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Konstanz und Italien

Transalpine Beziehungen durch die Jahrhunderte

1113
2023
978-3-7398-8232-1
978-3-7398-3232-6
UVK Verlag 
Jürgen Klöckler
10.24053/9783739882321

Konstanz und Italien - das ist ein schier endloses Thema. Schon immer waren die Beziehungen der bedeutendsten Stadt am Bodensee in das nahe Norditalien eng. Viele Menschen sind sich dieser Beziehungen gar nicht bewusst. Wer weiß denn schon, dass der Bahnhof in Konstanz nach dem Vorbild des Palazzo Vecchio in Florenz errichtet wurde? Der Sammelband reflektiert anschaulich die Bereiche Kultur, Religion, Kunst, Handel, Architektur und Migration. Wer auch immer sich für transalpine Beziehungen von Konstanz durch die Jahrhunderte interessiert, wird dieses Buch mit großem Gewinn lesen. Danach wird man mit breiterem Wissen in den nächsten Urlaub ins "Land, wo die Zitronen blühen" aufbrechen.

Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanz und Italien Transalpine Beziehungen durch die Jahrhunderte Konstanz und Italien Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz Hg. von Jürgen Klöckler Band 23 Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanz und Italien Transalpine Beziehungen durch die Jahrhunderte UVK Verlag · München DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783739882321 © UVK Verlag 2023 ‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 15 35 59 71 81 97 111 Inhalt Jürgen Klöckler Italien, der Bodensee und Konstanz. Ein in der Gesamtschau bislang unbearbeitetes Themenfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike und Mittelalter: Wandel durch Handel? Ralph Röber Konstanz und das Imperium Romanum. Zugehörigkeit und Nachleben . . . . Daniela Frey Ein zweites Rom am Bodensee. Konstanz als Roma secunda . . . . . . . . . . . . . Lukas-Daniel Barwitzki Konstanz als Aushandlungsort der Italienpolitik Friedrich I. Barbarossas. Der Vertrag (1153) und Friede (1183) von Konstanz im Vergleich . . . . . . . . . Jürgen Klöckler Gebaut auf Initiative italienischer Kaufleute. Das Konstanzer Kaufhaus, Ende des 14.-Jahrhunderts errichtet und heute Konzil genannt . . . . . . . . . . Simon Götz Die tela di Costanza. Der Konstanzer Leinwandhandel mit Italien . . . . . . . . Jürgen Klöckler Zwei Päpste aus Italien auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418). Johannes XXIII. und Martin V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Architektur und Kunst Ilse Friedrich Konstanz in Florenz. Eine der frühesten Stadtansichten im Palazzo Vecchio 133 155 181 199 217 237 253 267 289 Daniel Gross Das Haus „Zur Leiter“. Zollernstraße Nr.-26 als frühestes Beispiel von Renaissance-Architektur im Profanbau in Konstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Mienhardt Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs. Italienrezeption im Konstanzer Stadtbild über die Jahrhunderte hinweg . . Reisen in der Neuzeit und Arbeitsmigration Moritz Mayer Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben. Reiseberichte italienischer Reisender aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Trenkle „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan. Ignaz Heinrich von Wessenberg und seine Italienreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Stark Auf nach Rom! Die Reisen von Marie Ellenrieder und Friedrich Mosbrugger nach Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Trevisiol Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 1871-1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart Thomas Weidle Solidarität trotz Kriegsbeginn. Aufenthalt und Durchreise von Italienerinnen und Italienern in Konstanz im August 1914 . . . . . . . . . . . . . . Werner Trapp Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis. Der Konstanzer „Antifaschistenflug“ vom November 1931 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Hofmann Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte. Die Wege der Familie Pampanin an den Bodensee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 311 335 353 375 391 411 425 Manfred Bosch daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe. Italien im Blick von Konstanzer Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . Jürgen Klöckler Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern. Zur Rolle des späteren Konstanzer Fasnachtsliederkomponisten Willi Hermann im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Schilhab Italienische „Gastarbeiterfamilien“. Vom Leben und Arbeiten in Konstanz Alberto Crivellari Eine unbeabsichtigte Einwanderung. Ein Zeitzeugenbericht eines italienischen Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Humpert Guinness und Pizza. Luigi Pesaro aus Varese und sein Old Mary’s Pub in Konstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claus-Dieter Hirt Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 7 Italien, der Bodensee und Konstanz Ein in der Gesamtschau bislang unbearbeitetes Themenfeld Jürgen Klöckler Konstanz, der Bodensee und Italien, das ist ein schier unendliches Themenfeld und vor allem eines, das bislang in der stadtgeschichtlichen Forschung systema‐ tisch nicht angegangen worden ist. Dabei verfügt dieses Buchprojekt als Band der „Kleinen Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz“ keineswegs über ein Al‐ leinstellungsmerkmal. Daniela Frey und Claus-Dieter Hirt, beide auch in dieser Publikation vertreten, haben bereits im Sommer 2011 als 11. Band der Reihe die Beziehungen zu Frankreich behandelt: „Französische Spuren in Konstanz. Ein Streifzug durch die Jahrhunderte“. Damit war ein Anfang gemacht. Die Corona-Pandemie hat freilich den Startschuss für das Italien-Projekt erheblich verzögert. Bereits 2019 wurde überlegt, ob ein solches Thema tragfähig sein könnte. Ja, eindeutig, es war tragfähig und das Ergebnis liegt nun gedruckt vor. Zuvor waren Mitautorinnen und -autoren gesucht worden, von denen sich die stattliche Zahl von 19 fanden. Inklusive des Herausgebers, der insgesamt drei Themenfelder selbst übernahm, sind somit in diesem Band 20 Autorinnen und Autoren vereint, größtenteils (Kunstbzw. Literatur-)Historikerinnen und Historiker. Insgesamt 22 Blickwinkel und historische Perspektiven sollten bearbeitet werden. Im Sommer 2022 fiel anlässlich eines eigens anberaumten Autorentreffens im Stadtarchiv der Startschuss. Mein Dank gilt allen Beteiligten, die engagiert geforscht und mit ihren Beiträgen zum Gelingen der Publikation beigetragen haben. Man möge mir die ständigen eMail-Erinnerungen an den Abgabeschluss der Manuskripte verzeihen. Tatsächlich war Ende März 2023 Abgabetermin, und jetzt, am Ende des Jahres, liegt der Band vor. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Es beginnt mit Beiträgen zu Antike und Mittelalter, nämlich der Zugehörigkeit und dem Nachleben der römischen Grün‐ dung Constantia (Ralph Röber), zu den bischöflichen Umbauten des Bischofs‐ sitzes Konstanz zur Roma secunda (Daniela Frey) und zu der bedeutendsten Stadt am Bodensee als Verhandlungsort der Italienpolitik Kaiser Friedrich I. Barbarossas, die sich im Vertrag (1153) und im Frieden von Konstanz (1183) manifestierten (Lukas-Daniel Barwitzki). Das heute als „Konzil“ bezeichnete Kaufhaus wurde Ende des 14. Jahrhunderts auf Initiative italienischer Kaufleute errichtet ( Jürgen Klöckler), ein wichtiges darin gehandeltes Produkt war die tela di Costanza, nämlich die Leinwand mit dem Konstanzer Gütesiegel (Simon Götz), mit der die einheimischen Fernhändler im ganzen Mittelmeerraum Handel trieben. Schließlich waren zwei italienische Päpste persönlich auf dem Konstanzer Konzil vertreten, zu Beginn des Jahres 1414 der schließlich abgesetzte Johannes XXIII. und am Ende der am 11. November 1417 im Kaufhaus gewählte Martin V. ( Jürgen Klöckler). Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich Kunst und Architektur, begin‐ nend mit einer der frühesten Stadtansichten von Konstanz, die sich im Palazzo Vecchio in Florenz erhalten hat (Ilse Friedrich). Der erste Renaissancebau nach italienischem Vorbild stellt in der größten Stadt am Bodensee das Haus „Zur Leiter“ dar (Daniel Gross), beim zweiten handelt es sich um den Mitte des 19. Jahrhunderts errichteten Bahnhof (Frank Mienhardt, der auch das dritte Beispiel, das Haus „Zur Katz“, behandelt). Der Bahnhof hatte ein eindeutiges Vorbild, nämlich der bereits genannte Palazzo Vecchio in Florenz. Daher ist auch das Cover des Buches mit diesen beiden Motiven gestaltetet worden, mein Dank gilt dem UVK-Verlag, insbesondere dem zuständigen Lektor Stefan Selbmann und den Graphikern. Teil drei widmet sich dem Reisen in der Neuzeit und der Arbeitsmigration. Reiseberichte italienischer Reisender aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit verdeutlichen die Rezeption von Konstanz in Italien (Moritz Mayer). Der letzte Bistumsverweser Ignaz Heinrich von Wessenberg, dem eine Reise nach Rom zur Lebenswende wurde, hinterließ Reiseberichte (Michael Trenkle). Und Maria Ellenrieder und Friedrich Mosbrugger sind als Konstanzer Künstler in Rom gewesen und haben dort gewirkt (Barbara Stark). Vor allem zum Eisen‐ bahnbau und als Arbeitskräfte für die Textilindustrie kamen dann italienische Arbeitsmigrantinnen und -migranten nach Konstanz, die im Kaiserreich auch eingebürgert wurden (Oliver Trevisiol). Der vierte und letzte Teil ist der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart gewidmet. Italienerinnen und Italiener mussten 1914 das Deutsche Reich verlassen; viele von ihnen reisten über Konstanz nach Italien (Thomas Weidle). Ein „Antifaschistenflug“ von Gegnern Mussolinis nach Konstanz im November 1931 stellt ein außergewöhnliches zeitgeschichtliches Ereignis dar (Werner Trapp). Fast gleichzeitig gelangte die Familie Pampanin von Italien an den Bodensee, wo sie in Konstanz an der Marktstätte eine Eisdiele betreibt, die bis heute besteht (Franz Hofmann). In dieser Zeit blickten aber auch Konstanzer 10 Jürgen Klöckler Autorinnen und Autoren in Italien auf Italien (Manfred Bosch). Die Beteiligung des bekanntesten Konstanzer Fasnachtsliederkomponisten der Nachkriegszeit an einem der schwersten Kriegsverbrechen an italienischen Kriegsgefangenen auf einer griechischen Insel im September 1943 ist eines der dunkelsten Kapitel der gegenseitigen Beziehungen ( Jürgen Klöckler). Nach dem Krieg kamen dann italienische „Gastarbeiterfamilien“ nach Konstanz (Daniela Schilhab). Einer von ihnen war Alberto Crivellari, der „unbeabsichtigt“ einwanderte und einen Zeit‐ zeugenbericht verfasst hat, der von seinem Sohn Fabio bearbeitet wurde und hier im Band veröffentlicht wird. Fast zeitgleich wurde ein Gastronom aus Varese zu einer Institution in Konstanz: Luigi Pesaro bot im Old Mary’s Pub Guinness und Pizza an (Winfried Humpert). Ein Beitrag zur langjährigen Städtepartnerschaft mit dem nahe Mailand gelegenen Lodi beschließt den Sammelband (Claus- Dieter Hirt), der insofern die zeitliche und inhaltliche Klammer bildet, da in Lodi Papst Johannes XXIII. am 9. Dezember 1413 die offizielle Einladungsbulle zu einer großen Kirchenversammlung nach Konstanz erließ. Alles dazu und vieles mehr steckt in diesem Band. Italien, der Bodensee und Konstanz 11 Antike und Mittelalter: Wandel durch Handel? 1 S T A T H E R , Hans: Die römische Militärpolitik am Hochrhein unter besonderer Berücksichti‐ gung von Konstanz. Konstanzer Dissertationen 100, Konstanz 1986; in einer populäreren Version S T A T H E R , Hans: Das römische Konstanz und sein Umfeld, Konstanz 1989. 2 D E R S C H K A , Harald R.: Die Fundmünzen aus Konstanz: der aktuelle Stand in einer tabel‐ larischen Übersicht, in: Ackermann, Rahel C./ Derschka, Harald R./ Mages, Carol (Hg.): Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung in der Fundmünzenbearbeitung. Bilanz und Perspektiven am Beginn des 21.-Jahrhunderts. Bd.-1. Untersuchungen zu Numismatik und Geldgeschichte 6, Lausanne 2005, S. 155-221; D E R S C H K A , Harald R.: Devotionalien und weitere Metallfunde aus Gräbern vom ehemaligen Friedhof in Konstanz-Petershausen, in: Kloster, Dorf und Vorstadt Petershausen: archäologische, historische und anthropolo‐ gische Untersuchungen, zusammengestellt von Röber, Ralph (Forschungen und Berichte zur Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 30) Stuttgart 2009, S. 191-210; D E R S C H K A , Harald R.: Die Fundmünzen vom Münsterplatz in Konstanz: die Grabung im Bereich des spätrömischen Kastells und weitere antike Neufunde, in: Fundberichte Baden- Württemberg 36, 2016, S.-341-362. 3 M A Y E R -R E P P E R T , Petra: Römische Funde aus Konstanz. Vom Siedlungsbeginn bis zur Mitte des 3.-Jahrhunderts n.-Chr., in: Fundberichte aus Baden-Württemberg 27 (2004) S.-441-554. Konstanz und das Imperium Romanum Zugehörigkeit und Nachleben Ralph Röber 1. Einleitung Die Erforschung des römischen Konstanz begann schon im letzten Viertel des 19.-Jahrhunderts mit Grabungen, die von engagierten Laien durchgeführt wurden und damit modernen Standards nicht genügen konnten. Lange Jahrzehnte wurden keine wesentlichen Fortschritte erzielt bis zum ersten Versuch einer Synthese, den Hans Stather in seiner 1986 gedruckten Dissertation unternahm. 1 Wichtig für die Erarbeitung valider Grundlagen waren die Aufarbeitung der römischen Münzen durch Harald Derschka 2 und des bis 1982 geborgenen Fundguts durch Petra Mayer-Reppert 3 . Die Ergebnisse der Altgrabungen sowie der wenigen in der Regel kleinflächigen modernen archäologischen Untersuchungen wurden von Marianne Dumitrache bewertet und im Rahmen des im Jahre 2000 publizierten 4 D U M I T R A C H E , Marianne: Konstanz (= Archäologischer Stadtkataster 1) Stuttgart 2000. 5 H E I L I G M A N N , Jörg: Die spätrömische Festung Constantia (Konstanz), in: Hasler, Norbert u. a. (Hrsg.), Im Schutz mächtiger Mauern. Spätrömische Kastelle am Oberrhein, Frauenfeld 2005, S. 76-79; H E I L I G M A N N , Jörg: Der Konstanzer Münsterhügel. Seine Besiedlung in keltischer und römischer Zeit, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 127 (2009) S. 3-24; H E I L I G M A N N , Jörg: Römische Orte und ihre Weiternutzung - Die römischen Kastelle mit besonderer Berücksichtigung des Kastells Constantia - Konstanz, in: Brather, Sebastian u.-a. (Hg.): Antike im Mittelalter. Fortleben, Nachwirken, Wahrnehmung. 25 Jahre Forschungsverbund „Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland“. Archäologie und Geschichte (Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland Bd. 21) Ostfildern 2014. S.-65-80. 6 Zur keltischen Siedlung: W I E L A N D , Günther: Das spätkeltische Konstanz - eine Siedlung in strategisch bedeutsamer Lage, in: Hasler, Norbert/ Heiligmann, Jörg/ Leuzinger, Urs/ Natter, Tobias G. (Hg.): Bevor die Römer kamen. Späte Kelten im Bodenseegebiet, Sulgen 2008, S.-36-39. 7 W I E L A N D , Günther: Der Bodenseeraum im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr., in: Hasler, Norbert/ Heiligmann, Jörg/ Leuzinger, Urs/ Natter, Tobias G. (Hg.): Bevor die Römer kamen. Späte Kelten im Bodenseegebiet, Sulgen 2008, S.-10-19. Stadtkatasters bearbeitet und zusammengefasst. 4 Zweifellos einen Meilenstein stellten die großflächigen Untersuchungen auf dem Konstanzer Münsterplatz in den Jahren von 2003 bis 2005 dar, bei denen die bislang umfangreichsten Reste der römischen Besiedlung freigelegt wurden. Hier gilt vor allem Jörg Heiligmann großer Dank, der die großvolumige Dokumentation sichtete und seine Ergebnisse in mehreren kürzeren Vorberichten veröffentlichte. 5 Eine Endpublikation dieser wichtigen Grabung ist leider noch nicht in Sicht. 2. Die Römer kommen Das älteste Zeugnisse von Kontakten zwischen Konstanz und Italien stellen Drachmen des 2. vorchristlichen Jahrhunderts dar, die in der keltischen Handels‐ siedlung auf dem Münsterhügel in Umlauf waren (Abb. 1). 6 Rund zweihundert Jahre später wurden die wohl eher sporadischen Beziehungen über die Alpen auf militärische Weise intensiviert. Das bis dato von einer keltischen Bevölkerung besiedelte Bodenseegebiet 7 wurde in der Regierungszeit des Kaisers Augustus ab 15 v. Chr. von der römischen Armee erobert. Aber erst rund 30 Jahre später begann man den Rhein dauerhaft als Grenze zu befestigen. Zentraler Ort war das Legionslager Vindonissa, weitere Kontrollpunkte allerdings mit deutlich kleineren militärischen Einheiten waren die Orte Kaiseraugst, Zurzach und 16 Ralph Röber 8 K E M K E S , Martin: Römisches Militär um den Bodensee, in: Stadt - Land - Fluss. Römer am Bodensee, Frauenfeld 2017, S.-20-35, hier S.-25-26. 9 H E I L I G M A N N , Jörg: Auf festem Boden, in: Heiligmann, Jörg/ Röber, Ralph, Im See - Am See. Archäologie in Konstanz, Friedberg 2011, S.-28-61, hier S.-39-42. Eschenz, dazu kamen sicher von größerer Bedeutung als Hafenorte Konstanz am westlichen und Bregenz am östlichen Ende des Bodensees. 8 Abb. 1: Oberitalienische Drachme, Vorder- und Rückseite. In Konstanz war diese militärische Maßnahme auf archäologischem Wege deutlich zu fassen. Die Gebäude der keltischen Handelssiedlung wurden abgebrochen, die Befestigung aus Wall und Graben dem Erdboden gleichgemacht. Anschließende planierte man das Gelände, um ein etwa 110 m x 80 m großes, bis zu 300 Soldaten fassendes Militärlager mit einer Holz-Erde-Befestigung zu errichten, das den Übergang an dieser schmalen Stelle des Rheins sichern sollte (Abb. 2). 9 Abb. 2: Rekonstruktionsskizze des römischen Konstanz in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. Konstanz und das Imperium Romanum 17 10 B R E M , Hansjörg/ C O O P E R , Christine/ E B N E T E R , Irene/ M A Y R , Ulrike: Waren es Römer? In: Stadt - Land - Fluss. Römer am Bodensee, Frauenfeld 2017, S.-118-135, hier S.-120. 11 K E M K E S (wie Anm. 8) S.-25-32. 12 H E I L I G M A N N (wie Anm. 9) S.-46. 13 E B N E T E R , Irene/ L E I B , Sarah/ M A Y R , Ulrike: Roman way of life, in: Stadt - Land - Fluss. Römer am Bodensee, Frauenfeld 2017, S.-100-117. 14 R Ö B E R , Ralph: Archäologische Erkenntnisse zum Baubestand von Kirche und Klaustrum, in: Kloster, Dorf und Vorstadt Petershausen: archäologische, historische und anthropologische Untersuchungen, zusammengestellt von R. Röber (Forschungen und Berichte zur Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 30) Stuttgart 2009, S.-69-100, hier S.-95. Hier stellt sich die Frage, wo die keltische Zivilbevölkerung in dieser Zeit blieb. Wurde sie als potentielle Gefahr eingestuft und vertrieben oder benötigte das Militär ihre Fähigkeiten und Dienste in Handel, Handwerk und bei der Lebensmittelproduktion? Nachgewiesen ist, dass eine kleine Siedlung, ein vicus, bei dem Militärlager entstand, um die Bedürfnisse der Soldaten befriedigen zu können. Auch wenn uns für Konstanz keine Belege vorliegen, deuten die über‐ lieferten Personennamen in der Bodenseegegend darauf hin, dass ein Teil der keltischen Bevölkerung vor Ort verblieb und sich allmählich romanisierte, also den römischen Sitten und Gepflogenheiten anpasste und auch die lateinische Sprache übernahm. 10 Um die weitere innerörtliche Entwicklung verstehen zu können, muss man sich die politisch-militärische Lage in den folgenden Jahrzehnten vor Augen führen. Das Bestreben der römischen Kaiser nach einer weiteren Expansion in Richtung Norden hatte zur Folge, dass die Grenzen des Reichgebiets verschoben wurden und eine militärische Präsenz am Bodensee nicht mehr notwendig war. 11 Im Laufe der zweiten Hälfte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts wurden die Militäranlagen auf dem Münsterhügel abgebrochen und die Zivilsiedlung, die sich vorher nur auf den Bereich der Niederburg erstreckte, dehnte sich jetzt auch dorthin aus. Trotzdem blieb sie in ihrer Größe limitiert, sie dürfte ein Areal von 4,5 Hektar nicht überschritten haben. Ihre Bebauung bestand zunächst aus Fachwerkgebäuden, die ab der zweiten Hälfte des 2. nachchristlichen Jahr‐ hunderts teilweise durch Steingebäude ersetzt wurden. 12 Die Bevölkerung des Bodenseeraums war zu diesem Zeitpunkt, was Kultur und Sprache anbelangt, schon längst vollständig in das Römische Reich integriert. 13 Auch auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Petershausen wurden rö‐ mische Zeugnisse entdeckt. Bei Grabungen im Jahr 1998/ 99 wurde ein mit Kies befestigter Nord-Süd orientierter Weg aufgedeckt, der zum Rhein führte, wohl zu einer Fährstation oder gar einer Brücke. 14 Aus älteren Beobachtungen ist ein Töpferofen überliefert, so dass die Vermutung naheliegt, dass dieses 18 Ralph Röber 15 H E I L I G M A N N (wie Anm. 9) S.-46. 16 R Ö B E R (wie Anm. 14) S.-78 sowie S.-85-92. 17 Siehe zur Besetzungsgeschichte Südwestdeutschlands detailliert: K E M K E S , Martin: Vom Rhein an den Limes und wieder zurück. Die Besetzungsgeschichte Südwestdeut‐ schlands, in: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.): Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Esslingen 2005, S.-44-53. 18 H E I L I G M A N N , Münsterhügel (wie Anm. 5) S.-16-18. 19 H E I L I G M A N N , Festung (wie Anm. 5) S.-13. feuergefährliche Handwerk auf die andere Flussseite verbannt wurde, 15 hier vielleicht sogar eine Art Gewerbegebiet bestand. Antike Keramik und Münzen der Kaiser Domitian und Antoninus Pius bezeugen eine Besiedlungsdauer zumindest in der zweiten Hälfte des 1. und im 2. Jahrhundert, die Struktur der Siedlung und ihre Bebauung ist aber noch nicht näher zu fassen. 16 3. Wieder Grenzlage Auf Grund des Drucks durch germanische Bevölkerungsteile war um 260 n. Chr. der sogenannte obergermanisch-rätische Limes nicht mehr zu halten, mit der Folge, dass die Provinzgebiete rechts des Rheins und nördlich der Donau endgültig aufgegeben wurden. 17 Die folgenden Jahrzehnte waren von Unruhen geprägt, die zu Aufgabe der Zivilsiedlung und einer starken Befestigung des Münsterhügels als topographisch und verteidigungstechnisch günstigstem Ort mit einer Wall-Graben-Anlage führte. Sie bot der Zivilbevölkerung Schutz, vielleicht waren hier auch temporär oder dauerhaft Soldaten stationiert. 18 Um 300 n. Chr. wurde unter Kaiser Diokletian eine stark befestigte „nasse“ Grenze an Rhein, Iller und Donau installiert. In diesem Zuge wurden im Bodenseegebiet sicher auch als Flottenstützpunkte dienende Festungen in Stein am Rhein, Konstanz, Arbon und Bregenz erbaut, dazu kam im Thurgauer Hinterland ein Stützpunkt in Pfyn. 19 Die Süd-Westflanke des Konstanzer Kastells wurde auf dem Münsterplatz und auf dem Grundstück Münsterplatz 5 angetroffen (Abb. 3). Sie war bei einer Breite von 2,2 m massiv ausgeführt und mit einem aus der Mauerflucht vorspringenden, im Grundriss achteckigen Turm besetzt (Abb. 4-5). Trotz seiner militärischen Nutzung hat man auf eine repräsentative Wirkung Wert gelegt, da Innen- und Außenfront des Turms mit Tuffstein verblendet waren. Aus Überlegungen, die auf mittelalterlichen Baufluchten, der antiken Uferlinie und aus Negativbefunden beruhen, lässt sich ein leicht trapezoider Grundriss des Kastells mit gekappter Südwestecke rekonstruieren. Insgesamt dürfte die Befestigung eine Größe von 0,8 bis 1,0 Hektar umfasst haben (Abb. 6). Von der Innenbebauung wurde der Teil eines großen Badegebäudes freigelegt, Konstanz und das Imperium Romanum 19 20 H E I L I G M A N N , Münsterhügel (wie Anm. 5) S.-19-21. 21 D U M I T R A C H E (wie Anm. 4) S.-28, Karte 3. 22 L I E B , Hans/ W Ü T H R I C H , Rudolf: Lexicon topographicum der römischen und frühmittel‐ alterlichen Schweiz I: Römische Zeit, Süd- und Ostschweiz (Antiquitas 1 / 15) Bonn 1967, S.-37-39. H E I L I G M A N N , Orte (wie Anm. 5) S.-73. von dem im Fundamentbereich noch vier Räume vorhanden waren (Abb. 6-7). Reste eines weiteren Gebäudes wurden 1984 auf dem Grundstück Brückengasse 5/ 7 angeschnitten, bei dem ebenso wie bei der Kastellmauer Tuffstein verwendet worden ist, ein deutlicher Hinweis auf eine spätantike Zeitstellung. 20 Der zuge‐ hörige Friedhof zog sich entlang der alten römischen Straße nach Süden, deren Verlauf etwa durch die Wessenbergstraße/ Hussenstraße wiedergegeben wird. 21 Ihm wird eine ganze Reihe beigabenführender und beigabenloser Bestattungen zugeschrieben, wobei die zeitliche Einordnung der letzteren sicher noch einer Überprüfung bedarf. In dieser Epoche wird Konstanz auch seinen Namen - Constantia - bekommen haben, vermutlich waren Constantius I. Chlorus, der Augustus des westlichen Reiches oder Kaiser Constantius II. der Namengeber. 22 Abb. 3: Spätrömischer Turm und Befestigungsmauer. 20 Ralph Röber Abb. 4: Gewandschließe eines römischen Offiziers, 4.-Jahrhundert n.-Chr. Abb. 5: Spätrömische Befunde und rekonstruierter Verlauf der Befestigung. Konstanz und das Imperium Romanum 21 Abb. 6: Rekonstruktionsskizze von Konstanz im vierten Jahrhundert n. Chr. Abb. 7: Die Reste der spätantiken Therme. Gut sind die Pfeiler der Hypokaustanlage unter den beheizten Räumen zu erkennen. 22 Ralph Röber 23 H E I L I G M A N N , Münsterhügel (wie Anm. 5) S.-74. 24 H A L D , Jürgen/ R Ö B E R , Ralph: Neue geophysikalische und archäologische Untersu‐ chungen im Klosterareal Konstanz-Petershausen - Kirche und römischer Brückenkopf ? In: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2018 (2019) S.-309-313. 25 H E I L I G M A N N , Festung (wie Anm. 5) S.-15. 26 M A U R E R , Helmut: Konstanz im Mittelalter I. Von den Anfängen bis zum Konzil (= Geschichte der Stadt Konstanz Bd.-1) Konstanz ²1996, hier S.-23. 27 Generell zum Fortleben antiker Bauwerke in der mittelalterlichen Stadt: C L E M E N S , Lukas: Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 50) Stuttgart 2003, hier S. 15-82. V O N H E S B E R G , Henner: Antike Architektur im mittelal‐ terlichen Stadtkontext, in: Boschung, Dietrich/ Wittekind, Susanne (Hg.), Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mittelalter (Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes = ZAKMIRA 6) Wiesbaden 2008, S.-137-159. Von Jörg Heiligmann wurde die Frage nach einem Brückenkopf in Konstanz- Petershausen vergleichbar der Situation in Zurzach und Stein am Rhein auf‐ geworfen. 23 Dies erscheint neuerdings durchaus im Bereich des Möglichen, nachdem man unter der ottonischen und romanischen Kirche des Klosters Petershausen ein mächtiges Fundament wohl vormittelalterlicher Zeitstellung entdeckt hat. 24 4. Sprachliches und bauliches Nachleben Am Anfang des 5. Jahrhunderts dürfte die reguläre Grenzverteidigung ihr Ende gefunden haben. Sie wurde nicht mehr zentral gesteuert, sondern nur noch in regional oder lokal abgestimmtem Maße vielleicht noch einige Jahrzehnte lang von germanischen Verbündeten fortgeführt. 25 Was blieb aber nach dem Abzug des römischen Militärs? Archäologisch belast‐ bare Daten zum Ethnos der Bevölkerung - einheimisch versus zugewanderte Alamannen - sind bislang nicht vorhanden, könnten aber zukünftig über DNA- und aDNA-Analysen von frühmittelalterlichen Skeletten erwartet werden. Es bleibt die historische Überlieferung mit der bekannten, aber nicht eindeutigen Stelle in der Vita des Hl. Gallus, in der der aus Churrätien stammende Diakon Johannes der Konstanzer Bevölkerung die Predigt des irischen Hl. Gallus übersetzen musste. 26 In welcher Sprache Gallus predigte und in welche Sprache er übersetzt wurde, vielleicht Latein, überliefert uns die Quelle leider nicht. Etwas sicheren Boden betreten wir mit der Frage nach den baulichen Über‐ resten der Römerzeit. 27 Mit der Gründung des Bistums und der Errichtung der ersten Bischofskirche wird an deren Nordseite, also innerhalb der Kastell‐ mauern, auch ein Friedhof angelegt. Ein beim Abbruch der südlichen Kastell‐ Konstanz und das Imperium Romanum 23 28 R Ö B E R , Ralph: Von der spätrömischen Festung zum frühmittelalterlichen Bischofssitz: Konstanz am Bodensee, in: Kontinuität und Diskontinuität im archäologischen Befund. Mitteilungen der deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 17 (2006) S.-13-18, hier S.-14. 29 L A U L E , Ulrike/ L O H R U M , Burghard: Die Kathedrale des 9. und 10. Jahrhunderts, in: Laule, Ulrike (Hg.), Das Konstanzer Münster Unserer Lieben Frau. 1000 Jahre Kathedrale - 200 Jahre Pfarrkirche, Regensburg 2013, S.-64-69. 30 D U M I T R A C H E (wie Anm. 4) S.-86. 31 Ebd., S.-44 f. und 189 ff. 32 H E I L I G M A N N , Jörg/ R Ö B E R , Ralph: Römischer Strand und frühmittelalterliche Bischofs‐ burg. Die Grabung 1995 in der Hofhalde 8 in Konstanz, in: Biel, Jörg/ Heiligmann, Jörg/ Krausse, Dirk (Hg.): Landesarchäologie. Festschrift für Dieter Planck zum 65. Geburtstag (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Würt‐ temberg Bd.-100) Stuttgart 2009, S.-603-626, hier S.-616-617. mauer entstandener Mauerblock liegt auf der Friedhofserde (Abb. 8), daraus folgt, dass die Mauer hier erst im Lauf des frühen Mittelalters abgebrochen wurde. 28 Dies geschah vermutlich im Zusammenhang mit einem Neubau des Münsters im 9. Jahrhundert, als die alte römische Befestigung dem vergrößerten Sakralgebäude im Wege stand und ein Bedarf an preiswertem und leicht erhält‐ lichem Baumaterial bestand. 29 Wann aber wurden die restlichen Mauern des Kastells niedergelegt? Auf der Westseite nimmt die älteste auf dem Grundstück Gerichtsgasse 10/ 12 angeschnittene mittelalterliche Befestigung die Flucht der antiken Mauer auf. Sie wurde aus Wacken, also Seegeröllen, errichtet, in ihrem Fundament wurden aber auch Tuffsteine der antiken Befestigung verbaut, 30 die vermutlich von der Nordseite stammten. Diese hatte nach der mittelalterlichen Erweiterung keine Wehrfunktion mehr. Die frühmittelalterliche Mauer ist ar‐ chäologisch nicht genauer zeitlich anzusprechen, wird aber gerne mit dem bau‐ lichen und bedeutungspolitischen Aufschwung des Bischofssitzes unter Bischof Salomon III. (890-919 n. Chr.) in Verbindung gebracht. 31 Dem widersprechen die C-14 Daten nicht, die im Zusammenhang mit einer Befestigungsmauer auf der Parzelle Hofhalde 8 gewonnen wurden. Auch wenn sie nicht mit der Mauer in der Gerichtsgasse in einem unmittelbaren baulichem Zusammenhang stehen, gehören sie doch in eine Phase, in der Größe und Verlauf der Befestigung grund‐ sätzlich und perspektivisch neu gedacht wurde. 32 Es ist nicht auszuschließen, dass sich Reste der spätantiken Mauer auf der Westseite noch in mittelalterlichen Gebäuden auf der Ostseite der Gerichtsgasse finden. Sämtliche Reste der das Ufer des Bodensees flankierenden Kastellmauer dürften mit dem Ausgreifen der Bischofsstadt in die Flachwasserzone des Bodensees obertägig beseitigt worden sein. 24 Ralph Röber 33 B I B B Y , David/ R Ö B E R , Ralph: Der untere Münsterfriedhof, in: Laule, Ulrike (Hg.): Das Konstanzer Münster Unserer Lieben Frau. 1000 Jahre Kathedrale - 200 Jahre Pfarr‐ kirche, Regensburg 2013, S.-395-399, hier Abb. 411. 34 R Ö B E R , Ralph: Konstanz im 10. Jahrhundert - Zwischen Roma secunda und Ungarn‐ sturm, in: Kleinjung, Christine A. / Albrecht, Stefan (Hg.): Das lange 10. Jahrhundert. Struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Fragmentierung, äußerem Druck und innerer Krise (RGZM-Tagungen Bd. 19) Mainz 2014, S. 203-223, hier S. 212. Über‐ greifend: R I S T O W , Sebastian: Wiederaufbau, Wandel, Wiederverwendung. Zur Nutzung antiker Bausubstanz durch christliche Kultgebäude im Frühmittelalter, in: Boschung, Dietrich/ Wittekind, Susanne (Hg.), Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mittelalter (Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes = ZAKMIRA 6) Wiesbaden 2008, S.-189-214. Abb. 8: Versturz vom Abbruch der spätantiken Befestigung. Auch von dem Badegebäude ist anzunehmen, dass zumindest Teile noch im Frühmittelalter standen. Da die Grabungsstratigraphie in diesem Bereich wenig aussagekräftig war, kann für diese Vermutung nur ein Indiz namhaft gemacht werden. Auf dem unteren Münsterfriedhof wurde eine Bestattung freigelegt, die aus der ältesten Belegungsphase stammt. Sie wurde exakt in die Südwestecke des Bads eingefügt (Abb. 9), 33 was dafür spricht, dass von diesem noch obertägige Reste vorhanden waren. Es ist ein mehr als reizvoller Gedanke, dass die Gebäudehülle der antiken Therme, wohl eines der größten Bauwerke innerhalb des Kastells, eine Umnutzung erfahren hat und in diesen Baulichkeiten mit Wasseranschluss eine frühmittelalterliche Taufkapelle oder Taufkirche einge‐ richtet worden sein könnte. 34 Zahlreiche solcher Beispiele für den Umbau eines Konstanz und das Imperium Romanum 25 35 C L E M E N S (wie Anm. 27) S.-118-122. antiken Badegebäudes zu einer Kirche im Lauf des Frühaber auch noch des Hochmittelalters hat Lukas Clemens zusammengetragen. 35 Abb. 9: Der frühbis hochmittelalterliche Friedhof auf dem unteren Münsterplatz. 26 Ralph Röber 36 Dazu ausführlich C L E M E N S (wie Anm. 27) S. 203-221; jüngst mit einem sehr eindrück‐ lichen Beispiel aus Müllheim J E N I S C H , Bertram: Baustoffrecycling im Mittelalter, in: Archäologische Nachrichten aus Baden 98, 2022, S.-7-10. 37 R Ö B E R (wie Anm. 34) S.-205-210. 38 Zur Gründung: M A U R E R (wie Anm. 26) S.-139-140. Zusammenfassend betrachtet können für den Abbruch oder die Weiternutzung antiker Bauwerke aus Stein in Konstanz verschiedene Faktoren in Anschlag gebracht werden. Wenn möglich wurden sie sicher in ihrer jeweiligen Funktion weiterverwendet, dies dürfte in erster Linie für die Befestigung gelten. Gebäude, deren Nutzung in ursprünglicher Weise auf Grund anderer Organisationsme‐ chanismen oder Siedlungsweisen nicht mehr zu leisten oder allgemein nicht mehr gewünscht war, konnten umgenutzt werden. Gegen den Beibehalt stand in erster Linie eine Baufälligkeit von Bauwerken, wenn sie zu einer Gefahr für die Bevölkerung zu werden drohten. Darüber hinaus ist die Nutzung der antiken Mauerstrukturen als Baustoffressource ins Feld zu führen. 36 Als Drittes könnte ein Abriss im Zuge von Stadtplanungen durch neue Anordnungen von städtischer Topographie und städtischen Strukturen, wie Straßen oder Wohnblöcken, notwendig geworden sein. Steinmaterial wurde bis zum 12. Jahr‐ hundert vor allem für die Errichtung von Kirchen und für die Stadtbefestigung benötigt, im privaten Wohnbau wurden in Konstanz erst seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert vermehrt Fachwerkwände durch Steinmauern ersetzt. Erste städteplanerische Maßnahmen von einem gewissen Umfang sind unter den Bischöfen Salomon III. und Konrad fassbar. 37 Ab dieser Zeit, also dem 10. Jahr‐ hundert, ist damit zu rechnen, dass die noch vorhandenen antiken Bauwerke sukzessive niedergelegt und dem Erdboden gleichgemacht wurden. Ein letzter Reflex römischer Baumaterialien ist in der Südmauer der Kirche des 1266 gegründeten St. Katharinenklosters Zoffingen zu finden. 38 Nur noch in stark verrundetem und damit offenbar mehrfach umgenutztem Zustand sind die ehemaligen Tuffquader hier verbaut worden (Abb. 10), waren aber offenbar wertvoll genug, um erneut verwendet zu werden. Konstanz und das Imperium Romanum 27 39 B I H R E R , Andreas: Bischof Konrad als Patron von Konstanz. Zur Stiftung städtischer Identität durch Bischof Ulrich I. (1111-1127), in: Zeitschrift für Geschichte des Ober‐ rheins 148, 2000, S.-1-40. 40 M A U R E R , Helmut: Bischof Konrad von Konstanz in seiner ottonischen Umwelt, in: Freiburger Diözesan-Archiv 95, 1975, S.-41-55; hier S.-45. 41 U N T E R M A N N , Matthias: Der Zentralbau im Mittelalter. Form, Funktion, Verbreitung. Darmstadt 1989. Abb. 10: Kleinformatige, verrundete Kalktuffbruchstücke mit ihrer porösen Struktur in der Südmauer der Klosterkirche Zoffingen. 5. Die Symbolkraft von Steinen Aus der Reihe der Konstanzer Bischöfe sticht der im 12. Jahrhundert heiligge‐ sprochene und zum Bistumspatron avancierende Konrad (um 900 - 975 n. Chr.) als starke Persönlichkeit und Mehrer seiner Stadt besonders hervor. 39 Er reiste mehrfach nach Rom, 40 wo ihm Spuren der Antike allerorten begegnet sein werden. Vielleicht wurde da die Idee geboren, durch einen Rückbezug auf das rö‐ mische Reich seinen Bischofsitz aufzuwerten. Besonders am Herzen lag Konrad die von ihm als Kopie des Heiligen Grabes als Rotunde 41 erbaute St. Mauritius- 28 Ralph Röber 42 M A U R E R , Helmut: Konstanz als ottonischer Bischofssitz. Zum Selbstverständnis geistli‐ chen Fürstentums im 10. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 39) Göttingen 1973, S. 56. M A U R E R , Helmut: Das Bistum Konstanz. 5: Die Konstanzer Bischöfe vom Ende des 6. Jahrhunderts bis 1206. Berlin u. a. 2003, hier S. 133. 43 Generell zur Auseinandersetzung mit antiken Inschriften im Früh- und Hochmittelalter: C L E M E N S (wie Anm. 27) S. 400-417; C L E M E N S , Lukas: Die Instrumentalisierung antiker Überreste als Beweismittel während des Mittelalters nördlich der Alpen, in: Gastgeber, Christian u. a. (Hrsg.), Fragmente. Der Umgang mit lückenhafter Quellenüberlieferung in der Mittelalterforschung (Österreichische Akademie der Wissenschaften Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften Bd.-415), Wien 2010, S.-239-244, hier S.-242. 44 M A U R E R , Bischofssitz (wie Anm. 42) S.-55. 45 E R D M A N N , Wolfgang/ Z E T T L E R , Alfons: Zur Archäologie des Konstanzer Münsterhügels, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 95, 1977, S. 19-134, hier S. 42. Leider gibt die Publikation keinen Hinweis darauf, ob der Putz des 10. Jahrhunderts über die Laibungssteine zog oder diese aussparte, was für die Deutung nicht unerheblich wäre. 46 Zur propagandistischen Aneignung von Baustoffen und Bautechnik: N U ẞ B A U M , Nor‐ bert: Antike Bautechnik im Mittelalter: Wissenstransfer oder Lernen durch Nach‐ ahmen? in: Boschung, Dietrich/ Wittekind, Susanne (Hg.), Persistenz und Rezeption. Weiterverwendung, Wiederverwendung und Neuinterpretation antiker Werke im Mit‐ telalter (Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes = ZAKMIRA 6) Wiesbaden 2008, S.-161-188, hier S.-173. 47 Ausführlicher R Ö B E R (wie Anm. 34) S.-211-212. Kapelle unmittelbar am Münster, deren Symbolik durch eine Steinreliquie aus dem Jerusalemer Grab verstärkt wurde und für die eigens eine Gemeinschaft von zwölf Chorherren eingerichtet wurde. 42 In ihr ließ er in einer Seitenkapelle eine antike Inschrift einmauern, die er aus dem nahegelegenen Oberwinterthur holen ließ. 43 Ursprünglich eine Stifterinschrift für das 294 n. Chr. erbaute Kastell Vitudurum dort, sollte sie hier durch den bewusst hervorgehobenen Schriftzug »Constantius« auf das ehrwürdige Alter seiner Stadt verweisen (Abb. 11). 44 Möglicherweise ist auch die Verwendung von Kalktravertin, der mit großer Wahrscheinlichkeit aus der zu dieser Zeit noch in Teilen erhaltenen spätantiken Befestigungsmauer ausgebrochen wurde, gerade für die Laibung des Rotundeneingangs im Westen (Abb. 12) 45 nicht nur von praktischem Nutzen, da sich mit ihm leichter Kanten und Bögen mauern ließen als mit den lokal zur Verfügung stehenden vom Wassertransport rundgeschliffenen Seewacken, sondern auch parallel zu der Inschrift ein weiterer programmatischer Hinweis auf die römische Vergangenheit der Stadt. 46 Leider wurde der Putz an den anderen drei Öffnungen - Altarräumen und Ostkapelle - nicht freigelegt, so dass unbekannt bleibt, ob hier bewusst nur ein Eingang betont wurde oder alle derart ausgezeichnet wurden. 47 Konstanz und das Imperium Romanum 29 Abb. 11: Spätrömische Bauinschrift aus Oberwinterthur, in der fünften Zeile von oben ist CONSTANTIUS zu lesen. Abb. 12: Der Rotundeneingang im Westen. Ausschnitt aus der Baudokumentation der Mauritius-Kapelle von 1975. 30 Ralph Röber 48 C L E M E N S (wie Anm. 27) S.-334-361. 49 B E C K , Erik: Wahrnehmen, Nutzen, Deuten: Studien zum Umgang mit antiken und frühgeschichtlichen Überresten im Südwesten des Reiches während des Mittelalters (Freiburger Beiträge zur Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends Bd.-20) Rahden 2022. Hier S.-110-111. 50 M E I E R , Hans-Rudolf: Spolien. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur. Berlin 2020, hier S.-53-58. 51 M A U R E R (wie Anm. 42) S.-70-77; kritisch dazu: R Ö B E R (wie Anm. 34) S.-213-214. 52 D U M I T R A C H E (wie Anm. 4) S.-86. Durch antike Inschriften oder Baureste eine lange Tradition einer Einrichtung nachzuweisen oder diese zu konstruieren, ist als Vorgehensweise kein Einzel‐ fall, wie besonders Lukas Clemens in seiner Habilitationsschrift ausführlich dargelegt hat. 48 Seine Beispiele stammen überwiegend aus einem geografischen Raum westlich des Rheins, wo die römische Prägung länger anhielt als in den östlich davon gelegenen Gebieten. Jüngst kam eine umfangreiche Studie des Oberrheingebiets mit dem Elsaß, der Ortenau, dem Breisgau und dem Markgräflerland allerdings zu ähnlichen Ergebnissen. Noch im 12. Jahrhundert wurde in der Chronik des Klosters Ebersheim (Dep. Bas-Rhin) unter anderem gestützt auf legendenhafte Schilderungen, aber auch auf antike Baureste ein in sich stimmiges Geschichtskonstrukt erzeugt, das Alter und Ehrwürdigkeit der Institution betonen sollte. 49 Eine der ältesten nachantiken und sicher auch eine der bekanntesten Beispiele für die Nutzung von Spolien zur Untermauerung von Ansprüchen ist der Import von Säulen und Marmor aus den Kaiserresidenzen Rom und Ravenna für die Aachener Pfalzkapelle. Karl der Große, der dazu im Vorfeld die Erlaubnis von Papst Hadrian einholen musste, wollte mit dieser aufwen‐ digen Aktion seine Stellung als erster nachantiker Imperator auch materiell und ideell deutlich machen und die Bedeutung Aachens als Nova Roma unterstreichen. 50 Möglicherweise hat Bischof Konrad mit der Überführung der antiken Winterthurer Inschrift nicht nur das hohe Alter seiner Stadt betonen wollten, sondern ebenfalls auf eine Nachahmung von Rom gezielt. Es sei nicht verschwiegen, dass die These einer Imitatio Romana Helmut Maurer allerdings in Bezug auf Konrads Kirchengründungen schon vor einigen Jahrzehnten in den Raum gestellt hat. 51 Zwei weitere Beobachtungen an Konstanzer Bauwerken seien an dieser Stelle noch diskutiert. Bei der bereits angesprochenen auf der Grundstück Ge‐ richtsgasse 10/ 12 dokumentierten frühmittelalterlichen Stadtmauer besteht die unterste Lage des Fundaments aus antiken Spolien, nämlich Tuffsteinblöcken, darüber folgt Wackenmauerwerk, dass sich auch im Aufgehenden fortsetzt. 52 Dies könnte als symbolischer Akt verstanden werden, in dem Sinne, dass der Konstanz und das Imperium Romanum 31 53 L E U S C H , Frank: Baugeschichte im Schatten des Münsters, in: Im Schatten des Münsters. Geschichte eines Quartiers im Zentrum der Konstanzer Altstadt. Konstanz 1999, S.-32-51, hier S.-44. 54 M A U R E R , Helmut: Der historische Rahmen, in: Im Schatten des Münsters. Geschichte eines Quartiers im Zentrum der Konstanzer Altstadt. Konstanz 1999, S. 6-15, hier S. 14. 55 C L E M E N S (wie Anm. 27) S. 373-374. Mit weiteren Beispielen C L E M E N S (wie Anm. 43) S.-243. Bischofssitz auf römischen Wurzeln fußt. Da das Fundament ja nur zur Bauzeit sichtbar war, hätte dies allerdings nur eine Zeitlang, vielleicht im Rahmen einer Gründungszeremonie, wahrgenommen werden können. Es ist folglich eher damit zu rechnen, dass praktische Beweggründe für die Wahl des Baumaterials ausschlaggeben waren. Bei der zweiten Beobachtung muss noch einmal auf das Aussehen der spätantiken Befestigungsmauer rekurriert werden. Auf der Innenseite der Wehrmauer war partiell noch der originale Verputz erhalten. Ihn zeichnete eine als Pietra rasa bezeichnete Besonderheit aus: Durch das Freilassen der Stirnflächen der Steine, hier Wacken, und die Verwendung von Fugenstrich wird ein Maueraufbau aus Steinquadern imitiert (Abb. 13). Eine ähnliche Dekortechnik ist auch bei einem Wohnturm der Zeit um 1200 n. Chr. im rückwärtigen Teil des Grundstücks Katzgasse 5 zu beobachten. 53 Es ist nicht auszuschließen, dass der hier residierende „Stadtadel“ 54 seine Genealogie bis in die Antike zurückführen wollte. Ähnliches aber in größerer Dimension ist aus der ebenfalls einen Bischofssitz beherbergenden Stadt Trier überliefert. Der politischen Führungsschicht waren sogenannte Geschlechtertürme als Zentren größerer Hofanlagen zu eigen, die nicht nur aus römischem Abbruchmaterial erbaut waren, sondern darüber hinaus die Optik antiker Bauweise kopierten. In einem Fall war sogar an exponierter Stelle über dem Turmeingang eine Grab‐ inschrift des zweiten Jahrhunderts n. Chr. platziert worden, die möglicherweise eine Stifterinschrift antiken Stils imitieren sollte. 55 Diese These soll für Konstanz hier aber nur angerissen werden, eine abschließende Beurteilung kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. 32 Ralph Röber 56 M A U R E R (wie Anm. 26) S.-21-23. 57 C L E M E N S (wie Anm. 27) S.-409. 58 M A U R E R (wie Anm. 42) S.-106. Abb. 13: Innenseite der spätantiken Befestigungsmauer mit Pietra-Rasa-Verputz. 6. Fazit Erste Italienkontakte dürften zur Zeit der Kelten stattgefunden haben. In den Jahrzehnten nach Christi Geburt wurde Konstanz Teil des römischen Imperiums, was es rund 400 Jahre lang blieb. Zuletzt als Teil der stark bewachten Grenze gegen die Germanen war der Ort baulich massiv bewehrt. Nach Abzug des römischen Militärs blieben die Befestigung und Teile des Gebäudebestands erhalten, im Lauf des Früh- und Hochmittelalters wurden sie nach und nach niedergerissen und verschwanden so aus der städtischen Silhouette. Im Be‐ wusstsein der Bevölkerung blieb - gefördert durch die Bischöfe als Stadtherrn - die Erinnerung an die antiken Wurzeln aber präsent, sicher auch durch den auf einen römischen Kaiser zurückgehenden Ortsnamen. 56 Was ist heute aber noch vom römischen Reich in Konstanz vorhanden? Es bleibt die Kopie der Inschrift aus Oberwinterthur in der Mauritius-Kapelle, allerdings ohne die Aura des Originals, das 1967 in die Schweiz zurückgeführt worden ist. 57 Des Weiteren sind die Reliquien diverser aus Rom überführter antiker Heiliger in der Münsterkirche zu nennen, die von Bischöfen transloziert wurden und von denen der Hl. Pelagius sicher der bekannteste ist. 58 In Situ sind Reste der spätantiken Befestigung auf dem Münsterplatz zu besichtigen (Abb. 14). Im Konstanzer Boden dürften zudem noch zahlreiche archäologische Konstanz und das Imperium Romanum 33 Zeugnisse schlummern, von denen ein Teil geborgen und in den Daueraus‐ stellungen des Rosgartenmuseums und des Archäologischen Landesmuseums Baden-Württemberg Konstanzern und Touristen präsentiert wird. Abb. 14: Durch die Fenster der Glaspyramide kann ein erster Eindruck der spätantiken Befestigung gewonnen werden. Nähere „unterirdische“ Einblicke können bei einer Führung gewonnen werden. Bildnachweise: Abb. 1, 4, 10, 14: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Foto: Manuela Schreiner. Abb. 2 und 6: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Zeich‐ nung: Markus Nassal. Abb. 5: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Grafik: Die Zeichnerei, Christina von Elm. Abb. 3, 7-8, 13: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungsbezirk Stuttgart. Abb. 9: Landesamt für Denkmalpflege im Regierungsbezirk Stuttgart, Grafik: David Bibby. Abb. 11: Nach Maurer (wie Anm. 26) S.-71. Abb. 12: Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Konstanz. 34 Ralph Röber 1 Die Chronik des Klosters Petershausen (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 3), hg. und übers. von Otto F E G E R , Lindau/ Konstanz 1956, I, cap. 10, S.-51. Ein zweites Rom am Bodensee Konstanz als Roma secunda Daniela Frey Weil geschrieben steht, Gott erfülle den Willen derer, die ihn fürchten, und erhöre ihre Bitten, so zeigte er, wie wir glauben, bald seinem Diener [Bischof Gebhard II.] den Ort, an dem er sein Wohlgefallen hatte. Denn das Ufer des Rheines gegenüber der Stadt Konstanz sagte seinem Wunsche zu, und er erachtete es zum Bau eines Klosters, wenn auch weniger nützlich, so doch schön gelegen.  1 Im mittelalterlichen Konstanz gab es fünf Kirchen, deren Patrozinien und deren Lage innerhalb und außerhalb der Stadtmauern sowie jenseits des Flusses an die römischen Patriarchalbasiliken erinnerten: Das Münster Unserer Lieben Frau an Santa Maria Maggiore, St. Johann an San Giovanni in Laterano, St. Lorenz an San Lorenzo fuori le mura, St. Paul an San Paolo fuori le mura und das Kloster Petershausen an San Pietro in Vaticano. Mindestens zwei dieser Kirchen wurden im 10. Jahrhundert von den beiden Bischöfen Konrad I. (um 900-975) und Gebhard II. (949-995) gegründet. Konstanzer Münster von Westen, Stahlstich von E. Höfer nach einer Zeichnung von K. Korradi, ca. 1848, Stadtarchiv Konstanz. Das Abbild der Ewigen Stadt Viele mittelalterliche Städte nahmen sich Jerusalem und Rom als „heilige“ Vorbilder. Rom als Sitz des Papstes und Mittelpunkt der Christenheit galt als Ewige Stadt, die für immer Bestand haben würde. Gerade im 10. und 11. Jahrhundert - aber auch schon davor - orientierten sich Bischofssitze wie Lüttich, Worms, Mainz, Trier und Köln am stadtrömischen Vorbild und 36 Daniela Frey 2 Vgl. bspw. H I R S C H M A N N , Frank G.: Stadtplanung, Bauprojekte und Großbaustellen im 10. und 11. Jahrhundert. Vergleichende Studien zu den Kathedralstädten westlich des Rheins, Stuttgart 1998, S.-477 f. 3 Vgl. M A T H E U S , Michael: Zur Romimitation in der Aurea Moguntia, in: Dotzauer, Win‐ fried/ Kleiber, Wolfgang/ Matheus, Michael/ Spieß, Karl-Heinz (Hg.): Landesgeschichte und Reichsgeschichte. Festschrift für Alois Gerlich zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1995, S.-35-49, S.-47 f. 4 Vgl. B A N D M A N N , Günter: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951, S.-48 f. 5 M A U R E R , Helmut: Konstanz als ottonischer Bischofssitz. Zum Selbstverständnis geistli‐ chen Fürstentums im 10.-Jahrhundert, Göttingen 1973, S.-71. 6 H A V E R K A M P , Alfred: „Heilige Städte“ im hohen Mittelalter, in: Graus, František (Hg.): Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, Sigmaringen 1987, S.-119-156, S.-131 f. 7 H I R S C H M A N N (wie Anm. 2) S.-478. vor allem an den römischen Patriarchalbasiliken Santa Maria Maggiore, San Pietro in Vaticano, San Giovanni in Laterano, San Paolo fuori le mura und San Lorenzo fuori le mura. 2 Die Bischöfe versuchten ihre Städte mit Sakralbauten dauerhaft nach den „heiligen“ Vorbildern Jerusalem und Rom zu formen und ihnen damit urbane Maßstäbe zu geben. Doch waren nicht immer nur sakrale Gründe dafür ausschlaggebend, sondern es konnte zusätzlich auch - ganz profan - aus Wettstreit um die Vorrangstellung in der Region und im Reich geschehen, wie dies z.-B. bei Mainz, Köln und Trier der Fall war. 3 Bei der Ausgestaltung der Städte nach stadtrömischem Vorbild kam es nicht darauf an, eine exakte Kopie des Vorbildes zu schaffen, sondern es genügte meist, wenn einige Ähnlichkeiten vorhanden waren. Gegebenenfalls reichte sogar schon das gleiche Patrozinium aus, um das Vorbild kenntlich zu machen. Ansonsten konnten sich die Übereinstimmungen auf allgemeine Sachen beschränken wie etwa die gleiche Anzahl der Säulen oder die Maße der Bauglieder. 4 Wenn es die Lage zuließ, konnten die Kirchen so angeordnet werden, dass sie die Form eines Kreuzes bildeten mit der Bischofskirche im Mittelpunkt. 5 In zahlreichen Bischofs- und Klosterkirchen wurde in dieser Zeit ein Westquerhaus errichtet und der Hauptaltar in den Westchor verlegt, um die Baugestalt an die römischen Hauptkirchen Alt-St. Peter und Lateranbasilika anzugleichen. 6 Eine ganze Reihe von Städten wurde im Mittelalter dann auch - mal mehr, mal weniger häufig - als Roma secunda, als zweites Rom, bezeichnet. So beispielsweise Aachen, Trier, Mailand, Reims, Pavia und Köln. 7 Bereits im frühen Mittelalter hatten viele Bischofsstädte auch die römischen Stationsgottesdienste z. B. die Palmsonntagsprozessionen übernommen und an ihre Städte angepasst. Ein zweites Rom am Bodensee 37 8 H A V E R K A M P (wie Anm. 6), S.-134. 9 R Ö B E R , Ralph: Konstanz im 10. Jahrhundert - zwischen Roma Secunda und Ungarn‐ sturm, in: Kleinjung, Christine Alexandra/ Albrecht, Stefan (Hg.): Das lange 10. Jahr‐ hundert. Struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Fragmentierung, äußerem Druck und innerer Krise (RGZM-Tagungen Band-19) Mainz 2014, S.-203-223, S.-205. 10 L Ö B B E C K E , Franz: Mittelalterliche Häuser an der Hussenstraße in der Konstanzer Altstadt. Die Hussenstraße - alter Fernweg und Hauptstraße der Stadterweiterung, in: Röber, Ralph (Hg.): Konstanz, Obere Augustinergasse. Ein Hinterhofquartier und sein historisch-bauhistorisches Umfeld, Wiesbaden 2020, S.-44-57, S.-44. 11 R Ö B E R , Ralph: Urbs praeclara Constantia - das ottonisch-frühsalische Konstanz, in: Scholkmann, Barbara/ Lorenz, Sönke (Hg.): Schwaben vor Tausend Jahren, Filderstadt 2002, S.-162-193, S.-183. 12 L Ö B B E C K E , Franz/ R Ö B E R , Ralph: Zwischen Schutz und Repräsentation. Zum Stand der Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konstanzer Stadtbefestigung, in: Schrr VG Bodensee 129 (2011) S.-3-38, S.-10. 13 R Ö B E R (wie Anm. 11) S.-183. 14 R Ö B E R (wie Anm. 9) S.-210. Begleitet wurden diese Angleichungen und Anreicherungen der Bischofssitze durch die Übertragung von Reliquien aus Rom und aus Jerusalem. 8 Konstanz im 10.-Jahrhundert Um das Jahr 600 wurde das Bistum Konstanz gegründet, und auf den Überresten des spätrömischen Kastells entstand danach der befestigte Bischofssitz. Die erste Bischofskirche befand sich vermutlich bereits am Standort des heutigen Münsters. Die Bischofspfalz fand zwar erst 1183 erstmals Erwähnung, doch spricht einiges dafür, dass sie bereits im 10. Jahrhundert errichtet wurde. 9 Nördlich an Bischofspfalz und Münster angrenzend entstand die Niederburg als Handwerkersiedlung, 10 während es westlich des Münsters noch keine dauerhafte Besiedelung gab, dort aber Buntmetall verarbeitende Handwerker ihre Arbeitsstätten hatten. 11 Wichtige Bereiche der Stadt lagen zu dieser Zeit noch außerhalb der befestigten Bereiche von Bischofssitz und Niederburg: St. Stephan, die älteste Pfarrkirche der Stadt, mit ihrem Friedhof, der Markt und der Hafen. 12 Unter Salomo III., der von 890-919 Bischof von Konstanz war, hatte die Stadt das Münz- und Marktrecht erworben und südlich des Bischofssitzes entstanden dann Markt und Hafen. Eine erste Kaufmannssiedlung entwickelte sich und auch Handwerker wie Böttcher und Schmiede dürften sich dort bereits niedergelassen haben, um den Warenverkehr durch die Herstellung von Trans‐ portfässern und die Fertigung von Wagen- und Schiffsteilen zu ermöglichen. 13 An der Uferzone, die sich damals auf Höhe der Hohenhausgasse befand, lag der Hafen mit seinen aus Holz und Erde gefertigten Landestegen. 14 Weiter 38 Daniela Frey 15 R Ö B E R (wie Anm. 11) S.-185. 16 Weitere Pelagiusreliquien fanden möglicherweise in der Regierungszeit Salomos III. ihren Weg nach Konstanz. Vgl. M E Y E R , Fredy: Die Verehrung des hl. Pelagius, in: Laule, Ulrike: Das Konstanzer Münster Unserer Lieben Frau. 1000 Jahre Kathedrale - 200 Jahre Pfarrkirche, Regensburg 2013, S.-22-26, S.-22. 17 M E Y E R (wie Anm. 16) S.-23. südlich entstand unter Bischof Konrad I. die Kirche St. Paul als Pfarrkirche des bischöflichen Fronhofs Stadelhofen. Jedoch hatte die Stadt damals noch kein geschlossenes Siedlungsbild, sondern die Siedlungsbereiche waren immer wieder unterbrochen von unbebauten Flächen. 15 Neben der baulichen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt begann bereits im 9. Jahrhundert auch die Aufwertung des Bistums und des Bischofsitzes beispielsweise durch Reliquientranslation. So brachte Salomo I. (838/ 839-871) Reliquien des heiligen Ottmars (um 689-759), des Klostergründers von St. Gallen, nach Konstanz und übertrug außerdem Reliquien des heiligen Pelagius aus Rom. 16 Pelagius wurde bald auch in den Klöstern Reichenau und St. Gallen verehrt und war in Konstanz seit dem ersten Viertel des 10. Jahrhunderts neben Maria der zweite Patron des Münsters. 17 Das Münster Unserer Lieben Frau, Daniela Frey Ein zweites Rom am Bodensee 39 18 M A U R E R , Helmut: Das Bistum Konstanz 5. Die Konstanzer Bischöfe vom Ende des 6.-Jahrhunderts bis 1206 (Germania Sacra N.-F. 42,1) Berlin/ New York 2003, S.-70. 19 Ebd., S.-91-99. 20 Vgl. B I H R E R , Andreas: Bischof Konrad als Patron von Konstanz. Zur Stiftung städtischer Identität durch Bischof Ulrich I. (1111-1127), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 148 (2000) S.-1-40, S.-24. 21 Ob zwischen Konrad und Ulrich tatsächlich ein andauerndes freundschaftliches Ver‐ hältnis bestand, oder ob, wie Bihrer vermutet Ulrich ein „Konkurrent Konrads“ war, vgl.: B I H R E R , (wie Anm. 20), S.-16 f. bes. Anm. 103. Außerdem mischten Konstanzer Bischöfe auch in der Reichspolitik mit. So war beispielsweise Salomo I. als enger Berater von König Ludwig dem Deutschen (um 806-876) tätig 18 und Salomo III. (890-919/ 920) spielte eine wichtige Rolle an den Höfen der ostfränkischen Könige Ludwig des Kindes (893-911) und Konrad I. (um 881-918). 19 Im Verlauf des 10. Jahrhunderts betätigten sich die Bischöfe auch vermehrt als Bauherren und von den Konstanzer Bischöfen des 10. Jahrhunderts sind neben Salomo III., der u. a. das Chorherrenstift St. Stephan gegründet hat, vor allem die beiden später heiliggesprochenen Bischöfe Konrad I. und Gebhard-II. mit ihrer regen Bautätigkeit bedeutend. Die Bischöfe Konrad I. und Gebhard II. Fast 150 Jahre nach dem Tod Bischof Konrads I. im November 975, gab Ulrich I. (gest. 1127), einer seiner Nachfolger auf dem Konstanzer Bischofsstuhl, eine Vita Konrads in Auftrag, um dessen Kanonisation voranzutreiben. Udalschalk von St. Ulrich und Afra in Augsburg fertigte diese Vita prior, die neben den Lebensbeschreibungen Konrads in einem zweiten Teil auch von Wundertaten an dessen Grab berichtet. Nach Konrads Heiligsprechung 1123 ergänzte Udalschalk die Vita um einen dritten Teil. Mit der Vita altera erschien dann kurz nach 1127 eine überarbeitete Version von Udalschalks Konradsvita. 20 Konrad I. war von 934 bis zu seinem Tod Bischof von Konstanz. Er stammte aus dem Haus der Welfen und erhielt seine Ausbildung wohl an der Konstanzer Domschule. Der Konstanzer Bischof Noting (gest. 934) baute ihn dann zu seinem Nachfolger auf. Konrads Wahl zum neuen Konstanzer Bischof soll, so seine Vita, auch auf Zuspruch von Bischof Ulrich von Augsburg (890-973) erfolgt sein. 21 Konrad unternahm in seinem Leben mehrere Fahrten nach Rom. Beispielsweise 40 Daniela Frey 22 M A U R E R , Helmut: Geschichte der Stadt Konstanz, Band 1: Konstanz im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Konzil, Konstanz 1996 2 , S.-67. 23 Als eher unwahrscheinlich sieht das Bihrer an, da es im 10. Jahrhundert kaum Pilger‐ reisen nach Jerusalem gab. Skeptisch klingt auch Haarländer, wenn sie über Konrads drei Jerusalemreisen schreibt: „[…] eine erstaunliche Leistung für einen Bischof des 10. Jahrhunderts, die eigentlich eher zu der Wallfahrtswelle in der Zeit des Autors [der Konradsvita] passt.“ Vgl. B I H R E R , Andreas: Konrad - Titelheiliger des Münsters, in: Laule, Ulrike: Das Konstanzer Münster Unserer Lieben Frau. 1000 Jahre Kathedrale - 200 Jahre Pfarrkirche, Regensburg 2013, S. 27-30, S. 30 Anm. 4 und H A A R L Ä N D E R , Stephanie: Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie, untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen des Regnum Teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier, Stuttgart 2000, S.-211. begleitete er Otto I. (912-973) im Winter 961/ 962 zu dessen Kaiserkrönung nach Rom. 22 Auch von drei Reisen nach Jerusalem berichtet seine Vita. 23 Standbild von Bischof Konrad I. am Rheinsteig, Xaver Reich, 1863, Daniela Frey Am Kaiserhof hielt sich Konrad - anders als viele andere Reichsbischöfe - nur selten auf. Doch Schenkungen, die er vom Kaiser erhielt und die Übernahme der Verehrung der „Reichsheiligen“ Mauritius und Laurentius zeigen, dass er Ein zweites Rom am Bodensee 41 24 B I H R E R (wie Anm. 23) S.-27. 25 M A U R E R (wie Anm. 18) S.-130. 26 Ebd., S.-132. 27 Der heilige Mauritius war der Legende nach ein römischer Offizier und Anführer der aus Christen bestehenden „Thebäischen Legion“, die bei Agaunum (heute: Saint- Maurice im Schweizer Kanton Wallis) stationiert war. Da die Legion sich weigerte gegen andere Christen zu kämpfen, ließ der römische Kaiser Maximian (um 240-310) die Legion zur Strafe dezimieren. Da die verbliebenen Soldaten aber trotzdem nicht kämpfen wollten, wurden sie alle hingerichtet. Die Verehrung des heiligen Mauritius (u. a. als Patron der Soldaten, Waffen- und Messerschmiede) begann bereits im späten 4. Jahrhundert und nahm in den folgenden Jahrhunderten stetig zu. Kaiser Otto I. führte seinen Sieg gegen die Ungarn auf dem Lechfeld 955 auf den Beistand von Mauritius zurück. Seit dem Hochmittelalter wurde auch die „Heilige Lanze“ - eine der Reichskleinodien der römisch-deutschen Könige und Kaiser - dem heiligen Mauritius zugeschrieben. 28 In Wirklichkeit ist hier ein Unterkaiser mit Namen Valerius Constantius genannt. 1967 wurde die Bauinschrift entfernt. Heute ist sie im Rathaus von Winterthur ausgestellt. Vgl. M A U R E R (wie Anm. 22) S.-70. 29 M A U R E R (wie Anm. 5) S.-55 (mit Abbildung im Anhang). kein Gegner der Ottonen war. 24 Konrad widmete sich jedoch vornehmlich der Ausgestaltung seines Bischofssitzes. 25 Dies tat er vor allem durch die Gründung und den Bau neuer Kirchen. Allen voran ist der Bau der Rundkirche St. Mauritius zu nennen, in deren Mitte ein Heiliges Grab nach dem Vorbild in Jerusalem stand. Sie diente einer Gemeinschaft von zwölf Chorherren als Sitz und wurde damit nach dem Domkapitel und dem Chorherrenstift von St. Stephan das dritte Stift in Konstanz. 26 Als Patron für diese nordöstlich des Münsters direkt neben dem Chor errichtete Heilig-Grab-Rotunde, wählte Konrad den heiligen Mauritius, der nach der Schlacht und dem Sieg Ottos I. gegen die Ungarn auf dem Lechfeld 955 zum ottonischen Reichspatron geworden war. 27 Es war wohl auch Konrad, der in einer der Seitenkapellen der Rotunde eine aus dem Kastell Vitodurum (Oberwinterthur) stammende spätrömische Bauinschrift von 294 n. Chr. anbringen ließ, auf der der Name Constantius  28 zu lesen und bewusst hervorgehoben ist. So sollten Alter und Bedeutung von Konstanz hervorge‐ hoben werden. 29 In der Niederburg gründete Konrad möglicherweise die Kirche St. Johann, Richtung Stadelhofen die Pfarrkirche St. Paul und am heutigen Obermarkt könnte er die Kirche St. Lorenz erneuert haben. Außerdem errichtete er ein Spital, das zwölf Arme aufnehmen und sich um vorbeiziehende Pilger kümmern sollte. Nach der Überlieferung hat Konrad diesem Spital einen Splitter vom Kreuz Christi geschenkt, den er von einer seiner drei Jerusalemreisen mitgebracht haben soll. Nach dieser Kreuzreliquie erhielt das Spital den Namen „Crucelin“. An welcher Stelle Konrad sein Spital gegründet hat, lässt sich heute nicht mehr sagen. Nach Quellen des 12.-Jahrhunderts lag es aber zu dieser Zeit 42 Daniela Frey 30 Bspw. R Ö B E R (wie Anm. 11) S.-165. 31 R Ö B E R (wie Anm. 9) S.-213. 32 B I H R E R (wie Anm. 23) S.-18 f., Anm. 106. 33 M A U R E R (wie Anm. 18), S.-151 f. innerhalb der Stadtmauern. 30 Sowohl mit der Errichtung der Mauritiusrotunde als auch mit der Schenkung der Kreuzreliqiue an das Spital nahm Konrad symbo‐ lisch Bezug auf Jerusalem. 31 Konrads bauliche und ideologische Anstrengungen resultierten auch aus dem Wunsch, seinen Bischofssitz gegenüber anderen geistigen Zentren wie der Reichenau und St. Gallen hervorzuheben und eine herausragende Stellung seines Bischofssitzes in Schwaben und im Reich zu propagieren. 32 Der 1134 heiliggesprochene Gebhard II. war Konrads zweiter Nachfolger als Bischof von Konstanz. Er kam aus dem bedeutenden alemannischen Geschlecht der Udalrichinger und wurde in oder bei Bregenz geboren. Bischof von Konstanz war er von 979-995, nachdem er bereits in jungen Jahren in den Dienst des Konstanzer Bischofs Konrad I. eingetreten war. In Konstanz erhielt er seine Aus‐ bildung, wurde anschließend dort Domherr und vermachte noch zu Lebzeiten Bischof Konrads dem Konstanzer Domkapitel Teile seines Erbes. Nach dem Tod von Konrads Nachfolger Gamenolf, der lediglich vier Jahre das Bischofsamt bekleidet hatte, wurde er dann Bischof von Konstanz. Gebhard pflegte engere Beziehungen zum Königshaus als Konrad. So war er wohl Taufpate eines der Kinder Ottos II. und sowohl Otto II. als auch Otto III. besuchten Konstanz in Gebhards 16-jähriger Amtszeit insgesamt dreimal. Auch stand Gebhard immer wieder in den Diensten der ottonischen Herrscher; beispielsweise wurde er 990 mit der Verwaltung der Bistümer Pavia und Padua betraut. 33 Ein zweites Rom am Bodensee 43 34 Ebd., S.-148. Standbild von Bischof Gebhard II. am Rheinsteig, Xaver Reich, 1863, Daniela Frey Im Jahre 983 gründete Gebhard rechtsrheinisch, gegenüber der Konstanzer Altstadt gelegen, das Kloster Petershausen. Dort wurde er, als er 995 verstarb, in der Klosterkirche beerdigt. Im 12. Jahrhundert - wahrscheinlich hervorgerufen durch die von Bischof Ulrich I. betriebene Heiligsprechung Konrads - wurde vom Petershauser Abt auch die Kanonisation Gebhards eingeleitet. Vor 1134 ver‐ fasste deshalb ein namentlich nicht bekannter Mönch des Kloster Petershausens die Vita beati Gebehardi, die neben Lebensbeschreibungen auch Beschreibungen von Gebhards Wundertaten enthielt. Derselbe Mönch verfasste zwischen 1134 und 1159 auch die Casus monasterrii Petrishusensis, die Chronik des Klosters Petershausen. 34 44 Daniela Frey 35 Vgl. M A U R E R (wie Anm. 5) S.-57. 36 Und zu sant johans bessrot ers vast also, d(a)z er och den Chor an die kilchen machet und die sül […]. Die „Konstanzer Chronik“ Gerhard Dachers, hg. und komm. von Sandra Wolff, Osterfildern 2008, S.-275 f. und 312. 37 B E Y E R L E , Konrad: Die Geschichte des Chorstifts und der Pfarrei St. Johann zu Konstanz, Freiburg 1908, S.-2 Anm. 2. 38 Maurer sieht in der Bezeichnung a fundamentis, die in der zweiten Konradsvita verwendet wird den Beweis, dass es sich um eine Neugründung Konrads handelt, während Röber Frank G. Hirschmann folgend anmerkt, dass a fundamentis nicht unbedingt der Beweis einer Neugründung sein muss. Vgl. M A U R E R (wie Anm. 5), S. 57 und R Ö B E R (wie Anm. 9), S.-212. Die Kirchen Nun zu den Kirchen, die das Roma secunda in Konstanz bildeten und von Konrad I. und Gebhard II. gegründet wurden oder gegründet worden sein könnten. St. Johann, St. Paul, St. Lorenz und das Kloster Petershausen sollen hier hinsichtlich ihrer Entstehung und mit Blick auf ihre Geschichte etwas näher betrachtet werden. St. Johann In unmittelbare Nähe des Münsters erbaut, wurde St. Johann - wie die Patri‐ archalbasilika San Giovanni in Laterano - sowohl dem Apostel Johannes als auch Johannes dem Täufer geweiht. Die zweite Konradsvita nennt Konrad I. als Erbauer der Kirche 35 , während die spätmittelalterliche Chronik Gerhard Dachers sagt, die Kirche sei wesentlich älter und Konrad hätte nur den Chor und die Säulen erneuert. 36 Der Chronist Christoph Schulthaiß schrieb im 16. Jahrhundert in seiner Bistumschronik sogar, dass der erste Konstanzer Bischof Maximus St. Johann als Kathedralkirche genutzt habe, bevor das Münster erbaut wurde. 37 Möglicherweise wurde von Konrad also nur ein Um- oder Neubau einer schon länger bestehenden Kirche vorgenommen, die vielleicht auch als Baptisterium des Münsters gedient hat. 38 Ein zweites Rom am Bodensee 45 39 H O F M A N N , Andreas: Gotteshaus-Brauhaus-Wirtshaus. Das St. Johann im Wandel der Zeit, in: Delphin-Kreis (Hg.): Konstanzer Beiträge zu Geschichte und Gegenwart, Band 4: Geschichte und Geschichten … … aus Konstanz und von den Schweizer Nachbarn, Konstanz 1995, S.-35-41, S.-36. 40 M A U R E R , Helmut: Die wechselvolle Geschichte der Stammburg St. Johann, in: Nieder‐ burg Große Konstanzer Narrengesellschaft 1884 e. V. (Hg.): Die Niederburg. Porträt des ältesten Konstanzer Stadtteiles, Konstanz 1983, S.-33. Kirche St. Johann von Osten, Federzeichnung, 2. Hälfte 19. Jahrhundert, Rosgartenmu‐ seum Konstanz Im frühen Mittelalter als Pfarrkirche der Niederburg genutzt, wurde St. Johann im 13. Jahrhundert in den Rang eines Chorherrenstifts erhoben und in Folge zu einer dreischiffigen gotischen Kirche umgebaut. 39 Während der Reformations‐ zeit im 16. Jahrhundert hielt Jakob Windner, der damalige Pfarrer von St. Johann, bereits 1519 reformatorische Predigten in der Kirche. 40 Die Chorherren mussten schließlich nach andauernden Streitigkeiten 1527 ihr Stift verlassen; Bischof Hugo von Hohenlandenberg (1457-1532) hatte Konstanz bereits ein Jahr zuvor den Rücken gekehrt und war nach Meersburg übergesiedelt. Das Inventar von St. Johann wurde - wie auch in anderen Konstanzer Kirchen - zerstört 46 Daniela Frey 41 H O F M A N N (wie Anm. 39) S.-38. 42 M O T Z , Paul: Die Kirchen und Klöster der Stadt Konstanz, in: Ders. (Hg.): Konstanz. Seine baugeschichtliche und verkehrswirtschaftliche Entwicklung, Konstanz 1925, S. 49-95, S.-65. 43 H O F M A N N (wie Anm. 39) S.-38. oder verkauft. Nach der Rekatholisierung der Stadt ab 1548 musste die Stadt das Stift entschädigen, jedoch reichte der Betrag nicht aus, um Kirche und Stift wieder in den vorreformatorischen Zustand zu versetzen, und so hatten lediglich drei Chorherren zu dieser Zeit ihren Sitz in St. Johann. Erst im 17. und 18. Jahrhundert verbesserte sich die finanzielle Situation des Stifts durch etliche Stiftungen wieder. 41 Nun konnte auch das Innere der Kirche erneuert und neu ausgestattet werden. 42 Auch eine kleine Seitenkapelle mit einem Barockaltar wurde errichtet. 43 Die ehemalige Kirche St. Johann, Daniela Frey Ein zweites Rom am Bodensee 47 44 H O F M A N N (wie Anm. 39) S.-39. 45 B I B B Y , Hildegard: „An St. Paulsgassen gelegen…“. Besitzverhältnisse in der Hussenstraße 15-25 im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Röber, Ralph (Hg.): Konstanz, Obere Augustinergasse. Ein Hinterhofquartier und sein historisch-bauhistorisches Umfeld, Wiesbaden 2020, S.-26-43, S.-27. Durch den Frieden von Preßburg fiel Konstanz 1805 an das zum Großherzogtum erhobene Haus Baden und das Stift St. Johann wurde wenig später aufgehoben und die Pfarrei St. Johann schließlich 1812 mit der Münsterpfarrei vereinigt. 1818 kaufte ein Bierbrauer St. Johann auf und richtete in der ehemaligen Kirche eine Brauerei ein. Das Kirchenschiff nutzte er als Pferdestall, Malzdarre und Scheune, 44 während er den Glockenturm 1830 abtragen ließ. Nachdem die Brauerei in den folgenden Jahrzehnten mehrfach den Besitzer gewechselt hatte, wurde St. Johann 1890 von der „Aktiengesellschaft Katholisches Vereinshaus“ erworben und zum katholischen Vereinshaus umgebaut. Das Kirchenschiff wurde nun für Versammlungen, Ausstellungen, Feste und Fasnachtsbälle ge‐ nutzt. Später wurde St. Johann zum Hotel- und Wirtschaftsbetrieb erweitert, der aber 1991 aufgegeben wurde. Heute sind in St. Johann u. a. Restaurants, eine Ballettschule und Wohnungen untergebracht. St. Paul Die Kirche St. Paul wurde von Bischof Konrad I. gegründet. Sie lag zur Zeit ihrer Erbauung außerhalb der Stadtmauern an der alten Römerstraße, die südlich aus der Stadt hinaus zum bischöflichen Fronhof Stadelhofen führte und sowohl für diesen als auch für einige in der Schweiz gelegene Siedlungen als Pfarrkirche fungierte. Die romanische Basilika besaß ein Langhaus, einen Turm und einen Chor sowie einen Pfarr- und einen Friedhof. Mit der Stadterweiterung des 13. Jahrhunderts befand sich St. Paul ab dieser Zeit innerhalb der Stadtbefesti‐ gung. 45 Sehr viel mehr erfährt man über die Kirche im Mittelalter nicht. 1719 geht dann aus einem Bericht an den Domprobst hervor, dass sich die Kirche zu diesem Zeitpunkt in einem schlechten Zustand befunden hat. In den 30-er Jahren des 18. Jahrhunderts wurde die Kirche schließlich renoviert und dem damaligen Zeitgeist folgend barockisiert. 1813 wurde die Pfarrei St. Paul aufgehoben, und die Kirche diente dann zunächst der evangelischen Gemeinde als erste Kirche, danach der Aufbewahrung von Schriften des Kreisdirektoriums. 1834 wurde St. Paul schließlich profaniert und privatisiert. Die ehemalige Kirche wurde nun teilweise bewohnt; andere Teile wurden als Heulager, später als Brauerei genutzt. Das angrenzende Mesnerhaus und der Kirchturm von St. Paul 48 Daniela Frey 46 M O T Z , Paul: Die ehemalige Pfarrkirche St. Paul in Konstanz, in: Nachrichtenblatt der Denkmalpflege in Baden-Württemberg, Band-5, Stuttgart 1962, S.-1-6, S.-3. wurden 1911 abgerissen. 46 Heute betreibt der Verein „Kommunales Kunst und Kulturzentrum K9 e. V.“ in der ehemaligen Paulskirche das Kulturzentrum K9. Kirche St. Paul von Nordosten, Federzeichnung von G. Gagg, 2. Hälfte 19. Jahrhundert, ungenaue und seitenverkehrte Ansicht der Kirche, Rosgartenmuseum Konstanz Die ehemalige Kirche St. Paul, Daniela Frey Ein zweites Rom am Bodensee 49 47 Vgl. R Ö B E R (wie Anm. 9) S.-212. 48 M A U R E R , Helmut: Die Ratskapelle. Beobachtungen am Beispiel von St. Lorenz in Kon‐ stanz, in: Max-Planck-Institut für Geschichte (Hg.): Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, Band-2, Göttingen 1972, S.-225-236, S.-229. 49 M O T Z (wie Anm. 42) S.-74. 50 M A U R E R (wie Anm. 48) S.-232. 51 Ebd., S.-233. 52 M O T Z (wie Anm. 42), S.-74. 53 V O N B L A N C K E N H A G E N , Sigrid/ V O N G L E I C H E N S T E I N , Elisabeth: Katalogteil in: Rosgarten‐ museum (Hg.): Felix mater Constantia. Die Stadt Konstanz und ihre Heiligen im 10. Jahrhundert. Ausstellung zum 1000. Todestag des hl. Bischofs Konrad von Konstanz, Konstanz 1975, S.-47-156, S.-68. St. Lorenz Die Kirche oder Kapelle St. Lorenz befand sich ungefähr auf halber Strecke zwischen den Kirchen St. Paul und St. Stephan. Nachdem im späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert der Obermarkt entstanden war, stand St. Lorenz fortan an dessen nordöstlicher Ecke. Nach der oben bereits erwähnten Schlacht auf dem Lechfeld, die am 10. August 955 stattfand, wurde der Tagesheilige, der heilige Laurentius, ebenso wie der heilige Mauritius als Sieghelfer verehrt und in Folge Patron vieler Kirchen. St. Lorenz könnte also ab 955 erbaut worden sein. Vielleicht wurde aber auch durch die Übertragung von Reliquien des heiligen Laurentius einer bereits bestehenden Kirche ein neues Patrozinium zugewiesen. Keine der beiden Viten Konrads nennt ihn als Gründer dieser Kirche, lediglich eine Weiheprotokoll aus der Mitte des 14. Jahrhunderts nennt Konrad als den Kirchengründer. 47 Letztendlich bleibt es unklar, ob Konrad der Gründer der Kirche war oder eine bestehende Kirche mit Reliquien beschenkt hat oder ob erst einer seiner Nachfolger sie gegründet hat. Erstmalige schriftliche Erwähnung fand St. Lorenz jedenfalls erst um 1230 als der Konstanzer Rat sich für die kleine einschiffige Kirche mit dem hohen Dachreiter zu interessieren begann. 48 Dieses Interesse an St. Lorenz lag sicher auch an der Lage am Obermarkt, der im Mittelalter die Gerichtsstätte der Stadt und der Versammlungsort der Bürgerschaft war. Die Kirche wurde Eigentum der Stadt, 49 diente dann auch als Ratskapelle und trug ab dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts die Ratsglocke auf dem Dachreiter mit der zu den Sitzungen des Rates gerufen wurde. 50 In einer nachreformatorischen Quelle ist dann auch vermerkt, dass die Ratsherren vor den dreimal wöchentlich stattfindenden Ratssitzungen zunächst die Messe in St. Lorenz hörten, bevor sie ins Rathaus gingen. 51 Ab 1810 wurde St. Lorenz dann kaum mehr genutzt 52 und schließlich 1839 an einen Kaufmann verkauft, der das Gebäude zu einem Handelshaus umbauen ließ. 53 50 Daniela Frey Ehemalige St. Lorenzkirche auf dem Obermarkt, Eingangs- oder Westfront, Kopie (Federzeichnung) von Joseph Marmor aus den 1850er Jahren nach einer Zeichnung von Nikolaus Hug von ca. 1840, Stadtarchiv Konstanz. Ein zweites Rom am Bodensee 51 54 Gregor der Große (um 540-604) war von 590 bis zu seinem Tod Papst. Er gehört neben Ambrosius, Augustinus und Hieronymus zu den großen westlichen Kirchenvätern. 