Führen und Führen trainieren
1016
2023
978-3-7398-8204-8
978-3-7398-3204-3
UVK Verlag
Wolfgang Benzel
Peter Bohrer
10.24053/9783739882048
Bedarf es erst einer Pandemie, einer Naturkatastrophe oder eines Krieges mitten in Europa, um auf drastische Weise zu erfahren, dass Führungskräfte auf allen Ebenen vielfach eines nicht sind: hierfür ausgebildet? Nein, diese Erkenntnis ist alles andere als neu. In Unternehmen, Verwaltungen, Verbänden und zahlreichen anderen Organisationen werden immer wieder Personen zu Führungskräften ernannt, ohne eine entsprechende Ausbildung erhalten zu haben. Gerade im Mittelstand entscheidet allzu oft der Verwandtschaftsgrad, wer Führungskraft wird, nicht die Qualifikation; Ausbildung: Fehlanzeige! Komplett anders läuft dies beim Militär! Hier werden zukünftige Führungskräfte sehr früh identifiziert und mit immensem Aufwand zu dem ausgebildet, was sie tun sollen: in einer Welt voller Unwägbarkeiten führen und richtige Entscheidungen treffen! Dieses Buch leitet aus militärischen Führungsgrundsätzen ab, wie gute Führung in einem von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, kurz VUCA, geprägten zivilen Umfeld gelingen und trainiert werden kann.
<?page no="0"?> Wolfgang Benzel / Peter Bohrer Führen und Führen trainieren <?page no="1"?> Führen und Führen trainieren <?page no="2"?> Prof. Dr. Wolfgang Benzel, Diplom-Kaufmann und Steuerberater, genoss bereits in frühester Jugend, Führungsverantwortung zu übernehmen, und setzte dies in seinem Berufsleben konsequent fort: als aktiver Offizier und als Offizier der Reserve im Dienstgrad Oberst bis hin zu höchsten Verwendungen, als Unternehmer, Aufsichtsrat, Beirat und Generalbevollmächtigter verschiedener Industrieunternehmen. Flankiert wurde und wird dieses breite Spektrum durch Tätigkeiten als Berater, Gutachter, Hochschullehrer, Referent und Buchautor. Sein beruflicher Erfolg fußt dabei auf einem wesentlichen Element: der bei der Bundeswehr genossenen herausragenden Ausbildung zur Führungskraft. Peter Bohrer, Diplomkaufmann, schied nach mehr als 43 Jahren als Generalleutnant und Stellvertreter des Inspekteurs der Streitkräftebasis Ende 2019 aus der Bundeswehr aus. Die Chance, sehr früh Führungsverantwortung als Staffelchef zu übernehmen war für ihn wesentliche Motivation, Berufsoffizier zu werden. Seitdem hat er sich während seines gesamten Berufslebens immer wieder intensiv mit dem Thema "Führung" beschäftigt. Sein Wissen und seine Erfahrung an Nachwuchsführungskräfte weiterzugeben ist ihm ein besonderes Anliegen. So hat er zum Beispiel eine Veranstaltungsreihe initiiert, in der zivile und militärische Führungskräfte gemeinsam ausgebildet werden, und sich selbst immer wieder mit Vorträgen oder bei Podiumsdiskussionen zum Thema "Leadership" eingebracht. Seit 2020 ist er als selbstständiger Unternehmensberater tätig. <?page no="3"?> Wolfgang Benzel, Peter Bohrer Führen und Führen trainieren Trainingsbuch für bessere Entscheidungen in einer unsichereren Welt! Mit Cimilitary Leadership zur erfolgreichen (Führungs-) Persönlichkeit im VUCA-Umfeld UVK Verlag · München <?page no="4"?> ISBN 978-3-7398-3204-3 (Print) ISBN 978-3-7398-8204-8 (ePDF) ISBN 978-3-7398-0630-3 (ePub) Umschlagmotiv: © alexsl iStockphoto Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783739882048 © UVK Verlag 20 23 - ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG , Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter: innen oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck <?page no="5"?> Geleitworte Als ich nach der Generalstabsausbildung in meine Erstverwendung ging, fragte mich mein Brigadekommandeur, ob er mich motivieren würde. Ich sollte ihm nicht antworten, vielmehr erklärte er, wenn das der Fall wäre, würde ein wesentlicher Baustein zu guter Führung fehlen. Was habe ich für mich mitgenommen? Uns wurde ein unglaubliches methodisches Repertoire an die Hand gegeben, wir können unter Druck und in der Krise belastbare Entscheidungen treffen, aber: Wir müssen führen wollen. Trends wie Prognosen sind in einer zunehmend globalisierten Geschäftswelt schwer absehbar. Lieferketten sind in hohem Maße volatil geworden. Was heute wie ein Erfolgsmodell aussieht, kann morgen schon überholt sein. Moderne Medien stellen Informationen nahezu unbegrenzt zur Verfügung - mit dem Risiko, sich in der Fülle der verfügbaren Informationen zu verlieren und dabei die relevanten Informationen zu übersehen. Forschung und Beratung beschreiben dies mit dem Akronym VUCA für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Wie aber treffe ich in einer solchen Umgebung ausgewogene, gar nachhaltige Entscheidungen? Wie begrenze ich das Risiko meiner Entscheidung, und nicht zuletzt: Wie führe ich meine Mitarbeiter in dieser Umgebung? Offiziere sind seit langem ausgebildet und erzogen, solche Situation zu meistern. In einer militärischen Auseinandersetzung versucht der Gegner seine Absicht zu verbergen. Tarnen und Täuschen gehört zum Handwerkszeug in der Operationsführung. Informationen, die der militärische Führer erhält, sind von kurzer Halbwertszeit, oft unpräzise, häufig widersprüchlich und mitunter sogar schlicht und ergreifend falsch. Militärische Lagen ändern sich mit hoher Geschwindigkeit. Und trotzdem oder eigentlich sogar deswegen sind Führer auf allen Ebenen gefordert, schnell ausgewogene Entscheidungen zu treffen und das mit dieser Entscheidung verbundene Risiko zu begrenzen. Das vorliegende Buch unternimmt den gelungenen Versuch, militärische Ansätze auf unternehmerische Fragestellungen zu übertragen: Die Innere Führung der Bundeswehr bietet die Grundlage für eine zeitgemäße Unternehmenskultur. Die Auftragstaktik der Bundeswehr ist gerade in einer VUCA-Situation aktueller denn je und liefert die Grundlage für eine moderne Führungsphilosophie. Der militärische Führungsprozess wird auf unternehmerische Entscheidungssituationen übertragen und schafft mit seinem systematischen Vorgehen die Grundlage, in einer VUCA-Situation zu entscheiden. Entlang dieser drei Blöcke gibt das Buch in Kapitel 7 ganz konkrete und praxisorientierte Empfehlungen für erfolgreiche Führung und prägt dazu den eingängigen Begriff „Cimilitary Leadership“. Übungsbeispiele zeigen, wie „Cimilitary Leadership“ in der Praxis angewandt werden kann, und bieten die Grundlage, eigenständig Beispiele zu entwickeln und anhand dieser Bespiele Entscheidungsprozesse zu üben. Die im Buch enthaltenen „Taschenkarten“ bieten dazu eine wertvolle Hilfe. <?page no="6"?> 6 Geleitworte Denn: auch erfolgreiche Führung muss man trainieren - nicht nur einmal, sondern immer wieder. Generalleutnant Gert Nultsch, Abteilungsleiter Planung im Bundesministerium der Verteidigung Die Arbeit als Strategieberater eröffnet das Kennenlernen unterschiedlicher Management- und Führungsstile - insbesondere, wie im Falle meiner eigenen beruflichen Karriere, bei einer Beratungstätigkeit von über drei Jahrzehnten für Klienten aus Privatwirtschaft und dem öffentlichen Sektor. Der Erkenntnisgewinn ergibt sich dabei auch aus den Beobachtungen der eigenen Organisation, in der es zweifelsfrei viele gute Manager, aber nur wenige „echte“ Führungspersönlichkeiten gibt. Die Autoren beschreiben in ihrem Buch eindrucksvoll die Charakteristika eines erfolgreichen Führers: Richtungen vorgeben, eigene Verantwortung übernehmen, nicht jeder Anforderung genügen und Konflikte offen und konstruktiv austragen. Dabei werden agile Handlungsräume für Organisationen geschaffen, damit Führung gezielt verteilt werden kann und sich Kreativbzw. Innovationspotenziale eröffnen. Kurz zusammengefasst: ein erfolgreicher Führer wagt neue Dinge und setzt die richtigen Impulse, anstelle sich vom (Mikro-) Management im Tagesgeschäft bestimmen zu lassen. Soweit alles logisch und machbar, wären da nicht VUCA-Situationen, die für uns alle vor der Corona-Pandemie tendenziell eher Lehrbuchcharakter hatten. Erst die Pandemie hat eindrucksvoll und in der Realität gezeigt, wie Ursache-Wirkungs- Beziehungen weder durch Best Practice noch durch Experten- oder Fachwissen erkannt werden können. Wirkungsvolle Führung bedeutete in diesen Zeiten „Handeln“, „Erkennen“ und „Reagieren“, mit dem Ziel, innovative Praktiken zu identifizieren und die Organisation daran auszurichten. Und was gleichermaßen deutlich wurde: Nur die wenigsten können in solchen Situationen erfolgreich führen. Es gibt kaum Organisationen, welche ihre Führungskräfte so intensiv, systematisch und nachhaltig ausbilden, wie das Militär - insbesondere auf VUCA-Situationen. „Auftragstaktik“ nennt sich das zentrale Führungsprinzip, welches auf gegenseitigem Vertrauen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen basiert und diese zur Problemlösung aktiv befähigt. Von der Funktionsfähigkeit dieses zentralen „Leadership-Prinzips“ der Streitkräfte innerhalb des NATO-Verbunds konnte ich mich selbst im Rahmen meiner Ausbildung zum Reserveoffizier überzeugen. Mehr noch: die Übertragung auf „zivile“ Situationen im Tagesgeschäft ist nicht nur möglich, sie macht auch sehr viel Sinn, will man sich von einem Manager zu einer Führungspersönlichkeit weiterentwickeln. Und genau hierzu gibt das vorliegende Buch eine Vielzahl interessanter Ansatzpunkte, zu denen die Vermittlung eines Grundverständnisses des militärischen Führungsprozesses gehört. Zur Frage, wie dieser Prozess in die zivile Praxis übertragen werden kann, offerieren die Autoren zahlreiche spannende Anknüpfungspunkte und Beispiele. Unweigerlich erfolgt beim Lesen eine „Übersetzung“ in das persönliche Umfeld entlang von drei Bereichen: dem kulturellen Fundament, einer einheitlichen, umfassenden Führungsphilosophie und den richtigen Werkzeugen und Methoden. Und das nicht nur bei Lesern mit militärischer Ausbildung. Prof. Dr. Rainer Bernnat, Geschäftsführer PwC Strategy und Leiter der Industry Practice Öffentlicher Sektor von PwC <?page no="7"?> Zur Einstimmung Es ist Montag im Frühjahr 2020. Gut gelaunt, allerdings etwas später als sonst, fahre ich ins Büro. Vor mir liegt ein überschaubarer Arbeitstag ohne besondere Ereignisse. So der Plan … Als ich auf den Parkplatz vor dem Kanzleigebäude einbiege, stehen dort die Fahrzeuge unserer Mitarbeiter. Die Crew ist bereits an Bord, stelle ich zufrieden fest; ein unter normalen Umständen gewohntes, in Zeiten von Corona jedoch äußerst beruhigendes Bild. Scheinbar. Als ich aussteige, bemerke ich ein Auto, das ich nicht kenne. Ein weißer Kleinwagen parkt zwischen den anderen Fahrzeugen. An sich nichts Ungewöhnliches. Nur in einer Zeit der Kontaktsperre schon. Denn der persönliche Kundenkontakt wurde auf nahezu null heruntergefahren. Was mir auffällt, ist das Nummernschild: Landkreiskennzeichen und Zahlen, keine Buchstaben. Unstrittig ein Behördenfahrzeug. Bestimmt ein Verwaltungsmitarbeiter, der Unterlagen für eine Gesellschaft des Landkreises vorbeibringt, für die wir beratend tätig sind. So schnell der beruhigende Gedanke kam, so falsch war er auch. Kaum, dass ich das Gebäude betrete, kommt mir schon die Sekretärin entgegen. „Gut, dass Sie da sind, das Gesundheitsamt ist hier und will uns alle in Quarantäne schicken, weil unsere Frau Schneider an Corona erkrankt ist.“ Auf dem Flur trippeln einige Mitarbeiter herum; in meinem Büro stehen vor dem Besprechungstisch eine Frau und ein Mann. Auf Grund ihrer weißen Kleidung und aufgrund des Mundschutzes handelt es sich offensichtlich um das Personal des Gesundheitsamtes. „Guten Morgen“, begrüßen mich beide, ohne sich näher vorzustellen. „Guten Morgen“, gebe ich zurück. „Sie sind hier wohl der Chef. Wie Ihnen die Sekretärin bereits mitteilte, kommen wir vom Gesundheitsamt und bringen Ihnen eine Quarantäneverfügung für das gesamte Unternehmen. Sie müssen die Arbeit unverzüglich einstellen und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in häusliche Quarantäne schicken. Die Anordnung gilt zunächst für zwei Wochen ab heute“, kommt die Frau ohne Umschweife zum Grund ihres Besuches. Ruhig schaue ich zunächst die Frau, dann den Mann an. „Das ist jetzt kein guter Wochenstart“, so meine erste Reaktion. „Aber die Arbeit werden wir nicht einstellen, das ist unmöglich“, meine zweite. Etwas irritiert blicken mich beide an. Der Mann ergreift sofort das Wort und äußert mit leicht angespanntem Ton: „Sie sollten schon tun, was wir sagen. Wenn Sie sich widersetzen, wird das Konsequenzen haben.“ „Ich habe für alles Verständnis“, erwiderte ich, „der erste Grundsatz, den es jetzt für mich zu beachten gilt, lautet jedoch: erst einmal Ruhe bewahren und die Optionen ausloten. Sie haben mir einen guten Morgen gewünscht, mir anschließend mitgeteilt, dass wir die Arbeit unverzüglich einzustellen haben und, dass wir alle für zunächst zwei Wochen in Quarantäne geschickt werden. Für den guten Morgen bedanke ich mich ganz herzlich, die Quarantäne ist eine sinnvolle behördliche Verfügung, der wir selbstverständlich Folge leisten werden, aber wir stellen die Arbeit nicht ein! “ <?page no="8"?> 8 Zur Einstimmung „Was soll das bedeuten, Sie stellen die Arbeit nicht ein? “ fragt die Frau etwas unwirsch. „Das heißt“, antwortete ich, „dass wir weiterarbeiten. Eben nur nicht aus dem Büro, sondern disloziert jeder für sich von zu Hause aus. In zwei Stunden werden sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der angeordneten häuslichen Quarantäne befinden. Der Kanzleibetrieb läuft anschließend ganz normal weiter.“ In etwa so hätte es sich in den Unternehmen der Dr. Benzel-Gruppe abgespielt, wenn seinerzeit tatsächlich eine Quarantäneverfügung eingetroffen wäre. Zwar ist dies bis zum Druck dieses Buches zum Glück so nicht passiert, allerdings musste tatsächlich infolge von Erkrankungen und Kontakten zu Erkrankten zeitweise in gleicher Weise agiert werden wie im fiktionalen Szenario. Und es hat funktioniert! Es waren alle Voraussetzungen rechtzeitig geschaffen worden, um bei Eintritt dieses kurz vorher überhaupt nicht präsenten Risikoszenarios wie beschrieben reagieren zu können. Damit dies so ablaufen konnte, mussten zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen musste die strategische Ausrichtung der Unternehmen so sein, dass in der konkreten Situation die Grundvoraussetzungen geschaffen und folglich die entsprechenden Ressourcen vorhanden waren, um adäquat reagieren zu können. Zum anderen hatte mit dem Auftreten der Corona-Krise auf der in diesem Falle operativen Ebene eine Beurteilung der Lage mit einem entsprechenden Entschluss zu erfolgen. Strategisch wurde bereits vor Jahren die Entscheidung getroffen und umgesetzt, dass alle Daten und Dokumente über ein umfangreiches Dokumentenmanagementsystem zu organisieren sind, alle Daten und Dokumente durch den Einsatz eines Application Service Providers (Cloud-Lösung für sämtliche Daten der Unternehmen) zeitsowie ortsunabhängig sicher verfügbar gehalten werden müssen, folglich die Digitalisierungsquote aller Dokumente bei 100 % zu liegen hat, und der Einsatz einer virtuellen Telefonanlage die Möglichkeit eröffnet, um ortsunabhängig in hohem Maße auch in der nichtpersönlichen verbalen sowie nonverbalen Kommunikation (Senden von internen Nachrichten, setzen von Infomarkern etc.) sehr professionell agieren zu können. Getragen wurde die strategische Ausrichtung von den Zielen: hundertprozentig durchgängige Dokumentenablage, jederzeitige ortsunabhängige Verfügbarkeit aller Dokumente und Daten, Realisierung extrem hoher Sicherheitsstandards, Reduktion von Durchlaufzeiten und Optimierung der Prozesse, Reduktion und Auslagerung von nichtproduktiven Tätigkeiten, Verbesserung der Produktqualität, Ermöglichung neuer Produkte, maximale Flexibilisierung der zeit- und ortsunabhängigen Arbeitsgestaltung, Verbesserung der Kostenstruktur in den betroffenen Bereichen. <?page no="9"?> Die seinerzeitigen Entscheidungen und deren Umsetzung führten jetzt, in einer nicht erwarteten Krisensituation dazu, dass alle Bedingungen erfüllt waren, um quasi „auf Knopfdruck“ die Kanzleimitarbeiter an jeden beliebigen Ort der Welt versetzen zu können bei weitestgehendem Erhalt der Arbeitsfähigkeit. Operativ wurde unverzüglich, als deutlich wurde, dass mit Corona eine größere Krise verbunden sein könnte, eine Lagebeurteilung angestellt, und es war auf Basis der verfügbaren Informationen schnell erkennbar, dass es unter anderem exakt der erwähnte Quarantänefall war, auf den man sich vorzubereiten hatte. Die Entscheidung bestand darin, die Bedingungen zu schaffen, unabhängig von den Büroräumen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schnellstmöglich in die Lage zu versetzen, sämtliche Dienstleistungen uneingeschränkt erbringen zu können. Als noch auszuführende Maßnahmen wurden zur Sicherheit weitere Notebooks angeschafft, ein paar Apps für die virtuelle Telefonanlage freigeschaltet, das Personal instruiert und auf herausfordernde Zeiten eingestimmt und alle Mandanten per Mail über die Fähigkeit informiert, selbst im Quarantänefall arbeitsfähig zu sein. Fertig. Glück gehabt, kann man da nur sagen. Denn das Risiko einer Quarantäne für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war vor Corona nicht präsent. Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die aus anderen Gründen die Zeichen der Zeit und damit der Digitalisierung nicht rechtzeitig erkannten, hatten tatsächlich zum Teil Pech. Es sind mehrere Fälle bekannt, wo die komplette Mannschaft in Quarantäne geschickt wurde. Was nicht nur ein Problem für die betroffene Kanzlei, sondern in besonderem Maße auch für deren Mandanten war, die gerade jetzt auf Hilfestellungen angewiesen waren. Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass nicht alle Risikoszenarien bekannt oder bewusst sind. Der Ausbruch einer weltweiten Pandemie stand ganz bestimmt nicht auf der Agenda und es war, wie erwähnt, purer Zufall, dass die stringente Digitalisierung der Unternehmen nunmehr aus ganz anderen als den ursprünglich avisierten Zielen im Corona-Szenario extrem hilfreich war. Szenenwechsel Wir befinden uns im Jahr 52 v. Chr. Da die Leser diese Zeit nicht erlebt haben dürften und die Erinnerungen an den Geschichtsunterricht meistens nicht mehr so präsent sind, erlauben Sie uns bitte, dass wir etwas weiter ausholen. Seit über sechs Jahren führt Gaius Julius Cäsar, dessen Name mehr als zweitausend Jahre später noch geläufig ist, einen Eroberungskrieg in Gallien, einer Provinz, die im Wesentlichen aus dem heutigen Frankreich, Belgien, Teilen Westdeutschlands sowie Teilen der Schweiz und Italiens bestand. Unter ihrem Anführer Vercingetorix gelang es mehreren gallischen Stämmen, sich zu vereinen, um sich gegen Rom und dessen sicher geglaubte Vormachtstellung zu erheben. Die durch die Vereinigung mögliche Bildung eines größeren Heeres bedrohte ernsthaft die Interessen der Römer in Gallien. Nachdem es zu mehreren Schlachten kam, zog sich Vercingetorix nach der Niederlage von Armencon mit seinen verbleibenden Truppen nach Alesia in der Nähe Zur Einstimmung 9 <?page no="10"?> 10 Zur Einstimmung der heutigen Stadt Alise-Sainte-Reine in Burgund zurück und verschanzte sich in der auf einer Anhöhe liegenden, gut befestigten Stadt. Vercingetorix wusste, dass er mit seinen Truppen den Römern in einer offenen Feldschlacht nicht standhalten konnte. Ebenso klar war, dass im Falle des Sieges der Römer Gallien endgültig unter die Macht der Besatzer fallen würde und es in Alesia somit um alles oder nichts ging. Die Chance zum Sieg bestand für die Gallier darin, die Römer in die Position der Belagerer zu bringen und sie gleichzeitig durch im Lande zusätzlich aufgebrachte Truppen von der Feldseite her zu attackieren. Cäsar war also zunächst in der schlechteren Position, denn es zeichnete sich eine Zwei-Fronten-Schlacht ab, die unter den aktuellen Gegebenheiten für die Römer wahrscheinlich nicht zu gewinnen war. Und Cäsar wusste obendrein, dass, falls die bevorstehende Entscheidungsschlacht verloren ginge und er mit dem Leben davonkäme, seine Chancen auf die von ihm angestrebte politische Karriere deutlich sinken werden. Also begann er, den Spieß umzudrehen. Statt die Abnutzung seiner Truppen im Belagerungskampf hinzunehmen und sich der drohenden Gefahr eines Angriffs von der anderen Seite her auszusetzen, handelte er. Vor den Augen der gut verschanzten Gallier befahl er zunächst die Rodung des umliegenden Geländes. Hieran schloss sich der Bau eines 15 Kilometer langen Umfassungswalles an, der mit einem vier Meter hohen Palisadenzaun bestückt war, der wiederum alle 23 Meter von hohen Wachtürmen unterbrochen wurde. Das Ziel der Maßnahme bestand darin, die Gallier von der Außenwelt und somit von Nachschub und Verstärkung abzuschneiden. Gleichzeitig sollten die eigenen, auf offenem Feld lagernden Truppen, vor Beschuss und Attacken der Gallier von der Stadtseite her geschützt werden. Vercingetorix erkannte die sich aus dem Einschließen der eigenen Truppen ergebende Gefahr, und es gelang der gallischen Kavallerie, kurz vor dem Schließen des Belagerungsrings zu entkommen. Damit sank nicht nur die Zahl der zu versorgenden Menschen innerhalb der belagerten Stadt, was eine gewisse Entlastung darstellte. Viel wichtiger war, dass nun Verstärkung organisiert werden konnte. Die gallischen Reiter hatten den Auftrag, im Hinterland so viele Kämpfer zu sammeln als irgend möglich, um Cäsar mit seinen Soldaten in die Zange zu nehmen. Cäsar wiederum war sich der Tatsache bewusst, dass er zwar die gegnerischen Truppen vor sich eingeschlossen hatte, er aber eine riesige offene Flanke von hinten bot. Daher gab er unverzüglich, nachdem der erste Wall fertig gestellt worden war, den Befehl, einen zweiten, nunmehr 21 Kilometer langen Wall hinter den eigenen Truppen zu errichten, um gegen den zu erwartenden Angriff des gallischen Entsatzheeres gewappnet zu sein. Die Römer brachten somit die bravouröse Leistung zustande, in nur fünf Wochen mit Pickeln, Schaufeln und Körben eine 36 Kilometer lange, vier Meter hohe und bestens befestigte Wallanlage einschließlich Gräben zu bauen. Dies gelang, da die Soldaten nicht nur hervorragend ausgebildete und ausgerüstete Kämpfer, sondern auch gute Handwerker waren. <?page no="11"?> Zwar waren sie jetzt zwischen den Wällen zunächst sicher. Da allerdings zu erwarten war, dass sie bei Eintreffen des gallischen Heeres zahlenmäßig weit unterlegen sein werden und sich zudem einem „Zwei-Fronten-Kampf “ ausgesetzt sahen, mussten weitere Maßnahmen getroffen werden. Daher befahl Cäsar, dass der rückwärtige Bereich vor dem zweiten Wall zusätzlich geschützt, quasi „vermint“ wurde. Hierzu wurde unmittelbar vor dem feldseitigen Wall ein Gewirr aus angespitzten Ästen in den Boden gerammt. Durch diese Maßnahmen würde der zu erwartende Angriff erheblich verlangsamt, was es den Bogenschützen und Speerwerfern erleichterte, die Gallier gezielt unter Beschuss zu nehmen. Im weiteren Vorfeld wurden kleinere Löcher in den Boden gegraben, in denen angespitzte Äste verborgen waren. Sobald ein Pferd in eine solche Kuhle trat, kam es aller Wahrscheinlichkeit samt Reiter zu Fall. Im Ergebnis sollte damit der wuchtigste Teil der gallischen Streitmacht, die Kavallerie, in ihrer Wirkung deutlich entschärft werden. Darüber hinaus waren im Boden eiserne Dornen mit Widerhaken versteckt. Sobald ein Kämpfer auf einen solchen Dorn trat, bohrte sich dieser von unten durch seinen Fuß. Der Widerhaken sorgte dafür, dass ein einfaches Herausziehen nicht möglich war. Der Angreifer war damit auf Dauer ausgeschaltet. Die genannten Maßnahmen sorgten des Weiteren dafür, dass dem Angriff infolge des ausbrechenden Chaos der Schwung genommen wurde, was es den römischen Legionären einfacher machte, den Beschuss gezielt zu führen und so das Chaos unter den Galliern zu verstärken. Ziel der beschriebenen Maßnahmen war, dem erwarteten Angriff der Gallier den Schwung zu nehmen und ihn zu verlangsamen. Zusätzlich wurden auf der Angriffsseite zwei Gräben ausgehoben und mittels Umleitung von Bächen mit Wasser gefüllt. Dies führte dazu, dass rund um die römischen Befestigungsanlagen ein Sumpf entstand, der es den Angreifern zusätzlich erschwerte, ihr Ziel zu erreichen. Da den Galliern in Alesia relativ schnell die auf nur 30 Tage angelegten Vorräte auszugehen drohten, schickte Vercingetorix alle wehrunfähigen Männer sowie Frauen und Kinder aus der Stadt. Er hoffte, dass die Römer die Menschen aufnehmen und versorgen würden, was diese aber nicht taten. In der Folge verhungerten die Familien der gallischen Soldaten elendig zwischen den Befestigungsanlagen Alesias und dem vorderen Wall der Römer. Die Grausamkeit des Krieges zeigte sich hier ungeschminkt … Das Eintreffen des gallischen Entsatzheeres und der damit verbundene Beginn der Schlacht war für die ausgehungerten Krieger in Alesia gleichzeitig das Zeichen für den Start eines Ausbruchversuchs. Die Römer wurden von zwei Seiten heftig attackiert, und im Verlaufe der Schlacht gelang es den Galliern durch immer neue nachströmende Truppen, den Todesstreifen zu überwinden und bis zu den Palisaden des äußeren Rings vorzudringen. Den Römern gelang es unter Inkaufnahme erheblicher Verluste dennoch, die eigenen Stellungen zu halten. Nach vier Tagen anhaltenden Kämpfen, während denen Vercingetorix‘ Truppen oft im Vorteil schienen, trugen am Ende die Römer den Sieg davon. Zur Einstimmung 11 <?page no="12"?> 12 Zur Einstimmung Die Schlacht von Alesia zeigt deswegen so eindrücklich den Ablauf eines Führungsprozesses, da die verschiedenen Maßnahmen beider Seiten aus der jeweiligen Perspektive sehr offen vor uns liegen. Zudem stand für beide Befehlshaber alles auf dem Spiel und das Verlieren der Schlacht zog erhebliche Konsequenzen für die Besiegten nach sich, was nicht immer der Fall war und ist. Beide Truppenführer stellten eine Beurteilung der Lage an und passten ihre Planungen vorausschauend und klug an das erwartete Verhalten des Feindes an. Gleichzeitig veränderten sie die Ausgangsebenso wie die Umweltbedingungen in eindrücklicher Weise. Vercingetorix, indem er aus einer defensiven Belagerungssituation eine offensive Zwei-Fronten-Situation schuf. Cäsar, indem er das komplette umliegende Gelände so umgestaltete, dass er den zu erwartenden Maßnahmen des Feindes adäquat und am Ende siegreich begegnen konnte. Beide Führer handelten dabei unter erheblicher Entscheidungsunsicherheit, gingen kalkulierte Risiken ein und setzten, was wesentlich ist, Schwerpunkte. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Schlacht mehrfach „auf Messers Schneide“ stand und auch die Gallier den Sieg hätten davontragen können. Sowohl Vercingetorix als auch Cäsar waren unumwunden gute Führer. Was einen guten Führer unter anderem auszeichnet ist, dass er in Krisensituationen bereit ist und den Mut hat, unter Antizipation möglicher zukünftiger Geschehnisse, Entscheidungen zu treffen, diese umzusetzen und damit selbst Gestalter der Zukunft wird. Ob die jeweilige Entscheidung richtig war, zeigt nur die ex-post-Betrachtung. Zu beurteilen ist ihre Qualität allerdings stets aus der ex-ante-Sicht. Beide Beispiele, das - teilweise - fiktive „Corona-Szenario“ ebenso wie die Geschehnisse in Burgund vor mehr als zweitausend Jahren, zeigen dies deutlich. Und sie zeigen uns, dass das Leben schon seltsame Überraschungen bereithält. Die Idee zu diesem Buch keimt schon seit Jahren und hatte absolut nichts mit konkreten Krisen und schon gar nichts mit Corona oder dem Ukraine-Krieg zu tun. Da brütet man über lange Zeit hinweg über einer Idee, beobachtet, recherchiert, diskutiert, kreiert und verwirft, um wieder neu zu starten und zu justieren. Und dann offenbart sich mit voller Wucht, wie aktuell und bedeutsam all das ist, über was man sich den Kopf zerbricht. In unserem Fall zunächst in Gestalt eines kleinen Virus namens „SARS-CoV-2“, gefolgt von der Unwetterkatastrophe im Ahrtal und dem Überfall Russlands auf die Ukraine. All diese Geschehnisse halten zum Teil die ganze Welt in Atem und sollten auch dem letzten Zweifler drei Dinge offenbart haben: Die Welt ist weder in den kleinen noch in den großen Dingen sicher planbar, und es ist immens wichtig, dass Führungskräfte und Entscheidungsträger hierauf vorbereitet sind. VUCA, dazu später mehr, lässt grüßen … Professionelle, faktenbasierte Führungs- und Entscheidungsprozesse sind überlebenswichtig. Sie sind die unabdingbare Grundlage für richtige Entscheidungen, nicht nur in den großen Dingen. Die Qualität der Führung und des Führungsprozesses ist maßgeblich für Erfolg oder Misserfolg. Hier sind Defizite seit langem erkennbar … Die nächste Herausforderung kommt sicher … nur wann und wie, ist unklar! <?page no="13"?> Mit dem vorliegenden Buch haben wir uns daher die Bewältigung einer besonderen Aufgabe vorgenommen: wir möchten Menschen mit aktueller oder zukünftiger Führungsverantwortung mit dem notwendigen Rüstzeug versehen, dessen Beherrschung jede (Führungs-)Persönlichkeit weiterbringt. Das Verständnis, die Philosophie, der wir uns verschrieben haben und die wir gerne näherbringen möchten, bezeichnen wir als „Cimilitary Leadership“. Um von Anfang an Missverständnissen vorzubeugen: es geht in diesem Buch nicht darum, dem Militär oder dem Krieg das Wort zu reden. Gerade in Deutschland haben wir nach dem durch uns verursachten Kulturbruch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein eher gespaltenes Verhältnis zum Militär. Militär im Allgemeinen und die Bundeswehr seit ihrer Gründung 1956 im Speziellen werden seitdem kritisch betrachtet. 1 Ganz zu Beginn seines herausragenden und zu Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen Werks „Vom Kriege“ definiert Carl von Clausewitz „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ 2 . Und weiter führt er zum Zweck des Krieges aus: „Die Streitkraft muss vernichtet, d.h. in einen solchen Zustand versetzt werden, dass sie den Kampf nicht mehr fortsetzen kann.“ 3 Diese Gedanken auf die Wirtschaft zu übertragen und folglich mit Krieg zu vergleichen, würde den Krieg in seiner Barbarei verharmlosen und der Wirtschaft ebensolche Attribute zuweisen, die der Sache weder innewohnen noch gerecht würden. Wirtschaft mit Krieg gleichzusetzen, würde Denkweisen benötigen, die nicht in Einklang zu bringen sind mit den für uns und unser Tun, auch und vor allem als Offiziere, prägenden Werten, Normen und Tugenden und damit mit den Leitlinien unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung; sie haben folglich hier keinen Platz. Gleichwohl geht es in beiden Fällen, in der Wirtschaft ebenso wie im Krieg, um ein Ringen um Dominanz. Selbst dann, wenn es keinerlei Konkurrenz für ein Produkt gibt, so muss dennoch der potenzielle Kunde zum Kauf bewegt werden. Dazu muss es ein „sich Durchsetzen“ auf Verkäuferseite geben. Clausewitz führt aus: „Wir sagen also: Der Krieg gehört nicht in das Gebiet der Künste und Wissenschaften, sondern in das Gebiet des gesellschaftlichen Lebens. Er ist ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst, und nur darin ist er von den andern verschieden. Besser als mit irgendeiner Kunst ließe er sich mit dem Handel vergleichen, der auch ein Konflikt menschlicher Interessen und Tätigkeiten ist …“ 4 1 Wer sich mit den Beziehungen der Deutschen zum Militär seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 bis in die Gegenwart auseinandersetzen möchte, dem sei Neitzel, S.: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik - eine Militärgeschichte, veröffentlicht im Propyläen-Verlag, wärmstens empfohlen. 2 Clausewitz, C. v.: Vom Kriege, Area Verlag, Erftstadt 2003, S. 9. 3 Ebenda S. 23. 4 Ebenda S. 75. Zur Einstimmung 13 <?page no="14"?> 14 Zur Einstimmung Auch Karl Marx vergleicht Militär mit Wirtschaft, indem er zur Thematik Führung ausführt: „Der Befehl des Kapitalisten auf dem Produktionsfeld wird jetzt so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld“ 5 und weiter „Wie eine Armee militärischer, bedarf eine unter einem Kommando desselben Kapitals zusammenwirkende Arbeitermasse industrieller Oberoffiziere (Dirigenten, managers) und Unteroffiziere (Arbeitsaufseher, foreman, overlookers, contre-maîtres), die während des Arbeitsprozesses kommandieren.“ 6 Bezüglich des Unterschieds zwischen Krieg und Wirtschaft äußert sich Clausewitz „Das Wesentliche des Unterschieds besteht darin, dass der Krieg keine Tätigkeit des Willens ist, die sich gegen einen toten Stoff äußert wie die mechanischen Künste, oder gegen einen lebendigen, aber doch leidenden, sich hingebenden Gegenstand, wie der menschliche Geist und das menschliche Gefühl bei den idealen Künsten: sondern gegen einen lebendigen, reagierenden. Wie wenig auf eine solche Tätigkeit der Gedankenmechanismus der Künste und Wissenschaften passt, springt in die Augen, und man begreift zugleich, wie das beständige Suchen und Streben nach Gesetzen, denen ähnlich, welche aus der toten Körperwelt entwickelt werden können, zu beständigen Irrtümern hat führen müssen.“ 7 Es geht uns also darum, im Sinne des beschriebenen Selbstverständnisses von Krieg und Wirtschaft, die allgemeingültigen Regeln und das Wesen guter Führung, und hierfür bietet das Militär nicht nur gute Beispiele, sondern auch die notwendigen Verfahren, in konkret umsetzbare Handlungsideen und praktikable Werkzeuge für die Führungspraxis in Wirtschaft und Verwaltung zu übersetzen. Ergänzend zu diesem Buch empfehlen wir von Wiebke Köhler das 2020 erschienene Buch „Führen im Grenzbereich. Was Manager aus Grenzsituationen für den Unternehmensalltag lernen können.“ 8 Sie interviewt insgesamt 15 Führungspersönlichkeiten, die in Grenzsituationen führen müssen oder mussten. Zu den Interviewpartnern zählen acht Militärangehörige, zwei mit militärischem Bezug und, dem Militär sicherlich sehr ähnlich, der Kommandeur der Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9). Somit haben 11 von 15 der Interviewten einen Bezug zu militärischer Führung. Die Autorin begründet ihren Ansatz für das Buch mit „… eine Führung, die sich in Extremsituationen bewährt und auszeichnet, ist sicher auch relevant für Führung im Unternehmensalltag.“ 9 Somit liegt sie sehr nahe an unserem Ansatz und ist auf Grund ihrer Vita eher unverdächtig, dem Militär das Wort reden zu wollen. 5 Marx, K.: Das Kapital, Finanzbuchverlag, München 2006, S. 386. 6 Ebenda S. 387. 7 Clausewitz, C. v.: Vom Kriege, Area Verlag, Erftstadt 2003, S. 75. 8 Köhler, W.: Führen im Grenzbereich. Was Manager aus Grenzsituationen für den Unternehmensalltag lernen können. Norderstedt 2020. 9 Ebenda S. 9. <?page no="15"?> Das Verständnis für und die Anwendung von Cimilitary Leadership soll Führungskräfte in die Lage versetzen, auch unter Druck deutlich effektiver und effizienter gute Entscheidungen zu treffen und somit Erfolge zu erzielen. Zum anderen sollen Führungskräfte mittels „Cimilitary Leadership“ die Fähigkeit erlernen oder erweitern, den Anforderungen, denen sie sich in einer sich vermeintlich immer schneller drehenden Welt ausgesetzt sehen, besonders gut und schnell gerecht zu werden. Folgerichtig eignet sich das Instrumentarium hervorragend für Aus- und Weiterbildungszwecke. Die Planspiele am Ende des Buches sind auf die genannten Zwecke ausgerichtet und bieten zudem eine Anleitung, wie man Übungsszenarien selbst gestalten kann. Doch warum ist dies unserer Ansicht nach so wichtig? Egal, was wir in unserem Leben machen: alles hat mit Führung zu tun! Wir führen Gespräche, wir führen Transaktionen durch, wir führen Aufgaben aus, wir führen Theaterstücke auf und vieles mehr, kurzum: wir führen unser Leben! Bis hierhin käme wohl kaum jemand auf die Idee, im Zusammenhang mit den alltäglichen „Führungen“ von Führungsprozessen und in Bezug auf die Protagonisten von Führungspersönlichkeiten zu sprechen. Dieses Attribut ist Personen wie beispielsweise Unternehmenslenkern, Behördenleitern, Offizieren, Bischöfen oder auch Politikern, also „Chefs“, vorbehalten. Und doch gelten im Großen wie im Kleinen stets die gleichen Spielregeln. Einziger Unterschied: die Dimension der jeweiligen „Führungsaufgabe“ schwankt, zugegebenermaßen, mitunter beträchtlich. Unsere Feststellung: Ob in Unternehmen, der Politik, in gemeinnützigen Organisationen oder Verwaltungen: Führungskräfte werden in den seltensten Fällen auf ihre Rolle als Führer vorbereitet. Häufig wird der fachlich kompetenteste Mitarbeiter zur „Führungskraft“ ernannt. In der Politik ist zu beobachten, dass beispielsweise derjenige zum Landrat oder Oberbürgermeister gewählt wird, der es übernimmt, überhaupt zu kandidieren. Oft ist man froh, was sehr häufig auch in Vereinen zu beobachten ist, dass sich überhaupt jemand bereit erklärt, für entsprechende Positionen zur Verfügung zu stehen. Führungskompetenz ist da leider allzu oft eher zweitrangig. Welche fatalen Konsequenzen sich hieraus ergeben können, zeigt die Unwetterkatastrophe an der Ahr im Sommer 2021 … Fredmund Malik meint hierzu: „Es ist bemerkenswert, dass nur wenige Führungskräfte so etwas Ähnliches wie eine systematische Ausbildung … haben. ... Niemand würde in ein Flugzeug steigen, wenn die Piloten eine den Managern vergleichbare Ausbildung hätten, und genauso wenig würde sich jemand einer chirurgischen Operation unterziehen, wenn dasselbe für die Ärzte gelte.“ 10 Nicht nur in Monarchien, auch und gerade in Familienunternehmen, die den Großteil der deutschen Unternehmen ausmachen, entscheidet meist der Ver- 10 Malik, F.: Führen Leisten Leben. Frankfurt 2006, S. 67. Zur Einstimmung 15 <?page no="16"?> 16 Zur Einstimmung wandtschaftsgrad darüber, wer die Nachfolge antritt und wer das Unternehmen leiten soll. Ob damit stets gute Führung einhergeht, ist fraglich. Ein spezifisches Training oder gar eine Ausbildung erfolgt der Erfahrung nach selten. Und falls doch, dann nur sehr rudimentär und häufig auf Themenfelder fokussiert, die dem Wesentlichen guter Führung, dem Führungsprozess, zu wenig Raum geben. Im Ergebnis werden maximal Manager, aber keine Führungskräfte herangebildet. Die einzige Institution, die dies komplett anders macht, sind die Streitkräfte. Keine andere Organisation setzt Ressourcen in einem solchen Maß zur Identifizierung, Ausbildung und zum konkreten Einsatz von Führungskräften ein, wie dies das Militär tut. Hinzu kommt, dass die „Organisation Streitkräfte“ eine ausschließlich auf die Bewältigung von Krisen ausgerichtete Organisation ist, bei der es im Zweifel um Leben und Tod geht. Daraus abgeleitet ist der Führungsprozess selbst, aber auch das Erlernen des Prozesses, darauf ausgerichtet, ein Höchstmaß an Effektivität und Effizienz zu erreichen. Im Ergebnis führt dies dazu, dass die militärischen Führer ausgebildet werden, in einer von Unsicherheit und Komplexität gekennzeichneten Extremsituation den Führungsprozess als solchen intuitiv abrufen zu können, um in angemessener Zeit die richtige Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung selbst ist dann in der Folge eben gerade keine intuitive, sondern eine auf rationaler Basis getroffene. Ein weiterer, Führungskräfte betreffender wesentlicher Aspekt ist die Tatsache, dass sich die Welt gefühlt immer schneller dreht. Nicht nur Pandemien wie Corona, sondern vielfältigste Themen wie beispielsweise die Digitalisierung (Industrie 4.0), politische Krisen (Brexit), Kriege (Ukraine), Hungersnöte ( Jemen), Flüchtlingsströme (Syrienkonflikt), Großbrände (Australien und Brasilien), Naturkatastrophen (Ahr-Hochwasser), wirtschaftliche Instabilitäten (Venezuela) oder das Auftreten neuer Akteure (Islamischer Staat) sind Beispiele für Herausforderungen, die beschreiben, was hiermit gemeint ist. Das mag vielleicht noch nie anders gewesen sein. Aber infolge der Unmengen an Informationen -falschen wie richtigen-, der Geschwindigkeit der Informationsverbreitung und -verarbeitung sind Situationen nicht mehr erfassbar. Es entsteht ein Gefühl der Unbeherrschbarkeit und damit des Kontrollverlustes. Die Umwelt wandelt sich zu rasch, als dass die Vielzahl an zum Teil widersprüchlichen Informationen noch in der Lage wäre, als Grundlage guter Prognosen und in der Folge guter Entscheidungen zu dienen. Das Militär ist in extremer Weise einer solchen Herausforderung seit dem Ende des kalten Krieges ausgesetzt. Die statische Situation der Ost-West-Konfrontation mit ihren klaren Frontlinien wich einer asymmetrischen Bedrohungslage und Kriegsführung. Das Brechen von über viele Jahrhunderte herausgebildeten Regeln und das bewusste Schaffen einer unübersichtlichen Situation ist das Wesentliche der Asymmetrie. Hierdurch soll der im klassischen Szenario deutlich überlegene Gegner mittels kleinerer, nicht vorhersehbarer Aktionen ins Chaos gestürzt und am Ende besiegt werden. <?page no="17"?> Ein weiteres Beispiel aus neuerer Zeit sind die Bedrohungslagen im Cyber- und Informationsraum. Hier entstand eine vollkommen neue, bislang unbekannte Dimension mit ebensolchen Aufgabenstellungen. Die amerikanischen Streitkräfte reagierten hierauf sehr erfolgreich mit dem Konzept „VUCA“, um den auftretenden asymmetrischen Bedrohungen begegnen zu können. VUCA ist ein Akronym und steht für volatility, uncertainty, complexity und ambiguity (Volatilität/ Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit). Doch dazu im Verlauf des Buches unten mehr. Was hat dies alles nun mit Führung in Unternehmen, Verwaltungen oder anderen Organisationen zu tun? Das einleitende Beispiel zeigt sehr plastisch, wie unerwartet schnell ein Szenario auftauchen kann, mit dem man nicht gerechnet hat und auf das man nicht konkret vorbereitet ist. Aber man muss handeln; und zwar sehr konkret! Corona ist VUCA pur! Und Corona verlangt gute Führung! Leider suchte man vielerorts vergeblich nach ihr … Hinzu kommt die erwähnte Feststellung, dass Führungskräfte selten so gut auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet werden, wie es erforderlich wäre. Um das zu erkennen, benötigt es keiner „Großszenarien“. Es sind die täglich zu treffenden Entscheidungen im normalen „Management- und Führungsalltag“, die dies zu Tage fördern. Das Buch, das Sie gerade in Händen halten und lesen, zeigt Ihnen klar auf, welche Herausforderungen die VUCA-Welt für jede und jeden bereithält, die oder der entsprechende Verantwortung trägt oder zukünftig tragen wird. Das Verinnerlichen, also das Kennenlernen und das Erlernen der Anwendung von „Cimilitary Leadership“ wird Ihnen eine Hilfe sein, wenn es darum geht, den Herausforderungen als Führungskraft, egal, ob als Newcomer oder als alter Hase, egal auf welcher Ebene und egal, in welcher Organisation, gewachsen zu sein. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viel Freude beim Gewinnen neuer Erkenntnisse und bei der Weiterentwicklung Ihrer (Führungs-)Persönlichkeit. Prof. Dr. Wolfgang Benzel Peter Bohrer Diplom-Kaufmann und Steuerberater Diplom-Kaufmann Multi-Unternehmer Managementberater Oberst d. R. Generalleutnant a.D. Zur Einstimmung 17 <?page no="19"?> Inhaltsübersicht Geleitworte ............................................................................................................................ 5 Zur Einstimmung ................................................................................................................. 7 1 Alles VUCA oder was? - Führung in einer Welt von Unsicherheit ................. 23 2 Management und Führung: Ein entscheidender Unterschied............................ 41 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten............... 45 4 Gute Führung - aber wie? ......................................................................................... 61 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership ..................... 123 6 Führen trainieren: Los geht‘s .................................................................................. 135 Index.................................................................................................................................... 175 Hinweise zum Buch Die Icons markieren die folgenden Sachverhalte: Taschenkarte Aufgabe Zitat Literatur <?page no="21"?> Inhaltsverzeichnis Geleitworte ............................................................................................................................ 5 Zur Einstimmung ................................................................................................................. 6 1 Alles VUCA oder was? - Führung in einer Welt von Unsicherheit .....23 2 Management und Führung: Ein entscheidender Unterschied................41 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten............................................................................................................................45 3.1 Rationalität: Basis unseres Handelns? ............................................................. 46 3.2 Intuition - stets der beste Ratgeber? ............................................................... 51 3.3 Was sagen die Besten ihrer Zunft hierzu? ..................................................... 58 4 Gute Führung - aber wie? .....................................................................................61 4.1 Die Konzeption der „Inneren Führung“: Fundament Unternehmenskultur ...................................................................................................................... 61 4.2 Die Auftragstaktik - Wundermittel erfolgreicher Führung....................... 69 4.3 Der Führungsprozess: Von den Streitkräften lernen.................................... 84 4.3.1 Lagefeststellung und Kontrolle ............................................................ 87 4.3.2 Entscheidungsfindung ........................................................................... 90 4.3.3 Auswertung des Auftrags ...................................................................... 92 4.3.4 Zielauswertung: Der Beginn unternehmerischer Planung ............ 96 4.3.5 Beurteilung der Lage .............................................................................. 99 4.3.6 Zivile Entscheidungsfindung.............................................................. 103 4.3.7 Entschluss ............................................................................................... 109 4.3.8 Die Entscheidung im Führungsprozess eines Unternehmens ..... 109 4.3.9 Militärische Planung............................................................................. 110 4.3.10 Unternehmensplanung ........................................................................ 113 4.3.11 Befehlsgebung........................................................................................ 114 4.3.12 Stabsarbeit im Führungsprozess ........................................................ 116 4.3.13 Stabsarbeit im Führungsprozess in Unternehmen ......................... 118 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership....... 123 5.1 Entscheidungsfindung ...................................................................................... 124 5.2 Grundsätze .......................................................................................................... 128 5.3 Prinzipien guter Führung................................................................................. 130 6 Führen trainieren: Los geht‘s ........................................................................... 135 Index ................................................................................................................................. 175 <?page no="23"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit Digitalisierung und die Entwicklung in Richtung Industrie 4.0 haben unsere Welt nachhaltig verändert. Und ein Ende ist nicht absehbar - im Gegenteil, neue Technologien werden immer schneller entwickelt, die Informationsdichte und Informationsgeschwindigkeit nehmen ebenso stetig zu wie das verfügbare Wissen. Innovationen entwickeln sich zum Teil exponentiell, gleichzeitig erweisen sich vermeintliche Gewissheiten als falsch. Dabei ist laut dem Bericht des Club of Rome aus 2022, veröffentlicht im Buch „Earth for All“ 11 , das größte Problem der Menschheit nicht im Klimawandel, dem Verlust der Biodiversität oder in Pandemien zu sehen, sondern in der kollektiven Unfähigkeit, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden. 12 Ein Grund mehr, sich intensiv mit guter Entscheidungsfindung zu beschäftigen. Denn die Folge zunehmender Komplexität, unsicherer Rahmenbedingungen und steigender Anfälligkeit für Störungen verschiedenster Art ist, dass es zunehmend schwerer fällt, die Bedeutung einzelner Ereignisse zu erfassen und zu beurteilen. Was unweigerlich zu schlechten Entscheidungen führt, wenn man nicht versucht, mit geeigneten Werkzeugen den Weg für gute Entscheidungen zu ebnen. Das dahinterstehende Phänomen wird mit dem Akronym „VUCA“ beschrieben. VUCA steht für Volatility → Unbeständigkeit Uncertainty → Unsicherheit Complexity → Komplexität Ambiguity → Mehrdeutigkeit Kunden fühlen sich nicht mehr in dem Maße wie noch vor wenigen Jahren an bestimmte Marken gebunden. Es ist nicht mehr klar, wer potenzielle Wettbewerber sind. Wer hat zum Beispiel damit gerechnet, dass Google selbstfahrende Autos entwickelt und testet? Unklar bleibt, wie sich Märkte entwickeln. Welche Neuentwicklungen sich am Markt durchsetzen können, ist kaum absehbar. Der Innovationsdruck für die Unternehmen nimmt zu. Globale Wertschöpfungs- und Lieferketten sind in hohem Maße störanfällig. Die Frage, warum ein bestimmtes Geschäftsmodell Erfolg oder Misserfolg hat, ist oftmals nicht eindeutig zu beantworten. 13 11 Club of Rome (Hrsg.): Earth for All. Ein Survivalguide für unseren Planeten. oekom-Verlag, München 2022. 12 Vgl. Schock, S.: Club of Rome: “ Das größte Problem unserer Zeit ist unsere Unfähigkeit, Fiktion von Fakten zu unterscheiden“, 27.10.2022, Erste Asset Management Website, https: / / blog.de.erste-am.com/ club-of-rome-das-groesste-problem-unserer-zeit-ist-unsereunfaehigkeit-fiktion-von-fakten-zu-unterscheiden/ , aufgerufen am 04.01.2023. 13 Vogel, M.: Digitalisierung. Was bedeutet VUCA? . 06.09.2018. www.business-wissen.de/ artikel/ digitalisierung-was-bedeutet-vuca/ , aufgerufen am 04.01.2023. <?page no="24"?> 24 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit Interessanterweise stammt auch der Begriff VUCA ebenso wie das dahinterstehende Konzept der militärischen Welt, in diesem Fall den amerikanischen Streitkräften. Er ist entstanden, als der Kalte Krieg abgelöst wurde durch eine multipolare Weltordnung mit einer Vielzahl meist kleinerer Konflikte, die oftmals weder völkerrechtlich Kriege waren noch in ihrer Erscheinungsform klassischen Vorstellungen von militärischen Konflikten entsprachen. VUCA ist in diesem Buch somit unser erster Anknüpfpunkt in den militärischen Bereich. In der VUCA-Diskussion geht es vor allen Dingen um die Frage, wie „Führung“, wie „Leadership“ in einer zunehmend komplexen, unsicheren, volatilen und mehrdeutigen Umgebung aussehen muss. Welche Anforderungen sind zu stellen, welche Methoden können angewandt werden - nicht zuletzt, um das Risiko von Entscheidungen zu begrenzen, die mit unzureichenden, oftmals auch mit unklaren oder widersprüchlichen Informationen in einer Umgebung mit hoher Dynamik getroffen werden. Die COVID-19-Pandemie ist ein Musterbeispiel für eine solche VUCA-Situation. Auch wenn der Umgang mit Pandemien immer wieder untersucht und auch mehrfach in verschiedenen Szenarien geübt wurde, hat das Coronavirus die Verantwortlichen mehr oder weniger überrascht. Weder gab es in der Wissenschaft hinreichende Informationen über das Virus, über mögliche Schutzmechanismen, über Krankheitsverläufe und Folgeschäden, noch waren geeignete Medikamente und Therapien, geschweige denn Impfstoffe vorhanden. Ein weitgehender Lockdown für Gesellschaft und Wirtschaft war die vermutlich einzige Möglichkeit, die Ausbreitung des Virus einzudämmen und eine völlige Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Relativ früh war klar, dass dieser Lockdown weitgehende und tiefgreifende Folgen haben würde. Doch die ganze Tragweite des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stillstandes wurde erst Schritt für Schritt deutlich. Wertschöpfungs- und Lieferketten wurden nachhaltig gestört, ganze Wirtschaftszweige wie z.B. die Tourismusindustrie und die Luftfahrtfahrtindustrie wurden bedroht. Aber auch in Bereichen, in denen vordergründig nicht unbedingt mit Problemen zu rechnen war, kam es zu gravierenden Einschränkungen. Teile der Landwirtschaft, die zudem noch unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben, sind hier zu nennen. 14 Noch nicht übersehbar sind die sozialen und gesellschaftlichen Folgen. Experten befürchten zum Beispiel deutliche und vor allem nachhaltige Nachteile in der Schulbildung unserer Kinder. 15 Zu Recht hat die seinerzeitige Bundeskanzlerin die Einschränkung unserer Freiheitsrechte während der Corona-Pandemie als „demokratische Zumutung“ bezeichnet. 16 14 o.V.: Wie sich das Coronavirus auf die Agrarbranche auswirkt. https: / / www.agrarheute.com/ markt/ marktfruechte/ coronavirus-agrarmaerkte-auswirkt-565384, aufgerufen am 04.01.2023. 15 Libuda, K.: Übersehene Folgen der Pandemie: So hart trifft die Coronakrise weltweit Kinder, 19.10.2021. https: / / www.unicef.de/ informieren/ aktuelles/ blog/ -/ uebersehene-folgender-pandemie/ 275344, aufgerufen am 04.01.2023. 16 Wehner, M.: Die Mahn-Kanzlerin. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.04.2020. https: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ inland/ merkel-zu-corona-pandemie-ist-demokratische-zumutung-16737917.html, aufgerufen am 04.01.2023. <?page no="25"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 25 Die Pandemie hat die ganze Komplexität und Volatilität moderner Gesellschaften und einer hochgradig vernetzten, globalisierten Wirtschaft gezeigt. Wenn überhaupt jemals, dann trifft die Beschreibung „VUCA“ für die Corona-Pandemie vollkommen zu. Zugleich hat vor allen Dingen die deutsche Politik ein Beispiel geliefert, wie in einer solchen Situation gehandelt werden kann, auch wenn im Nachhinein sicherlich Fehleinschätzungen und unzureichende Lösungsansätze festzustellen sind. 17 Aber im Nachhinein ist man ja bekanntlich immer schlauer … Das nächste Beispiel, wie sicher Geglaubtes in kürzester Zeit seine Bedeutung verliert und zu weltweiten Verwerfungen führt, ist der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Auch dieser Vorgang ist VUCA in Reinform mit Auswirkungen auf zahlreiche Bereiche unserer Gesellschaft und folglich mehr oder weniger unmittelbar auf nahezu jedes einzelne Unternehmen, jede Behörde und auch ganz besonders auf Hilfs- und Rettungsdienstorganisationen. Ebenso gilt dies für die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021: ebenfalls VUCA in Reinform. Gleichzeitig wurden sowohl während der Katastrophe selbst als auch im Nachgang Führungsdefizite auf verschiedenen Ebenen offenbart, die schlichtweg als Katastrophe in der Katastrophe bezeichnet werden können. Personen wurden als ungeschult bezeichnet und wussten nicht, wie die Arbeit in einem Verwaltungsstab funktioniert und dass es einer grundlegenden Schulung aller Personen bedarf. Verwaltungen seien wenig trainiert oder gar nicht ausgebildet. Einzelne Mitarbeiter des Verwaltungsstabes hätten nicht gewusst, was die einzelnen Stabsbezeichnungen bedeuten. 18 Die vorgenannten Beispiele machen eindrücklich deutlich, wie aktuell das Thema ist. Vor allem zeigen sie auf, dass unser Anliegen, das Bewusstsein für gute Führung zu fördern und Führungskräfte in die Lage zu versetzen, bessere Entscheidungen zu treffen, enorm wichtig ist und gar nicht hoch genug bewertet werden kann. Die Beispiele zeigen zudem, wie wichtig der Mut zu entscheiden gerade in unübersichtlichen Situationen ist. Es liegt auf der Hand, dass zunehmende Komplexität, Volatilität und Mehrdeutigkeit eine Herausforderung für jede Führungskraft sind. Was aber sind Ansätze, was sind Rezepte für gute Führung in einer VUCA-Welt? Wie kann das Risiko, suboptimale Entscheidungen oder gar Fehlentscheidungen zu treffen, begrenzt werden? Einen ersten Hinweis gibt die lösungsorientierte Definition von VUCA. Hier wird das Kunstwort mit der Bedeutung versehen Vision Understanding Clarity Agility 17 o.V.: Poker um Büroimmobilien, Wirtschaftswoche vom 11.04.2021, https: / / www.wiwi.de/ finanzen/ immobilien/ langfristigen-auswirkungen-poker-um-bueroimmobilien-nach-corona/ 2704598.html, aufgeru fen am 04.01.2023. 18 Hauck, B.: Flut: Scharfe Kritik am Krisenmanagement der ADD. In: Rhein-Zeitung Nr. 275 vom 26.11.2022, S. 3. <?page no="26"?> 26 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit Zunächst bedarf es eines klaren Ziels, einer VISION, an dem sich die eigene Strategie ausrichtet, die Motivation und Sinn stiften kann. Es gilt, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und den eigenen Mitarbeitern verständlich zu machen (UNDERSTANDING). Klarheit und Einfachheit helfen, die richtigen Schwerpunkte zu setzen (CLARITY). Und schließlich ist in einem hohen Maß Anpassungsfähigkeit gefordert (AGILITY). 19 In der einschlägigen Literatur gibt es eine kaum zu überschauende Vielfalt von Hinweisen, Ansätzen und Vorschlägen, wie Führungskräfte in einer VUCA-Umgebung führen sollen. Einige - ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Vollzähligkeit - sollen im Folgenden dargestellt werden. In einem weiteren Schritt wird zu untersuchen sein, ob es Analogien zu militärischen Ansätzen gibt und ob vor diesem Hintergrund militärische Philosophien und Methoden auf das Wirtschaftsleben übertragbar sind. In ihrem Artikel „Leading Ideas - Seven key actions business can take to mitigate the effects of COVID 19” 20 geben Melanie Butler und Kristin Riviera Hinweise, wie Unternehmen die Folgen der COVID-19-Pandemie abmildern können - die meisten dieser Hinweise sind auch auf andere komplexe und risikobehaftete Entscheidungssituationen übertragbar: Review workforce locations and travel Revisit your crisis and continuity plans Evaluate the supply chain Identify potenzial points of failure Get communication right Use scenario analysis Don´t lose sight of other risks So einfach diese Vorschläge klingen: Sie sind sicherlich nicht immer gängige Praxis. Krisen- und Eventualfallpläne vorzubereiten ist immer noch keine Selbstverständlichkeit. Genauso kommt es immer wieder vor, dass vorhandene Krisenpläne in einer akuten Krise nicht genutzt werden, sondern das „Rad neu erfunden“ wird. Verschiedene Szenarien auszuarbeiten und zu untersuchen hilft, Risiken zu erkennen und zu bewerten und daraus Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Es ist damit ein Weg zu Flexibilität und Agilität. Gleichzeitig gehen die Handlungsmuster „in Fleisch und Blut über“, werden Teil der intuitiven Basis. Das Denken in verschiedenen Szenarien und die Nutzung von Frühwarnradaren wird von Wissenschaftlern und Unternehmensberatern empfohlen, um den Herausforderungen einer VUCA-Umgebung gerecht zu werden. Dabei geht es darum, frühzeitig Trends zu erkennen, daraus mögliche (positive, neutrale oder negative) 19 Vgl. Johanson, B.: Glücklicherweise ist es nur VUCA! , https: / / www.vuca-welt.de, aufgerufen am 04.01.2023. 20 Vgl. Butler, M./ Riviera, K.: “Leading Ideas - Seven key actions business can take to mitigate the effects of COVID 19“ in: strategy+business Issue 99, Summer 2020. <?page no="27"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 27 Szenarien abzuleiten und auf dieser Grundlage alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. 21 Oftmals wird VUCA verkürzt mit einer hohen Geschwindigkeit von Veränderung gleichgesetzt. Dies birgt die Gefahr, sich auf akute, dringende Herausforderungen zu konzentrieren und dabei zu verkennen, dass diese nicht zwingend von großer Bedeutung für das eigene Unternehmen sind. Es gilt daher gleichermaßen „speed, scope und significance einer Herausforderung im Blick zu halten (S3). 22 Nur so sind sinnvolle Priorisierung und angemessene Delegation von Aufgaben möglich. Dabei darf dies kein einmaliger Ansatz sein, vielmehr gilt es, in einem kontinuierlichen Prozess immer wieder die eigene Bewertung zu hinterfragen und so Handlungsfähigkeit und Reserven für Herausforderungen großen Maßstabs zu erhalten. 23 Es gilt, Herausforderungen, Chancen und Risiken frühzeitig zu erkennen, zu antizipieren und deren Interaktionen zu verstehen. In dem bereits zitierten CEO-Report der University of Oxford wird dies als „ripple intelligence“ beschrieben und wie folgt definiert: “Ripple intelligence is the ability to predict how trends and contexts may intersect, interact, and change direction, helping CEOs anticipate disruptions, make time to plan, and protect against unexpected events.” 24 Mehr denn je ist die Bereitschaft gefordert, Entscheidungen unter Unsicherheit und auf Grundlage von unvollständigen oder widersprüchlichen Informationen zu treffen. Die Herausforderung dabei ist, den Zeitpunkt zu erkennen, an dem genügend valide Informationen vorliegen, um entscheiden zu können. Eine zu frühe Entscheidung birgt immer das Risiko, in Unkenntnis fehlerhaft zu entscheiden. Wer zu lange versucht, sein Lagebild zu vervollständigen, läuft Gefahr, dass ein Risiko, das vermieden werden soll, doch eintritt oder dass sich ein „Window of opportunity“ schließt. Risiken und Chancen frühzeitig zu erkennen, erfordert Freiräume. Einer der im CEO Report der Said Business School der University of Oxford befragten CEO´s hat dies wie folgt formuliert: „He explains that his executive team handles the day-to-day so he can concentrate fully on the 35,000-ft level, looking for ripples outside the company. He spoke of “hovering” above the business, his customers, consumers, competitors, and other market players, continuously searching the environment for emerging connections: “I get a bird’s-eye view,” he observes, “scanning the horizon and context without clutter.” 25 21 Rohrbeck Heger, Scenario based strategizing develop robust strategies for an uncertain future, S. 1 f. 22 University of Oxford (Said Business School)/ Heidrick and Struggles (Hrsg.): The CEO Report. Embracing the Paradoxes of the Leadership and the Power of Doubt. o.J., S. 3. abrufbar unter: https: / / www.sbs.ox.ac.uk/ sites/ default/ files/ 2018-09/ The-CEO-Report-Final.pdf 23 Ebenda S.9. 24 Ebenda S. 11. 25 Ebenda S. 12. <?page no="28"?> 28 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit Eine Unternehmenskultur zu schaffen, die einen konstruktiven und kritischen Dialog im Sinn der Sache ermöglicht, ist eine der vornehmsten Aufgaben von Führungspersönlichkeiten, denn “one of the ‘aha [moments]’ about being CEO is, you stop hearing the truth.” 26 Umgekehrt ist es essentiell: „… having people around you that tell you how wrong you are.” 27 Es geht also darum, die Mitarbeiter zu konstruktiver Kritik zu ermutigen, ihnen Freiräume zu geben, ihre Kreativität zu nutzen und Aufgaben sinnvoll zu delegieren. Voraussetzung dafür ist gegenseitiges Vertrauen. Die Erwartung an moderne Führungspersönlichkeiten ist ein kooperativer, vertrauensvoller und empathischer Ansatz in der Entscheidungsfindung. Gleichzeitig ist die Erwartung aber auch, dass der Vorgesetzte entscheidet. Einer der im CEO-Report der Said Business School der University of Oxford befragten CEOs hat dies treffend als „collaborative command“ bezeichnet. 28 Einer Untersuchung des Katzenbach Centers zufolge glauben 65% der befragten CEOs, dass Unternehmenskultur wichtiger ist als die Strategie oder das Geschäftsmodell. Und sie sehen Handlungsbedarf: 80% der Manager sind der Ansicht, dass sich ihre Unternehmenskultur anpassen muss. 29 Unternehmenskultur wird also als ein wesentlicher Faktor für Erfolg in einem komplexen und dynamischen Umfeld verstanden. Kompetente, gut ausgebildete und motivierte Mitarbeiter sind dabei eine wichtige Voraussetzung. Jim Keane, CEO des Unternehmens Steelcase, beschreibt dies in dem „23 rd Annual Global CEO Survey” wie folgt: “First, you have to create a culture of learning. Investing in people and helping them continually develop their skills that should be embedded in a company’s culture. That doesn’t just mean training people in what the company decides is important to them. At least a portion of the learning agenda should be based on what the individual chooses to learn about. The role of the company is to continually challenge and develop its people, starting at the top. In fact, I think the company has an obligation to do so.“ 30 Auf den Punkt bringt es der irische Wirtschafts- und Sozialphilosoph Charles Handy: “Whereas the heroic manager of the past knew all, could do all, and could solve every problem, the postheroic manager asks how every problem can be solved in a way that develops other people´s capacity to handle it.” 31 26 Ebenda S. 17. 27 Ebenda. 28 Ebenda S. 5. 29 Katzenbach, J.R./ Thomas, J./ Anderson, G.: The Critical Few: Energize Your Company`s Culture by Choosing What Really Matters, Oakland 2018, S.1. 30 PWC (Hrsg.): 23rd Annual Global CEO Survey, Navigating the tide of uncertainty, 2018, S. 33. abrufbar unter: https: / / www.pwc.com/ gx/ en/ ceo-survey/ 2020/ reports/ pwc-23rdglobal-ceo-survey.pdf. 31 Zitiert nach: www.vuca-welt.de. <?page no="29"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 29 Investitionen in die Mitarbeiter helfen, den Unternehmenserfolg auch in unsicheren oder Krisenzeiten zu sichern. Unter der Überschrift „How to succeed in uncertain times” wird in einem Artikel der Zeitschrift “Strategy+business” postuliert: „In a difficult environment, leaders need to resist the impulse to adopt a defensive pose. They must instead take actions that will position their organization for success.” 32 Die Autoren fordern dynamische Strategien, die immer wieder an interne und externe Veränderungen angepasst werden. Der Fokus muss unter solchen Bedingungen auf operationeller Agilität liegen. 33 Wissenschaftler und Unternehmensberater fordern seit langem, dass Unternehmen ein hohes Maß an Agilität besitzen müssen. Die Fähigkeit, sowohl die Aufbauorganisation als auch die Prozesse schnell an geänderte Bedingungen anzupassen, ist überlebenswichtig. Klassisches Risikomanagement hat in einer komplexen und unsicheren Umgebung ohne jeden Zweifel ebenfalls seine Berechtigung, reicht aber nicht aus, um dauerhaft und nachhaltig bestehen zu können. Resilienz dagegen kann als ein Sicherheitskonzept verstanden werden, das geeignet ist, die Folgen von Störungen abzumildern und Wettbewerbsvorteile zu schaffen. Was aber ist Resilienz? Unter dem Titel „Resilienz als Schlüsselfähigkeit im Krisenfall“ hat das „Forum Sicherheit Schweiz“ diesem Thema den „6. FSS SECURITY TALK“ gewidmet. Dr. Martin Krummenacher aus dem Schweizer Armeestab, KPM Doktrinforschung und entwicklung und Benjamin Scharte vom Center for Security Studies, ETH Zürich, nennen als Prinzipien von Resilienz Modularität, Diversität, Redundanz und Dezentralität. Resilienzhemmend sei Überregulierung, resilienzfördernd dagegen seien unter anderem weiche Faktoren. Ähnlich äußern sich auch Dr. Adrian Marti, AWK Group, und Sandra Hauser, Head Transformation & Technology, Zürich. Beide heben Leadership und Kultur als einen wichtigen Baustein für Resilienz hervor. 34 Eine wesentliche Rolle, um in einem VUCA-Umfeld bestehen zu können, spielt die Agilität einer Organisation. Agilität wird dabei verstanden als „the organizational capacity to effectively detect, assess, and respond to environmental changes in ways, that are purposeful, decisive and grounded in the will to win.“ 35 Oliver Bendel formuliert: „Agilität ist die Gewandtheit, Wendigkeit oder Beweglichkeit von Organisationen und Personen bzw. in Strukturen und Prozessen. Man reagiert flexibel auf 32 Jackson-Moore, W./ Swanson, H./ Kande, M.: “How to succeed in uncertain times” in: strategy+business Issue 99, Summer 2020, S. 31. 33 Ebenda S. 334 f. 34 Zur Thematik Resilienz als Schlüsselfähigkeit im Krisenfall vgl.: Fazitbericht | 6. FSS Security Talk vom 10. September 2020, Webinar, abrufbar unter: https: / / www.forum-sicherheit-schweiz.ch/ fss-security-talks-rueckblick. 35 Tilman, L.M./ Jacoby, Ch.: “The most agile day” in: strategy+business Issue 99, Summer 2020, S. 40. <?page no="30"?> 30 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit unvorhergesehene Ereignisse und neue Anforderungen. Man ist, etwa in Bezug auf Veränderungen, nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv. In Unternehmen ist man oft auf festgelegte Prozesse und im Detail geplante Projekte fokussiert. Agilität kann hier bedeuten, dass Prozesse unterbrochen und angepasst sowie Projekte wiederholt neu aufgesetzt werden, etwa mit Blick auf veränderte Kundenwünsche und Marktanforderungen. Sie kann zudem beinhalten, Prozesse und Projekte in gewisser Weise abzuschaffen. Agile Unternehmen bevorzugen ein iteratives Vorgehen und eine inkrementelle Lieferung.“36 Tilman und Jacoby unterscheiden dabei zwischen strategischer und taktischer Agilität. „Strategic agility enables entire organizations to move with the speed of relevance: to detect and assess major trends and environmental changes and dynamically adapt their strategic visions, business models, human capital, and campaign plans. Tactical agility allows employees to move with the speed of challenges: to take smart risks.“ 37 Am Beispiel der Operation Overlord (Landung alliierter Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944) arbeiten die Autoren heraus, dass strategische und taktische Agilität der Schlüssel zum Erfolg waren. Ihrem Fazit ist wenig hinzuzufügen: „The fog and friction of the Fourth Industrial Revolution, persistent geopolitical and societal conflict, and an arms race of new technologies are just the modern reincarnation of the challenges that have fueled humanity`s enduring search for agility. As we navigate these powerful forces - and contend with the hedgerows of modernity that upend the most brilliant of plans - any organization and leader can become better positioned to seize the possibilities of this age by investing in agility. One of the central messages people should take away from this episode is that organizational agility can be practiced via methodical inquiry, preparation, and planning. It requires a specific organizational setting, quality of knowledge, and set of capabilities that must be created and nurtured by senior leaders. With a purposeful and disciplined approach, agility becomes a mind-set, a way of thinking that determines how we study environments and how we operate every day.” 38 Spätestens jetzt wird deutlich, dass ein Blick auf militärische Führungsphilosophien und Führungsmethoden lohnt, wenn es gilt, in einer VUCA-Situation angemessen zu führen und Entscheidungen unter Risiko und unsicherer, unvollständiger Information zu treffen. Wenn der irische Wirtschafts- und Sozialphilosoph Charles Handy fordert, ein postheroischer Manager müsse fragen, wie Probleme so gelöst werden können, dass die Problemlösungsfähigkeiten der Mitarbeiter genutzt und entwickelt 36 Bendel, O.: Agilität. Abrufbar unter: https: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ definition/ agilitaet-99882, aufgerufen am 06.01.2023. 37 Tilman, L.M./ Jacoby, Ch.: “The most agile day” in: strategy+business Issue 99, Summer 2020, S. 40. 38 Ebenda, S. 47. <?page no="31"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 31 werden, kann man ihm nur zustimmen. Wenn er allerdings feststellt, der heroische Manager konnte und wusste alles 39 , sind - mindestens aus militärischer Sicht - Zweifel angebracht. Seit mehr als 100 Jahren ist die „Auftragstaktik“ Führungsphilosophie deutscher Streitkräfte. Der Begründer des operativen Denkens, General Helmuth Graf von Moltke, fordert von seinen untergeordneten Führungsebenen selbstständiges und flexibles Handeln 40 und damit auch von den Vorgesetzten, den nachgeordneten militärischen Führern Handlungsspielräume zu gewähren. Das Exerzierreglement der preußischen Infanterie von 1906 bringt dies auf den Punkt: Abb. 1 Wenn in dem Artikel „How to succeed in uncertain times” 41 gefordert wird, Führungskräfte müssten der Versuchung widerstehen, in einer komplexen Umwelt eine defensive Haltung einzunehmen, sondern stattdessen initiativ zu werden, entspricht dies einem alten militärischen Grundsatz: In einer militärischen Auseinandersetzung gilt es immer, die Initiative zu gewinnen und zu halten. Schon in der Offiziersausbildung, aber auch in den folgenden Ausbildungsgängen wird dieser Grundsatz nachhaltig vermittelt. Wenn die gleichen Autoren zu Recht dynamische Strategien einfordern, die immer wieder an interne und externe Veränderungen angepasst werden müssen, entspricht auch dies klassischen militärischen Methoden. Der als Regelkreis gestaltete Führungsprozess der Landstreitkräfte spiegelt dieses Verständnis wider: 39 Vgl. www.vuca-welt.de, aufgerufen am 05.01.2023. 40 Epkenhans, M.: Der deutsch-französische Krieg 1870/ 71, Stuttgart 2020, S. 42. 41 Jackson-Moore, W./ Swanson, H./ Kande, M.: “How to succeed in uncertain times” in: strategy+business Issue 99, Summer 2020. <?page no="32"?> 32 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit Abb. 2 An dieser Stelle dazu nur so viel: In einem kontinuierlichen Prozess werden die eigenen Planungen immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Bei wesentlichen Lageänderungen wird die eigene Planung angepasst. In welchen Schritten dies erfolgt, wird weiter unten ausführlich dargestellt. Das Schema, mit dem in der Bundeswehr Befehle erteilt werden - und das wir in diesem Buch bewusst mehrfach abbilden -, ist bei näherer Betrachtung ein Problemlösungsschema - im Sinne der lösungsorientierten Definition von VUCA. Zur Erläuterung: das Befehlsschema Alle Nato-Verbündeten haben sich auf ein einheitliches Befehlsschema verständigt. Dies hat den Vorteil, dass Befehlsgeber nicht nach „passenden“ Formen suchen müssen und alle am Prozess beteiligten eine einheitliche Sprache sprechen. Ein Befehl gliedert sich in die nachfolgenden Teile, wobei die fettgedruckten Elemente enthalten sein müssen: 1. Lage a) Feindlage b) Eigene Lage c) Unterstellungen und Abgaben (des Truppenteils, der den Befehl herausgibt) d) Zivile Lage (ziviles Umfeld, insbesondere Bevölkerung, Organisationen etc.) e) Lage im Informationsumfeld (Akteure, Medienlandschaft, kulturspezifische Besonderheiten etc.) <?page no="33"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 33 2. Auftrag knappe Darlegung des eigenen Auftrags 3. Durchführung a) Eigene Absicht mit geplanter Operationsführung b) Aufträge an die unterstellten Truppenteile c) Spezielle Aufträge, gegliedert in Aufklärung, Unterstützung, allg. Aufgaben d) Maßnahmen zur Koordinierung (Anweisungen für das Zusammenwirken, soweit erforderlich und nicht in Einzelaufträgen festgelegt) 4. Einsatzunterstützung a) Logistische Unterstützung b) Sanitätsdienstliche Unterstützung c) Personelle Unterstützung d) Sonstige Unterstützung (Feldjäger, GeoInfo etc.) 5. Führungsunterstützung - Einzelheiten zum Fernmeldewesen, Erkennungszeichen, Platz des Gefechtsstands etc.) In der Ziffer 1 wird die Situation, in der sich ein militärischer Verband befindet, beschrieben. Der Auftrag in Ziffer 2 beschreibt das Ziel, das erreicht werden soll. Die entscheidende intellektuelle Leistung findet in der Ziffer 3a (gesprochen: drei Alpha) statt. Sie beschreibt knapp und präzise, wie der Vorgesetze seinen Auftrag erfüllen will, ohne sich im Detail zu verlieren und andererseits so allgemein, dass den Untergebenen Spielräume bleiben, im Sinn der Absicht des Vorgesetzten auf Lageänderungen angemessen zu reagieren. So formuliert, beschreibt die Ziffer 3a das beabsichtigte Vorgehen (Vision) und bringt damit nicht nur die nötige Klarheit für die Untergebenen (Clarity), sondern erhält gleichzeitig Handlungsfreiheit in der Umsetzung (Adaptability). Die Ziffern 1 und 2 stellen ein gemeinsames Verständnis über die Führungsebenen hinweg sicher (Understanding). Der bereits mehrfach zitierte CEO-Report der Said Business School fordert, bei Veränderungen und Herausforderungen deren „speed, scope and significance“ zu betrachten. Auch dies entspricht im übertragenen Sinn klassischem militärischem Vorgehen. So ist zum Beispiel jeder Offizier geschult, im Rahmen des Führungsprozesses in der Lagefeststellung die Frage zu stellen: Gab es eine „Grundlegende Lageänderung“? Ist dies der Fall, müssen die eigene Planung und die eigene Befehlsgebung angepasst werden. Schon diese Frage stellt die Weichen, um sich auf die Herausforderungen zu konzentrieren, die wichtig sind. Bereits in seiner <?page no="34"?> 34 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit Ausbildung lernt der angehende Offizier den Grundsatz der Schwerpunktbildung. In der Vorschrift zur Truppenführung heißt es: „Erfolg hat, wer alle nötigen Kräfte und Mittel zur richtigen Zeit am richtigen Ort auf das richtige Ziel konzentriert. Immer entscheiden Truppenführer daher, wo sie die Anstrengungen zur Auftragserfüllung konzentrieren. Dies ist Zeichen klarer, willensstarker Führung. Es darf keine Operation ohne Schwerpunkt geben.“ 42 Und weiter heißt es: „Wird die Entscheidung gesucht, sind alle verfügbaren Kräfte und Mittel zur richtigen Zeit auf das entscheidende Ziel zusammenzufassen. Zersplitterung der Kräfte ist zu vermeiden. Gegen diesen Grundsatz verstößt, wer überall sichergehen will oder zu viele Kräfte in Nebenaufgaben bindet.“ “43 Es liegt auf der Hand, dass dieser Grundsatz auch auf wirtschaftliches Handeln übertragen werden kann. Auch in der Wirtschaft gilt es, sich auf besonders erfolgversprechende Projekte zu konzentrieren oder dort einen Schwerpunkt zu setzen, wo zum Beispiel die Konkurrenz dabei ist, einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil zu erreichen. Andererseits darf nicht unterschätzt werden, dass Schwerpunktbildung die Gefahr birgt, andere Risiken und Herausforderungen ebenso zu übersehen oder zu vernachlässigen wie günstige Gelegenheiten. Butler und Riviera fordern daher zu Recht: „Don´t lose sight of other risks“. 44 Offiziere lernen daher, dass Schwerpunktbildung stets zeitlich und/ oder räumlich begrenzt sein soll. Sie werden ausgebildet, Entscheidungen in Risikosituationen und mit unsicheren und unvollständigen Informationen zu treffen. Dabei ist dies keine einmalige Ausbildung. Im Verlauf ihres Werdegangs begegnet ihnen das Thema ständig und noch wichtiger: In zahlreichen Übungen wird die Entscheidungsfindung immer wieder geübt. „Die Komplexität militärischer Lagen sowie die Entscheidungsfreiheit des Gegners bedingen, dass militärische Führung meist in einem Umfeld von unvollständigen, teilweise widersprüchlichen Informationen, häufigen und unerwarteten Lageänderungen sowie unberechenbarer Einflüsse stattfindet. Friktion und Fehleinschätzungen treten daher regelmäßig auf.“ 45 Aus der so beschriebenen Natur militärischer Auseinandersetzungen ergeben sich die grundsätzlichen Bestimmungsgrößen militärischer Führung in Operationen und werden wie folgt benannt: „… die Ungewissheit über die Lage, das Ergebnis eigener militärischer Handlungen sowie über die Reaktion oder Aktion des Gegners sowie der Zeitdruck, unter 42 Bereichsvorschrift Truppenführung, C1-160/ 0-1001, Ziffer 746. 43 Ebenda, Ziffer 750. 44 Butler, M./ Riviera, K.: “Leading Ideas - Seven key actions business can take to mitigate the effects of COVID 19“, in: strategy+business Issue 99, Summer 2020. 45 Bereichsvorschrift Truppenführung, C1-160/ 0-1001, Ziffer 201. <?page no="35"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 35 dem entschieden und gehandelt werden muss, um die gegnerische Entscheidung bzw. deren Auswirkungen zu unterlaufen.“ 46 Und es gehört zu den militärischen Grundregeln: Fast immer ist es besser, eine suboptimale Entscheidung zu treffen, als gar keine Entscheidung. Wer nicht entscheidet, läuft Gefahr, einer Herausforderung nicht zu begegnen oder wie bereits erwähnt ein „Window of Opportunity“ nicht zu nutzen. Dabei wird der Offizier geschult, in verschiedenen Szenarien und Handlungsalternativen zu denken. Vom Nachrichtenoffizier beispielsweise, dessen Aufgabe es ist, seinem Vorgesetzten zu Absichten und Fähigkeiten des Gegners vorzutragen, wird erwartet, dass er die gefährlichste und die wahrscheinlichste Option des Feindes benennt. Da ein Gegner die eigenen Absichten nicht kennt, können dies sehr wohl unterschiedliche Optionen sein - ganz im Sinne wie dies im CEO-Report der University of Oxford gefordert wird. 47 Und weiterhin ist der für die Planung der Operationsführung Verantwortliche gefordert, seinem Vorgesetzten verschiedene Handlungsalternativen vorzuschlagen, diese zu bewerten und am Ende eine Empfehlung abzugeben. Zu Recht fordern die Autoren in dem Artikel „How to succeed in uncertain times“ 48 , Vorgesetzte müssten in einer schwierigen Umgebung mit hohem Risiko und unsicheren Informationen der Versuchung widerstehen, eine defensive Haltung einzunehmen, sondern gerade dann aktiv werden, um ihre Organisation zum Erfolg zu führen. Auch hier sind die Parallelen zu militärischem Handeln offensichtlich. Zu den leitenden Prinzipien der Truppenführung gehört der Wille zum Erfolg und das Streben nach Initiative. „In militärischen Auseinandersetzungen kommt es darauf an, den gegnerischen Willen zu brechen und die eigene Absicht durchzusetzen. Ihre Absicht setzen Truppenführer mit Entschlossenheit durch ständiges Ausschöpfen aller vorhandenen Möglichkeiten um. Der feste Wille zum Erfolg muss in Handlungen und Maßnahmen sichtbar werden. Nur dann überträgt sich dieser Wille auf die Truppe.“ 49 Und weiter heißt es: „Alle militärischen Aktivitäten zielen letztlich darauf ab, den Gegner daran zu hindern, auf eigene Maßnahmen angemessen zu reagieren oder die Initiative (initiative) zu ergreifen. Dies kann geschehen, indem er in eine Lage gebracht wird, die ihm ausweglos erscheint und er aufgibt oder indem ihm die Mittel genommen 46 Ebenda. 47 University of Oxford (Said Business School)/ Heidrick and Struggles (Hrsg.): The CEO Report. Embracing the Paradoxes of the Leadership and the Power of Doubt. o.J., S. 11. abrufbar unter: https: / / www.sbs.ox.ac.uk/ sites/ default/ files/ 2018-09/ The-CEO-Report-Final.pdf 48 Jackson-Moore, W./ Swanson, H./ Kande, M.: “How to succeed in uncertain times” in: strategy+business Issue 99, Summer 2020, S. 30 ff. 49 Bereichsvorschrift Truppenführung, C1-160/ 0-1001, Ziffer 709. <?page no="36"?> 36 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit werden, seinen Willen durchzusetzen. Dies gelingt Truppenführern dann, wenn sie den Verlauf des Geschehens bestimmen können. Voraussetzung dafür ist, dass sie selbst über die Initiative verfügen, das heißt, die Freiheit des Handelns haben und so dem Gegner das Gesetz des Handelns aufzwingen können.“ 50 Auch wenn es in der Wirtschaft keinen Gegner im militärischen Sinne gibt, dem man im Zweifel durch Waffengewalt seinen Willen aufzwingen will, so ist doch das Prinzip „Wille zum Erfolg und Streben nach Initiative“ übertragbar. Wer in einer hochriskanten Situation, wie wir sie beispielsweise mit der Corona-Pandemie erlebt haben, bestehen will, muss handeln, muss die Initiative ergreifen. Abwarten führt nicht zum Erfolg. Und genauso gilt: Einen Wettbewerbsvorteil gegenüber meinen Mitbewerbern erreiche ich nicht durch zögerliches, abwartendes Vorgehen. Nur Initiative zum richtigen Zeitpunkt führt zum Erfolg. Militärische Grundsätze zeigen auch hier viele Ähnlichkeiten. So ist es bei der Truppenführung ein wichtiges Prinzip, dass der Truppenführer Reserven hält und diese bei unvorhergesehenen Ereignissen oder wenn er neue Schwerpunkte setzen will, einsetzt. Dazu gehört auch, dass nach einem Einsatz der Reserve so schnell wie möglich versucht wird, neue Reserven zu bilden. In der Vorschrift zur Truppenführung heißt es: „Reserven (reserves) sind Kräfte und Mittel, die von Truppenführern zur eigenen Verfügung in Bereitschaft gehalten werden. Sie sind grundsätzlich zu bilden und ihre Einsatzoptionen sind vorzuplanen und möglichst zu erkunden. Reserven werden eingesetzt, um die Entscheidung zu erzwingen, den Schwerpunkt zu verlegen oder Krisen zu überwinden. Besonders im Gefecht können Reserven der Schlüssel zum Erfolg sein. Die Initiative kann häufig nur durch ihren Einsatz erhalten oder gewonnen werden. Reserven sind das wichtigste, oft das letzte Mittel von Truppenführern, auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren oder den Verlauf der Operation entscheidend zu beeinflussen.“ 51 Und weiter heißt es: „Die im unmittelbaren Kontakt mit dem Gegner bzw. mit Konfliktparteien eingesetzten Kräfte zugunsten der Reserven zu schwächen, heißt oft, den Erfolg infrage zu stellen und sich der Gefahr auszusetzen, Aufträge nicht erfüllen zu können oder - im Gefecht - in Teilen geschlagen zu werden. Zu schwach gehaltene Reserven dagegen schränken die Handlungsfreiheit der Truppenführer ein.“ 52 Auch diese Grundsätze sind ohne weiteres auf den Bereich der Wirtschaft übertragbar. Ohne Reserven, an dieser Stelle vermutlich besser Redundanzen, ist es für Unternehmen sicherlich schwer, krisenhafte Situationen zu überstehen. Und sicher gilt auch, dass Reserven nicht leichtfertig und ohne wichtigen Grund eingesetzt werden sollten. Auch wenn die Schaffung von Reserven Redundanzen 50 Ebenda, Ziffer 711, Hervorhebung durch die Verfasser. 51 Ebenda, Ziffer 761. 52 Ebenda, Ziffer 766. <?page no="37"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 37 erzeugt und Ressourcen bindet, will ihr Abbau wohl überlegt sein: Er schwächt die Resilienz in Krisensituationen. In der Wissenschaft und in der Praxis ist Konsens, dass Unternehmensführung in einem komplexen, sich ständig mit großer Geschwindigkeit veränderndem Umfeld Agilität braucht. Agilität ist Wesensmerkmal guter Truppenführung. Zum einen wird durch den als Regelkreis gestalteten Führungsprozess sichergestellt, dass Veränderungen erkannt und bewertet werden können. Eigene Planungen werden so kontinuierlich auf den Prüfstand gestellt und bei Bedarf angepasst - ganz im Sinne einer agilen Organisation. Nicht umsonst nutzen Tilman und Jacoby in einer Zeitschrift, die sich vor allen Dingen an Führungskräfte aus der Wirtschaft richtet, ein militärisches Beispiel, um die Bedeutung von Agilität herauszuarbeiten. 53 Schon die Wortwahl „strategische Agilität“ und „taktische Agilität“ stellt den Bezug zum Militärischen her. Beides gehört zur DNA militärischer Führer: „Strategische Agilität“, wenn es darum geht, eigene, längerfristige Planungen immer wieder anzupassen, „taktische Agilität“ dann, wenn es gilt, flexibel auf eine geänderte Lage oder geänderte Bedingungen zu reagieren. Auch die Prinzipien „Modularität“ und „Dezentralität“, die ohne Zweifel zur Agilität einer Organisation beitragen und gleichzeitig die Resilienz stärken, finden sich in militärischen Grundsätzen wieder. Militärisch spricht man von Raumordnung und Truppeneinteilung. „Durch die Raumordnung weisen Truppenführer den Kräften ihren Operationsraum und damit verbundene Verantwortlichkeiten zu. Die Raumordnung ist fester Bestandteil jeder Planung.“ 54 Bei der Raumordnung sind alle wesentlichen Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Vor allen Dingen aber werden mit der Raumordnung klare Verantwortlichkeiten geschaffen. „Truppenführer weisen unterstellten Führern durch die Truppeneinteilung die Kräfte und Mittel zu, die sie zur Auftragserfüllung benötigen. Truppenteile können hierzu verstärkt oder vermindert werden. Gewohnte Truppeneinteilungen und damit eingespielte Verfahren der Zusammenarbeit sind zwar von hohem Wert, dennoch müssen Truppenführer die Truppeneinteilung vorausschauend immer wieder flexibel den Erfordernissen anpassen.“ 55 Schon die Formulierung der Vorschrift macht deutlich, dass durch die Truppeneinteilung ein hohes Maß an Flexibilität erreicht wird. Voraussetzung dafür ist, dass die Kräfte, die im Rahmen der Truppeneinteilung unterstellt werden, modulartig aufgebaut sind und dass die verschiedenen Module je nach Lage unterschiedlich kombiniert werden können. Es kann dabei darum gehen, mehr Kräfte mit 53 Tilman, L.M./ Jacoby, Ch.: “The most agile day” in: strategy+business Issue 99, Summer 2020. 54 Bereichsvorschrift Truppenführung, C1-160/ 0-1001, Ziffer 846. 55 Ebenda, Ziffer 854. <?page no="38"?> 38 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit gleichen Fähigkeiten zu unterstellen oder auch Kräfte mit ergänzenden Fähigkeiten. Durch die flexible Truppeneinteilung hat der militärische Führer die Möglichkeit, je nach Entwicklung der Lage Schwerpunkte zu verstärken oder auch neue Schwerpunkte zu setzen. Sie bietet bessere Chancen, in einer krisenhaften Entwicklung zu bestehen. Über das Prinzip der Dezentralisierung wurde schon an anderer Stelle gesprochen. Mit der Führungsphilosophie der „Auftragstaktik“, die weiter unten ausführlich dargestellt wird, wird nachgeordneten Führungsebenen ein hohes Maß an Entscheidungsbefugnis eingeräumt. Vorgegeben wird im Rahmen der Befehlsgebung lediglich das zu erreichende Ziel, der Auftrag. Den Weg, wie dieses Ziel erreicht werden soll, legt der Auftragsempfänger mit seiner eigenen Befehlsgebung, mit der Ziffer „3a eigene Absicht“, selbst fest. So wird maximale Flexibilität und damit auch Resilienz erreicht, bei einer krisenhaften Entwicklung oder militärisch bei einer Lageverschärfung schnell und angemessen reagieren zu können. Die Erwartungshaltung der Vorgesetzten ist dabei eindeutig, dass die Untergebenen die ihnen gewährten Handlungsspielräume auch selbstständig nutzen - solange dies im Einklang mit dem Gesamtziel ist. Auftragstaktik gründet auf gegenseitigem Vertrauen zwischen Vorgesetztem und Untergebenen und erfordert gut ausgebildete und trainierte Untergebene. Kaum eine andere Organisation bildet ihre Führungskräfte so gründlich, systematisch und nachhaltig aus wie das Militär; kaum eine andere Organisation investiert so viel in Aus- und Weiterbildung ihres Personals. Für Offiziere gilt dabei ein Grundsatz: ein Offizier wird immer für eine höhere Führungsebene ausgebildet als die, auf der er später eingesetzt werden soll. Ein künftiger Kompaniechef zum Beispiel wird befähigt, ein Bataillon zu führen. Damit wird sichergestellt, dass der Kompaniechef die Absicht seines Bataillonskommandeurs auch versteht, weiß, wie dieser denkt und im Sinne seines Vorgesetzten und somit im Gesamtsystem handeln kann. Hier schließt sich auch der Kreis zu dem, was Charles Handy 56 für den „postheroischen“ Manager fordert: Er muss Probleme nicht selbst lösen, sondern seine Mitarbeiter zur Problemlösung befähigen. Mit der „Inneren Führung“, weiter unten ebenfalls ausführlich dargestellt, hat die Bundeswehr seit Jahrzehnten eine „Unternehmenskultur“, die an Aktualität nichts verloren hat. Die Innere Führung ist die Grundlage für den militärischen Dienst und für das Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. Sie bindet die Soldatinnen und Soldaten an das Grundgesetz und findet ihre Ausprägung unter anderem in der Integration in Staat und Gesellschaft, im Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ und im Prinzip „Führen mit Auftrag“. Aus ihren Zielen ergeben sich unmittelbar Anforderungen an militärische Vorgesetzte, u.a.: Vorgesetzte wecken, erhalten und vertiefen Verantwortungsbewusstsein und innere Bereitschaft zur Mitarbeit. 56 Vgl. www.vuca-welt.de, aufgerufen am 06.01.2023. <?page no="39"?> 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit 39 Sie sind sich bewusst, dass sich der Dienst an den Erfordernissen des Einsatzes orientieren muss. Sie wenden das Prinzip „Führen mit Auftrag“ an. Sie beziehen Ausbildung und Erziehung sinnvoll auf die Aufgaben der Soldatinnen und Soldaten und fördern dabei deren Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Sie berücksichtigen bei allen Entscheidungen berechtigte Belange und Bedürfnisse ihrer Untergebenen. Sie sind für den Wandel in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Technik offen und berücksichtigen ihn in ihrem Führungsverhalten. Sie machen den Sinn des Auftrages der Bundeswehr sowie Sinn und Notwendigkeit der jeweils gestellten Aufgabe einsichtig und verständlich. 57 Die beispielhafte Aufzählung der Anforderungen an Vorgesetzte macht deutlich, dass diese Werten, Prinzipien und Grundsätzen verpflichtet sind, die helfen, in einem volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeld zu bestehen - ausweislich dessen, was in den verschiedenen, bereits zitierten Beiträgen gefordert wird, um in VUCA-Situationen angemessen führen zu können. Zurück zur Ausgangsfrage: Welche Anforderungen sind an „Führung“ in einer volatilen, komplexen, unsicheren Welt zu stellen? Was sind Rezepte für gute Führung unter VUCA-Bedingungen? Mit den bisherigen Ausführungen sollte deutlich gemacht werden, dass viele Ratschläge und Hinweise für gute Führung in VUCA-Situationen, die von Unternehmensberatern und Wissenschaftlern gegeben werden, sich in militärischen Führungsphilosophien und Führungsmethoden wiederfinden, wenn auch naturgemäß oft mit anderen Worten, oder sogar im militärischen Bereich ihren Ursprung haben. Bei näherer Betrachtung ist dies nicht überraschend. Clausewitz hat dies in seinem berühmten Buch „Vom Kriege“ an verschiedenen Stellen auf den Punkt gebracht: „Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte einer ziemlichen Ungewissheit unterworfen. Was man hier vom Offizier fordern kann, ist ein gewisses Unterscheiden, was nur Sach- und Menschenkenntnis und Urteil geben können. Das Gesetz des Wahrscheinlichen muss ihn leiten. Diese Schwierigkeit ist nicht unbedeutend bei den ersten Entwürfen, die auf dem Zimmer und noch außer der eigentlichen Kriegssphäre gemacht werden, aber unendlich größer ist sie da, wo im Getümmel des Krieges selbst eine Nachricht die andere drängt; ein Glück noch, wenn sie, einander widersprechend, ein gewisses Gleichgewicht erzeugen und die Kritik selbst herausfordern. Viel schlimmer für den Nichtgeprüften, wenn ihm der Zufall diesen Dienst nicht erweist, sondern eine Nachricht die andere 57 ZDv A-2600/ 1, Innere Führung Selbstverständnis und Führungskultur, Ziffer 403. <?page no="40"?> 40 1 Alles VUCA oder was? ‒ Führung in einer Welt von Unsicherheit unterstützt, bestätigt, vergrößert, das Bild mit immer neuen Farben ausmalt, bis die Notwendigkeit uns in fliegender Eile den Entschluss abgedrängt hat, der - bald als Torheit erkannt wird, so wie alle jene Nachrichten, als Lügen, Übertreibungen, Irrtümer usw. Mit kurzen Worten: die meisten Nachrichten sind falsch.“ 58 Und an anderer Stelle: „Es fehlt also nur noch der Zufall, um ihn zum Spiel zu machen, und dessen entbehrt er am wenigsten. Wir sehen hieraus, wie sehr die objektive Natur des Krieges ihn zu einem Wahrscheinlichkeitskalkül macht; nun bedarf es nur noch eines einzigen Elementes, um ihn zum Spiel zu machen, und dieses Elementes entbehrt er gewiss nicht: es ist der Zufall. Es gibt keine menschliche Tätigkeit, welche mit dem Zufall so beständig und so allgemein in Berührung stände als der Krieg.“ 59 Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass militärische Auseinandersetzungen seit langem unter Bedingungen stattfinden, die heute mit VUCA beschrieben werden. Offiziere sind geschult, in einem komplexen, sich schnell ändernden Umfeld mit widersprüchlichen und unvollständigen Informationen Entscheidungen zu treffen. Dies gilt sowohl bei plötzlichen Lageänderungen, die unmittelbares Handeln erfordern, also auf der taktischen Ebene, als auch bei der Planung von Operationen bis hin zu Planungen auf einer strategischen Ebene. Es lohnt also, sich mit militärischen Führungsmethoden und Führungsphilosophien zu beschäftigen, wenn man eine Antwort auf die Frage finden will, wie gute Führung in einer VUCA-Umgebung aussehen muss und wie man unter solchen Bedingungen unter Begrenzung des Risikos zu ausgewogenen Entscheidungen kommt. Denn: Militärische Führungsmethoden und Führungsphilosophien sind - mit Anpassungen - auf unternehmerische Entscheidungssituationen sehr gut übertragbar! 58 Clausewitz, C. v.: Vom Kriege: Vollständige Ausgabe (German Edition). BoD. Kindle- Version, S. 75. 59 Ebenda, S. 36. <?page no="41"?> 2 Management und Führung: Ein entscheidender Unterschied Um die Philosophie des vorliegenden Buches in sich aufnehmen und in Bezug auf andere und sich selbst die richtigen Schlüsse ziehen zu können, erscheint es uns unabdingbar, ein paar Worte zur Abgrenzung von Führung zum Management zu Papier zu bringen. Dabei setzen wir den amerikanischen Begriff „Leadership“ mit dem deutschen Terminus „Führung“ gleich. Während dieses Thema in der Literatur mitunter sehr dezidiert analysiert wird, wollen wir uns an dieser Stelle auf das aus unserer Sicht Wesentliche beschränken. 60 Im Alltag ist zu beobachten, dass bereits einfache Tätigkeiten dem Ausführenden das Attribut „Manager“ zuteilwerden lassen. Bekanntestes Beispiel dürfte der „Facility-Manager“, also der Hausmeister sein. Gleichzeitig wird im Zusammenhang mit Lenkern großer und größter Unternehmen von „Top-Managern“ gesprochen. Dass hier bei der Verwendung des Begriffs etwas nicht ganz passend scheint, ist offenkundig. Oder vielleicht doch nicht? Was nicht von der Hand zu weisen sein dürfte ist, dass in Deutschland historisch bedingt das Wort „Führer“ eher vermieden wird. Was dazu geführt haben könnte, dass unter der Begrifflichkeit Management beide Attribute eine Vermischung erfahren haben, während im anglo-amerikanischen Sprachraum zwischen Leadership und Management unterschieden wird. Obwohl der Hausmeister durchaus Dinge „managt“, wird er wohl kaum ein Führer im hier verstandenen Sinne sein, während der CEO eines großen Unternehmens unbestrittenen ebenfalls „managt“ und unbedingt ein Führer sein muss. Fragen tauchen aber auch auf, wenn es um den Begriff „Führer“ und das damit verbundene Verständnis geht. Im militärischen Sprachgebrauch ist derjenige militärischer Führer, der oder die eine Vorgesetztenfunktion ausübt. Egal, ob im Rang eines Unteroffiziers oder im höchsten Dienstgrad als Viersternegeneral. Ist somit jeder, der Personalverantwortung trägt, automatisch ein „Führer“? Oder kann er auch (nur) Manager sein; oder beides? Es drängt sich daher bei der Beschäftigung mit dem Thema zwangsläufig die Frage auf, worin die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden „Typen“ bestehen und in der Folge danach, was dies für die Entwicklung hin zur Führungspersönlichkeit, wie wir uns diese in Unternehmen und anderen Organisationen wünschen, bedeutet. Diese Abgrenzung ist aus unserer Sicht sehr bedeutsam. Es geht nämlich darum, zum einen die Sensibilität dafür zu erzeugen, über was eigentlich gesprochen wird, wenn die Begriffe Manager, Führer oder Führungskraft auftauchen, da die Anforderungsprofile unseres Erachtens deutlich divergieren. Und zum anderen muss zwingend klar sein, dass, wenn ich eine Führungspersönlich- 60 Einen Einblick, wie man sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen kann, bietet Böhmer, M.: Die Form(en) von Führung, Leadership und Management. Eine differenztheoretische Explizierung, Diss., Heidelberg 2014. <?page no="42"?> 42 2 Management und Führung: Ein entscheidender Unterschied keit sein will, das Verständnis in Fleisch und Blut übergegangen sein muss, was dies konkret bedeutet. In diesem Kontext kann dann auch die Aussage im einleitenden Kapitel zu diesem Buch „Im Ergebnis werden maximal Manager, aber keine Führungskräfte herangebildet “, verstanden werden. Dem amerikanischen Autor Stephen R. Covey wird der Ausspruch zugeschrieben „Management macht die Dinge richtig; Führung macht die richtigen Dinge“ . 61 Gleichzeitig meint der amerikanische Managementtheoretiker Peter F. Drucker „Es ist wichtiger, das Richtige zu tun, als etwas richtig zu tun.“ 62 Wer frei nach dem Motto „wir haben uns zwar verirrt, kommen aber gut voran“ agiert, erreicht auch ein Ziel. Nur mit hoher Wahrscheinlichkeit das falsche. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass es keinen Sinn ergibt, etwas richtig zu machen, wenn es das Falsche ist, was man tut. „Das Richtige tun“ ist nichts Anderes als Effektivität, es richtig zu tun, meint Effizienz. Und effizient das Falsche zu machen ist folglich sinnlos, weil nicht effektiv. Drucker schreibt hierzu: „Für Handarbeit, also Aufgaben zu erledigen, ist Effizienz der Schlüssel für das Management. Für Wissensarbeiter ist Effektivität, also die Fähigkeit, das Richtige zu tun, das Maß der Dinge. Anstatt nur einen Job zu tun, muss ein Wissensarbeiter entscheiden, welche Aufgaben er erledigt.“ 63 Aus diesen Sichtweisen erschließt sich, dass Führung gegenüber Management die deutlich intellektuellere und damit höherwertigere Aufgabe darstellt. Management kümmert sich um den Workflow, versucht, Erträge und Kosten zur Verbesserung des Ergebnisses zu optimieren und hält damit die Organisation als solche im Tagesgeschäft am Laufen. Führung setzt die Prioritäten, stellt die notwendigen Ressourcen zur Verfügung und gibt der Organisation die Gesamtrichtung vor, versorgt sie mit einer verbindenden Philosophie, denkt und handelt strategisch und visionär. Kurzum: Führung definiert das, was richtig, was effektiv ist. Und beauftragt das Management, es effizient umzusetzen. Damit ist auch definiert, worauf der Fokus einer jeden Führungspersönlichkeit zu liegen hat: auf den richtigen Dingen! Damit die Dinge richtiggemacht werden, gibt es das Delegieren! In Seminaren ebenso wie in der Beratung wird regelmäßig darüber geklagt, dass man vor lauter Tagesgeschäft nicht dazu komme, sich den unternehmerischen Tätigkeiten zu widmen und das Privatleben deutlich zu kurz kommt oder fast gar nicht mehr stattfindet. Man erlebt nicht selten wirtschaftlich erfolgreiche, aber 61 Quelle: https: / / beruhmte-zitate.de/ zitate/ 2061975-stephen-r-covey-managementmacht-die-dinge-richtig-fuhrung-macht/ , aufgerufen am 05.02.2021. 62 Quelle: https: / / fuehrungskompendium.fandom.com/ de/ wiki/ Peter_F._Drucker_Zitate, aufgerufen am 02.02.2021. 63 Zitiert nach Haas Edersheim, E.: Peter F. Drucker, Alles über Management, Heidelberg 2007, S. 187. <?page no="43"?> 2 Management und Führung: Ein entscheidender Unterschied 43 mitunter verzweifelte Menschen, die nicht wissen, wozu sie all das tun, was sie tun. Diese Personen führen nicht, sondern managen und sind im Kern nichts Anderes als ihr eigener Angestellter. Der häufig gehörte Rat „arbeite am Unternehmen und nicht im Unternehmen“, zielt genau hierauf ab. Die Ursache der Unzufriedenheit ist daher einfach zu finden, aber nur schwer zu beheben, da sie in das Innerste einer Persönlichkeit eingreift. Als Lösungsvorschlag dient in einem ersten Schritt, all das, was man tut, aber nicht tun möchte oder nicht tun sollte, auf einem Blatt Papier niederzuschreiben. Um dann, im Schritt zwei, die auf dem Blatt gesammelten Aufgaben Personen zu übertragen, die dies gern tun. Dies hört sich einfach an, ist es aber nicht. Denn dazu sind Gewohnheiten und Einstellungen zu hinterfragen und an den Stellen, wo Vorstellung und Realität nicht zueinander passen, konsequent zu ändern. Die einfache Frage: „Muss ich das selbst machen oder gibt es jemanden, dem ich die Aufgabe übertragen kann“, ist sehr hilfreich. Die Ausrede, „bis ich das erklärt habe, habe ich es selbst gemacht“, friert den Status quo ein und hilft somit nicht weiter. Da es aber offensichtlich sehr schwer ist, aus dem „Managementstrudel“ herauszukommen, muss die Frage gestellt werden, ob dies den meisten Betroffenen überhaupt gelingen kann? Denn bei genauer Betrachtung gibt es in jeder Organisation mitunter zahlreiche Manager, aber, wenn überhaupt, sehr wenige oder tatsächlich nur einen Führer! Unzweifelhaft sind die meisten Führer auch gute Manager und die Überschneidungen der beiden Bereiche sind fließend; wie einer wabernden Masse ständigen Veränderungen unterworfen. Zwingend ist dies allerdings nicht. Ein guter Führer muss kein guter Manager sein. Um seine Ziele zu erreichen ist es ausreichend, wenn er über gute Manager verfügt und es versteht, diese richtig einzusetzen. Nichtsdestotrotz sind bei einem Führer Managementqualitäten häufig anzutreffen. Umgekehrt gilt dies ganz und gar nicht. Wobei diese Aussagen nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass gute Führungskräfte beide Felder beherrschen sollten: führen und managen! Zusammenfassend besteht der Unterschied zwischen Manager und Führer also darin, dass der Manager plant und organisiert, budgetiert und Stellen besetzt. Er gestaltet den Arbeitsprozess, erzeugt die notwendige Ordnung und sorgt für Stabilität. Kurzum: er löst die täglichen Probleme! Der Führer oder Leader hingegen mag unter Umständen all dies auch tun, muss es aber, wie ausgeführt, nicht zwingend. Wobei es die hundertprozentige Trennschärfe zwischen beiden in der Praxis wohl niemals geben wird und auch gar nicht wünschenswert ist. Die wesentliche Leistung der Führungspersönlichkeit gegenüber dem Manager besteht darin, dass er die Richtung vorgibt. Er verantwortet als Visionär die Philosophie der Organisation und sorgt für den notwendigen Wandel als Folge langfristiger Entwicklungen. „Der fundamentale Zweck von Management ist, das Funktionieren eines laufenden Systems zu gewährleisten, der fundamentale Zweck von Führung, nützliche <?page no="44"?> 44 2 Management und Führung: Ein entscheidender Unterschied Veränderungen zu produzieren. Führung läuft über Menschen und Kultur, Management über Hierarchien und Systeme. Führung ist mehr informell und emotional, Management ist „härter“ und „kühler““. 64 Genau hier liegt das definitorische Problem. Wenn etwas informell und emotional, über Kultur läuft, dann entzieht sich dies einer Stellenbeschreibung. Das, was eine Persönlichkeit hierfür braucht, lässt sich nicht als „to-do“ formulieren. Es ist dem jeweiligen Menschen in seiner Einzigartigkeit gegeben oder nicht. Die Führungspersönlichkeit, die das liest, weiß genau, von was hier die Rede ist. Sie erkennt auch im alltäglichen Sein, wer das Eine oder das Andere ist. Der Manager ebenso wie viele andere Personen meinen auch zu verstehen, was auf den vorherigen Seiten geschrieben steht und manch eine oder einer verstehen es auch tatsächlich. Definitiv fällt es den meisten im Organisationsalltag jedoch sehr schwer zu unterscheiden, was Führung und was Management ist. Mehr als Manager zu sein, ist hohe Kunst! Eine aus unserer Sicht gelungene Gegenüberstellung der Merkmale von Managern und Führern bietet die nachfolgende Übersicht, entnommen aus dem Buch „Führen und führen lassen“ von Bernd Blessin und Alexander Wick: 65 Abb. 3 64 Sarges, W.: Management und Führung: Die Unterschiede, S. 1, bereitgestellt als Download unter http: / / www.sarges-partner.de/ publikationen.php, aufgerufen am 11.02.2021 65 Blessin, B./ Wick, A.: Führen und führen lassen, 8. Aufl., Konstanz und München 2017, S. 116 f. <?page no="45"?> 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten Im ersten Kapitel haben wir geschrieben, „dass die militärischen Führer ausgebildet werden, in einer von Unsicherheit und Komplexität gekennzeichneten Extremsituation den Führungsprozess als solchen intuitiv abrufen zu können, um in angemessener Zeit die richtige Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung selbst ist dann in der Folge eben gerade keine intuitive, sondern eine auf rationaler Basis getroffene.