der obersten geistlichen Behörde der Grafschaft, solange keine Besoldung mehr zukommen zu lassen, bis ein anderer, von kurfürstlicher Seite unterstützter Su‐ perintendent eingesetzt worden sei. 90 Die nächste Eskalationsstufe war erreicht, als Vitzthum am 6. April die verschlossene Wohnung des Superintendenten aufbrechen und alle Bücher und Handschriften ins Oberaufseheramt bringen ließ. 91 Als sich die Mansfelder Grafen zu Heldrungen und Artern bei Christian I. über die Vorgänge beschwerten, antwortete dieser, dass Vitzthum zwar in der ein oder anderen Sache zu weit gegangen sei, die Schuld jedoch bei ihnen selbst läge, da sie gegen die Bestimmungen des Sequestrationsabschieds verstoßen 274 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 92 LaSA, A2, Nr.-375, fol.-33 r -36 v . 93 Ebd., fol.-37. 94 Ebd., fol.-38 r -40 v , Zitat 38 r . 95 Ebd., fol.-47 r -48 r . 96 Art. „Seidler, Philipp“, in: Pfarrerbuch, Bd.-8, S.-202f. 97 Art. „D. Rother (Roetter), Adam“, in: Pfarrerbuch, Bd.-7, S.-275. 98 Brief des Georg Autumnus an Johann Rumpel und Antwort desselben vom 24.10.1590, in: B I E R I N G E N , Clerus Mansfeldicus (1742), S. 24. In dem Brief berichtete Autumnus dem Eisleber Prediger Rumpel, wie das Ministerium unter Androhung schwerster Strafen (sub gravissimu poena comminatione) zur Einsetzung Seidlers gezwungen worden war. 99 LaSA, A2, Nr.-375, fol.-49 r f., 57. hätten. In dem Brief wird deutlich herausgestellt, dass die geistliche Jurisdiktion nicht in Händen der Grafen, sondern des Oberaufsehers liege. 92 Nachdem sich die Grafen Vitzthums Befehl 93 zur Absetzung Autumnus’ widersetzt hatten und zudem weiterhin das Recht für sich beanspruchten, Kirchendiener und Schulmeister einzusetzen, wobei sie sich selbst gegenüber den Gemeinden als eure von gott vorliehene und gegebene obrigkeit und dessen ortts erb und landtherrn bezeichneten, 94 ließ Vitzthum am 23. Oktober 1590 allen Predigern und Schuldienern von Eisleben den Befehl zukommen, sich am Folgetag zur Einsetzung eines neuen Superintendenten einzufinden. 95 Entspre‐ chend war die Eisleber und damit auch der Großteil der Mansfelder Geistlichkeit anwesend, als Philipp Seidler (†1592) 96 durch den hinzugezogenen Superinten‐ denten von Merseburg, Adam Rother (1527-1602), 97 in sein Amt eingeführt wurde. Die ebenfalls anwesenden Grafen stimmten der Einsetzung offenbar nur auf Drängen des Oberaufsehers und unter Verweis auf die bestehende Gültigkeit der Mansfelder Kirchenordnung zu. Allerdings fand die Sache damit kein Ende. Zum einen trafen sich alle Grafen am Folgetag, um darüber zu beraten, wie der ihnen aufgezwungene Superintendent - notfalls mit Gewalt - zu vertreiben sei. Zum anderen zeigt ein Brief des Georg Autumnus, dass dieser sich selbst auch nach den Ereignissen als Superintendent bezeichnete und auch von seinem Kollegen als solcher angesprochen wurde. 98 Autumnus, der nach der Einsetzung Seidlers offiziell seine alte Stelle als Dekan weiterführte, blieb dem Oberaufseher offenbar widersetzlich und setzte eigenmächtig Kirchendiener und Prediger ein. 99 Der Streit um die Superintendentur ging über ein Machtspiel des Oberauf‐ sehers hinaus und wies eine starke konfessionspolitische Dimension auf. Mit Adam Rother und Philipp Seidler hatte die kursächsische Seite zwei Männer reformierter Gesinnung zur Besetzung der Stelle in Eisleben herangezogen. Der kurfürstliche Superintendent Seidler, der zuvor von 1573 bis 1590 Superinten‐ dent in Sangerhausen gewesen war, musste bereits 1592 - also direkt nach 9.2 Hintergründe 275 100 B I E R I N G E N , Clerus Mansfeldicus (1742), S.-23. 101 Art. „D. Rother (Roetter), Adam“, in: Pfarrerbuch, Bd.-7, S.-275. 102 K O C H , Der kursächsische Philippismus (1986), S.-70f. 103 Er war 1566 als Flacianer aus Kursachsen vertrieben worden, da er die Unterschrift unter das corpus doctrinae misnicium verweigerte, nur vier Jahre später wurde er auch aus Greiz vertrieben, s. Art. „Autumnus (Herbst), Georgius“, in: Pfarrerbuch, Bd. 1, S. 160f. 104 Für die Grafen von Mansfeld siehe die ausführliche Darstellung bei: B E R N D O R F F , Die Pre‐ diger der Grafschaft Mansfeld (2010), S. 43-66. Die anticalvinistische Haltung Wilhelms von Schwarzburg-Frankenhausen geht aus der auf ihn gehaltenen Leichenpredigt hervor, die Anhänger des reformierten Glaubens als „Sacramentsfeind[e]“ bezeichnet: R H O T M A L E R , Christliche Leichpredigt (1598), S.-21. 105 L A U , zweite Reformation in Kursachsen (1964), S.-138. dem Tod Christians I. - Eisleben wieder verlassen und nach Sangerhausen zurückkehren, wo er im folgenden Jahr verstarb. Im Nachhinein wurde seine Vertreibung aus Eisleben von den Chronisten mit dem Vorwurf begründet, Anhänger des Calvinismus gewesen zu sein. 100 Adam Rother, der von 1567 bis 1592 als Stiftssuperintendent in Merseburg amtierte, wurde ebenfalls 1592 aus denselben Gründen abgesetzt. 101 Er trat außerdem als einer der Autoren des Bandes de praecipius horum temporum controversiis (Wittenberg 1571) in Erscheinung, der als prägend für die Herausbildung einer philippistischen, also nahe am reformierten Glauben stehenden Grundhaltung gilt. 102 Der Kandidat der Grafen von Mansfeld, Georg Autumnus, war hingegen einige Jahrzehnte zuvor bereits zweimal aus Kursachsen vertrieben worden - und zwar als Flacianer, d.h. Teil einer lutherischen Gruppe, die Kurfürst August vor seiner Hinwendung zum orthodoxen Luthertum hatte bekämpfen lassen. 103 Die Grafen von Mansfeld als Autumnus‘ Unterstützer lassen sich ebenfalls der Gruppe der strengen Lutheraner zuordnen, selbiges gilt für den Grafen Wilhelm von Schwarzburg-Frankenhausen, einen der Hauptverantwortlichen der Schmäh‐ schriftenkampagne in Artern. 104 Die Biographien der Beteiligten sind also eng verbunden mit der reformierten Konfessionalisierung in Kursachsen sowie dem Widerstand gegen selbige. Die reformierte Konfessionalisierung in Kursachsen Diese Hinwendung zum reformierten Bekenntnis wurde im albertinischen Sachsen in zwei Phasen virulent, die zumeist unter den Schlagworten ‚Kryp‐ tocalvinismus‘ (1571-1574) und ‚Zweite Reformation‘ (1589-1591) behandelt werden. 105 Zentrales Element dieser konfliktbeladenen Phasen war die Un‐ terstützung beziehungsweise Ablehnung konfessioneller Gruppen durch den jeweiligen Kurfürsten. Bei diesen Gruppen handelte es sich um orthodoxe Lu‐ theraner (auch als Gnesiolutheraner bezeichnet) auf der einen und Calvinisten 276 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 106 Es ist zu betonen, dass es sich nicht um homogene, klar abzugrenzende Gruppen handelte, sondern um heuristisch nützliche Idealtypen, vgl. S C H I L L I N G , Nochmals „Zweite Reformation“ (1996), S. 505. Der Name der Philippisten bezog sich auf Philipp Melanchthon, der nach dem Tod Luthers die Führungsrolle innerhalb der protestantischen Bewegung eingenommen hatte. Ihnen werden weniger Theologen zugeordnet, sondern vermehrt „akademisch gebildet[e] Nichttheologen“, die sich in geographisch weit verbreiteten Freundeskreisen organisierten und häufig eher als Humanisten melanchthonischer Prägung zu bezeichnen sind. Philippisten waren nicht Anhänger einer einheitlichen Theologie, dennoch können gerade in der Abgrenzung zu den Gnesiolutheranern einige gemeinsame Merkmale hervorgehoben werden. Nach Koch war ihr Ziel die „humanistische Wiedergeburt des Corpus Christianum in Kirche, Schule, Wissenschaft und Theologie“; entsprechend legten sie Wert auf eine umfassende Bildung, K O C H , Der kursächsische Philippismus (1986), S. 68; vgl. C R U S I U S , Humanismus, Philippismus und Kryptocalvinismus (2008), S. 142. Trotz offensichtlicher Nähe können Philippismus und Calvinismus nicht gleichgesetzt werden. Zwar ist eine generelle Offenheit gegenüber dem Calvinismus zu konstatieren, allerdings änderten Philippisten, die zum Calvinismus übertraten, zumeist entscheidend ihre theologische Grundhaltung, zum Beispiel in Bezug auf die Prädestinationslehre. Ein Übergang vom Calvinismus zum Philippismus ist daher ohne genaue biographische Kenntnis der betreffenden Person nur schwer festzustellen, s. ebd., S. 139. Bei den meisten hier behandelten Personen mit tendenziell reformierter Gesinnung ist fraglich, ob es sich überhaupt um „Calvinisten“ handelte. Vielmehr ist von einer Abweichung von orthodox lutherischen Ansichten auszugehen, die von Lutheranern als Calvinismus etikettiert und abgewertet wurden. S. H A G M E Y E R , Calvinismus als Etikett (2015). 107 Nach Crusius nahmen die Parteigänger Melanchthons eher eine vermittelnde Position zwischen Calvinisten und Lutheranern ein: C R U S I U S , Humanismus, Philippismus und Kryptocalvinismus (2008), S. 139. Von den Lutheranern unterschieden sich Philippisten außerdem - und das ist in Hinblick auf die reformierte Konfessionalisierung her‐ vorzuheben - durch ihre konfliktarme Beziehung zur Obrigkeit, die sie als Garant der Existenz kirchlicher Institutionen verstanden und entsprechend unterstützten, s. S C H I L L I N G , Zweite Reformation (1986), S. 416f. Koch konstatiert für die kursächsischen Gnesiolutheraner demgegenüber eine starke Ablehnung außer- und nebenkirchlicher Einflüsse auf die innerkirchliche Disziplin: K O C H , Der kursächsische Philippismus (1986), S.-66. 108 K O C H , Der kursächsische Philippismus (1986), S.-65. 109 Aus primär zensurpolitischer Sicht: H A S S E , Zensur (2000), S. 137-182. Aufgrund feh‐ lender aktueller Studien weiterhin: K L U C K H O R N , Kryptocalvinisten (1867). beziehungsweise Philippisten auf der anderen Seite. 106 Im Gegensatz zu den Gnesiolutheranern waren die Philippisten dem Calvinismus gegenüber offen, insgesamt standen sie für Mäßigung in theologischen Fragen. 107 Es ist zu betonen, dass Mansfeld als eines der wichtigsten und durch die Druckereien in Eisleben produktivsten Zentren der Gegner des Philippismus gelten kann. 108 Die erste Phase wird darüber hinaus als ‚Krise des Philippismus‘ bezeichnet und fällt in die Regierungszeit Kurfürst Augusts. 109 August bemühte sich zu‐ nächst aus Ablehnung dogmatischer Streitigkeiten um die Vereinheitlichung 9.2 Hintergründe 277 110 S C H I L L I N G , Zweite Reformation (1986), S. 418. Siehe hierzu auch: H O Y E R , calvinistische Landespolitik (1993), S.-138. 111 H A S S E , Zensur (2000), S.-138; K O C H , Der kursächsische Philippismus (1986), S.-75. 112 K E L L E R , Landesgeschichte Sachsen (2002), S.-171. 113 Siehe zum Folgenden: N I C K L A S , Christian I. und Christian II. (2007); H O Y E R , calvinisti‐ sche Landespolitik (1993); B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986); K L E I N , Zweite Reformation in Kursachsen (1962), S.-77-83. 114 N I C K L A S , Christian I. und Christian II. (2007), S.-128. 115 Eine zweite wichtige Rolle spielte der Hofrat Andreas Paull (1544-1590). Zur Bedeutung Krells und Paulls s. K L E I N , Zweite Reformation in Kursachsen (1962), S.-20-67. des Luthertums und besetzte wichtige Hofämter mit Männern philippistischer Gesinnung. Ab 1571 setzte sich bei August, bedingt durch das Erscheinen des Wittenberger Katechismus und angestachelt durch die lutherischen Stimmen in seinem direkten Umfeld, allerdings der Glaube durch, die sächsischen Philippisten hätten sich gemeinsam mit Heidelberger Calvinisten gegen ihn verschworen. Es entstand der invektive Begriff ‚Kryptocalvinismus‘, der Philip‐ pisten als heimliche Sakramentierer brandmarkte. 1574 kam es schließlich zur „Augustinischen Säuberung“: 110 Man stellte die mutmaßlichen Verschwörer am Hof vor Gericht, entließ ‚Kryptocalvinisten‘ im ganzen Land aus Regierungsäm‐ tern, Universitäten und Konsistorien und leitete eine regelrechte Verketzerung des Calvinismus ein, die auf Resonanz im Volk und vor allem beim Adel stieß, der in den Folgejahren Beschwerden über ihm verdächtige Pfarrer und Superin‐ tendenten bei der Landesregierung einreichte. Eine tatsächliche Verschwörung mit dem Ziel der Einführung des Calvinismus in Kursachsen gilt heute als widerlegt. 111 Im Anschluss an die Ereignisse wurde die kursächsische Politik mit Konkordienformel (1577) und -buch (1580) am orthodoxen Luthertum ausgerichtet. Alle Geistlichen und Lehrer wurden ab 1580 auf die Konkordien‐ formel vereidigt und bei Nichterfüllung mit Sanktionen bedroht. Somit besetzte man zugleich auf dem Gebiet der Kirchenpolitik neue Handlungsfelder für die Herrschaft und baute die landesherrliche Gewalt aus. 112 Die zweite Phase reformierter Politik in Kursachsen datiert in die Regierungs‐ zeit Christians I. und damit in den Untersuchungszeitraum der Mansfelder Fallstudie; die Entwicklungen dieser Phase betreffen die Ereignisse in Artern und Eisleben direkt wie indirekt. 113 Unter Christian kam es zu einer „Hinwen‐ dung zur Reformation westeuropäischer Prägung“. 114 Neben dem Kurfürsten war dabei Nikolaus Krell federführend, der als Kanzler nach der Ausschaltung des Geheimen Rates seit 1589 eine erhebliche Machtposition innehatte. 115 In einer ersten, außenwie innenpolitisch um Ausgleich und Stabilität bemühten Phase erleichterte man durch die Inkraftsetzung einer neuen Schulordnung reformierten Professoren den Weg in die Universitäten und schaffte stillschwei‐ 278 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 116 N I S C H A N , Prince, People, and Confession (1994), S.-142f. gend die Verpflichtung zur Unterschrift unter die Konkordienformel ab. In den Jahren 1588/ 89 gingen Krell und Christian zu einer härteren Gangart gegen Gnesiolutheraner über. Ein eigentlich unscheinbares Mandat gegen das Schmähen von den Kanzeln erregte auf dem 1588 einberufenen Landtag großen Widerstand, da vor allem der Adel eine Verurteilung des Calvinismus vermisste und eine Wiedereinführung der Verpflichtung auf die Konkordienformel for‐ derte. Nach 1588 verzichtete Christian gänzlich auf die Einberufung der Land- und Ausschusstage und nahm den Ständen damit die wichtigste Institution zur Vorbringung ihrer Beschwerden. Eine weitere Maßnahme bildete die Auflösung des Dresdner Oberkonsistoriums beziehungsweise die Rückverlegung desselben als einfaches Konsistorium nach Meißen mit dem mutmaßlichen Ziel, einen zentralen geistlichen Widerstand gegen die konfessionellen Veränderungen zu erschweren. Das größte Aufsehen erregte aber die Abschaffung des Exorzismus bei der Taufe - ein Schritt, den die Landesregierung im Übrigen als einen hauptsächlichen Anlass zur Anfertigung der Arterner Schmähschriften ansah. Luther hatte den Taufexorzismus als Gebet erlaubt, in dem die Sündhaftigkeit des Kindes und die totale Abhängigkeit von Gott anerkannt wurden, entspre‐ chend stellte er ein liturgisches Element der meisten lutherischen Kirchen dar. Reformierte lehnten den Exorzismus hingegen als ‚mönchischen Hokuspokus‘ ohne jegliche biblische Grundlage ab. 116 Zur Durchsetzung der Abschaffung verpflichtete man die Pfarrer zur Unterzeichnung eines entsprechenden Textes. Den Superintendenten kam diesbezüglich große Bedeutung zu, sie hatten die Unterschriften ihrer Pfarrer zu besorgen. Superintendenten, die der Anordnung widersprachen, wurden inhaftiert oder ersetzt, wie es auch in Eisleben geschah. Christian setzte bei der Taufe seiner eigenen Tochter Dorothea im Januar 1591 ein Zeichen und ließ sie ohne Exorzismus durchführen - ganz gegen den Willen seiner Gattin Sophie. Die Phase der konfessionellen Neuorientierung endete 1591 abrupt mit dem Tod Christians. Seine streng lutherische Witwe sowie der Administrator Friedrich Wilhelm von Sachsen-Weimar (1562-1602) trafen, unterstützt von den Landständen, Maßnahmen zur Rücknahme aller konfessionspolitischen Veränderungen, sodass bereits 1592 Kirchen- und Schulbedienstete wieder einen Religionseid auf das lutherische Bekenntnis ablegen und das reformierte aus‐ drücklich verurteilen mussten. In Anlehnung an die Ereignisse des Jahres 1574 kann man von einer zweiten ‚Säuberung‘ sprechen, die erneut reformierte und philippistische Amtsträger traf. Viele Superintendenten wurden auf unbedeu‐ tendere Pfarrstellen versetzt oder verließen das Land in Richtung reformierter 9.2 Hintergründe 279 117 K L E I N , Zweite Reformation in Kursachsen (1962). 118 Zusammenfassend: K L U E T I N G , Zweite Reformation (2003). Hierin auch die Kritik am Begriff ‚Zweite Reformation‘ (S. 326-331), den Klueting als unpräzise, irreführend und nicht den Quellen entspringend ablehnt. Zur Verteidigung s. S C H I L L I N G , Nochmals „Zweite Reformation“ (1996), S. 501f. Für Kursachsen wurde der Begriff früh geprägt und entsprechend oft rezipiert, sodass man ihn nur schwer fallen lassen kann. Eigentlich eignet er sich jedoch nur bedingt zur Beschreibung der Entwicklungen in Kursachsen, da es sich weder unter August, noch unter Christian I. wirklich um eine Aneignung der neuen Kirche in einem zweiten Anlauf handelte. Auch Klein, der den Begriff für Sachsen geprägt hat, wandte sich schließlich gegen eine Verwendung desselben: K L E I N , Politische oder kirchlich-religiöse Reform? (1992), S.-10f. 119 S C H I L L I N G , Nochmals „Zweite Reformation“ (1996), S.-502. 120 S C H I L L I N G , Zweite Reformation (1986), S.-422. 121 H O Y E R , calvinistische Landespolitik (1993), S. 148: „Unbestreitbar ist die Rolle des Kur‐ fürsten. Solange er lebte, gab es bestenfalls wütende Proteste, erst als er gestorben war, änderte sich alles schlagartig.“ 122 C R U S I U S , Humanismus, Philippismus und Kryptocalvinismus (2008), S. 163; N I C K L A S , Christian I. und Christian II. (2007), S.-131; B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986), S.-92. 123 S C H I L L I N G , Zweite Reformation (1986), S.-393. Territorien - so auch Philipp Seidler und Adam Rother. Nikolaus Krell wurde, trotz Einspruch des Reichskammergerichts und obwohl man ihm bis zuletzt keinen einzigen Anklagepunkt nachweisen konnte, 1601 hingerichtet. Die Ereignisse in Eisleben und Artern im Kontext der reformierten Konfessionalisierung Nachdem sie von K L E IN schon früh als „Zweite Reformation“ bezeichnet worden war, 117 verorteten vor allem B LA S C HK E und H O Y E R die Ereignisse unter Christian I. im ursprünglich von S C HIL LIN G und R E INHA R D entwickelten Konzept der (refor‐ mierten) Konfessionalisierung. 118 Das Konzept ermöglicht es, die beschriebenen Ereignisse einer „makrohistorischen Ortsbestimmung“ 119 zu unterziehen und sie in umfassendere gesellschaftliche Entwicklungen einzuordnen. Bei der reformierten Konfessionalisierung in Kursachsen unter Christian I. han‐ delte es sich um ein Elitenphänomen, das ganz vom Kurfürsten und seinen engsten Räten ausging. 120 Dies belegen zum einen der Vollzug der konfessionspolitischen Kehrtwende nach dem Tod Christians, 121 zum anderen der Widerstand gegen die Abschaffung des Taufexorzismus durch großen Teile der ländlichen, aber auch städtischen Bevölkerung nebst dem Adel. 122 Obwohl Kursachsen zur Zeit Christians bereits ein fortschrittlich entwickelter Territorialstaat war, lassen sich die Maßnahmen seiner Regierung doch als weitere Verdichtung der Staatlichkeit und als Herrschaftszentrierung verstehen. 123 Die Stärkung der fürstlichen Macht wurde vorrangig durch das Ausschalten der Landstände, des Geheimen Rats 280 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 124 Von diesen Maßnahmen her rührt die Etikettierung der Vorgänge als absolutistisch: B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986), S. 88; L A U , zweite Reformation in Kursachsen (1964), S.-152. 125 A S C H , Adel in der Frühen Neuzeit (2008), S.-163. 126 „Ein Verzicht auf die autonome Entscheidungsgewalt in kirchlichen Fragen im ei‐ genen ländlichen Herrschaftsbereich gefährdete auch unmittelbar den Anspruch auf Autorität; entsprechend heftig war die Gegenwehr gegen Versuche von Monarchen und Fürsten, noch im späten 16. Jahrhundert einseitige konfessionspolitische Entschei‐ dungen durchzusetzen.“, ebd., S.-171. 127 S I K O R A , Adel (2009), S.-87. 128 B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986), S.-86. sowie des Dresdner Oberkonsistoriums erreicht. 124 Ungleich massiver als zuvor griff die Landesherrschaft in die Kirchenpolitik und damit zugleich in lokale Herrschaftsstrukturen ein. Auch im Streit um die Eisleber Superintendentur beanspruchte der kursächsische Oberaufseher die Patronatsrechte der Grafen von Mansfeld für sich und setzte das Ministerium als regionale oberste geistliche Behörde außer Kraft. Das mit diesen Vorgängen berührte Patronatsrecht des Adels war für diesen von großer Bedeutung, da die religiösen Praktiken eng mit den Strukturen der Grundherrschaft verknüpft waren und die Kirche mit ihren Pfarrern die zweite ordnungs- und sinnstiftende Autorität neben den Grundherren bildete. Das Patronatsrecht erlaubte dem Adel, Pfarrstellen zu besetzen und somit Einfluss auf die Gemeinde zu nehmen. Die Auswahl des Pfarrers kann als ebenso wichtiges Element der Herrschaftsinszenierung verstanden werden wie etwa die Ausgestaltung des Kirchenraums durch Grabmäler, Wappen und Trophäen. 125 Entsprechend empfindlich und wehrhaft reagierte der länd‐ liche Adel im 16. Jahrhundert auf territorialherrliche Versuche, die alleinige Verfügungsgewalt in konfessionspolitischen Angelegenheit zu erlangen. 126 Im Rahmen der Reformation konnte es daher zu erbitterten Konflikten zwischen Adel und Landesherrn kommen, wenn es um die konfessionelle Ausrichtung der Gemeinden ging. Der Adel machte dabei unter Umständen „auch Geistlichen, deren Einsetzung der Landesherr durchgesetzt hatte, das Leben schwer.“ 127 Diese Einschätzung Michael S IK O R A S umreißt eine Dimension des Arterner Konflikts bereits hervorragend. Beim Machtkampf mit dem Oberaufseher um die Beset‐ zung der Superintendentur, aber auch beim Streit mit dem Arterner Pfarrer Zelck, der Parteigänger des neuen Amtsinhabers war, stritten die Grafen von Mansfeld letztlich um ihr Patronatsrecht und damit auch um ihren Einfluss auf die Gemeinden in Eisleben und Artern. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass „Konfessionsfragen […] unter den damaligen Bedingungen auch Machtfragen“ waren. 128 9.2 Hintergründe 281 129 S C H I L L I N G , Die Konfessionalisierung im Reich (1988), S.-39. 130 S C H I L L I N G , Zweite Reformation (1986), S. 429; vgl. auch C R U S I U S , Humanismus, Philip‐ pismus und Kryptocalvinismus (2008), S.-163. 131 N I S C H A N , Prince, People, and Confession (1994), S. 62f. Später sollte Joachim Friedrich als Kurfürst das reformierte Bekenntnis in Brandenburg einführen. Die Ereignisse in Eisleben und der Einsatz von Schmähschriften in Artern lassen sich innerhalb des von S C HIL LIN G beschriebenen Grundkonflikts der re‐ formierten Konfessionalisierung um einander entgegengesetzte Gesellschafts‐ modelle verorten. Dieser gestaltete sich als politisches Ringen […] zwischen der neuen Idee eines in der Souveränität des Fürsten konzentrierten Einheitsstaates und dem entgegengesetzten ständisch-liber‐ tären Staatsverständnis, das sich an der mittelalterlich dezentralisierten, durch Frei‐ heiten und abgestufte Privilegierungen charakterisierten Ordnung orientierte. 129 Der reformierten Konfessionalisierung zugewandt waren demnach [d]er auf den Fürstendienst setzende Adel, das Beamtenbürgertum inklusive Pfarrer und Prädikanten, Unternehmer, deren Aktivitäten über die „Stadtwirtschaft“ hinaus‐ gewachsen waren und die die Chancen der sich abzeichnenden Territorialwirtschaft ergreifen wollten. 130 Diesen Personenkreisen entstammten exakt diejenigen Personen, die von den Grafen von Mansfeld angefeindet oder in den Arterner Schmähschriften direkt angegriffen wurden. Neben den Mitgliedern der Landesregierung handelte es sich um die adligen Amtsinhaber Georg Vitzthum und Levin von Geusau, die reformiert gesinnten Geistlichen Adam Rother, Philipp Seidler und Johann Zelck sowie die im Kupferhandel und Bergbau aktiven Unternehmer Meyenburg. Es ist außerdem darauf zu verweisen, dass auch der ebenfalls betroffene brandenburgische Administrator des Bistums Magdeburg, Joachim Friedrich, reformierte Tendenzen entwickelte und eine aktive procalvinistische Politik betrieb. 131 Auch er war also nicht nur in Hinblick auf seine Position als Landesherr in Mansfeld, sondern auch durch seine konfessionelle Haltung zum Feind der Grafen geworden. Auf der Seite letzterer stand hingegen die lutherische Geistlichkeit der Grafschaft, inklusive des orthodox-lutherischen Superintendenten Georg Autumnus. Zu vermuten ist darüber hinaus eine die reformierten Ideen ablehnende Bevölkerungsmehrheit - allerdings finden sich diesbezüglich keine Hinweise in den Quellen. In der Arterner Schmähschriftenkampagne verbinden sich persönliche, af‐ fektgeladene Motive mit gesellschaftshistorischen Wandlungsprozessen sowie politischen und konfessionellen Großkonfliktlagen. Sie verdeutlicht damit 282 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 132 Vgl. ebd., S.-73. 133 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *1 r . Die Lage des Hauses geht aus der Aussage hervor, dass einer der ‚Zettel‘ ebenfalls vor dem Haus, „vor dem stuben fenster ladenn, nachen Markte zu“ gefunden wurde, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *51 r . 134 Die Trennlinie zwischen Broschüre beziehungsweise Flugschrift und Buch wurde lange mit 64 Seiten angegeben, die UNESCO hat mittlerweile aber eine Grenze von 49 Seiten festgelegt, s. W Ü R G L E R , Medien in der Frühen Neuzeit (2013), S.-101. einmal mehr die epochenspezifische Untrennbarkeit von Politik und Konfes‐ sion, aber auch von Kalkül und religions- und identitätsbezogener Emotion. 132 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und reformierter Konfessionalisierung Die einleitende Beschreibung hat bereits deutlich gemacht, dass das Auffinden des Colloquiums und der anderen Schmäh- und Drohschriften in Artern bei verschiedenen Amtsinhabern in Mansfeld und Dresden größte Besorgnis und in der Konsequenz starke Reaktionen auslösten. Die Wirkung der Schmähschriften ergab sich aus ihren Inhalten, ihren Beziehungen zueinander und ihrer Verbin‐ dung zu den beschriebenen politischen und privaten Konflikten in Mansfeld, Eisleben und Artern. Im Zentrum stand das Colloquium als längste und qualitativ anspruchsvollste Schrift, deren Bezüge zu den Konflikten vielfältig sind und der Erklärung bedürfen. Um dieses Zentrum herum lassen sich die übrigen Gedichte und Schmähzettel verorten, die ihre Bedeutung vor allem durch den Bezug auf das Colloquium erlangten und nur im Zusammenhang mit diesem zu verstehen sind. 9.3.1 Das Colloquium Das Colloquium, das den Startschuss für die kurfürstlichen Untersuchungen gab, wurde am 30. November 1590 am Haus der Brüder Caspar und Michael Meyenburg gefunden. Das Haus war an prominenter Stelle am Arterner Markt und in unmittelbarer Nähe zum Rathaus gelegen. 133 Die im Original vorliegende, handschriftlich angefertigte Broschüre hat Duodezformat, also zwölf Blätter beziehungsweise 24 Seiten, und entspricht damit von der Länge her einer typischen Flugschrift. 134 Das Titelblatt ist ohne Verzierungen gestaltet und trägt die Zeilen: 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 283 135 K A U F M A N N , Anonyme Flugschriften (1998), Zitat S.-194; vgl. Kap. 6.2. 136 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-25f. Ein colloquium, so sich zvisch en einem mansfeldisch en und landboten uf der strassen be geben, anno .90. Es kündigt also einen Dialog zwischen zwei Boten an, die in mansfeldischen beziehungsweise kursächsischen Diensten stehen. Hinweise auf einen skan‐ dalösen Inhalt fehlen. Wer das Büchlein auf der Straße fand, konnte also aufgrund der anonymen öffentlichen Verbreitung skeptisch werden, musste es jedoch erst lesen, um sein invektives Potential zu erkennen. Mit 22 relativ dicht beschriebenen Seiten war es aber nicht dazu geeignet, gleichsam im Vorübergehen überflogen zu werden - es war zur gezielten Lektüre verfasst. Anonym verfasste Dialoge mit fiktiven Figuren waren seit der Frührefor‐ mation fester Bestandteil der frühneuzeitlichen Publikationslandschaft. Wie bereits erwähnt, werden sie von Thomas K AU F MAN N als „literarische Akte einer gezielten Parteinahme“ betrachtet, die als Ausdruck öffentlicher Meinung inszeniert wurden. 135 Auch der Autor des Colloquiums gab explizit vor, auf Seiten des ‚Gemeinen Mannes‘ zu stehen. In dem in Paarreimen verfassten Dialog des Colloquiums richten die beiden Boten abwechselnd das Wort aneinander. Die Reimqualität, eine gehobene, lateinische Ausdrücke umfassende Wortwahl, Orthografie und die Länge des Gedichts lassen auf einen geübten und gebildeten Schreiber schließen und legen damit eine Auftragsarbeit nahe. Zudem wusste der Schreiber über die Vorgänge im sequestrierten Teil Mansfelds überaus gut Bescheid, wie die inhaltliche Analyse zeigt. Inhalt und Verortung im Konflikt Die Situation, in der sich der Dialog entfaltet, besteht aus einem zufälligen Treffen der beiden Boten, die sich zunächst freundlich gesinnt sind. An die Begrüßung und die Frage nach den aktuellen Neuigkeiten schließen zwei Abschnitte an, in denen die Rollenverteilung festgelegt wird. Der Mansfelder erscheint als Ankläger, der die ihrem Stand unwürdige Lebenssituation und die Armut seiner Herren beklagt und den Kurfürsten für selbige verantwortlich macht, da dieser die Grafen ihrer Einnahmen beraubt habe, um ihnen wie ein boser christ nur die bonen zu lassen. 136 Sein Handeln wird als unrechtmäßig, 284 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 137 Ebd., Z.-28f., 43. 138 Ebd., Z.-20, 22. 139 Ebd., Z.-328f. 140 Vgl. Kap. 8.4. 141 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-34-38. 142 Ebd., Z.-94-96. 143 Ebd., Z.-334, 361-364. 144 Ebd., Z.-185. 145 Ebd., Z.-129f. 146 Ebd., Z.-160. bösartig, gewaltsam und scheinheilig bezeichnet. 137 Die Grafen hingegen be‐ schreibt der Bote als gute Christen, die auch in ihrer unverschuldeten Not gerecht seien und ihm doch willig unt gern seinen guten lon zahlten. 138 Er berichtet nicht als unbeteiligter Dritter, sondern bezieht selbst und explizit auf Seiten der Grafen Stellung. Von seiner Schilderung der beklagenswerten Umstände in der Grafschaft Mansfeld geht er dazu über, von den Plänen eines Anschlags auf den Kurfürsten zu berichten und eine Drohung zu vermitteln. Gegen Ende offenbart er, dass er ausgesandt worden sei, ein geschrey entstehen zu lassen, das wiederum zu einem gegen den Kurfürsten gerichteten Aufruhr in der sequestrierten Grafschaft führen solle. 139 Das Colloquium tangierte also in ähnlicher Weise wie der Pasquillus des Johann Offneyer verbreitete Sorgen der Obrigkeit vor Unruhe und lieferte durch die vorgebrachten Vorwürfe und die Darstellung des Kurfürsten als tyrannischem und unchristlichen Herrscher zugleich die legitimatorische Grundlage. 140 Der Landbote agiert hingegen deutlich passiver. Er verteidigt den Kur‐ fürsten und stellt dessen Handeln in Bezug auf die Sequestration als juristisch rechtmäßig und ehrlich in dem Sinn dar, dass keine böswilligen Absichten bestünden. 141 In dem Maße, in dem die Anschuldigungen des Mansfelders an Drastik zunehmen, steigt auch die Aversion des Landboten. Zu Anfangs warnt er sein Gegenüber noch, dass ihm für seine Worte die Todesstrafe drohen könnte. 142 Schließlich geht er dazu über, den Mansfelder zu verfluchen und ihm St. Valentins Leiden, also wohl Epilepsie, zu wünschen. 143 Der Grund für die heftige Reaktion des Landboten und seine Ablehnung der Worte des gräflichen Boten findet sich in der als widernatürlich bezeichneten Schmähung und Bedrohung der Obrigkeiten. 144 Er betont die hohe Geburt Christians I. und Joachim Fried‐ richs 145 und damit die Verwerflichkeit - und zugleich strafrechtliche Relevanz - der Schmähung solcher gros potentaten. 146 Schon aus der Schmähschrift selbst heraus wird also deutlich, dass die Frage nach der Zielperson eine der zentralen Kriterien ihrer Bewertung darstellte. 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 285 147 Ebd., Z.-43-45. 148 Ebd., Z. 208-211. Mit der Jagd war ein zentrales Herrschaftsrecht angesprochen, das in Sachsen ausschließlich dem Landesherrn zustand und mit der Demonstration von Herrschaft insgesamt verknüpft war. Vgl. L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-130. 149 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-348-353. Als Sprecherfigur agiert der Mansfelder Bote an der Schnittstelle von ‚Gemeinem Mann‘ und den Grafen von Mansfeld als seinen Dienstherren. Er ermöglicht somit die Integration der herrschaftlich-gräflichen Interessen und denen der Untertan: innen des Kurfürsten in einer Stimme. Zumindest auf den ersten Blick bemerkenswert erscheint die Ausgewogenheit der beiden Sprecherfiguren des Colloquiums; der Text ermöglicht es dem Publikum theoretisch, beiden Positionen zuzustimmen. So konnte die vorgebrachte Verteidigung des Kurfürsten durch den Landboten als blanker Hohn, die Anschuldigungen des mansfeldischen Boten aber genauso gut als haltlos oder zumindest übertrieben und er selbst als bösartig und kriminell angesehen werden. Die Interpretation des Textes hing von der bereits bestehenden Position und dem Wissensstand der Rezipierenden ab. Allerdings sprechen der Entstehungs‐ kontext als Auftragsarbeit der Grafen von Mansfeld, die empfindliche Reaktion der Landesregierung und die Gewichtung der Sprechanteile (der Mansfelder Bote erhielt deutlich mehr Raum zur Entfaltung seiner Position) für eine Überbetonung der Sichtweise der Klageführenden. Die von Mansfelder Seite vorgebrachten Beschwerdepunkte entstammen einer‐ seits dem Kontext des Sequestrationsverfahrens und den daraus entstehenden Konflikten und andererseits dem konkreten Ereignis der erzwungenen Einsetzung des Eisleber Superintendenten im Oktober 1590. Die Schmähschrift lässt sich über die entsprechenden Verweise präzise in beiden Konfliktfeldern und darüber hinaus auch innerhalb der Vorgänge in der Stadt Artern verorten. Die Beschneidung der herrschaftlichen Rechte, die Einziehung aller Ein‐ nahmen sowie die eidliche Bindung aller Untertan: innen der Grafschaft Mans‐ feld an den Kurfürsten von Sachsen beziehungsweise den Administrator des Erzstifts von Magdeburg im Rahmen der Sequestration bilden den Hintergrund der Beschwerden des gräflichen Boten im Colloquium. Als geraubte Güter werden Bergwerke, Schlösser, Städte, Dörfer und ‚große Häuser’ genannt. 