1295 wurde er heiliggesprochen. Vgl. bspw. S C H Ä F E R , Joachim: Artikel Gregor „der Große“, aus dem Ökumenischen Heiligenlexikon: https: / / www.heiligenlexikon.de/ Biographien G/ Gregor_I_der_Grosse.htm, [abgerufen am 23.3.2023]. 55 M A U R E R (wie Anm. 5) S.-65. 56 M A U R E R (wie Anm. 18) S.-154. 57 R Ö B E R , Monika: „Locus Petreshusa“ - topographiegeschichtliche Untersuchungen zu Kloster und Dorf Petershausen, in: Röber, Ralph: Kloster, Dorf und Vorstadt Peters‐ hausen. Archäologische, historische und anthropologische Untersuchungen, Stuttgart 2009, S.-21-68, S.-24. 58 R Ö B E R (wie Anm. 57) S.-40 und Chronik I, cap. 11, S.-51. 59 M A U R E R (wie Anm. 5) S.-67. 60 S P A H R , Gebhard: Zur Geschichte der Benediktinerabtei Petershausen 983-1802, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): 1000 Jahre Petershausen. Beiträge zur Kunst und Geschichte der Benediktinerabtei Petershausen in Konstanz, Konstanz 1983, S. 9-40, S.-10. 61 M A U R E R (wie Anm. 5) S.-65. Kloster Petershausen Das Kloster Petershausen wurde 983 von Bischof Gebhard II. gegründet. Auf der rechten Seite des Rheins, wie der Petersdom auf der rechten Seite des Tibers, erbaute der Bischof eine Benediktinerabtei mit einer dem heiligen Papst Gregor 54 geweihten Kirche, deren Chor nach Westen ausgerichtet war, in bewusster Anlehnung an Alt-St. Peter in Rom. 55 Den Grund, auf dem er das Kloster erbauen ließ, erwarb er im Tausch gegen eigenen Besitz vom Kloster Reichenau. Das neuerworbene Land teilte er in drei Teile: Ein Teil blieb in bischöflichem Besitz, ein zweiter ging an das Domkapitel und der dritte wurde der Bauplatz für das Kloster. 56 Nachdem noch 983 der Grundstein für die Klosterkirche gelegt worden war, weihte Gebhard die Kirche, in der sich auch eine Krypta befand, 992 dem heiligen Gregor. Vermutlich zeitgleich mit dem Bau der Kirche wurden auch die wichtigsten Klostergebäude errichtet. 57 Um das Kloster siedelte Gebhard Hörige an, die er mit einigen Rechten ausstattete. So durften sie ihren gesamten Besitz an ihre Erben weitergeben, hatten die Erlaubnis, Schifffahrt zu betreiben und Fische zu fangen. 58 Seine Neugründung nannte er Petrishusin oder Petreshusa, latinisiert wurde daraus dann Petri domus. 59 Ausgestattet hat Gebhard das Kloster mit Gütern am Bodensee, in Vorarlberg, im Linzgau und Hegau. 60 Zunächst lebten 12 Mönche im Kloster, zu deren Abt Gebhard einen Mönch aus dem Kloster Einsiedeln bestimmte. Von einer Romreise brachte Gebhard den Schädel von Papst Gregor dem Großen mit nach Konstanz und verwahrte ihn - entsprechend der Lage von Gregors Grab in Rom - auf der Südseite in einem dem heiligen Petrus geweihten Altar. 61 52 Daniela Frey 62 R Ö B E R (wie Anm. 58) S.-24. Der Frauenkonvent bestand bis zum Klosterbrand 1159. 63 S I G G -G I L S T A D , Randi: Beiträge zur Baugeschichte der ersten und zweiten Klosterkirche von Petershausen, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): 1000 Jahre Peters‐ hausen. Beiträge zur Kunst und Geschichte der Benediktinerabtei Petershausen in Konstanz, Konstanz 1983, S.-41-70, S.-47 f. Klosterkirche von Petershausen, Lithographie von Nikolaus Hug, 1831, Stadtarchiv Konstanz. Nach dem Tod Gebhards wurde das Kloster im folgenden Jahrhundert weiter ausgebaut. 1086 wurde Theoderich der bisherige Prior des Klosters Hirsau Abt von Petershausen. Er führte Reformen durch, erneuerte und erweiterte die Klostergebäude, erhöhte die Anzahl der Mönche und Laienbrüder und gliederte einen Frauenkonvent an das Kloster an. 62 1159 zerstörte ein verheerender Brand die Klosterkirche und große Teile der Klostergebäude, die in den kommenden Jahren neu errichtet wurden. Mit dem Bau einer neuen Kirche wurde 1162 begonnen, 1180 konnte sie geweiht werden. 63 Im 15. Jahrhundert war das Kloster aufgrund des Verlusts der gerichtsherrlichen Rechte an die Stadt Konstanz und der Misswirtschaft einiger Äbte, in einem schlechten wirtschaftlichen Zustand Ein zweites Rom am Bodensee 53 64 R Ö B E R (wie Anm. 58) S.-26. 65 B U R K H A R D T , Martin/ D O B R A S , Wolfgang/ Z I M M E R M A N N , Wolfgang: Konstanz in der frühen Neuzeit. Reformation, Verlust der Reichsfreiheit, Österreichische Zeit (Geschichte der Stadt Konstanz, Band-3) Konstanz 1991, S.-142. 66 S U T T E R , Willi: Petershausen. Kloster-Kirche-Kaserne, in: Delphin-Kreis (Hg.): Das DelphinBuch 10. Konstanzer Beiträge zu Geschichte und Gegenwart, Konstanz 2010, S.-37-65, S.-45. 67 M O T Z , Paul: Die Neubauten der ehemaligen Benediktiner- und Reichsabtei Peters‐ hausen bei Konstanz im 18. Jahrhundert, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): 1000 Jahre Petershausen. Beiträge zur Kunst und Geschichte der Benediktinerabtei Petershausen in Konstanz, Konstanz 1983, S.-82-102, S.-82. 68 R Ö B E R (wie Anm. 58) S.-27. 69 Die noch erhaltenen Teile des Kirchenportal befinden sich heute im Badischen Landes‐ museum in Karlsruhe: https: / / katalog.landesmuseum.de/ object/ 8A4B2C47F3AF49488B 6F0F6BE6EF871D-kirchenportal-sog-petershausener-portal [abgerufen am 30.03.2023] und erst im 16. Jahrhundert verbesserte sich die finanzielle Lage des Klosters wieder. 64 Während der Reformationszeit ließ die Stadt einen Teil des Klosters abreißen und die Mönche wurden vertrieben. Als es 1548 den spanischen Truppen von Kaiser Karl V. nicht gelang, die Stadt Konstanz einzunehmen, verwüsteten und plünderten diese das Kloster und die umliegende Siedlung. Bevor sie abzogen, legten die Soldaten Feuer, das weiteren großen Schaden anrichtete. 65 Nach der Rekatholisierung von Konstanz wurde die Stadt dann verpflichtet, den dem Kloster entstandenen Schaden wiedergutzumachen und der Abt und die Mönche konnten zurückkehren. Im Zuge der Gegenreformation gewann die Abtei erneut an Bedeutung und wurde zu einem der wichtigsten Klöster im süddeutschen Raum. 66 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte man - vermutlich ausgelöst durch die endgültige Anerkennung der Abtei als Reichsstift 67 - Pläne für einen großen Neubau von Kloster und Kirche, die jedoch nur noch in Teilen verwirk‐ licht werden konnten: Das Kloster Petershausen wurde 1802 säkularisiert und fiel an das Haus Baden. Abt und Konvent durften einige Gebäude weiternutzen und blieben in ihrer klösterlichen Gemeinschaft. 1832 starb schließlich der letzte Petershauser Mönch. 68 Nach der Säkularisierung wurde das Kloster für kurze Zeit als badisches Residenzschloss, ab 1813/ 14 als Militärhospital und dann zwischen 1850 und 1977 als Kaserne genutzt. Die Klosterkirche wurde 1819 geschlossen und 1832 abgerissen. 69 Heute beherbergen die noch erhaltenen Klostergebäude das Archäologische Landesmuseum Baden-Württemberg, das Stadtarchiv und die Musikschule. 54 Daniela Frey 70 M A U R E R (wie Anm. 5). S.-73. Das „Neue Petershauser Portal“ an der Stelle der abgerissenen Klosterkirche, 2018 nach einem Entwurf von Roman Kreuzer, Daniela Frey Roma secunda in Konstanz: Zufall, städtebauliche Notwendigkeit oder großangelegter Plan? Mit dem Bau des Klosters Petershausen war das zweite Rom in Konstanz vermutlich vollständig, auch wenn, wie oben geschrieben, die Gründung von St. Lorenz ungeklärt bleibt. Doch war die Romimitation Ergebnis systematischer Planung durch die Bischöfe Konrad I. und Gebhard II. oder eher den örtlichen Voraussetzungen geschuldet? Diesen Fragen soll hier zum Schluss noch kurz nachgegangen werden. Helmut Maurer schrieb in seinem 1973 erschienenen Buch Konstanz als ottonischer Bischofssitz: „Die beiden Bischöfe Konrad und Gebhard, […] hatten, als sie die Idee der Nachbildung des stadtrömischen Kirchenbildes in seinen hauptsächlichsten Kirchen planvoll und systematisch verwirklichten, nicht nur die Absicht die „Sakrallandschaft“ der Ewigen Stadt in etwa nachzuahmen. Ihr Ziel scheint vielmehr eindeutig weitergesteckt gewesen zu sein: es war über das stadtrömische Bild hinaus auf ein Abbild der Stadt Rom, der Stadt der Päpste insgesamt gerichtet.“ 70 Die planvolle Verwirklichung gilt sicherlich für Gebhard II. und den Bau des Klosters Petershausen als Kopie von Alt-St Peter. Aber gilt dies auch für St. Johann, St. Lorenz und St. Paul? Ein zweites Rom am Bodensee 55 71 R Ö B E R (wie Anm. 9) S.-214. 72 Ebd. 73 M A U R E R (wie Anm. 5) S.-71. 74 R Ö B E R (wie Anm. 9) S.-213. Ralph Röber äußert -ausgehend von den jüngeren Forschungen zur mittel‐ alterlichen Stadtplanung - in seinem 2014 erschienen Aufsatz Konstanz im 10. Jahrhundert - zwischen Roma secunda und Ungarnsturm Zweifel an Maurers These. Er wirft die Frage auf, ob es „nicht eher denkbar ist, dass der Rombezug erst eine Idee Gebhards II. war, die er mit dem Bau seines Klosters umsetzte und erst in diesem Zuge, wenn überhaupt, eine Gleichsetzung der anderen bereits bestehenden Kirchen mit den römischen erfolgt wäre, deren Lage und Patrozinium passenderweise überstimmten? “ 71 Er sieht bei der Betrachtung der baulichen Entwicklung von Konstanz im frühen Mittelalter - nach derzeitigem Forschungsstand - keine umfassende strategische Planung, sondern eher eine „Mischung aus bischöflichem Agieren, dem Reagieren auf Notwendigkeiten und der Wahrnehmung von Chancen; eine umfassende strategische Planung, deren Verwirklichung erst nach und nach über einen langen Zeitraum vorgesehen war, ist dagegen kaum zu erkennen.“ 72 Maurer hingegen argumentiert mit der Lage der Kirchen und ihren Patrozi‐ nien, wenn er sagt: „Bereits bei der Behandlung der einzelnen Kirchen war uns verschiedentlich aufgefallen, daß die Wahl der Lage und die Wahl des Patrozi‐ niums eindeutig nach dem Vorbild stadtrömischer Kirchen vorgenommen ist.“ 73 Im ausgehenden 10. Jahrhundert lagen das Münster und St. Johann innerhalb der Stadtmauern und St. Lorenz und St. Paul, wie San Lorenzo fuori le mura und San Paolo fuori le mura außerhalb der Stadtbefestigung. Das Kloster Petershausen stand auf der rechten Seite des Rheins, wie der Petersdom auf der rechten Seite des Tibers. Röber führt dagegen an, dass „die Lagebezüge dieser Kirchen nicht allein durch die Ausrichtung nach römischem Vorbild zu erklären [sind], sie ent‐ sprängen vielmehr praktischen Gegebenheiten“ 74 : Der Standort des Münsters hat sich seit dem 7. Jahrhundert nicht verändert, St. Johann könnte bereits vor Konrads Zeit gegründet worden sein, dann wäre der Standort ebenfalls bereits festgelegt gewesen. St. Lorenz ist durch den Bezug zur Marktsiedlung notwendigerweise außerhalb der Stadtmauern gegründet worden und auch der Standort von St. Paul ist mehr den Gegebenheiten geschuldet, da zum einen vermutlich innerhalb der Stadtmauern kein Platz für eine weitere Kirche war und zum anderen St. Paul als Pfarrkirche für Stadelhofen errichtet worden ist und auch hinsichtlich der Stadterweiterung nach Süden notwendigerweise hier anzusiedeln war. 56 Daniela Frey 75 Ebd., S.-214. 76 M A U R E R (wie Anm. 5) S.-60. 77 Ebd., S.-74. 78 V O N B L A N C K E N H A G E N , V O N G L E I C H E N S T E I N (wie Anm. 53) S.-48. 79 Chronik (wie Anm.1) I, cap. 54, S.-83 f. 80 R Ö B E R (wie Anm.9) S.-213 Kritisch sieht Röber auch, dass die Kirche St. Lorenz in den beiden Viten Konrads nicht genannt wird, obwohl diese ausdrücklich geschrieben wurden, um Konrads Leistungen herauszustellen. Stattdessen wird ein Bezug zwischen St. Lorenz und Konrad erst in einem spätmittelalterlichen Schriftstück herge‐ stellt. 75 Maurer betont jedoch, dass die zweite Konradsvita berichtet, dass Konrad nicht nur Kirchen neu gegründet, sondern auch ältere Kirchen erneuert hat. Er kommt hier zu dem Schluss: „Alle Indizien zusammengenommen, dürfen wir Bischof Konrad zwar nicht unbedingt die Gründung, so doch mit größter Wahrscheinlichkeit die durch Ottos I. Ungarnsieg veranlaßte Erneuerung eines bereits bestehenden Laurentius-Heiligtums zuschreiben.“ 76 Maurer gibt zu, dass es für Konstanz, anders als für manch andere Städte, keinen „eindeutigen literarischen Niederschlag“ 77 der Romidee gibt. Jedoch findet er Hinweise durch die Worten felix und mater, die, wie er schreibt, wenn sie in enger Verbindung auftreten, vor allem Rom gebühren. So findet sich felix mater Constantia in einem erstmals in einer St. Galler Handschrift vom Ende des 9. Jahrhunderts enthaltenen Pelagius-Hymnus. Nun handelt es sich jedoch bei dem Pelagius-Hymnus in der St. Galler Handschrift um einen Nachtrag, der wohl aus dem 12. Jahrhundert stammt. 78 Außerdem erwähnt der Verfasser der Chronik des Kloster Petershausen eine Grabinschrift von Gebhard II., die er [i]n einem alten Buch im Kloster Stein fand. Hier finden sich die Zeilen: Begraben liegt Herr Gebhard, der Vorsteher; kein größerer ist bekannt, der je auf Erden weilte, und den als Vater die glückliche Mutter Constantia verdiente[.]  79 Einen schriftlichen Beleg für felix mater Constantia während des Episkopats Konrads gibt es nicht. Röber gibt außerdem zu bedenken, dass die Verwirklichung dieser Pläne einen „umfassenden Planungsprozess durch Bischof Konrad voraussetzen“ 80 würden. Hatte dieser doch bereits durch die Constantiusinschrift das ehrwürdige Alter der Stadt hervorgehoben und mit viel baulichem und finanziellem Aufwand mit St. Mauritius und der Gründung des Spitals einen Jerusalembezug hergestellt. Und jetzt soll Konrad auch noch eine Romimitation geplant haben? So stellt er die Frage: „[…] ob eine derart umfassende Planung, die erst einige Jahrzehnte später von dem übernächsten Nachfolger Bischof Gebhard II. abschließend Ein zweites Rom am Bodensee 57 81 Ebd., S.-214. verwirklicht worden wäre, überhaupt zeitgemäß ist oder nicht eher eine Rück‐ projektion jüngerer Verhältnisse? “ 81 Unbestreitbar wäre das eine sehr umfassende Planung, aber Bischof Konrad war über 40 Jahre lang - von 934-975 - Bischof von Konstanz und wie oben geschrieben weniger mit der Reichspolitik als mit der Ausgestaltung seines Bischofssitzes beschäftigt. Zeit hätte er also für solche großen Pläne vermutlich gehabt. Zudem kannten Konrad und Gebhard sich und vielleicht hat Konrad mit Gebhard über seine Pläne gesprochen, denn Gebhard gründete das Kloster Pe‐ tershausen bereits acht Jahre nach Konrads Tod. Röber hingegen vermutet, dass von Konrad kein Nachbau des Petersdoms vorgesehen war, zumal dieser auch im Osten der Stadt auf der Dominikanerinsel einfacher und kostengünstiger zu verwirklichen gewesen wäre. Aber hätte das nicht auch für Gebhard Gründung gegolten? Für mich bleibt an dieser Stelle offen, ob es sich um die systematische Planung eines zweiten Roms gehandelt hat, wie es für andere Städte nachweisbar ist, oder ob die Standortwahl von St. Johann, St. Lorenz und St. Paul sich vorwiegend an Stadtentwicklung und Stadterweiterung orientiert hat. Vielleicht trifft auch beides zu und Bischof Konrad I. gab den Kirchen trotz der örtlichen Notwendigkeiten und Gegebenheiten - so er denn auf die Wahl des Standorts Einfluss hatte - durch die Wahl der Patrozinien eine zusätzliche Bedeutung als Kopie einer stadtrömischen Kirche. 58 Daniela Frey 1 Alle Zitate aus dem Vertrag basieren auf der Edition der Monumenta Germaniae Historica 10,1 (DD F I.), bearbeitet von Heinrich A P P E L T , Hannover 1975, Nr 52, S. 87-89 und für den Frieden auf der Edition der Monumenta Germaniae Historica 10,4 (DD F I.), bearbeitet von Heinrich A P P E L T , Hannover 1990, Nr.-848, S.-68-77. Konstanz als Aushandlungsort der Italienpolitik Friedrich I. Barbarossas Der Vertrag (1153) und Friede (1183) von Konstanz im Vergleich Lukas-Daniel Barwitzki Während der fast vierzigjährigen Herrschaft Friedrich I. Barbarossas zählte die Auseinandersetzung mit dem lombardischen Städtebund und dadurch auch phasenweise mit dem Papsttum zu den dominierenden Themen der Reichspo‐ litik. Während dieser Konflikte zwischen dem Reich und anderen Machthabern in Oberitalien wurde die Stadt Konstanz zwei Mal Unterzeichnungsort konflikt‐ lösender Dokumente, die, aus der Selbstbezeichnung der Quellen übernommen, einmal als Vertrag von 1153 (Hec est concordie) und Frieden von 1183 (Pacem itaque nostram) bezeichnet werden. 1 Im Zentrum dieses Aufsatzes steht der Vergleich zwischen beiden Dokumenten und ihrer Aushandlung zwischen den beteiligten Parteien. Beide Quellen werden erst knapp in ihrem Entstehungs‐ kontext verortet, dann erfolgt eine Rekonstruktion des Aushandlungsprozesses und der daran beteiligten Akteure, schließlich eine Darstellung der Unterzeich‐ nungen in Konstanz und abschließend eine Zusammenfassung. Der Weg zur Kaiserkrone Nach der Wahl Friedrichs zum deutschen König 1152 begannen zeitnah die Verhandlungen mit dem Papst, unter welchen Bedingungen eine Kaiserkrönung erfolgen sollte. Papst Eugen III. sah sich zu diesem Zeitpunkt mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, bei denen die Unterstützung des deutschen Königs einen strategischen Vorteil brachte. Zum einen befand sich der Papst seit 2 Zur Politik Eugens III. gegenüber der Stadt Rom vgl. D O R A N , John: Eugenius III and the Roman Commune, in: Fonnesberg-Schmidt, Iben (Hg.): Pope Eugenius III (1145-1153). The first Cistercian pope, Amsterdam 2018, S. 243-270, hier S. 245 ff. Zur Thematik aus Sicht des Reiches siehe J Ö R G , Christian: Unterstützung aus dem nordalpinen Reichsgebiet. Zur städtischen Romzugshilfe während des späten Mittelalters, in: Jörg, Christian/ Dartmann, Christoph: Der „Zug über Berge“ während des Mittelalters. Neue Perspektiven der Erforschung mittelalterlicher Romzüge (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 15) Wiesbaden 2014, S.-135-170, hier S.-138 ff. 3 Vgl. D E N D O R F E R , Jürgen: Konrad III. und Byzanz, in: Rueß, Karl-Heinz (Hg.): Die Staufer und Byzanz (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 33) Göppingen 2013, S. 58-73, hier S. 62 ff. Ebenso L I L I E , Ralph-Johannes: Manuel I. Komnenos und Friedrich I. Barbarossa. Die deutsche und die byzantinische Italienpolitik während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der neuen Literatur, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik 42 (1992) S.-157-170, hier S.-157 ff. fast einem Jahrzehnt im Konflikt mit den Einwohnern Roms unter der Führung des Arnold von Brescia, die zwar seine kirchliche Autorität anerkannten, aber seinem Anspruch auf weltliche Herrschaft den Aufbau einer Stadtrepublik entgegensetzten. 2 Papst Eugen musste Rom bereits 1146 verlassen und kehrte erst 1150 dank der Unterstützung König Rogers II. von Sizilien nach Rom zurück, wo die Situation weiterhin angespannt blieb. Zum anderen stellte die Dominanz Rogers II. in Süditalien ebenso eine Bedrohung des fragilen Kirchenstaates dar, nachdem dieser bereits 1139 den damaligen Papst Innozenz II. gefangen nahm, um die Anerkennung der Königswürde Siziliens durchzusetzen. Als dritter Faktor zeigte sich noch die Bedrohung durch vermehrte Angriffe des byzantinischen Reiches auf Städte in Italien durch die Flotten Kaiser Manuels I.. Dieser war durch eine persönliche Freundschaft zu König Konrad III., dem Vorgänger Barbarossas, und verschiedene Heiratsbündnisse mit dem Reich eng verbunden. 3 Aus Sicht des Papstes war eine Kooperation mit dem deutschen König als Ausgleich der Machtverhältnisse auf italienischem Boden erstrebens‐ wert. Verhandlungen in Rom Im Winter 1152/ 53 verweilten Gesandte des deutschen Königs in Rom und fungierten als Unterhändler mit der Kurie. Diese Delegation bestand aus den beiden Bischöfen Anselm von Havelberg, der bereits 1147 als päpstlicher Legat Eugens III. am Wendenkreuzzug teilgenommen hatte und Bischof Hermann von Konstanz, der schon unter König Konrad III. in der Reichspolitik aktiv eingebunden war und zuletzt 1151 in Rom um die Kaiserkrone Konrads ver‐ 60 Lukas-Daniel Barwitzki 4 Vgl. M A U R E R , Helmut: Die Konstanzer Bischöfe vom Ende des 6. Jahrhunderts bis 1206 (Germania Sacra 42,1) Berlin 2003, S.-313 ff. 5 Als Überblick über die Entstehung des Vertrages ist weiterhin massgeblich: E N ‐ G E L S , Odilo: Zum Konstanzer Vertrag von 1153, in: Hehl, Ernst-Dieter/ Seibert, Hu‐ bertus/ Staab, Franz (Hg): Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. Festschrift für Alfons Becker zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1987, S.-235-268, hier S.-338-ff. 6 Vgl. E N G E L S (wie Anm. 5) S.-240 ff. 7 A P P E L T (wie Anm. 1) S.-88. handelt hatte. 4 Ebenso waren drei Adlige Teil der Delegation, Graf Ulrich von Lenzburg, der ebenfalls unter Kaiser Lothar III. und König Konrad III. Erfahrungen in diplomatischen Missionen in Italien gemacht hatte und die beiden norditalienischen Grafen Guido Guerra und Guido von Biandrate, die ebenfalls schon vorher im Umfeld der deutschen Herrscher und auf Reichstagen bezeugt sind. 5 Als Ergebnis der Verhandlungen entstand ein Vorvertrag, in dem die wich‐ tigsten Aspekte kurz und klar dargelegt wurden. Zur Ratifizierung dieses Vertrages wurde der Hoftag in Konstanz für März 1153 angesetzt. Die For‐ schung geht davon aus, dass der Vorvertrag nicht von den Unterhändlern eigenständig formuliert wurde, sondern diese bereits Entwürfe aus der Hand Wibalds von Stablo und somit der königlichen Kanzlei mit sich führten. 6 Die diplomatische Mission des Winters 1152/ 53 stand somit unter einem klaren Auftrag: die Position des Königs gegenüber dem Papsttum und die Bereitschaft zur Unterstützung dessen im Tausch gegen die Kaiserkrone schnell und effi‐ zient umsetzen. Mit Blick darauf, dass der Vorvertrag vermutlich im Januar 1153 ausgestellt und binnen acht Wochen in Konstanz ratifiziert wurde, kann konstatiert werden, dass die Mission ein diplomatischer Erfolg war. Diese Geschwindigkeit und Effizienz zeigt sich auch in der Auswahl der Gesandten - alle samt erfahrene Reichspolitiker, die zuvor mit dem Papst in persönlichem Kontakt standen und schon verschiedene Missionen in Italien durchgeführt hatten. Der Einsatz professioneller Diplomaten sicherte König Friedrich I. eine zügige und erfolgreiche Umsetzung des geplanten Vorhabens. Der Vorvertrag ist als formales Bündnis auf Augenhöhe formuliert (Hec est forma concordie et conventionis inter dominum papam Eugenium et dominum regem Romanorum Fridericum) und beinhaltet zwei Abschnitte, die als Verspre‐ chen der Parteien untereinander aufgeführt werden, ausgedrückt durch die Verben promisit und promittet. 7 Der König verspricht, kein Bündnis mit Roger II. einzugehen ohne Zustimmung des Papstes und gleichzeitig den Papst bei der Inbesitznahme der Stadt Rom zu unterstützen und nicht zuzulassen, dass die Byzantiner Gebiete in Italien besetzen können. Der Papst verspricht dafür, Konstanz als Aushandlungsort der Italienpolitik Friedrich I. Barbarossas 61 8 A P P E L T (wie Anm. 1) S.-89. 9 Ebd., S.-83. 10 Vgl. A P P E L T (wie Anm. 1) S.-89. König Friedrich sine difficultate et contradictione […] in imperatorem coronabit. Ebenso verspricht der Papst seine Unterstützung gegen die Feinde des Reiches und dass er den Byzantinern seinerseits keine Gebiete in Italien übertreten wird. Den Abschluss des Vertrages bildet eine Bestätigungsformel, dass beide Parteien sine fraude et sine malo diesen Vertrag geschlossen haben und nicht ohne Zustimmung der anderen Partei verändern werden. 8 Der Vorvertrag aus Rom ist ein politisches Bündnis, bei dem beide Seiten ihre jeweiligen Ansprüche erfüllt sehen. König Friedrich I. wird die Kaiserwürde angetragen, sofern er den Papst bei der Einnahme Roms unterstützt, und beide Seiten garantieren kein Bündnis mit Byzanz einzugehen. Eine Ratifizierung des Vorvertrages und die öffentliche Verkündung im Rahmen eines Reichstages stand im Interesse aller Beteiligter, weshalb der Hoftag in Konstanz ausgerufen wurde. Der Hoftag in Konstanz 1153 Die Bischöfe von Konstanz und Havelberg reisten nach dem erfolgreichen Ende der Verhandlungen zu König Friedrich, in dessen Gefolge sie im Februar 1153 in Besancon nachweisbar sind. 9 Vermutlich zusammen mit dem königlichen Hofstaat erreichten sie dann schliesslich Konstanz, wo Graf Ulrich von Lenzburg ebenfalls wieder nachweisbar wird. Zur Unterzeichnung des Vertrages am 23. März waren namhafte Grössen des Reiches anwesend, von denen die meisten zum Hofstaat des Königs gehörten oder als Unterhändler des Vertrages tätig waren. Zu den in den Quellen genannten Personen gehörten neben den Erzbischöfen von Mainz und Köln, den Bischöfen von Konstanz, Havelberg, Basel, Speier, Worms, Augsburg, Como und Chur, die Äbte von Stablo und Reichenau, ebenso die Fürsten Welf von Spoleto, Hermann von Baden und die Grafen von Lenzburg. 10 Papst Eugen III. schickte zwei seiner Kardinäle, Bernhard von St. Clemens und Gregor von St. Angelus, mit Vollmachten nach Konstanz und empfahl diese Wibald von Stablo auch noch persönlich in einem Brief. Beide Kardinäle waren als Unterhändler bereits bei der Aushandlung des Vertrages anwesend, weitere Vertreter des Papstes scheinen in Konstanz nicht anwesend gewesen zu sein, zumindest finden sich keine Hinweise darauf in den Quellen. Die beiden Kardinäle finden sich dafür nicht nur als bevollmächtigte Unterzeichner 62 Lukas-Daniel Barwitzki 11 Vgl. A P P E L T (wie Anm. 1) S.-92. 12 A P P E L T (wie Anm. 1) S.-88. 13 Vgl. dazu die umfassendere Darstellung von H L A W I T S C H K A , Eduard: Weshalb war die Auflösung der Ehe Friedrich Barbarossas und Adela von Vohburg möglich? , in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 61 (2005) S.-506-536, hier S.-515 ff. des Vertrages, sondern auch als Zeugen in einer am selben Tag ausgestellten Urkunde des Königs mit Privilegien für das Kloster Bobbio. 11 Bemerkenswert ist, dass der vorverhandelte Vertrag aus Rom in Konstanz noch an einer entscheidenden Stelle angepasst wurde, bevor beide Seiten ihn unterzeichneten. Während in der Vorlage noch von dominum regem Romanorum Fridericum die Rede war, ist in der endgültigen Version bereits der Titel dominum Fridericum Romanorum imperatorem eingebaut. 12 Mit der vermutlich aus der redigierenden Hand Wibalds von Stablo stammenden Änderung wurde die Position des Königs noch einmal verstärkt. Dass dieser sich in einer von päpst‐ lichen Legaten ratifizierten Urkunde schon als Kaiser bezeichnete, obwohl die Kaiserkrönung selbst ein Bestandteil des Vertrages war, kann als Legitimierung des Anspruches Friedrichs auf die Kaiserkrone von Seiten des Papstes gedeutet werden. Neben dieser entscheidenden Änderung wurden in Konstanz noch andere Angelegenheiten zwischen Reich und Papsttum besprochen. Aus anderen Quellen lässt sich schließen, dass in Konstanz zudem über die Absetzung der Bischöfe von Minden, Hildesheim und Eichstätt durch den Papst verhandelt wurde, welche kurze Zeit danach erfolgte. Ebenso erfolgte durch Bischof Hermann von Konstanz ebenfalls im März 1153 die Annullierung der Ehe zwischen Friedrich I. Barbarossa und seiner Frau Adela von Vohburg, welche nicht ohne die Zustimmung der päpstlichen Legaten hätte erfolgen können. 13 Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass mit dem Vertrag von Konstanz und den Verhandlungen während des Reichstages die Grundlagen für die nachfolgende Italienpolitik während der Herrschaft Barbarossas nachhaltig gestärkt wurden, auch wenn die einzelnen Punkt so nie umgesetzt wurden. Zwar wurde Barbarossa 1155 in Rom von Hadrian IV., dem Nachfolger Eugens III., zum Kaiser gekrönt, doch konnte er weder die Stadt Rom einnehmen noch ein militärisches Gegengewicht zu den Normannen bilden. Der Papst handelte nun selbst einen Frieden mit Wilhelm von Sizilien aus und sowohl Kaiser als auch Papst sahen die jeweils andere Seite als brüchig gegenüber dem Vertrag von Konstanz. Konstanz als Aushandlungsort der Italienpolitik Friedrich I. Barbarossas 63 14 Vgl. D A R T M A N N , Christoph: Der Lombardenbund. Regionale Koordination und medi‐ terrane Bezüge im hochmittelalterlichen Oberitalien, in: Deigendesch, Roland/ Jörg, Christian: Städtebünde und städtische Außenpolitik. Träger, Instrumentarien und Konflikte während des hohen und späten Mittelalters (Stadt in der Geschichte 44) Ostfildern 2019, S.-47-66, hier besonders S.-47-53 und S.-63 ff. 15 Vgl. H A V E R K A M P , Alfred: Der Konstanzer Friede zwischen Kaiser und Lombardenbund (1183), in: Maurer, Helmut (Hg.): Kommunale Bündnisse Oberitaliens und Oberdeut‐ schlands im Vergleich (Vorträge und Forschungen 33) Sigmaringen 1987, S. 11-44, hier S.-13 ff. und D A R T M A N N (wie Anm. 14), S.-55 ff. 16 Die komplexe politische Situation aus Sicht Papst Alexanders ist in der aktuellen Forschung ausgiebig dargestellt worden. Vgl. J O H R E N D T , Jochen: The Empire and the Schism, in: Clarke Peter/ Duggan, Anne: Pope Alexander III (1159-81). The Art of Survival, Farnham 2012, S.-99-126, hier S.-99 ff. Der Krieg mit dem lombardischen Städtebund Im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts stellte der Lombardenbund das wahr‐ scheinlich mächtigste Städtebündnis Europas dar. Mit einer variierenden Anzahl von ein bis zwei Dutzend norditalienischen Städten, zahlreichen Hochadligen der Region und der regelmäßigen Unterstützung des Papstes, des normanni‐ schen Königs und zum Teil auch des byzantinischen Kaisers, handelte es sich um ein machtpolitisch einmaliges Konstrukt. 14 In den wenigen Jahren, in denen der Bund aktiv die Politik Europas mitbestimmte, handelte es sich niemals um ein geschlossenes Konstrukt mit festen Abläufen und Hierarchien, sondern zeitgleich immer um eine innere Auseinandersetzung zwischen den Interessen der verschiedenen Städten. Besonders die Konflikte zwischen Cremona und Mailand um die Vormachtstellung verursachten immer wieder Risse in der gemeinsamen Politik des Bundes. 15 Die Gründung des Bundes im Herbst 1167 kam für Friedrich Barbarossa zu einem politisch ungünstigen Zeitpunkt. Seit 1160 befand sich die lateinische Kirche im Schisma zwischen dem von der Mehrheit der Kardinäle erwählten Alexander III. und dem kaiserfreundlichen Gegenpapst Viktor IV., während zeitgleich die politische Spannung zwischen dem Reich und den norditalieni‐ schen Städten eskalierte. Dies führte zur Zerstörung Mailands durch den Kaiser 1162 und zur Gründung des Veroneser Bundes 1164 als Vorgänger des Lombard‐ enbundes. Nach dem Tod des Gegenpapstes Victor IV. setzte die kaiserliche Seite Paschalis III. ein, für den Rom erobert werden sollte. Dies gelang auch im Sommer 1167 im Zuge des vierten Italienfeldzuges Barbarossas, jedoch fielen zahlreiche führende Adlige und Bischöfe des Reiches und ein großer Anteil der am Feldzug beteiligten Ritter anschließend einer Epedemie zum Opfer, sodass Barbarossa überstürzt Italien verlassen musste. 16 Als Folge dieser politischen Veränderung und der überraschend stark geschwächten Position des Kaisers in 64 Lukas-Daniel Barwitzki 17 Vgl. C O L E M A N , Edward: “A city to be built for the glory of God, St Peter, and the whole of Lombardy”. Alexander III, Alessandria and the Lombard League in Contemporary Sources, in: Clarke Peter/ Duggan, Anne: Pope Alexander III (1159-81). The Art of Survival, Farnham 2012, S.-127-152, hier S.-135 ff. 18 Die Begegnung zwischen Papst und Kaiser wurde in der Historiographie wie in der Geschichtswissenschaft ausführlich untersucht. Für den neuesten Stand vgl. J O H R E N D T , Jochen: Ein Kuss ist ein Kuss? Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig (1177), in: Chihaia, Matei/ Eckert, Georg (Hg.): Kolossale Miniaturen. Festschrift Gerrit Walther, Münster 2019, S. 345-351, hier S. 348 ff. Ebenso G Ö R I C H , Knut: Ergebnis und Rezeption. Friedrich Barbarossa demütigt sich vor Papst Alexander III. in Venedig 1177, in: Kamrad, Klaus-Jürgen (Hg.): Unmögliche Geschichte(n)? Kaiser Friedrich I. Barbarossa und die Reformation. Symposium im Residenzschloss Altenburg vom 15.-16. Dezember 2017 (Schriftenreihe Barbarossa-Stiftung 2) Altenburg 2019, S.-36-45, hier S.-37 ff. Italien, schlossen sich der Veroneser Bund und andere Städte schließlich zum Lombardenbund zusammen. Während Friedrich I. daraufhin die folgenden Jahre nördlich der Alpen verbrachte, um seine Herrschaft im Reich zu stabilisieren, bauten Alexander III. und der Lombardenbund systematisch den Widerstand gegen das Reich auf und gründeten die Festungsstadt Alessandria. Der normannische König, selbst ein Lehnsmann Alexanders III., schloss zeitgleich unter Vermittlung des Papstes ein Bündnis mit der Republik Venedig gegen Byzanz. 17 1174 brach Barbarossa schließlich zu seinem fünften Italienfeldzug auf und belagerte Alessandria mehrere Monate erfolglos, was 1175 zu diplomatischen Gesprächen in Montebello führte. Hier konnte jedoch aufgrund der inneren Spannungen des Lombardenbundes, besonders zwischen den Städten Mailand und Cremona, keine Einigung erzielt werden und Cremona schied defacto aus dem Lombard‐ enbund aus. Unter der Führung Mailands verschärfte sich der Konflikt erneut militärisch und das kaiserliche Heer wurde 1176 bei der Schlacht von Legnano besiegt, wobei beide Seiten hohe Verluste erlitten. Der Frieden von Venedig Die Situation in Norditalien liess sich 1176 nicht mehr militärisch klären, weshalb erneut diplomatische Verhandlungen aufgenommen wurden. Während eines ersten Austauschs in Anagni wurde ein Vorfrieden geschlossen, der zu‐ mindest die kriegerischen Handlungen beendete, aber mehrere Konfliktpunkte bewusst ausklammerte. Auf Einladung des Dogen von Venedig kam es dort 1177 sowohl zu langwierigen Verhandlungen zwischen den Abgesandten von Papst, Kaiser und Städtebund sowie auch letztlich zu einer persönlichen Begegnung der beiden Potentaten Friedrich I. und Alexander III. 18 Konstanz als Aushandlungsort der Italienpolitik Friedrich I. Barbarossas 65 19 Zu den Vorbereitungen des Friedens von Venedig und den daran beteiligten Diplomaten siehe G E O R G I , Wolfgang/ W I C H M A N N , Christian: Philipp und Konrad: Die „Friedensma‐ cher“ von Venedig? , in: Weinfurter, Stefan (Hg.): Stauferreich im Wandel. Ordnungs‐ vorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas (Mittelalter-Forschungen 9) Stuttgart 2002, S. 41-84, hier S. 43 ff. Eine gute Übersicht über die staufische Politik gegenüber den Städten bietet D A R T M A N N , Christoph: Reichsherrschaft? Zum Eingreifen der Staufer in die regionale Politik des kommunalen Italiens, in: Jörg, Christian/ Dartmann, Christoph: Der „Zug über Berge“ während des Mittelalters. Neue Perspektiven der Erforschung mittelalterlicher Romzüge (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 15) Wiesbaden 2014, S.-111-134, hier S.-112 ff. 20 Vergleiche dazu: W E I N F U R T E R , Stefan: Venedig 1177. Wende der Barbarossa-Zeit? Zur Einführung, in: Ders. (Hg.): Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas (Mittelalter-Forschungen 9) Stuttgart 2002, S.-9-25, hier S.-20-ff. Zwischen dem Vorfrieden in Anagni im Herbst 1176 und dem Abschluss des Friedens von Venedig im Juli 1177 kam es zu zahlreichen Veränderungen der diplomatischen Positionen aller Beteiligter. Friedrich I. verbrachte den Winter 1176/ 77 in Cremona, wo er der Stadt weitere Zugeständnisse machte, um ihr Gegengewicht zu Mailand auszubauen. Ebenso zeigten sich in den einzelnen Verhandlungen die Städte Pavia und Como, die innerhalb des Bundes ebenfalls eine Stärkung Cremonas unterstützten, bereit noch weiter auf den Kaiser zuzugehen. 19 Den Diplomaten des Reiches gelang es so, den inneren Konflikt des Lombardenbundes zu nutzen, um die Position des Kaisers in den nachfolgenden Verhandlungen weiter zu stärken. Neben den Vertretern der verschiedenen Städte des Lombardenbundes traten in Venedig zudem Abgesandte des normannischen Königs in Erscheinung, die ihrerseits an der Stabilisierung der politischen Situation interessiert waren und einen gesonderten Friedensschluss zwischen dem Reich und Sizilien auf einer Dauer von 15 Jahren erreichten. Zwischen der Republik Venedig und dem Reich wurde ebenfalls ein lukratives Bündnis geschlossen, der pactum cum Venetis, sodass sich die Position des Kaisers in Italien nachhaltig verbesserte; 20 der Ausgleich mit den „Nebenschauplätzen“ in Sizilien und Venedig entspannte auch die politische Situation in Norditalien. Als Ergebnis der Verhandlungen in Venedig erkannten Papst und Kaiser gegenseitig ihre Rechtmäßigkeit an, der Kaiser unterwarf sich dem Papst in kirchlichen Dingen und dafür unterstellten sich die lombardischen Städte erneut der Herrschaft des Reiches. Die pax, also der Waffenstillstand von Venedig, wurden vorerst auf sechs Jahre geschlossen. Vor und während der Verhandlungen in Venedig konnten binnen eines halben Jahres nachhaltige Veränderungen der politischen Struktur Norditaliens auf diplomatischem Wege erreicht werden, die militärisch weder möglich noch sinnvoll gewesen wären. 66 Lukas-Daniel Barwitzki 21 Vgl. H A V E R K A M P (wie Anm. 15), S.-28-ff. und auch C O L E M A N (wie Anm. 16), S.-140 ff. 22 Vgl. H A V E R K A M P (wie Anm. 15), S.-36 f. 23 Vgl. ebd., S.-23 f. Binnen zehn Jahren zwischen 1167 und 1177 wandelte sich das päpstlich unterstütze Städtebündnis gegen den Kaiser zu einem ausdifferenzierteren Geflecht unterschiedlicher Interessen, die nicht grundsätzlich gegen den Kaiser gerichtet waren. Zwischen den Friedensschlüssen Noch vor Ablauf der sechs Jahre dauernden Gültigkeit des Friedens von Ve‐ nedig entwickelte sich die politische Situation weiter. Besonders innerhalb des Lombardenbundes kam es vermehrt zu offenen Konflikten zwischen den Städten, wie etwa 1180 zwischen Padua und Treviso oder 1182 auch zwischen Parma und Piacenza. Nach Überwindung des Schismas gab es für Alexander III. keinen Grund mehr, in Italien gegen den Kaiser zu agieren, im Gegenteil, er protestierte scharf gegen die von den lombardischen Städten erlassenen Steuern auf Kirchengüter und die geplanten Einschränkungen der Rechte der dortigen Bischöfe. 21 Die umstrittene Stellung der Stadt Alessandria, einst als Bollwerk gegen den Kaiser errichtet, wurde bereits im Frühjahr 1183 durch einen in Nürnberg geschlossenen Vertrag zwischen dem Kaiser und dem Lombardenbund geklärt. Die Stadt wurde in Caesarea umbenannt und formal als Reichsstadt anerkannt, durfte aber nicht dem Lombardenbund beitreten. Zeitgleich gab es verschiedene Verhandlungen über die Höhe der Abgaben der lombardischen Städte an den Kaiser und die dafür verliehenen Regalien, was im April 1183 im Vertrag von Pia‐ cenza zusammengefasst wurde, der in den Quellen ebenfalls als pax bezeichnet wird. 22 Als Akteure der kaiserlichen Seite traten während der Verhandlungen Bischof Wilhelm von Asti, Markgraf Heinrich von Savona und der Mönch Dietrich in den Vordergrund, die bereits an anderen Verhandlungen mit lombar‐ dischen Städten teilgenommen hatten und so ihre Expertise einbrachten. 23 Zur Ratifizierung dieses Friedensschlusses wurden Zeit und Ort auf das Pfingstfest in Konstanz festgelegt, wo der Kaiser bereits päpstliche Legaten erwartete. Der Hoftag von Konstanz Ziel des Hoftages von Konstanz war die größtmögliche performative Umsetzung des beschlossenen Friedensschlusses. Neben Kaiser Friedrich beteiligten sich ebenfalls seine Söhne, König Heinrich und Herzog Friedrich, am öffentlichen Konstanz als Aushandlungsort der Italienpolitik Friedrich I. Barbarossas 67 24 Vgl. A P P E L T (wie Anm. 1), S. 88. Vgl. Ebenso M A U R E R , Helmut: Friedrich Barbarossa, die lombardische Liga und Konstanz als Stätte des Friedens vom Jahre 1183, in: Konstanz zur Zeit der Staufer, herausgegeben vom Rosgarten Museum Konstanz, Konstanz 1983, S.-5-26, hier S.-10 ff. 25 Vgl. H A V E R K A M P (wie Anm. 15) S.-37 ff. 26 Vgl. D A R T M A N N (wie Anm. 14) S.-51 ff. Eid gegenüber den Vertretern der zwei Dutzend italienischen Städte, der wahr‐ scheinlich größten diplomatischen Delegation italienischer Städte nördlich der Alpen während des Hochmittelalters. Die Liste der bei der Eidesleistung anwe‐ senden Reichsgrößen von 1183 übersteigt jene von 1153 um einiges. Neben dem Erzbischof von Mainz waren die Bischöfe von Münster, Metz, Como und Asti, die gewählten Bischöfe von Konstanz und Chur, der Abt der Reichenau, sowie die Herzöge von Schwaben, Sachsen, Bayern, Spoleto, Zähringen, die Markgrafen von Andechs, Istrien, Verona und Baden, sowie zahlreiche Grafen, darunter mit denen von Sigmaringen, Hohenberg, Helfenstein, Zollern, Kilchberg und Kyburg eine beachtliche Anzahl der Adligen des Südwestens anwesend. 24 Der Hoftag in Konstanz dauerte über drei Wochen, da in dieser Zeit weitere diplomatische Fragen besprochen wurden, die im Vertrag von Piacenza noch keine Antwort gefunden hatten. Im Rahmen des Hoftages und unter dem Zeichen der groß zelebrierten Friedenseide zwischen Reich und Norditalien konnte der Kaiser mit den Legaten des Papstes Lucius III. zudem noch offene Fragen zum Verhältnis zwischen Papsttum und Reich in Italien besprechen und mit den anwesenden Kardinälen Übereinkünfte treffen. 25 Der Stadt Mailand war es in den Vorverhandlungen gelungen, sich als Verbündete des Kaisers zu präsentieren und Privilegien auszuhandeln, die die Position der Stadt gegenüber der Rivalin Cremona stärkten. Da der Kaiser im Vertrag zusicherte, in die inneren Konflikte des Bundes nicht einzugreifen, konnte Mailand seine Vormachtstellung so zurückgewinnen. Im Zentrum der Verhandlungen für die endgültige Fassung stand die Frage nach der Anzahl der Mitglieder des Lombardenbundes. Mit der Festlegung der Zugehörigkeit zum Bund und somit auch zum stabilen rechtlichen Verhältnis mit dem Kaiser wurden realpolitische Tatsachen vor Ort ausgehandelt. Kleinere Städte, die sich im Einflussbereich von Cremona, Mailand oder Como befanden, wurden ebenso ausgeschlossen, wie das vom Papsttum beanspruchte Ferrara. 26 Für die führenden Akteure des Lombardenbundes wurden so innerhalb des rechtlichen Schutzes des Reiches neue Freiräume für die Territorialpolitik geschaffen, während der Kaiser sich der Unterstützung der verbliebenen siebzehn Städte des Bündnisses versichern konnte. 68 Lukas-Daniel Barwitzki 27 A P P E L T (wie Anm. 1) S. 72. Die symbolischen Aspekte des Eides sind dargestellt bei G Ö R I C H , Knut: Frieden schließen und Rang inszenieren. Friedrich I. Barbarossa in Venedig 1177 und Konstanz 1183, in: Plassmann, Alheydis/ Büschken, Dominik (Hg.): Staufen and Plantagenets. Two empires in comparison (Studien zu Macht und Herrschaft 1) Göttingen 2018, S.-19-52, hier S.-21-25 und S.-39-45. 28 A P P E L T (wie Anm. 1) S.-76. 29 Vgl. K Ö L Z E R , Theo: Kaiserin Konstanze, Gemahlin Heinrichs VI., in: Rueß, Karl- Heinz (Hg.): Frauen der Staufer (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 25) Göppingen 2006, S. 59-73, hier S. 60 ff. und ebenso W E L L E R , Tobias (Hg.): Staufi‐ sche Heiratspolitik im europäischen Kontext, in: Wieczorek, Alfried/ Schneidmüller, Bernd/ Weinfurter, Stefan (Hgg.): Die Staufer in Italien. Teilband 1, Darmstadt 2010, S.-97-106. In der auf den 25. Juni 1183 datierten Urkunde schwören einerseits feierlich Kaiser Friedrich und sein Sohn König Heinrich die Einhaltung der nachfol‐ genden Artikel, die als pacem itaque nostram, quam eis clementer indultam concessimus […] hic est tenor et series eingeleitet werden. 27 In den anschließenden 34 Absätzen folgen die einzelnen Bestimmungen, bevor die Unterhändler Wil‐ helm von Asti, Heinrich von Savona, der Mönch Dietrich und der Kämmerer Rudolf als mediatores pacis genannt werden. Es folgt die Liste der Städte des Lombardenbundes, für die das Vertrag gilt und als Zeugen des pacem et concordiam darauf die beachtliche Zeugenliste der Reichsgrößen, die dem Friedensschluss in Konstanz beiwohnten und ebenso nach Städten geordnet die Abgesandten Norditaliens, wobei Mailand hier an erster Stelle genannt und somit als wichtigster Bündnispartner hervorgehoben wird. 28 Der in Konstanz finalisierte und beschlossene Frieden hatte weitreichende Folgen für die Beziehung zwischen Norditalien und dem Reich für das restliche Hochmittelalter. Die Vormachtstellung Mailands im Bund und die Unterstüt‐ zung durch den Kaiser führten zum Bruch mit Cremona und dem anschlie‐ ßenden sechsten Italienzug Barbarossas, der jedoch ohne ein kaiserliches Heer stattfand. 1186 heiratete Heinrich, der Sohn Barbarossas, Konstanze, die Tochter des normannischen Königs Roger II., wobei Mailand als Ort der Vermählung gewählt wurde. 29 Die großteils stabile politische Lage in Norditalien als Konse‐ quenz des Friedens von Konstanz ermöglichte diesen symbolträchtigen Akt. Konstanz als Aushandlungsort Während der fast vierzigjährigen Herrschaft Friedrichs I. Barbarossas wurde Konstanz zweimal zum zentralen Verhandlungsort für weitreichende politische Entscheidungen zwischen dem Reich und Norditalien. 1153 verhandelte ein junger König mit dem Papst über die Kaiserkrone, 1183 ein über sechzigjähriger Konstanz als Aushandlungsort der Italienpolitik Friedrich I. Barbarossas 69 30 Vgl. K I R C H G Ä S S N E R , Bernhard: Handel und Verkehr zwischen Konstanz und Oberitalien (insbesondere in staufischer Zeit), in: Konstanz zur Zeit der Staufer, herausgegeben vom Rosgarten Museum Konstanz, Konstanz 1983, S.-27-42, hier S.-27 ff. Kaiser mit zwei Dutzend Städten um die langfristige Sicherung der Stabilität in Norditalien. Während Konstanz in den Vorverhandlungen zum Vertrag von 1153 noch eine prominentere Rolle spielte, da Bischof Hermann zu den führenden Diplomaten des Reiches gehörte und auch weit mehr lokale Adlige beim Abschluss in Konstanz anzutreffen waren, zeigt sich für den Frieden von 1183 ein stärkerer Fokus auf den hochadligen Zeugen und den Vertretern der Städte. Auch ohne die aktive Involvierung des Bischofs von Konstanz 1183 zeigte sich die Stadt prädestiniert als Versammlungsort für einen Austausch mit den italienischen Städten. Die päpstliche Delegation von 1153 ist mit nur zwei namentlich genannten Kardinälen und wenigen Begleitern recht überschaubar, während die Vertretung der norditalienischen Städte 1183 allein über sechzig namentlich genannte Personen umfasste. Die mehrwöchige Anwesenheit der lombardischen Elite in Konstanz und ihr Einfluss auf den im Hochmittelalter aufblühenden Handel über die Alpen lässt sich in den zeitgenössischen Quellen nicht rekonstruieren. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Hoftag 1183 auch eine Chance für die Knüpfung langfristiger Handelsbeziehung gewesen sein durfte, die das Verhältnis zwischen Konstanz und Norditalien nachhaltig prägten. 30 Die Vorbereitung für den Vertrag zwischen König und Papst wurden in einer eiligen Reise binnen weniger Wochen getroffen, der Friede zwischen dem Kaiser und dem Städtebund nach aufwändiger Vorbereitung und nach aktiven politischen Bemühungen über mehreren Jahren hinweg. Infolgedessen war der Hoftag 1153 ein pragmatisches Vorgehen des Reisekönigtums, bei dem die geographische Nähe und der Zeitdruck zusammenspielten. Im Gegensatz dazu handelte es sich beim Hoftag von 1183 um eine gut vorbereitete Inszenierung der Kaiserherrschaft und der Macht des Reiches. Der Friede von Konstanz ermöglichte die Ehe zwischen dem späteren Kaiser Heinrich VI. und Konstanze von Sizilien, den Eltern des späteren Kaisers Friedrich II. Die bedeutende Rolle der Stadt Konstanz für die Reichspolitik zeigte sich erneut fast 40 Jahre nach dem Friedensschluss im Kontext des Doppelkönigtums zwischen Friedrich II. und Otto IV.. 1212 erreichte Friedrich II., erstmal den Norden des Reiches und wurde in Konstanz von Bischof Konrad feierlich empfangen. Die Unterstützung der Stadt Konstanz ermöglichte es dem aus Italien stammenden König, die Herrschaft über das Reich zu erlangen. 70 Lukas-Daniel Barwitzki Gebaut auf Initiative italienischer Kaufleute Das Konstanzer Kaufhaus, Ende des 14.-Jahrhunderts errichtet und heute Konzil genannt Jürgen Klöckler Nähert man sich bis heute mit dem Schiff vom Obersee aus der Stadt Konstanz, beherrscht unzweifelhaft das Kaufhaus, heute Konzil genannt, durch seine exponierte und vorgeschobene Lage sowie seine schiere Größe die Silhouette der ehemaligen Bischofsbzw. Reichsstadt. Nach Betreten städtischen Bodens am Hafen wird man schmerzhaft beim Gang in die Altstadt die Trennung des mächtigen Gebäudes von der übrigen Siedlungsstruktur durch Eisenbahn und Straße empfingen, die ab den frühen 1860er Jahren erfolgte. Man fragt sich fast zwangsläufig beim Anblick des dominanten Gebäudes: wozu und wann wurde dieses Zeugnis offensichtlicher kommunaler Größe und ausgeprägten Bürgerstolzes errichtet? Abb. 1: Blick vom Münsterturm auf den Hafen und das Kaufhaus, heute Konzil genannt, 1999 (StadtA KN Z1.3304) 1 G O T H E I N , Eberhard: Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften. Erster Band: Städte und Gewerbegeschichte, Straßburg 1892, S.-521. 2 M A U R E R , Helmut: Das Konstanzer Kaufhaus im Mittelalter, in: Rosgartenmuseum Konstanz/ Brunhild Gonschor (Hg.): Konstanz in alten Ansichten. Teil 2: Kaufhaus und Hafen, Konstanz 1988, S.-11-15, hier S.-11. 3 S C H U L T E , Aloys: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluß von Venedig. I. Band: Darstellung, Leipzig 1900, S.-618. Der Konstanzer Handel im hohen und späten Mittelalter Zweifellos war der Leinwandhandel die Grundlage des Konstanzer Handels im 14. und 15. Jahrhundert. Die tela di Costanza genoss weithin Ansehen, besonders im Mittelmeerraum. (Vgl. dazu den Beitrag von Simon Götz in diesem Band). Das Garn zur Konstanzer Leinwandproduktion wurde insbesondere aus dem Bregenzer Wald, dem Rheintal und dem Thurgau bezogen, aber auch aus dem Hegau und Linzgau. Das dort produzierte Rohmaterial wurde als tauglich für Konstanzer Leinen befunden. 1 Mutmaßlich gab es freilich damals noch immer eine starke Leinweberei im gesamten Bodenseeraum, also auch nördlich des Sees. Am Bodensee war Konstanz unbestritten das Zentrum der Leinwand. Die ländliche Bevölkerung besorgte das Spinnen des Flachs, das fertige Garn wurde dann zum Walken, Färben und Bleichen in die Stadt geliefert. 2 Die Konstanzer Kaufleute vertrieben schließlich das fertige Produkt - eben jene tela di Costanza - in die ganze damals bekannte Welt, konkret nach Oberitalien, Spanien, Nordafrika und in die Levante. Diesen Handel nahmen die Kaufleute insbesondere von Genua aus vor. Aber auch auf den Messen in der Champagne waren für die Kaufleute von Bedeutung, wo sie über insgesamt vier eigene Kaufhäuser in Lagny, Bar-sur-Aube, Troyes und Provins verfügten. Doch - laut Aloys Schulte - lag der Schwerpunkt des Konstanzer Handels eindeutig in Richtung Mailand und von dort weiter über Genua nach Spanien. 3 Von daher war in Konstanz allgemein bekannt, welch‘ wichtige Investition ein großes Kaufhaus für den Fernhandel darstellte. Fernhandel über die Alpen Im 14. Jahrhundert bestimmte insbesondere die Stadt Mailand den transalpinen Handel, auf den auch Konstanz angewiesen war. Da Mailand in jenen Jahren mit Habsburg verbündet war, konnte die seit Mitte des 13. Jahrhunderts geöffnete Route über den Gotthardpass infolge der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Eidgenossen und Habsburgern von den Mailänder Kaufleute nicht 72 Jürgen Klöckler 4 K I N G , Stefan: Das „Konzil“ in Konstanz. Vom Kaufhaus zur Stadthalle, in: Denkmal‐ pflege in Baden-Württemberg. Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege 44 (2015) Heft 2, S.-92-97. 5 Das Konstanzer Kaufhaus. Ein Beitrag zu seiner mittelalterlichen Rechtsgeschichte. I. Darstellung von Heinz K I M M I G II. Quellen bearbeitet von Heinz K I M M I G und Peter R Ü S T E R (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, VI) Lindau 1954, S.-21. 6 W I E L A N D T , Fritz: Das Konstanzer Kaufhaus und sein Erbauer Meister Heinrich Arnold, in: Das Bodenseebuch Zwanzigster Jahrgang 1933, Lindau 1933, S.-23. 7 Rudolf Mang (oder auch Mag bzw. Maug) war Notar. Zur Biographie: W O L F F , Sandra: Die „Konstanzer Chronik“ Gebhart Dachers. „By des Byschoffs zyten volgiengen disz nachgeschriben ding und sachen …“ Codex Sangallensis 646: Edition und Kommentar (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, XL) Ostfildern 2008, S.-284 Anm. 89. mehr passiert werden. 4 Um den Fernhandel trotzdem aufrecht zu erhalten, musste im Folgenden verstärkt die Bündner Pässe, besonders der Septimerpass in Graubünden, befahrbar gemacht werden. Zu diesem Zweck kundschaftete im Sommer 1386 eine Mailänder Delegation den Weg über die Alpen aus. Denn der Transport der deutschen Leinen nach Süden und im Gegenzug der Transport italienischer Erzeugnisse nach Norden musste vor allem sicher und verlässlich sein. Die neue Handelsroute führte zukünftig von Mailand über den Septimerpass ins Rheintal und ans Bodenseeufer. Von dort aus ging es per Schiff nach - Konstanz, nämlich genau dorthin, wo der Rhein aus dem Bodensee ausfließt und als Seerhein bezeichnet wird. Reichlich unerwartet kam die Stadt somit an einer neuen und zudem wichtigen Handelsroute von Oberitalien nach Deutschland zu liegen. Offensichtlich war die Stadt darauf in keiner Weise vorbereitet, denn es fehlte ein am Ufer gelegenes, geräumiges Stapel- oder Kaufhaus, um fremde Waren bis zum Weitertransport einlagern zu können. Der Anstoß zum Bau eines geräumigen Kaufhauses kam von außen, wobei erwähnt werden muss, dass es im Stadtgebiet mindestens ein Vorgängerbau gegeben haben muss: Das Haus zum Leoparden (Inselgasse 9) in der Niederburg, „dicht an der Einmündung der von der Rheinbrücke herkommenden Bruck‐ gasse“ 5 . Doch liegen von diesem und weiteren möglichen Vorgängerbauten kaum verwertbare archivalische Quellen vor. In der Dacher’schen Chronik, die freilich angesichts der „bekannten Geschwätzigkeit des Chronisten“ 6 als proble‐ matisch zu betrachten ist, ist zu den mutmaßlich insgesamt vier Kaufhäusern der Stadt folgende Bemerkung festgehalten: „Do was das erst do zemal, das da yetz haist zu dem Leebart [=Leopard] in Niderburg, das an dem gelben schauff und yetz Rudolff magen 7 ist. Do was d[a]z ander koffhusz Gebaut auf Initiative italienischer Kaufleute 73 8 Franziskaner-Mönche. 9 Ulrich Schilter war Konstanzer Patrizier. 10 Rudolf Muntprat, Sohn einer aus Italien eingewanderten Familie, war Konstanzer Patrizier und Mitglied der Ravensburger Handelsgesellschaft. 11 Der am Fischmarkt gelegene Salmansweiler Hof bestand vom 13. Jahrhundert bis zum Abbruch 1865. 12 W O L F F (wie Anm. 7) S.-284 f. 13 Vgl. dazu weiter: K L Ö C K L E R , Jürgen/ R Ö B E R , Ralph: Zur Entwicklung des Konstanzer Marktwesens im Mittelalter, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 34 (2006) S.-249-272 14 N A G E L , Gerhard: Das mittelalterliche Kaufhaus und seine Stellung in der Stadt. Eine baugeschichtliche Untersuchung an südwestdeutschen Beispielen, Berlin 1971, S.-131. 15 S C H U L T E (wie Anm. 3) S.-618. by den Barfüsen 8 das husz, das ulrichen schilters 9 gewesen und yetz Rudolffs Munt‐ prachtz 10 ist an Brudergassen. Das drytt koffhusz was d[a]z undrest grosz stainhus in salmenswyler hoff 11 . D[a]z vierd ist d[a]z grosz stainhusz, das yetz an dem see stat, und ward das selb vierd koffhusz angefangen zu buend do ma von der gepurrt cristi zalt tusend drühundert achtig und acht jar.“ 12 Doch wie sicher diese Überlieferung auch immer ist, jedenfalls gibt Dacher die prinzipielle Verlagerung des Marktschwerpunkts 13 der Stadt Konstanz im Mittelalter insgesamt korrekt wieder: Er wanderte nämlich von der Tulengasse, über St. Stephan und dem Obermarkt schließlich zum Fischmarkt, wo ab 1388 das neue Kaufhaus errichtet wurde. 14 Oder anders ausgedrückt: Es dürfen als konkrete Standorte der mutmaßlichen Vorgängerbauten des Kaufhauses gelten erstens das Haus zum Leoparden in der Inselgasse 5, zweitens ein abgegangenes Gebäude nahe des Franziskanerklosters im Westen der Stadtmauer bei der Pfarr- und Stiftskirche St. Stephan, drittens der Salmannsweiler Hof als dem Klosterhof der Zisterzienserabtei Salem, bis zum Abbruch im 19. Jahrhundert gelegen zwischen Salmannsweilergasse, Münzgasse und Hohenhausgasse, und schließlich viertens das neue Kaufhaus am See als dem nach dieser Zählung vierten Stapelhaus. Betrachten wir die unmittelbare Vorgeschichte des Baus des neuen Kauf‐ hauses am See. Bereits seit 1382 lebte ein „Hänsli von Mailan“ in Konstanz, der auch mehrfach im Rat auftaucht. 15 Vielleicht liefen über ihn die Kontakte nach Mailand. Jedenfalls sollte im Jahr 1386 eine aus zwei Kaufmännern bestehende Mailänder Gesandtschaft die Stadt erreichen; man kann unumwunden von einer oberitalienischen Handelsdelegation sprechen. Ziel der Mission war die Schaffung einer geeigneten Infrastruktur für einen neuen Handelsweg von Italien über die Alpen. Gespräche mit dem Rat der Stadt wurden abgehalten, deren Inhalt sich ausschließlich um die Handelsbeziehungen drehte. So fasste 74 Jürgen Klöckler 16 Welschen. 17 StadtA Konstanz B I Ratsbuch 1376/ 91, S.-144. 18 K I M M I G , Heinz: Das Kaufhaus zu Konstanz. Ein Beitrag zu seiner mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Diss. iur. Freiburg [1950], S.-20. 19 Diese Bauinschrift ist bis heute über dem südlichen Tor des Konzilgebäudes zu lesen. Darüber das Stadtwappen (ohne den erst 1417 verliehenen Blutzagel) und links und rechts ergänzt um Gedenkinschriften an die hier stattgefundene Papstwahl Martins V. (in Latein und Deutsch). 20 M A R M O R , J[ohann]: Das Kaufhaus in Konstanz und die darin abgehaltene Papstwahl, in: Schrr VG Bodensee 3 (1872) S.-43. 21 B L E C K M A N N , Caroline/ J A N S E N , Michaela: Bauen, gebaut abgerissen. Die bauliche Ent‐ wicklung am Konstanzer Konzil, in: Schrr VG Bodensee 131 (2013) S.-3-31. der Rat bereits am 1. Februar 1387 den Beschluss, den der Ratsschreiber Johann Richental, der Vater des berühmten Konzilschronisten, in das Ratsbuch eintrug unter dem Stichwort: „Aeni Gred“. Johann Richental hielt folgendes fest: „Am zinstag vor der Lichtmisse do erkand sich der Groß Rat, daz man ain hus machen sol, darinne man den Walhen 16 von Mailan und anderen frömden lüten ir gut inne besorge und behalt. Und sol daz nit abgan“. 17 Der Konstanzer Rat handelte somit sehr schnell, indem er den Bau eines Kaufhauses beschloss, das hier am Bodensee - wie als Überschrift im Protokoll vermerkt - auch Gred oder Gredhaus genannt wurde, nach dem Lateinischen gradus, die Staffel oder die Stufe benannt. Denn am Bodensee führten wegen des zu den je nach Jahreszeit unterschiedlichen Wasserständen Stufen zu den Gredhäusern. Das erleichterte das Be- und Entladen der Waren erheblich, denn auf den Stufen wurden je nach Wasserstand ein Brettersteg auf das Schiff gelegt. 18 Eine Bauinschrift am Gebäude selbst, die 1388 angebracht wurde, zeugt vom schnellen Beginn der Bauarbeiten: „anno domini m ccc lxxx viii do ward dis koffhus an gevangen ze buwend“ 19 . Über den Bau an sich wissen wir nur sehr wenig: Nach dem Chronisten Schulthaiß wurde der Bau im September 1388 begonnen, im folgenden Jahr wurde es unter dem Oberbaumeister Gerwig Blarer zu großen Teilen mit Ziegeln eingedeckt. Diese Dacheindeckungsarbeiten wurden im Jahr 1390 schließlich unter dem Oberbaumeister Jakob von Tettikoven vollendet. 20 Somit dürfte das Gebäude ab 1391 seiner Nutzung zugeführt worden sein. Im Vorfeld des Kon‐ ziljubiläums 2014 bis 2018 wurden archäologische Grabungen am Fundament (nördlicher Kaufhausvorplatz) durchgeführt, deren Ergebnisse publiziert sind. 21 Dort ist in den folgenden Jahrzehnten baulich sehr viel mehr passiert, als es die schriftlichen Quellen im Stadtarchiv verzeichnen. Gebaut auf Initiative italienischer Kaufleute 75 22 K I N G (wie Anm. 4) S.-94. 23 Vgl. dazu: W I E L A N D T (wie Anm. 6) S.-23-28. Abb. 2: Das Kaufhaus, heute Konzil genannt, um 1860 (StadtA KN Z I Wolf H20/ 2980a) Das Gebäude selbst beeindruckt durch seine schiere Größe: 53 Meter lang, 24 Meter breit und 27 Meter hoch. Das entspricht ungefähr 20000 Kubikmeter umbauten Raum. Die untere Halle verfügt über eine Grundfläche von 1081 Quadratmetern, die obere Halle misst hingegen 1122 Quadratmeter. Die Umfas‐ sungsmauer sind aus 1,4 Meter dickem Mauerwerk gefertigt. An den Ecken sind breite Buckelquaderverbände ausgeführt. 22 Meister Heinrich Arnold Mit der gesamten Bauleitung wurde der Meister Heinrich Arnold beauftragt 23 , ein wohl in der Stadt in den 1340er Jahre geborener Zimmermann. Er saß im Rat der Stadt von 1376 bis 1377, was ein Alter von mindestens 30 Jahren voraussetzte. Am 29. April 1378 wurde er zum städtischen Werkmeister ernannt, wie im Ratsprotokoll festgehalten wurde. Er war somit städtischer Beamter geworden, wobei er freilich einen eigenen Gewerbetrieb betreiben durfte. Zudem wurde 76 Jürgen Klöckler 24 Zu den erhaltenen Protokollen dieser Kommission vgl.: Spruch von den sibnen. Die ältesten Konstanzer Baugerichtsprotokolle (1452-1470). Ediert, kommentiert und eingeleitet von Barbara H A U S M A I R und Gabriela S I G N O R I (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, XLVI) Ostfildern 2016. 25 M A R M O R , J[ohann]: Geschichtliche Topographie der Stadt Konstanz und ihrer nächsten Umgebung mit besonderer Berücksichtigung der Sitten- und Kulturgeschichte der‐ selben. Konstanz 1860, S.-226. 26 M A R M O R (wie Anm. 20) S.-48-51. 27 Ebd., S. 43. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf diese Darstellung von Kimmig. 28 Ebd. Arnold in die Siebenerkommission der Baurichter 24 aufgenommen, welche die Baupolizei wahrnahm. Bei der Schlacht am Stoß gegen die Appenzeller fand er am 15. Juni 1405 den Tod. 25 Kaufhausordnung Unmittelbar nach Fertigstellung des Kaufhauses wurde bald nach 1391 die erste Kaufhausordnung erlassen, die ediert vorliegt. 26 Zweifellos muss die Kaufhausordnung mit der Inbetriebnahme des Gredhauses einhergegangen sein, denn „eine öffentliche Anstalt von so hoher Bedeutung konnte ohne Statut nicht funktionsfähig sein.“ 27 Einleitend werden sämtliche Arten von Geschäften aufgezählt, die im Kaufhaus laut Ordnung gestattet waren. Insbesondere der Kauf mit Bargeld wurde praktiziert. Die Kaufleute kauften unter sich, die einheimischen Händler von den fremden und die fremden Händler von den einheimischen. Beim typischen Marktgeschäft fielen der Abschluss des Vertrags und dessen Erfüllung zusammen. Zulässig war zudem, dass die Konstanzer Händler nach auswärts reisten, um dort die im Kaufhaus lagernde Ware zu verkaufen. Es ist zu vermuten, dass das vielfach der Verkauf auf Lieferung gewesen sei, d. h. dass man das Geschäft im Kaufhaus schloss, die Ware aber erst auf einen späteren Zeitpunkt versprach. Oder auch der Fall, dass Waren statt Geld akzeptiert wurden; der fremde Händler beglich eine Geldschuld einem Konstanzer Händler gegenüber mit der Lieferung der Waren, die wiederum der Konstanzer Händler verkaufte und so zu Bargeld machte. Sämtliche der bis hierher genannten Geschäfte lösten eine Zollpflicht aus. Getrost kann man die Kaufhausordnung auch ein Zollgesetz nennen, wie das Heinz Kimmig getan hat. 28 Man kann nun daraus folgern, dass alle in der Kaufhausordung nicht aufgezählten Geschäfte nicht gestattet waren. Geschäfte unter fremden Händlern wurden nicht geduldet, da sie die einheimische Kauf‐ mannschaft links liegen gelassen hätten. So ziemlich überall im mittelalterlichen Europa waren solche Geschäfte von fremd zu fremd verboten oder zumindest Gebaut auf Initiative italienischer Kaufleute 77 29 S C H M O L L E R , Gustav: Die Straßburger Tucher- und Weberzunft. Urkunden und Darstel‐ lung nebst Regesten und Glossar. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Weberei und des deutschen Gewerberechts vom XIII.-XVII. Jahrhundert, Straßburg 1879, S. 20 ff. 30 M A R M O R (wie Anm. 20) S.-43. 31 Ebd., S.-57 (Anhang 21). 32 Ebd., S.-44. 33 Nach K I M M I G , Kaufhaus, 1950 (wie Anm. 18) S. 37 waren das die Urkunden U 18 und U 129. In dem von Michael Kuthe im Jahr 2009 angefertigten Findmittel „Konstanzer Urkunden Teil V 1525-1557“ konnten diese Urkunden jedoch nicht identifiziert werden. erschwert. 29 Denn das Kaufhaus war schließlich keine Messe, es diente vielmehr nur dem Im- und Export. Der Export sollte im Konstanzer Kaufhaus dem Absatz der hier erzeugten Waren, der Leinwand insbesondere, dienen, während der Import den Bedarf der Produzenten vor Ort stillen sollte. Der Handel, der weder Ausfuhr noch Einfuhr zum Ziel hatte, an ihm Bestand im mittelalterlichen Konstanz kein Interesse. 30 Zwischenhandel galt als verpönt. Unter Strafe wurde gestellt, Lebensmittel „zů gewin“ anzukaufen. 31 Ein preissteigernder Zwischen‐ handel war für den Rat der Stadt verwerflich, weshalb Kontrolleure eingesetzt und harte Bußen angedroht wurden. So lassen sich drei Kriterien der im mittelalterlichen Konstanz vorherr‐ schenden Auffassung von Wirtschaft herausschälen: Erstens das Verbot des Handelns unter Fremden, zweitens das Zwischenhandelsverbot und drittens die Vorkaufsrechte des heimischen Gewerbes. Nach diesen drei Kriterien diente das Kaufhaus mittels Großhandel der Deckung des einheimischen Warenbedarfs durch Import und der Förderung des Absatzes heimischer Produkte durch den Export. 32 Ein Kaufhausbuch, dessen Existenz in Urkunden von 1529 und 1534 bezeugt sein soll, 33 hat sich ebenso wenig wie in Basel und Straßburg erhalten. Es kann aber mit hoher Sicherheit vermutet werden, dass ein Kaufhausbuch schon mit der Inbetriebnahme des Kaufhauses geführt wurde. Waren im Kaufhaus Schon für Ende des 14. Jahrhunderts sind die maßgeblichen Waren, mit denen im Kaufhaus gehandelt wurde, bekannt: Pfeffer und Ingwer, Feigen und Mandeln, Wachs und Baumwolle, Barchent und Papier, Tuche aus Brabant, Bekleidung aus Norditalien, aus Frankreich und aus dem Rheinland, Wein aus Chiavenna, Landwein, Mühlsteine und Schleifsteine, Butter und Käse, Seile und Bleche, englische Wolle und Leinen aus Venedig, Eisen, Kupfer, Stahl und Sensen und 78 Jürgen Klöckler 34 Maurer (wie Anm. 2) S.-14. 35 M A R M O R (wie Anm. 20) S.-13. 36 Die Zahlen stammen aus dem persönlichen Rechnungsbuch des Genannten; StadtA KN D III Nr.-366. 37 K I M M I G (wie Anm. 18) S.-33. vor allem Salz. 34 Das Kaufhaus war somit der große Umschlag- und Verkaufsort von Produkten einerseits aus dem Bodenseeraum und andererseits aus dem Mittelmeerraum, besonders aus der Lombardei. Der „Husherr“ - der Chef des Kaufhauses In allen Kaufhäusern Süddeutschlands war der „Husherr“ oder „gredmaister“ der Verantwortliche, er war schlicht der Herr des Hauses, eben der Hausherr. Er bekleidete ein städtisches Amt - er war somit Beamter. Seit etwa 1420 folgten die Hausherren nicht mehr dem jährlichen Wechsel der städtischen Beamten, vielmehr haben die Hausherren des Kaufhauses im Mittelalter und der Frühen Neuzeit über Jahre hinweg ihr Amt versehen. Laut Ratsbücher war Georg Sunchinger ohne Unterbrechung für 28 Jahre der Hausherr, nämlich von 1432 bis 1460 35 . Ulrich Hüttelin folgte ihm von 1497 bis 1506 in dieser Funktion. Die Hausherren waren dem Rat der Stadt durch Eid verantwortlich und konnten weitgehend selbständig agieren. Es stand ihnen ein festes Gehalt zu, das nach und nach mehrfach aufgebessert wurde. Während der erste Hausherr, der „Kündigman“ einen Jahreslohn von 15 Pfund Pfennig erhielt, konnte einer seiner Nach-Nachfolger, Oberhausherr Reinhold Scherer, 1651 bereits über 150 Pfund Pfennig verfügen. Diesen Lohn konnte er zudem durch Nebeneinnahmen gar verdoppeln. 36 Der Hausherr nahm die Funktion eines gesetzlichen Vertreters des Kaufhauses wahr, das er vor Gericht und im Geschäftsverkehr zu vertreten hatte. 37 Epilog Vom Kaufhaus redet heute in Konstanz niemand mehr. Vielmehr bürgerte sich die Bezeichnung Konzil bzw. Konzilgebäude ein, als dem Ort, an dem am 11. November 1417 ein neuer Papst gewählt worden war - Martin V. Denn das Konstanzer Konzil tagte hauptsächlich im Münster. Doch die Papstwahl selbst hat nicht entscheidend zur heutigen Namensvergabe geführt. Was dann? Der Name „Konzil“ hat vor allem mit der zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Joseph Kastell (1770-1844) begründeten Altertumssammlung zu tun. Der Konstanzer Goldschmied und Antiquar Kastell hatte 1824 eine „Kunst- und Gebaut auf Initiative italienischer Kaufleute 79 38 B U C K , Thomas Martin: „Das Kunst- und Alterthumskabinett“ Joseph Kastells (1770-1844) im Konstanzer Kaufhaus. Das Konzil in der Geschichts- und Erinnerungs‐ kultur des 19. Jahrhunderts, in: Über die ganze Erde erging der Name von Konstanz. Rahmenbedingungen und Rezeption des Konstanzer Konzils. Hg. von Karl-Heinz Braun und Thomas Martin Buck (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, Bd. 212) Stuttgart 2017, S. 137-167, hier S.-138. 39 K L Ö C K L E R , Jürgen/ F R O M M , Norbert: Der Bodensee in frühen Bildern. Photographien aus der Sammlung Wolf 1860-1930 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, XXXIX) Ostfildern 2005, S.-46. 40 B U C K (wie Anm. 37) S.-141. 41 Vgl. dazu: L U Z I , Christoph: Vermarktung von Vergangenheit. Die Konzilsbilderfabrik von Konstanz (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, L) Ostfildern 2023, S.-234. Alterthumskabinett“ im Kaufhaus eröffnet. 38 Diese Sammlung hatte ihren Ur‐ sprung in dem Zusammenschluss des privaten Antiquitätenkabinetts mit einer bereits im Kaufhaus vorhandenen städtischen Zusammenstellung historischer Artefakte. In der Ausstellung von Kastell gab es auch einen „Conciliums-Saal“, der diverse Merk- und Denkwürdigkeiten aus der Zeit des Konstanzer Konzil enthielt. Somit wurde diese Sammlung zum Vorläufer des im Mai 1870 gegrün‐ deten städtischen Rosgartenmuseums. Jedenfalls geht eindeutig auf das „Kunst- und Alterthumskabinett“ von Joseph Kastell zurück, dass ab den 1830er Jahren das Kaufhaus nach und nach als „Konzil“ bezeichnet wurde, 39 insbesondere auch in den Reiseführern. Denn allmählich kam der Tourismus auf, damals noch Fremdenverkehr genannt. Wenn wir heute nun ganz selbstverständlich vom „Konzil“ sprechen, freilich das Kaufhaus meinen, dann haben wir dies schlussendlich Joseph Kastell und seiner Altertumssammlung zu verdanken. 40 So produzierte diese Sammlung sozusagen als Teil der Konstanzer Konzilsbil‐ derfabrik bis heute eine bestimmte Vorstellung der Konstanzer Vergangenheit: das ehemalige Kaufhaus wurde insbesondere wegen der dort durchgeführten Papstwahl zum „Konzil“. Diese letztendlich touristische Geschichtsaneignung des Konzils und des Konzilsgebäudes der letzten zweihundert Jahren tragen sehr zur Identitätsbildung in Konstanz bei. Sie dient auch zur Orientierung in einer komplexen Welt und insbesondere zur Aushandlung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. 41 Die fünfjährigen Feierlichkeiten des Konziljubiläums in den Jahren 2014 bis 2018 haben dies deutlich gemacht. 80 Jürgen Klöckler 1 Hierzu auch ausführlicher: W I E L A N D T , Friedrich: Das Konstanzer Leinengewerbe. 1. Geschichte und Organisation (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, II) Konstanz 1950, S.-5 f. Die tela di Costanza Der Konstanzer Leinwandhandel mit Italien Simon Götz Für das städtische Wachstum und die politische Bedeutung der Stadt Konstanz im Mittelalter bildeten die örtliche Leinwandproduktion und der überregionale Handel mit Textilien zentrale wirtschaftliche Vorbedingungen. Spätestens im 13. Jahrhundert wurde auf den europäischen Märkten und Messen mit Leinwand aus Konstanz und der Bodenseeregion gehandelt. Bis in die Gegenwart besteht in der Region eine enge Verbindung zum Textilgewerbe. Doch die industrielle Produktion seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert konnte nicht wieder an den Ruf der tela di Costanza auf den europäischen Märkten des Spätmittelalters anknüpfen. Landwirtschaft und Leinenproduktion Grundvoraussetzung für die Herstellung von Leinwand bildet der Anbau von Flachs. Die Pflanze stellt keine besonderen Ansprüche, was den Anbau auch auf nährstoffarmen Böden gut möglich macht. Bereits seit dem 4. Jahrtausend vor Christus wurde der gemeine Lein (auch Flachs genannt) in Zentraleuropa angebaut. In den Pfahlbausiedlungen des Bodenseegebietes und der Schweizer Seen sind Fasern und Samen archäologisch aus dieser Zeit nachweisbar. Auch die Weiterverarbeitung zu Tuchen lässt sich durch Funde von Flachsbrechen, Weberschiffchen und Webstuhlteilen belegen. 1 Die schriftlichen Nachweise aus dem Bodenseeraum beginnen im 9. Jahr‐ hundert: Leinerne Kleidungsstücke sind in Urkunden des Klosters St. Gallen 2 Vgl. M A Y E R , Marcel: „Leinwand“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.12.2014 (23.05.2012), https: / / hls-dhs-dss.ch/ articles/ 013958/ 2012-05-23/ (abge‐ rufen am 09.02.2023). 3 Zur Stellung in der Fruchtfolge und den Standortansprüchen vgl. D A M B R O T H , Manfred und Reinhard S E E H U B E R : Flachs: Züchtung, Anbau und Verarbeitung, Stuttgart 1988, S.-42-46. 4 Vgl. M A U R E R , Helmut: Konstanz im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Konzil (Geschichte der Stadt Konstanz, 1) Konstanz 1989, S.-61. bezeugt. 2 Im Hochmittelalter ist Flachs oder sogar gewobenes Leinen als Abgabe von Bauern an Feudalherren belegt. Die Leinenproduktion war demnach zu einem nennenswerten Produkt der Landwirtschaft in der Bodenseeregion avan‐ ciert. Da sich Flachs gut in die Fruchtfolge der Mehrfelderwirtschaft einfügen lässt, gehen Agrarhistoriker davon aus, dass der Ausbau des Leinengewerbes im 11. Jahrhundert parallel zur Einführung der Dreifelderwirtschaft erfolgte. Im Jahr nach dem Anbau von Wintergetreide auf einem Zelg konnte Hafer oder Leinen gesät werden, bevor das Feld für ein Jahr brachgelassen wurde. 3 Die Flachsstängel wurden nach der Ernte gedorrt und gebrochen, um zunächst die Fasern zu gewinnen. Anschließend wurden die Fasern zu Fäden versponnen. Diese zahlreichen Bearbeitungsschritte konnten in der kalten Jahreszeit in Heimarbeit auf den Höfen erfolgen. Ein Teil der Garne wurde sicherlich auch noch vor Ort zu Tuchen verwoben. Aufgrund der deutlichen Unterscheidung von Flachsanbau und verarbeitetem Produkt in den Zinsangaben ist davon aus‐ zugehen, dass Rohstoffproduktion und Weiterverarbeitung früh auch getrennt voneinander stattfanden. Konstanz als Produktions- und Veredlungsstätte Überall dort, wo Flachs und verarbeitete Leinwand als Abgabeleistung einen nennenswerten Bestandteil des Feudalsystems bildeten, kann man auch von einem entsprechend umfangreichen Handel ausgehen. Auf den Märkten der entstehenden Städte bot sich die Möglichkeit, die Leinwand auch zu verkaufen oder gegen andere Waren zu tauschen. Zugleich führte der Handel zu steigenden Qualitätsansprüchen, was die Entfaltung eines breiten Gewerbespektrums zur Folge hatte, welches sich auf einzelne Arbeits- und Veredelungsschritte spezia‐ lisierte. Wohl spätestens um 900 bestand in der Bischofsstadt Konstanz, die auch Münzstätte war, sowohl ein Fernhandelsmarkt als auch ein regionaler Markt. 4 Damit bot die Stadt einen idealen Ort für den Absatz von Leinenprodukten. Auch wenn die Zeugnisse der Leinenverarbeitung im Konstanzer Stadtgebiet erst aus dem 13. Jahrhundert stammen, können wir schon früher von der Existenz eines regelrechten Leinengewerbes in der Stadt ausgehen. Die namentliche Nennung 82 Simon Götz 5 A M M A N N , Hektor: Die Anfänge der Leinenindustrie des Bodenseegebiets, in: Aleman‐ nisches Jahrbuch 1953, S.-251-313, hier S.-254. 6 Vgl. ebd. 7 V E R O N E S I , Marco: Oberdeutsche Kaufleute in Genua 1350-1490. Institutionen, Strate‐ gien, Kollektive (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B, Forschungen, 199. Bd) Stuttgart 2014, S.-2, Anm. 2. 8 Not. Lanfranco IV, f. 225, Nr. 2, zit. n. W I E L A N D T , Friedrich: Das Konstanzer Leinenge‐ werbe. 2. Quellen (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, III) Konstanz 1953, S.-1. von einem Weber Burchard bei St. Stephan 1252 und einem Weber Eberhard 1254 sind die ersten schriftlichen Belege für Produzenten innerhalb der Stadt. Ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert ist sogar die Webergasse bezeugt und deutet darauf hin, dass ein ganzer Straßenzug von diesem Handwerk geprägt war. Wahrscheinlich war in der Stadt selbst die Herstellung der Rohleinwand jedoch gar nicht so bedeutend, sondern hier wurde die auf dem Land gewobene Leinwand durch Walken, Bleichen oder Färben veredelt und auch für den europäischen Handel marktfähig gemacht. 5 Hektor Amann bezeichnete das spätmittelalterliche Leinengewerbe in der Region Bodensee-Oberschwaben sogar als „Industrie“. 6 Während in der deutschen Forschung diese Bezeichnung wohl überspitzt erscheinen mag, bezeichnet die englische und französische Forschung dieses Phänomen in der hoch- und spätmittelalterlichen Textilwirt‐ schaft auch heute noch als „industry“. 7 Der Begriff macht nämlich deutlich, dass die Produktion den regionalen Bedarf überstieg und durch ein komplexes System ausdifferenzierter Produktions-, Veredelungs- und Absatzschritte einen ‚globalen‘ Markt bedienen konnte. Spuren in der Ferne---Konstanzer Waren und Händler in Genua Von Leinwand als ein spezifisches ‚Konstanzer Produkt‘ südlich der Alpen erfahren wir bereits 1216. Aus einer Notiz des Genueser Notars Lanfraco vom 28. Juni 1216 geht hervor, dass ein gewisser Laurencius im Auftrag eines Marchese Helefanto u. a. 152 ½ telis de Constancia de Alamania nach Ceuta bringen solle. 8 Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurde also bereits mit einer nennenswerten Menge an Tuch bis nach Nordafrika gehandelt, die spezifisch als Leinwand aus Konstanz bezeichnet wurde. Diese Nennung macht deutlich, dass sich eine beachtliche Produktion in Konstanz und im Umland etabliert haben musste, die einen überregionalen Handel mit den Erzeugnissen ermöglichte. An anderer Stelle findet sich die weitaus häufigere Bezeichnung von Leinwand als tela de Alemania. Dabei handelte es sich meist um Leinwand, die im oberdeutschen Raum, d. h. im Produktionsgebiet Oberschwaben-Bodensee, hergestellt wurde. Marco Veronesi verdeutlicht anhand der Herkunftsbezeichnungen von Waren Die tela di Costanza 83 9 Vgl. V E R O N E S I (wie Anm. 7) S.-71, 124. 10 E K K E H A R D : St. Galler Klostergeschichten. Casus Sancti Galli, hg. v. Hans F. Häfele, Ernst Tremp und Franziska Schnoor (Monumenta Germaniae historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, LXXXII) Wiesbaden 2020, S.-186. 11 Vgl. V E R O N E S I (wie Anm. 7) S.-30 f. 12 Ebd., S.-31. 13 Ebd.; D E R S .: Mailand, Venedig, Genua: Wechselfälle des oberschwäbischen Fernhandels im Spätmittelalter, in: BC - Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach 33/ Sonder‐ heft (2010), S.-12-20, hier S.-12. und Händlern des 14. und 15. Jahrhunderts, dass Konstanz als Hauptort der Bodenseestädte in die Herkunftsbezeichnung einfloss, selbst wenn Waren oder Personen gar nicht direkt aus der Stadt, sondern lediglich aus dem Umland kamen. 9 Der Handel mit Italien hatte um 1200 jedenfalls bereits länger bestand, wie aus einem Bericht des St. Galler Mönchs Ekkehart IV. im 11. Jahrhundert hervorgeht. Er berichtet von Kaufleuten, die aus Italien an den Bodensee zurückkehrten ([…] et mercatores ab Italia redeuntes […]). 10 1205 bereits erhielt ein Henricus Balbus de Costanca ein Darlehen in Genua, wie ein Notariatseintrag dort vermerkte. Die telis de Alemania tauchen als Handelswaren seit Beginn einer umfangreichen Notariatsüberlieferung in Genua dann im gesamten 13. Jahrhundert häufig auf. Die Leinwand gelangte über den genuesischen Seehandel auf die Märkte Nordafrikas, des Nahen Ostens (Levante) und über das Schwarze Meer bis nach Kaffa (heute Krim) und Täbris (heute Iran). Die Menge der verzeichneten Waren, die Preise und die Häufigkeit des Handels sind Indizien, dass es sich bei der Bodenseeleinwand - anders als bei den feineren Tuchen aus der Champagne oder Flandern - nicht um Luxusartikel, sondern um alltagstaugliche Stoffe handelte, die auch die Nachfrage der mittleren Schichten im transmediterranen Raum bedienen konnte. 11 Zweifellos bildete die Leinwand das bedeutendste Exportprodukt aus dem Bodenseeraum in den Süden, doch es wurden natürlich auch andere Waren gehandelt, die in den Quellen aber meistens nicht genauer beschrieben sind. Unter den nach Genua importierten merces ist noch Glas, besonders Spiegelglas, hervorzuheben. 12 Als Waren, die in den Bodenseeraum exportiert wurden, erscheinen hauptsächlich Pfeffer, Seide, Gewürze und Brokat. 13 Obwohl sich insgesamt im 13. Jahrhundert zahlreiche Belege für oberdeutsche Händler und deren Hauptexportgut, die Leinwand, in den Genueser Notaten finden, ist eine quantitative Einschätzung der in den italienischen Handelsmetropolen agie‐ renden Kaufleute aus Konstanz oder anderen Bodenseestädten nicht möglich. Die bruchstückhafte Überlieferung aus Genua und die für das 13. Jahrhundert vielfach noch dünnere Quellenlage anderer oberitalienischer Städte lässt eine detaillierte Rekonstruktion nicht zu. Dennoch zeigen die von Hektor Amann 84 Simon Götz 14 Vgl. ebd. Veronesi macht deutlich, dass die tatsächliche Anzahl der dort agierenden Kaufleute und die Menge der abgesetzten Waren weitaus höher lag, als dies die nur teilweise überlieferten Register vermitteln. A M M A N N , Hektor: Neue italienische Quellen zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte. I. Die wirtschaftsgeschichtliche Forschung Italiens im letzten Jahrzehnt, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 36/ 1/ 2 (1944), S.-1-32; A M M A N N (wie Anm. 5). und Marco Veronesi zusammengetragenen Belege, dass eine große Anzahl an Kaufleuten aus Konstanz (und den benachbarten Städten) in Genua vertreten waren, die dort ihre Waren zum Mittelmeerhandel absetzten und wiederum andere Waren in den Norden exportierten. 14 Die komplexe Organisation des Handels im 13.-Jahrhundert: Messen, Märkte, Makler Abb. 1: Der Leinwandhandel oberdeutscher Kaufleute im 13. Jahrhundert. In den Klam‐ mern der erste gesicherte Beleg von Leinwand aus der Region Bodensee-Oberschwaben am jeweiligen Ort. Eine zentrale Grundlage des mittelalterlichen Mittelmeerhandels bildeten kurz‐ fristig geschlossene Verträge, die sogenannten accomandationes. Hierbei wurde ein Handelsunternehmer, der die Verschiffung und den Weiterverkauf der Waren übernahm, vertraglich an den Gewinnen des eigentlichen Händlers, der die Waren Die tela di Costanza 85 15 V E R O N E S I (wie Anm. 7) S.-31. 16 A M M A N N (wie Anm. 5) S.-280. 17 Zum Handel der Schaffhauser und Augsburger im 13.-Jahrhundert vgl. ebd., S.-281 f. 18 StAK U 6975 vom 16. März 1289. in die Hafenmetropole (in unserem Fall meist Genua) gebracht hatte, beteiligt. Während wohl ursprünglich die deutschen Kaufleute selbst diese Verträge mit dem Seehändler eingingen und damit aktiv am Seehandel partizipierten, wurde bereits 1211 in Genua ein Verbot der direkten Beteiligung deutscher Kaufleute an den acco‐ mandationes ausgesprochen. Dies führte dazu, dass in Genua ansässige Unterkäufer die Waren aufkauften und schließlich in den Seehandel einbrachten. Diese Makler stammten ursprünglich meist auch aus dem oberdeutschen Gebiet und waren öffentlich approbiert. 15 Sie betrieben meist Herbergen für die Kaufleute und bildeten damit wichtige kommunikative Schnittstellen zwischen dem Überlandhandel der oberdeutschen Kaufleute und den genuesischen Händlern. Über die bevorzugten Handelsrouten der Konstanzer Kaufleute haben wir aus dem 13. Jahrhundert keine genauen Kenntnisse. Auf dem direkten transal‐ pinen Weg zwischen dem Bodensee und Genua wurden die mittelalterlichen Säumerpfade über die Bündnerpässe, den Septimer-, Julier- und Splügenpass genutzt; seltener wohl auch der Simplon- oder der Gotthardpass. 1228 lässt sich ein Schaffhauser Kaufmann am Comer See nachweisen, der mit Leinwand über den Septimer nach Italien reiste. 16 Von dort werden die Waren nach Mailand und zu einem Gutteil nach Genua, in geringerem Maße wohl auch nach Venedig gelangt sein. Während im Handel über die Alpenpässe vor allem Schaffhauser und Augsburger Händler in den Quellen erscheinen, fand ein nennenswerter Teil der Leinwand über eine ganz andere Route den Weg nach Genua. 17 So hatten bereits im 12. Jahrhundert die großen Messen, die fast ganzjährig wechselnd in den Städten der Champagne abgehalten wurden, beachtliche Auswirkungen auf den oberschwäbischen Leinwandhandel. Die älteste Urkunde im Konstanzer Stadtarchiv, die sich mit dem Leinwandhandel befasst, weist unmittelbar auf die Messen in der Champagne hin. 18 In dieser Urkunde ordnen Vogt, Ammann und Rat zusammen mit den Kaufleuten der Stadt Konstanz den Leinwandverkauf auf den Messen in den Städten Bar-sur-Aube, Troyes, Provins und Lagny. Nur sesshafte Konstanzer Bürger sollten bei den Messen und frühestens drei Tage vor Beginn der Gewandmärkte dort Leinwand verkaufen dürfen. In den Messestädten der Champagne besaßen die Konstanzer sogar eigene Häuser, was die Dimensionen der erwirtschafteten Einkünfte und die Bedeutung der Champagnemessen auch für den Handel mit Italien unterstreicht: 86 Simon Götz 19 M A U R E R (wie Anm. 4) S.-150. „Der Unterhalt eigener Häuser in der Ferne kann nur rentabel gewesen sein, wenn Konstanzer Ware in großer Menge und von hoher Güte auf den Messen der Cham‐ pagne abgesetzt zu werden vermochte - und dies vor allem angesichts der Konkurrenz aus Flandern und Oberitalien. […] Hier, in den Champagneorten, trafen sich während jeweils sechs Wochen im Jahr Kaufleute aus Oberitalien, Südfrankreich und Spanien, die u. a. Bodenseeleinwand in ihre Länder weiterbeförderten. Um in die Champagne zu gelangen, nahmen die Konstanzer entweder den Weg über Basel und das Oberelsaß, d.-h. südlich der Vogesen, oder über Straßburg und die Zaberner Senke.“ 19 Abb. 2: Durch die städtische Leinwandschau und Ordnungen für die Weber, Leinwand‐ messer, Färber, Händler usw. gelang eine bis in 15. Jahrhundert sehr qualitätvolle Pro‐ duktion. Hier die älteste erhaltene Handelsordnung für den Konstanzer Leinwandkauf vom 15. April 1283. Die tela di Costanza 87 20 Zum Handel von auf den Champagnemessen gekauften Tuchen über Südfrankreich vgl. A M M A N N (wie Anm. 5) S.-280. 21 Vgl. W I E L A N D T (wie Anm. 1) S.-27. 22 M A U R E R (wie Anm. 4) S.-152. 23 Vgl. V E R O N E S I (wie Anm. 7) S.-31 ff. Doch die Tuche wurden nicht nur auf den Messen weiterverkauft, sondern Ware wurde wohl auch von dort aus durch Konstanzer Händler über Südfrankreich auf den Mittelmeermarkt gebracht. So ist anzunehmen, dass ein nennenswerter Anteil der Leinwand auf der fahrbaren Route über Burgund und das Rhonetal an die Häfen Südfrankreichs gelangte und von dort - bereits über den Seeweg - nach Genua verschifft wurde. 20 Neben dem direkten Handel mit Genua und dem Messehandel in der Champagne gelangte ein weiterer Teil der tela di Costanza auch durch die Märkte am Bodensee selbst in den transalpinen Handel. Auch wenn der Ankauf von Leinwand auf dem Konstanzer Markt erst im 14. und 15. Jahrhundert direkt belegt ist, 21 zeigt sich in der Niederlassung italienischer Familien in Konstanz, die sich hier im Geldgeschäft betätigten, dass bereits früher regelmäßig italienische Kaufleute in der Bodenseemetropole verkehrten. So lebten in Konstanz in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein Chůnradus de Venetiis, Mitglieder der Bankiersdynastie Scotti aus Piacenza und ein Fran‐ ziskus Sbarrata aus Asti, der mit drei Genossen 1282 das Bürgerrecht aufnahm, um in der aufstrebenden Handelsstadt Kapital gegen Zins zu verleihen. 22 Erste Krise des Italienhandels und neue Absatzmärkte Die bereits in den ältesten Genueser Notariatslisten nachweisbare Tätigkeit von Händlern aus dem Bodenseeraum deutet darauf hin, dass spätestens seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts intensive Handelsbeziehungen zwischen Genua und dem Bodenseeraum bestanden hatten. Bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts nimmt die Zahl der belegbaren Handelsvorgänge zwischen oberdeutschen Kaufleuten und Genua ab und verliert sich um 1300 ganz. Wäh‐ rend sich die ältere Forschung noch vage hinsichtlich der Schlussfolgerungen verhielt, geht Marco Veronesi davon aus, dass es sich bei dem Rückgang der Quellenbelege nicht um ein Überlieferungsproblem handelt, sondern die Beziehungen zwischen der Handelsstadt an der Riviera und der Bodenseeregion tatsächlich abbrachen. 23 Die Gründe dafür waren vielschichtig: Hauptsächlich dürften großräumige Verschiebungen der Handelsrouten ursächlich gewesen sein. So führten erhöhte Zölle, die der französische König für auf den Cham‐ pagnemessen gehandelte Ware erhob, zum Rückgang des Handels auf diesen 88 Simon Götz 24 W I E L A N D T (wie Anm. 1) S.-26 f. 25 V E R O N E S I (wie Anm. 7) S.-37. 26 W I E L A N D T (wie Anm. 1) S.-27. 27 V E R O N E S I (wie Anm. 13) S.-14. 28 Vgl. ebd., S.-15. 29 Vgl. ebd. Messen. 24 Der kontinentale Handel verlief fortan östlicher, entlang des Rheins, was zur Aufwertung der Frankfurter Messe führte. 25 Zugleich wurden Waren zunehmend auf dem Seeweg (Atlantikroute) zwischen Genua und Nordeuropa transportiert. Der Rückgang der Belege für oberschwäbische Kaufleute in Genua bedeutet jedoch keinen grundsätzlichen Einbruch des Handels zwischen Italien und der Bodenseeregion. Um 1300 wurden zunehmend neue Absatzmärkte jen‐ seits der Alpen bedient: So erscheinen nun erstmals auch Konstanzer Kaufleute in Venedig. Außerdem erlebte Mailand als Umschlagplatz für den Weiterverkauf von Waren in Richtung Genua, Venedig oder Florenz eine Blüte, die 1388 im Bau eines Kaufhauses gipfelte. 26 Während Venedig bis dato hauptsächlich von Händlern der östlicheren Städte Regensburg, Wien und zunehmend von Augsburg und Nürnberg mit Waren aus dem cisalpinen Raum bedient wurde, wichen zu Beginn des 14. Jahrhunderts zunehmend auch die Konstanzer auf die Adriametropole und östliche Routen aus: „1314 fanden Konstanzer Kaufleute bei Padua den Tod, 1320 ist der Versand von 100 Leinentüchern durch einen Konstanzer Kaufmann nach Venedig belegt, und 1348 ist in Venedig dann davon die Rede, dass täglich maximas quantitates an Leintuchen gehandelt wurden. 1358 werden in einem einzigen Geschäftsabschluss 45 000 Stück Leinwand verkauft. Auch wenn es sich hier nur um ein einzelnes Geschäft handelte, dürfte doch der Umfang der Transaktion deutlich machen, dass nun nicht mehr Genua, sondern Venedig der große mediterrane Umschlagplatz für die oberschwäbische Leinwand geworden war.“ 27 Zugleich bot sich in Venedig die Möglichkeit, einen Rohstoff aus dem Seehandel zu beziehen, der die oberschwäbische Textilproduktion revolutionieren sollte. Dank der Produktion von Barchent, einem Mischgewebe aus heimischen Flachs‐ fasern und importierter Baumwolle, hielt vor allem die ostschwäbische Weberei mit der geänderten Nachfrage schritt. 28 Dies war wahrscheinlich auch ursächlich dafür, dass im Venedighandel später hauptsächlich noch Ulmer auftauchen, während Konstanzer hier nur noch vereinzelt erscheinen. 29 Die tela di Costanza 89 30 GLA 5/ 246, teilediert in: W I E L A N D T (wie Anm. 8) S.-1 f. 31 S C H U L T E , Aloys: Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluss von Venedig. Bd. 2, Leipzig 1900, Nr. 135; Auch zit. bei: V E R O N E S I : (wie Anm. 13) S.-19 Anm. 32. 32 M A U R E R (wie Anm. 4) S.-258. Händler: Eliten, Geistliche, Gesellschaften Die frühen italienischen Quellen geben nur geringe Auskunft über die so‐ zialen Hintergründe der oberdeutschen Händler. Wir wissen nur, dass offenbar zahlreiche Amtleute des Bischofs im Leinwandhandel beteiligt gewesen sein müssen. Schließlich sah man sich gezwungen, die kaufmännische Betätigung der mesner, phister und unsers herrin […] ambetliute zu reglementieren. 30 Neben den bürgerlichen Kaufleuten, die teilweise beachtliche Vermögen angehäuft hatten, waren später auch Angehörige der Geschlechterfamilien im Fernhandel beteiligt. Auch wenn der Handel im Patriziat ursprünglich als nicht standes‐ gemäß galt, sahen sich zahlreiche Familien gezwungen, in dieses lukrative Geschäft einzusteigen, um ihren Wohlstand zu halten. Wie uns die Zeugnisse aus dem 13. Jahrhundert zeigen, lag der transalpine Handel nicht in den Händen einzelner völlig selbstständig agierender Kaufleute, sondern war komplex orga‐ nisiert. Makler und Unterkäufer waren ebenso beteiligt wie andere Kaufleute, mit denen man sich für den Transport zusammenschloss. Am Transitverkehr partizipierten Wirte, Bauern und Säumer entlang der Routen, ebenso wie ein ganzer Tross, das den Kaufmann und seine Waren selbst begleiteten. So erfahren wir aus einer Schuldverschreibung des Mailänder Notars Giovanolo Oraboni aus dem Jahr 1375, dass der Konstanzer Kaufmann Cosmas Spiser auf seiner Reise für sich und sein Gefolge samt Pferden beim Wirt Rudolfo di St. Gallo 132 Goldgulden für die Unterbringung in Mailand bezahlen musste. 31 Cosmas Spiser wird übrigens bereits um 1360 mit seinem Bruder Heinrich beim Handel über den Ärmelkanal hinweg genannt. Die Konstanzer Kaufleute lieferten dem englischen König Eduard III. Pferde. 32 Während Zusammenschlüsse mehrerer Kaufleute bis ins 14.-Jahrhundert im Bodenseeraum höchstens als projekthafte Kooperationen für die Dauer je einer Handelsfahrt vorkommen, erscheint am Ende des Jahrhunderts eine Handels‐ gesellschaft nach dem Vorbild italienischer und hanseatischer Gesellschaften. Der in der Vergangenheit meist als „Große Ravensburger Handelsgesellschaft“ bezeichnete Zusammenschluss an Kaufleuten entstand zwischen 1380 und dem beginnenden 15. Jahrhundert aus der dauerhaften Zusammenarbeit mehrerer Familiengesellschaften, zunächst der Ravensburger Humpis mit den (ursprüng‐ 90 Simon Götz 33 Über die genaue Entstehung und die rechtliche Stellung der Gesellschaft besteht ebenso wie eine geeignete Bezeichnung bis heute Unklarheit. Folgende Werke beschäftigen sich (hauptsächlich) mit der Gesellschaft: S C H U L T E , Aloys: Geschichte der Grossen Ra‐ vensburger Handelsgesellschaft, Bd. 1 (Deutsche Handelsakten des Mittelalters und der Neuzeit) Stuttgart 1923; M E Y E R , Andreas: Die Stellung der Grossen Ravensburger Ge‐ sellschaft im System des spätmittelalterlichen Handels, Konstanz 1998; S C H E L L E , Klaus: Die grosse oberschwäbische Handelsgesellschaft, Biberach 2000; M E Y E R , Andreas: Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft in der Region. Von der ‚Bodenseehanse‘ zur Familiengesellschaft, in: Hoffmann, Carl A. (Hrsg.): Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), Konstanz 2001, S.-249-304; V E R O N E S I : (wie Anm. 7) S.-119-138. 34 Einen ausführlichen Überblick bietet: S C H U L T E (wie Anm. 33) S.-148-208. 35 V E R O N E S I (wie Anm. 7) S.-121. 36 Vgl. ebd., S.-122. lich aus Buchhorn stammenden) Mötteli. 33 Seit spätestens 1406 scheinen die ursprünglich aus dem Gebiet Savoyen nach Konstanz immigrierten Muntprat in der Gesellschaft beteiligt zu sein. Im Laufe des 15.-Jahrhunderts werden immer mehr wohlhabende, häufig auch patrizische Konstanzer als Anteilseigner, Ge‐ sellen oder in der Dienerschaft dieser Handelsgesellschaft genannt. Durch Konnubium entstand ein komplexes Geflecht an Gesellschaftern: Neben den Humpis, Mötteli und Muntprat sind Konstanzer der Familien Appenteger, Blarer, Ehinger, Frei, der Gaisberg, Sattler, Zwick und viele mehr am Ende des 15.-Jahrhunderts an den Geschäften beteiligt. 34 Neue Blüte im 15.-Jahrhundert: Spanien und erneut Genua Relativ spät, nämlich am Ende des 14. Jahrhunderts, „rückten die Länder der Krone Aragons, im Gegensatz zu den Metropolen Oberitaliens, in die unmittelbare Inte‐ ressensphäre des oberdeutschen Fernhandels.“ 35 Barcelona, Valencia und Saragossa wurden nun zu Orten, an denen Händler vom Bodensee ihre Waren verkauften. Offenbar hatten die Pyrenäen lange Zeit ein zu großes Hindernis dargestellt, das man angesichts der sich jenseits davon entfaltenden Gewinnchancen nun bereit war zu überwinden. 1394 erfahren wir erstmals etwas über Johann Humpis und Rudolf Mötteli in Barcelona. 1400 wird dann auch der Konstanzer Onofrius Muntprat dort genannt, der im Auftrag von Kaufleuten aus Barcelona Korallen nach Deutschland exportieren sollte. 36 Nur wenige Jahre später hatte man derart intensive Kontakte nach Barcelona, dass man die Geschäfte von einem Faktor und den Söhnen der Hauptanteilseigner besorgen ließ. Neben den bereits genannten Korallen wurde vorwiegend Safran über die Pyrenäen in den Norden transportiert. Eine weitere Route führte über das Rhonetal und die südfranzösischen Häfen, von wo aus Ware verschifft wurde. Umgekehrt begegnen uns unter den deutschen Waren auch in Spanien wieder die tele di Costanza, worunter häufig neben dem Die tela di Costanza 91 37 Ebd., S.-125. 38 Vgl. ebd., S.-128 f. 39 Ebd., S.-132. Rohleinen auch Barchent gefasst wurde. Die Verschiffung der Waren erfolgte wohl immer noch durch regionale Händler, da den „Deutschen noch nicht die personellen Mittel zur Verfügung standen.“ 37 Abb. 3: Umschlagfalz mit Handelszeichen aus einem Briefwechsel der großen Gesellschaft von 1436. Der Humpis-Faktor Ulrich Spruttenhoffer in Brügge schreibt an den wisen und wolbeschaiden Vlrich Frig ze Jenov (Genua). Ulrich Frei gehörte zu einer der Konstanzer Familien, die mehrere Gesellen in der Gesellschaft stellten. Wenige Jahrzehnte später war die Ravensburg-Konstanzer Gesellschaft auch im Süden Aragons und im Königreich Valencia am Fernhandel beteiligt. 1429 wird durch einen Prokurator Leinwand nach Valencia importiert. Zur gleichen Zeit ist die Gesellschaft auch involviert in den Handel mit spanischer Wolle, die besonders an die italienische Tuchproduktion geliefert wurde. 38 Doch politische Spannungen zwischen der Krone Aragon und der Stadt Genua führten dazu, dass der Seehandel über das tyrrhenische Meer erschwert war. Das kurzzeitig als Hafenstadt dominierende Savona verlor seine privilegierte Stellung 1435 mit dem Ende der viscontischen Herrschaft in Genua. 39 Aus diesen politischen Span‐ nungen hatten die Verantwortlichen der Handelsgesellschaft wohl rechtzeitig ihre Schlüsse gezogen und sich um die (Wieder-)Aufnahme des Handels über 92 Simon Götz 40 Vgl. u.-a. die Auflistung bei: S C H U L T E : (wie Anm. 33) S.-441. 41 Zur Diesbach-Watt-Gesellschaft und dem Konstanzer Personal vgl. V E R O N E S I (wie Anm. 7), S.-139-185. 42 Vgl. MAURER, Helmut: Konstanz im Mittelalter. Vom Konzil bis zum Beginn des 16.-Jahrhunderts (Geschichte der Stadt Konstanz 2), Konstanz 1996, S.-110, 114 43 StAK U 8329 vom 17. Januar 1429. Genua gekümmert. Anstatt über den direkten Landweg oder die südfranzösi‐ schen Häfen konnte nun der katalanische Markt über die Route Mailand - Genua und das Mittelmeer bedient werden. In der Folge dieser Beziehungen sowohl nach Genua wie auch nach Spanien avancierte die große Gesellschaft zur bedeu‐ tendsten deutschen Handelskompanie im Mittelmeerraum des 15. Jahrhunderts. Leinwand und Barchent aus der Bodenseeregion waren weiterhin wichtige Exportgüter, die uns immer wieder in den uns erhaltenen Quellen in großen Mengen entgegentreten. Doch der Handel war - wie auch in früheren Zeiten - keineswegs bilateral und auf textile Waren beschränkt. Die Gesellschaft, die unter anderem auch in Brügge, Mailand, in Nürnberg und Frankfurt regelmäßig oder sogar dauerhaft vertreten war, handelte mit einer Vielzahl an Waren aus der ganzen damals bekannten Welt. Unter den Textilien finden sich englische und flandrische Tücher ebenso wie Samt und Seide. Korallen und Perlen wurden in Genua ebenso angekauft wie Färbemittel, Spezereien und Gewürze. 40 In deutlich geringerem Maße wurde über Mailand auch mit Venedig Handel getrieben, über den Seeweg gelangten Waren von Genua nach Neapel und einzelne Güter wurden über den Landweg zwischen Mailand und den toskanischen Zentren gehandelt. Doch nicht allein über die große (Ravensburger) Handelsgesellschaft stand Konstanz am Ende des Mittelalters in enger wirtschaftlicher Beziehung zu den italienischen Metropolen. Auch über andere Familiengesellschaften oder einzelne Kaufleute bestanden Handelsverbindungen in den transalpinen Raum. Neben der Beteiligung einiger Konstanzer an der Diesbach-Watt-Gesellschaft, die ursprünglich eine bernisch-st. gallische Familiengesellschaft war, finden sich Händler auch ohne nähere Zuordnung zu einer der großen Handelskompa‐ nien. 41 So ist der Konstanzer Händler Konrad Mesner 1458 in Como nachweisbar und der wohlhabende Christoph Zipp mietete 1445 für zwei Jahre eine Wohnung in Mailand. Zipp war an mehreren Handelsgesellschaften beteiligt und gehörte wohl zu den Spekulanten im Fernhandel. 42 1429 klagte der Konstanzer Conrad Winterberg gegen seinen Vetter Ulrich Stainstraß wegen eines in Venedig fälligen Wechsels, zu dessen Begleichung sich Winterberg Geld leihen musste. Winterberg weilte offenbar länger in Venedig und war zusammen mit seinem Vetter in einer Basler Handelsgesellschaft beteiligt. 43 Auch der Onkel der Reformatoren Ambrosius und Thomas Blarer, Bartholomäus Blarer war Ende Die tela di Costanza 93 44 Vgl. M A U R E R (wie Anm. 42), S.-127. 45 Vgl. ebd., S.-110. der 1480er Jahre noch in Mailand an Handelsgeschäften beteiligt. 44 Umgekehrt kamen auch italienische Kaufleute nach Konstanz und hielten sich hier nicht nur in den Gasthäusern sondern teilweise dauerhaft auf: Vater und Sohn Anton und Caspar de Capris kamen aus Mailand nach Konstanz, um hier über mehrere Jahre zu arbeiten. Doch ab 1460 ging der Handel zwischen Italien und Konstanz schon merklich zurück. 45 Abb. 4: Reichtum und Prestige eines Fernhändlers drücken sich auch im Bild des Konstanzer Handelsherrn Heinrich Blarer aus. Blarer war Mitglied des Kannenordens von Aragon. Mit der Scherpe dieses Ritterordens und einer Duftkugel („Bisamsapfel“) ließ er sich 1460 portraitieren. 94 Simon Götz 46 Vgl. S C H U L T E (wie Anm. 33) S.-500 f. 47 Vgl. M A Y E R (wie Anm. 2). Dennoch konnte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts der Fernhandel den an den Geschäften beteiligten Konstanzern vereinzelt immer noch große Gewinne bescheren, wohingegen die Tuchproduktion in Konstanz bereits spätestens seit ca. 1450 in einer tiefen Krise steckte. Das benachbarte St. Gallen konnte durch gesteigerte Qualitätsansprüche, die in den sogenannten Leinwandschauen und den Leinwandordnungen festgehalten und kontrolliert wurden, eine bessere Qualität gewährleisten als dies den Konstanzern gelang. Der in der Folge des Konzils boomende Zuzug von Handwerkern und eine gesteigerte Leinenpro‐ duktion in der Stadt und im Umland hatten offenbar dazu geführt, dass die Qualität abnahm. Die St. Galler verweigerten es, der Konstanzer Leinwand ihr Leinwandzeichen, eine Art Prüfsiegel, aufzudrücken. In den Handelsakten der großen Gesellschaft erscheint nach 1472 nur noch im Jahr 1507 ein Ballen mit Konstanzer Leinwand. 46 Im Gegensatz wuchs das Textilgewerbe der Region St. Gallen in der Frühen Neuzeit nochmals an, und brachte der Stadt eine wirtschaftliche Blüte bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. 47 Das einst vor allem in Italien bekannte Exportgut aus der Bodenseemetropole Konstanz, die tela di Costanza, war hingegen zum Ende des Mittelalters offenbar zu einer Textilie geworden, die kaum noch überregional geschätzt wurde. Abbildungsnachweise: Abb. 1: Karte vom Autor auf Grundlage der älteren Karte von Hektor Ammann erstellt (Datengrundlage: MapData ©2023 INEGI/ Goog‐ leEarth). Abb. 2: Stadtarchiv Konstanz, Urkunde Nr.-8410. Abb. 3: Archivio di Stato di Genova, San Giorgio, Primi Cancellieri, Fiandra lettere Nr. 38. Foto: User: FA2010, aufgenommen 2012, gemeinfrei, h ttps: / / commons.wikimedia.org/ w/ index.php? curid=20663947. Abb. 4: Rosgartenmuseum Konstanz. Die tela di Costanza 95 1 Das Konstanzer Konzil 1414-1418. Weltereignis des Mittelalters. Hg. vom Badischen Landesmuseum. Katalog, Darmstadt 2014. 2 F R E N K E N , Ansgar: Johannes XIII., in: Das Konstanzer Konzil 1414-1418. Weltereignis des Mittelalters. Essays. Hg. von Karl-Heinz Braun, Mathias Herweg, Hans W. Hubert, Joachim Schneider und Thomas Zotz, Darmstadt 2013, S.-47-51, hier S.-47. Zwei Päpste aus Italien auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) Johannes XXIII. und Martin V. Jürgen Klöckler Das von 1414 bis 1418 im Münster tagende Konstanzer Konzil wurde anlässlich der letzten Jubiläumsfeierlichkeiten im Rahmen der Großen Landesausstellung des Badischen Landesmuseums vom April bis September 2014 als „Weltereignis des Mittelalters“ bezeichnet. 1 Tatsächlich hielten sich damals Menschen aus aller Welt in der größten Stadt am Bodensee auf. Besonders zahlreich waren italienische Gäste vertreten. Zwei von ihnen soll hier besonders in den Blick ge‐ nommen werden, nämlich Baldassare Cossa (um 1370-1419) und Oddo Colonna (um 1369/ 70-1431), erster besser bekannt als der vom Konzil abgesetzte Papst Johannes XXIII., zweiter gemeinhin bekannt als der im November 1417 im Kon‐ stanzer Kaufhaus („Konzil“) gewählte Papst Martin V. Der übler beleumundete der Beiden war zweifellos Baldassare Cossa. Papst Johannes XXIII. Er gilt als einer der großen Schurken der Weltgeschichte, als ein wahres Monstrum und schlimmer Bösewicht. Sein bitteres Ende überlagerte sein - trotz aller Schatten - bedeutendes Lebenswerk. 2 Baldassare Cossa war Spross eines Adelsgeschlechts aus Neapel, über die Eltern Giovanni Cossa und Ciocciola Barile ist nur wenig bekannt. Die Familie stammte von der Insel Ischia im Golf von Neapel. Die Cossas selbst wurden zu Herren der benachbarten, gemeinhin 3 E S C H , Arnold: Das Papsttum unter der Herrschaft der Neapolitaner. Die führende Gruppe Neapolitaner Familien an der Kurie während des Schismas 1378-1415, in: Festschrift für Hermann Heimpel. Zum 70. Geburtstag am 19. September 1971. Zweiter Band. Hg. von Mitarbeitern des Max-Planck-Institut für Geschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck- Instituts für Geschichte 36/ II) Göttingen 1972, S.-713-800, hier S.-758. 4 Il diario romano di Antonio di Pietro dello Schiavo: dal 19 ottobre 1404 al 25 settembre 1417 (ediert von Francesco I S O L D I in: Rerum Italicarum scriptores 24,5. Città del Castello 1917, S.-70 f.) 5 Er schloss sein zwischen 1379 und 1389 absolviertes Studium mit dem Grad eines doctor decretorum ab; F R E N K E N (wie Anm. 2) S.-47. 6 E S C H (wie Anm. 3) S.-759. 7 F R E N K E N (wie Anm. 2) S.-47. weniger bekannten Insel Procida, von wo aus sie als „Ritter des Meeres“ die Gegend kontrollierten. Es steht zu vermuten, dass der Begriff Seeräuberei in Zusammenhang mit der materiellen Lebensgrundlage der Familie nicht ganz aus der Luft gegriffen sein dürfte. Die Familie hatte mindestens vier Söhne: Gasparre, Baldassare, Marino und Petrillo. 3 Immerhin gelangte der wohl ältere Bruder Gasparre als Admiral zur See zu gewissem Ruhm, etwa 1398 bei der erfolgten Blockade der Tibermündung. Bei seinem Tod 1411 ließ ihn sein Bruder Baldassare, nunmehr Papst, in St. Peter in Rom pompös aufbahren, was zu einem gesamtstädtischen Spektakel geriet: in dicto esequio fuit invitata tota Roma. 4 Doch zurück in das 14. Jahrhundert: Baldassare Cossa hatte keine Karriere auf See angestrebt, sondern hatte sich nach einem Studium der Rechte an der Universität Bologna 5 für die geistliche Laufbahn entschieden. Sie führt den Neapolitaner nicht sofort an die päpstliche Kurie. Vielmehr wurde Anfang September 1403 - wie Arnold Esch, der vormalige Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, schreibt -„Bologna der Sockel seines Erfolges: hier beginnt er seine Karriere, hier sammelt er als Kardinallegat handgreifliche Macht, hier wird er zum Papst erhoben, von hier bricht er nach Konstanz auf.“ 6 Damals war Bologna die wichtigste Handelsstadt im Patrimonium Petri und - infolge der Bedrohung Roms durch den neapolitanischen König Ladislaus - das eigentliche Zentrum des Kirchenstaates. 7 Cossa konnte als Kardinallegat auf beträchtliche Einnahmen in Bologna zurückgreifen. Er behauptete die weltliche Oberherrschaft über diese Stadt. Skrupellosigkeit zeichnete sein Vorgehen aus. Baldassare Cossa war treibende Kraft bei der Einberufung des Konzils von Pisa, das vom 25. März bis 7. August 1409 dauern sollte. Das Pisanum setzte die beiden konkurrierende Päpste der römischen bzw. der avignonesischen Obödienz ab. Es wählte mit dem Mailänder Erzbischof einen neuen Papst, der sich Alexander V. nennen sollte. Doch dessen Pontifikat war nur von kurzer Dauer: Alexander V. starb überraschend Anfang Mai 1410. Schnell trat das nächste Konklave in Bologna 98 Jürgen Klöckler 8 Ebd., S.-48. 9 Abbildung in: R I C H E N T A L , Richental: Chronik des Konzils zu Konstanz 1414-1418. Faksimile der Konstanzer Handschrift. Mit einem kommentierten Beiheft von Jürgen Klöckler, Darmstadt 2013, p.-9 recto. 10 F R E N K E N (wie Anm. 2) S.-50. zusammen, der Favorit lautete: Baldassare Cossa. Nach nur 72 Stunden wählten ihn die anwesenden 17 Kardinäle am 17. Mai 1410 zum Papst: Johannes XXIII. Der in späterer Zeit geäußerte Verdacht, Cossa habe durch Bestechung gleichsam das Amt gekauft, verkennt die Umstände des Konklaves. 8 Cossa sollte mit seinem Pisaner Pontifikat seinen persönlichen Höhepunkt erreichen, dessen Ende mit seiner Reise nach Lodi und sein Zusammentreffen mit König Sigismund beginnen sollte. Am 9. Dezember 1413 berief Papst Johannes XXIII. in Lodi, heute Partnerstadt von Konstanz (der in diesem Band ein eigener Beitrag von Claus-Dieter Hirt gewidmet ist), ein allgemeines Konzil für den 1. November 1414 ein. Der ausgewählte Ort lag am Bodensee und damit jenseits der Alpen: Konstanz. Im Herbst 1414 reiste Johannes XXIII. von Meran über den Reschenpass und den Arlberg an den Bodensee. Kreuzlingen erreichte er am 27. Oktober 1414. Am nächsten Tag zog er feierlich in die Stadt des Konzils ein. Die wohlbekannte Episode mit dem Umsturz der päpstlichen Kutsche am Arlberg ist legendär, sie wurde von Ulrich Richental überliefert, 9 der freilich bei der Niederschrift schon das weitere Schicksal des Papstes kannte, nämlich seinen Sturz auf dem Konstanzer Konzil. Jetzt und hier am Bodensee folgte nämlich in der Tat der tiefe Fall des Baldassare Cossa, die mit seiner Absetzung als Papst enden sollte. 10 Abb. 1: Auf der Anreise zum Konstanzer Konzil stürzte Papst Johannes XXIII. im Herbst 1414 mit seinem Wagen am Arlberg (Richental-Chronik wikipedia: gemeinfrei) Zwei Päpste aus Italien auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) 99 11 M Ü L L E R , Heribert: Die kirchliche Krise des Spätmittelalters. Schisma, Konziliarismus und Konzilien (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 90) München 2012, S.-25. 12 S T U M P , Philipp H.: The Council of Constance (1414-18) and the End of the Schism, in: Joélle Rollo-Koster/ Thomas M. Izbicki (Hg.): A Companion to the Great Western Schism, Leiden 2009, S.-395-442, hier S.-414. Zwar konnte Johannes XXIII. am 5. November 1414 das allgemeine Konzil noch eröffnen, doch mit dem Eintreffen von König Sigismund in der Weihnachts‐ nacht desselben Jahres verschärfte sich seine Lage zusehends. Denn alle drei amtierenden Päpste des Schismas erkannten nur die Macht und die Autorität des Königs an. Viele der anwesenden kirchlichen Würdenträger hofften auf den Rücktritt aller drei Päpste. Der Druck auf Johannes XXIII. wurde vor Ort noch erhöht. Er war genötigt, seinem Rücktritt zuzustimmen, falls seine beiden Mitkonkurrenten sich dazu ebenso entschlössen. Beide lehnten einen Rücktritt nicht mehr kategorisch ab. Wohl aus dem subjektiven Gefühl der Bedrohung heraus und um der stark anschwellenden Kritik auszuweichen, floh Papst Johannes XXIII. mithilfe des österreichischen Herzogs Friedrich IV., dem persönlichen wie politischen Gegner König Sigismunds, 11 aus der Stadt. Als Knappe verkleidet verließ er in der Nacht vom 20. auf den 21. März 1415 den Tagungsort des Konzils. Er floh über Schaffhausen, Laufenburg, Freiburg bis nach Breisach, wo ihm freilich eine Überquerung des Rheins in Richtung Elsass und Burgund nicht gelang. Stattdessen wurde er gefangen gesetzt und nach Konstanz zurückgebracht. Ein Prozess wurde gegen ihn angestrengt, man beschuldigte ihn der Häresie und der Simonie. Das Ergebnis war vorhersehbar: am 14. Mai 1415 wurde der Antrag gestellt, ihn vom Amt zu suspendieren; am 20. Mai lieferte Johannes XXIII. die Insignien päpstlicher Macht aus, nämlich den Fischerring, das Bul‐ lensiegel und die Register. Am 29. Mai vernahm er das Urteil, das ihm eine Abordnung des Konzils an seinen Verwahrort ins nahe Radolfzell brachte. Baldassare Cossa akzeptierte das Urteil unter dem Schwur, sich mit diesem abzufinden und nicht dagegen vorzugehen. War er nun abgesetzt worden oder hatte er abgedankt? Der Historiker Phillip Stump kommt zu dem heute in der Mediävistik unumstrittenen Urteil: „The truth is that John XXIII both was deposed and abdicated“. 12 Am 3. Juni 1415 wurde Baldassare Cossa als Gefangener in die der Stadt Konstanz nahegelegenen bischöfliche Burg Gottlieben verbracht, bevor er nach Mannheim und nach Heidelberg überführt wurde. Nach Zahlung einer erheblichen Summe wurde er im April 1419 in Basel freigelassen. Cossa begab sich umgehend nach Florenz. In der Stadt am Arno unterwarf er sich dem in Konstanz gewählten Papst Martin V., der ihn im Gegenzug zum Kardinalbischof 100 Jürgen Klöckler 13 ACC III, S.-289-298. 14 F R E N K E N (wie Anm. 2) S.-50. 15 Ebd., S.-51. von Tusculum ernannte. 13 Bereits am 27. Dezember 1417 verstarb Baldassare Cossa; er wurde im Baptisterium beim Florenzer Dom beigesetzt. Dort erhielt er ein von Donatello und Michelozzo geschaffenes, prachtvolles Grabmal, das mit den päpstlichen Insignien versehen war. 14 Es kann bis heute in Florenz aufgesucht werden. Das Grabmal hat damit seinen Zweck erfüllt: Die Memoria an den abgesetzten Papst Johannes XXIII. wirkt bis in unsere Tage nach. Abb. 2: Grabmonument des in Konstanz abgesetzten Papstes Johannes XXIII. im Baptis‐ terium in Florenz (vaticanhistory.de: gemeinfrei) Welches möglichst gerechte, vielleicht sogar objektive Urteil kann man ab‐ schließend über Baldassare Cossa fällen? Es herrscht in der Geschichtswissen‐ schaft weitgehende Einigkeit darüber, dass er sehr wohl über militärische und administrative Fähigkeiten verfügte. Eine Stilisierung zu einem Monster ist sicherlich nicht gerechtfertigt, sein Lebenswandel im Amt des Papstes war freilich unangemessen. Unzweifelhaft hat sich Cossa mit Sicherheit weit mehr mit weltlichen Dingen befasst, wie es angesichts seines Amtes als Nachfolger Petri zu vertreten war. Daraus kann nur gefolgert werden, dass Cossa eine Fehlbesetzung als Papst war. 15 Und Oddo Colonna, der in Konstanz gewählte neue Papst? War er eine bessere Besetzung auf dem Stuhl Petri? Zwei Päpste aus Italien auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) 101 16 H O E R E N , Jürgen: Martin V. Papst der Einheit und der Glaubenskriege. Mit einer Einführung von Hans Küng. Mit einem Beitrag von Winfried Humpert, Konstanz 2017, S.-45. 17 S T U D T , Birgit: Papst Martin V. (1417-1431) und die Kirchenreform in Deutschland (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters/ Beihefte zu J.F. Böhmer, Regesta Imperii, 23) Köln 2004, S.-32, Anm. 32. 18 R E H B E R G , Andreas: Colonna, in: Volker Reinhardt (Hg.): Die großen Familien Italiens (Kröners Taschenausgabe, 485) Stuttgart 1992, S.-171-188, hier S.-181. 19 H O E R E N (wie Anm. 16) S.-46. 20 Ebd., S.-48. Martin V. Wenden wir uns dem zweiten Italiener auf dem Papstthron zu, der ebenfalls am Konstanzer Konzil teilgenommen hatte: Oddo (bzw. Oddone) Colonna. Seine Karriere war keineswegs vorgezeichnet. Als uneheliches Kind des Agapito Colonna, das er mit Caterina aus dem Hause Conti gezeugt hatte, verfügte er über einen Makel, der nach dem Kirchenrecht einen Aufstieg in der Hierarchie der katholischen Kirche nicht vorsah. Die Colonna wie die Conti waren beides angesehenen römische Adelsgeschlechter, doch Oddo Colonna sollte der einzige aus dem Geschlecht der Colonna bleiben, der bis heute den Papstthron besteigen konnte. 16 Geboren wurde Oddo Colonna zwischen 1369 und 1370, ein genaues Geburtsdatum lässt sich nicht ermitteln, und zwar in Genazzano im Latium, wo der dort ansässige Zweig der römischen Familie beheimatet war 17 - einer im Übrigen „eher obskuren Seitenlinie“ 18 . In Perugia studierte Oddo Colonna Rechtswissenschaften mit dem Ziel, eine juristische Laufbahn an der Kurie einzuschlagen. Unter Papst Urban VI. wurde er eingestellt, er stieg zum päpstlichen Referendar auf, schließlich gar zum apostolischen Pronotar. 1405 beförderte ihn Papst Innozenz VII. zum Kardinaldiakon. Seine Titelkirche war S. Giorgio in Velabro. Oddo Colonna hatte damit, ohne Priester zu sein, bereits den Kardinalsrang erreicht - „damals keine Seltenheit“ 19 . Der frisch gewählte Papst Johannes XXIII. übertrug dem Kardinaldiakon Colonna Mitte Mai 1410 die Aufgabe, sich mit kirchlichen Beschwerden aus Prag zu befassen: Jan Hus habe das Volk aufgehetzt und einen verstorbenen Papst verschmäht. Rasch müsse gehandelt werden. Oddo Colonna belegte Jan Hus 1411 mit der Exkommunikation. 20 Kurz danach entzog der Papst dem Kardinal‐ diakon den weiteren Prozess. Aber in Konstanz sollten sich die beiden wieder begegnen. Für Colonna war Hus ein Irrlehrer, ein Ketzer, ein Häretiker. Der Kirchenhistoriker Ansgar Frenken kommt zu dem Urteil, dass Oddo Colonna nach der Flucht Johannes XXIII. aus Konstanz „zu den Kardinälen [gehört habe], 102 Jürgen Klöckler 21 F R E N K E N , Ansgar: Das Konstanzer Konzil, Stuttgart 2015, S.-149. 22 S T U D T , Papst (wie Anm. 17) S.-32, Anm. 32. 23 S T U D T , Birgit: Martin V. Überwindung des Schimas und Kirchenreform, in: Das Kon‐ stanzer Konzil 1414-1418. Weltereignis des Mittelalters. Essays. Hg. von Karl-Heinz Braun, Mathias Herweg, Hans W. Hubert, Joachim Schneider und Thomas Zotz, Darmstadt 2013, S.-126-131, hier S.-126. 24 G R O H E , J[ohannes]: Martin V., in: Lexikon des Mittelalters, Bd. VI, München 2002, Sp. 342 f., hier Sp. 342. 25 M Ü L L E R (wie Anm. 11) S.-29. 26 F R E N K E N (wie Anm. 2) S.-153. die sich - letztlich erfolglos - für eine Verständigung zwischen Konzil und Papst einsetzten, die Absetzung Johannes’ allerdings nicht verhindern konnten. Colonna gehörte zu den eher im Hintergrund agierenden Personen auf dem Konzil, die sich in den Streitfragen kaum exponierten und sich damit nur wenige Gegner gemacht hatten.“ 21 Zwar war er im Gefolge von Johannes XXIII. zum Konzil nach Konstanz angereist, doch hatte er sich bereits am 4. Mai 1415 von diesem losgesagt. 22 Damit war sein Weg frei. Seit vier Jahrzehnten bereits währte das große Abendländische Schisma (1378-1417) als das Konstanzer Konzil im November 1417 zur Wahl eines neuen Papstes schritt: 53 Wähler wurden im Kaufhaus zum Konklave versammelt, das ebenso kurz wie störungsfrei nur drei Tage dauerte. 23 Man einigte sich am 11. November 1417 auf den kaum 50 Jahre alten Italiener Oddo Colonna, der sich zur Ehren des Tagesheiligen Martin V. nannte. Für die Zeitgenossen erschein seine Wahl „wunderbar“, da sich Colonna nach seiner Lossagung von Johannes XXIII. im weiteren Verlauf des Konzils sehr im Hintergrund gehalten hatte. 24 Mit seiner Wahl war das Schisma als gesamtkirchliches Problem überwunden oder mit anderen Worten: das Konzil hatte seine dringlichste Aufgabe, die causa unionis, „vordergründig gelöst“. 25 Da Oddo Colonna damals „nur“ Diakon war, wurde er in schneller Folge zum Priester, dann am 14. November zum Bischof geweiht. Am selben Tag noch feierte er seine erste Heilige Messe, an welcher alleine 140 Träger einer Mitra teilnahmen. 26 Konsekration und Krönung zum neuen Papst fanden in Anwesenheit König Sigismunds am 21. November 1417 statt. Der traditionelle Umritt folgte. Mit der Tiara auf dem Haupt und einem Messgewand bekleidet, ritt Martin V. auf einem Schimmel, den der König am Zügel führte, durch Konstanz. Jedermann huldigte ihm, auch die Konstanzer Juden, denen er den Segen spendete. Ab sofort stand das Konzil unter der Leitung eines neuen Papstes, der es bis 22. April 1418 zu Ende führten sollte. Zwei Päpste aus Italien auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) 103 27 S T U D T , Martin (wie Anm. 23) S.-129. 28 R E H B E R G (wie Anm. 18) S.-181. 29 Vgl. dazu weiter: N E S S E L R A T H , Arnold: Martin V. Restaurator Urbis. Konstanz und die Folgen für die Ewige Stadt, in: Das Konstanzer Konzil 1414-1418. Weltereignis des Mittelalters. Essays. Hg. von Karl-Heinz Braun, Mathias Herweg, Hans W. Hubert, Joachim Schneider und Thomas Zotz, Darmstadt 2013, S.-219-223. Abb. 3: Papst Martin V., gewählt im Konstanzer Kaufhaus am 11. November 1417 (wikipedia: gemeinfrei) Reform bedeutete für Martin V. auch, das restaurierte Papsttum nach Rom zurückzuführen. Es war ihm klar, dass der Kirchenstaat die materielle Grundlage seiner Regierung werden würde. Die römische Herkunft des Papstes war sicher‐ lich ausschlaggebend dafür, Rom erneut und dauerhaft zum Sitz des Papstes zu machen. 27 Die Wahl Martins V. hatte somit fürwahr weltgeschichtliche Bedeutung. Sie machte Rom wieder zum Zentrum der katholischen Kirche. Martin V. erreichte die Ewige Stadt, nach einem längeren Zwischenaufenthalt in Florenz, erst am 28. September 1420, nachdem die Besatzungstruppen von Königin Johanna II. von Neapel abgezogen waren. Er vollzog einen triumphalen Einzug in eine „demographisch ausgeblutete Stadt auf dem Tiefpunkt ihrer ur‐ banen Existenz“ 28 . Sein Bruder Giordano beauftragte er mit der Rückeroberung des Kirchenstaates. Er selbst began mit der Wiedereinrichtung der päpstlichen Residenz und der baulichen Erneuerung der Stadt am Tiber. Er wurde zum restaurator urbis, zum Erneuerer der Stadt Rom 29 und zwar zu einem zentralis‐ 104 Jürgen Klöckler 30 G R E G O R O V I U S , Ferdinand: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter vom V. bis zum XVI. Jahrhundert. Hg. von Waldemar Kampf, Band III: Dreizehntes und vierzehntes Buch, München 1978, S.-4. 31 Übersetzung von Brigitte Studt aus: ut Romani pontificatus maiestas in sua excellentia conservetur; in: Das Konzil von Pavia-Siena 1423-1424. Bd. 2: Quellen. Hg. von Walter B R A N D M Ü L L E R (Vorreformationsgeschichtliche Forschungen, 16,2) Münster 1974, S.-52. 32 E S C H , Arnold: Martin V., in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg ³1997, S.-1426. tischen Mittelpunkt eines in monarchischen Formen verwalteten Territoriums. Der Gegensatz von vorher und nachher konnte nicht größer sein. Denn welches Rom hatte er vorgefunden? Der Historiker Ferdinand Grego‐ rovius (1821-1891) hat ein drastisches Bild der damaligen Lage Roms gezeichnet: „Die Verwilderung der Stadt war übrigens so groß, daß es dem Papst nur mit Mühe gelang, die Ordnung zurückzuführen. Das Rom Martins V. war noch die Stadt des XIV. Jahrhunderts, ein von Türmen überragtes Labyrinth schmutziger Gassen, worin das Volk in Armut und Trägheit freudelose Tage hinbrachte. Blutrache hielt die Geschlechter entzweit: Bürger lagen mir Baronen und diese miteinander in Kampf.“ 30 Martin V. hatte 1423 die Quintessenz seines Wirkens in Rom so zusammen‐ gefasst: „Damit sollte die Würde des römischen Papsttums in ihrer ganzen Herrlichkeit bewahrt werden.“ 31 Freilich fasste er die hussitische Reformbewegung, deren Lehren in Konstanz als häretisch verurteilt worden waren, als größte Gefahr für die Kirche auf. Schon in Konstanz hatte er die Dekrete seiner Vorgänger Johannes XXIII. bestätigt. Und 1420 verkündete er auf Drängen des Königs einen Kreuzzug gegen die Häretiker in Böhmen. Damit waren die Hussitenkriege eröffnet, die ihre blutige Spur in Mitteleuropa hinterlassen sollten. Martin V. huldigte in den Folgejahren keinem „krassen Nepotismus“ 32 , doch kann festgestellt werden, dass er seiner Familie und deren römischer Klientel zu einer starken Expansion im südlichen Latium verhalf. Die feierliche Eröffnung des Konzils zu Basel erlebte er freilich nicht mehr. Zu dessen Präsidenten hatte er am 1. Februar 1431 den jungen Kardinal Cesarini ernannt. Doch Martin V. sollte bereits drei Wochen später, exakt am 20. Februar 1431, versterben. Zu seiner Grablege hatte er die Lateranbasilika bestimmt. Dort waren seit dem 12. Jahrhundert keine Päpste mehr beigesetzt worden. Martin V. brachte damit die Rückkehr der Kurie nach Rom überaus symbolisch zum Ausdruck. In der Basilika St. Giovanni in Laterano wurde sein Grab 1853 geöffnet und an die heutige Stelle verlegt; mit einer Glasplatte bedeckt werfen viele Menschen, Pilger wie Kirchenbesucher, Münzen und Geldscheine auf den Sarkophag mit den sterblichen Überresten. Zwei Päpste aus Italien auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) 105 33 G R E G O R O V I U S , Ferdinand: Die Grabdenkmäler der Päpste. Marksteine der Geschichte des Papsttums. Leipzig ²1881, S.-85. Auf dem Grabmal steht geschrieben: Felicitas Temporum Suorum: Martin V. sei „das Glück seiner Zeit“ gewesen. Der bedeutendste Historiker des mittelal‐ terlichen Roms schrieb über das 1853 verlegte Grab: „Es dauert noch fort,“ so Gregorovius, „vor dem Hauptaltar der lateranischen Basilika: eine bronzene Grabplatte, worauf der Papst im Flachrelief dargestellt ist. Der Meister dieses Werkes war Antonio Filarete. Mit ihm begann die Renaissance der Künste in Rom.“ 33 Abb. 4: Grabplatte Martins V. in der Lateranbasilika in Rom (vaticanhistory.de: gemein‐ frei) 106 Jürgen Klöckler 34 N E S S E L R A T H (wie Anm. 29) S.-223. Welches Gesamturteil kann man über sein Pontifikat fällen? Der Kunsthistoriker Arnold Nesselrath summierte treffend: „Martin V. hatte das Papsttum wieder in Rom angesiedelt und damit seinem Wieder‐ aufbau der Stadt, der von ihm geschaffenen Infrastruktur, dem klaren politischen Programm, der Berufung bahnbrechender Künstler und der Erkenntnis, welches Potential eine Rückbesinnung auf die Antike bringt, eine Wende herbeigeführt, die ihn gleichsam zu einer Personifikation dessen machte, was man gemeinhin als ‚Renaissance‘ bezeichnet.“ 34 Zwei Päpste aus Italien auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) 107 Architektur und Kunst Abb. 1: Florenz, Palazzo Vecchio, rechts Eingang in den Cortile di Michelozzo, Foto: Ilse Friedrich, 2022. 110 1 P E C H T , Friedrich: Südfrüchte. Skizzenbuch eines Malers. Zweiter Band. Neapel - Flo‐ renz, Leipzig 1853, S.-136. 2 B U R C K H A R D T , Jacob Christoph: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunst‐ werke Italiens. Basel, 1855. 3 G R E G O R O V I U S , Ferdinand: Wanderjahre in Italien. Leipzig, 1856-1877. Konstanz in Florenz Eine der frühesten Stadtansichten im Palazzo Vecchio Ilse Friedrich Die Konstanz-Vedute im Palazzo Vecchio „Im höchst originellen Säulengang, der sich um den innern Hof des Palastes herumzieht, fand ich eine Menge Prospekte von deutschen Städten, ungefähr aus dem 15ten Jahrhun‐ dert, mit deutschen Unterschriften sogar, und unter ihnen zu nicht geringer Überraschung meine ehrwürdige Vaterstadt, welche durch die Ungunst der Zeiten jetzt freilich von ihrer alten Wichtigkeit gar sehr verloren hat, die Reste ihres malerischen Aussehens unter der barbarischen Geschmacklosigkeit und Tüncherwuth, welche die letzten fünfzig Jahre und vorzüglich das liberal büreaukratische Regiment bei uns charakterisiert, beinahe vollends noch verlor, und sich immer mehr einem physiognomie- und charakterlosen Landstädtchen zubildet“. 1 So beschreibt Friedrich Pecht 1853 nach seiner Begegnung mit der Stadtansicht von Konstanz im Cortile Michelozzo des Palazzo Vecchio nicht nur das maleri‐ sche Abbild, sondern - mehr oder minder verschlüsselt - auch den politischen Zustand seiner Heimatstadt, dem einst so blühenden Bischofssitz. Andere bekannte zeitgenössische Italienreisende - wie zum Beispiel Jacob Burkhardt 2 oder Ferdinand Gregorovius 3 - erwähnen die Stadtansichten überhaupt nicht, sondern beschränken sich auf das äußere Erscheinungsbild des gotischen Palazzo. Das scheint die immer schlechtere und heute kaum noch lesbare Stadtansicht zu bestätigen. Doch was hat es mit dieser einst so prächtigen Vedute der Stadt Konstanz - einer von insgesamt ursprünglich 17, die habsburgische Städte in Österreich, Böhmen, Ungarn und Tirol zeigen - in diesem Cortile auf sich, der sich hinter der strengen mittelalterlichen Architektur des Palazzo als strahlender und grandioser Freiraum öffnet? Und warum wurde gerade Konstanz in den Zyklus dieser Städte aufgenommen, das ziemlich am westlichen Rande des Habsburger Reichs lag? Immerhin war Konstanz damals bis zu seiner Auflösung 1821 Sitz des größten deutschen Bistums, und von 1414 bis 1418 hatte hier ein Reformkonzil mit Papstwahl auf deutschem Boden stattgefunden. Mit der Absetzung der Ge‐ genpäpste war das Schisma der katholischen Kirche beendet und der Reformator Hus war hier verbrannt worden. Im Zuge der fehlgeschlagenen Reformation war Konstanz 1548 dann rekatholisiert und dem Habsburgerreich als Vorposten zugeschlagen worden. Obwohl damit sein Status einer Freien Stadt verloren ging, spielte der transalpine Handel weiterhin eine Rolle und möglicherweise war auch die relative Nähe zur Stammburg der Habsburger im heutigen Kanton Aargau ein Argument. Die Aufnahme in den malerischen Kreis der Städte war also durchaus gerechtfertigt. Die Familie Medici Bevor nun näher auf die Konstanzer Stadtvedute und ihre Besonderheiten eingegangen wird, bedarf es eines genaueren Blicks auf den historischen Kontext, sprich auf das Florenz der Medici. Sie waren schon im 14. Jahrhundert zu einer der einflussreichsten Familien in Florenz aufgestiegen und hatten als skrupellose Patrizier mittels versierter Geschäfte in Bankwesen und Handel Macht erworben und ansehnlichen Reichtum angehäuft. Trotz aller politischen Wirren und ihres Sturzes im Jahr 1494 stiegen sie im 16. Jahrhundert neuerlich auf, ja - es gelang ihnen sogar, die unabhängige Republik in eine Monarchie umzuwandeln. Mit nur 18 Jahren konnte der junge Cosimo (1519-1574) mit Unterstützung Kaiser Karls V. die Regierung antreten und 1569 mit seiner Erhebung in den Stand eines Großherzogs die Alleinherrschaft erlangen, womit die Kontinuität der Herrschaft der Medici für die nächsten 200 Jahre gesichert war. In seiner langen Regierungszeit von 1537 bis 1574 prägte Cosimo I. de’ Medici Florenz und die Städte der Toskana durch deren Ausbau und Sicherung nachhaltig. Aus den Patriziern waren Fürsten, aber auch großzügige Mäzene geworden, die dank ihres unermesslichen Reichtums Florenz wieder zu einem Treffpunkt der angesehensten Gelehrten und berühmtesten Künstler und damit zur führenden Kunststadt der damaligen Welt machten. Geschickt ließen sich damit die eigentlichen Machtansprüche verdecken. 112 Ilse Friedrich 4 „Bella gerant alii, tu felix Austria nube“, aus: Die Welt der Habsburger, https: / / www.ha bsburger.net/ de/ themen/ tu-felix-austria-nube. 5 Erzherzogin Johanna von Österreich (1547-1578), Großherzogin von Toskana; Fran‐ cesco Terzio (um 1523-1591), 1565 und Großherzog Francesco I. (1541-1587) von Toskana, Giovanni Bizzelli (1556-1612), um 1565, Kunsthistorisches Museum Wien. Zu Cosimo I. bemerkenswerter Kulturkam seine weitblickende Heiratspo‐ litik. Er selbst hatte 1539 Eleonora von Toledo, eine Tochter des Vizekönigs von Neapel, geheiratet und war so dem kaiserlichen Umfeld der Habsburger nahegekommen, deren Devise „Kriege führen mögen andere, du, glückliches Ös‐ terreich, heirate“  4 er sich zu eigen machte: geschickt und erfolgreich fädelte er im Jahre 1565 die Heirat seines Sohnes Francesco I. (1541-1587) mit der habsburgi‐ schen Erzherzogin Johanna von Österreich (1547-1578) ein, einer Schwester des regierenden Kaisers Maximilian II. Damit gehörte das Haus Medici zu den mäch‐ tigsten europäischen Fürstenhäusern. Die dynastische Verbindung zwischen den Häusern Medici und Habsburg war zwar im beiderseitigen Interesse erfolgt, war jedoch von Florenz aus intensiver betrieben worden. Die Habsburger waren vor allem am Geld der Medici interessiert, während diese mit dem Prestige einer kaiserlichen Verbindung ihren Einfluss auszuweiten gedachten. So hatte Cosimo I. de’ Medici im Vorfeld der langen Verhandlungen 1564 zunächst konsequent den Vater der Braut, Kaiser Ferdinand I., und dann auch dessen Bruder, Kaiser Maximilian II., erfolgreich mit kostbarsten Geschenken aus dem exzellenten florentinischen Kunstbetrieb umgarnt. Die Hochzeitsfeier Bereits im Jahr der Heirat übergab Cosimo I. die Regierungsgeschäfte an Francesco I., und 1565 wurden vom fürstlichen Brautpaar ganzfigurige Portraits 5 angefertigt, die in großer Detailtreue den gesellschaftlichen Anspruch und Rang anschaulich widerspiegeln: Johanna im schweren Samtkleid, hochgeschlossen, und Francesco in pompöser Paraderüstung, abgewandt. Es ist offensichtlich, dass es keine Liebesheirat gewesen sein kann, sondern dass mit der Verbindung allein politische Ziele verfolgt wurden. (Abb. 2 und 3) Die Hochzeitsfeier fand am 18. Dezember 1565 unter imperialer Prachtentfal‐ tung statt; das kostspieligste und längste Hochzeitsfest, das je in Florenz stattfand, dauerte bis zum Karneval des nächsten Jahres. Der feierliche Einzug der kaiserli‐ chen Braut zu Pferd und die Prozession durch die geschmückte Stadt endeten schließlich am Palazzo Vecchio, wo Johanna von Österreich und Francesco I. de’ Medici zum ersten Mal aufeinandertrafen. Auf der gesamten Länge von der Porta al Prato, dem westlichen Stadttor, bis zum Palazzo Vecchio waren in der Konstanz in Florenz 113 6 M E L L I N I , Domenico: Descrizione Dell’Entrata Della sereniß. Reina Giouanna d’Austria Et dell’Apparato, fatto in Firenze nelle venuta, & per le felicissime nozze di S. Altezza Et del’Illustrissimo, & Exellentiss. S. Don Francesco De Medici, Principe di Fiorenza, & di Siena, Fiorenza, 1566. Stadt durchgängig dreizehn ephemere „Festapparate“ wie Triumphbögen, Histo‐ rienbilder und Statuen aufgebaut worden, die mit allegorischen Darstellungen dem Habsburger Kaiserhaus und dem Haus Medici huldigten. Im Cortile wurde die Braut mit dem Reigen der 17 Ansichten habsburgischer Städte überrascht und so an ihre Heimat erinnert. In diesem faszinierenden Innenhof lag das gesamte Reich gewissermaßen symbolisch und komprimiert vor der Habsburgerin (Abb. 4). Dieses verschwenderisch arrangierte Ereignis hat neben vielen anderen der Chronist Domenico Mellini (ca.1540-1610) in einer umfassenden, bereits 1566 erschienenen Darstellung 6 detailliert beschrieben. Abb. 2: Erzherzogin Johanna von Österreich, 1565 Abb. 3: Großherzog Francesco I., um 1565 114 Ilse Friedrich 7 Arnolfo di Cambio (um 1240/ 45-1302/ 1310), italienischer Architekt und Bildhauer, der vor allem am Neubau des romanisch-gotischen- Doms-(der Kathedrale Santa Maria del Fiore) in Florenz beteiligt war. Abb. 4: Cortile di Michelozzo, Südseite mit der Konstanzer Vedute. Foto: Francesco Guazzelli, Florenz, 2019. Mit dem Auftrag, die Hochzeitsfeierlichkeiten angemessen und unvergesslich zu arrangieren, war Giorgio Vasari (1511-1574) betraut worden, der schon lange mit einer vielköpfigen Entourage aus Fachleuten und Mitarbeitern im Palazzo Vecchio tätig gewesen war. Ihm zur Seite gestellt waren Hofgelehrte, um ein dem außerordentlichen Anlass entsprechendes Bild- und Festprogramm zusammenzustellen. Einer der wichtigsten war der Humanist, Schriftsteller und Priester Vincenzo Borghini (1515-1580), mit dem Vasari schon bei der Entwicklung des Bildprogramms sowie der Ausstattung des Palazzo Vecchio erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Der Hofkünstler Giorgio Vasari Im Palazzo Vecchio hatten seit jeher und haben bis heute die jeweiligen Stadtre‐ gierungen ihren Sitz. In dem ab 1298 nach einem Entwurf von Arnolfo di Cambio 7 Konstanz in Florenz 115 8 Michelozzo di Bartolomeo (um 1396-1472), italienischer Bildhauer, Bronzegießer, Gold‐ schmied und Architekt war vor allem in Florenz tätig. Auch das Grabmonument im Florentiner Baptisterium für den Gegenpapst Johannes XXIII., der auf dem Konstanzer Konzil 1415 abgesetzt wurde, stammt von Michelozzo. (In diesem Band auf S.-101) 9 B L U M , Gerd: Giorgio Vasari. Der Erfinder der Renaissance. Eine Biographie, C. H. Beck, München, 2011. erbauten Gebäude befindet sich auch der 1453 von Michelozzo 8 entworfene Innenhof, der sogenannte Primo Cortile mit umlaufender Loggia aus zylindrischen und achteckigen Säulen. Den größten Anteil an den späteren baulichen Verän‐ derungen hat der Architekt, Maler, Geschichts- und Kunstschriftsteller Giorgio Vasari, der aufgrund seiner erstmals 1550 erschienenen Künstlerbiographien „Leben der berühmtesten Maler, Bildhauer und Baumeister“, den „Le Vite“, als einer der ersten Kunsthistoriker und „Erfinder der Renaissance“ 9 gilt. In dem Cosimo I. de’ Medici gewidmeten Werk stellte er die Biografien von über hundert Künstlern von Giovanni Cimabue bis Michelangelo dar. Schnell und dauerhaft war er am Medici-Hof zum unentbehrlichen „Manager“ in allen künstlerischen und organisatorischen Belangen aufgestiegen, der ab 1555 fast 20 Jahre lang mit einer großen Gefolgschaft von Künstlern und Handwerkern den Palazzo Vecchio zur großherzoglichen Residenz umbaute und kunstvoll ausstattete. Mit diesen umfangreichen Modernisierungs- und Umbauarbeiten wurde der ehemalige Palazzo della Signoria luxuriöser und wohnlicher gestaltet sowie für die Regierungsorgane vergrößert. Er verwandelte insbesondere den ehemaligen riesigen Versammlungsraum der Volksvertreter, den Salone dei Cinquecento (Saal des Rates der Fünfhundert) in den Audienzsaal von Cosimo I. und verherrlichte in riesigen manieristischen Gemälden dessen militärische Eroberungen von Pisa und Siena. Vasaris bedeutendste Architekturleistung war der 1560 begonnene Bau der Uffizien; das ehemalige Verwaltungsgebäude beherbergt heute die berühmtesten Kunstsammlungen weltweit. Vasari war für eine pünktliche Erledigung seiner Aufträge bekannt und hatte sich schon bei der Beseitigung der Schäden des Arno- Hochwassers von 1557 unentbehrlich gemacht. Die habsburgischen Stadtansichten Anlässlich der Hochzeit hatte Giorgio Vasari auch den gut 100 Jahre zuvor von Michelozzo erbauten Innenhof mit seiner Loggia im manieristischen Stil beispiellos umgestalten und aufwerten lassen. Die republikanischen Wappen (wie das der Medici, die Florentiner Lilie, oder der Adler der Guelfen-Partei) stammen noch von Michelozzo und blieben erhalten. Mitten im Hof wurde der vorhandene Brunnen durch einen neuen von Vasari ersetzt; sämtliche Säulen wurden mit floralen 116 Ilse Friedrich 10 Adriana Concin, Abb. 5, aus: „Changed Locations: the Habsburg Cityscapes in Palazzo Vecchio, Florence“, Burlington Magazine 161, no. 1396, 2019. 11 G R E G G , Ryan E.: City Views in the Habsburg and Medici Courts. Depictions of Rhetoric and Rule in the Sixteenth Century, Leiden 2018.- und figürlichen Stuckornamenten versehen und teilweise vergoldet. Während er die Lünetten rund um die Arkaden mit den Attributen der Kirchen und den Abzeichen der einflussreichen Zünfte der Stadt verzierte, wurden die Gewölbe mit ornamentalen und grotesken Malereien dekoriert. Schlussendlich krönte der Zyklus mit Ansichten von Städten des Habsburgerreiches die vier Wände des Cortile. Heute sind noch 14 von ursprünglich wohl 17 zu sehen; von der Piazza della Signoria kommend ist der Ablauf rechtsherum wie folgt: Hall in Tirol, Wiener Neustadt, Konstanz, Kaiserebersdorf, Innsbruck, Wien, Bratislava, Linz, Freiburg im Breisgau, Graz, Klosterneuburg, Prag, Stein-Krems, Passau und Sterzing. 10 Über jeder Ansicht befinden sich das Wappen und der zeitgenössische Name der Stadt in deutscher Sprache und unten der in lateinischer Sprache, meist mit Beinamen (Abb. 5). Seit dem ausgehenden Mittelalter waren mit dem Aufblühen und Erstarken der Städte bildliche Darstellungen, die sich an der wirklichen Topografie orien‐ tierten, mehr und mehr in Mode gekommen; Stadtansichten konnten nun auf Grund des neuartigen Buchdrucks in umfangreichen Werken wie der Hartmann Schedelschen Weltchronik von 1493 oder Sebastian Münsters Cosmographia von 1544 allgemein und weit verbreitet werden. In diesen Kompendien waren bereits manche der für den Zyklus vorgesehenen Städte längst veröffentlicht. Dennoch ordnete Cosimo I. an, dass für den Cortile aktuelle und nach der Natur gezeich‐ nete Ansichten anzufertigen seien. Schon für die mit Menschen und Tieren überladenen Schlachtenbilder von seinen Eroberungskriegen gegen Pisa und Siena im Salone dei Cinquecento, dem späteren Audienzsaal, waren Künstler und Zeichner ausgesandt worden, um vor Ort perspektivisch naturalistische Skizzen anzufertigen. Bei diesen Wandgemälden sollten die Städte Kulissen für die jeweiligen historischen Ereignisse bilden. 11 Hier malte Vasari eigenhändig zusammen mit dem Flamen Jan van der Straet (1523-1605), in Florenz Giovanni Stradano genannt. Trotz überragender Meisterschaft in diesem Genre war Stradano vermutlich nicht abkömmlich, denn für die Hochzeitsfeier musste auch der Audienzsaal noch rechtzeitig fertiggestellt werden. Wohl aus diesem Grunde sah sich der Kunst-Impresario Vasari genötigt, zur Ausführung der Veduten spezialisierte Maler für Panoramen und Landschaften aus Norditalien hinzuziehen: dazu gehörten Bastiano Veronese, Giovanni Lombardi Veneziano, Cesare Baglioni Bolognese und Turino da Piemonte. Konstanz in Florenz 117 Abb. 5: Cortile Michelozzo, Plan mit den vorhandenen Stadtansichten, genordet, von Adriana Concin, 2019. Die Stadtansichten: 1 Wien; 2 Innsbruck; 3 Kaiserebersdorf; 4 Konstanz; 5 Wiener Neustadt; 6 Hall in Tirol; 7 Sterzing; 8 Prag; 9 Passau; 10 Stein-Krems; 11 Klosterneuburg; 12 Graz; 13 Freiburg im Breisgau; 14 Linz; 15 Bratislava; t Eingang von der Piazza della Signoria; h Inschrift von Giuseppe del Rosso (1812); i Eingang zum Cortile della Dogana; j Inschrift von Messer Fabio Segni (1565) und g Nische mit „Samson und dem Philister“ von Pierino da Vinci. Die Stadtansicht von Konstanz Die rechteckige Konstanzer Stadtansicht nimmt die gesamte Breite von 4,80 Meter zwischen zwei gemalten Risaliten an der südlichen Hofwand ein und zeigt eine bislang beispiellose Perspektive. Während alle bis dato bekannten Ansichten die Stadt immer vom See, von Osten her zeigen, wurde für Florenz ein zuvor nicht wahrgenommener Blickpunkt von der Landseite, von Westen her gewählt. Da es dazu noch keine verfügbaren Unterlagen gab, muss als sicher angenommen werden, dass auch für Konstanz eigens Vorlagen angefertigt wurden. Als im März 118 Ilse Friedrich 12 Stadtarchiv Augsburg, e-Mail vom 07.09.2022 und Adriana Concin, e-mail vom 11.08.2022: „Zur Anfertigung der Vorlagen beauftragten Cosimo und Francesco I de’ Medici die Augs‐ burger Handelsfamilie Kraffter. Die Familie Kraffter schickte eine Reihe von Künstlern aus Augsburg in die umliegenden Städte, um Skizzen von Konstanz, Passau und Freiburg im Breisgau für Vasari und seine Werkstatt anzufertigen. Im Florentiner Staatsarchiv findet man die Rechnung für diesen Auftrag. Es handelt sich um eine genaue Abrechnung, die angibt, dass ein Künstler aus Augsburg eine 2-Tagesreise nach Konstanz übernommen hatte, um die Stadt zu skizzieren. Diese Skizze wurde dann von Augsburg aus, von den Kraffter Brüdern nach Florenz geschickt. Leider habe ich nicht herausgefunden, wer dieser Augsburger Maler war.“ 1565 das Städte-Programm feststand, schaltete Cosimo I. für den süddeutschen Raum die Augsburger Kaufmannsfamilie Kraffter ein, um an entsprechende Skizzen für Breisach, Freiburg im Breisgau, Hall in Tirol, Innsbruck, Konstanz, Passau und Sterzing zu gelangen. Die Namen der beauftragten Maler sind bis heute nicht bekannt. Denn obwohl die Kraffter einen regen Handel mit Florenz betrieben, sind im Stadtarchiv Augsburg dazu leider keine Quellen vorhanden; aber immerhin findet sich im Archivio di Stato di Firenze, im Staatsarchiv eine Rechnung und damit eine Bestätigung des Auftrags. 12 Abb. 6: Cortile Michelozzo, Ansicht von Konstanz, Foto: Ferdinando Barsotti, Florenz, um 1939. Konstanz in Florenz 119 13 StAKN, Z1. alt D11-10. Die Konstanzer Vedute ist von Blumen- und Groteskenmalereien eingerahmt und mit dem Stadtwappen versehen; darüber befindet sich die Bezeichnung Costentz, während am unteren Rand die lateinische Fassung Constantia Sveviae Civitas geschrieben steht. Auf der Fotografie aus der Zeit um 1939 (Abb. 6) 13 ist noch gut erkennbar, dass der Zeichner einen erhöhten Standort auf dem Seerücken, weit außerhalb der ummauerten Stadt, eingenommen hat, um so einen vollständigen Überblick über die Stadt und den sich jenseits des Hafens weitenden Bodensee zu gewährleisten. In der perspektivisch genauen Vogelschau sind die Umfassungsmauern mit den Toren und Türmen eindeutig zu identifizieren - auffallend ist zum Beispiel das gewaltige Paradieser Tor in der Mitte des Bildes. Mit beträchtlicher Genauigkeit und Detailfülle sind auch andere bedeutende Bauten anschaulich dargestellt - wie das Münster, die Dreifaltigkeitskirche, das Dominikanerkloster im See oder das Kloster Peters‐ hausen neben der Brücke über dem Rheinausfluss. Auf Grund des realitätsnahen Stadtbildes entsteht beinahe der Eindruck, als sei eine genaue Vermessung vorgenommen worden, was wegen der Kürze der Zeit jedoch kaum möglich gewesen sein kann. Die Wandmalereien im 19. und 20.-Jahrhundert Von dem so verschwenderisch organisierten Ereignis mit seinen abwechslungs‐ reichen und prächtigen Festdekorationen blieben lediglich der manieristische Neptunbrunnen des Bildhauers Bartolomeo Ammanati (1511-1592) auf der Piazza della Signoria sowie die Wandmalereien im Cortile erhalten, die jedoch in Vergessenheit gerieten. So lag ihr weiteres Schicksal lange im Dunkeln, ehe wieder neues Interesse daran erwachte. Auf jeden Fall trifft zu, dass das großartige künstlerische Ensemble wegen falscher Nutzungen sowie mangels Pflege und Unterhaltung gelitten hat. Die Renovierung von 1812 Ins öffentliche Bewusstsein treten die Veduten erst wieder in napoleonischer Zeit. Aus dem Jahr 1812 stammt eine Erinnerungstafel (Abb. 7); auf ihr hat der 1808 mit der Restaurierung beauftragte Architekt Giuseppe del Rosso die Ge‐ schichte des Hofes vermerkt und alle ehemals mitwirkenden Künstler genannt. Außerdem werden starke Verluste an den Malereien bestätigt; der Hof insgesamt muss wegen der Nutzung durch Wachsoldaten in verwahrlostem Zustand ge‐ 120 Ilse Friedrich 14 Inschrift, Schlussabsatz, Übersetzung d. V.: „[…] Nachdem das Alter und die Strenge der Jahreszeiten alle oben genannten Ornamente fast zerstört oder zumindest undeutlich gemacht hatten, wurden sie wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht im Jahr MDCCCXII, unter Napoleon dem Großen als Gouverneur der Toskana S.A.I.E.R. der Großherzogin Elisa, seiner Schwester, dem Präfekten des Departements Arno, dem Baron des Reiches Giuseppe Fouchet, Kommandeur der Ehrenlegion, und dem Grafen des Reiches Emilio Pucci, Komtur des kaiserlichen Ordens der Reunion und Ritter derselben Ehrenlegion“. wesen sein. Leider werden die Instandsetzungs- und Restaurierungsmethoden nicht näher angesprochen; dabei wird es sich um statische Sicherungen und Übermalungen im Sinne des Zeitgeistes gehandelt haben. Besonderen Wert legte del Rosso darauf, dass die Maßnahmen während der Herrschaft Napoleon Bonapartes durchgeführt wurden, der sich 1805 zum König von Italien krönen ließ und 1807 seine Schwester als Großherzogin der Toskana einsetzte. Ob die Arbeiten auch von Napoleon angestoßen wurden, bleibt offen; jedenfalls wurden unter der Ägide des Florentiner Bürgermeisters Emilio Pucci Hof- und Städtebilder wiederhergestellt und zugänglich gemacht. 14 Abb. 7: Cortile Michelozzo, Inschrift von Giuseppe del Rosso (1812); Foto: Ilse Friedrich, 2022. Konstanz in Florenz 121 15 ASCFi---Ufficio belle arti: Anno 1906, n. reg. 1086, coll. CF 4703. 16 Francesco Ferrucci (1489-1530) war ein italienischer Condottiere, ein Söldner-Heerführer, der sich um die Republik Florenz verdient gemacht hatte. Sein Mythos entstand im 19.-Jahrhundert, in der Zeit des italienischen Einigungsprozesses. Bis in die 1930er Jahre sind keine weiteren Restaurierungsarbeiten an der deko‐ rativen Ausstattung des Cortile dokumentiert. Denn leider hat die Florentiner Kunst-Kommission 1906 das Angebot des aus Dresden stammenden Maximilian Freiherr de Fabrice (1845-1914) abgelehnt, der die Restaurierung der Konstanzer Ansicht auf eigene Kosten und in Absprache mit der Stadt Konstanz hatte über‐ nehmen wollen. 15 Angeblich sei deren Zustand äußerst schlecht und deshalb eine Restaurierung des Gemäldes unmöglich. Der wohlhabende Privatier hatte 1879 nämlich das unweit von Konstanz am Rhein gelegene Thurgauer Schloß Gottlieben gekauft. Seine Großherzigkeit lässt sich aus dieser Nähe und auch aus der traditionellen Verbindung zu Konstanz erklären. Darüber hinaus kam der Anstoß sicherlich von seiner in Florenz lebenden Schwester Ilka de Fabrice, die dort als Malerin unter dem Pseudonym Carl Freibach wirkte. Die Rettung der Wandmalereien in den 1930er Jahren Besonders wertgeschätzt waren die Panoramen damals nicht. Auf einigen waren mittlerweile sogar beeinträchtigende Ehrentafeln angebracht worden, zum Beispiel eine Gedenktafel für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs (Linz) und eine weitere für den Condottiere Francesco Ferrucci 16 (Freiburg). Diese Missachtung des wertvollen, wenn auch immer undeutlicher zu erkennenden Bestandes wurde ab Mitte der 1930er Jahre durch das städtische „Ufficio Belle Arti e Antichità“ allmählich überwunden. Drei dieser Gedenktafeln wurden vermutlich in den 1950er Jahren entfernt, was erhebliche Verluste an den Stadtansichten verursachte. Die Graz-Vedute wurde 1956 völlig neu gemalt, weshalb ihre gute Erhaltung und sogar eine gewisse künstlerische Qualität nicht zu übersehen sind. Die Bildflächen von Freiburg und Linz dagegen sind heute nur schmucklose Flächen, weil sie später neutral verputzt wurden. Die Grundsätze der Denkmalpflege hatten sich nämlich inzwischen fundamental verändert: dem Original wurde nunmehr der unbedingte Vorrang eingeräumt, Unwiederbringlichkeit galt es zu akzeptieren (Abb. 8). 122 Ilse Friedrich 17 ASCFi - Ufficio belle arti: Anno 1913, dal n. 710-999, coll. CF 9057. Anno 1935, dal n. 140-420, coll. CF 9140. Anno 1936, dal n. 120-410, coll. CF 9144. Anno 1938, dal n. 50-410, coll. CF 9156. Anno 1941, dal n. 160-410, coll. CF 9173. Anno 1942, dal n. 105-410, coll. CF 9177. Anno 1951, dal n. 201-700, coll. CF 9204. ASCFi - Ufficio belle arti: Anno 1956, dal n. 210-403, CF 9224. Anno 1958 dal n. 101-400, coll. CF 9228. Anno 1967, IV, coll. CF BA D 45. Anno 1975, IV A - XII, coll. CF BA D 119. Anno 1975, I - IV A, coll. CF BA D 118. Anno 1975, IV A---XII,-CF BA D 119. 