“ Verbunden ist damit der Anspruch dieses Buches, Entscheidern ein Instrumentarium an die Hand zu geben, zukünftig bessere Entscheidungen zu treffen. Damit dies gelingen kann, bedarf die aus der Einleitung zitierte Aussage daher unseres Erachtens zum Verständnis einiger Erläuterungen und Hinweise, insbesondere in Bezug auf die Schlüsselbegriffe Intuition und Rationalität. Einer der Autoren dieses Buches hat zu diesem Thema lange geforscht und seine Sicht der Dinge in dem Buch „Töte den Mammutjäger in Dir. Wie Geld Dein Hirn vernebelt und was Du dagegen tun kannst “ 66 in einem populärwissenschaftlichen Format zusammengefasst. Das Buch behandelt die Art und Weise, wie wir zu Entscheidungen gelangen, dargestellt am Beispiel von Investitionsentscheidungen. Darin wird aufgezeigt, dass die Begriffe Rationalität und Intuition und somit das Wesen unserer Denkstrukturen unbedingt verstanden werden sollten, damit die Qualität von Entscheidungen verbessert werden kann. Gleichzeitig weist er auf die Wichtigkeit von Systemen und Instrumenten hin, die der Verbesserung der Qualität von Entscheidungen dienen. Das Buch schließt mit den Worten: „Nüchtern betrachtet müssen wir in der heutigen Welt gegen unsere eigene Natur handeln, um besser zu handeln, als es uns von Gott gegeben ist. Eine spannende Herausforderung …“ 67 Warum dies so ist, sollen die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen, die verkürzt aus „ Töte den Mammutjäger in Dir “ entnommen sind. 68 Das Ziel besteht darin dem Leser, also Ihnen, sofern die Problematik nicht bereits geläufig ist - dann kann das Kapitel getrost übersprungen werden -, näher zu bringen, wo unsere Schwächen in Entscheidungsprozessen liegen und warum es so wichtig ist, Methoden anzuwenden, die uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. Beginnen wir zunächst mit der Rationalität, um dann das Thema Intuition etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. 66 Benzel, W.: Töte den Mammutjäger in Dir. Wie Geld Dein Hirn vernebelt und was Du dagegen tun kannst., Oberbrombach 2015. 67 Ebenda S. 202. 68 Ebenda S. 79 ff. und 121 ff. <?page no="46"?> 46 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten 3.1 Rationalität: Basis unseres Handelns? Wir Menschen halten uns für vernunftbegabte, also rationale Wesen und versuchen oft zwanghaft, bereits den kaum den Windeln entwachsenen Nachwuchs zu vernünftigem Handeln anzuhalten. Den Satz „sei doch vernünftig“ hat wohl schon jeder von uns gehört und wahrscheinlich auch schon das ein oder andere Mal gesagt. Was als vernünftig gilt, definiert jedoch der Erziehende. Aber warum soll es beispielsweise für ein nach Bewegung strebendes Kind vernünftig sein, still zu sitzen, weil es der sich nach Ruhe sehnende Großvater so wünscht? Oder aus welchem Grund soll es für einen jungen Menschen vernünftig sein, auf Anraten der Mutter Beamter zu werden, weil es Vater und Großvater auch waren und sie damit Positives verbindet? Vernunft und folglich Rationalität hat leicht erkennbar etwas mit der Durchsetzung eigener Interessen zu tun. Und je weniger zwei oder mehr Parteien gleiche Interessen haben, umso unvernünftiger erscheint je nach Perspektive das Handeln des jeweils anderen. Nicht selten endet dies im Streit. Vernunft und was als vernünftig gilt ist nur situativ und von der jeweiligen Perspektive abhängig zu beantworten. Damit jeder alles gleich vernünftig ansehen würde, wäre eine Welt der vollkommenen Information, in der also alle Menschen über den absolut gleichen und vollumfassenden Informationsstand verfügen, erforderlich. Die Folge wären zumindest in der Theorie in jeder Hinsicht gleiche Interessen und somit die stets vorhandene Übereinstimmung darüber, was vernünftig ist oder nicht. Die Volkswirtschaftslehre unterstellt in bestimmten Modellen das Vorhandensein vollkommener Information. Hier kennen alle Wirtschaftssubjekte das Angebot und die Preise der anderen Wirtschaftssubjekte. Unterstellt wird eine vollständige Markttransparenz, wie sie mit der Realität wenig gemein hat. Gleiches gilt für die Vernunft des Menschen. Es ist unbestritten, dass wir abwägen und oft in hohem Maße systematisch versuchen, die beste Alternative zur Lösung eines Problems zu wählen. Allerdings zeigt allein die Vielzahl an Fehlentscheidungen, die jeder von uns im Laufe seines Lebens trifft, wo die Grenzen des vermeintlich vernunftbegabten Wesens liegen. Die Menschheit per se und in toto bleibt zudem nach wie vor den Beweis schuldig, vernünftig zu sein und zu handeln. Was vernünftig ist, entscheidet jedes Individuum für sich selbst, abhängig von der sich stets ändern könnenden Situation und der jeweiligen Perspektive. Haben mehrere Individuen gleiche Interessen, bilden sich Gruppen bis hin zu Staaten und Staatengemeinschaften. Der Kitt, der all die kleineren und größeren Gruppierungen zusammenhält, sind die gleichen Interessen. Ändern sich diese oder fallen ganz weg, lösen sich die Gruppen auf. In den Wirtschaftswissenschaften war der „homo oeconomicus“ über viele Jahrzehnte hinweg die Grundlage der Gedankenmodelle. Ein uneingeschränkt rational agierendes Wesen, das stets die Maximierung seines eigenen Nutzens anstrebt. Eine idealtypische Vorstellung, wie sie im Alltag kaum zu beobachten sein wird. <?page no="47"?> 3.1 Rationalität: Basis unseres Handelns? 47 Denn wenn es so wäre, dass der Mensch stets rational agieren würde, dann käme sein Verhalten dem eines Computers mit einer fehlerfreien Software gleich. 69 Und immer dann, wenn Fehler am System auftreten, würde ein Update ausreichen, um alles wieder ins Lot zu bringen. Doch so einfach ist es nicht. Es ist der Mensch selbst, der für die täglichen Probleme verantwortlich ist, weil er eben nicht dem Musterbild des homo oeconomicus entspricht. Oder, wie es Beck ausdrückt: der Mensch ist vernunftbegabt, aber nicht immer vernünftig. Dies ist so, weil wir eben keine Computer sind, nicht unbegrenzt Informationen aufnehmen und verarbeiten können und auch nicht alle möglichen Alternativen gegeneinander abwägen können mit dem Ergebnis der Auswahl der besten Alternative. Und natürlich, weil wir emotional sind. Der Zustand des frischen Verliebtseins ist ein gutes Beispiel dafür, wie Hormone das Kommando übernehmen und den Verstand ausschalten. Zur Darstellung dafür, dass unsere Fähigkeit zur Erfassung und Verarbeitung von Informationen eher bescheiden ist, kann das simple Spiel „stille Post“ dienen. Das, was am Ende der Kette aus der ursprünglichen Information geworden ist, hat mit dieser oft nichts mehr zu tun. Unsere Unfähigkeit, Informationen korrekt aufzunehmen und weiterzugeben verbunden mit dem oft zu beobachtenden Verhalten, dass das aus einer Information herausgefiltert wird, was die betreffende Person „hören“ möchte, führt zu vollkommen falschen Informationsweitergaben. Wenn dann noch bedacht wird, dass bei Sprache der jeweilige Tonfall einer Aussage interpretiert und mit dem Gesagten in Verbindung gebracht wird sowie oftmals manch Neues hinzugefügt oder Wichtiges weggelassen wird, dann ist schnell klar, wie Gerüchte oder Fehlinformationen die Runde machen können, die mit der ursprünglichen Information nichts mehr gemein haben. Und demzufolge gleichzeitig auch rationales Handeln bei dem Aufnehmenden quasi unmöglich gemacht wird, da bereits die Informationsgrundlagen hierzu fehlen. Selbst dann, wenn eine Person ein maximal rationales Verhalten an den Tag legt, ist die Wahrscheinlichkeit für ein rationales Ergebnis gering, wenn die Informationen, die dem Prozess der Abwägung zu Grunde liegen, unvollständig oder falsch sind. In Ihrem Kopf laufen jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit Bilder ab von Personen und/ oder Situationen mit bestätigenden Botschaften nach dem Motto: „Habe ich ja schon immer gewusst, dass der Chef oder der Nachbar oder wer auch immer die Dinge falsch wiedergeben.“ Diese Denkweise sollten Sie tunlichst vermeiden. Prüfen Sie stattdessen das eigene Verhalten. Nur dort können Sie etwas bewegen! Sehr aufschlussreich und auch ein wenig zum Schmunzeln anregend sind die Ausführungen von Daniel Kahneman zum Homo Oeconomicus. 70 Er beschreibt, wie er in einem Aufsatz des Schweizer Ökonomen Bruno Frey den Satz las: „Der Agent der volkswirtschaftlichen Theorie ist rational, egoistisch, und seine Präferenzen verändern sich nicht“, worüber er sehr erstaunt war. Kahneman wunderte sich darüber, wie deutlich unterschiedlich die intellektuellen Welten der Wirtschafts- 69 Vgl. hierzu und im Folgenden Beck, H.: Die Logik des Irrtums, Frankfurt 2008, S. 7 ff. 70 Vgl. hierzu und den folgenden Ausführungen Kahneman, D.: Schnelles Denken, langsames Denken, München, 2012, S. 331 ff. <?page no="48"?> 48 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten wissenschaftler, die in geringer Entfernung nur ein Gebäude nebenan arbeiteten, zu denen der Psychologen waren. Denn für die Psychologen war stets klar, dass Menschen weder vollkommen rational noch absolut egoistisch bei gleichzeitiger Stabilität der Präferenzen sind. Er hatte den Eindruck, dass beide Disziplinen unterschiedliche Spezies erforschten. Die Unfähigkeit des Menschen, Informationen vollumfänglich aufzunehmen und nüchtern wiederzugeben ist es, die stets dann, wenn ein bestimmtes Interesse verfolgt wird, typischerweise verstärkt in Verkaufsgesprächen, versucht wird auszunutzen, um das Gegenüber zu manipulieren. Es dürfte dabei so sein, dass der Verkäufer selbst sich diesen Mechanismen oft nicht bewusst ist, da er selbst bereits entsprechend manipuliert wurde. Hilfreich sind bei jeder „Überzeugungsarbeit“, und zwar ohne, dass wir selbst uns dessen bewusst sind, erstaunlicherweise die Schwächen unserer Wahrnehmung. Unsere Wahrnehmungsschwächen unterstützen beispielsweise jeden Verkäufer in dem Moment, indem dem potenziellen Kunden eine vermeintlich plausible Geschichte präsentiert wird. Linden beschreibt sehr anschaulich, was hier passiert. 71 Er sagt, dass unsere Sinne keine vertrauenswürdigen und seriösen Berichterstatter sind. Sie sind schlichtweg nicht dafür konstruiert, uns ein „richtiges“ Bild unserer Umwelt zu geben. Vielmehr sei es so, dass über die vielen Millionen Jahre der Entwicklung hinweg unsere Sinne nur bestimmte Merkmale und Aspekte wahrnehmen oder durch Übertreibung gar in den Vordergrund bringen, während anderes völlig ignoriert wird. Danach werden die vermeintlichen Wahrnehmungen mit Emotionen vermischt, damit eine klare und widerspruchsfreie Geschichte zustande kommt. Die intensive Konzentration auf bestimmte Dinge macht uns blind für bestimmte Stimuli. In dem Buch „ Der unsichtbare Gorilla “ von Christopher Chabris und Daniel Simons stellen diese ein im Ergebnis spektakuläres Phänomen dar. 72 Sie produzierten einen Kurzfilm, in dem zwei Mannschaften, die eine in weißem, die andere in schwarzem Dress, zu sehen sind, die sich Basketbälle zuspielen. Bevor der Film abgespielt wird, erhält der Zuschauer die Aufforderung, die Anzahl der Pässe zu zählen, die sich das weiße Team zuspielt. Die schwarzen Spieler sollen ignoriert werden. Inmitten der Filmsequenz tanzt dann eine als schwarzer Gorilla verkleidete Person durch das Bild, die insgesamt neun Sekunden lang zu sehen ist. Das Erstaunliche dabei: obwohl der Gorilla sehr präsent im Bild ist, fällt er etwa der Hälfte der Leute, die den Film sehen, gar nicht auf. Die Konzentration auf die Aufgabe ist so hoch, dass andere, sehr dominante Sequenzen, nicht mehr wahrgenommen werden. Würde die Aufgabe nicht gestellt und der Betrachter einfach nur das Spiel anschauen, würde er den Gorilla ohne Probleme wahrnehmen. Kahneman folgert daraus, dass wir gegenüber Offensichtlichkeiten blind sein können. Und weiter: Da diejenigen, die den Gorilla übersehen haben, sich meist auch nicht 71 Vgl. Linden, D.J.: Das Gehirn. Ein Unfall der Natur, Reinbeck 2010, S. 97. 72 Vgl. Chabris, Chr./ Simons, D.: Der unsichtbare Gorilla. Wie unser Gehirn sich täuschen lässt, 3. Aufl., München 2013, S. 16 ff. <?page no="49"?> 3.1 Rationalität: Basis unseres Handelns? 49 vorstellen können, dass sie ihn tatsächlich übersehen haben, sind wir auch noch blind für unsere Blindheit. 73 Deutlich praxisnäher als übersehene Gorillas, die einem ja nicht gerade jeden Tag über den Weg laufen, sind die zahlreichen übersehenen Motorräder oder Fahrradfahrer. Hier denken wir auch nur allzu oft, dass wir sie übersehen haben, weil sie sich beispielsweise gerade in einem toten Winkel befanden. Doch auch hier gilt häufig: Wir haben sie gesehen, aber nicht wahrgenommen, weil wir sie nicht erwartet haben. Gerade im Bereich unternehmerischer Entscheidungen werden die beschriebenen Phänomene und die damit verbundene Unsicherheit, ob das, was wir als Ziel definieren, auch wirklich eintritt, besonders deutlich. Niemand kann garantieren, dass beispielsweise eine Geschäftsidee auch wirklich funktioniert. Wer gut vorbereitet und alle erkennbaren Vor- und Nachteile vor dem Schritt in die Selbständigkeit abwägt, reduziert damit bestimmt sein Risiko. Aber auch dann ist der Erfolg nicht garantiert. Und die Ursache ist vor dem Hintergrund dessen, was bislang beschrieben wurde, einfach zu erkennen: es lagen nicht alle Informationen vor und/ oder die gezogenen Schlussfolgerungen waren nicht korrekt. Und das ist nichts Unrühmliches. Denn damit alle Informationen vorliegen können, müssten auch zukünftige Ereignisse bereits heute bekannt sein. Und diese Fähigkeit wird nur Propheten zugesprochen. Ein plakatives und daher gut nachzuempfindendes Beispiel wenig rationalen Verhaltens beschreiben Kahneman und Tversky: 74 Stellen Sie sich vor, für ein Theaterstück haben Sie bereits das Ticket gekauft, das 10 Euro gekostet hat. An der Abendkasse stellen Sie fest, dass das Ticket verloren wurde. Würden Sie sich in einer solchen Situation ein neues Ticket kaufen? Die Untersuchungen von Kahneman und Tversky ergaben, dass 46% der 200 Probanden sich für, die Mehrheit von 54% aber gegen einen erneuten Ticketkauf entschieden. Ganz anders sieht es dagegen aus, wenn Sie sich vorstellen, das Ticket erst an der Abendkasse zu kaufen und dort feststellen, dass Sie 10 Euro verloren haben. In diesem Fall würden 88% das Ticket trotzdem kaufen. Nur 12% entschieden sich dagegen. Obwohl in beiden Fällen der gleiche Verlust von 10 Euro eingetreten ist, wirkt der Verlust des bereits erworbenen Tickets offenbar stärker als der Verlust des Geldscheins. Objektiv betrachtet ist das Untersuchungsergebnis nicht rational. Oder anders: es ist ein Irrglaube, dass der Mensch rational handelt. Und diese Erkenntnis ist wichtig: der beschriebene Mensch sind Sie, ich, wir alle. Vielleicht meinen wir, rational zu handeln. Tatsächlich tun wir es in vielen Situationen nicht. Oft ist zu beobachten, dass wir nach einer von außen betrachtet irrationalen Entscheidung anschließend die Gründe beschreiben, warum die Entscheidung rational ist. 73 Vgl. Kahneman, D.: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 37. 74 Dieses und weitere Beispiele finden sich in Kahneman, D./ Tversky, A.: Choices, Values, and Frames, in: Kahneman, D./ Tversky, A. (Hrsg.): Choices, Values, and Frames, 2000, S. 1 ff. <?page no="50"?> 50 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten Hier kann der Kauf eines Autos ein gutes, nachvollziehbares Exempel bieten. Heute ist der zwar alte, aber voll funktionstüchtige fahrbare Untersatz optimal für uns geeignet. Klar, er sieht nicht mehr so ganz taufrisch aus, ist nicht mit allen neuzeitlichen Finessen ausgestattet etc., aber dafür ist er bezahlt, braucht nicht so viel Sprit und der Unterhalt ist günstig. Klare rationale Schlussfolgerung: Ich brauche kein anderes Fahrzeug. Mögen die anderen auch spotten, mir macht das nichts aus. Der früher öfters zu sehende Aufkleber „Alt, aber bezahlt“ steht synonym für dieses Verhaltensmuster. Doch dann kommen vierzehn Tage später der sonnige Frühling und der Besuch einer Ausstellung, wo man sich ganz spontan in einen Neuwagen verguckt. Und die gestern noch so rational vorgetragenen Argumente pro Altfahrzeug lösen sich in Nichts auf. Denn bei genauer Betrachtung muss ja jetzt mit vermehrten Reparaturen gerechnet werden. Und die Sicherheitsstandards sind doch deutlich besser geworden. Und überhaupt, ein paar mehr an PS helfen schon in kniffligen Situationen, genau wie das Allradgetriebe im Winter. Und leisten kann man sich das ja auch schon irgendwie. Bei den günstigen Zinsen usw. usw. Kennen Sie solche Situationen? Mit Sicherheit tun Sie das. Es soll an dieser Stelle aufgezeigt werden, dass wir häufig versuchen, unser Verhalten nach einer Entscheidung als rational und vernünftig zu begründen; wie nach einer Entscheidung nach Gründen gesucht wird, wie wir gegenüber anderen und uns selbst die Rationalität unseres Handelns rechtfertigen wollen. Ein weiteres Beispiel für die Irrationalität des Handelns ist die Sache mit dem Bezugspunkt. So kommt es aus Sicht eines Verkäufers im Allgemeinen und eines Anlageberaters im Speziellen für seinen Verkaufserfolg ganz entscheidend darauf an, dass er um die Bedeutung der für sein Geschäft relevanten Bezugspunkte weiß und wie er die damit verbundenen menschlichen Schwächen zu seinen Gunsten ausnutzt. Oder umgekehrt: damit Sie sich nicht reinlegen lassen, sollten Sie über das Phänomen ebenfalls Bescheid wissen. Daher wird es nachfolgend erläutert. Ein einfaches Beispiel für die Bezugspunktthematik ist die Arbeitslosigkeit. Wenn die Meldung kommt, dass die Arbeitslosenquote von 5% auf 7% gestiegen ist, also um 40%, dann ist das eine dramatische Steigerung mit entsprechend negativer Beurteilung der Situation. Sofort werden Forderungen nach arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen laut und die Regierung massiv kritisiert. Der Bezugspunkt ist die Zahl 5; die 7 setzen wir dazu in Relation mit dem beschriebenen Ergebnis. Wenn die Meldung lauten würde, die Beschäftigungsquote ist von 95% auf 93% gesunken, dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Zwar ist der Informationsgehalt der Aussage absolut identisch. Aber ein Absinken von 95 auf 93 ist eben nur ein relativer Unterschied von knapp über 2%. Und da ein zweiprozentiges Absinken der Beschäftigung deutlich weniger bedrohlich klingt als ein Anstieg der Arbeitslosigkeit um 40%, sind wir deutlich weniger besorgt. Das laute Geschrei wird vermutlich ausbleiben, obwohl die mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit verbundenen Kosten gleich hoch sind. Die Maklerstrategie zeigt ebenfalls anschaulich auf, wie Bezugspunkte gesetzt werden. Zunächst wird dem Kunden das teuerste Haus gezeigt, das auch deutlich <?page no="51"?> 3.2 Intuition ‒ stets der beste Ratgeber? 51 über dem Budget des Kunden liegen kann. Der Makler rechnet gar nicht erst damit, dass der Kunde auf dieses Angebot eingeht, da es für den potenziellen Käufer ohnehin wissentlich deutlich zu teuer ist. Aber mit dem teuren Angebot hat der Makler natürlich den Bezugspunkt gesetzt. Alle folgenden Angebote werden deutlich unter dem Preis des ersten Hauses liegen, also die Bezugswerte deutlich unter dem Bezugspunkt. Damit erscheinen dem Kunden alle weiteren Angebote günstig, obwohl sie es tatsächlich vielleicht gar nicht sind. Ähnliches erleben sie beim Autokauf genauso wie beim Kauf eines Fernsehers etc. Das Fazit des ersten Teils unseres Exkurses sollte darin bestehen, dass wir akzeptieren, bei weitem nicht so rational zu agieren, wie wir meinen. Daraus muss zwingend abgeleitet werden, dass wir in den Entscheidungssituationen, in denen es geboten ist, Mechanismen beachten und Verfahren nutzen, die zu einer maximal rationalen Entscheidung führen. Damit noch deutlicher wird, wie wenig präzise wir in manchen Situationen unterwegs sind, betrachten wir im Folgenden das Thema Intuition etwas näher. 3.2 Intuition ‒ stets der beste Ratgeber? In zahlreichen Gesprächen zu Führungsprozessen erhält man auf die Frage, warum gerade die gewählte Alternative die richtige sei, oftmals die Antwort, dass die Entscheidung intuitiv gefallen sei. Der Bauch habe gesagt, wie die Dinge zu machen sind; lange Analyse- und Bewertungsprozesse seien da unnötig. Dieses Phänomen tritt in allen Lebensbereichen auf. In erschreckender Weise gerade auch bei wirtschaftlich weitreichenden Aufgabenstellungen oder politischen Themen von besonderer Bedeutung, bei denen es meist ebenfalls um viel Geld geht. Aber gerade dann, wenn die Entscheidung erhebliche und zum Teil auch existenzbedrohende Konsequenzen haben kann, was bei unternehmerischen Entscheidungen ja nicht selten vorkommt, darf die Intuition doch keine zufriedenstellende Begründung sein. Es sei denn, Intuition wäre hierfür das richtige Instrument. Doch ist sie das? Wer sich die Komplexität bestimmter Themen und die Schwierigkeit einer treffenden Analyse unter Einbeziehung der vielfältigsten Parameter anschaut, wird schnell feststellen, dass ein „gutes Bauchgefühl“ selten als alleiniges Argument ausreichend sein dürfte, um als Begründung einer weitreichenden Entscheidung angeführt zu werden. Das soll nicht heißen, dass der „Bauch“ nichts mitzureden hat und es Situationen gibt, in denen dies zu den richtigen Schlussfolgerungen führt. Es wäre nur wichtig zu wissen, was sich hinter diesem Mechanismus verbirgt. Denn nur so kann ich beurteilen, ob die Aussage des Bauchgefühls eine verlässliche Grundlage für eine Entscheidung darstellt. Nicht umsonst hat der Mensch in den verschiedensten Disziplinen Systeme und Instrumente geschaffen, emotionale, interessengeleitete Ergebnisse zu Gunsten objektiver zu vermeiden. Die Methodik des wissenschaftlichen Arbeitens, die Wissenschaft der Entscheidungstheorie selbst, in den Streitkräften das in diesem Buch als zentrales Element behandelte intensiv geübte Procedere der Beurteilung der <?page no="52"?> 52 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten Lage mit Entschluss und Begründung, und nicht zuletzt in der Managementlehre die Handlungsketten des operativen und strategischen Managements sind Beispiele hierfür. All diese Verfahren dienen ausschließlich dazu, unter Einbeziehung einer möglichst ausreichenden Informationsbasis die bestmögliche Entscheidungsalternative zu synthetisieren. Dennoch werden häufig die dazu erforderlichen Grundsätze missachtet. Und dies entweder, weil die Instrumente nicht stringent angewandt werden, oder aber einfach nur, weil die sich abzeichnenden Ergebnisse den Erwartungen des Entscheidungsträgers nicht entsprechen. Was zur Manipulation führt. Jeder kennt Beispiele hierzu aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und zahlreich auch aus der Historie, insbesondere der Militärgeschichte. Wider besseres Wissen oder „hätte besser wissen Könnens“ werden Entscheidungen getroffen, die zu fatalen Ergebnissen führen. Und das gilt natürlich ganz besonders auch für unternehmerische Entscheidungen. Doch damit wären wir bereits an der Darstellung der Lösung, wie die Unzulänglichkeiten unseres Denkorgans wenigstens teilweise ausgeschaltet werden können. An dieser Stelle soll jetzt aber nicht vorgegriffen werden. Was ist Intuition, auf welche Informationen meines Gehirns kann ich mich wirklich verlassen und was habe ich zu tun, damit ich mich nicht selbst reinlege sind die Fragen, die es zunächst noch zu beantworten gilt. Sehr häufig verlassen sich Menschen auf ihr Bauchgefühl, ohne zu wissen, was es damit auf sich hat. Was grundsätzlich nicht so schlimm ist. Denn wir wissen ja in den allermeisten Fällen nicht, warum wir Dinge so oder so tun und es funktioniert trotzdem. Die Natur hat es eingerichtet, dass unser Programm im Wesentlichen auf Überleben ausgerichtet ist, damit die Chance besteht, sich fortpflanzen zu können. In der Vergangenheit waren schnelle Reaktionen eben eher gefragt als zu langes Nachdenken. Doch auch die schnellen Reaktionen mussten zu richtigen Entscheidungen führen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll zu wissen, wie Intuition funktioniert, was die folgenden Beispiele verdeutlichen sollen. Diese sind sehr verbreitet und dem einen oder anderen Leser sicherlich nicht fremd. 75 Die Müller-Lyer-Illusion Während Sie diese Zeilen lesen, haben Sie, weil wir alle neugierig auf Kommendes sind und Bilder magische Anziehungskraft besitzen, wahrscheinlich bereits einen Blick auf die beiden nebenstehenden Linien geworfen. Ihre Intuition sagt Ihnen dabei blitzschnell, dass die untere Linie länger als die obere ist. Was definitiv nicht stimmt und durch Nachmessen leicht zu überprüfen ist. Beide Linien sind gleich lang! Das Interessante dabei: selbst wenn man um den Umstand weiß, dass beide Linien gleich lang sind, versucht die Intuition einem ständig einreden zu wollen, dass die untere Linie länger ist. Aber die Intuition liegt falsch! 75 Vgl. exemplarisch Zweig, J.: Gier, München 2007, S. 12 ff. oder Dobelli, R.: Die Kunst des klugen Handelns, München 2012, S. 53 ff. <?page no="53"?> 3.2 Intuition ‒ stets der beste Ratgeber? 53 Abb. 4 Die Nenner-Blindheit Dieses Experiment zielte darauf ab, dass die Probanden aus einer von zwei Schalen ein schwarzes Bonbon ziehen sollten. In der oberen Schale befanden sich 10% schwarze Bonbons, in der unteren nur 9%. Abb. 5 Knapp Zweidrittel der Testpersonen zogen intuitiv aus der unteren Schale, obwohl eine vergleichende Analyse des Inhaltes zu einem anderen Ergebnis führen würde. Selbst dann, wenn die untere Schale nur 5% schwarze Bonbons enthielt, zogen noch fast 25% aus dieser. Das Interessante: Selbst als die Probanden wussten, wie die relative Verteilung der Bonbons in den jeweiligen Schalen war und ihre Irrationalität offen eingestanden, wählten sie zu großen Teilen aus der unteren Schale. Intuition scheint eine sehr starke Macht mit teils fatalen Folgen zu sein. Das dahinterstehende Prinzip ist die so genannte Nennerblindheit. So erzielten Anleger in einem Laborversuch, bei der sie an einer fiktiven Börse investierten, deutlich höhere Gewinne, wenn sie sich auf die absoluten Kurse anstatt auf die Kursschwankungen konzentrierten. Und zwar 5 bis 10-mal so hohe Gewinne! Der Grund liegt darin, dass diejenigen, die die Kursschwankungen im Blick hatten, viel zu häufig kauften und verkauften. Dabei ist bei einer Anlage nicht entscheidend, wie sehr kurzfristige Kursänderungen variieren, sondern stets, wie hoch mein Gesamtvermögen ist. Und dieses wird negativ beeinflusst, je häufiger ich kaufe und verkaufe, da jedes Mal Gebühren anfallen. Warum der Vorgang Nenner-Blindheit heißt, verdeutlicht das folgende Beispiel: Der Erfolg einer Anlage wird durch den Bruch Gewinn oder Verlust geteilt durch Vermögen berechnet. Während der Zähler, der Gewinn oder Verlust, ständig schwankt, variiert der Nenner, mein Vermögen, deutlich langsamer. Wenn Sie bei- 10% schwarz 9% schwarz <?page no="54"?> 54 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten spielsweise ein Aktiendepot mit einem Wert von 100.000 Euro besitzen und dieses heute konstant bleibt, dann ist der Erfolg der Anlage heute 0, weil der Gewinn eben 0 ist. Wenn morgen der Kurs um 1.000 Euro steigt, dann ist der Erfolg in absoluten Zahlen bei 1.000, während das Gesamtvermögen kaum merklich auf 101.000 Euro steigt. Der Zähler macht also deutlich größere Sprünge und ist damit augenfälliger als die Veränderung des Vermögens im Nenner. Was wiederum dazu führt, dass dem Zähler mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, als ihm zusteht und beispielsweise die Entscheidung gefällt wird, das Depot umzuschichten. Was bei angenommenen 2% Kosten mit 2.000 Euro zu Buche schlägt und das Vermögen deutlich mehr schädigt als die Nichtumschichtung. Wir sind blind für den Nenner. Zahlenspielereien In einem Ratequiz mit mehreren Teilnehmern, bei dem die schnellste Antwort zählt, werden folgende Fragen gestellt: [1] In einem Schreibwarenladen kosten ein Briefblock und ein Bleistift zusammen 1,10 Euro. Der Block kostet 1 Euro mehr als der Stift. Wie teuer ist der Stift? Die intuitive Antwort? Seien Sie ehrlich, die meisten sagen spontan 10 Cent. Aber die Antwort ist falsch. Denn würde der Stift 10 Cent kosten und der Block 1 Euro mehr, dann müsste dieser 1,10 Euro kosten, so dass der Gesamtpreis 1,20 Euro betragen würde. Die richtige Antwort lautet 5 Cent, denn 5 Cent plus 1,05 Euro ergibt 1,10 Euro. Eine Fabrik stellt mit 5 Maschinen in 5 Minuten 5 Werkstücke her. Wie viel Zeit brauchen 100 Maschinen, um 100 Werkstücke herzustellen? Die intuitive Antwort? 100 Minuten! Was falsch ist. Die Fabrik braucht dazu auch nur 5 Minuten. Auf einem See wachsen seltene Seerosen, die sich so schnell verbreiten, dass sich die von ihnen bedeckte Fläche des Sees jeden Tag verdoppelt. Nach 48 Tagen ist der See vollständig bedeckt. Wie viele Tage hat es gedauert, bis der See zur Hälfte bedeckt war? Die intuitive Antwort? 24 Tage! Die richtige Antwort: 47 Tage! Die Botschaft, die mit den Beispielen verbunden sein soll, lautet: hinterfrage die Dinge! Auch die, die mit Selbstbewusstsein, plausibel klingend und zügig vorgetragen werden. Überwiegend intuitive Menschen hinterfragen deutlich weniger als die kritisch-rationalen, was auch bequemer ist und schneller geht. Nachdenken kostet Kraft und Zeit, zahlt sich in der heutigen Umwelt aber eher aus als unüberlegte Schnellschüsse. Dinge, die plausibel erscheinen, sind nicht zwingend wahr. Womit nicht ausgedrückt werden soll, dass Intuition das Gegenteil von Rationalität ist. Mitnichten. Während die Rationalität der Ebene des „bewussten Denkens“ zuzuordnen ist, steht Intuition für die Ebene des „unbewussten Denkens“. Ein einfaches und doch sehr plastisches Beispiel, bei dem Nachdenken angesagt sein sollte, ist das, was in einer Broschüre, in der die Einrichtung eines Nationalparks befürwortet wurde, zu lesen war. Dort stand, dass eine Nationalparkregion deutlich mehr Besucher anziehen würde als andere Regionen. Begründet wurde <?page no="55"?> 3.2 Intuition ‒ stets der beste Ratgeber? 55 diese Aussage damit, dass im Nationalpark Bayerischer Wald ein diesbezügliches Plus seit seiner Gründung 1970 bis 2008 von 75% zu verzeichnen wäre, während es in Restbayern nur 43% gewesen seien. 76 Auf den ersten Blick ein beeindruckendes Argument für die Bestätigung der These, allerdings hochgradig manipulativ und interessengeleitet. Denn auf den zweiten Blick ist das Zahlenbeispiel vollkommen untauglich, den touristischen Erfolg des Parks zu belegen. Entscheidend sind die Ausgangsbasis und die absolute Steigerung. Von 100.000 Besuchern pro Jahr auf 175.000 Besucher zu steigern (75% Steigerung) ist halt absolut gesehen bei weitem nicht so toll wie eine Steigerung von 2 Millionen auf 3 Millionen („nur“ 50% Steigerung), um ein einfaches Zahlenbeispiel zu bringen. Im Prospekt wird allerdings mit keinem Wort erwähnt, wie die absolute Besucherentwicklung aussieht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt … Nachdenken kann sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Gleichzeitig ist es jedoch im Wechselspiel so, dass dann, wenn man die Dinge grundsätzlich hinterfragt und sich hierdurch trainiert, konsequenterweise auch die Intuitionsfähigkeit davon profitiert. Denn es verbreitert sich die Wissens- und Erfahrungsbasis, was wiederum die Qualität der Intuition verbessern dürfte. Bei Finanzierungsanfragen im Zuge von Unternehmensgründungen vergleichen Banken die Businesspläne häufig mit Branchenvergleichen. Sind die Zahlen des Businessplans schlechter als der Branchendurchschnitt, wird die Finanzierungsanfrage oftmals genauso abgelehnt wie im Falle, dass die Zahlen über dem Durchschnitt liegen. Im ersten Fall mit der Begründung, dass mindestens der Durchschnitt der Branche erreicht werden müsse, alles andere ist schlechtes Unternehmertum. Im zweiten Fall, weil „deutlich zu ambitioniert und an der Realität vorbeigeplant ist“. Dabei bedeutet Durchschnitt bei einem Betriebsvergleich, dass es in der Praxis Unternehmen gibt, die schlechter als der statistisch ermittelte Wert und solche, die besser sind. Im Zweifel gibt es kein Unternehmen, das exakt dem Durchschnitt entspricht. Wenn man dann noch bedenkt, dass es ziemlich schwierig ist, Rechtsformunterschiede und strukturbedingte Unterschiede in einem Vergleich so zu neutralisieren, dass wirklich gleiches mit gleichem verglichen wird, dann wird das Dilemma offenkundig. Gerd Gigerenzer beschreibt in seinem Buch „Risiko“ ein anschauliches Beispiel dafür, wie fatal die falsche Interpretation von Statistik sein kann. 77 Anhand der „Pillenangst“ schildert er, wie in Großbritannien die Meldung, dass durch die Einnahme von Antibabypillen der 3. Generation das Thromboserisiko verdoppelt würde, es zu vollkommen falschen Reaktionen kam. Das Thromboserisiko stieg dieser Meldung zufolge um sagenhafte 100% an! Nachdem diese Nachricht an 190.000 Ärzte, Apotheken und Leiter von Gesundheitsämtern weitergegeben und in einer Eilmeldung an alle Medien übermittelt wurde, setzen im ganzen Land 76 Verein Freundeskreis Nationalpark Hunsrück, Chance Nationalpark. Fragen und Antworten zum geplanten Nationalpark, o.O., o.J. 77 Vgl. Gigerenzer, G.: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 3. Aufl. München 2013, S. 16 ff. <?page no="56"?> 56 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten zahlreiche Frauen aus Angst die Pille ab. Dies wiederum führte zu zahlreichen ungewollten und demzufolge auch unerwünschten Schwangerschaften, was wiederum die Zahl der Abtreibungen erhöhte. Die Frage, wieviel 100% sind, hat offenbar niemand der Verantwortlichen ernsthaft gestellt. Denn tatsächlich hatten die Studien, auf die sich die Meldung stützte, gezeigt, dass von 7.000 Frauen, die eine Pille der 2. Generation einnahmen, eine Frau eine Thrombose bekam. Bei Frauen, die eine Pille der 3. Generation nahmen, bekamen zwei von 7.000 Frauen eine solche. Die absolute Risikozunahme betrug 1, während die relative Zunahme 100% betrug. Die Folgen dieser Fehlinterpretation einer Statistik waren riesig. Geschätzte 13.000 zusätzliche Abtreibungen im folgenden Jahr bei dauerhaft höheren Abtreibungszahlen in den nächsten Jahren. Gleichzeitig kam auf jeden Schwangerschaftsabbruch eine zusätzliche Geburt. Dabei gilt es zu beachten, dass das Thromboserisiko bei Schwangerschaften und Abtreibungen größer ist als bei der Einnahme der Pille der 3. Generation. Die Kosten des britischen Gesundheitssystems für die Schwangerschaftsabbrüche wurden auf vier bis sechs Millionen Pfund geschätzt. Dem gegenüber wäre zu stellen, dass viele Menschen gar nicht geboren worden wären, hätte es die statistische Fehlinterpretation nicht gegeben. Die Botschaft an dieser Stelle ist dennoch klar: wenn jemand relative Werte als Argument zur Stützung einer These anführt, ist stets nach den absoluten Zahlen zu fragen. Nur so kann beurteilt werden, ob die statistische Relativität zu den korrekten Schlussfolgerungen führt. Allerdings muss auch nicht jeder intuitive Schnellschütze falsch liegen. Und das hat einen einfachen Grund: Intuition ist der blitzschnelle Zugriff auf Wissen und Erfahrung; ist die Fähigkeit, aus weit verstreuten, nicht miteinander zusammenhängenden Informationen neue Erkenntnisse zu generieren oder vollkommen Neues zu schaffen. Und wer mehr weiß und mehr Erfahrung hat und optimaler Weise auch überdurchschnittlich oft mit komplexen Fragestellungen zu tun hat, die schneller Entscheidung bedürfen, der kann trotz schnellem, intuitivem Handeln weit bessere Ergebnisse erzielen als derjenige, der bei einem bestimmten Thema tagelang nachdenkt, aber nicht über das notwendige, über Jahre gebildete Wissen und keine korrespondierende Erfahrung verfügt. 78 Der Tellerrand des Experten ist in aller Regel halt nicht so hoch wie der des Nichtfachmanns, so dass der Spezialist mehr überblicken kann. Andererseits kann ein Zuviel an Fachwissen und damit an Informationen häufig falsche Schlüsse provozieren, da der Fokus falsch gesetzt wird. Dies hängt damit zusammen, dass dann buchstäblich der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen wird. Während derjenige, der über deutlich weniger Informationen verfügt, oft viel klarer erkennen kann, wie die richtige Lösung aussieht. Der spaßige Satz „Fachwissen trübt die Entscheidungsfreude“ resultiert vermutlich aus dieser Erkenntnis. 78 Vgl. dazu auch Traufetter, G.: Intuition, Reinbek 2007, S. 203. <?page no="57"?> 3.2 Intuition ‒ stets der beste Ratgeber? 57 Der militärische Drill ist ein sehr einfaches Beispiel dafür, wie Intuition antrainiert wird und hat in der obigen Feststellung, dass schnelles, intuitives Handeln oftmals besser ist als langes Nachdenken, darin seine Begründung. Es mag manch einem während seiner Militärzeit seltsam vorgekommen sein, dass er in allen möglichen Lagen damit gequält wurde, seine Waffe zerlegen und wieder zusammensetzen zu müssen. Das Ziel dieses Trainings bestand schlicht darin, dass der Soldat in der extremen Stresssituation des Gefechts in der Lage war, schnell und möglichst „automatisch“ bei Störungen an der Waffe das Problem beheben zu können. Er sollte intuitiv handeln und nicht erst die Bedienungsanleitung hervorkramen müssen. Denn das wäre eine im Zweifel tödliche Handlungsalternative. Der Soldat ist in diesem Thema Spezialist, der ungeübte Laie oder schlecht ausgebildete Soldat in der gleichen Situation deutlich unterlegen. Wenn er in einer Gefechtssituation intuitiv handeln würde, ohne entsprechend intensiv ausgebildet zu sein, dann wird er die Waffe vielleicht noch zerlegen können. Zusammensetzen wird er sie wahrscheinlich nicht mehr. Der gezielte Aufbau und die damit verbundene Förderung einer Führungskraft durch Ausbildung und das Durchlaufen bestimmter Dienstposten, dient ebenfalls dazu, Wissen und Erfahrung aufzubauen. Mit dem Ziel, dass in Stresssituationen schnell richtige Entscheidungen mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit getroffen werden. Ein Bataillonskommandeur hat im Laufe seiner Dienstzeit über Jahre hinweg bestimmte Schemata erlernt und in verschiedenen Führungsverwendungen auch angewandt, nach denen Situationen zu beurteilen sind. Alles mit dem Ziel, dass diese Schemata sich derart tief in sein Denken eingraben, dass sie dann, wenn schnelle Führungsprozesse gefragt sind, ohne langes Nachdenken abgerufen werden können. Der Offizier wird die Beurteilung der Lage und den daraus resultierenden Entschluss optimalerweise intuitiv durchführen. Das Hirn arbeitet bei hervorragend geschultem Personal die einzelnen Schritte zur Beurteilung der Lage derart schnell ab, dass der Entscheider selbst dies auf seiner Bewusstseinsebene vielleicht gar nicht richtig realisiert, aber am Ende ziemlich schnell die richtige Entscheidung trifft. Wer dann auch noch mit einem besonderen Gespür für die Erfassung von Situationen ausgestattet ist, insbesondere über sehr gute empathische Fähigkeiten verfügt, sich also gut in andere Personen und damit auch deren Entscheidungsverhalten hineinversetzen kann, der wird zum so genannten „begnadeten Truppenführer“. Der Führungsprozess läuft intuitiv ab, die Entscheidung selbst ist bei Anwendung des Prozesses dann gerade keine intuitive! Nichts Anderes gilt in Unternehmen oder anderen Organisationen. Damit dürfte auch klar sein, dass Intuition dem bewussten Denken nicht unterlegen ist, sondern dass diese beiden gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Wichtig ist eben, dass die Intuition auf einer guten Erfahrungs- und Wissensbasis für die jeweilige Situation aufbaut. So kann es gut sein, dass man einerseits intuitiv richtig handelt, wenn es darum geht, schnell eine Lösung für ein komplexes Problem zu finden. Aber andererseits bei vermeintlich banalen Dingen total daneben liegt. Weil einem die Basis für eine gute Entscheidung fehlt. Für die Entwicklung einer Persönlichkeit ist Erfahrungswissen daher so ungemein wichtig. <?page no="58"?> 58 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten Je komplexer ein Problem ist und je mehr Wissen benötigt wird, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, umso schneller machen gerade diejenigen unter uns Fehler, die für das jeweilige Problem eben nicht über das notwendige Wissen verfügen und auch nicht in der Lage sind, sich dieses zu erarbeiten. Was vielfach keine Frage von Intelligenz, sondern dem mangelnden Bewusstsein für systematisches und ergebnisoffenes Arbeiten geschuldet ist. Wer nie gelernt hat, komplexe Zusammenhänge zu analysieren läuft Gefahr, am Ende falsch zu liegen. Und wer dann noch von Anfang an ein bestimmtes Ergebnis erwartet oder gar wünscht, eben nicht ergebnisoffen ist, hat schnell eine falsche Schussfolgerung gezogen. Das Gleiche passiert, wenn trotz systematischer Analyse alle Deutungen in eine gewünschte Richtung interpretiert werden. Zahlreich sind die Beispiele falschen wissenschaftlichen Arbeitens, weil ein gewünschtes Ergebnis bewiesen werden sollte. Nach Isenberg ist es wichtig, im Laufe des Lebens aus dem eigenen Handeln die richtigen Lehren gezogen zu haben, um damit das Bauchgefühl, die Intuition, zu sensibilisieren. Wenn die Erfahrung logisch und fundiert zustande gekommen sei, dann würde dies auch für die Intuition gelten. 79 Für folgenreiche Entscheidungen, und das sind eine Unmenge unternehmerischer Entscheidungen stets, sind die Folgerungen hieraus klar: wer kein Vollprofi ist, der auf Grund seines Wissens, Könnens und einer umfangreichen Erfahrung schnell erkennen kann, welche Wirkung seine Entscheidung haben wird, der ist schlecht beraten, sich auf seine Intuition zu verlassen. Da ist der kritische Rationalismus dann der deutlich bessere Ratgeber. Wir müssen zwingend unsere kognitiven Grenzen kennen und uns Werkzeugen bedienen, die helfen, besser zu sein! 3.3 Was sagen die Besten ihrer Zunft hierzu? Nachdem wir bereits einige Zeit an diesem Buch gearbeitet haben, veröffentlichte Daniel Kahneman, der einigen vielleicht von seinem oben bereits zitierten Weltbestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ bekannt ist, gemeinsam mit Oliver Sibony und Cass R. Sunstein das Buch „Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt - und wie wir sie verbessern können“. 80 Die Autoren führen aus, „sämtliche Methoden, die wir in diesem Buch empfehlen, …, sollen sicherstellen, dass der Prozess der Urteilsbildung befolgt wird, der … Fehler minimiert.“ 81 79 Vgl. Isenberg, D.: How Senior Managers Think, in: Harvard Business Review, November 1984, S. 80 ff. 80 Kahneman, D./ Sibony O./ Sunstein C.R.: Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt - und wie wir sie verbessern können. München 2021. 81 Ebenda S. 59. <?page no="59"?> 3.3 Was sagen die Besten ihrer Zunft hierzu? 59 Diese hochkarätigen Fachleute bestätigen mit ihren Aussagen auf ermutigende Weise unsere Ausführungen zur Entscheidungsfindung, was uns zusätzlich motiviert hat, weiterzuarbeiten … Das beginnt damit, dass sie sagen, dass die Handlungsempfehlung von Wissenschaftlern, die Führungsprozesse erforschen, darin besteht, die Qualität einer Entscheidung nicht an deren Ergebnis, sondern am Prozess auszurichten. Es soll ein Prozess der Urteilsbildung angestrebt werden, der über eine Gesamtheit ähnlicher Fälle das bestmögliche Ergebnis bringt. 82 Wichtig ist dabei, dass eine anerkannte Grundlage guter Entscheidungsfindung darin besteht, dass Wertvorstellungen nicht mit Fakten vermengt werden sollten. Gute Entscheidungsfindung muss sich auf objektive und prädiktive, von Hoffnungen und Ängsten respektive Präferenzen und Wertvorstellungen freien Urteile stützen. 83 Dabei arbeiten sie heraus, dass beim Vergleich der Genauigkeit von Prognosen, die von Fachleuten, Computermodellen und durch Anwendung einfacher Regeln erstellt wurden, die Fachleute auf dem dritten Platz landeten. Die Ursache ist laut Kahneman et al. darin zu finden, dass das intuitive menschliche Urteilsvermögen den anderen Prognosemethoden unterlegen ist. 84 Erstaunlicherweise blenden wir sogar häufig aus, dass die meisten Vorhersagen eine bedeutsame Grenze haben: die faktische Unwissenheit über Dinge, von denen zukünftige Entwicklungen abhängen. In der Folge sind wir in einem überzogenen Maß von der Richtigkeit unserer Prognosen überzeugt. Und weiter: nicht nur, dass wir in unserer Fähigkeit, Ereignisse vorherzusagen beeinträchtigt sind, nein, wir sind es auch in unserem Vermögen, sie zu verstehen. 85 Eine zentrale Frage, die in „Noise“ gestellt wird, ist diejenige danach, warum wir nicht öfter Regeln anwenden. 86 Denn einfache, zweckdienliche Regeln sind dem menschlichen Urteilsvermögen oft überlegen. Gleichzeitig sind unstrittig alle mechanischen Vorhersageverfahren dem menschlichen Urteilsvermögen deutlich überlegen. Die Antwort besteht darin, dass viele Experten die diesbezüglichen Debatten ignorieren und an ihre Intuition glauben. Das Beharren darauf, dass statistische Analysen und folglich die Verwendung von Algorithmen wohl kaum den gesunden Menschenverstand ersetzen können führt dazu, dass dem Bauchgefühl gefolgt wird. Kahneman et al. führen eine Untersuchung von Meehl an, der mit seinem Co-Autor 17 verschiedene Typen von Einwänden gegen mechanische Urteilsbildung, die von Ärzten, Psychiatern, Richtern sowie anderen Fachleuten vorgebracht wurden, identifizieren und widerlegen konnte! Die Ursache für dieses Verhalten wird aus einer Kombination sozialpsychologischer Faktoren wie Angst vor technologisch bedingter Arbeitslosigkeit, mangelnder Bildung sowie einer allgemeinen Abneigung gegen Computer erklärt. Es ist der Bauch, dem mehr als jeder 82 Ebenda. 83 Ebenda S. 77. 84 Ebenda S. 121. 85 Ebenda S. 123. 86 Hierzu und im Folgenden ebenda S. 148 ff. <?page no="60"?> 60 3 Rationalität, Intuition und vor was wir uns in Acht nehmen sollten noch so gründlichen Analyse gefolgt wird. Die darin liegende Stimmigkeit, dass sich „Dinge richtig anfühlen“ im Zusammenspiel mit einer daraus abgeleiteten Überzeugung der Richtigkeit des eigenen Urteils, „maskiert“ sich als rationales Verhalten. Es ist aber kein rationales Verhalten! 87 Das aus unserer Sicht in „Noise“ gezogene fatale Ergebnis besteht darin, dass zahlreiche Entscheider Methoden der Entscheidungsfindung ablehnen, obwohl die empirischen Befunde hierzu eine klare Sprache sprechen, weil ihnen hierdurch die Fähigkeit genommen wird, ihrer Intuition zu folgen. 88 Jedem Leser sollte nach den oben zum Thema Rationalität und Intuition gemachten Ausführungen deutlich geworden sein, dass das Verlassen auf beides dem Gang auf sehr dünnem Eis entspricht. Daher sagen wir zum wiederholten Mal: Der Führungsprozess sollte so geübt werden, dass er intuitiv ablaufen kann. So, wie wir intuitiv Auto fahren oder andere Dinge des täglichen Seins verrichten. Die Entscheidung selbst ist dann gerade keine intuitive mehr, sondern eine aus objektiven Kriterien und Regeln abgeleitete. Oder, wie Kahneman et al. es formulieren: „Solange Algorithmen nicht annähernd perfekt sind - und auf vielen Gebieten ist die objektive Unwissenheit so groß, dass sie es niemals sein werden -, werden sie nicht an die Stelle der intuitiven Urteilskraft treten. Aus diesem Grund müssen wir diese (die intuitive Urteilskraft, Anm. d. Verf.) verbessern.“ 89 Es muss der Prozess der Entscheidungsfindung intensiv trainiert werden und die intuitive Basis, verstanden als ein „Pool“ aus Wissen und Erfahrung, gestärkt werden. Nach Kahneman et al.: „Gute Urteile hängen davon ab, was man weiß, wie gut man denken kann und wie man denkt. Gute Beurteiler sind oftmals erfahren und intelligent, aber sie neigen auch dazu, sich aktiv selbst zu hinterfragen und bereitwillig aus neuen Informationen zu lernen.“ 90 87 Ebenda S. 152 f. 88 Ebenda S. 162. 89 Ebenda. 90 Ebenda S. 249. <?page no="61"?> 4 Gute Führung - aber wie? Das Ergebnis guter Führung sind gute Entscheidungen. Die Frage ist nur, wie gelangt man zu guten Entscheidungen? Unseres Erachtens braucht gute Führung drei wesentliche Dinge: [1] ein kulturelles Fundament, darauf aufbauend eine einheitliche, umfassende Führungsphilosophie und daraus abgeleitet die richtigen Werkzeuge und Methoden. Das kulturelle Fundament bietet in der Bundeswehr die „Innere Führung“, während die einheitliche und umfassende Führungsphilosophie durch das „Führen mit Auftrag“ repräsentiert wird. Die daraus abgeleiteten Werkzeuge und Methoden finden sich im klar definierten „Führungsprozess“ wieder. Diese drei Elemente werden nachfolgend dargestellt, um sowohl die philosophischen, emotionalen und handwerklichen Grundbedingungen, quasi die DNA guter Führung, zu verinnerlichen. Zu beachten ist, dass die Kapitel zur „Inneren Führung“ und zur „Auftragstaktik“ zum Gesamtverständnis der beiden Themen ganzheitlich zu betrachten sind, da sich die Themen in hohem Maße wechselseitig bedingen. Im Rahmen der Darstellung werden gleichzeitig Brücken zur zivilen Anwendung geschlagen um, wo immer möglich und sinnvoll, die Übertragbarkeit auf die „außermilitärische Welt“ sichtbar zu machen. Bitte reflektieren Sie auch hier stets das, was über das Militär geschrieben wird, auf ihr persönliches Umfeld und fangen Sie bitte sofort damit an, „zu übersetzen“. 4.1 Die Konzeption der „Inneren Führung“: Fundament Unternehmenskultur Udo di Fabio schreibt ganz zu Beginn seines Buches „Die Kultur der Freiheit“: „ Die Kultur ist die Substanz der Gesellschaft.“ 91 Und er führt weiter aus: „Kultur ist das grundlegende soziale Zeichen- und Orientierungssystem einer Gemeinschaft, die erst durch den gleichsinnigen Gebrauch eines solchen Sinnsystems zur Gemeinschaft wird. Kultur ist vor allem anderen eine gemeinsame Lebenspraxis; es geht um die Maßstäbe für die Art, wie wir sehen, fühlen, urteilen und handeln. Die Kultur macht mit Sprache, Bildern und Begriffen, mit sozialen Standards des Erlebens und Verhaltens die Welt begreifbar und damit aufeinander bezogenes Sozialverhalten erst möglich. Es geht um standardisierte Einstellungen, Sichtweisen, um Werte, vorherrschende und abweichende Lebensstile. Es geht vor allem um Lebenssinn, um das, was fast alle für gerecht 91 di Fabio, U.: Die Kultur der Freiheit, München 2005, S. 1. <?page no="62"?> 62 4 Gute Führung - aber wie? und richtig, was man für böse oder hässlich hält. Derlei Muster geben uns einen Deutungs- und Handlungsrahmen vor, den wir mit unserem persönlichen Lebensentwurf lediglich ausfüllen.“ 92 Die so definierte Kultur ist somit der Kitt des menschlichen Miteinanders und damit des friedlichen Zusammenlebens. Wo dieser Kitt bröckelt, die Substanz sich verflüchtigt, geht dieses Miteinander verloren. Völlig egal, wie klein oder groß die Gruppe ist; völlig egal, ob auf eine Familie oder die Gesamtbevölkerung bezogen. In einem Staat drückt sich dieser Kulturbegriff normativ an exponierter Stelle in seiner Verfassung aus. Die Verfassung definiert als oberstes gesetztes Recht die Leitplanken der Gesellschaft; alle staatliche Gewalt legitimiert sich aus ihr. Und ist selbst wiederum Ergebnis und Ausgangspunkt eines kulturellen Entwicklungsprozesses zugleich, im Guten wie im Bösen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist ein herausragendes Beispiel hierfür, denn es stellt, als Folge gemachter historischer Erfahrungen, den Wertekanon dar, der es ermöglichen soll, dass die Menschen, die in seinem Geltungsbereich leben, ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand führen können. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn sich Unternehmen Verhaltenskodizes geben und diese als „Unternehmensverfassung“ bezeichnen, in denen sie ein inneres Ordnungssystem definieren mit dem Ziel, genau das zu erreichen, was Di Fabio aussagt. Denn dieses „innere Ordnungssystem“ stellt nichts Anderes dar, als die konstitutive Substanz des Unternehmens, in gleicher Weise, wie dies die Verfassung für den Staat darstellt. Natürlich gilt all das auch für Streitkräfte. Denn auch diese benötigen ein „inneres Ordnungssystem“. Einer besonderen Herausforderung waren dabei die Streitkräfte der jungen Bundesrepublik ausgesetzt. Auf der einen Seite standen die leidigen Erfahrungen des „Tausendjährigen Reiches“, auf der anderen Seite das aus unter anderem eben diesen Erfahrungen abgeleitete Grundgesetz, dessen oberster Zweck es war und bis heute ist, dass sich solches nicht wiederholen darf. Und mittendrin Streitkräfte, die niemals mehr als Instrument des Bösen dienen durften und dürfen, aber gleichzeitig das schärfste Schwert sind, das der Staat zur Verfügung hat. Ein Instrument, das in für den Einzelnen seiner Angehörigen extremen Situationen bis zur Hingabe des Lebens alles abverlangen kann. Die Herausforderung bestand daher nach dem Zweiten Weltkrieg, wie es Carl Gero von Ilsemann formulierte, im „Versuch der Humanisierung eines militärischen Systems.“ Es galt, das Spannungsfeld der demokratischen Verfassung in Einklang zu bringen mit den Erfordernissen der militärischen Schlagkraft. 93 Das Ergebnis, das „Konzept der Inneren Führung“ als „Unternehmensphilosophie“ und kulturelles Fundament der Bundeswehr einschließlich ihrer praktischen Anwendung offenbart, dass das, was klischeehaft mit militärischen Systemen verbunden ist, heute, zumindest in freiheitlich demokratischen Rechtssystemen 92 Ebenda mit weiteren Nachweisen S. 1 f. 93 Ilsemann, C.G.v.: Die Innere Führung in den Streitkräften, Regensburg 1981, S. 1 ff. <?page no="63"?