147 Darüber hinaus sei den Grafen die Holzung in den Wäldern sowie die Jagd auf Wild und Vögel verboten worden. 148 Wenn davon die Rede ist, dass Admi‐ nistrator Joachim Friedrich als rechter grafen feint allen Mansfelder Herren befohlen habe, sich an niemand anderen zu halten, als an den Eisleber Superin‐ tendenten und die Anhänger des Kurfürsten, so ist dies eine Klage über eine Verkehrung der Herrschaftsbeziehungen und zugleich ein Verweis auf den Streit im Oktober 1590. 149 286 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 150 Ebd., Z.-197. 151 Ebd., Z.-219-223. 152 Ebd., Z.-234-252. Im Text werden neben den strukturellen, sequestrationsbezogenen, auch explizite, persönliche Kränkungen der Grafen angesprochen, deren Bedeutung stärker vom wahrgenommenen Ehrverlust herrührte als von den konkreten wirtschaftlichen und juristischen Einschränkungen. Zu diesen persönlichen Kränkungen zählt das angesprochene Verbot der Jagd in den Mansfelder Wäl‐ dern, war die Jagd doch als adliges Privileg ein wichtiges Distinktionsmerkmal. Daneben verbiete man ihnen angeblich den Zutritt zu denjenigen Ämtern, über die sie zuvor verfügt hatten, 150 und gewähre ihnen keinen Einlass in die Städte der Grafschaft, wenn sie zu später Stunde dort ankommen. Hier enthält die Schmähschrift zudem den Verweis auf ein konkretes Ereignis, nämlich auf eine Abweisung Graf Philipps vor einem der Stadttore. 151 Als zentrales Ereignis erscheint die Einsetzung des Superintendenten Seidler. In dem Vorgang laufen die Stränge politischer, also die Herrschaft über die Grafschaft betreffender, konfessioneller und persönlicher Konflikte weitestge‐ hend zusammen: er hat genommen der grafn geistlic iurisdiction unt al ir zustehent confirmation, unt irn eingefurten superintendenten mit gewalt unt unrecht abgetrieben unt ein andern neulich eingesazt, der von den hern nicht erwelet ist, das ist mit grosem gepreng geschen das es hat vil lantschaft gesen, dazu der churfurst zu Sachsen vil hern aufgeraft auf der strasen, auch ein groser anzal loser pfaffen bettler edeleut unt ander affen unt den lamen man ordinirt unt inen mit gewalt confirmirt, auch die Mansfeldischen predicanten unt all derselben superintendenten hat er gezogen zu solchem tun das wirt zuweg bringen gros unruh dies ist geschen durchn falchschen ordinarium 152 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 287 153 Seidler mussten angeblich sogar Teile des Mundes herausgeschnitten werden, s. B I E R I N G E N , Clerus Mansfeldicus (1742), S.-23. 154 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-270. 155 Ebd., Z. 72-76. Die im Gedicht genannte Aufteilung des Amtes Artern unter Oberauf‐ seher Georg Vitzthum, Amthauptmann Levin von Geusau und Pfarrer Johann Zelck auf der einen und den Brüdern Meyenburg auf der anderen Seite lässt sich über die Literatur nicht nachvollziehen. Allerdings verweisen die Quellen bezüglich der Schulden der Grafen bei den Meyenburgs darauf, dass ihnen eines der Ämter zur Nutzung verpfändet worden war, vgl. etwa die Klage Michael und Caspar Meyenburgs wegen ausstehender Schuldforderungen an die Grafen von Mansfeld: HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09751/ 14. 156 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-82-87. 157 Für eine Schmähschrift, die sich ebenfalls gegen die kurfürstliche Steuerpolitik, aller‐ dings unter August, richtete, s. R O S E , Herr Niemand (2021). Der Text prangert die unrechtmäßige Beschneidung des ius patronatus der Grafen inklusive ihres Bestätigungsrechts (confirmation) an. Der von ihnen zunächst eingeführte Superintendent Georg Autumnus sei zu Unrecht abge‐ trieben und an seiner Stelle ein lamer mann ordiniert worden, womit Philipp Seidler gemeint ist, der offenbar an ‚Mundfäule‘ litt. 153 Auch die Rolle des Superintendenten von Merseburg, Adam Rother, wird angesprochen. 154 Beson‐ dere Betonung erfährt die Tatsache, dass die Vorgänge vor einem extra dazu heranzitierten Publikum stattgefunden hätten. Dieses Publikum war demnach nicht nur groß (vil lantschaft), sondern auch divers in Bezug auf die soziale Position der Anwesenden; unter diesen befanden sich Herren und Edelleute, aber auch los[e] pfaffen und Bettelnde. Räumlich wird ein Bezug hergestellt zur Straße als charakteristischem Ort frühneuzeitlicher Öffentlichkeit und diese damit als konstitutiv für die Herabsetzungerfahrung gekennzeichnet. Andere Beschwerden beziehen sich auf die neu eingesetzte Verwaltung der Grafschaft und die Situation ihrer Einwohner: innen. Dabei zeichnet der Autor ein klares Feindbild: Die neue Verwaltung sei ungerecht, führe zu wirtschaftli‐ cher Not sowie allgemeiner Zerrüttung der Landschaft und gehe einher mit teils gewalttätigen Übergriffen gegen die einfachen Leute. Die Verschlechterung der Verhältnisse begann demnach bereits mit der Aufteilung des zuvor durch die Grafen gemeinsam verwalteten Amtes Artern. 155 Der Text wirft allen vom Kurfürsten eingesetzten Verwaltern vor, durch persönliche Bereicherung das Amt verwüstet zu haben. Darüber hinaus werden Probleme in Bezug auf die Arbeit der Gerichte moniert sowie der von Gewalt geprägte Umgang mit den Einwohner: innen. 156 Zudem beklagt der Mansfelder Bote die hohen Steuern, mit denen das Land seit der Sequestration beschwert würde. 157 Damit wird neben der wirtschaftlichen Situation der Grafen auch diejenige des ‚Gemeinen Mannes‘ 288 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 158 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-289-291. 159 Vgl. zum legitimatorischen Potential von Schmähschriften auch Kap. 8.3.4. 160 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-314-321. zum Motiv und die Stimme des Boten zur vox populi, schließlich verkünde er, was das volk in allen landen klage. 158 Wenn es auch nicht darum gehen kann, den Wahrheitsgehalt der in der Schmähschrift vorgebrachten Kritik zu bemessen, so ist zumindest anzumerken, dass auch zu diesen Vorwürfen realweltliche Bezugspunkte existieren. Diese finden sich in der genannten Erhöhung der Steuern der Städte und in den Konflikten mit den Bergarbeitern. Für Konflikte im Zusammenhang mit den eingesetzten Richtern gibt es zudem Hinweise in Form der zwei Lieder, die im Umfeld der Schmähschriftenkampagne aufgetaucht waren und deren Bezug zum Colloquium noch zu thematisieren ist. Das Colloquium stellt, anders als die folgenden Schmähschriften, in weiten Teilen somit eher eine Erzählung von Herabsetzungen als eine explizite Schmä‐ hung dar. Dieser Erzählung war, wie so vielen Schmähschriften, der Vorwurf des Normbruchs inhärent, der als Appell an die Allgemeinheit fungierte, sich gegen den Landesherrn aufzulehnen und den unfairen und der guten Ordnung zuwiderlaufenden Zuständen abzuhelfen. Auch dieses Pasquill stellt sich also implizit in den Dienst des Gemeinen Nutzens. Gegen Ende geht der Text in handfeste Drohungen über. Die vorherigen, stärker inhaltlich argumentierenden Abschnitte bilden gleichsam den Hinter‐ grund der nun folgenden Angriffe: Indem sie die unrechtmäßige ‚Tyrannei‘ und das unchristliche Verhalten der Fürsten zur Sprache bringen, erfüllen sie eine legitimatorische Funktion für die als Form des Widerstands zu verstehenden Drohungen. 159 Diese richten sich zunächst gegen Kurfürst Christian I., dessen Übermut durch einen Giftmord gebrochen werden solle. Hierzu habe sich auch bereits ein Täter gefunden: sich beraten mit allem fleis wi sie dem churfursten bringen speis dardurch gesturzt wirt sein ubermut unt gelegt sein gros unruh die er angericht im Mansfeltisch lant in steten dorfern unt allenthalb es hat sic einer zu dinst begeben der oder ander, wirts uben merks eben 160 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 289 161 Ebd., Z.-358. Christian I. verstarb im Folgejahr tatsächlich während eines Jagdausflugs und die Zeitgenoss: innen befürchteten eine Vergiftung des Kurfürsten; sogar der Königin von England wurden entsprechende Befürchtungen mitgeteilt. Allerdings rekonstruiert Klein, dass es sich bei den Beschwerden wohl nicht um eine Vergiftung, sondern um ein krankhaftes Magenleiden handelte, wahrscheinlich hervorgerufen durch Christians andauernde Alkoholexzesse. S. K L E I N , Zweite Reformation in Kurs‐ achsen (1962), S.-18, Anm. 54. 162 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-368-371. 163 Z W I E R L E I N , Der gezähmte Prometheus (2011), S. 73, zur Häufigkeit von Stadtbränden im deutschsprachigen Raum bis zum 18.-Jahrhundert S.-78-93. 164 Ebd., S.-104-110; S C R I B N E R , Mordbrenner Fear (1988). 165 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-310f. 166 Ebd., Z.-336-339. Sollte der Plan scheitern, würde den Fürsten in ihren Schlössern oder bei der Jagd aufgelauert werden. 161 Wenn alles nichts helfe, gehe man zur Brandstiftung über. 162 Mit der letzten Drohung, die im darauffolgenden Jahr in Artern in die Tat umgesetzt werden sollte, spielte der Autor offensichtlich mit der zu dieser Zeit grassierenden Angst vor Stadtbränden und ‚Mordbrennern‘. Flächengroßbrände schwebten als größte der alltäglichen Sorgen der Bürgerschaft einem Damo‐ klesschwert gleich über den Städten. 163 Brandstiftung als Waffe im politischen Konflikt, ein Element niederadliger Fehdeführung vor allem gegen Städte, aber auch als Drohmittel in Streitigkeiten innerhalb der Bürgerschaft war eine prä‐ sente Furcht sowohl der Untertan: innen als auch der Obrigkeit. 164 Zusätzlich zu Mord und Brand offenbarte sich der Bote am Ende des Colloquiums als Anstifter eines im ganzen Land erschallenden geschreis gegen die Fürsten. 165 Zu diesem Zweck solle auch der Landbote die Informationen, die er nun erhalten habe, mit jedermann teilen. 166 Da dem Geschrei eine akute Handlungsaufforderung innewohnte, sprach es die weit verbreitete Sorge vor Aufruhr an und ist als zusätzliche Drohung zu werten. Es stellt sich die Frage nach der Motivation der Auftraggeber: Welchem Ziel diente diese Provokation der öffentlichen Verkündung eines Mordkomplotts durch die Grafen von Mansfeld? Die direkte Nennung der Betroffenen, das Ausnutzen allgegenwärtiger Ängste bezüglich Mordbrand und Verschwörung in Verbindung mit der durch den Einbezug der Öffentlichkeit hervorgerufenen Ehrkränkung der Fürsten mussten Reaktionen hervorrufen. Durch die Nennung der Auftraggeber war zudem klar, gegen wen sich diese Reaktionen richten würden, die Grafen von Mansfeld hatten sich gewissermaßen selbst in die Schusslinie gerückt. Die Schrift endet mit der Anweisung an den Landboten, zum Kurfürsten zu gehen und ihm von allem zu berichten, was er gerade erfahren habe. In den letzten Zeilen durchbricht der Bote sogar die vierte 290 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 167 Ebd., Z.-394. 168 Vgl. Kap. 2.3.2. 169 Zettel III (Anh. 2.10), Z.-12-16. 170 Zettel I (Anh. 2.8), Z.-19-24. 171 Eine entsprechende Funktion des Anzeigens von Majestätsverbrechen, nämlich die Weiterleitung von Informationen über Konflikte an die zentrale Regierung des Landes, konstatiert auch Rustemeyer für das frühneuzeitliche Russland: R U S T E M E Y E R , Dissens und Ehre (2006), S.-19, 137-158. Wand, indem er auf diß gedicht, 167 also den geführten Dialog verweist. Auf diese Weise verschwimmen die Rollen von Landbote und Lesenden und der Text ruft auch letztere dazu auf, die Nachricht weiterzuverbreiten. Damit ist zunächst grundlegend der Zusammenhang von Öffentlichkeit und Recht angesprochen: Die Veröffentlichung der Missetaten bildete die Grundlage dafür, Gerechtigkeit wiederherzustellen. 168 Gerade im Aufruf, den Inhalt vor allem dem Kurfürsten zukommen zu lassen, ist aber wohl die konkrete Motivation für die Verfassung des Colloquiums zu sehen. Dieselbe Aufforderung, ebenfalls verbunden mit der Androhung von Brandstiftung, findet sich in den zwei Schmähzetteln, die etwa ein halbes Jahr nach dem Colloquium in Artern auftauchten: ihr hern von Artern ir sit verwarnt die lieder unt brif vom churfursten unt rat unt ambtleuten an churfursten geben ihr hats nicht tun unt tut noch ir solt verbrant sein balt. 169 unt so dus rath zu Artern verdruken wirst unt dis unt vorigs dem churfursten senden nicht sich wie du in kurz solt sein mit al deim guet verbrennen durchs feur nimbstus aber zur warnung ahn all das dein sol bleiben stan. 170 Das Ziel der beiden Schmähzettel und mutmaßlich auch des Colloquiums war es, die Texte inklusive der Kritik und der enthaltenen Schmähungen an die Landesregierung weiterreichen zu lassen. 171 Eine Funktion der Schmähschriften war demnach die anonyme Provokation und die Erregung von Aufmerksamkeit zum Zweck der Selbsthilfe. Diese Funktion erfüllten die Schmähschriften auch deshalb, weil gerade in der gegebenen Situation legitime Kommunikationska‐ näle und Institutionen zur Ventilation von Beschwerden und zum Konfliktaus‐ trag fehlten. Schließlich hatten die von den Grafen beschrittenen Wege, über Reichskammergericht und Supplikationswesen zu ihrem Recht, also zur Rücker‐ langung ihrer Herrschaftsrechte und ihrer Reichsunmittelbarkeit, zu gelangen, aus ihrer Sicht zu keinem Erfolg geführt und war auch der Landtag als wichtigste Institution adliger Beschwerdeführung seit 1588 nicht mehr einberufen worden. Mit einigem Grund kann man also davon ausgehen, dass die Mansfelder Grafen ein Recht auf die Nutzung traditionell bestehender Kommunikationswege verletzt sahen, vergleichbar mit dem bereits genannten ‚Fundamentalrecht des 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 291 172 Vgl. Kap. 8.1. 173 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-342-347. 174 Ebd., Z.-75, 121, 146, 212, 253. E B R U Y , Grafschaft Mansfeld (1991), S.-22. 175 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-212. 176 T R Y L L E R , Genealogia Trylleriana (1593), S.-13. Gehör-Findens‘ (B R AK E N S I E K ) in der Kommunikation zwischen Untertan: innen und Obrigkeit. 172 Aber erst die Herabsetzungserfahrungen der unmittelbaren Vergangenheit können erklären, warum sich die Grafen offenbar genötigt und in gewisser Weise legitimiert fühlten, eine derartige Schmähschriftenkampagne zu führen. Auf die Frage, welche Reaktion man sich vom Kurfürsten erhoffte, geben die Pasquille selbst keine direkte Antwort, jedoch finden sich Indizien. Der Schlussteil des Colloquiums beinhaltet neben den Drohungen auch Verweise auf den vergeblichen Versuch der Grafen, den Rechtsweg einzuschlagen. 173 Dies lässt die Vermutung zu, dass sich die Auftraggeber der Schmähschrift erhofften, dass der Kurfürst, sollten ihm die unerhörten Texte gegen seine Person zuge‐ spielt werden, auf selbige mittels eines Prozesses vor dem Reichskammergericht reagieren würde. Es würde sich somit um den Versuch handeln, den Konflikt nicht nur zu dynamisieren, sondern ihn in die Arena des Gerichts zu verlagern. Damit lägen funktionale Parallelen zu den Fällen des Andreas Langener und auch des Johannes Offneyer vor. Benannte Personen und die Konstruktion von Gruppen Die Situation der Grafen war bedingt durch die Sequestration ohnehin un‐ günstig und hatte sich kurz vor der Veröffentlichung des Colloquiums noch einmal zugespitzt, was in diesem dahingehend seinen Niederschlag findet, dass der Bote als Schuldigen neben dem Kurfürsten vor allem den erst im Vorjahr zum Oberaufseher ernannten Georg Vitzthum benennt. 174 Mit der Kritik an Vitzthum ist ein wichtiger Punkt der Beschwerden angesprochen: die Ämterbesetzung durch den Kurfürsten. In der Tat wird nicht nur der Oberaufseher namentlich bezichtigt, sondern auch weitere Amtsträger auf territorialer, regionaler und lo‐ kaler Ebene. Auf Landesebene betrifft dies neben dem Kurfürsten den Landrent‐ meister Caspar Tryller. 175 Tryller war zugleich Oberaufseher der kursächsischen Bergwerke und damit auch der in kurfürstliche Verwaltung übergegangenen Bergwerke der Grafschaft Mansfeld. Zuvor hatte er als Sangerhausener Amts‐ chösser von 1571 bis 1586 das dortige Kupferbergwerk sowie das Salzwerk in Artern verwaltet. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen berichtet er von nicht wenig mühe, sorge, und gefahr, 176 die ihm diese Arbeit bereitet habe - ein Verweis auf handfeste Konflikte mit den Grafen. Auf der Ebene 292 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 177 Colloquium (Anh. 2.7), Z.-75, 121, 213. 178 Ebd., Z.-236, 246, 352. 179 Ebd., Z.-76, 214. 180 Ebd., Z.-75. 181 Ebd., Z.-122. 182 W O L F , Geschichte des Geschlechts von Hardenberg (1823), S.-236f. 183 Die Konflikte mit Meyenburg und Blanckenburg wurden bereits im Eisleber Abschied von 1588 thematisiert: Eisleber Abschied 1588, S.-235-237. 184 K A W E R A U , Art. „Meienburg, Michael“ (1906). 185 L Ü C K E , Reichskammergericht (2008), S.-55-58. 186 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09751/ 14. der Grafschaft war neben Vitzthum auch Amthauptmann Levin von Geusau 177 betroffen. Hinzu kommt der Superintendent Adam Seidler. 178 Auf der Ebene der Ämter Artern und Voigtstet werden die Brüder Meyenburg 179 genannt, daneben ein pfaff[e] 180 , womit der Arterner Pfarrer Johann Zelck gemeint ist. Außerdem kann Jacob von Blanckenburg 181 identifiziert werden, einer der Gläubiger der Grafen. Ist der Angriff auf die kurfürstlichen Amtsinhaber aus der Umverteilung der Herrschaftsrechte zu verstehen, so rückten Jacob von Blanckenburg, die Familie Meyenburg und die beiden Geistlichen jeweils in einer doppelten Funktion ins Fadenkreuz. Blanckenburg hatte den Grafen 1561 einen Kredit über 14.000 Gulden gewährt und war 1580 aufgrund der Zahlungsunfähig‐ keit seiner Schuldner in das zuvor verpfändete Amt Wiederstedt eingesetzt worden. 182 In ähnlicher Weise hatte Michael Meyenburg als Gläubiger der Grafen mutmaßlich die Rechte an einer Hälfte des Amtes Artern als Pfand zugesprochen bekommen. 183 Damit gehörte er, wie auch Geusau, Vitzthum und Tryller, zur neuen Führungsschicht in Mansfeld und besaß Rechte, die zuvor die Grafen innegehabt hatten. Bereits sein Vater Michael d. Ä. (1491- 1555), 184 Bürgermeister von Nordhausen und ein Freund Martin Luthers, war als Teilhaber einer Hütte im Mansfelder Bergbau aktiv gewesen und zum Gläubiger der Grafen geworden. Aus diesem Grund traten sowohl Michael und sein Bruder Caspar als auch die Männer ihrer beiden Schwestern als Erben des Vaters bereits in den Jahren vor 1580 als Kläger vor dem Reichskammergericht auf, wo sie Margarete von Mansfeld-Hinterort zur Zahlung der Schulden ihres Mannes aufforderten. 185 Aber auch die Arterner Linie war bei den Meyenburgs in erheblichem Maß verschuldet. Schon 1559 sahen sich die von Mansfeld-Artern gezwungen, Michael und Caspar zur Sicherung ihrer Schulden Güter im Wert von mindestens 32.000 Gulden zu verpachten. Und noch 1602 beschwerten sich die beiden Brüder bei Kurfürst Christian II. darüber, dass ihnen die Grafen die ihnen zur Deckung ihrer Ausstände übertragenen Güter vorenthalten würden. 186 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 293 187 Jay Goodale bezeichnet sächsische Pfarrer im Reformationszeitalter als „ein Instrument der sich verstärkenden Staatsmacht“, G O O D A L E , Pfarrer als Außenseiter (1999), S. 191; ganz ähnlich: S A B E A N , Das zweischneidige Schwert (1990), S.-135-168. 188 Zettel II (Anh. 2.9), Z. 1f. 189 Zettel III (Anh. 2.10), Z. 7f. 190 Vgl. dazu die Ausführungen Schlögls, der die Fähigkeit des Drucks, aber auch der Schrift allgemein hervorhebt, Einzelereignisse (erster Ordnung) oder Geschehnisse über Kausalitätsbeziehungen zu verketten und in einen Sinnzusammenhang zu stellen, Der Streit mit Michael Meyenburg bestand also bereits vor der Sequestration und wurde durch diese verschärft. Ebenfalls in einer Doppelrolle befanden sich die angesprochenen Geistlichen Seidler und Zelck. Einerseits stellten sie als vor Ort tätige Pfarrer den verlän‐ gerten Arm kurfürstlicher Herrschaft dar. 187 Andererseits standen Superinten‐ dent Seidler direkt und Pfarrer Zelck mittelbar mit den invektiven Ereignissen im Herbst 1589 in Verbindung und erschienen damit ohnehin als personae non gratae. Wie sehr sich der Unmut der Grafen gerade gegen Zelck richtete, zeigt auch der Mietshauskonflikt, die groteske Episode vor dem Stadttor und zwei der auf das Colloquium folgenden Zettel, die ihn explizit mit dem Tod bedrohten. Die Schmähschrift diente somit durchaus der Herabsetzung einzelner, na‐ mentlich genannter Personen, die in Verbindung zum sächsischen Kurfürsten standen und in unterschiedlicher Weise an der durch die Sequestration neu eingesetzten Verwaltung der Grafschaft partizipierten, in Verbindung zur zwangsweisen Einsetzung des Superintendenten Seidler in Eisleben standen, eine reformierte Gesinnung hatten oder in individuelle Streitigkeiten mit den Grafen um Schulden und die Verwendung eines Mietshauses in Artern involviert waren. Schon in der Konstellation der vom Colloquium Betroffenen offenbart sich also die Durchmischung ganz unterschiedlich gelagerter Konfliktlinien, die wiederum kaum in politische und persönliche zu trennen sind, zumal sie auf der alles durchdringenden, tiefempfundenen Herabsetzung der Grafen beruhten. Die Erzählung impliziert darüber hinaus, dass sich all diejenigen, die sich nicht gegen die Fürsten wandten, auf der unrechten Seiten befänden. Dem entsprechen auch die in den auf das Colloquium folgenden Zetteln verwendeten Bezeichnungen du churfursten pfaff, du supertentischer [= superintendentischer] aff 188 oder ir beide schelmen churfurstliche diebe. 189 Über die Anfeindung ein‐ zelner Männer hinaus konstruiert das Colloquium also zwei sich klar gegenüber‐ stehende Gruppen, indem es einen Wahrnehmungszusammenhang postuliert, der die einzelnen Ereignisse um die Sequestration, die reformierte Konfessiona‐ lisierung und die Schulden der Grafen zusammenfasst und zum Teil einer Ge‐ schichte macht, innerhalb derer Täter- und Opferrollen klar verteilt sind. 190 Die Schmähschrift schafft also einen Deutungsrahmen: Sie definiert und artikuliert 294 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft sie also zu Ereignissen zweiter Ordnung zu verdichten: S C H L Ö G L , Anwesende und Abwesende (2014), S.-77f., 92-94. 191 Andreas Würgler spricht diesbezüglich vom „Kampf um die Benennungsmacht“, W Ü R G L E R , Unruhen und Öffentlichkeit (1995), S. 153. Grundlegend zu derartigen Deutungsrahmen weiterhin: G O F F M A N , Rahmen-Analyse (2018). 192 Dieses Datum ergibt sich aus der Beschreibung in einem Brief Joachim Friedrichs, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *3 r . 193 Zettel I (Anh. 2.8), Z. 17; tatsächlich war seine Ehefrau Sophie von Brandenburg, Halbschwester des magdeburgischen Administrators Joachim Friedrich, zu diesem die Positionen der involvierten Akteure, lädt Geschehnisse und Erfahrungen mit Bedeutung auf und stellt Verbindungen zwischen Einzelereignissen her. 191 9.3.2 Die übrigen Schmähschriften Die übrigen Schriften der Arterner Schmähkampagne bezogen sich verschieden stark auf die unterschiedlichen Konfliktlagen. Sie standen aber in einer direkten Beziehung zueinander, die sich über die Auftraggeber, die Einordnung der ange‐ griffenen Personen in die konstruierten Gruppen und inhaltliche Schnittmengen ergibt. Die Zettel Bei den sogenannten Zetteln handelt es sich um mindestens vier kurze anonyme Schriften, die nach dem Colloquium in Artern auftauchten. Drei von ihnen sind überliefert, der fehlende ist nur aus Referenzen in den Untersuchungsakten bekannt. Die Schmähschriften wurden von gleicher Hand geschrieben und richteten sich gegen Pfarrer Zelck sowie den Arterner Stadtrat. Zettel I tauchte am 22. November 1590 direkt im Anschluss an das Colloquium auf. 192 Er wurde an das Stubenfenster des meyenburgischen Hauses gesteckt und vom Diener Wenzel Görtler entdeckt. Der Auffindungskontext entspricht somit dem des Colloquiums und das Haus am Marktplatz blieb der zentrale Ort der Schmähkampagne. Es handelt sich um ein einfaches Gedicht in unbeholfenen Paarreimen ohne Strophenbildung. Der Zettel stellt ausdrücklich einen Bezug zu zwey gedicht[en] her, womit vermutlich eines der Lieder sowie das Colloquium gemeint sind. An letzteres schließt er auch inhaltlich an, indem er noch einmal den gewaltsamen Betrug durch Kurfürst, Administrator und die neu einge‐ setzten Amtsleute betont. Zudem konkretisiert der Text die Morddrohung gegen Christian I., indem er als Datum des Anschlags die Taufe seiner Tochter angibt - ein in Anbetracht des bereits angesprochenen Konflikts um die Abschaffung des Taufexorzismus als Teil der kurfürstlichen Hinwendung zum reformierten Glauben besonders symbolträchtiger Anlass. 193 Die Schmähschrift schließt mit 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 295 Zeitpunkt schwanger. Im Januar 1591 wurde ihre Tochter Dorothea geboren. Vgl. B L A S C H K E , Religion und Politik in Kursachsen (1986), S.-88. 194 Zettel I (Anh. 2.8), Z.-22. 195 Angaben auf der Rückseite des Originals, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *35 v . 196 Das Auftauchen von Zettel III lässt sich lediglich über die Referenz auf das Abschlagen des Schlosses am Haus des Pfarrers datieren, aus der sich als terminus post quem April 1591 ergibt, wobei eine zeitliche Nähe zum zweiten Zettel wahrscheinlich ist. 197 Zettel III (Anh. 2.10), Z.-9-13. 198 Ebd., Z.-12-16. der bereits genannten Aufforderung, sowohl dieses als auch die vorherigen Schreiben an den Kurfürsten zu übergeben, andernfalls werde Artern verbrennen im feur. 194 Zettel II wurde am 12. Mai 1591 vormittags zwischen zehn und elf Uhr gleichfalls am Tor des Hauses der Meyenburgs gefunden. 195 Das ebenfalls in einfachen Paarreimen gehaltene Gedicht adressiert allerdings nicht Meyenburg, sondern Pfarrer Zelck und stellt dabei einen Bezug sowohl auf den Streit um dessen Mietswohnungen in Artern als auch auf die Sequestration der Grafschaft her. Auch Zettel III drohte Zelck mit Mord und mit dem Anzünden seines Wohn‐ hauses. 196 Erwähnung findet außerdem der Streit des Pfarrers mit Graf Volrath. Höhnisch wird Zelck zum Anbringen eines weiteren Schlosses aufgefordert: mach schlos fur das haus du solt weich geschlagen werden […] kom unt mach ein schlos vor du churfursten schelmsman[! ] 197 Unterschiede zwischen den Schmäh‐ schriften bestehen jedoch in ihrer literarischen Qualität. Zettel III ist als einzige Schmähschrift nicht in Reimen verfasst und stellt lediglich ein Stakkato von derben Beleidigungen und Drohungen dar, die wohl im Affekt formuliert wurden, wie die Wiederholungen nahelegen. Dennoch erfolgt am Ende die bekannte Aufforderung an den Rat, die Schmähschriften an den Kurfürsten weiterzuleiten. 198 Es verbinden sich also auf bemerkenswerte Weise Affekt und Kalkül. Deutlich im Zentrum der Schmähschriftenkampagne steht das Ziel, den Kurfürsten in den übergreifenden Konflikt einzubeziehen und zu einer Reaktion zu bewegen. Das definitorische Hauptmerkmal der hier bearbeiteten Schmähschriften, der Einbezug eines Publikums in den Konflikt, ist bei den ‚Zetteln‘ nur noch in Ansätzen ausgeprägt. Zwar gleichen die ersten beiden Schriften als anonyme, schmähende Gedichte gewissermaßen den typischen Pasquillen, allerdings weißt zumindest die zweite keinerlei textinterne Publikumsorientierung auf, sondern adressiert wie auch die dritte einzig Pfarrer Zelck und erscheint daher eher als Drohbrief. Allein das Auslegen an einem öffentlichen Ort sowie die 296 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 199 Das Lied vom Rat zu Artern wurde gemeinsam mit einem Bündel Briefe im September 1591 in das Haus Thomas Bierbauchs geworfen, s. Kap. 9.6.2. Das letzte Lied von Artern findet sich in den Untersuchungsakten gänzlich ohne Einordnung. 200 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *5 r -*7 v . 201 Hierauf verweist ein erzwungenes Geständnis des Gefangenen Johann Linsener: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *19 v . Die Tatsache, dass Linsener diese Worte mutmaßlich in den Mund gelegt wurden, lässt trotzdem einen Schluss bezüglich des Fundorts zu, da dieser den Fragenden bekannt gewesen sein musste. Eine entsprechende Notiz, dass das letzte Lied von Artern von Linsener vor dem Rathaus abgelegt wurde findet sich auf dem Umschlagblatt des Pasquills: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *1 r . 202 Vgl. Kap. 9.5.2. 203 Vgl. Kap. 8.3. 204 Lied vom Rat zu Artern (Anh. 2.6), Z.-17, 28. 205 Ebd., Z.-108-131; Das letzte Lied von Artern (Anh. 2.5), Z.-22-39, 112 f., 116. 206 Das letzte Lied von Artern (Anh. 2.5), Z. 100-109; Lied vom Rat zu Artern (Anh. 2.6), Z.-136-140. 207 Lied vom Rat zu Artern (Anh. 2.6), Z.-64-74. Ausgestaltung als Gedicht verweisen darauf, dass den Schriften ein drohendes Öffentlichkeitspotential innewohnte. Die Lieder Schwieriger erscheint die Verortung der beiden in den Akten enthaltenen Lieder, denn weder für das letzte Lied von Artern noch für das Lied vom Rat zu Artern liegen gesicherte Informationen zum Entstehungs- oder Fundkontext vor. 199 Aus einem Schreiben Vitzthums an den Kurfürsten geht hervor, dass die Lieder vor das Colloquium datieren; 200 vermutlich wurden sie vor dem Rathaus abgelegt. 201 Die Lieder gehören offensichtlich zusammen und gleichen sich schon äußerlich: Beide sind eingeteilt in 20 beziehungsweise 28 Strophen zu je sieben beziehungsweise fünf Versen. Auf zwei oder drei Paarbeziehungsweise Kreuzreime folgt ein eingerückter abschließender Vers, der die folgende Strophe inhaltlich einleitet. Zumindest die Handschrift von das letzte Lied von Artern lässt sich über Vergleiche mit anderen Schriften der Untersuchungsakten dem Schreiber des Colloquiums zuordnen. 202 Die beiden Pasquille gleichen in Funktion und Gestalt dem Pasquillus des Jo‐ hann Offneyer, indem sie einzelne Amtsinhaber aus Artern und dem Nachbarort Voigtstet bloßstellen und das Wort an den Stadtrat insgesamt richten. 203 Im Zentrum stehen der Verkauf von verdorbenem Fleisch und gestrecktem Bier, 204 der Diebstahl von Wert- und Repräsentationsobjekten aus dem Rathaus, 205 die Verschwörung zur Folter und Verurteilung einer unschuldigen Frau, 206 die Gefangennahme unschuldiger Bürger 207 und mehrere Fälle von Gewalt und ‚Tyrannei‘ gegen einfache Leute. Aus dem Text der Lieder selbst und über 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 297 208 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *68. 209 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *290 r . Die übrigen sind nicht sicher zu identifizieren, eventuell handelt es sich um Jost Siebensohn und Jost Groß. Diese waren neben Hase zeitgleich Bürgermeister und werden im ersten Bekennerschreiben als Adressaten genannt. 210 Diese Interpretation der Lieder als gegen Rat und neue Amtsträger gerichtete Schmähschriften aus dem Grafenhaus ist nicht widerspruchsfrei, da der bezichtigte Peter Stolzen ansonsten der Partei der Grafen zuzuordnen ist. So führte er nach dem Tod Christians I. den Prozess gegen Meyenburg und seine Freunde. S. Kap. 9.5.5. Aussagen, die einer der Diener der Grafen im späteren Verhör tätigte, 208 lassen sich mehrere der genannten Personen identifizieren: Der Arterner Amtmann Peter Stolzen, der Fleischer Volckmar Arndst, der Schreiber von Voigtstedt und der auch im Colloquium genannte Georg Vitzthum. Erneut ist daran zu erinnern, dass die Personen und Vorgänge aus historischer Distanz zwar nur schwer zu identifizieren sind, den zeitgenössischen Leser: innen aber sicher bekannt waren. Die von den Pasquillen offenbarte Verfehlung des Arterner Rats besteht darin, nicht gegen die Untaten der genannten Männer vorzugehen. Drei Bürgermeister werden dabei besonders hervorgehoben; einer von ihnen ist vermutlich Volkmar Hase, der bemerkenswerterweise bereits 1588 von Graf Hans Georg durch eine Schmähschrift angegriffen worden war. 209 Unter der Androhung von Brandstiftung wird der Rat in den Liedern erpresst, die Schuldigen nicht länger zu decken und sich von Richter Stolzen und dem Stadtschreiber zu Voigtstet zu distanzieren. Parallel zur Aufforderung des Mansfelder Boten am Ende des Colloquiums, die Informationen den Herren zur zeitung anzugeben, ruft das Lied vom Rat zu Artern dazu auf, den Inhalt allen die es horen wollen zur neuenn zeittungen anzuzeigen. Hier zeigt sich erneut das Merkmal derartiger Pasquille, das Offenbaren von Normbrüchen als Motiv anzugeben. Die Lieder stehen, das zeigt schon ihre Aufnahme in die Akten, über die in ihnen thematisierten Konfliktlagen in einer Verbindung zum Colloquium. Bei den genannten Männern handelt es sich hauptsächlich um Amtspersonen, denen die ‚Tyrannisierung‘ der Bevölkerung vorgeworfen wird, wobei ein besonderer Akzent auf dem Gebaren der Richter liegt. Es liegt nahe, dass es sich auch hierbei um Personen handelte, die erst im Zuge der Sequestration der Grafschaft in ihre Positionen eingesetzt wurden. Dazu passt auch die Erwähnung Vitzthums und der pfaffen unt pfaffen genossen, die entsprechend der Parteienbildung des Colloquiums als Anhänger des Superintendenten zu verstehen sind. 210 Die Lieder belegen, dass das Colloquium keinesfalls die erste Schmähschrift in den bereits länger andauernden Arterner Auseinanderset‐ zungen darstellte. Die im Mai 1591 aufgetauchten Bekennerschreiben und ein Handschriftenvergleich unterstützen darüber hinaus die Vermutung, dass die 298 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 211 HStD, 10036 Finanzamt, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *33, *37. Die Datierung ergibt sich einzig aus den enthaltenen Bezügen. Für das erste Bekennerschreiben kann als terminus post quem der Tod Ludwig ter Fines (4.2.1591) und als terminus ante quem der erste Brand‐ anschlag (8.5.1591) angegeben werden. Für das zweite steht nur der Brandanschlag als terminus post quem fest. 212 HStD, 10036 Finanzamt, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *33. Grafen von Mansfeld auch für die Verbreitung der Lieder verantwortlich waren. Identifizierung von Autor und Überbringer der Schmähschriften Ein Kuriosum des Arterner Falls stellen die beiden Bekennerschreiben dar, die kurz vor und kurz nach den 8. Mai 1591 datieren. 