18 ASCFi---Anno 1936, 120---410,-CF 9144. Abb. 8: Cortile di Michelozzo, Nordseite mit der Grazer und der verlorenen Freiburger Vedute, Foto: Francesco Guazzelli, Florenz, 2019. Die Restaurierungen von 1935 bis 1942 Doch schon in den dreißiger Jahren war der Wunsch nach umfassender Restau‐ rierung immer unabweislicher geworden. Seit damals gibt es auch taugliche Belege über alle Erhaltungs- und Restaurierungsmaßnahmen, die im Archivio Storico Comune di Firenze (ASCFi) als schriftliches Quellenmaterial reichlich zur Verfügung stehen 17 , während fotografische Dokumentationen dazu kaum zu finden sind. Mit allen erforderlichen Untersuchungen und den daraus fol‐ genden Maßnahmen wurde die damals anerkannteste und letztendlich einzige Restaurierungswerkstatt Amedeo Benini 18 in Florenz beauftragt. Den Anfang machte die Vedute von Wiener Neustadt; bei deren Proberestaurierung wurde neben einer außerordentlichen Verschmutzung ein enorm fragiler Erhaltungs‐ Konstanz in Florenz 123 19 ASCFi - Ufficio belle arti: Festeggiamenti visita del Fuhrer [sic! ] a Firenze, CF 7485 und CF 7486. zustand festgestellt. Deshalb wurden die Übermalungen aus der Zeit um 1810 abgenommen, die dadurch entstandenen Fehlstellen mussten retuschiert und samt dem Putz mit Fixiermitteln gefestigt werden. Abb. 9: Briefkopf der Restaurierungsfirma Amedeo Benini, 1936. Entsprechend diesem Konzept wurden die Maßnahmen an den Veduten sowie an den figürlichen und grotesken Malereien und Stuckierungen bis 1942 kon‐ tinuierlich weitergeführt. Schon 1938 waren acht Stadtbilder samt Gewölben, Säulen und Wänden restauriert: auf der Westseite Hall in Tirol und Prag, auf der Ostseite Wien und auf der Südseite Konstanz, Innsbruck, Ebersdorf, Sterzing, Wiener Neustadt. Um den Fortschritt der Arbeiten zu überwachen, gab es während der gesamten Kampagne einen ständigen Dialog zwischen allen zuständigen Institutionen. Die Akten lassen die Vermutung zu, dass wegen des Besuchs von Adolf Hitler am 9. Mai 1938 in Florenz 19 die Restaurierungen mit großer Geschwindigkeit vorangetrieben wurden. Zur Feier des Ereignisses war das historische Stadtzentrum geschmückt und herausgeputzt worden, und es passte gut ins Programm, dass auch die Städte der ehemaligen Habsburger Monarchie in neuem Glanz erstrahlten; zudem wurde dem „Führer“ im Salone dei Cinquecento gehuldigt. Mitte der 1940er Jahre waren die Arbeiten an allen Stadtansichten sowie an den Gewölben und Wänden abgeschlossen. Nachdem 124 Ilse Friedrich 1944 am Palazzo Vecchio eine Mine explodiert war und insbesondere die Ansichten von Konstanz und Wiener Neustadt Schaden genommen hatten, waren zusätzlich Kriegsschäden zu beseitigen gewesen. Die Restaurierungen in den 1950er und 1960er Jahren Nach 1950 wurden die Restaurierungen an den Malereien im Cortile wieder aufgenommen und durch die Firma Benini fortgesetzt. Als alle Maßnahmen an den Veduten von Klosterneuburg, Passau und - mutmaßlich - Bratislava sowie im gesamten Innenhof abgeschlossen waren, hatte die renommierte Werkstatt von 1935 bis in die späten 1960er Jahre alle Stadtansichten des Innenhofs gesi‐ chert und restauriert - ohne Konkurrenz. So blieben über einen ungewöhnlich langen Zeitraum von gut 30 Jahren die Arbeitsmethoden unverändert. Kaum fertiggestellt, sollte schon bald neuerliche Unbill drohen. Beim ver‐ heerenden Arno-Hochwasser im November 1966 stand der Palazzo Vecchio meterhoch unter Wasser, das mit Schlamm, Unrat und vor allem mit ausgelau‐ fenem-Heizöl kontaminiert war. Dieses vergiftete, in den Mauern aufsteigende Gemisch verursachte große Schäden durch Salzausblühungen und damit ver‐ bundenen Abplatzungen an den Malschichten. Um diesen durch die kapillare Wanderung von Salzen hervorgerufenen Verlusten zu begegnen, wurden neun Städtebilder, darunter dasjenige von Konstanz, vom verdorbenen Putz abgelöst und auf Faserplatten (Masonit-Träger) übertragen (Strappo-Verfahren). In situ verblieben nur die sechs Veduten von Wiener Neustadt, Hall in Tirol, Graz, Freiburg im Breisgau, Linz und Bratislava. Bei der Abnahme der Konstanzer Vedute kam übrigens ein Fenster aus der Zeit des Umbaus durch Michelozzo zum Vorschein, das 1565 vermauert worden war, um eine ausreichend große Fläche für die Stadtansicht zur Verfügung zu haben. Zum Glück wurde 1906 der Vorschlag der Kunst-Kommission, das Fenster wieder zu öffnen, nicht ausgeführt; denn das hätte die endgültige Zerstörung der Stadtansicht von Konstanz bedeutet. Konstanz in Florenz 125 Abb. 10: Cortile Michelozzo, Ansicht von Konstanz, vor der Abnahme, Foto: Werkstatt Benini, Florenz, 1968, Fototeca Musei Civici Fiorentini. Abb. 11: Cortile Michelozzo, Ansicht von Konstanz, nach der Abnahme, mit dem zugemauerten Fenster, Foto: Werkstatt Benini, Florenz, 1968, Fototeca Musei Civici Fiorentini. 126 Ilse Friedrich 20 Servizio Belle Arti e Fabbrica di Palazzo Vecchio del Comune di Firenze, Bericht der Projektleiterin, Dott.sa Laura Corti: „Estratti dalla Relazione Tecnica di Restauro“, Firenze 2015. 21 Bericht „Relazione dell’Intervento di Restauro Relativo all‘anno 2011-2012“. Die Restaurierungen von 1989 bis 1993 Die Abnahme der Stadtansichten von den feuchten Wänden hatte die Gefähr‐ dung der malerischen Oberflächen allerdings nicht aufhalten können. Seit 1985 wurde über ein Restaurierungsprojekt neu nachgedacht. Der Verschleiß schritt nämlich immer schneller voran, so dass die Intervalle zwischen den Restaurierungen immer kürzer wurden. Die Arbeiten gestalteten sich äußerst heikel, denn bei der Beseitigung von Retuschen und Übermalungen in den 30er Jahren war wenig sensibel gearbeitet worden; zudem waren schwer zu bestimmende Materialien und Fixierungsmittel verwendet worden. Dies und die komplizierte Abnahme und Übertragung auf die Faserplatten hatten zu weiteren Fragmentierungen in den Malschichten geführt und waren zusätzlich dem ungünstigen Mikroklima im Hof und erheblichen Schadstoffbelastungen ohnehin ausgesetzt. 20 Unter der Leitung von Architekt Ugo Muccini von der städtischen Fabbrica Palazzo Vecchio wurden nach einem Stillstand von 20 Jahren 1989 die Restau‐ rierungen wieder aufgenommen. Mit ihnen wurde der methodische Wandel von einer eher amateurhaften zu einer wissenschaftlich fundierten Restaurierung vollzogen. Denn die Zeit der Künstler-Restauratoren war vorbei, an die Stelle der Optik war die Analytik getreten. Heutzutage ist es nämlich längst Norm, jeglichem Umgang mit Kulturgut exakte Analysen und Prüfungen zu Material und Technik vorzuschalten. Entsprechend diesen Grundsätzen begannen die Arbeiten folglich mit der Reinigung und endgültigen Konsolidierung der Ober‐ flächen, der Ausbesserung von Rissen und Fugen sowie einer abschließenden vorsichtigen Retusche durch Lasieren mit unschädlichen Aquarellfarben. Nach diesen Prinzipien wurde 1989 auch die Restaurierung der Vedute von Konstanz fertiggestellt. Die jüngsten Restaurierungen von 2005 bis 2015 Erneut trat eine lange Unterbrechung in der Restaurierungskampagne ein, ehe sie im Jahr 2005 wieder aufgenommen und 2015 anlässlich der 450-Jahrfeier der prestigeträchtigen Hochzeit abgeschlossen wurde. Im abschließenden Res‐ taurierungsbericht von Cristiana Conti sind die Ursachen für die mangelnde Nachhaltigkeit akribisch dargelegt. 21 Als Hauptgründe wurden hohe Luftfeuch‐ Konstanz in Florenz 127 22 Schreiben vom 21.05.1937, Akten der Unteren Denkmalschutzbehörde, Stadt Konstanz. tigkeit aufgrund der schlechten Luftzirkulation festgestellt sowie Staub und Schadstoffe, die wiederum Salzbildungen und Abblätterungen der Farbschichten zur Folge hatten. Die maltechnischen Befunde machen außerdem die Folgen der großen Eile deutlich, mit der die Veduten 1565 in weniger als acht Monaten realisiert werden mussten. So wurde anstelle der Freskotechnik eine Misch‐ technik von Fresko und Tempera angewandt. Normalerweise werden Fresken im feuchten Putz „al fresco“ ausgeführt; beim Trocknen gehen die Pigmente dann mit dem Putz eine sehr dauerhafte Verbindung ein. Schon Vasari schätzte Fresken als haltbarste Art von Wandmalerei ein, da sie „wasserfest“ seien und „jegliche Einwirkung auf Dauer“ aushielten. Bei der Malweise „al secco“ dagegen wird auf den trockenen Putz gemalt und bei der Mischtechnik (Fresco-Secco) wird auf halbfeuchten Putz mit Tempera gemalt. Das ist zwar weniger haltbar, dafür geht es schneller und erlaubt außerdem Korrekturen. Die Konstanzer Aktivitäten Nach diesen allgemeinen und technischen Darlegungen sei der Blick noch einmal speziell auf die Konstanzer Vedute gerichtet. Diese war zum ersten Mal in einem Schreiben vom 21. Mai 1937 aktenkundig geworden - dies wohl im Zusammenhang mit einem Besuch des österreichischen Kanzlers Kurt Schusch‐ nigg in Florenz im Jahre 1934, der bei dieser Gelegenheit die Restaurierung der Ansicht von Hall in Tirol angeregt hatte. In diesem Schreiben unterrichtet der Städtische Rechtsrat Mack einen Dr. Hans Zedinek in Wien wie folgt: Bezüglich der Restaurierung der Bilder teilte uns, Herr Professor Purrmann, Florenz, mit, daß z.Zt. die genannten Bilder im Palazzo Vecchio wiederhergestellt würden. Jedoch sei das Konstanzer Bild stark beschädigt und vollkommen unkenntlich.  22 Neben dieser Bestätigung über den schlechten Zustand der Vedute wurde auch die Suche nach Vorlagen schon damals negativ beschieden. Von 1935-1943 hatte der Maler Hans Purrmann (1880-1966) das deutsche Kunstinstitut Villa Romana in Florenz geleitet. Das renommierte Haus hatte sich in der Kriegszeit zum Zentrum für emigrierte deutsche Intellektuelle und Künstler entwickelt, wurde aber als Kriegsfolge geschlossen und erst 1958 wie‐ dereröffnet. Nach langer Pause versuchte der neue Leiter Joachim Burmeister im Jahr 1979 wieder Schwung in die Restaurierung der Wandmalereien zu bringen. Anlass dazu bot eine für 1980 geplante große Medici-Ausstellung, schien es doch wegen des bedauerlichen Zustandes […] allerhöchste Zeit, zu ihrer Rettung etwas zu unternehmen. Sein Hilferuf vom Juni 1979 an den Bürgermeister der 128 Ilse Friedrich 23 Schreiben vom 06.06.1979, Akten der Unteren Denkmalschutzbehörde, Stadt Konstanz. 24 Schreiben vom 28.01.1984, Akten der Unteren Denkmalschutzbehörde, Stadt Konstanz. 25 Schreiben vom 13.05.1986, Akten der Unteren Denkmalschutzbehörde, Stadt Konstanz. Stadt Konstanz ging gleichzeitig an alle Bürgermeister der einzelnen Städte, damit sie sich patenschaftlich ihrer hier in Florenz so sichtbar untergehenden Städteabbildungen annehmen sollten.  23 In Konstanz verhallte der Appell zunächst, obwohl sich in der Stadt schritt‐ weise Aktivitäten in Sachen Denkmalschutz und -pflege entwickelt hatten, die 1979 in die Gründung des „Arbeitskreises Denkmalpflege Konstanz e. V.“ und 1981 der Stiftung „Stadtbild Konstanz“ mündeten, beide unter dem Vorsitz des unermüdlichen Stadtrates Klaus Keller-Uhl (1927-2021). Ab 1983 entstand über die Stiftung ein reger Austausch mit Florenz über die Restaurierung der Kon‐ stanzer Stadtansicht. Unabhängig davon hatte 1985 der oben erwähnte Architekt Muccini ein Restaurierungsprogramm für den gesamten Cortile initiiert. Zuvor hatte es einen zähen Briefwechsel zu fachlichen und finanziellen Fragen gegeben. Auf beiden Seiten wurden Kosten ermittelt und in Konstanz obendrein beharrlich Spenden gesammelt, wozu auch eine Glückwunschkarten- Aktion des Arbeitskreises Denkmalpflege beitrug. Selbst der italienische Bot‐ schafter in Bonn, Luigi Ferraris, setzte sich in der Angelegenheit ein, bis den Konstanzer Oberbürgermeister Horst Eickmeyer Anfang 1984 ein detaillierter Kostenvoranschlag aus Florenz in Höhe von ca. 75.000 DM erreichte. 24 Dieser sah neben der Restaurierung des eigentlichen Stadtgemäldes (ca. 20.000 DM für 9,25 qm) auch restauratorische Maßnahmen aller Dekorationen im Joch insgesamt sowie eine Dokumentation sämtlicher getätigter Maßnahmen vor. Überdies meldete sich Joachim Burmeister im Mai 1986 25 erneut und wiederholte die Notwendigkeit der Restaurierung, da […] Florenz in diesem Jahr Hauptstadt der europ. Kultur feiern darf. Dazu übersandte er einen deutlich günstigeren Kostenvoranschlag in Höhe von ca. 45.000 DM, der sich jedoch nur auf die Restaurierung der Vedute bezog. Aufgrund dieser Kostenreduzierung gelang es, im städtischen Haushalt für 1987 erstmals 25.000 DM einzustellen - allerdings unter der Maßgabe, dass seitens des Arbeitskreises 20.000 DM aufgebracht werden müssen. Zu guter Letzt hatten sich die nahezu zehnjährigen Mühen ausgezahlt und der Arbeitskreis-Vorsitzende Keller-Uhl konnte zusammen mit Direktor Burmeister dem Florentiner Kulturbürgermeister Giorgio Morales im Oktober 1988 die ersten Spenden in Höhe von 10.000 DM überbringen. Diese Konstanzer Initiative fand sogar in der Florentiner Presse große Aufmerksamkeit und Konstanz in Florenz 129 26 „La Nazione“ vom 21. Oktober 1988, Akten der Unteren Denkmalschutzbehörde, Stadt Konstanz. Anerkennung. 26 Auch ohne weitere Gelder aus Konstanz wurde die Stadtansicht 1989 programmgemäß restauriert, wobei auf die malerische Wiederherstellung der Vedute aus dem Jahr 1938 bewusst verzichtet wurde. Unübersehbar sind die Einbußen an der Malerei im Vergleich mit der um 1939 nach der Restaurierung entstandenen Schwarz-Weiß-Aufnahme (Abb. 6). Abb. 12. Cortile Michelozzo, Ansicht Konstanz nach der Restaurierung, Foto: Francesco Guazzelli, Florenz, 2015. Ausklang Das Ensemble der Habsburger Städte von 1565 stellt wegen seiner architektoni‐ schen und künstlerischen Ausstattung ein einzigartiges Gesamtkunstwerk dar. Es ist ein ansehnlicher historischer Speicher, in dem sich neben dem Aufstieg der Patrizierfamilie der Medici zu Großherzögen der Toskana auch wichtige Bezüge zur damaligen Bischofsstadt Konstanz manifestieren. Ihre Vedute kann als Beleg für Rang und Bedeutung der Stadt im damaligen Weltreich der Habsburger gelten. Hinzu kommt die lokale Bedeutung der Vedute als früheste 130 Ilse Friedrich bekannte und topografisch verlässlichste Auskunft zur Konstanzer Stadtgestalt mit ihrer neuen und einzigartigen Perspektive von Westen auf Stadt und See. In Konstanz sollte man auch künftig dieses so bedeutende wie fragile Kunstwerk auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Dauernde Beobachtung und Pflege werden auch in Zukunft unerlässlich sein, damit Konstanz dauerhaft mit diesem außerordentlichen Zeugnis über die bloße Symbolik hinaus verbunden bleiben kann. Dank Für Hilfe und Unterstützung danke ich folgenden Institutionen und Personen: - Archivio Storico Comune di Firenze, das ASCFi war die beste Anlaufstelle für meine Recherchen. Den Damen und Herren danke ich herzlich für die Unterstützung bei der Einsichtnahme von Akten. - Francesco Guazzelli, Fotograf in Florenz, verdanke ich die Abbildungen 4, 8 und 12 vom Cortile di Michelozzo. - Ilaria Vallifuoco, Architektin beim Servizio Belle Arti e Fabbrica di Palazzo Vecchio, Direzione Servizi Tecnici, stellte Auszüge aus dem Bericht der Projektleiterin, Dott.sa Laura Corti del Comune di Firenze: „Estratti dalla Relazione Tecnica di Restauro“, Firenze 2015 zur Verfügung. Mein besonderer Dank gilt: - Adriana Concin für zahlreiche e-mails und kollegialen Austausch. Sie über‐ ließ mir den Plan „Stadtansichten“, Abb. 5 aus ihren Forschungsergebnissen; diese sind publiziert sind in: C O N C IN , Adriana, „Changed Locations: the Habsburg Cityscapes in Palazzo Vecchio, Florence“, Burlington Magazine 161, no. 1396, 2019. - Cristiana Conti, Scienza Arte Restauro, S.A.R. Firenze, händigte mir nicht nur ihren umfangreichen Bericht zu den Restaurierungen „Relazione dell’Inter‐ vento di Restauro Relativo all‘anno 2011-2012“ aus, sondern war auch bereit, mit mir an Ort und Stelle aufschlussreiche und informative Fachgespräche zu führen. Konstanz in Florenz 131 1 M I E N H A R D T , Frank: Haus „Zur Leiter“ / Zollernstraße 26, doppelseitiger Flyer hg. von der Unteren Denkmalschutzbehörde der Stadt Konstanz zum Tag des offenen Denkmals 2022. 2 Ebd. Das Haus „Zur Leiter“ Zollernstraße Nr.-26 als frühestes Beispiel von Renaissance-Architektur im Profanbau in Konstanz Daniel Gross Das Haus „Zur Leiter“ zeigt sich heute im Gewand eines gründerzeitlichen Baus aus dem späten 19.-Jahrhundert - im Kern jedoch ist es ein Gebäude, dessen Ent‐ stehungszeit bis in das späte Hochmittelalter zurückreicht. 1 Einigen Wenigen ist es allerdings auch bekannt „als (letztlich verlorenes) Baudenkmal der Renaissance“, 2 wobei wir uns von der renaissancezeitlichen Umgestaltung im Jahr 1543 nur über die südöstliche Eingangssituation ein genaues Bild machen können. Abb. 1: Xylographie aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts aus einer englischen Zeitschrift: Scene am Renaissance-Portal des Hauses „Zur Leiter“ mit drei der vier neben dem Portal ursprünglich angebrachten vergitterten Fenster. (Privatbesitz Autor) Neben der Hervorhebung des Eingangsbereichs an der Außenfassade erfuhren zwei Räume im Erdgeschoß ebenfalls zeitgleich eine Erneuerung. Der Innen‐ bereich hinter der Portaltüre öffnete sich zu einem großzügigen Vestibül mit Treppenaufgang in die oberen Etagen und mit zwei an der Ostseite eingebauten, nebeneinander gelegenen Renaissance-Türumrahmungen. Ein nördlich dieser Türen eingebrochenes Zwillingsfenster mit Renaissance-Sandsteinrahmung ließ Licht vom Hof in dieses Foyer. Das südliche dieser beiden Innen-Portale war versehen mit einer Eisentüre und führte zu einem gewölbten „Tresor- Raum“ mit einer in die Wand eingelassenen gerahmten Nische, verschlossen mit einer Eisentür, wohl ehedem der eigentliche „Tresor“. Das zweite, nördliche der Innen-Portale führte in einen schmalrechteckigen West-Ost-geführten Innenhof mit einem kleinen und viel jüngeren Schwengelpumpenbrunnen sowie zwei kleinen Renaissance-Fensterchen an der südlichen Hofwand. Das Türschloss der Portaltüre mit der Jahreszahl 1543 gilt als bauinschriftliche Datierung dieser Renaissance-Ausstattung - das Haus „Zur Leiter“ ist somit das früheste Beispiel von Renaissance-Architektur in einem Privathaus in Konstanz. Abb. 2: Türschloss der Portaltüre mit der Jahreszahl 1543: bauinschriftliche Datierung des Portals sowie der weiteren Renaissance-Architekturteile am Haus „Zur Leiter“. (Foto Autor) Wer einen ersten Eindruck der ehedem recht beeindruckenden Renaissance- Ausstattung der „Leiter“ gewinnen möchte, blättere im „Konstanzer Häuser‐ 134 Daniel Gross 3 H I R S C H , Fritz: Konstanzer Häuserbuch, Bd. I: Bauwesen und Häuserbau, Heidelberg 1906. Darin auf S. 152 eine Rekonstruktionszeichnung der südseitigen Gebäudeansicht mit den Renaissance-Teilen an der Fassade, weitere Photographien auf den S.-153-155. Die Photographien S. 156 u. S. 157 zeigen einen Teil der Renaissance-Ausstattung im Innenbereich des Hauses. 4 Über die Unterseite „Bildindex“ des Bildarchivs Foto Marburg und die Eingabe „Zoll‐ ernstraße 26“ gelangt man hier zu einem Ordner mit 27 historischen Aufnahmen vom Haus „Zur Leiter“ (letzter Zugriff im März 2023). https: / / www.bildindex.de/ ete? action =queryupdate&desc=zollernstrasse%2026&index=obj-all 5 M O T Z , Paul: Das Haus „Zur Leiter“. Bedauernswertes Schicksal eines denkwürdigen Baudenkmals, in: Die Kulturgemeinde. Monatsblätter der Volksbühne e. V., 5. Jg. (H 6), Konstanz 1964, S. 2 f. Motz schreibt hier bereits 1964, S. 3: „Auch die Erhaltung einzelner Bauteile durch den Einbau in den hinteren Flügel des Rosgartenmuseums kann keinen Ersatz bieten. Die Teile sind hier aus dem Zusammenhang gerissen. - Seither hat die feine Steinmetzarbeit aus dem weichen Rorschacher Sandstein durch Verwitterung einen großen Teil ihres Reizes eingebüßt; und wenn nichts zu ihrer Erhaltung oder Erneuerung getan wird, werden wir das Bürgerhaus ‚Zur Leiter‘ nur noch aus Abbildungen ins Gedächtnis zurückrufen können.“ 6 Stadtarchiv Konstanz [StAKN], Akten SXX 1452: In einem Schreiben vom 17.11.1896 teilte der Konstanzer Stadtrat dem Bezirksamt Konstanz mit, dass mit dem Besitzer des Hauses „Zur Leiter“ Einvernehmen herrsche, die denkmalgeschützten Teile auszubauen und für das Rosgartenmuseum zu sichern. Zudem wären photographische Aufnahmen der betreffenden Teile angeordnet worden. buch“ 3 oder begebe sich ins Internet auf die Homepage des Bildarchivs Foto Marburg. 4 Und wer sich noch einen Abschiedsblick gönnen mag, werfe einen Blick in den Innenhof des Konstanzer Rosgartenmuseums: dort, im Garten am seeseitigen Ostflügel, verwittern die letzten Renaissance-Architekturteile des Hauses „Zur Leiter“, die einst dessen Fassade sowie dessen großzügiges Treppenhaus und Hof schmückten. 5 Diese Architekturteile fielen im Jahr 1897 der Modernisierung und Überarbeitung des Hauses Zollernstraße 26 zum Opfer und wurden „gerettet“, um im Rosgartenmuseum einen neuen Platz zu finden. 6 Die neue Zusammenstellung im Hof des Rosgartenmuseums Unter Zuhilfenahme der überlieferten Abbildungen im Konstanzer Häuserbuch, den Fotografien im Stadtarchiv Konstanz und im Bildarchiv Foto Marburg lassen sich die im Rosgartenmuseum eingebauten und überlieferten Architekturteile identifizieren und den ehemaligen Standorten im Haus „Zur Leiter“ sehr gut zuordnen. Das Haus „Zur Leiter“ 135 Abb. 3: Grundriss des Hauses „Zur Leiter“, Erdgeschoss vor dem Umbau 1896/ 1897. Legende: 1) Standort des Portals; 2) zwei vergitterte Zwillingsfenster zu einem vier‐ teiligen Fensterband vereint; 3) südliches Innen-Portal mit Eisentüre; 4) nördliches Innen-Portal zum Hof; 5) Zwillingsfenster zum Hof; 6) kleines vergittertes Hoffenster‐ chen; 7) gewölbter „Tresor-Raum“; 8) „Tresor“ mit Eisentüre. (Plan StAKN Z II b 1306, Nummerierung auf dem Plan durch den Autor) Vorneweg: im Haus „Zur Leiter“ befinden sich heute noch in situ das südliche der innenliegenden Portale samt Eisentüre zum „Tresor-Raum“, sowie die darin original erhaltene „Tresor“-Nische, ebenso ein kleines Hof-Fensterchen mit einem Lichtschacht zur Kellertreppe. Der viel jüngere Brunnen des Hofs ist verschwunden. Als erstes ist natürlich das prächtige Portal zu nennen: es bildet heute den Durchgang vom Café des Museums zu dessen Innenhof. 136 Daniel Gross 7 K R A U S , Franz Xaver: Die Kunstdenkmäler des Grossherzogthums Baden, Bd. 1: Die Kunstdenkmäler des Kreises Konstanz, Freiburg i.Br. 1887, S. 294. Diese Beschädigungen am Portal wurden vor dessen Einbau im Rosgartenmuseum ausgebessert und ergänzt. Abb. 4: Photographie von German Wolf (1830-1890) um 1870/ 1880: das Portal des Hauses „Zur Leiter“ in situ mit der noch originalen Türe aus der Zeit der Renaissance. (Privatbesitz Autor) Die Gewände mit jeweils einer halbrunden gewölbten Nische rechts und links und mit zweireihig kassettiertem Gewölbe sind heute noch gut erhalten. Die Portal-Rahmung in Form von Pilastern mit je einem mittig eingefügten Medaillon rechts und links jedoch, der abschließende Architrav und die darüber liegende, krönende Groteske mit Medaillon, sind fast bis zur Unkenntlichkeit verwittert. Im Gegensatz dazu zeigen die Fotografien von 1896 einen geradezu noch frischen Eindruck des Portals, wenn auch Franz Xaver Kraus bereits 1887 zum Portal bemerkte: „Leider sind die Ecken der Obertheile bis zur Unkennt‐ lichkeit beschädigt.“ 7 Das Medaillon links der Türe zeigt eine reliefplastische Männerbüste mit Lorbeerkranz, offensichtlich einen Cäsaren, angelehnt an römische Münzprägungen mit der Umschrift „NERONE“ - wobei die beiden Buchstaben „N“ in der Umschrift spiegelverkehrt dargestellt sind. Das Bildnis rechts der Türe zeigt, ebenfalls reliefplastisch gefertigt, (wohl) eine Frauenbüste mit einer Krone und der Umschrift „MORILA“. Das dritte Medaillon über dem Architrav lässt auf den Fotografien an ein hintereinander angelegtes reliefiertes Doppelportrait denken, jedoch sind die Aufnahmen für den oberen Bereich des Portals zu schlecht, um hier genaueres herauszulesen. Das Haus „Zur Leiter“ 137 Das Portal lag bis zum Abbau 1897 genau auf der Vertikalachse der Südseite des Hauses „Zur Leiter“. Passend zur Portalausstattung war auch das Türblatt aufwendig gestaltet, jedoch Veränderungen bereits im späten 19. Jahrhundert führten hier zu einer Vereinfachung. So wurden im Sockelbereich die ursprüng‐ lich mit Flachrelief versehenen vier Felder, davon die äußeren beiden Felder mit ornamentaler, die inneren beiden Felder mit figürlicher Darstellung, durch einfache z. T. kassettierte Felder ersetzt. Das über den Sockelfeldern gelegene breite, mehrfach überkragende Zierband wurde sehr schlicht erneuert, während wiederum der Mittelpfosten im Hauptfeld des Türblattes dagegen zwar frei interpretiert aber ausgesprochen filigran neu gestaltet wurde. Für den oberen Teil der Türe lassen die Fotografien im Vergleich keine belastbaren Aussagen zu. Die ehedem östlich oder rechts des Portals gelegenen beiden Zwillingsfenster mit schmiedeeisernen Fensterkörben und geschweiften Segmentgiebeln, durch‐ brochen von Medaillons über den Fensterpaaren, bildeten zusammen ein viert‐ eiliges Fensterband. Dieses wurde als Ganzes im Rosgartenmuseum über dem „Leiter“-Portal im 1. Obergeschoss angebracht. Abb. 5: Photographie von Otto Leiner (1856-1931) um 1900/ 1901: neue Zusammenstel‐ lung der Architekturteile des Hauses „Zur Leiter“ aus dem Jahr 1899 im heutigen Innenhof des Rosgartenmuseums. (Privatbesitz Autor) 138 Daniel Gross 8 Zu diesem Fenster schreibt K N O E P F L I , Albert: Kunstgeschichte des Bodenseeraumes, Bd.-2: Vom späten 14. bis zum frühen 17. Jahrhundert. Überblick. Baukunst, Sigmaringen 1969, S. 421: „Wie aufgeklebt […] die Renaissancemotive wirken, zeigt ein rein spätgotisches Fenster, dessen Mittelpfosten ein mehrfach eingeschnürtes ionisches Säulchen, die Ge‐ wände ionische Pilaster und die Stürze Muschelbögen gleichsam vor die Nase gesetzt bekamen.“ Das halbplastische Medaillon im Fenstergiebel links zeigt ein vollbärtiges Männer-, das rechte eine Frauenbrustbild, beide in Renaissance-Kleidung, beide jeweils mit Hut. Über den beiden Zwillingsfenstern des Museumshofes krönt in Fortsetzung der Hauswand heute ein Zwerchgiebel mit Konstanzer Wappen aus dem Jahr 1899 - inspiriert von den beiden Zwerchgiebeln an der Rathausfassade in der Kanzleistraße - das neugestaltete Ensemble, wobei das Zwillingsfenster mit Segmentgiebeln in diesem Zwerchgiebel als ehemaliges Hoffenster aus dem Vestibül ebenfalls aus dem Haus „Zur Leiter“ stammte. 8 Auch ein kleines Fensterchen aus dem Innenhof des „Leiter“-Hauses fand seinen Platz in der neugeschaffenen Wand: es flankiert heute rechts das Portal. Das Fensterchen links des Portals dagegen ist eine Neuschöpfung von 1897-99 und schlicht nur der Fassadensymmetrie geschuldet. Zu guter Letzt fand das zweite Innen-Portal vom Vestibül zum Innenhof des Hauses „Zur Leiter“ seinen Platz im heutigen Museums-Café an der südlichen Fensterfront. Es ist, geschützt im Innenraum, das am besten erhaltene Renais‐ sance-Architekturelement aus dem Haus „Zur Leiter“ im Rosgartenmuseum. Die frühe Geschichte des Hauses Eine erste Nennung erfährt das Haus „Zur Leiter“ in der Chronik der Stadt Konstanz des Johannes Stetter im Jahr 1378. Damals stand ein Gerüst am Südturm des Münsters, als ein an beiden Beinen gelähmter zwölfjähriger Junge nur auf seinem Das Haus „Zur Leiter“ 139 9 R U P P E R T , Philipp: Das alte Konstanz in Schrift und Stift. Die Chroniken der Stadt Konstanz, Konstanz 1891, S. 90: Item darnach gieng ain knab von 12 jaren och uff die brügginen ze oberst; der selb knab was lam an beiden füssen, das er uff dem ars ruckte mit zwaien schemelin, die er in den henden trug. Er was Peter Metzlers sun vor sant Stefan in der Laiter. Ruppert übernimmt hier den Eintrag von Johannes Stetter, dem Konstanzer Chronisten des 14. Jahrhunderts (StAKN A I 2, S.-47). In der von Sandra Wolff edierten Ausgabe der Chronik des Gebhart Dacher, ein Chronist des 15. Jahrhunderts, heißt es hingegen nur wenig konkret: Vn der knab was ains mertzlers sun jn der layter, was als „Sohn eines Händlers, der im Haus „Zur Leiter“ wohnt“ übertragen werden kann. W O L F F , Sandra: Die „Konstanzer Chronik“ Gebhart Dachers. […] Codex Sangallensis 646: Edition und Kommentar (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 40) Ostfildern 2008, S.-386. Zur Lokalisierung des Gerüsts am Südturm des Münsters vgl. R E I N E R S , Heribert: Das Münster Unserer Lieben Frau zu Konstanz (Die Kunstdenkmäler Südbadens I) Lindau u. Konstanz 1955, S. 46. Ebenso R E I N E R S -E R N S T , Elisabeth (Bearb.): Regesten zur Bau- und Kunstgeschichte des Münsters zu Konstanz, Lindau u. Konstanz 1956, S.-16 f. 10 Nach B U C K , Thomas Martin (Hg.): Chronik des Konstanzer Konzils 1414-1418 von Ulrich Richental (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 41) Ostfildern 2010, S.-23. 11 Die Steuerbücher der Stadt Konstanz, Bd. 1: 1418-1460, bearb. v. Peter R Ü S T E R (Kon‐ stanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 9) Konstanz 1958; Bd. 2: 1470-1530, bearb. v. Peter R Ü S T E R (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 13) Konstanz 1963; Bd. 3: 1540-1620, bearb. v. Peter R Ü S T E R (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 16) Konstanz 1966. Hier: Steuerbücher 1, 1418: Nr. 1103, sowie StAKN L 1: Steuerbuch 1418, Quartier Túmpffel. Nicht alle Steuerbücher der Stadt Konstanz wurden in den o. g. drei Bänden ediert, daher hier im Folgenden nun z.T. auch der Verweis auf die originalen Steuerbücher im Stadtarchiv Konstanz. Diese sind jedoch selten mit Seitenzahlen versehen, daher erfolgt hier in diesem Beitrag beim Verweis auf die originalen Steuerbücher auch der Verweis auf das jeweilige Quartier (später auf die Zunft), in dem sich die Nennung findet. Aus den davor und danach in der Liste der Steuerbücher aufgeführten Personen lassen sich trotz fehlender Angaben von Hausnamen die einzelnen Steuerzahler zwar mühsam aber doch sehr treffsicher einzelnen Liegenschaften zuordnen. Im Vergleich eines solchen Hintern rutschend und mit Hilfe von zwei Schemeln, sich das Gerüst bis zu ganz hinauf mühte. Er war der Sohn des Peter Metzler aus der „Leiter“ vor St. Stephan. 9 Zu Beginn des Konstanzer Konzils war der Besitzer der „Leiter“ Konrad In der Bünd, genant Rüll. Als nämlich an Weihnachten 1414 König Sigismund Einzug hielt in Konstanz nahm er nach den Gottesdiensten im Münster anschließend für drei Tage Herberge in dessen Haus: Gelich nach dem, do zoch unser herr der küng mitt der künginen und mit miner fro u wen von Wirtemberg glich in das huß, genant zů der Laiter vor Sant Steffan, das dozema u l Conratz in der Bund genant Rüll waz, und beliben darinn dry tag und nächt.  10 Wohl bereits während der Konzilszeit muss das Haus den Besitzer gewechselt haben, denn im ersten überlieferten Steuerbuch der Stadt vom Jahr 1418 wird als Besitzer aufgeführt: Amman.  11 In den beiden folgenden erhalten Steuerbüchern 140 Daniel Gross Listenabschnitts dann mit Steuerbüchern aus den vorangegangen/ folgenden Jahren und dem zusätzlichen Vergleich der Vermögensangaben und Steuerleistungen lassen sich so dennoch auch Besitzabfolgen recht gut rekonstruieren. 12 StAKN L 2: Steuerbuch von 1420 u. L 3: Steuerbuch von 1422, beide Male Quartier Spital. Steuerbücher 1, 1425: Nr.-24. Die Steuerbücher der Jahre 1419, 1421, 1423 und 1424 sind nicht überliefert. 13 B E Y E R L E , Konrad: Die Konstanzer Ratslisten des Mittelalters, Heidelberg 1898, S.-247 f. 14 StAKN Steuerbücher 1, 1440: Nr.-1045. 15 StAKN Urkunde Nr.-12751 vom 29. Januar 1444. 16 K I N D L E R V O N K N O B L O C H , Julius: Oberbadisches Geschlechterbuch Bd. 1: A - Ha, Hei‐ delberg 1898: Ehinger S. 286-288. M Ü L L E R , Johannes: Die Ehinger von Konstanz, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 20 (1905) S. 19-40, hier im Besonderen zu Heinrich Ehinger S. 20-25. K R A M M L , Peter Franz: Kaiser Friedrich III. und die Reichsstadt Konstanz (1440-1493) (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 29) Sigmaringen 1985. Zu den Ehinger in Konstanz hier S. 312-320. Kramml korrigiert Einiges zur Familiengeschichte der Ehinger, z. B. ergänzt er einen Bruder zu Heinrich Ehinger, der in der älteren Literatur nicht erscheint, jedoch in den Steuerbüchern 1418, 1420 u. 1422 zusammen mit dem Ammann Heinrich genannt ist: Lentz sin bru o der. 17 StAKN Steuerbücher 1, 1450: Nr.-1098. 18 StAKN Steuerbücher 1, 1460: Nrn. 957 u. 958. 19 K R A M M L (wie Anm. 16) S.-314 und dazu Anm. 320. 20 M Ü L L E R (wie Anm. 16) S.-25, K R A M M L (wie Anm. 16) S.-314, Anm. 321. aus den Jahren 1420 und 1422 wird leicht konkretisiert mit H. Amman, bis dann im Jahr 1425 H. Ehinger im Steuerbuch an dieser Stelle erscheint. 12 Heinrich Ehinger war von 1404-1421 der Ammann der Stadt und somit seit 1418 spätestens der Besitzer des Hauses „Zur Leiter“. 13 Ausdrücklich nennt ihn das Steuerbuch aus dem Jahr 1440 H. Ehinger, git fúr das huß zer Layter. 14 Im Jahr 1444 veräußerte Heinrich Ehinger das Haus zu der Laittren samt dessen Hinterhaus an Konrad Nordwin von Konstanz, sesshaft in Freiburg im Bryßgöw, um 1100-Pfund Heller. 15 Ehinger wohnte bereits seit 1430, nach dem Zunftaufstand von 1429/ 30, nicht mehr in Konstanz und hatte das Bürgerrecht von Überlingen angenommen, 16 behielt aber den Hausbesitz in Konstanz bis 1444 bei. Nordwin muss sich allerdings mit diesem Hauskauf finanziell übernommen haben, da er im Steuerbuch von 1450 zwar an zu erwartender Stelle in der Auflistung erscheint, jedoch ohne Vermögens- und Steuerangaben. Stattdessen heißt es hier nur kurz Nordwin, im schuldbu e ch.  17 Der Verkauf der „Leiter“ wurde kurze Zeit später durch die Familie Ehinger auch wieder rückgängig gemacht, denn im Jahr 1460 ist die alt Echinger in der Steuerliste zusammen mit ihrem Sohn Konrad genannt, 18 Heinrich Ehinger war bereits 1451 verstorben. 19 Die alt Echinger, Elisabeth Ehinger geb. Sonntag, Heinrichs Frau, starb hochbetagt im Jahr 1470, noch bis 1468 ist sie in den Steuerbüchern der Stadt zusammen mit ihrem Sohn Konrad aufgeführt. 20 Konrad Ehinger zu o der Laittern setzte 1475 seine letzten Das Haus „Zur Leiter“ 141 21 StAKN A IX Gemächtebuch Bd. II, S.-116, Eintrag vom 4. November 1475. 22 StAKN Steuerbücher 2, 1480: Nr. 865 u. StAKN L 60: Steuerbuch von 1482, Quartier Fischmarckt ab: hier die letzte Nennung von Ludwig Ehinger. 23 StAKN A IX Gemächtebuch Bd. II, S. 166, Eintrag vom 8. Februar 1479: Ludwig Ehinger versichert seiner Ehefrau Walpurga Blarer, die Schwester des Konrad Blarer von Güttingen, der in Radolfzell sitzt, ihrer Morgengabe von der Hochzeit her. Er setzt dafür u. A. ein sin huß das vorder und das hinder mit allen rechten vnd zu o gehorden, vor sant Steffan gelegen, genannt zur Laitter. Darab vorgieng 10 gulden zinß der Brottbeken vnd Winschencken Zunfft, wären widerkoffig mit zwainhundert Reischen gulden. 24 StAKN L 61: Steuerbuch von 1483, Quartier Fischmarckt ab. 25 StAKN Urkunde Nr.-12727 (Großformat) vom 7. März 1485. Willen auf und bestimmte als Testamentsvollstrecker seinen Sohn Heinrich. 21 Das Haus „Zur Leiter“ ging jedoch nach Konrads Tod über an einen anderen Sohn, an Ludwig Ehinger, der sich allerdings nur kurz des Hausbesitzes erfreuen konnte, denn er starb bereits 1482. 22 Zuvor noch, in einem Testament aus dem Jahr 1479, versicherte Ludwig seiner Frau Walpurga Blarer, für ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen, des Vorder- und Hinterhauses „Zur Leiter“. 23 Im Jahr 1483 versteuerte demzufolge seine Witwe Walpurga Ehinger geb. Blarer als Ludwig Ehingers wib den Besitz. 24 Walpurga Ehinger geb. Blarer nun verkaufte zusammen mit ihrer Tochter Margreth Ehinger am 7. März 1485 ihr Vorder- und Hinterhaus vor der St. Stephanskirche gelegen, genannt zu o der Layter. Es stieß an Conrat Holtzhaigs huß genant zum Rotten Beren (= Hofhalde 15), andererseits an die appenteg zu o der Tannen (= Zollernstraße 24), und hinten an das Haus zu o der Steltzen (= Hofhalde 13) und das Haus zum Rotten Gatter (= Zollernstraße 18). 25 Die Lokalisierung einer Liegenschaft in der Stadt anhand der in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Häuser ist der Normalfall in solchen Verkaufsurkunden. Das Haus Hofhalde 15 liegt direkt nördlich, das Haus Zollernstraße 24 östlich der „Leiter“. Verwunderlich hier sind jedoch die auf den ersten Blick etwas weiter entfernt liegenden beiden Gebäude Hofhalde 13 und Zollernstraße 18, doch sie sind als Nachbarn des Hinterhauses „Zur Leiter“ zu verstehen. Vermutlich erst seit 1543, der Zeit der Renaissance-Erneuerung, befindet sich der Hauptzugang zum Vorderhaus „Zur Leiter“ Zollernstraße 26 auf der Südseite des Gebäudes, zuvor lag dessen Haupteingang auf der zur Wessenbergstraße und der St. Stephans‐ kirche hingewandten Westseite. Hinter diesem so zugänglichen Vorderhaus „Zur Leiter“ - also östlich vom Haus - lag und liegt heute noch ein schmaler längsrechteckiger Innenhof, an dessen Nordost-Ecke sich besagtes Hinterhaus „Zur Leiter“ befand: es bildet heute eine eigene Liegenschaft und trägt die Adresse Hohenhausgasse 21. Das Haus „Zur Steltze“, Hofhalde 13 liegt westlich 142 Daniel Gross 26 Ebd. 27 StAKN, L 63: Steuerbuch von 1485, Quartier Fischmarckt ab; Steuerbücher 2, 1490: Nr.-918; 1500: Nr.-894; 1510: Nr.-832. 28 K I N D L E R V O N K N O B L O C H , Julius: Oberbadisches Geschlechterbuch Bd. 2: He-Lysser, Heidelberg 1905: Hux S.-183f. R U E P P R E C H T , Hans-Ulrich, Freiherr von: Die Ankenreute von Ravensburg, in: Genealogisches Jahrbuch. Hg. von der Zentralstelle für Personen- und Familiengeschichte, Bd.-33/ 34 (1993/ 94) S.-21-57, zu Othmar Hux S.-43. 29 G A I S B E R G -S C H Ö C K I N G E N , Friedrich Freiherr von: Über die im Thurgau vorkommenden zwei Geschlechter Gaisberg, in: Archives héraldiques suisses = Schweizerisches Archiv für Heraldik = Archivio araldico Svizzero, Teil 1: Bd. 14 (1900) Heft 4, S. 135-150; Teil 2: Bd. 15 (1901) Heft 1, S. 17-35. K I N D L E R V O N K N O B L O C H Bd. 1: Gaisberg S. 418f. StAKN A IX Gemächtebuch Bd. II, S. 186f, Testament vom 19. Juli 1481: Klaus Gaisberg setzte seinen letzten Willen auf, nachdem seine eheliche Tochter Elßbeth Gaißberg nun verheiratet sei mit Othmaren Hugxen von Santt Gallen und nachdem was damals zur Hochzeit verabredet worden sei. Sein Sohn (oder sollten es mehrere sein) bekommt sin Hus genant zum Truben und den dazugehörigen Hausrat, sowie die Gewichte der Waagen und dazu 600 rhein. Gulden. Seine Tochter soll „nur“ die Gewänder der Mutter und den hinterlassenen Schmuck der Mutter (clainat) für sich und ihre Töchter erhalten, sowie das übrige Gut, das die Eltern hinterlassen. Es ginge auf die Tochter und ihre Töchter über, wie dann das der versigelt huerat notel … vßwiste. Allem Anschein nach wurde vor der Hochzeit Hux/ Gaisberg dies Alles in einem Heiratsbrief verabredet. davon, das Haus „Zum roten Gatter“, Zollernstraße 18 stieß mit dem rückseitigen Hofgrundstück auf die Süd- und Ostseite der „Hinteren Leiter“. Othmar Hux (Vater) - der neue Besitzer Der Käufer von Vorder- und Hinterhaus „Zur Leiter“ war der aus St. Gallen stammende Kaufmann Othmar Hux. Insgesamt bezahlte er für die Liegenschaft 700 Rheinische Gulden, wovon er aber für 400 Rheinische Gulden einen Pfand‐ brief im Besitz von Ulrich Engiliß hinterlassenen Kindern, sowie einen weiteren Pfandbrief über 200 Rheinischen Gulden im Besitz der Maynowin ablöste. Walpurga Ehinger und ihre Tochter bekamen von Othmar Hux letztendlich nur noch die restlichen 100 Rheinischen Gulden in bar ausbezahlt. 26 Mit diesem Verkauf der „Leiter“ im Jahr 1485 von Walpurga Ehinger an Othmar Hux endet die rund 70jährige Geschichte und Verbundenheit der Familie Ehinger mit dem Haus „Zur Leiter“. Fortan ist Othmar Hux in den Steuerbüchern ab 1485 im Quartier Fischmarckt ab als Hausbesitzer gelistet. 27 Der St. Galler Bürger Othmar Hux 28 war seit etwa 1480 verheiratet mit der Konstanzerin Elsbeth Gaisberg, Tochter des Klaus Gaisberg aus dem Haus „Zur Traube“, St. Stephansplatz 16/ 18. 29 In nämlichen Jahr 1480 steuerte Hux Das Haus „Zur Leiter“ 143 30 P E Y E R , Hans Conrad: Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St. Gallen von den Anfängen bis 1520, Bd. I: Quellen, St. Gallen 1959; Band II: Übersicht, Anhang, Register, St. Gallen 1960. Hier P E Y E R Bd. II, S.-76f. 31 B L E S S -G R A B H E R , Magdalen (Bearb.) und S O N D E R E G G E R , Stefan (Mitarb.): Die Stadtbücher des 14. bis frühen 17. Jahrhunderts (Die Rechtsquellen des Kantons St. Gallen. II. Teil, 1. Reihe, 1. Band) Aarau 1995, hier S. 206 Nr. 354: Satzung vom 13. März 1483. Zu diesem Vorgang, den Entzug des Bürgerrechts, gehört wohl auch die Mahnung der Stadt Konstanz vom 11. März 1483 an Othmar Hugs und seine Frau zu St. Gallen in einer Schuldsache (P E Y E R Bd. I, S.-327). 32 StAKN L 62: Steuerbuch von 1484, Quartier Fischmarckt ab. 33 StAKN Urkunde Nr. 8965 vom 9. Februar 1486. In einer Streitsache zwischen Ulrich Schmucker, Zunftmeister der Metzger und Krämer, gegen den Bürger Othmar Hugxen wegen Verstoß gegen die Zunftordnung wurde verordnet, dass Letzterer mit kainem gast Gemeinschafft nit haben sol das er zu offen Gaden verkoffen wölle. Der Dorsualver‐ merk der Urkunde lautet schlicht: Roßgart. „Rosgarten“ ist die Zunft der Metzger und Krämer, wo hingegen Othmar Hux im Steuerbuch von 1513, StAKN L 91 in der Rubrik Turgöw verzeichnet ist, der Zunft der Kaufleute. 34 P E Y E R (wie Anm. 30) Bd. I, S. 364: Eintrag im Seckelamtsbuch der Stadt St. Gallen für das Jahr 1491. 35 P E Y E R (wie Anm. 30) Bd. I, S. 532f: Auflistung aus dem Zollbuch der Gred von Buchhorn für das Jahr 1486/ 87. P E Y E R Bd. II, S. 39 vermutet für die 1480er Jahre eine Zugehörigkeit Hux’ zur St. Galler Handelsgesellschaft der Hochreutiner. gemeinsam mit seiner Frau noch in St. Gallen wohnhaft in der Multergaß. 30 Im Jahr 1483 erfolgte wohl der Umzug nach Konstanz und Hux erwarb das Konstanzer Bürgerrecht. Die Stadt St. Gallen jedenfalls erließ im Frühjahr 1483 eine Satzung, wonach ein Doppelbürgerrecht in ihrer Stadt verboten sei. Im St. Galler Stadtbuch ist im Anschluss an diese Satzung gleichzeitig vermerkt, dass dem Othmarn Huxen das Bürgerrecht entzogen wurde. Offenbar hatten sich für die Stadt St. Gallen durch das Doppelbürgerrecht von Othmar Hux Schwierigkeiten ergeben. 31 Im Steuerbuch von 1484 ist er bereits im Haus „Zur Leiter“ anzutreffen, noch gemeinsam mit Walpurga Ehinger, der Ehingeri und noch ein Jahr vor dem eigentlichen Hauskauf. 32 Othmar Hux war Kaufmann und in Konstanz wohl zu Beginn der Zunft der Metzger und Krämer, der Zunft Roßgart zugeordnet. 33 Neben Leinwand 34 waren es Metalle, Wachs und Stockfisch 35 als Handelswaren aber auch feine Tuche 144 Daniel Gross 36 C H M E L , Joseph (Hg.): Urkunden, Briefe und Actenstücke zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Bd. 10) Stuttgart 1845, S. 429, Nr. CCXCI: ein leider undatierter Brief Othmar Hux an Kaiser Maximilian (†1519). Hierin wendet sich Hux mit der Bitte an den Kaiser, die Grafen Heinrich (†1521) und Sigmund (†1526) von Lupfen dazu zu bewegen, seit längerem ausstehende Schulden bei ihm zu begleichen. Graf Heinrich schulde ihm sieben Rheinische Gulden und ettlich kreuczer, Graf Sigmund vmb seydin gewandt 41 Rheinische Gulden und 30 Kreuzer. Setze ich das Schreiben in die Jahre nach dem Reichstag Maximilians I. von 1507 in Konstanz (Maximilian war damals noch römisch-deutscher König) und unterstelle den Grafen von Lupfen das Geld und die Gewänder für Repräsentationen auf diesem Reichstag benötigt zu haben, datiere also das Schreiben um das Jahr 1510, so zählte Hux in diesem Jahr zu den reichsten „10“ der Stadt mit knapp 10.000 Pfd.H. Gesamtvermögen. Dafür hatte er eine Jahresteuer von 12 Pfd.H. 17 Schilling und 8 Kreuzer zu zahlen (Steuerbücher 2, 1510: Nr. 832), Graf Sigmund von Lupfen schuldete ihm also keinen unbedeutenden Betrag. 37 S C H U L T E , Aloys: Geschichte der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft, Bd. 3: Quellen, Stuttgart 1923, S.-282: Schreiben aus Mailand vom 12. Mai 1505 nach Ravens‐ burg: Mit dem Tamast für Costenz […] die Huxin [Othmar Hux‘ Ehefrau] hett irre gern, sind aber noch nitt gemachtt, […], sowie S. 292: Schreiben über die Warenlager in Mailand und Genua nach Ravensburg vom 25. Oktober 1505: Verrechnung von Geld von 7 Stück mit Damast dem Othmar Hux. 38 StAKN Urkunde Nr. 12726 vom 26. August 1489: In der Sache des Ulrich Wolffgang als Vogt der Dorothe Frymen, Cunrat Holtzhays Witwe, gegen Othmar Huxen wegen strittigen Eigentums an einer Mauer zwischen ihren Häusern gen. zum roten Beren und dem Haus zur Laitter, worin der Beklagte Löcher gebrochen hat. Sowie ebd. Urkunde Nr. 12696 vom 28. Juli 1509: Streitsache zwischen Agathe Mangolt und Hans Cünrat Mangolt, ihrem Sohn, gegen Othmar Hugxen, Zunftmeister, wegen einer strittigen Mauer zwischen dem Vorder- und Hinterhaus „Zum roten Gatter“. Dorsualvermerk: urtaylbrieff umb die wand zwischen dem Hofflin zu dem klainen Roten gatter und Höfflin zu der hinderen Laither. 39 StAKN L 62: Steuerbuch von 1484, Quartier Fischmarckt ab. 40 StAKN L 91: Steuerbuch von 1513, Zunft Turgöw. 41 B E Y E R L E (wie Anm. 13) S.-193-198 für den Großen Rat, S.-198-201 für den Kleinen Rat. wie Seide 36 und Damast, 37 mit denen Hux handelte. In zwei Streitfällen, einmal bohrte Hux in die Mauer zum nördlichen Nachbarhaus „Zum roten Bären“ einige Löcher, ein anders Mal ging es um eine strittige Mauer zwischen dem „Roten Gatter“ und dem Hinterhaus der „Leiter“, taucht Hux in den Konstanzer Quellen als Besitzer der „Laiter“ auf. 38 Stetig vergrößerte er sein Vermögen von anfänglich 450 Pfund Heller an liegender und 3300 Pfund Heller (Pfd.H.) an fahrender Habe im Jahr 1484 39 auf 1226 liegenden und 9675 fahrenden Besitz im Jahr 1513. 40 Von 1501-1506 saß Othmar Hux zuerst im Großen Rat, von 1508-1510 im Kleinen Rat der Stadt, 1511 nur noch als Beisasse dort. 41 All die Jahre gehörte Hux nicht zu den Geschlechtern, sondern zur Gemeinde, also den Handwerkern und Gewerbetreibenden der Stadt. Das Haus „Zur Leiter“ 145 42 Generallandesarchiv Karlsruhe [GLA Karlsruhe] 5 Nr. 8654: Urkunde vom 13. Dezember 1489: Die drei Baumeister und Pfleger der Stephanskirche, Chorherr Blasius Qudentz, die Ratsherrn Hans von Ulm und Zunftmeister Konrad Wolgmut, verkaufen für 74 rheinische Gulden, die sie an den Kirchenbau gewendet, den Geschwistern Klaus und Jakob Gaisberg und Else Gaisbergin, Othmar Hux Ehefrau, eine ewige Ampel mit gutem Öl, die der Messner zu St. Stephan im Beinhaus, in dem dazu gemachten Stock, Tag und Nacht unterhalten soll, zur Ehre Gottes, der Mutter Maria und aller gläubigen Seelen. 43 H I L B E R L I N G , Brigitta: 700 Jahre Kloster Zoffingen 1257-1957, Konstanz 1957, S.-38. 44 StAKN Urkunde Nr.-6242 vom 1. März 1516. 45 GLA Karlsruhe 5 Nr.-9292: Urkunde vom 21. November 1530. 46 Katharina Kern war die Tochter des reichen Zunftmeisters der Beckenzunft in Konstanz, Gorius Kern. Vgl. dazu R U B L A C K , Hans-Christoph: Die Einführung der Reformation in Konstanz von den Anfängen bis zum Abschluss 1531 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, hg. vom Verein für Reformationsgeschichte Bd. XL) Heidelberg/ Karlsruhe 1971, S.-108 f. 47 StAKN L 91: Steuerbuch von 1513, Zunft Turgöw; L 92 von 1514 und L 93 von 1515, jeweils Zunft Thurgöw. Zwischen 1513 und 1548 sind die Steuerlisten nicht mehr nach Quartieren angelegt, sondern nach Zünften, innerhalb diesen wiederum alphabethisch nach den Vornamen der Steuerzahler, was eine Lokalisierung in der Stadttopographie in diesen Jahren unmöglich macht. 48 StAKN Urkunde Nr. 6242 vom 1. März 1516. Für den noch minderjährigen Sohn Othmar Hux handeln stellvertretend Vögte. Während Othmar sich um das diesseitige Leben kümmerte, sorgte seine Frau Elsbeth Gaisberg sich um das jenseitige Leben. Im Jahr 1489 stiftete sie mit ihren beiden Brüdern Klaus und Jakob Gaisberg für 74 rheinische Gulden eine Ewige Ampel im Beinhaus auf dem Friedhof bei St. Stephan. 42 Im Jahr ihres Todes 1498 übergab sie noch selbst dem Kloster Zoffingen Seidenstoff zum Ausbessern von Paramenten und Samt. Kurz nach ihrem Tod überließ ihr Wittwer Othmar dem Schwesternkonvent Besitz aus der Habe seiner verstorbenen Gattin. 43 Ein weiteres Legat der Elsbeth wurde erst lange nach ihrem Tod im Jahr 1516 erfüllt: die Stiftung von 6 Pfund Wachs für die Kirche St. Stephan. 44 Vielleicht ging auch die Stiftung eines Messgewandes für das Kloster der Franziskaner auf sie zurück, das nach Einführung der Reformation in Konstanz kurze Zeit später im Jahr 1530 wieder an die Familie zurückgegeben wurde. 45 Nach Elsbeths Tod 1498 heiratete Othmar Hux ein weiteres Mal: Katharina Kern, die jedoch erst nach Othmars Tod um 1513 namentlich genannt wurde. 46 Ein letztes Mal steuerte Othmar im Jahr 1513, im folgenden Jahr 1514 bereits Othmar Hugxen wittwe und 1515 die Katherina Hugxin. 47 Es ist diese zweite Frau und Witwe Katharina Kern, die das Legat von Othmars erster Frau Elsbeth Gaisberg 1516 erfüllte und dafür mit ihrem und Othmars gemeinsamen Sohn, der ebenfalls Othmar hieß, das Haus „Zur Leiter“ belasteten um die sechs Pfund Wachs für St. Stephan zu finanzieren. 48 Bis zu ihrem Tod 1522 war Katharina 146 Daniel Gross 49 Die anfänglichen 1.226 Pfd.H. an liegendem Vermögen im Jahr 1514 (StAKN L 92: Steuerbuch von 1514, Zunft Thurgöw) sinken erst einmal 1516 auf 1.158 Pfd.H. (StAKN L 94: Steuerbuch von 1516, Zunft Turgöw) bis sie im Jahr 1521 leicht auf 1.168 Pfd.H. wieder ansteigen (StAKN L 99: Steuerbuch von 1521, Zunft Thurgöw). Die fahrende Habe wurde 1514 mit 9.675 Pfd.H. taxiert, 1515 mit nur noch 6.213 Pfd.H. (StAKN L 93: Steuerbuch von 1515, Zunft Thurgöw). Zwischen 1516-1520 lag sie konstant bei 7.851 Pfd.H. (StAKN L 94: Steuerbuch von 1516, Zunft Turgöw und Steuerbücher 2, 1520: Nr.-95). 50 StAKN L 99: Steuerbuch von 1521, Zunft Thurgöw. 51 StAKN L 101: Steuerbuch von 1523, Zunft Thurgöw. 52 StAKN L 102: Steuerbuch von 1524, Zunft Thurgow; StAKN L 103: Steuerbuch von 1525, Zunft Thurgöw und StAKN L 109: Steuerbuch von 1531, Zunft Thurgöw. 53 StAKN L 109: Steuerbuch von 1531, Zunft Thurgöw. GLA Karlsruhe 5 Nr. 1257: So verliehen die Vögte am 18. August 1524 gegen Zins 1000 Gulden an das Konstanzer Domkapitel. Zur Rückzahlung der Summe vgl. GLA Karlsruhe 5 Nr. 1261: Am 8. Dezember 1534 leiht sich das Domkapitel vom nun angelegten Münsterschatz die Summe von 500 Gulden um eine Schuld an Othmar Hux zurückzubezahlen. Ebenfalls hierzu vgl. GLA Karlsruhe 5 Nr. 1262: Am 8. Dezember 1534 leiht sich das Domkapitel eine Summe Geld von Lucas Secklin um eine Schuld an Othmar Hux abzutragen. Am 18. April 1525 verleihen die Vögte Othmars 500 Gulden an St. Galler Bürger gegen einen Jahreszins von 25 Gulden und 15 Schilling. Gleichzeitig erhalten die Vögte Pfänder dieser Bürger. (StAKN Urkunde Nr.-12106 u. Urkunde Nr.-12651 / Großformat). 54 StAKN B I 40 Ratsbuch von 1531, S. 184v-185v, sowie B I 41 Ratsbuch von 1531-1533, S. 86v-87r: Einträge jeweils vom 7. August des Jahres 1531. In zwei späteren Quellen ist Heinrich Mötteli als Besitzer des nördlich an der „Leiter“ gelegenen Hauses „Zum Hux die Herrin des Familienvermögens, das sich bis 1520 nicht wesentlich veränderte. 49 Zwei Jahre vor Katharinas Tod allerdings steigt das Vermögen an fahrender Habe ohne bislang erkennbaren Grund von 7851 Pfd.H. auf 12.351 Pfd.H. im Jahr 1521. 50 Als sie starb hinterließ sie ihrem Sohn Othmar Hux, Kathrin Huxin Kind, das stattliche Vermögen von 1168 Pfd.H. an liegendem und 12.351 Pfd.H. an beweglichem Besitz. 51 Ihr Sohn Othmar ist nur kurz erstmals 1524 im Steuerbuch namentlich als solcher genannt, bei Gleichstand des Vermögens. Zwischen 1525-1531, und wohl bereits seit 1523, amteten die beiden Vögte Rudolf Schenkli und Anthoni Ackermann für den anfänglich noch minderjährigen Othmar. 52 Diese beiden Vögte wirtschafteten für ihren Pflegling recht gut, denn Othmar konnte im Jahr 1531 1800 Pfd.H. an immobilem und 15.630 Pfd.H. an beweglichem Besitz übernehmen. 53 Im gleichen Jahr 1531 erstritten sich vor dem Rat der Stadt die beiden Vögte auch wieder das Haus „Zur Leiter“ für den jungen Othmar Hux, da es ehedem für zehn Jahre an Heinrich Mötteli verpachtet worden war und er nun wohl nicht mehr ausziehen mochte. Dem schwer lesbaren Ratsbucheintrag ist zu entnehmen, dass Mötteli bis Weihnachten die „Leiter“ räumen musste. 54 Das Haus „Zur Leiter“ 147 roten Bären“, Hofhalde 15, genannt: im Jahr 1542 und, als bereits verstorben, im Jahr 1561 (nach Häuserkartei StAKN J 17 Umschläge Nr.-21 und 526). 55 StAKN L 116: Steuerbuch von 1538, Zunft Thurgow und StAKN L 120: Steuerbuch von 1542, Zunft Thurgow. 56 StAKN B V 3, S. 139v für 1539, S. 152v für 1540, S. 166v für 1541. D O B R A S , Wolfgang: Konstanz zur Zeit der Reformation, in: Konstanz in der frühen Neuzeit (Geschichte der Stadt Konstanz, 3) Konstanz 1991, S.-11-146, hier S.-121. 57 D O B R A S Konstanz, S.-122. 58 Ebd., S.-121. 59 D O B R A S , Wolfgang: Reformierte Sittenzucht in Konstanz 1531-1534, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 106 (1988) S. 59-105, hier S.-97 f. 60 D O B R A S , Wolfgang: Ratsregiment, Sittenpolizei und Kirchenzucht in der Reichsstadt Konstanz 1531-1548. Ein Beitrag zur Geschichte der oberdeutsch-schweizerischen Reformation (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 59) Gütersloh 1993, S.-199. Othmar Hux (Sohn) - der Bauherr der Renaissance-Erneuerung Ab dem Jahr 1532 übernahm Othmar Hux selbst das Regiment über sein Vermögen jedoch sank sein Besitz an liegender Habe nun kontinuierlich, mit leichten Schwankungen, auf eine Tiefstand im Jahr 1542 von gerade noch 750 Pfd.H.; auch sein Barvermögen schwand auf einen Niedrigstand im Jahr 1538 von 6950 Pfd.H., erholte sich aber wieder in 1542 auf 8811 Pfd.H.. 55 Wie Othmar in diesen wie auch in den kommenden Jahren seinen Lebensunterhalt bestritt, ist nicht überliefert. In den Steuerbüchern bis 1548 ist er jedes Jahr unter der Zunft „Thurgau“ verzeichnet, der Zunft der Kaufleute - wie sein gleichnamiger Vater war er sehr wahrscheinlich ebenfalls im Fern- und Tuchhandel tätig. Während Konstanz seit 1526 eine protestantische Stadt war, blieb Othmar Hux allerdings seinem alten katholischen Glauben treu. Von 1539 bis 1541 war er einer der zwölf Richter des bischöflichen Ammanngerichts in Konstanz. 56 Nach der Auflösung dieses Gerichts und der Eingliederung in das nunmehr von neun auf 13 Richter erweiterte städtische Gericht der Richter in der Ratsstube saß Hux auch dort noch kurze Zeit als Altgläubiger. 57 Zudem amtete er in dieser Zeit auch als Verwalter zur Versorgung der bischöflichen Pfalz in Konstanz. 58 Konflikte mit der protestantischen Stadtherrschaft blieben nicht aus: so wurde Hux bereits im November 1534 von den Zuchtherren wegen verbotenen Spiels mit dem Patrizier Wilhelm Roggwiler vor Gericht geladen und vom Rat der Stadt zu einer Geldstrafe verurteilt. 59 Am 27. Mai 1542 verwarnte der Konstanzer Rat Hux und drei weitere Bürger ausdrücklich am nächsten Tag nicht zur Pfingstmesse nach Überlingen zu reiten. 60 148 Daniel Gross 61 D O B R A S , Wolfgang: Bürger als Krieger. Zur Reisläuferproblematik in der Reichsstadt Konstanz während der Reformationszeit 1519-1548, in: Göttmann, Frank (Hrsg.) und S I E G L E R S C H M I D T , Jörn (Mitarb.): Vermischtes zur neueren Sozial-, Bevölkerungs- und Wirtschaftsgeschichte des Bodenseeraumes: Horst Rabe zum Sechzigsten, Konstanz 1990, S.-232-264, hier S.-249, Anm. 98. 62 K Ü C H , Friedrich (Hrsg.): Politisches Archiv des Landgrafen Philipp des Großmütigen von Hessen. Inventar der Bestände Bd. 1, Osnabrück 1965 (Neudruck der Ausgabe von 1904); Bd. 2, Osnabrück 1965 (Neudruck der Ausgabe von 1910). Bd. 1, S. 441 Nr. 705; Bd.-2, S.-663 f. Nr.-2059. 63 Ebd., S.-475 f. Nr.-753. 64 D O B R A S Bürger (wie Anm. 61) S.-251, Anm. 119. 65 StAKN L 121: Steuerbuch von 1543, Zunft Thurgow; Steuerbücher 3, 1550: Nr.-823. 66 Ebd., dazu StAKN L 123: Steuerbuch von 1545, Zunft Thurgow. Eine weitere Einnahmequelle neben dem Tuchhandel sah Hux ab den 1530er Jahre wohl im Söldnerwesen. Bereits Mitte April 1537 musste der Rat der Stadt dem Hux verbieten, für einen anderen Söldnerführer in Konstanz Reisläufer für kaiserliche Truppen anzuwerben. 61 Ambivalent zeigte sich Hux aber ab Mitte der 1540er Jahre: im Jahr 1544 lässt er sich von Landgraf Philipp von Hessen für den Schmalkaldischen Bund anwerben, 62 im Jahr 1545 ist er als dessen Hauptmann benannt. 63 Obwohl in städtischem Sinne handelnd, gestattete der Rat dem Hux 1545 seine Kriegsknechte für den Bund nicht in, sondern nur vor der Stadt anzuwerben, doch Jn stille. 64 Allerdings blieb der so erhoffte finanzielle Erfolg aus, denn das fahrende Vermögen von Hux sank ab 1543 von 8655 Pfd.H. auf gerade noch 4560 Pfd.H. im Jahr 1550. 65 Das Immobilienvermögen im Jahr 1543 im Wert von 870 Pfd.H. stieg kurz auf ein Hoch in 1545 auf 1305 Pfd.H., fiel jedoch stetig wieder auf noch 600 Pfd.H. im Jahr 1550. 66 Das Schwinden des Hux’schen Vermögens seit 1532 mag einerseits vielleicht im Zusammenhang mit geschäftlichen Misserfolgen stehen, er hatte schlicht keine glückliche Hand in Handelssachen und im Söldnerwesen, andererseits aber auch seit 1543 mit der Erneuerung des Hauses „Zur Leiter“ und auch mit einer familiären Veränderung zu Beginn der 1540er Jahre in Verbindung stehen. Zu Beginn der 1540er Jahre starb Othmar Hux erste Ehefrau, die sich aller‐ dings nur indirekt erschließen lässt. Am 29. Mai 1544 nämlich bewilligte Kaiser Karl V. dem Othmar Hux die Vereinigung des alten Hux’schen Wappens mit dem Wappen seines als letzter seines Namens im Mannesstamm verstorbenen Schwiegervaters Wolf von Hasenstein, nachdem dessen Wappen schon an seinen Tochtermann Hans Ludwig von Bayern verliehen worden war, welcher Das Haus „Zur Leiter“ 149 67 F E L S , Hans Richard, von: St. Galler Adels- und Wappenbriefe, in: Archives héraldiques suisses = Schweizerisches Archiv für Heraldik = Archivio araldico Svizzero Bd. 56 (1942) Heft 1-2, S.-6-11, hier zu HUX S.-6. 68 R U E P P R E C H T (wie Anm. 28) S.-43, sowie S.-53 Anm. 214. 69 StAKN Urkunde Nr. 456 N.Sp.A. Am gleichen Tag übergab Othmar Hux den Pflegern der Raite zur Versicherung dieses Leibdings seinen Zinsbrief, ausgestellt von Frydrich Schwegler, bischöflicher Prokurator, datiert Mittwoch vor Letare 1503 (StAKN Urkunde Nr. 5048). Dieser Zinsbrief kam am 6. September 1520 an Katharina Kernin, Witwe des Othmar Hux: Rudolf und Jacob Störi, Bürger von Kaiserstuhl, übergeben ihr ihren Zinsbrief, ausgestellt von Friedrich Schwegler, bischöflicher Prokurator, und datiert auf Mittwoch vor Letare 1503. Dorsualvermerk: 1565 hat das Groß-Spittal der Raitti dis Hauptguett erlegt (StAKN Urkunde Nr.-10758). In wie weit eine weitere Urkunde, ausgestellt vor 1548, im Zusammenhang mit dem Leibgeding der Raite-Stiftung zu sehen ist, muss bislang offen bleiben: Bürgermeister und Rat von Konstanz verkaufen dem Othmar Hux und seiner Frau Katherine Ächtbock ein Leibgeding um 520 Gulden (StAKN Urkunde Nr.-12652 Großformat). 70 StAKN Urkunde Nr.-457 N.Sp.A. 71 StAKN A I 4: Vigilantii Seutlanii sive Greg. Mangolti - Cronica Constantiensis - Kurze und warhaffte Chronic die nechst umliegende Stett und Landschafften des Bodensees, doch fürnemlich die alten und löblichen frey- und Reichstatt Constantz betreffend - 1548 - aber ohne Leibeserben 1544 starb. 67 Othmars erste Frau war also eine von Hasenstein, die möglicherweise Ursula mit Vornamen hieß. 68 Bereits am 5. April 1544 tritt Othmar Hux zweite Ehefrau in Erscheinung: an diesem Tag erwarben er und seine Frau Kathrina Ächbeck ein Leibgeding bei der Raite des Almosens in Konstanz für eine Summe von 520 Gulden gegen eine Verzinsung von jährlich 52 Gulden. 69 Beide kauften am 21. Juli 1544 noch ein Leibgeding im Heilig-Geist-Spital zu Konstanz für 400 Gulden, das mit ½ Fuder Wein und 3 Mut Kernen ausbezahlt werden sollte. 70 Zur gleichen Zeit, in den Jahren um 1543 ließ Othmar Hux das Haus „Zur Leiter“ im Stil der Renaissance umgestalten. Diese Erneuerung mag sich nicht nur auf die noch im späten 19. Jahrhundert auf Photographien überlieferten Teile des Hauses erstreckt haben, sondern sehr wahrscheinlich auf das gesamte Gebäude oder zumindest auf das gesamte Erdgeschoss. Das üppige Portal lag ehemals exakt auf der Mittelachse der südlichen Hauswand, was eine Fortsetzung der architektonischen Neugestaltung auch auf dessen Westseite geradezu forderte, analog zu dem vierteiligen Fensterband östlich des Eingangs. Der protestantische Buchhändler und Chronist Gregor Mangold berichtet in seiner Kurze(n) und warhaffte(n) Chronic die […] frey- und Reichstatt Constantz betreffend von 1548, wie er seinen Buchladen vom Haus „Zum Tiergarten“, Wes‐ senbergstraße 28, in das Haus „Zur Leiter“ verlegte: […] und hatt [ich] den Laden im Thiergarten. Darnach bu o wt mir Othmar Hu o gs den Laden zur Leiter. Da blib ich, bis ich uß der Stat zoch, ins 1548 Jar.  71 Bei diesem von Othmar Hux „gebauten 150 Daniel Gross Zusammen gestelt durch Vigilantium Seutlonium (= Pseudonym des Gregor Mangold), in einer Abschrift des Paters Basilius German, Archivar des Klosters Rheinau, vom Jahr 1776, S. 629: hier eine „topographische Vita“ des Gregor Mangold in Konstanz. Vgl. dazu auch R U P P E R T , Philipp: Konstanzer Biographien. Gregor Mangolt, in: Ders. (Hg.): Konstanzer geschichtliche Beiträge Heft 5 (1899) S. 57-69, hier S. 62 f.: „Im Jahr 1542 kaufte er von Mathes Molkepur das Haus zum schwarzen Bock und verlegte seinen Laden in das Haus zum Thiergarten und bald darnach in das Haus zur Leiter wo er blieb bis zu seiner Flucht von Konstanz im Jahr 1548.“ Dies hier nun auch entgegen Z I M M E R M A N N , Wolfgang: Konstanz in den Jahren von 1548-1733, in: Konstanz in der frühen Neuzeit (Geschichte der Stadt Konstanz, 3) Konstanz 1991, S. 147-312, hier S. 159, der Gregor Mangold als Besitzer des Hauses „Zur Leiter“ benennt. 72 Bildarchiv Foto Marburg https: / / www.bildindex.de/ document/ obj32041721? medium= mi06666f05: das obere Hoffenster ist das vergitterte Fenster zu diesem Raum. 73 Dies hier entgegen H I R S C H , S. 155, der in dem westlichen der beiden Medaillons ein Portrait Kaiser Karls V. erkennen wollte. Hirsch ging noch von einem Hausbesitz der Familie Ehinger im Jahr 1543 aus. Heinrich Ehinger, ein Verwandter der weit verzweigten Familie, bekam von Karl V. Venezuela zu Lehen, und dessen „Mut und die Unabhängigkeit als Vorbedingungen freier Meinungsäußerung“ hätten Heinrich veranlasst, in der protestantischen Stadt Konstanz den katholischen Kaiser so promi‐ nent darstellen zu lassen. Diesen Feststellungen folgten in den kommenden Jahrzehnten im Wesentlichen die wenigen Publikationen zum Haus „Zur Leiter“, so im „Südkurier“ vom Dezember 1956: „Das Tor muß weg und damit basta! “ Vor sechzig Jahren wurde das Haus „Zur Leiter“ abgebrochen. K N O E P F L I im Jahr 1969, S. 420 f. „Südkurier“ vom 13.10.1973: Alte Gebäude erzählen Geschichten. Das Haus „Zur Leiter“ beherbergte einen König - Einst Wohnstätte Peter Thumbs. Einzig M O T Z im Jahr 1964 gibt sich hierbei sehr zurückhaltend, während D O B R A S Konstanz, S. 123 im Jahr 1991 bei der Bildunterschrift zu einer Zeichnung des Leiter-Portals die Verbindung zur Familie Ehinger wiederum aufrecht erhält und so auch eine Assoziation zu deren Renaissance-Urheberschaft am Haus „Zur Leiter“ herstellt. In einer vorerst letzten Publikation von M A H L K E , Kirsten u. B E C K , Hannah Alejandra: Stoff. Blut. Gold. Auf den Spuren der Konstanzer Kolonialzeit, Konstanz 2021, halten die beiden Autorinnen ebenfalls noch an der Ehinger-Besitz-Geschichte fest, möchten Laden“ für Mangold handelte es sich um die Räume im Westteil des Gebäudes hin zur Wessenbergstraße, die im Zuge der Erneuerung ebenfalls umgestaltet wurden, in welcher Art und Weise wissen wir leider nicht. Keinesfalls ist dieser Laden der Raum im Südostteil des Gebäudes hinter den beiden vergitterten Zwillingsfenstern neben dem prächtigen Portal, dessen Fenster zum Hof hin ebenfalls vergittert war. 72 Dieser durch eine Eisentüre und den Fenstergittern gesicherte Raum diente dem Hausbesitzer selbst als „Tresor-Raum“ für Bargeld, Urkunden, Zinsbriefe und weitere Papiere, oder bei einem Tuchhändler wie Hux auch als Lager für feine und teure Stoffe. Selbstbewusst ließ sich folglich dort Othmar Hux mit seiner Frau Katharina Ächbeck (oder noch mit seiner erste Frau Ursula von Hasenstein? ) schließlich über den Fenstern zu diesem speziellen Raum in den beiden Medaillons portraitieren. 73 Eine solche „Renovierung“ wird Das Haus „Zur Leiter“ 151 aber das Männer-Portrait im Medaillon nicht mehr als Kaiser Karl V. verstanden wissen (S. 11), sondern als Ulrich oder Georg Ehinger, den „Verwandten der Besitzer des Hauses im 16. Jahrhundert“ (S. 32). Sie übersahen dabei, dass im Jahr 1994 der damalige Leiter des Staatsarchivs des Kantons Thurgau, Staatsarchivar Dr. Michel Guisolan, dem Stadtarchiv Konstanz ein Urkundenkonvolut von Privaturkunden übergab, die allesamt das Konstanzer Haus „Zur Leiter“ betreffen. Es sind dies wesentliche Urkunden zur Besitzgeschichte des Hauses im ausgehenden Mittelalter, die in obigem Haupttext eingearbeitet wurden, so die Urkunden von 1444, 1485, 1489 und 1509. Sie erlauben uns, zusammen mit den Steuerbüchern und wenigen weiteren Quellen, erstmalig eine detailliertere Besitzgeschichte der „Leiter“ für das 15. und 16. Jahrhundert und schließen somit nun endgültig das Eigentum der Familie Ehinger am Haus „Zur Leiter“ im 16.-Jahrhundert aus. 74 Auf der Urkunde vom 21. Juli 1544 finden sich weitere Leibgeding-Vereinbarungen aus den Jahren 1586 und 1587 als Dorsualvermerke (StAKN Urkunde Nr.-457 N.Sp.A.). 75 Ebd. als Dorsualvermerk das Ableben von Hux im Jahr 1553. mehr als nur ein Jahr gedauert haben und die überlieferte Jahreszahl 1543 auf dem Türschloss markiert somit nur die Vollendung des Portals und den Bauabschnitt in diesem Bereich des Hauses. Die sicherlich enormen Kosten für die Neugestaltung des Hauses „Zur Leiter“ aber auch die beiden überlieferten Leibgeding-Verschreibungen mit zusammen 920 Gulden 74 mögen das Ihrige dazu beigetragen haben, das Hux’sche Vermögen stetig zu verringern, ohne dass dies allerdings in den Steuerlisten dezidiert und einzeln nachweisbar wäre. Was Othmar Hux veranlasste, sein Haus als erstes Privathaus in Konstanz im Stil der Renaissance umzugestalten, mag in einem Standesbewusstsein zu suchen sein, das sich für ihn als Richter und bischöflicher Pfalzverwalter ergab. Dazu gehörte auch die Höhung seines Familienwappens mit dem adeligen Wappen derer von Hasenstein. Woher die Inspiration zu dieser Umgestaltung kam, ob sie von einer - bisher nicht nachgewiesenen - Handelsreise nach Italien herrührte, oder in der direkten Nachbarschaft der „Leiter“, nämlich im Münster an der Orgelempore und am Orgelprospekt zu suchen ist - was wiederum dann als Bekenntnis zu seinem katholischen Glauben und als Nähe zum Konstanzer Bischof interpretiert werden kann - muss bislang offen bleiben. Ebenso wenig lassen sich die beiden Medaillons mit den Umschriften „NERONE“ und „MORILA“ an den Seiten des Portals deuten und erklären. Kurzer Epilog zur „Leiter“ Nach dem Tod von Othmar Hux im Jahr 1553 75 erbte seine Witwe Katharina Ächbeck das Haus „Zur Leiter“. Eine Urkunde vom 29. Juli 1564 nennt Katha‐ rina zusammen mit ihrem neuen Ehemann Hans Kaspar von Mendlishoven 152 Daniel Gross 76 StAKN Urkunde Nr.-11773: Übergabe zweier Zinsbriefe an das Konstanzer Spital. Eine bei R U E P P R E C H T (wie Anm. 28) S. 43f, sowie S. 53 Anm. 214 erwähnte Tochter des Othmar Hux namens Cleopha, verheiratet mit Abraham Seutter, erscheint in den Konstanzer Quellen im Zusammenhang des Erbgangs nicht. 77 StAKN Steuerbücher 3, 1560: Nr.-679. 78 StAKN Steuerbücher 3, 1570: Nr.-628. 79 StAKN Urkunde Nr. 457 N.Sp.A. vom 21. Juli 1544: Dorsualvermerk mit dem Sterbejahr 1588, sowie StAKN Urkunde Nr. 12005 vom 25. Juli 1564 mit dem Dorsualvermerk, dass Katharina im September 1588 in Hagnau verstarb. 80 Urkunde vom 23. Dezember 1589 (StAKN J 17: Häuserkartei Umschlag Nr. 241) sowie StAKN B I 77 Ratsbuch von 1588/ 90, S.-454r: Eintrag vom 29. Dezember 1589. 81 Motz (wie Anm. 5) S.-3. 82 Der Konstanzer Photograph Eugen Wolf hat kurz vor dem Abbruch im Herbst 1896 das Haus „Zur Leiter“ dokumentiert. Eine dieser Aufnahmen ist publiziert in: K L Ö C K L E R , Jürgen/ F R O M M , Norbert: Zwischen Mittelalter und Moderne. Konstanz in frühen Pho‐ tographien: Bilder aus der Sammlung Wolf (1860-1930) (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, 38) Ostfildern 2003, S.-42. als Eigentümer des Hauses zur Layter. 76 Mendlishoven erschien bereits 1560 im Steuerbuch an entsprechender Stelle in der Liste, an der die „Leiter“ zu vermuten wäre. 77 Vor 1570 starb Mendlishoven, denn in diesem Jahr steuerte Hans Caspar von Menlißhoven witwe. 78 Katharina Ächbeck, verwitwete Hux und von Mendlishoven folgte im September1588 ihren beiden Ehemännern nach 79 und im folgenden Jahr verkauften ihre Erben das gesamte Anwesen mit vorderer und hinterer Leiter an Hieronymus Schulthaiß. 80 Das Haus „Zur Leiter“ sollte noch durch einige Hände gehen, bis im Jahr 1726 die Witwe des Handelsmanns Johann Jakob Montfort das Anwesen an den aus dem Vorarlberg stammenden Barockbaumeister Peter Thumb verkaufte. Er nun ließ das Haupthaus, die „Vordere Leiter“ in seinem Sinne 1729 umgestalten 81 und aller Wahrscheinlichkeit nach auch die damals noch vorhandenen Renaissance- Architekturelemente an der Westseite der Südwand entfernen, vielleicht auch noch weitere Teile auf dieser Seite im Obergeschoss und auf der zur Wessen‐ bergstraße zugewandten Seite des Hauses - wir können dieses nur vermuten, und sofern sie überhaupt an diesen Stellen vorhanden waren. Den letzten Dolchstoß aber gab der Renaissance am Haus „Zur Leiter“ der einschneidende Umbau und die Neukonzeption des Erdgeschosses von 1896/ 97. Die angefertigten Photographien aus dieser Zeit 82 und die „Rettung“ der Archi‐ tekturelemente durch die Überführung in das Konstanzer Rosgartenmuseum und den dortigen - aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissenen - Einbau zu einer aus diesen Elementen neugestaltete Fassade im Innenhof sind jedoch nur ein schwacher Trost, denn sie geben nie mehr den Eindruck wieder, Das Haus „Zur Leiter“ 153 den dieses früheste Beispiel von Renaissance-Architektur im Profanbau einst auf den Betrachter hatte. 154 Daniel Gross 1 M E C K S E P E R , Cord: Konstanz und die mittelalterliche Stadtbaukunst Italiens, in: Rosgar‐ tenmuseum Konstanz (Hg): Konstanz zur Zeit der Staufer, Konstanz 1983, S.-90. 2 Eine zusammenfassende Auswertung der zahlreichen objektbezogenen Dokumenta‐ tionen der vergangenen 40 Jahre zu einer Typologie des Konstanzer Bürgerhauses ist in Vorbereitung. Zum publizierten Forschungsstand muss auf den vor 35 Jahren verfassten Ansatz einer Haustypologie von Leo Schmidt verwiesen werden: S C H M I D T , Leo: Konstanzer Wohnarchitektur des Mittelalters, in: Städtische Museen Konstanz (Hg.): Ritter, Heilige, Fabelwesen. Wandmalerei in Konstanz von der Gotik bis zur Renaissance, Konstanz 1988, S.-9-19. Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs Italienrezeption im Konstanzer Stadtbild über die Jahrhunderte hinweg Frank Mienhardt Was verbindet ein Gesellschaftshaus im reichsstädtischen Konstanz des späten Mittelalters mit einem 450 Jahre später errichteten Konstanzer Verkehrsbau‐ werk des aufkommenden Industriezeitalters? Beide blicken über die Alpen nach Italien - mehr noch: Beide erinnern - auf unterschiedliche Weise - an denselben florentinischen Prachtbau des beginnenden Trecento. Während die spätmittelalterliche Sakralarchitektur im Zusammenhang mit dem Transfer der mitteleuropäischen Gotik vorwiegend von Westen, aus Frank‐ reich und Burgund, beeinflusst erscheint, sind auf der Ebene des Städtebaus und der bürgerlichen Profanarchitektur die transalpinen Beziehungen offen‐ sichtlich. Auf diese bauaufgabenspezifisch geographischen Entwicklungslinien machte Cord Meckseper 1983 ausgehend von Konstanz aufmerksam. 1 Trotz gewisser Unschärfen in der typologischen Zuschreibung - so kann von mittel‐ alterlichen Konstanzer „Wohntürmen“ nach heutigem Stand der Forschung nur noch eingeschränkt gesprochen werden 2 - zeigt Meckseper anschaulich die Gemeinsamkeiten in der Entwicklung des Bürgerhauses diesseits und jenseits der Alpen auf und verknüpft über verschiedene gebäudebezogene Merkmale, 3 M E C K S E P E R (wie Anm. 1) S.-94-104. 4 H E I E R M A N N , Christoph: Die Gesellschaft „Zur Katz“ in Konstanz. Ein Beitrag zur Geschichte der Stadtgesellschaften im Spätmittelalter und früher Neuzeit (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, XXXVII) Stuttgart 1999, S.-31-35. 5 M A U R E R , Helmut: Konstanz im Mittelalter (II). Vom Konzil bis zum Beginn des 16. Jahr‐ hunderts (Geschichte der Stadt Konstanz, 2) Konstanz 1989, S.-48-51. wie der Traufstellung, vorrangig den oberdeutschen mit dem ober- und mittel‐ italienischen Kulturraum. 3 Diese Verbindungen werden bis zu einem gewissen Grad verständlich, führt man sich die Träger profaner Architekturen jenseits der Herrschafts- und Sakralbauten vor Augen. Es handelt sich dabei um das seit dem Hochmittelalter sich zunehmend emanzipierende Bürgerturm der aufstrebenden Städte, welches vor allem über den Fernhandel zu Macht und Ansehen kam und gerade in Kon‐ stanz in regem Austausch mit den urbanen Metropolen Ober- und Mittelitaliens, wie Mailand, Como oder Florenz, stand. Als sich das Konstanzer Patriziat in der 1351 erstmals erwähnten Gesellschaft „Zur Katz“ zusammenschloss, um sich als politischer Faktor während der Zunftaufstände des 14. Jahrhunderts zu behaupten, war diese städtische Oberschicht bereits eindeutig von der gehobenen, weit überregional agierenden Kaufmannschaft und nicht mehr von bischöflichen Ministerialen bestimmt. 4 Sitz dieser patrizischen Gesellschaft war zunächst das namensgebende Haus „Zur Katz“ in der Sammlungsgasse (heute Münzgasse) unweit des älteren mit‐ telalterlichen Hafens an der Marktstätte. Das 14. Jahrhundert war innenpolitisch geprägt von den Auseinandersetzungen der verschiedenen städtischen Akteure um die Teilhabe am Stadtregiment. Zur Jahrhundertwende kam es schließlich zur Mehrheit der Handwerkszünfte im Großen und Kleinen Rat. Fortan war es dem Zusammenschluss der Geschlechter verwehrt, den Ratssaal im damaligen Rathaus am Bleicherstaad (heute Fischmarkt) für ihre Feste und Trinkgelage zu nutzen. 5 Somit war es letztlich ein Prestigeverlust, welcher den Erwerb einer größeren Liegenschaft zum Bau eines eigenen Fest- und Gesellschaftshauses notwendig machte. Mit der Verlegung ihres Sitzes wandte sich die Gesellschaft dem hochmittel‐ alterlichen Kernbezirk des mittelalterlichen Konstanz zu. Unweit des Münsters befand sich eine Folge von teils großbürgerlichen, teils geistlichen Anwesen, welche mit ihren Vorderhäusern zur Stephanskirche, der ältesten Konstanzer Pfarrkirche, orientiert waren und mit ihren Hofstätten die gesamte Blocktiefe bis zu einer west-ost-verlaufenden Hintergasse durchmaßen. Eines dieser Anwesen war im frühen 15. Jahrhundert im Besitz des Jakob von Ulm, eines vermögenden 156 Frank Mienhardt 6 Zu den sozialen und topographischen Verhältnissen sowie zur Quartiersentwicklung zwischen Katzgasse und Torgasse/ Sankt-Stephans-Platz vgl. H E I E R M A N N (wie Anm. 4) S. 173-176; O E X L E , Judith: Konstanz, Sanierungsgebiet Wessenbergstraße-Katzgasse. Archäologische Prospektion und Grabungen, in: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1987, S.-243-246. 7 Stadt Konstanz, Baurechts- und Denkmalamt, Abteilung Denkmalpflege, Ortsakte Sankt-Stephans-Platz 41 (o. Verz) Untersuchungsbericht Christian Fuchs und Tanja Winter 2022. 8 B A U E R , Markus: Der Münsterbezirk von Konstanz. Domherrenhöfe und Pfründhäuser der Münsterkapläne im Mittelalter, Sigmaringen 1995, S.-230. 9 K O L L I A -C R O W E L L , Barbara/ C R O W E L L , Robert: Das ehemalige Gesellschaftshaus „Zur Katz“. Katzgasse 3 in Konstanz, in: Südwestdeutsche Beiträge zur historischen Baufor‐ schung 1, Stuttgart 1992, S.-127-150. Mitglieds der Geschlechtergesellschaft, und konnte dadurch sicherlich begüns‐ tigend im Jahr 1424 von der „Katz“ erworben werden. 6 (Abb. 1) Nachweisbar bebaut war diese raumgreifende Liegenschaft damals mit einem dreigeschossigen Steinbau zum heutigen Sankt-Stephans-Platz 7 , weitere Bau‐ lichkeiten sind für diese Zeit indes nicht bekannt. (Abb. 2) Jedenfalls entstand nach hinten zur heutigen Katzgasse sogleich nach dem Grundstückserwerb mit dem eigentlichen Gesellschaftshaus ein reiner Neubau, welcher nach Osten an die bereits bestehende Brandwand eines der Häuser der Dommesnerei gesetzt wurde und dabei noch Gartenfläche dieser geistlichen Großliegenschaft jenseits der bisherigen Parzellengrenze beanspruchte. 