> 4.1 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 63 und ganz bestimmt in der Bundesrepublik Deutschland, genau dies ist: ein Klischee! Warum dies so ist und was daraus für zivile Organisationen abgeleitet werden kann, sollte durch die nachfolgenden Ausführungen zum Thema „Innere Führung“ sowie durch das nachfolgende Kapitel zum „Führen mit Auftrag“ deutlich werden. Zur Vertiefung sei die lesenswerte und inklusive Anlage nur 40 Seiten umfassende Zentrale Dienstvorschrift A-2600/ 1 „Innere Führung - Selbstverständnis und Führungskultur“ empfohlen. Die Vorschrift ist frei zugänglich und kann übers WWW aufgerufen werden. Das Konzept der Inneren Führung wird auf der Homepage des Bundesverteidigungsministeriums zusammenfassend wie folgt beschrieben: „Die Innere Führung bildet die Wertegrundlage für verantwortliches Handeln in der Bundeswehr. Alle Angehörigen der Bundeswehr sind auch „Staatsbürger in Uniform“. Das bedeutet, sie haben die gleichen Rechte und Pflichten wie jeder Staatsbürger. Jedoch sind sie den Werten und Normen des Grundgesetzes besonders verpflichtet. Die Innere Führung vermittelt diese Werte: Dazu zählen Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie. Sie sind stets fester Bestandsteil in der Aus- und Weiterbildung der Soldaten, setzen die Soldaten doch im äußersten Fall für diese Werte ihr Leben aufs Spiel. Die Konzeption der Inneren Führung ist für jeden Soldaten verbindlich. Sie dient ihm als Grundlage für sein Handeln. Darüber hinaus verpflichtet sie jedoch jeden Soldaten, selbst zu denken und nicht nur blind zu folgen: Die Bundeswehr kennt keinen unbedingten Gehorsam. Die letzte Entscheidungsinstanz bleibt das Gewissen jedes Einzelnen. Das Prinzip der Inneren Führung ist weltweit einzigartig. Viele Länder haben Teile davon für ihre eigenen Streitkräfte übernommen. Die Innere Führung ist jedoch kein reines Lehrfach. Sie hängt mit der Persönlichkeit eines jeden Soldaten zusammen: Er muss sich selbst führen können. Das heißt, er muss historisch, politisch und ethisch gut informiert sein. Erst so kann er Entscheidungen treffen und andere führen“. 94 Besonders bemerkenswert sind die letzten drei Sätze des Zitats. Nur die Person kann andere führen, die in der Lage ist, sich selbst zu führen. Im Umkehrschluss heißt dies nichts anderes, als dass Führung stets bei einem selbst anfängt! Diese Aussage kann nur unterstrichen werden! Für diejenigen Soldatinnen und Soldaten, die Vorgesetztenfunktionen wahrnehmen, wurden aus der Konzeption der Inneren Führung zehn Leitsätze abgeleitet, die komprimiert konkretisieren und gleichzeitig Hilfestellung geben, wie die Vorgesetztenfunktion gelebt werden soll. 95 94 https: / / www.bmvg.de/ de/ themen/ verteidigung/ innere-fuehrung/ das-konzept aufgerufen am 16.04.2021. 95 ZDv A-2600/ 1, S. 27. <?page no="64"?> 64 4 Gute Führung - aber wie? Leitsätze für Vorgesetzte Vorbemerkung Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind „Staatsbürger in Uniform“ mit individuellen Rechten und soldatischen Pflichten. Die Grundsätze der Inneren Führung verlangen, die Erfordernisse des militärischen Auftrages mit der geistigen und moralischen Mündigkeit des Staatsbürgers in Einklang zu bringen. Die folgenden Leitsätze beschreiben Erwartungen. Sie dienen insbesondere jüngeren Vorgesetzten als Hilfe und Anleitung. Ich bin Vorgesetzter bzw. Vorgesetzte in der Bundeswehr. Damit sind mir besondere Befugnisse, aber auch Pflichten übertragen. 1. Ich achte und schütze die Menschenrechte. 2. Ich bin an Recht, Gesetz und mein Gewissen gebunden und trage für mein Handeln die Verantwortung. 3. Ich bin Vorbild in Haltung und Pflichterfüllung und teile mit meinen Untergebenen Härten und Entbehrungen. 4. Ich setze meine Befehle in angemessener Weise durch und kontrolliere ihre Ausführung. 5. Ich schaffe die Voraussetzungen für gegenseitiges Vertrauen. 6. Ich bilde meine Soldatinnen und Soldaten bestmöglich aus und fordere sie angemessen unter Beachtung der Menschenwürde, Gesetze, Dienstvorschriften und Sicherheitsbestimmungen. 7. Ich führe partnerschaftlich. Ich nutze die Fähigkeiten und Fertigkeiten meiner Soldatinnen und Soldaten und beteilige sie wann immer möglich an meiner Entscheidungsfindung. 8. Ich kenne meine Soldatinnen und Soldaten und nehme mich ihrer Sorgen und Nöte an. 9. Ich informiere meine Soldatinnen und Soldaten und mache ihnen meine Befehle einsichtig. 10. Ich suche das Gespräch mit meinen Soldatinnen und Soldaten und bin für sie stets ansprechbar. Die Leitsätze sind definitiv auch eine gute Vorlage für Personalverantwortliche in zivilen Organisationen und aus ihnen lässt sich bereits an dieser Stelle ein erstes „Werkzeug“ ableiten. Bewährt hat sich nicht nur in den Streitkräften, sondern auch bei Polizei, Feuerwehr, THW und Rettungskräften der Einsatz von „Taschenkarten“ und „Einsatzkarten“. Diese Karten, die neben der Nutzung zu Ausbildungszwecken vor allem während des Einsatzes mitgeführt werden, beinhalten wesentliche Informationen <?page no="65"?> 4.1 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 65 oder Verhaltensweisen für bestimmte Situationen und sind für die unterschiedlichsten Themen geschaffen worden. Eine kleine Auswahl an Beispielen hierfür sind die „Einsatzkarte Drogenerkennung im Straßenverkehr“ (Polizei), „Allgemeine Maßnahmen bei Evakuierungslagen“ (Rettungsdienste), „Taschenkarte E-Fahrzeuge“ (Feuerwehr), „Taschenkarte Deichverteidigung“ (THW) sowie für die Bundeswehr die „Taschenkarte Covid-19“ oder die „Rules of Engagement“. Ihr Zweck besteht darin, dass eine handelnde Person in der jeweiligen Situation durch Nutzung der Karte schnell erfassen kann, was wie zu tun ist. Sie ist gerade in Einsatzszenarien, die vor allem durch Stress gekennzeichnet sind, quasi mitgeführte intuitive Basis, auf die man zurückgreifen kann, wenn die Situation es erfordert. Taschenkarten ermöglichen es, sich in kürzester Zeit wesentliche Verhaltensweisen zu vergegenwärtigen, und geben somit größere Sicherheit, das Richtige zu tun. Darüber hinaus kann man mit ihnen die eigene intuitive Basis stärken, indem man sich den Inhalt ab und an vergegenwärtig. Gerade das Letztgenannte ist nicht nur für konkrete Entscheidungssituationen, sondern auch für allgemeine Verhaltensweisen und folglich auch für die Leitsätze für Vorgesetzte geeignet. Wir erachten es daher als absolut sinnvoll, die Leitsätze für Vorgesetzte ins Zivile zu übersetzen - was wenig Mühe macht - und als eine unter mehreren Taschenkarten diesem Buch beizufügen. Es mag vielleicht banal anmuten, aber wer ab und an einen Blick darauf wirft und sein eigenes reales Verhalten vor den Leitsätzen reflektiert, kann daraus einen anhaltenden Nutzen ziehen. <?page no="66"?> 66 4 Gute Führung - aber wie? 1. Ich achte und schütze die Würde aller Menschen. 2. Ich bin an Recht, Gesetz und mein Gewissen gebunden und trage für mein Handeln die Verantwortung. 3. Ich bin Vorbild in Haltung und Pflichterfüllung und teile mit meinem Personal die beruflichen Herausforderungen. 4. Ich setze meine Anweisungen in angemessener Weise durch und kontrolliere ihre Ausführung. 5. Ich schaffe die Voraussetzungen für gegenseitiges Vertrauen. 6. Ich bilde meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestmöglich aus und fordere sie angemessen unter Beachtung der individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten. 7. Ich führe partnerschaftlich, nutze die Fähigkeiten und Fertigkeiten meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und beteilige sie wann immer möglich an der Entscheidungsfindung. 8. Ich kenne meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und nehme mich ihrer Sorgen und Nöte an. 9. Ich informiere meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und mache ihnen Maßnahmen und Entscheidungen einsichtig; ich vermittle ihnen die Vision des Unternehmens. 10. Ich suche das Gespräch mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und bin stets für sie ansprechbar. <?page no="67"?> Es ist nicht erforderlich, sich an dieser Stelle intensiv mit der Entwicklungsgeschichte der Konzeption der „Inneren Führung“ auseinanderzusetzen, da ihr Wesen, wie aus den oben zitierten Zeilen ersichtlich, schnell erfasst werden kann und nachfolgendend verdeutlicht wird. Wichtig ist allerdings zu wissen, dass ihr Leitbild, das des „Staatsbürgers in Uniform“, getragen ist „von verpflichtenden ethischen Maßstäben, historisch politischer Bildung, professioneller Ausbildung und zeitgemäßer Menschenführung“ und dass es sich hierbei um etwas handelt, das bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts postuliert wurde. Es war der „gut geschulte, politisch und allgemein gebildete Offizier, der voll im geistigen und öffentlichen Leben stand, der weder blinden Gehorsam noch einer Gläubigkeit gegenüber der Obrigkeit erlegen war; der vielmehr durch nüchterne und klare Beurteilung Teilhaber an der Verantwortung sein konnte“ 96 , der die Zielvorstellung des bis heute nachhallenden Heeresreformers Scharnhorst darstellte. Umso verwunderlicher ist es, dass es mehr als eineinhalb Jahrhunderte und zahlreicher traumatischer Erfahrungen bedurfte, bis dieser Anspruch, verbunden mit vielen Geburtsschmerzen, Wirklichkeit wurde. Es bestätigt aber auch die weiter unten gemachte Aussage, dass sich die Anforderungen an gute Führung wohl noch nie geändert haben, egal, unter welchen Umständen sie zum Einsatz kam. Klar formuliert ist, dass die Innere Führung für jeden einzelnen Soldaten, unabhängig von Dienstgrad und Dienststellung gilt und die Grundlage für sein Handeln darstellt, für das er ganz allein die Verantwortung trägt. Übertragen auf die zivile Organisationswelt kann nichts Anderes gelten. Auf der einen Seite muss jeder, der führen soll und will, auf einem breiten und stabilen Fundament aufbauen können, gegossen aus ethischen und moralischen Grundsätzen, umfassender fachlicher ebenso wie allgemeiner Bildung sowie einem Menschenbild, das Respekt und Vertrauen als oberste Maximen in sich trägt. Gleichzeitig muss dies aber auch für jede einzelne Person, die nicht führt - und das ist die absolute Mehrzahl der in einer Organisation tätigen Personen - in gleicher Weise bedeutsam sein. Denn nur dadurch, dass die Philosophie eines Unternehmens, eines Vereins oder einer Verwaltung von all ihren Angehörigen täglich gelebt wird, können die Ansprüche an sich selbst erfüllt werden und die Organisation sich letztendlich über ihren originären Zweck hinaus legitimieren. Wie es nicht sein soll, zeigt ein Blick auf die Unternehmensleitsätze beispielsweise eines großen Autobauers 97 oder aber von Wirecard. 98 Man kann da schon etwas verwundert sein, wenn man das, was dort steht, in Einklang zu bringen versucht mit den tatsächlichen Taten … Es stellt sich daher auch die Frage, inwieweit eine Unternehmensphilosophie überhaupt niedergeschrieben werden sollte oder gar zwingend niedergeschrieben werden muss. 96 zitiert nach Freudenberg, D.: Auftragstaktik und Innere Führung, Berlin 2014, S. 22 f. 97 Vgl. beispielsweise https: / / www.generation-silberhaar.de/ vw-und-unternehmensleitbilder-der-abgrund/ , aufgerufen am 20.04.2021. 98 Vgl. https: / / www.glassdoor.de/ %C3%9Cberblick/ Arbeit-bei-Wirecard-EI_IE42399. 11,19.htm, aufgerufen am 20.04.2021. <?page no="68"?> 68 4 Gute Führung - aber wie? Im oben angeführten Zitat di Fabios heißt es, dass erst der gleichsinnige Gebrauch eines Sinnsystems eine Gemeinschaft zur Gemeinschaft macht. Dem ist nichts hinzuzufügen! Was nützen Grundsätze und Leitbilder, Philosophien und Kulturstatements in einer noch so großen und vermeintlich tollen Organisation, wenn sie nicht befolgt werden? Im Gegenteil sogar mit Füßen getreten werden? In einem solchen Fall ist der Nutzen eher negativ. Es ist kontraproduktiv, wenn ein hehrer Kodex verfasst wird, der letztendlich nicht eingehalten wird. Da ist es viel besser, wenn Werte und Tugenden gelebte Praxis sind, ohne Papier mit Lufthülsen zu beflecken. Wenn man sich jedoch entschließt, ein Leitbild schriftlich zu fixieren, dann sollte natürlich Niedergeschriebenes und Praktiziertes ein Höchstmaß an Deckung aufweisen! Damit sollte auch klar sein, dass das Verfassen eines Unternehmensleitbildes eine besondere Verantwortung bedeutet und die Inhalte sehr wohl überlegt sein müssen. Gleichzeitig hat schriftlich Niedergelegtes selbstredend den klaren Vorteil, dass etwas Verbindliches geschaffen wird, auf das sich berufen werden, das eingefordert werden kann. Die Anforderungen, die dabei an eine gute „Unternehmensverfassung“ zu stellen sind, können leicht definiert werden: Klarheit, Nachvollziehbarkeit, Eindeutigkeit! Oberste Leitlinie können dabei stets die dem Grundgesetz innewohnenden Werte als alles zusammenhaltendes Band sein, da auf diesem Wege, in gleicher Weise wie es die Innere Führung für die Streitkräfte tut, diesen Werten selbst ebenso wie den Normen des Grundgesetztes Geltung und Wirklichkeit verschafft werden. Einzig und allein verantwortlich für das Leben einer so beispielsweise für das eigene Unternehmen abgeleiteten Philosophie sind an aller erster Stelle nur ganz wenige Menschen, oftmals nur eine einzige Person in einer Organisation! Was diese Personen vorleben, zieht sich durch alle Ebenen und wirkt naturgemäß nach außen. Im Guten wie im Schlechten! Nur dann, wenn Führungskräfte selbst Integrität vorleben, können sie erwarten, dass dies alle anderen gleichtun. Was im Umkehrschluss aber nicht heißen soll, dass dann, wenn beispielsweise die Unternehmensführung nicht integer ist, alle anderen es auch nicht zu sein brauchen. Dies würde bedeuten, die Verantwortung für das eigene Tun abzulegen. Genau das kann nicht gewollt sein! Kahneman et al. führen hierzu aus: „Gemeinsame Normen vermitteln Fachkräften ein Gespür dafür, welche Inputs berücksichtigt werden sollten und wie sie abschließende Beurteilungen durchführen und rechtfertigen sollten.“ 99 99 Kahneman, D./ Sibony O./ Sunstein C.R.: Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt - und wie wir sie verbessern können. München 2021, S. 251. <?page no="69"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 69 Wie sich das Ganze in der Praxis der Streitkräfte konkret darstellt, wird im folgenden Kapitel zur Auftragstaktik näher erläutert. Dadurch werden die Wechselwirkungen zwischen dem „kulturellen Fundament“ Innere Führung und der darauf aufbauenden „Führungsphilosophie“ Führen mit Auftrag sehr plastisch. Gleichzeitig ist es möglich, die „Übersetzung ins Zivile“ vorzunehmen. Viele Leser werden überrascht sein, etwas vorzufinden, was so bestimmt nicht erwartet wurde … 4.2 Die Auftragstaktik ‒ Wundermittel erfolgreicher Führung Und täglich grüßt das Murmeltier ist das Gefühl, das sich manchmal einschleicht, wenn man sich die in stetiger Regelmäßigkeit auftauchenden „neuen“ Management- und Führungsmethoden anschaut, die meistens aus Übersee zu uns auf den Kontinent gespült werden. Gleichzeitig wird man in der Beratung und bei Vorträgen zur Unternehmensführung damit konfrontiert, dass die meisten Unternehmenslenker nach handfestem Handwerkzeug gieren, um in einer von Unsicherheit und in der Folge oft von Orientierungslosigkeit geprägten Unternehmenswelt bestehen zu können. Die dem Zeitgeist unterliegenden „Neumethoden“ bieten dies oft nicht oder nicht ausreichend. Der Grund hierfür ist einfach: Das Wesen guter Führung hat sich noch nie geändert und wird sich wahrscheinlich nie ändern. Daran ändert auch die Erfindung neuer oder die Verteufelung alter Führungsstile wenig. Was einem steten Wandel unterliegt, sind die Umweltparameter. Gleichzeitig wollen die Geführten auch geführt werden! Auch deren Ansprüche ändern sich nicht, egal, wie sich das Umfeld wandelt. Gute Führung scheitert nämlich meistens daran, dass die Vorgesetzten ihren Mitarbeitern zu wenig zutrauen und infolgedessen entweder keine Freiräume lassen oder im schlimmsten Fall alles selbst erledigen. Da ist es egal, in welcher Situation agiert wird und welche Umweltparameter gerade dominant sind. Kurzum: egal wie VUCA es um einen herum ist, die Determinanten, die gute von schlechter Führung unterscheiden, sind seit jeher die gleichen. Aktuell bestätigt wird dies durch die ukrainischen Erfolge bei der Verteidigung ihres Landes. Im Artikel „How to beat Russia. What armed forces in NATO should learn from Ukraine`s homeland defence“, wird als ein Erfolgsfaktor herausgestellt, „Ukraines forces often operate as decentralized networks with much command-and-control responsibility at lower and intermediate levels.“ Im Einzelnen wird herausgestellt „The recommendations include to Have agile staff and more troops focused on speed and adaptability Avoid highly military planning and too rigid command and control Rely more on oral agreements and verbal decision making <?page no="70"?> 70 4 Gute Führung - aber wie? Promote thinking and acting in network and matrix structures, breaking out of rigid formal corsets Transfer more responsibility to non commissioned officers Investigate further if fundamentally different modes of operation require different sets of forces to be succesfull. “ 100 Damit wird exakt die Lösung beschrieben, wie gute Führung im Unternehmen oder jeder x-beliebigen Output orientierten Organisation implementiert werden kann und seit langem Maßstab für Führung in deutschen Streitkräften ist. Die Rede ist von der sogenannten „Auftragstaktik“, die in der Vorschrift C1-160/ 0- 1001 „Truppenführung“ der Bundeswehr als „Führen mit Auftrag“ bezeichnet wird. [6] Leitende Prinzipien der Truppenführung [6.1] Führung mit Auftrag [601] Führung mit Auftrag ist deutsches Führungsprinzip und einer der Eckpfeiler des soldatischen Selbstverständnisses in den deutschen Streitkräften, untrennbar verbunden mit der Konzeption der Inneren Führung. Unabhängig davon erzwingen das dynamische und komplexe Einsatzumfeld in Landoperationen das Führen mit Auftrag. Das Führen mit Auftrag oder anders benannt die „Auftragstaktik“ ist weder neu, ist im Wortsinn eigentlich gar keine „Taktik“, sondern vielmehr ein „Führungsselbstverständnis“, quasi eine Führungsphilosophie, und kann gut erlernt werden. Wichtigste Voraussetzungen: Vertrauen in andere Menschen auf der einen und den Willen zur Übernahme von Verantwortung auf der anderen Seite! Ihren Ursprung hat das Führen mit Auftrag in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. 101 Infolge der Änderung der Waffentechnologie, insbesondere bei den Infanteriegewehren, lösten sich die geschlossenen althergebrachten Gefechtsformationen im Wortsinn im Feindfeuer auf. Besonders deutlich wurde dies 1870 zu Beginn der Kämpfe im Deutsch-Französischen-Krieg, als die preußischen Truppen dem aktuellen Reglement gemäß nach „alter Sitte“ angriffen und die Formationen im verheerenden Feuer der französischen Chassepot-Gewehre zerfielen. Die schematischen Regelungen des „Exerzier-Reglements“ hatten keine Zukunft mehr. An ihre Stelle trat im Ergebnis die Notwendigkeit des mit Eigeninitiative ausgestatteten Führers, der folglich eigenverantwortlich der jeweiligen Lage vor Ort entsprechend im Sinne des Auftrags und damit im Sinne des „großen Ganzen“ und seiner Ebene entsprechend flexibel die notwendigen Entscheidungen treffen konnte. 100 Lange, N.: How to beat Russia. What armed forces in NATO should learn from Ukraine’s homeland defence, abrufbar unter www. GlOBSEC.org, Bratislava 2023. 101 Vgl. hierzu Leistenschneider, S.: Die Entwicklung der Auftragstaktik im deutschen Heer und ihre Bedeutung für das deutsche Führungsdenken, in: Groß, G.P. (Hrsg.): Führungsdenken in europäischen und nordamerikanischen Streitkräften im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg/ Berlin/ Bonn, 2001, S. 175 ff. <?page no="71"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 71 Nach dem Ende des für Preußen siegreichen Krieges gegen Frankreich kam es zu einer kontroversen Diskussion in der Militärliteratur, wie die Zukunft der Kampfweise der Infanterie an die Bedingungen des modernen Krieges angepasst werden müsste, während sich die obersten Stellen des Heeres nicht veranlasst sahen, das Exerzier-Reglement anzupassen. Erwähnenswert, weil auf vergleichbare Situationen im unternehmerischen Alltag leicht übertragbar, sind die beiden „Schulen“, die sich in der Diskussion herauskristallisierten. Auf der einen Seite waren die „Normaltaktiker“, die in Unternehmen mit denjenigen Zeitgenossen verglichen werden können, die als Bewahrer des Althergebrachten und innovationsunfreundlich wahrgenommen werden. Die Antwort der „Normaltaktiker“ auf die nicht von geschlossenen Gefechtsformationen, sondern von Schützenschwärmen geprägten Kriegsszenarien war, den Spielraum der Führer vor Ort weiter einzuschränken als er ohnehin schon war und der Truppe ein normiertes, einheitliches Angriffsverhalten vorzuschreiben. Hintergrund waren Befürchtungen, dass die höheren Kommandoebenen die Kontrolle über den nachgeordneten Bereich verlieren würden, wenn die Führer vor Ort ein „Zuviel“ an Flexibilität besäßen. Dieses Phänomen dürfte vielen auch aus dem nichtmilitärischen Bereich bekannt sein und ist nach wie vor sehr aktuell. Demgegenüber standen die „Auftragstaktiker“. Sie vertraten die Ansicht, dass das „Normalangriffsverfahren“ nicht geeignet sei, den unterschiedlichen und nicht vorhersehbaren Szenarien ausreichend gerecht zu werden. Für sie musste ein modernes Gefecht, wie bis heute üblich, zwar von der höheren Führung geleitet werden, aber um den nicht planbaren Unbilden Paroli bieten zu können, müssten selbstentschlossene und umsichtige Führer vor Ort agieren. Ein für alle Fälle verbindliches Schema würde die Eigeninitiative im Keim ersticken. Am Ende haben sich die Auftragstaktiker durchgesetzt. Ihr Führungsverständnis ist im Zusammenspiel mit der Inneren Führung fest in der DNA der deutschen Streitkräfte verankert. Die nachfolgenden Ausführungen, die der Vorschrift „Truppenführung“ entnommen sind und unmittelbar an den oben eingefügten Ausschnitt anschließen, stellen präzise dar, was unter Führen mit Auftrag verstanden wird. Bitte versuchen Sie auch hier, das Folgende bereits beim Lesen auf Ihr Umfeld zu übertragen. Sie werden sehen, dass es nicht um Krieg, sondern um Führung geht, die immer und überall allgemeingültigen Prinzipien unterliegt. Wie bereits erwähnt, ist Führung unabhängig davon, wie sich die jeweiligen Umweltparameter gerade darstellen. Oder anders ausgedrückt: die Herausforderungen ändern sich permanent, die Systematik, wie man ihnen begegnet, ist stets die Gleiche! [602] Die Komplexität von Landoperationen erfordert zentrale Führung, die Dynamik der Operationen jedoch maximale Freiheit in der Auftragsdurchführung. Ist dies gegeben, kann unverzüglich auf Lageentwicklungen reagiert, können sich bietende Möglichkeiten genutzt und die Vielzahl der notwendigen Handlungen der Landstreitkräfte geplant und umgesetzt werden. <?page no="72"?> 72 4 Gute Führung - aber wie? In einem solchen Umfeld kann nur Führung bestehen, die sich schnell an wechselnde Lagen anpasst und Handlungsfreiheit, Entscheidungshoheit und Initiative auf der jeweiligen betroffenen Ebene belässt. Führen mit Auftrag schafft dafür den notwendigen Gestaltungsspielraum. Führen mit Auftrag ist mehr als eine Führungstechnik oder ein Führungsverfahren. Als Führungsprinzip prägt es die innere Einstellung von TrFhr und deren Führungsstil ebenso wie das Verhalten der Untergebenen. Das systematische Gewähren, Annehmen und Einfordern von Freiraum und die Forderung nach Initiative und Kreativität der unterstellten Fhr sind die Prinzipien, die alle Hierarchieebenen durchdringen. Gegenseitiges Vertrauen verbunden mit einer maßvollen Fehlertoleranz ist eine wesentliche Grundlage hierfür. Erfolgreiches Führen mit Auftrag setzt voraus: Eindeutige Formulierung der eigenen Absicht mit einer realistischen Zielsetzung Die Zuweisung bzw. Anpassung erforderlicher Kräfte, Mittel und Zeit sowie Informationen zur Auftragsdurchführung Den Willen, Verantwortung zu delegieren, ohne sich der Gesamtverantwortung zu entziehen Die Bereitschaft und Fähigkeit, Handlungsfreiheit im Sinne der übergeordneten Führung zu nutzen Die Bereitschaft, Fehler zu akzeptieren Die eigene Absicht leitet sich aus der Absicht der übergeordneten Führung und dem eigenen Auftrag ab und zielt auf die Erfüllung der wesentlichen Leistung unter Beachtung von Auflagen. [603] Handlungsfreiheit ist eine unverzichtbare Voraussetzung für erfolgreiche Operationsführung. Nachgeordnete Fhr müssen im Rahmen der Absicht der übergeordneten Führung und des Auftrages frei entscheiden dürfen, wo und wie sie ihren Schwerpunkt bilden, welche Risiken sie eingehen und wie sie den zeitlichen Ablauf der Operation bestimmen. Sie müssen ihren Gestaltungswillen entfalten können. So werden sie in die Lage versetzt, im Sinne des Ganzen selbständig zu handeln, auf Entwicklungen der Lage unverzüglich zu reagieren und die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Wo militärische Fhr untätig auf Befehle warten, kann die oft entscheidende Gunst der Stunde nicht genutzt werden. Die Handlungsfreiheit, die sie für sich selbst erwarten, müssen TrFhr auch ihren unterstellten Fhr gewähren. Ein zu starker Eingriff in die Handlungsfreiheit der Geführten zerstört gegenseitiges Vertrauen. Einzelheiten zur Durchführung befehlen TrFhr nur, soweit politische, rechtliche oder militärische Auflagen es erfordern oder um Handlungen und Wirkungen, die dem gleichen Ziel dienen, miteinander in Einklang zu bringen. [604] Andererseits verlangt Führen mit Auftrag die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung im Rahmen der gewährten Handlungsfreiheit <?page no="73"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 73 und zu selbstständigem, schöpferischem Handeln auf der nachgeordneten Ebene. TrFhr müssen, wenn notwendig, auch ohne Befehl die Aufgaben eines anderen übernehmen oder von ihrem Auftrag abweichen, um im Sinne der übergeordneten Führung zu handeln. Selbstständigkeit, richtig verstanden und zur Wirkung gebracht, ist eine Grundlage für Erfolg. [605] Führen mit Auftrag, insbesondere das Handeln im Sinne der Absicht der übergeordneten Führung, auch bei eingeschränkten Verbindungen untereinander, kann nur dann erfolgreich sein, wenn auf allen Führungsebenen ein hohes Maß an Übereinstimmung im Denken und Handeln vorherrscht. [606] TrFhr haben den Spagat zu bewältigen zwischen der Gewährung von Handlungsfreiheit und notwendiger Kontrolle auch während der Durchführung. Führen mit Auftrag setzt daher die Bereitschaft der TrFhr voraus, auch Fehler in der Durchführung in Kauf zu nehmen. Dies erfordert das Vertrauen von Vorgesetzten in die Fertigkeiten und Fähigkeiten ihrer Unterstellten, entbindet sie aber nicht von der Pflicht zur Kontrolle. Fehler sind zu analysieren und aufzuarbeiten. Für den unbedarften Betrachter, der Militär, häufig klischeehaft, mit einem starren hierarchischen System und den Attributen „Befehl und Gehorsam“ verbindet, müsste sich an dieser Stelle durchaus ein Widerspruch auftun, da das eben Gelesene so gar nicht zur damit einhergehenden subjektiven Wahrnehmung militärischer Führung zu passen scheint. Denn das wahrgenommene Klischee geht eher vom Gegenteil der Führung mit Auftrag, der sogenannten „Befehlstaktik“ aus. Deren Wesen besteht darin, dass der Befehl dem Untergebenen sein Verhalten strikt vorschreibt und eigene Handlungsspielräume nicht gegeben sind, selbst wenn der Lage angepasste eigene Entscheidungen opportun wären. Die Befehlstaktik in Reinform führt zu Mikromanagement. Tatsächlich ist es so, dass die Auftragstaktik dem Soldaten trotz seiner Einbindung in ein hierarchisches System innere Unabhängigkeit belässt, was den Prinzipien der „Inneren Führung“ und somit der Unternehmensphilosophie der Bundeswehr entspricht. Diese „Philosophie“ weist dem Untergebenen in der Erfüllung seines Auftrages einen allgemeinen Handlungsfreiraum zu, den er durch eigenverantwortliches Handeln ausfüllt. Es ist eben gerade nicht so, dass der Soldat am Kasernentor, wie es manch einer vielleicht in seiner Grundwehrdienstzeit empfunden haben mag, seine Fähigkeit zum Denken und eigenverantwortlichen Handeln abzugeben hat. Im Gegenteil, das Prinzip der Inneren Führung und in der Folge das Führen mit Auftrag verlangen unabdingbar, unabhängig von der Ebene des Einzelnen, den im Sinne des Ganzen mitdenkenden verantwortungsbewussten Menschen. Egal wie klein der Aufgaben- oder Tätigkeitsbereich des Einzelnen auch sein mag, diese Forderung auf der einen und die damit verbundene Freiheit auf der anderen Seite <?page no="74"?> 74 4 Gute Führung - aber wie? sind es, die einen Menschen überhaupt erst in die Lage versetzen, den eigenen Bereich als unverzichtbaren Bestandteil in das „Große und Ganze“ einzuordnen. Es ist das Führen mit Auftrag, das den Untergebenen mit dem notwendigen Handlungsspielraum bei gleichzeitigem Erhalt seiner Individualität ausstattet, um flexibel den Herausforderungen vor Ort begegnen zu können. 102 Damit er diesen Anspruch „des Systems“ erfüllen kann, muss das Führen mit Auftrag auf der einen Seite gelebte Praxis sein, damit die daraus resultierenden Handlungsweisen intuitiv folgen. Auf der anderen Seite muss auf allen Führungsebenen eine Ausbildung erfolgen, die Urteilsvermögen, das Erkennen der Absicht der übergeordneten Führung, den Mut zur Eigeninitiative und Entscheidung auch in unübersichtlichen Situationen und folglich die Eigenverantwortlichkeit fördern. Für den Vorgesetzten bedeutet dies, dass er den ihm unterstellten Personen ein Höchstmaß an Vertrauen entgegenbringen muss. Vertrauen in ihre fachliche und persönliche Leistungsfähigkeit ebenso wie in ihre Einstellung „zum Ganzen“. Sprich: der Vorgesetzte ist neben fachlich kompetenten und persönlich leistungsfähigen Mitarbeitern in hohem Maße auf die Loyalität seiner Untergebenen angewiesen. Und diese Loyalität wiederum muss er sich im wahrsten Sinne des Wortes „verdienen“, womit sich nicht nur der Kreis schließt, sondern deutlich wird, wie sich das Wechselspiel zwischen Führer und Geführten darstellt. Übertragen auf die Welt außerhalb des Militärs kann und darf unseres Erachtens nichts Anderes gelten! Im Umkehrschluss gilt: Wer nicht vertrauen kann, kann kein guter Führer sein! Was wiederum sehr häufig zu beobachten ist! Viele Menschen in verantwortungsvoller Position geraten gerade deswegen an ihre zeitlichen ebenso wie an ihre persönlichen Grenzen, weil sie nicht vertrauen und folglich anderen auch nichts zutrauen. Das Fehlen der Fähigkeit, anderen Menschen vertrauen zu können, führt dann oft dazu, entweder Dinge selbst zu erledigen, dem Untergebenen exakt vorzuschreiben, was er wie zu tun oder zu lassen hat und/ oder zu einer extremen Kontrollintensität. Wer so agiert, führt nicht, sondern ist der erste Sachbearbeiter seines eigenen Verantwortungsbereiches. Gleichzeitig erzieht er unmündige, unselbständige, unmotivierte und folglich unzufriedene Mitarbeiter. Er selbst ist meistens ebenfalls von Zufriedenheit weit entfernt und reiht sich in die eben aufgeführten „Uns“ nahtlos ein. Was daran liegt, dass bei dieser Art von „Führung“ die Performance seines Verantwortungsbereiches zu wünschen übriglässt, da Wesentliches und insbesondere das bekannte „Arbeiten an der Organisation“ bei gleichzeitiger zeitlicher Überlastung auf der Strecke bleibt. Gute Führer hingegen erkennt man daran, dass sie im Grundsatz all das, was andere erledigen können, delegieren und sich selbst auf das konzentrieren, was der Weiterentwicklung des Ganzen dient. Sie akzeptieren die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen und wissen, dass sie nicht über den Lapis philosophorum, den 102 Zitiert nach Freudenberg, D.: Auftragstaktik und Innere Führung, Berlin 2014, S. 71 f. <?page no="75"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 75 Stein der Weisen, verfügen. Sie fordern und fördern Individualität. Gleichzeitig leben sie eine Fehlerkultur, die dem einzigen Ziel folgt, aus Fehlern zu lernen und sie zukünftig zu vermeiden. Denn wer mit Auftrag führt, muss wissen, dass Fehler passieren und die Bereitschaft besitzen, dies zu akzeptieren. Nicht nur der Untergebene muss loyal zu seinem Vorgesetzten sein, der Vorgesetzte muss auch loyal gegenüber seinen Mitarbeitern sein, für deren Fehler einstehen und die eigenen Leute schützen. Fehler werden als unabdingbar angesehen, um Entwicklung zu ermöglichen. Gute Führer sind daher auch nicht den ganzen Tag vor Ort präsent, sie denken und handeln generalistisch, haben die Zeit und die Kraft für Leidenschaften, was insgesamt zu einem ausgeglichenen Sein führt. Der auf der anderen Seite „Geführte“ hingegen muss wissen, dass ihm vertraut wird, ihm Spielräume und Handlungsfreiheiten gegeben werden und dass sein „Chef “ loyal gegenüber ihm ist. Was wiederum keinen Freibrief darstellt, zu tun oder zu lassen, was einem beliebt. Ganz im Gegenteil. Beim Führen mit Auftrag kommt dem Mitarbeiter eine besondere Verantwortung zu. Ohne den Willen und die Fähigkeit, die gegebenen Freiräume zu nutzen und die eigenen Grenzen zu erkennen, wird Führen mit Auftrag scheitern. Was seinerseits die Themen Personalauswahl und Personaleinsatz sowie Aus- und Weiterbildung in den Fokus rückt. Die Frage, die sich unseres Erachtens an dieser Stelle in den Vordergrund drängt, ist die, wie das dem militärischen System immanente Prinzip von „Befehl und Gehorsam“ mit dem beschriebenen Prinzip des „Führens mit Auftrag“ in Einklang zu bringen ist. Schaut man sich die Definition des „Befehls“ in § 2 Nr. 2 des Wehrstrafgesetzes an, so steht dort „Ein Befehl ist eine Anweisung zu einem bestimmten Verhalten, die ein militärischer Vorgesetzter einem Untergebenen schriftlich, mündlich oder in anderer Weise, allgemein oder für den Einzelfall und mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt.“ Es ist dies nichts Anderes als das, was ein jeder „ziviler“ Vorgesetzter von seinem Untergebenen verlangt, wenn er ihm eine Anweisung erteilt. Es wird erwartet, dass der Untergebene befolgt, was ihm aufgetragen wurde. Befehlsbefugnis ist im Zivilen nichts Anderes als das Direktions- oder Weisungsrecht. Egal ob militärischer oder ziviler Mitarbeiter, der Vorgesetzte verlangt Gehorsam. Wünschenswert ist, dass dieser Gehorsam aus Einsicht im Sinne von Gefolgschaft geleistet wird. Wie sich die „Unternehmensphilosophie“ der Inneren Führung beim Anspruch auf Gehorsam auswirkt und wo die Grenzen der Gehorsamspflicht liegen, zeigt § 11 des Soldatengesetzes, in dem es heißt: „(1) Der Soldat muss seinen Vorgesetzten gehorchen. Er hat ihre Befehle nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen. Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die <?page no="76"?> 76 4 Gute Führung - aber wie? Menschenwürde verletzt oder der nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt worden ist; die irrige Annahme, es handele sich um einen solchen Befehl, befreit den Soldaten nur dann von der Verantwortung, wenn er den Irrtum nicht vermeiden konnte und ihm nach den ihm bekannten Umständen nicht zuzumuten war, sich mit Rechtsbehelfen gegen den Befehl zu wehren. (2) Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch eine Straftat begangen würde. Befolgt der Untergebene den Befehl trotzdem, so trifft ihn eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird.“ Das Soldatengesetz normiert somit viel mehr als „blinden“ Gehorsam. Es verpflichtet den Befehlsempfänger, was bei Nichtbeachtung bis hin zu strafrechtlichen Konsequenzen führen kann, zur klaren Unterscheidung zwischen dienstlich notwendig und nicht notwendig ebenso wie zwischen Recht und Unrecht. Es verlangt folglich im gegebenen Moment den Widerspruch. Obwohl der Soldat Empfänger von Befehlen ist, die er „ nach besten Kräften vollständig, gewissenhaft und unverzüglich auszuführen (hat)“ , darf er diesen nicht blind gehorchen. Der Staat, dem der Einzelne im Extremfall durch Hingabe seines Lebens dient, fordert folglich das selbständige Denken und Handeln im Sinne der demokratischen Grundordnung unabhängig vom Stand des Betroffenen, der bei Fehlverhalten auch noch dafür belangt werden kann. Ein wahrlich hehrer Anspruch. In Bezug auf das selbständige Denken und das daraus abgeleitete Verhalten gilt im Zivilen übrigens dasselbe. „Kadavergehorsam“ und das Berufen auf einen „Befehlsnotstand“ sind keine praktikablen Ausreden, wenn etwas schiefgelaufen ist. Unser Gemeinwesen verlangt den mitdenkenden, mündigen Bürger. Der Befehl beim Militär oder die Anweisung im Zivilen selbst wiederum ist viel mehr als „nur“ eine Anweisung. Sie sind das Ergebnis eines kognitiven Prozesses im Sinne folgerichtiger Denkvorgänge und stellen somit ein Instrument der Entscheidung zur Durchführung eines Auftrags dar. 103 Das konkrete „Wie“ der Ausführung eines Befehls oder einer Anweisung ist bei Führen mit Auftrag weitestgehend dem Empfänger überlassen. Weitestgehend deswegen, da der Befehl selbst in Abhängigkeit der Komplexität des Auftrages Raum, Zeit und Mittel, also die Rahmendaten, als gegebene Parameter definiert. Sowohl beim Militär als auch gleichermaßen in zivilen Organisationen ist in unserer nach freiheitlich demokratischen Prinzipien organisierten Gesellschaft folglich das Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit zur Funktionalität einer Organisation auf der einen und den individuellen Rechten des Einzelnen zu bewältigen. Denn egal, ob Befehl oder Anweisung, beides greift in die Freiheit des Einzelnen ein, da sich der eigene Wille unter den Willen eines anderen unterzuordnen hat. Die „Bewältigung“ dieses Spannungsfeld ist es auch, was „am Ende des Tages“ den guten von einem schlechten Führer unterscheiden lässt. Doch was sind die 103 Ebenda S. 19. <?page no="77"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 77 Parameter, die einen „guten Führer“ explizit ausmachen? Und was ist eigentlich Führung? Auch hier bietet die bereits zitierte Bereichsvorschrift „Truppenführung“ einige, wie wir meinen, hervorragende Definitionen und Beschreibungen. Tauschen Sie nachfolgend bitte gedanklich einfach Begriffe wie Truppenführung und Operation gegen beispielsweise Unternehmensführung, TrFhr (Truppenführer) gegen Unternehmer, Geschäftsführer oder Vorstand, Truppe gegen Belegschaft, Soldat gegen Mitarbeiter und so weiter. Sie werden sehen, dass die Ausführungen allgemeingültig sind. Und reflektieren Sie bitte das Folgende vor sich selbst und ihrem Tätigkeitsbereich. Schauen wir uns daher zunächst an, was die Vorschrift zur Führung sagt, um uns danach den konkreten Anforderungen an den Führer selbst zu nähern. Vergegenwärtigen wir uns die Kernaussage der Ausführungen: Führen ist eine Kunst, eine schöpferische Tätigkeit, die auf einer systematischen Vorgehensweise beruht! Genau hierin liegt das Geheimnis guter Führung verborgen. Der „gute“ Vorgesetzte ist schöpferisch und orientiert sich gleichzeitig an einem System. [3] Wesen der Truppenführung [301] Truppenführung ist die Führung von Kräften und Mitteln in Landoperationen nach dem Prinzip OpvbuKr (Operation verbundener Kräfte). [302] Truppenführung ist eine Kunst, eine auf Charakter, Können und geistiger Kraft beruhende schöpferische Tätigkeit, die auf einer systematischen Vorgehensweise beruht. Ihre Lehren lassen sich nicht erschöpfend darstellen. Sie verträgt weder Formeln noch starre Regelungen, doch bestimmen feste Grundsätze das Handeln der TrFhr. Diese bringen die Führungsgrundsätze mit dem gesteckten Ziel in Einklang und wählen den Weg, der unter den gegebenen Rahmenbedingungen und den zum Zeitpunkt einer Entscheidung vorliegenden Erkenntnissen den größten Erfolg verspricht. Damit nimmt, trotz einer durch Grundsätze gebildeten Systematik, der Mensch die entscheidende Rolle in der Truppenführung ein. [4] Truppenführer [401] Führung von Landstreitkräften in komplexen Situationen mit den sich durchaus ergebenden permanent verändernden und wechselnden Herausforderungen verlangt TrFhr, die sowohl flexibel und kreativ als auch entschlossen und mutig mit ihren Entscheidungen den Verlauf der Operation beeinflussen. [402] Erfolgreiche Führung beruht nicht nur auf Kreativität, zweckmäßiger Planung und klaren Befehlen, sondern ebenso auf der persönlichen Haltung und charakterlicher Stärke aller TrFhr. Vorbild in Haltung, Können und Leistung der oder des TrFhr prägen die Truppe und sind somit ein Schlüssel zum Erfolg. Aufgabe und Verantwortung von TrFhr verlangen ausgeprägte soziale Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit. Wer Menschen führen <?page no="78"?> 78 4 Gute Führung - aber wie? will, muss Menschen mögen. Die Fürsorge für das anvertraute Personal ist fester Bestandteil der Truppenführung. Unmittelbares persönliches Einwirken auf die unterstellten Fhr ist unverzichtbar. Von TrFhr wird erwartet, dass sie auch in schwierigen Situationen Ruhe bewahren und Sicherheit ausstrahlen und mit Beispiel vorangehen. Auf sie sind gerade in Krisensituationen alle Blicke gerichtet. TrFhr müssen mit der Truppe leben und mit ihr Gefahren und Entbehrungen, Freud und Leid teilen. [403] Ein Schlüssel erfolgreicher Truppenführung ist, Lageentwicklungen und damit verbundenen Handlungsbedarf antizipieren zu können, vorauszudenken, ohne vorauszudisponieren, Ideen zu haben und nie um eine Alternative verlegen zu sein, zum richtigen Zeitpunkt rasch und entschlossen zu handeln. [404] Beweglichkeit im Denken und Handeln, Vorstellungsvermögen und Kreativität müssen TrFhr auch unter Belastung zu einem eigenständigen, klaren Urteil und zweckmäßigen Entscheidungen befähigen. Erfolg haben meist die TrFhr, die sich einfallsreich, aber unkompliziert, mutig, schnell und trotzdem überlegt zum Handeln entschließen und ihre Entscheidungen mit Schwung und - bei Widerstand - auch mit angemessener Härte beharrlich durchsetzen. [405] Von TrFhr ist Denken und Handeln in vernetzten Strukturen, Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme, Geduld und Ausdauer, Umsicht und diplomatisches Geschick gefordert. Die Fähigkeiten der TrFhr zum Denken im Gesamtzusammenhang, zum Erkennen von Kausalitäten, zum Verständnis komplexer Systeme und deren Verhaltensowie zur Nutzung von Netzwerken sind Voraussetzung hierzu. TrFhr müssen das Ganze vor den Teilen sehen. Damit ist der beabsichtigte Endzustand der entscheidende Orientierungspunkt für die Operationsführung. [406] Verantwortungsfreude ist eine der vornehmsten Führereigenschaften. TrFhr müssen sich in allen Lagen mit ihrer ganzen Persönlichkeit für die Zielerreichung einsetzen und ungeachtet möglicher Widerstände und persönlicher Nachteile für ihre Überzeugungen einstehen. Allerdings darf bei abweichenden eigenen Vorstellungen das übergeordnete Ziel niemals aus den Augen verloren werden. [407] In jeder Operation kann es zu Verlusten kommen. trFhr haben stets danach zu streben, das gesteckte Ziel mit möglichst geringen Verlusten zu erreichen. Das Abwägen zwischen den Erfordernissen der Auftragserfüllung und dem Risiko von Verlusten verlangt ausgeprägte moralische Urteilsfähigkeit ebenso wie die Fähigkeit zur realistischen Beurteilung von Risiken. [408] Trotz aller Befehle, Vorgaben und Auflagen verbleibt TrFhr die individuelle ethischen Bewertung aller ihrer Maßnahmen. Sie entscheiden deshalb niemals willkürlich oder leichtfertig. Ihre Entscheidungen gründen vielmehr auf einer sachgerechten Lage- und Risikobewertung, zum Wohl und Schutz der Ihnen anvertrauten Menschen und Güter und zur Erfüllung der ihnen <?page no="79"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 79 gestellten Aufgaben sowie auf entschlossenem Einsatz der Mittel, die ihnen zu diesem Zweck notwendig, geeignet und angemessen erscheinen. [409] Liegen Vorgaben oder Voraussetzungen seitens der übergeordneten Führung zur Erfüllung des eigenen Auftrags nur unzureichend vor, fordern TrFhr diese konsequent ein. Sie pflegen hierzu stets das offene Wort gegenüber ihren Vorgesetzten. Kritikfähigkeit zeigt sich im Willen und Vermögen, zur rechten zeit am richtigen Ort und in angemessener Zeit, gebotene Einwände zu äußern. Kritikfähigkeit schließt die Bereitschaft ein, sich der Kritik anderer zu stellen. [410] TrFhr lassen sich beraten und akzeptieren andere Meinungen. [411] TrFhr entwickeln sich stets weiter. Sie sind Neuem gegenüber aufgeschlossen, orientieren sich am Möglichen, statt an Problemen zu lernen aus Rückschlägen. [412] Insbesondere aufgrund der zunehmenden Vielfalt innerhalb des Personalkörpers sowie der zunehmenden Modularität innerhalb der Streitkräfte müssen TrFhr aktiv und integrativ eine gemeinsame Wertebasis fördern und vorleben. [413] TrFhr müssen mit den jeweiligen Besonderheiten ihres Operationsraumes vertraut sein. Gespür für die Bedingungen des Operationsgebiets, Hilfsbereitschaft, Kooperations- und Kommunikationsvermögen sowie Respekt und Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Ideologien sind Voraussetzungen, um Vertrauen und Reputation in der Bevölkerung und bei ihren Repräsentanten zu gewinnen. Dies gilt gleichermaßen für andere einheimische Akteure wie beispielsweise Sicherheitskräfte. [414] TrFhr sind offen für technische Innovationen. Sie bedienen sich moderner Technik, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen. Sie müssen deren Möglichkeiten und Anforderungen kennen, aber auch deren Grenzen richtig einschätzen und akzeptieren können. [415] Vertrauen zwischen Fhr und Geführten ist eine Voraussetzung für den Erfolg und die Grundlage für den Zusammenhalt auch in Not und Gefahr. Vertrauen erwirbt, wer beherrscht und maßvoll ist, Gerechtigkeit und Geduld übt, für die Truppe sorgt, Gefahren und Härten teilt, Vertrauen schenkt, Fehler zulässt sowie immer wahrhaftig und sich selbst treu bleibt. Vertrauen überwindet Unsicherheit. [416] Nichts zerstört Vertrauen mehr als das Gefühl, schlecht oder falsch geführt, unzureichend informiert oder unter Inkaufnahme vermeidbarer Verluste eingesetzt zu werden. Wer die Truppe überfordert, untergräbt das Vertrauen in die Führung. Verlust von Vertrauen lässt sich durch fachliches Können allein nicht ausgleichen und ist nur schwer zurückzugewinnen. [417] Vertrauen schafft Loyalität. Wer nicht vollends von der Zweckmäßigkeit einer befohlenen Maßnahme überzeugt ist, wird, wenn das Vertrauen <?page no="80"?> 80 4 Gute Führung - aber wie? in die Vorgesetzten vorhanden ist, dennoch Aufträge und Befehle nach bestem Wissen und Gewissen mit aller Kraft ausführen. Soldatinnen und Soldaten schöpfen ihre Moral aus der Überzeugung vom Sinn und von der Rechtmäßigkeit ihres Einsatzes, von dem Vertrauen in ihre Fhr und in sich selbst, in ihre Ausrüstung und Ausbildung sowie in den kameradschaftlichen Zusammenhalt. Sie orientieren sich dabei an Vorbild und Persönlichkeit der oder des TrFhr. [418] Disziplin ist die Voraussetzung für das Zusammenwirken und Zusammenleben der Truppe. Sie äußert sich u.a. im Gehorsam, der die Truppe zu rascher Tat nach einheitlichem Willen befähigt. Disziplin ist vor allem Selbstbeherrschung. Sie hilft Soldatinnen und Soldaten, auch unter Belastung und in Gefahr, ihren Auftrag zuverlässig zu erfüllen. Mangelnde Disziplin kann Menschenleben gefährden, zu Straftaten führen und stellt die Erfüllung des Auftrags in Frage. Missachtung des Rechts und Duldung von Unrecht untergraben in besonderem Maße Disziplin und Moral einer Truppe. TrFhr greifen gegen mangelnde Disziplin mit Härte und Entschlossenheit durch. [419] TrFhr sind an keinen Platz gebunden. Sie wählen ihn dort, wo sie am besten auf die Operation einwirken können. Verbindungen, Beratungsbedarf, Einblick in die Gesamtlage, Einblick in die Lage im Schwerpunkt oder in Brennpunkten, in die Sicherheitslage sowie die Möglichkeit, auf unterstellte Fhr oder andere Schlüsselpersonen direkt einwirken zu können, sind dabei zu berücksichtigen. [420] TrFhr bedenken auch, dass Soldatinnen und Soldaten ihre militärische Fhr sehen, hören und erleben wollen. Führen von „vorne“, vor allem auch in kritischen Lagen, zeigt der Truppe, dass die oder der TrFhr bereit und in der Lage ist, Gefahren und Entbehrungen mit der Truppe zu teilen. Gleichzeitig zeigt sie oder er das Interesse an Beiträgen Unterstellter zum Erfolg der Operationsführung. Das alles schafft Vertrauen und Gefolgschaft. „Vorne“ ist jedoch nicht immer dort, wo der Gegner steht, sondern dort, wo die Präsenz der oder des TrFhr in der jeweiligen Lage erforderlich ist. Treffen TrFhr Entscheidungen von vorn, informieren sie rasch ihren Gefechtsstand. Das Thema „Führen mit Auftrag“ steht in der Systematik zwischen den Komplexen „Innere Führung“ und „Führungsprozess“. Wie ausgeführt handelt es sich um eine Führungsphilosophie, aus deren Verständnis gleichzeitig die Anforderungen an den Führer ebenso wie an den Geführten abgeleitet werden können. Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele Führer gleichzeitig auch Geführte sind und umgekehrt. Dies erfordert ein Gefühl dafür, wie man sich selbst im Gesamtkontext einzuordnen hat, verbunden mit viel Feingefühl für die jeweilige Situation. <?page no="81"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 81 Abb. 6 Obenstehend haben wir all das, was wir bisher über „Führen mit Auftrag“ niedergeschrieben und zitiert haben, graphisch aufgearbeitet und systematisiert. Es liegt damit eine umfassende Übersicht über Grundlagen, Prinzipien und Bedingungen, die an einen guten Führer und in der Folge an gute Führung gestellt werden, vor. Unumwunden sind die Hürden hoch … Gerade für die Führungspersönlichkeit ergibt sich hieraus ein recht umfangreiches „Pflichtenheft“. Sicherlich verbunden mit der Erkenntnis, dass es wohl kaum jemanden gibt, der alle Parameter in sich vereinigt. Malik merkt hierzu kritisch an, dass solche Anforderungskataloge das Bild eines Universalgenies zeichnen, das es in der Praxis schlichtweg nicht gibt. 104 Dieser Aussage kann nur zugestimmt werden. Prüfen Sie bitte selbst, wie Sie sich einschätzen, wo Ihre Stärken und wo Ihre Schwächen liegen. 104 Malik, F.: Führen Leisten Leben. Frankfurt 2006, S. 35. <?page no="82"?> 82 4 Gute Führung - aber wie? Berücksichtigen Sie dabei bitte, was eine zugegebenermaßen schwierige Aufgabe darstellt, dass wir Menschen alle sehr gerne den selbstwertdienlichen Verzerrungen (self-serving-bias) anheimfallen. Diese Verzerrungen besagen im Kern nichts Andres, als dass wir selbst bei der größten Fehlleistung tausend und mehr Argumente finden, warum äußere Faktoren daran schuld sind und nicht wir selbst, während wir Erfolge eher unseren eigenen Fähigkeiten zuschreiben. Hätte, könnte, würde hat hier, vor allem für Menschen mit dem Anspruch, ein guter Führer zu sein, folglich keinen Platz. Um ein weiteres Mal Malik zu bemühen: prüfen Sie genau, in welchen Bereichen sie wirksam sind und in welchen nicht. 105 Und seien Sie dabei ehrlich zu sich selbst! Um ehrlich zu sich selbst sein zu können, muss man wissen, was man will und was man kann. Und man muss die Benchmarks guter Führung kennen. Es ist nämlich wenig hilfreich, dass vermeintlich gute Führung dazu führt, dass sich alle wohlfühlen, die spezifischen Ziele aber nicht erreicht werden. Bevor wir im nächsten Kapitel auf das Handwerkszeug, den Führungsprozess als Systematik, eingehen und zeigen, wie der kognitive Prozess der Entscheidungsfindung strukturiert werden kann, haben wir nachfolgend ein paar Aussagen zusammengestellt, die als Benchmarks guter Führung dienen können. Diese sind dem Buch „Extreme Ownership - Mit Verantwortung führen“ 106 entnommen. Die Autoren Jocko Willink und Leif Babin waren Offiziere der Navy Seals der amerikanischen Streitkräfte. Im Buch beschreiben sie ihre Erfahrungen aus Kampfeinsätzen und der Ausbildung von Navy SEALS mit dem Fokus auf das Thema „Führen“ und übertragen dies auf die Anforderungen an gute Führung in Unternehmen. Ein Beispiel, das darstellt, worauf die nachfolgenden Aussagen abzielen und was konkret reflektiert werden soll, ist das von Willink und Babin im Kapitel 2 des genannten Buches beschriebene, das nachfolgend verkürzt wiedergegeben wird: Im Rahmen der Ausbildung zum Navy-SEAL müssen die Rekruten unter härtesten Bedingungen in der sogenannten „Höllenwoche“, die eher ein mentaler denn ein körperlicher Test ist, Bootsrennen gegeneinander austragen. Jede Besatzung besteht aus sieben Mann, von denen der Ranghöchste als Mannschaftsführer fungiert. Das Team, das ein Rennen gewinnt, darf eine Runde aussetzen und sich ausruhen, während die anderen weiter leiden müssen. In der beschriebenen „Höllenwoche“ gab es ein Team, das fast jedes Rennen gewann, während ein Team stets letzter wurde. Wie man sich leicht denken kann, war das Siegerteam hoch motiviert und es schien alles vorhanden zu sein, was man bei einem guten Team zu erwarten hat. Das genaue Gegenteil dessen präsentierte das Verliererteam. Der Mannschaftsführer dieses Teams war zudem der Auffassung, dass er einfach Pech hatte, da ihm die leistungsschwächste Gruppe zugewiesen worden war. 105 Ebenda S. 36. 106 Willink,J./ Babin, L.: Extreme Ownership. Mit Verantwortung führen, Redline-Verlag, 2. Auflage, München 2019. <?page no="83"?> 4.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 83 Nun ging der Ausbildungsleiter hin und tauschte die Mannschaftsführer zwischen diesen beiden Booten einfach aus. Während sich das bisherige Siegerteam, wahrscheinlich, weil es sehr gut eingespielt war, immer noch gut schlug, siegte das bisherige Verliererteam bereits im nächsten Rennen und hielt fortan eine Spitzenposition inne. Die Autoren bezeichnen diese Begebenheit als ein leuchtendes Beispiel für eine der „grundlegendsten und wichtigsten Wahrheiten im Kern von Extreme Ownership: Es gibt keine schlechten Teams, nur schlechte Führer.“ Und schlussfolgern weiter: „Führung ist der bedeutendste Faktor für die Leistung eines jeden Teams.