211 Bei ihnen handelt es sich nicht um Schmähschriften, sondern um die Offenbarungsbriefe des Über‐ bringers der übrigen Texte, der beschreibt, wie er beauftragt worden war, das Colloquium, die Lieder und die Zettel auszulegen und die Stadt in Brand zu setzen. Ausführlichere Berücksichtigung finden die Inhalte der Bekennerschreiben in den Ausführungen zur kurfürstlichen Untersuchung, an dieser Stelle müssen sie jedoch kurz thematisiert werden, da sie über die Identifizierung von Überbringer und Autor den Zusammenhang der zuvor genannten Schmähschriften belegen. Der Verfasser des Bekennerschreibens benennt mehrere Schmähschriften, die er auswerfen sollte: Zu Artternn ihr herrnn amptleut unndt reth, ich hab euch zwey lieder auffs rathaus gelegt, die hatt der küster geschriebenn, der denn hals hatt gebrochen, bey dem hab ich sie geholt zu Rottleben, die copeyen die ich ihm bracht, hab ich hinnder dem schloß im garthen bekommen […] darnach ist mir drey gedichte vom churfursten, unndt dem zu Halla, vor demselben garthenn gebenn, […] Sie habenn mir inliegennde zeddell gebenn, zuvorn unndt itzunt, ich soll denn einen auffs rathaus gebenn, unndt denn andern, an des pfarhers haus steckenn […] 212 Bei den zwei Liedern und den drei Gedichten handelt es sich mit einiger Sicherheit um die beiden Lieder, das Colloquium sowie die gereimten Zettel I und II. Als Küster zu Rottleben wird der eingangs erwähnte Johann ter Fine bezeichnet, in dessen Handschrift mit großer Wahrscheinlichkeit alle genannten Schriften verfasst wurden. Dem Verfasser des Bekennerschreibens waren die Kontaktpersonen, von denen er einen Teil der Schriften erhalten hatte, vorgeb‐ lich unbekannt, was sich jedoch als unwahr herausstellen sollte. Im Verlauf der Untersuchungen wurde deutlich, dass es sich bei den Kontaktpersonen um unterschiedliche Diener der Grafen von Mansfeld-Artern handelte. Dies führt wiederum zu dem Schluss, dass alle aufgetauchten Schmähschriften von 9.3 Die Schmähschriften im Kontext von Sequestration und Konfessionalisierung 299 213 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *50-*54. Meyenburg bemühte sich zwar darum, das Original vom Kanzler aus Dresden zurück zu erhalten, hatte aber offenbar keinen Erfolg, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *13 r . 214 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *50 v . Wie genau man den Umgang mit derartigen anonymen Schriften wahrnahm, zeigt die Tatsache, dass auch Franz Abendrot in seinem Verhör die zweimalige Abschrift durch Görtler angab, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *87 v . 215 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *1 r . 216 Ebd., fol.-*3 r . den Grafen in Auftrag gegeben wurden und sie somit in einem eindeutigen Zusammenhang standen. 9.4 Formen der Anschlusskommunikation: Öffentlichkeit als Fiktion Inwiefern stießen die Schmähschriften tatsächlich eine öffentliche Kommuni‐ kation an? Ausgangspunkt war zuerst das städtische Rathaus, hier wurden mutmaßlich die beiden Lieder abgelegt. Die Wahl des am Marktplatz gelegenen Rathauses als öffentlichem Ort erfüllte die in Kapitel 7.2.2 beschriebenen kom‐ munikativen und symbolischen Funktionen. Als Zentrum der Schmähschrif‐ tenverbreitung etablierte sich das ebenfalls am Markt gelegene Wohnhaus der Brüder Meyenburg, wo sich zunächst das Colloquium und anschließend mehrere der Zettel fanden. Von diesen Orten ausgehend verbreiteten sich die Schmähschriften vor allem im Kreis derjenigen, die mit der Untersuchung der Vorfälle zu tun hatten oder von ihnen unmittelbar betroffen waren. Die Originale aller größeren und der meisten der kleineren Schriften wurden relativ zeitnah den Obrigkeiten übergeben und finden sich entsprechend in den Untersuchungsakten. Von Abschriften, die nicht für die ermittelnden Amtsleute angefertigt wurden, ist im reichhaltigen Quellenmaterial nur selten die Rede. Bezüglich des Colloquiums ist bekannt, dass Meyenburg es zweimal durch seinen Diener Wenzel Görtler abschreiben ließ, bevor er es eigenhändig nach Dresden brachte. 213 Eine weitere Abschrift fertigte Meyenburg von Zettel III an, um sie dem eigentlichen Adressaten Zelck zu geben; das Original behielt er und leitete es schließlich ebenfalls nach Dresden weiter. 214 Bevor Meyenburg das Colloquium nach Dresden brachte, zeigte er es Georg Vitzthum, der bei dieser Gelegenheit mindestens eine Abschrift anfertigen ließ, um sie nach Dresden zu Nikolaus Krell zu schicken. 215 Joachim Friedrich von Brandenburg wurden das Colloquium und einer der Zettel durch Vitzthum präsentiert, auch bei dieser Gelegenheit entstanden höchstwahrscheinlich Abschriften. 216 Auch 300 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 217 Görtler gab den Bericht zwar erst ein Jahr nach den Ereignissen zu Protokoll, er deckt sich jedoch in Details mit anderen Aussagen und ist insgesamt als glaubwürdig einzuschätzen, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *50-*54. an Kurfürst Johann Georg von Brandenburg (1571-1598), der ebenfalls in die Ermittlungen involviert wurde, waren sicherlich Abschriften zumindest des Colloquiums geschickt worden. Es ist insgesamt davon auszugehen, dass von allen direkt an der Untersuchung beteiligten Amtspersonen Abschriften der Pasquille angefertigt wurden. Für das Colloquium lassen sich die Umstände des Auffindens und der an‐ schließende Umgang mit der Schmähschrift über einen Bericht Wenzel Görtlers detailliert rekonstruieren. 217 Die Schrift wurde zufällig durch Katharina, die Tochter Michael Meyenburgs, ihre Spielgefährtin Magdalena Geustet und eine Magd gefunden. Görtler berichtete, dass die Schrift etwa drei Schritte von der Haustür entfernt auf dem Boden gelegen habe. Die Magd hielt das Objekt zunächst für ein schnupptuch, entdeckte dann aber, dass es sich um ein buchlein handelte. Sie reichte es zunächst an Magdalena, diese wiederum an Katharina weiter, die es Görtler mit der Aufforderung gab, es dem Hausherrn zu bringen. Er brachte es daraufhin in die stubenn unde leg[t]e es ihme [Meyenburg] vor auff denn tisch. Görtler berichtete weiter, bei diesem Vorgang habe er das Titelblatt gelesen, könne sich aber nur noch an das Wort Colloquium erinnern. In der Stube waren neben Michael Meyenburg noch drei Handwerker aus dem benachbarten Allstedt anwesend, in deren Gegenwart der Hausherr die Schrift las - dass er zumindest etwas von ihrem Inhalt preisgab, ist entsprechend wahrscheinlich. Anschließend brachte Michael Meyenburg das Colloquium ins schreibstublein zu seinem Bruder Caspar. Am Morgen darauf zogen die Brüder zusätzlich den Arterner Bürger Thomas Bierbauch ins Vertrauen. Hierauf vergingen zunächst mehrere Tage, bis die Meyenburgs begannen, weitere Personen hinzuzuziehen, nämlich einen weiteren Arterner Bürger, einen Bürger aus Eisleben und Pfarrer Zelck. Mit allen traf sich Michael Meyenburg einzeln, um ihnen das Pasquill zu zeigen und sie um ihre Meinung zu bitten. Auf ihren Rat hin (von dem Wenzel aufgrund der Vertrautheit der Gespräche nichts zu sagen wusste) ging Meyenburg schließlich zum Oberaufseher Vitzthum und erstattete Bericht. Der Oberaufseher wiederum empfahl Meyenburg, mit der Sache persönlich nach Dresden zu gehen. Noch während er dorthin unterwegs war, wurde einer der Zettel an seinem Haus gefunden, und zwar diesmal vom Arterner Bürger Hans Fischer, einem Analphabeten. Dieser brachte ihn zugleich in die untere mittlere kleine stube zu Thomas Bierbauch, der sich dort gerade zu einem Krankenbesuch bei Michael Meyenburgs Frau aufhielt. Bierbauch habe die Schrift gelesen und 9.4 Formen der Anschlusskommunikation: Öffentlichkeit als Fiktion 301 218 Vgl. Kap. 6.5.2. 219 Eine entsprechende Vorsicht im Umgang mit Schmähschriften konstatiert auch R U B L A C K , Anschläge auf die Ehre (1995), S.-403. 220 Vgl. Kap. 7.2.3. mit den Worten „Wenzel, hier ist aber was neues“ an Görtler weitergegeben. Auch diesen Zettel schickte man umgehend an den Oberaufseher. So waren, trotz aller Bemühungen um Geheimhaltung, innerhalb kürzester Zeit neben dem Haushalt der Meyenburgs noch mindestens fünf weitere Arterner Bürger und darüber hinaus vier Bewohner benachbarter Gemeinden und damit wohl jeweils auch deren Familien zumindest über das Auffinden des Colloquiums, teilweise auch über seinen Inhalt im Bilde. Die Beschreibung Görtlers verdeutlicht die für die Anschlusskommunikation wichtige einge‐ schränkte Privatheit frühneuzeitlicher Wohnungen, die E I B A C H im Konzept des ‚Offenen Hauses‘ postuliert. 218 Der Bericht ist außerdem ein Beleg für den großen Wert, den viele mit Schmähschriften konfrontierte Personen auf die präzise Beschreibung der räumlichen Gegebenheiten und des kon‐ kreten Umgangs mit den Objekten legten. So beschrieb Görtler aus seinem Gedächtnis den exakten Fundort der Schrift (drei Schritte vor der Haustür) und all diejenigen, die sie in Händen gehalten hatten (die Magd, Magdalena, Katharina und er selbst), wie sie damit umgegangen waren (die Verwechslung mit einem Taschentuch, das unbeachtete Weiterreichen und das Lesen des Titelblatts) und wohin sie gelegt worden war (vorn auf den Tisch in der Stube). Er berichtete außerdem, welche Personen sich zu diesem Zeitpunkt in der Stube aufgehalten hatten. An dem Umstand, dass Wenzel Görtler diese Details im Umgang mit der Schmähschrift für erwähnenswert hielt und dass er sie nach so langer Zeit noch wiedergeben konnte, lässt sich ihr Stellenwert für die Beurteilung der Situation ermessen. Berichteten die Menschen gegenüber der Obrigkeit vom Umgang mit einer Schmähschrift, so taten sie dies auf eine Art und Weise, die ihre Distanz zum Objekt betonte. Es wirkt, als hätte man sich durch Berührung einer Schmähschrift die Hände schmutzig machen können, als stellte der bloße Kontakt bereits eine Normüberschreitung dar. Konnte man den Umgang mit einer Schmähschrift nicht leugnen, galt es, durch die detaillierte Schilderung der Umstände zu beweisen, dass man sich vorbildlich verhalten hatte, was vor allem bedeutete, Desinteresse oder Abneigung gegenüber dem corpus delicti und anschließende Diskretion her‐ vorzuheben. 219 In dieser Art des Umgangs mit Schmähschriften spiegelt sich erneut deren Charakter nicht als bloßer Träger, sondern als Symbol oder sogar Verkörperung der Schmähung. 220 Zugleich kam man mit diesen Schilderungen der Obrigkeit entgegen, die nach möglichst lückenloser Rückverfolgung der 302 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 221 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *67-*69. 222 Auf diese Weise erfuhr etwa Christoff Bierbauch von den Ermittlungen, ebd., fol. *49 r . 223 Über diesen Brief erstattete Levin von Geusau dem Kurfürsten Bericht. HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *205 r -*206 v und *209 r ; ebenso Graf Volrath von Mansfeld, wobei unklar ist, wie er in den Besitz des Briefes gelangte, ebd., fol.-*207 r , *210 r . einzelnen Exemplare und Mitwissenden trachtete. Daher differenzierte man deutlich zwischen unterschiedlichen Arten der Rezeption, zwischen bloßem in-Händen-Halten, Ansehen, Lesen, Weitererzählen, Weiterreichen, Auswen‐ diglernen und Abschreiben. Hatte es keinen Sinn, Wissen über den Inhalt zu leugnen, so versuchte man in der Regel, dieses herunterzuspielen. Stets gaben die Betroffenen an, lediglich Auszüge gelesen und diese meist bereits wieder vergessen zu haben - wenn sie die Lektüre nicht vorgeblich gar in dem Moment abbrachen, in dem sie des empörenden Gehalts gewahr wurden. Diese Aussagen mögen in einigen Fällen tatsächlich der Wahrheit entsprochen haben und zumindest das Abschreiben kann als vergleichsweise seltene Rezeptionspraxis bezeichnet werden. Von einer allgemeinen Ablehnung der Schmähschriften oder auch nur mangelndem Interesse an ihrer Lektüre und dem Gespräch über das Ereignis kann jedoch keine Rede sein. Die Zeugenverhöre und Korrespondenzen zeugen auch davon, wie wenig anonym es beim Gerede in der engräumigen und kleinen Stadt Artern zuging. So sagte Martin Schmied, einer der Diener der Grafen, bei seiner Befragung aus, dass Meyenburgs Frau der seinen vom Fund des Colloquiums in ihrem Haus berichtet hätte. Da ohnehin in gemein von solchen pasquillen geredt worden sei, habe er über seine Frau versucht, mehr über den Inhalt des Collo‐ quiums zu erfahren, worüber sich Meyenburg jedoch ausgeschwiegen habe. Hier wird im Ansatz das Spannungsverhältnis greifbar zwischen dem Kommu‐ nikationsbedürfnis einer sensationsgierigen Gesellschaft und dem Bewusst‐ sein über die Bedenklichkeit, ja Gefahr des Redens über Schmähschriften, die eine Regulierung des Kommunikationsflusses notwendig machte. Schmied ging im Übrigen mit den Informationen seiner Frau zu den Grafen, die sich erst daraufhin für die fortschreitenden Untersuchungen zu interessieren be‐ gannen. 221 Das Gerede in Artern wurde maßgeblich von Indiskretion befeuert. Negativ fiel vor allem Wenzel Görtler auf. Er war intensiv in die kurfürstliche Untersuchung der Vorfälle eingebunden und hatte in einem Brief einem befreundeten Apotheker vom Fortgang derselben berichtet, der wiederum anderen Bürger: innen davon erzählte. 222 Dieser Brief fiel jedoch in die Hände der Grafen und letztlich auch der Dresdener Regierung, die über Görtlers Redseligkeit wenig erfreut war. 223 Außerdem wusste ein anderer gräflicher 9.4 Formen der Anschlusskommunikation: Öffentlichkeit als Fiktion 303 224 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *35 v . 225 Der Begriff rührt von den Bemühungen Barbra Streisands her, die Veröffentlichung von Fotos ihres Privatanwesens juristisch zu verbieten. Hatten sich zuvor kaum Leute überhaupt für die Aufnahmen interessiert, verbreiteten sie sich bedingt durch die Klage schnell im Internet. S. K L E I N E B E R G , Shitstorm-Attacken (2014), S. 67 sowie den Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia: <https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Streisand-Effekt>. 226 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *17 v -*18 r . 227 Ebd., fol.-*54 v . 228 Ebd., fol. *76 v . 229 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *81 r . 230 S. Kap. 9.5.3. 231 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *175 r . Diener, Claus Sempergk, von einer Episode zu berichten, in der Pfarrer Zelck eines Nachts aufgebracht aus dem Haus des Bürgermeisters Jobst Feldorf gestürmt sei und gerufen habe: O Wentzel, Wentzel, weil du schweigen kanst, so hat es keine noth! 224 Zwar fehlte auch Sempergk der Zusammenhang, die Episode ist jedoch ein weiteres Indiz dafür, dass Wenzel Görtler Probleme hatte, Verschwiegenheit zu bewahren. Wie noch zu zeigen ist, bemühte sich die Landesherrschaft bei ihrer Reaktion auf das Arterner Colloquium um größtmögliche Geheimhaltung, allerdings mit wenig Erfolg, da sich ein sogenannter ‚Streisand Effekt‘ 225 einstellte: Es waren vorrangig Gerüchte über die obrigkeitlich eingeleiteten Maßnahmen, die in Artern, aber auch über die Stadt hinaus verbreitet wurden - und mit ihnen natürlich das Wissen um die Existenz der Schmähschriften. Der Arterner Diakon Johann Fiscelius gab an, von einem Wirt in Eisleben gehört zu haben, dass die Grafen wegen der kurfürstlichen Untersuchung auf der Flucht seien. 226 Christoff Bierbauch, ein Schreiber in Diensten der Grafen, hatte mitbekommen, dass man allgemein über einen verstorbenen Küster reden würde, bei dem man ettliche schrifftten die pasquil belangende gefunden haben sollte. 227 Auch Martin Schmied wusste vom Tod ter Fines und davon, dass dieser die Schriften gemacht oder zumindest besessen haben sollte. 228 Ende Juni 1591, als die Fahndung nach dem Urheber auf Hochtouren lief, wurde laut Meyenburgs eigenem Bericht in den Städten Frankenhausen und Sondershausen die rede gethan, 229 dass Görtler des Nachts eine Zeugin aus einem fremden Gerichtsbezirk geholt und nach Dresden zum Verhör geschickt habe - was der Wahrheit entsprach. 230 Ludwig ter Fines Frau Barbara hingegen hatte in Rottleben vom Teichmüller gehört, dass im Rahmen der Untersuchungen die Leiche ihres Mannes ausgegraben werden sollte. Die Information stammte ursprünglich ebenfalls von dem redefreudigen Wenzel Görtler, war allerdings bereits eine gemeine sage im dorf [Artern] geworden. 231 Gerüchte über die kurfürstlichen Anstrengungen verbreiteten sich 304 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 232 Ebd., fol.-*185 r . 233 Ebd. 234 Ebd., fol.-*110 r . So ähnlich an den Kurfürsten: ebd., fol.-*129 r . 235 Hierzu mit weiterer Literatur zu den vor allem in England gut erforschten Netzwerken der Manuskriptzirkulation: R O S E , Herr Niemand (2021). im Extremfall sogar bis an die Grenzen des Reiches, wie aus dem Umstand ersichtlich wird, dass die Grafen in Artern von einem ihrer Verwandten aus dem weit entfernten Straßburg vor den kurfürstlichen Ermittlungen gegen sie gewarnt wurden: Während der kurfürstliche Amthauptmann Levin von Geusau im Juli 1591 mit den Vorbereitungen zur Erstürmung des Arterner Schlosses begann, kam es diesbezüglich nicht nur zu einem Geschrei in der Stadt Eisleben, 232 sondern Graf Volrath erhielt auch einen Brief von Johann Günther von Mansfeld, der Mitglied des Straßburger Domkapitels war. Dieser hatte von vor nehmen regiments pershonnen ehrkert das ein pasquill ausgestreyet sein soltte 233 und dass der Kurfürst vonn wegen eines bashquills ein ungnade uff sie geworffen und [dem Amthauptmann] bevhollen [bei] ihnen einzufallen, wie die Grafen an von Geusau selbst und an Kurfürst Christian schrieben. 234 Die Gerüchte über die kurfürstlichen Anstrengungen hatten also ihren Weg in die Korrespondenznetzwerke des Adels gefunden und letztlich sogar Straßburg erreicht. Wie passt aber die Tatsache, dass ein großer Teil der Menschen in diesem, wie in anderen Fällen kaum inhaltliche Details der Schmähschriften kannte und hauptsächlich basale Informationen kommuniziert wurden, zu dem großen Aufwand, der offensichtlich beim Verfassen der teils komplexen Texte betrieben wurde? Für die Schmähschriftenkommunikation lassen sich zwei unterschied‐ liche Kommunikationsarten und Teilnehmerkreise unterscheiden: Ein kleinerer, exklusiverer Kreis an Personen las die Schriften, erfasste ihre Bedeutung und verbreitete sie in Kreisen von Betroffenen und Bekannten, denen man vertraute. In diesen Kreisen ist eine stärkere Auseinandersetzung mit den Inhalten zu erwarten, wenn auch selten nachweisbar. Das Lesen, Weiterreichen und Abschreiben der Schmähschriften war wesentlicher Bestandteil dieser Kommunikationsketten. 235 Ein größerer Kreis an Personen erfuhr allerdings nur über die beschriebenen Mechanismen mündlich und gerüchteweise von dem, was im exklusiveren Kreis der direkten Auseinandersetzung unterlag. Durch die Loslösung von den Schriften konnten sich hier die Kommunikationsinhalte verselbstständigen. Die beiden Kreise waren allerdings verbunden, da sich Gerüchte entweder aus der direkten Anschauung, etwa der angeschlagenen Schmähschrift, oder aber aus absichtlichen oder unabsichtlichen Indiskretionen 9.4 Formen der Anschlusskommunikation: Öffentlichkeit als Fiktion 305 236 R E P G E N , Westfälischer Frieden (1997), S.-48. des exklusiveren Kreises speisten, wie das Beispiel Wenzel Görtlers veranschau‐ licht. Die Art und Weise, wie die Schmäh- und Drohschriften im vorliegenden Fall verbreitet wurden, legt nahe, dass es wahrscheinlich nicht das primäre Ziel der Urheber war, tatsächlich ein möglichst großes Publikum und eine weite Verbreitung zu erreichen. Vielmehr wurde als Ziel bereits die Eskala‐ tion des Ursprungskonflikts zwecks Informierung des Kurfürsten ausgemacht. Einer weiten Verbreitung wären wohl andere Kommunikationsorte und -wege zuträglich gewesen; beispielsweise indem mehrere Abschriften auch in den umliegenden Städten angeschlagen worden wären. Die Wahl von zentral gelegenen Orten in Artern brachte jedoch zumindest das Risiko mit sich, ein großes Publikum zu erreichen und steigerte damit das Drohpotential der Schmähschriften. Öffentlichkeit präsentiert sich in diesem Fall also weniger als reale Größe und mehr als „Drohgespenst“, 236 als Fiktion, auf welche die Pasquillanten textintern und durch die Umstände der Verbreitung wirkungsvoll rekurrieren konnten. 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion Wurden bislang letztlich Potentiale der Schmähschriftenkampagne ausgelotet, geht es im Folgenden um konkrete Effekte, wobei der Fokus auf dem Agieren der Amtsträger auf den unterschiedlichen Ebenen der kursächsischen Verwaltung liegt. Dabei gilt es, über die Betrachtung von Erwartungen und Sorgen der Amtsträger Potentiale und beobachtete Effekte miteinander zu verknüpfen. Die Bemühungen der Dresdner Regierung, Licht in das Dunkle um die Arterner Schmähschriftenkampagne zu werfen, sind bemerkenswert in ihren Ausmaßen und zugleich außergewöhnlich gut dokumentiert, sodass im Folgenden eine ei‐ nigermaßen ausführliche Rekonstruktion erfolgen kann. Zugleich ermöglichen es die Ergebnisse der kurfürstlichen Untersuchung, einen Blick auf die Arbeit eines semiprofessionellen Auftragspasquillanten zu werfen. 9.5.1 Einleitung und involvierte Personen Auf die beiden vor dem Colloquium ausgelegten Lieder gegen den Arterner Rat und mehrere Amtspersonen aus Artern und Voigtstet erfolgte offenbar zunächst 306 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 237 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *290 r . Hierbei könnte es sich eventuell um eines der genannten Lieder handeln, allerdings finden sich hierauf außer der Betroffenheit Hases keine Indizien. 238 Ebd., fol. *291 v . Die entsprechende Urkunde liegt ebenfalls vor: HStD, 10036 Finanz‐ archiv, Nr. Loc. 12034/ 10, fol. *91 r . keine Reaktion. Zu einer möglichen stadtinternen Bearbeitung des Falls liegen keine Akten vor. Das Colloquium sticht nicht nur aufgrund seiner formalen und inhaltlichen Eigenschaften aus der Gruppe der Schmähschriften heraus, sondern auch da‐ durch, dass es zur Involvierung weiter Kreise der kursächsischen Verwaltung führte. Wie bereits dargestellt, entschied sich Michael Meyenburg, die Schrift umgehend dem Oberaufseher der Grafschaft Mansfeld vorzulegen. Über seine Beweggründe ist nichts bekannt. Ausschlaggebend für diese wie für folgende Entscheidungen war wohl die Tatsache, dass der Kurfürst und der Adminis‐ trator jeweils persönlich nicht nur beleidigt, sondern auch bedroht worden waren. Dadurch handelte es sich nicht länger um ein lokales Problem und die Beteiligten fühlten sich zur Informierung der Landesregierung verpflichtet. Als positiver Nebeneffekt stand den Betroffenen wie Meyenburg und Zelck somit eine schlagkräftige Reaktionsmöglichkeit zur Verfügung. Zunächst liegt die Annahme nahe, dass ohne unmittelbare Betroffenheit des Kurfürsten eine solche Reaktion wenig erfolgversprechend erscheinen musste. Bemer‐ kenswerterweise zeigen die Akten aber, dass auch in anderen Fällen eine Adressierung des Oberaufsehers als höchstem Beamten der Grafschaft mög‐ lich war. Im Jahr 1588, also zwei Jahre vor dem Erscheinen des Colloquiums, war der Arterner Bürgermeister Volkmar Hase Opfer einer Schmähschrift geworden. Dieses pasquil und schmeschrifft, von teutschen reimen, darin ein burgermeistere Volckmar Hase, an eren hard angegriffen 237 konnte durch einen Handschriftenvergleich dem gräflichen Diener Franz Abendrot zugeordnet werden, dem sie durch Graf Hans Georg von Mansfeld-Artern in die Feder diktiert worden war. Bürgermeister Hase drohte daraufhin, die Sache vor den damaligen Oberaufseher Curt Thilo von Berlebsch zu bringen. Diese Drohung zeigte offensichtlich Wirkung, denn Hans Georg überzeugte daraufhin die Arterner Bürgerschaft, den Streit gütlich zu schlichten. Er endete, indem der Graf eine Urkunde verfertigen ließ, die jegliche Ehrenkränkung Hases zurücknahm und feststellte, dass Hans Georg die Schrift lediglich der kurzweil halber gemacht habe. 238 Auch im Fall des Colloquiums zeigte der Einbezug des Oberaufsehers umgehend Wirkung: Sobald die Grafen erfahren hatten, dass Meyenburg bei Vitzthum vorstellig geworden war, schickten sie einen 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 307 239 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *11 r -*12 v . Zu ihren Erklärungsver‐ suchen s. Kap. 9.6. 240 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol.-*1 r . 241 Die Strecke zwischen Eisleben und Dresden war zu Pferde in etwa 3 ½ Tagen zu bewäl‐ tigen, ein Bote konnte es unter Ausnutzung von Wechselpferden in zwei Tagen schaffen. Die Schätzung beruht auf der ‚Viabundus map‘ des gleichnamigen Forschungsprojekts der Universität Göttingen (<https: / / www.landesgeschichte.uni-goettingen.de/ handels‐ strassen/ map.php>). 242 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *2 r . 243 Christian I. war zu dieser Zeit in zweiter Ehe mit Sophie von Brandenburg verheiratet, einer Tochter des Kurfürsten Johann Georg (1525-1598). Dessen Sohn und Sophies Halbbruder war der angesprochene Joachim Friedrich, S C H U L T Z E , Art. „Johann Georg“ (1974); S C H I L L E , Art. „Christian I.“ (1957). ihrer Diener, um ihre Schuld zu bestreiten und Meyenburg eindringlich um Geheimhaltung zu bitten. 239 Michael Meyenburg hatte jedoch bereits Untersuchungen angestoßen, die nicht mehr aufzuhalten waren. Oberaufseher Vitzthum maß dem Colloquium große Bedeutung zu und wandte sich in der Sache an die Landesregierung. Dass Vitzthum, der in anderen Situationen, wie etwa im Rahmen der Einsetzung des Eisleber Superintendenten, durchaus eigensinnig handeln konnte, in Bezug auf die Schmähschrift nicht selbst das Kommando übernahm, verdeutlicht die politische Brisanz des Vorfalls. Am 5. Dezember 1591 schrieb er an Kanzler Nikolaus Krell und bot diesem seine Hilfe bei den Ermittlungen an. 240 Spätestens die umgehend erfolgte Antwort Krells am 16. Dezember 241 bestätigte Vitzthums Eindruck und machte unmissverständlich klar, wie ernst man die Sache in Dresden nahm: Nun seinde dis schwere und wichtige sachen, darbey es guter vorsichtikeit, auch verschwigenheitt, unde vleisses vonnötten hatt. 242 Es galt also, umfassende Maßnahmen zu ergreifen und dabei Vorsicht und Geheimhaltung zu wahren. Darüber hinaus wurde der Oberaufseher noch im Dezember 1590 bei Joachim Friedrich von Brandenburg in Halle vorstellig. Die Reaktion des Administrators ist uns durch einen Brief bekannt, den dieser am 28. Dezember 1590 an seinen Schwager Christian I. schrieb. 243 Er war manu propria verfasst und an Christian persönlich adressiert. Joachim Friedrich äußerte sich bezüglich der Schmähschrift wie folgt: Aber das mussen wir bekennen, das solch falsch gedicht, uns nich allein der un‐ warhaften unser beiderseitz beschuldigung halben, sondern auch darumb soviel beweglicher vorkommen, das ausdrucklich vormeldet, als soltte mit rath deren, so es vornemlich betrifft, euer lieben oder auch uns, zu leib und lebens schaden, getrachtet 308 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 244 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *3 v . 245 Ebd., fol.-*4 r . 246 Zuerst im Juni 1591: ebd., fol. *28 r . Georgius und Meyenburg werden zumeist als Team angesprochen, wobei Georgius sich eher von Meyenburg berichten ließ und diese Informationen anschließend an Tryller und Krell weitergab. 247 Ebd., fol. *54 r . werden. Derwegen dan billich guter vorsichtigkeit zugebrauchen, ob sonst wol in des almechtigen hant und schutz, aller unser leben und wandel stet. 244 Die schmählichen Beschuldigungen des Colloquiums nahm Joachim Friedrich zwar durchaus zur Kenntnis, die Schmähschrift erhielt ihre Bedeutung aber vor‐ rangig durch die enthaltenen Drohungen. Dass Joachim Friedrich sie durchaus ernst nahm, wird auch dadurch unterstrichen, dass er Vorbereitung für eine geheime Unterredung jeweils zweier Räte aus Dresden und Halle treffen wollte, um das Colloquium und andere Dinge im Zusammenhang mit der Sequestration zu besprechen, die ebenfalls beiderseits reputation betreffe[n]. Für die Zwischen‐ zeit regte er eine Suche nach den Urhebern an, wobei er ausschloss, dass es sich allein um privat personen handeln könne, da diese am wenigsten von den angesprochenen Vorgängen betroffen seien. 245 Die Überzeugung, es hier mit einem bedeutenden Vorfall und gegebenenfalls einer Verschwörung zu tun zu haben, wurde also nicht nur am Dresdner Hof, sondern auch an dem zu Halle geteilt. Vom Auffinden des Colloquiums durch Michael Meyenburg bis zur Privatkor‐ respondenz zwischen Christian I. und Joachim Friedrich verging nicht einmal ein Monat. Dies verdeutlicht erneut die Relevanz, die man der Arterner Sache zusprach. Einige Wochen später wurde neben dem Oberaufseher, dem Kanzler und den beiden Fürsten auch der sächsische Landrentmeister Caspar Tryller einbezogen, der im Colloquium ebenfalls direkt angegriffen wurde. Tryller wiederum schrieb Thomas Georgius an, den Amtschösser zu Weißensee, der in der Folge gemeinsam mit Meyenburg die Regierung bei der Suche nach den Schuldigen vor Ort unterstützte. 246 Als äußerst wichtige Person der Untersuchungen zog man im Juni 1591 außerdem Levin von Geusau hinzu, den ebenfalls geschmähten Amthauptmann zu Sachsenburg und Weißensee. Er wurde von der Regierung beauftragt, den mittlerweile Verdächtigen Johann Linsener unter größter Geheimhaltung zu suchen und zu verhaften - zur Not auch wider geltendes Recht außerhalb des kursächsischen Territoriums. Die große Bedeutung der Geheimhaltung wird zudem durch den Umstand ersichtlich, dass von Geusau die Suche offiziell nicht im Namen des Kurfürsten durchführen sollte. 247 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 309 248 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09739/ 20, fol. 28 r -31 v . Krell bezeichnet die Angelegenheit als „die furnemste sach, darumb sich euer churfürstliche gnaden zum churfürsten zu Brandenburgk begeben“ (fol. 28 r ). Weitere Themen waren die Werbungen für den Krieg in Frankreich sowie das Schmähen in Religionssachen. 249 Ebd., fol. 27. Bereits einige Zeit zuvor hatte man Johann Georg darum gebeten, Philipp Ernst zum geplanten Treffen mitzubringen, und der Kurfürst hatte dem zugestimmt. Ob er wirklich am Treffen teilnahm, ist nicht bekannt. 250 „[…] bitt ich vatterlich und freuntlich du wollest auch meyne perschon darunter in acht nehmen do du in worumb zubesprechen das auch allso anstellen das es mier nicht vorweyslich oder bey andern leuten eynen bosen namen oder nachrede geberen moge“, ebd., fol.-27 r . 251 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *114 r -*116 v . Dieser Brief, wie auch die übrigen enthält den Vermerk manu propria, wurde also eigenhändig verfasst. Ebenfalls im Juni 1591 fand ein Treffen zwischen Christian I. und Kurfürst Johann Georg von Brandenburg statt, das vor allem aufgrund der Mansfelder Ereignisse von kursächsischer Seite einberufen worden war, wie aus einer von Krell für Christian vorbereiteten Tagesordnung hervorgeht. 248 Dies und die Tatsache, dass Krell Christian zu großem Feingefühl beim Ansprechen der Angelegenheit anhielt (andere Themen sollten zuerst angesprochen werden, um die Stimmung des Brandenburgers zu prüfen) verdeutlicht die Brisanz, die man der Sache zumaß. Dass man Johann Georg überhaupt involvierte, hatte zwei Gründe: Zum einen war sein Sohn Joachim Friedrich persönlich betroffen, zum anderen hielt sich einer der Verdächtigen, nämlich Graf Philipp Ernst von Mansfeld, am brandenburgischen Hof auf. 249 Aus dem Antwortschreiben Johann Georgs geht außerdem hervor, dass man auch in Berlin mit Sorge auf die Ereignisse blickte. Der Brandenburger bat aus Furcht um seine persönliche Reputation nachdrücklich darum, absolute Geheimhaltung zu wahren. 250 In einem weiteren Brief verwies Johann Georg nochmals auf die Bedeutsamkeit der Situation, die es ihm gar verbiete, sich schriftlich zu den Begebenheiten zu äußern. Stattdessen solle Christian eine vertrauenswürdige und gut informierte Person schicken, damit man die Angelegenheiten im Geheimen besprechen könne. 