8 Mit dem Erwerb übertrug die Gesellschaft ihren Namen auf ihre neue Liegenschaft, wobei das bestehende Patrizierhaus an der Stephanskirche topo‐ graphisch korrekt als „Vordere Katz“ bezeichnet wurde. Wie dieser Bestandsbau in der Folgezeit genutzt wurde, ist nicht überliefert. Immerhin verantwortete die Gesellschaft circa 80 Jahre nach dem Erwerb eine umfassende bauliche Erweiterung des „forder hus“. Das eigentliche Augenmerk der „Katz“ lag jedoch ganz eindeutig auf ihrem Neubau hinten an der Nebengasse, der heutigen Katzgasse. Über die Baugeschichte dieses eigentlichen Gesellschaftshauses „Zur Katz“ wissen wir dank einer ausführlichen bauhistorischen Untersuchung von Bar‐ bara Kollia-Crowell und Robert Crowell aus den Jahren 1992/ 93 in Vorbereitung der jüngsten Sanierung, welche das heutige Erscheinungsbild maßgeblich prägt, verlässlich Bescheid. 9 Dies ist für eine kunsthistorische Deutung des Baus in unserem Zusammenhang vor allem deshalb von Relevanz, da aufgrund zweier markanter Umbauphasen im 19. Jahrhundert, zuletzt in Folge eines Brandes 1869, der heutige Bestand vom bauzeitlichen Zustand erheblich abweicht und daher auf die wenigstens für die beiden Fassaden verlässliche Rekonstruktion des Originals rekurriert werden muss. (Abb. 3a/ 3b/ 3c) Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 157 10 M A R M O R , Johann Fidelis Nikolaus: Geschichtliche Topographie der Stadt Konstanz, Konstanz 1860, S.-318. 11 B A U E R (wie Anm. 8) S.-241-248. Das Gesellschaftshaus ist konstruktiv als zweigeschossiger Massivbau mit hohem Satteldach anzusprechen, welcher bis 1427 weitgehend fertiggestellt und gebrauchsfähig war. Das Innere besaß einst zu beiden Geschossen ungeteilte, zweischiffige Hallen mit mittigen, längsverlaufenden Stützkonstruktionen. Im Obergeschoss war der mit Bretter-Balken-Decke, Wandtäfer, holzveredelnden Grünmalereien und Wappenfenstern dekorierte Festsaal angeordnet. Dessen Längsunterzug ruhte auf nur einer mittigen Holzsäule, was zu einer optimalen Raumnutzung mit entsprechenden Sichtbezügen führte. Die Deckenabstützung in der sechs Meter hohen Erdgeschosshalle hatte ein Durchgangsrecht zu berücksichtigen, mit welchem das Gesamtanwesen belastet war. Die hier entsprechend angeordnete Zweistützenreihe musste 1444 durch eine mittige Strebekonstruktion zur direkten Aufnahme der zentralen Punktlast von oben stabilisiert werden, ohne die mittige Durchfahrt zu verstellen. Neben dieser Durchgangsfunktion diente die Erdgeschosshalle als Lager und Marstall. Ein in die westliche Brandwand eingelassener offener Kamin wurde von hier aus beschickt und ermöglichte die Beheizung des Festsaals darüber. Weitere dienende Funktionen waren wohl in Hofgebäuden untergebracht. Auch die Erschließung des Festsaals erfolgte über eine hofseitige Laube. Dieser hofseitige Saalzugang wie die gesamte Durchwegung der Parzelle lassen den Schluss zu, dass die Patrizier ihr rückwärtig gelegenes Gesellschafts‐ haus vorrangig über das Vorderhaus gegenüber der Stephanskirche erreichten. Demzufolge ist wohl die Hofseite der „Katz“ als Hauptfassade anzusprechen. Angemessen repräsentativ muss man sich ihre ursprüngliche Gestaltung vor‐ stellen. Hinweise aus einer Baubeschreibung des ersten Konstanzer Stadtarchi‐ vars Johann Marmor legen nahe, dass die mit teils rustizierten Werksteinen gegliederte Putzfassade malerisch aufgewertet war 10 , so dass die frühere Gestalt von der heutigen modern-materialästhetischen Interpretation im Zusammen‐ hang mit der jüngsten Sanierung stark abwich. Großer Wert wurde ganz offensichtlich aber auch auf die Gestaltung der zur Hintergasse orientierten Rückseite gelegt. Lediglich als Sackgasse ohne eigenen Torabschluss in der Stadtmauer konzipiert, führte der Gassenraum gleichwohl unmittelbar auf die Turmfassade des Münsters zu und wurde von durchaus prominenten Anliegern gesäumt. Die Ecke zum unmittelbaren Münsterbezirk war von der bereits erwähnten Großliegenschaft der Dommesnerei besetzt und im weiteren Gassenverlauf befanden sich fünf Pfründhäuser, welche ebenso zum bischöflichen Hochstift zählten. Eines ging dabei sogar aus einer Kurie hervor. 11 158 Frank Mienhardt 12 B E Y E R L E , Konrad/ M A U R E R , Anton: Konstanzer Häuserbuch, 2, Heidelberg 1908, S.-451. 13 Vgl. M E C K S E P E R (wie Anm. 1) S.-94, 105. Die Großliegenschaft am Eingang der Gasse war zunächst namensgebend, die Sackgasse ist für das 14. Jahrhundert als „Mesnergasse“ überliefert. In diesem geistlich geprägten Umfeld setzte die Gesellschaft mit ihrem auch rückseitig überaus repräsentativ gestalteten Festhaus einen neuen Maßstab, der im Folgenden weitere bürgerliche Bauten nach sich zog. Folgerichtig war die Gesellschaft erstmals 1582 bis 1655 für die Hintergasse namensgebend, seit 1876 spricht man durchgehend von der „Katzgasse“. 12 Es sind zwei Merkmale, welche die rückseitige Fassade in ihrer ursprüng‐ lichen Gestalt bestimmen. Beide Geschosse werden durch mehrteilige Kreuz‐ stockfenster belichtet, welche bandförmig auf Sohlbankgesimsen angeordnet und lediglich im Erdgeschoss durch den Zugang zur Halle unterbrochen sind. Im Gegensatz zur Hofseite, wo sich die Verwendung von Werkstein auf die Gliederelemente beschränkt, zeigt sich die Gassenfront als reine Werksteinfas‐ sade aus Rorschacher Sandstein. Sämtliche Wandflächen bestehen dabei aus regelmäßig geschichteten Buckelquadern, so dass uns insgesamt eine ganz aus der Ästhetik des Steinmaterials gestaltete Rustikafassade entgegentritt (Abb. 4a/ 4b/ 4c) - auch hier wiederum im Gegensatz zur Hoffassade, deren einstige Pracht sich nicht zuletzt über malerische Mittel entfaltete. Ein derartiger Steinverband stellte im städtisch-bürgerlichen Profanbau ganz offensichtlich ein Novum dar. Rustiziertes Mauerwerk war - wenigstens nörd‐ lich der Alpen - bislang lediglich beim mittelalterlichen Wehrbau seit dem 12. Jahrhundert gebräuchlich und bestimmte die äußere Erscheinung sowohl von Burgen des Adels als auch von Stadtbefestigungen des aufstrebenden Bürgertums. Die ältere Forschung nahm dabei eine zeitliche Einengung auf das letzte der drei großen hochmittelalterlichen deutschen Herrscherhäuser vor und sprach vornehmlich von „staufischen Buckelquadern“. 13 Hingegen begegnet uns in Mittelitalien und hier vor allem in Florenz das „Opus Rusticum“ - über klare Schnittkanten exakt konturierte Quadersteine mit dagegen nur grob behauenen, erhabenen Sichtflächen - singulär bereits im ausgehenden Mittelalter und gehäuft seit der Frührenaissance auch an öffentlichen wie privaten Stadtpalästen. Bereits Franz Xaver Kraus verknüpft in seinem 1887 erschienenen Inventar der Kunstdenkmäler im Kreis Konstanz, dem Auftakt zur Denkmalinventari‐ sation im Großherzogtum Baden, die Rustikafassade des Hauses „Zur Katz“ erstmals mit dem Kulturraum Mittelitalien, indem er festhält, dass „an der Vorderfaçade […] die consequente Durchführung der Buckelquadern […] an die Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 159 14 K R A U S , Franz Xaver (Hg.): Die Kunstdenkmäler des Großherzogtums Baden, Erster Band. Die Kunstdenkmäler des Kreises Konstanz, Freiburg 1887, S.-271. 15 M E C K S E P E R (wie Anm. 1) S.-108, im Folgenden S.-106. mittelalterlichen Florentinerpaläste erinnert“. 14 Seither gilt das Gesellschafts‐ haus an der Katzgasse als von Italien inspirierter erster Renaissancebau nörd‐ lich der Alpen. In der Erkenntnis, dass die berühmten Stadtresidenzen der mächtigsten Florentiner Geschlechter, wie der Medici, Strozzi oder Pitti, einige Jahrzehnte nach dem Konstanzer Gesellschaftshaus entstanden, wagt Cord Meckseper knapp 100 Jahre später den „zweifellos aufregende[n] Schluss, dass wir mit dem Konstanzer Haus zur Katz noch vor den Florentiner Stadtpalästen einen ersten Nachfolgebau des Palazzo Vecchio zu sehen haben.“ 15 (Abb. 1 im Beitrag Ilse Friedrich in diesem Band) War also der am Beginn des Trecento errichtete Sitz der Florentiner Signoria, erster und vornehmster Stadtpalast der Toskanametropole, nicht nur Vorbild für bürgerliche Nachfolgebauten im heimatlichen Florenz, sondern auch für das Festhaus der Patriziergesellschaft im 700 Kilometer entfernten, vergleichsweise eher beschaulichen Konstanz? Angesichts der gravierenden baukörperlichen Unterschiede - dort der hoch‐ aufragende blockhafte Solitär, hier das Traufenhaus als Teil einer Reihenbe‐ bauung - bleibt als maßgebliches verbindendes Element die durchgängige Fassadenrustika ohne die sonst häufig anzutreffende Stockwerksunterschei‐ dung, etwa durch abnehmende Plastizität von unten nach oben. Hinzu kommt das Sohlbankgesims, auf dem die Hauptfenster sitzen. Meckseper erkennt im Konstanzer Rundbogenfries unter der Traufe außerdem eine Verkürzung des ausladenden, gestelzten Bogenfrieses, auf dem das obere Mezzanin des Palazzo Vecchio ruht - ein (etwas bemühter) Vergleich, der allerdings im Lichte heutiger Kenntnis zurückgewiesen werden muss, ersetzt doch der Bogenfries seit dem Wiederaufbau nach 1869 den ursprünglichen Akanthusfries. (Abb. 5) Meckseper verweist außerdem auf eine vergleichbare stadtgesellschaftliche Ausgangslage, welche zur synchron laufenden Rezeption des Florentiner Palazzo della Signoria in den Metropolen der Toskana und am Bodensee geführt haben könnte, sahen sich doch die altehrwürdigen Geschlechter hier wie dort durch den Aufstieg der Handwerkszünfte in ihrer Macht bedroht und galt es somit, den neuen Bedrohungen ein Bollwerk - zugleich (symbolisch) wehrhaft und repräsentativ - entgegenzusetzen, welches an die Jahrzehnte festgefügter kommunaler Stän‐ deordnungen erinnern sollte. Leonardo Bruni vergleicht den damals bereits 100 Jahre alten Palazzo Vecchio in seiner um 1403 verfassten „Laudatio“ auf Florenz mit einem 160 Frank Mienhardt 16 Zitiert nach G Ü N T H E R , Hubertus: Was ist Renaissance? Eine Charakteristik der Archi‐ tektur zu Beginn der Neuzeit, Darmstadt 2009, S.-214. 17 M A U R E R (wie Anm. 5) S.-110. 18 M A U R E R , Helmut: Konstanz im Mittelalter (I). Von den Anfängen bis zum Konzil (Geschichte der Stadt Konstanz, 1) Konstanz 1989, S.-252. „Admiralschiff, [welches] durch sein Aussehen erkennen lässt, dass auf ihm der oberste Befehlshaber der Flotte fährt [… Entsprechend] ist das Erscheinungsbild der Signoria derart, dass jeder leicht urteilen kann: hier wohnen die Lenker des Gemeinwesens. So prächtig ist sie erbaut, so steil ragt sie empor, dass sie alle Gebäude in weitem Umkreis beherrscht und ihr mehr als privater Rang deutlich ist.“ 16 Als päpstlicher Sekretär war der in Florenz wirkende Humanist Bruni Teil‐ nehmer des von 1414 bis 1418 währenden Konstanzer Konzils. Verbindungen zwischen dem Verfasser der „Laudatio Florentine urbis“ und der Metropole am Bodensee und wohl auch seiner weltlichen Oberschicht waren also vorhanden. Hinzukam der Austausch auf der wirtschaftlichen Ebene. Der Handel mit den Metropolen Ober- und Mittelitaliens, für den nicht zuletzt im ausgehenden 14. Jahrhundert das Kaufhaus am neuen Hafen errichtet wurde, umfasste dezidiert auch die Stadt am Arno. Florentiner Kaufleute lassen sich bis zu den allmählich einsetzenden wirtschaftlichen Verwerfungen im Zusammenhang mit dem Anschluss des Thurgaus an die Eidgenossenschaft im Jahr 1460 auf den Konstanzer Märkten nachweisen, Konstanzer Kaufleute besuchten den Handelsplatz am Arno. 17 Der „Florenus“, ein in Florenz geprägter Goldgulden, war seit dem 14. Jahrhundert auch in Konstanz eines der zirkulierenden Zahlungsmittel. 18 Die Verbindungen mit Florenz waren also im ausgehenden Mittelalter - der Blütezeit des reichstädtischen, vom einstigen bischöflichen Stadtherrn emanzipierten Konstanz - vielfältig. Das Konzil wirkte auch hier als weiterer Katalysator des kulturellen Austausches. Der Palast der Florentiner Signoria und mehr noch seine zentrale Bauaussage, wie sie Bruni so bildhaft beschreibt, könnten den in der „Katz“ organisierten Geschlechtern bekannt und somit auch vorbildhaft für die Errichtung ihres Gesellschaftshaus erschienen sein. Oder ist der Weg der architektonischen Aneignung nicht doch bedeutend kürzer? Handelt es sich bei der Rustikafassade des Hauses „Zur Katz“ wirklich um ein bewusstes Architekturzitat des Palazzo Vecchio oder werden damit doch eher lokale Vorbilder rezipiert? Im reichsstädtischen Konstanz war die Technik des Rustikamauerwerks jedenfalls bestens bekannt, und eine Einengung auf die Stauferzeit, was ihre wandflächige Verwendung betrifft, widerspricht eindeutig der heutigen Befund‐ Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 161 19 Vgl. Stadt Konstanz, Baurechts- und Denkmalamt, Abteilung Denkmalpflege, Sammel‐ akte Dendrochronologie (o. Verz) Untersuchungsberichte Burghard Lohrum (Rhein‐ torturm 1990, Schnetztorturm 2020, Pulverturm 2022). Zum Pulverturm vgl. weiter: K L Ö C K L E R , Jürgen: Der Pulverturm zu Konstanz. Zur Korrektur unwahrer Tatsachenbe‐ hauptungen, in: SchrrVGBodensee 141 (2023) S.-53-61. 20 Stadt Konstanz, Baurechts- und Denkmalamt, Abteilung Denkmalpflege, Ortsakte Auf der Insel 1 (o. Verz) Untersuchungsberichte Ulrich Knapp, Burghard Lohrum, Christian Fuchs und Tanja Winter 2017-20. 21 Meckseper erwähnt mit dem Reichlin-von-Meldegg-Haus und dem Rathaus zwei Überlinger Beispiele der Hälfte des 15.-Jahrhunderts. M E C K S E P E R (wie Anm. 1) S.-108. 22 H E I E R M A N N (wie Anm. 4) S. 173. Marmor nennt fünf von der Gesellschaft benannte „Baumeister“, welche selbst Mitglieder der „Katz“ waren und denen wohl eher die Funktion von Bauaufsehern oder Bauleitern zukam. M A R M O R (wie Anm. 10) S.-314. lage. Hier fällt der Blick auf die drei noch erhaltenen Stadttürme der äußeren Kernstadtbefestigung. Die Außenschalen ihrer massiven Wandpartien bestehen komplett aus rustizierten Quaderverbänden und belegen die Verwendung dieser Mauerwerkstechnik durch das gesamte 14. Jahrhundert hinweg, wurden doch gemäß dendrochronologischer Untersuchung der Schnetztorturm um 1328, der Rheintorturm um 1360 und der Pulverturm um 1373 errichtet. 19 (Abb. 6, 7) Zwar nicht wandflächig, so doch als markante Einfassung der Gebäudekanten begegnet uns die Rustika an mehreren spätmittelalterlichen Bauwerken außer‐ halb der Wehranlagen, wohl erstmals am 1240/ 41 (d) erbauten „Kapitelhaus“ des Dominikanerklosters auf der Konstanzer Insel. 20 Das 1388-91 errichtete, in die Stadtbefestigung eingebundene Kaufhaus am Hafen zeigt breite rustizierte Eckstreben zur Uferseite und rustizierte Eckquaderungen zu allen Seiten. (Abb. 8) Diese Kontinuität in der Mauerwerkstechnik bindet das Haus „Zur Katz“ durchaus in die lokale Bautradition ein - ungeachtet der Tatsache, dass die Ausdehnung der Rustika auf die gesamte Fassade im bürgerlichen Profanbau au‐ ßerhalb der Wehrbaukunst eine echte Innovation darstellt, ja für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts als singulär diesseits der Alpen bezeichnet werden darf, nur zögerlich weitere Beispiele folgen lässt 21 und dabei eindeutig auf Parallelen im Florenz des 15. Jahrhunderts verweist. Angesichts fehlender schriftlicher Belege und der ungeklärten Baumeisterfrage 22 bleibt die direkte Einflussnahme durch Florenz und den dortigen Kommunalpalast dennoch kunsthistorische Interpretation. Unabhängig von der Rezeptionsfrage fand die Geschlechtergesellschaft mit ihrem neuen Festhaus den angemessenen, gleichermaßen auf Tradition, Soli‐ dität wie Prachtentfaltung setzenden baulichen Ausdruck. In bester Umgebung, an der Nahtstelle von geistlicher und bürgerlicher Stadt, kündet der Gesell‐ schaftsbau von patrizischem Standesbewusstsein innerhalb eines komplexen 162 Frank Mienhardt 23 M A U R E R , Helmut: Der historische Rahmen, in: Städtische Museen Konstanz (Hg.): Im Schatten des Münsters. Geschichte eines Quartiers im Zentrum der Konstanzer Altstadt, Konstanz 1999, S.-14. 24 Zur Magnificenza im Privatwie Kommunalbau vgl. G Ü N T H E R (wie Anm. 14) S. 157-159, 213-214. städtischen Machtgefüges, vom Behauptungswillen der alteingesessenen Ge‐ schlechter gegenüber den aufstrebenden Zünften. Ganz in der Nähe befand sich mit dem Stauf, dem Wirtschaftshof der Domklausur, zugleich die Trinkstube des Domkapitels, „und so spielte sich hier [fortan], im Umkreis des Münsters zwischen der „Katz“ und dem „Stauf “ bis ins 18. Jahrhundert hinein das gesellschaftliche Leben der beiden führenden Gruppen dieser Stadt ab.“ 23 . In seiner repräsentativen Gestalt verkörpert das Haus „Zur Katz“ eindrucksvoll die ästhetische Idee der Magnificenza, welche auf Ebene der Stadtbaukunst eine zugleich individuelle wie sozial verankerte, identitätsstiftende Prachtentfaltung jenseits oberflächiger Dekadenz umschreibt und sich auf das keineswegs scharf voneinander abgrenzbare öffentliche wie private Bauen bezieht. Damit ist eine der Entwicklungsmechanismen italienischer Metropolen, wie Venedig oder Florenz, an der Schwelle des Mittelalters zur Renaissance benannt. 24 Somit zeigt sich auch aus ideengeschichtlicher Perspektive eine Nähe unseres Gesell‐ schaftshauses zur bürgerlichen Architektur jenseits der Alpen. Wagen wir nun einen Zeitsprung um mehr als 400 Jahre und begeben uns im Exkurs zunächst weg von der städtischen Ebene auf die Landesebene. Im Jahr 1840 wurde mit dem Bau der Badischen Staatseisenbahn begonnen, gemeinsam mit der Rheinbegradigung das wichtigste Infrastrukturprojekt des Großherzogtums im aufkommenden Industriezeitalter. Unter Einbeziehung des schweizerischen Basel sollten die wichtigsten badischen Städte über die Badische Hauptbahn verbunden werden. Die Trassierung berücksichtigte die topographischen Gegebenheiten. Ausgehend von Mannheim erfolgte der etap‐ penweise Streckenbau im breiten Oberrheingraben bis nach Basel im Jahr 1855 und danach entlang des Hochrheins. Mit der Eröffnung des Konstanzer Bahn‐ hofs im Jahr 1863 als Endpunkt war das staatliche Prestigeprojekt abgeschlossen. Die Konzeption der Hochbauten der Badischen Hauptbahn wurde Friedrich Eisenlohr, Mitglied der zentralen Baudirektion, übertragen. Für die Ausführung vor Ort zeichneten die jeweiligen Bezirksinspektionen verantwortlich. Die Bahnhöfe entlang der Bahntrasse folgten einer klaren Hierarchie. Sie wurden in Hauptstationen, Zwischenstationen und Haltepunkte unterteilt. Auch der je‐ weilige Bahnhof gab sich als hierarchisierter Baukomplex aus unterschiedlichen Bestandteilen zu erkennen. Im Zentrum stand das Empfangsgebäude, begleitet Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 163 25 R O T H , Erik: Offenburg - Freiburg. Die Bauten der Badischen Staatseisenbahn und der viergleisige Ausbau der Rheintalbahn, in: Nachrichtenblatt des Landesdenkmalamtes 3/ 2002, S.-178-182. 26 H Ü B S C H , Heinrich: In welchem Style sollen wir bauen? Karlsruhe 1828 (abrufbar als Digitalisat) S.-2, 44-51. 27 Zitiert nach R O T H (wie Anm. 21) S.-181. von Bahnwärterhäusern, Unterständen und weiteren Funktionsgebäuden. 25 Bestimmend für die architektonische Umsetzung wurde der Rundbogenstil, wie er sich mit dem Namen Heinrich Hübsch verbindet und wie er für die Staats‐ baukunst im Großherzogtum unter der Ägide dieses Architekten verbindlich war. Der aus Weinheim stammende Baumeister war von 1828 bis zu seinem Tode 1863 Mitglied der badischen Baudirektion und zugleich oberster badischer Baubeamter, zudem leitete er von 1832 bis 1854 die Karlsruher Bauschule. Er war somit die prägende Persönlichkeit für die Baukunst in Baden, wirkte als Architekturtheoretiker aber auch schulbildend weit über die Grenzen des Großherzogtums hinaus. Hübsch wollte mit seinem am Prinzip der „Zweck‐ mäßigkeit“ orientierten „neuen Styl“ - den Begriff „Rundbogen-Styl“ verwen‐ dete er selbst ausschließlich retrospektiv - den nicht zuletzt in Karlsruhe vorherrschenden Klassizismus überwinden. Historische Bezugspunkte waren die vorrangig in Italien beheimatete frühchristliche Basilika und die Sakralbau‐ kunst der Romanik, auch Anleihen am „Spitzbogen-Styl“ - der Gotik also - waren bezogen auf den Einzelfall zulässig. 26 Letztlich sollte den Architekten ein konstruktiv-ästhetisches Grundgerüst an die Hand gegeben werden, um für die unterschiedlichsten Bauaufgaben ihrer Zeit zu angemessenen wie individuellen Lösungen zu gelangen. Friedrich Eisenlohr setzte die Prinzipien seines Mentors Hübsch konsequent um und schuf gleichwohl eigenständige baukünstlerische Lösungen, deren Qualitäten sich insbesondere in der überörtlichen Gesamtbetrachtung zeigen. Eisenlohr entwickelte für die Bahnhöfe entlang der Hauptbahn ein architekto‐ nisches Gesamtkonzept, welches einerseits der Wirtschaftlichkeit und Zweck‐ mäßigkeit folgen und andererseits die Hierarchien in der Funktion formal unterstreichen sollte. Verbindendes Merkmal war - ganz im Sinne von Hübsch - die Materialästhetik oder - nach Eisenlohrs Worten - „überall sichtbares Material und unverhüllte, wirkliche Konstruktion und darauf sich gründende Formenbildung, also keine Scheinform, sondern Wahrheit“. 27 Um die Kosten zu begrenzen, griffen Eisenlohr und die ihm verpflichtetem Baumeister der Bezirksdirektionen auf regional verfügbare Baumaterialien zurück, wodurch 164 Frank Mienhardt 28 O E T Z E L , Günther: Das pulsierende Herz der Stadt. Stadtraum und industrielle Mobilität. Die Karlsruher Bahnhofsfrage, Karlsruhe 2005 (abrufbar als Digitalisat) RN. 12-19. bei aller räumlich übergreifender Gesamtkonzeption zugleich eine regional verortete Gestaltung erreicht wurde. Besondere Sorgfalt wurde auf die Architektur der Empfangsgebäude ver‐ wendet. Vorrangig die Hauptstationen sollten als repräsentative Verkehrs‐ bauten in Erscheinung treten. Eisenlohr konzipierte langgestreckte, symmetri‐ sche Gruppenbauten mit einer Betonung der Mittelachse. Im Zentrum der Anlage steht die Vorhalle, die der zentralen Erschließung dient, sich über Ar‐ kaden an der stadtseitigen Fassade artikuliert und dabei an den Hauptstationen als mehrjochiger Wandelgang in Erscheinung tritt. Besonders repräsentativ zeigte sich der erste Karlsruher Bahnhof, welcher infolge der Bahnverlegung 1913 seine ursprüngliche Funktion einbüßte und schließlich 1970 abgebro‐ chen wurde. Für unsere Betrachtung relevant ist der vorgründerzeitliche Ur‐ sprungsbau, welchen Eisenlohr 1841-43 errichtete und welcher als Prototyp eines gehobenen Empfangsgebäudes bezeichnet werden darf. 28 Ein breitgela‐ gerter eingeschossiger Mittelbau löst sich stadtseitig in einer Arkadenfolge mit Rundbogenabschlüssen auf und verbindet pavillonartige zweigeschossige Kopfbauten. Axial zeigt sich die Arkadenfolge um eine dreijochige Vorhalle erweitert. Darüber befindet sich ein schlanker Uhrenturm, welcher bereits eine erste, von Eisenlohr selbst verantwortete Änderung unmittelbar nach der Fertigstellung darstellt. (Abb. 9) Die Analogie zu Konstanz könnte kaum deutlicher sein, das 1863 eröffnete Konstanzer Empfangsgebäude gibt sich eindeutig als Nachfolgebau des zwanzig Jahre älteren Bahnhofs der badischen Landeshauptstadt zu erkennen. (Abb. 10) Auch in Konstanz waren die Ansprüche an die Bahnhofsarchitektur hoch, erreichte doch die Badische Hauptbahn - wie bereits erwähnt - mit dem Anschluss an die Bodenseemetropole ihren Endpunkt und befanden sich die Bahnanlagen als Teil einer neuen Verkehrsdrehscheibe in prominenter Lage am Scharnier zwischen See und Stadt (Abb. 11). Diese Verkehrsdrehscheibe fasste die Eisenbahn und den ab 1839 gegründeten Dampfschifffahrtshafen, der 1870 für den Trajektverkehr ausgebaut wurde, zu einer Funktionseinheit zusammen. Entsprechend wirkt das turmbekrönte Empfangsgebäude in beide Richtungen. Seeseitig ist es Teil der neuen Ufersilhouette, mit der die Stadt ihre bislang noch mittelalterliche, von Wehrbauten geprägte Ufergestaltung abschüttelte. Stadtseitig fungiert der Bahnhof insgesamt als Ausgangs- und Bezugspunkt Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 165 29 Zur Chronologie des Hafenausbaus und Bahnschlusses vgl. Z A N G , Gert: Konstanz in der Großherzoglichen Zeit. Restauration. Revolution. Liberale Ära (Geschichte der Stadt Konstanz, 4.1) Konstanz 1994, S. 96-99, 108-109, 215-222, 239-240, 253-256; Z A N G , Gert: Konstanz in der Großherzoglichen Zeit. Aufschwung im Kaiserreich (Geschichte der Stadt Konstanz, 4.2) Konstanz 1993, S. 69, 99-101; zu den städtebaulichen Veränderungen nach 1863 vgl. M I E N H A R D T , Frank: Die südliche Konstanzer Altstadt. Historische Orts‐ gestalt und Denkmalpflegerischer Werteplan, in: Röber, Ralph (Hg.): Konstanz, Obere Augustinergasse. Ein Hinterhofquartier und sein historisch-bauhistorisches Umfeld, Wiesbaden 2020. 30 R O T H , Erik: Empfangsgebäude des Bahnhofs. Konstanz. Endpunkt der Badischen Haupt‐ bahn, in: Nachrichtenblatt des Landesdenkmalamtes 1/ 2007, S.-67-68. 31 Zur städtebaulichen Stellung des Bahnhofs als Stadteingang vgl. O E T Z E L (wie Anm. 25) RN. 9. des darauffolgend angelegten Bahnhofsviertels mit seinen gründerzeitlich mon‐ dänen Hotel- und Verwaltungsbauten. 29 Friedrich Eisenlohr erlebte die Weiterführung der Badischen Hauptbahn über Basel entlang des Hochrheins nicht mehr, er starb bereits 1854 mit nur 48 Jahren. Für den Entwurf des Konstanzer Empfangsgebäudes zeichnete der Konstanzer Bezirksbaumeister Heinrich Leonhard verantwortlich. 30 Die baukörperliche Anordnung folgt weitgehend dem Karlsruher Vorbild. Auch in Konstanz finden wir den stadtseitig in einer Arkatur aufgelösten eingeschossigen Mittelbau zwischen flankierenden zweigeschossigen Kopfbauten, welche mit flachen Walmdächern abschließen. Die mittig vorgesetzte Halle fehlt, stattdessen wird das mittige Arkadenjoch als Basis für den Uhrenturm betont, der noch domi‐ nanter als in Karlsruhe wirkt, dabei als Point de Vue der Bahnhofstraße und letztlich als neues „Stadttor“ in Erscheinung tritt. 31 (Abb. 12) Ganz im Sinne des Gesamtkonzeptes von Eisenlohr und der Gestaltungs‐ grundsätze von Hübsch wurde das Konstanzer Empfangsgebäude material‐ sichtig in lokal üblichem Rorschacher Sandstein errichtet. Dabei zeigt auch die Stilwahl eine Eigenständigkeit. Während der Karlsruher Bahnhof mit seinen markanten Rundbogenformen an Arkaden und Gesimsen dem Rundbogenstil in der gängigen Definition folgt, finden wir in Konstanz Spitzbogenarkaden, Spitz‐ bogenfriese, Stabwerkrahmungen, Fialen (Ziertürmchen) sowie Strebepfeiler mit Kaffgesimsen und somit das gesamte Repertoire einer Wiederbelebung der mittelalterlichen Gotik, ohne im Übrigen den von Hübsch gesetzten konzeptio‐ nellen Rahmen zu verlassen. Auch hier begegnen uns „Zweckmäßigkeit“ im Sinne klarer funktionaler Zuordnungen und aus der Konstruktion abgeleitete Formbildung. Während indes der langgestreckte Unterbau trotz der neugotischen Detail‐ formen eher noch klassizistische Proportionen zeigt, besitzt der schlanke Uhren‐ turm mit seinem Spitzdach eine für die Gotik typische Höhenstreckung, welche 166 Frank Mienhardt durch die Verjüngung des Turmschaftes sogar noch optisch verstärkt wird. Dieser massive Schaft endet in einer umlaufenden, zinnenbewehrten Galerie, welche ihrerseits über einem gestelzten Bogenfries leicht auskragt. Darüber befindet sich eine offene Dachlaterne zur Aufnahme der Bahnhofsglocke. Über Eck gestellte Fialen leiten zum Spitzdach über. Die Vorbilder sind eindeutig in den Türmen der Kommunalpaläste nord- und mittelitalienischer Metropolen zu suchen. Am nächsten kommt - und hier schließt sich der Kreis - der Turm des Palastes der Florentiner Signoria, des Palazzo Vecchio. Dieser besitzt mit Schaft, zinnenbekrönter Galerie, Laterne und (vergleichsweise flachem) Zeltdach die gleiche Höhenzonierung, und selbst die Anzahl der Bogenstel‐ lungen zur Galerieauskragung entsprechen sich annähernd - in Konstanz zählen wir umlaufend sechs, in Florenz vorne und hinten sechs und seitlich fünf, was die Verwandtschaft in den Proportionen unterstreicht. Mit diesen florentinischen Reminiszenzen beherrscht das „Stadttor“ des Industriezeitalters die Uferszenerie, die Italienrezeption ist somit Teil der heutigen Konstanzer Stadtkrone. Zwischen dem Haus „Zur Katz“ und dem Konstanzer Bahnhof liegen die besagten 450 Jahre. Der ältere Bau beschreibt eine genuine Leistung der spätmittelalterlich-reichsstädtischen Stadtgesellschaft, der jüngere ist Ausdruck eines raumübergreifenden Landesprogramms zur Realisierung des damals mo‐ dernsten Verkehrsträgers im Großherzogtum Baden. Der Italienbezug, ja der Verweis auf das gleiche Bauwerk, den Palazzo Vecchio, ist das Verbindende. Beim Bahnhof ist die Analogie bezogen auf den Turm augenfällig, bei der „Katz“ bleibt sie (begründete) Spekulation. Unabhängig davon ist die Nähe des Konstanzer Gesellschaftshauses zur Entwicklung kommunaler Repräsenta‐ tionsarchitektur in den italienischen Metropolen am Übergang des Mittelalters zur Renaissance mit besonderem Verweis auf Florenz offenkundig. In der Zusammenschau stehen die beiden historischen Monumente für die epochen‐ übergreifende Kontinuität des transalpinen Blickes lokaler Kunst und Kultur nach Italien. Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 167 Abbildungen: Hofhalde Münsterplatz Katzgasse Wessenbergstraße Torgasse Abb. 1: Situationsplan zum Quartier zwischen Katzgasse und Torgasse/ Sankt-Stephans- Platz westlich des Münsters, rot markiert das durchbindende Gesamtanwesen „Zur Katz“ in der heutigen Umgrenzung, hervorgehoben der Kernbau des Vorderhauses und das rückwärtige Gesellschaftshaus, grün markiert das einstige Großanwesen der Dommesnerei. Dessen ursprüngliche Westgrenze ist nicht exakt ermittelbar. 168 Frank Mienhardt Abb. 2: Haus „Zur vorderen Katz“, mit spätmittelalterlichem Kernbau zu drei Geschossen von 1284 (d) sowie östlicher Erweiterung von 1509 (d) und mutmaßlich zeitgleicher Aufstockung, Aufnahme von 2018 Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 169 Abb. 3a: Rekonstruktion der bauzeitlichen Hoffassade des Gesellschaftshauses „Zur Katz“, Barbara Kollia-Crowell, Robert Crowell, 1994 170 Frank Mienhardt Abb. 3b: Hoffassade im Zustand des Wiederraufbaus nach 1869 mit hofseitiger Vierge‐ schossigkeit (Erdgeschoss hier verdeckt), Aufnahme um 1970 Abb. 3c: Hofansicht nach der Sanierung 1993-98, wiederhergestellt zeigen sich die ursprünglichen Strukturen, wie Geschossteilung, Wandöffnungen und Steildach bei gleichzeitiger Verwendung moderner Detailformen, Aufnahme von 2023 Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 171 Abb. 4a: Rekonstruktion der bauzeitlichen Straßenfassade des Gesellschaftshauses „Zur Katz“, Barbara Kollia-Crowell, Robert Crowell, 1994 172 Frank Mienhardt Abb. 4b: Straßenansicht, Zustand um 1880. Die Änderungen im Erdgeschoss sind Folge einer Geschossunterteilung der Halle 1821. Abb. 4c: Straßenansicht nach der Sanierung 1993-98 mit wiederhergestelltem Steildach. Aufnahme von 2023 Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 173 Abb. 5: Haus „Zur Katz“ nach Brand 1869, Blick auf die Straßenfront. Erkennbar ist der ursprüngliche Akanthusfries an der Dachtraufe. Abb. 6: Außenseite des Schnetztorturms mit Rustikamauerwerk, Aufnahme von 2012 174 Frank Mienhardt Abb. 7: Rustikamauerwerk des Pulverturms, Aufnahme von 2023 Abb. 8: rustizierter nordöstlicher Strebepfeiler des Kaufhauses am Hafen („Konzil“), Aufnahme von 2023 Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 175 Abb. 9: Der erste Karlsruher Bahnhof mit langgestrecktem Empfangsgebäude, dominiert vom zentralen Uhrenturm, nach 1844 Abb. 10: Das Empfangsgebäude des Konstanzer Hauptbahnhofs unmittelbar nach der Eröffnung 1863 176 Frank Mienhardt Abb. 11: Stadtansicht von der Seeseite mit aufeinander bezogenen Hafen- und Bahnan‐ lagen, noch vor der Anlage des Bahnhofsviertels und des Ausbaus des Hafens für den Trajektverkehr, um 1865 Abb. 12: Blick von der Bahnhofstraße auf den Bahnhofsturm als Point de Vue, Aufnahme von 2016 Bildnachweis: Abb. 1: Stadt Konstanz, Amt für Liegenschaften und Geoinformation/ Bau‐ rechts- und Denkmalamt 2023 Abb. 2: Frank Mienhardt Abb. 3a: Plansammlung Baurechts- und Denkmalamt, Abt. Denkmalpflege (o. Verz.) Abb. 3b: Alfons Rettich Abb. 3c: Frank Mienhardt Abb. 4a: Plansammlung Baurechts- und Denkmalamt, Abt. Denkmalpflege (o. Verz.) Abb. 4b: Alfons Rettich Das Haus „Zur Katz“ und das Empfangsgebäude des Bahnhofs 177 Abb. 4c: Frank Mienhardt Abb. 5: Stadt A Konstanz Z1.altD09-177 Abb. 6: Frank Mienhardt Abb. 7: Frank Mienhardt Abb. 8: Frank Mienhardt Abb. 9: Ausgeführte oder zur Ausführung bestimmte Entwürfe von Ge‐ bäuden verschiedener Gattung als Unterrichtsmittel für Gewerb- und technische Schulen sowie für Baumeister von F. Eisenlohr, Carlsruhe 1852 (Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau) Abb. 10: Stadt A Konstanz Z1.wolfH20-957b Abb. 11: Stadt A Konstanz Z1.wolfH11-7823/ Z1.wolfH11-7827 Abb. 12: Frank Mienhardt 178 Frank Mienhardt Reisen in der Neuzeit und Arbeitsmigration 1 P I L E O , Benedikt de: zit. nach: Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-40-42, hier: 42. 2 Ebd., S.-40. 3 Ebd., S.-41. Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben Reiseberichte italienischer Reisender aus dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit Moritz Mayer Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben.  1 In einem Brief vom 14. Februar 1415 schreibt ein italienischer Reisender an seinen Bruder in Rom: Die Stadt Konstanz ist klein, kann aber trotzdem vielen Menschen Herberge geben.  2 Und obwohl das deutsche Wetter mal stürmisch, mal verschneit an den Nerven des vom italienischen Wetter verwöhnten Mannes zehrt, ist dieser voll des Lobes für die kleine Stadt am Bodensee: […] [E]s gibt hier herrliches Weißbrot, einen Wein, der besser ist als unser Falerner, Fleisch aller Art, Milch, Käse, Eier, Fische, Äpfel, die sogar jetzt noch frisch sind. […]. Alles ist in reichem Überfluss vorhanden, was notwendig, nützlich oder angenehm ist […]. Man möchte glauben, alle Gottheiten der Felder und der Berge, Ceres, Bacchus, Diana, Merkur, Pales, Pomona, Copia und alle anderen guten Götter hätten sich diese Stadt ausersehen, […].  3 Neben dem guten Essen berichtet er seinem Bruder außerdem noch von weiteren Vorzügen der Bodenseestadt, nämlich von […] eine[r] große[n] Zahl der stattlichsten Frauen und schönsten Mädchen an Hautfarbe heller als der Schnee, 4 Ebd., S.-42. 5 Vgl. Patschovsky, der auch schon auf den Umstand der Namensgebung und das „Frauenlob“ der Konstanzerinnen durch Pileo hinweist. Vgl. P A T S C H O V S K Y , Alexander: Der italienische Humanismus auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418), (Konstanzer Universitätsreden 198) Konstanz 1999. 6 Vgl. für eine Übersicht zum italienischen Humanismus auf dem Konstanzer Konzil: P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5). 7 Vgl. für die rege Sammlungstätigkeit P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5), S.-11. 8 Vgl. F E G E R , Otto: Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-7-11. […].  4 Vielleicht haben ihn diese Eindrücke auch dazu gebracht, zu vermuten, dass Venus, die Mutter der Römer höchstselbst, die Stadt geliebt haben müsse. 5 Der Mann, der hier in vollen Zügen für die Bodenseestadt Konstanz schwärmt, ist der Humanist Benedikt de Pileo. Er und seine italienischen Kollegen besuchten in den großen Gefolgen der italienischen Päpste, Fürsten und Würdenträger die Stadt zur Zeit des Konstanzer Konzils von 1414 bis 1418. 6 Vor Ort diskutierten und stritten sie nicht nur über die richtige Ausrichtung der Kirche oder sammelten wertvolle und zum Teil verloren geglaubte Geistes- und Kulturschätze in Form von Büchern und Schriften aus den umliegenden Klöstern. 7 Vielmehr widmeten sie sich - wie alle Reisende in der fremden Ferne - auch ausführlich den profaneren, weltlichen Dingen des Lebens: dem Essen, dem Wetter und den (hübschen) Einheimischen. Benedikt de Pileos Einstiegszitate mögen dies belegen, doch in diesem Beitrag sollen auch andere zu Wort kommen. Schillernde Persönlichkeiten europäischer Geistesgeschichte wie die Huma‐ nisten Benedikt de Pileo, Leonardo Bruni oder Francesco Poggio sind nur eine Gruppe italienischer Reisender, die im Folgenden vorgestellt werden sollen. Namhafte Italiener wie die florentinische Bankiersfamilie der Medici oder der berühmt-berüchtigte Philosoph Niccolò Machiavelli seien hier ebenso genannt wie die einfachen italienischen Bäcker oder Apotheker, die ebenfalls nach Konstanz kamen, um ihren Lebensunterhalt in der Stadt am See zu verdienen. Sie alle haben unterschiedliche Meinungen zu Konstanz gehabt, haben sie die Stadt doch zu unterschiedlichen Zeiten erlebt. Zur Zeit der Blüte und des Wohlstands als freie Reichsstadt, aber auch in Zeiten des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs unter den Habsburgern. 8 Die Berichte schwanken von angetanen, ja fast schon euphorischen Beschreibungen eines Benedikt de Pileos bis hin zu Entsetzen über die kulturelle und geschichtliche Unkenntnis der einfachen Menschen jenseits der Alpen bei einem Leonardo Bruni. Doch so schlimm werden es die italienischen Reisenden in Konstanz dennoch nicht gefunden haben, denn - so berichten uns die Quellen - scheinen einige die Stadt trotz des oben beschriebenen Wetters und der wahrgenommenen kulturellen 182 Moritz Mayer 9 Vgl. F R E N K E N , Ansgar: Das Konstanzer Konzil, Stuttgart 2015, S.-134. 10 Vgl. G A S C H I C K , Daniel/ W Ü R T Z , Christian: Das Konstanzer Konzil. Eine kleine Ge‐ schichte, Karlsruhe 2014, S.-9-15. 11 Vgl. ebd., S.-12-15. 12 Vgl. ebd., S.-16. 13 Vgl. ebd., S.-28-35. wie wissenschaftlichen Rückständigkeit auch nach dem Konzil nicht mehr verlassen zu haben. 9 Vielmehr ließen sich wenige sogar für immer hier nieder und wurden so die ersten italienischen Einwanderer in Konstanz, lange vor der Welle der italienischen Arbeitsmigration in den 1960er Jahren, über die Daniela Schilhab an anderer Stelle in diesem Band berichtet. Dieser Beitrag untersucht die Reiseberichte italienischer Reisender zur Zeit des Konstanzer Konzils und in der Frühen Neuzeit. Dabei liegt der Fokus sicherlich auf den oben genannten Humanisten, da von ihnen die meisten Quellen überliefert sind. Es werden dabei Naturbeschreibungen, Wetter und Essen, die Gebäude und natürlich die Bewohner der Stadt Konstanz vertieft betrachtet. Begonnen werden soll aber mit der Vorstellung der unterschiedli‐ chen, recht illustren Gruppen italienischer Reisender, die die Stadt im Laufe der Jahrhunderte beherbergen durfte. Hoher Besuch zur Zeit des Konstanzer Konzils Während der Jahre von 1378 bis 1417 tobte ein erbitterter, klerikaler Streit um den rechtmäßigen Papst und die richtige Lehre, der in die Geschichte eingegangen ist als Großes Abendländisches Schisma. 10 In dieser Zeit des Ringens um die religiöse Deutungshoheit gab es zuerst zwei, später sogar drei Päpste in Europa. Der Kontinent war somit aufgeteilt in zwei, bzw. drei kirchliche Machtbereiche, den sogenannten Obödienzen. 11 Und auch wenn es die einfachen Gläubigen jener Obödienzen weniger beschäftigte, welchem päpstli‐ chen Machtbereich sie gerade angehörten, verkomplizierte der Kirchenstreit das Regieren und die unübersichtliche Loyalitätsverteilung störte die Ordnung, vor allem in der Mitte Europas. 12 König Sigismund, der als zukünftiger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ein besonderes Interesse daran hatte, diese für ihn nicht hinnehmbare Situation zu lösen, gelang deshalb ein weltgeschichtlicher Coup, als er die kirchlichen Eliten des Kontinents in Konstanz versammeln konnte, um über die Zukunft der Kirche und die Beendigung des Schismas zu verhandeln. 13 Das Konzil, das 1414 von Papst Johannes XXIII. eröffnet wurde, musste drei große Fragen lösen: Es sollte die Einheit der Kirche wiederherstellen (causa unionis), bestimmte Glaubensfragen klären (causa fidei) und die Kirche Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 183 14 Vgl. ebd., S.-46. 15 Vgl. ebd., S.-74. 16 Vgl. P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5), S.-5-6. 17 Vgl. W E I S S E N , Kurt: Die Päpste und ihre Bankiers. Von Italien nach Konstanz, in: Braun, Karl-Heinz et al. (Hgg.): Das Konstanzer Konzil. Essays, Darmstadt 2013, S. 28-32, hier: S.-28. 18 Ebd., S.-28-29. 19 Ebd., S.-31. 20 Ebd., S.-28. 21 Ebd., S.-30. erneuern (causa reformationis). 14 Nicht alle dieser drei Probleme wurden in Konstanz vollumfänglich gelöst, aber die Einheit der Kirche wurde 1417 mit der Wahl Papst Martins V. zumindest de facto wiederhergestellt. 15 Das Konzil war mit Sicherheit ein europäisches Großereignis, welches das gesamte Abendland erfasste und die klügsten Köpfe des Kontinents an den Bodensee lockte. 16 Es waren zahlreiche Länder und Regionen vertreten und auch aus Italien muss eine überwältigende Zahl von Teilnehmern gekommen sein. Allein der italienische Papst Johannes XXIII. soll mit über 600 Begleitern ange‐ reist sein. 17 Eine der wichtigsten Gruppen waren mit Sicherheit die Humanisten. Die Reiseberichte eben jener Humanisten werden in diesem Aufsatz wichtig sein, da es in der Natur der geistreichen Gelehrten lag, viel und umfangreich - auch über vermeintlich profane Dinge - zu schreiben und sich auszutauschen. Von florentinischer Hochfinanz und italienischen Kleinunternehmen Auch italienische Bankiers kamen im Gefolge der Kurie nach Konstanz. Belegt sind fünf italienische Bankhäuser, die zur Zeit des Konstanzer Konzils in der Bodenseestadt Filialen eröffneten oder der Kurie als Haus- und Hofbanken Liquidität zur Verfügung stellten: die Alberti, die Ricci, die Spini sowie Giovanni und Averardo de Medici. 18 Ohne das Geld der italienischen Großbanken hätte das Konzil praktisch nicht stattfinden können. 19 Und die Bankiers waren umtriebig. Bereits sechs Tage nach dem Einzug des Papstes Johannes XXIII. sind die ersten Geldgeschäfte durch eine italienische Bank belegt. 20 Eine Konkurrenz für Konstanzer Banken stellte die italienische Hochfinanz allerdings nicht dar, da sie sich vor allem auf kuriale Geschäfte spezialisiert hatte, wofür es hohe Barreserven für Kredite benötigte, die die einheimischen Banken nicht aufbringen konnten. 21 Ein so großes Ereignis von Weltgeltung lockt auch weitere Menschen an. Auch andere Händler und Geschäftsleute sollen die Konzilsstadt in der Hoff‐ 184 Moritz Mayer 22 Vgl. B Ü T T N E R , Ulrich/ S C H W Ä R , Egon: Konstanzer Konzilgeschichte(n) erklärt durch unterhaltsame Erzählungen, Konstanz 2014, S.-45-46. 23 Ebd. 24 Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-9. 25 Vgl. B U R K H A R D T , Martin/ D O B R A S , Wolfgang/ Z I M M E R M A N N , Wolfgang: Konstanz in der frühen Neuzeit. Reformation, Verlust der Reichsfreiheit, Österreichische Zeit, Konstanz 1991, S.-373. 26 Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-9-10. 27 Ebd., S.-10. nung auf Gewinne besucht haben. Laut Büttner und Schwär kam sogar die Pizza, bzw. die Dünnele, so nach Konstanz. 22 Die vielen Besucher der Stadt mussten nun mal essen und so kam es, dass fahrende italienische Bäcker überbackene Fladenbrote in den Gassen der Stadt anboten. Aufgrund des dünnen Teigs wurde das Brot „Dinne“ oder „Dünne“, genannt. 23 Die unter dem Namen „Dünnele“ angebotene Köstlichkeit ist heute auf keinem Konstanzer Straßenfest von der Fasnacht über den grenzüberschreitenden Flohmarkt bis zum Weinfest mehr wegzudenken. Die Weltgeltung, die Konstanz als Dreh- und Angelpunkt der europäischen Geistes- und Finanzelite zur Zeit des Konstanzer Konzils hatte, verlor die Bodenseestadt schnell in den kommenden Jahrhunderten. Schleichender Niedergang nach dem Konzil Etwa 100 Jahre nach dem Konstanzer Konzil begann die politische und wirt‐ schaftliche Macht der Stadt rasch abzunehmen und es kam mit dem Verlust der reichsstädtischen Freiheit 1548 zu einem ersten Tiefpunkt, der - wie Otto Feger behauptet - das bürgerliche Selbstverständnis und -bewusstsein der Konstanzer empfindlich traf. 24 Die Bevölkerung schrumpfte in der Folge der Frühen Neuzeit - im 18. Jahr‐ hundert etwa von 6500 auf gerade mal noch 4000 Konstanzerinnen und Kon‐ stanzer und wird deshalb von zeitgenössischen Beobachtern als leer, sterbend und trostlos empfunden. 25 Die reichen Kaufleute wanderten in schweizerische Industriezentren, z. B. um Zürich, ab, der Bischof residierte bald schon in Meers‐ burg. 26 Seit der Reformation, so Feger, stagnierte Konstanz und schien geistig und ökonomisch am Mittelalter festzuhängen. 27 Von den rasanten europäischen Entwicklungen auf vielerlei Gebieten bekam die verschlafene Kleinstadt am See wohl nur wenig mit. Vernichtend ehrlich kommt Feger deshalb 1952 zu folgendem Schluss: „Für jeden Aufklärer war Konstanz ein beredtes Beispiel dafür, wie religiöse Verdummung des Volkes zu Niedergang und Verarmung Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 185 28 Ebd., S.-11. 29 Ebd., S.-9. 30 Vgl. ebd., S.-9-10. 31 Vgl. ebd., S.-9. 32 Vgl. B U R K H A R D T / D O B R A S / Z I M M E R M A N N (wie Anm. 25), S.-285-287. 33 Ebd., S.-266. 34 Ebd. 35 Ebd., S.-271. 36 Ebd., S.-285-287. 37 Ebd., S.-373. führt.“ 28 Erklärungen, wie es zu einem so drastischen Niedergang kam, gibt es viele. Konstanz verlor mit der Reichsfreiheit 1548 - so Otto Feger - auch sein unternehmerisches Selbstbewusstsein und mit der österreichischen Verwaltung auch die „selbstständige Schaffenslust“ 29 seiner freien Bürger. 30 Viel schlimmer dürfte dagegen wiegen, dass sich die Reichsgrenze änderte und der fruchtbare Thurgau nicht mehr zur Stadt gehörte. 31 Wie andere Städte auch, hatte Konstanz mit der Verschiebung internationaler Handelswege in der Frühen Neuzeit zu kämpfen. 32 Die wichtigen Warenrouten verliefen nicht mehr durch die Stadt am See und damit gingen auch Handel und Wohlstand zurück. Eine Verarmung setzte ein und 1550 wurde im Steuerbuch der Stadt etwa ein Viertel der Haushalte als „vermögenslos“ aufgelistet. 33 Missernten, die von 1570 bis 1572 aufgrund von Wetterextremen zu einer Hungerkrise führten, verschärften den harten Alltag vieler Bürgerinnen und Bürger, Bettler zogen massenweise durch die Straßen. 34 Neben Hunger und Armut sahen sich die Menschen der Boden‐ seestadt im 16. und 17. Jahrhundert noch zwei weiteren Geißeln gegenüber; die eine war die Pest und die andere der Krieg. In den beiden Jahrhunderten erlebte Konstanz neun Pestwellen 35 und die Zerstörungen, Plünderungen sowie das Morden des Dreißigjährigen Kriegs sorgten für eine weitere Beschleunigung des Niedergangs. 36 Die Stadt vegetierte vor sich hin und das wurde auch in den Reiseberichten deutlich. 37 Im Folgenden sollen nun endlich die italienischen Besucher und Reisende mit ihren Schilderungen zur Stadt Konstanz zu Wort kommen und die Stadt und ihre Umgebung in ihrem Wandel durch die Jahrhunderte vom blühenden Spätmittelalter und der Renaissance bis zur von Kriegen, Krankheit und Hunger geprägten Frühen Neuzeit begleiten. 186 Moritz Mayer 38 P I L E O (wie Anm. 1) S.-40. 39 Vgl. L I E B L , Waltraut/ K O P I T Z K I , Siegmund (Hgg.): Die Gans ist noch nicht gebraten. 600 Jahre Konstanzer Konzil - ein Lesebuch, Meßkirch 2014, S.-82-83. 40 Vgl. B R U N I , Leonardo, zit. und übers. nach: Rohr, Christian: Zur Wahrnehmung von Grenzen im 15. Jahrhundert. Leonardo Brunis Bericht über seine Reise von Verona nach Konstanz 1414 (Epist. 4,3), in: Aichhorn, Ulrike/ Rinnerthaler, Alfred (Hgg.): Scientiaiuris et historia, Egling an der Paar 2004, S. 869 ff., in: Liebl, Waltraut und Kopitzki, Siegmund (Hgg): Die Gans ist noch nicht gebraten. 600 Jahre Konstanzer Konzil - ein Lesebuch, Meßkirch 2014, S. 83-90. Vgl. auch: N I E D E R S T Ä T T E R , Alois: „So viele Berge, so viele Felsen.“ Über die Alpen zum Konstanzer Konzil, in: Badisches Landesmuseum (Hg.): Das Konstanzer Konzil. Katalog, Darmstadt 2014, S.-128-129, hier: S.-128. 41 Vgl. L I E B L / K O P I T Z K I (wie Anm. 39) S.-83. 42 Vgl. B R U N I (wie Anm. 40), S.-84. 43 Ebd. S.-85. 44 Vgl. N I E D E R S T Ä T T E R (wie Anm. 40) S.-129. Der See ist klar wie ein reiner Kristall […]  38 In den meisten Reiseberichten finden sich umfangreiche Naturbeschreibungen der Reisenden, welche die Fremdheit ihrer Umgebung beeindruckte. Wer - damals wie heute - von Italien nach Konstanz reist, muss die Alpen passieren. Der in Arezzo - nahe Florenz - geborene Humanist und päpstliche Sekretär Leo‐ nardo Bruni beschreibt eine solche Alpenüberquerung dagegen sehr ausführlich und detailliert in einem Brief an seinen Freund Niccolò Niccoli. 39 Anders als sein Chef, Papst Johannes XXIII., dessen Wagen bekanntlich bei der Überquerung, an der auch der päpstliche Sekretär bereits teilgenommen hatte, umkippte, überstand Bruni seine zweite Reise, die er am 27. November 1414 in Verona begann, ohne uns bekannte Unfälle. 40 Dass überhaupt Zeugnisse einer solchen Reise von damals existieren, ist nicht selbstverständlich. Beschreibungen von den beschwerlichen Alpenüber‐ querungen, die alle Italiener auf ihrer Reise an den Bodensee auf sich nehmen mussten - darauf weisen Liebl und Kopitzki hin - waren stets rar und eher kurzgefasst. 41 Der Humanist reiste dabei von Verona beginnend an der Etsch entlang nach Trient. 42 Hier wundert sich der Reisende darüber, dass in der Stadt von der Bürgerschaft entweder Italienisch oder Deutsch gesprochen wird und dass auch in den Sitzungen und Versammlungen […] die einen in unserer und die anderen in barbarischer Sprache ihre Meinung abgeben - alles Bürger ein und derselben Stadt.  43 Dass die Zweisprachigkeit bis heute ein Merkmal Südtirols geblieben ist, konnte der Italiener damals noch nicht wissen. Von Trient aus reiste der päpstliche Sekretär weiter nach Meran und über den Reschenpass. 44 Von hier begann seine schwerste Etappe, denn die Überquerung eines Passes, den die Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 187 45 B R U N I (wie Anm. 40) S.-86. 46 Ebd., S.-87. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd., S.-88. 51 Ebd. 52 B R U N I , Leonardo: zit. nach: Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-37-39, hier: S.-37-38. 53 N I E D E R S T Ä T T E R (wie Anm. 40) S.-129. 54 F R A N C E S C H I , Andrea de: zit. nach: Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-52-53, hier: S.-53. Barbaren Arlberg […] nennen  45 , war nicht nur steil, sondern noch dazu unter 20 Fuß hohem Schnee bedeckt. 46 Begrüßt wurde Bruni dann nach den Strapazen in einer […] Stadt namens Feldkirch; sie ist reich und gepflegt, hat ansehnliche Häuser und ist reich an Wein- und Obstgärten. 47 Auch vom Rhein war der Italiener sichtlich beeindruckt. Er lobt den Strom als mächtig und kräftig  48 und die Farbe des Wassers beschreibt er als eine Farbe, die zwischen blau und grün liegt  49 . Als er hörte, dass dieser mächtige Strom in der Nähe der Burg Rheineck in einen See  50 münde, bestand er darauf, die letzte Etappe auf einem Boot zurückzulegen, während sein Gepäck den Landweg fortsetzte. 51 Dabei hatte er wohl Zeit, die Landschaft genauer zu betrachten. Denn er schreibt umfangreich: Der Bodensee ist ungemein lieblich, viele Burgen und Dörfer liegen überall an seinen Ufern. Das Wasser ist sauber und durchsichtig bis auf den steinigen Grund. […] Der See ist 25 Meilen lang, 10 bis 15 Meilen breit. An seinem äußersten Ende liegt Konstanz, eine Stadt, die nicht groß, aber reich und wohlgebaut ist. Bei ihren Mauern tritt der Rhein aus dem See heraus und wird wieder zum Strom.  52 Die Beschreibung Brunis ist der mit Sicherheit detaillierteste Reisebericht über die Alpen, der hier genannt werden kann und gilt darüber hinaus auch als „charakteristisches Beispiel humanistischer Naturschilderung.“ 53 Aber auch andere Reisende heben in ihren Naturbeschreibungen stets die Schönheit und Klarheit des Bodensees und die fruchtbaren Hügel, die ihn umgeben, hervor. So schreibt Andrea de Franceschi, der Sekretär einer venezianischen Diplomaten‐ abordnung, 1492: Am Ufer des Sees gibt es eine große Menge Weinberge aller Art, anmutige Hügel, ganz mit Weinstöcken bepflanzt, auch hohe Berge, auf denen sich Burgen und Ortschaften befinden; das alles ist für das Auge ein sehr angenehmer Anblick. Hier am See ist ein lieblicher, angenehmer Aufenthalt […].  54 188 Moritz Mayer 55 P I L E O (wie Anm. 1) S.-40. 56 G A R A M P I , Giuseppe, zit. nach: Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-114-116, hier: S.-114. 57 Ebd. 58 P I L E O (wie Anm. 1) S.-41. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 P O G G I O , Francesco: zit. nach: Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-44-45, hier: S.-44. Benedikt de Pileo vergleicht den See mit einem reine[n] Kristall  55 und selbst der italienische Kardinal Garampi, der fast 250 Jahre nach de Pileo nur wenig Gutes über die Stadt Konstanz zu berichten hat, muss zugeben, dass immerhin die Lage der Stadt ungemein anmutig durch den See und den Rhein  56 sei, nur um sich dann kurz darauf über die Luftqualität wegen der Feuchtigkeit des Sees zu ärgern. 57 Insgesamt überwiegen aber die positiven Naturbeschreibungen und insbe‐ sondere der Bodensee scheint es den italienischen Besuchern sehr angetan zu haben. Ganz anders fällt das Urteil der Reisenden hingegen über das Wetter aus. Überhaupt sehen die Bewohner der Stadt selten das klare Bild der Sonne; ständig hängt die Luft voller Wolken.  58 Das Wetter am Bodensee beschreiben die meisten Reisenden aus dem sonnigen Italien als schlecht, bedrückend und launisch. Benedikt de Pileo, der Reisende zu Beginn des Artikels, berichtet auch seinem Bruder auch davon. Der ansonsten so von Konstanz angetane Mann verliert über das Wetter kaum ein gutes Wort: Überhaupt sehen die Bewohner der Stadt selten das klare Bild der Sonne; ständig hängt die Luft voller Wolken. Es ist seltsam: seit wir hier angekommen sind, war noch an keinem Tag der Himmel völlig klar. Bald ist Wind, bald Schnee, bald Regen, bald gleichzeitig Regen und Schnee, und mitunter trifft alles zusammen.  59 Allerdings zeigt er sich überrascht, dass es nicht so kalt ist wie erwartet. 60 Der Italiener, der hier treffend das triste Februarwetter am See beschreibt, ist nicht der einzige, dem es zusetzt. Der Humanist Francesco Poggio, berichtet auch Erheiterndes über einen seiner Begleiter, Bonaccio Guasconi, der augenscheinlich kein Frühaufsteher war. Bonaccio rechtfertigt sein spätes Aufstehen mit dem schrecklichen Wetter der Stadt. Dieser wolle der starken Kälte wegen […] im Bett bleiben, dem Körper Erholung gönnen, mich nicht immer mit Arbeit plagen.  61 Die Meinung, dass das Konstanzer Wetter mit seinen launenhaften Umschwüngen und dem hart‐ näckigen Nebel gesundheitsschädlich sei, vertritt 1761 auch Kardinal Garampi, Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 189 62 G A R A M P I (wie Anm. 56) S.-114. 63 F R A N C E S C H I (wie Anm. 54) S.-53. 64 Ebd., S.-52. 65 Dass die Reiseberichte Zeugnisse für die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Stadt sind, hat Feger bereits herausgestellt. Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-7-13. 66 Vgl. z.-B. B U R K H A R D T / D O B R A S / Z I M M E R M A N N (wie Anm. 25) S.-373. 67 Vgl. P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5) S.-21. 68 T R A V E R S A R I , Ambrogio: zit. nach Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-44, hier: S.-47. 69 F R A N C E S C H I (wie Anm. 54) S.-52. 70 Ebd., S.-53. der meint, dass die Luft allerdings nicht sehr gesund zu sein [scheint] wegen der Feuchtigkeit des Sees und der niederen Lage des Landes.  62 Das Wetter scheint sich allerdings nicht auf Speis und Trank auszuwirken. Hier berichten die Reisenden nur Positives. Benedikt de Pileos Ode auf die Leckereien der Bodenseestadt leiteten den Artikel bereits ein, aber auch andere Reisende sind beeindruckt, vor allem vom Reichtum der Fische im See. 63 So üppig waren die Tische der Stadt nicht immer gedeckt, denn der langsame, aber stete wirtschaftliche und politische Abstieg der Stadt setzt wie bereits beschrieben nach dem Konzil ein und setzt sich in den Jahrhunderten danach unaufhaltsam fort. Davon zeugen auch die Beschreibungen der Stadt und ihrer Gebäude durch die italienischen Besucher. Die Stadt ist von höchster Schönheit  64 Die Berichte italienischer Reisender sind nicht nur wertvolle Quellen zur damaligen Architektur, sie zeichnen auch einen Verlauf des Niedergangs der Stadt auf. 65 Während die Stadt kurz nach dem Konzil ihre Blüte erlebte, verlor sie ihre Stellung und ihre Macht langsam, um im 19. Jahrhundert fast völlig an Bedeutung verloren zu haben. 66 Von besonderer Bedeutung in den Berichten sind stets die kirchlichen Gebäude. Während die Humanisten mehr Wert auch auf weltliche Gebäude - etwa das Rathaus - legten, 67 erzählen Kleriker dagegen gerne von den vielen, prachtvollen Kirchen und Klöster in und um Konstanz. Ambrogio Traversari, der Ordensgeneral der Kamaldulenser, der 1435 auf dem Weg zum Konzil von Basel ist, lobt etwa die schöne und volkreiche Stadt  68 Konstanz und hebt insbesondere das Kloster des Heiligen Markus auf der Insel Reichenau hervor, ebenso wie Andrea de Franceschi, der noch 1492 sagt, Konstanz sei von höchster Schönheit  69 und habe sehr schöne Straßen, Häuser und Kirchen; [sie sei] groß und ha[be] viele Klöster und reiche Kaufleute jeder Art.  70 Den vielleicht größten Lobgesang auf die Kirchen der Stadt stimmt Antonio de 190 Moritz Mayer 71 B E A T I S , Antonio de: zit. nach: Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-62-64, hier: S.-63. 72 Vgl. B E A T I S (wie Anm. 71) ebd. 73 Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-9. 74 G A R A M P I (wie Anm. 56) S.-114-115. Beatis, der Sekretär des Kardinals Luigi d’Aragona, an. Dieser schrieb 1517 in sein Tagebuch über das Münster, das damals noch eine Kathedrale war und sich im Umbau befand: In der Kathedralkirche, die schön und großartig ausgebaut wird, sahen wir viele Reliquien, Reichtümer an Gold und Silber, darunter zwei Kreuze von je sechs Fuß Länge aus reinem Dukatengold und viele goldene Monstranzen; auch einen Grabschrein aus reinem Gold, vier Fuß lang, mit den Gebeinen eines Märtyrers, mit zahllosen Edelsteinen besetzt, darunter sind einige von unerhörtem Wert. Der Deckel dieses Schreins ist, wie die Domherren sagten, aus arabischem Gold und in wunderbar kunstfertiger Arbeit getrieben; die Herstellung allein kostete dreitausend Gulden.  71 Auch die Orgel des Münsters nötigte dem Sekretär und seinem Herrn den größten Respekt ab. Diese sei gerade im Bau, solle 13 Instrumente nachahmen können und zähle nach Fertigstellung 3400 Orgelpfeifen, darunter die welt‐ größte ihrer Art. 72 Dieses Zurschaustellen von Luxus und die ehrliche Bewunderung der Ita‐ liener lassen darauf schließen, dass es der Stadt auch ca. 100 Jahre nach dem Konzil noch wirtschaftlich sehr gut ging. Auch Otto Feger hebt die „reiche und mächtige Stadt, das Konstanz der Spätgotik und der Renaissance“ 73 hervor. Ein ganz anderes Bild zeichnet dagegen der Kardinal Giuseppe Garampi auf seiner Deutschlandreise 1761 über die Bodenseestadt: Der Weg war schon sehr schlecht. […] Wir wohnten im Hof des Klosters Salem, in welchem zur Zeit des Konzils der Kaiser gewohnt hat. Heute ist er in recht schlechtem Zustand. […] Man findet hier keine Paläste oder großartigen [sic! ] Gebäude, und trotz ihrer günstigen Lage und ihrem alten Glanz lebt die Stadt heute in Trägheit und Elend. Die Zahl der Anwohner beträgt nicht mehr als 4-5000. Der einzige Vorzug, den sie heute noch besitzt, ist die Anwesenheit des Domkapitels, das aus 20 Domherren besteht, und der bischöflichen Kurie, die sich noch hier befindet, obwohl die Bischöfe in der Regel in Meersburg residieren, einer sehr kleinen und elenden Stadt am gegenüberliegenden Seeufer, […].  74 Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 191 75 Ebd., S.-115. 76 B E A T I S (wie Anm. 71) S.-63. 77 Vgl. P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5) S.-16-17. 78 Ebd., S.-16. 79 Vgl. ebd., S.-16-17. 80 Ebd., S.-17. 81 Vgl. ebd., S.-16-17. 82 Vgl. B U R K A R T , Lucas: Otto von Hachberg, in: Historisches Lexikon der Schweiz, aufge‐ rufen am: https: / / hls-dhs-dss.ch/ de/ articles/ 012699/ 2006-11-03/ , zuletzt aufgerufen am: 02.01.2023. 83 P I L E O (wie Anm. 1) S.-42. 84 Ebd. Über das Benediktinerkloster Petershausen urteilt der Kardinal unbeeindruckt: Die Gebäude der Kirche und noch mehr die des Klosters sind sehr eng und zeigen nichts von der Großartigkeit und Majestät anderer Benediktinerklöster.  75 Der Kardinal beschreibt damit das nahende Ergebnis eines jahrhunderte‐ langen Niedergangs der ehemaligen stolzen freien Reichsstadt Konstanz in drastischen, aber treffenden Worten. In der Stadt Konstanz sind sehr schöne Frauen von geselliger und heiterer Natur  76 Erlebnisberichte italienischer Reisender, die in direktem Kontakt zur Konstanzer Bürgerschaft standen, gibt es leider nur sehr wenige. Dies mag zur Zeit des Humanismus - wie Patschovsky bereits vermutet hat - damit zusammen‐ hängen, dass die großen Gelehrten die Stadt als kulturelle Wildnis und Ödnis empfanden. 77 „Fremdheit, ‚Alterität‘, nicht Vertrautheit, ‚Identität‘ war der erste und blieb für diese Italiener vielfach auch der letzte Eindruck von Konstanz und seiner Bevölkerung.“ 78 , so schlussfolgert Patschovsky. Man bliebe unter sich, statt sich mit den barbarisch anmutenden Konstanzern und ihrer kultur- und geschichtsvergessenen Art zu fraternisieren. 79 Patschovsky spricht sogar von einem „ghettoartig geschlossene[n] Zirkel“ 80 von Humanisten, deren Ort des Diskurses zwar Konstanz hieß, die Stadt ansonsten aber keine Rolle für die europäische Geisteselite während des Konzils spielte. 81 Dass die Annahme einer entrückten, von der Konstanzer Bevölkerung zur Zeit des Konzils strikt separierten Geisteselite nicht ganz zutrifft, beweisen mehrere Reiseberichte. Der in der Einleitung vorgestellte Römer Benedikt de Pileo hat zum Beispiel viel Gutes über die Einwohner der Bodenseestadt zu berichten. Er beschreibt etwa den Bischof der Stadt, Otto III. von Hachberg 82 - als den liebenswürdigsten und vortrefflichsten Fürsten  83 und schreibt der Stadt wahre und echte Freiheit  84 192 Moritz Mayer 85 B E A T I S (wie Anm. 71) S.-63. 86 Vgl. ebd., S.-63. 87 Vgl. T R A V E R S A R I (wie Anm. 68) S.-47. 88 Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-37. 89 B R U N I (wie Anm. 52) S.-38. 90 Vgl. ebd. 91 Ebd. 92 Vgl. ebd. 93 Ebd. 94 Vgl. P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5) S.-10. zu. Darüber hinaus hat er viel Lob für die Konstanzer Damenwelt, womit er nicht allein ist. Auch Antonio de Beatis schreibt ca. 100 Jahre später in seinem Tagebuch, es gebe [i]n der Stadt Konstanz […] sehr schöne Frauen von geselliger und heiterer Natur.  85 Er, der immerhin Sekretär eines Kardinals war, bemüht sich, diesen Satz gleich mit keuscheren und damit wohl gottgefälligeren Beschrei‐ bungen des Münsters, seines Altars und einer detaillierten Beschreibung der Orgelpfeifen zu übertreffen, die bereits weiter oben thematisiert wurden. 86 Auch Ambrogio Traversari berichtet von Kontakten mit den ortsansässigen Klerikern. Traversari feierte zum Beispiel Mariae Himmelfahrt 1435 mit den Reichenauer Mönchen im Kloster des Heiligen Markus. 87 Nicht ganz so wohlwollend, dafür sehr viel ausführlicher als Traversari und de Pileo beschreibt der große Humanist Leonardo Bruni das einfache Konstanzer Volk. Der in Arezzo geborene und in Rom ausgebildete Bruni diente nicht weniger als vier Päpsten, erwarb Zeit seines Lebens hohe Meriten und starb 1444 hochdekoriert in Rom. 88 Dieser hochintelligente und gebildete Mann muss schockiert gewesen sein von der einfachen Konstanzer Bevölkerung des Spätmittelalters und lässt sich in einem Reisebericht nicht nur über die aber‐ gläubische und ungebildete Art des tumben Volkes aus, sondern beschreibt auch die Gewohnheiten der Konstanzer Patrizier. Bruni beteuert dabei - entgegen der „Ghettoannahme“ Patschovskys - oft  89 mit den Bürgern der Bodenseestadt gesprochen zu haben. Etwa wenn es um das Alter und den Ursprung der Stadt gehe. 90 Und obwohl ihm - laut eigener Aussage - niemand begegnete, der auch nur die Namen oder die Taten seiner Vorfahren zu wissen schien, geschweige denn die Geschichte der Stadt  91 , meint er - ebenso wie sein Kollege Benedikt de Pileo - in eigener Recherche herausgefunden zu haben, dass die Stadt ihren Namen dem Kaiser Constantius zu verdanken habe. 92 Dies stehe auf einer Marmortafel mit sehr alten Buchstaben  93 , die von den Bewohnern der Stadt - unwissend und barbarisch, wie sie Bruni darstellt - angebetet wurde. Gemeint ist hier ein Stein, der von Bischof Konrad Jahrhunderte zuvor in die Mauritiusrotunde des Münsters eingelassen wurde. 94 Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 193 95 B R U N I (wie Anm. 52) S.-38. 96 P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5) S.-9. 97 Zu dieser Einschätzung der Humanisten kommt bereits: P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5) S.-16-17. 98 Vgl. ebd., S.-12-13. 99 Vgl. ebd., S.-13-14. 100 Vgl. ebd., S.-12. 101 B R U N I (wie Anm. 52) S.-38. 102 Ebd. 103 Ebd. Hierzu schreibt der von diesem Vorgang wohl mehr als irritierte Humanist: Diese Tafel kann niemand in Konstanz lesen, und das Volk glaubt, sie sei ein ehrwürdiges religiöses Heiligtum. Daher kommen die einfältigen Weiber und die übrige unwissende Menge herbei, sie berühren die Tafel mit der Hand und reiben das Gesicht daran, obwohl nicht die Namen von christlichen Heiligen, sondern die der Verfolger des Christentums darauf geschrieben sind. Die Buchstaben sind schon fast ganz aus der Tafel ausgelöscht.  95 Diese Handlungen schienen einem „der zentralen Gestalten des Florentiner Humanismus“ 96 zu bestätigen, was er und vermutlich viele seiner italienischen Kollegen schon immer zu wissen glaubten. Germania sei damals wie heute kulturloses, einfältiges Barbaricum. 97 Sicherlich hat Bruni in seiner Kritik an den Konstanzern zum Teil Recht. Denn auch in den Klöstern in und um Konstanz wurden von den Humanisten zahlreiche antike Schriften und andere verlorengeglaubte Geistesschätze ge‐ funden, mit denen die ortsansässigen Klöster oft nicht viel anzufangen wussten; darunter auch Texte von Cicero, Lukrez und Quintilian. 98 Viele dieser Schriften wurden von Humanisten wie Poggio Bracciolini geborgen, abgeschrieben oder gleich ganz mit nach Italien genommen. 99 Bracciolini schaffte es damit sogar zum Protagonisten einer Novelle von C. F. Meyer, die im Jahre 1882 unter dem Titel „Plautus im Nonnenkloster“ erschien. 100 Trotz der Episode mit dem Marmorstein und dem abergläubischen Verehren eines Steins durch die Konstanzer Bürgerschaft berichtet Bruni weiter von der Konstanzer Bevölkerung, denn es gehöre zur Pflicht des Berichterstatters  101 auch etwas über die Sitten und Einrichtungen der Stadt zu schreiben. Bruni liefert daraufhin eine detaillierte Beschreibung des Konstanzer Stadtadels. So berichtet er von der Wahl des Bürgermeisters und seinen Befugnissen. 102 Er beschreibt das Konstanzer Gerichtswesen, das großen Einfluss auf die Geschäfte der Stadt nimmt. Ein Rat aus Bürgern fällt gemeinsam mit dem Magistrat nach Anhörung von Anklage und Verteidigung ein Urteil, das sodann unmittelbar vollstreckt wird. 103 Hier berichtet Bruni dann vielleicht doch eine Parallele zwischen der 194 Moritz Mayer 104 Ebd., S.-39. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-37. 108 B R U N I (wie Anm. 52) S.-39. 109 Vgl. ebd. 110 Ebd. 111 Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-37. 112 G A R A M P I (wie Anm. 56) S.-115. vermeintlich ungebildeten Bodenseestadt jenseits der Alpen und dem antiken Rom, nämlich von dem hohen Ansehen der Redekunst und der Juristerei: Weil man hier [in Konstanz, M.M.] das Recht freier Gerichtsbarkeit besitzt, steht die Redekunst in höchstem Ansehen. Wer sich als gewandter Redner erweist, wird oft als Anwalt für zivile und Strafprozesse geholt und gewinnt große Beliebtheit und hohes Ansehen in der Stadt.  104 Bruni beschreibt weiter die soziale Undurchlässigkeit des patrizisch dominierten Konstanz. Die Bürgerschaft sei in zwei Gruppen eingeteilt: die einen sind von ritterlicher Herkunft, die anderen gehören zu den Bürgerlichen, den Plebejern.  105 Diese beiden Gruppen, so Bruni, seien - obwohl sie die Verwaltung und Leitung der Stadt gemeinsam ausübten - sozial und beruflich völlig getrennt voneinander und es werde einem ehrgeizigen Bürgerlichen nicht gestattet, in den Adel aufgenommen zu werden. 106 In der weiteren Darstellung unterläuft Bruni allerdings ein Fehler. 107 Er ist der Überzeugung, dass ausschließlich die Bürgerlichen sich mit dem Handel und den Schreibstuben  108 befassten, während der Stadtadel lediglich seinen Besitz verwalte und ansonsten keinerlei Beschäf‐ tigungen nachgehe 109 . Für die Patrizier gelte es sogar […] als eine Schande, sich mit dem Handel und dem schmutzigen Handwerk zu befassen […]  110 . Dies wurde für Konstanz widerlegt, da auch Patrizier durchaus Handel in größerem Umfang betrieben. 111 Ungehalten über die Sitten der Deutschen im Allgemeinen und denen der Konstanzer Kleriker im Besonderen war auch Kardinal Garampi, den vor allem die übermäßige Neigung zur Musik […], d[ie] allen deutschen Klöstern gemein ist, auch denen mit besserer Disziplin  112 , störte. Auch hier blitzt wieder die Auffassung durch, die bei vielen Reisenden aus dem Italien des Humanismus und der Renaissance verbreitet war, nämlich dass man jenseits der Alpen weniger tugendhaft, weniger kulturell gebildet und im Allgemeinen plumper und einfältiger sei. Trotzdem scheint das einige Italiener nicht abgeschreckt zu haben, ein neues Leben in Konstanz zu wagen. Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 195 113 Vgl. F E G E R (wie Anm. 8) S.-60. 114 M A C H I A V E L L I , Niccolo: zit. nach: Feger, Otto (Hg.): Konstanz im Spiegel der Zeiten, Konstanz 1952, S.-60-61, hier: S.-60. 115 Ebd. 116 Vgl. P A T S C H O V S K Y (wie Anm. 5), der die Beschreibung der Konstanzer Selbstverwaltung und „Freiheit“ durch Bruni genauer analysiert hat, S.-22-23. Bereits zu Beginn dieses Beitrags ist angeklungen, dass auch Italienerinnen und Italiener nach dem Konzil in Konstanz sesshaft wurden. Von einigen weiß der berühmte Florentiner Niccolò Machiavelli, der als Diplomat, Schriftsteller und Philosoph Weltgeltung besitzt, zu berichten. Machiavelli besuchte 1508 unter anderem die kleine Stadt am See, um etwas über den Italienzug Kaiser Maximilians zu erfahren. 113 Hier unterhielt er sich mit zwei Mailändern im Münster 114 und mit Schreiber Heinrich, der eine Florentinerin zu Frau hat  115 , und beweist damit, dass Konstanz auch nach dem Konzil noch Anlaufstelle und neuer Lebensmittelpunkt für Italienerinnen und Italiener war. Schlussbetrachtungen Diese Ausführungen sollen belegen, wie vielfältig die Erfahrungen italienischer Reisender mit der Stadt Konstanz am Bodensee waren. Durch die Jahrhunderte hindurch beschreiben sie eine malerische und wunderschöne Landschaft und Natur, die hervorragenden Wein, leckeres Obst und andere Ernteerzeugnisse hervorbringt. Gleichzeitig beschweren sie sich über das Wetter, was wohl ein zeitloser Aufreger zu sein scheint. Doch viel wichtiger sind die Erkenntnisse, die man aus den Berichten über den Zustand der Stadt herauslesen kann. So kann man den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Niedergang, den die Stadt in der Frühen Neuzeit aufgrund von Seuchen und Kriegen durchmachen musste, sehr gut anhand der Reiseberichte ablesen. Auch lernt man etwas über die städtische Selbstverwaltung und das Selbstverständnis stolzer Patrizier, welche die Ge‐ schicke der Stadt im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit in Konstanz wie überall im Heiligen Römischen Reich bestimmten. 116 Immer wieder war Konstanz in die Geschichte Europas eingebunden. Mal im Mittelpunkt - wie zur Zeit des Konzils - und mal nur am Rande, etwa wenn hohe italienische Diplomaten und Würdenträger wie Machiavelli oder Garampi in wichtiger Mission durch das Städtchen am See kamen. Die Bezie‐ hungen zwischen den italienischen Reisenden und den Konstanzern sowie die Eindrücke, die die Gäste von der Bodenseestadt erwarben, waren in all diesen 196 Moritz Mayer 117 P I L E O (wie Anm. 1) S.-42. Jahrhunderten - das zeigen die Berichte - wechselhaft, aber stets von Neugier, meistens von Respekt und manchmal sogar von Begeisterung geprägt. Abschließend soll derselbe Mann, mit dem dieser Beitrag auch begonnen hat. Benedikt de Pileo schließt seinen euphorischen Bericht vom 14. Februar 1415 über Konstanz an seinen Bruder mit Worten ab, denen nichts mehr hinzuzufügen ist: Kaum kann ich alles beschreiben [, was mir an dieser Stadt so gefällt, M.M.], aber mein Brief soll nicht zu einem Buch werden. Ich lege daher die Feder nieder; sei nicht erstaunt, daß ich hier von meiner sonstigen zurückhaltenden Redeweise abgewichen bin. Lebe wohl.  117 Auch Venus, die Mutter des Aeneas, würde diese Stadt wohl geliebt haben 197 1 Stadtarchiv Konstanz: X, XVII Nachlass Ignaz Heinrich von Wessenberg, (Sonderordner Johann Philipp Wessenberg): Signatur 2710, 220. 2 Der Stammsitz der Wessenberg liegt in Mandach im Aargau. An der Wende zum 16. Jahrhundert erhielt die Familie Güter im Breisgau und im Elsaß und residierte fortan am Oberrhein in Feldkirch im Breisgau und Ambringen (Ampringen) einem Ortsteil von Kirchofen das heute zur Gemeinde Ehrenkirchen gehört. 3 Die für die biographischen Angaben hauptsächlich verwendete Sekundärliteratur: B A I E R , Hermann: Wessenbergs Romreise 1817, in: ZGO 79 (NF 40, 1927) S. 207-235. - B E C K , „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan Ignaz Heinrich von Wessenberg und seine Italienreisen Michael Trenkle Wessenberg als katholischem Geistlichen den Wunsch zu einer Pilgerreise nach Rom zu unterstellen wäre gewiss legitim, und in der Tat scheint er schon frühzeitig eine solche Absicht gehabt zu haben. Jedenfalls schrieb sein Bruder Johann Philipp 1808 in einem Brief an ihn: Die größte fête für mich wäre an deiner Hand nächstes Frühjahr über den Simplon nach Italien zu wallfahren, aber die Götter werden es nicht gönnen ihrem treuesten Verehrer  1 . Als Wessenberg dann 1817 zu seiner ersten Italienreise aufbrach, war dies jedoch keine Pilgerreise. Er wollte Vorwürfe ausräumen, die gegen ihn erhoben wurden und dazu geführt hatten, dass der Vatikan die Anerkennung seiner Wahl zum Bischof verhinderte. In Bezug auf seine kirchlichen Angelegenheiten endete die Reise in einer großen Enttäuschung, doch zugleich eröffnete sich ihm die Gelegenheit, Eindrücke des Landes zu sammeln, das damals sehr en vogue war. Italien war das Reiseland schlechthin, und Wessenberg entstammt einer gesellschaftlichen Schicht, für welche die „Grand Tour“ nach Italien zum Selbstverständnis gehörte. Werdegang und Kunstbildung Ignaz Heinrich von Wessenberg, am 4. November 1774 in Dresden geboren, war Sohn einer Breisgauer Adelsfamilie 2, 3 . Sein Vater war damals Minister, Joseph: Freiherr I. Heinrich v. Wessenberg. Sein Leben und Wirken. Freiburg 1862. - B R A U N , Karl-Heinz: Heinrich Schreiber und Ignaz Heinrich von Wessenberg - Spätauf‐ klärer, in: Poeten und Professoren. Eine Literaturgeschichte Freiburgs in Porträts. Hg. von Achim Aurnhammer und Hans-Jochen Schiewer, Freiburg 2009, S.-169-191 (Wessenberg = S. 174-181). - Der Briefwechsel 1806-1848 zwischen Ignaz Heinrich von Wessenberg und Heinrich Zschokke. Bearb. von Rudolf H E R Z O G und Othmar P F Y L , Basel 1990, S. 9-16. - Ignaz Heinrich von Wessenberg. 