“ Einschränkend muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass in dem beschriebenen Beispiel alle Soldaten einen harten Auswahlprozess durchlaufen hatten und demzufolge über die wesentlichen Grundlagen verfügten, sowohl körperlich als auch mental und fachlich, damit die Aussage, dass es keine schlechten Teams, sondern nur schlechte Führer gibt, in ihrer Absolutheit überhaupt zutreffen kann. Es ist natürlich nicht möglich, einfach nur sechs beliebige Menschen mit einem guten Mannschaftsführer in ein Boot zu setzen und ab dann haben Sie ein Spitzenteam. Es ist schon sehr wichtig, um im Beispiel zu bleiben, die richtigen Leute im Boot zu haben, damit sich gute Führung entsprechend entfalten kann. Doch sobald diese Bedingungen erfüllt sind, ist die Qualität der Führung der wesentliche Faktor. Gleichzeitig rückt damit das Thema Personalauswahl und die Qualität der Ausbildung in den Fokus. Reflektieren Sie nun die nachfolgenden Aussagen bitte vor dem Hintergrund des beschriebenen Beispiels als auch vor den weiter oben gemachten Ausführungen, dass ein hätte, könnte, würde keinen Platz haben! „Der einzig entscheidende Messwert für einen Führenden ist, ob sein Team erfolgreich ist oder nicht.“ „Unter all den Definitionen, Beschreibungen und Charakterisierungen von Führungspersönlichkeiten gibt es nur zwei, die von Bedeutung sind: effektiv und ineffektiv.“ „Wir wissen, was Scheitern bedeutet - zu verlieren, überrascht zu werden, ausgetrickst oder einfach geschlagen zu werden“ „Jede Führungskraft und jedes Team scheitert irgendwann und muss sich diesem Misserfolg stellen. … Die besten Führungskräfte werden nicht von ihrem Ego oder persönlichen Zielen angetrieben. Sie sind einfach auf die Mission fokussiert und darauf, wie sie am besten erfüllt werden kann.“ „In jedem Team und in jeder Organisation liegt die Verantwortung für jeden Erfolg und jeden Misserfolg beim Führenden. Die Führungskraft steht für alles gerade, was in ihrer Welt passiert.“ „Es gibt keine schlechten Teams, nur schlechte Führer. … Führung ist der bedeutendste Faktor für die Leistung eines jeden Teams. … Das ist die <?page no="84"?> 84 4 Gute Führung - aber wie? Essenz dessen, um was es bei Extreme Ownership geht. Für eine Führungskraft ist es schwer und demütigend, dieses Konzept zu begreifen.“ 4.3 Der Führungsprozess: Von den Streitkräften lernen Die Grundthese dieses Buches lautet, dass militärische Führungsphilosophien und -methoden auf Führungsprozesse in Unternehmen und anderen Organisationen übertragbar sind und auch überall dort, wo es sinnvoll ist, insbesondere zur Aus- und Weiterbildung von Führungskräften sowie zur Herbeiführung qualitativ hochwertiger Entscheidungen, übertragen werden sollten. Aus dem bisher dargelegten sollte zudem ersichtlich geworden sein, dass das Klischee, wie Führung und Entscheidungsfindung in den Streitkräften gelebt werden, von der hier relevanten Thematik meilenweit entfernt ist. Die spannende Frage dabei ist, welche Anpassungen vorgenommen werden müssen, damit das „militärische System“ in ein „ziviles System“ transferiert wird. Anfangen sollte man mit der Sprache. Jede Organisation, jede Branche, jeder Wissenschaftszweig, jede Spezialisierung entwickelt eine eigene Sprache, verwendet eigene, nicht Eingeweihten mitunter kaum verständliche Begriffe und Abkürzungen. Das Militär im Allgemeinen und die Bundeswehr im Besonderen sind da keine Ausnahmen - im Gegenteil: Geradezu legendär ist der Hang, ständig neue Abkürzungen und Akronyme zu erfinden. Mindestens genauso wichtig ist es zu identifizieren, was womit verglichen werden kann. Ein Beispiel: Die Planung einer großen militärischen Operation oder eine Eventualfallplanung auf einer hohen Führungsebene sind hinsichtlich Komplexität und Planungsaufwand sicher nicht mit den Planungen eines Kleinunternehmens für das nächste Geschäftsjahr zu vergleichen, sehr wohl aber mit den Planungen eines großen mittelständischen Unternehmens oder eines Konzerns. Es gilt also, wo erforderlich, typisch militärische Begriffe durch allgemein verständliche Termini zu ersetzen, die Methodik des militärischen Führungsvorgangs zu erklären und anhand möglicher Anwendungsfälle zu erläutern, wie der militärische Führungsvorgang auf unternehmerische Entscheidungen übertragen werden kann. Gleichzeitig gilt es zu verdeutlichen, dass der Führungsvorgang unabhängig ist von der Art der Organisation und von ihrer Größe. Er ist jederzeit und überall anwendbar! Die leitenden Fragen dabei sind: Wie komme ich bei komplexen Problemen zu ausgewogenen Entscheidungen? Wie verarbeite ich unvollständige, teils widersprüchliche Informationen? Wie gehe ich mit einer hochdynamischen und volatilen Entscheidungssituation um? Und: Wie begrenze ich das Risiko von Entscheidungen? <?page no="85"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 85 Mit anderen Worten: Wie entscheide ich in einer VUCA-Umgebung? Der (angepasste) militärische Führungsvorgang liefert dazu eine Antwort. Ziel dieses Kapitels ist es daher, die Methodik deutlich zu machen und aufzuzeigen, wie dieser Führungsprozess auf unternehmerische Entscheidungen übertragen werden kann. Es ist dabei nicht unser Anspruch, allgemein gültige „Kochrezepte“ zu liefern, vielmehr geht es darum, die Methodik des militärischen Führungsvorgangs zu vermitteln. Konkrete Anwendungsbeispiele folgen dann weiter unten. Der Führungsprozess deutscher Streitkräfte 107 kann bei kurzfristig zu treffenden Entscheidungen ebenso wie bei langfristigen Planungen und zur Führung laufender Operationen angewandt werden. Es handelt sich somit um einen echten „Allrounder“. Bei kurzfristig zu treffendenden Entscheidungen mit „begrenzter Reichweite“ bietet er einen gedanklichen Rahmen, um die Entscheidungsfindung auch unter Zeitdruck, mit unsicheren und unvollständigen Informationen, zu strukturieren. Es handelt sich dann um einen rein gedanklichen Prozess. Umfangreiche Analysen und Untersuchungen sind in solchen Fällen mit der Anwendung des Führungsprozesses nicht verbunden. Damit dies funktionieren kann, Entscheidungen also schnell getroffen werden können, muss der Führungsprozess und damit der Prozess der Entscheidungsfindung nicht nur erlernt, er muss immer wieder geübt werden. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Militär und zivilen Organisationen. Zwar wird das Thema beispielsweise von der Entscheidungstheorie oder dem Ansatz des „Strategischen Managements“ sehr umfassend diskutiert und auch an den Hochschulen gelehrt. Es wird nur nicht umfassend ausgebildet und auch nicht intensiv genug geübt. Denn das Ziel des intensiven Übens besteht darin, das gelernte, optimalerweise intuitiv, auch wirklich anzuwenden. Und zwar auch und gerade dann, wenn Entscheidungs- und Zeitdruck hoch sind. Das bedeutet, sich gerade in solchen Situationen selbst zu disziplinieren und nicht außer Acht zu lassen, was man gelernt und geübt hat. Auch wenn es einfach klingt: unter Stress ist und bleibt dies eine große Herausforderung. Bei langfristigen Planungen von grundsätzlicher Bedeutung bietet der Führungsprozess einen Rahmen, die umfangreiche Arbeit eines militärischen Stabes oder der verschiedenen Abteilungen eines Unternehmens zu strukturieren. Wie bereits an anderer Stelle dargestellt, ist der Führungsprozess selbst ein Regelkreis. Er besteht aus den Phasen: Lagefeststellung und Kontrolle Entscheidungsfindung 107 Bereichsvorschrift C1-160/ 0-1004, Truppenführung - Deutscher Führungsprozess der Landstreitkräfte. <?page no="86"?> 86 4 Gute Führung - aber wie? Planung Befehlsgebung Abb. 7 Die einzelnen Phasen des Führungsprozesses bauen aufeinander auf, ergänzen sich gegenseitig und wiederholen sich in einem zyklischen Prozess. Bei den Streitkräften wird der Führungsprozess beispielsweise durch den Auftrag eines Vorgesetzten oder durch eine Lageänderung, die Handlungsbedarf erzeugt, ausgelöst. Das kann ein überraschender Angriff oder Anschlag eines Gegners oder das Auftauchen eines neuen Gegners sein. Oder aber, fernab von klassischen Kriegsszenarien, es kommt der Auftrag, bei einem Hochwasser oder einem Waldbrand zu unterstützen, ein System zur Registrierung von Flüchtlingen zu etablieren oder aber ein Impfzentrum aufzubauen. Dies sind Szenarien, die in den vergangenen Jahren deutlich mehr Raum im Leben der Streitkräfte einnahmen, als Krieg zu führen. In einem Unternehmen kann der Führungsprozess etwa zur Planung eines neuen Geschäftsjahrs genutzt werden oder bei Änderung von Marktsituationen, weil neue Konkurrenten oder neue Produkte auf dem Markt erscheinen. In gleicher Weise nützlich ist er bei der strategischen Unternehmensplanung. Sollte ein kleines Virus die Geschäftsleitung fast über Nacht zwingen, gewohnte Pfade zu verlassen und neue zu definieren, ist der Führungsprozess hilfreich, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Lassen Sie uns daher nachfolgend die einzelnen Bestandteile im Detail betrachten. <?page no="87"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 87 4.3.1 Lagefeststellung und Kontrolle Der Führungsprozess beginnt mit der Lagefeststellung. Sie legt die Grundlage, um Entscheidungen überhaupt treffen zu können. Die Kontrolle steht am Ende des Regelkreises und ist gleichzeitig der Beginn eines neuen Regelkreises. Die Lagefeststellung ist dabei keine einmalige „Untersuchung“ oder einmalige Darstellung eines Status quo, sondern ein permanenter Prozess, mit dem eigene Planungen unablässig überprüft werden; das eigene Vorgehen auf den Prüfstand gestellt und kontrolliert wird, ob gesetzte Ziele erreicht wurden. Lagefeststellung und Kontrolle liefern Impulse, um bei Bedarf das eigene Vorgehen anzupassen, bis hin zu einem Strategiewechsel. Dies ist die Aufgabe der (sehr) hohen Vorgesetzten. Sie müssen darauf achten, ob die Grundrichtung einer Operation eingehalten wird, ob sie noch stimmt oder ob sie vielleicht angepasst werden muss. Konzentration auf das Wesentliche und nicht verzetteln in Details der Operationsführung sind der Schlüssel zum Erfolg für den militärischen Führer. Ohne Zweifel gilt dies auch in der zivilen Wirtschaft. Wir wiederholen zur Verstärkung das bereits an anderer Stelle angeführte Zitat aus dem CEO-Report der Said Business School der University of Oxford: „He explains that his executive team handles the day-to-day so he can concentrate fully on the 35,000-ft level, looking for ripples outside the company. He spoke of “hovering” above the business, his customers, consumers, competitors, and other market players, continuously searching the environment for emerging connections: “I get a bird’s-eye view,” he observes, “scanning the horizon and context without clutter.” 108 Die Parallelen zur militärischen Philosophie „Führen mit Auftrag“ liegen auf der Hand. Gerade dann, wenn die Ereignisse sich überstürzen und unklar ist, wie es weiter gehen soll, gilt es, die Mitarbeiter machen zu lassen und ihnen zu vertrauen. Der Vorgesetzte muss im übertragenen Sinn „eine Stufe höher steigen können und von oben“ auf das Geschehen blicken. Intensive Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, aber auch mit Gleichgestellten, ermöglichen paralleles und kollaboratives Planen. Nachgeordnete Hierarchieebenen können sich so frühzeitig auf das, was kommen wird, einstellen und Vorbereitungen treffen. In der militärischen Lagefeststellung kommt es zunächst darauf an, vorhandene Informationen aufzubereiten, zu verdichten und auf den Entscheidungsbedarf zu fokussieren. Genutzt werden dazu unter anderem Befehle vorgesetzter Führungsebenen, Lageorientierungen, 108 University of Oxford (Said Business School)/ Heidrick and Struggles (Hrsg.): The CEO Report. Embracing the Paradoxes of the Leadership and the Power of Doubt. o.J., S. 12. abrufbar unter: https: / / www.sbs.ox.ac.uk/ sites/ default/ files/ 2018-09/ The-CEO-Report- Final.pdf. Lagefeststellung / Kontrolle <?page no="88"?> 88 4 Gute Führung - aber wie? Meldungen nachgeordneter Führungsebenen, Anträge nachgeordneter Führungsebenen, Erkenntnisse des Militärischen Nachrichtenwesens zum Gegner, Erkenntnisse aus den Medien. Reichen die vorhandenen Informationen nicht aus, ist festzulegen, welche Informationen fehlen, um entscheiden zu können. Ganz wesentlich ist hier der militärische Führer gefordert, der seinen Informationsbedarf in den sogenannten „commander´s critical information requirement (CCIR)“ formuliert. Auf dieser Grundlage versuchen die militärischen Stäbe, die nötigen zusätzlichen Informationen für ihren Vorgesetzten zu beschaffen. Meist ist für die militärischen Führer kaum vorhersehbar, wie sich eine Lage entwickelt. Zum einen ist dies der Dynamik der Entwicklung militärischer Lagen geschuldet, zum anderen liegt es daran, dass der Gegner alles daransetzt, seine eigene Absicht zu verschleiern, zu täuschen oder irrezuführen. In dieser Situation sind aufgrund der verfügbaren Informationen und aufgrund eigener Erfahrung sinnvolle Annahmen zu treffen. Für jeden an der Lagefeststellung Beteiligten muss dabei erkennbar sein, dass es sich um Annahmen und nicht um Fakten handelt. Wo immer möglich sind im Verlauf der Operation die Annahmen durch Fakten zu ersetzen. Für unternehmerische Entscheidungen sind die Quellen für die Lagefeststellung natürlich andere, als in der militärischen Operationsführung. Aber auch hier sind zunächst die vorhandenen Informationen auszuwerten, zu verdichten und auf den Entscheidungsbedarf zu fokussieren. Auch im unternehmerischen Bereich gilt: Reichen die Informationen nicht aus, ist festzulegen, welche noch fehlen, um eine Entscheidung treffen zu können und wenn möglich, wie diese Informationen beschafft werden können. Mitunter gibt es auch im Wirtschaftsleben Informationen, die nicht eindeutig bewertetet werden können. Genauso wie ein militärischer Gegner versucht, seine Absichten zu verschleiern oder über seine Absichten zu täuschen, lässt sich ein Konkurrent in der Regel nur ungern in die Karten blicken. Wenn Fakten fehlen, hilft es, geeignete, auf Erfahrung basierende Annahmen zu treffen. Dies ist allemal besser, als wesentliche Parameter völlig unberücksichtigt zu lassen. Wichtig ist, dass für jeden an der Entscheidungsfindung Beteiligten eindeutig erkennbar ist, wo Annahmen getroffen werden mussten. Informationen ändern sich mit hoher Dynamik. Der Informationsbedarf ist also nicht statisch, sondern ändert sich in gleicher Weise; die Gewinnung von Informationen, die Lagefeststellung ist mithin ein permanenter Prozess. Sowohl militärische Führer als auch Führer im Wirtschaftsleben laufen Gefahr, in zu vielen Informationen zu ertrinken und damit relevante Informationen nicht mehr zu erkennen. Es gilt also, zu Beginn der Lagefeststellung zu definieren, welche Informationen wirklich benötigt werden. Das kann mitunter auch bedeuten, auf bestimmte Informationen zu verzichten. Auch wenn dies zu- <?page no="89"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 89 nächst ganz einfach klingt - die Praxis zeigt ein anderes Bild. Wenn durch moderne IT-Unterstützung, durch soziale Medien und durch andere moderne Kommunikationsmittel fast zu jeder Frage Informationen in großer Detaillierung vorliegen, ist auch die Versuchung groß, sich mit diesen Informationen zu beschäftigen - und dabei mitunter aus dem Blick zu verlieren, ob der eingeschlagene Kurs noch eingehalten wird und ob er noch richtig ist. Dabei ist der CEO ganz besonders gefordert. Er muss ähnlich wie der militärische Führer seine „critical information requirements“ definieren. Die Mitarbeiter sind nicht nur gefordert, diese Informationen zu liefern. Die Informationen müssen so verdichtet werden, wie sie der Entscheider benötigt. Das richtige Maß an Verdichtung zu finden, ist nicht trivial. Bei aller Verdichtung muss der Aussagegehalt der Informationen erhalten bleiben. Informationen adressatengerecht aufzubereiten, gelingt am besten, wenn die Mitarbeiter, die Entscheidungen vorbereiten, wissen, wo der Chef hinwill. Allzu viele Vorgaben sind dabei fehl am Platz. Es ist besser, den Mitarbeitern Freiräume zu lassen, wie sie die Informationen aufbereiten. Genauso wichtig wie der Inhalt der für die Lagefeststellung gewonnenen Informationen ist deren Aufbereitung. Für die meisten Menschen ist eine ansprechende graphische Darstellung sehr hilfreich, um die Informationen zu bewerten und Zusammenhänge zu verstehen. Sobald eine Entscheidung getroffen wurde, beginnt deren Umsetzung - aus der Lagefeststellung im militärischen Sinn wird in einem permanenten Prozess die Kontrolle. Militärisches Führungsverständnis ist, dass sich die militärischen Führer durch persönliche Dienstaufsicht ein Bild verschaffen, wie eine Operation verläuft und nicht zuletzt, wie die Stimmung der Truppe ist. Neben den Informationen, die sein Stab für ihn aufbereitet, muss der militärische Führer persönlich ein Bild gewinnen, ob eine Operation planmäßig verläuft oder ob nachgesteuert werden muss. Dies zu entscheiden ist seine vornehmste Aufgabe - nicht aber sich in Einzelheiten der Operationsführung einzumischen. Präsenz des militärischen Führers bei seiner Truppe zählt. Er muss Zeit für seine Truppe haben und ein offenes Ohr. Er muss wissen, was seine Frauen und Männer denken, welche Probleme sie haben und wie sie die aktuelle Lage einschätzen. Sie müssen spüren, dass ihr Vorgesetzter sie versteht und, dass er ihnen vertraut. Nur so kann auch Vertrauen der Soldatinnen und Soldaten in ihre Vorgesetzten entstehen. Völlig klar ist, dass dieses Führungsverständnis Zeit erfordert, viel Zeit sogar und auf den ersten Blick sogar mehr als ein (hoher) Vorgesetzter in einem dynamischen Umfeld üblicherweise hat. Woher diese Zeit nehmen: der Tag hat nur 24 Stunden? Die Frage ist rhetorisch und die Antwort einfach: durch Delegieren, durch „Auftragstaktik“. Auch für Vorgesetzte in Unternehmen gilt es, die große Richtung im Auge zu behalten, zu entscheiden, ob ein Geschäftsjahr planmäßig verläuft, ob die Markteinführung eines neuen Produktes erfolgreich ist, nicht aber, sich um <?page no="90"?> 90 4 Gute Führung - aber wie? Einzelheiten des Geschäftsbetriebes zu kümmern - auch wenn er alle Informationen, die er dafür bräuchte, hat oder problemlos bekommen kann. Gerade in einem hochdynamischen Umfeld mit einem Überfluss an Informationen, von denen oftmals kaum zu erkennen ist, ob sie richtig und relevant sind, ist für Führungspersönlichkeiten Konzentration auf das Wesentliche gefordert. Ein von gegenseitigem Vertrauen geprägter, partizipativer Führungsstil schafft dafür die Voraussetzungen. Seine Grenzen hat dieser Führungsstil an der Stelle, wo Mitarbeiter den Eindruck haben, die Vorgesetzten nehmen ihre ureigenen Aufgaben, nämlich wichtige und strategische Entscheidungen zu treffen, nicht mehr wahr. Es muss immer klar sein: Der Chef entscheidet, wenn Entscheidungen notwendig sind, nach Beratung durch seine Mitarbeiter, aber er entscheidet. Einer der im CEO- Report der Said Business School der University of Oxford befragten CEOs hat dies - wie oben bereits zitiert - treffend als „collaborative command“ bezeichnet . . 109 So wie militärische Vorgesetzte zur Dienstaufsicht verpflichtet sind, gilt auch für Vorgesetzte in Unternehmen: da sein! Für die Mitarbeiter greifbar sein, mit ihnen reden, sie verstehen, ihre Einschätzungen ernst nehmen, schafft gegenseitiges Verständnis und gegenseitiges Vertrauen und ist gleichzeitig Voraussetzung und Teil eines partizipativen Führungsstils. So paradox dies klingt: Zeit für seine Mitarbeiter zu haben, braucht Zeit, schafft gleichzeitig aber Freiräume. Der Vorgesetzte weiß, dass er sich auf seine Mitarbeiter verlassen kann und sich eben nicht um Kleinigkeiten kümmern muss. Und er erfährt im Zweifel auch, wo er persönlich eingreifen muss, weil etwas nicht wie erwartet funktioniert. Präsenz hilft, loszulassen und sich auf die wirklich wichtigen Aufgaben zu konzentrieren. 4.3.2 Entscheidungsfindung Im militärischen Führungsprozess besteht die Entscheidungsfindung aus der Auswertung des Auftrags und der Beurteilung der Lage. Am Ende der Entscheidungsfindung fasst der militärische Führer einen Entschluss, mit anderen Worten: Er trifft eine Entscheidung. Sowohl für die „Auswertung des Auftrags“ als auch für die „Beurteilung der Lage“ gibt es in den Führungsvorschriften Schemata, die bei den militärischen Planungen genutzt werden. Sie sollen den Führungsprozess strukturieren, sicherstellen, dass er zielgerichtet verläuft und nicht zerfasert. Gleichzeitig sind die Schemata ein wichtiges Mittel, um zu gewährleisten, dass bei der Entschei- 109 Ebenda, S.5. Entscheidungsfindung <?page no="91"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 91 dungsfindung keine relevanten Informationen außer Acht gelassen werden und damit das Risiko von Entscheidungen unter Unsicherheit begrenzen. Der Führungsprozess wird bereits in der Offiziersausbildung gelehrt und später für die verschiedenen Führungsebenen immer wieder - mit anderem Fokus - vermittelt. Im Übrigen wird der Führungsprozess nicht nur gelehrt, sondern immer wieder auch geübt, sei es als Bestandteil von Übungen, sei es, dass die Anwendung des militärischen Führungsprozesses selbst Gegenstand eines Planspiels oder einer Übung ist und er wird täglich angewendet! Auch für die Planung und Führung von Operationen und für die Entscheidungsfindung gilt die alte militärische Weisheit: Was man nicht geübt hat, funktioniert im Ernstfall auch nicht. Der Offizier soll auch in Belastungssituationen den Führungsprozess sicher und quasi automatisch, intuitiv anwenden können, ohne über die Abläufe nachdenken zu müssen. Der gesamte Ablauf muss automatisiert werden, er muss den Offizieren in „Fleisch und Blut übergehen“. Das folgende Schaubild stellt den Ablauf der Entscheidungsfindung dar: Abb. 8 Im Folgenden werden die einzelnen Phasen erläutert. <?page no="92"?> 92 4 Gute Führung - aber wie? 4.3.3 Auswertung des Auftrags Was jetzt folgt, mag auf den ersten Blick aufwändig und bürokratisch erscheinen, ist in Wirklichkeit jedoch genau das Gegenteil. Systematisches Vorgehen verhindert, dass man unnötige Kraft in Aktivitäten, die nicht zielführend sind, investiert. Es hilft, den Überblick zu behalten und in angemessener Zeit zu ausgewogenen sowie nachvollziehbaren Entscheidungen und Planungen zu kommen. Abb. 9 Versetzen wir uns kurz in die Lage eines Brigadekommandeurs 110 . Er hat soeben einen Befehl der ihm vorgesetzten Division 111 erhalten. Der Befehl hat ihn nicht überrascht, denn er war bei der Erstellung des Befehls intensiv eingebunden. Schauen wir uns zunächst zur Wiederholung noch einmal das Befehlsschema an: 1. Lage a) Feindlage b) Eigene Lage 110 Eine Brigade ist ein militärischer Großverband, der auf Grund seiner Zusammensetzung in der Lage ist, operative Aufgaben selbständig zu lösen und das sogenannte „Gefecht der verbundenen Waffen“ selbständig zu führen. Sie besteht daher in der Regel aus mehreren Kampftruppenbataillonen und den dazu gehörenden Unterstützungstruppen. Die Personalstärke beträgt bis zu 5.000 Soldaten. 111 Eine Division ist die Führungsebene oberhalb der Brigade. Sie setzt sich in der Regel aus mehreren Brigaden sowie weiteren Bataillonen und Regimentern zusammen. Die Personalstärke beträgt bis zu 30.000 Soldaten. <?page no="93"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 93 c) Unterstellungen und Abgaben (des Truppenteils, der den Befehl herausgibt) d) Zivile Lage (ziviles Umfeld, insbesondere Bevölkerung, Organisationen etc.) e) Lage im Informationsumfeld (Akteure, Medienlandschaft, kulturspezifische Besonderheiten etc.) 2. Auftrag knappe Darlegung des eigenen Auftrags 3. Durchführung a) Eigene Absicht mit geplanter Operationsführung b) Aufträge an die unterstellten Truppenteile c) Spezielle Aufträge, gegliedert in Aufklärung, Unterstützung, allg. Aufgaben d) Maßnahmen zur Koordinierung (Anweisungen für das Zusammenwirken, soweit erforderlich und nicht in Einzelaufträgen festgelegt) 4. Einsatzunterstützung a) Logistische Unterstützung b) Sanitätsdienstliche Unterstützung c) Personelle Unterstützung d) Sonstige Unterstützung (Feldjäger, GeoInfo etc.) 5. Führungsunterstützung - Einzelheiten zum Fernmeldewesen, Erkennungszeichen, Platz des Gefechtsstands etc.) Die Ziffer 1 des Befehls, „Lage“, ist dem Brigadekommandeur im Grundsatz vertraut und dennoch wichtig, um sicher zu sein, dass er das gleiche Verständnis hat wie sein Divisionskommandeur. Die Ziffer 2 „Auftrag“ beschreibt, welche Aufgabe der Divisionskommandeur erhalten hat. Mit der Ziffer 3a (gesprochen: 3 Alpha) „Eigene Absicht“ beschreibt der Divisionskommandeur, wie er diesen Auftrag umsetzen will - bewusst so, dass der Brigadekommandeur Handlungsspielräume und Flexibilität erhält. Mit einfachen Worten: Die „3a“ beschreibt lediglich das Ziel, aber nicht den Weg zum Ziel. Für den Brigadekommandeur kommt es nun darauf an, die ihm gewährten Handlungsspielräume im Sinne seines Divisionskommandeurs zu nutzen. Dies sicherzustellen, erfordert eine intensive Auswertung des Divisionsbefehls. Dazu nutzt er die nachfolgende Hilfestellung, die wir weiter unten ins „Zivile“ übersetzt haben. 112 112 Truppenführung - deutscher Führungsprozess der Landstreitkräfte, Bereichsvorschrift C1-160/ 0-1004, S. 41 <?page no="94"?> 94 4 Gute Führung - aber wie? Die Absicht der übergeordneten Führung, in unserem Beispiel der Division (XX), wird durch den Brigadekommandeur und seinen Stab ausgewertet und im Regelfall wörtlich in die Ziffer 1 „Lage“ seines eigenen Befehls für die Brigade (X) übernommen. Sein Auftrag findet sich in der Ziffer 3b "Einzelaufträge" des Befehls der Division und wird als Ziffer 2 „Auftrag“ wörtlich übernommen. Die der Brigade unterstellten Bataillone (II) wenden dieses Prinzip in den von ihnen erstellten Befehlen gleichermaßen an, was das nachfolgende Schaubild verdeutlichen soll. Abb. 10 Welche Absicht verfolgt die übergeordnete Führung mit diesem Auftrag? Anfang Ende Welche wesentliche Leistung wird verlangt? Welche Auflagen gibt es für das eigene Handeln? Haben sich die Voraussetzungen für die Erteilung des Auftrages durch die Lageentwicklung grundlegend geändert? Entspricht die Erfüllung des Auftrages noch der Absicht der übergeordneten Führung? Ist der Auftrag noch durchführbar? Wie ist der gegebene Auftrag am besten durchzuführen? nein ja ja ja Kann Entscheidung des Vorgesetzten eingeholt werden? nein nein Was ist zu prüfen? Worüber ist zu entscheiden? Wie kann der Absicht der übergeordneten Führung am besten entsprochen werden? Muss unter Zeitdruck beurteilt und befohlen werden? Letzte Lageänderung melden, ggf. mit Vorschlag für einen neuen Auftrag? Bis wann muss die Entscheidung gefallen sein? nein nein ja ja <?page no="95"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 95 Abb. 11 Dieses Vorgehen mag auf den ersten Blick bürokratisch und aufwändig erscheinen. Und tatsächlich ist in der Praxis die Gefahr gegeben, dass der eigentliche Sinn verloren geht, nämlich ein einheitliches gemeinsames Verständnis sicherzustellen und ein stringentes Handeln im Sinn des gemeinsamen Ziels zu garantieren. Richtig angewandt ist das stufenweise Vorgehen wichtig, um ein einheitliches Verständnis zu erreichen, die verschiedenen Aktivitäten zu synchronisieren und nicht zuletzt hilft dieses Vorgehen, um gewährte Handlungsspielräume im Sinn des Ganzen nutzen zu können. Die nächste Frage im Führungsprozess ist die nach der „wesentlichen Leistung“. Im Kern wird dabei herausgearbeitet, was zu tun ist, um der Absicht der übergeordneten Führung, in unserem Bespiel der Absicht des Divisionskommandeurs, gerecht zu werden. Folgende Fragen sind dabei hilfreich: Was muss oder will die übergeordnete Führung erreichen? Was bedeutet dies für den eigenen Truppenteil hinsichtlich Kräfte, Raum, Zeit und Information - besonders in Bezug auf zu erreichende Wirkungen? Was - im Rahmen der eigenen Verantwortung - kann zum Scheitern der Operation der übergeordneten Ebene führen? Auflagen, die der Divisionskommandeur in seinem Befehl gemacht hat, schränken die Handlungsfreiheit des Brigadekommandeurs ein und sind daher bei der Entscheidungsfindung entsprechend zu berücksichtigen. Bevor weitergehende Planungsarbeiten begonnen werden, ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen, unter denen der Divisionskommandeur seinen Befehl erteilt hat, noch gültig sind oder ob eine grundlegende Lageänderung eingetreten ist. Ist dies der Fall, muss der Brigadekommandeur versuchen, von seinem Vorgesetzten, also in unserem Fall vom Divisionskommandeur, eine neue Entscheidung einzuholen. Ist dies nicht möglich oder erfordert eine Situation sofortiges Handeln, wird vom Brigadekommandeur erwartet, dass er selbst eine Entscheidung trifft. Richtschnur für seine Entscheidung ist dabei die Absicht des Divisionskommandeurs, seine „3a“. Innerhalb dieser Absicht der übergeordneten Führung muss sich die Entscheidung bewegen. <?page no="96"?> 96 4 Gute Führung - aber wie? Und auch hier gilt: Kommunikation ist entscheidend. Hat der Brigadekommandeur eigenständig entschieden, muss er seinen Vorgesetzten informieren oder wie der Soldat sagt: Er meldet! Am Ende der „Auswertung des Auftrags“ legt der Brigadekommandeur fest, was bis wann zu entscheiden ist und welche Informationen noch benötigt werden, um entscheiden zu können. Er zieht Folgerungen für das weitere Vorgehen und formuliert Prüffragen. Je nach Situation kann er auch bereits erste Ideen zu einem Operationsplan für die weitere Planungsarbeit vorgeben. Wie bereits erwähnt: Auf den ersten Blick mag dieses Vorgehen vielleicht formalistisch und umständlich erscheinen. Die Frage: „Warum das Ganze? “ ist also durchaus berechtigt, die Antwort darauf ist jedoch ebenso klar: Die methodische und strukturierte „Auswertung des Auftrags“ soll sicherstellen, dass in einer unsicheren Entscheidungssituation über die verschiedenen Führungsebenen hinweg ein einheitliches Verständnis hergestellt wird. Sie schafft damit eine, wenn nicht die wesentliche Voraussetzung für ein konsistentes und abgestimmtes Handeln aller an einer Operation beteiligten Kräfte. Die Frage nach der „grundlegenden Lageänderung“ ist essenziell, um zu verhindern, dass bei den folgenden Planungsarbeiten von falschen Voraussetzungen ausgegangen wird. Die Festlegung, was bis wann zu entscheiden ist, welche Informationen noch erforderlich sind, welche Rahmenbedingungen oder Auflagen zu beachten sind und die formulierten Prüffragen strukturieren die weiteren Planungen. Gleichzeitig soll auf diesem Weg sichergestellt werden, dass alle Beteiligten stets das gemeinsame Ziel vor Augen behalten und sich nicht in Nebensächlichkeiten verlieren. Das systematische Vorgehen schafft damit eine wesentliche Voraussetzung, um in einer Situation mit unsicheren, teils widersprüchlichen und unvollständigen Informationen, die sich noch dazu sehr schnell ändern können, zügig zu einer Entscheidung zu kommen. Richtig angewandt hilft eine gründliche „Auswertung des Auftrags“, das Entscheidungsrisiko zu begrenzen und „nicht in eine falsche Richtung“ zu laufen. 4.3.4 Zielauswertung: Der Beginn unternehmerischer Planung Auch wenn eine gründliche Analyse am Anfang eines Planungsprozesses Zeit kostet: Sie ist gut investiert. Die Anfangsinvestition wird sich im Verlauf der weiteren Planungsarbeiten auszahlen - nicht nur im militärischen Bereich, sondern überall dort, wo in einer VUCA-Umgebung Entscheidungen getroffen und Planungen erarbeitet werden müssen, also auch bei unternehmerischen Entscheidungen. Es gilt also, in Analogie zur „Auswertung des Auftrags“ eine Methode zu beschreiben, mit der in einem Unternehmen Planungsprozesse begonnen werden können. Als Beispiel soll ein mittelgroßer Konzern betrachtet werden. Der Geschäftsführer einer der Tochtergesellschaften steht vor der Aufgabe, das kommende Geschäftsjahr zu planen. Grundlage ist eine Zielvereinbarung, die er für seine <?page no="97"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 97 Gesellschaft mit der Holding geschlossen hat. Genauso wenig, wie der Brigadekommandeur vom Befehl seines Divisionskommandeurs überrascht ist, ist für den CEO die Zielvereinbarung eine Überraschung. Er hat sie mit seinem Vorgesetzten verhandelt und mit seiner Unterschrift bestätigt, dass er die Ziele für erfüllbar hält. Die vereinbarten Ziele sind somit die Grundlage für seine Planungen zum neuen Geschäftsjahr. An die Stelle der „Auswertung des Auftrags“ tritt in der Unternehmensführung die „Zielauswertung“, die wie in Abb. 12 dargestellt aussieht. Zielauswertung Abb. 12 Zu Beginn der „Zielauswertung“ steht die Frage, welche Ziele, welche Absicht die Unternehmensführung, in unserem Fall die Führung des Konzerns, verfolgt. Geht es darum, den Umsatz und den Gewinn zu steigern? Sollen die Kosten gesenkt werden? Sollen neue Produkte am Markt platziert werden? Sollen neue Märkte erschlossen werden? Soll der Konzern restrukturiert werden? Sollen Themen wie Nachhaltigkeit oder Emissionsreduzierung stärker in den Fokus Welche Absicht verfolgt die übergeordnete Führung mit diesem Auftrag? Ende Welche wesentliche Leistung wird verlangt? Welche Auflagen gibt es für das eigene Handeln? Haben sich die Voraussetzungen für die Erteilung des Auftrages durch die Lageentwicklung grundlegend geändert? Entspricht die Erfüllung des Auftrages noch der Absicht der übergeordneten Führung? Ist der Auftrag noch durchführbar? Wie ist der gegebene Auftrag am besten durchzuführen? nein ja ja ja Kann Entscheidung des Vorgesetzten eingeholt werden? nein nein Was ist zu prüfen? Worüber ist zu entscheiden? Wie kann der Absicht der übergeordneten Führung am besten entsprochen werden? Muss unter Zeitdruck beurteilt und befohlen werden? Letzte Lageänderung melden, ggf. mit Vorschlag für einen neuen Auftrag? Bis wann muss die Entscheidung gefallen sein? nein nein ja ja <?page no="98"?> 98 4 Gute Führung - aber wie? genommen werden? Die Reihe ließe sich mit Beispielen fast beliebig fortsetzen. Wichtig ist in diesem Kontext zu erkennen, welche Ziele der Konzernführung besonders wichtig sind, wo ihre Schwerpunkte liegen. Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, was ist meine wesentliche Leistung, was muss ich beitragen, damit ich nicht nur meine eigenen Ziele erfülle, sondern auch die der Konzernführung. Geht es für meine Sparte hauptsächlich darum, neue Produkte zu entwickeln, müssen in meiner Sparte vor allen Dingen Kosten gesenkt werden, ist die Produktion umzuorganisieren oder muss ich meine Vertriebsorganisation anpassen oder gar neu aufbauen? Gezielt die Frage nach der „wesentlichen Leistung“ zu stellen, ist immer lohnend. Nicht in jedem Fall liegt die Antwort direkt auf der Hand. Klarheit darüber, was im Wesentlichen von mir erwartet wird, hilft später im Entscheidungs- und Planungsprozess, die eigene Absicht zu formulieren, die richtigen Schwerpunkte zu setzen und die eigene Arbeit zu strukturieren. Wichtig für die weiteren Planungen ist, sich klarzumachen, welche Faktoren den eigenen Handlungsspielraum einengen: In der Regel steht nur ein definiertes Budget zur Verfügung. Ein bestimmtes Projekt muss in einer definierten Zeit abgeschlossen werden. Das Unternehmen hat sich freiwillig verpflichtet, bestimmte Standards, zum Beispiel im Bereich der Nachhaltigkeit, einzuhalten. Der Konzern hat eine regionale Aufteilung für seine Sparten festgelegt. Die Frage nach Auflagen und Rahmenbedingungen schafft Klarheit, welcher Handlungsspielraum für die eigene Geschäftstätigkeit verfügbar ist. Auch hier gilt: nicht immer erschließt sich der Handlungsrahmen sofort und auf den ersten Blick. Die gezielte und im Führungsprozess sehr früh gestellte Frage nach den Auflagen und Rahmenbedingungen hilft, unnötigen Aufwand zu vermeiden. Sie hilft, abwegige Lösungen als solche zu erkennen. Nicht nur zu Beginn eines Planungsprozesses, sondern kontinuierlich ist die Frage zu stellen, ob die Voraussetzungen, unter denen Ziele vorgegeben oder vereinbart wurden, noch gegeben sind. Sind sie dies nicht, spricht man im militärischen Führungsvorgang von einer „grundlegenden Lageänderung“. Die gesetzten Ziele sind dann möglicherweise nicht mehr realistisch und müssen angepasst werden. Manche „grundlegenden Lageänderungen“ sind offensichtlich. Wenn durch eine Naturkatastrophe Ernteerträge ganz oder teilweise ausfallen, liegt das auf der Hand. Eine „grundlegende Lageänderung“ kann aber für die Unternehmensführung auch eintreten, wenn neue Wettbewerber auf dem Markt auftreten, wenn sich das Käuferverhalten ändert oder wenn neue Gesetze oder Verordnungen Anpassungen erforderlich machen. Solche Lageänderungen sind nicht immer automatisch und schnell genug zu erkennen. Die bewusst gestellte Frage „Gab es eine grundlegende Lageänderung? “ ist an dieser Stelle sinnvoll und nützlich. Sie hilft, frühzeitig Risiken für die eigene Planung zu erkennen, unnötigen Aufwand zu vermeiden und kann die Notwendigkeit aufzeigen, die eigenen Ziele anzupassen. Kurzum: Grundlegende Lageänderungen erzeugen immer einen Handlungsbedarf, sei es, dass die eigene Planung modifiziert und angepasst werden muss, sei es, dass ein komplett neuer Planungszyklus durchlaufen werden muss. <?page no="99"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 99 Am Ende der Zielauswertung stehen Folgerungen und Prüffragen. Es wird bewertet, was die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse für die eigenen Planungen und für die eigenen Handlungsmöglichkeiten bedeuten. Je nach Ergebnis können diese Folgerungen bereits dazu führen, dass Handlungsmöglichkeiten verworfen, oder wesentliche Eckpunkte für die weiteren Planungen festgelegt werden. Um die weiteren Planungsarbeiten zu strukturieren, sollten immer folgende Fragen gestellt werden: Was ist bis wann zu entscheiden? Welche Informationen fehlen noch, um eine Entscheidung treffen zu können und wie sollen sie gewonnen werden? Was ist im Rahmen der weiteren Planungsarbeiten vorrangig zu untersuchen und zu entscheiden? Mit der Frage: „Was ist bis wann zu entscheiden? “ soll zum einen ein stringentes Vorgehen sichergestellt und zum anderen erreicht werden, dass die Planungen zeitgerecht abgeschlossen werden können. Gerade in einer VUCA-Situation ist es zwingend erforderlich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und nicht in der Fülle der verfügbaren Informationen zu ertrinken. In einem volatilen, komplexen und mehrdeutigen Umfeld mit hoher Dynamik wird man nicht alles, was interessant wäre, untersuchen können. Die verfügbaren Ressourcen müssen auf das, was entscheidungsrelevant ist, konzentriert werden. Was aber ist wirklich entscheidungsrelevant? Dies möglichst treffsicher herauszufinden, soll durch den methodischen Ansatz und das systematische Vorgehen im Rahmen der „Zielauswertung“ erreicht werden. Damit endet die „Zielauswertung“. 4.3.5 Beurteilung der Lage Nach der Auswertung des Auftrags folgt im militärischen Führungsprozess die Beurteilung der Lage. Sie dient der Entscheidungsvorbereitung und umfasst immer die Beurteilung der Einflussfaktoren, das Feststellen der Möglichkeiten eigenen Handelns, den Kräfte- und Fähigkeitsvergleich sowie das Bewerten und Abwägen der Möglichkeiten eigenen Handelns. 113 Bei der Beurteilung der vorliegenden Fakten und Erkenntnisse hat sich folgendes Grundschema bewährt: Ansprechen Beurteilen Folgern 113 Truppenführung - deutscher Führungsprozess der Landstreitkräfte, Bereichsvorschrift C1-160/ 0-1004 Ziff 2056. <?page no="100"?> 100 4 Gute Führung - aber wie? Dabei bedeutet: Ansprechen: Benennen, Bezeichnen Beurteilen: Analysieren und Zuordnen der vorliegenden Erkenntnisse in wertenden Aussagen hinsichtlich ihres Gewichts, ihrer Bedeutung und ihrer möglichen Wirkung auf das eigene und feindliche bzw. gegnerische Handeln sowie das Handeln anderer Akteure Folgern: Schlussfolgern aus der Beurteilung der möglichen Auswirkungen auf die eigene Truppe bzw. das eigene Handeln mit Blick auf Handlungserfordernisse und Handlungsmöglichkeiten sowie das Feststellen und den Ausschluss von Möglichkeiten Im Folgenden werden die Elemente der „Beurteilung der Lage“ behandelt. Das folgende Schaubild enthält eine Darstellung aller möglichen Einflussfaktoren, die es zu beurteilen gilt. Abb. 13 Beurteilung der Lage des Gegners In der Beurteilung der Lage des Gegners wird untersucht, welche Möglichkeiten ein Gegner hat, das eigene Handeln zu beeinflussen. Dabei gilt es, eine Bewertung zu treffen, welches die wahrscheinlichste Option eines Gegners ist, aber <?page no="101"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 101 auch, welches die für den eigenen Auftrag gefährlichste Option ist. Kann nicht beurteilt werden, welche Möglichkeit der Gegner wahrscheinlich wählen wird, gebietet die militärische Vorsicht, von der gefährlichsten Option auszugehen. Soweit möglich sind Maßnahmen zu identifizieren, um die Auswirkungen der gegnerischen Handlungen zu verhindern oder zu begrenzen. Beurteilung der Lage der eigenen Kräfte Im Rahmen der „Beurteilung der Lage eigener Kräfte“ wird das eigene Leistungsvermögen abgeschätzt. Bei einer militärischen Lagebeurteilung wird zunächst die personelle und materielle Stärke, Ausbildungsstand sowie Qualität und Quantität der eigenen Ausstattung bewertet. Im Ergebnis wird abgeschätzt, welchen Einsatzwert die eigenen Kräfte haben, welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben, welche Voraussetzungen dafür erforderlich sind und gegebenenfalls, ob es Möglichkeiten gibt, den Einsatzwert der eigenen Truppe zu verbessern. Beurteilung der Geofaktoren Hier wird untersucht, welchen Einfluss das Gelände, die Infrastruktur und das Wetter auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten und auf die Auftragserfüllung haben. Beurteilung der zivilen Lage Eine Reihe von Faktoren aus dem zivilen Umfeld kann Einfluss auf die Planung und Führung militärischer Operationen haben. Lage und Verhalten der Bevölkerung, die humanitäre Situation, aber auch politische, rechtliche, wirtschaftliche und kulturelle Einflussfaktoren können die eigenen Möglichkeiten zur Auftragserfüllung beeinflussen. Generell ist zu untersuchen, ob es weitere Faktoren gibt, die das eigene Handeln beeinflussen können. Feststellen der Möglichkeiten eigenen Handelns Als logisches Ergebnis des bis dahin durchgeführten Entscheidungsfindungsprozesses werden eigene Handlungsmöglichkeiten abgeleitet. Da sowohl die Absichten des Gegners niemals zu hundert Prozent klar sind, da sich die Situation, also die Lage, ständig ändern kann, ist es üblich und notwendig, zunächst verschiedene Optionen für die eigene Operation zu entwerfen. Meist ist es hilfreich, die verschiedenen Optionen graphisch oder als Prinzipskizze aufzubereiten. Da die Lageentwicklung meist nicht vorhersehbar ist, kann eine Operation mit einem längeren Planungshorizont in der Regel nicht präzise über die gesamte Operationsdauer geplant werden: Je länger der Planungshorizont, umso generischer werden die Operationsplanungen. Für den militärischen Planer bedeutet dies zunächst, die Planung so zu gestalten, dass sie genügend Flexibilität bietet, um auf Lageänderungen reagieren zu können. Üblicherweise werden militäri- <?page no="102"?> 102 4 Gute Führung - aber wie? sche Operationen in aufeinander folgenden Phasen ausgeplant. Für jede Phase werden Ziele und Bedingungen formuliert, bei deren Erfüllung der Übergang in die nächste Phase erfolgen kann. Können diese Ziele nicht erreicht werden, ist ihre Erreichung nur mit nicht vertretbarem Aufwand oder Risiko möglich oder können Ziele nur deutlich verzögert erreicht werden, muss die Operationsplanung überprüft und angepasst werden. Dies geschieht in der permanenten „Lagefeststellung und Kontrolle“ des Führungsvorgangs. Alle Planungen sind von vornherein so auszulegen, dass situationsbedingte Anpassungen erkannt werden können und auch möglich sind. Kräfte- und Fähigkeitsvergleich Durch einen Vergleich der eigenen Kräfte und Fähigkeiten mit denen des Gegners können die Erfolgsaussichten der eigenen Handlungsoptionen besser beurteilt werden. In der Regel reicht es dazu nicht, lediglich einen summarischen Vergleich anzustellen, denn die Kräfteverhältnisse mit dem militärischen Gegner können im eigenen Verantwortungsbereich unterschiedlich sein. Es reicht auch nicht, personelle und materielle Stärke und die Ausrüstung zu vergleichen. Wesentlich ist auch der Vergleich des sogenannten Einsatzwerts, mit einfachen Worten: Was können die eigenen Kräfte leisten, wozu ist der Gegner in der Lage? Im militärischen Führungsvorgang unterteilt sich der Kräfte- und Fähigkeitsvergleich deswegen in Gesamtvergleich örtlicher Vergleich der Kräfte und Fähigkeiten einschließlich der nichtmilitärischen Fähigkeiten Einsatzwertvergleich Sollte der Vergleich zu dem Ergebnis kommen, dass man gegenüber dem Gegner im Nachteil ist, stellt sich die Frage, ob es Möglichkeiten gibt, diese Nachteile auszugleichen. Ergibt die Bewertung eigene Vorteile, stellt sich die Frage, wie diese Vorteile am besten ausgenutzt werden können. Bewerten und Abwägen der Möglichkeiten eigenen Handelns Am Ende der Beurteilung der Lage steht das Bewerten und Abwägen der ausgearbeiteten Handlungsoptionen. Sinnvollerweise erfolgt diese in den Schritten Herausstellen der gemeinsamen Elemente Bewerten der Möglichkeiten eigenen Handelns Abwägen der Möglichkeiten eigenen Handelns 114 Dabei gelten folgende Bewertungskriterien: Wahrscheinlichkeit der Auftragserfüllung Aufwand an Kräften und Mitteln Mögliche Chancen und Risiken 114 Ebenda, Ziff 2104. <?page no="103"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 103 Zu erwartende Verluste Erwünschte und mögliche unerwünschte Wirkungen, vor allem im Informationsumfeld 115 Entschluss Am Ende der „Beurteilung der Lage“ steht der Entschluss. Der Truppenführer, in unserem Fall der Brigadekommandeur, entscheidet sich für eine der vorgestellten Handlungsoptionen und schafft damit die Grundlage für weitere Planungen und für die Befehlsgebung. 4.3.6 Zivile Entscheidungsfindung Ähnlich wie in der militärischen Lagebeurteilung gilt es auch im Führungsprozess eines Unternehmens im Rahmen der Entscheidungsfindung zunächst, systematisch die wesentlichen Einflussfaktoren zu untersuchen. Das folgende Schaubild zeigt eine beispielhafte Systematisierung: Abb. 14 Je nach Größe, je nach Komplexität eines Unternehmens und sicherlich auch in Abhängigkeit von der Branche, in der ein Unternehmen tätig ist, wird die Betrachtung der allgemeinen Marktsituation und die Betrachtung der Marktsituation in der eigenen Branche (spezielle Marktsituation) sowie die Analyse der Situation des eigenen Unternehmens unterschiedlich umfangreich und komplex sein. Gleichwohl ist auch für kleinere Unternehmen ein Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt und auf die Situation in der eigenen Branche notwendig und hilfreich. 115 Ebenda, Ziff 2105. <?page no="104"?> 104 4 Gute Führung - aber wie? Marktsituation (allgemein) Die Analyse der allgemeinen Marktsituation liefert Hinweise, wie sich die Lage in der eigenen Branche entwickeln kann - oder auch Hinweise, dass sich die Situation in einer bestimmten Branche anders entwickeln könnte als die gesamtwirtschaftliche Lage. Wird die Wirtschaft wachsen oder droht eine Stagnation, eventuell gar eine Rezession? Bleiben die Zinsen konstant, werden sie sinken oder ist mit einem Anstieg zu rechnen? Was bedeutet dies konkret für meinen Wirtschaftszweig? Weichen die gesamtwirtschaftlichen Erwartungen deutlich von den Erwartungen für das eigene Unternehmen ab, stellt sich natürlich die Frage, warum? Ist die eigene Einschätzung positiver muss die Frage erlaubt sein, ob diese Bewertung richtig ist und falls ja, ebenfalls warum. Welche Vorteile hat mein Unternehmen gegenüber anderen? Habe ich einen Technologievorsprung, ist mein Vertriebsnetz besser oder habe ich eine bessere Eigenkapitalausstattung als andere Unternehmen, um nur einige Beispiele zu nennen. Änderungen in den gesetzlichen Bestimmungen, zum Beispiel im Arbeitsrecht, im Arbeitsschutz, im Datenschutz oder bei den Dokumentationspflichten können für die Unternehmen erhebliche Auswirkungen haben und müssen sowohl bei der eigenen Planung als auch in den eigenen Kalkulationen berücksichtigt werden. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, Branchenverbände und Industrie- und Handelskammern können dazu wertvolle Informationen liefern. Selbst für kleinere Unternehmen sind allgemeine Trends mitunter relevant. Wenn die Mitarbeiter einer ausgeglichenen Lebensgestaltung einen höheren Wert als einer reinen Karriereorientierung beimessen, wenn eine geregelte Arbeitszeit und Möglichkeiten der Kinderbetreuung wichtiger werden als ein hohes Gehalt, muss dies im unternehmerischen Handeln berücksichtigt werden. Wer solche Trends frühzeitig erkennt und die nötigen Schlüsse daraus zieht, kann sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, wer Trends verschläft, gerät in die Defensive. Gerade in den letzten Jahren hat sich das Käuferverhalten erheblich geändert. Digitale Vertriebswege gewinnen zunehmend an Bedeutung. Je nach Käuferschicht können eine gute Beratung beim Kauf oder ein guter After-Sales-Service Preisnachteile wettmachen. Für viele Käufer wird die Nachhaltigkeit der gekauften Produkte immer wichtiger - oft auch dann, wenn dies mit höheren Preisen verbunden ist. Marktsituation (speziell) Hier geht es darum, die Lage der eigenen Branche und die Position des eigenen Unternehmens in der Branche zu bewerten. Wer sind meine Konkurrenten? Wo habe ich Vorteile, wo habe ich Nachteile gegenüber meinen Konkurrenten? Habe ich einen technologischen Vorsprung oder gar ein Alleinstellungsmerkmal? Was kann ich tun, um einen solchen Vorsprung zu halten oder den Vorsprung eines Konkurrenten aufzuholen? Können meine Konkurrenten günstigere Preise anbieten? Falls ja, habe ich einen Qualitätsvorteil und sind die Käufer auch bereit, diesen Qualitätsvorteil zu bezahlen? Wie effizient und effektiv <?page no="105"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 105 sind meine Vertriebswege im Vergleich zu denen der Konkurrenz? Gibt es Regionen oder Marktsegmente, in denen ich besonders gut oder besonders schlecht aufgestellt bin? Dabei genügt keinesfalls die Feststellung, dass man einen Vor- oder Nachteil hat. Immer ist auch die Frage zu stellen, woran liegt es? Genauso wichtig wie die Einschätzung eigener Konkurrenten ist auch zu bewerten, ob eine Partnerschaft mit einem anderen Unternehmen sinnvoll sein kann. Welche Unternehmen kämen für meine Firma als Partner in Betracht und warum? Hat ein potenzielles Partnerunternehmen Produkte, die mein Sortiment ergänzen könnten, hat es Produkte, die komplementär zu meinen eigenen sind? Hat ein möglicher Partner ein Vertriebsnetz, das mein eigenes ergänzen oder verbessern könnte oder hat er einen technologischen Vorsprung? Gibt es Partner, die helfen könnten, eigene Schwächen zu verbessern? Und über allem steht die Frage: Was nutzt eine Kooperation mir und was nutzt sie meinem Partner? Dass beobachtet werden muss, wie sich Einkaufs- und Verkaufspreise entwickeln werden, ist selbstredend. Genauso wichtig ist aber auch, die eigene Lieferkette im Blick zu halten. Kann es zu Lieferengpässen kommen und wenn ja, was sind die Ursachen? Kann oder muss ich sogar Vorsorge treffen wie zum Beispiel eine erhöhte Bevorratung? Neue Produkte können einen Markt vollständig verändern. Die letzten Jahre liefern zahlreiche Beispiele. Die Digitalfotografie hat dazu geführt, dass die klassischen Filme nahezu verschwunden sind. Das Smartphone hat das klassische Handy nahezu verdrängt und ist im Begriff, auch das Festnetztelefon überflüssig zu machen. Für den Musikvertrieb verlieren CD oder DVD immer mehr an Bedeutung zugunsten von Streaming-Diensten. Der Marktanteil von E-Bikes wächst stetig. Und schließlich kann ein geändertes Käuferverhalten einen Markt komplett verändern. Der Markt für individuelle Mobilität ändert sich zurzeit dramatisch. Der Besitz eines eigenen Autos verliert zunehmend an Bedeutung. Mobilität wird dann gekauft, wenn man sie braucht; sei es bei einem Carsharing- Dienst oder man abonniert ein Fahrzeug für eine bestimmte Zeit. Wer solche Trends nicht rechtzeitig erkennt, läuft Gefahr, vom Markt zu verschwinden. Die große Herausforderung bei der Analyse der allgemeinen und der speziellen Marktsituation ist es, relevante Informationen rechtzeitig zu erkennen und sich nicht in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Absolute Sicherheit kann es dabei nicht geben, aber es gibt Mechanismen, die helfen können, Fehler zu vermeiden. Es beginnt damit, dass am Ende der Phase „Zielauswertung“ festgelegt wurde, welche Informationen noch notwendig sind, um eine Entscheidung zu treffen und wenn möglich auch, wie diese Informationen beschafft werden sollen. Nur wenn sich im laufenden Prozess herausstellt, dass die Informationen nicht ausreichend sind oder dass wesentliche Faktoren vergessen wurden, sollte der Informationsbedarf erweitert werden. Hilfreich ist auch immer die Rückkopplung zu den eigenen Zielen. Was wird von mir erwartet? Was ist meine wesentliche eigene Leistung? Alles, was nicht den eigenen Zielen und der wesentlichen eigenen Leistung zugeordnet werden kann, wird nicht weiter untersucht. Oft hilft <?page no="106"?