251 Insgesamt unterscheidet sich die erste Reaktion der Landesregierung auf die Schmähschriften also frappierend von derjenigen, die im Fall Johann Offneyer sichtbar wurde und schiedsrichterlich-ausgleichenden Charakter auf‐ wies. Auffallend ist die umgehende Aktivierung aller Verwaltungsebenen in Artern, Eisleben und Dresden. Neben der persönlichen Betroffenheit wichtiger Amtsträger war es, wenig überraschend, die Bedrohung des Kurfürsten und seiner Interessen, die über Ausmaß und Gestalt der landesherrlichen Reaktion entschied. Vor allem in der Kommunikation mit den Brandenburgern scheint 310 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 252 Vgl. R O H R S C H N E I D E R , Reputation (2010). 253 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *6 v . 254 Ebd., fol. *8 r f: „So haben doch nicht allein Michael Meienburgk unndt ich [Georg Vitzthum] […] fleisige unnd unvermergkte kunschafft gelegett, […].“ Wie diese Untersuchungen aussahen, ist unklar. Zu vermuten sind jedoch vor allem Gespräche mit bereits zuvor eingeweihten Personen wie Pfarrer Zelck und Christoff Bierbauch sowie Handschriftenvergleiche, die im Lauf der Untersuchung große Bedeutung erlangten. Darauf verweist die Bitte Meyenburgs, man möge ihm die Originale der Schmähschriften zurücksenden, um seine Vermutungen zu bestätigen, ebd., fol. *13 r . 255 Ebd., fol. *13 r . 256 HStD, 10036 Finanzamt, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *33, *37. Zum äußerst kuriosen Fundkon‐ text der Bekennerschreiben s. Kap. 9.6.1. 257 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *25 v . außerdem die Rolle der fürstlichen Reputation durch, in der die persönliche Ehre des Herrschers politisch bedeutsam wird. 252 9.5.2 Exkurs: Die Arbeit eines semiprofessionellen Pasquillanten Da sich die mit der Untersuchung betrauten Personen der unterschiedlichen Konflikte im Zuge der Sequestration der Grafschaft durchaus bewusst waren und die Grafen den sächsischen Oberaufsehern in der Vergangenheit bereits Probleme bereitet hatten, war man offenbar gewillt, den offenkundigen Hinweisen aus den Schmähschriften Glauben zu schenken und in den Mans‐ feldern tatsächlich die Urheber der Kampagne zu sehen. Georg Vitzthum regte am 2. Januar 1591 an, die Verursacher zur Abschreckung und zum Schutz der authoritet und reputation der beiden Herrscher streng zu bestrafen, do auch gleich graffenn daruntter sein soltten. 253 Auf Grundlage dieser Vermu‐ tung begannen Michael Meyenburg und Georg Vitzthum im Geheimen, erste Untersuchungen anzustellen. 254 Dabei erhärtete sich der Verdacht bis Anfang Februar, als Meyenburg berichtete, dass sich die Grafen über ihr öffentliches Gebaren selbst immer weiter verdächtig machen würden. 255 Anfang Mai 1591 tauchten die genannten Bekennerschreiben auf. 256 Ihr Autor, den man später mit dem verhafteten Johann Linsener identifizierte, gab an, zuvor mehrere Schmähschriften in Artern ausgelegt zu haben, die er von ihm vorgeblich unbekannten Personen bekommen hätte. Dabei sei ihm zwar immerfort Bezahlung versprochen worden, erhalten habe er jedoch ausschließ‐ lich vertröstung. Bei den Übergaben, die immer in einem Garten außerhalb der Stadt am Schlossgraben geschehen seien, habe man ihm jedes Mal essenn unndt trincken zukommen lassen, aber kein Geld. Sehr detailliert beschreibt der Bote die Personen, denen er in diesem Garten begegnet sei und die von Meyenburg als Diener der Grafen identifiziert wurden. 257 Schließlich sollte der 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 311 258 „Ich wils nicht mehr thun, unndt ich hab jtzt sollen gantz Arttern anstecken, unnd ans pfaffen haus soll ich anfahenn, unndt das ichs nicht thun will, so schick ich euch den brieff, uber die Meyenburge, soll ich auch ein zedell annehmen, ich habs nicht gethan, hirmit beschließ ich, unndt ich komm nicht mehr.“, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. 34 r . 259 HStD, 10036 Finanzamt, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *33. 260 „Ich hab auff derselben leut begehren, die stadt anstecken sollen. Ich hab umbs brodt viel gethan, unndt das nechst feur inn der altenstadt, im stall angelegt. Ich hab kein gelt bekommen, sie haben mir inliegennden zeddell gebenn, zuvorn unndt itzunt, ich soll denn einen auffs rathaus gebenn, unndt denn andern, an des pfarhers haus steckenn, unndt dasselbige anstecken, mit feur. Ich wils nicht thun, drumb schick ich arm mann, euch die zedell.“, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. 32 r . 261 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *20 r -*27 v . Bote nicht nur die Schmähzettel verteilen, sondern außerdem die enthaltenen Drohungen in die Tat umsetzen und die Stadt sowie insbesondere das Pfarrhaus in Brand setzen. Diese Taten gingen ihm jedoch zu weit, sodass er im ersten Brief ankündigt, stattdessen die Gegend verlassen zu wollen. 258 Offenbar gelang es seinen Auftraggebern jedoch kurz darauf noch einmal, ihn zu überzeugen. Am 8. Mai, zwei Tage nach dem Erscheinen des ersten Bekennerschreibens, kam es zu einem Brand in der Stadt. Das Feuer wurde in einer Scheune hinter dem Haus der Meyenburgs entzündet und konnte nur mit Mühe gelöscht werden, ehe es mehr als einige weitere Scheunen und Ställe erfassen konnte. 259 Einige Tage nach diesem Ereignis tauchte dann das zweite Bekennerschreiben auf. In diesem gab der Autor zu, den Brand gelegt zu haben. Jetzt solle er jedoch weitere Schmähzettel ans Rathaus sowie ans Pfarrhaus stecken und letzteres außerdem anzünden. 260 Im Anschluss verschwand der Schreiber tatsächlich von der Bildfläche. Die Bekennerschreiben verwiesen direkt auf Ludwig ter Fine als Autor der Schmähschriften. Der reumütige Bote berichtete von einem Schreiber, zu dem er im Auftrag der anonymen Männer einerseits copeyen habe bringen müssen, von dem er andererseits mindestens die zwei Lieder erhalten habe. Bei diesem Schreiber handele es sich um den Küster zu Rottleben, der denn hals hatt gebrochen. Michael Meyenburg ging in seiner Funktion als Ermittler vor Ort diesen ersten konkreten Personen- und Ortshinweisen nach und machte sich umgehend auf den Weg nach Rottleben, gelegen etwa 20 Kilometer östlich von Artern in direkter Nachbarschaft zur Stadt Frankenhausen. Bereits am 11. Mai, fünf Tage nach Auftauchen des ersten Bekennerschreibens, konnte er den Bericht über seine Nachforschungen an Caspar Tryller senden. 261 Meyenburg hatte bereits vor seinem Besuch in Rottleben vom Tod ter Fines erfahren. Seines Wissens hatte er sich etwa drei Wochen zuvor im Schloss zu Kelbra heftig 312 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 262 Dass Meyenburg dies bereits bekannt war, geht aus einem Bericht hervor, den er bei einem Treffen mit Tryller am 8. Mai tätigte: ebd., fol.-*16 r . 263 Die Originale der Briefe waren zerrissen und wurden von den Brüdern Meyenburg zusammengefügt. Die teilweise noch immer mit Wachs verklebten Bruchstücke finden sich in mehreren Paketen in HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7. Für die Analyse wurden aufgrund der besseren Lesbarkeit die Abschriften aus HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2 verwendet. 264 Zur Ausbildung und zur gesellschaftlichen Position der Lehrer und Küster vgl. R U T Z , Art. „Lehrer/ in“. 265 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *45. betrunken und bei einem Sturz auf der Schlosstreppe das Genick gebrochen. 262 In Rottleben traf Meyenburg ter Fines Witwe Barbara an, die sich zunächst weigerte, Informationen über ihren verstorbenen Mann preiszugeben. Da sie aufgrund ihrer Lebensumstände offenbar in Armut lebte, konnte sie allerdings mit einem Taler überzeugt werden, ihre Wohnung und die vorhandenen Brief‐ wechsel und Schriften ihres verstorbenen Mannes zur Verfügung zu stellen. Dieser Glücksfall ermöglicht es, über enthaltene Korrespondenzen, Konzepte und Schreibübungen in unterschiedlichen Handschriften die gefährliche Arbeit des routinierten und wohl semiprofessionellen Pasquillenschreibers Ludwig ter Fine zu rekonstruieren. Unter den Akten finden sich auch Briefe, die der Bote der Schmähschriften an ter Fine gerichtet hatte. Über sie lässt sich die Zusammenarbeit der beiden Männer beschreiben. 263 Bei ter Fine handelte es sich um den Schulmeister und Küster zu Rottleben. Entsprechend seines Berufes hatte er etwas Bildung genossen, konnte Lesen, Schreiben und Rechnen und war bis zu einem gewissen Grad auch mit der kirchlichen Lehre vertraut. Seine Anstellung erbrachte ihm ein geregeltes, jedoch äußerst schmales Einkommen. 264 Nach Aussage seiner Frau hatte er zunächst zehneinhalb Jahre als Schulmeister in Bedra und anschließend zwei Jahre in Kelbra gearbeitet. Dann habe ihm Graf Wilhelm von Schwarzburg- Frankenhausen befohlen, eine Stelle in Rottleben in der direkten Nachbarschaft seiner Residenzstadt Frankenhausen anzutreten. Die Gemeinde wehrte sich allerdings gegen die Einsetzung ter Fines, die Graf Wilhelm schließlich unter Zwang und Strafen gegen die widerspenstigen Bürger: innen durchsetzte. 265 Barbara ter Fine schwieg sich über die Gründe sowohl für den Widerwillen der Rottlebener als auch für den Entschluss des Grafen, ihren Mann ebendort einzusetzen, aus. Später vermuteten die kurfürstlichen Beamten, dass Graf Wilhelm ter Fine zur besseren Kontrolle in seiner Nähe wissen wollte. Eventuell eilte dem Küster auch bereits ein schlechter Ruf voraus. 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 313 266 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *26 v , *3 r , *6 r . Abb.-7: Handschriftenübungen ter Fines, Das letzte Lied von Artern, Colloquium. Vgl. vor allem die Buchstaben d und g. 266 Der Bote und Autor der Bekennerschreiben blieb zunächst ein Unbekannter. Aus den bei ter Fine gefundenen Briefen geht jedoch hervor, dass er an der Grenze zum Hunger arm war; allerdings war er in der Lage, sich zusammenhängend 314 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 267 Der Bote schrieb lediglich von einem Mann im grünen Rock, der vor kurzem zum Dienst in die Mark gezogen sei, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *61 r . Zu Ernst Philipp von Mansfeld s. S E I D E L , Mansfeld (1998), S.-427. 268 Beide werden zusammen genannt in HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol. *61 r . Otto war ein Neffe Wilhelms, seine Mutter war dessen Schwester Magdalene von Schwarzburg-Blankenburg. In einem Brief an Kurfürst Christian I. gibt Wilhelm an, Otto von Jugend an großgezogen zu haben, s. HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *229 r . 269 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol.-*61 r . 270 Ebd.: „Du weist wohl was wir zusamgeschworen bieß Jn den Todt“. schriftlich auszudrücken. Beide Männer standen offenbar in dienstlicher Bezie‐ hung zu unterschiedlichen Herren von Mansfeld und Schwarzburg. Ausweislich seiner Briefe hatte der Bote seine Aufträge bis kurz vor dem Tod ter Fines haupt‐ sächlich von Philipp Ernst von Mansfeld-Artern erhalten, jenem Mann, der sich später am Brandenburger Hof aufhielt. 267 Dessen Brüder spielten ebenfalls eine Rolle, werden allerdings nur summarisch genannt. Ludwig ter Fine hingegen stand vor allem in Kontakt zu Graf Otto von Mansfeld-Arnstein und seinem Dienstherrn, dem benannten Wilhelm von Schwarzburg-Frankenhausen. 268 Aus den Briefen geht hervor, dass ter Fine als Dichter und Schreiber verschiedener Schriften für die angegebenen Männer arbeitete und mit einigen wohl engeren Kontakt pflegte, im Gegensatz zu dem Boten, der lediglich Anweisungen erhielt. Offenbar schickten die Grafen Entwürfe oder Ideen nach Rottleben, die von ter Fine umgearbeitet wurden. Unter diesen waren auch das Colloquium sowie die beiden Lieder. Dies bestätigt ein interessantes Detail: Die in ter Fines Wohnung aufgefundenen Zettel sind beinahe durchgehend mit einzelnen Schreibübungen in unterschiedlichen Handschriften versehen - offenbar übte ter Fine das Verstellen seiner Handschrift für die verschiedenen Aufträge (Abb. 7). Darunter findet sich die markante Schrift des letzten Lieds von Artern ebenso wie diejenige des Colloquiums. Für ihre Arbeit erhielten die beiden Männern offenbar Lohn, zumindest bekamen sie ihn in Aussicht gestellt. Der Bote war wütend, weil ihm ter Fine angeblich die erhaltene Bezahlung von fünf Talern nicht weitergeleitet hatte. Ludwig ter Fine erhielt mit 15 Talern deutlich mehr Geld, schließlich war er der qualifizierte Verfasser der Schmähgedichte. Der Frust über die ausgebliebene Bezahlung führte dazu, dass der Bote drohte, sie beide auffliegen zu lassen. 269 Zuvor hatten die Männer, offenbar im Bewusstsein der Gefährlichkeit ihrer Arbeit, einander Treue und Verschwiegenheit geschworen, entsprechend trafen sie Vorsichtsmaßnahmen wie das Zerreißen und Verbrennen ihrer Korrespondenz. 270 Allerdings war die Gefahr offensichtlich in den letzten Wochen seit der Ausbringung des Colloquiums stark gestiegen und vor allem 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 315 271 Ebd., fol.-*66 r . 272 Ebd., fol. *63 r : „[U]nd ich krieg zeddeln [in Artern], mich deucht die handschriefft wirdt dir nachgemacht, die im buch gestanden, und dichtung“. 273 Ebd., fol.-*68 v . 274 Ebd., fol.-*68 r f. 275 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *45 r -*54 v . Sie berichtete, dass ihr Mann kurz vor seinem Tod in große Traurigkeit verfallen sei. Am Tag selbst habe er sie mehrmals gesegnet und dann das gemeinsame Haus in Rottleben Richtung Kelbra verlassen. Dort hatten sich die Ereignisse laut Barbara folgendermaßen gestaltet: Zunächst zechte ter Fine mit dem befreundeten Pfarrer Johann Bock, dem er eine singende ambsell als Abschiedsgeschenk mitbrachte ( Johann Bock war nachweislich von 1573 bis 1576 Oberpfarrer und Inspektor in Kelbra, für die Zeit danach existieren keine Belege, s. Art. „Bock, Johann“, in: Pfarrerbuch, Bd. 1, S. 413). Von dort ging er weiter zum Schloss zu Kelbra, das sich zu diesem Zeitpunkt im Besitz derer von Stolberg befand, wo er mit einem Schreiber weiterzechte. Stark betrunken mussten ihn auf der dem Boten war nicht mehr wohl in seiner Haut. So schien er bereits ihren Tod vor Augen zu haben: [E]s stickt in unser beider hertzenn, es ist guth, und ist nicht guth, das es verbrandt. 271 Im Vergleich zu vorherigen Aufträgen führten der Bezug des Colloquiums auf die angesprochenen Konflikte und die enthaltenen Drohungen offenbar dazu, dass den beiden Männern, die in ihren Briefen wie reumütige Kleinkriminelle wirken, die Situation langsam über den Kopf wuchs. Zuletzt entglitten ihnen die Ereignisse zunehmend. Der Bote wies Ludwig ter Fine darauf hin, dass dessen Handschrift, mit der er das Colloquium verfasst habe, in Artern gefälscht würde. 272 Damit bezog er sich scheinbar auf die unterschiedlichen Zettel, die in der Schrift dem Colloquium ähneln, sich allerdings in Qualität und Umfang deutlich von diesem unterscheiden. Weiter warnte er ter Fine mehrfach, dass die Grafen Angst hätten, die Sache käme ans Licht. Zuletzt wurde er sehr explizit: Er [Graf Wilhelm] wirdt dich den halss sturtzen lassenn, das es nicht ausbricht, unnd ist mir auch gedrauet. 273 In diesem letzten Brief, der auf den 2. Februar 1591 datiert, brach der Bote mit ter Fine. Abfällig schrieb er: [D]u magst nuhn sehen wo du bleibst, mich hatt immer gewundert warumb dich der graff [Wilhelm] haben wollenn, sieh wie dirs gehen wirdt […] hier mit besegne ich dich, und hier auf dieser weltt, kommen wir nicht wieder zusammen. 274 Wie recht er damit haben sollte, wusste er wohl nicht. Denn am Abend dieses zweiten Februars stürzte ter Fine tatsächlich und brach sich das Genick. In einem ausführlichen Bericht gegenüber Michael Meyenburg beschrieb Barbara ter Fine den Tod ihres Mannes als Mord, in Auftrag gegeben von den Grafen von Mansfeld. 275 Auch zu den Monaten vor dem Ableben Ludwig ter Fines konnte 316 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft Treppe zwei Burschen stützen. Dennoch stürzte er, riss noch einen der Jungen mit sich, fiel daraufhin ins Koma und starb tags darauf. Barbara ter Fine führte diese Episode, von der sie nur über Dritte wissen konnte, so eindrücklich aus, da sie, obwohl sie keine offene Anklage erhob, von einem Mord ausging. Sie legte nahe, dass der Junge, der hinter ihrem Mann gegangen sei, ihn gestoßen haben könnte. Leider sei dieser, ein Westfale namens Philipp, seither verschwunden. 276 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *47 v . 277 Eine weitere merkwürdige Begegnung fand, nach Aussage der Witwe, einige Tage vor ter Fines Tod statt. Diesmal sei ein fremder Mann namens Dietrich Schötter in Bauernkleidung von Frankenhausen nach Rottleben gekommen und habe den Schulmeister vor seiner Schule aufgesucht. Dabei habe er dieselbe Forderung wie Graf Philipp Ernst vorgebracht, aber ter Fine habe erneut abgelehnt. Der Hinweis, dass in Frankenhausen genügend Schreiber auf Arbeit warten würden, stellte Schötter nicht zufrieden - er war offensichtlich geschickt worden, um Ludwig ter Fine zur Arbeit zu bewegen. Er schlief gar eine Nacht im Ort bei dem Leinweber Jacob Sack. Letzterer konnte die Aussagen der Witwe ter Fine bestätigen und sagte zudem aus, dass der Fremde offensichtlich von einem Edelmann geschickt worden sei, um den Text von ter Fine und niemand anderem schreiben zu lassen. Am folgenden Morgen habe Schötter ter Fine schließlich ein Schreiben überreicht, um dann wütend von dannen zu ziehen. Es sei dieser Brief gewesen, der ter Fine schwermütig gemacht hätte. S. ebd., fol. *51 v f. 278 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 6, fol. *49 r -*51 r . 279 Ebd., fol.-*46 r . Barbara erhellende Angaben machen. So sei an Michaelis (29. September) 1590 Philipp Ernst von Mansfeld-Artern nach Kelbra gekommen und habe ihrem Ehemann Geld angeboten, wenn er etwas für ihn schriebe. Ter Fine habe jedoch abgelehnt, weil es um hohe Sachen gegangen sei und er gedacht habe wenn er ihme dismals schriebe, unndt es würde offenbahr, schluege mann ihme denn kopff abe, denn es lieffe wider die hohe obrigkeit. 276 Die Involvierung des Kurfürsten unterschied den neuen Auftrag demnach von den vorherigen und bedeutete eine Grenzüberschreitung, die ter Fine nicht zu akzeptieren bereit war. Nach der ablehnenden Antwort sei Graf Philipp Ernst ausfällig geworden und im großen Zorn davongeritten. 277 Barbara ter Fine und ihr Vater Martin Dahldorf, der mit den ter Fines im selben Haus lebte und ebenfalls von Meyenburg verhört wurde, gaben in ihren Berichten schließlich auch die Identität des Boten Preis. 278 Aufgrund ihrer Beschreibung wurde im Sommer 1591 schließlich der schon Eingangs ge‐ nannte Johann Linsener gefangen genommen und im Brühetrog nach Dresden verschafft. Ter Fine und Dahldorf beschrieben ihn als einen älteren, in Armut lebenden Mann mit äußerst fragwürdigem Lebenswandel, der sich als Pfarrer ausgebe, als einen grosse[n] schalck, der viel auff unnd hinder sich hätte. 279 Dahldorf, der allerdings weder seinem Schwiegersohn noch Linsener wohlge‐ sonnen war, bezeugte, dass die beiden Männer bereits vor der Zeit in Rottleben 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 317 280 Ebd., fol. *49 r . 281 Ludwig ter Fine hatte ihm dies offenbar im betrunkenen Zustand berichtet, als er von einer Hochzeitsfeier nachhause kam, ebd., fol.-*50 r . 282 In England konnten derartige Schreiber bereits von Adam Fox identifiziert werden: F O X , Oral and Literate Culture (2000), S.-305. 283 Dass Meyenburg nicht in eigenem, sondern kurfürstlichem Auftrag handelte, beweisen auch die Spesenrechnungen, die er seinen Berichten beilegte, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *20r-*21 r . 284 Das Vorgehen bezüglich der Witwe ter Fine war Georgius und Meyenburg von oben vorgegeben worden. So sollten sie sich mit einem Wagen des Nachts auf den Weg nach Rottleben begeben, diesen allerdings in sicherer Entfernung stehen lassen und sich dem Haus zu Fuß durch die Felder nähern, um nicht gesehen zu werden, ebd., fol. *28 r -*31 v . Barbara sollte in eine „magdleins schule“ nach Meißen verbracht werden. Da dort offensichtlich kein Platz für sie gefunden werden konnte, verblieb sie zunächst in einem Dorf bei Dresden unter Hausarrest. Ihr Vater begleitete sie und bereitete noch einige Probleme, da er unter Alkoholeinfluss offensichtlich zur Redseligkeit neigte, ebd., fol.-*175 r . heimliche sachenn zusammen vorgehabt hätten. 280 Außerdem habe ihm ter Fine einst berichtet, dass er und Linsener gemeinsam über die Schmähschriften zu grossenn ehren unde guthern kommen wollten. 281 Damit bezeugte er bezüglich der Arterner Schmähschriften nicht nur eine direkte Zusammenarbeit der beiden Männer, sondern rückte zudem das Motiv der Habgier ins Zentrum. Der Einblick in die Arbeit ter Fines und Linseners belegt auch für Deutschland die Arbeit semiprofessionell agierender Pasquillanten, die durch Übung ihre Fähigkeiten geschult hatten und für selbige bekannt waren. 282 9.5.3 Der Zugriff auf die Verdächtigen Die Schriftstücke, die man in ter Fines Wohnung gefunden hatte, sowie die Vernehmung Barbara ter Fines und ihres Vaters hatten der Landesregierung Namen und Informationen nicht nur zu Johann Linsener, sondern auch zu zwei weiteren Personen geliefert, nämlich zu David Heine und einem gewissen Scruttetus. Auf diese drei Männer konzentrierte sich seit Juni 1591 die kur‐ fürstliche Untersuchung, mit der in der Hauptsache Michael Meyenburg und der Amtschösser Thomas Georgius betraut waren. 283 Zunächst wurden jedoch strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen. In Dresden sorgte man sich - auch bedingt durch die Erzählung von der Ermordung Ludwig ter Fines - vor dem Zugriff der Grafen von Mansfeld und Wilhelm von Schwarzburgs auf die Witwe ter Fine und ihren Vater als wichtige Zeug: innen. Daher verbrachte man beide unter strengster Geheimhaltung und illegaler Weise aus dem Gerichtsbezirk Wilhelm von Schwarzburgs nach Meißen. 284 318 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 285 Ebd., fol. *37 r -*40 v . Der Superintendent von Weißensee, Zacharias Fröschel (im Amt 1572-1592, Mitunterzeichner des Konkordienbuchs, s. V O N H A G K E , Personal-Codex [1868], S. 1; Art. „Fröschel, Zacharias“, in: Pfarrerbuch, Bd. 3, S. 168.), hatte den Namen Linseners zuvor in den Kirchenrechnungen des vergangenen Jahres gefunden. Als exuli (Verbannter) waren ihm Almosen aus den Gotteskästen der Kirchen zugesprochen worden. Georgius und Fröschel stellten Linsener nun eine Falle, indem sie ihn unter einem Vorwand in die Superintendentur einluden und dort verhaften ließen. 286 Der Kalender liegt vor: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 9, fol. *26 r -*120 v . 287 Ebd., fol.-*54 r -*56 r . 288 Ebd., fol.-*58 r , *94 r . 289 Als terminus ante quem kann der Schwur des Landknechts Christoff Knurrmundt vom 27.6.1591 gesehen werden, der offenbar nach der Ablieferung des Gefangenen getätigt wurde: ebd., fol.-*68 r . 290 Ebd., fol.-*65 r , *67 r , *74 r , *79 r , *106 r , *123 r . Bereits am 12. Juni konnte Georgius an den Kurfürsten vermelden, dass Linsener ihm in die Hände gefallen sei. 285 In einer ersten Befragung leugnete dieser zwar, etwas von den Schmähschriften zu wissen und jemals in Artern gewesen zu sein, doch gestand er, Ludwig ter Fine von mehreren Gelegenheiten zu kennen. In einem Kalender, den er mitführte, waren zudem Aufenthalte in Rottleben und Frankenhausen vermerkt. 286 Georgius erhielt daraufhin die bekannten Anweisungen zur Verbringung Linseners nach Dresden: Der Gefan‐ gene sollte geblendet, in einen rüstwagen gelegt und mit Flechtwerk verborgen werden. 287 Bei Fragen sollte man ihn als Mordbrenner bezeichnen - eine mit Blick auf die gegenwärtige Angst vor Mordbrennern glaubwürdige Ausrede. An die Hauptmänner zu Merseburg und Freiberg sowie an den Rittmeister zu Dresden, Thilo von Osterhausen, erging der Befehl, sich mit Pferden und Knechten bereitzuhalten; auch die Schösser von Meissen und Nossen wurden informiert und auf Geheimhaltung eingeschworen. 288 Noch vor Ende Juni 1591 kam Linsener in Dresden an und wurde von dort auf den Hohnstein verbracht, das damals wichtigste Gefängnis der sächsischen Kurfürsten. 289 Nach der Verhaftung Linseners wurde eine große Zahl an Amtmännern und anderen Obrigkeiten bei der Suche nach David Heine und Scruttetus aktiviert. So erkundigte sich Caspar Tryller beim Bürgermeister von Weimar, bei seinem Vetter Samuel Tryller, Bürger zu Salfeld, bei einem ebenfalls verwandten Michael Tryller, Schösser zu Sangerhausen, bei den Schössern von Eisleben und der Burgen vor Naumburg sowie bei Herzog Friedrich Wilhelm von Sachsen- Weimar. 290 Zwar zogen die Nachforschungen weite Kreise, klare Ergebnisse förderten sie jedoch nicht zutage. Die Namen David Heine und Scruttetus wurden unterschiedlichen Personen zugeordnet, die jedoch entweder bereits 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 319 291 Mehrere Personen - unter ihnen Herzog Friedrich Wilhelm - identifizierten David Heine als einen Feldprediger, oder vorgeblichen Feldprediger, in Frankreich. Sein Wirkungsfeld waren demnach die zur Zeit dort grassierenden Religionskriege, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *70 r , *106 r . Zudem gab es verschiedene Berichte, die den Gesuchten als Sohn einer Schinderfamilie in Erfurt beschrieben, der beim Ehebruch erwischt und bestraft worden sei, sich anschließend jedoch mit Brandstiftung gerächt habe, ebd., fol. *79 r . Bezüglich des Scruttetus wurde aus Salfeld berichtet, dass ein Mann entsprechenden Namens vor Kurzem hingerichtet worden sei, ebd., fol.-*75 r . 292 Bereits vor dem 2.7.1591 hatte sich Michael Meyenburg mit Levin von Geusau getroffen, dessen Planungen zur Erstürmung des Arterner Schlosses bereits weit fortgeschritten waren. Zur Unterstützung konnte ein ehemaliger Koch der Grafen gewonnen werden, der nach eigener Aussage über 20 Jahre auf dem Schloss gearbeitet hatte. Aufgrund ausgebliebener Lohnzahlungen war er nun bereit, mit seinen Kenntnissen über die Anlage die Angriffsvorbereitungen zu unterstützen, ebd., fol.-*90 r -*91 v . 293 Ebd., fol.-*95 r . 294 Ebd., fol.-*98 r , *101 r . 295 Ebd., fol. *109 r . 296 Ebd., fol.-*144 r . tot waren, oder aber nur flüchtige Spuren hinterlassen hatten, die in Richtung Frankreich wiesen. 291 Parallel begann man, die Schlinge um die Grafen von Mansfeld-Artern enger zu ziehen. Von der Sachsenburg aus, nur wenige Stunden von Artern entfernt, bereitete Levin von Geusau eine mögliche militärische Erstürmung des Arterner Schlosses vor. 292 Von Geusau trat von allen Amtsträgern am vehementesten für ein offenes und gewaltsames Eingreifen anstelle der verschwiegenen Un‐ tersuchungen ein. So schlug er im Juli 1591 vor, man solle den nechsten das wespenn nest sturmen und sehe wass man ehrlangen konne. 293 Ziel war es, möglichst alle Grafen und ihre Diener gleichzeitig zu überraschen und somit die Fluchtgefahr zu minimieren. Einmal festgesetzt, sollten sie in Verhören mithilfe der bisherigen Erkenntnisse gegeneinander ausgespielt werden. Caspar Tryller unterstützte von Geusaus Pläne. 294 Der Kurfürst, der persönlich Entscheidungen traf, zögerte jedoch und verlangte mehrfach zusätzliche Informationen zur Rechtfertigung eines militärischen Vorgehens. Auch für diese Entscheidung spielte die Geheimhaltung der Affäre eine große Rolle. Zwar wollte man zur Absicherung gerne auf weitere Informationen warten, jedoch wusste man darum, das es durch ferner zusehen nicht besser, sondern vielmehr weitleuffiger gemacht werden möchte. 295 Zuletzt erging am 18. Juli 1591 die Weisung an Levin von Geusau, weiterhin abzuwarten. 296 Seit Ende Juni berichtete Michael Meyenburg regelmäßig von den Aufent‐ haltsorten der Arterner Grafen sowie von denen der Grafen Otto von Mansfeld- Arnstein und Wilhelm von Schwarzburg-Frankenhausen. Zunächst verhielten 320 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 297 Ebd., fol. *81. 298 Aus einem Brief Volraths von Mansfeld-Artern an dessen Bruder Philipp Ernst in Berlin geht hervor, dass die Arterner kurz zuvor den Brief Hans Günthers aus Straßburg erhalten hatten: ebd., fol.-*185-*188. 299 Ebd., fol.-*131-*137 r , *151-*151 v , *155 r , *217 r . 300 Ebd., fol.-*145-*150. 301 Ebd., fol.-*128 v . 302 Ebd., fol. *162 r . sie sich allesamt ruhig; einer frühen Aufforderung, sich in Dresden einzufinden, kamen die Arterner zunächst nicht nach. 297 Ab Anfang Juli wurden die Be‐ schatteten jedoch zunehmend nervös. Zu diesem Zeitpunkt erhielten sie die bereits erwähnte Warnung ihres Verwandten aus Straßburg. 298 Sie begannen, Kontakt zu Levin von Geusau und Kurfürst Christian aufzunehmen. In ihren insgesamt sieben Supplikationen, die erste datiert auf den 8. Juli 1591, stritten sie sämtliche Vorwürfe in Bezug auf die Schmähschriften ab und betonten den Gehorsam gegenüber ihrem Landesherrn. 299 Mitte des Monats waren die Grafen offenbar bereits so sehr in Aufruhr, dass sie des nachts nicht mehr im Schloss, sondern auf offenem Feld schliefen, um bei dem von ihnen erwarteten Angriff fliehen zu können. 300 Auch Graf Wilhelm von Schwarzburg-Frankenhausen geriet zusehends in Sorge. Michael Meyenburg berichtete am 6. Juli: Graff Wilhelm sol so sehr unmutz und schwermutig sein, das ehr niemandes, auch graff Otten [v. Mansfeld-Arnstein] der doch sein hertz ist, nicht wol umb sich leiden kon, hat heute dato sehr vil vogel, habicht, blaufüß, sperber und speitzen von Franckenhausen nach Strassberch [Straußberg] tragen lassen. 301 Wilhelm befand sich demnach gemeinsam mit seinem Neffen Otto auf dem Straußberg, einer Burg bei Sondershausen. Seine Stimmung war offenbar so schlecht, dass er sich zur Zerstreuung diverse Wildvögel bringen ließ. Dass sich dieser Reichsgraf, der zwar Lehnsmann des Kurfürsten war, sich aber als Landesherr in einer gänzlich anderen Position befand als die sequestrierten Grafen von Mansfeld-Artern, derart bedroht fühlte, verdeutlicht einmal mehr die enorme Tragweite des Falls. Nach den Berichten Meyenburgs ritt Graf Wilhelm kurz vor dem 12. Juli vor das Arterner Schloss, wo er den fünf Grafen bezüglich der Pasquille hard zu reden setzte. Diese hätten ihre Taten jedoch weiter hard geleugnet. 302 Einige Tage darauf bereitete sich Wilhelm außerdem auf ein militärisches Engagement Kursachsens auch in seiner Herrschaft vor, indem er die Bürgerschaft von Frankenhausen in Alarmbereitschaft versetzte und ihr befahl, sich beim ersten Glockengeläut in bester Wehr auf dem Rathausplatz zu versammeln. Schließlich spielte Wilhelm die entscheidende Rolle beim Einlenken der Grafen in Artern: Nachdem er Anfang August erneut vor ihr 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 321 303 Ebd., fol.-*219. 304 Ebd., fol.-*260-*263. 305 Ebd., fol. *313 r . Mit dem Landtag stand der Kurfürst aus den beschriebenen Gründen auf Kriegsfuß, vgl. Kap. 9.2.2. 306 Für diese prägnante Formulierung sei Max Rose gedankt. Schloss geritten war und ihnen befolen hatte, augenblicklich nach Dresden zu reisen, begaben sich die Mansfelder mitsamt ihren wichtigsten Dienern am 5. August auf den Weg. 303 Erst jetzt, über acht Monate nach ihrem Beginn, machten der Kurfürst, sein Kanzler und Landrentmeister Tryller die Untersuchungen insofern offiziell, als sie den Geheimen Rat informierten. 304 Dieser reagierte verhalten. Da die bishe‐ rigen Indizien seiner Meinung nach nicht für eine Anklage ausreichten, sollte man die sichergestellten Briefe und Dokumente studieren und die Diener unter Androhung der Folter verhören. Der Geheime Rat empfahl die Unterbringung der Grafen im kurfürstlichen Haus in Pirna, wo sie getrennt voneinander in unterschiedlichen Zimmern eingesperrt wurden. Die Vorsicht des Geheimen Rates und des Kurfürsten ergab sich vor allem der landsstende wegen. 305 Die Vorgänge zeugen von dem schwierigen Balanceakt, den man von Seiten der Landesregierung wagte. Auf der einen Seite unternahm man erhebliche Anstrengungen und überschritt dabei politische und rechtliche Grenzen, um die Hintergründe der Schmähschriftenkampagne aufzudecken und schließlich auch der mutmaßlichen Täter habhaft zu werden. Auf der anderen Seite legte man allergrößten Wert auf Geheimhaltung und versuchte mögliches Aufsehen, öffentliche Kommunikation oder gar ein geschrei zu vermeiden. Dass der Balan‐ ceakt kaum gelang, bezeugen die auf die Untersuchungen bezogenen Gerüchte, die in Artern sowie wohl ganz Mansfeld und darüber hinaus kursierten. Man war sich in Dresden durchaus bewusst, dass ein militärisches Vorgehen gegen die Grafen die Überschreitung einer weiteren Grenze bedeuten würde und vor allem der Kurfürst schien hierzu noch nicht gewillt. Auch mit Hinblick auf die angespannten Beziehungen zu den Landständen wusste man, dass ein militärischer Sieg zugleich eine politische Niederlage bedeuten konnte. 306 9.5.4 Befürchtungen der Landesherrschaft Der Hauptverdächtige Johann Linsener war im Juni 1591 zunächst nach Dresden und von dort auf den Hohnstein verbracht worden. Bereits in Dresden hatte man begonnen, ihn unter der Folter nach den Ereignissen in Artern und seiner Rolle 322 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 307 Schon Ende Juni und noch in Dresden musste Linsener dreimal täglich von einem kurfürstlichen Leibarzt und dem Scharfrichter medizinisch versorgt werden. Zeitweise war aufgrund seiner großen Schmerzen überhaupt kein Verhör möglich, obwohl sowohl Krell als auch Caspar Tryller ihn mehrmals persönlich deshalb aufsuchten, HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09739/ 20, fol.