1774-1860. Kirchenfürst und Kunstfreund. Hg. von Barbara S T A R K , Konstanz 2010. - O E T T I N G E R , Klaus: Aufrecht und tapfer. Ignaz Heinrich von Wessenberg - ein katholischer Aufklärer (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz, 18) Konstanz 2017 - S C H U L T E , Johann Friedrich von: „Wessenberg, Heinrich Freiherr von“ in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 42. Leipzig 1897, S. 147-157. - W I T L A U F F , Manfred: Zwischen Katholischer Aufklärung und kirchlicher Restauration. Iganz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) der letzte Generalvikar und Verweser des Bistums Konstanz, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 8 (1989) S.-111-132. Oberhofmeister und Prinzenerzieher am sächsischen Hof. Als Ignaz zwei Jahre alt war, kehrte die Familie nach Feldkirch im Breisgau zurück. Nach dem frühen Tod der Mutter (1781) übernahm der Vater die Erziehung und geistige Bildung der Kinder (Walpurga, Johann Philipp, Ignaz Heinrich, Aloys Anton und Marie Josephine). Der Vater, ein großer Bewunderer Josephs II und dessen Reformen, vermittelte seinen Kindern eine von der Aufklärung geprägte Ausbildung, die auch Kunst und Kunstgeschichte umfasste. Lithographische Kopie von J. Brodtmann, 1822, nach Marie-Ellenrieders Wessenberg‐ porträt von 1819 (Rosgarten-Museum, Konstanz) 200 Michael Trenkle 4 W E S S E N B E R G , Ignaz Heinrich von: Unveröffentlichte Manuskripte und Briefe. Bd. I,1, Autobiographische Aufzeichnungen. Freiburg 1968. S.-181. 5 W E S S E N B E R G (wie Anm. 4) S.-22. Die Verunsicherung der napoleonischen Zeit, der Ausbruch des ersten Koaliti‐ onskrieges, führte dazu, dass der Vater seine Söhne weg aus der Grenzregion auf Schulen in weniger gefährdete Gegenden schickte, Ignaz Heinrich und seinen Bruder Johann Philipp 1790 nach Augsburg. Die dortige von ehemaligen Jesuiten geführte Schule genoss zwar hohes Ansehen, dennoch hatte der Vater von Anfang an Vorbehalte. Die beiden Söhne empfanden den Lehrplan dann in der Tat als zu sehr auf Latein orientiert, vermissten die allgemeinere Bildung und folgten deshalb 1792 ihrem jüngeren Bruder Alois, den der Vater von Anfang an nach Dillingen gesandt hatte. Im Januar 1794 starb der Vater, und im Herbst des Jahres wechselte Wessenberg erneut die Schule, diesmal nach Würzburg. Zwei Begegnungen aus diesen Jahren werden seinen weiteren Lebenslauf prägen. An der aufblühenden fürstbischöflichen Universität in Dillingen an der Donau traf er auf den der Aufklärung verbundenen Johann Michael Sailer, der später Bischof von Regensburg wurde. Ihm blieb Wessenberg zeitlebens freundschaftlich verbunden. Noch wichtiger sollte für ihn die Begegnung mit Karl Theodor von Dalberg in Würzburg werden, der schon seit 1788 Koadjutor der Bistümer Mainz und Konstanz war und der einige Jahre später Wessenbergs Leben die entscheidende Wendung geben würde. Doch zunächst gab ein Aufenthalt in Wien neue Impulse, hier wurde das so‐ lide Fundament für Wessenbergs Kunstinteresse gelegt. Er hatte 1796 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Alois Würzburg verlassen, als die politische Lage sich erneut verschärfte. Französische Truppen rückten auch in Würzburg immer näher. Die beiden suchten Ihren Bruder Johann Philipp auf, der in Wien in österreichischen Diensten stand. Eine gemeinsame Wohnung der drei Brüder lag in der Nähe des Hauses von Paul Boulanger von Ehrenritt, einem Staatsbeamten (Reichsfiscal), der aus seinem Haus […] einen freundlichen Kunsttempel gemacht hatte und das unabhängige Leben eines Weltweisen führte  4 . Wessenberg war ein Vetter mütterlicherseits des einflussreichen Grafen Clemens von Metter‐ nich (1773-1859), so erlangte er rasch Zutritt zu angesehenen Gesellschafts‐ kreisen. Boulanger erschloss Wessenberg umfangreiche Privatsammlungen europäischer Spitzenkunst. Die gemeinsamen Museumsbesuche und vor allem die engagierte Besprechung der jeweiligen Kunstwerke trugen entscheidend zur Bildung von Wessenbergs Kunstgeschmack bei. In den Häusern von Metternich, Reischach und Colloredo in denen Wessenberg verkehrte war man gewiß, auf den Abend einige ausgezeichnete Personen, sei es durch Rang, Geist oder Verdienst, anzutreffen. Man unterhielt sich hier angenehm - ohne zu spielen  5 . Hier kam er „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 201 6 Von Wessenberg als „Fugar“ erwähnt, was spätere Biographen (z. B. Joseph B E C K : Freiherr I. Heinrich v. Wessenberg. Sein Leben und Wirken. Freiburg 1862) und Herausgeber (Kurt A L A N D , diverse Texte) kommentarlos übernommen haben. 7 B I S C H O F , Franz Xaver: Das Ende des Bistums Konstanz (Münchener Kirchenhistori‐ sche Studien, Bd.-1) Stuttgart 1989, S.-319. in Kontakt zu den Malern Christoph Unterberger, Francesco Casanova (einem Bruder von Giacomo Casanova) und zu Heinrich Friedrich Füger 6 , damals Direktor der Wiener Akademie, der gerade seine Illustrationen zu Klopstocks Messias vorgelegt hatte. Die endgültige Weichenstellung in Wessenbergs Leben war die 1802 erfolgte Ernennung zum Generalvikar des Bistums Konstanz durch Karl Theodor von Dalberg, der zwar Bischof von Konstanz war, aber selten hier weilte. Wessenberg war damals erst 27 Jahre alt. Wessenberg, dessen Priester‐ weihe übrigens erst 10 Jahre später, 1812, erfolgte, nahm also im Wesentlichen die bischöflichen Aufgaben war. Mit aufklärerischem Sendungsbewusstsein versuchte er, umfassende Reformen durchzuführen. Es gab auch andere Kleriker mit fortschrittlichen Ideen; der Elan und die Eigenwilligkeit, mit der Wessenberg die praktische Umsetzung anging, war aber einzigartig. Bei vielen Priestern der Diözese Konstanz fand er durchaus Anerkennung. Er war unter anderem gegen Wallfahrten und formelhaftes Beten des Rosenkranzes, seine Ablehnung spätbarocker Formen der Volksfrömmigkeit stieß bei den Gläubigen allerdings auf wenig Gegenliebe. Zum Dissens mit Rom führten seine pastoralen und liturgischen Reformen, seine Einführung der deutsch‐ sprachigen Vesper, seine Anordnung, bei Mischehen die religiöse Erziehung der Kinder der Gewissensentscheidung der Eltern zu überlassen etc. All dies wurde vom päpstlichen Nuntius Testaferrate in Luzern mit größtem Miss‐ fallen betrachtet und in einem Schreiben an Kardinalstaatssekretär Consalvi bezichtigte er Wessenberg, dieser würde nichts unversucht lassen „um die katholische Religion völlig zum Verschwinden zu bringen“. 7 Das ist Unsinn. An der Ernsthaftigkeit seiner Religiosität besteht kein Zweifel. Den römischkatholischen Lehrsatz „außerhalb der Kirche kein Heil“ stellt er jedoch infrage, er dachte ökumenisch. In seinem Glaubensbekenntnis heißt es: Drum glaub’ ich nicht, daß vor dem Geist der Welten Des Talmud und des Alkoran Bekenner weniger als Christen gelten - Verschieden zwar, doch alle beten an. 202 Michael Trenkle Ich glaube nicht, wenn wir vom Irrwahn hören, Des Christen Glaube mache nur allein Uns selig; wenn die Finsterlinge lehren: Verdammt muß jeder Andersdenker sein. Damit war er seiner Zeit weit voraus. Erst 150 Jahre später, im Zweiten Vatikanischen Konzil 1962-65 wandelte sich die kirchliche Lehrmeinung in einer Weise, die auch seinen Vorstellungen entsprochen hätte. Das Konstanzer Münsters und der Vorplatz zu Wessenbergs Amtszeit. Radierung von Nicolaus Hug. 1819. (Rosgartenmuseum, Konstanz) Die Romfahrt 1817 Im Juli 1817 entschloss sich Wessenberg, auch auf Anraten des badischen Großherzogs, in den Vatikan zu reisen, um alle Verleumdungen, die gegen ihn lanciert worden waren, im direkten Gespräch zu widerlegen. Ende Juni machte er sich in Begleitung des badischen Regierungsbeauftragten, dem Geistlichen Rat Vitus Burg, auf den Weg nach Italien. Die Anreise nach Rom dauerte rund drei Wochen. Sein Weg führte ihn über den Brenner, Verona, Bologna und Florenz. „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 203 8 G R I M M , Gunter E./ Ursula B R E Y M A Y E R u. Walter E R H A R T : „Ein Gefühl von freiem Leben“. Deutsche Dichter in Italien, Stuttgart 1990, S.-3. 9 W E S S E N B E R G , Ignaz Heinrich von: Unveröffentlichte Manuskripte und Briefe. Bd. IV, Reisetagebücher, Freiburg 1970, S.-79. Ansicht Roms, aus Wessenbergs Graphik-Sammlung. Radierung von Karl-August Linde‐ mann-Frommel, 1847. (Städtische Wessenberg-Galerie, Konstanz) Italien wurde zwar als zusammenhängender Kulturraum wahrgenommen, doch als Einheit entstand es erst 1861. Zu Wessenbergs Zeiten, speziell nach dem Wiener Kongress 1815, existierten in Italien noch unabhängige Staaten, das Königreich beider Sizilien, der Kirchenstaat, das Großherzogtum Toskana, die Herzogtümer Parma, Modena und Lucca und das Königreich Sardinien, zu dem auch das Piemont gehörte, und dessen Hauptstadt deshalb Turin war. Die zuvor eigenständigen Stadtstaaten Mailand, Mantua und Venedig gehörten jetzt zu Österreich. Genua zum Königreich Sardinien 8 . Mehrfach beklagte sich Wessenberg in seinen Reiseaufzeichnungen über die lästige Grenzmaut. So schrieb er von der Strecke von Battaglia nach Ferrara: An dem ganz kleinen Ort (Fähre über den Po bei Francolino) ist die Päbstl. Grenzmauth. Wir wurden von Grund aus durchsucht. Nichts blieb verschont. Diese Operation nahm anderthalb Stunden weg; ein höchst unangenehmer Zeitverlust  9 . Auf dem Weg von Genua 204 Michael Trenkle 10 Vgl. W E S S E N B E R G (wie Anm. 8) S.-110 und 114. 11 Printing and the mind of man: a descriptive catalogue illustrating the impact of print on the evolution of western civilization during five centuries / comp. and ed. by John C A R T E R & Percy H. M U I R , London 1967. nach Pisa musste er gleich vier Grenzen überschreiten, die von Toskana, Lucca, Modena und Sardinien-Piemont 10 . In Florenz traf Wessenberg zu seiner großen Freude unerwartet auf von Met‐ ternich. Der wartete dort mit Maria Leopoldine von Österreich (1797-1826), eine Tochter von Kaiser Franz I. und dessen zweiter Frau Maria-Theresa von Neapel- Sizilien, auf die Ankunft der brasilianischen Flotte, die sie zu ihrem Gemahl nach Brasilien bringen sollte. Im Mai 1817 war sie in einer Stellvertreterhochzeit auf Drängen Metternichs mit dem portugiesischen Kronprinzen Dom Pedro vermählt worden, was sie im Jahr 1822 zur Kaiserin von Brasilien und Königin von Portugal machte. Das unerwartete Zusammentreffen verhalf Wessenberg zu Empfehlungsschreiben Metternichs an den Österreichischen Botschafter in Rom und an Kardinal Consalvi. Am 18. Juli 1817 traf Wessenberg in Rom ein. Er wurde vom amtierenden Österreichischen Botschafter Alois Wenzel, Fürst von Kaunitz, im Palazzo Doria untergebracht. Wie stark Wessenbergs Reise beachtet wurde, lässt sich daran ablesen, dass die meisten damaligen Zeitungen in Deutschland und der Schweiz seine Ankunft zumindest in einer kurzen Notiz vermeldeten. Wessenbergs Anlaufstelle im Vatikan war Kardinal‐ staatssekretär Ercole Consalvi, den er vom Wiener Kongress her kannte und für den er zudem das Empfehlungsschreiben Dalbergs hatte. Consalvi nahm zwar höflich die schriftlichen Eingaben, die Noten und Wessenbergs Argu‐ mente entgegen, gleichzeitig aber konfrontierte er ihn mit den offiziellen römi‐ schen Anschuldigungen. Über weite Strecken entspann sich ein diplomatisches Scheingefecht, das sich über Wochen hinzog. Zu einer Unterredung mit Papst Pius VII. kam es nicht. Die Wartezeit in Rom nutzte Wessenberg, um Künstler in ihren Ateliers aufzusuchen. Die allgemeine Sehnsucht nach Italien Wessenbergs Lebensspanne fällt in den Zeitraum, in dem Rom vor allem auf dem Gebiet der Kunst neue Bedeutung erlangte. Wesentlichen Anteil an der neuen Sicht auf die Stadt hatte Johann Joachim Winckelmann. Dessen 1764 in Dresden erschienene „Geschichte der Kunst des Alterthums“ lenkte das Interesse auf die griechische Kunst. Das Werk war außerordentlich einflussreich. Laut John Carter und Percy H. Muir, die den Begleitband zu einer 1964 in London veranstalteten Ausstellung „Printing and the Mind of Man“ 11 (deutscher Titel: „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 205 12 Printing and the mind of man. (wie Anm. 10). Zitiert nach der dt. Ausgabe: Bücher die die Welt verändern. Hg. von Kurt Busse, München 1968, S.-389-390. 13 G R I M M u.a. (wie Anm. 8) S.-33. 14 K R E U Z , F(ranz) A(nton): Katalog der v. Wessenbergischen Bibliothek wissenschaftlich geordnet und aufgestellt, Konstanz 1863. Titel 3694, 3697, 3698. 15 S C H O C H , Rainer: Rom 1797 - Fluchtpunkt der Freiheit, in: Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770-1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1992, S 17. Bücher die die Welt verändern) verfassten, ist es „das erste Werk in deutscher Sprache, das weltweite Zustimmung fand“ 12 . Winckelmann vertritt darin die Ansicht, dass es „zu keiner anderen Zeit innerhalb der Menschheitsgeschichte eine so hoch entwickelte Kultur und Kunst wie im antiken Griechenland“ gab. 13 Damit revolutionierte er den Blick auf die antiken Kunstwerke. Da Griechenland im 18. Jahrhundert zum Osmanischen Reich gehörte, war es jedoch wesentlich einfacher, den antiken Spuren in Italien zu folgen. Italien wurde zum Eldorado für Künstler und Kunstfreunde, und es setzte auch eine neue literarische Italien‐ erfahrung ein. In Wessenbergs Bibliothek 14 befindet sich selbstverständlich die Erstausgabe von Winkelmanns Hauptwerk „Geschichte der Kunst des Alterthums (1764)“, dessen „Anmerkungen über die Baukunst der Alten (1762)“ wie auch die „Sendschreiben…“ bzw. „Nachrichten von den neuesten Herkulanischen Entdeckungen“ (1762 u. 1764). Die systematischen Ausgrabungen von Pompeji (1748) und Herkulaneum (1738) hatten im 18.-Jahrhundert begonnen und waren insbesondere in Deutschland auf großes Interesse gestoßen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte das Interesse an Italien sprunghaft zugenommen. Goethes Eindrücke von seiner Italienreise von 1786-88 domi‐ nierten über lange Zeit das Italienbild. Sein Buch „Italienreise“ erschien 1816, im Jahr vor Wessenbergs Romreise. Dieses Werk mit seinem Motto „Auch ich in Italien“ zeugt ebenso vom erstarkten Interesse, wie ein genereller Aufschwung an Reiseliteratur Ende des 18. Jahrhunderts. Neue Publikationen informierten nicht mehr nur über Erlebnisse, sondern reflektierten den Sinn und Zweck des Reisens. Damals erwachte das bürgerliche Interesse an Bildungsreisen, was zuvor eher dem Adel vorbehalten war. Die vermehrte Reiselust führte zum raschen Anwachsen der Postkutschenverbindungen und Zahl der Herbergen und damit zu erheblichen Reiseerleichterungen. In Rom bestand zwischen 1770 und 1830 eine in der Geschichte einzigartige Situation der Kunst. Zahlreiche Künstler suchten in Rom „nach Freiheit und Unabhängigkeit in einem umfassenden - künstlerisch und politischen - Sinn“. 15 Rom war damals Metropole und Experimentierfeld der Kunst, angetrieben durch den ständigen Zustrom neuer Ideen. Zwischen 1800 und 1830 sollen 550 deutsche 206 Michael Trenkle 16 V L A S T A , Sandra: Literarische Reisen nach Italien, in: European History Online (EGO), published by the Leibniz Institute of European History (IEG), Mainz 2020-01-15. URL: htt p: / / ieg-ego.eu/ de/ threads/ europa-unterwegs/ kavalierstour-bildungsreise-grand-tour/ sand ra-vlasta-literarische-reisen-nach-italien. 17 S C H O C H (wie Anm.15) S.-22. 18 T E S A N , Harald C. Deutsche Bildhauer bei Thorvaldsen in Rom, in: Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770-1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1992, S.-259. 19 Um einen Eindruck der intensiven Kontakte zu vermitteln, hier die Namen der Bild‐ hauer die er 1817 aufsuchte. Einige Namen hat er ungenau notiert so, dass nicht in allen Fällen eine eindeutige Identifizierung möglich ist: Antonio Canova (1757-1844); Bertel Thorvaldsen (1770-1844); Vater und Sohn d’Este Vater: Antonio (1754-1837) / Sohn: (1787-1826); Pincetti Finelli (könnte Carlo Finelli (1785-1853) sein; Guiseppe Fabri (1790-1860); (Tantolini / Tattolini) = Adamo Tadolini (1788-1868); Johann Nepomuk Schaller (1777-1842); Tentanove (ungeklärt); Rudolph Schadow (1786-1822); Luigi Bienaimé (1795-1878); Finelli (wohl: Bartolomeo Pinelli (1781-1835)); Rinaldo Rinaldi (1793-1873); Giovanni Benzoni (1809-1873); Elex (F) (ungeklärt); Lutsch = Johann Christian Lotsch (1790-1873); Wyant = Richard James Wyatt (1795-1850); John Gibson (1790-1866); Goll (GB) (ungeklärt), Beaucampi (die einzige Frau, soll Bildhauerin und Schriftstellerin gewesen sein, die ich aber leider nicht identifizieren konnte). Und hier die 1817 besuchten Maler: Landi, Gaspare (1756-1830); Madrazzo y Agudo, José (1781-1859); Cornelius, Peter von (1783-1867); Schadow (s. o.); Lund, Johan Ludwig Gebhard (1777-1867); Schönberger, Lorenz (1768-1847) (von dem er berichtet, dass der auch in Konstanz tätig war); Kobell, Franz (1749-1822); (Rhoden) richtig: Rohden, Johann Martin von (1778-1868); (Peters) richtig: Peter, Johann Wenzel (1745-1829); Heß, Heinrich Maria (1798-1963); Rehberg, Friedrich (1758-1835); Vogel (Dresden) von Vogelstein, Carl Christian / 1788-1868); Ingres, Jean-Auguste-Dominique (1780-1867); Bassi (von Bologna) vermutl. Giambattista (1784-1852); Gmelin, Wilhelm Friedrich (1760-1820); Seinsheim, August Reichsgraf von (1789-1869); Granet, François-Marius (1775-1849); Voogs (NL) wohl: Voogd, Hendrik (1766-1839); Therling (NL); Kaisersmann (CH) Kaisermann, Franz (1765-1833); Riepenhausen, (beide Brüder waren in Rom, 1817 traf er aber nur auf) Riepenhausen, Franz (1786-1831); Verstappen, Martin (1773-1853). Dazu noch einige Namen von Malerkontakten aus dem Jahr 1832: Cammuccini, Vicenzo (1881-1844); Vikard (F) wohl Wicar, Jean-Bapt. Joseph (1762-1834); Riepenhausen, Maler, Bildhauer und Architekten in Rom gelebt haben. 16 Sie hofften dort den „lästige(n) Fesseln der gesellschaftlichen Konvenienz“ 17 , die sie in der Heimat empfunden hatten, zu entkommen. Fast alle Neuerungen in der europäischen Kunst in dieser Zeit sind von hier ausgegangen, und zwar von Künstlern aus dem Ausland. Eine herausragende Stellung unter den Künstlerateliers nahm das von Bertel Thorvaldsen ein 18 . Wessenberg hat Thorwaldsens Atelier 1817 und 1832 besucht und darüber ein Gedicht „Thorwaldsens Werkstatt zu Rom“ verfasst, das 1834 in seinen „Blätter und Denkblätter aus Italien“ veröffentlicht wurde. Die Anzahl seiner Atelierbesuche ist beeindruckend. In den 49 Tagen bis zum 8. September sind es mindestens 34, denn die zählt er, in einem späteren Bericht, namentlich auf 19 . Zu den meisten von ihm aufgesuchten Künstlern machte er Angaben, was „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 207 Johannes (1788-1860); Overbeck, Johann Friedrich (1789-1869); Koch, Joseph Anton (1786-1839); Reinhart, Johann Christian (1761-1847); Verstappen (s. o.); Catel, Franz Ludwig (1778-1856); Chauvin (F), Pierre Athanase (1774-1832); Bogunt (F) wohl: Boguet, Didier (1755-1839); Lindau, Dietrich Wilhelm (1799-1862); Wittmer (Baier), Johann Michael II. (1802-1880). 20 W E S S E N B E R G (wie Anm. 9) UMB S.-169-188. 21 Vgl. G R I M M u.-a. (wie Anm. 8) S.-116. 22 Der Briefwechsel 1806-1848 zwischen Ignaz Heinrich von Wessenberg und Heinrich Zschokke. Bearb. von Rudolf H E R Z O G und Othmar P F Y L , Basel 1990, S.-85. er in ihren Ateliers gesehen hat, woran sie gerade arbeiteten. 20 Die Beschreibung von Kunstwerken gehörte zum epocheüblichen Stil von Reisetagebüchern, doch seine Beschreibungen gehen darüber hinaus. 21 Während er die Künstler besuchte, gab es in seinem eigentlichen kirchenpoli‐ tischen Anliegen keinen Fortschritt. Wessenberg ließ daher den Kardinalstaats‐ sekretär wissen, dass er sich entschlossen habe, nicht in Rom zu warten, zu grübeln und in Depressionen zu verfallen. Der österreichische Botschafter war nach Neapel, damals die Hauptstadt beider Sizilien, abgereist. Wessenberg folgte ihm, ausgestattet mit Empfehlungsschreiben Consalvis für Schutzwachen gegen die Unzahl von Banditen in den Gebirgen und in den pontinischen Sümpfen. Wessenberg verzichtete aber bald auf die Begleitung durch Dragoner, da er die Geldausgabe als unnütz erachtete, denn die Wächter wären wohl die ersten, die im Falle eines Angriffs davonrennen. Stolz berichtete er, dass er innerhalb zwei Wochen den Vesuv bestiegen, Ischia, Sorrent, Salerno, Paestum, Caserta u.-a. besucht habe. Auf seinen Reisen besuchte Wessenberg neben Rom zahlreiche Städte Italiens, vornehmlich die zum Reisekanon gehörenden Turin, Genua, Mailand, Padua, Vicenza, Venedig, besonders Florenz und die Toskana, Neapel und Pompeji. Sein Weg führte ihn bis nach Palermo auf Sizilien. Meine zwei Seereisen von Livorno nach Neapel und von da nach Palermo wären recht angenehm gewesen, wenn nicht die Fehlerhaftigkeit der Dampfmaschinen eine beständige, störende Bewegung durch Stoß und Gegenstoß verursachte, wodurch es mir unmöglich wurde, in der Nacht ein Auge zu schließen.  22 Es ist schwer festzustellen, wie oft Wessenberg in Italien war. Neben fünf großen Reisen, besuchte er auch seine Schwester, die am Comersee wohnte, und unternahm von dort aus mehr oder weniger große Ausflüge in die Lombardei und nach Venetien. Oft suchte er Orte von geringerem Rang auf, von denen er sich mehr versprach, als von den allbekannten Kunstdenkmälern. Aus seinen Reisebeschreibungen lässt sich seine Gründlichkeit und Sachkenntnis ablesen. Doch er kann auch nicht verleugnen, dass er Kunst immer unter dem Aspekt religiöser Bildung betrachtete. Manche seiner Betrachtungen sind zudem laien‐ 208 Michael Trenkle 23 W E S S E N B E R G (wie Anm. 9) S.-18. 24 Ebd., S.-34. 25 Ebd., S.-45. haft. Er bewertete Bilder eher wie Traktate. Freie künstlerische Auffassung oder naturnahe dynamische Darstellungen interessierten ihn nicht. Was aber insbesondere die Kunstwerke betrifft, so beschloss ich, meine Aufmerksamkeit ganz besonders den religiösen zuzuwenden, und dabei blos dem inneren Gefühle zu folgen, ohne dasselbe durch irgend einen fremdartigen Einfluss stören zu lassen. 23 Gelegentlich ist er in seinen Urteilen rigoros, so vor Tintorettos Altarbild „Verklärung des Herrn“ in der Kirche St. Afra (heute: Sant’ Angela Merici) in Brescia, wo er sich entrüstete: wie kommt Tintoretto dazu sich an eine Verklärung zu wagen?   24 Auch das Altarbild einer Kreuzabnahme von Canova, im Tempio Canovano zu Possagno sah er als missraten an 25 . Ansicht von Palermo um 1840, der südlichsten Stadt die Wessenberg auf seinen Reisen erreichte. Stahlstich von T. Heawood nach A. Geyer. (Archiv des Verfassers) „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 209 26 W E S S E N B E R G , Ignaz Heinrich von: Die christlichen Bilder, ein Beförderungsmittel des christlichen Sinnes. 2 Bde. Konstanz 1827 - siehe dazu auch: B A N G E R T , Michael: Bild und Glaube. Ästhetik und Spirituaität bei Iganz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte, Bd.-11) Fribourg 2009. 27 W E S S E N B E R G , (wie Anm. 26) S. IV/ V. 28 Ebd., S.-9. 29 G R I M M u.-a. (wie Anm. 8) S.-6. 30 W E S S E N B E R G (wie Anm. 9) S.-89. 31 Ebd., S.-43. Aus Wessenbergs eigenwilliger Kunstauffassung entstand ein umfangreiches, zweibändiges Werk: Die christlichen Bilder 26 . Auf mehr als 1000 Seiten enthält es Hunderte Beschreibungen von Bildern mit christlichen Motiven, ein Versuch, mit Gründen und Thatsachen einleuchtend zu zeigen wie viel Herrliches und Bildendes die christliche Kunst zu leisten vermöge […] uns sollen die schönen Kunstwerke nur zur sinnlich geistigen Vermittlung dienen, um die Harmonie des inneren Lebens, die Vereinigung mit dem Göttlichen zu befördern. 27 Es war als Handreichung für Seelsorger gedacht, eine geschichtliche und religiöse Beleuchtung des Gebrauchs der Bilder in christlichen Kirchen. 28 Anders als wir Heutigen empfand er die Landschaft der Toskana mit ihren traurig steife(n) Zypressenalleen nicht als erhaben. Von Florenz aber war er begeistert. Auch damit war er ein Kind seiner Zeit, denn Florenz rückte im 19. Jahrhundert mit der Wiederentdeckung der Renaissance ins Blickfeld 29 Wessenberg empfand die Stadt als ein Seitenstück der goldenen Tage Athens unter Perikles  30 . Allerdings vermisste er ein Denkmal für Lorenzo de’ Medici „il Magnifico“, den großzügigen Mäzen der Bildenden Künste und der Architektur. So sehr er die antiken Bauwerke und die christlichen Bauten bewunderte, so wenig machte er einen Hehl aus seiner Verachtung der pompösen Prachtentfal‐ tung der Kirche. Er kritisierte den Lebenswandel vieler Geistlicher, die er z. B. in Vicenza und Verona in großer Zahl sah: die meisten dieser Herren wohlgenährt … aber geistreiche Figuren entdecke ich unter ihnen keine.  31 Wessenbergs Hauptinteresse galt der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts. Vom Dreigestirn der Renaissance Leonardo, Michelangelo und Raffael bewun‐ derte er Raffael über alles. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein galt Raffael als der „Gott der Kunst“. Schon Giorgio Vasari, der Begründer der modernen Kunstgeschichtsschreibung, bescheinigte ihm, der Darstellung des „Wahren“ am nächsten zu kommen. Diese Beurteilung übernahm Wessenberg uneinge‐ schränkt. Er widmete Raffael und dessen Hauptwerken ein Gedicht, dessen Schlussstrophen lauten: 210 Michael Trenkle 32 Ebd., S.-5. Madonna - welche Anmuth! welche Würde! Das Christuskind - die Gottheit stralt aus ihm! In Einfalt göttlich, selbst in schlechter Hürde, Und himmlisch schön im Chor der Elohim. Entzückt sah ich Marie’n zum Himmel schweben, Des Herrn Verklärung nur mit heil’gem Beben. Aus dieser Glorie von Himmelsbildern Trat jetzt ein Jüngling, hehr wie ein Apoll! Des Geistes Kraft schien Lieb’ in ihm zu mildern, Ein süßer Laut aus blauem Äther quoll: „Den toten Sinn für Schönheit zu beleben, Ward Engel R a p h a e l der Welt gegeben.“ Wessenberg hat Reisetagebücher verfasst, ein Großteil befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Universität Heidelberg. Zur Veröffentlichung waren sie nicht bestimmt, da es, wie er sagte, ohnehin schon genügend solcher Schilderungen gab. Umfangreiche Auszüge daraus wurden von Kurt Aland und Wolfgang Müller 1970 im vierten Band der Unveröffentlichen Manuskripte und Briefe zugänglich gemacht. Eine zusammenfassende Schilderung seiner Italienreisen, an der er gearbeitet hatte, ist aber leider verschollen. Zur Intention seiner Schilderungen notierte Wessenberg Beschreibungen von Naturschönheiten habe ich mich enthalten. Solche Beschreibungen so getreu und lebendig sie auch sein mögen, bleiben doch immer hinter der Wahrheit zurück […] Am ehesten noch kann es dem begeisterten Lyriker gelingen mittels einigen kühnen Pinselstrichen das Bild des Ganzen wenigstens in denen wieder aufzufrischen, die es früher selbst beschauten.  32 Der Niederschlag der Italienbegeisterung in Gedichten So bleiben denn seine zahlreichen Gedichte, die den Eindruck erwecken, fast tagebuchartig seiner Reiseroute zu folgen. Für die erste Ausgabe der „Blüthen aus Italien“ mag das zutreffen, doch spätere Ausgaben hat er jeweils erweitert. Die neuen Gedichte reihte er geographisch sinnvoll ein, auch wenn sie von späteren Reisen stammten. „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 211 33 W E S S E N B E R G , Ignaz Heinrich von: Blüthen aus Italien. Nach der 2. Ausgabe hg. von Jürgen Hoeren und Michael Trenkle. Konstanz und Aach 2021. 34 W E S S E N B E R G , Ignaz Heinrich von: Sämmtliche Dichtungen. 7 Bde. Stuttgart und Tü‐ bingen 1834-54. Für die Bände 1-5 habe ich ein Exemplar aus meinem Besitz verwendet, für die Ergänzungsbände Onlineausgaben, die über den Karlsruher virtuellen Katalog https: / / kvk.bibliothek.kit.edu abrufbar sind. 35 W E S S E N B E R G (wie Anm. 9) S.-27-28. 36 W E S S E N B E R G , Ignaz Heinrich von: Unveröffentlichte Manuskripte und Briefe. Bd. II, Die Briefe Johann Philipps von Wessenberg an seinen Bruder, Freiburg 1987. Brief 194. Im Jahr 1818 erschien eine erste Sammlung mit 27 dieser Gedichte unter dem Titel „Blüthen aus Italien 33 “. Eine zweite auf 63 Gedichte erweiterte Ausgabe folgte 1820. Nach diesen beiden Separatausgaben wurde im dritten Band der 1834 im Cottaverlag erschienenen Werkausgabe „Sämmtliche Dichtungen“ 34 eine um nochmal 25 Gedichte erweiterte Fassung (S. 1-141) unter dem gleichen Titel aufgenommen. Die frühesten Gedichte behandeln zu großen Teilen vor‐ dergründig antike Bauwerke in Rom, enthalten aber fast immer Bezüge auf christliche Themen und Sagen. Bei den späteren überwiegt die Beschreibung von Naturschönheiten oder sie beziehen sich auf ganz weltliche Themen wie z. B. den Aufstand in Neapel unter Masaniello, das Erdbeben von Foligno und Assisi 1832 (Sämtl. Dichtungen V, 246), oder die neuen Passstraßen in den Alpen (Splügen, Simplon, Stilfserjoch). Seine Fahrt über das Stilfserjoch wurde für ihn fast zur Katastrophe. Es war der 4te November (1831.) Ich vernahm auf der Post, auf dieser herrlichen neuen Kunststrasse sey noch kein Schnee gefallen. Der Beschluß, sie zu wählen, war schnell gefasst. Es hatte für mich einen besonderen Reiz im November ueber eines der höchsten Gebirge zu fahren. Indessen hatte sich, was ich nicht wußte, in der Nacht vom 3 auf 4ten Nov. die Szene sehr verändert. […] Gegen 5 Uhr Abend fing die Kälte an stark zuzunehmen; es wehte ein scharfer Nordwind u das Schneegestöber wurde immer stärker, so daß die Haare von Menschen und Pferden mit gefrorenem Schnee überflort wurden. […] In der Dunkelheit gelangten wir endlich nach St. Maria. […] Auf dieser ungeheuern Höhe, die, von der Welt ganz abgeschieden, in die Wolken reicht, mußten wir uns zu uebernachten entschliessen“.  35 Sein Bruder tadelte ihn in einem Brief: 36 solche Verwegenheiten misglüken sehr oft. 212 Michael Trenkle Das Innere des Pantheons, die Standbilder in den Nischen sind bereits entfernt. Radierung von Agostino Feoli nach Vincenzo Feoli (Städtische Wessenberg-Galerie Konstanz) Auf die zunächst auf vier Bände beschränkte Werkausgabe folgten in den Jahren 1837-1854 drei Ergänzungs-Bände mit neueren Dichtungen, wovon Band 5 (S. 219-271) ein Kapitel „Bilder und Denkblätter aus Italien“ mit 31 teils längeren Gedichten enthält, von denen allerdings nur 25 wirklich auf Italien bezogen sind. Die restlichen sechs beschäftigen sich mit Orten in der Schweiz, dem Grenzpass Großer St. Bernhard, Sankt Gotthard und Orten am Genfersee. Im 6. Band der Dichtungen (S. 64-106) findet sich abermals eine Folge von 36 Italiengedichten, diesmal ohne eine zusammenfassende Überschrift. Und auch im 7. Band sind wieder 41 neue Italiengedichte enthalten. Insgesamt hat er demnach Italien in 190 Gedichten besungen. Eingeleitet wird sein erstes Bändchen „Blüthen aus Italien“ durch ein Ge‐ dicht in dem er Italien als von der Natur bevorzugtes und verhätscheltes Kind, „als Schoßkind“ bezeichnet und in dessen weiteren Strophen schon alles eingearbeitet ist, was er in Italien zu finden hofft: den Geist der antiken und humanistischen Dichter, die Bilder des von ihm über alles geschätzten Malers Raffael, und die Konservierung der griechischen Kultur. „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 213 „Italia du Schoßkind der Natur! Mit frommer Lust betrat ich deine Gärten“ Schon hell vom Morgenscheine der Kultur, Als scheu den Blick noch weg die Völker kehrten. Dich lockte des Erob’rers blut’ger Kranz, Doch mehr entzückten dich des Friedens Künste, Dir war der Weisheit und des Schönen Glanz, Kein Wahn, wie dem Barbar, kein Hirngespinste. Wetteifernd sang dein Flakkus, dein Virgil, Mit Pindar und Homer. Auch Demosthene Hat Rom gehört. Vollendung war dein Ziel, Du Kind des Mars und Liebling von Athene! Gerettet hast du Hella’s Genius; Sein Funke war’s, von welchem du durchlodert, Der Barbarey vielköpf ’gen Cerberus Zum Kampfe mit dem Licht herausgefordert. Der Drache fiel. Europa jauchzte hoch; Die Dante, Ariost’ und Raphaele Verklärten den Triumph des Geist’s, dem Joch Entschwungen, und des Aberglaubens Höhle. Beglückte Zeit! Das Denken war Verdienst, Und Weisen gab der Thron des Beyfalls Lächeln! Beglücktes Volk, dem, Göttin! du erschienst, Asträa, mit des Frühlings Kranz und Fächeln. Italia, du Schooskind der Natur, Und einst des Forschungstriebes heil’ge Wiege! Wo find’ ich deines alten Geistes Spur? Wo darf ich jetzt noch feyern deine Siege? Mit Asträa ist die laut griechicher Mythologie in den Himmel verbannte, im Sternbild Jungfrau verkörperte Dike, jungfräuliche Tochter der Themis und des Zeus gemeint. Wahrscheinlich spielt Wessenberg in christlicher Auslegung hier auf die in Vergils vierter Ekloge prophezeite Geburt des göttlichen Kindes und die Ausbreitung des Christentums in Italien an. Mehrere Gedichte beziehen sich auf das Pantheon und Raffaels Grab. Wie bei vielen anderen seiner Gedichte wird darin deutlich, dass es ihm weniger um die antiken Bauwerke, als um deren spätere Bedeutung in christlichen Zeiten geht. 214 Michael Trenkle 37 W E S S E N B E R G (wie Anm. 34) Bd.-3, S.-49. 38 K Ü H L M A N N , Wilhelm. Kunst, Liebe und Glaube. Zu Ignaz Heinrich von Wessenbergs Romlyrik, in: Zwischen Goethe und Gregorovius. Friedrich Rückert und die Romdich‐ tung des 19.-Jahrhunderts (Rückert-Studien, Bd. XVIII) Würzburg 2009. Mit Ehrfurcht, o Rotunda! nah’ ich dir; Zum Himmel scheint dein Dom sich zu erweitern, Einst allen Göttern heilig, doch hinfür Dem E i n e n Gott und seines Ruhms Verbreitern. Bei seinem ersten Besuch in Rom stand im Pantheon u. a. eine Büste Galileis. In der dritten Fassung der „Blüthen“ erwähnt Wessenberg, dass sie und andere Standbilder entfernt wurden und in den Archiven des Vatikan verschwanden 37 . Die Büste hatte ihn zu einem Epigramm angeregt: „Der Wahrheit spricht die Dummheit Hohn, Und lästert den, der sie entschleyert; Doch hebt die Zeit die Wahrheit auf den Thron, Und ihren Märtyrer, gefeyert Gleich einem Gott, ins Pantheon.“ Zu Wessenbergs Zeiten war Galilei von der katholischen Kirche zwar noch nicht rehabilitiert (das geschah erst 1992), doch 1741 hatte die Kirche erstmals die Veröffentlichung einer Werkausgabe genehmigt und 1822 den umstrittenen Text „Dialogo“ vom Index genommen. Man kann Wessenberg gewiss in keiner Weise mit Galilei vergleichen, doch es ist anzunehmen, dass er mit seinem Epigramm auch auf die eigene durch den Vatikan ausgegrenzte Situation anspielt. Zunehmend sieht er bei späteren Italienreisen die Diskrepanz zwischen seiner Suche nach den hehren Spuren der Antike und dem italienischen Alltag. Der „Aufruf an Italien“, eines seiner späten Gedichte, enthält die Zeilen: „Bei deines Himmels reiner Aetherbläue, Italia! beschwör’ ich dich, Entsage deinem Schmutz! Er ziemt für Säue, Doch nicht für deine Söhne sich“ … Im Schlussgedicht „Abschied aus Italien“, das schon im Titel sowohl an Ovid als auch an Goethe erinnert - wie der Heidelberger Germanist Wilhelm Kühlmann befindet - beschwört Wessenberg erneut Vergil und Flakkus, Petrarca und Tasso, Dante und Raffael 38 . In der ersten Fassung lautet es: Land, wo Virgil und Flakkus sang, Petrark’ empfand und Tasso glühte, „Blüthen aus Italien“ - Dornen aus dem Vatikan 215 Wo Dante’s Geist durch Höll’ und Himmel drang, Wo Raphael zum Ideal sich schwang, Das einst des Griechen Brust entblühte - Leb’ wohl, der Künste Vaterland! Lebt wohl, ihr schönen Hesperiden! In Duft verglüht der Appeninen Rand, Sanft, wie der Freunde letzter Wink der Hand, Als von der Heimath ich geschieden. Zum Rhein, wo meine Hütte steht, Folgt mir jetzt, hehre Kunstgebilde! Dort lächelt, wenn die Sonne niedergeht, Leis’ an die Harf ’ ein Alpenlüftchen weht, Mir Frieden zu, voll Göttermilde! Ihr, die herab den Himmel zieht, Versöhnt und sänftigt alle Triebe. Noch wall’ ich, wenn der Erde Reiz verblüht, Wenn matter schon des Lebens Dämm’rung glüht, In eurer Zauberwelt mit Liebe. In der dritten Strophe lässt er erkennen, wie sehr seine Kunstsammlung und seine Erinnerung an Italien, sein Leben erhellten. Später, in der Werkausgabe, der dritten Fassung der „Blüthen“, hat er die vierte, die letzte Strophe umge‐ dichtet. Sie macht noch deutlicher, wie sehr er an der Erinnerung von Italien hing: O Land, wo alles Schöne blüht, Dein stets gedenk’ ich mit Entzücken, Wann matter mir des Lebens Dämm’rung glüht, Den Himmel schon mein Geist sich öffnen sieht, Dich glaubt er wieder zu erblicken. 216 Michael Trenkle 1 H A B E R L A N D , Irene: Künstlerreisen nach Rom, in: Vom Rhein nach Italien. Auf den Spuren der Grand Tour im 19. Jahrhundert. Ausst.-Kat. Koblenz (Mittelrhein-Museum) 2020, S.-31 f. Auf nach Rom! Die Reisen von Marie Ellenrieder und Friedrich Mosbrugger nach Italien Barbara Stark Italien hat für Künstler als Reiseziel eine lange Tradition. Bereits die deutschen Maler des 15. wie auch ihre niederländischen Kollegen des 17. Jahrhunderts betrieben einen regen Austausch mit dem Süden und kehrten mit neuen Eindrücken von Landschaft, Motiven, Licht und Farbe in ihre Heimat zurück. Bilder mit italianisierenden Darstellungen erfreuten sich seit dem Barock großer Beliebtheit, nicht zuletzt bei jenen, die im Rahmen der Grand Tour selbst südlich der Alpen gewesen waren. Diese seit der Renaissance verbreitete Reiseform vorzugsweise des männlichen Adels - daher auch Kavalierstour genannt - diente der Bildung und Verfeinerung der gesellschaftlichen Umgangsformen. Im Zeitalter der Empfindsamkeit erfuhr die Grand Tour jedoch einen Bedeutungs‐ wandel, „nicht mehr Bildung und Kenntniserwerb standen im Vordergrund des Interesses, sondern die Selbstfindung, das große Gefühlserlebnis, das durch Lektüre, Bilder und Erzählungen […] vorbereitet und gesteigert wurde.“ 1 Johann Wolfgang von Goethes zwischen 1786 und 1788 unternommene italienische Reise sollte in dieser Hinsicht Maßstäbe setzen. Hatten die napoleonische Herr‐ schaft und die damit einher gehenden Kriege zu einem Rückgang der Reisen in den Süden geführt, machten sich nach der Abdankung des Franzosenkaisers und seiner endgültigen Verbannung nach St. Helena im Jahr 1815 mehr Menschen denn je auf den Weg in das viel beschworene Sehnsuchtsland. Längst war das Reisen auch in bürgerlichen Kreisen angesagt, man fuhr nicht nur wegen der Sehenswürdigkeiten in den Süden, sondern auch das milde Klima und die heilkräftigen Quellen lockten. Es war vor allem Italiens Hauptstadt Rom, die 2 P U T Z , Hannelore: Kunstmarkt und Kunstbetrieb in Rom in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Kunstmarkt und Kunstbetrieb in Rom (1750-1850). Hg. von Hannelore Putz und Andrea Fronhöfer (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Bd.-137) Berlin 2019, S.-8. 3 „Gegen 1200 Künstler lassen sich zählen, die während der 35 Jahre der romantischen Zeit auf den Sieben Hügeln geweilt haben, viele in mehrfacher Wiederkehr oder zu dauerndem Aufenthalt. Der jährliche Zuzug aus dem Norden betrug durchschnittlich 30 und stieg häufig über 40 hinaus, im Jahre 1842 wurde die Höchstzahl von 54 erreicht.“ N O A C K , Friedrich: Das Deutschtum in Rom seit dem Ausgang des Mittelalters, Stuttgart 1927 (Neudruck Aalen 1974), Bd.-1, S.-461 f. 4 E L L E N R I E D E R , Marie: Drittes Tagebuch, Vorspann. Zit. nach Edwin Fecker: Marie Ellenrieder. Der schriftliche Nachlass. Siehe http: / / www.edwin-fecker.de/ ellenrieder. htm. Zugriff am 6.1.2023. 5 Zu Ellenrieders Leben und Werk siehe E N G E L S I N G , Tobias/ S T A R K , Barbara (Hg.): Einfach himmlisch. Die Malerin Marie Ellenrieder 1791-1863, Ausst.-Kat. Konstanz (Rosgarten‐ museum und Städtische Wessenberg-Galerie) 2013. „als unersetzlich für die künstlerische, kulturelle und gesellschaftliche Bildung und Ausbildung verstanden wurde. Das hohe symbolische Kapital der Stadt, das sich aus ihrem antiken Rang, aus ihrer Funktion als Stadt des Papstes und religiöses Zentrum, aus ihrer Bedeutung für die Kunstentwicklung seit der Antike bis in die jeweilige Gegenwart und aus der Patina der Geschichte speiste, machte die Reise für jeden Gebildeten zur Pflicht und garantierte die ewige Attraktivität der Kunstmetropole.“ 2 Für Künstler war eine Studienreise nach Italien, gekrönt von einem Besuch der europäischen Kunstmetropole, die um 1820 rund 139.000 Einwohner zählte, ein wichtiger Teil der Ausbildung und markierte in vielen Fällen den Höhepunkt ihrer Laufbahn. 3 Auch zwei Konstanzer - die 1791 geborene Malerin Marie Ellenrieder und ihren 13 Jahre jüngeren Kollegen Friedrich Mosbrugger - zog es in die Ewige Stadt. Doch der Verlauf ihrer Reisen, der Fokus ihrer Interessen, ihre Erlebnisse und nicht zuletzt der künstlerische Ertrag ihres Aufenthalts sollten höchst unterschiedlich ausfallen. Und alle Tage ein bischen italienisch lernen  4 Marie Ellenrieder zählt zu den wenigen Malerinnen, denen es Anfang des 19. Jahrhunderts gelang, eine künstlerische Ausbildung zu erhalten und von ihrer Kunst zu leben. 5 Aufgewachsen in einer wohlhabenden, kunstaffinen Familie fand sie in Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860), dem aufgeklärtliberalen Generalvikar des Bistums Konstanz, einen einflussreichen Förderer ihres früh erkennbaren Talents. Dank seiner Verbindungen studierte sie als erste Frau an der 1808 gegründeten Münchner Kunstakademie, machte sich, nach Konstanz zurückgekehrt, einen Namen als einfühlsame Porträtistin und 218 Barbara Stark 6 Siehe K Ö R N E R , Irmela (Hg.): Frauenreisen nach Italien. Schriftstellerinnen beschreiben das Land ihrer Sehnsucht, Wien 2005. erhielt 1820, auch dies ein Novum für eine Malerin, einen großen kirchlichen Auftrag über drei Altarbilder für die Kirche St. Nikolaus in Ichenheim. Bereits im September 1822 konnten die großformatigen Gemälde aufgestellt werden, und das Honorar machte es Ellenrieder möglich, im Oktober zu einer schon lang ersehnten Italienreise mit Rom als Zielort aufzubrechen. Abb. 1: Marie Ellenrieder, Selbstbildnis, um 1820, Bleistift, schwarze und farbige Kreiden auf Papier, 32,7 x 23,5-cm, Rosgartenmuseum Konstanz Reisen war zu jener Zeit für eine Frau mit einer Vielzahl an Einschränkungen verbunden 6 und entsprach nicht den gängigen gesellschaftlichen Rollenerwar‐ tungen. Doch Marie Ellenrieders Wunsch nach malerischer Fortbildung im Auf nach Rom! 219 7 E L L E N R I E D E R : Drittes Tagebuch (wie Anm. 4), 11ten & 12ten [Oktober]. Mutterland der Künste setzte sich über solche Bedenken hinweg. Da sie sich jedoch unmöglich allein auf den Weg machen konnte, begleiteten sie der ihr aus Zürich bekannte Bildhauer Johann Nepomuk Zwerger (1796-1868) und der aus Donaueschingen stammende Heinrich Keller (1771-1832). Im Gepäck hatte sie zweifellos eine schriftliche Einverständniserklärung ihres Vaters, der trotz ihrer 32 Jahre nach wie vor ihr Vormund war und die durch ihre Kunst erworbenen Einkünfte verwaltete. Empfehlungsschreiben von Wessenberg und gewiss auch von anderen höher gestellten Persönlichkeiten sollten der Malerin in Rom die Türen zum gesellschaftlichen Leben öffnen. Die drei reisten mit der wenig komfortablen Postkutsche, übernachtet wurde in Gasthöfen oder Poststationen von oftmals fragwürdiger hygienischer Ausstattung. Marie Ellenrieder führte auf ihrer Reise Tagebuch, das nicht nur Einblick in ihr Leben in Italien gibt, sondern auch die vielfältigen Eindrücke schildert, die sie unterwegs empfing. Am Anfang ihrer Aufzeichnungen notierte die Künstlerin drei Vorhaben, die zu erfüllen sie sich zur Pflicht machen will: Jeweils dienstags und freitags Briefe zu schreiben, jeden Tag ein bisschen Italienisch zu lernen und sich ab Mitte November abends zwei Stunden der Kunst zu widmen. Tatsächlich sollten ein hohes Maß an Disziplin und Strenge gegen sich selbst Ellenrieders Leben während dieser Reise bestimmen, doch zunächst genoss sie all das Neue, das auf sie einstürmte. Am 7. Oktober 1822, morgens um 4 Uhr brach sie auf. Es ging von Meersburg über Lindau nach Fußach. Dann über Feldkirch nach Chur, wo Ellenrieder die Kathedrale besuchte, deren altdeutscher Hochaltar sie beeindruckte. Der nächste Tag brachte sie nach Thusis, von wo man ins Gebirge vordrang, dessen wilde Größe die Künstlerin beeindruckte. Auf Saumpferden erklomm man den Splügen-Pass, stieg über Chiavenna hinab zum Comersee, wo sie ein Schiff nach Piana di San Tomaso brachte. […] ein wunderliebliches Ort! Landeten wir zum Mittag an, unserer Mußiger spielten zum Einzuge einige Walzer, da sprangen die Knaben zusammen tanzten Rondo und hüpten fröhlich nach dem Tackt unter einander: & in den Häusern auf den Galerien tanzten die Mädchen. […] Hier aß man zum erstenmal mit Öhl gekocht, & ich merkte es nicht.  7 Weiter ging es via Como nach Mailand, wo die kleine Reisegruppe einen mehrtä‐ gigen Halt einlegte, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besuchen. In ihrem Tagebuch hebt Ellenrieder den Dom, das Abendmahl-Wandbild von Leonardo da Vinci in Santa Maria delle Grazie, Raffaels Gemälde „Die Vermählung Mariä“ 220 Barbara Stark 8 Zu Katharina von Predl siehe F E C K E R , Edwin: Katharina von Predl verheiratete Grassis de Predl. 1790-1871. Leben und Werk, Maulburg 2016. in der Brera und in der Bibliotheca Ambrosiana seinen Karton zur „Schule von Athen“ hervor. Am 17. Oktober fuhr sie mit ihren Begleitern weiter nach Florenz, wo sie am 22. Oktober ankamen. Nun lobt sie das gute Essen und die deutlich saubereren Gasthöfe, bedauert, in Parma keine Zeit gehabt zu haben, das Fresko von Correggio in der Domkuppel anzuschauen und bestaunt in Florenz Raffaels „Fornarina“, Tizians „Venus von Urbino“ sowie die Fresken von Andrea del Sarto im Vorhof der Kirche Santissima Annunziata. Doch bereits am 23. ging es weiter und am Abend des 29. Oktober traf man glücklich in Rom ein. Ankunft in Rom Marie Ellenrieder wurde bereits erwartet. Katharina von Predl (1790-1871), mit der sie in München studiert hatte, befand sich seit August 1821 in Rom. 8 Sie hatte für sich und die Freundin eine Wohnung im Haus Nr. 4 an der Piazza di Spagna gemietet, unweit des Monte Pincio gelegen, ein Quartier, in dem damals die meisten deutschen Künstler lebten. Ihr neues Heim war sicherlich nicht luxuriös. Die Malerin Louise Seidler (1786-1866), ebenfalls eine Freundin von Marie Ellenrieder, die sich bereits seit 1818 in Rom aufhielt, hat in ihren Erinnerungen ein anschauliches Bild ihrer römischen Unterkunft im vierstöckigen Palazzo Guarniere gezeichnet. „[…] in diesem befand sich mein Logis eine Treppe hoch. Es bestand aus einem langen, mit verwitterten Fresken verzierten Saale und einem anstoßenden Schlafzimmer, wel‐ ches zwei Fenster und einen Kamin hatte. Die Marmorbekleidung der verbindenden Thür, in Folge eines Erdbebens geborsten, klaffte weit auseinander. Das Mobiliar war gleich null, man sah weder Vorhänge noch den Luxus eines Schreibtisches; als Sopha diente eine schmale, strohgeflochtene Bank; die einzige Kommode war grau angestrichen […]; das Bett, wie gewöhnlich in Italien, so breit, dass drei bis vier Personen darin Platz gehabt hätten. Es bestand aus vier Brettern, die auf eisernen Untergestellen ruhten; auf den Brettern lag ein mit Maisblättern gestopfter Sack, darüber eine dünne, mit Wolle gefüllte Matratze. Ein ebenso gefüllter leinerner Sack fungierte als Kopfkissen; vervollständigt wurde dieses primitive Ganze durch eine wollene Decke. Im Winter wurden die Annehmlichkeiten meiner Wohnung noch erhöht durch Kälte und Rauch. Das Kaminfeuer des Schlafzimmers reichte nicht aus, den großen Saal, in welchem ich arbeitete, mit zu erwärmen. […] Wohl war mein italienisches Heim, trotz des nicht unbedeutenden Preises, den ich dafür zahlen Auf nach Rom! 221 9 K A U F M A N N , Sylke (Hg.): Goethes Malerin. Die Erinnerungen der Louise Seidler, Berlin 2003, S.-161-163. 10 E L L E N R I E D E R : Drittes Tagebuch (wie Anm. 4), 30ten Okt. 11 Ebd., hl. Christag 1822. mußte, höchst bescheiden und einfach […]. Verhältnismäßig genommen, konnte ich übrigens nicht klagen, denn von meinen Kunstgenossen wohnte gewiß keiner besser. Bequemlichkeit galt nichts; man lebte nur, um zu streben.“ 9 Seidlers Schilderung macht deutlich: die Malerin hatte kein eigenes Atelier, sondern arbeitete in ihren einfachen Räumlichkeiten. Nicht anders erging es Katharina von Predl und Marie Ellenrieder und man kann sich vorstellen, dass es in ihren vier Wänden zwischen Staffelei, Tisch und Bett nicht nur beengt zuging, sondern dass auch die Ausdünstungen des für das Malen benötigten Terpentinöls die Luft schwängerte. Ihre römischen Tagebucheinträge beginnt Marie Ellenrieder mit der Schilde‐ rung des für die fromme Katholikin obligatorischen Vatikanbesuchs, der gleich am 30. Oktober stattfand: Der erste Gang war nun zu St. Peter. Links durch die Colonade gieng es dem Portale zu, hinein ins Heiligthum und dann vor dem Allerheiligsten niedergekniet in nahmenloser Empfindung von Dank und Freude! […] Nach diesem führte mich meine Freundin der Krone aller Kunstwerke zu, Raphaels Verklärung Christi. Zu kurz war aber der Augenblick die Größe & Tiefe dieses Bildes zu faßen.  10 Bereits einen Tag später verließen die beiden Künstlerinnen Rom schon wieder, um nach Frascati und Grottaferrata in den Albaner Bergen zu reisen, wo sie die Fresken von Domenichino in der Abbazia di San Nilo studierten und die Ruinen von Tusculum besichtigten. Für die beiden Frauen war es ungewohnt, sich frei von jeglicher männlichen Aufsicht bewegen zu dürfen. Dass das nicht immer ungefährlich war, schildert Ellenrieder in einer späteren Tagebuchnotiz: Hat nicht Heute durch Gottes Gnade die Klugheit der Predel uns vielleicht beyde vom Tode gerettet, als der unbekannte Mensch mit seinem falschen Gesicht in unser Zimmer trat? Erzellte mir nicht bey diesem Anlaße die Predel mehrere solch’ traurige Ereignisse; um die Wichtigkeit recht zu erkennen, wie Frauenzimmer auf sich Acht zu geben haben?   11 - Ellenrieder genoss das Zusammensein mit der Freundin, deren malerisches Können und praktische Veranlagung sie bewunderte, was in ihren Tagebuch‐ notizen jedoch oft mit der Abwertung ihrer eigenen Person einhergeht. Ka‐ tharina Büttner-Kirschner hat Ellenrieders Hang zur Selbstanklage treffend beschrieben: „Im Streben nach Orientierung und Gleichgewicht in der südländi‐ 222 Barbara Stark 12 B Ü T T N E R -K I R S C H N E R , Katharina: Nichts thun wäre meine Lust, Schwärmen meine Se‐ ligkeit. Topografie und Tagebuch: Marie Ellenrieders frühe Rometappen, in: Ausst.-Kat. Konstanz 2013 (wie Anm. 5), S.-70. 13 E L L E N R I E D E R : Drittes Tagebuch (wie Anm. 4), ohne Datum [nach dem 4ten April 1823]. 14 Ebd., 17ten Nov. [1822]. schen Fremde mit ihrem Übermaß an visuell-künstlerischen Reizen konfrontiert sich die Künstlerin immer wieder mit den Vorgängen einer rigorosen Gewis‐ sensbefragung in der Manier katholischer Exerzitien, pietistischer Innerlichkeit und romantisch-religiöser Transzendenz.“ 12 Wiederholt wirft sie sich vor, nicht aufmerksam und fleißig genug gewesen zu sein, bedauert ihre Schwatzhaftigkeit und ihren Egoismus und betont nachdrücklich nicht zum Vergnügen nach Rom gekommen zu sein, sondern um zu lernen und zu arbeiten. Bey allem auf die Natur der Sache schauen!   13 Am 17. November ging Marie Ellenrieder erstmals in den Vatikan, um in den Stanzen die Raffael-Fresken zu studieren. Doch dort sah sich mit Hindernissen konfrontiert. Jezt fing ich an im Vatikan zu arbeiten, es freute mich; aber doch nicht recht. Erstens betrübten mich die Schranken, ich sah die Unmöglichkeit je etwas daraus ausführen zu könen mit meinem Kurzen Gesichte; dann fürchtete ich die steilen Gerüßte, und 3 tens wußte ich noch nicht was mir aus all’ diesem wohl am nützlichsten wäre; so arbeitete ich zween Köpfen ohne raschen Eifer. = In der Zwischenzeit zeichtnete ich in den Logen; ich fühlte mit Bitterkeit wie mir die Fertigkeit mangelte; aber groß war meine Freude über die manchen lieblichen Kleinigkeiten, und doch so grandios der Geschmack!   14 Offensichtlich hatte man in den Stanzen Gerüste aufgebaut, die es den Künstlern ermöglichten, die Fresken aus der Nähe betrachten und abzeichnen zu können. Doch Marie Ellenrieder fürchtete sich, diese zu besteigen - für eine Frau im langen Rock kein einfaches Unterfangen - und beklagt zudem ihre Kurzsich‐ tigkeit, die ihr das Abzeichnen aus der Distanz aufgrund der aufgestellten Absperrungen erschwerte. Dennoch machte sie sich ans Werk und hielt unter anderem mit treffendem Strich jene Szene aus der „Schule von Athen“ fest, in der Euklid seinen Schülern ein geometrisches Problem erläutert. Die einzelnen Figuren hat sie mit Zahlen versehen und dazu die jeweilige Farbgebung und anatomische Besonderheiten notiert. Auf nach Rom! 223 15 E L L E N R I E D E R , Marie: Viertes Tagebuch, S. 84. Zit. n. Edwin Fecker: Marie Ellenrieder. Der schriftliche Nachlass. Siehe http: / / www.edwin-fecker.de/ ellenrieder.htm. Zugriff am 6.1.2023. Zu diesem Anlass trafen sich mehrere Künstler, die gemeinsam ein Modell mieteten und dieses dann zeichneten. 16 Marie Ellenrieder berichtet in ihrem Tagebuch nur indirekt vom Durchpausen, aber es ist davon auszugehen, dass diese damals gängige Praxis auch von ihr betrieben wurde. E L L E N R I E D E R , Viertes Tagebuch (wie Anm. 15), ohne Datum [nach dem 6. Juni 1824]. Siehe dazu auch Kaufmann 2003 (wie Anm. 9) S.-227. Abb. 2: Marie Ellenrieder, Figurenskizze nach Raffaels Schule von Athen, 1822, Tusch‐ feder auf Papier, 6,7 x 8,5 cm Rosgartenmuseum Konstanz, Dauerleihgabe aus Privatbesitz Auch wenn sich Ellenrieder in ihren Tagebüchern immer wieder des Müßig‐ gangs bezichtigt und ihre geringen künstlerischen Fortschritte beklagt, war sie, objektiv betrachtet, überaus fleißig, lernte rasch dazu und wusste ihr kreatives Umfeld zu nutzen. Sie berichtet von Skizzen und Zeichnungen, die sie nach berühmten Gemälden und Wandbildern machte, nahm regelmäßig am sogenannten Abendmodell teil 15 und fertigte Pausen von Zeichnungsalben an, die sie bei anderen Künstlern auslieh. 16 Auch in der Ölmalerei übte sie sich. Hierbei war ihr die fünf Jahre ältere Louise Seidler eine große Hilfe, immer wieder suchte sie die Freundin auf, die ihr praktische Ratschläge gab. Auch in den Ateliers anderer Künstler schaute sie sich um und nahm mit wachem Blick alles auf, was sie in ihrer Kunst voranbringen konnte. Anders als ihre Freundinnen Katharina von Predl und Louise Seidler wie auch viele andere Maler, die von ihren Landesherren mit einem Stipendium unterstützt wurden, war Marie Ellenrieder finanziell auf sich allein gestellt. Ihr Vater ließ ihr regelmäßige Wechsel zukommen, - immerhin hatte sie sich ihre Reise mit 224 Barbara Stark 17 E L L E N R I E D E R , Marie an Ignaz Heinrich von Wessenberg, Brief aus Rom von 7ten Dec: 1822. Zit. nach Edwin Fecker: Marie Ellenrieder. Der schriftliche Nachlass. Siehe http: / / www.edwin-fecker.de/ ellenrieder.htm. Zugriff am 6.1.2023. 18 E L L E N R I E D E R : Viertes Tagebuch (wie Anm. 15), ohne Datum [nach dem 17. Nov 1823]. 19 Kaufmann 2003 (wie Anm. 9) S.-188. dem Ichenheimer Auftrag selbst verdient - aber sie musste offensichtlich aufs Geld schauen, ermahnt sich oft zur Sparsamkeit und war bestrebt, sich durch Kopieraufträge ein Zubrot zu verdienen. In einem Brief an Wessenberg erwähnt sie ein Bildchen, dass sie für den badischen Staatsminister Freiherr von Berstett (1769-1837) malt und spricht von einer Madonna und einem Bild, ein neugieriges Mädchen darstellend, die für die Markgrafen Leopold (1790-1852) und Wilhelm (1792-1859) von Baden bestimmt sind. 17 In ihrem Tagebuch deutet sie die Arbeit an der Kopie eines unbekannten Gemäldes für Katharina Prinzessin von Montfort (1783-1835) an, 18 und Louise Seidler berichtet, dass Ellenrieder ihre eigene Kunst hintenanstellen musste, um ein Bild von François Gerard zu kopieren, „um etwas länger in Rom bleiben zu können, ohne ihrem Vater zur Last zu fallen.“ 19 Abb. 3: Marie Ellenrieder, Bibellesendes Mädchen, 1823, Öl auf Leinwand, 32,8 x 22,5 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Auf nach Rom! 225 20 Siehe dazu S T R I T T M A T T E R , Anette: Das „Gemäldekopieren“ in der deutschen Malerei zwischen 1780 und 1860, Münster 1998. 21 Ellenrieder spricht von ihrem „Zwickbüchen“, gemeint ist ein Skizzenbuch. E L L E N ‐ R I E D E R , Drittes Tagebuch (wie Anm. 4), 7ten Nov: [1822]. Während der Originalbegriff heute unsere Vorstellung von Kunst dominiert, hatte man zu Ellenrieders Zeiten eine andere Einstellung zu Original und Kopie. Da Abbildungen von berühmten Kunstwerken nur als Druckgrafiken verfügbar waren, erfüllte die Kopie eines Gemäldes verschiedene Funktionen. Kopien dienten sowohl als wissenschaftliches Hilfsmittel und Bildung förderndes Me‐ dium, aber auch der Künstlerverehrung oder gar Werbemittel. Nicht zuletzt sollte das Kopieren die Fertigkeit des Kopisten schulen: das Einüben verschie‐ dener Maltechniken sowie die Auseinandersetzung mit der Formgebung und Stilsprache eines berühmten Künstlers, weshalb das Kopieren fester Bestandteil in den akademischen Lehrplänen war. 20 Zugleich konnte man, das Beispiel Ellenrieder macht es deutlich, mit dem Anfertigen von Kopien auch Geld verdienen. Abb. 4: Marie Ellenrieder, Blick auf die römische Landschaft, ohne Jahr, schwarze Tuschfeder auf Papier, 7 x 12,4-cm, Privatbesitz Konstanz Neben dem Studium der großen Meister interessierte sich die Malerin auch für das Alltagsleben. In ihrem Zwickbüchlein  21 hielt sie spielende Kinder, junge Mütter mit ihren Kindern, pittoreske Gestalten und Architekturen fest. Sie zeichnete einen Elefanten - selbst in Rom ein ungewöhnlicher Anblick - und 226 Barbara Stark 22 Zit. nach Wikipedia: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Franz_von_Reden, Zugriff am 28.1.2023. 23 E L L E N R I E D E R , Drittes Tagebuch (wie Anm. 4) 29. Oktober 1823. 24 Zit. nach F E C K E R 2016 (wie Anm. 8) S.-32. studierte ausführlich eine Palme, die wie zahlreiche andere Motive Eingang in ihre späteren Gemälde finden sollte. In Gesellschaft Marie Ellenrieder fand rasch Anschluss an die deutsche Kolonie in Rom. Den engsten Umgang pflegte sie mit ihren Freundinnen Katharina von Predl und Louise Seidler, die jedoch zu Ellenrieders großem Bedauern bereits am 26. Juni 1823 die Ewige Stadt verließ. Auch den aus Zürich stammenden Maler Johann Caspar Schinz (1798-1832) erwähnt sie mehrfach in ihren Aufzeichnungen. Zu‐ sammen feierte man Geburtstage, unternahm Ausfahrten oder Besichtigungen. Sie erlebte den ersten Auftritt des neu gewählten Papstes Leo XII. (1760-1829), hielt sich jedoch offensichtlich von den Vergnügungen der Fasnacht fern, stattdessen nahm sie an den Feierlichkeiten der Karwoche teil. Mehrfach war sie zu Abendgesellschaften bei Franz Ludwig Wilhelm Frei‐ herr von Reden (1754-1831) geladen. Reden war Hannoverscher Gesandter am Heiligen Stuhl und machte seinen Wohnsitz, „die Villa Malta auf dem Pincio, gemeinsam mit seinem Mitarbeiter und Nachfolger August Kestner zu einem Mittelpunkt protestantischer Kreise, aber auch der zahlreichen deutschen Künstler in der Stadt.“ 22 Am 12. November suchte der kunstsinnige Kronprinz und spätere König Ludwig I. von Bayern (1786-1868) Ellenrieder und ihre Freundin auf, doch die beiden waren nicht daheim. Er ließ sich indes doch aufschließen und ging alle Arbeiten durch und mit dem freundlichsten Gruß wer dagewesen war. Am 17. speisten wir bei ihm.  23 Von diesem Essen berichtet Ludwigs Leibarzt Johann von Ringeis (1785-1880) in seinen Erinnerungen: „Bei einer Mahlzeit […] erschienen auch die beiden Malerinnen B. und Ellenrieder, letztere ein gar liebenswürdiges-edles, bei großem Talent höchst anspruchsloses Wesen. Bekanntlich war der Kronprinz etwas schwerhörig, in weit höherem Grad waren es aber die zwei Künstlerinnen und dabei, besonders Frl. B., nicht ohne Redse‐ ligkeit. Da gab es dann bei Tisch eine solche Perlenschnur von Mißverständnissen, daß die Mitanwesenden auf eine wahre Folter gespannt waren.“ 24 Auf nach Rom! 227 25 Auch Louise Seidler erwähnt Ellenrieders Schwerhörigkeit. Siehe K A U F M A N N 2003 (wie Anm. 9) S.-187. 26 B Ü T T N E R - K I R S C H N E R 2013 (wie Anm. 12) S.-70. 27 E L L E N R I E D E R , Drittes Tagebuch (wie Anm. 4) S.-57. 28 E L L E N R I E D E R , Drittes Tagebuch (wie Anm. 4) ohne Datum [nach dem 13ten Juni 1823]. Tatsächlich scheint Marie Ellenrieder schlecht gehört zu haben, 25 weshalb sie die Teilnahme an größeren Gesellschaften vermutlich anstrengte. In ihrem Tagebuch nimmt sich die scheue Künstlerin immer wieder vor, künftig derartige Zusammenkünfte zu meiden. Als Begründung nennt sie jedoch nicht ihr kör‐ perliches Gebrechen, sondern die ihr dadurch entstehenden Verbindlichkeiten, denn adäquate Gegeneinladungen waren ihr nicht möglich. Zudem bezichtigt sie sich der Schwatzhaftigkeit, die sie bei solchen Anlässen überkomme und der Vernachlässigung ihrer eigentlichen Pflichten. Dieser „Zwiespalt zwischen Vitalität und Resignation, Introvertiertheit und Geselligkeit, Schwärmerei, Dol‐ cefarniente und Selbstdisziplinierung, Sündenbekenntnis und Selbstwertgefühl, Glaube und Wissen“ 26 zieht sich als roter Faden durch ihre Aufzeichnungen und Briefe. Am wohlsten fühlte sie sich im kleinen Kreis und wie es scheint, fehlte es auch nicht an dem einen oder anderen Verehrer. Der Diplomat, Kunst‐ wissenschaftler und Sammler August Kestner (1777-1853) findet in Ellenrieders Tagebuch mehrfach wohlwollende Erwähnung: Er speist bei ihr, überrascht sie mit ersten Maiblumen und als sie 1824 Rom verlässt, begleitet er sie mit einigen anderen Freunden ein Stück des Weges. Die beiden sollten bis zu Kestners Tod in Verbindung bleiben. Besonderes oft nennt Ellenrieder jedoch Künstlerkollegen, die sie besucht und mit denen sie sich austauscht. Vincenzo Camuccini (1771-1844), Präsident der Accademia di San Luca und ein hochgeachteter Historienmaler, hatte eine stattliche Sammlung zusammengetragen, die er bereitwillig zugänglich machte. Über Louise Seidler, die engen Kontakt zu dem dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen (1770-1844) und einigen dem Lukasbund, den sogenannten Naza‐ renern, nahestehenden oder angehörenden Künstlern hatte, lernte Ellenrieder nicht nur die Maler-Brüder Franz (1786-1831) und Johannes Riepenhausen (1787-1860) kennen - Schöne Bilder sah ich bei Rippenhausen; schöne Farbe, schöne Hintergründe; Behutsame Behandlung  27 - sondern auch Heinrich Maria Hess (1798-1863) und Johann Friedrich Overbeck (1789-1869). Im Sommer 1823 28 hatte sie die von den Nazarenern ausgemalte Villa Massimo besucht und zeigte sich tief beeindruckt von deren Fresken. 228 Barbara Stark 29 E L L E N R I E D E R , Viertes Tagebuch (wie Anm. 15) 13. Juni [18]24. Siehe zu diesen Sitzungen auch N O A C K 1927 (wie Anm. 3) S.-495. 30 E L L E N R I E D E R , Viertes Tagebuch (wie Anm. 15) ohne Datum [nach dem 6. Juni 1824]. 31 Ebd., 14. Juni [1824]. Abb. 5: Marie Ellenrieder, Maria mit dem Jesusknaben an der Hand, 1824, Öl auf Leinwand 185,5 x 121-cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Es scheint, dass sich Ellenrieders Umgang mit den noch in Rom lebenden Na‐ zarenern seit diesem Zeitpunkt intensivierte. Sie nahm an deren Sitzungen teil, bei denen man sich gemeinsam eine Zeichenaufgabe stellte und die Ergebnisse anschließend diskutierte. 29 Besonders verehrte sie Overbeck. Sein streng auf die Arbeit konzentriertes Wesen war ihr ein Vorbild, 30 und die von ihm geschaffenen Wandbilder machten ihr den größten Eindruck: Alles hat da eine Eigenthümlich‐ keit. Alles ist Einschluß der Contour. Wär nichts als der Umriß würde man doch das Ganze schon empfinden.  31 Der aus Düsseldorf stammende, zu jenem Zeitpunkt als Historienmaler bereits erfolgreiche Heinrich Hess nahm besonderen Anteil an Ellenrieders Schaffen und verfolgte aufmerksam die Entstehung ihres 1823 begonnenen, großformatigen Gemäldes „Maria mit dem Jesusknaben an der Auf nach Rom! 229 32 Die nachfolgenden Ausführungen zu Leben und Werk von Friedrich Mosbrugger stützen sich auf B R I N G M A N N , Michael/ V O N B L A N C K E N H A G E N , Sigrid: Die Mosbrugger. Die Konstanzer Maler Wendelin, Friedrich und Joseph Mosbrugger, Weißenhorn 1974. Zu Friedrich Mosbrugger siehe S.-73-115 und S.-182-224. Hand“. Mit diesem Bild stellte Ellenrieder nicht nur ihr in Rom perfektioniertes malerisches Können unter Beweis, sondern brachte auch eindrücklich ihre veränderte künstlerische Ausrichtung zum Ausdruck. Die intensive Auseinan‐ dersetzung mit der Kunst der italienischen Renaissance und dem Schaffen der nazarenischen Kollegen hatten zu einem tiefgreifenden Stilwandel geführt: Ellenrieders am Klassizismus geschulte Malweise ist einer hellen, kräftigen Palette gewichen, die Betonung der Kontur drängt das Malerische zurück und die Komposition beseelt im wahrsten Wortsinn ein empfindungsreicher Lyrismus. Als die Künstlerin Rom am 24. Juni 1824 verließ, um gemeinsam mit Katharina von Predl noch einige Monate in Florenz zu verbringen, hatte sie ihr Meisterstück, von dem sie sich Zeit ihres Lebens nicht trennen sollte, im Gepäck. Zugleich begleitete sie ein neuer großer Auftrag: Für die Kirche in Ortenberg sollte Marie Ellenrieder ein Altarbild mit der Darstellung des Heiligen Bartholomäus malen. Noch in Rom hatte sie mit der Arbeit am Karton begonnen. Friedrich Mosbrugger Marie Ellenrieder kehrte im April 1825 nach Konstanz zurück. Zu jenem Zeit‐ punkt studierte der 1804 geborene Friedrich Mosbrugger noch an der Münchner Kunstakademie und schickte sich an, seine Werke erstmals auf einer großen Ausstellung in Karlsruhe zu zeigen. 32 Friedrich Mosbrugger entstammte einer Konstanzer Malerfamilie. Sein Vater Wendelin (1760-1849) war ein zu seiner Zeit geschätzter und vielbegehrter Mi‐ niaturmaler und Porträtist sowie Hofmaler des Königs von Württemberg. Fried‐ richs jüngerer Bruder Joseph (1810-1869) wurde ein bekannter Landschafts‐ maler. Friedrichs künstlerische Begabung zeigte sich früh, so dass sein Vater die Ausbildung übernahm. Es heißt, auch Marie Ellenrieder hätte dem Knaben das eine oder andere beigebracht, doch ein Nachweis dafür lässt sich nicht erbringen. Mit 17 Jahren bezog Mosbrugger die Kunstakademie in München. Dort studierte er zunächst die holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, wobei die Bildnisse Rembrandts (1606-1669) maßgebenden Einfluss auf die Entwick‐ lung seiner Porträtkunst ausübten. Die Begegnung mit den Werken von David Teniers (1610-1690) und Adriaen Brouwer (1606-1638) veranlasste ihn, sich der Genremalerei zuzuwenden. Damals setzte sich in München eine realistische, erzählerische Malerei durch, die sich das ganze 19. Jahrhundert hindurch großer 230 Barbara Stark 33 B R I N G M A N N 1974 (wie Anm. 32) S.-98. Beliebtheit erfreuen sollte. Neben seinen Landsleuten Franz Xaver Winterhalter (1805-1873) und Johann Baptist Kirner (1806-1866) zählte Mosbrugger zu den ersten badischen Malern, die sich auf diesem Gebiet einen Namen machten. Sein Gemälde „Bockbierkeller“, eine launige Schilderung des Münchner Volkslebens, zeigte er 1827 mit Erfolg in einer Ausstellung des Karlsruher Kunstvereins. Im Herbst des Jahres machte er sich auf den Weg nach Rom, eine seiner ersten dort geschaffenen Zeichnungen entstand am 18. Dezember 1827. Der Künstler scheint also zügig und ohne größere Zwischenhalte gereist zu sein, denn alle datierten Landschaftsstudien stammen aus späterer Zeit. 33 Abb. 6: Friedrich Mosbrugger, Selbstbildnis mit verbundenen Backen, 1827, Bleistift auf Papier 18,7 x 14,3-cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Ein fröhliches Leben Während Marie Ellenrieders Tagebücher und Briefe anschaulichen Einblick in ihren römischen Alltag geben, fehlen von Friedrich Mosbrugger Zeugnisse dieser Art. Allein seine zahlreich hinterlassen Zeichnungen und einige Gemälde belegen, was ihn interessierte und wo er sich aufhielt. Anders als seine Kollegin hatte er kein Auge für christliche oder antike Motive, ihn faszinierte das bunte Auf nach Rom! 231 34 Siehe dazu N O A C K 1927 (wie Anm. 3) S.-497 f. 35 B R E I T M E Y E R , Erwin (Hg.): Wilhelm Waiblingers Briefe aus Italien an seine Eltern, Ludwigsburg 1930. 36 Friedrich Mosbrugger: Bildnis des Malers Joseph Anton Koch, 19. Mai 1829. Bleistift auf Pauspapier, 15 x 11 cm. Ehemals Slg. Prinz Georg von Sachsen, Dresden. Verschollen. Siehe B R I N G M A N N 1974 (wie Anm. 32) S.-220, F 481. Treiben des Südens, das er in Tuschfeder oder mit dem Bleistift festhielt. Menschen und Tiere stehen im Mittelpunkt seiner lebensnahen Studien, aber auch der Landschaft gilt seine Aufmerksamkeit. Einige Skizzen überführte er in Gemälde, unter anderem „Blick auf Hinterhäuser in Rom“, eine unspektakuläre, pittoreske Darstellung, deren kleinteilige Beschaulichkeit an Carl Spitzwegs (1808-1885) Kompositionen erinnert. Vermutlich hielt Mosbrugger in diesem Bild den Ausblick aus seiner Bleibe fest. Da die Wohnungslage in der Ewigen Stadt nach wie vor angespannt war, ist davon auszugehen, dass auch er in einem Raum lebte und arbeitete - das 1828 entstandene Gemälde „Das Studio des Künstlers in Rom“ lässt diesen Rückschluss zu und belegt, dass der Maler rasch in den großen Kreis der in der Tiberstadt lebenden Künstler aufgenommen worden war. Im Gegensatz zu Marie Ellenrieder hatte Mosbrugger keinen Kontakt zu den Nazarenern um Friedrich Overbeck, dessen sakrale Kunst er vermutlich als rückwärtsgewandt empfand. Auch das zurückgezogene, kontemplative Leben, das der fromme Maler führte, wird nicht nach dem Geschmack des 24-jährigen gewesen sein; ihn zog es, so lassen seine Zeichnungen und Bilder ahnen, eher zu Spiel und Spaß mit Gleichgesinnten. In Rom gab es für die auswärtigen Künstler einige Anlaufpunkte, um Kontakt zu Kollegen zu finden. Neben dem Caffè Greco an der Spanischen Treppe war auch die Weinschänke von Don Raffaele de Anglada ein beliebter Treffpunkt. Man veranstaltete Künstlerfeste - berühmt wurden die Feiern der Ponte-Molle-Gesellschaft bei den Cervara- Grotten, zu denen keine Frauen zugelassen waren. 34 Liest man die Briefe des schwäbischen Dichters Wilhelm Waiblinger (1804-1830) an seine Eltern - dieser kam im November 1826 nach Rom und starb dort mit gerade einmal 25 Jahren - so erhält man aufschlussreichen Einblick, welche Vergnügungen neben der Kunst einen jungen Mann damals in Rom erwarteten. 35 Mosbrugger schloss sich dem Kreis um seinen Freund, den angehenden Architekten Jacob Friedrich Eisenlohr (1805-1854) an, der schon 1826 nach Italien gezogen war. Auch mit dem renommierten Landschaftsmaler Joseph Anton Koch (1768-1839) traf er zusammen, den er in einer einfühlsamen Zeichnung festhielt. 36 Daneben belegen Grafiken, dass er den Bildhauer Ludwig von Hofer (1801-1887) sowie die Maler Friedrich von Preller d. Ä. (1804-1878) 232 Barbara Stark 37 Ebd., S.-219. und Heinrich Frank (1805-1890) kannte - letzteren zeichnete er bei der Flohjagd in dessen Atelier. 37 Abb. 7: Friedrich Mosbrugger, Des Künstlers Studio in Rom, 1828, Öl auf Leinwand, 62 x 75-cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Mosbruggers genannte Atelierszene mutet weniger italienisch als niederlän‐ disch an; die humorvolle Gruppe des derben Barbiers mit seinem Opfer im Vor‐ dergrund des Bildes zeigt den Einfluss der drastischen Bauernszenen Adriaen Brouwers, die der Künstler in der Alten Pinakothek in München studiert hatte. Auch der warme, goldbrauen Farbton ist niederländisch inspiriert. Das Bild besticht durch die lebendige genrehafte Schilderung und die ausdrucksvollen Porträts der versammelten Künstlerfreunde. Mit großer Sorgfalt und liebevoller Realistik sind nicht nur die Personen bei ihren verschiedenen Beschäftigungen erfasst, sondern auch die im Atelier versammelten Gegenstände. Dabei spart der Maler nicht mit Hinweisen auf Rom als Entstehungsort seines Gemäldes. „Auf der dunklen, blaugrünen Tür im Hintergrund liest man die Worte: ‚(am) Abend (in der) Vaticanskneipe‘ - eine Anspielung auf das gesellige Leben der deutschen Künstler in der Ewigen Stadt. Eine kleine Kopie des Torso Belvedere unter einem großen Strohhut deutet die Kunstschätze Roms an. Landschaftsstudien, Karikaturen Auf nach Rom! 233 38 Ebd., S.-105. 39 Ebd., S.-106. und das Halbfigurenbild einer jungen Frau geben Zeugnis von der künstlerischen Aktivität des Atelierbewohners.“ 38 Mit diesem Bild führte sich Mosbrugger als phantasiebegabter Realist in Rom ein. Wie Marie Ellenrieder musste auch er sich seinen Aufenthalt im Süden selbst verdienen, doch durch das Kopieren von Gemälden zu Geld zu kommen, war nicht sein Weg. Stattdessen verlegte er sich darauf, eine Serie von Bildnissen italienischer Frauen in einheimischer Tracht mit idealisierten Gesichtszügen zu malen. Solche das Exotische mit dem Klassischen verbindenden Darstellungen sollten sich später in der Heimat gut verkaufen lassen. 39 In Rom blieb Mosbrugger bis Anfang September 1828, dann brach er nach Neapel auf. Der immer wieder aktive Vesuv, die Ausgabungen von Pompeji, aber auch das lebendige Musik- und Theaterleben der Stadt machten diese zu einem der attraktivsten Reiseziele für Künstler und Bildungsreisende aus ganz Europa. In der zweiten Oktoberhälfte kehrte Mosbrugger an den Tiber zurück, vermutlich um sich an der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung zu beteiligen. Anfang Juni 1829 verließ er Rom und reiste über Konstanz nach Karlsruhe, um sich dort niederzulassen. Nun entstand mit dem „Improvisator am Molo von Neapel“ ein zweites italianisierendes Genrebild, eine Hommage an die quirlige Hafenstadt, in der sich der Maler besonders wohl gefühlt hatte. Im Gegensatz zu dem in warmen Tönen gehalten „Künstleratelier“ ist die Palette dieses Gemäldes hell und bunt und spiegelt damit das Licht der südlichen Landschaft und des farbenprächtigen Treibens. Im Zentrum der Darstellung steht die eindrückliche Gestalt des Improvisators, der im Hintergrund rauchende Vesuv und die Bucht von Neapel verorten die Szene topografisch. Während der Deklamator dramatisch agiert, lauschen seine Zuhörer, die der Maler in einzelnen Gruppen mit feiner Beobachtungsgabe humorvoll erfasst, mehr oder weniger gespannt und konterkarieren damit den übertrieben wirkenden theatralischen Auftritt. Mosbrugger zeigte sich mit diesem Gemälde, dessen Motiv er unabhängig von Vorbildern entwickelte, auf der Höhe seines Könnens. Es wurde 1832 in Karlsruhe ausgestellt und im selben Jahr als Jahresgabe für die Mitglieder des Badischen Kunstvereins von Franz Xaver Winterhalter lithographiert. Friedrich Mosbrugger sollte diesen Erfolg nicht mehr erleben. 1830 war er nach St. Petersburg gereist, wo er sich einen größeren Wirkungskreis versprach. Schon auf dem Schiff erkrankte er und starb kurz nach seiner Ankunft in Russland am 17.-Oktober 1830, erst 26 Jahre alt. 234 Barbara Stark 40 Zu Storer weiterführend: H O S C H , Hubert: Johann Christoph Storer (1620-1671). Ein vergessener Konstanzer Maler des Barock, in: SchrrVGBodensee 140 (2022) S.-37-87. 41 Ebd., S.-100. 42 E N G E L S I N G 2013 (wie Anm. 5) S.-122. Abb. 8: Friedrich Mosbrugger, Der Improvisator am Molo zu Neapel, 1830, Öl auf Leinwand 55,5-x 78-cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Ausblick Marie Ellenrieder und Friedrich Mosbrugger waren nach Johann Christoph Storer (1620-1671) 40 die ersten Konstanzer Maler, die nach Italien reisten, um ihren Traum vom Süden Wirklichkeit werden zulassen. Während eine solche Reise für eine Künstlerin noch ebenso ungewöhnlich war wie die Tatsache, dass sie überhaupt eine Ausbildung absolvieren durfte, gehörte sie für einen Künstler längst zum traditionellen Ausbildungsprogramm. Entsprechend unterschiedlich lebten die beiden in Rom: als Frau waren Ellenrieder zahlreiche Vergnügungen von vornherein verwehrt. Sie hatte nicht nur auf ihren Ruf zu achten, auch ihre strenge Religiosität setzte Schranken. Mosbrugger hingegen konnte sich frei bewegen - sieht man davon ab, dass Fremde beiderlei Geschlechts oft das Opfer von Raubüberfällen wurden. Auch Mosbrugger ereilte dieses Schicksal, aber er verstand es, aus diesem Erlebnis nicht nur künstlerisches, sondern auch öffentlichkeitswirksames Kapital zu schlagen. 