> 106 4 Gute Führung - aber wie? die vermeintlich einfache Frage „Was heißt das jetzt für mich? “ weiter. „Vermeintlich einfach“ deswegen, weil man allzu leicht und schnell der Versuchung erliegt und feststellt: „Das ist für uns nicht wichtig! “. Kritisches Denken und die Bereitschaft, das eigene Handeln zu hinterfragen, sind gefragt. Bildlich ausgedrückt: Man muss bereit sein, einige Stufen höher zu steigen, um von oben beurteilen zu können, ob die Richtung noch stimmt, eben den bereits erwähnten „bird’s eye view“ einnehmen. Feststellen der Möglichkeiten eigenen Handelns Der nächste Schritt im Rahmen der Entscheidungsfindung ist es, Möglichkeiten für das eigene Handeln zu entwerfen. Offiziere haben gelernt, stets in Optionen zu denken und diese verschiedenen Optionen auch permanent hinsichtlich ihrer Chancen und Risiken zu bewerten. Hintergrund ist, dass sich die militärische Lage jederzeit ändern kann, etwa, weil ein Gegner ganz gezielt versucht, zu überraschen, unvorhersehbar zu handeln, weil sich Wetterbedingungen geändert haben, weil eigene Aktionen nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben oder weil eigene Planungen zum Beispiel wegen ausbleibendem Nachschub nicht mehr umgesetzt werden können. Dies gilt es schon bei der Planung von Operationen zu berücksichtigen. Zum einen soll so sichergestellt werden, dass keine erfolgversprechenden Möglichkeiten außer Acht gelassen werden, zum anderen wird durch das Denken in Optionen die Möglichkeit verbessert, auf unvorhergesehene Änderungen der Lage zu reagieren. Genau wie sich eine militärische Lage jederzeit ändern kann, ist auch die moderne Geschäftswelt zunehmend VUCA; sie wird immer volatiler, unsicherer, komplexer und mehrdeutiger. Das Denken in Optionen hilft in einer solchen Situation genau wie im Militärischen, Chancen und Risiken rechtzeitig zu erkennen und verbessert die eigene Fähigkeit, in einer Krise schnell und angemessen reagieren zu können. Bei den Planungen für ein neues Geschäftsjahr oder bei einer Mittefristplanung geht es darum, vorbehaltlos zu prüfen, ob es bessere Alternativen zu dem bisherigen Vorgehen, zu der bisherigen Geschäftsphilosophie gibt. Ob dies notwendig und möglich sein könnte, ergibt sich aus dem Verlauf der bis zu diesem Punkt durchgeführten „Lagebeurteilung“. Die systematische Vorgehensweise der „Lagebeurteilung“ liefert Antworten auf wesentliche Fragestellungen wie zum Beispiel: Ist meine Produktpalette noch zukunftsfähig oder muss ich sie anpassen? Kann ich neue Absatzmärkte erschließen? Muss ich meine Vertriebswege anpassen? Muss ich meine innerbetriebliche Organisation anpassen? Muss ich Kosten senken? Das Ergebnis an diesem Punkt der „Lagebeurteilung“ ist die Klarheit, ob es notwendig und lohnend ist, Handlungsoptionen für das neue Geschäftsjahr oder für den Mittelfristzeitraum zu erarbeiten und die Grundlage, welche Optionen dies sein könnten. <?page no="107"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 107 Keineswegs geht es darum, die Fortsetzung bestehender Planungen von vornherein auszuschließen. Vielmehr ist Ziel, zu prüfen, ob der bisherige Weg, die bisherige Geschäftsphilosophie noch richtig ist. Das Ergebnis des Führungsprozesses kann also sein: „Wir machen weiter wie bisher“ - dann aber auf einer qualifizierten und systematisch erarbeiteten Entscheidungsgrundlage. Gerade in einer VUCA-Umgebung kann durch das systematische Vorgehen das Risiko von Entscheidungen begrenzt werden. Worin unterscheidet sich nun das „Denken in Optionen“ von einem Brainstorming? Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Optionen erst entwickelt werden, nach dem in einem systematischen Analyseprozess eigene Stärken und Schwächen, Stärken und Schwächen von Konkurrenten, Rahmenbedingungen und weitere Einflussfaktoren für das eigene Handeln herausgearbeitet wurden, während bei einem Brainstorming spontane Ideen zur Lösung eines Problems gesucht werden. Beim „Denken in Optionen“ sind also der Handlungs- und Entscheidungsspielraum eingegrenzt. Sehr wohl kann man beide Ansätze verbinden: Durch ein Brainstorming können Handlungsideen entwickelt und aufgezeigt werden. Der Realitäts-Check findet statt, in dem die so entstandenen Ideen an den Ergebnissen des Analyseprozesses gespiegelt werden. Bestehende Planungen einfach fortzusetzen, „weiter wie bisher“ zu machen, ist mindestens vordergründig meist eine einfache und bequeme Option. Das Gefühl: „Es hat ja bisher immer geklappt“ vermittelt eine manchmal trügerische Sicherheit und birgt die Gefahr, Chancen und Risiken nicht rechtzeitig oder nicht angemessen begegnen zu können. Meist ist ein „Weiter so“ weniger aufwändig, da es keine komplizierten und mitunter anstrengende Umstellungsprozesse erfordert. Neue Ideen und neue Wege dagegen müssen geplant, organisiert, kommuniziert und umgesetzt werden. Sie können bei den Mitarbeitern Ängste und Widerstände hervorrufen und bergen stets Risiken. Das „Denken in Optionen“ dagegen ist aufwändig. Es ist unbequem, weil das eigene Handeln kritisch hinterfragt wird und am Ende die Möglichkeit besteht, die eigene „Gemütlichkeitsecke“ verlassen zu müssen - mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Das „Denken in Optionen“ erfordert Zeit. Es braucht also Freiräume, die sich der Entscheider durch Delegation, durch Vertrauen in die Mitarbeiter, verschaffen muss, damit er sich auf seine wesentliche Aufgabe konzentrieren kann, nämlich wohlbegründete Entscheidungen für sein Unternehmen zu treffen. Wer sich bei aller Wichtigkeit des Tagesgeschäfts zu sehr davon vereinnahmen lässt, läuft Gefahr, die falschen mittel- und langfristigen Entscheidungen für seine Firma zu treffen. Das „Denken in Optionen“ erfordert die Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen. Jeder Entscheider muss sich immer wieder fragen: „Stimmt die Richtung noch? “, „Muss ich meine Planungen anpassen? “. Oft ist die Sorge zu finden, Änderungen könnten den Eindruck von Schwäche, von Entscheidungsangst und Wankelmütigkeit vermitteln oder als das Eingeständnis eigener Fehler gewertet werden. Aus Sicht der Autoren sind diese Sorgen zwar verständlich, aber ungerechtfertigt, schließlich geht es am Ende um das Wohl und vielleicht sogar um die Existenz des eigenen Unterneh- <?page no="108"?> 108 4 Gute Führung - aber wie? mens. Das „Denken in Optionen“ muss also gelernt und auch geübt werden inklusive der dazu notwendigen Kommunikation. Vergleich mit Wettbewerbern Um die Entscheidungsgrundlage zu verbessern und das Entscheidungsrisiko zu reduzieren kann es sinnvoll sein, entlang der verschiedenen Handlungsoptionen die eigenen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen mit denen der Wettbewerber zu vergleichen. Je nach Komplexität und Tragweite der zu treffenden Entscheidung reicht dabei ein summarischer Vergleich in der Regel nicht aus. Die Kriterien für einen qualifizierten Vergleich ergeben sich aus der Analyse der allgemeinen und der speziellen Marktsituation. Beispielhaft seien hier genannt: technologische Kompetenz finanzielle Kompetenz Vertriebskompetenz Kundenstruktur Mitarbeiterpotenziale Im Ergebnis wird für die verschiedenen Handlungsoptionen klar, wo das eigene Unternehmen gegenüber den Konkurrenten einen Vorsprung hat und wo es im Nachteil ist. „Was muss ich tun, um meinen Vorsprung zu halten? “ oder: „Was kann ich tun, um Nachteile auszugleichen? Lohnt der Versuch, meine Nachteile auszugleichen überhaupt? “ sind die Fragen, die sich an diesen Schritt anschließen. Das Ergebnis kann sein, dass Optionen, die zunächst durchaus valide erschienen, ausgeschlossen werden müssen. Bewerten und Abwägen der eigenen Handlungsoptionen Am Ende der Entscheidungsfindung steht das Bewerten und Abwägen der eigenen Handlungsoptionen, die bis zu diesem Punkt erarbeitet wurden. Auch hier bietet es sich an, die erarbeiteten Optionen mit einem plakativen Namen zu versehen. Dies erleichtert die notwendigen Diskussionen zur Entscheidungsfindung und hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Wie in der militärischen Lagebeurteilung wählt man sinnvollerweise ein Vorgehen in drei Schritten an: Herausstellen der gemeinsamen Elemente Bewerten der Möglichkeiten eigenen Handelns Abwägen der Möglichkeiten eigenen Handelns Das Herausstellen der gemeinsamen Elemente der verschiedenen Optionen ist - auch wenn dies zunächst paradox klingt - wichtig und hilfreich, um den Blick für die Unterschiede zwischen den Optionen zu schärfen und zu erkennen, wie groß die Unterschiede wirklich sind. Für die Bewertung der verschiedenen Optionen können ähnliche Kriterien wie in der militärischen Lagebeurteilung verwendet werden: Wahrscheinlichkeit, die eigenen Ziele zu erreichen Umsetzungsaufwand Chancen und Risiken <?page no="109"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 109 mögliche erwünschte und unerwünschte Wirkungen und Nebenwirkungen Schließlich sind die Vor- und Nachteile der verschiedenen Optionen zu vergleichen. Der systematisch erarbeitete Vergleich ist deswegen so wichtig, weil gerade in einer VUCA-Umgebung oft nicht eindeutig ist, welche Option insgesamt die beste ist. Für das Bewerten und Abwägen der Handlungsoptionen können ergänzend zu den verschiedenen Schritten der Lagebeurteilung aus Wissenschaft und Unternehmensberatung bekannte Instrumente wie zum Beispiel die SWOT-Analyse 116 , die Nutzwertanalyse, eine Prioritätenanalyse oder eine Portfolioanalyse genutzt werden, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird. 4.3.7 Entschluss Am Ende der militärischen Beurteilung der Lage trifft der Truppenführer seine Entscheidung und fasst sie in seinem Entschluss zusammen. Der Entschluss ist mehr als die bloße Aussage, welche Option gewählt wird. Der Truppenführer stellt im Entschluss seine Absicht und die Grundlagen der Operationsführung dar. Ein präzise formulierter Entschluss schafft die Grundlage, damit der Stab des Truppenführers die weiteren Planungsarbeiten effektiv und effizient vorantreiben kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Truppenführer keine der verschiedenen erarbeiteten Optionen übernimmt, sondern die Elemente verschiedener Optionen kombiniert. Im Entschluss sind der eigene Truppenteil in seiner Gesamtheit zu nennen, die Tätigkeit der Truppe eindeutig zu bestimmen durch Angabe der taktischen Aktivitäten, der Kräfteansatz, Schwerpunkt und die große Linie der Durchführung der Operation darzustellen, die Zeit der Durchführung festzulegen, Raum, Richtung, örtliches Ziel oder beabsichtigte Wirkung eindeutig zu bezeichnen und der Zweck des beabsichtigten Handelns zu nennen. 117 4.3.8 Die Entscheidung im Führungsprozess eines Unternehmens In der zivilen Lagebeurteilung steht am Ende die Entscheidung des verantwortlichen Vorgesetzten, also zum Beispiel des CEO oder des Geschäftsführers. Sinnvollerweise sollte die Entscheidung des CEO nicht „im stillen Kämmerlein“ getroffen werden, sondern zum Beispiel, nachdem alle Beteiligten ihre Planungsergebnisse vorgetragen haben und die verschiedenen Optionen und ihre Vor- und Nachteile angemessen diskutiert wurden. Wenn die Mitarbeiter in die 116 SWOT steht für: Stärken - Strengths, Schwächen - Weaknesses, Chancen - Opportunities, Risiken - Threats 117 Ebenda, Ziff 2108. <?page no="110"?> 110 4 Gute Führung - aber wie? Planungen und damit folglich in die Entscheidungsfindung eingebunden werden, fördert dies nicht nur die Motivation, sondern dies ist auch ein erster, wichtiger Schritt, um ein gemeinsames Verständnis zu erzeugen, auf dessen Grundlage die Mitarbeiter ihnen zugestandene Freiräume im Sinne des Ganzen nutzen und ihre Kreativität zielgerichtet einbringen können. Sollte keine Entscheidung getroffen werden können, ist es für die weitere Arbeit und vor allen Dingen auch für die Motivation der Mitarbeiter wichtig zu erklären, warum keine Entscheidung getroffen werden konnte und vor allen Dingen, was noch getan werden muss, was noch zu untersuchen ist, damit eine Entscheidung getroffen werden kann. Ebenso empfiehlt es sich, Zeitlinien zu definieren, bis wann die Voraussetzungen für eine abschließende Entscheidung geschaffen sein müssen. 4.3.9 Militärische Planung Grundzüge der Operationsführung „Ausgehend vom Entschluss der Truppenführer enthalten die Grundzüge der Operationsführung eine kurze Beschreibung, wie die Operation durchgeführt werden soll, um den Auftrag zu erfüllen ... Dies beinhaltet auch erste Festlegungen hinsichtlich der Truppeneinteilung ... In den Grundzügen der Operationsführung beschreiben Truppenführer, welche Wirkungen zu erzielen und welche zu vermeiden sind. Die nachgeordneten Führungsebenen sollen ihre Rolle in der Operation und die Wirkungen, die sie erreichen sollen, verstehen. Besonders auf höherer taktischer Ebene kann es zweckmäßig sein, die beabsichtigte Operationsführung in Phasen zu unterteilen. Diese sind in den Grundzügen der Operationsführung darzustellen … Ergänzend können die Grundzüge der Operationsführung grafisch dargestellt werden.“ 118 Die Darstellung der Grundzüge der Operation soll sicherstellen, dass alle Beteiligten ein gemeinsames Verständnis über Ziele und den groben Ablauf der Operation und nicht nur die eigene Aufgabe im Blick haben. Das gemeinsame Verständnis über die Gesamtoperation ist die entscheidende Voraussetzung, dass die unterstellten Truppenführer bei plötzlichen und unerwarteten Lageänderungen im Sinne des Ganzen handeln können. Ohne ein gemeinsames Verständnis kann Auftragstaktik nicht funktionieren, können Freiräume nicht im Sinne des Gesamtziels genutzt werden. Je unübersichtlicher, je volatiler und komplexer die Umgebung, desto wichtiger ist das gemeinsame Verständnis, desto mehr muss jeder einzelne wissen, was das Gesamtergebnis sein soll und auch, welche Aufgaben die anderen Beteiligten an der Operation haben. Die Grundzüge einer Operation knapp und dennoch präzise zu formulieren, ist anspruchsvoll und mitunter mühsam. Aber die Erfahrung lehrt: Es lohnt sich. Besser am Anfang einer Planung Zeit investieren und ein gemeinsames Verständnis herstellen, als 118 Ebenda, Ziff 2111 ff. <?page no="111"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 111 zu einem Zeitpunkt, wo schon viel Arbeit investiert wurde, festzustellen, dass die Beteiligten kein gemeinsames Verständnis haben und dass sich die Teile eben nicht zum gewünschten Ganzen fügen - obwohl viel Zeit und Aufwand investiert wurde. Die Einteilung der Operation in verschiedene Phasen hilft, die Komplexität zu reduzieren. In der Regel werden für die einzelnen Phasen Zwischenziele definiert, deren Erreichen meist Voraussetzung ist, um in die nächste Phase eintreten zu können. Die Einteilung der Operation in verschiedene Phasen und die Definition von Zwischenzielen ist ein wichtiges Hilfsmittel, um frühzeitig erkennen zu können, ob die Operation noch planmäßig verläuft, ob die Ziele noch realistisch sind oder ob Anpassungen in der Operationsführung erforderlich sind. Operationsplan „Im Mittelpunkt der Planung steht die Entwicklung des Operationsplans. Im Operationsplan wird auf der Basis des Entschlusses und der Grundzüge der Operationsführung das Zusammenwirken der Kräfte und Mittel räumlich und zeitlich auf das im Auftrag vorgegebene Ziel hin koordiniert und synchronisiert. Auch ist das Gewinnen der dazu erforderlichen Informationen zu regeln. Der Operationsplan mit der beabsichtigten Operationsführung ist grafisch zu erstellen … soweit zeichnerisch möglich und für das Zusammenwirken der Kräfte erforderlich. Kurze schriftliche Zusätze ergänzen, was sich grafisch nicht ausdrücken lässt. Grundsätzlich sind standardisierte militärische Symbole und festgelegte Abkürzungen zu verwenden. Jeder Operationsplan muss klar und einfach sein.“ 119 Auf eine umfassende Darstellung der Inhalte eines Operationsbefehls wird an dieser Stelle verzichtet. Es werden lediglich einige ausgewählte Inhalte dargestellt, um zu verdeutlichen, worum es bei einem Operationsplan geht. Die Raumordnung beschreibt, welche Truppen an der Operation teilnehmen, die Zusammensetzung der eingesetzten Truppen 120 sowie den eigenen Verantwortungsbereich und die Verantwortungsbereiche der benachbarten Truppenteile. Im Operationsplan wird die Operationsart festgelegt: Angriff, Verteidigung oder Verzögerung 121 119 Ebenda, Ziff 2114 f. 120 Je nach Auftrag werden die einzusetzenden Kräfte modular zusammengesetzt und für den Einsatz einem verantwortlichen Truppenführer unterstellt. 121 Bei der Verzögerung soll ein angreifender Feind geschwächt, militärisch „abgenutzt“ werden, um Zeit zu gewinnen. Definierte Räume werden durch die kämpfende Truppe Schritt für Schritt aufgegeben. <?page no="112"?> 112 4 Gute Führung - aber wie? Der Operationsplan benennt die Schwerpunkte der Operationsführung und beschreibt das Zusammenwirken der eingesetzten Truppenteile und wofür die Reserve eingesetzt werden soll. 122 Ergänzend zum Operationsplan werden bei der Planung von Operationen oft Eventualfallplanungen erarbeitet für den Fall, dass unvorhergesehene Lageänderungen eintreten und die eigene Operation nicht wie geplant durchgeführt werden kann. Koordination und Synchronisation Militärische Operationen sind immer von hoher Komplexität. Damit die Kampftruppe effektiv eingesetzt werden kann, muss sie stets über ein aktuelles Lagebild verfügen. Dazu stehen dem Truppenführer verschiedene Aufklärungsmittel wie zum Beispiel Drohnen, Funkaufklärung oder bemannte Aufklärung zur Verfügung. Bereits der Einsatz dieser Aufklärungsmittel verlangt ein hohes Maß an Synchronisation und Koordination. So können zum Beispiel die Ergebnisse der Funkaufklärung den Anstoß liefern, eine Drohne oder bemannte Aufklärung einzusetzen, um das Lagebild zu vervollständigen und zu verdichten. Die Fähigkeiten der verschiedenen eingesetzten Truppengattungen wie zum Beispiel Infanterie, Artillerie, Panzertruppe oder Pioniertruppe und die Wirkung ihrer Waffen müssen koordiniert werden, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Misslingt die Koordination, kann dies tödliche Folgen haben, da Soldaten von den eigenen Waffen getroffen werden könnten. „Koordination ist die Ausrichtung der Operationen aller unterstellten Kräfte bei ggf. erforderlicher gleichzeitiger Abstimmung mit den Maßnahmen anderer Ressorts, Streitkräfte Verbündeter und Nachbarn im Sinne der Absicht der übergeordneten Führung auf das Operationsziel (Wer macht was? ). Synchronisation ist die Koordination von Kräften, Mitteln und Wirkungen unter besonderer Berücksichtigung der zeitlichen Abstimmung (Was wird wann gemacht? ). Während einer laufenden Operation ist ein gemeinsames aktuelles Lagebild Voraussetzung für erfolgreiche Synchronisation. Als Hilfe für die Operationsführung und zur Visualisierung der Planung können u. a. eine Synchronisationsmatrix und ein Zeitstrahl erstellt werden.“ 123 Die wesentlichen Elemente eines Operationsplans sind die Ziffern „Eigene Lage“, „Feindlage“ und „Entschluss“. Ausgangspunkt des eigenen Operationsplans ist, wenn ich beispielsweise Kommandeur eines Panzerbataillons bin, der Entschluss des Kommandeurs der vorgesetzten Panzergrenadierbrigade. In der Ziffer „Eigene Lage“ wird beschrieben, was, wo und bis wann vom Bataillon zu tun ist und - wichtig für die Koordination und Synchronisation - wer links und rechts neben dem eigenen Verantwortungsbereich zuständig ist. 122 Angesichts der Unvorhersehbarkeit der Entwicklung militärischer Lagen gehört es zu den militärischen Führungsprinzipien, stets eine Reserve zu halten. Wird sie eingesetzt, ist schnellstmöglich eine neue Reserve zu bilden. 123 Ebenda, Ziff 2120 ff. <?page no="113"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 113 In der Ziffer „Feindlage“ wird die Absicht des Gegners dargestellt. Schon aus der Formulierung wird deutlich, dass es sich dabei um eine Vermutung handelt, ja möglicherweise dient der erwartete Angriff des Gegners nur dazu, über seine wirkliche Absicht zu täuschen, der allerdings eine gründliche Analyse der verfügbaren Informationen über den Gegner zugrunde liegt. Dem Bataillonskommandeur ist also bewusst, dass er in einer VUCA-Situation handelt. Mit seinem Entschluss macht der Kommandeur der vorgesetzten Brigade deutlich, wie er sich die Grundzüge der Operationsführung vorstellt. Er definiert, in welchen Phasen die Operation verlaufen soll, er erteilt seinen Bataillonen Aufträge und er hat eine Reserve gebildet, um bei einer unvorhergesehenen Lageentwicklung reagieren zu können. Der Bataillonskommandeur weiß also, was der ihm vorgesetzte Brigadekommandeur erreichen will, wo dessen Schwerpunkte sind, was von ihm erwartet wird - militärisch was sein Auftrag ist - und was die benachbarten Bataillone zum Gesamterfolg der Operation beitragen sollen. Die relativ allgemeine Formulierung der Aufträge an die Bataillone lässt den Kommandeuren Handlungsspielräume. Die Bataillonskommandeure kennen den Entschluss des Brigadekommandeurs und die Aufträge der benachbarten Bataillone. Diese Kenntnis ist zwingende Voraussetzung, um bei unerwarteten Lageänderungen die eigenen Handlungsspielräume im Sinne des vorgesetzten Brigadekommandeurs nutzen zu können. Der Entschluss des Brigadekommandeurs kommt für den unterstellten Bataillonskommandeur nicht überraschend, denn er war in die Entscheidungsfindung seines Vorgesetzten einbezogen. Auf der Grundlage des Operationsplans der Brigade entwickelt der Bataillonskommandeur daher in der gleichen Vorgehensweise seinen eigenen Operationsplan. 4.6.10 Unternehmensplanung Grundzüge der Unternehmensplanung Ausgehend von der Entscheidung, die der Geschäftsführer oder CEO am Ende der gemeinsam mit seinen Mitarbeitern durchgeführten Lagebeurteilung getroffen hat, empfiehlt es sich, genau wie in der militärischen Lagebeurteilung, die Grundzüge der beabsichtigten Planung schriftlich festzuhalten. Wer ist von der Entscheidung betroffen? Wer macht wann was und warum? Was will ich mit der gewählten Option erreichen? Wo liegen die Schwerpunkte der eigenen Planungen? Auch für Unternehmen geht es darum, dass alle Beteiligten, alle Sparten, alle Tochterunternehmen und alle Organisationseinheiten ein gemeinsames Verständnis über das zu erreichende Ziel, den Weg zu diesem Ziel und die Etappen auf diesem Weg haben. Je komplexer die Umwelt, je dynamischer die Entwicklung der Märkte und der Technologien, desto wichtiger ist dieses Verständnis. Nur so sind alle, die Verantwortung tragen, in der Lage im Sinne des Ganzen zu handeln, relevante Veränderungen frühzeitig zu erkennen und zu erkennen, ob <?page no="114"?> 114 4 Gute Führung - aber wie? die Planungsziele erreicht werden können. Auch für Unternehmen gilt: Besser am Anfang eines Planungsprozesses Zeit und Aufwand investieren, um ein gemeinsames Verständnis zu erreichen, als im laufenden Prozess festzustellen, dass die Aktivitäten der verschiedenen Beteiligten nicht zueinander passen, weil es unterschiedliche Auffassungen über das gemeinsame Ziel und über den Weg dorthin gibt. Die wesentlichen Grundsätze, die bei einer Operationsplanung zu beachten sind, können in übertragener Form auch für die Unternehmensplanung angewendet werden. Konkrete Beispiele hierzu sind im Kapitel „Führen trainieren“ dargestellt. 4.3.11 Befehlsgebung Das einheitliche Befehlsschema, das nicht nur im militärischen Bereich, sondern ins Zivile übersetzt in jeder anderen Organisation im Sinne eines Problemlösungsmechanismus zur Lösung komplexer Probleme in einem dynamischen und volatilen Umfeld eingesetzt werden kann, ist unabdingbar, um präzise agieren zu können. Da wir die Wiederholung für immens wichtig halten, nochmals zur Erinnerung und Vertiefung, wie das Schema aussieht: 1. Lage a) Feindlage b) Eigene Lage c) Unterstellungen und Abgaben (des Truppenteils, der den Befehl herausgibt) d) Zivile Lage (ziviles Umfeld, insbesondere Bevölkerung, Organisationen etc.) e) Lage im Informationsumfeld (Akteure, Medienlandschaft, kulturspezifische Besonderheiten etc.) 2. Auftrag knappe Darlegung des eigenen Auftrags 3. Durchführung a) Eigene Absicht mit geplanter Operationsführung b) Aufträge an die unterstellten Truppenteile c) Spezielle Aufträge, gegliedert in Aufklärung, Unterstützung, allg. Aufgaben d) Maßnahmen zur Koordinierung (Anweisungen für das Zusammenwirken, soweit erforderlich und nicht in Einzelaufträgen festgelegt) 4. Einsatzunterstützung a) Logistische Unterstützung b) Sanitätsdienstliche Unterstützung c) Personelle Unterstützung d) Sonstige Unterstützung (Feldjäger, GeoInfo etc.) <?page no="115"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 115 5. Führungsunterstützung - Einzelheiten zum Fernmeldewesen, Erkennungszeichen, Platz des Gefechtsstands etc.) Die Ziffer 1 „Lage“ beschreibt die Situation, in der sich ein bestimmter Truppenteil befindet. Sie ist wichtig, um ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten zu erreichen. In der Ziffer 2 „Auftrag“ wird beschrieben, welche Aufgabe der Vorgesetzte erhalten hat, also welches Ziel er erreichen soll. In der Ziffer 3 „Durchführung“ befiehlt der Vorgesetze, wie er seinen Auftrag ausführen will. Die wesentliche intellektuelle Leistung ist dabei die Ziffer 3a, „Eigene Absicht“. Hier beschreibt der Vorgesetze, wie er seinen Auftrag umsetzen will. So präzise, dass jeder Untergebene versteht, wie der Vorgesetzte vorgehen will und so allgemein, dass für die Untergebenen ganz im Sinne der Auftragstaktik ausreichend Handlungsspielräume verbleiben. „Die eigene Absicht ergibt sich aus dem Entschluss der Truppenführer. Sie kann dem Wortlaut des Entschlusses entsprechen. Sie muss die Grundzüge der geplanten Operationsführung enthalten. Sie hebt hervor, worauf es den Truppenführern besonders ankommt und welches Ziel erreicht werden soll.“ 124 „3a“ (3 Alpha) ist in der Bundeswehr ein stehender Begriff. Wenn ein Offizier sich nicht sicher ist, fragt er durchaus bei seinem Vorgesetzten mit den Worten „ich brauche dazu eine 3 Alpha“ nach. Eine gute „3a“ zu formulieren ist eine hohe Kunst. Und nicht immer gelingt es in der Praxis so, wie es sein soll. Eine „3a“ über mehr als eine halbe Seite ist per se nicht gut. Eine „3a“ muss kurz und knapp sein. Schließlich wird in der Ziffer „3b - Einzelaufträge“ beschrieben, wer was zu tun hat. Auch hier gilt: so präzise wie nötig, so allgemein wie möglich, um Handlungsspielräume und damit Flexibilität zu erhalten. Mit dem Abschluss der Befehlsgebung und dem Beginn der Operation endet der erste Zyklus des Führungsprozesses. Während der Operation wird auf Grund von Lagemeldungen verschiedenster Art immer wieder geprüft, ob die Operation wie geplant verläuft. Aus der Lagefeststellung, die am Anfang des Führungsvorgangs stand, wird im militärischen Führungsvorgang die Kontrolle, also der Vergleich, ob die gewünschte Situation der tatsächlichen Situation entspricht. Es geht im Ergebnis folglich darum festzustellen, ob die mit dem Operationsplan gesetzten Ziele wie vorgesehen erreicht werden können oder angepasst werden müssen - der Regelkreis des Führungsprozesses beginnt von Neuem. 124 Ebenda, Ziff 2126. <?page no="116"?> 116 4 Gute Führung - aber wie? 4.3.12 Stabsarbeit im Führungsprozess Je höher die Führungsebene, desto komplexer ist der Führungsprozess. Dem Truppenführer steht zu seiner Unterstützung ein Stab zur Verfügung. Je höher die Führungsebene, desto größer ist in der Regel der Stab; auch die Zusammensetzung kann variieren. Der Stab besteht in der Regel aus Abteilungen für Personal, Nachrichtenwesen, Operationsführung und Ausbildung, Logistik, Verwaltung, IT- und Fernmeldewesen und einer Abteilung für zivil militärische Zusammenarbeit. Der Stab berät und unterstützt den Truppenführer und ermöglicht ihm, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ab der Ebene der Brigade gibt es einen Chef des Stabes. Er ist der wichtigste Berater des Truppenführers, er leitet und koordiniert die Arbeit der verschiedenen Abteilungen und nimmt im Führungsprozess die entscheidende zentrale Rolle ein. Bei der Stabsarbeit werden Verfahren angewandt, die sich in der Praxis bewährt haben und geeignet sind, unter Zeitdruck, mit unsicheren, unvollständigen und sich permanent verändernden Informationen zügig und unter Begrenzung der Risiken zu Entscheidungen zu kommen. Die nachfolgende Abbildung gibt einen Anhalt für den Ablauf der Stabsarbeit. 125 Abb. 15 125 Ebenda, Ziff 3006. <?page no="117"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 117 Wesentliche Instrumente im Führungsprozess sind der „Lagevortrag zur Unterrichtung (LVU)“ und der „Lagevortrag zur Vorbereitung einer Entscheidung (LVE)“. Mit dem LVU soll ein einheitlicher Informationsstand hergestellt werden. Er dient der Koordination der verschiedenen Abteilungen und der Information der verantwortlichen Vorgesetzten. Gleichzeitig bietet ein LVU dem Vorgesetzten Gelegenheit, einzugreifen und Vorgaben zu ergänzen, zu präzisieren oder auch zu ändern. Mit einem LVE dagegen soll eine Entscheidung des Vorgesetzten eingeholt werden. Auch wenn der Zweck von LVE und LVU unterschiedlich ist, ähnelt sich der Ablauf. Nachfolgende Tabelle zeigt den Ablauf eines LVE, an dessen Ende der Entschluss des Truppenführers steht. Gliederungspunkt Durchführung Zeitansatz Eigener Auftrag ChdSt Auswertung des Auftrags ChdSt Einleitung: • bereits entschieden • zu entscheiden. ChdSt Kenntnisse aus Beurteilung der Einflussfaktoren: • Lage des/ der Gegner(s) bzw. anderer Akteure • Eigene Kräfte • Geofaktoren • Zivile Lage • Lage im Informationsumfeld und weitere relevante Faktoren, soweit diese für das Herleiten der Möglichkeiten des eigenen Handelns notwendig sind. G2/ S2 G5 GeoInfoStOffz G9 OpKom Gemäß Entscheidung ChdSt • Gemeinsame Elemente der Möglichkeiten eigenen Handelns • Vorstellen der Möglichkeiten eigenen Handelns ChdSt Bewerten der Möglichkeiten aus der Sicht der Zellen / Zentralen / Berater, soweit dafür relevant gemäß Entscheidung ChdSt Kräfte- und Fähigkeitsvergleich G5 Abwägen der Möglichkeiten ChdSt Vorschlag der besten Möglichkeit (formales Ende) ChdSt Entschluss TrFhr Zusammenfassung, weitere Planung der Stabsarbeit ChdSt ca. 45 Minuten <?page no="118"?> 118 4 Gute Führung - aber wie? Sowohl im LVE als auch im LVU orientiert sich die Reihenfolge der Vorträge an den Schritten der „Auswertung des Auftrags“ und der „Beurteilung der Lage“. Auf diesem Weg wird sichergestellt, dass alle wesentlichen Informationen berücksichtigt werden und stringent ein Entscheidungsvorschlag abgeleitet wird. Die „Beurteilung der Lage“ beginnt mit einem LVU, den der Chef des Stabes leitet. Er stellt die Auswertung des Auftrags und erste Ideen zur Operationsführung vor und macht sich ein Bild vom bisherigen Stand der Arbeiten. Der LVU endet mit einem „Plan für die Stabsarbeit“, in dem das weitere Vorgehen und die Zeitlinien dazu festgelegt werden. Zwischenbesprechungen dienen dazu, einen einheitlichen Informationsstand sicherzustellen und bieten dem Chef des Stabes die Möglichkeit, steuernd einzugreifen. Mit „Vorbefehlen“ können unterstellte Truppenteile frühzeitig und kontinuierlich über den Stand der Planungen und den zu erwartenden Auftrag informiert werden. „Vorbefehle“ geben den unterstellten Truppenteilen die Möglichkeit, sich vorzubereiten und mit den eigenen Planungen zu beginnen. Am Ende der „Beurteilung der Lage“ steht ein „Lagevortrag zur Vorbereitung einer Entscheidung - LVE“, den der Truppenführer leitet. Der LVE endet mit dem Entschluss des Truppenführers. Dieser Entschluss ist Grundlage für die weiteren Planungsarbeiten, für die Befehlsgebung und für die Kontrolle im Rahmen des Führungsprozesses. Der Führungsprozess selbst hat sich als eine effektive Methode erwiesen, um in einer komplexen Entscheidungssituation mit hoher Dynamik, unvollständigen und widersprüchlichen Informationen und unter Zeitdruck zu sinnvollen Entscheidungen zu kommen und das Risiko dieser Entscheidungen zu begrenzen. 4.3.13 Stabsarbeit im Führungsprozess in Unternehmen Ein ähnliches Vorgehen wie im militärischen Führungsvorgang kann auch bei unternehmerischen Entscheidungs-, Planungs- und Steuerungsprozessen angewendet werden. Wir erinnern uns: In einem mittelgroßen Konzern mit einer Spartenorganisation steht der CEO einer der Tochtergesellschaften vor der Aufgabe, entlang seiner Zielvorgaben das kommende Geschäftsjahr und die Folgejahre (mit abnehmender Detaillierung) zu planen. Auch hier empfiehlt es sich, den Planungsprozess mit einem Briefing zu beginnen. Ähnlich wie in der militärischen Stabsarbeit sollten auch im Unternehmen die verschiedenen Besprechungen einer festen Struktur folgen, die sich an den verschiedenen Schritten auf dem Weg zu einer Entscheidung und am Führungsprozess orientiert (s. Taschenkarte). In einem Briefing zu Beginn des Planungsprozesses kommt es darauf an, bei allen Beteiligten ein gemeinsames Verständnis herzustellen und die weitere Arbeit zu strukturieren. <?page no="119"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 119 Briefing zu Beginn des Planungsprozesses Gliederungspunkt Durchführung Zielvorgaben Zielauswertung Erste Erkenntnisse zu: • Konkurrenten • Marktsituation • eigenem Unternehmen • Rahmenbedingungen und Auflagen Kernelemente aus der Beurteilung der Einflussfaktoren • Marktsituation (allgemein) • Marktsituation (speziell) • Unternehmenssituation Plan für das weitere Vorgehen Aufträge an die verschiedenen Bereiche Fragen Zusammenfassung Zunächst sollte der CEO - oder ein von ihm Beauftragter - die Zielvorgaben und seine Zielauswertung vorstellen. Dabei kommt es darauf an, die Ziele des Unternehmens bzw. des Vorgesetzten klar herauszuarbeiten und deutlich zu machen, was zu tun ist, damit das Unternehmen seine Ziele erreicht. Ebenso ist der eigene Handlungsspielraum aufzuzeigen und vor allen Dingen auch deutlich zu machen, wo die eigenen Kompetenzen und Befugnisse enden. So könnte zum Beispiel ein bestimmtes Budget vorgegeben sein, das von vornherein bestimmte Optionen ausschließt. Soweit schon vorhanden, sollten dann erste Erkenntnisse zur Marktsituation und zum eigenen Unternehmen sowie zu weiteren Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen vorgetragen werden. Naturgemäß können diese ersten Erkenntnisse noch sehr allgemein sein. Wer welche Vortragsanteile übernimmt, hängt von der internen Struktur des Unternehmens und den beteiligten Personen ab. Auf jeden Fall muss zeitgerecht vor der Besprechung jedem Teilnehmer klar sein, was von ihm erwartet wird. Am Ende des Briefings muss eine Festlegung stehen, wer was bis wann macht. Eine Erklärung, warum die einzelnen Aufgaben erledigt werden müssen, hilft, den Gesamtansatz zu verstehen und erleichtert die weitere Arbeit. Soweit möglich kann bereits jetzt definiert werden, welche Informationen noch beschafft werden müssen, um zu einer ausgewogenen Entscheidung zu gelangen. Ergebnis der Auftaktbesprechung ist ein Plan, in welchen Schritten und bis wann die Unternehmensplanung vorangetrieben und abgeschlossen werden soll und was vorrangig zu untersuchen und zu entscheiden ist. <?page no="120"?> 120 4 Gute Führung - aber wie? Dieser Plan sollte auch Zwischenbesprechungen vorsehen, um für alle Beteiligten einen einheitlichen Kenntnisstand zu erreichen, die Arbeiten zu synchronisieren und zu koordinieren und bei Bedarf das Vorgehen anzupassen. Auch diese Zwischenbesprechungen folgen einer festen Struktur, die allerdings in Teilen von der Struktur der Auftaktbesprechung abweicht. Wer welche Vortragsanteile übernimmt, hängt von der Struktur des Unternehmens und den handelnden Personen ab. Zwischenbesprechung im Rahmen des Planungsprozesses Gliederungspunkt Durchführung Einleitung • Bereits entschieden Beurteilung der Einflussfaktoren • Marktsituation (allgemein) • Marktsituation (speziell) • Unternehmenssituation Beurteilung der Möglichkeiten des eigenen Unternehmens Festlegung der Schwerpunkte für die weitere Arbeit Erarbeiten von Handlungsoptionen und Bewertungsraster (soweit möglich) Anpassung des Plans für die Stabsarbeit (ggf.), dabei: • Festlegung Zeitpunkt und Gliederung des Entscheidungsvortrags • Anpassung/ Ergänzung der Aufgabenverteilung Fragen/ Zusammenfassung Die Beurteilung der Einflussfaktoren muss in diesem Stadium des Führungsprozesses wesentlich detaillierter ausfallen als in der ersten Besprechung. Im Einzelnen muss ein klares Bild über die finanziellen Möglichkeiten und über die Kompetenz des eigenen Unternehmens gezeichnet werden. Stärken und Schwächen der eigenen Firma müssen für jeden am Planungsprozess Beteiligten deutlich sein. Allgemeine Trends in der Wirtschaft mit Bedeutung für das eigene Unternehmen sowie Änderungen der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen müssen aufgezeigt werden. Trends im eigenen Markt müssen herausgearbeitet werden. Stärken und Schwächen der Konkurrenten sind zu analysieren, so dass im Ergebnis die eigenen Stärken und Schwächen besser eingeschätzt werden können. Wenn möglich sollten in dieser (ersten) Zwischenbesprechung erste Ideen zu denkbaren Handlungsoptionen und ein Bewertungsraster für diese Handlungsoptionen erarbeitet werden. Ist dies nicht möglich, muss dafür eine weitere <?page no="121"?> 4.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 121 Zwischenbesprechung eingeplant werden. Handlungsoptionen und Bewertungsraster werden dann in der weiteren Arbeit ausgestaltet und präzisiert. Am Ende der Zwischenbesprechung steht eine präzisierte und bei Bedarf angepasste Aufgabenverteilung sowie der Plan für die weitere Arbeit. Wird die Zwischenbesprechung nicht vom CEO selbst geleitet, muss der CEO über die wesentlichen Ergebnisse der Zwischenbesprechung unterrichtet werden. Insbesondere müssen ihm erste Ideen zu Handlungsoptionen und Bewertungsraster vorgestellt werden. Diese Information bietet ihm die Chance, bei Bedarf einzugreifen und zu korrigieren. Vor der abschließenden Entscheidung sollte nochmals ein Briefing für den CEO stattfinden. Für jeden Beteiligten muss dabei klar sein, dass dieses Briefing einen anderen Charakter als die voran gegangenen Besprechungen hat. Während es zuvor um Information und Koordination ging, soll jetzt am Ende des Briefings durch den CEO eine Entscheidung getroffen werden. Deshalb ist der Ablauf dieser Besprechung auch etwas anders als bei der einleitenden Besprechung und bei der Zwischenbesprechung. Entscheidungsbriefing Gliederungspunkt Durchführung Zielvorgaben Zielauswertung Einleitung: • Bereits entscheiden • Noch zu entscheiden Kernelemente aus der Beurteilung der Einflussfaktoren • Marktsituation (allgemein) • Marktsituation (speziell) • Unternehmenssituation • Gemeinsame Elemente der Möglichkeiten des Handelns • Vorstellen der Möglichkeiten des Handelns Bewerten der Möglichkeiten des Handelns aus der Sicht der am Planungsprozess Beteiligten (z.B. Finanzen, Entwicklung, Produktion, Vertrieb) Vergleich mit den Konkurrenten und Partnern Abwägen der Möglichkeiten Vorschlag der besten Möglichkeit Entscheidung CEO Plan für die weitere Arbeit <?page no="122"?> 122 4 Gute Führung - aber wie? Einleitend werden den an der Besprechung Beteiligten nochmals die Zielvorgaben und die Auswertung der Ziele vorgestellt sowie deutlich gemacht, was bereits entschieden wurde und was noch zu entscheiden ist. Im nächsten Schritt werden die wesentlichen Ergebnisse der Marktanalysen vorgestellt und zur Situation des eigenen Unternehmens vorgetragen. Sinnvollerweise sollten dann die gemeinsamen Elemente der erarbeiteten Optionen vorgestellt werden und erst danach die Optionen an sich. Dies macht es leichter, die Möglichkeiten zu unterscheiden und zu bewerten, weil so die Unterschiede plakativer werden. Bei der Bewertung der verschiedenen Optionen sollten alle Beteiligten (z.B. Finanzen, Entwicklung, Produktion, Vertrieb) die Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Der Vergleich von Vor- und Nachteilen der verschiedenen Optionen endet damit, dass eine Option zur Entscheidung vorgeschlagen wird. Hat der CEO eine Entscheidung getroffen, ist diese in einem Plan festzuhalten. Es empfiehlt sich, den Einzelheiten die „eigene Absicht“, wie die Ziele erreicht werden sollen, voranzustellen. Diese „eigene Absicht“ soll so präzise und detailliert wie nötig und so allgemein wie möglich formuliert werden. Auf der einen Seite müssen alle verstehen, wie das gemeinsame Ziel erreicht werden soll, auf der anderen Seite müssen genügend Spielräume bleiben, damit jeder Beteiligte seine Expertise und seine Kreativität einbringen kann. In diesem Sinn eine gute „eigene Absicht“ zu formulieren ist eine intellektuelle Herausforderung. Oft ist die Versuchung groß, zu detailliert zu werden. Auch zu allgemein gehaltene Formulierungen erreichen nicht den gewünschten Zweck. Es lohnt sich, dafür Zeit und Mühe zu verwenden. Nach Auffassung der Autoren steht und fällt die Qualität eines Planes mit einer wohlformulierten „eigenen Absicht“. Sollte der CEO nicht entscheiden wollen oder können, ist es für die weiteren Planungsarbeiten zwingend erforderlich, zu erklären, warum er nicht entscheiden kann und was noch getan werden muss, damit er entscheiden kann. Die Übertragung des militärischen Führungsprozesses auf unternehmerische Fragestellungen liefert eine Methode, mit der in einer komplexen, volatilen und unsicheren Umgebung Entscheidungen vorbereitet, getroffen und gesteuert werden können. Sein systematischer Ansatz hilft, die wesentlichen und entscheidungsrelevanten Fakten aus der Informationsvielfalt herauszufiltern und das Risiko von Entscheidungen unter Unsicherheit zu verringern. Die Gestaltung als Regelkreis bietet die Möglichkeit, frühzeitig Abweichungen vom Plan und deren Ursachen zu erkennen und steuernd einzugreifen. Der im militärischen Führungsvorgang angewandte Grundsatz „Führen mit Auftrag“ ist im unternehmerischen Umfeld gerade in einer VUCA-Umgebung aktueller denn je. „Führen mit Auftrag“ hilft, bei überraschenden Lageänderungen schnell und im Sinne der übergeordneten Ziele zu reagieren. Militärische Prinzipien, wie zum Beispiel Schwerpunktbildung, das Gewinnen und Halten der Initiative, die Bildung und Nutzung von Reserven sowie das Denken in Handlungsoptionen ebenso wie die Erarbeitung von Krisen- und Eventualfallplänen sind Prinzipien, die auch Unternehmen helfen, in einer Welt voller Unsicherheiten zu bestehen. <?page no="123"?> 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership Cimilitary Leadership kann man als Prinzip, als Verständnis gleich einer Philosophie dafür, wie gute Führung verstanden und in jedweder Organisation in die „DNA eingepflanzt“ werden kann, bezeichnen. Wir hoffen, dass dies im Laufe des Buches genauso verstanden wurde und verstanden wird. Der Dreiklang aus Leitbild („Innere Führung“), Führungsverständnis („Führen mit Auftrag“) und Werkzeug („Führungsprozess“), abgeleitet aus Jahrhunderten an Erfahrungen aus militärischen und somit extremen Situationen, stellt ein Instrumentarium bereit, das es in herausragender Weise ermöglicht, das Bewusstsein für und die Fähigkeit zu guter Führung (weiter) zu entwickeln. Gleichzeitig bietet es konkrete Werkzeuge, um in Entscheidungssituationen professionell agieren zu können. Der den Suez-Kanal im März 2019 „verstopfende“ Superfrachter „EverGiven“, die Anfang 2020 beginnende Corona-Pandemie, die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021 und nicht zuletzt der am 24. Februar 2022 mit dem Einmarsch der Russen beginnende Ukraine-Krieg haben uns schonungslos vor Augen geführt, wie sich sicher geglaubte Realitäten verabschieden und wie volatil unsere globalisierte (Geschäfts)-Welt ist. Szenarien, die in unserer Welt gestern für die allermeisten von uns noch unvorstellbar waren und nur aus Geschichtsbüchern oder von anderen Regionen der Erde kannten, sind heute Bestandteil unseres Lebens. Und tagtäglich erleben wir neue Überraschungen. Das Thema dieses Buches hat in einer Weise eine Aktualität erhalten, wie wir es uns zu Beginn unserer Arbeit in dieser Dimension nicht haben vorstellen können und es uns ganz bestimmt auch nicht gewünscht haben. Über Jahrzehnte wurde versucht, Prozesse und Lieferketten immer effizienter zu machen. Wandel durch Handel war dabei der politische Glaubenssatz, um auf Dauer friedliche Beziehungen zwischen den Völkern zu schaffen. Fast über Nacht sind vermeintliche Gewissheiten und gleichzeitig auch die Lieferketten massiv gestört worden, wenn nicht gar zusammengebrochen. Übrig bleibt ein extremes Maß an Unsicherheiten und Schwankungen, für das wir nun den Preis zahlen. Folgerichtig ist eine Diskussion im Gange, der Resilienz wieder mehr Bedeutung beizumessen - auch wenn dies zu Lasten der Effizienz geht. Die Frage, was sind die Kernkompetenzen eines Unternehmens oder einer Organisation ist daher mitunter neu zu beantworten. Die aktuellen Entwicklungen zeigen deutlich, welche Herausforderung es ist, Führungsverantwortung in einer Welt voller Unsicherheiten innezuhaben. Wir hoffen, hierzu einen Beitrag zu leisten. Bevor es nun abschließend in die Planspiele, quasi in den „wirtschaftswissenschaftlichen Flugsimulator“ und somit ins konkrete „Tun“ geht, soll dieses Kapitel <?page no="124"?> 124 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership noch einmal -und dabei ganz bewusst redundant und gewiss zum Teil auch zusammenfassend- Anregungen und Gedankenanstöße zur Einstimmung geben. Dabei stellen wir die folgenden drei Fragen in den Fokus: 1. Wie gehe ich vor, um in einer zunehmend volatilen, komplexen, unsicheren und mehrdeutigen Geschäftswelt („VUCA“) sinnvolle Entscheidungen unter Begrenzung des Entscheidungsrisikos zu treffen, kurz: wie läuft der Prozess der Entscheidungsfindung? 2. Welche Grundsätze können dabei hilfreich sein? 3. Was heißt gute (Mitarbeiter-)Führung unter VUCA-Bedingungen? 5.1 Entscheidungsfindung Nutzen Sie die erlernten Verfahren und Methoden! Die erste und fast wichtigste Grundregel: Vermeiden Sie spontane Entscheidungen und Entscheidungen „aus dem Bauch“. Gehen Sie vielmehr systematisch vor und wenden Sie die Methoden und Verfahren, die Sie zur Entscheidungsfindung gelernt haben, auch tatsächlich an. So banal dies klingt, so wichtig ist diese Grundregel, zeigt doch die Praxis, dass oftmals in konkreten Entscheidungssituationen das, was in Weiterbildungen, Schulungen oder Führungsseminaren gelehrt wurde, doch nicht angewendet wird. Die Ursachen für dieses Phänomen sind vielfältig. Oftmals ist die Führungskraft selbst nicht völlig überzeugt, dass die gelernten Verfahren und Methoden in einer konkreten Entscheidungssituation auch wirklich hilfreich sind. Mindestens genauso oft sind die Führungskräfte unsicher in der Anwendung der erlernten Methoden und Verfahren. Was unseres Erachtens aber am bedeutsamsten ist, ist die Tatsache, dass wir in der Entscheidungssituation selbst nicht reflektiv genug sind, um zu sagen: Halt; und gleichzeitig zu fragen: Was ist jetzt in welcher Reihenfolge zu tun? Je besser diese „Reihenfolge“, und nichts anderes stellt der Führungsprozess dar, trainiert wurde und daher im Optimalfall intuitiv abgearbeitet werden kann, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, eine richtige Entscheidung zu treffen. Stellen Sie sich einen Rettungssanitäter vor, der beim Eintreffen am Unfallort mit mehreren Verletzten einfach „drauf los rettet“ oder für jede Beurteilung einer Verletzung und jede Maßnahme, die es zu ergreifen gilt, erst einmal die Taschenkarte studieren muss. Das Ergebnis wäre wohl eine Aneinanderreihung von Fehlern und im Ergebnis Chaos mit unter Umständen dramatischen Folgen für die Betroffenen. Ein gut ausgebildeter Sanitäter wird sich erst einmal ein Bild von der Lage verschaffen. Wo sind Verletzte, welche Verletzungen liegen vor und wie schwer sind diese? Anschließend wird er dafür sorgen, dass Ordnung und Struktur geschaffen werden, damit alle Verletzten in der Reihenfolge des erkennbaren Bedarfs, sprich anhand der Schwere der Verletzung, einer Erstbehandlung zugeführt werden können. Kurz: er oder sie führt eine Triage durch. Hierbei wird der erlernte und geübte <?page no="125"?> 5.1 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 125 sowie im täglichen Einsatz erprobte Führungsprozess zigmal durchlaufen. Der Begriff Triage stammt übrigens aus der Militärmedizin. Natürlich bedeutet systematische Entscheidungsfindung immer einen gewissen - je nach Entscheidungssituation sehr unterschiedlichen - Aufwand. Da ist die Aussage: „Für diese Entscheidungssituation lohnt sich der Aufwand nicht! “ mitunter ebenso bequem wie falsch. Wie umfangreich der Entscheidungsfindungsprozess angewandt wird, hängt von der Tragweite der zu treffenden Entscheidung ab. Grundlegende unternehmerische Entscheidungen setzen eine sorgfältige Analyse der eigenen Situation voraus. Welche Handlungsoptionen habe ich, wo gibt es Grenzen und Rahmenbedingungen, die ich nicht oder nur mittel- und langfristig ändern kann? Und schließlich ist ein Kriterienkatalog zu entwickeln, anhand dessen die erarbeiteten Handlungsoptionen bewertet werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden kann. Für eine grundlegende unternehmerische Entscheidung kann ein erheblicher Aufwand für die Definition des Informationsbedarfs und für die Beschaffung und Aufbereitung notwendig sein. Das Herausfiltern der Handlungsoptionen setzt dabei unter Umständen eine ganze Reihe von vorbereitenden Veranstaltungen (z. Bsp. für das Brainstorming) und Workshops voraus. Tatsächlich ist vor jeder einigermaßen wichtigen Entscheidung die Frage zu stellen, wieviel Aufwand und wieviel Zeit kann und will ich in die Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung investieren. Für eine kurzfristig zu treffende Entscheidung von geringerer Bedeutung ist es weder sinnvoll noch nötig, umfangreiche Recherchen anzustellen oder mit viel Mühe Handlungsalternativen zu entwerfen. Die Anwendung der erlernten Methoden und Verfahren ist dann ein rein gedanklicher Vorgang, in dem die Führungskraft die einzelnen Schritte des Führungsprozesses durchgeht und auf dieser Grundlage eine Entscheidung trifft. Schon dies ist aus Sicht der Autoren ein signifikanter Vorteil, wenn es darum geht, das Entscheidungsrisiko in einer komplexen und unsicheren Situation zu begrenzen. Üben Sie den Führungsprozess! Voraussetzung dafür ist, dass man den Führungsprozess nicht nur in einem Seminar kennengelernt hat, sondern ihn auch wirklich handlungssicher beherrscht. Dies erreicht man am besten, indem man den Führungsprozess zum Beispiel in Form von Planspielen oder Seminaren übt - und ihn auch ganz bewusst immer wieder in Entscheidungssituationen anwendet. Der Prozess muss den Führungskräften „in Fleisch und Blut“ übergehen. Er muss gedanklich automatisiert ablaufen, ähnlich wie im Sport oder in der militärischen Ausbildung bestimmte Handlungsabläufe so lange geübt werden, bis der Sportler oder Soldat diese, ohne darüber nachdenken zu müssen, beherrscht. Ein eindrückliches Beispiel ist der Biathlonsport: die Abläufe auf dem Weg zum Schießstand und am Schießstand werden immer wieder trainiert, bis der Biathlet auch unter Wettkampfstress und körperlicher Belastung ein hohes Maß an Handlungssicherheit erreicht hat. Bei Ballsportarten werden Spielzüge und Standardsituationen immer wieder geübt. <?page no="126"?> 126 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership Auch wenn mancher zweifelt: einüben und automatisieren funktioniert auch bei kognitiven Prozessen! Begreifen Sie Führung als Regelkreis, als permanenten, kontinuierlichen Prozess! Entscheidungen zu treffen ist das eine; zu überwachen, ob diese Entscheidungen auch wie vorgesehen umgesetzt werden, das andere. Ihre Aufgabe als Führungskraft ist es, zu steuern und zu lenken, nicht, operative Aufgaben zu übernehmen. Sie müssen erkennen, ob Planungen umgesetzt werden, ob Zwischenziele erreicht werden und ob die Ergebnisse stimmen. Sie müssen erkennen und eingreifen, wenn Störungen auftreten. Am Ende müssen Sie entscheiden, ob der Plan unzureichend umgesetzt wurde oder ob sich etwas so gravierend geändert hat, dass der Plan nicht mehr mit Erfolg umgesetzt werden kann. Jeder von uns ist von seinem eigenen Plan überzeugt, manchmal sogar ein bisschen in ihn verliebt. Den eigenen Plan anzupassen oder gar zu verwerfen, ist daher nicht leicht und braucht Mut, nicht zuletzt, weil oft die Sorge mitschwingt, eine Planänderung könne als Führungsschwäche verstanden werden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bereitschaft, eigene Entscheidungen und Pläne, wenn erforderlich, zu revidieren, ist ein Zeichen von Führungsstärke. Manche Führungskraft ist gescheitert, weil der Mut und die innere Größe fehlten, sich einzugestehen, dass der eingeschlagene Weg nicht mehr richtig ist. Keinesfalls darf der Eindruck eines Schlingerkurses, eines „heute hü, morgen hott“ entstehen. Man muss also erklären, warum eine Änderung erforderlich ist und die Mitarbeiter auf dem Weg zu einem neuen Plan mitnehmen. Das Einhalten des Führungsprozesses leistet auch hierfür einen hervorragenden Dienst. Gleichzeitig ist gute Kommunikation gefordert! Initiieren Sie den Führungsprozess rechtzeitig! Gut Ding will Weile haben! Eine angemessene Vorbereitung wichtiger Entscheidungen braucht Zeit. Ihre Aufgabe als Führungskraft ist es, Ihren Mitarbeitern die erforderliche Zeit zu geben. Die Qualität der Entscheidung wird steigen, wenn genügend Zeit und Freiräume für die Suche nach Informationen und für deren Aufbereitung bleibt. Und Sie vermeiden unnötigen Stress für Ihre Mitarbeiter. Geben Sie klare Ziele vor, aber lassen Sie Ihren Mitarbeitern Freiräume! Ihre Mitarbeiter müssen wissen, wo Sie hinwollen, damit sie in Ihrem Sinn planen können. Auch wenn es unangenehm sein könnte: Ehrlichkeit zahlt sich aus. Zu eng gesetzte Ziele und zu viele Vorgaben ersticken Kreativität. Sie bergen die Gefahr, dass gute Lösungen gar nicht betrachtet werden. Ziele sollten so präzise wie nötig und so allgemein wie möglich sein. Ziele müssen kommuniziert werden. Es ist besser, die Ziele in einem Gespräch zu erläutern, als sie lediglich schriftlich vorzugeben. <?page no="127"?