-33 r -38 v . 308 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 6, fol. *68 r -*91 v . 309 Ebd., fol.-*275-*281; HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 9, fol. *161-*171. 310 Fiscelius ist als einziger in der bestehenden Forschungsliteratur greifbar. Das sächsische Pfarrerbuch weist ihn für die Jahre 1594-1593 als Diakon zu Artern aus: Art. „Fiselius (Fiscelius), Johann“, in: Pfarrerbuch, Bd.-1, S.-59. 311 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 6. 312 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *34-*35. darin zu befragen. 307 Während dieser Tortur gestand Linsener verschiedentlich die ihm zur Last gelegten Taten und gab ausführliche Aussagen zu Protokoll. Sobald er bei Kräften war, widerrief er jedoch jedes dieser Geständnisse und begründete sie mit den Qualen der Folter - zuletzt am 22. September 1591. 308 Seine Aussagen erscheinen somit vor allem als Reaktionen auf Suggestivfragen der Verhörführer. Damit verbietet sich zwar eine Auswertung in Bezug auf die Rekonstruktion des Ereignisverlaufs, es lassen sich aber Hinweise auf die Vermutungen und Befürchtungen des Kurfürsten, seines Kanzlers und des Landrentmeisters entnehmen. Die fünf Grafen von Mansfeld-Artern verbrachten vom 19. August 1591 an einige Wochen in Einzelhausarrest in Pirna. Obgleich sie bedingt durch den Tod des Kurfürsten im September 1591 letztlich nie verhört wurden, liegen die bereits vorbereiteten Fragstücke vor. 309 Gemeinsam mit den fünf Grafen wurden zwei ihrer Diener nach Pirna verbracht: der Narr Martin Schmied und der Schösser Franz Abendrot. Drei weitere Diener hatten ihre Herren zunächst nicht nach Dresden begleitet, wurden jedoch kurze Zeit später in Artern verhaftet und auf den Hohnstein zu Johann Linsener gebracht. Bei ihnen handelte es sich um den Schreiber Christoff Bierbauch, den Diakon Johannes Fiscelius 310 sowie Martin Sempergk. Fragstücke wie Antworten der Dienerschaft liegen vor. 311 Bezüglich der Verbringung auf den Hohnstein ist erneut auf den hohen Aufwand hinzuweisen, der zur sicheren Verwahrung der Gefangenen und der Geheimhaltung der Untersuchungen betrieben wurde. Landrentmeister Tryller sondierte einige Tage vor der Ankunft der Gefangenen persönlich die Burg Stolpen und das Schloss Hohnstein mit Blick auf mögliche Einzelzellen. Er ließ Fenster vergittern und zumauern und legte großen Wert darauf, dass die Gefangenen keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen konnten. Auch die Schösser der Anlagen wurden, wie alle bisher beteiligten Amtsträger, zur Geheimhaltung verpflichtet. 312 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 323 313 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol.-*19. 314 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *66 v . 315 Vgl. B U B E R T , Konspirationismus (2021), S.-335-341. 316 Linsener gab unter der Folter eine detaillierte Beschreibung der Vorgänge zu Protokoll: „Was das anstecken zu Artern belangen thett, dartzw hette ihm Davidt Heine einen zundtschwam eines fingers lang, unnd ziemlich dicke, in einem dorffe uber Heldrungen, inn einer schencke heimlich zugestalt, und die stadt Artern darmit zuverbrennen bevholen. Wie er (Davidt) dan noch vihl schwemme, neben einem feuerzeugen, bey sich gehept. Uff solch des Heinen geheis, were er gegen abendt nach Artern in ein bierhaus gangen, und dorinnen zwo kandeln bier getruncken. Entlichen den schwam mitt einem untzschlet lichte angezundet, den selbigen in eine holtzerne straubuchssen Aus den Fragstücken und Verhörprotokollen lassen sich mehrere Rück‐ schlüsse auf Annahmen und Befürchtungen auf landesherrlicher Seite ziehen. Christian I. und seine Regierung betrachteten die Grafen von Artern und ihren Vetter Otto von Mansfeld-Arnstein sowie Wilhelm von Schwarzburg- Frankenhausen als Auftraggeber des Colloquiums. Es war der Glaube der Landesregierung, dass die Grafen Ludwig ter Fine gegen eine versprochene Bestallung in Höhe von 50 Talern das Colloquium nach ihren Vorgaben verfassen ließen. Mithilfe des Boten Johann Linsener und des immer noch flüchtigen David Heine seien die Schmähschrift und die von ihren Dienern verfassten Drohschriften schließlich verbreitet worden. Weiter ging man davon aus, dass Abschriften des Colloquiums angefertigt und in einem Kreis verbreitet worden waren, der über die in den Akten belegbaren Orte hinaus reichte. So berichtete Linsener unter der Folter, er habe sich im Sommer 1590 mit ter Fine und Heine in Frankenhausen getroffen, um das Colloquium mehrfach abzuschreiben. An‐ schließend habe man Exemplare nach Saalfeld und Halle geschickt und Heine sei nach Frankreich gezogen, wobei er die Schrift hin unnd wider spargiert habe. 313 Daneben war man überzeugt, dass Informationen über die Schmähschriften und ihre Autoren im gemein gerede der Bewohnerschaft Mansfelds kursierten. Auch wenn die Verbreitung in diesem Fall ausweislich der verfügbaren Informationen höchstens in unwesentlichem Umfang stattgefunden hatte, war die Fiktion einer drohenden Beeinflussung der öffentlichen Meinung allgegenwärtig. Zudem war man von der realen Gefahr eines Aufstands und der drohenden Ermordung des Kurfürsten überzeugt. Die Fragen an Linsener bezüglich eines Anschlags führten schließlich zu dessen Aussage, dass der Kurfürst mit Gift getötet werden sollte. 314 Hierbei handelte es sich um ein schon seit dem Mittel‐ alter bekanntes Motiv verbreiteter Verschwörungserzählungen. 315 Bezüglich der Brandstiftung in Artern hatte man Linsener entlockt, dass er Feuerholz und Zunder, gar eine Art Brandbombe mit Verzögerungszünder von David Heine oder einem Diener der Grafen bekommen habe. 316 Die Brandstiftung stellte 324 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft gethan, das dinten faß wider darauf geschraubet, und solchs in sein geseß gepackt. Wie er aber gefulet, befunden, das es were das es ihm warm uff die bein gehen, auch der schwam richendt werden wollenn, war er aus dem bierhauße gangen, unnd den gluenden schwam zu einem fenster in einen stall in der alten stadt geworffen, davon der stall uf volgendes tags umb den mittag entzundet, unnd angangen, sein soltte“, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol.-*32. 317 S C R I B N E R , Mordbrenner Fear (1988), S.-34-36. 318 P R E S S , Adelskrise (1977). 319 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol.-*22. 320 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *2 r . Außerdem bestätigte Claus Sempergk, dass die Grafen öffentlich Sorge um ihre Position geäußert hätten (ebd., fol. *45 r ). Christoff Bierbauch wusste zu berichten, dass sie einigen Amtspersonen unwillig gewesen waren, da es unrichtig zugegangen sei (ebd., fol. *57 v ). eine ganz deutliche Verbindung zu Aufständen her, war sie doch als Waffe in vergangenen Untertanen- und Adelsrevolten, auch unter Zuhilfenahme von beauftragten Bettlern, bekannt. 317 Es ist davon auszugehen, dass den Beteiligten eine ganz konkrete Adelsrevolte vor Augen stand, welche die Sorge um die Mansfelder Ereignisse unterfütterte: die Grumbachschen Händel des Jahres 1567, die unter Christians Vater August beendet worden waren. Die Revolte weist in ihren Grundzügen durchaus Gemeinsamkeiten mit der Gemengelage in der Grafschaft Mansfeld auf. So war sie Ausdruck niederadliger Opposition gegen den fortschreitenden Ausbau der Landesherrschaft, entwickelte sich aus regionalen Anlässen, nutzte konfessionelle Spannungen aus und wurde von ihren Trägern, die sich wirkungsvoll der Flugpublizistik bedienten, als Sache des Adels wie des ‚Gemeinen Mannes‘ gleichermaßen öffentlich inszeniert. Und auch über den Tod Grumbachs hinaus blieb die Furcht vor Adelskonspiration und Untertanenaufstand präsent. 318 Die Gründe für den Unmut der Mansfelder und die daraus resultierenden Pläne sah man in den dargelegten Themenbereichen Sequestration und Zweite Reformation. So wurde Linsener zu der Aussage gebracht, die Grafen wollten dem Kurfürsten nach dem Leben trachten, wenn dieser ihnen nicht Land und Leute zurückgebe. 319 Auf den mit der Sequestration zusammenhängenden Herrschaftswechsel zielten diejenigen Artikel der Verhöre ab, die nach einer Eidesleistung der Diener gegenüber den Grafen fragten. 320 Ein solcher Unter‐ taneneid, so explizierte es der Eisleber Abschied, durfte nur noch auf den Kurfürsten abgelegt werden. Ähnlich gerichtete Motive, nämlich finanzielle Einbußen durch die Sequestration und konfessionelle Überzeugungen, unter‐ stellte man dem verhörten Johannes Fiscelius. Diesem, der offenbar bereits als Mitautor konfessioneller Streitschriften gearbeitet hatte, entfielen durch die Sequestration Einnahmen, die er zuvor aus einem Gut bei Artern bezogen 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 325 321 Ebd., fol.-*17 r , *29 r . 322 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 8. Die Akte enthält eine Liste der bei Fiscelius gefundenen Schriften sowie Briefe mehrerer Mansfelder Grafen. 323 So lautete die entsprechende Aussage Linseners: „Das die graffen zu Arternn dem pfarher doselbst so feindt und widersetzten, were dahero geflossen, das er sich ahn den superattendenten, so unser gst. herr gegen Eisleben vorordenet gehaltten, und sollten sich die graffen haben vernehmen lassen, ihre churf. g. hetten es nicht macht, dan ihnen das ius patronatus zustendig.“, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 2, fol.-*11. 324 Man stellte sowohl den Dienern als auch Linsener die Suggestivfrage, ob nicht darüber gesprochen worden sei, dass die Kindstaufe des Fürsten zu Anhalt auf die calvinische artt vollzogen worden sei und eine Übertretung der lutherischen Ordnung bedeutet habe, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *4 v . Hierbei handelt es sich um einen Bezug auf Johann Georg I. von Anhalt-Dessau (Reg. 1586/ 1603-1618), der seit 1588 mit Dorothea von Mansfeld-Arnstein, einer Schwester des Grafen Otto, verheiratet war. Johann Georg setzte sich seit 1589 für die Abschaffung des Exorzismus bei der Taufe ein, somit handelte es sich bei der angesprochenen Kindstaufe um diejenige seiner Tochter Sophie Elisabeth (*1589) oder ihrer Schwester Agnes Magdalene (*1590). Die Person Johann Georgs integriert sich neben der Ehe mit Ottos Schwester und der Abschaffung des Exorzismus auch durch sein Vorgehen gegen orthodox-lutherische Geistliche in das beschriebene Konfliktfeld der reformierten Konfessionalisierung in Kursachsen und Mansfeld. Vgl. S I E B I G K , Art. „Johann Georg I., Fürst von Anhalt-Dessau“ (1881). 325 Diese ergab sich durch die Abwendung Kursachsens vom katholisch-habsburgischen Kaiserhaus und der entsprechenden Hinwendung zu den wichtigsten reformierten Kräften im Reich. Ergebnis dieser Neuorientierung war der Torgauer Bund, „der die außenpolitisch handlungswilligen Reichsfürsten gegen Habsburg und gegen die katholische Gegenreformation vereinte“ und Spaniens Machtanspruch in Europa auch militärisch entgegentreten sollte, s. N I C K L A S , Christian I. und Christian II. (2007), S. 132. hatte, das nun der neuen Verwaltung unterstand. 321 Da somit ein starkes Motiv Fiscelius’ vorlag, wurde dessen Studierstube in Artern aufgebrochen und alle Schriftstücke nach Dresden verbracht. Belastendes Material fand sich jedoch nicht. 322 Auch der Streit mit Pfarrer Zelck wurde thematisiert und innerhalb des Konflikts um das ius patronatus der Grafen und die Einsetzung des Eisleber Superintendenten eingeordnet, 323 ebenso der mutmaßliche Übertritt des Kur‐ fürsten zum Calvinismus. 324 Die Schmähschriftenkampagne wurde also als Vorbote einer möglichen Revolte in der Grafschaft Mansfeld betrachtet, hinter der man eine größere Gruppe von Verschwörern vermutete. Erneut zeigt sich das Potential obrigkeits‐ kritischer Schmähschriften, Kollektive zu inszenieren und auf diese Weise Auf‐ merksamkeit zu erregen. Die Kampagne wies außerdem enge Verbindungen mit politischen Großkonfliktlagen auf, denen durch die calvinistischen Tendenzen des Kurfürsten auch eine außenpolitische Dimension innewohnte. 325 Diese Faktoren sowie die Bedrohung der Reputation und des Lebens des Kurfürsten verliehen den Arterner Schmähschriften den Charakter eines Majestätsverbre‐ 326 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 326 S C H N A B E L - S C H Ü L E , Majestätsverbrechen (1994), S.-46. 327 Vgl. L U D W I G , Das Herz der Justitia (2008), S.-130-151. 328 H O Y E R , Art. „Christian I. von Sachsen“ (2005). 5. Oktober nach dem gregorianischen Kalender. 329 Vgl. Kap. 9.2.2. 330 Eine Zusammenfassung der Ereignisse nach dem Tod Christians I., vermutlich für Friedrich Wilhelm erstellt, findet sich undatiert in: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 10, fol. *2-*6. 331 Die fünf Urfehden finden sich in: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *59-*64. 332 Ebd., fol.-*71 r . chens. Als solches hatten sie, besonders wegen der Involvierung von „Personen, die ein Amt ausübten beziehungsweise die die Öffentlichkeit beeinflussen konnten“ 326 eine strenge, von den festgelegten Prozessregeln abweichende Strafverfolgung ausgelöst. Die Reaktion der Landesherrschaft im Mansfelder Fall deckt sich daher mit derjenigen, die L U DWI G für die Wilderei als einem Ver‐ brechen, das ebenfalls Herrschaftsinteressen berührte, nachzeichnet: Anstelle der sonst oft defizitären Strafverfolgung präsentiert sich eine Zusammenarbeit von Schössern, Amtsverwaltern und anderen Amtsträgern, unabhängig von den bestehenden Verwaltungsgrenzen; man traf erhöhte, Flucht vereitelnde Vor‐ sichtsmaßnahmen bei der Inhaftierung der Verdächtigen und wandte die Folter an, ohne Rücksicht auf bestehende restriktive Bestimmungen zu nehmen. 327 9.5.5 Der Tod Christians I. - vorläufiges Ende und Richtungswechsel Am 25. September 1591 starb Christian I. unerwartet. 328 Hieraufhin kam es zur beschriebenen politisch-konfessionellen Neuausrichtung Kursachsens am Luthertum. 329 Kanzler Krell wurde umgehend abgesetzt, die Regierungsge‐ schäfte übernahm Friedrich Wilhelm von Sachsen-Weimar als Administrator gemeinsam mit Christians Witwe Sophie. Unter der neuen Herrschaft verliefen die Untersuchungen in Mansfeld umgehend im Sand. 330 Die Grafen wurden aus dem Hausarrest entlassen und durften nach Artern zurückkehren, nachdem sie versprochen hatten, sich bei Aufforderung wieder in Dresden einzufinden. Ihre Diener wurden ebenfalls gegen ein solches Versprechen und nach geleisteter Urfehde aus der Haft entlassen. 331 Lediglich Johann Linsener verbliebt weiterhin auf dem Hohnstein. Aus Artern berichtete Michael Meyenburg am 7. November 1591 an Rentmeister Caspar Tryller, dass dieses orts, uber dem kleglichen thotsval [Christians I.] mehr frolocken als leid vorherrsche und die Grafen auch niemals mutiger und trotziger gewesen als izo. 332 Außerdem strengten die Grafen nach 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 327 333 Friedrich Wilhelm holte zunächst am 6. Dezember 1592 den Rat der kurfürstlichen Räte bezüglich Linseners ein: ebd., fol.-*94. 334 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 10, fol. *21. 335 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *83-*88. 336 Ebd., fol.-*81. 337 Ebd., fol.-*89. 338 Ebd., fol.-*95. ihrer Rückkehr einen Prozess gegen Meyenburgs Diener Görtler und Thomas Bierbauch an, da diese im Auftrag Meyenburgs diverse Botengänge im Zusam‐ menhang mit den Untersuchungen erledigt hatten. In Artern hatten sich die Verhältnisse also durch den Tod Christians und die Absetzung seines Kanzlers gänzlich umgekehrt. Waren die Grafen zuvor in Sorge um ihre Bestrafung gewesen, setzten sie sich nun aktiv und auf dem Weg der gerichtlichen Klage gegen die Anschuldigungen zur Wehr. Ihr nervöses Verhalten hatte sich in Mut und Trotz verwandelt - sie fühlten sich offenbar sicher, wenn auch noch nicht sicher genug, Michael Meyenburg selbst offen zu drohen. Die Situation entwickelte sich von nun an jedoch nur sehr schleppend, was augenscheinlich darin begründet lag, dass Administrator Friedrich Wilhelm Entscheidungen in dieser Sache nur äußerst zögerlich traf. Die Causa Artern hatte in Dresden spürbar an Bedeutung verloren. Linseners Freilassung wurde irgendwann zwischen März und Juni 1592 veranlasst. 333 Michael Meyenburg zeigte sich Ende Juli - augenscheinlich stark beunruhigt durch die Situation in Artern - erbost über die Freilassung des alte[n] schelm[s]: Seind nun die pfaffen und zuforderste Linsener loss, so ist es nicht guht[! ] 334 Die Grafen trieben den Prozess gegen Görtler und Bierbauch weiter voran und supplizierten an den Administrator, ihnen die Akten der unter Christian durchgeführten Untersuchungen zuzusenden. Letztere hätten Schimpf und Schande über sie und ihre Diener gebracht, ihre Teilhaber seien daher festzu‐ nehmen. 335 Anstatt selbst zu antworten, leitete Friedrich Wilhelm die Frage an den Geheimen Rat weiter. 336 Dieser wiederum mahnte in der Sache zu größter Vorsicht; weder sollten die Akten nach Artern geschickt, noch die Gefangennahme veranlasst werden. 337 Im Anschluss an diese Antwort vom 25. Juli 1592 geschah lange nichts; erst sieben Monate später wurde schließlich ein Verhörtag angesetzt. Zur Verhandlung stand eine Sache der Diffamation zwischen den Brüdern Meyenburg und den fünf Grafen zu Mansfeld-Artern. 338 Aus einem Brief Michael Meyenburgs an Caspar Tryller vom 27. September 1592 geht hervor, dass er und sein Bruder zwischenzeitlich von den Grafen öffentlich beschuldigt worden waren, die Schmähschriften selbst angefertigt zu haben. Damit lag nun auch für die Meyenburgs eine Verleumdung vor, 328 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 339 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 10, fol. *71 v . Zentral in ihrer Beschwerde stand eine Situation, in der die Grafen am Hof Joachim Friedrichs in Halle öffentlich ihre Anschuldigungen kundtaten. Diese seien nicht nur vom Administrator vernommen worden, sondern von „hohe[n] und nidrige[n] standes personen und in beisein aller hof rethe, und etzlicher vornemer hoffdiner“ (fol. *68r). Insgesamt habe es sich um etwa 20 Personen gehandelt. 340 Zusammenfassender Bericht Meyenburgs an Caspar Tryller: ebd., fol.-*22-*24. 341 Ein reisender Landsknecht namens Hans vom Stein hätte sie über einen Umweg über das Wirtshaus ‚zum goldenen Arm‘ in Merseburg dem Salzgrafen zukommen lassen, ebd., fol. *28 r . 342 Ebd., fol.-*23 r . 343 Ebd., fol.-*27 r . 344 Ebd., fol. *60 r : „[…] das der althe shalck, Hans Linsener, zu etzlichen, doch nicht allen sachen, unschuldig sein mag, were aber gleichwol sehr guht, das ehr berichts halben noch bei der hand were.“ die vor Gericht angezeigt wurde. 339 Letztere erhielten allerdings noch einmal unerwartet Unterstützung, als ihnen neue Indizien für die Schuld der Grafen zugespielt wurden. Bereits am 23. Juni 1592 hatte der Salzgraf zu Halle, Johann Puchbach, Kontakt zu Michael Meyenburg aufgenommen. 340 Puchbach präsen‐ tierte ihm mehrere Schriften, die ihm angeblich auf abenteuerlichen Umwegen von den Schlachtfeldern Frankreichs zugespielt worden waren. 341 Bei den Schriften handele es sich tatsächlich um die Gegenstücke zum bereits bekannten Briefwechsel zwischen Johann Linsener und Ludwig ter Fine. Enthalten seien außerdem mehrere Obligationen der Grafen von Mansfeld sowie Briefe, welche die Beteiligung Peter Stolzens an der Schmähschriftenkampagne nahelegten, der in diesem Moment die Inquisition gegen Görtler und Bierbauch anstrengte. Michael Meyenburg kommentierte dessen Beteiligung an den Geschehnissen in Form einer klaren Zuordnung Stolzens zur gräflichen Seite - schließlich hätte er alzeit zu den grafen gehalten. 342 Die Dokumente seien, so der Brief Hans vom Steins, im Wams eines verstor‐ benen Junkers gefunden worden, der an Jacobi (25. Juli) 1591 ins französische Feldlager gekommen sei und angegeben habe, zuvor im Dienst der Grafen von Mansfeld gestanden zu haben. Bereits zwei Wochen nach seiner Ankunft sei der Mann verstorben, der auf den Namen Johann Leisener gehört habe. 343 Meyenburg ging davon aus, dass es sich dabei um den gesuchten Boten der Schmähschriften handelte. Der inhaftierte und mehrfach gefolterte Johann Linsener hätte dementsprechend zwar mit ter Fine in irgendeiner Art und Weise zusammengearbeitet, wäre aber nicht der gesuchte Bote gewesen. 344 In Dresden nahm man die neuen Informationen ernst und versuchte, die Geschichte zu verifizieren, indem man in Korrespondenz mit dem Rat von 9.5 Effekte der Schmähschriftenkampagne - die landesherrliche Reaktion 329 345 Der Rat sollte einen Bürger namens Zacharias Seiling nach Dresden befehlen, da man von dessen militärischem Engagement in Frankreich wusste. Zwar war Seiling zwischenzeitlich gefallen, seine Söhne und Knechte jedoch wussten von den Vorgängen um einen Junker Leisener nichts, ebd., fol.-*39-*41, *54, *55-*57, *58, *59. 346 Ebd., fol. *31. 347 Ebd., fol.-*103 r . 348 Ebd., fol.-*114-*116. 349 S E I D E L , Mansfeld (1998), S.-427. Schneeberg trat - jedoch ohne Erfolg. 345 Die eigentlich treibende Kraft, die auch letztlich zur Festsetzung des oben angesprochenen Verhörtags in der Injurien‐ sache Meyenburgs gegen die Grafen zu Artern führte, war der Magdeburger Administrator Joachim Friedrich. Dieser nahm direkten Kontakt zu Caspar Tryller auf und befahl ihm, sich mit drei weiteren Männern, unter ihnen Salzgraf Puchbach, zur Bildung einer Kommission in Halle einzufinden, um die neuen Informationen zu untersuchen. 346 Allerdings kamen weder diese Untersuchung noch der Prozess in Fahrt. Die Kommissionsmitglieder beschwerten sich zuletzt Anfang November 1593 bei Joachim Friedrich über die Grafen. Diese hätten sich nicht nur nicht zum festgesetzten Termin in Halle eingefunden, sondern zudem ein offenbar belei‐ digend schlichtes Entschuldigungsschreiben geschickt, einen schlechten, ja fast schimpfliche[n] Zettel. 347 Die Schreiben aus Frankreich konnten zwischenzeitlich mit denjenigen aus Artern verglichen werden und stammten offenbar vom selben Schreiber. Zum Beweis reichte es aufgrund des schlechten Zustands der Dokumente und der Siegel jedoch nicht. Bei den letzten uns überlieferten Schriftwechseln handelt es sich um zwei Supplikationen des meyenburgschen Dieners Wenzel Görtler an Administrator Joachim Friedrich und die Kurfürstin Witwe Sophie, in denen er um finanzielle Unterstützung bat, da die Feindschaft der Grafen ihn in große Nöte gestürzt habe, ja ihm gar nach dem Leben getrachtet würde. 348 Über Konsequenzen für die Grafen schweigen sich die Quellen aus. Für Philipp Ernst von Mansfeld-Artern ist belegt, dass er 1602 von Christian II. als kursächsischer Amthauptmann der Ämter Leipzig und Eilenburg eingesetzt wurde, negative Langzeitfolgen sind entsprechend auszu‐ schließen. 349 Die Richtungswechsel nach dem Tod Christians und der Absetzung seines Kanzlers Krell offenbaren die wichtige Rolle, die diesen beiden Männern bei der Reaktion auf die Schmähschriftenkampagne zukam. Dass unter der Administration Friedrich Wilhelms von Sachsen-Weimar die Anstrengungen weitestgehend zurückgefahren wurden, musste bedeuten, dass man im Collo‐ quium keine ernsthafte Bedrohung des Staates mehr erkannte. Der politischkonfessionelle Kurswechsel hatte zugleich die Bewertung der Schmähschriften‐ 330 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 350 Vgl. N I C K L A S , Christian I. und Christian II. (2007), S.-133f. 351 T R Y L L E R , Genealogia Trylleriana (1593), S.-13f. kampagne gewandelt. Als die weiteren Geschicke Sachsens vor allem vom Administrator, von der Kurfürstin Witwe, den zurückkehrenden lutherischen Theologen und den Vertretern des Adels bestimmt wurden und man allerorten calvinistische Verschwörungen vermutete, 350 hatte sich auch der Konflikt mit den Mansfeldern zumindest auf der konfessionellen Ebene entschärft. Auch heben die Entwicklungen nach dem 25. September 1591 die persönliche Moti‐ vation der übrigen Akteure hervor. Wo die Sache überhaupt weiterverfolgt wurde, geschah dies auf Anregung direkt Betroffener, vor allen Meyenburgs oder Joachim Friedrichs, wobei letzterer wiederum den Konfessionsstreit mit den Mansfeldern weitertrug. Auch Caspar Tryller blieb zunächst engagiert, fiel jedoch Anfang des Jahres 1594 beim Administrator und der Kurfürstin Witwe aus unbekannten Gründen in Ungnade und wurde seines Amtes enthoben. 351 9.6 Alternative Lesarten - quellenkritische Betrachtung Die Rekonstruktion der Ereignisse in Artern und Mansfeld, innerhalb derer den Grafen von Mansfeld die Urheberschaft der Schmähschriftenkampagne zugeschrieben wird, beruht auf gleich mehreren kuriosen Zufällen, die Zweifel an dieser ‚offiziellen‘, also von der kursächsischen Landesregierung geteilten Version wecken. Die angeklagten Grafen legten eine Gegendarstellung vor, in der sie Wenzel Görtler, den Diener Meyenburgs, als Schuldigen und sich selbst als Opfer einer Verschwörung darstellten. Hierbei handelt es sich um ein in mehreren schmähschriftenbezogenen Prozessen anzutreffendes Argumentati‐ onsmuster der Angeklagten, sodass es lohnenswert erscheint, es einmal näher zu betrachten und quellenkritisch zu beurteilen. Ziel der folgenden Ausführungen ist erstens die Steigerung der Transparenz der gegebenen Fallstudien durch das Aufzeigen anderslautender Interpretationsmöglichkeiten und damit zugleich die explizite Hinterfragung der eingenommenen Position. Zweitens soll die Bedeutung der in den Kriminalakten vorherrschenden obrigkeitlichen Perspek‐ tive für die Interpretationen problematisiert werden. Drittens wird die Frage nach den Motivlagen der mutmaßlichen Schmähschriftenverbreiter: innen noch einmal in den Fokus gerückt, da sie eng mit der für die Verschwörungserzählung wichtigen Frage nach den Profitierenden verbunden ist. 9.6 Alternative Lesarten - quellenkritische Betrachtung 331 352 Zum Fundkontext des ersten liegen Informationen vor: Es wurde, laut einem Bericht Michael Meyenburgs und Wenzel Görtlers, durch den Schafmeister Hans Dittmar in einem Nachbardorf Arterns „beim stege […] unter einem stein“ gefunden und an Meyenburg weitergeleitet, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *52; HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *25 r . 353 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *32: „Einer hatt ein breiten huet gehabt, der annder ist ein klein grau statlich mann, der dritte [Brief wurde] durch jungen [gebracht], der vierde hatt gesehen wie ein prister, das ich keinen gekannth.“ Die beschriebenen Personen konnten durch Meyenburg ohne Probleme identifiziert werden: Bei dem Mann mit dem breiten Hut handele es sich um einen Franzosen im Gefolge Graf Volraths, der graue stattliche Mann sei der Schosser Franz Abendrot, derjenige, der einem Priester ähnlich gesehen habe, der Diacon Johann Fiscelius, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *25 v . 9.6.1 Sollbruchstellen in der Rekonstruktion der Ereignisse Der hier behandelte Mansfelder Fall zeichnet sich durch das Vorhandensein besonders aussagekräftiger, aber auch kurios erscheinender Quellen aus. Bei diesen handelt es sich um Material, das durch gleich mehrere unwahrscheinliche Zufälle in die Hände der mit der kurfürstlichen Untersuchung beauftragten Personen fiel, die Grafen von Mansfeld beziehungsweise ihre Diener stark belastete und der Untersuchung wiederholt Auftrieb verlieh. Diese Zufälle überschreiten nahezu den Rahmen dessen, was die Leserschaft eines durch‐ schnittlichen Kriminalromans als glaubwürdig akzeptieren würde. Zu nennen sind hier das Auftauchen der Bekennerschreiben, die Korrespondenzreste und Arbeitsproben im Haus des verstorbenen Ludwig ter Fine, die Nachrichten vom Tod Johann Leiseners aus Frankreich sowie ein Bündel Briefe, das die Beteiligung der gräflichen Diener Franz Abendrot und Martin Schmied beweist und im Folgenden noch einmal ausführlicher vorgestellt wird. Dass man im Rahmen der durch den kursächsischen Kanzler Krell einge‐ leiteten Untersuchungen überhaupt auf den Schreiber Ludwig ter Fine, den Boten Johann Linsener beziehungsweise Leisener und damit auf handfeste Indizien gegen die Grafen von Mansfeld stieß, ist letztlich auf das überraschende Auftauchen der Bekennerschreiben zurückzuführen. 352 Ihre Existenz an sich erscheint einigermaßen rätselhaft: Sie enthalten zwar keine Namen, dafür aber überdeutliche Beschreibungen der belasteten Personen aus der mansfelder Die‐ nerschaft. 353 Wenn die Bekennerschreiben, wie es ihr Text nahelegt, einen Akt der Rache wegen nicht erfolgter Bezahlung darstellten, stellt sich unweigerlich die Frage, warum der Autor keine Namen nannte oder explizit die Familie von Mansfeld bezichtigte. Die Motive des Verfassers liegen letztlich im Dunklen. Einen wichtigen und überraschenden Fund stellten außerdem die Korrespon‐ denzüberreste im Haus des verstorbenen Ludwig ter Fine dar. Sie erhärteten 332 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 354 Siehe die entsprechenden Bündel in: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7. 355 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 6, fol. *94 r . 356 Der Grund, ihn die Briefe auch noch selbst aufschreiben zu lassen, lag vorgeblich darin, ihm Glaubwürdigkeit zu verleihen: In einem der Briefe von Schmied an Abendrot erklärt dieser, der Überbringer Leisener hätte den Brief mit eigener Hand schreiben müssen, „domit ihr ihme gleubenn konnet“, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 6, fol. *96 r . mit augenscheinlich eindeutigen Belegen den bereits gehegten Verdacht gegen die Grafen. Besonders belastend wirkten mehrere besiegelte Briefe mit den Un‐ terschriften der Grafen. Allerdings waren diese gerade so weit verbrannt, dass die konkreten Inhalte - die bestimmte Tatsachenbehauptungen überprüfbar gemacht hätten - nicht mehr lesbar waren. 354 Aus Sicht der kurfürstlichen Seite besonders glücklich musste auch der Umstand erscheinen, dass sich Schreibproben von genau den Handschriften erhalten hatten, in denen die Schmähschriften verfasst worden waren. Bislang nicht behandelt wurde ein weiteres Bündel Briefe, das die gräflichen Diener Franz Abendrot und Markus Schmied aufs Schwerste belastete und das auf merkwürdigem Weg Eingang in die Untersuchung fand: Als die beiden Männer bereits inhaftiert worden waren und die Befragungen begonnen hatten, wurde es angeblich in das Haus eines mit Michael Meyenburg befreundeten Arterner Bürgers namens Thomas Bierbauch geworfen. Der Zusteller blieb anonym, gab jedoch in einem dem Bündel beiliegenden Schreiben an, in fünfter hand an die Dokumente gelangt zu sein und sich erst offenbaren zu wollen, wenn die Sache aufgeklärt sei und die Lage sich wieder beruhigt habe. 355 Zudem ist der Entstehungskontext dieser Briefe aus ihrer Form und ihrem Inhalt kaum sinnvoll zu rekonstruieren: Es handelt sich um Korrespondenzen zwischen Abendrot und Schmied, die aber alle in der unverkennbaren, aufrechten und zittrigen Handschrift Johann Leiseners verfasst worden waren, die man bereits aus den bei Ludwig ter Fine gefundenen Briefen sowie den beiden Bekenner‐ schreiben kannte. Außerdem waren die Briefe doppelt unterschrieben, sowohl vom Schreiber Leisener als auch von den gräflichen Dienern Abendrot und Schmied (Abb.-8). Ihrem Inhalt nach wurden sie Leisener in die Feder diktiert, der sie dann auch als Bote überbrachte. Allerdings enthielten sie Aufträge an Leisener selbst, das Colloquium und die anderen Schmähschriften zwischen den Beteiligten hin und her zu bringen und sie letztlich in Artern auszuwerfen - er hätte somit Befehle an sich selbst überbracht. 356 9.6 Alternative Lesarten - quellenkritische Betrachtung 333 357 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *28 r ; HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *32 r . Abb.-8: Brief Franz Abendrots an Schmied mit Doppelunterschrift (oben) und Bekenner‐ schreiben in gleicher Schrift (unten). 357 Schließlich kann auch der Kommunikationsweg der Informationen über den in Frankreich gefallenen Johann Leisener und die bei ihm gefundenen Abschriften des Colloquiums nur als abenteuerlich bezeichnet werden: Der ansonsten voll‐ kommen unbekannte Hans vom Stein schickte die Dokumente, die er vorgeblich im Wams eines Toten gefunden hatte, über ungenannte Männer zu einem ihm bekannten Wirt in Merseburg, der sie an den Hallenser Salzgrafen Puchbach weiterleiten sollte. Die Dokumente, die leider nicht in den Akten enthalten 334 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 358 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 10, fol. *22 r -*30 v . 359 Dies geht aus einem Bericht Meyenburgs hervor: HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *11 r -*12 v . Beim späteren Verhör gab der mansfeldische Diener Franz Abendrot gar an, Görtler verfüge über 15 verschiedene Handschriften, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 11, fol. *87 r . 360 Ebd., fol.-*34 r . 361 Ebd., fol. *50 r . Selbiges ließen die Grafen Volrath und Hans Georg gegenüber Levin von Geusau verlauten, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 1, fol. *210 r . sind, stellten passenderweise die Gegenstücke zu den Briefen dar, die im Haus ter Fines gefunden wurden. Sie unterstützten die bekannte Rekonstruktion der Ereignisse und belasteten als erste Schriftstücke überhaupt Peter Stolzen, der gerade in dem Moment, als diese neuen Beweise eintrafen, die Anklage gegen Meyenburg und seine Freunde führte. 