41 Ellenrieders religiös überhöhte Kunstauffassung, die schon „vor ihrem Romaufenthalt vorhandene Überzeu‐ gung vom gottesdienstlichen Charakter ihres Berufs“ 42 verfestigte sich durch ihre Begegnung mit der Kunst der Renaissance und der Nazarener. Mosbrugger dagegen fühlte sich durch das südliche Leben inspiriert und verstand es, mit Auf nach Rom! 235 seinen vitalen, humorvollen und die Sehnsucht nach Exotischem bedienenden Schilderungen die Bedürfnisse des Kunstmarkts geschickt zu bedienen. Für ihn war Rom eine Station von vielen möglichen auf dem Weg zum Erfolg. Für Marie Ellenrieder jedoch stellte ihre Reise eine Art Erweckungserlebnis dar, das die Zielsetzung ihrer Kunst grundlegend neu ausrichtete. Es verwundert nicht, dass es die Künstlerin 1838 ein zweites Mal in die Ewige Stadt zog. Doch das ist eine andere Geschichte… 236 Barbara Stark 1 Gesetz über den Verlust und Erwerb der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870, in: H U B E R , Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd.-2, Stuttgart 3 1986 [1961], S.-313-317. 2 T R E V I S I O L , Oliver: Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871-1945 (Studien zur historischen Migrationsforschung 18) Göttingen 2006, S.-7. Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 1871-1918 Oliver Trevisiol Das Thema Einbürgerung bzw. Vergabe der Staatsangehörigkeit führt in schöner Regelmäßigkeit zu erhitzten Debatten, wie sich zuletzt 2022 wieder in den Reaktionen auf die Änderungspläne der Bundesregierung für das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht zeigte. Mit ebenso großer Zuverlässigkeit bleibt in diesen Debatten die lange Geschichte der Einbürgerung in Deutschland genauso unberücksichtigt, wie die Tatsache, dass diese Geschichte weder durch einen linearen Verlauf zu einer immer liberaleren noch zu einer immer restriktiveren Ausgestaltung des Einbürgerungsprozesses charakterisiert ist. Im Gegenteil, die konkrete Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich hing jeweils von politischen und sozialen Einflussfaktoren, vom einbürgernden Bundesstaat, von der bishe‐ rigen Staatsangehörigkeit der Antragsteller, von kollektiven Zuschreibungen basierend auf Religion, Geschlecht, Sprache oder Herkunftsstaat sowie indivi‐ duellen Merkmalen wie z. B. ökonomischer Status oder politisches Verhalten ab. Das Deutsche Reich als föderaler Bundesstaat kannte keine einheitliche Deutsche Staatsangehörigkeit. Deutscher war, wer einem der Bundesstaaten angehörte, so regelte es das Gesetz über den Erwerb und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870. 1 Demzufolge musste eine Einbürgerung in einem der Bundesstaaten erfolgen. Die dafür zuständige Behörde war in Baden das großherzogliche Bezirksamt. Seit 1888 hatte der zuständige Landeskommissär, der die Aufsicht über die Bezirksämter ausübte, die Einbürgerung zu vollziehen. In das Verfahren waren die Kommunen bzw. die Armenverbände einzubeziehen. 2 3 Ebd. 4 Z.B. G O S E W I N K E L , Dieter: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland (Kriti‐ sche Studien zur Geschichtswissenschaft 150), Göttingen 2 2003; N A T H A N S , Eli: The politics of citizenship in Germany. Ethnicity, utility and nationalism, Oxford 2004. 5 G O S E W I N K E L , Dieter: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21.-Jahrhundert, Berlin 2016, S.-44-45. 6 F A H R M E I R , Andreas: Citizens in limbo. Naturalization concepts between privilege and membership in 19 th-Century Western Europe and the United States, in: Citizenship Studies 25,4 (2021) S.-456-473. 7 F A H R M E I R , Andreas: Conclusion. Cities and States: Papers and Walls, in: Greefs, Hilde / Winter, Anne (Hg.): Migration Policies and Materialities of Identification in European Cities. Papers and gates, 1500-1930s (Routledge advances in urban history 2) New York 2019, S.-289-306, hier S.-300. Das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1870 wie das von 1913 ließ den Bun‐ desstaaten und den kommunalen Behörden großen Ermessensspielraum und legte lediglich Minimalbedingungen fest. Einen Rechtsanspruch gab es für Antragsteller dagegen nicht. Die vier Minimalbedingungen bestanden in der Dispositionsfähigkeit, also der vollen Geschäftsfähigkeit sowie der Volljährig‐ keit nach den Bestimmungen des Herkunftsstaates, der Unbescholtenheit, dem Nachweis einer Wohnung am beabsichtigten Niederlassungsort und vor allem in einem gesicherten Einkommen, um den eigenen familiären Unterhalt bestreiten zu können. 3 Preußen als mit Abstand größter und bevölkerungsreichster Bundesstaat dominierte die zeitgenössische Einbürgerungspolitik und stand in der Folge auch im Zentrum der Forschung. 4 Von der preußischen Politik wurde Einbür‐ gerung vom Umgang mit nationalen Minderheiten, z. B. Polen und Dänen, her gedacht. 5 In Baden gab es keinen als Nationalitätenkonflikt gedeutete Auseinandersetzung mit Nachbarstaaten und auch keine übergeordnete, gegen bestimmte nationale Minderheiten gerichtete Einbürgerungspolitik. Die Einbür‐ gerungsverfahren wurden in Baden von den lokalen Behörden durchgeführt, die zwar unter Einfluss der ökonomischen oder politischen Großwetterlage unterschiedlich starken Ermessensspielraum hatten, sich aber vor allem auf ökonomische Erwägungen fokussierten. 6 Insofern sind Unterschiede zwischen den Bundesstaaten inzwischen gut belegt, Unterschiede zwischen Städten und Kommunen sind dagegen bisher noch nicht stärker erforscht. 7 238 Oliver Trevisiol 8 B A D E , Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 86 ff.; H E R B E R T , Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S.-14 ff. 9 B O D E N S T E I N , Bernhard / S T O J E T I N , Max von: Der Arbeitsmarkt in Industrie und Land‐ wirtschaft und seine Organisation. Vorträge gehalten auf der Tagung der Mitteleuro‐ päischen Wirtschaftsvereine in Berlin am 17. Mai 1909, Berlin 1909, S.-17. 10 D E L F A B B R O , René: Transalpini. Italienische Arbeitswanderung nach Süddeutschland im Kaiserreich 1870-1918 (Studien zur historischen Migrationsforschung 2) Osnabrück 1996, S.-90. 11 Ebd. S.-91. 12 L U D W I G , Julius: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Wanderarbeiter im Großher‐ zogtum Baden. Dargestellt auf Grund der Ergebnisse einer von dem Verfasser vom Juli 1911 bis Mai 1912 veranstalteten Enquete, Karlsruhe 1915, S.-132. 13 Statistisches Jahrbuch Baden 40 (1913) S.-24 f. 14 D E L F A B B R O (wie Anm. 10) S.-97 ff. Einwanderung und Integration Das Kaiserreich entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts vom Auswan‐ derungszum Einwanderungsland. 8 Dieser Umstand war den Zeitgenossen durchaus bewusst. So stellte etwa Bernhard Bodenstein auf einer Tagung der Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereine im Jahr 1909 fest: Das Deutsche Reich ist nunmehr ein Einwanderungsland geworden. 9 Die Migration von Italien nach Deutschland war dabei industriell geprägt und hatte in Baden einen ihrer Schwerpunkte. Nach den Volks- und Berufszählungsdaten lebten nach 1890 etwa zehn bis 15 Prozent der italienischen Migranten in Baden. 10 Absolut handelte es sich um bis zu 17.000 Personen, wobei zeitgenössische Schätzungen der kirchlichen Fürsorgeorganisation „L’Opera di Assistenza“ mit 30.000 deut‐ lich höher lagen. 11 Ludwig schätzt 1911 allein für den Bezirk Konstanz 2.400 italienische Industriearbeiter. 12 Die Daten der Volkszählung von 1910 geben für den Amtsbezirk Konstanz insgesamt eine Reichsausländeranzahl von 4.319 Per‐ sonen an, das wären 6,8 Prozent der Gesamtbevölkerung und damit der höchste Anteil im Großherzogtum. 13 Der Blick auf Alter und Geschlecht der italienischen Migranten lässt darauf schließen, dass sich eine zunehmende Zahl in einer Einwanderungssituation befand und sich nicht mehr als saisonale Arbeitskraft sah. So sank einerseits von 1890 bis 1910 der Männer- und stieg der Frauenanteil, andererseits stieg der Anteil verheirateter italienischer Frauen in Baden von 70 auf 75 Prozent, der Anteil verheirateter Männer lag bei 36 Prozent. 14 Auch sahen aufmerksame Beobachter eine zunehmende Integration und dauerhafte Niederlassung. Waltershausen machte die zahlreichen Familien, welche nicht Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 239 15 W A L T E R S H A U S E N , August Satorius von: Die italienischen Wanderarbeiter, in: Festschrift zu August Sigmund Schultzes siebzigsten Geburtstag, Leipzig 1903, S. 53-94, hier S. 76. 16 S T U T Z K E , Fritz: Ausländische Arbeiter in Deutschland, in: Journal für Landwirtschaft 51 (1903) S.-271-278, hier S.-278. 17 D E L F A B B R O , René: Italienische Industriearbeiter im wilhelminischen Deutschland 1890-1914, in: VSWG 76,2 (1989) S.-202-228, hier S.-212. 18 Ebd., S.-227. 19 P E R T I L E , Giacomo: Gli Italiani in Germania, in: Bollettino dell’Emigrazione 11 (1914) S.-699-905 und 12 (1914) S.-909-1046, hier S.-733-735. 20 L U D W I G (wie Anm. 12) S.-115. 21 Ausführlicher beschrieben in: T R E V I S I O L (wie Anm. 2) S.-97-103, nach Italien zurückkehren  15 aus. Fritz Stutzke berichtete über Italiener, die infolge Verheiratung mit einer Deutschen dauernd hier bleiben  16 und schloss auf eine schnelle Assimilierung. Lorenz Werthmann, Gründer des Deutschen Caritasverbands, wies auf die permanente Integration von Italienern hin 17 , und die Badische Gewerbeaufsicht konstatierte in Bezug auf italienische Migranten: Manche ausländischen Arbeiter werden durch Heirat mit Einheimischen oder nach Emporringen zum selbständigen Unternehmer bei uns ansässig. 18 Pertile berichtet von dauerhafter Niederlassung, Ehen mit einheimischen Frauen und davon, dass Migrantenkinder der italienischen Sprache nicht mehr mächtig seien. 19 Bei mehrjährigem Aufenthalt im Deutschen Reich stellte Ludwig gestiegene Ansprüche an den Lebensstandard und dessen Angleichung an die Verhältnisse von einheimischen Arbeitern fest. 20 Ein Teil dieser Arbeitsmigranten entschloss sich in der Folge dazu, einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen. Ablauf des Einbürgerungsverfahrens Das Einbürgerungsverfahren gestaltete sich praktisch als ein Zusammenspiel von Stadt, Bezirksamt und Landeskommissär, wobei das Bezirksamt die Feder‐ führung inne hatte. 21 Entschloss sich jemand dazu, um die Aufnahme in den badischen Staatsverband zu bitten, so musste dieses Gesuch auf dem zustän‐ digen Bezirksamt vorgebracht werden. Der Beamte nahm das meist mündliche Gesuch entgegen und erhob die entscheidungsrelevanten Informationen. Der Gesuchsteller musste Auskunft über Alter, Familienstand, Geburtsort, Kinder und Konfession geben. Alle Angaben bedurften des Nachweises über standes‐ amtliche Urkunden, d. h. Geburtsurkunde, Heiratsschein oder Geburtsurkunden der Kinder. Außerdem musste die Entlassung aus der italienischen Staatsan‐ gehörigkeit nachgewiesen werden. Ferner erhob das Bezirksamt Auskunft über Militärdienst, Beruf, Arbeitgeber und Verdienst sowie Angaben über die bisherigen Aufenthaltsorte. 240 Oliver Trevisiol 22 Solche Beschlüsse wurden auch in der lokalen Presse erwähnt. Z. B. Singener Nach‐ richten Nr. 69 vom 22. März 1916, https: / / www.digishelf.de/ objekt/ 3110956-1_1916/ 2 78/ (Zugriff am 4.1.2023), die aus der Gemeinderatssitzung berichten, dass gegen das Gesuch des Giovanni Susin um Aufnahme in den badischen Staatsverband […] keine Einwendungen zu machen sind. Der erste Arbeitsschritt galt der Überprüfung der vorgelegten Bescheini‐ gungen und der gemachten Angaben. Dazu beauftragte man die örtliche Polizei mit der Erstellung eines Leumundszeugnisses, die sich dafür bei Arbeitgebern, Vermietern oder Nachbarn des Antragstellers informierte. Besonderer Wert wurde dabei auf die Auskünfte der Steuerbehörden und vor allem der ört‐ lichen Armenfürsorge gelegt, sodass ein Vermögenszeugnis erstellt werden konnte. Um die Angaben über frühere Aufenthaltsorte nachzuprüfen, schrieb das Bezirksamt die jeweiligen Gemeinden an und bat um die Daten aus den Melderegistern. Obligatorisch war dabei die Frage, ob vor Ort etwas Nachteiliges über den Gesuchsteller bekannt geworden sei. Zusätzlich forderte man beim Reichsjustizamt in Berlin einen Auszug aus dem Strafregister an, der als Nachweis der Unbescholtenheit diente. Stellten sich im ersten Schritt keine Schwierigkeiten ein oder konnten vorhandene Unklarheiten durch den Antragsteller geklärt werden, sammelte das Bezirksamt die eingegangenen Informationen und Zeugnisse zur Vorlage beim Stadtrat. Der Stadtrat konnte bei Bedarf auch zusätzliche Nachforschungen bei der Armenfürsorge anstellen, um eine Entscheidungsgrundlage zu erhalten. Der Beschluss ging anschließend als Stellungnahme an das Bezirksamt zurück, wo er mit großem Gewicht bei der Entscheidung berücksichtigt wurde. 22 Auf der Grundlage der Stellungnahme des Stadtrats und der vom Bezirksamt selbst erhobenen Informationen wurde ein Bericht über den entsprechenden Einbürgerungsantrag erstellt. Der Bericht ging zusammen mit einer Entschei‐ dungsempfehlung an den Landeskommissär. Dieser hatte letztendlich über den Antrag zu befinden und übersandte bei einem positiven Votum die Einbür‐ gerungsurkunde an das Bezirksamt. Im Regelfall schloss sich der Landeskom‐ missär in seiner Entscheidung dem Vorschlag des Bezirksamts an. Mit der Neufassung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes 1913 er‐ gaben sich Änderungen im Einbürgerungsverfahren. Alle positiven Entschei‐ dungen über Einbürgerungsanträge wurden an das badische Innenministerium weitergeleitet. Dieses hatte die Einbürgerungen im Bundesrat zu vertreten, der einen einstimmigen Beschluss darüber zu fassen hatte. Erst mit dem Bundesratsbeschluss gab es grünes Licht für die Einbürgerung und die Urkunde konnte ausgehändigt werden. Eine weitere Veränderung trat mit Beginn des Ersten Weltkriegs ein. Die Antragsteller im entsprechenden Alter mussten Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 241 23 Verwaltungsgebührengesetz vom 4.6.1888, in: Gesetzes- und Verordnungsblatt für das Großherzogthum Baden Nr. 18, 7.6.1888, S. 255-265, hier S. 261; Verwaltungsgebühren‐ gesetz vom 30.11.1895, in: Gesetzes- und Verordnungsblatt für das Großherzogthum Baden Nr.-18, 13.12.1895, S.-399-410, hier S.-405. 24 Stadtrat Konstanz am 31.7.1915, StadtA Konstanz S II 5458a, Amadeo Mancassada. darüber Auskunft geben, ob sie bereit seien, sich als Kriegsfreiwillige dem deutschen Heer zur Verfügung zu stellen. Bei einer erfolgreichen Einbürgerung mussten in Baden pro Person in den Anfangsjahren 100, ab 1888 dann 25 bis 50 Mark, immerhin etwa ein bis zwei Wochenlöhne, als Gebühr entrichtet werden. Minderjährige Kinder waren kostenfrei. 23 Einbürgerungsmotive Autobiografische Überlieferungen zu den Motiven für einen Einbürgerungsan‐ trag liegen in dem untersuchten Material nicht vor. Insofern müssen Aussagen über die konkreten Motive zwangsläufig spekulativ bleiben. Zunächst machen langfristige und strukturelle Faktoren die Annahme plausibel, dass ein lang‐ jähriger Aufenthalt, Familiengründung mit badischen Staatsbürgerinnen bzw. die Geburt im Land dazu führte, dass ein Wechsel des Lebensmittelpunktes nach Italien nicht mehr in Betracht gezogen und dafür der Aufenthalt in Deutschland als dauerhaft angesehen wurde. Damit stieg auch die emotionale Verbundenheit mit dem Wohnort. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass auch in Konstanz geborenen Kindern oder Frauen mit ehemaliger badischer Staatsangehörigkeit, die diese durch Heirat mit einem Italiener verloren hatten, im Falle sozialer Bedürftigkeit die Ausweisung nach Italien drohte. Armut in Folge eines Arbeitsunfalls war hier eine ganz konkrete Gefahr. Zu den in Deutschland geborenen Antragstellern gehörten z. B. Franz und Karl Gottfried Coronini, Emil und Sekundo Johann Croato, Paul Karl Franchi, Eugen Zuliani oder Amadeo Mancassada. Über letzteren z. B. äußerte sich der Stadtrat zustimmend, weil es sich um einen Italiener, der in Deutschland geboren und Italien nie gesehen hat handelte. 24 Plastisch geschildert wird das drohende Ausweisungsrisiko von dem Eisenbahnarbeiter Johann de Pellegrini, der in einem Bittschreiben an den badischen Großherzog ausführte, selbst auch mit geringem Taglohne seine Familie anständig zu unterhalten, und daß er mit einer Badenserin verehelicht ist, die im Alter bei Arbeitsunfähigkeit oder im Unglücke durch Verlust der Arbeit mit ihm und dem Kinde als Ausländer in eine unbekannte 242 Oliver Trevisiol 25 Bitte des de Pellegrini von Falkade in Italien um Ertheilung des Badischen Bürgerrechtes und Entbindung von der Aufnahmetaxe, 6.8.1880, GLA Karlsruhe 236/ 10843, Antrag Johann de Pellegrini. 26 Vgl. für Preußen R E I N E C K E , Christine: Policing foreign men and women. Gendered patterns of expulsion and migration control in Germany, 1880-1914, in: Schrover, Marlou et. al. (Hg.): Illegal migration and gender in a global and historical perspective, Amsterdam 2008, S.-57-81. 27 KreisA Konstanz AA21, Johann De Pellegrini. 28 KreisA Konstanz AA21, Simeone Pierobon. 29 Bezirksamt Konstanz an Landeskommissär Konstanz, 24.8.1911, Nr. 59020.III, StaatsA Freiburg A 96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. Heimath verwiesen würde, was namentlich auch beim etwaigen Ableben des Bittstellers für sie um so härter wäre, als sie der Sprache ganz unkundig ist. 25 Dieses Ausweisungsrisiko verweist zudem auf einen deutlichen geschlechtsspe‐ zifischen Aspekt der Staatsangehörigkeit, der lange Zeit den Abstammungsas‐ pekt bei Frauen hintenanstellte. 26 Der eben genannte Johann de Pellegrini betonte auch die lange Aufenthalts‐ dauer von bereits 24 Jahren als Einbürgerungsgrund. 27 Ein Motiv, das auch der Schmied Simeone Pierobon aus der Provinz Belluno anführte, der seit 25 Jahren in Deutschland lebte und damit seinen Einbürgerungswunsch begründete. 28 Die geschilderten Fälle zeigen, wie sich hier allgemeine Zugehörigkeitsgefühle mit dem Versuch vermengten, potentielle Risiken wie das der Ausweisung zu vermeiden. Hinter einem Einbürgerungsantrag konnten aber auch ganz konkrete persön‐ liche Ziele stehen, die ohne Einbürgerung nicht verwirklicht werden konnten. Diese hatten z. B. mit Berufszulassung, Militärdienst, Heirat oder Scheidung zu tun. In Italien war etwa die Ehescheidung nicht möglich und so berichtete das Bezirksamt Konstanz ganz nüchtern an den Landeskommissär über das Gesuch des Maurers Giacomo Venturini: Gesuchsteller lebt hier mit einer Marie Ley aus Singen zusammen, die von ihm 3 Kinder hat. Mit dieser wünscht er sich zu verheiraten, und sucht deshalb um die deutsche Staatsangehörigkeit nach, da ihm als Italiener die Möglichkeit einer Ehescheidung nicht gegeben ist. […] Im Falle der Gewährung der Naturalisation, würde Venturini wie er in glaubwürdiger Weise versichert hat, die Ley nach Scheidung von seiner Frau heiraten. Dadurch würde das z. Zt. Bestehende anstössige Zusammenleben der beiden beseitigt und den Kindern die Stellung von ehelichen gegeben werden. 29 Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 243 30 Landeskommissär Konstanz an Stadtrat Konstanz, 27.7.1912, StaatsA Freiburg A96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. 31 Stadtrat Konstanz an Landeskommissär Konstanz, Nr. 10443, 1.8.1912, StaatsA Freiburg A96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsange‐ hörigkeit und Auswanderung. 32 Bezirksamt Konstanz an Stadtrat Konstanz, 17.12.1915, StadtA Konstanz S II 5458a, Giacomo Venturini. 33 T R E V I S I O L , Oliver: Die Einbürgerungspraxis im Amtsbezirk Konstanz 1871-1918, in: Hegau 59 (2002) S.-193-213. 34 C A G L I O T I , Daniela L: War and citizenship. Enemy aliens and national belonging from the French Revolution to the First World War, Cambridge 2021, S. 203. Zur Internierung in Konstanz siehe: M Ü L L E R , Ringo: „Feindliche Ausländer“ im Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges, Göttingen 2021, S.-185. Zunächst leuchtete dem Landeskommissär diese Begründung ein, weil dadurch die familiären Verhältnisse geordnet würden. 30 Der Konstanzer Stadtrat folgte dem aber nicht, weil Venturini hat sich über seine Verpflichtungen seiner Ehefrau gegenüber […] hinwegge‐ setzt, hat hier ein ehebrecherisches Verhältnis begonnen und fortgeführt; es besteht nicht die geringste Sicherheit dafür, daß er seiner jetzigen Geliebten, wenn sie seine Frau sein wird, die Treue wahren und seine Verpflichtungen gegen seine Familie erfüllen wird. 31 Über die Bedenken der Kommune wollte sich der Landeskommissär dann nicht hinwegsetzen und versagte die Einbürgerung. Mit einem zweiten An‐ trag erreichte Giacomo Venturini dann aber 1915 seine Einbürgerung doch noch. 32 Diese Beispiele waren keine Einzelfälle. Aus mehreren in den Akten überlieferten Einbürgerungsverfahren von Italienern in Konstanz geht hervor, dass diese Heirat oder Scheidung anstrebten oder ihre Ehefrauen oder Mütter ehemals eine deutsche Staatsangehörigkeit hatten. 33 Der Beginn des Ersten Weltkrieges stellte auch für die Einbürgerungspraxis eine Zäsur dar. Zunächst versuchten in ganz Europa im Ausland lebende Staatsangehörige in ihre Heimatländer zurückzukehren, um der Internierung als feindliche Ausländer zu entgehen. Das Deutsche Reich und Italien internierten allerdings wechselseitig ihre jeweiligen Staatsangehörigen nicht, was einen Ausnahmefall darstellte. 34 Auf der individuellen Ebene mussten Italiener im militärpflichtigen Alter entscheiden, ob sie einer Einberufung zur italienischen Armee Folge leisten wollten oder nicht und dann gegebenenfalls als fahnen‐ flüchtig galten, was im Falle einer Ausweisung ein ernstes Risiko gewesen wäre. Viele entschlossen sich in dieser Situation dazu, einen Antrag auf Einbürgerung zu stellen und sich als Kriegsfreiwillige zu melden. So gab etwa Paul Karl Franchi beim Bezirksamt zu Protokoll: Ich bin bereit im deutschen Herr zu 244 Oliver Trevisiol 35 Einbürgerungsantrag vom 19.7.1915, KreisA Konstanz AA21, Paul Karl Franchi. 36 Innenministerium an Bezirksamt Konstanz, 24.8.1915, KreisA Konstanz AA21, Emil Croato. 37 Stadtrat Konstanz am 2.6.1915, StadtA Konstanz S II 5458a, Karl Gottfried Coronini. 38 Innenministerium Baden an Bezirksamt Konstanz am 8.2.1917, KreisA Konstanz AA21, Eugen Zuliani. dienen und habe mich schon freiwillig gemeldet. 35 Dass dies nötig war, zeigt die typische Rückmeldung des Badischen Innenministeriums, das im Fall Emil Croato seine Zustimmung ankündigte, sofern er sich als Kriegsfreiwilliger bei einem Truppenteil meldet. 36 Einbürgerungsbedingungen in der Praxis In der Einbürgerungspraxis wurden die vier im Gesetz genannten Bedingungen geprüft und ausgelegt. Die geforderte volle Dispositionsfähigkeit erreichten italienische Staatsangehörige mit Vollendung des 21. Lebensjahres. Minderjäh‐ rige konnten keine eigenen Anträge stellen, sondern wurden gegebenenfalls mit dem Vater automatisch mit eingebürgert. Allerdings führte auch hier der Erste Weltkrieg zu abweichenden Auslegungen. Der 1895 in Konstanz geborene Gießer Karl Gottfried Coronini trat am 3. Mai 1915 als Kriegsfreiwilliger in die badische Armee ein und stellte anschließend seinen Einbürgerungsantrag. Die Frage der Volljährigkeit wurde im Verfahren nicht weiter thematisiert. Der Konstanzer Stadtrat äußerte keine Bedenken: Wir haben gegen die Einbür‐ gerung des Corini [sic! ] nichts einzuwenden. Nachdem derselbe in deutschem Militärdienst steht, erfüllt er schon eine Verpflichtung, die ihm nur als deutscher Staatsbürger obliegt. 37 Die Einbürgerung wurde dann ohne weitere Probleme im Juli 1915 vollzogen. Eine ähnliche Erfahrung machte der 1899 in Konstanz geborene Schlosserlehrling Eugen Zuliani. Die beteiligten Ämter befürworteten das 1916 gestellte Einbürgerungsgesuch, und das badische Innenministerium betonte, gegen die Einbürgerung des Eugen Zuliani bestehen keine Bedenken; die Aushändigung der Einbürgerungsurkunde soll gleichzeitig mit seiner Einstellung zum Heeresdienst erfolgen  38 , sodass die Einbürgerung des Minderjährigen am 21. Februar 1917 erfolgte. Die Meldung als Kriegsfreiwilliger war entscheidend und ließ die eigentlich geforderte Dispositionsfähigkeit nach Ermessen in den Hintergrund treten. Die ebenfalls geforderte Unbescholtenheit wurde im Verfahren dadurch überprüft, dass ein Auszug aus dem Strafregister in Berlin eingeholt wurde. Darüber hinaus stellten die Behörden Erkundigungen nach dem Leumund an. Der Leumund der Eheleute Bertacco ist gut, beide sind gerichtlich noch nicht Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 245 39 Bezirksamt Konstanz an Landeskommissär Konstanz, Nr. 88705.II, 4.12.1912, StaatsA Freiburg A96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. 40 KreisA Konstanz AA21, Leopold Stahly. 41 KreisA Konstanz AA21, Max Maddalena, Kreisarchiv Konstanz AA21, Sekundo Johann Croato. 42 Landeskommissär Konstanz an Bezirksamt Konstanz am 22.4.1912, KreisA Konstanz AA21, Lepold Stahly. 43 Bezirksamt Konstanz an Landeskommissär Konstanz, Nr. 77017.II., 3.11.1911, StaatsA Freiburg A96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. vorbestraft  39 , brachte das Bezirksamt über den in Wollmatingen wohnenden Gießer Josef Bertacco in Erfahrung. In den untersuchten Akten befinden sich keine Fälle, bei denen den Antragstellern Kapitalverbrechen, Eigentumsdelikte oder politische Aktivitäten vorgeworfen wurden. Solche Verurteilungen hätten vermutlich direkt zur Ausweisung geführt. In drei Fällen enthalten die Akten Hinweise auf Verurteilungen zu Geld- oder kurzen Gefängnisstrafen, z. B. wegen Körperverletzung. Bei dem in Turin geborenen Kunstmaler Leopold Stahly vermerkte das Bezirksamt 1912 zwar eine zweitägige Gefängnisstrafe, bescheinigte aber dennoch, dass nichts Nachteiliges gegen ihn vorliegt. 40 Auch bei den Kriegsfreiwilligen Max Maddalena und Sekundo Johann Croato schätzte das Bezirksamt die vorliegenden Strafen von sechs bzw. zwei Wochen nicht so ein, dass die Unbescholtenheit in Frage gestellt wurde. 41 Solche Verurteilungen führten also nicht grundsätzlich zu einer Ablehnung bzw. wurden durch den freiwilligen Kriegsdienst aufgewogen. Schon wichtiger wurde die Frage des gesicherten Unterkommens gesehen. Stadtrat und Bezirksamt achteten genau auf die Wohnverhältnisse und holten entsprechende Erkundigungen ein. Insbesondere häufiger Wohnsitzwechsel oder gar Wohnsitzlosigkeit ließ die Behörden hellhörig werden und dies als Form von unerwünschtem Vagabundentum betrachten. Bei dem oben erwähnten Kunstmaler Leopold Stahly bemängelte das Bezirksamt beim Landeskommissär etwa die Doppelnutzung des Ateliers als Arbeits- und Wohnstätte, weswegen der Landeskommissär das Gesuch auch ablehnte. 42 Bei dem Ziegeleiarbeiter Ferdinand Fortis stellte das Bezirksamt kritisch fest, dass dessen Haus in Wollmatingen noch stark mit Schulden belastet sei. 43 Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die Wohnverhältnisse für die Zukunft eher unsicher seien. Schwierig wurde es auch für Antragsteller, die berufsbedingt mobil waren. Das traf z. B. für die zahlreichen im Bau beschäftigten Italiener zu. Im Einbür‐ gerungsverfahren des Johann Zandonella störte sich der Landeskommissär 1903 246 Oliver Trevisiol 44 Landeskommissär Konstanz an Bezirksamt Konstanz am 26.2.1903, KreisA Konstanz AA21, Johann Baptist Zandonella. 45 Landeskommissär Konstanz an Bezirksamt Konstanz am 4.4.1903, KreisA Konstanz AA21, Johann Baptist Zandonella. 46 C A H N , Wilhelm: Das Reichsgesetz über die Erwerbung und den Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 erläutert mit Benutzung amtlicher Quellen und unter vergleichender Berücksichtigung der ausländischen Gesetzgebung, Berlin 3 1896 [1888], S.-66. 47 Landeskommissär Konstanz an Bezirksamt Konstanz, 9.11.1911, StaatsA Freiburg A96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. am stets wechselnden Aufenthalt des Gesuchstellers  44 , weil Zandonella vor 1887 über einen Wandergewerbeschein verfügt hatte. Der Konstanzer Stadtrat und das Bezirksamt sahen in diesem Fall aber darin kein Problem und sprachen sich für die Einbürgerung aus. Letztendlich konnten sie den Landeskommissär überzeugen und Johann Zandonella wurde in Konstanz eingebürgert. 45 Als wichtigster Punkt in der Einbürgerungspraxis stellte sich die Frage nach einem ausreichenden Einkommen der Antragsteller dar. Insbesondere die Kom‐ munen, aber auch die Bezirksämter, betrachteten Antragsteller als mögliche Fälle für die Armenfürsorge und wollten zuallererst verhindern, dass ihnen das Mittel der Ausweisung genommen wird, sollte die Familie des Antragstellers sich nicht mehr selbst ernähren können. Vermögen und Einkommen, aber auch Gesundheitszustand und Sicherheit des Arbeitsplatzes wurde deshalb besonders penibel geprüft. Hierin waren die Ämter an keine Vorgaben gebunden, sondern hatten weitgehend freies Ermessen. Cahns Kommentar zum Staatsangehörig‐ keitsrecht betonte in diesem Sinne ausdrücklich, dass in der Einkommensfrage strengere Anforderungen als für Reichsbürger angelegt werden sollten. 46 Was das typischerweise in der Praxis bedeutete, zeigt der Antrag von Ferdinand Fortis. Vom Landeskommissär erging an das Bezirksamt die Aufforderung: Der Gesuchsteller ist noch zu einer Erklärung aufzufordern, weshalb er erst jetzt, in seinem vorgerückten Alter um Aufnahme in den badischen Staatsverband nachsucht; anscheinend war für das Gesuch der Umstand entscheidend, daß er infolge des erlittenen Unfalls keinen regelmäßigen und ausreichenden Verdienst mehr hat und er hofft, im Falle der Naturalisation von der deutschen Armenpflege Gebrauch machen zu können. 47 Das war beileibe kein Einzelfall. Im Einbürgerungsverfahren von Josef Bertacco stellte das Bezirksamt fest, dass die Eheleute Bertacco mit 1860 Mark zur Ein‐ kommenssteuer veranlagt seien, allerdings habe der Gemeinderat Wollmatingen eingewandt, der Gesuchsteller sei kränklich und lungenleidend, es wäre deshalb mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dass die Familie späterhin der öffentlichen Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 247 48 Bezirksamt Konstanz an Landeskommissär Konstanz, Nr. 88705.II, 4.12.1912, StaatsA Freiburg A 96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. 49 Bezirksamt Konstanz an Landeskommissär Konstanz, 24.8.1911, Nr. 59020.III, StaatsA Freiburg A96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. 50 KreisA Konstanz AA21, Joseph Serpelloni. 51 KreisA Konstanz AA21, Santo Coronini. 52 KreisA Konstanz AA21, Eugen Zuliani. 53 T R E V I S I O L (wie Anm. 2) S.-127. Unterstützung anheim falle. 48 Welches genaue Einkommen als ausreichend angesehen wurde, war höchst individuell, und die Behörden waren sich darin auch nicht immer einig. Im schon erwähnten Einbürgerungsverfahren des Giacomo Venturini schätzte das Bezirksamt 1911 den Tagesverdienst von 5 Mark als ausreichend ein. 49 Der Maurer Joseph Serpelloni kam 1899 auf einen Tageslohn von 3 bis 3,80 Mark und wurde ohne Bedenken eingebürgert. 50 Santo Coronini erzielte mit seiner Familie ein Einkommen von 120 bis 150 Mark im Monat, was der Stadtrat 1908 als zu geringes Einkommen ansah und die Zustimmung verweigerte. 51 Auch im Hinblick auf die Einkommensfrage stellte der Erste Weltkrieg eine Zäsur dar. Zum einen waren die Antragssteller jetzt überwiegend junge, ledige, oft in Deutschland geborene Männer und keine Fa‐ milienväter. Der angegebene Verdienst musste also nicht für den Unterhalt einer Familie reichen. Dass Eugen Zuliani als Lehrling 50 Mark im Monat verdiente, wurde nicht weiter problematisiert. 52 Zum anderen traten die Antragsteller als Kriegsfreiwillige ein und das militärische Interesse daran überwog durchgehend die Einkommensfrage. Aufenthaltsdauer Die Staatsangehörigkeitsgesetze von 1870 und 1913 enthalten keine Bestim‐ mungen über eine eventuelle Mindestaufenthaltsdauer im Deutschen Reich. Das ist insofern interessant, als dass bis heute dieses Thema bei allen politischen Diskussionen ein wichtiger Streitpunkt ist. Eine Fristenregelung wurde aber erst im Jahr 1921 erstmalig eingeführt. 53 In der Konstanzer Einbürgerungspraxis bis 1918 spielte diese Frage daher kaum ein Rolle, und die Aufenthaltsdauer ist noch nicht einmal in jedem Verfahren aktenkundig geworden. Sofern fest‐ stellbar, waren die Antragsteller in Konstanz seit sieben bis über 20 Jahre lang in Deutschland wohnhaft. Irritiert waren die Behörden eher davon, warum ein Antragsteller erst jetzt, also nach langem Aufenthalt, eine Einbürgerung 248 Oliver Trevisiol 54 Landeskommissär Konstanz an Bezirksamt Konstanz, 9.11.1911, StaatsA Freiburg A 96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung, Ferdinand Fortis. 55 Ausführlich in: Trevisiol (wie Anm. 32) S.-206-209. 56 Landeskommissär an Bezirksamt Konstanz, 8.7.1908, KreisA Konstanz, AA21, Camillo Chiesa. 57 Venedey & Fuchs an Landeskommissär Konstanz, 28.7.1908, StaatsA Freiburg A 96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. 58 Innenministerium an Landeskommissär Konstanz, 13.8.1908, StaatsA Freiburg A 96/ 1 2077: Großh. Bad. Landeskommissär in Konstanz, Generalia, XXV. Staatsangehörigkeit und Auswanderung. anstrebte. 54 Besonders eindrücklich ist diesbezüglich der Einbürgerungsantrag des Mailänder Buchhalters Camillo Chiesa, der 1908 extra nach Konstanz reiste, um dort durch eine Einbürgerung die in Italien nicht zulässige Ehescheidung zu erreichen. 55 Der Konstanzer Stadtrat reagierte zunächst verunsichert und erkundigte sich bei anderen badischen Städten, wie dort mit solchen Fällen kurzer Aufenthaltsdauer umgegangen wird. Die Rückmeldungen waren aber höchst uneinheitlich, sodass der Stadtrat und auch das Bezirksamt sich an den im Gesetz genannten Bedingungen orientierten und die Einbürgerung befürwor‐ teten, weil sie keinerlei Belastungen für die städtische Armenfürsorge sahen. Der Landeskommissär sah dies jedoch anders und verwehrte die Einbürgerung mit Verweis auf die kurze Aufenthaltsdauer. 56 Die von Chiesa beauftragte Kon‐ stanzer Rechtsanwaltskanzlei Venedey & Fuchs legte darauf Beschwerde beim Innenministerium in Karlsruhe ein und argumentierte mit dem Gesetz, die Dauer des Aufenthaltes ist nicht entscheidend. 57 Dort wurde die Beschwerde jedoch mit der Begründung abgewiesen, dass die Entscheidung völlig im Ermessen des Landeskommissärs liege. 58 Der Fall zeigt letztlich, dass die Ermessensspielräume äußerst groß waren und jeweils sehr unterschiedlich interpretiert worden sind. Von der Grundtendenz achteten vor allem die Städte vordringlich darauf, dass die in ihrer Verantwortung liegende Armenfürsorge nicht belastet wurde. Die Frage der Aufenthaltsdauer, aber auch etwa die der Sprachkenntnisse galt in Konstanz als nachrangig. Fragen zu Abstammung, Nation oder Kultur waren in der Einbürgerungspraxis völlig irrelevant und erfuhren in den untersuchten Fällen keine Thematisierung. Das war übrigens in den außerpreußischen Bun‐ desstaaten des Kaiserreiches eine generelle Tendenz. Nicht umsonst spottete der bayerische Jurist Max von Seydel voller Unverständnis über die völkischen Gesetzesinitiativen des Alldeutschen Verbandes: Die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz 249 59 S E Y D E L , Max von: Die Abänderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, in: Blätter für administrative Praxis 49,6 (1899) S.-177-187, hier S.-184. Soll ferner das Ministerium gegebenenfalls eine ethnographische und linguistische Prüfung (denn die Erfordernisse sind kumulativ) anstellen müssen? Unglückliches Mi‐ nisterium!   59 Fazit Ein kurzer Überblick über die Einbürgerung von Arbeitsmigranten aus dem Königreich Italien in Konstanz vor 1918 zeigt zunächst einmal, dass es sie gab und sie auch nicht für ungewöhnlich befunden wurde. Bereits im 19. Jahrhun‐ dert war auch in Konstanz internationale Arbeitsmigration nicht nur vorüber‐ gehend, sondern mündete in dauerhafte Einwanderung inklusive binationaler Familiengründungen, Integration und auch Einbürgerung. Schon der Titel des Beitrags betont, dass die Menschen, die sich einbürgern lassen wollten, überwie‐ gend aus der Arbeiterschaft stammten. Ein nennenswerter Teil von ihnen war mit einer Frau verheiratet, die ihre ehemalige Staatsangehörigkeit durch Heirat verloren hatte, einige waren in der Region geboren und aufgewachsen. Der Einbürgerungswunsch war einerseits eine Folge davon, dass diese Menschen ihre zukünftige Lebensperspektive in Konstanz sahen. Auf der materiellen Seite schwebte gleichzeitig die Drohung der Ausweisung über der gesamten Familie, sollte infolge von Arbeitsunfällen, Krankheit oder Arbeitslosigkeit so‐ ziale Bedürftigkeit entstehen. Beides wurde durch den Ersten Weltkrieg enorm verstärkt. Der Krieg setzte zudem junge Männer unter Entscheidungsdruck, wo sie den Kriegsdienst antreten wollten bzw. mussten. Der Blick auf das Verwaltungshandeln zeigt, dass insbesondere die lokalen Behörden die Einbürgerung als eine hauptsächlich sozialpolitische Entschei‐ dung wahrnahmen. Stadt und Bezirksamt wollten in erster Linie vermeiden, dass die kommunale Armenfürsorge belastet wird. Dahingehend legten sie die ge‐ setzlichen Rahmenbedingungen aus. Kriterien wie Geburt im Land, Aufenthalts‐ dauer oder wie von der preußischen Polenpolitik abgeleitete nationalistische Erwägungen spielten im badischen Konstanz bei den Einbürgerungsanträgen der Italiener kaum eine Rolle. Mit dem Ersten Weltkrieg trat die Frage der Armenfürsorge in den Hinter‐ grund und die Haltung zum Militärdienst wurde entscheidend. Der Eintritt als Kriegsfreiwilliger wurde erwartet und die Einbürgerung dann unabhängig vom jeweiligen Verdienst vorgenommen. 250 Oliver Trevisiol Vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart 1 StadtA Konstanz, S II 7788. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. B U R C H A R D T , Lothar/ S C H O T T , Dieter/ T R A P P , Werner: Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz 5) Konstanz 1990, S.-11. Solidarität trotz Kriegsbeginn Aufenthalt und Durchreise von Italienerinnen und Italienern in Konstanz im August 1914 Thomas Weidle Sofort mit der Mobilmachung begann die Rückwanderung grosser Massen von italienischen Arbeitern, Frauen und Kindern aus de[m] deutschen Reichsgebiet nach ihrer Heimat. […] Ein Teil des Stromes flutete über Basel, ein anderer über Konstanz mit Bregenz als nächstem Ziel, ein dritter über Lindau nach Bregenz. Fast alle Züge, die in Konstanz einliefen, führten grössere oder kleinere Abteilungen Italiener mit sich. Dabei war es interessant zu beobachten, wie si [sic! ] oft während der Einfahrt zu den Wagen heraus die Hüte schwenkten und evviva riefen. Manche dieser einfachen Arbeiter hatten offensichtlich ein Empfinden dafür, dass sie eigentlich Deutschlands und Oesterreichs Verbündete sein sollten  1 , schrieb der damalige Konstanzer Stadtarchivar Anton Maurer zu Beginn seines Berichts Der Italienerdurchzug in Konstanz. 2. bis 15. August 1914, der in Form einer Akte erhalten ist. Maurer berichtet weiterhin davon, dass sich Anfang August 1914 bis zu 6000 durchreisende Italienerinnen und Italiener gleichzeitig in der Stadt Konstanz befanden. 2 In Anbetracht der Tatsache, dass die Stadt Konstanz im Juli 1914 knapp 28.000 Einwohner besaß, 3 erscheint die Anzahl an durchreisenden Italienerinnen und Italienern beachtlich. Doch wie genau kam es dazu? Warum war eine Weiterreise nach Italien anfangs nicht möglich und wie gelang es den Italienerinnen und Italienern schlussendlich doch, in ihre Heimat weiterzureisen? Wie wurden diese Menschen in der Stadt Konstanz beherbergt und mit Lebensmitteln versorgt? Genau diese Fragen sollen im folgenden Sammelbandaufsatz beantwortet werden. Zunächst soll in den his‐ torischen Kontext zu Beginn des Ersten Weltkriegs in der Stadt Konstanz unter 4 Vgl. ebd., S. 11 f. Moser bezeichnet die Stadt Konstanz zu jener Zeit sogar als „heimliche Hauptstadt des Thurgaus“ (M O S E R , Arnulf: Konstanz und die Grenzlage im 20.-Jahrhundert, in: Rosgartenmuseum Konstanz (Hg.): Mager und knapp. Alltagswelten in der Grenzstadt Konstanz 1920-1960, Konstanz 2002, S.-49-59, hier S.-49). Für weitere Informationen zur Stadt Konstanz und insbesondere zum gesellschaftlichen Leben kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs sei folgender Sammelbandaufsatz empfohlen: T R A P P , Werner: Konstanz im Juli 1914 - die lokale Gesellschaft auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg, in: Kelter, Jochen (Hg.): Konstanzer Trichter. Lesebuch einer Region, Konstanz 1983, S. 74-87. Trapp verfolgt das Ziel, zu verstehen, welche mentalen Dispositionen bei der Konstanzer Stadtbevölkerung vorlagen. Er betreibt eine politische Kulturgeschichte und vermittelt gekonnt zwischen National- und Lokalgeschichte. Sein Erkenntnisinteresse löst der Autor unter Zuhilfenahme der Lokalzeitungen ein. besonderer Berücksichtigung politischer und infrastruktureller Zäsuren eingeführt werden, um zu verstehen, in welcher Lage sich die Stadt Konstanz damals befand. Dabei soll auch das Verhältnis von Konstanz zur Schweiz betrachtet werden, denn gerade die Grenzlage der Stadt erwies sich als problematisch. Anschließend soll der Hauptteil der vorliegenden Untersuchung folgen: Die Durchreise von Italienerinnen und Italienern und deren Aufenthalt in der Stadt Konstanz im August 1914 soll in einem ersten Schritt unter besonderer Berücksichtigung der zu Beginn angeführten Quelle beschrieben und mit der vorhandenen Forschungsliteratur kontextualisiert werden. In einem zweiten Schritt sollen dann - das Oberthema des vorliegenden Sammelbands aufgreifend - die deutsch-italienischen Beziehungen auf lokaler Ebene, die sich durch das genannte Ereignis manifestierten, herausgearbeitet werden. Politische Abschottung trotz infrastruktureller Vernetzung - Die Stadt Konstanz zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 arbeiteten etwa 40 Prozent der erwerbstätigen Konstanzerinnen und Kon‐ stanzer in der Industrie oder dem Handwerk, wobei Textilbetriebe den Großteil dieser Personengruppe beschäftigten. Lediglich etwa 2000 Personen waren in der Landwirtschaft tätig, was deutlich unter dem Reichsdurchschnitt lag. Dabei waren diese Personen häufig Kleinbauern, sodass sich die Stadt Konstanz nicht selbst versorgen konnte. Viele Nahrungsmittel mussten daher aus dem Hinterland bezogen werden. Aufgrund der geographischen Lage stammten diese Waren häufig aus der Schweiz. So wurden z. B. Gas, Strom und Lebensmittel vorrangig aus der Schweiz bezogen, was die Bedeutsamkeit der Verflechtungen zwischen der Stadt und der Schweiz deutlich macht. Infrastrukturell bestanden intensive Verbindungen zur Schweiz, es lag somit ein Abhängigkeitsverhältnis zum Ausland vor. 4 254 Thomas Weidle 5 Vgl. B U R C H A R D T / S C H O T T / T R A P P (wie Anm. 3), S. 12 f. Lothar Burchardt vergleicht die Ereignisse in der Stadt Konstanz zu Beginn des Ersten Weltkriegs mit der gesamtdeut‐ schen Entwicklung und identifiziert dabei drei interessante Punkte: 1. Die Begeisterung bei der Aufnahme der Kriegserklärung war sowohl in den Metropolen als auch in Konstanz vorhanden und sichtbar. Andersdenkende hielten ihre Meinung zurück. Wei‐ terhin wurde die Kriegsbegeisterung deutlich bei zahlreichen patriotischen Reden, der freiwilligen Unterstützung des Militärs und der anstandslosen Bewilligung finanzieller Mittel in Vorbereitung des Krieges. 2. Der in Berlin ausgerufene Burgfrieden wurde auch in Konstanz akzeptiert. 3. Trotz vaterländischer Begeisterung kam es auch in Konstanz zu sozioökonomischen Problemen. Kleinere und mittlere Betriebe gerieten durch die Stornierung von Aufträgen und die Einberufung von Personal in Schwierigkeiten. Vgl. B U R C H A R D T , Lothar: Konstanz im Ersten Weltkrieg, in: Schott, Dieter/ Trapp, Werner (Hg.): Seegründe. Beiträge zur Geschichte des Bodenseeraumes, Weingarten 1984, S. 210-228, S. 210f. Burchardt liefert mit seinem Aufsatz eine exzellente sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Stadt Konstanz im Ersten Weltkrieg. The‐ senorientiert führt er in Probleme, die der Krieg für die Konstanzer Stadtbevölkerung mit sich brachte, ein, wenngleich er die charakteristischen Probleme, die mit der Grenzlage der Stadt einhergingen, meines Erachtens nicht deutlich genug herausstellt. Allgemein zu Auswirkungen der Kriegswirtschaft auf die deutsche Zivilbevölkerung im Ersten und Zweiten Weltkrieg siehe B U R C H A R D T , Lothar: Die Auswirkungen der Kriegswirtschaft auf die deutsche Zivilbevölkerung im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Klöckler, Jürgen (Hg.): Konstanz in beiden Weltkriegen. Festschrift für Lothar Burchardt (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz 3) Konstanz 2004, S. 9-42. Darin überzeugt Burchardt v. a. durch die vergleichende Perspektive auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie die gekonnte Einbindung des ereignisgeschichtlichen Kontextes in seine Interpretation. Hervorzuheben sind die Verwendung und sein geschichtswissenschaftlicher Umgang mit zahlreichen Statistiken. Am 31. Juli 1914 versetzte eine kaiserliche Verordnung das Reichsgebiet in den Kriegszustand. Neben vaterländischer Begeisterung, die sich u. a. im Singen pa‐ triotischer Lieder auf der Marktstätte manifestierte, bedeutete der Eintritt in den Kriegszustand auch, dass Grenzregionen durch einen militärischen Sperrgürtel vom Landesinneren abgeschottet wurden, um eine Überwachung des Grenz‐ verkehrs gewährleisten zu können. Telefonate wurden fortan abgehört, eine strikte Briefzensur vorgenommen, Verkehrsverbindungen kontrolliert. Durch die genannten Maßnahmen wurde die Stadt Konstanz infrastrukturell von ihrem deutschen Hinterland getrennt. Die Konstanzer Stadtbevölkerung lebte für einige Monate isoliert. Oberbürgermeister Dietrich konnte die Situation erst nach vielen Protesten ein wenig abmildern. 5 Solidarität trotz Kriegsbeginn 255 6 Konstanzer Bürgerinnen und Bürger mit Landbesitz im Tägermoos hatten z. B. erhebliche Probleme, im August 1914 Zugang zu den landwirtschaftlich genutzten Grundstücken zu erhalten. Durchlassscheine waren erforderlich. Des Weiteren war es eine Herausforderung, Grenzkontrollen überhaupt zu organisieren, denn neben einem deutlich erhöhten Verwaltungsaufwand, z. B. für die Ausstellung von Erlaubnis‐ scheinen, entstand ein deutlich erhöhter Personalbedarf, um alle Grenzwachen besetzen zu können. Vgl. StadtA Konstanz, S II 5043. Daran wird deutlich, dass militärische Maßnahmen konkrete zivilgesellschaftliche Auswirkungen besaßen. 7 Im August 1916 bekundeten Arbeiter ihre Bereitschaft, die Arbeit niederzulegen, wenn es keine Erleichterungen gäbe. Daraufhin wurde ein erleichtertes Verfahren für diese Personengruppe eingeführt. Vgl. ebd. Abb. 1: Der Konstanzer Grenzübergang am Emmishofer Tor in einer Vorkriegsaufnahme. StadtA Konstanz, Z1.pk.15-0323. Einschneidender allerdings war das Schließen der Grenze zur Schweiz: Nachdem Ein- und Ausreise viele Jahrzehnte lang ohne größere Formalitäten möglich waren, waren fortan amtliche Passierscheine notwendig, die lediglich wenige Personen erhielten. 6 Auch für Firmen entstanden dadurch Probleme. Die Konstanzer Firma Papierwarenfabrik Müller beispielsweise, die neben ihrem Standort in Konstanz ein Grundstück mit Fabrikbau in Kreuzlingen besaß, sah die Mobilität ihrer in Konstanz wohnenden und in Kreuzlingen arbeitenden Mitarbeiter durch zeitintensive Grenzkontrollen stark eingeschränkt. 7 Bei der Milchversorgung kam es etwa zu Lieferschwierigkeiten; der Zoll war nur 256 Thomas Weidle 8 Vgl. B U R C H A R D T / S C H O T T / T R A P P (wie Anm. 3) S.-12 f. und StadtA Konstanz, S II 5043. Zum Grenzverkehr mit der Schweiz im August und den nachfolgenden Monaten 1914 siehe auch StadtA Konstanz, S II 7652. Diese Akte enthält insbesondere Verordnungen, wie und wann der Grenzverkehr mit der Schweiz gestattet war. Ab dem 17. September 1914 war z. B. durch Erlass des Großherzoglich Badischen Ministeriums des Innern das Verbringen von Briefsachen, Zeitungen und sonstigen Sendungen durch Privatpersonen über die Grenze (ebd.) verboten. Der Grenzverkehr wurde bis 1918 kontinuierlich Anpassungen unterzogen. Es kann festgestellt werden, dass sich die Stadt Konstanz beharrlich darum bemühte, Erleichterungen zu erwirken. So war die Darstellung des Thurgaus als Konstanzer Hinterland (ebd.) und damit Lieferant von Lebensmitteln etc. ein häufiges Argument. Auf die wirtschaftliche Notwendigkeit des Thurgaus für Konstanz wurde mehrfach eindringlich hingewiesen. Die geographische Lage der Stadt wurde von Seiten des Gesetzgebers nur unzureichend berücksichtigt. Vgl. ebd. 9 Vgl. B U R C H A R D T / S C H O T T / T R A P P (wie Anm. 3) S. 42 ff. Zur Geschichte der deutschschweizerischen Grenze um Konstanz siehe M O S E R , Arnulf: Der Zaun im Kopf. Zur Geschichte der deutsch-schweizerischen Grenze um Konstanz, Konstanz 2011. Moser betrachtet seinen Untersuchungsgegenstand in einer zeitlich übergreifenden Perspek‐ tive. So beginnt er Ende des 18. Jahrhunderts und endet Anfang des 21. Jahrhunderts. Moser überzeugt durch eine konzise schlaglichtartige Vorgehensweise, die gekonnt an den politischen Kontext geknüpft wird. Zur Geschichte der Grenze im Zweiten Weltkrieg siehe ausführlicher M O S E R , Arnulf: Die Grenze im Krieg. Austauschaktionen für Kriegsgefangene und Internierte am Bodensee 1944/ 45 (Schriftenreihe des Arbeits‐ kreises für Regionalgeschichte Konstanz e. V. 5) Konstanz 1985. In diesem Werk nimmt Moser v. a. eine sozialgeschichtliche Perspektive ein, indem er seinen Fokus auf Austauschaktionen legt. Der Quellenreichtum seiner Darstellung ist hervorzuheben. Zur Geschichte der Grenze im Ersten Weltkrieg siehe detailliert T R A P P , Werner: Kleiner Grenzverkehr mit großen Hindernissen - Deutsche und Schweizer in der Region Konstanz zwischen Erstem Weltkrieg und Nachkriegskrise, in: Hegau. Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Rhein, Donau und Bodensee 58 (2001) S.-89-126. eingeschränkt geöffnet, wodurch die Einfuhr von Lebensmitteln erschwert war. Die Durchsuchungen an der Grenze stießen weiterhin z.T. auf Unverständnis, weil sie als zeitraubend empfunden wurden. 8 Die Post wurde anfangs von der zentralen Prüfstelle in Karlsruhe kontrolliert. Die deutsch-schweizerischen Beziehungen waren vielen Problemen unterworfen, da die z.T. gemeinsam genutzte Infrastruktur eine gemeinsame Problemlösungskompetenz notwendig machte, die in Kriegszeiten schwierig war. 9 Solidarität trotz Kriegsbeginn 257 10 Vgl. B U R C H A R D T / S C H O T T / T R A P P (wie Anm. 3) S . - 14. Abb. 2: Die mit Drahthindernissen gesperrte Grenze der Stadt Konstanz zur Schweiz. Es handelt sich vermutlich um den Grenzübergang Kreuzlinger Tor. Eine exakte Datierung ist nicht möglich, wenngleich der Zeitpunkt der Aufnahme am ehesten während des Ersten Weltkriegs anzusetzen ist. StadtA Konstanz, Z1.fi.1156.1; Fotograf: Joseph Fischer. Des Weiteren trafen unmittelbar nach Kriegsbeginn zahlreiche Reservisten in Konstanz ein, woraufhin die Konstanzer Garnison zeitweise auf das Fünffache ihres Friedensstandes wuchs. Die Stadt Konstanz bereitete sich auf diesen Fall zwar vor, ihre Kapazitäten erwiesen sich jedoch als unzureichend. Nachdem die für die Reservisten vorbereiteten Sammelunterkünfte nicht mehr ausreichten, wurden Bürgerquartiere umgenutzt. 10 Mit Kriegsbeginn gerieten immer mehr Konstanzerinnen und Konstanzer in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Es mussten z. B. viele Handwerksbetriebe und z.T. auch kleinere Industriebetriebe schließen, weil ihre Mitarbeiter kriegs‐ bedingt nicht zur Verfügung standen und nicht ersetzt werden konnten. Hinzu kam, dass viele Kunden ihre Aufträge stornierten, denn sie wurden entweder selbst eingezogen oder wollten in Kriegszeiten zur Sicherheit sparsam sein. Folglich stieg die Arbeitslosigkeit an. Viele Kunden bezahlten ihre Rechnungen nicht, da sie entweder finanziell dazu nicht mehr in der Lage waren oder ihre Einberufung erwarteten. In der Folge kam es v. a. beim Mittelstand zu 258 Thomas Weidle 11 Vgl. ebd., S.-14 f. 12 Vgl. ebd., S.-15. finanziellen Problemen, wobei ein Schuldenmoratorium, das sicherlich hilfreich gewesen wäre, nicht zustande kam. 11 Gleichzeitig kam es zu einem Ansturm auf die Edelmetallbestände der Konstanzer Banken, weil viele Bürgerinnen und Bürger die Entwertung des Papiergelds befürchteten, was sich schlussendlich auch bewahrheitete. Wäh‐ rend des Krieges verlor die Papiermark ca. 15 Prozent ihres Wertes pro Jahr. Der Andrang auf die Edelmetallbestände nahm allmählich ab, wohingegen kriegsbedingte Hortungskäufe zunahmen. Der örtliche Handel nutzte dies dazu, die Preise anzuheben, wodurch in Konstanz bereits im August 1914 eine Lebensmittelteuerung einsetzte, die bis zum Kriegsende anhielt. 12 Diese Skizze verdeutlicht, dass der Beginn des Ersten Weltkriegs eine Zäsur für die Stadt Konstanz darstellte. Diese Zäsur war allerdings weniger eine politische, sondern viel mehr eine wirtschaftliche und infrastrukturelle Zäsur gesamtgesellschaftlichen Ausmaßes. Die Konstanzer Stadtgesellschaft befand sich somit in einer Ausnahmesituation, die Bewährtes auf den Prüfstand und das Zusammenleben in der Grenzregion vor Probleme stellte. Geschlossene Grenzen und offene Herzen - Aufenthalt und Durchreise von Italienerinnen und Italienern im August 1914 Nachdem der historische Kontext umrissen wurde, soll nun die Durchreise von Italienerinnen und Italienern und deren Aufenthalt in der Stadt Konstanz im August 1914 quellennah und unter Verwendung der vorhandenen Forschungs‐ literatur beschrieben werden. Abschließend sollen die deutsch-italienischen Beziehungen, die am gewählten Fallbeispiel auf lokaler Ebene deutlich werden, charakterisiert werden, um eine Einordnung in das Oberthema des vorhandenen Sammelbandes zu ermöglichen. Die zentrale Quelle, um das genannte Ereignis geschichtswissenschaftlich untersuchen zu können, ist die Akte mit der Signatur S II 7788, die im Stadt‐ archiv Konstanz verwahrt wird. Hierin schildert der damalige Konstanzer Stadtarchivar Anton Maurer die betreffenden Entwicklungen, die sich in der ersten Augusthälfte des Jahres 1914 in der Stadt Konstanz vollzogen. Maurers Bericht scheint objektiv, wenngleich persönliche Kommentare hin und wieder auch hervorscheinen. Dennoch ist der Text eine Darstellung in Berichtform und kein Kommentar. Die Seriosität des Verfassers trägt zur Authentizität Solidarität trotz Kriegsbeginn 259 13 Vgl. StadtA Konstanz, S II 7788. 14 Vgl. ebd. der Quelle bei. Als Stadtarchivar besaß Maurer die Kompetenz, Geschehnisse wahrheitsgemäß zu schildern. Da es sich um eine Traditionsquelle handelt, kann davon ausgegangen werden, dass bereits damals die Besonderheit und Außergewöhnlichkeit des Ereignisses erkannt wurde. Zu Beginn schildert Maurer, dass unmittelbar durch die Mobilmachung eine große Rückwanderungsbewegung von Italienerinnen und Italienern aus verschiedenen Teilen Deutschlands in Richtung Italien in Gang gesetzt wurde. Die Menschenmassen nahmen drei Routen: Die erste Route führte via Basel, die zweite Route via Konstanz und Bregenz, die dritte Route via Lindau und Bregenz. Vom 2. bis zum 7. August 1914 kam es zum größten Andrang, da die Weiterreise durch die Schweiz erst am 6. August geöffnet wurde, wobei mehr Menschen nachkamen als weiterziehen konnten. So sammelten sich Tausende z.T. mittellose Personen in Konstanz, weshalb die Stadt rasch erkannte, dass die Beschaffung von Unterkünften und die Versorgung mit Nahrungsmitteln humanitär notwendig war. Der Erste Weltkrieg und die damit einhergehende Mobilmachung müssen demnach eine gewaltige Belastung für die Stadt gewesen sein. 13 Nachdem am Sonntag, den 2. August 1914, Schiffe mit Italienerinnen und Italienern nach Bregenz weitergeschickt werden konnten, kam es in der Nacht auf den 3. August zu Problemen: Ein mit über 500 Personen beladenes Schiff kehrte wieder nach Konstanz zurück, weil die Bregenzer Behörden die Ankunft ablehnten. Maurer erklärt das damit, dass Bregenz zu diesem Zeitpunkt bereits mit Italienern überfüllt war. In den darauffolgenden Tagen genehmigte die Stadt Bregenz die Ankunft der weiterreisenden Italienerinnen und Italiener, weshalb sich mehrere Schiffe von Konstanz aus auf den Weg nach Bregenz machten. Am 5. August kam es dann allerdings zu einer zweiten Stockung, sodass der Transport eingestellt werden musste, infolgedessen es wiederum zu einer Anhäufung in Konstanz kam. Während bisher die Wartehalle, die Turnhalle der Stephansschule und die Säle des Hussenkellers als Unterkünfte ausreichten, mussten nun weitere Räume gefunden werden. Daher öffnete der Stadtrat den städtischen Werkhof auf dem Döbeleplatz, die Mädchenvolksschule und den Kindergarten. Weiterhin beantragte der Rat, dass Säle weiterer Gebäude zur Verfügung gestellt werden sollten. 14 260 Thomas Weidle 15 Ebd. 16 Vgl. ebd. Abb. 3: Durchreisende Italienerinnen und Italiener in der provisorischen Unterkunft in der Turnhalle der Stephansschule in Konstanz im August 1914. StadtA Konstanz, Z1.fi.79.4; Fotograf: Joseph Fischer. Am Mittwochnachmittag war der nördliche Teil des Hafens und der Platz vor dem Konzilgebäude dicht von Italienerinnen und Italienern besetzt. Kopf an Kopf standen sie da oder machten sich’s nach Möglichkeit auf ihren Gepäckstücken bequem. Es waren größtenteils Männer, nur zu verhältnismässig kleinem Teile Frauen und Kinder  15 , schildert Maurer weiter. Zudem seien die Personen häufig traurig gewesen, weil sie aus ihrer Lohnarbeit gerissen wurden, so die Erklärung Maurers. Die Personen waren schlecht gekleidet, von den Reisestrapazen völlig erschöpft und vollkommen unzureichend mit Verpflegung ausgestattet. Einige Konstanzer Bürgerinnen und Bürger spendeten daraufhin Erfrischungen. Am Abend wurden diese Personen dann abteilungsweise in die Notunterkünfte geleitet. Einzelne Konstanzerinnen und Konstanzer halfen beim Transport der Koffer und Habseligkeiten mit, indem sie beispielsweise Handwagen herbei‐ schafften. Die militärische Wachmannschaft hatte größte Mühe, eine geordnete Bewegung der Menschenmassen in die Unterkünfte zu veranlassen. 16 Die Geschehnisse, die sich gleichzeitig auf dem Döbeleplatz abspielten, prägten sich der Bevölkerung nochmals etwas stärker ein: Als die Italienerinnen und Italiener am städtischen Werkhof, der ersten Anlaufstelle, ankamen, regnete Solidarität trotz Kriegsbeginn 261 17 Vgl. ebd. 18 Die Dampfschifffahrtsbetriebe und die österreichische Bahnbehörde wichen von diesem Verfahren ab und zeigten sich verständnisvoll. Vgl. ebd. 19 Vgl. ebd. es in Strömen. Unmittelbar danach bauten die Durchreisenden schützende dach‐ ähnliche Konstruktionen aus all dem Material, das sie finden konnten. Sobald Unterkünfte verfügbar waren, wurden sie schnellstmöglich dorthin gebracht. Neben Privatquartieren wurden sie im Marienhaus und im St. Annaheim mit Kindergarten untergebracht, wo sie dann im Trockenen übernachten konnten. Für den darauffolgenden Morgen bestellte der Stadtrat in Abstimmung mit dem Bezirksamt 500 Laibe Brot, die mehrheitlich unentgeltlich den bedürftigen Italienerinnen und Italienern abgegeben wurden. 17 Am 6. August befanden sich etwa 6000 Italienerinnen und Italiener in der Stadt Konstanz. Alle verfügbaren Unterkünfte wurden bereitgestellt, wobei weiterhin von einem Zuzug ausgegangen werden musste. Deshalb stellte der Stadtrat die Güterhalle im Hafen bereit, die fortan als Notquartier für etwa 1000 Personen fungierte. Außerdem wurden drei Ärzte für die Versorgung der Durchreisenden abgestellt. Erst an diesem Tag bewilligte die Schweiz die Durchreise. Zuvor ließ sie aufgrund der dortigen Mobilmachung keine Durchreise zu, obwohl sich das italienische Konsulat in Zürich nachdrücklich darum bemühte. Daraufhin entstand unerwarteterweise ein weiteres Problem, indem die schweizerische Bahnbehörde auf die Bezahlung der Fahrpreise be‐ stand, wenngleich viele Italienerinnen und Italiener mittellos waren. 18 Der Konstanzer Oberbürgermeister bürgte prompt dafür. Später trat die italienische Gesandtschaft in Bern ein. Nur so war es möglich, dass bereits am Donnerstag‐ nachmittag in mehreren Sonderzügen über 3600 Italienerinnen und Italiener, von denen etwa 900 nicht bezahlen konnten, die Weiterreise antreten konnten. Am darauffolgenden Tag reisten ebenfalls über 3600 Personen weiter, von denen über 3000 nicht bezahlen konnten. Der Hauptteil der in Konstanz zum Zwischenstopp gezwungenen Italienerinnen und Italiener war damit auf dem Weg nach Italien. Wenig später sah sich die Schweiz dazu gezwungen, infolge der eingetretenen Stauung an der italienischen Grenze den Transport von Italienerinnen und Italienern abzulehnen. Dieser Aufnahmestopp dauerte bis zum 10. August. Im Gegensatz dazu konnte die Beförderung nach Bregenz ab dem 8. August fortgesetzt werden. Mehrere Sonderschiffe brachten folglich jeweils Hunderte Personen nach Österreich. Danach konnte die Situation immer besser kontrolliert und reguliert werden. 19 Maurer beziffert die Gesamtzahl der in der ersten Augusthälfte in Konstanz eingetroffenen Italienerinnen und Italiener auf 21.780, wovon 13.500 über 262 Thomas Weidle 20 Ebd. 21 Vgl. ebd. 22 Zur Rolle des Roten Kreuzes als Fürsorgeinstitution in der Stadt Konstanz im Ersten Weltkrieg siehe StadtA Konstanz, S II 7402. Das Rote Kreuz kümmerte sich im Verlauf des Krieges u. a. um die Unterbringung und Verpflegung von verwundeten und kranken Soldaten. Zu diesem Zweck kam es zu jener Zeit zu einem massiven Ausbau des Roten Kreuzes. So wurden z. B. sechs Unterabteilungen - 1. Lazarettabteilung, 2. Trans‐ portabteilung, 3. Depotabteilung, 4. Kassen- und Rechnungsabteilung, 5. Nachweis- und Auskunftsstelle und 6. Unterstützungsabteilung - gegründet, um den gestiegenen Aufwand bewältigen zu können. Vgl. ebd. Auch beim Austausch von Kriegsopfern und -gefangenen leistete das Rote Kreuz wertvolle Unterstützung. Vgl. M O S E R , Arnulf: Die Austauschstation Konstanz. Austausch und Internierung von schwerverwundeten Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg (1915-1920), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 162 (2014) S.-379-401, etwa S.-382. 23 B A S T , Eva-Maria: 05. August 1914. 6000 Italiener sitzen am Hafen fest, in: Bast, Eva- Maria/ Baur, Annina/ Rieß, Julia (Hg.): Konstanzer Kalenderblätter. 52 faszinierende Geschichten quer durch die Jahrhunderte, Überlingen 2016, S. 109-111 sowie M O S E R , Arnulf: Zurück in die Heimat. Der Italiener-Durchzug im August 1914, in: Konstanzer Almanach 60 (2014) S.-81 f. Bregenz und 8.280 durch die Schweiz weiterreisten. Die Ausgaben der Stadt Konstanz, die nicht exakt beziffert werden können, würden von der italienischen Regierung erstattet werden, vermutet Maurer. Ein denkwürdiges Zusammentreffen! Zum ersten Male wieder nach Jahrhunderten drängten sich in dem ehrwürdigen Bau, der vor mehr als einem halben Jahrtausend als Kaufhaus […] zum Empfang der Mailänder Kaufleute und ihrer Waren errichtet wurde, die Söhne der Lombardei und hallten die welschen Laute. Aber welcher Wandel! Jetzt die armen, wandernden Arbeiter, damals die reichen Grosskaufleute mit ihren Dienern und Knechten, 20 fasst Maurer zusammen. Maurer attestiert der Konstanzer Stadtverwaltung Umsicht und ein großes Wohlwollen sowie der Konstanzer Stadtgesellschaft eine in hohem Maße freundliche Haltung. Der italienische Generalkonsul in Mannheim bedankte sich beim Oberbürgermeister, wobei insbesondere die Fürsorge, die seinen Landsleuten zuteilwurde, Erwähnung fand. 21 Maurer schließt seinen Bericht mit einer persönlichen Bewertung der Ge‐ schehnisse. Dabei lobt er die Konstanzer Stadtverwaltung, vor allem Oberbür‐ germeister Dietrich, sowie die Stadtgesellschaft für ihre Fürsorge. Auch die Unterstützung des Roten Kreuzes 22 lobt Maurer. Bisher liegen lediglich zwei sehr kurze Sammelbandaufsätze vor, die sich explizit mit dem Italiener-Durchzug von 1914 befassen. 23 Bast bezieht sich in ihrem Text auf Moser. Hierbei wird deutlich, dass es der Forschung bisher an einer intensiveren Untersuchung zum Thema mangelte. Bast und Moser liefern Solidarität trotz Kriegsbeginn 263 24 Das Königreich Italien war Mitglied im Dreibund mit Deutschland und Österreich- Ungarn. Vgl. B A S T (wie Anm. 23) S.-110 sowie M O S E R (wie Anm. 23) S.-81. eloquent geschriebene Texte, wobei diese zum Teil etwas knapp ausfallen. Den Blick explizit auf die deutsch-italienischen Beziehungen, die an diesem Beispiel deutlich werden, zu richten, stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar. Dennoch ergänzen die beiden Texte die Quelle sinnvoll, indem sie auf wichtige Aspekte hinweisen, die Maurer in seinem Bericht nicht oder nur am Rande erwähnt. Somit kann festgehalten werden, dass eine Ursache für die Wanderungsbewegung im politischen Kontext der Zeit zu suchen ist, wobei Bast und Moser die Bündnissituation als Faktor identifizierten. Italien erklärte am 2. August 1914 seine Neutralität, weshalb viele Italienerinnen und Italiener nach Hause wollten. Sie wollten nicht in einem Land bleiben, in dem Krieg herrscht. Des Weiteren fürchteten einige von ihnen, dass manch ein deutscher Nachbar empört darüber sein könnte, dass Italien fortan neutral war. 24 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Bodenseeraum durch seinen multinationalen Charakter zu Beginn des Ersten Weltkriegs verworrene Ver‐ flechtungen produzierte. Während das eine Land seine Grenzen öffnete, konnte ein anderes Land eine ganz andere Entscheidung treffen. Das politische Chaos hatte Auswirkungen auf Tausende von Menschen, wobei die Stadt Konstanz stets nach praktikablen Lösungen suchte. Einsatz und Gemeinschaft - Die deutsch-italienischen Beziehungen auf lokaler Ebene im August 1914 Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Durchreise von Italienerinnen und Italienern und deren Aufenthalt in der Stadt Konstanz im August 1914 dargestellt wurde, soll nun in Form einer Schlussbetrachtung bewertet werden, welche Aussagen sich hinsichtlich der deutsch-italienischen Beziehungen auf lokaler Ebene anhand des gewählten Beispiels treffen lassen. Der Konstanzer Stadtrat, der Oberbürgermeister und die Stadtgesellschaft entwickelten trotz der schwierigen Lage zu Beginn des Ersten Weltkriegs in der Grenzstadt kreative Lösungen für die Beherbergung und Versorgung einer solch großen Anzahl von Personen. Unterkünfte wurde schnellstmöglich bereitgestellt, Verpflegung organisiert und sich aktiv für eine Grenzöffnung und damit Weiterreise eingesetzt. Obwohl sich die Stadt ökonomisch in einer schwierigen Zeit befand und der Beginn des Ersten Weltkriegs für viel Unsicher‐ heit sorgte, halfen viele Konstanzerinnen und Konstanzer ihren italienischen Gästen, indem sie etwa schnell und unbürokratisch Wohnraum zur Verfügung 264 Thomas Weidle stellten sowie Wasser und Nahrung anboten. Stadtrat und Oberbürgermeister trugen durch zielgerichtete politische Maßnahmen zur Verbesserung der Situa‐ tion der durchreisenden Personen bei. Solidarität - ohne Rücksicht auf die Nationalität und eventuell querstehende enttäuschte Bündnisverpflichtungen - wurde bedingungslos gelebt. Das Bürgen für die Fahrpreise der schweizerischen Bahnbehörde für die Reise nach Italien für mittellose Italienerinnen und Italiener zeigt, wie selbstlos dieses Handeln war. Die Stadt Konstanz erwies sich als Helfer in der Not und betrieb ein adäquates Notfallmanagement. Der Dank des italienischen Generalkonsuls in Mannheim stellt das gegenseitige gute Verhältnis unter Beweis. Die durchreisenden Italienerinnen und Italiener waren dankbar. Abschließend muss konstatiert werden, dass die deutsch-italienischen Be‐ ziehungen, die am vorliegenden Beispiel deutlich werden, sich als belastbar erwiesen. Die Bevölkerung half ihren italienischen Gästen freundschaftlich. Humanität, Solidarität und Gastfreundschaft waren selbstverständlich. Mit vereinten Kräften konnte die Stadt Konstanz diese logistische Meisterleistung bewältigen. Sinnbildlich gesprochen rückten Deutschland und Italien in Kon‐ stanz im August 1914 zusammen. Solidarität trotz Kriegsbeginn 265 1 Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung einer Arbeit, die zunächst unter dem Titel: „Die Landung antifaschistischer Flieger in Konstanz 1931 - Ein Stück vergessenen Lokalgeschehens mit internationalen Bezügen“ erschien, in: Bürgerschule, Zeppelin-Oberrealschule, Alexander-von-Humboldt-Gymnasium: 1830- 1980. Die Schrift zum Jubiläum der Schule am Schottenplatz in Konstanz. Hg. vom Alexander-von-Humboldt-Gymnasium. Konstanz, S. 220-223; in veränderter Form auch in: Allmende, Bd.-2 / 1982, S.-140-146 sowie in: Nebelhorn Nr.-22, Februar 1983. Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis Der Konstanzer „Antifaschistenflug“ vom November 1931 1 Werner Trapp „Mussolini aus der Luft bekämpfen“ - Ein kühner Plan und sein Scheitern „Am Samstag, den siebten November kam nachmittags von Tempelhof über München eintreffend ein Junkers-Flugzeug D 2155 auf dem Flugplatz bei Konstanz an. Auf diesem findet im Winter kein regelmäßiger Flugverkehr statt, weshalb vom 4. d. Mts. an der dortige Polizeiposten eingezogen war. Das Flugzeug war mit zwei Personen besetzt. Die Weiterfahrt des Flugzeugs wurde am Montag versucht; der Start misslang jedoch infolge des aufgeweichten Bodens. Die Polizei war inzwischen auf die Insassen des Flugzeugs aufmerksam gemacht worden und stellte die Personalien derselben fest. Hierbei ergab sich, dass der Flugzeugführer der ehemalige deutsche Offizier Viktor Häfner war, der wegen Spionage zum Nachteil Deutschlands im Jahre 1924 zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Häfner besaß keinen Flugschein. Der weitere Insasse wies sich zunächst durch einen belgischen Pass als Comte Armand de Looz aus. Bei der weiteren Untersuchung ergab sich, dass der Begleiter eine Anzahl von Pässen über verschiedene Namen besaß, er aber in Wirklichkeit italienischer Staatsangehöriger ist und Bassanesi heißt. Inzwischen war auf dem Flugplatz ein Kraftwagen mit französischer Erkennungsnummer bemerkt worden, dessen 3 Insassen sich mit der Flugzeugbesatzung in Verbindung setzten und augenscheinlich Gepäck aus dem Flugzeug in das Auto über‐ nahmen. Das Auto verschwand sehr rasch, konnte aber in Freiburg festgehalten werden. Seine drei Insassen wurden festgenommen und der Inhalt des Wagens beschlagnahmt.“ Abb. 1: Bericht aus der Deutschen Bodensee Zeitung vom 12.11.1931 (Stadtarchiv Konstanz) 268 Werner Trapp 2 Generallandesarchiv Karlsruhe: 233/ 25958 Republik Baden. Staatsministerium Polizei. I. Landung antifaschistischer Flieger in Konstanz und Ausweisung derselben. II. Antifa‐ schistische Propaganda - 1931. Weitere Akten anderer badischer Ministerien zu diesem Fall sind wegen Kriegsverlusten nicht mehr vorhanden. 3 N E B I O L O , Gino: L’uomo che sfidò Mussolini dal cielo. Vita e morte di Giovanni Bassanesi. Introduzione di Pier Luigi Vercesi. Soveria Mannelli 2006, zu Konstanz besonders die S. 165-189 - der Text des Flugblatts in italienischer Sprache auf den Seiten 173 f. Die Deutsche Bodensee Zeitung gibt in ihrer Nummer vom 12. November 1931 einen ganz anderen Inhalt des Flugblatts wieder: Dieses enthielt demnach Anweisungen, wie man in Italien „Giustizia e Libertà“-Ortsgruppen gründen könnte. Weil man im Auto der Italiener insgesamt zehn verschiedene Flugschriften gefunden hatte, könnten darunter auch Flugblätter unterschiedlichen Inhalts gewesen sein. 4 C E R U T T I , Mauro: Bassanesi, Giovanni, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.03.2002, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https: / / hls-dhs-d ss.ch/ de/ articles/ 027935/ 2002-03-26/ , konsultiert am 22.01.2023. Eine ausführlichere Kurzfassung seiner Biografie findet sich auf einer interessanten Webseite aus dem Aosta-Tal: http: / / tapazovaldoten.altervista.org/ note_biografiche/ giovanni_bassanesi.h tml. Bassanesi, 1905 in Aosta geboren, war 1927 nach Paris emigriert, war dort kurzzeitig Mitglied der italienischen Liga für Menschenrechte und gehörte zum Umkreis der 1929 gegründeten „Giustizia e Libertà“. Zu Bassanesis Flug über Mailand auch: C E R R I , Olmo: Il volo per la libertà. [Zurigo] 2021, sowie: B O T T I , Giuseppe, Genasci, Pasquale, Rossi, Gabriele: L’aereo della libertà. Il caso Bassanesi e il Ticino. Bellinzona 2002. Allgemein zum Hintergrund der antifaschistischen Emigration aus Italien, mit umfangreicher Bibliographie zum Thema: B E R T O N H A , Joao Fabio: Fascismo, antifascismo e gli Italiani all’estero. Bibliografia orientativa (1922-2015), (Archivio storico dell’emigrazione ita‐ Das berichtete das badische Staatsministerium am 11. November 1931 an das Auswärtige Amt in Berlin. 2 Bei den Verhafteten, so stellte sich nach anfänglicher Geheimhaltung durch die Behörden bald heraus, handelte es sich um eine Gruppe italienischer Antifaschisten - einer von ihnen, Giovanni Bassanesi, sollte von Konstanz aus mit dem Flugzeug starten, um über Mailand und Turin Flugblätter abzuwerfen, welche die Arbeiterschaft dieser beiden großen Industriestädte zum Kampf für ihre legitimen Rechte aufriefen. 3 Mit dem Scheitern dieses Plans war auch die Hoffnung zunichte gemacht, das zu jener Zeit bereits fest etablierte faschistische Gewaltregime in Italien mit einer spektakulären Aktion zu verunsichern, wie sie bereits zwei Mal zuvor gelungen war: Am 11. Juli 1930 war der in Konstanz verhaftete Giovanni Bas‐ sanesi, ein junger Lehrer und Fotograf aus Aosta, vom Tessin aus nach Mailand geflogen, wo es ihm gelang, eine halbe Stunde lang über dem Zentrum zu kreisen und Flugblätter abzuwerfen, die zum Widerstand gegen die faschistische Diktatur aufriefen. Auf dem Rückflug stürzte er im Gotthardgebiet ab und wurde von einem Schweizer Gericht in Lugano zu vier Monaten Gefängnis verurteilt 4 . Schon diese Aktion hatte international erhebliches Aufsehen erregt Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 269 liana. Quaderni, 13-14), Viterbo 2015; D E G H A N T U Z C U B B E , Giovanni: Die Geburtswehen des italienischen Antifaschismus (1920-1925), in: Totalitarismus und Demokratie / Hg. im Auftrag des Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden, 2021. 5 Ausführlicher zum Hintergrund des in Konstanz gescheiterten Unternehmens wie zu den Versuchen, Mussolinis Regime „aus der Luft“ zu bekämpfen: P E T E R S E N , Jens: Gli antifascisti italiani in Germania e il volo di Bassanesi del novembre 1931, in: II Movimemo di Liberazione in Italia, Jg. 20, Nr. 93/ 1968, der dazu vor allem die Akten des Auswärtigen Amts in Berlin ausgewertet hat; F U C C I , Franco: Ali contro Mussolini. I raid aerei antifascisti degli anni trenta. Milano 2006, bes. S. 57-71; N E B I O L O , Gino: L’uomo che sfidò Mussolini dal cielo (wie Anm. 3). 6 In der Presse wurde auch darüber spekuliert, de Bosis sei von italienischen Jagdflug‐ zeugen verfolgt und abgeschossen worden, vgl. den Bericht im Konstanzer Volksblatt vom 9.11.1931. 7 M U D G E , Jean M.: The poet and the dictator: Lauro de Bosis resists fascism in Italy and America. Westport, Conn. [u.-a.] 2002. und die italienischen Sicherheitsbehörden reichlich verwirrt. Mehr noch wurde der anschließende Prozess in Lugano zu einem Tribunal gegen die Diktatur in Italien, wobei der Kampf der Angeklagten um jene bürgerlichen Freiheiten, die sie in der Schweiz bereits verwirklicht sahen und auf die sie sich ausdrücklich beriefen, auf große Sympathien stieß. 