> 5.1 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 127 Strukturieren Sie den Führungsprozess! Eine gründliche Auswertung der eigenen Ziele am Anfang eines Führungsprozesses kostet Zeit. Zeit, die gut investiert ist, denn so kann von vornherein verhindert werden, dass Planungen in eine falsche Richtung laufen. Erarbeiten Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeitern ganz zu Anfang des Planungs- und Führungsprozesses eine erste Idee, was bis wann zu entscheiden ist und welche Informationen erforderlich sind, um entscheiden zu können. Überlassen Sie es Ihren Mitarbeitern, die Informationen zu beschaffen und aufzubereiten. Ein Zuviel an Informationen ist genauso schädlich wie zu wenige Informationen. Beides birgt die Gefahr, dass relevante Fakten in der Entscheidung nicht berücksichtigt sind. Auch wenn es nicht einfach ist: Versuchen Sie sich auf das Wesentliche zu konzentrieren! Lassen Sie sich bei komplexen Planungen regelmäßig über den Stand der Arbeiten unterrichten. Sie verhindern damit, dass Planungen nicht in Ihrem Sinn verlaufen. Dabei muss für Sie und für Ihre Mitarbeiter klar sein, worum es in einer Zwischenbesprechung geht: Sollen Sie lediglich über den Stand der Arbeiten informiert werden oder sind Zwischenentscheidungen zu treffen? Entscheiden Sie - oder benennen Sie, was fehlt, damit Sie entscheiden können! Mitarbeiter wollen mitgenommen werden und wissen, dass ihre Expertise und ihre Kreativität Wertschätzung erfahren und im Führungsprozess genutzt werden. Am Ende aber ist es die Verantwortung der Führungskraft, zu entscheiden. Die Mitarbeiter erwarten zurecht von Ihnen, dass Sie entscheiden. Nichts ist schlimmer als ein Vorgesetzter, der nicht entscheidet. Zögern kann nicht nur bedeuten, dass man Möglichkeiten und Chancen verpasst, sondern demotiviert die Mitarbeiter. Daher ist es in aller Regel besser, eine suboptimale Entscheidung zu treffen als gar keine. Wenn Sie nicht entscheiden können oder wollen, müssen Sie Ihren Mitarbeitern zwingend erklären, warum Sie nicht entscheiden. Und Sie müssen klar und deutlich formulieren, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen und welche Informationen Sie noch benötigen, um entscheiden zu können. Definieren Sie die weiteren Schritte! Am Ende des Entscheidungs- und Planungsprozesses kommt es darauf an, ein gemeinsames Verständnis zu den weiteren Arbeiten herzustellen und für alle Beteiligten klarzumachen, wie es weiter geht. Bei komplexeren Themen ist es aus Sicht der Autoren zwingend erforderlich, die Planungsergebnisse schriftlich festzuhalten und allen an der Planung und Umsetzung Beteiligten auch zugänglich zu machen. Auch hier gilt: so präzise wie nötig, so allgemein wie möglich. <?page no="128"?> 128 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership 5.2 Grundsätze Denken Sie in Handlungsoptionen! Bei Planungs- und Führungsprozessen hilft es, verschiedene Handlungsoptionen vorzubereiten. Der Vergleich der verschiedenen Möglichkeiten und das Abwägen der Vorteile und Nachteile erhöht die Sicherheit, auf dem richtigen Weg zu sein und verringert das Risiko, eine falsche Entscheidung zu treffen. Wesentlich ist dabei herauszuarbeiten, wo die verschiedenen Optionen gemeinsame Elemente haben und wo sie sich unterscheiden. Oftmals ist in der Praxis der Unterschied nicht so groß, wie es zunächst den Anschein hat. Zudem kann der Planungsaufwand begrenzt werden, wenn klar ist, in welchen Punkten die verschiedenen Optionen gleich sind. Nicht alle Optionen können und müssen bis zum Ende durchgeplant werden. Der dafür nötige Aufwand wäre oftmals zu groß. Und meist ist relativ früh im Planungsprozess klar, welche Alternativen nicht in Betracht kommen. Handlungsoptionen bedeuten auch Flexibilität. Wer Alternativen vorbereitet hat, kann bei Störungen oder in einer krisenhaften Entwicklung einfacher und schneller reagieren. Aufwand und Nutzen müssen dabei stets abgewogen werden. Je mehr mit Störungen zu rechnen ist, desto sinnvoller ist es, in Handlungsoptionen zu investieren. Die beispielsweise durch den Ukraine-Krieg verursachte Gaskrise und die durch diesen Krieg ebenso wie durch die Corona-Pandemie entstandenen Störungen von Lieferketten unterstreichen dies nachdrücklich. Und: Wer über Handlungsoptionen verfügt, verbessert die Resilienz des eigenen Unternehmens. Warten Sie nicht ab, sondern ergreifen Sie die Initiative! Wer zuerst eine Innovation, ein neues Produkt auf den Markt bringt, hat einen unschätzbaren Wettbewerbsvorteil. Viele Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen dies eindrucksvoll. Noch vor wenigen Jahren hätte niemand damit gerechnet, dass Tesla heute der mit Abstand wertvollste Automobilkonzern der Welt ist, und niemand weiß, ob dies morgen noch so ist. Ähnlich wie in einer militärischen Auseinandersetzung, in der es darauf ankommt, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen, kommt es im Geschäftsleben darauf an, sich einen Wettbewerbsvorteil zu erarbeiten. Selbst agieren und nicht auf die Aktionen des Wettbewerbers zu reagieren, muss das Ziel sein. Sicherlich wird das nicht immer gelingen. Wer bei einem Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil oder eine Innovation entdeckt oder beobachtet, wie neue Produkte Erfolg haben, ist gut beraten, schnell und energisch zu reagieren. Im Zweifel sind dann auch Reserven zu nutzen. Mit anderen Worten: hier ist ein Schwerpunkt zu bilden. Setzen Sie Schwerpunkte! Wer alles gleichzeitig will, läuft Gefahr, sich zu verzetteln und am Ende nichts zu erreichen oder nirgendwo ein gutes Ergebnis zu erzielen. Also gilt es zu entscheiden, was für das Unternehmen besonders wichtig ist, wo die größten Chancen sind, aber auch wo die größten Risiken lauern. Dort muss man investieren - sei <?page no="129"?> 5.2 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 129 es, um Chancen zu nutzen oder um Risiken zu verringern. Andere Optionen müssen dann zurückstehen oder werden später aufgegriffen. Schwerpunktsetzung darf nicht dazu führen, andere Möglichkeiten, andere Chancen und Risiken aus dem Auge zu verlieren. Meist ist eine Schwerpunktsetzung deswegen auch zeitlich oder räumlich begrenzt, denn sie birgt immer die Gefahr, andere wesentliche Entwicklungen zu vernachlässigen. Weitere Chancen und Risiken im Blick zu halten darf nicht bedeuten, auf jeden Trend zu reagieren. Es ist wichtig zu beobachten, ob sich ein bestimmter Trend sehr schnell entwickelt, ob der Trend sich nur zeitlich begrenzt, regional oder partiell auswirkt oder ob er zu grundsätzlichen Änderungen zum Beispiel im Nachfrageverhalten der Käufer oder auf der Angebotsseite führt und natürlich, ob der Trend für mein Unternehmen wichtig ist. Das zu erkennen ist in der Praxis nicht einfach. Oft ist auf den ersten Blick nicht klar, was ein Trend bedeuten kann. Also gilt es, nicht vorschnell festzustellen „Das ist für mich nicht wichtig! “ sondern im Zweifel, die Entwicklungen zu beobachten und immer wieder zu hinterfragen, ob sich der Trend nicht doch auf die eigene Geschäftstätigkeit auswirken kann. Stellen Sie Ihr Unternehmen agil auf! Agilität ist die Fähigkeit, schnell auf eine geänderte Situation, auf geänderte Marktbedingungen zu reagieren. Gerade in einer VUCA-Umgebung ist Agilität eine, wenn nicht die entscheidende Voraussetzung erfolgreicher Unternehmensführung. Tilman und Jacoby unterscheiden dabei zwischen strategischer und taktischer Agilität . „Strategic agility enables entire organizations to move with the speed of relevance: to detect and assess major trends and environmental changes and dynamically adapt their strategic visions, business models, human capital, and campaign plans. Tactical agility allows employees to move with the speed of challenges: to take smart risks.“ 126 Wie aber erreiche ich strategische und taktische Agilität? Konsens in Literatur und Unternehmensberatung ist, dass flache Hierarchie, schlanke Prozesse, dezentrale Aufgabenwahrnehmung und die Delegation von Verantwortung geeignet sind, Agilität zu erreichen. Als agilitätsfördernd wird oft auch Modularität genannt. Modularität hilft, schnell angepasste Organisationsformen einzunehmen - sei es als Projektorganisation oder permanent, wenn die Marktsituation dies erfordert. Stellen Sie Ihr Unternehmen resilient auf! Agilität und Resilienz hängen eng zusammen. Wer resilient aufgestellt ist, hat gute Chancen, angemessen und schnell auf krisenhafte Entwicklungen und sich schnell verändernde Marktbedingungen zu reagieren. Nicht umsonst werden flache Hierarchien, schlanke Prozesse, dezentrale Aufgabenwahrnehmung und die Delega- 126 Tilman, L.M./ Jacoby, Ch.: “The most agile day” in: strategy+business Issue 99, Summer 2020, S. 40. <?page no="130"?> 130 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership tion von Verantwortung auch als Prinzipien genannt, die Resilienz fördern. In der militärischen Operationsführung haben Reserven eine herausragende Bedeutung. Sie erlauben, rasch neue Schwerpunkte zu setzen und auf geänderte Lagen zu reagieren. Ihr Einsatz will wohlüberlegt sein. Deswegen ist ein weiterer militärischer Grundsatz, wenn irgend möglich, schnell neue Reserven zu bilden, falls die vorhandene Reserve eingesetzt wurde. Für Unternehmen gilt ähnliches - ob man jetzt von Reserven, Redundanzen oder Rücklagen spricht. Sie sollten dort genutzt werden, wo es für das Unternehmen den größten Ertrag verspricht, sei es, um Risiken zu begegnen oder um neue Geschäftsfelder zu erschließen. Und auch für ein Unternehmen gilt: Wenn die Reserven verbraucht sind, ist jeder CEO gut beraten, neue Reserven zu bilden. Rücklagen und Redundanzen binden Ressourcen. Deswegen will genau abgewogen sein, wieviel Reserven sich ein Unternehmen leisten kann und will. Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben uns gelehrt, dass Effizienz und Resilienz in eine neue Balance gebracht werden müssen. 5.3 Prinzipien guter Führung Vertrauen Sie Ihren Mitarbeitern, und Ihre Mitarbeiter werden Ihnen vertrauen! Gegenseitiges Vertrauen ist unabdingbare Voraussetzung guter und erfolgreicher Führung. Der Vorgesetzte muss seinen Mitarbeitern vertrauen, die Mitarbeiter müssen ihrem Vorgesetzten vertrauen. Doch wie entsteht gegenseitiges Vertrauen? Patentlösungen dafür gibt es sicher nicht, aber mitunter sind es ganz einfache Dinge im täglichen Miteinander. Nur einige Aspekte: Wichtig ist Präsenz. Der Vorgesetzte „muss da sein“, was nicht heißt, dass er ständig körperlich in der Nähe der Mitarbeiter anwesend sein muss. Mitnichten. Aber er muss sehen, wissen und verstehen, was seine Mitarbeiter tun, was ihre Aufgaben sind. Dies gibt ihm die Gewissheit, sich auf seine Männer und Frauen verlassen zu können. Und: das Bewusstsein‚ dass mein Chef weiß, was ich kann und was ich tue, schafft Vertrauen bei den Untergebenen. Jeder Mensch genießt es, Wertschätzung zu erfahren. Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Mitarbeiter, hören Sie Ihnen zu. Reden Sie gerne auch über persönliche Interessen, Vorlieben oder Hobbys und öffnen sich damit für Ihre Mitarbeiter. Bei passender Gelegenheit dürfen Sie auch gerne ansprechen, dass Sie Vertrauen in die Fähigkeiten und das Engagement Ihres Personals haben. Viele Vorgesetzte tun sich schwer, andere Lösungswege als die eigenen zu akzeptieren, selbst wenn das gewünschte Ergebnis erreicht wird. Solches Verhalten beschädigt Vertrauen und verhindert Kreativität und Eigeninitiative - genauso wie fehlende Bereitschaft, eine 80%-Lösung zu akzeptieren. Empathie ist eine weitere außerordentlich wichtige Eigenschaft für eine gute Führungspersönlichkeit. Sie müssen Ihre Untergebenen verstehen, Sie müssen wissen, <?page no="131"?> 5.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 131 welche Probleme sie haben, aber auch, was ihnen Freude macht. Und Sie müssen erkennen, wann die Mitarbeiter überfordert und wann sie unterfordert sind. Je höher Vorgesetzte in einer Hierarchie stehen, desto schwerer fällt es ihnen oft zuzuhören. Gerne ergreifen solche Vorgesetze in Besprechungen zuerst das Wort und stellen ausführlich ihre Auffassung zu einem Problem dar. Das hat verschiedene Nachteile. Je mehr Sie reden, desto weniger Zeit bleibt für Ihre Mitarbeiter in dem meist eng getakteten Terminkalender. Wenn der Chef seine Meinung sehr deutlich gemacht hat, denkt mancher Mitarbeiter sicher: Der Chef hat sich schon festgelegt; da muss ich nichts mehr sagen. Und manch einer traut sich ganz einfach nicht, eine abweichende Meinung zu äußern. Sie laufen also Gefahr, Kreativität zu ersticken und die Kenntnisse und Fähigkeiten Ihrer Mitarbeiter nicht so zu nutzen, wie dies im Sinn des Unternehmens geboten wäre. Und wenn in der Besprechung doch noch andere, gute Ideen entwickelt werden, geraten Sie in die Situation, Ihre Meinung korrigieren zu müssen. Diese Situation ist durchaus ambivalent und birgt Risiken. „Er lässt sich beraten, hört auf uns und greift unsere Ideen auf “, könnten Ihre Mitarbeiter denken. Es kann aber auch sein, dass der Eindruck von Führungsschwäche, Zögerlichkeit oder Wankelmütigkeit entsteht. Vertrauen schafft man nicht durch Worte allein, sondern durch Taten. Ein Lob zwischendurch schadet nie und hebt die Motivation. Machen Sie Ihren Frauen und Männern deutlich, dass Sie sich für ihre Arbeit interessieren. Lassen Sie sich regelmäßig von Ihren Mitarbeitern informieren, aber widerstehen Sie der Versuchung, jedes Detail wissen zu wollen. Übermäßige und permanente Kontrolle dagegen zerstört Vertrauen. Der Umgang mit Fehlern kann Vertrauen schaffen, aber auch Vertrauen zerstören. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Sie sollten Fehler klar ansprechen. Die Mitarbeiter müssen wissen, woran sie sind. Aber: übermäßiger Tadel, vielleicht sogar in einem nicht angemessenen Ton, der Entzug von Aufgaben oder Kompetenzen nach einem Fehler zerstören Vertrauen. Sie müssen deutlich machen, dass Fehler nicht vorkommen sollten, aber vorkommen können, und dass sich Fehler nicht wiederholen dürfen. Ihre Mitarbeiter müssen aber sicher sein, dass sie nicht im Regen stehen gelassen werden, sondern dass der Chef sich vor sie stellt. Eine angemessene Fehlerkultur ist unabdingbare Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen. Ihre Mitarbeiter brauchen eine klare Linie. Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit schaffen Vertrauen. Wankelmütigkeit und Zögerlichkeit, ständig wechselnde Schwerpunkte und immer neue Ideen zerstören Vertrauen. Das hat nichts mit mangelnder Offenheit für Innovationen zu tun. Gerade Führungskräfte müssen sich heute Offenheit für Neues und eine positiv verstandene Neugier bewahren. Es bleibt immer eine schwierige Abwägung, welche Innovation man aufgreift und welche nicht. Dabei sollten Sie nichts von Ihren Mitarbeitern verlangen, was Sie nicht selbst bereit sind zu leisten. <?page no="132"?> 132 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership Fordern und fördern Sie Ihre Mitarbeiter! Gute Mitarbeiter sind der größte Schatz eines Unternehmens - eigentlich eine Binse, aber in Zeiten des Fachkräftemangels richtiger denn je. Trauen Sie Ihren Mitarbeitern etwas zu, verlangen Sie Leistung und Ergebnisse. Natürlich darf keine Überforderung entstehen, aber es ist ein Irrglaube, dass anspruchsvolle Anforderungen demotivierend wirken. Meist ist das Gegenteil der Fall. Investieren Sie in die Ausbildung Ihrer Mitarbeiter. Mit Blick auf die immense und immer noch zunehmende Geschwindigkeit ist lebenslanges Lernen eine zu akzeptierende Gegebenheit. Gehen Sie wo immer möglich auf die Wünsche Ihrer Mitarbeiter ein - auch wenn eine gewünschte Weiterbildungsmaßnahme nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tätigkeit steht. Es ist eine der vornehmsten Aufgabe einer Führungspersönlichkeit, Talente zu identifizieren, zu fördern und sie in ihrer beruflichen Entwicklung zu unterstützen. Ganz besonders wichtig ist dies, wenn es um zukünftige Führungspersönlichkeiten oder Mitarbeiter mit herausragenden Aufgaben geht. „Leaders develop leaders and take seriously their role in coaching others.” 127 Gewähren Sie Ihren Mitarbeitern Handlungsspielräume! Im Zweifel kennen Ihre Mitarbeiter die eigene Aufgabe am besten. Geben Sie Ziele vor und überlassen Sie ihnen den Weg, wie sie das Ziel erreichen. Das ist nichts anders als die oben beschriebene Auftragstaktik. Den Mitarbeitern Entscheidungsspielräume zu geben, sie „machen zu lassen“, ihnen damit auch Vertrauen zu schenken, motiviert, ist Zeichen von Wertschätzung und führt zu besseren Ergebnissen - davon sind wir fest überzeugt. Mikromanagement dagegen zerstört Vertrauen, demotiviert und führt auf mittlere und lange Sicht auch zu einem Verlust an Expertise und Fähigkeiten bei Ihren Untergebenen. Machen Sie Ihre Erwartungshaltung deutlich: Gewährte Handlungsspielräume müssen auch genutzt werden. Es ist an Ihnen, das Klima dafür zu schaffen. Fehlerkultur und gegenseitiges Vertrauen sind die Voraussetzungen. Sie selbst vermeiden durch sinnvolles Delegieren Überforderung und Verzettelung und erhalten sich die Freiräume, die Sie brauchen, um sich auf Ihre Aufgabe als Führungskraft konzentrieren zu können. Wenn es allerdings zu Problemen kommt, wenn Ihre Mitarbeiter Hilfe brauchen, müssen Sie da sein und unterstützen. Zwar sollte eine Führungskraft sich im Allgemeinen hüten, zu sehr ins Detail zu gehen. Wenn allerdings im konkreten Fall die Problemlösung nicht auf der Hand liegt, wenn die Problemursachen unklar sind oder wenn es um ein Thema von grundlegender Bedeutung für das Unternehmen geht, darf sich kein Vorgesetzter zu schade sein, so lange und so tief ins Detail zu gehen, bis Klarheit geschaffen wurde. Dabei muss immer klar sein, dass dieses Vorgehen eine Ausnahme ist. 127 https: / / www.aboutamazon.com/ about-us/ leadership-principles, aufgerufen am 02.01.2023. <?page no="133"?> 5.3 Die Konzeption der „Inneren Führung“ 133 Gleichzeitig sollten Sie verinnerlichen, dass Sie selbst vor lauter „Führen“ nicht vergessen, Ihre Leidenschaften zu leben. Wahre Führungskräfte tun das. Der vielgenutzte Self-Serving Bias, dass die viele Arbeit einen hiervon abhält, gilt nicht, denn er ist schlichtweg falsch! Ebenso falsch ist die Suche nach der sogenannten Work-Life-Balance, da diese einen Widerstreit zwischen beruflichem und privatem Leben unterstellt. Diese Art des Denkens macht auf Dauer unglücklich, da man immer in Verlusten denkt. Es gibt eine Lifebalance, die Sie anstreben sollten, bei der die Fülle des Seins positiv bewertet wird. So sind Sie in der Lage, das Leben in einen Flow-Zustand zu er-leben. Eine wesentliche Grundlage hierfür ist das Schaffen von Struktur. Denn nicht die Fülle der Aufgaben und Aktivitäten, sondern das Chaos im Hirn, das eintritt, wenn keine Struktur vorhanden ist, verursacht Stress. Wesentlich für das Schaffen von Struktur ist dabei die Fähigkeit, wichtig von unwichtig und dringlich von weniger dringlich unterscheiden zu können. Klare Strukturen bei gleichzeitiger Fokussierung auf das Ziel sind ein wesentlicher Baustein guter Führung Bleibt am Ende eine Frage: Kann man Führen lernen? Wir sind überzeugt, dass man Führen lernen kann. Vielleicht gibt es auch den charismatischen Typus, der Führen nicht lernen muss, der es einfach kann. Mag sein. Ganz sicher ist dies eher die seltene Ausnahme. Aber wie bei jeder anderen Tätigkeit gilt trotz des Bejahens der Frage, ob man Führen lernen kann, auch hier, dass man Talente, Eigenschaften und Fähigkeiten, wie immer man das umschreiben möchte, also grundsätzliche Voraussetzungen, die weiter vorne eingehend beschrieben sind, benötigt, um Führen lernen zu können. Und vor allem, um es so lernen zu können, dass ein adäquates Niveau erreicht wird. Wir bemühen abermals Clausewitz, der ausführt: „Jede eigentümliche Tätigkeit bedarf, wenn sie mit einer gewissen Virtuosität, d.h. außerordentlichen Fertigkeit, betrieben werden soll, eigentümlicher Anlagen des Verstandes und des Gemüts. Wo diese in einem hohen Grade ausgezeichnet sind und sich durch außerordentliche Leistungen darstellen, wird der Geist, dem sie angehören, mit dem Namen des Genius bezeichnet.“ 128 Doch selbst dann, wenn alle Talente gegeben sind, gibt es eine zwingende Voraussetzung, die erfüllt sein muss: Man muss führen wollen! „Hauptaufgabe von Führungskräften ist das Führen, nicht die eigene fachliche Leistung. Führen bedeutet Delegieren und umsichtig Entscheidungen herbeiführen zu können, die eine Interessenkongruenz von Unternehmen, Mitarbeitern und der eigenen Person sichern. Diese Kompetenzen fließen aus der Energiequelle Machtmotivation. Daraus muss der schöpfen können, der selbst führen, nicht geführt werden will.“ 129 128 Clausewitz, C. v.: Vom Kriege, Area Verlag, Erftstadt 2003, S. 33 f. 129 Henes-Kahrnal, B.: Wer führt, muss führen wollen. https: / / www.welt.de/ print-welt/ article341092/ Wer-fuehrt-muss-fuehren-wollen.html, abgerufen am 14.01.2023. <?page no="134"?> 134 Grundsätzliches Können in Verbindung mit dem Wollen ist die Kombination, die befähigt, Führen lernen zu können. Es reicht eben nicht aus, nur zu wollen! Wir stimmen daher ganz und gar nicht mit der Auffassung von Wiebke Köhler überein, die in ihrem ansonsten wirklich lesenswerten Buch „Führen im Grenzbereich“ ganz am Ende des Buches formuliert „Führen kann, wer will“. 130 Unserer Auffassung nach gibt es nichts, wo nur der Wille ausreichend ist, um erfolgreich zu sein, während gleichzeitig das Können fehlt. Ganz sicher ist, dass der Weg zu guter Führung gepflastert ist von Erfahrungen jedweder Art, positiven wie negativen! Die Bereitschaft, diese sammeln zu wollen und auch mit Rückschlägen umzugehen, ist unabdingbar! Und: es ist nie jedem Recht zu machen. Deswegen ist der Kompass guter Führung der Zielerreichungsgrad und nicht die Befindlichkeit oder die Meinung einer einzelnen Person oder einer kleinen Gruppe! „Erfolgreiche Führung benötigt Leidenschaft, Verantwortung, Klarheit, Mut, Entscheidungskraft und Können! “ 130 Köhler, W.: Führen im Grenzbereich. Was Manager aus Grenzsituationen für den Unternehmensalltag lernen können. Norderstedt 2020, S. 282. 5 Erfolgreiche Führung im Unternehmen: Cimilitary Leadership <?page no="135"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s Nachdem Sie als Leser dieses Buches bis hierhin gekommen sind, heißt es: Raus aus der Komfortzone und rein in die praktische Umsetzung. Was nützt die beste Theorie, wenn ich nicht ins Tun komme? Daher gilt auch hier wie bei so vielen Dingen im Leben: trainieren, trainieren, trainieren. Und, wie Schiller es in Wilhelm Tell formuliert: „Früh übt sich, wer ein Meister werden will.“ Was so viel bedeutet wie: Je früher wir damit beginnen, etwas zu lernen und zu vertiefen, umso höher sind die Erfolgsaussichten, dass wir es irgendwann gut können, es am besten zur Meisterschaft bringen. Gleichzeitig wird in dieser Aussage die Verantwortung sichtbar, die jede Führungskraft den ihm oder ihr anvertrauten Personal in Bezug auf die Entwicklung der persönlichen Fähigkeiten gegenüber hat. Bitte vergessen Sie nicht, dass es in diesem Buch nicht nur um Sie, sondern auch um die Menschen in Ihrer Umgebung geht. Fördern Sie sich und andere. Sie sind oder werden die Führungskraft, die hierfür die Verantwortung trägt. Und jetzt ab ins Trainingscamp! Ziel des Trainings Schaffen und Stärken der intuitiven Basis in Bezug auf Cimilitary Leadership insgesamt und den Führungsprozess im Speziellen. Zweck des Trainings Sowohl die „weichen Faktoren“, also die Philosophie von Cimilitary Leadership (Stichworte „Innere Führung“ und „Führen mit Auftrag“), ebenso in Fleisch und Blut übergehen zu lassen, wie den Führungsprozess selbst, damit dieser auch unter Stress und Belastung intuitiv abläuft. Methoden des Trainings Wir unterscheiden das „methodische Training“, das „situative Training“ und das „permanente Training“. Unter methodischem Training ist zu verstehen, dass in konkreten „Trainingseinheiten“ anhand von Fallbeispielen der Führungsprozess geübt wird. Bei der Bundeswehr erfolgt dieses Training im Rahmen der Offizierausbildung an der Offizierschule. Beim situativen Training wird der Führungsprozess an konkreten Entscheidungssituationen im Alltag bewusst angewandt und dadurch geübt. Bei der Bundeswehr wird diese Methode intensiv genutzt, indem der Führungsprozess schlichtweg in der Praxis angewandt wird. Das permanente Training ist in gleicher Weise simpel wie effektiv. Nehmen Sie ab und an die weiter unten abgebildeten Taschenkarten zur Hand und reflektieren Sie diese. Dies ist neben dem konkreten Üben im Rahmen des methodischen und des situativen Trainings wichtig, um die intuitive Basis, also das Wissensfundament, zu stärken. <?page no="136"?> 136 6 Führen trainieren: Los geht‘s Trainingsaufbau Der Fantasie, wie geübt wird, sind keine Grenzen gesetzt. Sie können dies sowohl allein oder in kleineren oder größeren Gruppen machen. Dabei sollten zunächst einfache Beispiele herangezogen werden, um stringent entlang des Schemas zu trainieren. Anschließend sollte die Komplexität der Übungsfälle bis hin zu umfangreichen, nur schriftlich sinnvoll zu bearbeitenden Themen, erhöht werden. Sowohl für die eigene als auch für die Mitarbeiteraus- und -weiterbildung steht damit eine unkomplizierte Systematik zur Verfügung, die schnell, flexibel und kostengünstig umgesetzt werden kann. In Kombination mit dem Trainieren der Ergebnispräsentation (Lagevorträge zu bestimmten Themen/ Elementen/ Schritten des Prozesses, Darstellung des Führungsprozesses selbst, Präsentation der Entscheidung mit Begründung etc.) können schnell Fähigkeiten entwickelt und verbessert werden. Dabei empfehlen wir, „Reflektionsfenster“ einzubauen. Dies sind Zeitabschnitte, in denen andere uns und wir andere in Bezug auf die Art der jeweiligen Entscheidungsfindung ebenso wie die Präsentation der Ergebnisse reflektieren. Ganz nebenbei kann hiermit eine gute Feedback- und Fehlerkultur etabliert werden. Gerade bei komplexen Übungsfällen lockern diese Zeitfenster das Training und können, durch geschickte Terminierung, den zeitlichen und inhaltlichen „Druck“ steuern, unter dem die Fallbeispiele bearbeitet werden sollen. Wir haben nachfolgend Beispiele dargestellt, wie der Führungsprozess an jedem beliebigen Fall, sei er real oder erfunden, geübt und trainiert werden kann. Dabei liegt der Fokus auf dem Trainieren des Prozesses. Da dieser einem Regelkreis entspricht, hört er, zumindest in der Theorie immer dann, wenn „Störungen“ auftreten, nie auf. Wer den Führungsprozess ernsthaft trainiert, wird rasch Erfolge erzielen. Die Entscheidungsqualität wird automatisch steigen. Trainings- und Arbeitsmittel Wesentliche Hilfsmittel und damit sowohl „Trainingsals auch Arbeitsmittel“ sind die nachfolgenden Taschenkarten, insbesondere die Taschenkarten „Cimilitary Leadership“ und „Führungsprozess“. Diese Karten sollten stets parat sein, damit an jedem beliebigen Ort und zu jeder beliebigen Zeit entweder ein paar Minuten ins permanente Training investiert werden können oder bei einer auftretenden Entscheidungssituation eine sinnvolle „Gedankenstütze“ bereitsteht. In Zeiten von Smartphones sollte das kein Problem sein. Vielleicht mutet das Thema Taschenkarten etwas seltsam an. Allerdings sind sie ein hervorragendes Hilfsmittel und werden von Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleuten und Sanitätern stets „am Mann“ oder „an der Frau“ getragen. Taschenkarten sind einfach, aber effektiv! Wenn Sie im Führungsalltag unabhängig von konkreten Entscheidungssituationen ab und an sowie in konkreten Entscheidungssituationen erst recht die Karten zur Hand nehmen, wird Sie dies garantiert trainieren, bessere und sichere Entscheidungen treffen zu können. In der ersten Karte ist zusammenfassend die „Gesamtphilosophie“ von Cimilitary Leadership grafisch dargestellt. Dadurch wird erreicht, dass all das, was Sie bislang <?page no="137"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 137 in diesem Buch gelesen haben, noch einmal visualisiert und auf ein Minimum komprimiert vor Augen haben. Abb. 16 Diese Taschenkarte dient dazu, die Elemente von Cimilitary Leadership regelmäßig präsent zu haben, um das Gesamtbild zu verinnerlichen. Legen Sie die Karte auf den Schreibtisch, nutzen Sie sie als Bildschirmschoner oder wie auch immer. Wir wiederholen es bewusst: diese simple Methode trägt bereits dazu bei, die eigene Führungs- und Entscheidungskompetenz zu verbessern. Ein weiteres nachfolgend dargestelltes Hilfsmittel ist die Taschenkarte „Leitsätze Cimilitary Leadership“, für die das Gleiche gilt. <?page no="138"?> 138 6 Führen trainieren: Los geht‘s Taschenkarte „Leitsätze Cimilitary Leadership“ ► Nutzen Sie die erlernten Verfahren und Methoden! ► Üben Sie den Führungsprozess! ► Begreifen Sie Führung als Regelkreis, als permanenten, kontinuierlichen Prozess! ► Initiieren Sie den Führungsprozess rechtzeitig! ► Geben Sie klare Ziele vor, aber lassen Sie Ihren Mitarbeitern Freiräume! ► Strukturieren Sie den Führungsprozess! ► Entscheiden Sie - oder benennen Sie was fehlt, damit Sie entscheiden können! ► Definieren Sie die weiteren Schritte! ► Denken Sie in Handlungsoptionen! ► Warten Sie nicht ab, sondern ergreifen Sie die Initiative! ► Setzen Sie Schwerpunkte! ► Stellen Sie Ihr Unternehmen agil auf! ► Stellen Sie Ihr Unternehmen resilient auf! ► Vertrauen Sie Ihren Mitarbeitern, und Ihre Mitarbeiter werden Ihnen vertrauen! ► Fordern und fördern Sie Ihre Mitarbeiter! ► Gewähren Sie Ihren Mitarbeitern Handlungsspielräume! Erfolgreiche Führung benötigt Leidenschaft, Verantwortung, Klarheit, Mut, Entscheidungskraft und Können! Die nachfolgend dargestellte „Taschenkarte Führungsprozess“ bildet komprimiert den kompletten Prozess ab. Sie ist das zentrale Medium für Ausbildung und Praxis und hat daher ein ganz besonderes Gewicht. Auch hier empfehlen wir, diese zu kopieren und/ oder zu fotografieren und präsent zu haben. Nutzen Sie beim methodischen Training nur diese Karte! <?page no="139"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 139 Abb. 17 <?page no="140"?> 140 6 Führen trainieren: Los geht‘s Zielauswertung Abb. 17 (Seite 2) <?page no="141"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 141 Abb. 17 (Seite 3) Beurteilung der Lage Entscheidungsfindung Bis wann muss die Entscheidung gefallen sein? Was ist zu prüfen? Worüber ist zu entscheiden? nein ja Wie kann der Absicht der Unternehmensführung am besten entsprochen werden? Letzte Lageänderung melden, am besten mit einem Vorschlag für einen neuen Auftrag! Muss unter Zeitdruck gehandelt werden? Ende nein ja Ansprechen - Beurteilen - Folgern - Beurteilung der Einflussfaktoren, - Feststellen der Möglichkeiten eigenen Handelns, - Kräfte- und Fähigkeitsvergleich, - Bewerten und Abwägen der Möglichkeiten eigenen Handelns <?page no="142"?> 142 6 Führen trainieren: Los geht‘s Abb. 17 / Seite 4) <?page no="143"?> 138 6 Führen trainieren: Los geht‘s Los geht’s mit den Beispielen! Wir stellen nachfolgend drei völlig unterschiedliche Beispiele dar, die aufzeigen, wie der Führungsprozess abläuft und wie ein Training aufgebaut werden kann. Das erste Beispiel soll neben der Darstellung des Prozesses dafür sensibilisieren, was es konkret heißt, wenn eine gute Unternehmens- und Führungskultur gelebt wird oder aber eben nicht, und wer in welcher Situation welche Verantwortung trägt oder schlichtweg übernehmen sollte. In diesem Beispiel wird der Führungsprozess nach einleitenden Informationen „durchgetaktet“ dargestellt. Im zweiten Beispiel betrachten wir ein unternehmerisches Alltagsproblem. Die Darstellung des Führungsprozesses ist mit erläuternden Elementen versehen. Last but not least wird ein zugegeben sehr komplexes Thema aus der Automobilwirtschaft abgebildet, das wir daher auch im Ergebnis nur anreißen können. Sie werden sehen, dass es ein Leichtes ist, ein individuelles Training anhand selbst gewählter Beispiele aufzubauen. Die hier aufgeführten Beispiele sollen Ihnen aufzeigen, wie Cimilitary Leadership konkret angewandt werden kann. Das Ziel besteht darin, wie mehrfach im Buch erwähnt, die intuitive Basis in Bezug auf den Entscheidungsprozess so zu stärken, dass die Entscheidungen selbst alles andere als intuitiv sind, wodurch wiederum die Qualität der Entscheidungen deutlich erhöht wird. Um dies zu beherrschen, reicht es nicht aus, das Buch einmal zu lesen und zu denken: okay, habe ich verstanden. Der Prozess muss geübt werden! Sie müssen trainieren, um sicher und schnell zu werden. Dazu benötigt es wie bei allen Dingen im Leben, die auf einem adäquaten Niveau stattfinden sollen, drei Zutaten: Arbeit, die investiert werden muss, Zeit, die investiert werden muss und last but not least Disziplin! Nichts gibt es umsonst. Fangen Sie jetzt damit an und werfen Sie zuallererst einen kurzen Blick auf die „Taschenkarte Cimilitary Leadership“. Jetzt, sofort! Dauert nur eine Minute. Wir sind überzeugt, dass bereits dieser kurze Blick ausreicht, ihnen auf einen Schlag plakativ den Gesamtkontext des Themas zu vergegenwärtigen und das Ganze wie ein Aha-Erlebnis wirkt. Und nun überfliegen Sie bitte die „Taschenkarte Führungsprozess“. Jetzt sollten Sie im Trainingsmodus sein und können mit den nachfolgernden Beispielen beginnen. Anschließend werden Sie in der Lage sein, mit jedem beliebigen Beispiel fortfahren. Sei es in der Praxis, sei es mit fiktiven Beispielen. Viel Spaß dabei. Und bedenken Sie bitte stets: Übung braucht, wer ein Meister werden will! denn: Every expert was once a beginner! <?page no="144"?> 144 6 Führen trainieren: Los geht‘s Beispiel 1: Perspektivwechsel Sonntagabend im Mai, Flughafen Porto. Über dreihundert Personen, die Masse deutschsprachig, hat einen Kurztrip in die Stadt am Duero hinter sich, werden auf portugiesisch, englisch und französisch aufgefordert, sich zum Boarding ans zugewiesene Gate zu begeben. Ein letzter Identitäts-Check und alle Passagiere befinden sich bereits in der Fluggastbrücke, als die Bewegung Richtung Flugzeug stoppt. Rund 15 Minuten lang stehen die Menschen dicht an dicht, ohne, dass es einen Meter weitergeht, als vorne eine Flugbegleiterin erscheint und leicht hektisch Richtung der Passagiere etwas ruft, was aber nicht zu verstehen ist. Es dauert eine ganze Weile, bis nach hinten durchgegeben wird, dass sich alle wieder in die Abflughalle begeben sollen. Wenig begeistert setzt sich die auf Heimreise eingestellte Menschenmenge langsam in Bewegung; jeder sucht sich einen Platz und wartet. Niemand weiß, was los ist. Die einzig gesicherte Information ist die, dass das Boarding nicht stattfinden kann. Erwachsene ebenso wie Kinder holen ihre Smartphones aus der Tasche und tippen darauf herum. Einige telefonieren. Manche unterhalten sich, andere suchen eine Steckdose, um ihr Handy aufzuladen. Eine allein reisende Dame im Rollstuhl steht einsam am Rand und betrachtet die ruhige und noch gelassene Szenerie. Auf der Anzeigentafel erscheint, dass sich der Flug um eine Stunde verspäten wird. Handys piepsen vermehrt, als der SMS-Service der Fluggesellschaft die gleiche Information an die Fluggäste sendet. Noch immer weiß niemand, was los ist. Gerüchte machen die Runde. Der Flug würde an einen anderen Flughafen umgeleitet. Die Recherche im Internet, die einige starten, liefert keine neuen Erkenntnisse. Andere sagen, der Flieger sei defekt und es würde erst am kommenden Morgen ein Rückflug stattfinden. Erste Unruhe macht sich breit. Nach über einer Stunde des Wartens erscheint eine Flugbegleiterin am Schalter und redet kurz mit dem Personal. Es folgt eine nur schwer verständliche Durchsage, dass sich der Flug um eine weitere Stunde verspätet. Die Anzeigentafel switcht um, Handys piepsen, Personen, die weder englisch noch französisch oder portugiesisch sprechen, fragen ihre Sitznachbarn, was denn gesagt wurde. Telefonate mit Angehörigen in der Heimat werden geführt, Abholer zu Hause in den „Standby- Modus“ versetzt. Noch immer weiß niemand gesichert, was los. Nach und nach schließen die Läden in der Abflughalle und zahlreiche Personen versuchen noch schnell, etwas Essbares zu ergattern, bevor das nicht mehr möglich ist. Gleichzeitig startet eine verstärkte Suche nach freien Steckdosen, um Handys zu laden; Passagiere fluchen am Getränkeautomaten, da dieser seinen Dienst eingestellt hat. Wieder erscheint eine Flugbegleiterin für wenige Minuten am Schalter. Eine erneute schwer verständliche Durchsage in drei Sprachen, dass sich der Abflug um weitere eineinhalb Stunden verspäten wird. Die Anzeigentafel switcht um, Handys piepsen, Sitznachbarn fragen nun deutlich genervt, was gesagt wurde. Um die ältere Dame im Rollstuhl kümmert sich ein Passagier und bringt ihr etwas zu trinken. <?page no="145"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 145 Ein Mann mittleren Alters steht auf und geht zu den beiden Angestellten der Fluggesellschaft, die kichernd und sich gegenseitig abwechselnd ihre Smartphones zeigend am Schalter stehen. Sie vermitteln den Eindruck, als hätten sie mit der Situation nichts zu tun. Der Mann spricht die Damen an und fragt, warum sich niemand um die Passagiere kümmere. Schließlich weiß niemand, was los ist, niemand weiß, wie es weitergeht und auf was man sich einzustellen habe. Und vor allem wäre es doch wichtig, die Menschen zu betreuen; zu fragen, ob jemand Hilfe benötigt, beispielsweise. Er zeigt auf die Dame im Rollstuhl. Die jungen Frauen schauen den Mann leicht irritiert an und meinen nur, der Flugkapitän wartet auf weitere Instruktionen und sie würden ja schließlich Durchsagen machen. Als der Mann entgegnete, dass dies bei weitem nicht ausreichend sei und von schlechtem Krisenmanagement sprach, erhielt er als Antwort lediglich, dass sie auch nicht mehr tun können. Kopfschüttelnd geht der Mann zu seinem Sitz zurück und beobachtet das weitere Geschehen. 30 Minuten später, die Unruhe in der Abflughalle ist spürbar gestiegen, hat sich eine Gruppe von rund 10 Personen um die Mitarbeiterinnen der Fluggesellschaft geschart und redet auf diese ein. Der „Druck im Kessel“ steigt langsam, aber stetig. Die geschilderte Situation ist durchaus alltäglich und war im Ergebnis auch nicht sonderlich dramatisch, da der Flug mit einiger Verspätung noch durchgeführt werden konnte. Dennoch war sie geeignet, emotional zu eskalieren. Weitere situative Risiken, beispielsweise gesundheitliche Problem eines Passagiers oder Ängste wegen einer zu späten Landung etc., die zu anderen Eskalationen hätten führen können, sind nicht virulent geworden, hätte es aber geben können. Daher ist das Ganze ein gutes Beispiel dafür, was schlechte Führung in Kombination mit schlechtem Management selbst bei banalen Dingen hervorbringen kann. Was passiert dann erst, wenn eine Situation richtig brenzlig ist? Und vor allem: wie vermeidet man eine negative Entwicklung und behält als verantwortliche Person die Lage im Griff? Zunächst ist festzustellen, dass sich die Situation im Luftverkehr abgespielt hat, wo man annehmen sollte, dass dort mitunter die höchsten Standards gelten. Leider scheinen sich diese Standards nur auf die Flugsicherheit zu beschränken, denn ein Beherrschen der Situation in der Abflughalle durch aktives „Führen“ und somit einem „Gestalten der Situation“, war hier komplette Fehlanzeige. Die Frage, die sich stellt, ist, wer trägt in einer solchen Situation die Verantwortung und/ oder wer hätte die Initiative wie ergreifen müssen bzw. ergreifen können? Eine weitere Frage ist, warum hat niemand die Initiative ergriffen? Die Antwort auf die letzte Frage dürfte leicht sein: weil kein Problembewusstsein vorhanden war. Zu hundert Prozent feststellbar war dies in Bezug auf das Bodenpersonal, das sich beobachtbar durch Passivität auszeichnete. Aber auch dann, wenn beim Bordpersonal, beispielsweise bei der Flugbegleiterin, die Informationen an den Schalter überbrachte, ein entsprechendes Bewusstsein vorhanden gewesen wäre, hätte sie die Lage vor Ort checken und Initiative ergreifen können. Einen entsprechenden Auftrag durch einen ihrer Vorgesetzten hat sie offenkundig ebenfalls nicht erhalten. <?page no="146"?> 146 6 Führen trainieren: Los geht‘s Unstrittig dürfte somit sein, dass die Initiative von allen Mitarbeitenden der Fluggesellschaft hätte ausgehen können. Unterstellen wir einmal, dass einzig und allein der Flugkapitän verantwortlich sei, denn er war der ranghöchste Mitarbeiter der Fluggesellschaft vor Ort. Er ist in unserem Beispiel der Chef! Wäre sich dieser bewusst gewesen, was in einer solchen Situation von ihm zu erwarten ist, nämlich die Fürsorge für die ihm anvertrauten Passagiere, hätte er seiner Verantwortung leicht gerecht werden können. Die Lösung hätte wie nachfolgend dargestellt aussehen können; die Taschenkarte bietet bei dieser recht alltäglichen „Führungssituation“ eine perfekte Hilfestellung. Stellen Sie sich nun bitte vor, Sie sind der Flugkapitän und zum ersten Mal in der Situation, dass Ihr Flug sich auf unbestimmte Zeit verschiebt, weil der Zielflughafen gesperrt ist. Das Boarding wurde abgebrochen und alle über 300 Passagiere - Familien mit kleinen Kindern, ältere Paare und Alleinreisende, eine leicht angetrunkene Gruppe jüngerer Männer, eine allein reisende Dame im Rollstuhl, manche Passagiere haben Hunde und Katzen dabei usw. usw. - haben sich zurück in die Abflughalle begeben. Es ist bereits so spät am Abend, dass in einer Stunde alle Geschäfte innerhalb des Terminals schließen werden. Sie haben keine Informationen, ob heute noch gestartet werden kann oder nicht. Falls gestartet werden kann, wissen Sie nicht, ob der geplante Zielflughafen oder ein Ausweichziel angesteuert wird. Sie sind jetzt der Letztentscheider. Niemand gibt Ihnen Anweisungen. Sie haben im Sinne des „Großen und Ganzen“, also entsprechend der in Ihrer Fluggesellschaft gelebten Philosophie, zu entscheiden und zu handeln. Da Sie gut ausgebildet sind, greifen Sie zur Taschenkarte, rufen den 1. Offizier und den Purser (ranghöchster Flugbegleiter) zur Unterstützung und Beratung zu sich und der nachfolgende Prozess läuft in wenigen Minuten ab; von Vornherein ausscheidende Möglichkeiten des eigenen Handels werden nicht näher betrachtet: Der Flug verspätet sich auf unbestimmte Zeit und ich weiß nicht, was wann bezüglich der Startfreigabe geschehen wird. Über 300 Passagiere sitzen ohne Informationen und weitestgehend ohne Verpflegung in der Abflughalle. Manche Personen sind in ihrer Mobilität eingeschränkt, einige angetrunken. Es werden Haustiere mitgeführt. Welche Absicht verfolgt die Unternehmensführung mit diesem Auftrag? Die Absicht der Unternehmensführung ist es … … sicherzustellen, dass alle Passagiere, ebenso wie das Personal, in jeder Lage optimal betreut und versorgt sind und die Crew zu jeder Zeit einsatzfähig ist. Welche wesentliche Leistung wird von mir verlangt? Meine wesentliche Leistung besteht darin zu gewährleisten, dass … … selbst bei einer Lageentwicklung derart (worst case), dass alle Passagiere und das Personal im Terminal übernachten müssen, die Lage entspannt bleibt. Welche Auflagen und Rahmenbedingungen sind zu beachten? Lagefeststellung / Kontrolle Auswertung des Auftrags <?page no="147"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 147 Der Flughafen schließt seinen Abfertigungsbetrieb in einer Stunde; die Personen, für die ich verantwortlich bin, werden bis auf wenige Ausnahmen die einzigen im Terminal verbliebenen Menschen sein. Die Möglichkeit des Einkaufs von Verpflegung und Getränken wird in einer Stunde nicht mehr gegeben sein. Die Möglichkeit, Hilfe von weiterem im Terminal tätigen Personal zu bekommen, wird spätestens in einer Stunde nahezu unmöglich sein. Haben sich die Ausgangsparameter durch zwischenzeitlich eingetretene Entwicklungen maßgeblich verändert? Nein. Wie ist der Auftrag am besten durchführbar? Der Auftrag ist am besten durchführbar durch Sicherstellen von umfassender, verständlicher und laufender Information an die Passagiere, Bereitstellung von Verpflegung und Getränken, Bereitstellung eines Erste-Hilfe-Teams, falls es zu niederschwelligen gesundheitlichen Problemen oder Notfällen kommen sollte, Versorgung der Haustiere, Sicherstellung der Durchgängigkeit der Betreuung und Sicherstellung von Ruhephasen für das Personal. Was ist zu prüfen? Worüber ist zu entscheiden? Zu prüfen ist … wie die laufende Information der Passagiere bestmöglich erfolgt, wie ausreichend Getränke und Verpflegung organisiert werden können, wie eine medizinische Notfallversorgung sichergestellt werden kann, wie die Haustiere versorgt werden, wie eine Betreuung während der ganzen Nacht derart sichergestellt wird, dass die Passagiere rund um die Uhr betreut sind und das Personal am kommenden Morgen einsatzfähig ist. Zu entscheiden ist … … wer sich um die einzelnen Themen konkret wie kümmert. Muss unter Zeitdruck gehandelt werden? Ja! Bis wann muss die Entscheidung gefallen sein? In 15 Minuten ab jetzt. <?page no="148"?> 148 6 Führen trainieren: Los geht‘s Beurteilung der Einflussfaktoren Da der Flughafen seinen Abfertigungsbetrieb in Kürze einstellt, muss schnell gehandelt werden, damit die Versorgung mit Verpflegung sichergestellt werden kann. Dabei gilt es zu beachten, dass die Sicherstellung von Verpflegung in ausreichender Menge und Qualität ein Schlüsselfaktor auch im Hinblick auf die mentale Ausgeglichenheit der Menschen ist. Ebenso muss sichergestellt sein, weiteres eventuell benötigtes Personal, beispielsweise einen Sanitätstrupp, verfügbar zu halten. Feststellen der Möglichkeiten eigenen Handelns (Ansprechen, Beurteilen, Folgern) [1] Information der Passagiere [a] Ansprechen: Die Information erfolgt mittels Durchsagen über die Lautsprecheranlage. Beurteilen: Die Durchsagen über die Lautsprecheranlage sind schwer zu verstehen und erreichen aus diesem Grund und infolge von Sprachsowie eventuell Höreinschränkungen nicht jeden. Folgern: Diese Option ist in der aktuellen Situation nur bedingt geeignet. [b] Ansprechen: Die Information erfolgt persönlich unmittelbar durch das Personal. Beurteilen: Hierdurch würde jeder Passagier erreicht, Verständnis- und Verständigungsprobleme können sofort geklärt werden, es wird ein permanenter Überblick geschaffen über die Situation und die Befindlichkeiten der einzelnen Passagiere, es kann sofort reagiert werden, wenn es zu Problemen kommt. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [2] Organisation von Getränken und Verpflegung [a] Ansprechen: Eigenverantwortlichkeit der Passagiere Beurteilen: Es müsste sich darauf verlassen werden, dass alle Passagiere sich bereits ausreichend eingedeckt haben oder dies innerhalb der kommenden 45 Minuten tun. Gleichzeitig müssten die Geschäfte, die noch nicht geschlossen haben, entsprechende Waren zur Verfügung haben. Folgern: Diese Option ist nur bedingt geeignet. [b] Ansprechen: Sicherstellung über die Bordverpflegung Beurteilen: Die an Bord verfügbaren Verpflegungsmittel sind in nicht ausreichendem Maß vorhanden, um in der Summe (Passagiere und Personal) circa 350 Personen über eventuell 12 Stunden zu sättigen und bei Laune zu halten. Die Bordverpflegung kann daher nur als Reserve dienen. Folgern: Diese Option ist nicht geeignet. [c] Ansprechen: Bereitstellung zusätzlicher Verpflegung durch Sofortbeschaffung Beurteilung der Lage <?page no="149"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 149 Beurteilen: Hierdurch würde sichergestellt, dass für alle Personen die gleiche Verpflegung in ausreichender Menge bereitgestellt wird. Gleichzeitig würde durch das Darreichen durch die Fluggesellschaft eine imagefördernde Situation geschaffen. Der Nachteil besteht in den zusätzlichen Kosten. Gleichzeitig könnte es vermieden werden, dass bei einem Über- Nacht-Aufenthalt die Passagiere für wenige Stunden auf Hotels in der Stadt verteilt würden, was neben einem erheblichen Aufwand deutlich mehr Kosten verursachen würde. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [3] Sicherstellung der medizinischen Versorgung [a] Ansprechen: Sicherstellung durch medizinisches Personal des Flughafens Beurteilen: Es ist unverzüglich zu ermitteln, ob der medizinische Dienst des Flughafens, an dem nach 21 Uhr unter normalen Umständen kein Flugzeug mehr startet oder landet, über Nacht besetzt ist oder auf Grund der Lage besetzt bleiben kann. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [b] Ansprechen: Sicherstellung durch medizinisches Personal unter den Fluggästen Flughafens Beurteilen: Es ist unverzüglich zu ermitteln, ob sich medizinisches Fachpersonal unter den Passagieren befindet; die jeweiligen Qualifikationen und Spezialkenntnisse sind zu erfassen. Sollte entsprechendes Personal vorhanden sein, könnte hiermit ein „Notfall- und Ersthelfer-Trupp“ zusammengestellt werden. Folgern: Diese Option ist geeignet; in Abhängigkeit der Qualifikationen eventuell gut geeignet. [4] Versorgung der Haustiere Ansprechen: Die Haustiere sind mit Futter zu versorgen, das die Besitzer mitführen; Wasser ist vorhanden. Beurteilen: Es ist zunächst zu ermitteln, wie viele und welche Tiere versorgt werden müssen. Da davon ausgegangen werden kann, dass die meisten Besitzer Futtermittel in kleineren Mengen mitführen, dürfte die Versorgung bis morgen früh sichergestellt sein. In den Fällen, in denen dies nicht der Fall ist, können die Besitzer sich eventuell gegenseitig aushelfen, oder aber es wird auf andere Nahrungsmittel wie Brot oder Wurst zurückgegriffen, um über Nacht auszukommen. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [5] Durchgehende Betreuung unter Aufrechterhaltung der Einsatzfähigkeit des Personals Ansprechen: Einrichten eines Wechselschichtbetriebes. <?page no="150"?> 150 6 Führen trainieren: Los geht‘s Beurteilen: Zunächst ist das gesamte Personal gefordert, die unter 1. bis 4. genannten Anforderungen sicherzustellen. Danach sollte ein Wechselschichtsystem durch Absprache des Personals untereinander gewährleisten, dass die Passagiere ununterbrochen gut versorgt sind und das Personal gleichzeitig genügend Ruhe findet, um zu jedem Zeitpunkt in der Lage zu sein, das Boarding zu starten und den Flug zu begleiten. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. Es wird folgender Entschluss getroffen: 1. Die Information der Passagiere erfolgt persönlich unmittelbar; das Lautsprechersystem sollte nur im Ausnahmefall bei Bedarf zur Unterstützung herangezogen werden. Im Rahmen der Information an die Passagiere sind Informationen durch die Passagiere aufzunehmen, an was es mangelt. 2. Die Verpflegung wird über Sofortbeschaffung sichergestellt; die Bordverpflegung dient als Reserve. 3. Die medizinische Versorgung soll, soweit verfügbar, durch den medizinischen Dienst des Flughafens sichergestellt werden; medizinisches Fachpersonal unter den Passagieren soll in Abhängigkeit der verfügbaren Qualifikationen das Flughafenpersonal unterstützen bzw. als Ersthelfer fungieren. 4. Die Haustiere werden durch die Besitzer versorgt, bei Engpässen unterstützt das Flugbegleitpersonal. 5. Es wird ein Wechselschichtsystem eingerichtet. Im Rahmen der Planung stimmen Sie sich kurz mit Ihren Beratern ab, wer was wann wie macht. Das Ergebnis halten Sie in einer Notiz fest, rufen das gesamte Flugpersonal zusammen und erteilen folgende mündliche Weisung: Lage: Wie Sie wissen, ist der Zielflughafen gesperrt und es gibt noch keine Informationen darüber, wie und vor allem wann es weitergeht. Wohin es weitergehen wird, wissen wir ebenfalls noch nicht. Wir müssen uns also darauf einstellen, dass die Passagiere gemeinsam mit uns die Nacht im Flughafengebäude verbringen, so dass es zu stressigen Situationen kommen kann. Auftrag: Wir stellen gemeinsam sicher, dass alle Passagiere jederzeit gut informiert über die Geschehnisse sind, alle ausreichend verpflegt werden, eine medizinische Notfallversorgung sichergestellt ist, alle Haustiere versorgt sind und wir alle dabei so fit bleiben, dass wir zu jeder Zeit starten können. Durchführung: 1. Flugbegleiterin Frau Meier übernimmt die Sicherstellung der Kommunikation und stellt dabei gleichzeitig fest, wo es an was mangelt und was diesbezüglich zu tun ist. Gleichzeitig stellen Sie bitte fest, welches medizinische Personal sich unter den Passagieren befindet. Meldung diesbezüglich in 15 Minuten. Entschluss Planung Befehlsgebung <?page no="151"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 151 Unterstützt werden Sie durch Herrn Flugbegleiter Lieblich sowie das am Schalter eingesetzte Bodenpersonal. Halten Sie mich bitte permanent auf dem Laufenden. 2. Der Purser nimmt unverzüglich Kontakt mit den noch offenen Restaurants und Läden auf und klärt, wie kurzfristig Verpflegung bereitgestellt werden kann, um die Versorgung bis morgen früh sicherzustellen. Eine kurzfristige Erstausgabe von Schokoriegeln und Wasser wäre hilfreich. Unterstützt werden Sie durch Frau Flugbegleiterin Schulz. 3. Der Erste Offizier nimmt unverzüglich Kontakt mit dem medizinischen Dienst des Airports auf und klärt dessen Verfügbarkeit. 4. Herr Flugbegleiter Hans prüft, welche Haustiere versorgt werden müssen und ob es Handlungsbedarf unsererseits gibt. Sollte dies so sein, lösen Sie die Probleme bitte. 5. Sobald alle relevanten Dinge geklärt sind, kümmert sich der Purser um den Schichtplan; der erste Offizier meldet mir in regelmäßigen Abständen von maximal 30 Minuten die Lage. 6. Ich selbst befinde mich im Cockpit und halte Kontakt zum Zielflughafen und zum Tower. Viel Erfolg! Durch die in den nächsten Minuten bei Ihnen eintreffenden Meldungen durch das Personal ebenso wie durch die Flugleitung werden sich erfahrungsgemäß permanent Lageänderungen ergeben, auf die reagiert werden muss. Der Kreislauf beginnt von vorne. Sollte beispielsweise die Information kommen, dass der Flug gestartet werden kann, sind alle eingeleiteten Maßnahmen sofort abzubrechen, das Boarding einzuleiten und der Flug zu starten. Auch hierfür braucht es eine Beurteilung der Lage mit Entschluss … Beispiel 2: unternehmerisches „Alltagsproblem“ Ausgangspunkt des Führungsprozesses ist stets ein „Problem“, also eine erkannte Abweichung zwischen Soll und Ist; im Führungsprozess als „Lagefeststellung“ bezeichnet. Lage: Ihnen als Geschäftsführer wird vom Produktionsleiter gemeldet: „Wir haben zu wenig Personal in der Produktion. Ich dachte, ich kriege das so hin, aber das funktioniert nicht“. Damit ist die Lagefeststellung in diesem Beispiel abgeschlossen. Der sich nun anschließende Teil, das „Herzstück“ des Prozesses, ist die Entscheidungsfindung mit den drei Teilabschnitten „Auswertung des Auftrags“, von uns als „Zielauswertung“ ins Zivile übersetzt, „Beurteilung der Lage“ und letztendlich der „Entschluss“, sprich die konkrete Entscheidung. Lagefeststellung / Kontrolle Lagefeststellung / Kontrolle <?page no="152"?