358 Diesbezüglich bleiben durchaus Fragen offen: Was war die Motivation des Autors der Bekennerschreiben, wer hatte das Bündel Briefe in Bierbauchs Haus geworfen und wie war er oder sie an selbiges gelangt, warum trug der Tote in Frankreich die belastenden Briefe und Pasquille bei sich? Außerdem fällt auf, dass alle für den Fall relevanten Schriften von Michael Meyenburg, seinem Diener Wenzel Görtler oder befreundeten Männern gefunden wurden. An diesen ‚Sollbruchstellen‘ der Rekonstruktion der Ereignisse setzte auch die Verteidigung der Beschuldigten an. 9.6.2 Die Verschwörung als Gegendarstellung Die Grafen von Mansfeld wandten sich, wenig überraschend, gegen den Vor‐ wurf, die Schmähschriften in Auftrag gegeben zu haben. Die von ihnen darge‐ legte Verschwörungserzählung bietet Erklärungsansätze für die aufgezeigten Ungereimtheiten. Bereits im Januar 1590 ließen die Grafen verlauten, dass sie den meyenburgschen Diener Wenzel Görtler für den Verfasser des Colloquiums hielten, wobei sie auf dessen Fähigkeit verwiesen, in vier unterschiedlichen Handschriften zu schreiben. 359 Ihr Diener Martin Schmied gab bei seinem Verhör weiterhin zu Protokoll, dass Görtler der einzige gewesen sei, der die aufgetauchten Schmähschriften flüssig habe lesen können - im Gegensatz etwa zu Michael Meyenburg. Desweiteren habe er mit Thomas Bierbauch gemeinsame Sache gemacht. 360 Christoff Bierbauch, ebenfalls Diener der Grafen, verwies darauf, dass Görtler vor einigen Jahren in Quedlinburg bereits eines Ver‐ brechens überführt worden sei, das ebenfalls die Imitation von Handschriften beinhaltete. 361 Dieser Sache ging man von kurfürstlicher Seite nach und forderte die Akten des Falls an, der zwischen 1587 und 1589 in Quedlinburg und 9.6 Alternative Lesarten - quellenkritische Betrachtung 335 362 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 3. 363 Görtler hatte nicht nur vorgegeben, Schulze dabei beobachtet zu haben, wie er in seinem Garten vor dem Stadttor Unzucht mit einer fremden Frau begangen habe, sondern auch Briefe, in denen Schulze ihm angeblich 300 Gulden versprach, sowie Quittungen über angeblich bereits geleistete Zahlungen gefälscht. Görtler hatte Schulze gegenüber dem Bürgermeister von Quedlinburg bezichtigt, aber sich auch direkt an den Kurfürsten gewandt. 364 Ebd., fol. *27 v . 365 Die auf den letzteren sichtbare doppelte Unterschrift und der merkwürdige Inhalt würden sich in dieser Darstellung dadurch erklären, dass Görtler sich lediglich zuge‐ traut hatte, die Unterschriften von Abendrot und Schmied zu fälschen, nicht jedoch den kompletten Briefwechsel, der einen Handschriftenvergleich ermöglicht hätte. 366 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 6, fol. *106 v f. Frankenhausen verhandelt worden war. 362 Aus diesen geht hervor, dass Görtler 1587 tatsächlich den Ratskämmerer von Quedlinburg, Dietrich Schulze, mit ge‐ fälschten Schriften unter Verwendung unterschiedlicher Handschriften erpresst hatte. 363 Außerdem hatte er ihn der Münzverschlechterung, der Verwendung falscher Maßeinheiten sowie der Verfälschung des Quedlinburger Ratsbuchs beschuldigt, weswegen Schulze einige Zeit im Gefängnis verbracht hatte. Nach einem Bericht der Schwarzburger Räte zu Frankenhausen musste Görtler 1589 gestehen, dass alle Anschuldigungen erfunden und die auch von ihme gemuhete handschrifft selbst erdichtett [worden war] inn meinung dardurch vonn gedacht‐ tenn Ditterichenn Schultten eine summa geldes zuerlangenn. 364 Somit konnte nicht nur Görtlers Hang zur Kriminalität belegt werden, sondern auch, dass dieser in der Lage war, Handschriften zu fälschen. In der Darstellung der Grafen und ihrer Diener war also Wenzel Görtler der eigentliche Verfasser des Colloquiums, die darin enthaltenen offensichtlichen Hinweise auf die vorgeblichen Urheber also beabsichtigt. Bei der zittrigen Hand‐ schrift des Johann Leisener würde es sich dementsprechend um eine verstellte Handschrift Görtlers handeln, der so nicht nur die Bekennerschreiben, sondern auch die zerrissene Korrespondenz aus dem Haus ter Fines und die Briefe zwischen Schmied und Abendrot, die in Thomas Bierbauchs Wohnung geworfen worden waren, fingiert hätte. 365 Dass unter den bei Bierbauch aufgefundenen Schriften auch einige das Mansfelder Siegel trugen, erklärte Franz Abendrot damit, dass die Grafen mit Meyenburg in regem Briefkontakt standen und Görtler daher ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, das Petschaft zu fälschen. 366 Bei den Nachrichten aus Frankreich hätte es sich, diesem Narrativ folgend, ebenfalls um Fälschungen gehandelt, schließlich entsprachen die Handschriften wieder denen von Ludwig ter Fine und Johann Leisener. Die Beteiligung des Salzgrafen Puchbach bliebe jedoch erklärungsbedürftig. Letztlich ging die Landesregierung den Anschuldigungen gegen Görtler und Bierbauch nach, 336 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 367 Für den 30. November 1591 liegen zwei Supplikationen von Wenzel Görtler und Thomas Bierbauch vor, die nach elf Wochen Gefangenschaft um Freilassung baten, HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *72f. 368 Vgl. Kap. 8.4.2. 369 Der Autor des Pasquillus tut dies, indem er sich auf realweltliche Treffen mit mehreren Bürgern bezieht und den für die Zeitgenoss: innen sicher bedeutsamen Spitznamen ‚Ulrich Schlürf ‘ verwendet, Pasquillus (Anh. 2.4), Z.-171-176. 370 Vgl. zum Fall insgesamt R O S E , Herr Niemand (2021). 371 HStD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Nr. Loc. 09667/ 09, fol. *37f. 372 Vgl. G I N Z B U R G , Der Richter und der Historiker (1991). wenn auch erst spät. Nach dem Auftauchen des Briefpakets im Hause Bierbauchs wurden die beiden Männer ergriffen, nach Weißensee gebracht und dort ver‐ hört. 367 Außerdem ließ man ihre Wohnungen durchsuchen, allerdings ohne Ergebnis. Vergleichbare Berichte einer Verschwörung finden sich auch in anderen Schmähschriftenprozessen. So brachte etwa der mutmaßliche Pasquillant Jo‐ hann Offneyer im hier vorgestellten Zwickauer Fall zu seiner Verteidigung vor, dass die Schmähschrift gegen den Stadtrat von einigen betroffenen Ratsherren selbst angefertigt und angebracht worden wäre, um rechtlich gegen Offneyer vorgehen zu können. 368 Auch hier bietet die Intrige eine scheinbar elegante Erklärung für die Tatsache, dass das Pasquill gegen Ende selbst auf seinen Urheber verweist. 369 Auch im Fall der Herr Niemands Predigt, der 1566 die Landesregierung unter Kurfürst August beschäftigte, findet sich das Verschwö‐ rungsargument auf Seiten eines der Verbreitung und Anfertigung des Pasquills angeklagten Pfarrers namens Jakob Menewitz. 370 Menewitz, der im Zentrum der kurfürstlichen Untersuchungen stand, deutete in seinen Supplikationen an, dass ihm die Autorschaft und der Umgang mit der Schmähschrift aus niederen Motiven von Neidern zur Last gelegt wurde. 371 9.6.3 „Der Richter und der Historiker“ 372 - quellenkritische Abwägung Die Rekonstruktion der jeweiligen Ereignisse, in welcher die Grafen von Mansfeld beziehungsweise Johann Offneyer oder Jakob Menewitz als Täter identifiziert werden, entspricht der durch die Quellen vorgegebenen obrig‐ keitlichen Perspektive auf die Geschehnisse. Es stellt sich daher die Frage, ob die vorgenommenen Rekonstruktionen nicht einem entsprechenden Bias unterliegen. Im Fall Mansfeld konzentrierte sich die kurfürstliche Untersuchung zwar von Beginn an auf das Umfeld der Grafen. Allerdings ging man durchaus 9.6 Alternative Lesarten - quellenkritische Betrachtung 337 373 F U C H S ; S C H U L Z E , Zeugenverhöre (2002). Zur Analogie zwischen richterlicher Instanz und Historiker: in ganz allgemein: G I N Z B U R G , Der Richter und der Historiker (1991), S.-29f. 374 Dies trifft natürlich nicht bezüglich der Verwendung physischer und psychischer Zwangsmittel zu, sodass die unter der Folter entstandenen Aussagen des Johann Linsener und die daraus gezogenen Schlüsse im Folgenden nicht beachtet werden. 375 Vgl. S C H W E R H O F F , Historische Kriminalitätsforschung (2011), S.-68. 376 Vgl. Kap 8.5. auch anderen Spuren nach, verhaftete beispeilsweise Görtler und Bierbauch, forderte das genannte Aktenmaterial aus Quedlinburg an und versuchte über Erkundigungen in Schneeberg die Geschichte vom toten Leisener in Frankreich zu überprüfen. Die durch Furcht vor Unruhen angetriebenen Anstrengungen der Landesregierung zur Aufklärung des Falls weisen gemeinsame Elemente mit der geschichtswissenschaftlichen Arbeit auf, namentlich die Suche nach Beweis‐ mitteln und Indizien und das Heranziehen von Glaubwürdigkeitsnachweisen etwa zur Beurteilung von Zeugenaussagen. 373 Gleichsam durch das gemeinsame Ziel, die Rekonstruktion der Abläufe und Hintergründe der Schmähschriften‐ kampagne in Artern, stellen sich die Quellen insgesamt als durchaus wertvoll und aussagekräftig dar. 374 So bildet der Rahmen der Untersuchung ein „wich‐ tiges Korrektiv zur Ermittlung des Wahrheitsgehalts“ und die entstandenen Akten einen zumindest vergleichsweise multiperspektivischen Zugang zum Geschehen. 375 Dieser wird im Fall Mansfeld jedoch dadurch eingeschränkt, dass Michael Meyenburg, sein Bruder Caspar und sein Diener Görtler als Helfer eingespannt wurden, sodass die Untersuchung vor Ort in Artern stark einseitig verlief. Das Verfahren gegen den Zwickauer Pasquillanten Johann Offneyer bietet einen dem Mansfelder Fall vergleichbaren Zugang zum Geschehen, da es nicht vor dem Zwickauer Stadtgericht, sondern einer kurfürstlichen Kommission geführt wurde und sich der Landesherr um eine gerechte schieds‐ richterliche Funktion bemühte. 376 Die als unwahrscheinlich wahrgenommenen Zufälle der Ermittlungen in und um Artern und die damit einhergehenden Ungereimtheiten wirken wie Schwachstellen der Rekonstruktion, an denen die Erzählung von der Verschwö‐ rung gegen die Grafen ansetzen kann. Letztere bietet eine Erklärung für die Zufälle, indem sie sie als Resultat intentionaler Handlungen der Verschwörer, also Meyenburgs und seiner Helfer, darstellt. Unterstützung erhält diese Rekon‐ struktion durch den Fokus auf die Frage: cui bono? Es ist diese Frage nach dem Profit aus der Erstellung und Verbreitung von Schmähschriften, eng verbunden mit derjenigen nach den Motiven und Absichten der Pasquillant: innen, die sich allzu oft nur äußerst schwer beantworten lässt. Betrachtet man den Mansfelder Fall bis zu seinem vorläufigen Ende, dem Tod des Kurfürsten, und sucht nach 338 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 377 Das Folgende unter Bezug auf: B U T T E R , Verschwörungstheorien (2018) S. 57-101 („Wie argumentieren Verschwörungstheorien? “) und S. 103-137 („Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien? “). 378 Ebd., S.-104, 107. den Profiteur: innen, so wären sicher Michael Meyenburg und weitere, der kurfürstlichen Seite zuzurechnende Personen zu nennen. Diese konnten durch die Ermittlungen gegen die Mansfelder und ihre Verhaftung zuvor existierende Konflikte ad acta legen und ungestört ihre durch die Sequestration gewonnenen Ämter bekleiden. Die Grafen hingegen hatten ganz offensichtlich das Nach‐ sehen, sodass sich im Rückblick die Frage aufdrängt: Welches Ziel glaubten sie mit den Schmähschriften zu erreichen, die sich durch ihren Inhalt doch ganz klar dem mansfeldischen Lager zuordnen ließen? Ganz ähnlich verhält es sich im Fall Johann Offneyers. Auch dessen Pasquillus verwies auf Offneyer als Autoren und schadete diesem unmittelbar: Mehrwö‐ chige Haft, jahrelanges Exil und damit einhergehende Einkommensausfälle stellten sicher keine bewusst einkalkulierten Konsequenzen dar. Auch Jakob Menewitz war am Ende der Leidtragende, er verlor im Laufe der Ereignisse seine Pfarrstelle. Andere, mit ihm wegen der Schmähschrift in Kontakt stehende Pfarrer - einer von ihnen hatte Menewitz beim Kurfürsten angezeigt - behielten ihre Stellen und ausgerechnet ein Student, der die Untersuchungen gegen Menewitz in Gang gesetzt hatte, erhielt gar eine eigene Pfarrstelle, nachdem sein Vorgänger auf Menewitz’ alte Stelle nachgerückt war. Die von diesen Erzählungen von Intrigen ausgehende Suggestivkraft weist Parallelen zur Anziehungskraft von Verschwörungstheorien auf. 377 So ist die Frage cui bono? Grundlage der meisten Verschwörungstheorien, wobei in einem argumentativen Kurzschluss den vom Geschehen profitierenden Personen auch dessen Verursachung zugeschrieben wird. Mögliche, realistische Alternativen wie beispielsweise das schlichte Ausnutzen günstiger Umstände durch die Profitierenden werden ausgeblendet. So besteht beispielsweise für Artern neben den genannten beiden Rekonstruktionen durchaus die Möglichkeit, dass ledig‐ lich einzelne Schriften gefälscht wurden, um die Untersuchung gegen die Grafen voranzutreiben, ohne deren Urheberschaft gänzlich in Zweifel ziehen zu müssen. Verschwörungstheorien wirken zunächst überzeugend, denn sie „stiften Sinn und betonen menschliche Handlungsfähigkeit“ und erfüllen damit das menschliche Grundbedürfnis, „Ereignisse als das Resultat intentionaler Handlungen zu begreifen.“ 378 Da eine Verschwörungstheorie keine Zufälle akzeptiert, geht mit der Reduktion der Komplexität der dargestellten Wirklich‐ keit allerdings eine Steigerung der Komplexität der Erklärung einher. Diese Erkenntnis ist elementar bei der Beurteilung der beschriebenen Fälle. Es mag 9.6 Alternative Lesarten - quellenkritische Betrachtung 339 379 F R E I S T , Historische Praxeologie (2015), S.-71; vgl. Kap. 3.1. schwerfallen, alle Zufälle des Arterner Falls sowie die scheinbare Irrationalität der Mansfelder Grafen oder Johann Offneyers bei der Erstellung der Schmäh‐ schriften zu akzeptieren. Es bereitet jedoch ungleich größere Probleme, die Zufälle als Resultat intentionalen Handelns zu erklären. Michael Meyenburg und seine Unterstützer hätten nicht nur aufwendige Schmähschriften verfassen, sondern zudem Handschriften und Siegel fälschen, Feuer in Artern legen und wichtige Personen in Halle involvieren müssen, ohne aufzufallen. Wie auch der Stadtrat von Zwickau beziehungsweise die Gruppe um Kratzbeer und Faber hätten sie außerdem die Schmach einer ehrverletzenden Schrift auf sich nehmen müssen - eine Vorstellung, die angesichts der Bedeutung der persönlichen Ehre in der Frühen Neuzeit abwegig erscheint. Im Fall der Herr Niemands Predigt hätten die beruflichen Konkurrenten des Jakob Menewitz - geht man davon aus, dass sie die Schmähschrift gegen den Kurfürsten zu diesem Zweck aufgesetzt hatten - ein enormes Risiko eingehen und darauf spekulieren müssen, dass das Ergebnis der Nachforschungen zu ihren Gunsten ausfallen würde. Auch hier erscheint ein geschicktes Taktieren nach Beginn der Untersuchung wahrscheinlicher. In Bezug auf die Motive der Pasquillant: innen gilt es zum einen, die mit Ehr‐ konflikten einhergehende besondere Emotionalität und Affektivität und daraus potentiell resultierende Irrationalität des Handelns im Sinne einer mangelnden Orientierung an der Lösung des Konflikts zugunsten der Pasquillant: innen zu akzeptieren. Zum anderen bietet die bereits mehrfach aufgezeigte Logik des unbedingten Rechts auf Gehörfinden eine eigene Rationalität, indem die Wahr‐ nehmung dieses Rechts die Hauptintention der Pasquillant: innen dargestellt haben mag. Drittens erscheint es durchaus wahrscheinlich, dass die Effekte der Schmähschriften von ihren Autor: innen schlicht unterschätzt oder falsch eingeschätzt wurden. Aus praxeologischer Sicht lassen diese Fälle eben nicht die gelungene Einpassung des Vollzugs sozialer Praktiken in anerkannte Routinen, sondern die von F R E I S T angesprochene „Nichtpassung“ sichtbar werden. 379 Die Tatsache, dass der Schmähschriftenvorwurf zumindest potentiell instru‐ mentalisiert werden, oder man sich als Angeklagte: r auf eine solche Darstellung zurückziehen konnte, stellte eine Besonderheit anonymer Schmähschriften dar. Denn nicht nur Historiker: innen, sondern eben auch die Menschen des 16. Jahrhunderts standen vor dem Dilemma, dass zwar die Tat durch die Existenz des corpus delicti eindeutig festzustellen war, die Tatverdächtigen aber kaum überführt werden konnten. Als anonymes Medium der Abwesenheitskommuni‐ kation trennten Schmähschriften Angriff und Angreifende und schufen dadurch 340 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft 380 Vgl. die Argumentation hinsichtlich der Instrumentalisierung von Hexereianklagen bei D I L L I N G E R , Hexen und Magie (2007), S. 128; durchaus von Instrumentalisierungen überzeugt hingegen: R U M M E L ; V O L T M E R , Hexen und Hexenverfolgung (2008), S.-96-98. 381 S C H I L L I N G , Die Konfessionalisierung im Reich (1988), S.-38. Raum für Mutmaßungen und Instrumentalisierungen. Zugleich, und das un‐ terscheidet den Schmähschriftenvorwurf von anderen instrumentalisierbaren Delikten, verwies das corpus delicti, wie im Fall Offneyer oder Mansfeld, bereits öffentlich und scheinbar eindeutig auf die Verdächtigen, denen es daher schwer‐ fiel, sich von den Vorwürfen loszusagen. Allerdings ist diese Eigenschaft der Schmähschriften für Interpretationen in den allermeisten Fällen unbrauchbar, da eine Instrumentalisierung von Schmähschriftenanklagen nur durch eine Selbstaussage der Klageführenden zu belegen wäre, die naturgemäß zumeist nicht existierte. 380 9.7 Fazit Der Fall Mansfeld offenbart eine regelrechte Schmähschriftenkampagne, die standesübergreifend einzelne Bürger, Geistliche, Stadträte und landesherrliche Beamte ins Visier nahm, letztlich aber vor allem auf die Involvierung des Kurfürsten abzielte. Als Hintergründe der komplexen Konfliktlage sind die Verschuldung der Grafenfamilie von Mansfeld, die daraus resultierende Se‐ questration inklusive Verlust aller Herrschaftsrechte sowie die konfessionelle Neuausrichtung Kursachsens und die fortschreitende Zentralisierung des Ter‐ ritoriums im Rahmen der reformierten Konfessionalisierung auszumachen. Konfessionen bildeten also auch in diesem Fall „Kristallisationskerne für re‐ ligiöse, politische und gesellschaftliche Opposition“. 381 Konkreter Anlass der Schmähschriftenkampagne war ein Streit um Patronats- und Herrschaftsrechte im Zusammenhang mit der Besetzung der Eisleber Superintendentur im Jahr 1590. Diese Hintergründe sind sowohl für das Verständnis des Inhalts der Schmähschriften als auch zur Erklärung der erfolgten Reaktionen und somit ihrer Wirkung unerlässlich. Der Fall belegt einmal mehr die Notwendigkeit einer umfassenden Situations- und Kontextanalyse für das Verständnis von Schmähschriftenkonflikten. Auf der inhaltlichen Ebene, aber auch durch die Adressierung der Personen verschalteten die Schriften die verschiedenen Kon‐ fliktlinien und verbanden, wie auch diejenige des Johann Offneyer, politisches Kalkül mit der Rache persönlicher Kränkungserfahrungen. Eine Differenzierung nach politischen und persönlichen Konflikten ist aufgrund der alles verbin‐ denden Herabsetzungserfahrungen kaum möglich. 9.7 Fazit 341 382 Vgl. zuletzt L A P O R T A , Performative Polemic (2021); M I L L S T O N E , Manuscript Circulation (2016). 383 G E S T R I C H , Schandzettel (1997), S.-56. Auch wenn sich in diesem Fall Mitglieder einer wichtigen, reichsständischen Adelsfamilie der Schmähschriften bedienten, erscheinen letztere auch hier als weapons of the weak, da die Grafen praktisch ihre Herrschaftsrechte ver‐ loren hatten und ihnen kaum ökonomische oder politische Ressourcen zur Verfügung standen. Zudem ist erneut ein starker Dynamisierungseffekt der Schmähschriften zu konstatieren, der zuungunsten der Verursacher ausfiel. In dem Moment, in dem die Grafen zu diesem Instrument griffen, hatten sie bereits andere Mittel des Protests und der offenen Aggression ausgeschöpft sowie juristische Wege beschritten, ohne eine Reaktion der Landesregierung zu erreichen. So führte auch hier die Blockade traditioneller Kommunikationswege zum Einsatz der Schmähschriften als ultima ratio. Wie bewusst strategisch die Pasquille von den Grafen zur Erreichung ihres Ziels eingesetzt wurden, belegt auch der Blick in die Werkstatt des Pasquillanten Ludwig ter Fine. Die Wirkmächtigkeit der Schmähschriftenkampagne ergab sich aus der spezifischen politischen Situation, aber auch aus den verbreiteten Inhalten. Zu‐ nächst stellten die öffentlich ausgebrachten Schriften mit ihrem Angriff auf den Kurfürsten eine Provokation dar, für deren Verständnis keine intensivere Aus‐ einandersetzung mit dem Inhalt notwendig war. Auf der Textebene allerdings konstruiert besonders das Colloquium einen gemeinsamen Deutungsrahmen für eine Vielzahl an Ereignissen und verortet die unterschiedlichen Akteure in zwei sich gegenüberstehenden Gruppen. Es stellte wie Offneyers Pasquillus einen Angriff auf die Agenden akzeptanzorientierter Herrschaft dar. Gewichtiger erscheint aber die enthaltene Drohung, Aufruhr in der Grafschaft anzuzetteln und den Kurfürsten ermorden zu lassen, die der Tat den Charakter eines Majes‐ tätsverbrechen im Sinne S C HNA B E L -S C HÜL E S verleiht und zu außerordentlichen Reaktionen führte. Zwar stand die Sorge um die fürstliche Reputation erst an zweiter Stelle, in Ansätzen zeigt sich hier jedoch durchaus eine Furcht der Herrschenden um die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch schmähende Schriften, wie sie für die folgenden zwei Jahrhunderte für die englische und französische Monarchie bereits festgestellt wurde. 382 Die intensiven Reaktionen aus Dresden, die Untersuchungen, Inhaftierungen und Vorbereitungen zum militärischen Eingreifen wirkten abschreckend und sorgten letztlich zum Einlenken der mutmaßlich Schuldigen, die sich freiwillig in Hausarrest begaben. Das entstehende Bild von den Reaktionsmöglichkeiten nuanciert das derjenigen Forschung, welche die weitgehende Machtlosigkeit der Obrigkeiten in Bezug auf Schmähschriften betont. 383 Nicht zu leugnen 342 9 Pasquille und Zettel im Kampf gegen die Landesherrschaft ist allerdings eine gewisse Machtlosigkeit gegenüber dem Fortschreiten der öffentlichen Kommunikation über die Schmähschriften, die durch das Ergreifen rigider Maßnahmen eher befeuert denn begrenzt wurde (Streisand-Effekt). Auch wenn der Balanceakt zwischen Geheimhaltung und Durchgreifen misslang, zeugt er doch vom Bewusstsein der Obrigkeiten um das Öffentlichkeitspotential der Schriften. Dieses Bewusstseins bedienten sich die Pasquillanten, indem sie Öffentlich‐ keit zur Drohung nutzten. Davon zeugen die Verbreitung über zentrale Orte in der Stadt Artern und der Inhalt der Schriften. Ganz explizit drohten sie mit ihrer Verbreitung und dem Anstiften eines geschreis und einer Revolte. Dieses Gefahrenpotential der Schmähschriften wirkte unabhängig von ihrer tatsäch‐ lich wohl sehr begrenzten Zirkulation in Kreisen, die ihren Inhalt und ihre Bedeutung erfassen konnten. Auch wenn diejenigen Kommunikationskreise, die gerüchteweise von der bloßen Existenz der Schmähschriften erfuhren, deut‐ lich größer waren, so war es doch vor allem die Fiktion einer rezeptionsfähigen Öffentlichkeit und einer kaum zu kontrollierenden Verbreitung von Kommu‐ nikationsinhalten auf Seiten von Obrigkeit und Schmähschriftenautor: innen, welche die Pasquille als ernsthafte Bedrohung erscheinen ließ. 9.7 Fazit 343 1 L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S.-57. 10 Zusammenfassung Die präsentierten Fallstudien hatten zum Ziel, die Praxis des ‚Libellierens‘, also des Anfertigens und Verbreitens von Schmähschriften, am Beginn der Frühen Neuzeit in ihrer Breite und Vielfalt abzubilden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit - auch nur für Kursachsen - kann jedoch kaum erhoben werden: Zum einen liegen in den sächsischen Archiven weiterhin umfangreiche Fälle, die einer genaueren Untersuchung harren, zum anderen sollte das Thema Schmäh‐ schriften unter weiteren Gesichtspunkten Betrachtung erfahren, die in dieser Studie nicht berücksichtigt werden konnten. Zu nennen wären unter anderem eine quantitative Untersuchung der gerichtlichen Überlieferung, ein regionaler Vergleich, auch unter anderen konfessionellen und politischen Gegebenheiten, sowie die Aufarbeitung der Entwicklung der Rechtsnormen und der juristischen Praxis im Umgang mit libelli famosi im 17. und 18.-Jahrhundert. Trotz der aufgezeigten Vielfalt der Schmähschriften in ihren Formen und In‐ halten, ihren Anlässen und den ihnen zugrundeliegenden Konflikten sowie der Akteurskonstellationen, wurden sie von den Zeitgenoss: innen des 16. Jahrhun‐ derts als übergreifendes Phänomen wahrgenommen. Dieses Phänomen wurde durch die schriftliche Ansprache einer Öffentlichkeit zwecks Herabsetzung und Bedrohung der Invektierten charakterisiert. Zwar ist die Aussagekraft der über‐ lieferten Fälle aufgrund des geschichtstheoretischen Problems der Beziehung des Einzelnen zum Allgemeinen und der besonderen Überlieferungssituation eingeschränkt. Dennoch lassen sich anhand der Fallstudien einige abstrahierte, um die Kernthemen ‚Konfliktaustrag‘ und ‚Öffentlichkeit‘ gruppierte Thesen aufstellen, die in ihrer Zuspitzung potentielle Ansatzpunkte für weitere Ausein‐ andersetzungen mit den Schmähschriften der Frühen Neuzeit liefern. 10.1 Die Bedeutung von Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags Schmähschriften waren weit verbreitete und relevante Instrumente des Kon‐ fliktaustrags - sie als „Kuriositäten einer ‚finsteren‘ Zeit“ 1 zu betrachten, verkennt ihre Bedeutung für die frühneuzeitliche Streitkultur. Ihr Einsatz ist für unterschiedliche Konfliktfelder nachzuweisen, die vom banalen Streit 2 An dieser Stelle kommt das angesprochene Überlieferungsproblem am deutlichsten zum Tragen, da nur solche Schmähschriften eine ausführliche Überlieferung erfuhren, die eben einen Eskalationseffekt erzielten. Allerdings belegen die Studien durch die in den Fällen ebenfalls sichtbare, gleichzeitige Verwendung unterschiedlicher Streitmittel das Potential der Schmähschriften im direkten Vergleich. in der Nachbarschaft bis zur konfessionspolitischen Auseinandersetzung auf territorialer Ebene reichten. Innerhalb des frühneuzeitlichen Repertoires an Mitteln des Konfliktaustrags hatten Schmähschriften einen Sonderstatus inne. Ihr außergewöhnliches Wir‐ kungspotential wird durch die Fallstudien belegt. In Konflikten, in denen andere Instrumente ausgeschöpft oder nicht verfügbar waren, konnten Schmäh‐ schriften einen dynamisierenden Effekt erzielen, wobei sie häufig den Übergang zu neuen Eskalationsstufen markierten. 2 Die erzielten ‚Treffer‘ beim Gegen‐ über waren deswegen besonders wirkungsvoll, weil die Schriften stärker als etwa verbale Äußerungen Ängste schürten und in der Lage waren, Skandale auszulösen, die den Nachrichtenwert steigerten, wodurch sie wiederum die Verbreitung und zugleich den herabsetzenden Effekt förderten. Ihr aufmerk‐ samkeitsökonomisches Potential kann entsprechend als ihre wirkmächtigste Ressource gelten. Die Behandlung von Schmähschriften als schwere Vergehen in Rechtstexten der kaiserlichen, landesherrlichen und städtischen Ebene be‐ legt das ihnen zugemessene, über Verbal- und Realinjurien hinausreichende Störungspotential. Die untersuchten Schriften waren eingebettet in komplexe Konfliktverläufe. Im Vorfeld ihres Einsatzes kam es in aller Regel bereits zu invektiven Akten unterschiedlichster Art; die Schmähschriften sind daher nur über die Rekon‐ struktion ihrer Entstehungszusammenhänge angemessen zu verstehen. Im Sinne eines Stellvertreterkonflikts überführten sie den ursprünglichen Streit in der Sache in einen Ehrkonflikt. Dabei kam es jedoch in der Regel nicht zur völligen Loslösung vom ursprünglichen Sachkonflikt: Zum einen thematisierten die Schmähschriften häufig explizit den Ausgangskonflikt und formulierten einen eigenen Standpunkt. Zum anderen erscheint die in der Klageerhebung durchaus sichtbare Komplexitätsreduktion durch den Verweis auf den erlittenen Schaden an der Ehre teilweise als vorläufig, da in einem zweiten Schritt vor Gericht der Ursprungskonflikt völlig neu aufgerollt und diskutiert werden konnte. Schmähschriften waren dabei mehr als andere Streitmittel in der Lage, unterschiedliche Konfliktlinien im Modus der Herabsetzung zu verschalten. Da ihr Einsatz kaum Ressourcen oder Machtmittel erforderte, sie durch Anonymisierung oder Pseudonymisierung vor unmittelbaren Reaktionen schützten - mit Rudolf Schlögl könnte man sagen, dass die Nutzung an‐ 346 10 Zusammenfassung 3 Vgl. S C H L Ö G L , Politik beobachten (2008), S.-592. onymer Schmähschriften die Invektierenden vom unmittelbaren Konsensdruck der Kommunikation unter Anwesenden befreite 3 - und sie bisweilen auch gegen höhere Schichten und sogar standesübergreifend Wirkung entfalteten, können Schmähschriften als weapons of the weak (S C O T T ) bezeichnet werden. ‚Schwach‘ ist hier als relationale, auf die konkrete Konstellation bezogene Kategorie zu verstehen; in den behandelten Fallstudien handelte es sich letztlich um vergleichsweise starke Schwache. Es ist aber wichtig zu betonen, dass Schmähschriften eben kein Elitenphänomen darstellten, sondern schicht- und standesübergreifend genutzt wurden. Die Motivation für das Verfassen von Schmähschriften ist häufig in einer empfundenen Verletzung des ‚Grundrechts auf Gehörfinden‘ (B R AK E N S I E K ) und einer Blockade traditioneller Kommunika‐ tions- und Beschwerdewege zu sehen. Vor allem obrigkeitskritische Schmähschriften konnten durchaus starke Ef‐ fekte zeitigen. In den untersuchten Fällen griffen sie inhaltlich die Agenden ak‐ zeptanzorientierter Herrschaft an und schufen so legitimatorisches Potential für Widerstand und Unruhe. Damit adressierten sie zentrale Sorgen der Obrigkeiten besonders in den als krisenhaft wahrgenommenen Zeiten des 16. Jahrhunderts. Anonyme Schmähschriften gegen die Herrschaft ermöglichten es Einzelnen, ein Kollektiv zu inszenieren, sodass die betroffenen Obrigkeiten - wie im Übrigen auch heutige Historiker: innen - im Unklaren darüber blieben, ob es sich tatsächlich um einen Ausdruck kollektiver Unruhe handelte. Auf Schmähschriften zu reagieren war nicht unmöglich, gestaltete sich jedoch in der Praxis durchaus schwierig. Betroffene konnten juristisch effektiv gegen die Urheber: innen vorgehen, sofern diese zu identifizieren waren. Die von den Schmähschriften angestoßene Anschlusskommunikation war jedoch kaum zu kontrollieren oder gar zu stoppen. Die Obrigkeit interessierte sich vor allem dann für die Schriften, wenn eigene Herrschaftsinteressen bedroht waren; von einem allgemeinen, rigoros durchgesetzten Vorgehen gegen Pasquil‐ lant: innen, wie es die Rechtsnormen nahelegen, kann hingegen nicht die Rede sein. Besonders Schmähschriften gegen den Landesherrn provozierten aber teils umfassende Reaktionen. Dabei wagten die Obrigkeiten einen Balanceakt zwischen hartem Durchgreifen und Geheimhaltung, der jedoch oft misslang, da es besonders die ergriffenen Maßnahmen waren, die Aufmerksamkeit erregten und Gerüchte provozierten (Streisand-Effekt). 10.1 Die Bedeutung von Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags 347 4 L E N T Z , Konflikt, Ehre, Ordnung (2004), S.-149-162. 10.2 Schmähschriften als Ausdruck einer öffentlichen Meinung? Viele Schmähschriften standen durch ihren vorgeblichen, impliziten oder expli‐ ziten Bezug auf das Gemeinwohl, durch satirische oder komische Elemente, ihren potentiell kollektiven Charakter sowie den Öffentlichkeits- und Norm‐ bezug in enger Verwandtschaft zu bekannten Formen der Rügebräuche, wie etwa dem Charivari. Allerdings verbarg sich unter dem Gewand der kollektiven Rüge zumeist ein individuelles Motiv, hinter der vorgeblichen vox populi oft eine gezielte, individuelle Parteinahme. Die Anonymität vieler Schmähschriften schützte nicht nur vor Verfolgung, sondern diente zugleich dazu, den darge‐ legten Inhalt als öffentliche Meinung und damit als Wahrheit zu präsentieren. Schmähschriften boten also Individuen die Möglichkeit, eine kollektive Rüge zu inszenieren, über deren ‚Erfolg‘ letztlich das Publikum entschied. Die Funktion der Ordnungserhaltung durch Sanktion von Normverstößen, wie L E N TZ sie für die spätmittelalterlichen Scheltbriefe stark macht, 4 kann unter diesem Aspekt für Schmähschriften insgesamt kaum konstatiert werden. Eine in der Forschung häufig anzutreffende strikte Unterscheidung in öffent‐ liche beziehungsweise politische und private Schmähschriften in Bezug auf die Bedeutungsdimensionen von Zugänglichkeit und Interesse gestaltet sich bei genauerem Hinsehen äußerst schwierig. Zum einen vermischten sich häufig politische und private Anlässe einer Schmähschrift; aufgrund der Bedeutung von Ehre für jeden Lebensbereich waren eine Differenzierung und strikte Abgrenzung sozialer Rollen, etwa zwischen Amtsträger und Privatperson, kaum möglich. Zum anderen wurden auch zunächst persönliche Streitigkeiten durch den Appell an die Gemeinschaft und den Bezug auf den Gemeinen Nutzen als Argumentations- und Legitimationsfigur auf eine politische Ebene gehoben. Diese Vermengung des Politischen beziehungsweise Öffentlichen mit dem Privaten kann als ein Charakteristikum der frühneuzeitlichen Streitkultur insgesamt angesehen werden. 