> 152 6 Führen trainieren: Los geht‘s Schritt 1, Auswertung des Auftrages (Zielauswertung), ist immens wichtig und sollte nicht unterschätzt werden, da ein falsch verstandener oder falsch interpretierter Auftrag nicht zu guten Entscheidungen führen kann. Wir haben im Verlauf des Buches die „Auswertung des Auftrages“ wie nachfolgend dargestellt in das Schema der Zielauswertung übersetzt. Im Übrigen weisen wir an dieser Stelle abermals darauf hin, dass derjenige, der einen Auftrag erteilt, seine Absicht, bei der Bundeswehr die 3a (Drei-Alpha), knapp und präzise so formuliert, dass die Zielauswertung schnell und richtig erfolgen kann. Der Empfänger muss verstehen, was von ihm verlangt wird! Weiter im Beispiel: Nachdem der Produktionsleiter Ihnen als Geschäftsführer das „Problem“, ohne es hinsichtlich Qualität und Quantität näher zu spezifizieren (was nicht gut, aber oft tägliche Praxis ist) und damit die „Lage“ gemeldet hat, bestehen zwei grundsätzliche Optionen: entweder, Sie selbst als Geschäftsführer (was in kleineren Organisationen regelmäßig der Fall ist) oder aber eine andere Person im Unternehmen „durchlaufen“ den Führungsprozess. Ein von Ihnen erteilter Auftrag, militärisch wäre dies ein Befehl, an die Leiterin der Personalabteilung und darin eingebunden die eigene Absicht von Ihnen als Geschäftsführer, könnte daher wie nachfolgend dargestellt lauten. Wenn Sie sich dabei am Befehlsschema der Bundeswehr orientieren, ist das durchaus hilfreich. Wir erinnern uns an die Kurzform des Befehls: 1. Lage, 2. Auftrag, 3. Durchführung. Hier Ihr „Befehl“, also die dienstliche Anweisung, an die Personalleiterin: „Frau Meier, unser Leiter der Produktion, Herr Müller, hat mir gestern berichtet, dass er zu wenig Personal hat (das ist die Lage) . Ich hätte gerne, dass Sie sich des Themas annehmen und mir bis heute in einer Woche spätestens 16 Uhr einen entsprechenden Lösungsvorschlag unterbreiten (das ist der Auftrag). Meine Absicht ist es, die Unterbesetzung innerhalb von 7 Wochen gerechnet ab heute so zu beseitigen, dass wir das Problem möglichst ohne Neueinstellungen lösen (das ist die „Drei-Alpha“) . Ich weiß, dass Sie dazu im Unternehmen einiges prüfen müssen. Verursachen Sie mir daher bitte keine Unruhe im Betrieb.“ Wir haben in diese Anweisung etwas hineingepackt, was in der „zivilen Umgebung“ häufig vernachlässigt wird und daher mitunter zu suboptimalen Prozessen und Ergebnissen führt: die Zeitangabe, bis wann der Vorschlag spätestens vorgestellt werden soll und den Zeitpunkt, bis wann sich die Lage durch Ihre Initiative spätestens geändert haben, das „Problem“ also gelöst sein soll. Wichtig für die Person, die die dienstliche Anweisung ausführen soll, ist zu wissen, dass Störungen, die zur Gefährdung der Einhaltung der Termine führen, unverzüglich gemeldet werden. Nur so kann schnell reagiert werden. All dies ergibt sich aus dem nachfolgenden Schema. Wir wissen jedoch aus langjähriger Führungserfahrung, dass das Schaffen eines Bewusstseins hierfür immens wichtig ist, und weisen daher besonders hierauf hin. Weiter im Beispiel: Die Leiterin der Personalabteilung, vorausgesetzt, Sie haben ihr ‒ nach der Lektüre dieses Buches ‒ vermittelt und mit ihr trainiert, wie der Führungsprozess Entscheidungsfindung Auswertung des Auftrags <?page no="153"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 153 aussieht 😊😊 , geht jetzt an die Entscheidungsfindung und beginnt mit der Auswertung des Auftrages, von uns als Zielauswertung bezeichnet. Dabei bedient sie sich des nachfolgenden Schemas … Zielauswertung Abb. 19 … und kommt zu den folgenden Ergebnissen, die sie schriftlich fixiert: Welche Absicht verfolgt die Unternehmensführung mit diesem Auftrag? Absicht der Unternehmensführung … … ist es, die Unterbesetzung innerhalb von 7 Wochen ab heute (Enddatum: TT.MM.JJJJ) so zu beseitigen, dass das Problem möglichst ohne Neueinstellungen gelöst wird. Welche wesentliche Leistung wird von mir verlangt? Meine wesentliche eigene Leistung ist es, … die Unterbesetzung zu beseitigen! Welche Absicht verfolgt die übergeordnete Führung mit diesem Auftrag? Ende Welche wesentliche Leistung wird verlangt? Welche Auflagen gibt es für das eigene Handeln? Haben sich die Voraussetzungen für die Erteilung des Auftrages durch die Lageentwicklung grundlegend geändert? Entspricht die Erfüllung des Auftrages noch der Absicht der übergeordneten Führung? Ist der Auftrag noch durchführbar? Wie ist der gegebene Auftrag am besten durchzuführen? nein ja ja ja Kann Entscheidung des Vorgesetzten eingeholt werden? nein nein Was ist zu prüfen? Worüber ist zu entscheiden? Wie kann der Absicht der übergeordneten Führung am besten entsprochen werden? Muss unter Zeitdruck beurteilt und befohlen werden? Letzte Lageänderung melden, ggf. mit Vorschlag für einen neuen Auftrag? Bis wann muss die Entscheidung gefallen sein? nein nein ja ja <?page no="154"?> 154 6 Führen trainieren: Los geht‘s Welche Auflagen und Rahmenbedingungen sind zu beachten? Besetzung möglichst ohne Neueinstellungen keine Unruhe im Betrieb auszulösen Vorlage Maßnahmenplan bis TT.MM.JJJ 16 h Haben sich die Ausgangsparameter durch zwischenzeitlich eingetretene Entwicklungen maßgeblich verändert? Nein. Wie ist der Auftrag am besten durchführbar? Durch detailliertes und kritisches Prüfen der Personalsituation des Gesamtunternehmens ebenso wie des Produktionsablaufs zur Identifikation von Personalressourcen. Was ist zu prüfen? Worüber ist zu entscheiden? Zu prüfen ist … wie viele Stellen zu besetzen sind (Quantität), welche Stellen zu besetzen sind (Qualifikationen), welchen Grund es für die Unterbesetzung gibt (Krankheit, Kündigungen, Verrentung, höherer Arbeitsanfall, Urlaub, Abbau von Überstunden etc.), daraus abgeleitet, ob die Vakanzen temporär oder von Dauer sind, ob tatsächlich alle als Vakanzen definierten Stellen neu besetzt werden müssen, welche Möglichkeiten es gibt, die Stellen aus dem Unternehmen heraus durch Umbesetzung von Überhängen und/ oder Änderung des Produktionsablaufs zu besetzen, welche Möglichkeiten es gibt, die Stellen von außerhalb des Unternehmens zu besetzen. Zu entscheiden ist … … mit wem jede einzelne Stelle konkret zu besetzen ist. Muss unter Zeitdruck gehandelt werden? Ja! Bis wann muss die Entscheidung gefallen sein? TT.MM.JJJ 16 h Nun folgt die Beurteilung der Lage. Hätte der Produktionsleiter bei seiner „Meldung des Problems“ bereits detaillierte Informationen mitgeliefert (siehe die oben aufgeführten „Prüffragen“), könnte sich die Personalleiterin auf das Prüfen und Ergänzen dieser Angaben beschränken. Nun ist sie gezwungen, alle für die Entscheidung notwendigen Informationen selbst zu beschaffen. Erster Ansprechpartner ist der Produktionsleiter. Beurteilung der Lage <?page no="155"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 155 Da Frau Meier die Prüffragen im Rahmen der Zielauswertung definiert hat, orientiert sie sich bei der Beurteilung der Lage an diesen. Sie kommt zu folgenden Ergebnissen: Beurteilung der Einflussfaktoren 1. Ergebnis intensiver Beratschlagung mit dem Produktionsleiter und den zuständigen Schichtführern ist, dass in der Produktionslinie 2 fünf Stellen besetzt werden müssen, die für einen reibungslosen Ablauf notwendig sind. Eine Nichtbesetzung, auch temporär, der identifizierten Stellen ist nicht möglich. 2. Bei den Stellen handelt es sich um 1 Qualitätsmanager, 1 Schichtführer, 3 Produktionsmitarbeiter im Schichtdienst. 3. Die Gründe für die Vakanzen bestehen darin, dass ein Qualitätsmanager (Herr Schön) länger erkrankt ist (Rückkehr erwartet in 4 Monaten) → temporär, ein Schichtführer in Rente gegangen ist → auf Dauer, eine Produktionsmitarbeiterin in Mutterschutz ist und anschließend in Elternzeit geht (Rückkehr erwartet in 2 Jahren) → temporär, 2 Produktionsmitarbeiter durch höheren Arbeitsanfall in der Produktionslinie 2 benötigt werden → auf Dauer. Somit sind 2 Stellen temporär und 3 Stellen auf Dauer zu besetzen. Feststellen der Möglichkeiten eigenen Handelns (Ansprechen, Beurteilen, Folgern) [1] Qualitätsmanager [a] Ansprechen: Im Einkauf macht ein Bachelorabsolvent Fachrichtung Qualitätsmanagement (Herr Best) nach Abschluss seines Studiums vor drei Monaten seither ein Praktikum. Beurteilen: Die vakante Stelle wäre bis zur Rückkehr des Stelleninhabers eine ideale Einstiegsstelle für den jungen Mann, der sich im Praktikum sehr gut bewährt. Danach könnte er in der Entwicklungsabteilung eingesetzt werden, wo entsprechender Bedarf herrscht und eine Ausschreibung überflüssig machen würde. Der Aspirant würde zudem gerne im Unternehmen arbeiten. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [b] Ansprechen: Herr Schütz, der in der Produktionslinie 1 als Schichtführer eingesetzt wird und bereits seit 16 Jahren im Unternehmen arbeitet, hat vor einigen Monaten geäußert, dass er gerne als Qualitätsmanager arbeiten möchte. Beurteilen: Herr Schütz, der 58 Jahre alt ist, müsste komplett für diese Stelle ausgebildet werden, was einen Zeitbedarf von etwa neun Monaten mit sich brächte. Folgern: Diese Option ist nicht geeignet. <?page no="156"?> 156 6 Führen trainieren: Los geht‘s [c] Ansprechen: Es liegt eine Initiativbewerbung einer 29-jährigen Dame vor, die bei einem Mitbewerber als Qualitätsmanagerin arbeitet. Beurteilen: Die Dame erfüllt alle fachlichen Voraussetzungen und stünde Ende des nächsten Monats zur Verfügung. Sollte diese Option ausgewählt werden, stünde dies allerdings der Absicht des Geschäftsführers entgegen, möglichst ohne Besetzungen von Außerhalb des Unternehmens auszukommen. Folgern: Diese Option ist geeignet. [2] Schichtführer [a] Ansprechen: Produktionslinie 1 ist seit drei Monaten infolge des Wegfalls eines Produktes um circa 20% geringer ausgelastet. Dies wird dauerhaft so sein. Beurteilen: Durch die geringere Auslastung wurden zunächst Überstunden und Urlaub abgebaut, was in zwei Wochen abgeschlossen sein wird. Dann kann die Schichteinteilung neu gestaltet werden, wodurch 1 Schichtführer überzählig würde. Da Produktionslinie 2 fachlich anspruchsvoller als Linie 1 ist, stünde mit Herrn Kogel ein fachlich versierter, zuverlässiger und mit 35 Jahren junger Mann zu Verfügung, der die Aufgabe zudem gerne übernehmen möchte. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [b] Ansprechen: Herr Molters, Produktionsmitarbeiter in Linie 2, äußerte, gerne Schichtführer werden zu wollen, sobald im Unternehmen eine entsprechende Stelle zu besetzen wäre. Beurteilen: Herr Molters ist öfter unpünktlich und streitet hin und wieder auch mal mit seinen Kollegen. Er hat bereits eine Abmahnung erhalten. Folgern: Diese Option ist nicht geeignet. [3] Produktionsmitarbeiter [a] Ansprechen: In der Reinigungskolonne arbeitet die junge Frau Abadi syrischer Herkunft, die offensichtlich über Entwicklungspotenziale verfügt. Beurteilen: Die Dame spricht nach sechs Monaten in Deutschland bereits gut Deutsch, ist sehr fleißig und zuvorkommend. In ihrem Heimatland hat sie als Verkäuferin gearbeitet. In der Reinigungskolonne würde die Vakanz problemlos durch Neueinstellung (Besetzung von außerhalb! ) geschlossen werden können. Folgern: Diese Option ist geeignet. [b] Ansprechen: Herr Schmidt teilte mit, dass seine Lebensgefährtin Frau Hans gerne zu ihm ziehen und nach einem Arbeitgeberwechsel gerne mit ihm in der gleichen Schicht arbeiten möchte. <?page no="157"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 157 Beurteilen: Die Bewerbungsunterlagen liegen vor und erfüllen alle Kriterien, die für eine Einstellung sprechen. Das Zusammenarbeiten von Partnern in einer Schicht wird im Unternehmen öfter praktiziert und stellt bislang kein Problem dar. Allerdings würde die Einstellung eine Besetzung der Stelle von außerhalb des Unternehmens bedeuten. Gleichzeitig ist zu beachten, dass für den Fall, dass diese Variante nicht umgesetzt wird, die Gefahr besteht, dass Herr Schmidt, ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter, das Unternehmen verlässt. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [c] Ansprechen: Der Auszubildende Herr Wagner hat in sechs Wochen seine Ausbildung beendet. Beurteilen: Herr Wagner ist sehr beliebt, hat bislang sehr gute Ergebnisse erzielt und würde gerne im Unternehmen bleiben. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. [d] Ansprechen: In Produktionslinie 1 sind durch die geringere Auslastung drei Mitarbeiter entbehrlich. Beurteilen: Innerhalb der kommenden sechs Monate werden aus Produktionslinie 1 drei Mitarbeiter in Rente gehen, ein Mitarbeiter ist seit längerem krank und es ist nicht bekannt, ob er überhaupt wieder in den Beruf zurückkehren wird. Somit sind zwar Stand heute drei Mitarbeiter entbehrlich, werden auf Basis des heutigen Informationstandes in den kommenden Monaten jedoch dringend gebraucht. Würde jetzt 1 Mitarbeiter in Linie 2 abgezogen, müsste er aller Voraussicht nach in den kommenden sechs Monaten ersetzt werden. Folgern: Diese Option ist geeignet. Frau Meier trägt nun der Geschäftsführung und dem Produktionsleiter einen Tag vor dem Enddatum vor, nachdem sie alle Prüfschritte durchlaufen hat, abgeleitet aus der Absicht der Unternehmensführung, die festgestellten 5 Vakanzen bis zum TT.MM.JJJJ so zu beseitigen, dass das Problem möglichst ohne Neueinstellungen gelöst wird, ihren Entschluss mit Begründung vor, den sie sich anschließend billigen lässt: [1] Qualitätsmanager Zur Besetzung der Stelle des Qualitätsmanagers schlage ich Option a) vor, da für die temporäre Vakanz von voraussichtlich vier Monaten ein Mitarbeiter gewonnen werden kann, für den diese Stelle auf Grund seiner Ausbildung und seiner Bewährung im Praktikum eine ideale Einstiegsmöglichkeit ist. Zwar ist damit eine Besetzung der Stelle von außerhalb des Unternehmens verbunden, aber nach Ablauf der vier Monate kann er in die Entwicklungsabteilung wechseln, sodass das dort für kommende Woche vorgesehene Ausschreibungsverfahren entfallen kann. Entschluss <?page no="158"?> 158 6 Führen trainieren: Los geht‘s [2] Schichtführer Zur Besetzung der Stelle des Schichtführers schlage ich Option a) vor, da wir die Stelle intern mit einer versierten Fachkraft besetzen können. [3] Produktionsmitarbeiter Zur Besetzung der drei Stellen als Produktionsmitarbeiter schlage ich die Optionen b), c) und d) vor, da drei gut geeignete Aspiranten zur Verfügung stehen. Zwar ist dies mit einer Neueinstellung von außerhalb verbunden, bindet aber Herrn Schmidt weiter an das Unternehmen, den wir ungern verlieren möchten. Frau Abadi steht als „Personalreserve“ zur Verfügung und kann bei der nächsten Neubesetzung, eventuell in Produktionslinie 1, zum Zuge kommen, sodass aktuell auch keine Neubesetzung in der Reinigungskolonne vonnöten ist, gleichzeitig aber eine Reserve vorhanden ist, auf die je nach Entwicklung in Linie 1 kurzfristig zurückgegriffen werden kann. Nachdem Sie als Geschäftsführer den Entschluss der Personalleiterin gebilligt haben, folgt die Planung. Die Planung klärt vereinfacht, was jetzt, nachdem der Entschluss gefasst wurde, zu tun ist. Es werden die folgenden Fragen beantwortet: Wer ist von der Entscheidung betroffen? Wer macht wann was und warum? Was will ich mit der gewählten Option erreichen? Wo liegen die Schwerpunkte der eigenen Planungen? Das Ergebnis der Planung mündet beim Militär in einem Befehl, im Unternehmen in einer Anweisung oder von der Terminologie her etwas „abgeschwächt“ vielleicht auch nur in einer „Mitteilung“ (die damit aber nicht den Charakter der Anweisung verliert), die, am militärischen Befehlsschema orientiert, wie nachfolgend dargestellt aussehen könnte. Bitte beachten Sie, dass die darin enthaltenen Informationen nunmehr auch Personen bekannt gegeben werden, die nicht in den Führungsprozess eingebunden waren. Diese haben nicht Ihren Informationsstand, sondern werden durch den Befehl/ die Anweisung erstmals „auf Stand“ gebracht! Zum Teil dient der Text lediglich der Information derjenigen Personen, für die sich daraus kein Handlungsbedarf ergibt. Im Wesentlichen werden jedoch die Personen angesprochen, für die es nun etwas zu tun gibt. Im Beispiel hat die Personalleiterin die Weisung verfasst; Sie als Geschäftsführer haben sie mit Unterschrift bestätigt herausgegeben. Anweisung Nr. 15/ 20XX vom TT.MM.JJJJ [1] Ausgangssituation In der Produktion sind folgende Stellen in Produktionslinie 2 zu besetzen: 1 Qualitätsmanager für voraussichtlich 4 Monate 1 Schichtführer dauerhaft Planung Befehlsgebung <?page no="159"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 159 1 Produktionsmitarbeiter für voraussichtlich 2 Jahre 2 Produktionsmitarbeiter dauerhaft [2] Auftrag Die Personalabteilung ist beauftragt, die Vakanzen bis zum TT.MM.JJJJ zu besetzen. [3] Durchführung [a] Absicht der Geschäftsführung ist es, die Stellen möglichst ohne Neueinstellung von außen zu besetzen. Nach gründlicher Abwägung wurde entschieden, dass … die Position des Qualitätsmanagers bis zur Rückkehr von Herrn Schön durch Herrn Best (aktuell Praktikant) besetzt wird, Herr Best nach der Rückkehr von Herrn Schön als Ingenieur in der Entwicklungsabteilung eingesetzt wird, die Position des Schichtführers durch Herrn Kogel, bislang eingesetzt in Produktionslinie 1, dauerhaft besetzt wird, die erste Stelle als Produktionsmitarbeiter im Rahmen eines zunächst auf 2 Jahre befristeten Vertrages durch Frau Hans, der Lebensgefährtin von Herrn Schmidt, besetzt wird, die zweite Stelle als Produktionsmitarbeiter unbefristet durch den Auszubildenden Herr Wagner nach Abschluss der Ausbildung besetzt wird und die dritte Stelle als Produktionsmitarbeiter durch Herrn Müller, bislang eingesetzt in Produktionslinie 1, besetzt wird. [b] Ich bitte, Folgendes zu veranlassen: Produktionsleitung: mündliche Vorabinformation der Personalmaßnahmen an die betroffenen Personen einschließlich Herrn Schmidt in Bezug auf seine Lebensgefährtin Frau Hans bis TT.MM.JJJJ, Personalleitung: Schaffung der vertraglichen Grundlagen, Vorlage bei der Geschäftsführung zur Unterzeichnung bis TT.MM.JJJJ, Personalleitung: Sicherstellen der formalen Information und Einholung der Unterschriften der Mitarbeitenden bis TT.MM.JJJJ, Lohnbuchhaltung: Erfassung/ Aktualisierung der Personalstammdaten sowie der tariflichen Grundlagen bis TT.MM.JJJJ, Produktionsleitung: unmittelbar nach Abschluss der Formalien schnellstmögliche Besetzung respektive Umbesetzung; Meldung des Maßnahmenvollzugs unmittelbar nach Abschluss der letzten Maßnahme, Produktionsleitung: Meldung der einzelnen Maßnahmen unmittelbar nach der jeweiligen Umsetzung an Personalleitung, Lohnbuchhaltung und IT, IT: Durchführung der Sicherheitsbelehrung etc. unmittelbar nach Besetzung der jeweiligen Stelle, <?page no="160"?> 160 6 Führen trainieren: Los geht‘s IT: Aktualisierung des Organigramms, der Telefonliste sowie der Homepage bis TT.MM.JJJJ [4] Unterstützung Die Assistentin der Geschäftsführung wird gebeten sicherzustellen, dass für Frau Hans am ersten Arbeitstag ein kleiner Blumenstrauß am Arbeitsplatz bereitliegt. Damit schließt sich der Kreis und es bleibt die Kontrolle, inwieweit die getroffenen Maßnahmen umgesetzt und der gewünschte Erfolg eingetreten sind. Gibt es Abweichungen zwischen der gewünschten und der tatsächlichen Lage, eventuell auch dadurch, dass es Lageänderungen gegeben hat (z. Bsp. Frau Hans hat sich von Herrn Schmidt getrennt), beginnt der Prozess von vorne. Beispiel 3: Komplexe Herausforderung Das dritte Beispiel ist bewusst deutlich komplexer als das erste und es bedarf einiger Informationen in Form der Darstellung der „Umweltbedingungen“, in denen das Szenario spielt. Inspiriert wurde das Beispiel durch das 2021 erschienene Buch des ehemaligen Audi-Vorstands Peter Mertens, „ Aufstieg aus der Blechliga. So hat unsere Autoindustrie eine Zukunft “. Im Szenario selbst haben wir aus Gründen der Praktikabilität zum Teil vereinfacht, da der Anspruch nicht darin besteht, am Ende eine Musterlösung für eine reale und bedeutsame Herausforderung zu liefern. Vielmehr ist es das Ziel aufzuzeigen, wie die von uns in diesem Buch entwickelte Methodik in einem komplexen Fall anzuwenden ist. Beispielhaft konzentrieren wird uns dabei auf zwei Handlungsfelder von mehreren möglichen. Das Kapitel folgt selbstredend dem in der Taschenkarte dargestellten Regelkreis. Obwohl die einzelnen Punkte sich auch hier in den Überschriften innerhalb dieses Kapitels wiederfinden, bietet es sich an, während der Lektüre die Taschenkarte zu nutzen, will heißen, sie am besten neben das Buch zu legen. Ihre Rolle im Beispiel ist die eines Mitarbeiters eines großen deutschen Automobilherstellers. Als Leiter eines Projektteams sind Sie mit der Erarbeitung von Vorschlägen beauftragt, wie zukunftsfähige, softwarebasierte Fahrzeugkonzepte entwickelt werden und wie neue Geschäftschancen rund um das Auto genutzt werden können. Die Unternehmensführung erwartet in spätestens drei Monaten ab heute Vorschläge für das weitere Vorgehen. Die Umweltparameter: Wer in den Jahren 2021 und 2022 versucht hat, ein neues Auto zu bestellen, konnte hautnah erleben, in welch schwieriger Situation sich die Automobilindustrie befand. Lange Liefertermine, die am Ende nicht eingehalten wurden, waren für die meisten Hersteller die Regel. Lagefeststellung / Kontrolle <?page no="161"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 161 Die Ursachen waren vielfältig. Zunächst haben die Corona-Pandemie und dann der Ukraine-Krieg Lieferketten nachhaltig gestört. Die Umstellung auf Elektromobilität hat deutlich an Fahrt aufgenommen, gleichzeitig ändert sich die Einstellung der Kunden zum Auto deutlich. Für viele Käufer ist das Auto immer mehr ein Gebrauchsgegenstand, dessen Qualität und Wert sich weniger durch einen leistungsfähigen Motor und ein gutes Fahrwerk, sondern vielmehr durch Aspekte wie Bedienerfreundlichkeit, Konnektivität und Umweltwirkung definieren. Viele Käufer haben die Kaufentscheidung zurückgestellt, weil sie unsicher bezüglich der technologischen Entwicklungen sind. Wird das E-Auto wirklich die Zukunft sein oder gibt es doch eine Perspektive für wasserstoffgetriebene Autos? Wie schnell geht der Ausbau der Lade-Infrastruktur voran? Nicht zuletzt hat die Inflation, insbesondere der Anstieg der Energiepreise, für viele potenzielle Kunden den finanziellen Spielraum eingeschränkt, was sich auf Kaufentscheidungen auswirken dürfte. Aus Sicht der Industrie sind neue Wettbewerber, aber auch neue Partner aufgetaucht, die man noch vor wenigen Jahren nicht auf der Rechnung hatte. Tesla und die chinesischen Automobilhersteller sind Beispiele, aber auch - wer hätte das gedacht - Google oder Apple . Und die europäische Automobilindustrie hat auf manche Entwicklung spät reagiert. Gleichzeitig verschärft die EU die Abgasvorschriften, und das Aus des Verbrennungsmotors mit Ausnahme von E-Fuel-Autos in der EU ab 2035 ist politisch beschlossen. Insgesamt ist dies eine Situation, wie sie kaum volatiler, unsicherer, komplexer und mehrdeutiger sein könnte. Sie ist das Szenario, in dem wir uns bewegen. VUCA pur. Ergänzend einige relevante Entwicklungen rund um die Automobilindustrie in loser Reihenfolge: Zunehmendes Klimabewusstsein, insbesondere bei der jüngeren Generation, ist für die Automobilindustrie von entscheidender Bedeutung. Jenseits gesetzlicher Regelungen werden Kraftfahrzeuge mit hohem Verbrauch und damit verbundenem hohen CO 2 -Ausstoß immer schwieriger absetzbar sein. Das Auto hat sich „längst in ein Device verwandelt ..., das elektrisch vernetzt und autonom durch smarte Städte steuert. Ein Device, das man nicht besitzen muss, um es zu nutzen, das man nicht fahren muss, wenn man sich fahren lassen will. Das immer weniger Auto ist - und immer mehr mobiler Möglichkeitsraum zum Arbeiten und Erholen, ein Raum für Information, Kommunikation und Entertainment. Mechanisch einfach, softwareseitig hochkomplex und komplett fokussiert auf den wichtigsten Part der Wertschöpfungskette, den Deutschlands Autobauer kaum kennen und mit dem andere Player Geschäfte machen: den User.“ 131 Knapper und prägnanter kann man den radikalen Strukturwandel in der Autoindustrie kaum beschreiben. 131 Mertens, Peter, a.a.O., S.7f <?page no="162"?> 162 6 Führen trainieren: Los geht‘s Die demographische Entwicklung hat schon heute die Nachwuchsgewinnung in hohem Maße erschwert. Dies gilt insbesondere für IT-Fachkräfte. Der Chip-Mangel in allen Bereichen der Wirtschaft und nicht zuletzt die Abhängigkeit von wenigen Lieferanten hat zu erheblichen Lieferproblemen nicht nur in der Autoindustrie, sondern in sehr vielen anderen Bereichen der Wirtschaft geführt. China ist heute der größte Absatzmarkt für deutsche Autos. Gleichzeitig produzieren deutsche Automobilhersteller mehr Fahrzeuge in China als in Deutschland. 132 Die durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg ausgelösten Störungen von Lieferketten haben zu Diskussionen geführt, wie die Resilienz von Lieferketten verbessert werden kann - ggf. auch zu Lasten der Effizienz. Auch die Frage, ob die eigene Fertigungstiefe erhöht werden muss, spielt in diesem Kontext eine Rolle. „Wer Autos effizient bauen, wer sie vernetzen, teilen oder autonom fahren lassen will, der kommt ohne Cloud nicht weit. Und Cloud heißt für die meisten Autobauer: AWS von Amazon, Azure von Microsoft oder die Clouds der Hyperscaler Google oder Alibaba.“ 133 Was aber bedeutet es, wenn ich mich von diesen Clouds abhängig mache? Verkommt Europa damit zu einer „digitalen Kolonie“ amerikanischer und chinesischer Unternehmen? Muss ich mich deswegen als Automobilhersteller in den europäischen Cloudprojekten „Gaia-X“ und/ oder „Catena-X“ engagieren? 134 Die Google-Mutter Alphabet hat das Betriebssystem „Android Automotive“ entwickelt, das über das Infotainment hinaus auch Klimaanlage oder Sitze steuert. Dieses System bietet Google für Hersteller kostenlos an. PSA, General Motors, Renault-Nissan und Volvo machen mit wegen der hohen Einsparungen - Kundendaten und Geschäfte mit digitalen Services gehen so allerdings an Google … Amazon … lässt seine digitale Assistentin Alexa über die Connected Services bei mehreren Markenherstellern auftreten und bietet jedem Fahrer die Möglichkeit, sein Auto mit dem Zusatzmodul „Echo“ nachzurüsten … Alibaba hat bereits 2016 den Smart-SUV Roewe RX5 von SAIC mit YunOS ausgestattet, einer Betriebs- und Applikationsplattform, die Navigation, Entertainment und darüber hinaus das Bezahlen via Alipay ermöglicht. 135 Neben Kauf und dem klassischen Leasing gibt es am Markt inzwischen Anbieter von neuartigen Mietmodellen: der Kunde mietet ein Fahrzeug, alle Services und Nebenkosten inklusive der Option, den Mietvertrag im Gegensatz zu den klassischen Leasinglösungen vergleichsweise kurzfristig und flexibel kündigen zu können. Ebenso sind zahlreiche Carsharing-Anbieter auf dem Markt aufgetaucht - und 132 Vgl. Mertens, Peter, a.a.O. S. 105 133 Mertens, Peter, Aufstieg aus der Blechliga. So hat unsere Autoindustrie eine Zukunft, Frankfurt am Main, 2021, S. 174. 134 Ebenda, S. 174 ff. 135 Ebenda, S. 14f. <?page no="163"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 163 teilweise auch schon wieder verschwunden. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass rund ums Auto immer mehr neue Geschäftsmodelle entstehen bzw. entstehen werden. Im Folgenden einige Beispiele: „ bessere Orientierung im Verkehr : Navigation zu freien Parkplätzen incl. Ticketkauf, zeitsparende Streckenführung dank Echtzeit-Verkehrsdaten, Navigation zur freien Ladesäule incl. Abrechnung, multimodale und intermodale Mobilität. Höhere Sicherheit : Diebstahlschutz via Life Tracking, nutzungsbasierte Versicherung, Predictive Maintenance, Pannendienst, Notruf, Kontrolle der Straßenzustände, Überwachung der Fahrerfitness und dabei Optimierung des Fahrverhaltens, persönliche Erinnerung an wichtige Vorgänge („Sie haben Ihr Smartphone im Auto vergessen“) etc. Regionales Marketing : gezielte Werbung für Werkstätten oder Zubehör, Angebote entlang der Fahrstrecke, Mitgliedschaft in einer Marken-Community. Dass die Volvo-Tochter Lynk&Co mit dem Auto-Abo freien Zugang zu Clubs in Amsterdam und Göteborg bietet, könnte eine Idee sein, die in die richtige Richtung weist. Nahtloses Arbeiten und Entertainment : Hard- und Software für Kommunikation, Information und Unterhaltung stehen im Auto genauso zur Verfügung wie im Office oder im Wohnzimmer. Noch einmal Lynk&Co: Das Modell 01 bietet die eingebaute Kamera für Reisevideos an, die Frontkamera für Reisefotos und eine Innenraumkamera für Selfies. So lässt sich Social Media durchgehend mit frischem Bildmaterial beschicken, was, seit Influencing Arbeit ist, offenbar ein relevantes Feature darstellt.“ 136 Digital Twins können bei der Fahrzeugentwicklung helfen und Gewährleistungs- und Materialerhaltungskosten einsparen; permanentes Monitoring des Fahrzeugs kann ebenfalls Kosten einsparen. 137 Die Schnittstelle zum Kunden ist also in Zukunft von ganz erheblicher Bedeutung. Sie eröffnet den Weg, neue Geschäftsmodelle zu erschließen. „Klar ist: Wer den direkten Zugang zum Kunden hat, der hat den Gewinn.“ 138 Soweit zu den Umweltparametern, in denen sich die Automobilautoindustrie aktuell bewegt. Nach gründlicher Analyse der Lage und Diskussion mit internen und externen Experten ebenso wie mit zahlreichen weiteren Personen aus dem Unternehmen, hat der Vorstand zur Stärkung der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens das „Vision-Statement 2030: mehr Freiheit in einer besseren Welt erfahren“ formuliert. Aus dem Statement leiten sich folgende fünf „Bullet-Points“ ab, die nunmehr hin zu einer strategischen Zielsetzung entwickelt werden sollen: 136 Ebenda, S. 111. 137 Ebenda, S. 112. 138 Ebenda. <?page no="164"?> 164 6 Führen trainieren: Los geht‘s Wir wollen klimaverträgliche Autos bauen, konkret: ab 2030 nur noch batterieelektrische Fahrzeuge. Wir wollen die Produktion in Europa stärken. Wir wollen stabile und resiliente Zulieferer- und Partnernetzwerke etablieren. Wir wollen zukunftsfähige softwarebasierte Fahrzeugkonzepte entwickeln. Wir wollen neue Geschäftschancen rund um das Auto nutzen. 139 Wie bereits zu Beginn der Darstellung des Beispiels ausgeführt, sind Sie im Rahmen der Definition der aus dem Vision-Statement abzuleitenden strategischen Ziele für die konkreten Vorschläge zu den beiden letztgenannten Punkten in der Pflicht. Einzelaspekte aus den anderen Handlungsfeldern werden nur insoweit thematisiert, als sie für die Frage nach softwarebasierten Fahrzeugkonzepten und nach neuen Geschäftsmodellen wichtig sind. Jetzt sind Sie dran und beginnen mit der Lagefeststellung: Lage: Die Dynamik in Bezug auf technologische Entwicklungen, das Auftreten neuer Konkurrenten am Markt ebenso wie geänderte Anforderungen an das Produkt von Käuferseite stellen die Automobilbranche insgesamt und damit auch unser Unternehmen vor Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Im Rahmen der strategischen Zielsetzungen durch den Vorstand habe ich als Projektleiter den Auftrag, bis spätestens in drei Monaten gerechnet ab heute Vorschläge zu unterbreiten, wie zukunftsfähige softwarebasierte Fahrzeugkonzepte entwickelt werden und wie neue Geschäftschancen rund um das Auto genutzt werden können. Es schließt sich nun die Entscheidungsfindung mit den drei Teilabschnitten „Zielauswertung“, „Beurteilung der Lage“ und letztendlich der „Entschluss“ an. Welche Absicht verfolgt die Unternehmensführung mit diesem Auftrag? Die Unternehmensführung möchte aufbauend auf dem Vision-Statement und den darin enthaltenen fünf wesentlichen Bullet-Points die konkreten strategischen Ziele einschließlich Umsetzungsplan definiert haben, um die Zukunftsfähigkeit des eigenen Unternehmens in einem sich ändernden Markt zu erhalten und wenn möglich zu stärken. Welche wesentliche Leistung wird von mir verlangt? Erarbeitung eines Lösungsvorschlags, welches softwarebasierte Fahrzeugkonzept wie und bis wann implementiert werden sollte. Erarbeitung eines Lösungsvorschlags, welche neuen Geschäftsmodelle rund um „smarte“ Autos ab wann wie genutzt werden können. 139 Ebenda, S. 12. Lagefeststellung / Kontrolle Entscheidungsfindung <?page no="165"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 165 Welche Auflagen und Rahmenbedingungen sind zu beachten? Vorlage erster Ergebnisse und Vorschläge zum weiteren Vorgehen spätestens in drei Monaten ab heute. Haben sich die Ausgangsparameter durch zwischenzeitlich eingetretene Entwicklungen maßgeblich verändert? Keine grundsätzliche Lageänderung 140 Wie ist der Auftrag am besten durchführbar? Vorschlag zum weiteren Vorgehen Entwicklung von ersten Handlungsoptionen Entwicklung von Bewertungskriterien Vorschlag zur Priorisierung der Handlungsfelder Muss unter Zeitdruck gehandelt werden? Ja. Bis wann muss die Entscheidung gefallen sein? Vorschläge sind spätestens in drei Monaten ab heute vorzulegen. Nun folgt die Beurteilung der Lage. Folgende Einflussfaktoren sind zu untersuchen: Unternehmenssituation Allgemein: technologische Kompetenz finanzielle Ressourcen Stärken und Schwächen Bezogen auf die Untersuchungsfelder: 1. Wir wollen zukunftsfähige softwarebasierte Fahrzeugkonzepte entwickeln. 2. Wir wollen neue Geschäftschancen rund um das Auto nutzen. Zu 1. Wir wollen zukunftsfähige softwarebasierte Fahrzeugkonzepte entwickeln: 140 In unserem Beispiel könnten eine grundlegende Lageänderung ein schneller Durchbruch bei der Entwicklung von Feststoffbatterien oder bei der Entwicklung von speziell für die Anwendung in Fahrzeugen optimierten Chips sein - oder wenn neue Fundstätten für seltene Erden erschlossen werden. Das schwedische Bergbauunternehmen LKAB hat am 12.1.2023 die größte Fundstätte von seltenen Erden mit Vorräten von 1 Mio. Tonnen in der Gegend von Kiruna gemeldet. Vgl. www.lkab.com; vgl. Tagesschau online vom 12.1.23. Beurteilung der Lage <?page no="166"?> 166 6 Führen trainieren: Los geht‘s Wie ist die Qualität der eigenen, heute verwendeten Software im Vergleich zu den Wettbewerbern? Wie ist technologische Leistungsfähigkeit und Kapazität der eigenen IT-Abteilung im Vergleich zu den Wettbewerbern? Wie sind die Chancen, die Software-Kompetenz auszubauen mit Blick auf die finanziellen Möglichkeiten, auf die technologische Kompetenz und auf die Chance, neues IT-Fachpersonal zu rekrutieren? Was macht uns für einen möglichen Partner interessant? In welchen Bereichen sind technologische Innovationen zu erwarten und wie ist unser Unternehmen in diesen Technologiefeldern aufgestellt? Zu 2. Wir wollen neue Geschäftschancen rund um das Auto nutzen: Welche Geschäftsmodelle können wir heute bereits anbieten; wie könnten diese Geschäftsmodelle ausgebaut werden? Wo verfügen wir heute schon über Marktkenntnisse, die uns den Einstieg in ein neues Marktsegment ermöglichen können? Was können wir finanziell und technologisch leisten? Was macht uns für einen möglichen Partner interessant? Marktsituation (allgemein) An dieser Stelle sind allgemeine Entwicklungen und Trends zu untersuchen, die für die Automobilindustrie und im Rahmen der zu treffenden Entscheidungen von Bedeutung sind. Im Weiteren seien einige Beispiele genannt: gestörte Lieferketten Chipmangel gestiegene Bedeutung der Fahrzeugsoftware China als Absatzmarkt und Zulieferer Abhängigkeit von Clouds der Hyperscaler Auch wenn manche Entwicklungen offensichtlich sind: allgemeine Markttrends mit Relevanz für das eigene Unternehmen rechtzeitig zu erkennen ist mitunter sehr schwierig. Zudem besteht die Gefahr, sich zu verzetteln. So schwierig dies ist, gilt es auch bei der allgemeinen Marktanalyse, Schwerpunkte zu setzen und sich auf die Entwicklungen zu konzentrieren, die man nach gründlicher Analyse für die wichtigsten hält. Marktsituation (speziell) Wer sind unsere Hauptkonkurrenten? Wo liegen die Stärken und Schwächen unserer Hauptkonkurrenten? Welche Märkte werden von den Hauptkonkurrenten bedient? Welcher Konkurrent kommt gegebenenfalls als Partner in Frage? autonomes Fahren <?page no="167"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 167 neue Hardware- und Software-Architekturen Möglichkeit, kostenlos Betriebs- und Software-Systeme zu beziehen neue Geschäftsmodelle rund ums Auto neue Nutzungsmodelle Auch hier gilt: Es geht darum, Trends rechtzeitig zu erkennen. Mancher Trend, manche Entwicklung, die zunächst vielversprechend aussehen, entpuppten sich als wenig erfolgversprechend oder laufen ins Leere. Man muss also möglichst früh zu einer Einschätzung kommen, welche Trends relevant sind - Irrtum nicht ausgeschlossen. Die geschilderten Trends werfen verschiedene Fragen auf: Wie gehen wir mit der (neuen) Kernkompetenz „Software“ um: Eigenentwicklung oder Nutzung von Fremd-Software? Falls Eigenentwicklung: allein oder mit Partnern? Nutzung von Open Source oder proprietäre Lösung? Wie gehen wir mit neuen Geschäftsmodellen rund um die Schnittstelle zum Kunden um? Wollen wir neue Geschäftsmodelle selbst erschließen; falls ja: allein oder in Kooperation mit einem Partner, oder verzichten wir auf die Möglichkeit, mit neuen Geschäftsmodellen Geld zu verdienen? Wie gehen wir mit neuen Nutzungsmodellen wie z.B. Mietlösungen oder Car- Sharing um? Wollen wir solche Modelle anbieten; falls ja welche? Allein oder mit einem Partner, oder verzichten wir darauf, in diesen Markt einzutreten? Sicherlich ist die Aufzählung dieser Fragen nicht abschließend, und im weiteren Verlauf der Entscheidungsfindung werden sich weitergehende Fragen entwickeln. Aber diese noch relativ einfachen Fragen können in unserem Fallbeispiel helfen, die weitere Entscheidungsfindung zu strukturieren und Chancen, Risiken und eigene Möglichkeiten zu bewerten. Die Analyse des eigenen Unternehmens, seiner Stärken und Schwächen liefert zusammen mit einer Analyse der allgemein wirtschaftlichen Situation und des eigenen Marktes die Grundlage, Handlungsoptionen zur Erreichung der Unternehmenszielsetzungen zu entwerfen. Handlungsoptionen In diesem Schritt sollen beispielhaft einige mögliche Handlungsoptionen ohne konkreten Bezug zu einem bestimmten Unternehmen aufgezeigt werden. Für die Auswahl der Lösung sind zunächst Kriterien für deren Bewertung zu entwickeln. In unserem Beispiel könnten Kriterien sein: Finanzierbarkeit technologische Machbarkeit und technologisches Risiko Marktchancen Zeithorizont Zu 1. Wir wollen zukunftsfähige softwarebasierte Fahrzeugkonzepte entwickeln: <?page no="168"?> 168 6 Führen trainieren: Los geht‘s Handlungsoption 1: Entwicklung einer eigenen Software-Lösung ohne Partner Handlungsoption 1a: auf Basis von Open-Source-Produkten Handlungsoption 1b: proprietäre Lösung Handlungsoption 2: Entwicklung einer eigenen Software-Lösung mit Partner Handlungsoption 2a: mit einem Partner aus der Automobilindustrie Handlungsoption 2b: mit einem Partner aus der Software-Industrie Sowohl 2a als auch 2b können als Open Source wie auch als proprietäre Lösung implementiert werden. Es gibt also für beide Varianten jeweils 2 Unteroptionen. Handlungsoption 3: Kauf eines geeigneten Software-Unternehmens Handlungsoption 3a: Entwicklung der Software-Lösung auf Basis von Open- Source-Produkten Handlungsoption 3b: proprietäre Lösung Handlungsoption 4: Nutzung einer Fremd-Software Im nächsten Schritt gilt es, Gemeinsamkeiten der verschiedenen Handlungsoptionen sowie die Vor- und Nachteile zu vergleichen. Da in allen Handlungsoptionen unterschieden wird zwischen einer proprietären Lösung und einer Lösung auf Grundlage von Open-Source-Produkten, bietet es sich an, zunächst die Vor- und Nachteile dieser beiden Ansätze zu vergleichen. Eine proprietäre Lösung ist teuer. Sie muss nicht nur entwickelt, sondern permanent gepflegt werden. Zudem birgt sie hohe technologische Risiken und die Gefahr von Inkompatibilitäten mit eventuellen neuen Standards. Vorteilhaft ist, dass eine wesentliche Kernkompetenz für die Qualität von Fahrzeugen in der eigenen Firma bleibt. Die Schnittstelle zum Kunden, die für neue Geschäftsmodelle wichtig ist, bleibt im Besitz des eigenen Unternehmens. Handlungsoption 1 „Entwicklung einer eigenen Software-Lösung ohne Partner“ Ansprechen: Software-Lösung ohne Partner entwickeln Beurteilen: dauerhaft sehr teuer, hohe technische Risiken, bessere Differenzierung von den Wettbewerbern, Schnittstelle zum Kunden bleibt im Unternehmen. Folgern: Option auf Dauer nicht realistisch. Handlungsoption 2 „Entwicklung einer eigenen Software-Lösung mit Partner“ Handlungsoption 2a „Entwicklung einer eigenen Software-Lösung mit Partner aus der Automobilindustrie“ Ansprechen: Software-Lösung mit Partner aus der Automobilindustrie entwickeln <?page no="169"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 169 Beurteilen: kostengünstiger als Option 1, geringeres technisches Risiko, Partner bringt branchenspezifisches Know-how ein, Differenzierung zum Wettbewerb schwieriger, Schnittstelle zum Kunden bleibt im Unternehmen. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. Handlungsoption 2b „Entwicklung einer eigenen Software-Lösung mit Partner aus der Software-Branche“ Ansprechen: Software-Lösung mit Partner aus der Software-Branche entwickeln Beurteilen: vermutlich dauerhaft teurer als Option 2a, geringeres technisches Risiko als in Option 1, aber höher als in 2a, Differenzierung zum Wettbewerb einfacher als in 2a, Schnittstelle zum Kunden bleibt im Unternehmen. Folgern: Deutliche Nachteile gegenüber Option 2a, geeignete Option falls Option 2a nicht möglich. Handlungsoption 3: Kauf eines geeigneten Software-Unternehmens Ansprechen: Kauf eines geeigneten Software-Unternehmens Beurteilen: vermutlich dauerhaft teurer als Optionen 1 und 2, geringeres technisches Risiko als in Option 1 aber höher als in 2a, Differenzierung zum Wettbewerb einfacher als in 2a und 2b, Schnittstelle zum Kunden bleibt im Unternehmen. Folgern: Deutliche Nachteile gegenüber Option 2a und 2b; bedingt geeignet, falls Option 2a und 2b nicht möglich sind. Handlungsoption 4: Nutzung Fremd-Software Ansprechen: Nutzung kostenloser Software eines Hyperscalers Beurteilen: sehr geringe Kosten, sehr geringes technisches Risiko, Differenzierung zum Wettbewerb schwierig, Schnittstelle zum Kunden geht verloren, Abhängigkeit von Hyperscaler. Folgern: Geeignete Option, wenn der Verzicht auf neue Geschäftsmodelle rund ums Auto in Kauf genommen wird. Zu 2. „Wir wollen neue Geschäftschancen rund um das Auto nutzen.“ Hier bietet sich an, zunächst zu prüfen, auf welchen Feldern das eigene Unternehmen schon heute Kompetenz besitzt und Lösungen anbietet und ob diese genutzt und ausgebaut werden können. Weiterhin ist zu prüfen, ob die technischen Voraussetzungen für neue Geschäftsmodelle schon vorhanden sind; falls nein, welcher technologische und finanzielle Aufwand nötig wäre, um die Voraussetzungen zu schaffen. Nicht zuletzt ist zu prüfen, ob das Unternehmen allein in einen neuen Markt einsteigen will oder gemeinsam mit einem Partner. Schließlich ist zu untersuchen, ob der Partner ein Unternehmen der Automobilindustrie, also ein Konkurrent sein soll oder ob das Geschäftsmodell einen Partner aus einer anderen <?page no="170"?> 170 6 Führen trainieren: Los geht‘s Branche zum Beispiel aus der Kommunikationsindustrie oder aus der Versicherungswirtschaft erfordert. Nicht zuletzt sind die Marktchancen zu untersuchen und die Frage, in welchem Zeithorizont der Einstieg in ein neues Geschäftsmodell erfolgen kann. Es liegt auf der Hand, dass der Einstieg in neue digitale Geschäftsmodelle abhängig ist von dem Weg, den das Unternehmen hin zu softwarebasierten Fahrzeugkonzepten geht. Folglich könnte die erste Option sein: Handlungsoption 1: Zurückstellen der Entscheidung Ansprechen: Zurückstellen der Entscheidung über den Einstieg in neue Geschäftsmodelle, bis der Weg zu softwarebasierten Fahrzeugkonzepten geklärt ist. Bis dahin lediglich Nutzung vorhandener Kompetenzen und Technologien zum Beispiel im Bereich Navigation und Kommunikation, ggf. Einstieg in neue Nutzungskonzepte (Car-Sharing und Mietlösung) Beurteilen: Die ohnehin sehr komplexe Untersuchung zu softwarebasierten Fahrzeugkonzepten wird nicht noch aufwändiger und komplizierter. Die Option vernachlässigt, dass Abhängigkeiten zur künftigen Software-Architektur bestehen. Möglichkeit, neue, digitale Geschäftsmodelle zu nutzen, kann ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl des Weges hin zu softwarebasierten Fahrzeugkonzepten sein. Folgern: Diese Option ist nicht geeignet. Handlungsoption 2: „neue Geschäftsmodelle“ als ein Untersuchungsfeld in die Untersuchung zu softwarebasierten Fahrzeugkonzepten einbeziehen Ansprechen: Möglichkeit zum Einstieg in neue Geschäftsmodelle als ein Untersuchungsfeld in die Untersuchung zu softwarebasierten Fahrzeugkonzepten einbeziehen. Bis zu einer Entscheidung lediglich Nutzung vorhandener Kompetenzen und Technologien zum Beispiel im Bereich Navigation und Kommunikation, ggf. Einstieg in neue Nutzungskonzepte (Car-Sharing und Mietlösung) Beurteilen: Wesentliches Bewertungskriterium bei der Suche nach geeigneten Software-Produkten und nach geeigneten Partnern muss die Chance sein, neue digitale Geschäftsmodelle zu erschließen, technischer und finanzieller Aufwand kann vermutlich begrenzt werden. Folgern: Diese Option ist gut geeignet. Entschluss Nach dem Bewerten der verschiedenen Optionen entlang der oben vorgestellten Kriterien entscheidet sich die Arbeitsgruppe, der Unternehmensführung folgende Option vorzuschlagen: Entschluss <?page no="171"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 171 [1] Entwicklung einer eigenen Software-Lösung mit einem oder mehreren Partnern aus der Automobilindustrie auf Basis von Open-Source-Produkten. {2] Dabei sind die Möglichkeiten, neue digitale Geschäftsmodelle zu implementieren als ein Entscheidungskriterium in die Untersuchung einzubeziehen. [3] Bis zu einer Entscheidung lediglich Nutzung vorhandener Kompetenzen und Technologien zum Beispiel im Bereich Navigation und Kommunikation, ggf. Einstieg in neue Nutzungskonzepte (Car-Sharing und Mietlösung). Die bis zu diesem Zeitpunkt erarbeiteten Ergebnisse sind in einem Lagevortrag zur Entscheidung der Unternehmensführung (vgl. 6.3.13) vorzutragen. Briefing zum Treffen einer Entscheidung Gliederungspunkt Durchführung Zielvorgaben Zielauswertung Erste Erkenntnisse zu: • Konkurrenten • Marktsituation • Eigenem Unternehmen • Rahmenbedingungen und Auflagen aus der Beurteilung der Einflussfaktoren • Unternehmenssituation • Marktsituation (allgemein) • Marktsituation (speziell) Erster Vorschlag zu Handlungsoptionen und Bewertung Fragen und Diskussion Entschluss des Vorstandes Plan für das weitere Vorgehen, Aufträge Zusammenfassung Wer im Briefing zu welchen Punkten vorträgt, entscheiden Sie als Leiter der Arbeitsgruppe. Sie selbst sollten zu den Zielvorgaben und zur Zielauswertung vortragen und die Handlungsoptionen vorstellen und bewerten. Ob nach der Diskussion und dem Entschluss des Vorstandes bereits die Grundzüge eines Plans für das weitere Vorgehen vorgestellt wird, hängt von der bis dahin erreichten Detaillierung der Untersuchung ab; mindestens muss festgelegt werden, welche Aufträge durch wen und bis wann im nächsten Schritt zu erledigen sind. Die Erwartung an Sie als den Leiter der Arbeitsgruppe ist, dass Sie hierzu Vorschläge vorbereitet haben. Sollte der Vorstand nicht entscheiden können oder wollen, muss er festlegen, was noch zu untersuchen ist, damit eine Entscheidung getroffen kann. <?page no="172"?> 172 6 Führen trainieren: Los geht‘s In unserem Beispiel schließt sich die die Unternehmensführung Ihrem Vorschlag an und entscheidet: {1] Entwicklung einer eigenen Software-Lösung mit einem oder mehreren Partnern aus der Automobilindustrie auf Basis von Open-Source-Produkten. [2] Dabei sind die Möglichkeiten, neue digitale Geschäftsmodelle zu implementieren als ein Entscheidungskriterium in die Untersuchung einzubeziehen. [3] Bis zu einer Entscheidung lediglich Nutzung vorhandener Kompetenzen und Technologien zum Beispiel im Bereich Navigation und Kommunikation, ggf. Einstieg in neue Nutzungskonzepte (Car-Sharing und Mietlösung). Für den nächsten Schritt stellt dieser Entschluss der Unternehmensführung die „eigene Absicht“, militärisch die „3a“, dar. Auflage könnten zum Beispiel sein: noch keine Gespräche mit möglichen Partnern, sondern lediglich Untersuchung auf Grundlage verfügbarer Informationen, Vortrag der Untersuchungsergebnisse in drei Monaten. Diese Entscheidungen der Unternehmensführung sind die Grundlage für die weitere Planung der Definition der strategischen Ziele und sollten in einer Planungsweisung festgehalten werden. Im weiteren Verlauf ist festzulegen, wer welche Handlungsfelder untersucht; in unserem Fallbeispiel also etwa: Wer untersucht und bewertet mögliche Partner? Wer untersucht und bewertet die technologischen Fragen? Wer untersucht und bewertet die finanziellen Auswirkungen? Wer untersucht die Marktchancen? Wer untersucht neue digitale Geschäftsfelder? Wer untersucht neue Nutzungsmodelle? Die Weisung muss auch klar machen, wo der Schwerpunkt liegt. In unserem Fallbeispiel ist dies eindeutig die Entwicklung von softwarebasierten Fahrzeugkonzepten. Schon in der ersten Planung ist eine Zeitlinie für die weiteren Arbeiten festzulegen. Weitere Zwischenbesprechungen sind notwendig, um die Koordination und Synchronisation der verschiedenen Handlungsstränge sicherzustellen, frühzeitig Probleme zu erkennen und gegebenenfalls ergänzende Vorgaben zu machen. Ein mögliches Raster findet sich in Ziffer 4.3.13. Mit den Zwischenbesprechungen beginnt auch die Phase der „Kontrolle“. Sie liefert Antworten auf die Frage, ob die eigenen Ziele, das Vorgehen oder der Handlungsspielraum angepasst werden müssen. Am Ende der Planung steht ein detaillierter und konkreter Vorschlag, wie zukunftsfähige softwarebasierte Fahrzeugkonzepte entwickelt und neue Geschäftschancen rund um das Auto genutzt werden sollen. Das Planungsergebnis sollte dem Entscheider/ den Entscheidern, also zum Beispiel dem CEO oder dem Auf- Planung <?page no="173"?> 6 Führen trainieren: Los geht‘s 173 sichtsrat, vorgetragen werden. Eine mögliche Gliederung findet sich auch hier in Ziffer 4.3.13. Hieran schließt sich der Entschluss des Vorstandes an, dass die Vorschläge umgesetzt werden. Damit die getroffene Entscheidung umgesetzt werden kann, bedarf es der Konkretisierung, wer was bis wann unter welchen Rahmenbedingungen zu tun hat. Es wird folglich eine Weisung verfasst, die diese Punkte enthält. Militärisch wäre dies ein Befehl, gegliedert in die wesentlichen Punkte Lage, Auftrag, Durchführung (vgl. 4.3.11). Da die wesentlichen Inhalte bereits in der Planung definiert wurden, geht die Erstellung der Weisung in der Regel recht zügig. Befehlsgebung <?page no="175"?> Index Agilität 26, 37, 129 Auftragstaktik 31 Auswertung des Auftrags 96 Befehl und Gehorsam 75 Befehlsgebung 114 Befehlsnotstand 76 Bias, Self Serving ~ 133 CCIR 88 Cimilitary Leadership 15, 123 Clausewitz, Carl von 14, 39 COVID-19-Pandemie 24 Dezentralität 37 Drucker, Peter F. 42 Eigeninitiative 130 Entscheidungsfindung 124 Entschluss 109 Führen mit Auftrag 39, 80 Führungspersönlichkeit 42 Führungsprozess 95 Führungsprozesse 57 Grundregeln, militärische 35 Handlungsfreiheiten 75 Handlungsoptionen 128 homo oeconomicus 46 Initiative 128 Innere Führung 38 Innovation 128 Intuition 60 Kadavergehorsam 76 Kommunikation 96 Kreativität 130 Lage, Beurteilung der ~ 99 LVE 117 LVU 117 Malik, Fredmund 15 Marx, Karl 14 Modularität 37 Moltke, Helmuth Graf von 31 Müller-Lyer-Illusion 52 Nenner-Blindheit 53 Offiziersausbildung 91 Operationsführung, Planung der ~ 35 Ordnungssystem, inneres 62 Rationalität 60 Resilienz 129 Self-Serving Bias 133 Stab 116 Stabsarbeit 116 Truppenführung, Prinzipien der ~ 35 Unternehmensplanung 113 Vertrauen 74, 130 Vorhersageverfahren 59 VUCA 12, 23 VUCA-Situation 99 Wertekanon 62 Wettbewerbsvorteil 128 Work-Life-Balance 133 Zufriedenheit 74 <?page no="176"?> ISBN 978-3-7398-3204-3 Bedarf es erst einer Pandemie, einer Naturkatastrophe oder eines Krieges mitten in Europa, um auf drastische Weise zu erfahren, dass Führungskräfte auf allen Ebenen vielfach eines nicht sind: hierfür ausgebildet? Nein, diese Erkenntnis ist alles andere als neu. In Unternehmen, Verwaltungen, Verbänden und zahlreichen anderen Organisationen werden immer wieder Personen zu Führungskräften ernannt, ohne eine entsprechende Ausbildung erhalten zu haben. Gerade im Mittelstand entscheidet allzu oft der Verwandtschaftsgrad, wer Führungskraft wird, nicht die Qualifikation; Ausbildung: Fehlanzeige! Komplett anders läuft dies beim Militär! Hier werden zukünftige Führungskräfte sehr früh identifiziert und mit immensem Aufwand zu dem ausgebildet, was sie tun sollen: in einer Welt voller Unwägbarkeiten führen und richtige Entscheidungen treffen! Dieses Buch leitet aus militärischen Führungsgrundsätzen ab, wie gute Führung in einem von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, kurz VUCA, geprägten zivilen Umfeld gelingen und trainiert werden kann.