10.3 Schmähschriften und frühneuzeitliche Öffentlichkeit Die Entwicklung der Schmähschriftenbestimmungen in den wichtigsten Rechts‐ normen des Mittelalters und der beginnenden Frühen Neuzeit verweist indirekt auf die langen Traditionslinien der Schmähschriftenpraxis sowie auf einen 348 10 Zusammenfassung Wandel ihrer Bewertung. Die Rechtsnormen indizieren eine gesteigerte Sensi‐ bilität für schriftliche öffentliche Kommunikation, die aus den Erfahrungen mit der Reformation und den neuen Druckmedien resultierte. Auch das gesteigerte Drohpotential handschriftlicher Texte wie der untersuchten Schmähschriften ist daher teilweise auf Entwicklungen im Bereich der Printmedien zurückzu‐ führen. Neben den Verboten auf der Reichs-, Territorial- und Lokalebene finden sich allerdings noch in der juristischen Praxisliteratur des 16. Jahrhunderts Ansichten, welche die Verbreitung anklagender und potentiell schmähender Schriften legitimierten, solange die Anklagen bewiesen werden konnten und dem Gemeinen Nutzen dienten. Hieran wird deutlich, dass die Grenze zwischen Schmähung und Kritik am Anfang der Frühen Neuzeit durchaus variabel war, situativ festgelegt wurde und zumindest innerhalb gewisser Grauzonen Verhandlungssache sein konnte. Bei der Herstellung einer Schmähschriftenöffentlichkeit wandten die Autor: innen Strategien an, die auf Alltagswissen um die Mechanismen öf‐ fentlicher Kommunikation schließen lassen. Die Nutzung multifunktionaler öffentlicher Orte zu Zeiten erhöhter Frequentierung garantierte eine geogra‐ phisch und sozial weite Verbreitung, wobei es häufig das Ziel war, eine für die Geschmähten wichtige Peergroup zu involvieren. Dieser Peergroup kam aufgrund ihrer unmittelbaren Relevanz für die Ehre der Geschmähten eine besondere, von anderen Formen des Publikums zu unterscheidende Position in der invektiven Konstellation zu. Weiterhin lud die Anbringung an öffentlichen Orten die Herabsetzung mit symbolischer Bedeutung auf und erfüllte eine Adressierungsfunktion. In der Anschlusskommunikation kamen zeittypische Praktiken des Lesens, Vorlesens, Vortragens und Auswendiglernens zum Tragen, wobei erneut deut‐ lich wird, wie sehr die Gesellschaft im Kursachsen des 16. Jahrhunderts bereits durch schriftliche Medien durchdrungen war. Es entsteht das Bild einer ge‐ mischten mündlich-schriftlichen Kultur, wie sie Adam F O X auch für das England des 16. und 17.-Jahrhunderts beschreibt. Die analysierten Schmähschriften zogen ihre ehrkränkende Wirkung und ihr enormes Drohpotential zu großen Teilen aus ihrem Einfluss auf die zentralen Formen mündlicher Kommunikation, auf Gerücht und Gerede. Gerüchte, in den Fallstudien als Alltagsphänomene greifbar, unterstützten durch ihren starken Öffentlichkeitscharakter eine rasche Verbreitung und führten zu räumlicher wie sozialer Entgrenzung, allerdings auch zur Unkontrollierbarkeit der Kom‐ munikationssituation. Diese Unkontrollierbarkeit, der kollektive Charakter des Gerüchts, der Schutz der Anonymität und die Verbindung zur Unruhe riefen Sorgen bei der Obrigkeit hervor und unterstützten die Funktion der Schmäh‐ 10.3 Schmähschriften und frühneuzeitliche Öffentlichkeit 349 schriften als weapons of the weak. Gerüchte wiesen zudem durch ihren Einfluss auf den Leumund, durch eine der Anzeige verwandte Funktion im Recht und durch einen auf ihrem kollektiven Charakter gründenden Wahrheitsanspruch enormes invektives Potential auf. In den untersuchten Fällen verbreiteten die Gerüchte nicht die konkreten Inhalte der Schmähschriften, sondern basale Informationen über die Herabsetzung der Adressat: innen. Um eine Schrift als Schmähschrift zu rezipieren, bedurfte es nicht der Lektüre des gesamten Texts, vielmehr genügte es zumeist, des öffentlichen Aushangs ansichtig zu werden, sofern nur die rudimentäre Information kursierte, dass sich die Schrift gegen eine bestimmte Person richtete. Über die invektive Anschlusskommunikation wurde der angeschlagene Text automatisch, gleichsam im Sinne einer selffulfilling-prophecy, zur Schmähschrift. Neben der weiten, gerüchteweisen Kommunikation existierte häufig eine zweite Art der Verbreitung, nämlich das Weiterreichen und Kopieren der Schmähschriften in einem inner circle. In diesen Kreisen ist eine Auseinander‐ setzung mit den Inhalten anzunehmen, wenngleich selten nachzuweisen; aus ihnen heraus wurde immer wieder neue Anschlusskommunikation angestoßen. Für beide Wege der Verbreitung bedeutete die handschriftliche Verfertigung der Schmähschriften keinen Nachteil, im Gegenteil überwogen die Vorteile des leicht zugänglichen, reproduzierbaren und unauffällig verwendbaren Mediums. So waren es in den untersuchten Fällen durchgängig Handschriften, die ent‐ sprechendes Verbreitungs- und Herabsetzungspotential entfalten konnten, was die Relevanz handschriftlicher Medien im 16. Jahrhundert hervorhebt, die in der Forschung noch immer zu oft hinter den innovativen Druckmedien zurück‐ stehen. Dieses Potential wurde gerade durch das Zusammenspiel mündlicher und schriftlicher Kommunikation gesteigert. Aus den inner circles heraus stießen die Schmähschriften wiederholt mündliche Anschlusskommunikation an und aktualisierten so die Invektive, wobei durch den Eingang in Briefkorrespon‐ denzen das Feuer der Gerüchteverbreitung auch an entfernten Orten ausbrechen konnte. Durch den wiederholten Akt der Lektüre, die Möglichkeit, zeitlich versetzt unterschiedliche Publika anzusprechen, erschien den Zeitgenoss: innen die invektive Wirkung der Schmähschriften im Vergleich zur rein mündlichen Schmähung als dauerhafter und damit umso schwerwiegender. In den Schmähschriftenfällen kommt sowohl textintern als auch in den Befürchtungen der Betroffenen eine zeitgenössische Vorstellung von Öffent‐ lichkeit als Droh-, Urteils-, Legitimations- und Appellinstanz zum Ausdruck. Durch die ihr zugeschriebene Handlungsfähigkeit stand sie der neuzeitlichen politischen Öffentlichkeit durchaus nahe. Diese Öffentlichkeit avant la lettre wurde von den Menschen des 16. Jahrhunderts als Einheit begriffen, mal 350 10 Zusammenfassung 5 K Ö R B E R , Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit (1998), S.-367. 6 Vgl. so ähnlich bereits: V O N M O O S , Das Öffentliche und das Private (1998), S.-35. 7 Auch mit Blick auf die heutige Zeit ist noch einmal darauf zu verweisen, dass eine einzelne, homogene Öffentlichkeit eine Idealvorstellung ist und in der Realität immer nur als Pluralität existiert, vgl. F R A S E R , Rethinking the Public Sphere (1990). lokal etwa als Bürgerschaft, öfter aber entgrenzt und allumfassend, etwa im Sinne der Gemeinschaft aller Christ: innen. Damit ist Esther-Beate K ÖR B E R zuzustimmen, dass das 16. Jahrhundert „zwar nicht den Begriff ‚Öffentlichkeit‘, wohl aber die Sache“ kannte. 5 Richtet man den Blick nicht auf das konkrete Kommunikationsnetz, sondern im Sinne einer normativen Konzeption auf die gesellschaftliche Instanz Öffentlichkeit, so erscheint es aufgrund der von den Zeitgenoss: innen perzipierten Allgegenwart und allumfassenden Größe derselben nicht angemessen, von einem ausschließlich okkasionell oder situativ auftretenden Phänomen zu sprechen. Gerade anhand ehrbezogener Konflikte zeigt sich, wie sehr das imaginaire einer ungeteilten Öffentlichkeit stets als Hin‐ tergrund sozialer Handlungen mitgedacht wurde. 6 In diesem Zusammenhang erscheint es daher angemessener, im Singular von ‚Öffentlichkeit‘ anstelle von ‚Öffentlichkeiten‘ oder ‚Teilöffentlichkeiten‘ zu sprechen, um die Entgrenztheit der zeitgenössischen Öffentlichkeitsvorstellungen abzubilden. 7 Aus dem Blickwinkel des technisch-deskriptiven Öffentlichkeitsverständ‐ nisses blieb, obgleich die Fallstudien gezeigt haben, wie stark die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts bereits von Schriftlichkeit durchdrungen war, die allum‐ fassende Kommunikation jedoch weitgehend Fiktion. Die tatsächliche Kom‐ munikation und damit die Menge der durch die Schmähschriften erreichten Menschen war begrenzt. Die Betroffenen fürchteten sich vor allem aufgrund eines Veröffentlichungspotentials. 10.3 Schmähschriften und frühneuzeitliche Öffentlichkeit 351 1 Behandelt bei: H E R R M A N N , Armenbibel (1965). 2 Das Datum ergibt sich daraus, dass es sich hier mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Abschrift der gleichlautenden Flugschrift (VD16 ZV 8986) handelt, die auf 1567 datiert. 3 Behandelt bei: R O S E , Herr Niemand (2021). Anhang 1. Übersicht über die Akten mit Schmähschriftenbezug im Sächsischen Hauptstaatsarchiv bis 1600 Bestand: 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv) 1 Loc. 07262/ 09: Gedruckter Scheltbrief zur Schuldeinforderung des Hans von Besenrodt (1520) 2 Loc. 07262/ 10: Scheltbrief mit Schandgemälde des Heinrich von Salza gegen Heinrich von Wolfenbüttel (1554) 3 Loc. 08987/ 03: Prozess wegen eines Pasquills auf die Zerstörung des Benno- Altars in Meißen (1542) 4 Loc. 08987/ 04: Korrespondenz wegen eines gedruckten Schmähbuchs gegen Hans von Carlowitz (1562) 5 Loc. 09158/ 10: Mehrere Pasquillus-Dialoge, Schmähgedichte, Klaglieder und andere Schmähschriften gegen Herzog Moritz und andere wegen des Gothaer Kriegs 1 (1547-68) 6 Loc. 09162/ 14: ‚Nachtigall‘: Pasquill auf die Grumbachschen Händel (1576 2 ) 7 Loc. 09163/ 04: Untersuchungsakten über ein Schmähgedicht über den Go‐ thaer Krieg (1568) 8 Loc. 09666/ 14: Scheltbrief zur Schuldeinforderung des Rudolph von Moch‐ witz gegen Herzog Albrecht von Sachsen (1493) 9 Loc. 09667/ 01: Schmähschriften gegen Kurfürst Moritz wegen der Belagerung Magdeburgs (nicht einsehbar) (1551) 10 Loc. 09667/ 06: Lateinische Schmähschrift, Dialog zwischen Kurfürst Moritz und Markgraf Albrecht Alcibiades (o. D.) 11 Loc. 09667/ 09: ‚Herr Niemands Predigt‘: Anonyme Schmähschrift gegen Kurfürst August von Sachsen 3 (1566) 12 Loc. 09667/ 15: Privater Brief mit Schmähungen gegen Kurfürst August durch Hans Friedrich von Wolframsdorf (1567) 4 Behandelt bei: H A S S E , Antiklerikalismus (2005); V O L K M A R , Reform statt Reformation (2008). 5 Behandelt bei: S I E G E M U N D , Schmähschriftenprozess (2020). 13 Loc. 09667/ 25, 09680/ 06: Schmähschriften und Predigten des Küsters Mat‐ thäus Dorn gegen die Landesregierung (1574) 14 Loc. 09668/ 13: Mehrere lateinische Schmähgedichte gegen einen Sohn Kur‐ fürst Augusts (1577) 15 Loc. 09669/ 02, 09710/ 28: Lateinische Schmähschrift des Studenten Michael Rosinus gegen Kurfürst Christian I. unter Bezug auf Polycarp Leyser (1587) 16 Loc. 10298/ 03: Gedrucktes Pasquill gegen das Leipziger Interim und Lobge‐ sang auf Johann Eisleben (Agricola) (1559) 17 Loc. 09676/ 06: ( Juristische) Schmähschriften des Anwalts Salomon Plattner, eingereicht am Reichskammergericht (1599) 18 Loc. 09705/ 33: Pasquill gegen Cäsar und Christoph Pflug (1574) 19 Loc. 09706/ 14: Schmäh- und Drohschrift gegen Heinrich Krone (1535) 20 Loc. 09710/ 17: Mehrere politische Schmähgedichte (16.-18. Jh.) 21 Loc. 09710/ 18: Kurzes Schmähgedicht gegen die Geistlichkeit (o. D.) 22 Loc. 09710/ 19: Prozess gegen Georg Kolbinger wegen Schmähschriften gegen den Rat zu Meißen (1511) 23 Loc. 09710/ 20: Pasquill des Jobst Weißbrot gegen die Geistlichkeit 4 (1522) 24 Loc. 09710/ 21: Schmähschrift gegen Kurfürst Moritz (1553) 25 Loc. 09710/ 22: Lateinische Schmähschrift gegen Johann Major (1570-80) 26 Loc. 09710/ 23, 09710/ 24, 09710/ 25: Schmähschriften des Andreas Langener gegen Tham Pflugk 5 (1569) 27 Loc. 09710/ 26: Schmähschrift in Form des Vaterunser gegen Jakob Andreae und Polycarp Leyser (1581) 28 Loc. 09710/ 27: Sammlung von Kontroversschriften und Pasquillen, gedruckt und handschriftlich, und mehrere Prozessakten (1581-91) 29 Loc. 09739/ 20: Mansfeldische Pasquille (nicht einsehbar) (1521-29) 30 Loc. 09842/ 26: Schmähgedicht gegen die evangelische Lehre (1540) 31 Loc. 10302/ 02: Pasquill gegen Kurfürst Johann Friedrich (1545) 32 Loc. 10543/ 08: Lateinische Schrift des Thomas Franz wegen Wittenberger Universitätsangelegenheiten (o. D.) 354 Anhang 6 Behandelt in: R O S E , Schmähschriften (2020). 7 U H D E ; H I R S C H , Grundsätze (2009). 8 Jermis (Hieronymus) Hofmann, Kaufmann und Inhaber der ‚Morenapotheke‘, 1591 Ratsherr. Bestand: 10036 Finanzarchiv 33 Loc. 12034/ 01-04, 12034/ 06-11: Kampagne mit mehreren Schmäh- und Droh‐ schriften einiger Grafen von Mansfeld gegen den Stadtrat, den Pfarrer und mehrere Bürger: innen der Stadt Artern, den Superintendenten von Eisleben, den Administrator des Bistums Magdeburg und Kurfürst August (1590/ 91) 34 Loc. 36060, Rep. 09, Sect. 1, Nr.-0163: Drei Schmähschriften gegen Kurfürst August und die Bergverwaltung in Freiberg durch Caspar Thiel 6 (1560) Bestand: 10084 Appellationsgericht 35 00956: Schmähschrift des Georg Zorn, Bürgermeister zu Rochlitz gegen Paul Sehla, Schösser daselbst (1574) Bestand: 30023 Amt Zwickau 36 Nr.-901-905, 1177, 1178, 1270, 1271: Pasquill des Johann Offneyer gegen den Stadtrat von Zwickau (1599) 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften Die Transkription erfolgte weitestgehend nach den Richtlinien der Archivschule Marburg. 7 Der Text wird zeilengenau und leicht normalisiert, „u“, „v“, „i“ und „j“ nach ihrem jeweiligen Lautwert wiedergegeben, lediglich Satzanfänge sowie Namen großgeschrieben. Sachliche Anmerkungen beschränken sich auf Orte und Personen sowie Worte mit potentiell unklarer Bedeutung. Weitere Informationen zu den edierten Stücken sowie ihrer Entstehung finden sich in den entsprechenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit. 2.1 Frauenpasquill, Leipzig 1588 StadtAL, Richterstube, Akten Teil 1 Nr.-187, fol. 2. 1 ein zug geht itzt in Franckreich nein 2 da mussen noch mehr huren drein 3 die sollen den feint helffen dempfen 4 die Jermis Hofmannen 8 hilft auch kempfen 5 sie gibt ein guten rittmeister 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 355 9 Hans Fuchs, Kaufmann und Hoffaktor des sächsischen Kurfürsten August. 10 Mutmaßlich Clemens Schwartz, 1545 als Meister der Leipziger Kramerzunft genannt. 11 Fähnrich. 12 Für die Regimentspolizei zuständiger Soldat. 13 Dem Profos unterstehender Knecht. 14 Musterplatz. 6 Unterhöltzer hilfft ihr beistant leisten 7 zu solchen sachen ist auch gut 8 die Hans Fuchsen 9 die tregt ein frischen ruck 9 die woln wir zu eim leutnant schlagen 10 das sie die hurn aufm lande hilft jagen 11 den sie gar wol dazu dient, 12 vielleicht sie Clemen Schwartzen 10 fint 13 dazu mus auch noch haben ich 14 ein freien langen fenderich 11 15 das sol die magister Kramern sein 16 die will gar gerne mit hinein 17 den sie kent sonst viel frantzosen 18 auch welsche in ihren engen hosen 19 nu mus ich noch ein profos 12 haben 20 der sol auch balt hereiner traben 21 das will die docter Andresen sein 22 mit ihrem stolzen schreiber fein 23 ein gulden funfhundert mangelt ihn nit 24 das ist bei gott in krig gut mit 25 zu solchem gantzen kriges recht 26 ist ein jungfermedgen steckenknecht 13 27 das sol Margrite Frobels sein 28 die will gar willig mit hinein 29 drum rustet euch immer flugs ahn 30 das wir kommen auf den muster platt 14 31 da werden wir frisch geld empfahn 356 Anhang 15 Bezug auf das ‚Frauenpasquill‘, s. Anh. 2.1. 16 Ausgestrichen, unkenntlich. 17 Einfügung, unkenntlich. 18 Gasthof „Goldene Eule“, gelegen auf dem Brühl. 19 Mutmaßlich Gasthof „Blauer und Goldener Stern“, gelegen in der Hainstraße. 20 Gasthof „Auerbachs Keller“, gelegen am Leipziger Rathaus. 21 Valentin Schreyer, Kürschner, wahrscheinlich Meister. 22 Sebastian Cunrad, Garn-, Leinwand- und Vitriolhändler. 23 Dorf und Rittergut im Besitz der Familie Pflugk, gelegen in der Nähe von Riesa. 2.2 Männerpasquill, Leipzig 1588 StadtAL, Richterstube, Akten Teil 1 Nr.-187, fol. 1. 1 also ir liebenn herrn dieweil wir die hurenn hebenn genand 15 2 so -- 16 mitt vorn sollenn ziehen ins Polen landt 3 so mussenn wir auss Leipzig nemenn die ehbrecher ins Polen lannt 4 damit sei dortt auch werdenn bekanndt 5 unndt vonn do an grobenn polenn werdenn flugs zu dott 6 damit sie hinfortt die weiber nicht 17 brinngen inn nott 7 zum erstenn ruffenn wir denn ulenn wirtt 18 8 dar auch mester Lucas denn grob smitt 9 auch genannt denn wirtt zum guldenn sthernn 19 10 der vogeltt auch umb sich gernn 11 Jacob Fetter inn Arbacken kellerleinn 20 12 vögeltt auch die weiberleinn 13 Hanns Illige der sticktt umb sich 14 mester Simon der sneider hautt sich 15 Valttinn Sröher 21 Bastiann Conrat 22 die 2 altte narrenn 16 mus mann nach farenn lassenn auff 1 karrenn 17 es sinnt mehr ebrecher vorhandenn, 18 wo sie nicht obschonn vonn solchen schanndenn, 19 wollenn wir sie auch nennenn 20 da mitt sie idermannlichenn lernet kennenn 2.3 Scheltbrief des Andreas Langener, Dresden 1569 HStAD, 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv), Loc. 9710/ 23, fol. *66 v -*68 v . 1 Mit kaiserlicher maitt: privilegien 2 angeschlagenn. Wieder kai: maitt: 3 geleit unnd gewalt protestirent. 4 Nachdem du Tham Pflugk auf Kanitz 23 sobaldt laut 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 357 24 Schließende Klammer fehlt. 25 Ausflüchten. 26 Eher. 5 deiner aigen handtschrifft auf dein begehrenn 6 daselbest ankohmmen, mich dreimahl mit deinen 7 jungen beschickett, bis so lange mich hinein ge- 8 locket hast. Mir wieder Gott ehr und redligkeit 9 ( 24 wie dan mit deinen aigen Leuthen unnd mit 10 meinen geferten, als unparteiischen zeugen 11 lengst bist uber wiesen worden, ohne alle ursache 12 mein armudt, mit gewaldt genommen, mich 13 offenlich ohne ursache ein schelmen gescholten, unnd 14 mich in dem deinigen, do ich mich nicht habe wehren 15 dorffen, ane ursache ubel geschlagen, das ich mit 16 meiner geselschafft habe fliehen mussen, dardurch 17 kai: mait: unsers aller gnedigsten herrenn, 18 geleidt, und meine privilegien fursezlich ange- 19 tast, und gebrochen. Dorauf geclagt. Und meine 20 notturft genugsamb erwiesen. Dargegen du dÿch 21 mit unerbarn auszugen 25 (doch den adelichenn 22 standt hiemit nit gemeinet) behulfest. Ider- 23 man damit bescheist, unnd betreugest. Auch 24 wieder deinn gewissen auf deinem hochmudt 25 dich vorlest, eine mutwillige rechtfertigunge 26 vorzunehmen, unterstehest, wie der losern 27 zahlern art ist, damit was du mir zuthun 28 schuldigk bist. Unnd wir jo nit ainigk werden, 29 das meine mit langkweiligenn rechten ohne 30 werdest, der meinunge mich entwender abzu- 31 wenden, oder so lange mich wieder die erbarkeith 32 umb zutreiben, das ich unvormugklickeit halben 33 der sachen nicht mehr nach zu sezen het, und gar 34 ablassen musse, dar zu nicht immer gelegenheit 35 hast, so lange als helfenn kann. Dieweil 36 aber du Tham Pflugk eine mutwillige dir selbest 37 geferliche rechtfertigung mit gewalt suchest, selbst 38 wilt, das dein aigen schandt und unerbarkeitt 39 bas 26 an tagk komme. Die ich gerne, darnach ich 40 gehalten, verdrucken woldt, mich allhier 48 wochen 41 aufhelst nicht zuerhalten, auch auf meine vorige 358 Anhang 27 Drohst. 42 ubergebene petition schrifft, darinne du zum 43 hochstenn ermahnet, das jhe kein mensch auf erden 44 nicht hoher kontte ermahnet werden. Dennoch 45 keine anthwort wirdt, noch darzu das gespodt 46 treibest unnd trevest 27 , das ich nun hinfuhr meines 47 lebens besorgen mussen, und nicht anders sein will 48 so ermahne ich dich Tham Pflugk uf Kaniz uf deine 49 muttwillige gesuchte unnd ahngemuttene recht- 50 fertigung, abermahls hirmit offentlich meines 51 hiebevohr ausgegangenen schreibens, unnd wisse 52 aigendlich, das beschlislich in disen compromis 53 vorwilliget habe, und vorwillige noch dareinn, 54 nemblich einem jedem theill frei seinn soll, seine 55 notturfft innerhalb zweien monatten mit zwo 56 schrifften fein kurz auszufuhren, unnd darbey 57 in ewige zeit, was urtell und recht giebet beruhen 58 lassen. Doch bevohr ein ider bei seinenn 59 aides pflichten, ahngelobe, keine schelmische kundt- 60 schafft zubrauchen, noch unerbare verlengerunge 61 zusuchen. Vormeinstu dich gerecht, und hast 62 ehr tugendt, erbarkeit redligkeitt, recht, lieb, 63 so vorwillige auch dorein. Begerestu da noch 64 einen monath darzu, will ich damit zulassen, 65 das ich dich nicht mit kurtzung einiger zeit verfortteilen 66 noch ubereillen will, befindt sichs im aus kericht das 67 der wie du vorgiebest, und dich beclagest, werdest wieder die bil- 68 ligkeit beschweret, und wie due allein dich deiner ertichten 69 unschuldt ruhemest, so kanstu ja wohl in solcher zeit 70 aus der wesche kommen, das man dich nicht lange darf 71 umbziehen, noch fernner in uncosten fuhren und da sichs 72 mit der warheit, ohn alle verforttelunge befunde, das 73 ich dich het mutwilliger weise, furgenohmmen, und 74 nicht darthue, derhalben dich hochlich zu beclagen 75 habe, sol deine obrigkeit, vor der nuhn die sachen mussen 76 ausgetragen werden, mich nicht alleine am guth sondern 77 auch an ehren leib und bluedt, als einem ubelthetern 78 zu straffen macht haben, auch dasselbe zu dulden und 79 zu leiden, mit vertzeihunge aller meiner keiserlichen 80 privilegien, meiner herschafft vorschub, und aller 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 359 28 Suhl in Thüringen, zur Zeit des Prozesses zur Grafschaft Henneberg gehörig. 29 Ein im 16. Jahrhundert auch im Deutschen bekanntes Sprichwort: „Die warheyt leidt wol not / aber nit den todt“. 81 redlichen leut, vorbithe auch zum uberflusse hiermit 82 offentlich ungenottiget mich verpflichte bei mei- 83 nem eidt, damit meiner herschafft verwanthe mit zu 84 weichen, sondern die fueß darumb zuhaltten, und 85 den aussgang zuer wartten. Willtu aber das 86 alle ehrliebende menschen die von got erschaffenn 87 und itzo in der weldt leben (doch den gemeinen adel- 88 lichen standt hiemit nit gemeihnet, ich rede allein 89 mit deiner person) vor einen losen verlogenen ehre 90 vergessenen hudler, und buben jeder zeit haltten 91 und schelten sollen, der keine ehre mehr keine er- 92 barkeith keine redlichkeit mehr achte, nicht werth seÿ 93 bei einem ehrlichen manne zu sitzen noch mit redtlichen 94 leutten gemeinschaft zu haben, und der Gottes unnd 95 der ewigen wohlfarthen schon verwogen, so verwiedere 96 dich im vorgehalttenen compromiss zuverwilligen 97 darauf des rechts kampff und des gelugks erwarte 98 und bitte alle ditz ahnschlages, ahnsichtigen zum hochsten 99 als ein christ den anderen bitten magk so lieb einen 100 jeden sein ehr sei, wolle sich an kai: mait: nicht 101 vergreiffen, noch sich dorein legen und diesen ahnschlagk 102 unberurt lassen damit die sache zum ahnfangk 103 und ende komme, die erbarkeith sampt der gerech- 104 tigkeit geföddert, und eines ehrlichen mannes ehre, 105 so hochlich ahngetastet, möge errettet werdenn. 106 Solches stehet wiederumb umb eines jedenn nach 107 wirden und vermuegen zu jederzeit zuverdienen 108 und zuverschulden. Actum Dressden den 19. junii 109 anno lxix 110 Nota. Morgen uber acht tage, das ist den 27. junii, 111 wirstu gleichsfals, so hoch wie oben zur clage 112 und anthworth zu gestellen ermahnet. 113 Andreas Langener 114 von Suhla 28 . 115 Veritas premitur sed non opprimitur 29 360 Anhang 30 Spottname für den Michael Kratzbeer (†1522), Zwickauer Ratsherr seit 1598, Bürger‐ meister 1609-1622. Vgl. den Begriff „Kratzhart“ für einen Wucherer oder Geizhals. 31 Lat.: „mit lauteren und unlauteren Mitteln“. 32 Am Rand ergänzt: „scribiren in seiner mutter“. 33 Lat.: „Reiberei“. 34 Am Rand die Zeichnung eines Galgens mit angelehnter Leiter und kurzem Strick (Abb.-5). 2.4 Pasquillus des Johann Offneyer, Zwickau 1599 StC, 30023 Amt Zwickau ( Justiz- und Rentamt), 902, fol. *25r-*28r. 1 - Pasquillus - 2 1 3 Sehet ihr bürger allgemein, 4 was das für neue zeitung sein, 5 ein bürger wohnet in der Stadt 6 mit nahmen Michal Kratzebart 30 7 der fuhrt den nahmen mit der that 8 des sich neulich begeben hat, 9 das er durch seine practicam 10 betreiget manchen ehrlichen man 11 per fas et netas 31 zusamen kraztt 12 undt mit den thalern heraus blaztt, 13 dann er eins ehrlichen mannes weib 14 gar offt und viel den pfeffer reibtt 15 er hat sie auch dermassen lieb 16 drumber sie in 32 des melzhaus furhett 17 das ist sein auditorium 18 agirt doselbst terentium 33 19 wie jener mönch der nonnen 20 zwo ganzer seger stünden 21 ihm sie doselbst heruber locken 22 sedo sedo geh mehr zum recken 23 das mag wol sein ein losser gesell 24 o naus mit ihm an diese stell 34 25 des er ihn lang verdienet hatt 26 vorn ihre beschlieff er seine magdt 27 schickt sie dernach in die Kratzbers 28 - bis er sie bracht wieder zu ehren - 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 361 35 Am Rand die Zeichnung eines Rads (Abb.-5). 36 Gequält. 37 Gemeint sind an dieser Stelle Bordelle. 29 2 30 Er hat dar zu vordienet das 35 31 die bauren sehr gekratzet hat 32 viel grossen und auch edelleut 33 beclagen sich uber ihn noch heutt 34 das er ihnen so practicirt 35 schelmischer weiß ums gelt vexiret 36 36 die sachen bleiben dan zorück 37 das ist sein boses bubenstück 38 bekömmet er aber seinen lohn 39 so rist ers maul und geht davon 40 wenner dan wieder komet heimb 41 so list er in den schneiderein 37 42 draus thut er die sachen spicken 43 die bürger damit zu berücken 44 das sie ihm geben was sie haben 45 so mus man euch die hörner schaben, 46 balt kombt ein baur wie stehn die sachen 47 ey was heb ich mit dir zu schaffen 48 ey doctor Michal umb sonst ich nichtt 49 beger wie ich euch hab bericht, 50 da ich brechte mein bestes schwein 51 ja ja izt viel mirs etwan ein 52 der sachn will ich ni gedank sein, 53 was du wieder komst zu mir herein 54 itzt hab ich warlich nicht die weill 55 wie schmecket euch dann die rehekeull 56 welche der junker euch fur war 57 geschicket zum nuen jahr 58 sie ist verzehrt bis auf das bein 59 - das ihr nuhn kombt zum junker heim - 60 3 61 So sagt sich nicht bekummern soll 62 die sach stehen höflich und woll 63 ich hof nu wirdt mir diesmal glücken 64 ein hasen mist er mir noch schicken 362 Anhang 38 Christoph Faber (†1612), seit 1591 Rektor der städtischen Schule, seit 1594 Ratsmitglied und seit 1597 Bürgermeister in Zwickau. 39 Das panem protper deum (Brot für Gott)-Singen war eine im 16. Jahrhundert übliche Art, besonders der jungen Schüler, Almosen zu erbetteln. 65 wen er denselben hat gefressen 66 die sach doch wol thut vergessen 67 die weiber ihm gefallen besser 68 ich wolt auch sein ein solcher schösser 69 wener nun solche vollendet het 70 macht er sich auf und geht zum rath 71 und wil derin der klügste sein 72 ihr herren hats getroffen fein, 73 das ihr ein solchen huren man 74 in rath wolt sezen oben an 75 als wer sonst keiner in der stadt 76 solt ich mus loben diese that 77 balt ich ein urtel fellen wolt 78 das ihn der hencker krazen solt 79 und ihn baar sprossen dehnen lenger 80 dz man ihn müst an galgen hengen 81 noch eins ihr herren merckt es ewen 82 will ich euch zuverstehen geben 83 will des drauf damit beschliesen 84 es möchte sonsten sehr verdrissen 85 des herrn Fabers: 38 seine roht 86 - vorzeiten trug herumb die buth - 87 4 88 wie michs bedruckt es ist nicht lang 89 des panem propter deum 39 sang 90 itzund der armen ger vergist 91 derweil er burgermeister ist 92 und nuhr sein eige nutz bedencken 93 den mantel noch dem winde hengten 94 er het ein klein stoltz weibelein 95 die secht ihm all nacht an ein bein 96 das bringt ihm viel der feigtikeit 97 daher bekombt er grosse klug heit, 98 er hat sie gelt halben erfrütt 99 es hat ihn nur einmal gemüt 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 363 40 Vgl. das Sprichwort „Narren soll man mit Kolben lausen“. 41 Spottname für Daniel Müller (†1613), seit 1583 Zwickauer Stadtschreiber, seit 1602 Ratsmitglied. 42 Lesung unklar, vermutlich „d“ für „Pfennig“. 43 Über der Zeile: „2“, über der folgenden „1“, die Verse sind entsprechend vertauscht. 44 Nicolaus Wunderlich (†1590), seit 1573 Zwickauer Bürgermeister. 100 unglück wird ihm nicht bleiben aussen 101 den narren soll man kolben lausen 40 102 wan er nun gehet für die hut 103 sein fogtel giert er an die seit 104 kombt damit auf das haus geloffen 105 es sessen ein halb schock hüner droffen 106 zu lezt ich auch noch sagen will 107 ihr seind noch mehr in solchen spill 108 einer wird D. Narr Müller 41 genand 109 dem Kratzbart ist es wol bekandt 110 der zeit bürgermeister will er sein 111 - tritt mit seim grossen beltzs herein - 112 5 113 Wen gleich und gleich sich gern geseltt 114 und machens nur wies ihn gefeltt 115 jewan sie dan kommen zusamen 116 so rethen sie in der bierkannen 117 komen wir bürger auf das hauß 118 lauffen ein zehn jahr ein und aus 119 noch find man keine hülff der sachen 120 als schon nur 18 d 42 thut machen 121 sie rethen offt ein ganzes Jahr 122 nichts rethen können und das ist wahr 123 solch rathen wird Got nicht gefallen 124 ihr solt es ewen wissen alle 125 so wirds euch sein ein groß schaten 43 126 wende ihr dis ihre nicht besser rathen 127 ich lob den alten Wünderlich 44 128 der sucht des best ganz treulich 129 er stillet offt hader und zank 130 derwegen vordienet er wenig dank 131 wolt gott sie folgen diesen man 132 das regiment würd besser stan 364 Anhang 45 Unleserlich. 46 Calvinisten. 47 Vgl. das Sprichwort „Juristen, böse Christen“. 48 ‚Valentins Wonne‘, Epilepsie. 49 Verweis auf die Catilinische Verschwörung. 133 da hatten wir arme bürger schutz 134 itzund sehet ihr auff euren nutz 135 got wirdt euch auch derumb finden, 136 wo ihr nicht absehen wardt von sünden 137 wirdt gott durch hagel schlagen ein 138 mit feuer und bech ins rathaus rein 139 da wollen wir sagen lob und dank 140 - kom lieber Got und machs nicht langk - 141 6 142 Rath magistri und m. klugel aus 143 und -- 45 ein ander rathhaus 144 ein neue braud wardt gekorn 145 die alte ist zür hürn worden 146 man thüt die unzücht gar nicht wehren 147 des machn die unzüchtigen rathsherren 148 wan man anstendige bürgerblut 149 im rath gebrauchet diese zeitt 150 so würde es besser alhier zu gehn 151 mit allen sachen wol zusehen 152 schafft ab calvine 46 und juristen 153 und sazt dagegen fromme christen 47 154 an ihr stadt ins regiment 155 sonst wierdt es nehmen ein böß endt 156 werdt ihr Kratzbart nicht aus dem rath 157 verstossen undt thun aus der stadt 158 ein bessers ihm will componiren 159 ihn soll die Valtens vönne 48 rühren 160 hierinns auch nicht allgemeindt 161 die fromen excludiret sein 162 die nova bona will ich einden 163 ein freundt wol sie des andern seindt, 164 damit es Bartt Kratz wol vornimmbt 165 und sein Catilina 49 auch bekombt 166 gegen ist in schneller eil 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 365 50 Straße in Zwickau. 51 Am unteren Rand befindet sich die Zeichnung des Zwickauer Stadtsiegels mit drei schwarzen Vögeln nebst einem unleserlichen Vermerk des Schreibers (Abb.-5). 52 Voigtstet, heute Stadtteil von Artern. 167 - und angemacht an diese seill - 168 7 169 Einander möcht ihr es wol weisen 170 bei leibe thuts nicht herab reisen 171 wolt ihr wissen wer ich bin 172 vorwahr ich führ ein sorten sin 173 nicht lang ists bin ich beug gesessen 174 und mit euch von einer schötzkeul gessen 175 Ulrich Schlürff bin ich genandt 176 den Stephen Leiybeltz wolbekandt 177 zu unterst in der huntsgassen 50 178 man mus mich wol bassiren lassen 179 wer nun da wirdt furüber gen 180 der wol ein wenig still stehn 181 und diese verlin vleissig lesen 182 denn es ein gut gesell gewesen 183 der diese verslein hat gemacht 184 got geb ihm viel des guten nachtt 185 ehr hette noch geschrieben mehr 186 wann die schult nicht pappires wehr 187 er hat des siegel drauf gehefft 188 darmid die verslein haben krafft 51 2.5 Das „letzte Lied von Artern“, Artern um 1590 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. 2-4. 1 das lezte lied von 2 Artern 3 1 4 zum lezten mal wirt getrauet hir 5 Vokstet 52 unt Artern das merke dir 6 wie ir beide solt kurtzlich werden 7 zu asch trek unt lauter erden 8 ir habts vernommen muntlich 366 Anhang 53 Peter Stolzen, Arterner Amtmann. 54 Leitersprossen. 9 darzu in schrifften seit bericht 10 - wers gemacht vernimt es izt. 11 2 - 12 alles durch B: Hofschneiders 13 auch auf angeben des dibischen Stolzers 53 14 die zwene ware rechte dibe sint 15 unt allen christen sehr feint 16 den Hofschneider den bürgern das ir nimbt 17 unt sich sonst vil bubenstuck unternimdt 18 - durch eitel Fegeliusen truck 19 3 - 20 er tut die burger ausjagen 21 die es nicht verschuldet haben 22 vom rathaue er gestolen hatt 23 alles was er bekommen mag 24 unt ist ein offentlich feltdieb erfunden 25 Stolzern hat sein diebstal getrugen 26 - hor weiter von diesen schelmen 27 4 - 28 das er in gestolen heften herpranget 29 unt was die schnur im ambt anlangt 30 die er dieblich doraus genomen 31 welcher im vertrauen behalten sollen 32 derinnen unt sei kleidern gut 33 hat er die pfaffen zum tanz gefurt 34 - vernimb vom schelmen ferner 35 5 - 36 ausm dobf er dieblich entwendet hat 37 den silbern becher aufn abent spat 38 sint das nicht zwen diebe gros 39 als du sie im lande finden solst 40 drumb sie es besser verdinet han 41 dan die arm unschuldige frau 42 - schau an das grose ubel irn verdinten lohn 43 6 - 44 das man sie beide 16 spalen 54 lang 45 zöge unt entlich an den galgen hang 46 so wirt got strafen alle schon 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 367 55 Unleserlich. 47 unt den geben gar schentlich lohn 48 die zu dieser gewalt han geraten 49 das man sol gros unrecht gestaten 50 - hor was ir lohn soll sein 51 7 - 52 an einem hatt got den anfang gemacht 53 das er von iderman wirt veracht 54 durch sein meineit unt falschen betruk 55 darzu den eigen nuzigen stolzen mut 56 den er gebracht drey ganzer jahr 57 mit falschen gewicht unt das ist war 58 - unt merks izt gar eben 59 8 - 60 also wirt es auch den andern gehen 61 das es ein iderman soll sehn, 62 der richter auf offenem markt 63 vor ein schelm dib unt betriger alt 64 gescholten unt auch wer in der that 65 den wer von seim anfang gesehen hat 66 - hor was man schreibt von ihm 67 9 - 68 diser kann draus anders nicht gewosen 69 dan das er ist offt mit spitzbuben gefunden 70 auch mit huren im lant herzogen 71 unt vil statlich leut betrogen 72 sein izig eheweib er schwanger gemacht 73 eh sie im war in die kirchen bracht 74 - noch mer von disem buben 75 10 - 76 in neuligkeit er sie understanden hat 77 unt -- 55 zwo dinst magt geschwengert het mit der that 78 als sie nuhn schir sollen kommen ein 79 wie balt er sie verschiket fein 80 dennt sein bubnstuk solln bleiben 81 verdrukt auf groser schande kan treiben 82 - das las ein ehbrocher sein 83 11 - 84 drumb ist der richter ein schelm unt boswicht 85 unt nicht zu leiden im erkeben gericht, 368 Anhang 56 „Einer, der es mit der Reue leicht nimmt“. 86 will in der rath unt ambt drin leiden 87 unt seiner sich nicht meiden 88 So seint alle unt ratspersonen schelmen 89 unt die so sich an in hengen 90 - las dies zur warnung sein gesagt 91 12 - 92 das sie so tun stil schweigen 93 uber solchen gewal unt bubereien 94 werden auch all entpfangen irn lon 95 nach dem sie haben gehandelt schon 96 von dem schelmischen statschreiber gemelt wut 97 der ein gros reulichter 56 schelm unt esel ist 98 - hor was er sich erzeigen tut 99 13 - 100 der selb mit dem bubischen richter 101 gros logen widers weib erdichten 102 als sie sich mit dem dibischen Stolzer schnell 103 auf ein abent haben gesoffen foll 104 mit unrecht sie doran gethan 105 das sie die frau gezogen ahn 106 - wie verreterrisch sie gehandelt 107 14 - 108 die doch ist ganz unschuldig gewesen 109 drumb sie alle zustreichen mit besem 110 mit der gewalt sie verdinnt han 111 den galgen unt rath als man sag 112 den Stolzer ist ein silbern becher dieb, 113 so hat er die gestolen heffte lieb 114 - noch mer das ist vernimb 115 15 - 116 die schnur hat er gestolen ausm ambt 117 unt mit in hochzeit unt kintteuft prangt 118 der stadschreiber sich an sie alle hengt 119 unt sich mit der gewalt nach in lenkt 120 aber got wirt den selben schelmen 121 in kurz vertilgen unt gar verschlemmen 122 - noch eins wirt mer gemelt 123 16 - 124 vom schreiber zu Vokstet sis gelernt han 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 369 57 Georg Vitzthum von Eckstedt, Oberaufseher der Grafschaft Mansfeld. 58 Unleserlich. 125 der mit Stolzern vil gewalt bringt auf die ban 126 an einem baurs feld hat er angefangen 127 unt in mit gewalt an ein leiter gehangen 128 ser ubel er in gemartert hat 129 das weiset seine schone that 130 - das wirt wohl gerochen 131 17 - 132 noch einen izt er hatt beschmizt 133 der heutigs tags zu Vokstet sizt 134 durch eitel gewalt unt gros unrecht 135 das soll inns werden herr unt knecht 136 es soll in werden al zu schwer 137 unt neulich horen neue mehr 138 - es sol nicht bleiben aussen 139 18 - 140 das mag er den interessenten sein 141 auch nicht Vizthumb 57 unt beambten fein 142 den pfaffen unt pfaffen genossen 143 den kleinen unt den grossen 144 das er andere nicht ergehen soll 145 den wie im anfang gemeldet worden 146 - drumb sieh dich eben vor 147 19 - 148 mit Artern unt Vokstet merks gar eben 149 wie die heut mit gewalt da streben 150 unt tun ausjagen mit grosen unrecht 151 die so es haben verschuldet nicht 152 beschweren die gesellen mit gefengnus bos 153 unt thun in allen uberdrus 154 - ade merk was dir ist izt gemelt 155 20 - 156 was haben die schelmen nahn mehr gemacht 157 den sich all -- 58 gebracht 158 unt doch die frau los lasenn mussen 159 das soll in allen nicht werden susse 160 drumb Vokstet nimb deiner war 161 eh du im feur vergehest gar 162 - dein schreiber thu abschaffen 370 Anhang 59 Hier und im Folgenden unleserlich durch Heftung. 2.6 Das „Liedt vom Radt zu artthern“, Artern um 1590 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 4, fol. *11-*13. 1 ein liedt vom radt zu 2 Artthern - 3 1 - 4 [g] 59 ott dir izt viell zu clagenn 5 [w]ie es zu Artthern wyrdt ausgericht 6 [g]anzem radt thue ich sagen 7 ehr handelt im gericht 8 - als itzt wyrdt fein gemeldt 9 2 - 10 loben erstlich falsch gewicht 11 das gebraucht ist dez gantzens jhar 12 fleisch und talck und an lichtt 13 -falscher trugk und boszer wahr 14 - das ist wider ihr gewissen, 15 3 - 16 [a]uch volgkman forsch den falschen man 17 -koffent und wasser gefullet ins byhr 18 -wundert sich jder man daran 19 [das] ihn die hern nicht straffen hier 20 - sie wollens gerne vordrügken 21 4 - 22 -pflicht ehr groblich vorgessen hat 23 -weis jderman zusagen 24 -- (d)ie dinstmagt er schwenger mitt der that 25 -geschengk und große gaben 26 - das ist sie werden inne 27 5 - 28 [ver]torben fleisch er vor guts thut vorkauffen 29 --ffe und rath das ist wahr 30 -ghen lesth ehr dorumb lauffen 31 -nicht sol werden offenbar 32 - solchs ist nicht heimlich mehr 33 6 - 34 [Hoff]schnider der strenge man 35 -thut das ubel loben 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 371 60 Bürgermeister Volkmar Hase. 61 Hier und im Folgenden unleserlich durch Heftung. 36 -magks verhellen wie ehr kann 37 -that ist nicht erlogen 38 - das mus ehr selber sagen 39 7 - 40 [S]opel der ander B gutt 41 in schriefften belessen und gelertt 42 will nicht das diesser offenen bar 43 sol gestrafft und werden geregt 44 - das ist nicht recht von ihn 45 8 - 46 der 3. B. ist Hasse 60 genandt 47 magk von solcher that nicht horren 48 das haben sie alle grosse schandt 49 selbsth thun sie sich bethorren 50 - die zeit wyrdt es bringen 51 9 - 52 Fiescher burgemeister behendt, 53 wolt gerne straffen diesse thatt 54 so hat er nicht das regiment 55 sein wort itzt kein ansehn hat 56 - das sagt wol jderman 57 10 - 58 die andren lompen wolgethan 59 desgleichen auch das gemeyne -- 61 60 sehr mechtigk ubel redt davon 61 das die straffe nicht gehet -- 62 - mit unrecht bleibs vorschwig[en] 63 11 - 64 die burgerssohn thun sie werffen gesch[wind] 65 woll in das gefengknus bosze 66 keynen thut ehr horren gelin[d] 67 seine gewalt fortgehen muss[e] 68 - das klaiget sich ein jder 69 12 - 70 ihr elttern thun etliche ausjagen 71 die es nicht haben verschul[det] 72 got wolt ihn wieder geben 73 die rechte und waren geduld[ig] 372 Anhang 74 darbey lesth man es -- 75 13 - 76 der stadtschreiber solle sein her-- 77 das sie nicht fharren geschw[ind] 78 sondern solth beyde teil vorlad[en] 79 horren und richtten gelindt 80 - das wahr der rechte B-- 81 14 - 82 er ist in der haut ein boserwicht 83 das ziegtt sein narheit und hoffert ahn 84 und ob er sich jtzt fein zuschlicht 85 gros unglugk bringt er uff die bahn 86 - man mus ein weil zusehen 87 15 - 88 den beampten zue Vogkstet thut ehr vorleytten 89 alles durch grossen falschen schein 90 das ehr sich soll wieder die gelertten 91 mit wort und that legem ein 92 - er ist zum buben worden 93 16 - 94 den amptschreiber doselbsth uberredt 95 das ehr den cantor schlachen solt 96 wie balt sich derselb an in stelt 97 und richts an woll mit der that 98 - es sol in fein gerauen 99 17 - 100 die armen leutte thun sie beschwerren 101 mit unrecht und schwinder thatt 102 von Stolzern sie es fein lehrnen 103 der viel schelmstucke geubet hat 104 - es wyrdt offenbar werden 105 18 - 106 derselbe ist zu straffen an allenn ortthen 107 das weisenn seine thatten 108 sielbern heffte hatt ehr gestollen vom rathe 109 die preysen ihn in hochzeitt tagen 110 - es sol ihm nicht gelingen 111 19 - 112 er langt die sylbern becher herraus 113 die ehr aus deme topffe hat gestollen 114 er lues die leutt gern trincken doraus 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 373 62 Leitersprossen. 115 des vorworffs mus er sich schemen 116 - das thut sein frau beweynen 117 20 - 118 die schnüre so ins ampt gelegt worden 119 von golt und berlen wol besatten 120 die hat er diebisch daraus genommen 121 das ihm doch gebhuret nicht 122 - man mus es ein weil ansehen 123 21 - 124 in diesher schnure und sielbern hefft 125 darzu kleider mit seyden geschnurt 126 die ehr sampt deme becher gestollen hat 127 hat ehr die pfaffen zum tantze gefurt 128 - und mit diebischer hoffart geprangt 129 22 - 130 das andre so ehr mehr gestollen hatt 131 wyrd zu rechtter zeit gerochenn 132 zum galgen ists noch nicht zu spat 133 mit diessen beyden borschen 134 - sie werden nachwol doran gehangen 135 23 - 136 sie haben eyne arme fraue belogen 137 durch eittel falschen schein 138 auff eyner leytter 8 spalen 62 gezogenn 139 wol sechs gantzer stunden fein 140 - vol haben sie sich darober gesoffen 141 24 - 142 ihr gewissen haben sie sehr beschwert 143 mit grosser blut gewalt und tiraney 144 es wyrt ihn werden ehr zu schwer 145 Got stehe du deme gerechtten bay 146 - das sie sich mogen retten 147 25 - 148 gross unrecht ist ihr geschehen 149 das mus gott erbarmen 150 Artthern Artthern wie sol dies gehen 151 das sollen in werden reich und armen 152 - durch diesse grosse gewaltt 374 Anhang 63 Unleserlich. 153 26 154 Vockstedt Vockstedt dir sey gedrauet 155 durch ursach deines schreibers Stolzen 156 wie uff dich wyrt gelauret 157 das due wyrst werden zu asche und holzen 158 - und gehen gar zu borden 159 27 - 160 wye tiranisch und blutg-- 63 sach ich dyr 161 an eynem baursfelden hasth gethan 162 das sol dir werden alzu schwer 163 wen es wyrdt fordt gehen ahn 164 - dorauff soltu dich vorlaßen 165 28 - 166 das magstu dienen interessentten zwan 167 und allen die es horen wollen 168 zur neuenn zeittungen zeigen ahn 169 das es andress nicht gehen solle 170 - fahr hin und sey gewarnett 2.7 Colloquium, Artern 1590 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *6-*17. 1 Ein colloquium, so sich zvisch 2 en einem Mansfeldisch 3 en und landboten 4 uf der strassen be 5 geben, anno 6 .90. 7 mansfeldisch bot 8 got grus dich bot vo kombstu her, 9 liber was horstu von neuer mer, 10 lantbot 11 dank dir got mein guter freunt, 12 guter zeitung gar wenig seint, 13 sag du mir auf dieser strassen, 14 wie thun sie iz dein hern anlassen, 15 mansf: bot 16 ich bericht dich mit warheit hir 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 375 64 Gemeint ist der sächsische Kurfürst August (1526-1586) oder sein Sohn Christian I. (1560-1591). 65 Es ist eine Eigenart des Schreibers, anstelle des üblichen „ch“ ein einfaches „c“ zu setzen. 17 das es gar selzam gehet mir, 18 ich hab gelaufen hin unt vider, 19 im Mansfeldischen lant drin unt druber, 20 auch wol eh bekomen guten lon, 21 das sich izt went davon, 22 es gebens die hern willig unt gern, 23 so ist die einnam von in fern, 24 die hat der churfurst 64 zu sich genomen, 25 unt den grafen gelassen die bonen, 26 er hats getan wie ein boser christ, 27 deshalb er nicht zuloben ist, 28 zu sic 65 hat er gezogen mit gewalt, 29 all ir gut scheinlicher gestalt 30 lantbot 31 mit gewalt einem das sein zunemen, 32 das hat vil sins merks gar eben, 33 ich halt aber dafur gewis 34 ir schult gar wol zubeweisen ist, 35 es ist nicht zugangen unterm schein 36 wie du dir unrecht bildest ein, 37 drumb tustu dem churfursten hocgeborn, 38 zuvil, den er ist sehr zuloben, 39 mansf: bot. 40 es ist nicht also als du izt meltst, 41 wen du es schon mit im helst, 42 du solt aber recht berichtet sein, 43 mit list er genomen das berkwerk ein 44 dazu die wolgebauten schlosser 45 stet dorfer unt grosse heuser 46 lantbot 47 ei bot dis sint ser harte wort 48 ein solches hab ich noch nie gehort, 49 das ist aber gewis unt war 50 unt im reich ganz offenbar 51 er hat gebraucht den weg des rechten 52 unt das mitgeteilt dem gerechten 53 den es ist ein gerumbter churfurst 376 Anhang 66 Joachim Friedrich von Brandenburg (1577/ 98-1608), Administrator des Erzstifts Mag‐ deburg. 67 Georg Vitzthum von Eckstedt (1531-1605), Oberaufseher der Grafschaft Mansfeld. 68 Levin von Geusau, Amthauptmann zu Sachsenburg und Weißensee. 69 Die in Artern wohnhaften Brüder Michael d. J. und Caspar Meienburg, Söhne Michaels d. Ä. (1491-1555), Bürgermeister von Nordhausen und ein Freund Martin Luthers. 54 der nicht umbget mit solcher list 55 mansf: bot. 56 es hat der alt unt izt churfurst nicht gekorn 57 dazu der administrator 66 ganz verlorn, 58 meiner grafen stet unt embter 59 auch all heuser unt guter 60 mit gewalt zu sich gezogen 61 unt sie gar darumb betrogen 62 entlich auch zu dem gedrungen 63 unt nicht redlich gezvungen 64 das sie haben mussen reversiren sequestriren 65 unt auch lieb hart reversiren 66 das sie sich nichts anmassen wollen 67 vilweniger ir einkomen brauchen sollen, 68 unt ist alles durch falschen schein 69 andern vom adel geben ein, 70 die handeln domit das got erbarm 71 sie werden reich die grafen arm 72 sieh nur das ambt Artern ahn 73 wie es domit felschlich ergan 74 das ist verreterisch vonander geteilt, 75 in einem Viztumb 67 pfaffen unt Geusa 68 bleibt 76 das ander haben die Meienburgisch 69 erben 77 unt brauchens die Hofmenischen verterben 78 zu sich mit buberei gerissen 79 alles wider ir christlich gewisien 80 sie verwustens unt handeln also domit 81 das es wirt gar zu nuzen nicht 82 gen mit den gerichten also umb 83 das sie es haben keinen fromb 84 ire verwalter sint eitel buben 85 sieh nur wie sie die leit betruben 86 mit gewalt sie die angreifen than 87 zien einen hie den andern dort hinan, 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 377 70 Dresden. 88 es wirt druber beiden embtern getraut 89 unt auf sie beide mit feur gelaurt 90 alles durch die bose tirannei 91 auch die angenommene buberei 92 lantbot. 93 ei bot das ist schreklich zu horen 94 du mochst dich hirmit selbst betoren 95 das dir die obrigkeit hart nacging 96 unt dich wol an den galgen hing 97 es ist der churfurst ein loblich lantfurst 98 der weit unt breit zuloben ist 99 hat nimant eingenomen mit gewalt 100 das sein, wie du izt sagest balt 101 er hat gehandelt churfurstlich 102 mit dem administrator recht unt christlich 103 haben nicht verstatet solch buberei 104 vilweniger einige tirannei 105 so weis ich auch zugeben den bericht 106 das Viztumb unt ander als man sicht 107 nicht gedrungen verreterisch ins ambt 108 dorzu die guter auf dem lant, 109 das ist aber war unt am tage 110 sie seint mit recht eingewiesen alle 111 tun sie nun nicht recht umogen 112 gros ubel unt straf sie werden seen 113 mansf. bot 114 ob du schon bist ein churfursten man 115 so will ich dir doch zeigen an, 116 solch gewalt der churfurst nicht allein 117 sondern auch der administrator fein 118 desgleich ir reth all unt zu Dresen 70 119 als sie seint nur ersucht gewesen 120 die haben durch geschenk unt gros gaben 121 Viztumb Geusa unt ander von, adel 122 Blaten, furstenleut unt Blankenburg 123 darzu auch sie die Meienburg 124 die Hofmennisch unt vil loser pfaffen 125 unt andere bose buben unt affen 126 in meiner hern lant eingewiesen 378 Anhang 127 das sie das nicht solt verdriesen 128 lantbot. 129 diese beid hern sint hochgeborn 130 ein solchs von in nicht wirt erfarn 131 das sie soltn umb geschenk unt gaben 132 ander in deiner hern lant geweist haben 133 du thust in allen unrecht unt zuviel 134 sie was draus wirt vor em seil, 135 ire rethe handeln ser weislich 136 dazu erbar unt fursichtiglich 137 haben kein beliebung an dem nicht 138 das unrecht zuget in der hern gericht 139 wans auch geclagt wirt zur zeit 140 brauchen sie gestrenge gerechtigkeit 141 mansf: bot 142 wan man ein solch instiz halten wurde 143 unt meine hern nicht so betrube 144 unt geben in was in geburt 145 unt sie beide renmeister nicht tribulirt 146 es brauchte Viztumb nicht solch gewalt 147 unt losen leuten gleibten balt 148 nem mit den andern recht rechnung auf 149 von iren verwaltern sich nur drauf 150 so wurde man wol erfaren 151 wie domit wirt gebaret 152 den wi get zuboden das Vokstetis ambt 153 auch das zu Artern sichs an balt, 154 alle lose buben sezt man drein 155 durch eitel list unt buberei 156 lantbot 157 o we dir du armer knecht 158 wie wirt es dir gehen recht 159 das du die leut so schmechst 160 unt gros potentaten honst 161 schonst auch irer rethe nicht 162 die recht handeln im gericht 163 das die, so izt sein genant 164 eingeweiset in beide ambt 165 die haben deiner hern sigel unt briff 166 darzu vil stattlicher consens schrift 167 domit si al bewiesen clar 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 379 168 ir schult bei dein hern stehn bar, 169 seint durch vil churfurstliche decret, 170 auch aus des administrators weisheit, 171 recht, unt nicht unrecht gewiesen ein 172 ein solchs bilde dein hern recht ein 173 mansf: bot. 174 wen mein hern ver vorgestanden recht 175 unt ir vorbehalt eingenommen recht 176 hetten bewogen ire protestation 177 unt betrachtet die gegrunte condition 178 auch die urtel unt brife alt 179 wie recht man an dem gehandelt hat 180 das ist aber nicht gesehe ahn 181 sondern es ist von stunt iderman 182 auf sein blos schrift eingeweiset 183 eh die schult ist recht beweiset, 184 lantbot 185 das ist aller wider die natur 186 was du izt anzeigest nur 187 drumb hor auf mit dem schmehen 188 unt las bleiben das gros honen 189 mansfe: bot 190 es ist alles war was ich gesagt 191 auch zubescheinen allen tag 192 das mein hern ist genomen durch gewalt 193 alles was sie nur haben gehabt, 194 das haben gethan die zwon chur unt fursten 195 mit irn rethen, wider ir aller gewissen 196 sich, iz mussen mein hern not leiden 197 unt sich Artern unt Heldrungen meiden 198 unt zusehn das die gotlosen leut 199 mit irn gutern halten ausbeut 200 verbieten in holz und tal 201 unt alles was ir ist uberal 202 lantbot 203 ei bot halt den atem im munde 204 es beisen dich sonst bose hunde 205 mansf: bot 206 lieber sich doch eben an dis 207 wie geschwint iz der churfurst ist 208 sie haben verboten im ambt Heldungen 380 Anhang 71 Caspar Tryller (1542-1625), kurfürstlicher Landrentmeister. 209 unt alln meiner hern holzungen 210 das die hern sie enthalten sollen 211 das jagen unt vogel stellen 212 das haben Viztumb, Triller 71 zu weg bracht 213 desgleichen Geusa unt pfaffen safft 214 auch die Meienburg unt ander mehr 215 die der hern empter machen leer 216 durch geschenk finanz unt gaben 217 die sie dafur ausgeben haben 218 so haltens Blankenburg, unt Blat 219 unt all wen die grafen komen spat 220 wolln sie die nicht einlassen 221 sondern mussen bleiben auf der strasen 222 das ist graf Philip zugezogen 223 entlich auch abgeweiset worden 224 darzu ist der churfurst die recht ursach 225 mit dem administrator als ich dir sach 226 lantbot 227 ich kann das schmehen mehr horen nicht 228 drumb will nicht mit dir reden ich 229 mansfe: bot 230 unrecht unt gewalt das braucht izt 231 der administrator unt churfurst 232 sie werden empfahen irn lon 233 nach dem sie haben gehandelt schon 234 er hat genommen der grafn geistlic iurisdiction 235 unt al ir zustehent confirmation, 236 unt irn eingefurten superintendenten 237 mit gewalt unt unrecht abgetrieben 238 unt ein andern neulich eingesazt, 239 der von den hern nicht erwelet ist, 240 das ist mit grosem gepreng geschen 241 das es hat vil lantschaft gesen, 242 dazu der churfurst zu Sachsen 243 vil hern aufgeraft auf der strasen, 244 auch ein groser anzal loser pfaffen 245 bettler edeleut unt ander affen 246 unt den lamen man ordinirt 247 unt inen mit gewalt confirmirt, 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 381 248 auch die Mansfeldischen predicanten 249 unt all derselben superintendenten 250 hat er gezogen zu solchem tun 251 das wirt zuweg bringen gros unruh 252 dies ist geschen durchn falchschen ordinarium 253 zugleich auch den stolzen man Vizumb 254 die andern heuchler mag ich nicht nennen 255 sie werden ir straf wol bekohmen 256 lantbot 257 bot du bist der sachen nicht bericht 258 drumb solstu niemant schmehen nicht 259 das der lobliche churfurst zu Sachsen 260 dis ordnung vorgenommen mit massen 261 das hat er than auf bitt deinr hern 262 unt durch ir flehelichs begern, 263 auch auf ir aller sequestriren 264 unt vernunftiges reversiren 265 so bezeugens ir abgangne schrift 266 die sie mit vernunft selbst gedicht 267 darin sie sic geistlich unt weltlich recht 268 haben begeben, unt das ist nicht schlecht 269 dorumb dem gelerten Viztumb ist 270 zugeben der Mersburgis ordinarius 271 unt andere ansehnliche leut 272 dafur sich billich iderman scheut 273 also ist es auch entlich zugangen 274 mit den Mansfeldischen gutern unt landen 275 die grafen haben sich selbst erboten 276 unt einhellig dorumb gebeten, 277 unt sich desen hart verrevesirt 278 das es ist alles sequestrirt 279 als zum wolgemeinten ende 280 das die hern soln wieder kommen 281 zu iren gutern lant unt leuten 282 auch dorfern schlossern unt steten 283 mansf: bot. 284 ich merk du bist ein churfursten man 285 magst diese reden wol bleiben lan 286 es ist als offenbar unt war 287 was ich dir izt gesagt hab, 288 mit gewalt unt unrecht ists zugangen 382 Anhang 289 das clagt das volk in allen landen 290 wi sie der churfurst mit steurn belegt 291 mit zins schazung unt ander beschwert 292 sich nur an ire condition 293 darzu die wolgegrunten protestation 294 wi hart sie vor gewalt gebeten 295 unt sie zum ordentlichen recht erboten 296 aber do ist nichts den gewalt gespurt 297 unt all untugent mit eingefurt 298 unt wi es izt mit der kirchen ordination 299 unt dorselben kluglichen confirmation 300 zugangen unt zu werk gerichtet ist 301 also ist der Mansfeldischen geschont nicht 302 lantbot 303 die geistlich iurisdiction richtig ist, 304 unt die ordination zu tadeln niht, 305 mansf: bot 306 ich kann die ubel gar nicht eifern 307 sondern mus es lassen bleiben 308 du wirst aber wol erfaren 309 was mein hern tun furhaben 310 es wirt ein geschrei werden angefangen 311 das im ganzen lant wirt schallen 312 mit rat der hern sequestrirten 313 unt anderer, auch der reversirten 314 sich beraten mit allem fleis 315 wi sie dem churfursten bringen speis 316 dardurch gesturzt wirt sein ubermut 317 unt gelegt sein gros unruh 318 die er angericht im Mansfeltisch lant 319 in steten dorfern unt allenthalb 320 es hat sic einer zu dinst begeben 321 der oder ander, wirts uben merks eben 322 lantbot 323 bot bot der handel der ist nit gut 324 hab dich nur in guter hut 325 mansf: bot. 326 die sach die sei wi si wolle 327 so wirt es anders nicht erfolgen 328 unt ich bin ein abgefertigter man 329 der dic sol bringen auf die ban 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 383 72 St. Valentins Leiden, Epilepsie. 330 lantbot 331 hastu ein solches rechten bevel 332 auszusprengen merks gar eben 333 so will ich mich deiner meiden 334 magst haben sont faltene leiden 72 335 mansfe: bot 336 was du izt hast gehort von mir 337 das wollst nicht behalten bei dir 338 sondern es sagen iderman 339 wi beide fursten gehandelt han, 340 den distu ich dir noch ansagen 341 wie sie es ferner begangen haben 342 meiner hern gegrunte protestation 343 auch ire befugte probation 344 haben sie wider diese einfurung 345 unt ire bose umbkerung, 346 gar nicht annehmen wollen 347 mit bescheit, sie sich trollen sollen 348 ja der administratorisch furst 349 ein rechter grafen feint ist 350 hat aln Mansfeldischen lerern geboten 351 das sie sich soln an niemant halten 352 den an den Eislebischen superintendenten 353 unt an die churfurstlich adherenten 354 unt dardurch den grafen genomen hat 355 ir geistlich unt weltlich recht mit gewalt 356 das ist wider ir beider gewissen 357 unt seint beide bose christen 358 drumb wirt auf sie gewart 359 se seint in schlossern oder der jagt verwart 360 lantbot 361 nuhn sclag in dich schwefel unt bech 362 unt al eisen stal unt blech 363 eh du an solchen hohen fursten 364 dein vornehmen in werk wirst richten 365 mansf: bot 366 von wunschen ist keiner gestorben 367 oder sonst gestochen worden 368 denn kunnen mein hern das nicht uben 384 Anhang 369 wollen sie doch de Meisner betruben 370 geschieht es nicht auf dem lant 371 so sol es doch sein mit brant 372 du magst auch wunschen was du kanst 373 es geschieht drumb nicht was du willst 374 lantbot 375 deine reden tu dich verfuhren 376 auch deine hern ser betruben 377 drumb du hin deiner strassen ge 378 eh dich uberget ein groses weh 379 mansf: bot 380 ge du hin du churfursten man, 381 unt zeigs dein hern zur zeitung an 382 was in zur zeit begegnen sol 383 dem churf: unt amdistrat: merks vol 384 auch iren rethen verstehs gar eben, 385 wie sie geschenck unt geban nehmen 386 unt sie dardurch zur grosen gewalt 387 auch sonst mer zu ander gestalt 388 verleiten lassen zwi tirannen 389 unt ander grossen buberei 390 nehmen mein hern al ir gut 391 dazu ehr glimpf unt mut 392 dar werden die Mansfeldischen alle 393 wol rechnen mit gutem bestande 394 drumb nim dis gedicht izt zu dir 395 so wirts geglaubt unt gleubs nur mir. 2.8 Zettel I, Artern 1590 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *24. 1 es sint zu Artern zwei gedicht 2 an unterschitlich orter hingelecht 3 die sint dem churfursten nicht geborn 4 unt dem administrator gar verlorn 5 zu ehrn unt ruhm aufgeschriben 6 das sie die Mansfeldischen hern vertriben 7 darkegenn mit gewalt genommen ir gut 8 durch eitel list finanz unt betruk 9 unt solchs eingeben losen leuten 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 385 73 Unleserlich, abweichende Lesart möglich. 10 die do halten ungeburliche ausbeuten 11 sie seint zum teil zuvor genant 12 unt einem iderman gar wol bekant 13 drumb das die beide chur unt fursten 14 haben gehandelt wider ir gewissen 15 soln sie kurzlich beide verterben 16 oder doch eins schnellen tots sterben 17 geschichts auf der churfurstlice kintteuff niiht 18 so soll es doch wol schiken sich 19 unt so dus rath zu Artern verdruken wirst 20 unt dis unt vorigs dem churfursten senden nicht 21 sich wie du in kurz solt sein 22 mit al deim guet verbrennen durchs feur 23 nimbstus aber zur warnung ahn 24 all das dein sol bleiben stan 25 dem rath zu Artern sols 26 zukomen zu Artern 2.9 Zettel II, Artern 1590 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *35. 1 horstu du churfursten pfaf 2 du supertentischer aff 3 wirstu dich nicht ausdrehen 4 sich wi dirs sol gehen 5 du bist ein bub in der haut 6 ge nur mit dein hinaus 73 7 du hast ein schlos angelegt 8 das heut nicht me stet 9 du legst dich wider die hern dein 10 tust in allen uberlast fein 11 du solt in weniger weil 12 verbrant werden in eil 13 du solt verjagt sein ausm lant 14 das du hast gar wenigen stant 15 das du hast veracht dein hern 16 unt sie verraten na unt fern 17 unt machst das der churfurst in will nehmen 386 Anhang 74 Zeile im 90° Winkel am rechten Rand notiert. 75 Unkenntlich. 18 ihr bergwerg unt alles was sie haben 19 du schelm, du bub du dib du verreter 74 2.10 Zettel III, Artern 1590 HStD, 10036 Finanzarchiv, Nr. Loc. 12034/ 7, fol. *30f. 1 horstu pfaf du bist ein bub du solt 2 singen wie die glocken klingen dein 3 haus sol brennen eh du es sichst 4 dein kopf nim war er sol dir ge 5 schlagen werden drumb ge du 6 hin bei dein supertent den buben 7 nach Eisleben ir beide schelmen 8 churfurstliche diebe kom mit 9 mach schlos fur das haus du solt 10 weich geschlagen werden 11 mit al denn enhang du 12 schelm du bub du huen man 13 kom unt mach ein schlos vor 14 du churfursten schelmsman du 15 churfursten supertent man 16 ihr hern von Artern ir sit verwarnt die lieder 17 unt brif vom churfursten unt rat unt ambtleuten 18 an churfursten geben ihr hats nicht tun unt tut 19 noch ir solt verbrant sein balt der — 75 2 Transkriptionen der behandelten Schmähschriften 387 Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Bestand 10024 Geheimer Rat (Geheimes Archiv): Nr. Loc. 07262/ 10: Heinrich von Salza und dessen Verbrechen, sonderlich die von ihm ausgestreuten Schmäh- und Schandgemälde, 1554. Nr. Loc. 08987/ 03: Die zu Meißen und Bautzen wegen eines Pasquills auf die Zerstörung des Altars des Heiligen Benno in der Domkirche zu Meißen eingezogenen Personen, 1542. Nr. Loc. 09667/ 04: Schriften, welchergestalt Kurfürst August Bischof Johann [IX. von Haugwitz] zu Meißen wegen des durch Heinemann, Dompfarrers zu Bautzen, wider Hans von Carlowitz in Druck gefertigten Schmähbuchs beschickt, 1562. Nr. Loc. 09667/ 09: Inquisition wegen des Schmähgedichts, welches wider Kurfürsten [August] zu Sachsen, unseren gnädigen Herrn, 1566 spargiert worden. Nr. Loc. 09667/ 25: Küster zu Reichenberg, Matthäus Dorn, welcher Kurfürst August zu Sachsen und dessen Räte sowohl mündlich als schriftlich geschmäht hat, 1574. Nr. Loc. 09669/ 02: Schriften über die infame und injuriöse Schrift, so wider Kurfürst [Christian I.] zu Sachsen Magister Michael Rosinus carminice fälschlich ausgesprengt, 1587-88. Nr. Loc. 09705/ 33: Schmähgedicht Hans von Posern gegen Cäsar von Pflugk und Genossen, 1574. Nr. Loc. 09710/ 20: Peinliche Sache des gefangenen Jobst Weißbrots, etlicher gemachter Schmähschriften halber, 1528. Nr. Loc. 09710/ 22: Pasquill auf Dr. Johann Major und andere mehr, 1570-80. Nr. Loc. 09710/ 23: Alexander von Pflugk gegen Andreas Langener (betr. Anschlag einer Schmähschrift in der Kreuzkirche, ergangen beim Amt Dresden), 1569-74. Nr. Loc. 09710/ 24: Alexander von Pflugk gegen Andreas Langener (betr. Anschlag einer Schmähschrift in der Kreuzkirche, ergangen beim Amt Dresden), 1569-74. Nr. Loc. 09710/ 25: Alexander von Pflugk gegen Andreas Langener (betr. Anschlag einer Schmähschrift in der Kreuzkirche, ergangen beim Amt Dresden), 1572. Nr. Loc. 09710/ 27: Ausgesprengte Schmähschriften und famos Libell, 1581-1588, item was mit den Buchführern vorzunehmen, so verdächtige Bücher auf die Jahrmärkte und sonst nach Leipzig bringen und verkaufen wollen, 1591. Nr. Loc. 09710/ 28: Michael Rosinus, so strafbare Verse in discessum Policarp Leysers gefertigt (aus ungeordneten Berichten der Landesregierung), 1588-95. Nr. Loc. 09739/ 20: Mansfeldische böse Händel und Pasquille, 1521-1599. Nr. Loc. 09751/ 14: Caspar und Michael Meyenburgs mansfeldische Schuldforderung, 1602. Bestand 10036 Finanzarchiv: Nr. Loc. 12034/ 1: Untersuchung wegen eines in Artern aufgefundenen Pasquills der Grafen von Mansfeld und anderer an Johann Pißelin, 1591-93. Nr. Loc. 12034/ 2: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 3: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 4: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 6: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 7: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 8: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 9: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 10: [s.-o.]. Nr. Loc. 12034/ 11: [s.-o.]. Nr. Loc. 36060, Rep. 09, Sect. 1, Nr. 0163: Freiberger Bergsachen, insbesondere die Schmäh‐ schriften gegen Kurfürst August und Michael Schönleben wegen der Hüttennutzung und des Schmelzens, 1556-61. Bestand 10084 Appellationsgericht: 00956: Paul Sehla, Schösser zu Rochlitz ./ . Georg Zorn, Bürgermeister daselbst: Beleidi‐ gung (durch ein Schmähgedicht), 1574. Bestand 10085 Schöppenstuhl zu Leipzig: Nr.-6: Urteile und Bescheide, 1593-1598. Staatsarchiv Chemnitz Bestand 30023 Amt Zwickau: Nr.-901: Unterzeichnung gegen Magister Johann Offneyer in Zwickau, 1601. Nr. 902: Rat in Zwickau gegen Magister Johann Offneyer in Untersuchungssachen wegen Verbreitung von Pasquillen, 1602-08. Nr.-903: Rat von Zwickau gegen Johann Offneyer aus Zwickau wegen Exception, 1606. Nr. 904: Rat von Zwickau gegen Johann Offneyer aus Zwickau wegen Exceptionsschrift, 1607. Nr.-905: Rat in Zwickau gegen den Magister Johann Offneyer aus Zwickau in Untersu‐ chungssachen wegen Verbreitung von Pasquillen, 1607-08. Nr. 1177: Befragung des Johann Offneyer durch den Rat in Zwickau wegen Schmähungen, 1607. 390 Quellen- und Literaturverzeichnis Nr.-1178: Protokoll der Zeugenvernehmungen wegen Schmähung des Rates der Stadt Zwickau durch Johann Offneyer, 1608. Nr.-1270: Vernehmung des Johann Offneyer wegen Schmähung, 1602. Nr.-1271: Vernehmung des Johann Offneyer wegen Schmähung, 1604. Landesarchiv Sachsen-Anhalt A2, Nr.-375: Wahl und Einsetzung eines Generalsuperintendenten in der Grafschaft Mansfeld durch die Grafen, und dagegen von dem Kurfürsten von Sachsen und dem Administrator Joachim Friedrich ergriffene Maßregeln, 1590-92. Ratsarchiv Wittenberg Gerichtsprotokolle, 35 (Bc 24). Kurfürstlich-Sächsische Mandate, 49 (Bc 38). Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Mscr.Dresd.Q.188: Kurfürst Augusts von Sachsen Constitutiones ineditae von 1572 I-LV. Stadtarchiv Dresden Bestand Gerichtsbücher 2.4.3-004, Gerichtsbuch (1556-1572). Stadtarchiv Leipzig Bestand Richterstube (1.2.1.7.2.1), Beleidigungen gegen Privatpersonen (2.2.5) Nr.-187: Gegen Heinrich Gratz wegen Verfassung von Pasquillen, 1578. Nr.-404: Gegen Hans Müller, Obermeister der Schlosser, gerichtetes Pasquill, 1631-33. Bestand Titelakten Tit. I Nr.-22 k---Verschiedene Ratsnachrichten, 16.-17.-Jahrhundert. Gedruckte Quellen [Bambergensis] Bambergische halszgerichts ordenu[n]g, Bamberg 1507 [VD16 B 256]. Bieringen, Johann Alberto: Clerus Mansfeldicus. Das ist: Alle Herren General-Superin‐ tendenten, Decani, Pastores und Diaconi, beydes in den Städten und Dörfern […] Jn der gantzen Graffschafft Mansfeld 1724 [VD18 10746439]. Carpzov, Benedict: Practicae Novae Imperialis Saxonicae Rerum Criminalium Pars II, Wittenberg 1646 [VD17 1: 012468R]. Codex Augusteus Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici, Leipzig 1724. 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