5 Und kurz vor dem in Konstanz gescheiterten Unternehmen, am 3. Oktober 1931, war der Italiener Lauro De Bosis von einem Flugplatz in der Nähe von Marseille aus gestartet und hatte bei Dunkelheit direkt über dem Zentrum von Rom 400.000 antifaschistische Flugblätter abgeworfen. De Bosis, 1901 geboren, war ein bekannter Schriftsteller und Übersetzer, hatte aber nur sieben Stunden Flugerfahrung - seine spektakuläre Aktion, die auch international starke Beachtung fand, bezahlte er mit seinem Leben: Auf dem nächtlichen Rückflug nach Spanien stürzte seine Maschine, vermutlich bei Elba, ins Meer, seine Leiche wurde nie gefunden. 6 Über seine Motive schrieb er in einem politischen Testament, das er in der Nacht vor seinem Flug verfasste (‚Histoire de ma mort‘): Ich bin davon überzeugt, dass der Faschismus erst dann stürzen wird, wenn sich eine Handvoll junger Männer findet, die ihr Leben opfern, um die Herzen der Italiener zu bewegen. Ich hoffe, dass nach mir noch viele andere kommen und dass es ihnen am Ende gelingt, die öffentliche Meinung aufzurütteln.  7 Dem Konstanzer Flug schließlich war zunächst ein anderer Plan vorausge‐ gangen, der wohl an Wirksamkeit kaum zu übertreffen gewesen wäre: Der für den Herbst 1931 geplante Staatsbesuch Mussolinis in Berlin sollte zu einer großen Demonstration italienischen Freiheitswillens genutzt werden. Während die Wagenkolonne des Diktators unter Polizeischutz durch die Straßen Berlins 270 Werner Trapp rollte - so der Plan - sollte ihr Bassanesi mit dem Flugzeug folgen und die Berliner mit Flugblättern über die wahren Zustände in Italien informieren. Die Flugblätter waren in den Druckereien der deutschen Gewerkschaften schon gedruckt, alles schien bestens vorbereitet, als Mussolini seinen Besuch plötzlich absagte - kommen sollte nur der Außenminister, Dino Grandi. Dieser erschien jedoch für eine so spektakuläre Aktion als zu unbedeutend, sodass die Pläne für einen Flug nach Italien wieder aufgegriffen wurden. Ziele waren nun die bevölkerungsreichen Industriemetropolen Mailand und Turin, wobei dieses Mal die Demonstration aus der Luft durch groß angelegte Aktionen lokaler antifaschistischer Gruppen unterstützt werden sollte. Starten wollte man von einem süddeutschen Flugplatz aus, der möglichst nahe an Italien lag - die Wahl fiel auf Konstanz. Kurz vor dem Überfliegen der italienischen Grenze, bei Magadino im Tessin, hätte das Flugzeug mit Hilfe von Freunden noch einmal betankt werden sollen, damit auch der Rückflug von Turin nach Frankreich gesichert war. Alles schien perfekt geplant. Abb. 2: DBZ vom 12.11.1931 (Stadtarchiv Konstanz) Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 271 8 Zum missglückten Konstanzer Unternehmen und dem anschließenden Prozess vor dem Konstanzer Landgericht: N E B I O L O , a. a. O., S. 165-189; F U C C I , a. a. O., S. 57 - 71. Nebiolo verweist in diesem Zusammenhang auf die Beteiligung Häfners an der Marinebrigade Ehrhardt, einem am Kapp-Putsch 1920 beteiligten Freikorps, sowie auf etliche Verur‐ teilungen Häfners wegen Diebstahls, Meineids und Betrugs: N E B I O L O , a. a. O., S. 172. Unter anderem war Häfner 1925 auch wegen Spionage zum Nachteil Deutschlands zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Allerdings, folgt man dem Wikipedia-Artikel über Viktor Häfner, ist die Vermutung Nebiolos abwegig: Häfner wurde 1933 in Schutzhaft genommen, emigrierte im selben Jahr nach Paris und 1939 nach London, stand 1940 auf der „Sonderfahndungsliste G.B.“ des Reichsicherheitshauptamts und wurde 1942 auf die Reichsausbürgerungsliste gesetzt. Abb. 3: DBZ vom 12.11.1931 (Stadtarchiv Konstanz) Doch der von langem Regen aufgeweichte Boden des Konstanzer Flugplatzes setzte diesen Plänen ein jähes Ende: Die Maschine mit Bassanesi am Steuer gewann keine Höhe, stürzte am Ende des Flugfeldes in einen Graben und wurde dabei leicht beschädigt. Unklar blieb, ob es nur an den schwierigen Bodenverhältnissen lag, ob das Flugzeug mit 350 000 Flugblättern an Bord überladen war oder ob sich der Deutsche Viktor Häfner, der für Bassanesi das Flugzeug gekauft und von Leipzig nach Konstanz geflogen hatte, insgeheim als Agent der italienischen Regierung betätigt und die Pläne längst an die OVRA, die „Organizzazione di Vigilanza e Repressione dell’Antifascismo“ (dt.: „Organisation zur Überwachung und Bekämpfung des Antifaschismus“), das heißt, an die Geheimpolizei Mussolinis, verraten hatte. 8 Tatsache ist, dass die italienische Regierung ihre Spitzel auch unter den Emigranten hatte und über dieses Vorhaben bereits ziemlich gut informiert war: Schon Mitte Oktober 1931 hatte Italien die Reichsregierung wie auch die Regierungen der Länder gewarnt, dass von deutschem Boden aus ein Flugzeug starten würde, um über 272 Werner Trapp 9 P E T E R S E N , Jens (wie Anm. 5) S.-40. 10 M O D E N A -B U R K H A R D T , Esther: Giustizia e Libertà. Zürich 1974; B R E S C I A N I , Marco: Quale antifascismo? Storia di Giustizia e Libertà, Roma 2017; P E T E R S E N , Jens: Giustizia e Libertà e la Germania, in: Giustizia e Libertà nella lotta antifascista e nella storia d‘Italia, 1978; die deutsche Fassung erschien unter dem Titel: „Giustizia e Libertà“ und Deutschland, in: Petersen, Jens: Italienbilder - Deutschlandbilder. Gesammelte Aufsätze. Herausgegeben von seinen Freunden. (Italien in der Moderne, Bd. 6) Köln 1999, S. 192-211; D E R S .: Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Repu‐ blik. Einige deutsche Interpretationen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 55/ 56 (1976) S. 315-360; S C H I E D E R , Wolfgang: Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: D E R S .: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S.-149-184 11 Siehe dazu auch seine Autobiographie: T A R C H I A N I , Alberto: Il mio diario di Anzio, Milano 1947. Italien Bomben abzuwerfen - nicht der letzte Versuch, die demokratischen Ziele des italienischen Widerstands in die Nähe des Terrorismus zu rücken und so zu diskreditieren. 9 Nach dem missglückten Start in Konstanz sollte wenigstens das Propagandamaterial gerettet und über Freiburg nach Frankreich, dem Zentrum der italienischen antifaschistischen Emigration, gebracht werden. Beide Vorhaben wurden jedoch durch das Eingreifen der badischen Polizei vereitelt: Häfner und Bassanesi wurden noch in Konstanz verhaftet, Alberto Tarchiani, Carlo Rosselli und Virgilio Ferrero in Freiburg - alle Beteiligten saßen nun in Konstanz im Gefängnis und warteten auf ihren Prozess. Die Italiener, die sich vor dem badischen Landgericht in Konstanz zu verant‐ worten hatten, gehörten der 1929 in Paris von Emigranten gegründeten Organi‐ sation „Giustizia e Libertà“ an, die den italienischen Faschismus durch Propa‐ ganda im Ausland wie durch direkte Aktionen in Italien selbst bekämpfte. 10 Zwei von ihnen waren Gründer und führende Köpfe der Organisation: Alberto Tar‐ chiani und Carlo Rosselli. Tarchiani war in den Jahren 1919 bis 1925 Chefredak‐ teur der liberalen Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“. Nachdem das faschistische Regime in Italien die Kontrolle seiner Zeitung übernommen hatte, verließ er sein Land und schloss sich den Emigranten in Paris an. Von dort aus organisierte er die Flucht Rossellis und zweier anderer Regimegegner von der Verbannungsinsel Lipari. 11 Rosselli war 1923 Dozent für politische Ökonomie an der Universität Mailand, 1924-25 an der Wirtschafts- und Handelshochschule in Genua. Als Sohn einer reichen Florentiner Familie gab er sein ganzes Vermögen für den Kampf gegen die Diktatur. 1927 wurde er in einem aufsehenerregenden Prozess von einem Sondergericht zu einer langjährigen Verbannung (confino) verurteilt, weil er dem alten Sozialistenführer Filippo Turati zur Flucht nach Korsika verholfen hatte. Carlo Rosselli und sein Bruder Nello wurden am 9. Juni Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 273 12 Von und über Rosselli gibt es eine umfangreiche Literatur, stellvertretend seien hier nur genannt: Giustizia e libertà nella lotta antifascista e nella storia d’Italia: Attualità dei Fratelli Rosselli a quaranta anni dal loro sacrificio. Atti del Convegno internazionale … Firenze il 10-12 giugno 1977. Firenze 1978; T R A N F A G L I A , Nicola; C. R. e il sogno di una democrazia sociale moderna, Milano 2010. 13 Im umfangreichen Bericht des Badischen Landespolizeiamts Karlsruhe ist von einem Ingenieur namens Tiberio Ferraro die Rede, in der Literatur, so bei F U C C I (S. 62) und bei N E B I O L O (S. 177) ist von Virgilio Ferrero die Rede (s. Anm. 5), in der späteren Berichterstattung taucht Ferrero nicht mehr auf . 1937 während eines Kuraufenthalts in Bagnoles-de-l’Orne von Mitgliedern des rechtsextremen französischen Geheimbunds Cagoule, vermutlich im Auftrag Mussolinis, ermordet. 12 . Virgilio Ferrero, ein Ingenieur aus Neapel, war Sohn italienischer Emigranten in London. Bei der polizeilichen Vernehmung in Konstanz gab er an, gegen den italienischen Faschismus eingestellt zu sein, weil sein Onkel in dortigen Gefängnissen umgekommen sei. 13 Der Prozess vor dem Landgericht Konstanz und die Reaktionen in Rom, Berlin, Karlsruhe und Konstanz Der Prozess vor dem Konstanzer Landgericht wurde in der Presse damals im Reich wie auch international verfolgt, zugleich löste er hektische diplomatische Aktivitäten zwischen Berlin, Rom und Karlsruhe und nicht zuletzt auch in der Stadt Konstanz selbst höchst unterschiedliche Reaktionen aus. Bedenkt man, dass „Giustizia e Libertà“ keineswegs eine kommunistische Organisation war, sondern sich als Sammelbecken von demokratisch gesinnten Gegnern des italienischen Faschismus in Italien wie im Ausland verstand - von Menschen unterschiedlichster politischer Herkunft, die sich den Idealen der Freiheit, der Republik und sozialer Gerechtigkeit verpflichtet wussten, so werden die Reak‐ tionen in Deutschland - die der großen Politik wie die der lokalen politischen Kräfte in Konstanz - doppelt interessant. Denn gefordert war hier nicht nur die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung, gefordert war vielmehr - oder besser: wäre gewesen - auch ein demokratisch-republikanischer Internationa‐ lismus des Bürgertums. Die Reaktionen auf das Unternehmen der Italiener werden so auch zum Gradmesser für die Einstellung gegenüber dem Faschismus in Italien, zu einem Zeitpunkt, an dem der deutsche Nationalsozialismus zwar überall stark an Boden gewann, die Sache der Weimarer Demokratie aber noch nicht endgültig verloren war. Wie reagierte vor allem das Bürgertum in Konstanz auf den demokratischen Widerstand der Italiener gegen die Diktatur in ihrem Land? Die Polemik, die sich nach dem 9. November 1931 in der Konstanzer Presse entfaltete, liefert 274 Werner Trapp 14 Zur Konstanzer Gesellschaft am Ende der Weimarer Republik: T R A P P , Werner: Stadt und Region Konstanz in der Weltwirtschaftskrise, in: Burchardt, Lothar/ Schott, Dieter, Trapp, Werner: Konstanz im 20. Jahrhundert: Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz, 5) Konstanz 1990, S. 193-220; D E R S .: Vom „Rathausskandal“ zur allgemeinen „Vertrauenskrise“. Die Konstanzer Gesellschaft am Ende der Weimarer Re‐ publik, in: Seegründe. Beiträge zur Geschichte des Bodenseeraumes. Weingarten 1984, S. 289-327. Zur Rezeption des italienischen Faschismus im Deutschland der Weimarer Republik: P E T E R S E N , Jens: Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Repu‐ blik, in: Italienbilder - Deutschlandbilder (wie Anm. 5) S. 212-248; D A M M , Matthias: Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik (Extremismus und Demokratie, 27) Baden-Baden 2013. Zur Beurteilung des italienischen Faschismus in der überregionalen Presse Deutschlands beispielhaft: F U N K , Michael: Das faschistische Italien im Urteil der „Frankfurter Zeitung“ (1920-1933), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 69 (1989) S. 255-311. Die liberale „Frankfurter Zeitung“ sah den italienischen Faschismus über diesen Zeitraum fast durchweg kritisch und lieferte zum Teil sehr hellsichtige Analysen. 15 B O H N , Jutta: Das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und faschistischem Staat in Italien und die Rezeption in deutschen Zentrumskreisen (1922-1933). (Europäische Hochschulschriften, 531), Frankfurt 1992. Nach Bohn hat die Zentrumspresse auf eine kritische Auseinandersetzung mit der faschistischen Diktatur verzichtet (S.-272). dazu wichtige Indizien, zugleich aber auch Belege dafür, wie weit der Verfall der Demokratie in Deutschland und die mehr oder weniger offene Bereitschaft zur Unterstützung des diktatorischen Regimes von Mussolini damals schon fortgeschritten waren, welch geringen Wert Menschenrechte und demokrati‐ sche Freiheiten in Teilen der bürgerlichen Presse besaßen. 14 In Konstanz gab es damals noch drei Tageszeitungen, die Konstanzer Zeitung, das Blatt des liberalen Bürgertums, die Deutsche Bodensee Zeitung, Organ des politischen Katholizismus und der Zentrumspartei, sowie als Arbeiterzeitung das Konstanzer Volksblatt, die Zeitung der Sozialdemokratie. Die beiden bürger‐ lichen Zeitungen machten aus ihrer mangelnden Sympathie für diese Aktion, aber auch aus ihrer mehr oder weniger offenen Parteinahme für das Mussolini- Regime kaum einen Hehl. So urteilte die katholische Deutsche Bodensee Zeitung am 12. November: „Zweifellos handelt es sich hier um einen Hochverratsversuch gegenüber Italien, das nicht zögern wird, den notwendigen Antrag auf Klageerhebung einzureichen. Im Übrigen sei festgestellt, dass der Herd dieser antifaschistischen Agitation in Frankreich liegt. In Deutschland hat sich bisher diese antifaschistische Propaganda weniger bemerkbar gemacht. Merkwürdigerweise (! ) scheinen sich aber Deutsche bereit zu finden, diese Bewegung zu unterstützen, auch das über Rom kreuzende Flugzeug war deutschen Ursprungs.“ 15 Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 275 16 Deutsche Bodensee Zeitung, 14. November 1931 sowie 23. November 1931: „Die Namen der antifaschistischen Flieger“. Allerdings waren die Namen der Angeklagten bald allgemein bekannt und wurden überall in der Presse, auch in der sozialdemokratischen, genannt. 17 Etliche Schreiben dieser Art in: GLA 233/ 25958 (wie Anm. 2). 18 Ebd., Schreiben des Generalkonsulats Frankfurt am Main an das Bad. Staatsministerium vom 29.1.1932. Diese Anschuldigung wurde von der badischen Regierung allerdings Und die liberale Konstanzer Zeitung kommt am 13. November zu folgendem Schluss: „Es ist selbstverständlich, dass kein Staat auf seinem Boden Umtriebe dulden darf, die gegen den Bestand einer fremden Regierung gerichtet sind. Jedenfalls muss es begrüßt werden, dass es der Wachsamkeit der Behörden gelang, den Flug abzustoppen und damit möglicherweise drohenden diplomatischen Verwicklungen vorzubeugen.“ Mit dem Begriff des „Hochverrats“ wird so die Legalität des faschistischen Regimes in Italien unterstellt, die Möglichkeit einer Unterstützung der italieni‐ schen Antifaschisten klar ausgeschlossen. Mehr noch: Das katholische Blatt kennt keine Skrupel, die Namen der Beteiligten sofort zu veröffentlichen, obwohl man sich über die möglichen Konsequenzen durchaus im Klaren ist: „Wie dem auch sei: Hinter den Verhafteten steht eine mächtige antifaschistische Organisation, die die Revolutionierung Italiens auf ihre Fahnen geschrieben hat. Menschlich gesehen ist dieses Bestreben, die wirklichen Namen zu verheimlichen, durchaus begreiflich, denn nach den strengen Normen des Gesetzes haben sie ihr Leben in Italien verwirkt, ganz abgesehen davon, dass eine Klarstellung in dieser Hinsicht das Geheimnis um diesen antifaschistischen Bund noch mehr lüften würde. Gewisse Anzeichen deuten darauf hin, dass die Faschisten alle Anstrengungen machen, um sich mit Hilfe von Spionen über die Persönlichkeit der in Konstanz Verhafteten zu vergewissern. Ein Mann, der sich als Vertreter der Fiat-Werke ausgab, hat bereits versucht, bei den zuständigen Behörden Erkundigungen einzuziehen.“ 16 Nicht nur das: Intensiv bemühten sich die italienischen Generalkonsulate in Frankfurt am Main wie in Stuttgart bei deutschen Ministerien darum, genauere Informationen über die in Konstanz Verhafteten zu bekommen, insbesondere auch über die in Bassanesis gefälschten Ausweispapieren verwendeten Fotos - Ersuchen, denen die deutschen Behörden bereitwillig nachkamen. 17 Ja, die italienische Regierung versuchte sogar erneut mit der falschen Behauptung, ein Paket mit Sprengstoff für Attentate in Italien sollte nach Konstanz gebracht worden sein und befinde sich weiterhin in Deutschland, die in Konstanz Ange‐ klagten als gefährliche Terroristen zu diskreditieren. 18 Und auch die Schweizer 276 Werner Trapp zurückgewiesen, der vermeintliche Sprengstoff hätte bei der Beschlagnahme des Flugzeugs unbedingt entdeckt werden müssen. 19 Im Unterschied zum Deutschen Reich, in dem damals nur ca. 25 000 Italienerinnen und Italiener lebten, gab es in der Schweiz eine große Zahl italienischer Migranten und unter diesen profaschistische wie antifaschistische Gruppierungen und Aktivitäten. Zum Hintergrund: C E R U T T I , Mauro: Fra Roma e Berna. La Svizzera italiana nel ventennio fascista, ed. Franco Angeli, Milano 1986. 20 Zur Rezeption der italienischen Entwicklung in den Hauptorganen von KPD und SPD: L Ö N N E , K.-E.: Faschismus als Herausforderung. Die Auseinandersetzung der „Roten Fahne“ und des „Vorwärts“ mit dem italienischen Faschismus 1920-1933, Köln-Wien 1981. Regierung und die Bundesanwaltschaft in Bern signalisierten mehrfach ihr Interesse, über den Prozess in Konstanz und über die Angeklagten und deren Aktivitäten nähere Informationen zu bekommen. 19 Solidarität mit den Verhafteten bekundet einzig das Konstanzer Volksblatt, die lokale Tageszeitung der Sozialdemokratie. 20 Unter der Überschrift: „Der ‚Hochverrat‘ gegen das illegale Italien“ ergreift sie Partei für die italienischen Antifaschisten und stellt dem Legalitätsbegriff der bürgerlichen Zeitungen ihren eigenen, an demokratischer Legitimität orientierten Legalitätsbegriff entgegen: „In Italien führt Mussolini ein Schreckensregiment, das mit viel Blut begründet wurde und heute noch viel Blut kostet. Wer sich irgendwie verdächtig macht, nicht auf das faschistische Regime zu schwören, kommt in die Verbannung. Mit unerhörter Grau‐ samkeit gehen der Diktator und seine Schergen gegen Gegner vor. Das hat allmählich eine Unmenge Zündstoff gehäuft. Die Italiener im Ausland sind durchweg Gegner des gegenwärtigen Systems in Italien, das beweist vor allem auch die Tatsache, dass sich sämtliche italienischen Kolonien des Auslands hinter die in Konstanz verhafteten Italiener stellen. Die deutsche Presse hat großes Aufheben gemacht, auch die Presse, die eigentlich von ihrem politischen Standpunkt aus dazu gar keine Veranlassung hatte. ‚Hochverrat‘ gegenüber einer fremden Macht! Kann man die Benennung der illegalen Macht in Italien überhaupt als Hochverrat im Sinne des Gesetzes bezeichnen? Mussolini ist ja eben durch Hochverrat gegen sein eigenes Vaterland zur Macht gekommen. Die gesetzmäßige Verfassung Italiens ist doch durch Gewalt de facto, nicht aber de jure, außer Kraft gesetzt worden. An ihre Stelle wurde die Diktatur eines einzelnen gestellt, der durch die Mittel der Gewalt gegen den Willen der Mehrheit des italienischen Volkes regiert. Wenn über Italien Flugschriften abgeworfen werden sollten, so sollte dies doch geschehen, um eben dieses rechtswidrige Regime des Faschismus zu beseitigen, an dessen Stelle wiederum die alte, immer noch gültige Verfassung Italiens treten sollte. Wer sich aber an der Beseitigung eines an sich rechtswidrigen Zustands beteiligen will, kann sich doch unmöglich des Hochverrats Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 277 21 Konstanzer Volksblatt, 3. Dezember 1931. 22 Konstanzer Zeitung, 17. November 1931. 23 GLA 233 / 25958 (wie Anm. 2). schuldig machen. Und gerade das republikanische Deutschland hat kein Interesse an der Erhaltung der rechtswidrigen Macht in Italien.“ 21 Mit dieser Position stand das Konstanzer Volksblatt jedoch allein. Auf liberaler Seite war man sogar ausgesprochen daran interessiert, die inneren Verhältnisse Italiens in Konstanz nicht zur Sprache kommen zu lassen. Dies wird an den Hoffnungen deutlich, die die Konstanzer Zeitung an den Prozessverlauf knüpft: „Wir glauben indessen nicht, dass die Hauptverhandlung, wenn sie wirklich öffentlich sein sollte, auf den politischen Hintergrund der Angelegenheit eingehen wird. Man wird unter allen Umständen zu vermeiden wissen, dass das Gericht zu einer Tribüne für antifaschistische Propagandareden wird, wie es in der Schweiz der Fall war. Wenn sich die Anklage auf die erstgenannten Punkte (Passvergehen, Urkundenfälschung und unerlaubter Waffenbesitz, W.T.) beschränkt, dann dürfte mit einem relativ kurzen Verfahren zu rechnen sein.“ 22 Zu einem Tribunal gegen die Diktatur in Italien, wie das beim Prozess gegen Bassanesi vor dem Bundesstrafgericht in Lugano (17.-19.11.1930) geschehen war, durfte der Prozess vor dem Konstanzer Landgericht nicht werden. Mit dieser Hoffnung lag das liberale Blatt ganz auf der Linie der offiziellen ita‐ lienischen Außenpolitik, die sich aus demselben Grund trotz wiederholten Drängens seitens des deutschen Außenministeriums und verschiedener badi‐ scher Ministerien nicht zu dem nach § 102 des Reichsstrafgesetzbuchs formell notwendigen Strafantrag durchringen konnte. Ja, Berlin bot der italienischen Regierung jede nur erdenkliche Hilfe an und beantwortete bereitwilligst jedes Auskunftsersuchen der Italiener. Reichsinnenminister Groener brachte diese Position in einem Brief an die Länderregierungen prägnant zum Ausdruck: „Es ist für die Außenpolitik der Reichsregierung im Allgemeinen und besonders auch im Hinblick auf die engen freundschaftlichen Beziehungen des Reiches zu Italien (! ) unerträglich, dass Ausländern in Deutschland ein Gastrecht gewährt wird, das sie zu politischen Machenschaften gegen Italien oder eine andere Macht missbrauchen.“ 23 Verteidiger und Unterstützer Vor Gericht wurden die Beteiligten von den Konstanzer Rechtsanwälten Martin Venedey und dessen Sohn Hans sowie von Eduard Frank vertreten. Die Familie Venedey verkörperte in Konstanz die Tradition eines demokratisch- 278 Werner Trapp 24 Von 1891 bis 1898 und von 1903 bis 1918 saß er als Mitglied der demokratischen Volks‐ partei (ab 1910: Fortschrittliche Volkspartei) als Vertreter des Wahlkreises Konstanz in der Zweiten Kammer der badischen Ständeversammlung. 1919 war er kurzzeitig als badischer Außenminister im Gespräch, wurde aber von einem monarchistischen Kandidaten ausgebootet und zog sich aus der Landespolitik zurück. In Konstanz „war er einer der maßgeblichen Führer des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, übernahm den örtlichen Vorsitz in der Deutschen Friedensgesellschaft und stand mit Pazifisten wie L. Quidde und H. von Gerlach in enger Verbindung. Alle diese Aktivitäten führten zu Diffamierungen von Seiten der immer mehr erstarkenden Nationalsozialisten und brachten die große Familie in wachsende Bedrängnis“ Quelle: https: / / www.leo-bw.de / web/ guest/ detail/ -/ Detail/ details/ PERSON/ kgl_biographien/ 1012407284/ biografie. Zu Hans Venedey: B R Ü G M A N N , Uwe: Widerstand und Verfolgung. Hans Venedey - Ein Kämpfer für Demokratie und Freiheit, in: Schmuggler, Schmugglerinnen, Nachfahren. 150 Jahre Sozialdemokratie in Konstanz. Hg. von David Bruder, Jürgen Leipold und Ralf Seuffert, Konstanz 2023, S.-76-86. 25 B O S C H , Manfred: H. Venedey, in: Michael Bosch/ W. Niess (Hg.), Der Widerstand im deutschen Südwesten 1933-1945, Stuttgart 1984, 237-245; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, München 1980, sowie: https: / / www.le o-bw.de/ web/ guest/ detail/ -/ Detail/ details/ PERSON/ kgl_biographien/ 124999948/ Ven edey+Hermann+Martin. 26 Ausführlich zu ihm: https: / / stolpersteine-konstanz.de/ frank_eduard.html. 27 Die Akten des Landgerichts und der Staatsanwaltschaft Konstanz zu diesem Prozess sind im Staatsarchiv Freiburg nicht mehr vorhanden. fortschrittlich orientierten Liberalismus bzw. eines an der linken Sozialdemo‐ kratie orientierten konsequenten Antifaschismus: Martin Venedey war vor der Novemberrevolution mehr als 20 Jahre als Mitglied der Fortschrittlichen Volks‐ partei Badens Konstanzer Abgeordneter im badischen Landtag. 24 Hans Venedey, ebenfalls Rechtsanwalt, war seit 1930 Mitglied im Vorstand der Konstanzer SPD und Stadtverordneter, außerdem war er 1930 bis 1932 Vorsitzender der Konstanzer Ortsgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und der Eisernen Front, die wie das Reichsbanner die Verteidigung der Weimarer Republik zum Ziel hatte. Hans Venedeys jüngerer Bruder Hermann, dem ich zahlreiche Informationen zu diesem Aufsatz verdanke, war damals junger Gymnasiallehrer in Konstanz. Als einziger Lehrer seiner Schule weigerte er sich 1933, unter der Hakenkreuzfahne seinen Dienst zu tun, verlor seine Stelle und musste zusammen mit seinem Bruder in die Schweiz flüchten 25 . Eduard Frank war Sozialdemokrat und 1918 Mitglied des Konstanzer Arbeiter- und Soldatenrats. Als Jude wurde er am 10. November 1938 im Zuge der Reichspogromnacht verhaftet, er starb am 27. November 1938 unter ungeklärten Umständen im Konstanzer Gefängnis. 26 Es fällt auf, dass die Konstanzer Zeitungen über den eigentlichen Prozessver‐ lauf nur wenig berichten. 27 Namhafte Unterstützung erhielten die Konstanzer Anwälte und ihre Mandanten aus dem Ausland: Aus Wien war der Sekretär Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 279 28 Die „Fasci italiani di combattimento“ waren faschistische Schlägertrupps, die in den Jahren 1919 bis 1923, in einer Zeit massenhafter Streiks, Fabrik- und Landbesetzungen, gewaltsam gegen die linke Arbeiterbewegung und ihre Einrichtungen vorgingen. Sie wurden 1923 in eine paramilitärische Miliz umgewandelt. 29 Generallandesarchiv Karlsruhe: 233/ 25958 (wie Anmerkung 2), dort zahlreiche Doku‐ mente zu diesem Fall. Zu Modigliani: https: / / www.treccani.it/ enciclopedia/ giuseppe-e manuele-modigliani_%28Dizionario-Biografico%29/ . 30 GLA 233/ 25958, Telegramm vom 16.11.1931. 31 P E T E R S E N (wie Anmerkung 5) S. 44 f. Hilferding starb 1941 im Pariser Gestapo-Ge‐ fängnis, Rudolf Breitscheid kam 1944 bei einem Luftangriff auf das KZ Buchenwald ums Leben, nur Paul Hertz konnte 1939 in die USA flüchten. der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, Dr. Friedrich Adler, nach Konstanz gekommen. Am 16. November sandte das Auswärtige Amt in Berlin dieses Telegramm an das badische Staatsministerium: „fuehrer antifascisten modigliani beantragt bei deutscher botschaft paris personalaus‐ weis für sich, 1 frau roselli und frau tarchiani zwecks besprechung mit rechtsanwalt venedey in konstanz. ich beabsichtige antrag modigliani abzulehnen, bei den frauen dagegen, falls von dort nicht bedenken geäussert werden sollten, einreiseerlaubnis durch botschaft erteilen zu lassen“. Der italienische Sozialist Giuseppe Emanuele Modigliani war in den Jahren nach 1920 wiederholt auch körperlichen Angriffen faschistischer Squadristen 28 ausgesetzt. Nachdem 1926 sein Haus von Faschisten zerstört worden war und er als Oppositioneller sein Abgeordnetenmandat verloren hatte, ging er über Österreich nach Frankreich ins Exil. Dass er trotz dieser ablehnenden Haltung des Auswärtigen Amts ungehindert über Basel nach Konstanz reisen und hier als „Josef Modigliani“ im Hotel Halm logieren konnte, hat später zu heftiger Kritik und bohrenden Nachfragen aus Berlin bei der badischen Regierung geführt 29 . In einem Telegramm an den Badischen Staatspräsidenten Wittemann setzte sich der Sekretär der italienischen Volkspartei (Partito Popolare Italiano, 1919 gegründet), Francesco Luigi Ferrari, für seine Landsleute ein und forderte deren Freilassung. 30 Auch aus dem Deutschen Reich kam Unterstützung: Führende Sozialdemokraten wie Rudolf Hilferding, Rudolf Breitscheid und Paul Hertz intervenierten persönlich bei Reichskanzler Heinrich Brüning, der zu jener Zeit auch das Außenministerium leitete, für die Freilassung der in Konstanz inhaftierten Italiener. 31 Bemerkenswert ist ein Brief des ehemaligen italienischen Mini‐ sterpräsidenten Francesco Nitti an den Fraktionsführer der SPD im Reichstag, Rudolf Breitscheid, wie an das Anwaltsbüro Venedey, den die beiden Anwälte 280 Werner Trapp 32 Francesco Saverio Nitti (1868-1953) gehörte in den Jahren 1911 bis 1919 zwei Mal als Minister italienischen Regierungen an, 1919/ 20 war er zwei Mal Präsident des italieni‐ schen Ministerrats. Wegen seiner antifaschistischen Grundüberzeugungen emigrierte er 1924 in die Schweiz und lebte ab 1926 in Frankreich. 33 Am Beispiel der deutschen Politik gegenüber Russland beleuchtet diese Problematik beispielhaft das Buch von A D L E R , Sabine: Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft, Berlin 2022. 34 Konstanzer Zeitung, 28. November 1931. sofort an den Konstanzer Oberstaatsanwalt und an das badische Staatsministe‐ rium weiterleiteten. Darin heißt es u.-a.: „Ich möchte Ihnen meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass ihre Unterstützung von Erfolg gekrönt sein wird. Herr Tarchiani und Herr Rosselli sind zwei große Geister, zwei Persönlichkeiten von höchstem Rang, zwei edle Charaktere […] Alles, was sie getan haben, ist ausschließlich in ehrenwerter und würdiger Absicht ge‐ schehen, einzig in der Hoffnung, ihr Land von der Tyrannei zu befreien, der es gegenwärtig unterworfen ist. Die badischen Behörden müssen wissen, dass sie es mit hervorragenden Männern zu tun haben, die allen Respekt verdienen und die unter Berücksichtigung der Lauterkeit ihrer Absichten beurteilt werden müssen.“ 32 Doch selbst diese Intervention eines italienischen Liberalen vermag die Kon‐ stanzer Zeitung nicht umzustimmen. Das liberale Blatt bringt in seiner abschlie‐ ßenden Beurteilung des Falls eine Haltung zum Ausdruck, die - betrachtet man die Außenpolitik von sich als demokratisch verstehenden Ländern gegenüber diktatorischen und autokratischen Regimen 33 - an aktueller Bedeutung kaum etwas eingebüßt hat: „Es handelt sich nicht um die Frage, ob man Verständnis und Sympathie für die Täter hat oder nicht; sondern es handelt sich darum, ob wir (! ) es uns leisten können, ein paar Abenteurern zuliebe unsere Beziehungen zu einer Großmacht zu gefährden. Und da sollte uns das Hemd denn doch näher sein als die Jacke. Wenn die Herren Bassanesi und Konsorten das Fliegen nicht lassen können, dann sollen sie sich andere Startplätze, meinetwegen auf dem Balkan, suchen, aber gefälligst das Deutsche Reich mit ihrem ungebetenen Besuch verschonen. […] Zwischen dem Deutschen Reich und Persien ist wegen der Duldung persischer Oppositionsgruppen in Berlin und wegen eines taktlosen Artikels eines deutschen Reisenden, Dr. Mathias, eine Verstimmung eingetreten, die unsere wirtschaftlichen Interessen in Persien aufs empfindlichste schädigt. Die Rückwirkungen auf unsere Stellung in Teheran sind denkbar groß und unangenehm. Sollen wir es mit Italien wegen einer Handvoll Hitzköpfe ähnlich verderben, und das in einem Moment, wo wir die moralische Unterstützung durch Mussolini dringender denn je brauchen? “ 34 Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 281 35 Trapp, Werner: Machtübernahme und Ausbau der nationalsozialistischen Herrschaft in Konstanz 1933/ 34, in: Burchardt, Lothar / Schott, Dieter, Trapp, Werner: Geschichte der Stadt Konstanz, Bd. 5: Konstanz im 20. Jahrhundert: Die Jahre 1914 bis 1945. Konstanz: Stadler 1990, S.-221 ff., bes. S.-256 f. Das Hemd der italienischen Diktatur und die „Wahrung unserer wirtschaftlichen Interessen“ standen einem also näher als die Jacke der Demokratie und ihrer Freiheiten. Dass aus einer solchen Haltung kein nennenswerter Widerstand gegen den Nationalsozialismus erwachsen konnte, liegt auf der Hand. Im Gegenteil: Die partnerschaftliche Zusammenarbeit des nationalsozialistischen Deutschlands mit der faschistischen Diktatur in Italien - im Herbst 1936 in Gestalt der „Achse Berlin - Rom“ auch per Proklamation besiegelt - sie war in solchen Positionen rhetorisch und politisch schon vorweggenommen. Die Geringschätzung demokratischer Werte in Teilen der bürgerlichen Presse in Deutschland, die an dieser Beurteilung des Falls deutlich wird, mündete 1933 in die Selbstaufgabe der bürgerlichen Parteien und ihre Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ Hitlers: 1933, als die Nazionalsozialisten auch in Konstanz die Macht auf dem Rathaus übernommen hatten, feierte die Konstanzer Zeitung die erste große „Kommunalpolitische Kundgebung“ der NSDAP sogar als eine „neue Form der Demokratie“ 35 . 1 2 3 4 5 6 Abb. 4: Die Angeklagten und ihre Unterstützer vor dem Hotel Halm in Konstanz. Auf dem Bild zu sehen sind: die italienischen Antifaschisten Carlo Rosselli (1), Giovanni Bassanesi (2), Alberto Tarchiani (3) und Giuseppe Emanuele Modigliani (4) sowie die Rechtsanwälte Eduard Frank (5) und Hans Venedey (6) (Archiv Walter Venedey, Berlin) 282 Werner Trapp 36 Volkswille Singen, 5.12.1931: Verwahrung der Anwälte Martin und Hans Venedey gegen die „Konstanzer Zeitung“ 37 In einer Verbalnote vom 25.11.1931 hatte die Königlich Italienische Botschaft in Deutschland den Verzicht ihrer Regierung auf einen Strafantrag förmlich bekanntge‐ geben. (GLA 233 / 25958) Aus heutiger Sicht mutet die leidenschaftliche Stellungnahme, mit der Martin Venedey in einem Leserbrief an die Konstanzer Zeitung gegen deren Darstellung protestierte, fast wie ein letztes, chancenloses Rückzugsgefecht an: „Zunächst legen wir mit aller Entschiedenheit Verwahrung dagegen ein, dass die Herren Tarchiani, Rosselli und Bassanesi in wegwerfendem Tone als ‚ein paar Abenteurer’ bezeichnet, richtiger beschimpft werden. Es handelt sich durchweg um feingebildete, geistig hochstehende Menschen, die für ihre Überzeugung und die Sache der Befreiung Italiens von dem faschistischen Gewaltregiment die größten Opfer gebracht, Leben, Freiheit und Vermögen in die Schanze geschlagen haben. Tarchiani war früher einer der angesehensten italienischen Journalisten und Chefredakteur des liberalen Blattes „Corriere della Sera“, der gelesensten Zeitung Italiens. Diese glänzende Position opferte er seiner Überzeugung, als die genannte Zeitung von ihren Eigentümern an die faschistische Partei verkauft wurde […]. Rosselli war schon in jungen Jahren Professor der Nationalökonomie an einer Hochschule, dabei wohlhabend, jung verheiratet, mit den glänzendsten Aussichten für die Zukunft. […] Bassanesi endlich war ursprünglich Volksschullehrer, ebnete sich unter Mühen und Entbehrungen und mit größtem Fleiße den Weg zur Hochschule und widmete sich dort dem Studium der Rechte. Seine antifaschistische Haltung zwang ihn zum Verzicht auf Studium und Zukunft und zur Flucht in das Ausland. Es geht nicht an, diese Leute, die persönlich die Achtung aller billig Denkenden verdienen, verächtlich als Abenteurer zu bezeichnen.“ 36 Dass zwei der in Konstanz angeklagten Italiener - Rosselli und Bassanesi - am Ende nur zu geringen Geldstrafen verurteilt wurden, war neben der Haltung der italienischen Regierung 37 und verschiedener Solidaritätsaktionen vor allem der Tatsache zu verdanken, dass die Demokratie zu diesem Zeitpunkt in Baden mit einer Regierung der Weimarer Koalition noch eine der letzten Bastionen in Deutschland besaß. So konnten Tarchiani, Rosselli und Ferrero nach ihrer Freilassung ungehindert aus Konstanz nach Frankreich zurückkehren - mit einer vom Auswärtigen Amt wiederholt und in scharfem Ton angemahnten Ausweisungsverfügung ließ sich die badische Regierung Zeit. Der badischen Vertretung in Berlin wurde vom Auswärtigen Amt eröffnet, die Regierung in Berlin „müsse aus außenpolitischen Gründen das größte Gewicht darauf legen, Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 283 38 GLA 233 / 25958 Schreiben des AA an das Badische Staatsministerium vom 1.12.1931. Am Tag darauf wurden Bassanesi, Tarchiani und Rosselli offiziell aus dem Deutschen Reich ausgewiesen. 39 Vgl. die Berichte in: Volksfreund Karlsruhe,3.5.1932 und Volkswille Singen, 11.5.1932 sowie das Schreiben von Reichsinnenminister Groener an alle Landesregierungen vom 29.4.1932. 40 Am 17.12.1931 wies das Reichsinnenministerium alle Regierungen der deutschen Länder an, Bassanesi sofort abzuschieben, sollte er noch irgendwo im Reichsgebiet angetroffen werden (GLA 233 / 25958) 41 GLA 233 / 25958, Schreiben Maiers an das badische Staatsministerium vom 11.5.1932. Kurz darauf wurde Corsi dennoch ausgewiesen. dass die Beteiligten ausgewiesen werden […] hierzu zwinge die Notwendigkeit, die guten Beziehungen zu Italien nicht zu stören“. 38 Und Giovanni Bassanesi? Er konnte nicht zurück nach Frankreich, da er dort bereits ausgewiesen war. Anfang Dezember 1931 sprach er auf einer großen Ver‐ sammlung der Berliner SPD und klärte über die wahren Zustände in Italien auf. Auch andere Italiener wie Prof. Mario Corsi konnten noch frei und offen über die Verhältnisse in Italien berichten: Auf Einladung von SPD und Reichsbanner sprach er 1931 in 160 Versammlungen über „die Schrecken des italienischen Faschismus und die Leiden des italienischen Volkes“, im Frühsommer 1932 auch in Mannheim, Pforzheim, Baden-Baden, Offenburg und in Singen. 39 Vor allem in von Sozialdemokraten mitregierten Ländern wie Preußen und Baden waren solche Veranstaltungen noch möglich - sehr zum Missfallen der italienischen Regierung, die diese zu unterbinden verlangte, sehr zum Missfallen auch der Reichsregierung, die in solchen Auftritten nichts als eine „Verschlechterung der deutschen Position gegenüber Italien“ erkennen konnte. 40 Noch stellte sich der sozialdemokratische Innenminister Badens, Emil Maier, ausdrücklich hinter Corsi und wies die Aufforderung, diesen auszuweisen, mit klaren Worten zurück. 41 Wenig später, insbesondere nach der per Notverordnung erzwungenen Ab‐ setzung der sozialdemokratisch geführten Regierung in Preußen am 20. Juli 1932, war in der deutschen Presse für Erklärungen wie der Martin Venedeys, war für Reden wie die von Giovanni Bassanesi und Mario Corsi kein Platz mehr. Die Konstanzer Ereignisse im historischen Gedächtnis der Stadt Die Ereignisse jener Monate blieben in Konstanz nach 1945 lange Zeit vergessen, ebenso wie die Stadtgeschichte der Jahre nach 1933. Beschweigen, Verdrängen, Nicht Wahrhaben-Wollen - das war nicht nur in Konstanz die vorherrschende Haltung im Umgang mit der jüngsten deutschen Vergangenheit. Eine ernst zu 284 Werner Trapp 42 B L O C H , Erich: Geschichte der Juden von Konstanz im 19. und 20. Jahrhundert: Eine Dokumentation, Konstanz 1971 nehmende Aufarbeitung und Verarbeitung dieses Teils der lokalen Geschichte hat es in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Krieges nicht gegeben. Der Konsens, der die nationalsozialistische Herrschaft ermöglicht und getragen hat, er bestand nach 1945 untergründig in vielfältigen Formen weiter - offene Gegner des Nationalsozialismus wie Hermann Venedey waren nach dem Krieg Anfeindungen und sogar Morddrohungen ausgesetzt, an ihnen haftete weiter das Stigma des „Verrats“. Und noch lange nach dem Krieg wurden in Todesan‐ zeigen von Kriegsteilnehmern die im Krieg erworbenen Auszeichnungen und Ehrungen mit Stolz genannt, ohne dass dies jemand gestört oder gewundert hätte. Es spricht Bände, dass die erste detaillierte Darstellung zur Geschichte der Konstanzer Juden, ihrer Ausgrenzung und Verfolgung in der Zeit des National‐ sozialismus, nicht von einem Vertreter der heimischen Historikerzunft kam, sondern von einem Mann, der 1939 zur Flucht aus seiner Heimat gezwungen wurde. 42 Auf den ersten Blick erscheint der „Konstanzer Antifaschistenflug“ nur als eine Episode, eine - wenn auch sehr aussagekräftige - Momentaufnahme vom Prozess der Demontage und Selbstaufgabe einer Demokratie, der wenig später in die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus mündete. Diese Momentauf‐ nahme allerdings macht Protagonisten, Mit-Täter und Mit-Läufer auch auf der lokalen Ebene ebenso deutlich wie die letztlich chancenlosen Widerstände da‐ gegen. Die Stadt Konstanz, aufgrund ihrer Grenzlage als letzte Zwischenlande‐ station vor dem gefahrvollen Flug über die Alpen gewählt, wird in historischen Darstellungen des Falls eher als Kulisse, als ein für einige Wochen zufälliger Schauplatz eines Geschehens von internationaler Bedeutung wahrgenommen. Ein genauerer Blick auf die Konstanzer Gesellschaft des Jahres 1931 zeigt jedoch, dass die internationale Geschichte von den lokalen und regionalen Bedingungen und Akteuren nicht zu trennen ist, dass die Kulisse selbst aktiver Teil der Handlung war. Eine moderne Stadt- und Regionalgeschichtsschreibung muss solche Schnittlinien und Bruchstellen zwischen „großer“ Geschichte und „Geschichte vor Ort“ im Auge haben, muss deren gegenseitige Abhängigkeit und Vermittlung zum Thema machen. In deutschsprachigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des italienischen Faschismus spielt das in Konstanz gescheiterte Projekt als Moment einer demokratischen Tradition des Widerstands kaum eine Rolle, der Fokus liegt auf der Massenbewegung der „Resistenza“ in den Jahren 1943 bis 1945, die Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 285 43 L I L L , Rudolf: Das faschistische Italien (1919/ 22 - 1945), in: Altgeld, Wolfgang / Lill, Rudolf: Kleine italienische Geschichte, Stuttgart 2004 sowie S C H I E D E R , Wolfgang: Der italienische Faschismus 1919-1945, München 2010 und W O L L E R , Hans: Rom, 28. Oktober 1922 - Die faschistische Herausforderung, München 1999 gehen auf die „Antifaschistenflüge“ und den italienischen Widerstand vor 1943 nicht ein, die Namen von Bassanesi, Rosselli und Tarchiani sucht man dort vergeblich - der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Resistenza am Ende des Krieges. Auch das italienische Stan‐ dardwerk von S C A R A N O , Federico: Mussolini e la Repubblica di Weimar. Le relazioni diplomatiche tra Italia e Germania dal 1927 al 1933. Napoli 1996, behandelt diese Formen des Widerstands nicht. In seinem umfassenden Standardwerk „Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert“ (München 2010) beleuchtet Woller die Formen, Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten des Widerstands in Italien und im Ausland wie auch das Netzwerk von Spionage, Einschüchterung und gewaltsamer Unterdrückung jeglicher Opposition. 44 So wurde Alberto Tarchiani nach dem Krieg der erste Botschafter Italiens in den USA. Allerdings gibt es in Italien auch erhebliche Lücken in der Aufarbeitung der eigenen faschistischen Vergangenheit wie auch starke Tendenzen, die Figur Mussolini zu rehabilitieren und in einem positiven Licht zu sehen - bis hin zu seiner fast kultischen Verehrung. Dazu: M A T T I O L I , Aram: „Viva Mussolini! “: Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Paderborn 2010 sowie W O L L E R , Hans: Mussolini. Der erste Faschist, München 2019; S C H Ä F E R , Christoph: Italien - Blinde Stellen in der Faschismus- Aufarbeitung. (Beitrag im Deutschlandfunk vom 27.4.2020: https: / / www.deutschlandf unk.de/ italien-blinde-stellen-in-der-faschismus-aufarbeitung-100.html. schließlich maßgeblich zum Sturz des faschistischen Regimes beigetragen hat. 43 In Italien selbst ist vor allem die Geschichte der Resistenza gut erforscht und im öffentlichen historischen Bewusstsein präsent. Menschen, die daran aktiv teilgenommen hatten, konnten unmittelbar nach dem Krieg in hohe Staatsämter gelangen und waren allgemein angesehen. 44 Das Fehlen einer solchen Tradition in Deutschland und die lange Zeit vorherrschende Gleichsetzung des deutschen Widerstands gegen Hitler mit dem 20. Juli 1944, allenfalls noch mit Johann Georg Elser und der Weißen Rose, haben sicher mit dazu beigetragen, dass Unternehmungen, wie sie hier geschildert wurden, in unserer historischen Erinnerung nicht mehr präsent sind. Sicher spielte dabei auch eine Rolle, dass der Konstanzer „Antifaschistenflug“ - im Unterschied zum Flug über Mailand 1930 - als Aktion des Widerstands gescheitert war und auch der Prozess vor dem Landgericht Konstanz nicht als Tribüne gegen die italienische Diktatur genutzt werden konnte. Im Gegenteil: Die Anweisung des Auswärtigen Amts in Berlin an die Badische Regierung, dass sämtliche Flugblätter und Flugschriften, die man im Auto der Italiener beschlag‐ nahmt hatte, zu vernichten seien, zeigt, dass man die Kritik der italienischen Emigranten gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte: Nichts sollte mehr daran erinnern, dass es hier in Deutschland, hier in Konstanz Warnungen gegeben 286 Werner Trapp 45 GLA 233 / 25958 Schreiben des Auswärtigen Amts an das Badische Staatsministerium vom 18.12.1931. 46 http: / / www.amicigiovannibassanesi.ch/ index.php. hatte vor einer Diktatur, die in vielem nur zu bald Vorbildcharakter für das Deutschland der Jahre nach 1933 bekommen sollte“. 45 Abb. 5: Il volo dei volantini - Skulptur der Künstlerin Clara Conceprio-Sangiorgio in Lodrino / Tessin (Associazione Amici di Giovanni Bassanesi) Dass die Konstanzer Ereignisse vom November 1931, dass vor allem Giovanni Bassanesi, Carlo Rosselli und Alberto Tarchiani möglicherweise einen anderen Platz im historischen Gedächtnis von Konstanz verdient hätten, zeigt das Beispiel Lodrino im Tessin - der Gemeinde, von der Bassanesi im Juli 1930 zusammen mit Gioacchino Dolci zu seinem Flug über Mailand startete. Dort hat sich 2010 eine „Associazione di Amici Giovanni Bassanesi“ gegründet, die sein Andenken mittels zahlreicher kultureller und politischer Aktivitäten wachhält. Anlass war der 80. Jahrestag des Mailand-Fluges von Bassanesi. Man organisiert Vorträge, Konferenzen, pflegt ein Archiv und fördert Publikationen zum Thema. 46 An der Stelle am Gotthard, an der Bassanesi auf dem Rückflug nach Frankreich abstürzte, erinnert eine Gedenktafel an ihn, und in Lodrino selbst steht seit dem Jahr 2010 eine Skulptur der Künstlerin Clara Conceprio- Sangiorgio. Ihr Titel: Il Volo dei volantini - Der Flug der Flugblätter. Schwieriges Terrain für die Gegner Mussolinis 287 Für die kritische Lektüre meines Texts, für Hinweise, Anregungen und Ergänzungen danke ich Sabine Bade, Manfred Bosch, David Bruder, Franz Hofmann, Ernst Köhler und Dieter Schott in Konstanz, Brenno Bernardi in Lodrino, Andreas Thürer in Kreuzlingen, Jakob Theurer und Walter Venedey in Berlin sowie Hans Woller in München. 288 Werner Trapp 1 Dieser Beitrag basiert auf Hᴏꜰᴍᴀɴɴ, Franz: Gelato aus Italien - Die Eisdiele Pampanin, eine Institution in Konstanz, in: Hegau 77 (2020) S.-209-230. 2 Zu den „Gelatieri“ aus dem Valle del Cadore und Val di Zoldo: O S S E S , Dietmar/ O V E R ‐ B E C K , Anna: Eiskalte Leidenschaften. Italienische Eismacher im Ruhrgebiet, Ausstel‐ lung LWL-Industriemuseum Zeche Hannover. Essen 2009; die Homepage des LWL- Industriemuseums des Landesverband Westfalen Lippe, dort ein Text zur Dauerausstel‐ lung „Eiskalte Leidenschaften“ www.lwl.org(LWL/ Kultur/ wim/ portal/ S/ hannover/ Au sstellungen/ bereiche (Aufruf am 19.8.2020); die Homepage von Untiteis e. V., Union der italienischen Speiseeishersteller, insbesondere den Text von Dr. Annalisa Carnio vom Pressebüro von Uniteis, www.uniteis.com/ pagine_de/ press_area/ eispioniere-die_i talienischen_gelatieri.htm/ selection-201.0-225.553 (Aufruf am 19.8.2020); und vor allem S C H U L T E -B E E R B Ü H L , Margrit: Wie das italienische Eis an den Niederrhein kam, in: Pause, Carl/ Carnio, Annalisa (Hg.): Gelato! Italienische Eismacher am Niederrhein. Ausstellungskatalog Clemens Sels Museum Neuss, Neuss 2017, S.-24-30. Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte Die Wege der Familie Pampanin an den Bodensee 1 Franz Hofmann „Gelatieri“ aus dem Valle del Cadore und dem Val di Zoldo in Venetien verbreiten das Speiseeis in ganz Europa Speiseeis als sommerliche Erfrischung für die breite Masse der Bevölkerung ist eine relativ neue Erfindung. Die Zutaten sind bei höheren Temperaturen leicht verderblich, und das Eis schmilzt in der Sommerhitze schnell. Es war also nicht nur eine Apparatur zur Herstellung von größeren Mengen Speiseeis nötig, sondern auch eine Vorrichtung, die es erlaubte, das Produkt gerade bei höheren Außentemperaturen für längere Zeit kühl zu halten. 2 Die technischen Voraussetzungen gab es bereits vor der Mitte des 19. Jahr‐ hunderts. Zur Kühlung konnten kommerziell im Winter abgebaute Eisblöcke verwendet werden, später das industriell produzierte Stangeneis. Erst seit den 1950er Jahren verwenden die Speiseeishersteller (ital. Gelatieri, von Gelato = Speiseeis) statt des Stangeneises andere, modernere Kühlsysteme. Zur Herstellung von Speiseeis wurde eine „Eismaschine“ genutzt, ein dop‐ pelwandiges Gefäß mit von Hand, später maschinell betriebener Kurbelvor‐ richtung. Der Zwischenraum zwischen den Wänden wurde mit zerstoßenem Kühleis aufgefüllt, dem Salz zugefügt wurde, um die Temperatur weiter abzu‐ senken. Durch eine Drehvorrichtung wurde die Speiseeismasse im inneren Behälter vermischt, gegen die kalten Metallwände gestrichen und so nach etwa 20 bis 30 Minuten kalt und hart. Nach dieser Prozedur wurde das fertige Speiseeis in Holzfässer umgefüllt, die von Säcken umhüllt und auf diese Weise wärmeisoliert waren. So hielt das Eis sich mehrere Stunden kühl und in fester Form. Das so aufwendig produzierte Speiseeis war zunächst ein seltenes und teures Produkt. Es waren die Bewohner zweier Gebirgstäler auf der italienischspra‐ chigen Seite der Dolomiten, dem Valle del Cadore und dem benachbarten Val di Zoldo (Provinz Belluno, Region Venetien), die das Speiseeis in ganz Europa verbreiteten und für die einfache Bevölkerung zugänglich und erschwinglich machten. In den beiden Dolomitentälern hatte die Saisonarbeit bereits eine lange Tradition. Die Gegend war sehr arm, Arbeit gab es kaum. Die Menschen mussten flexibel und erfinderisch sein. Im Sommerhalbjahr arbeiteten die Männer in der Landwirtschaft und in der Holz- und Metallverarbeitung, stellten Brillengestelle her - dafür war das Valle del Cadore berühmt - oder fertigten Schlösser und Nägel in allen Größen - wofür das Val di Zoldo bekannt war. In den Wintermonaten zogen die Männer zu Fuß durch die Städte Norditaliens, wo sie auf der Straße kandierte Früchte, gebrannte Mandeln, heiße Maroni, gekochte Birnen und anderes verkauften. Es war also nicht abwegig, dass gerade diese vielseitigen saisonalen Wander‐ verkäufer ab etwa 1850 auf die Herstellung von Speiseeis und dessen Verkauf im Umherziehen kamen. Damit konnten sie ihre bisherige Produktpalette zu erweitern und nun auch in den Sommermonaten ihre Einkünfte aufbessern. Die nötigen Kenntnisse wurden wahrscheinlich über österreichische Konditoren nach Venetien vermittelt. Norditalien gehörte bis 1866 zum habsburgischen Kaiserreich Österreich-Ungarn. 290 Franz Hofmann Abb. 1: Gaspare Pampanin mit seinem Eiswagen in Arona am Lago Maggiore, 1920er Jahre (Foto: Clemens Sels-Museum Neuss) Die neue Geschäftsidee der „Gelatieri“ aus dem Valle del Cadore und dem Val di Zoldo war, das Speiseeis in größeren Mengen herzustellen und mittels Eiswagen direkt dort zu verkaufen, wo die potentiellen Käufer waren. Die Wagen wurden von Hand geschoben oder gezogen. Die ersten „Gelatieri“ gingen nicht nur in die norditalienischen Städte, sondern eben auch nach Österreich und Ungarn, vor allem nach Wien und Budapest. Von Österreich-Ungarn aus verbreiteten sich die „Gelatieri“ in ganz Mitteleuropa, vor allem ab den 1880er Jahren, als ein dramatischer wirtschaftlicher Niedergang in den Dolomitentälern viele Einwohner dazu zwang, neue Erwerbsquellen zu finden. Ein Großteil der Männer machte sich nun im Frühjahr auf nicht nur in die norditalienischen Städte, sondern auch nach Darmstadt, Hannover oder Köln, nach Brünn, Belgrad oder Sarajevo, in die Niederlande, nach Ostpreußen und bis nach Stockholm, um dort Speiseeis herzustellen und zu verkaufen. Im Herbst kehrten sie wieder zu ihren daheimgebliebenen Familien zurück und arbeiteten dort über den Winter als Arbeiter oder Handwerker. Dass das Eis mehr und mehr in festen Eisdielen verkauft wurde, geht auf protektionistische Vorschriften in Österreich zurück, die die Eiswagen zeitweise verboten, um die einheimischen Konditoren, Kaffeehäuser und ambulanten Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 291 3 Deutsches Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1933, S. 510-514; die Verordnung trat am 1.10.1933 in Kraft. Süßwarenverkäufer vor der überhandnehmenden italienischen Konkurrenz zu schützen. Die erfinderischen „Gelatieri“ aus den beiden Dolomitentälern mieteten kurzerhand kleine Lokale an, installierten dort Bänke und einen einfachen Verkaufstresen und erfanden so die Eisdiele. Besonders erfolgreich war Tomea Andrea Bareta, der 1865 die Erlaubnis erhielt, im Wiener Prater einen Eiswagen aufzustellen. 1874 zog er nach Leipzig, wo er 1890 schon 24 Eiswagen betrieb. Seinem Sohn gehörten um die Jahrhundertwende in Budapest zwölf Eisdielen und 60 Eiswagen. Einen Einbruch bedeutete der Erste Weltkrieg, als Italien auf der Seite der Alliierten gegen Deutschland und gegen Österreich-Ungarn kämpfte. Die Aktivitäten der „Gelatieri“ kamen allerorts zum Erliegen, die Rücklagen wurden aufgebraucht. Die wirtschaftliche Situation in den Gebirgstälern war katastro‐ phal, was dazu führte, dass nach Kriegsende fast alle Einwohner loszogen, um Speiseeis herzustellen und zu verkaufen. Deutschland wurde bald zum bevorzugten Ziel. Dort begann ab etwa 1925 eine regelrechte Blütezeit des italienischen Speiseeises. Das Geschäft verlagerte sich fast ganz vom Eiswagen weg auf feste Eisdielen - und davon gab es bald Hunderte, vor allem am Niederrhein mit seiner prosperierenden Industrie und der damit verbundenen dynamischen Bevölkerungsentwicklung. Nun kamen vermehrt auch die Frauen mit und halfen ihren Männern in der Saison bei der Bedienung und der Bewirtschaftung der Eisdielen. Die Kinder blieben grundsätzlich in Italien, wenn nötig bei den Großeltern, und gingen dort auch zur Schule. Die Bedingungen für die italienischen Saisonarbeiter waren in Deutschland günstig, insbesondere ab 1933 mit der politischen Annäherung der beiden faschistischen Diktatoren Hitler und Mussolini, der sogenannten Achse Berlin- Rom. Italiener galten im tendenziell fremdenfeindlichen Nazi-Deutschland als „gute“ Ausländer (bis 1943) und hatten kaum Anfeindungen zu befürchten. Die deutsche Reichsregierung bemühte sich, das boomende Geschäft mit den italienischen Eisdielen in geordnete Bahnen zu lenken. Am 15. Juli 1933 veröf‐ fentlichten das Reichsinnen- und das Reichslandwirtschaftsministerium eine äußerst ausführliche Verordnung über Speiseeis, die von der Herstellung bis zum Verkauf jedes Detail regelte und für Rechtssicherheit sorgte. 3 Es ist aus Sicht der heutigen, globalisierten und vernetzten Wirtschaftsbe‐ ziehungen fast nicht mehr nachvollziehbar, dass über viele Jahrzehnte die Eismacher aus zwei Dolomitentälern das Geschäft mit Speiseeis in ganz Europa 292 Franz Hofmann 4 Vgl. den Wikipedia-Artikel „Gelatiere“, https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Gelatiere (Aufruf am 19.8.2020). 5 Alle Informationen zu Pampanin in Düsseldorf, Viersen und Moers aus Stadtarchiv Konstanz (StA KN), S IX 2376, Betrieb eines Cafés und der Eisdiele Dolomiti, Hussen‐ straße 20, 1938-1957; hieraus auch alle Zitate in diesem Kapitel. Alle Informationen zu Zoppè di Cadore und zur Familie Pampanin durch freundliche Mitteilung von Tiziano Pampanin, Eisdiele Pampanin, am 24.9.2020. beherrschten. Und noch heute kommen etwa zwei Drittel aller 4000 Besitzer von Eisdielen in Deutschland aus dem Valle del Cadore und dem Val di Zoldo. 4 Romano Pampanin aus Zoppè di Cadore in Düsseldorf, Viersen und Moers (1933-1937) Auch Romano Pampanin (1894-1976), der später die erste Eisdiele in Konstanz eröffnete, stammte aus dem Cadore-Tal, genauer aus Zoppè di Cadore. 5 Dort trägt etwa die Hälfte der Einwohner den Namen Pampanin, der in dieser Schreibweise auch nur in Zoppè vorkommt. Die Entwicklung der Dolomiten‐ täler lässt sich an Zoppè beispielhaft beobachten. Das Dorf hatte einmal um die 800 Einwohner, heute sind es nur noch knapp 200. Zoppè war immer arm, die meisten Einwohner sind ausgewandert, besonders nach dem Ersten Weltkrieg reichte es kaum noch zum Überleben. Die Menschen waren notgedrungen vielseitig: Romano Pampanin arbeitete unter anderem als Metzger, Schreiner, Schuster, im Hausbau und in der Landwirtschaft, eine Berufsausbildung hatte er nicht. Sein 1918 verstorbener Vater Antonio hatte ebenfalls als Handwerker und in der Landwirtschaft gearbeitet, was sich gerade ergab, immerhin besaß die Familie ein wenig Land. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, mit 14 Jahren, zog Romano Pampanin mit seinem Vater mit dem Eiswagen durch Budapest. Nach dem Krieg machte er sich mit seinem Bruder Antonio, genannt Tone, in der Sommersaison auf, Speiseeis zu verkaufen. Sie eröffneten eine erste Eisdiele in Stradella (Provinz Pavia) in der Po-Ebene. Im März 1933 - in Deutschland ein schicksalsträchtiger Monat, am 23. März beschloss der Reichstag das sogenannte Ermächtigungsgesetz, das Hitler zum uneingeschränkten Diktator machte - kam Romano Pampanin nach Deutschland, und zwar wie so viele „Gelatieri“ an den Niederrhein. Sein Bruder Antonio war inzwischen in die USA ausgewandert. Romano eröffnete zusammen mit seinem Vetter Vittorio Pampanin eine Eisdiele in der Klosterstraße 58 in Düsseldorf. Sie bestand allerdings nur eine Saison, da die Konkurrenz groß und die gewählte Lage in einer Nebenstraße schlecht war. Die beiden Cousins ließen sich jedoch nicht entmutigen und Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 293 6 Verein für Heimatpflege Viersen (Hg.): Viersen im Wandel der Zeiten - Straßenbilder (Viersen - Beiträge zu einer Stadt 44) Viersen 2018, S.-87. eröffneten im März 1934 im etwa 30 km westlich von Düsseldorf gelegenen Viersen, in der Hauptstraße 57, erneut eine Eisdiele, die nun sehr gut lief und bis zum Zweiten Weltkrieg bestand. Es ging beim Besuch einer Eisdiele natürlich nicht allein um den Genuss von erfrischendem Speiseeis: „Der Eissalon Pampanin machte die Viersener mit italienischer Lebensart bekannt.“ 6 Abb. 2: Der „Viersener Eis Salon Pampanin“ in Viersen, Hauptstraße 57. Der Eisbottich mit der Handkurbel war im Innenraum ausgestellt. Postkarte, 1930er Jahre (Sammlung Albert Pauly, Viersen) Romano Pampanin war der Ausländerabteilung der Stadt zufolge bereits ab 17. März 1933 in Viersen gemeldet, nicht in Düsseldorf, wo sich 1933 die Eisdiele befand. Demnach war das Geschäft in Viersen offenbar bereits 1933 geplant und die beiden Cousins hatten von Anfang an vor, zwei Eisdielen zu gründen. Durch den Misserfolg in Düsseldorf konzentrierten sie sich zunächst auf das Geschäft in Viersen. Romano Pampanin hielt sich immer den Sommer über in Viersen auf 294 Franz Hofmann 7 T R A P P , Werner: Konstanz als „Visitenkarte“ und „Bollwerk“ des Reiches. Das Janus‐ gesicht der Stadtentwicklung 1934-1938, in: Burchardt, Lothar/ Schott, Dieter/ Trapp, Werner: Konstanz im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1914 bis 1945 (Geschichte der Stadt Konstanz, 5) Konstanz 1990, S.-267-330, insbesondere 267-292. und meldete sich im Herbst nach Zoppè di Cadore ab. In Viersen war er vom 7. März bis 19. September 1934, vom 3. Mai bis 30. September 1935, vom 5. Mai bis 6. Oktober 1936. Für seinen Vetter Vittorio dürften die Daten ähnlich gewesen sein. Am 5. März 1937 meldete sich Romano Pampanin wieder in Viersen an, nun aber, um von dort aus im etwa 30 km nordöstlich von Viersen gelegenen Moers eine neue Eisdiele zu gründen. Vetter Vittorio Pampanin führte das Geschäft in Viersen weiter. Romano meldete sich in Moers am 20. Mai 1937 an. Die Polizeibehörde Moers berichtet 1938: Romano Pampanin hat hier vom 20.5.37-10.9.37 Steinstraße 36 gewohnt. Er war hier als verheiratet gemeldet, ist aber ohne Frau hier wohnhaft gewesen. Wohl hatte er sein Kind Attilio Pampanin, geb. 10.6.26, bei sich. Das wirft ein interessantes Licht auf die Organisation der Familienbetriebe der „Gelatieri“. So wurde der älteste, zu diesem Zeitpunkt erst elfjährige Sohn Attilio ganz selbstverständlich an das Geschäft herangeführt, zumal jede zusätzliche Hand bei der Eisherstellung gebraucht wurde. In Moers war Romano Pampanin allerdings wieder kein Erfolg beschieden, da dort bereits mindestens drei bis vier weitere Eisdielen bestanden. In seiner Suche nach einem geeigneten neuen Ort beschränkte er sich nun nicht mehr nur auf das Niederrheingebiet, sondern kam auf Konstanz am Bodensee, wo er sich offenbar günstige Voraussetzungen für ein gutgehendes Geschäft erhoffte und wo es bislang noch keine Eisdiele gab. Wie Pampanin auf Konstanz und den Bodensee aufmerksam wurde, ist nicht überliefert. Eine wichtige Rolle bei dieser Entscheidung spielte sicher der systematische Ausbau von Konstanz zu „der Fremdenstadt im deutschen Süden“ in der NS- Zeit, unterstützt durch Werbefeldzüge, den Ausbau der Infrastruktur und die stetige Verbesserung der Serviceleistungen für Gäste. 7 Genannt seien der Bau des Strandbad Jakob am Seeufer (1934), der Bodenseekampfbahn am Horn (1935), des Kur- und Hallenbades am Seerhein (1937) und der Konzertmuschel im Stadtgarten (1938), aber auch die Veranstaltung von Regatten, Konzerten, Thea‐ teraufführungen und des jährlichen Seenachtsfestes mit Riesen-See-Feuerwerk. So konnte Pampanin für die Sommersaison mit genügend Kundschaft in seiner geplanten Eisdiele rechnen. Aus heutiger Sicht ist es eher verwunderlich, dass es in Konstanz und anscheinend auch am ganzen Bodensee bis 1938 Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 295 8 Alle Informationen zu Pampanin in Konstanz 1938-1943 nach StA KN, S IX 2376 (wie Anm. 5), hieraus auch alle Zitate in diesem Kapitel. keine oder noch kaum eine Eisdiele gab, während sich die „Gelatieri“ aus den Dolomiten in den niederrheinischen Städten überall gegenseitig Konkurrenz machten. Romano Pampanin eröffnet und betreibt die erste Eisdiele in Konstanz (1938-1943) Trotz der Erfahrung, die Romano Pampanin bereits mit dem Betrieb von Eisdielen auch in Deutschland gesammelt hatte, musste er einige Hürden über‐ winden, bevor er sein Geschäft in Konstanz eröffnen konnte. 8 Bemerkenswert sind seine Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit, sein professionelles Herangehen und sein wirtschaftlicher Wagemut. Er wird in den Akten daher auch richtig als Kaufmann bezeichnet, nicht als schlichter Eismacher oder Eisverkäufer. Abb. 3: Romano Pampanin (1894-1976), aufgenommen im Juni 1940 im Alter von 45 Jahren (Foto: Familie Pampanin, Konstanz und Zoppè di Cadore) Am 10. September 1937 meldete er sich aus Viersen ab, war dann wohl - wenn überhaupt - nur kurze Zeit in Zoppè di Cadore und stellte schon am 3. Januar 1938 beim Bezirksamt Konstanz den Antrag auf Erteilung der Erlaubnis zum Betrieb einer Speiseeiswirtschaft. Wohlweislich engagierte er für die Abfassung dieses Antrags einen Konstanzer Rechtsanwalt, schon allein deshalb, weil er als Italiener, der nicht sehr gut Deutsch sprach, befürchten musste, in den deutschen Amtsmühlen aufgerieben zu werden. 296 Franz Hofmann Pampanin hatte bereits passende Geschäftsräume gesucht und gefunden, indem ihm im Hause Hussenstraße 20 hier die dazu erforderlichen Räume im Erdgeschoss dieses Hauses (jetziges Schokoladengeschäft Josef Hetzenecker) von der Hauseigentü‐ merin, Frau Grete Rauner, hier, auf 1. Februar ds. J. zur Pacht angeboten worden sind. Im Gesuch beschreibt Pampanin den geplanten Betrieb, wobei er besonderen darauf abhebt, dass er keine Getränke ausschenken oder Kuchen und derglei‐ chen anbieten will: In der Speisewirtschaft werden ausschließlich die verschiedenen Sorten Speiseeis mit Schlagsahne verabreicht. Die Gäste werden durch Bedienungspersonal bedient. Außer dem Gesuchsteller werden für Mitarbeit und Bedienung zunächst 2-3 Personen benötigt werden. Zur wirtschaftlichen Perspektive führt Pampanin aus: Da in Konstanz kein einziges derartiges Spezialgeschäft besteht, erscheint die Bedürf‐ nisfrage [der Bedarf] ohne Weiteres gegeben. Der Gesuchsteller macht geltend, dass an anderen Plätzen in derselben Größe wie Konstanz, oder zum Teil von geringerer Einwohnerzahl und geringerem Fremdenverkehr, bereits vielfach 2-3 solche Speiseeis‐ wirtschaften bestehen und ihr Fortkommen haben. Die Sache war also bestens vorbereitet und wohlüberlegt. Doch die alteinge‐ sessenen Konditoreien und Cafés wehrten sich massiv gegen die drohende Konkurrenz. Schon eine erste polizeiliche Erhebung durch die Stadt hatte am 16. Januar 1938 das deutliche Fazit: Die Bedürfnisfrage ist zu verneinen. Zwar habe der Fremdenverkehr in Konstanz gewaltig zugenommen, doch hätten die meisten Konditoreien bereits darauf reagiert und böten im Sommer Speiseeis an. Auch gebe es einen Speiseeisverkauf in Kiosken und Eiswagen. Das Eis werde aber immer zusätzlich und nicht ausschließlich verkauft. Das sei ja auch einleuchtend und verständlich, da der Verkauf von Speiseeis nicht nur auf die Sommermonate begrenzt, sondern auch vom Wetter abhängig sei. Wenn an sich nur 4 Monate dieses Geschäft einige Erträge abwirft, dann bleiben immer noch 8 Monate im Jahr, die wenig Verdienst bringen. Dem italienischen Antragsteller wurde also schlicht abgesprochen, seine Geschäftsidee genügend durchdacht zu haben, obwohl er - wie die vielen anderen „Gelatieri“ in Deutschland - ja bereits bewiesen hatte, dass er ein solches Geschäft erfolgreich betreiben konnte. Die Konditoren-Innung des Handwerkskammerbezirks Konstanz begründete ihren Einspruch am 18. Januar 1938 so: Die Ansäßigen Konditoreien liefern zum selben Preise eine erstklassige Qualität. Abgesehen davon, dass das nicht gegen eine zusätzliche reine Eisdiele spricht, schreibt der Obermeister der Innung Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 297 - selbst Betreiber eines Cafés - entlarvend, jedes eingesessene Geschäft habe schon jetzt einen harten Existenzkampf in der heutigen Zeit zu bestehen. Es ging also allein darum, die italienische Konkurrenz zu verhindern. Dass es keinen Bedarf gebe, war also nur vorgeschoben, wurde aber vehement behauptet. So urteilte auch die Ortsgruppe Konstanz der Wirtschaftsgruppe Gast‐ stätten- und Beherbergungsgewerbe am 25. Januar, das Gesuch sei abzulehnen, denn es handele sich von vornherein um einen kranken Betrieb, der nie lebensfähig werden kann. Einspruch erhob am 2. Februar auch die Kreisverwaltung Konstanz der Deutschen Arbeitsfront, da eine Bedürfnisfrage für eine solche Eisdiele nicht vorhanden sei. Dementsprechend forderte der Oberbürgermeister von Konstanz im Namen der Stadt das Bezirksamt auf, das Gesuch in dortiger Zuständigkeit ablehnen zu wollen. Abb. 4: Die Eisdiele Pampanin in Konstanz, Hussenstraße bzw. Römerstraße 20, 1938- 1943, mit „marmorbekleidetem Büffet“ und einer „vollkommen geräuschlos laufenden Eismaschine“, wie Romano Pampanin stolz schreibt. (Foto: Familie Pampanin, Konstanz und Zoppè di Cadore) Romano Pampanin legte dagegen sofort, am 2. März, Berufung ein und forderte, der Bezirksrat solle über sein Gesuch entscheiden. Nochmals legt er am 10. März in aller Ausführlichkeit seine Pläne dar. Ein Bedarf liege zweifellos vor, es dürften nur gleichartige Geschäfte mit seiner geplanten reinen Speiseeiswirtschaft ver‐ glichen werden, nicht Gaststätten, Konditoreien und Cafés allgemein. Er wolle weder Konditoreierzeugnisse noch Getränke verkaufen. Der Bezirksrat beschloss am 12. April 1938, offensichtlich für alle Gegner überraschend und unverständlich, Romano Pampanin unter Zurückweisung aller Einsprüche die Erlaubnis zum Betrieb einer Speiseeiswirtschaft zu erteilen. Dass der Antragsteller weder Einheimischer noch Deutscher war und auch 298 Franz Hofmann 9 Deutsches Reichsgesetzblatt, Jahrgang 1934, S. 709-710; dort wird bezüglich der Geneh‐ migung von Eisdielen allerdings nur auf das allgemeine Gaststättengesetz verwiesen. 10 W E L G E , Jobst: Die Geschichte einer Eisdiele, erzählt von Flavio Pampanin, in: Neues Nebelhorn 5 (1990) S.-4. nicht über „Beziehungen“ verfügte, spielte auf eine wohltuende Weise bei der Entscheidung keine Rolle. Es seien keine stichhaltigen Gründe gegen die Zulas‐ sung einer Eisdiele vorgebracht worden, zudem müsse gemäß der Verordnung des Reichswirtschaftsministers vom 16. Juli 1934 9 sowieso bei Eisdielen ein weit milderer Maßstab angelegt werden als bei sonstigen Wirtschaftsbetrieben. Und was die Wirtschaftlichkeit angehe, meinte der Bezirksrat lapidar: Sollte der Betrieb des Pampanin [sich] nicht rentieren, dann hätten diejenigen Recht behalten, die sich dagegen ausgesprochen hätten. Heißt im Klartext, das war das übliche Risiko eines Geschäftsgründers, nicht mehr und nicht weniger. Die Sorge war allerdings mehr als unbegründet, denn die Eisdiele Pampanin in der Hussenstraße, die im Laufe des Jahres 1938 in Römerstraße umbenannt wurde, war ein voller Erfolg. Sohn Flavio erinnert sich: „Das Geschäft lief in der Tat glänzend. […] Die Leute standen in langen Schlangen vor dem Geschäft, so daß die Polizei den Besucherverkehr regeln mußte; die Eisproduktion konnte kaum mit dem Konsum schritthalten.“ 10 Rückblickend heißt es in einem im September 1945 verfassten Schreiben, als die Eisdiele neu eröffnet werden sollte (siehe unten), schon in den Jahren 1938/ 39 habe sich diese eine Eisdiele eines überaus regen Besuches erfreut. Und: Nicht anders war es in den Kriegsjahren, in denen […] Herr Pampanin sich während der Sommermonate ebenfalls immer regsten Zuspruchs seitens der Bevölkerung erfreute. Jedermann in Konstanz weiß, dass die Eisdiele sich gar oft als viel zu klein für den Andrang des Publikums erwiesen hat. Der Zweite Weltkrieg beendete diese Erfolgsgeschichte. Die Versorgungslage wurde immer schwieriger. Pampanin benötigte für seine Eisdiele sehr große Mengen Zucker, Eier, Milch und dergleichen, also gerade solche Lebensmittel, die in Kriegszeiten rationiert und daher schwer zu organisieren waren. Nach wie vor hielt sich Pampanin immer den Winter über in Zoppè di Cadore auf und öffnete im Frühjahr wieder seine Eisdiele in Konstanz. Betriebsprüfungen ergaben nie Beanstandungen, zuletzt hieß es am 17. Juni 1943: Der genannte Betrieb war in Bezug auf Reinlichkeit und Herstellung von Kunsteis nicht zu beanstanden. Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 299 Abb. 5: Romano Pampanin (rechts) und Freunde im Hinterhof seiner Eisdiele in Konstanz, Hussenstraße bzw. Römerstraße 20, 1941 (Foto: Familie Pampanin, Konstanz und Zoppè di Cadore) Doch schon kurz darauf, im Juli 1943 schloss Romano Pampanin seine Eisdiele. Er selbst schreibt später (1951): Durch Einschränkung in der Ernährung erhielt [ich] keinen Zucker, Milch und andere Materialien mehr, sodass ich durch die damaligen Kriegsverhältnisse mein Geschäft zwangsweise schließen musste. Eine Weiterführung des Geschäftes wäre auch später, nach dem Kriege, gänzlich unmöglich gewesen. Die Miete überwies er aber weiterhin, da er vorhatte, sobald wie möglich seine Eisdiele in Konstanz wiederzueröffnen. Die Schließung und seine Rückkehr nach Italien kamen aber gerade noch rechtzeitig, denn am 8. September 1943 trat Italien aus dem Krieg aus und kündigte die Achse Berlin-Rom auf, das Bündnis mit Nazideutschland. Die deutsche Wehrmacht nahm die ehemals verbündeten italienischen Soldaten gefangen, ermordete dabei etwa 25 000 von ihnen (vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Klöckler in diesem Band) und besetzte Italien. Aus den „guten“ waren „feindliche“ Ausländer geworden. Romano Pampanin tat gut daran, bis zum Kriegsende und darüber hinaus im Valle del Cadore zu bleiben. Dort betrieb er im Sommer eine Metzgerei und im Winter eine Fischrösterei. 300 Franz Hofmann 11 Alle Informationen zur Eisdiele Pampanin (1945-1951) nach StA KN, S IX 2376 (wie Anm. 5), hieraus auch alle Zitate in diesem Kapitel. Der Kampf um die Eisdiele in der Hussenstraße 20 nach dem Krieg (1945-1951) An eine Wiedereröffnung der Eisdiele war direkt nach Kriegsende nicht zu denken. 11 Die Versorgungslage war prekär, die wirtschaftliche Situation kata‐ strophal, die politische Lage unsicher. Zudem erhielt Romano Pampanin bis 1948 von den alliierten Behörden keine Einreisegenehmigung nach Deutschland - ihm waren also die Hände gebunden. Andere sahen die verwaiste Eisdiele in der - wie sie nun wieder hieß - Hussenstraße dagegen als große Chance, im zerstörten Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen. Der Kampf um die Eisdiele Pampanin wirft ein Schlaglicht auf die Situation in Konstanz in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Auffällig ist, dass es nur Auswärtige waren, die hier aktiv wurden - und zum Teil keine Mittel scheuten, ans Ziel zu kommen. So meldete sich schon am 27. Juni 1945 die 1912 geborene Dora Volk aus Berlin und ersuchte um die Geneh‐ migung zur Eröffnung eines Eissalons […] für die französische Armee, welcher in der Römerstraße 20 ist. Ein Capitain Bertrix der Besatzungsarmee habe mündlich seine Befürwortung zugesichert. Am 16. Juli 1945 meldete sich aber auch der 1899 geborene, ehemalige Berliner Buchdruckereibesitzer Walter Gottheim, dass er und seine jüdische Ehefrau die in Konstanz, Römerstraße 20, befindliche Eisdiele wieder in Betrieb setzen wollten, und zwar zur ausschließlichen Belieferung der Besatzungsmacht. Er habe dazu bereits mit dem französischen Gouvernement Militaire Rücksprache gehalten. Der Bevollmächtigte des Romano Pampanin in Konstanz, Otto Genter, schloss am 25. Juli 1945 einen Pachtvertrag mit Dora Volk, Gottheim zog daraufhin seinen Antrag zurück. Pampanin hoffte mit diesem Untermietvertrag, wenigstens die laufenden Kosten für Miete etc. für sein bereits seit zwei Jahren geschlossenes Geschäft nicht mehr zahlen zu müssen. Zweifellos ging er davon aus, später wieder selbst die Eisdiele zu betreiben. Wahrscheinlich bezahlte Dora Volk noch keine Pacht, solange sie noch keine Konzession hatte. Außerdem hatte sie, wie sich zeigte, vor, das Geschäft ganz zu übernehmen. So gab sie in ihrem Antrag wahrheitswidrig an, der bisherige Inhaber G. Panolin sei ein flüchtiger italienischer Faschist, daher sei sein Geschäft seit Frühjahr 1945 geschlossen (seit Einmarsch der franz. Truppen). Offenbar glaubte sie, die Eisdiele gegen die legitimen Ansprüche des Ausländers Pampanins eher übernehmen zu können, wenn sie diesen diskreditierte und noch dazu seinen Namen falsch angab. Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 301 Am Ziel war Volk gleichwohl noch nicht. Für das Landratsamt war, wenn überhaupt, angesichts des Zuckermangels nur ein Betrieb für die Besatzungs‐ macht denkbar, der dann aber gar nicht von deutschen Behörden genehmigt werden musste. Gegen eine „reguläre“ Eisdiele wandten sich wiederum ent‐ schieden die Kreisgeschäftsstelle Konstanz des Gaststättengewerbes und die Bäckerinnung. Das strenge Milch- und Zuckerkontingent für Konstanz reiche bei weitem nicht aus, so dass der Betrieb einer Eisdiele zu Lasten der ganzen Bevölkerung gehe. Einen Bedarf gebe es insoweit nicht, als die vorhandenen Konditoreibetriebe auf Anordnung der Besatzungsmacht schon seit längerer Zeit geschlossen seien. Dem Einspruch schloss sich auch die Stadt Konstanz an. Demensprechend lehnte das Landratsamt Konstanz am 22. August 1945 den Antrag ab. Dora Volk legte am dagegen Widerspruch ein: Wohl gebe es einen Bedarf für eine Eisdiele für die 50 000 Einwohner von Konstanz, wie schon der Erfolg Pampanins - den Namen schreibt sie nun richtig - gezeigt habe. Abgesehen davon, dass Konstanz 1945 in Wahrheit nur 38 000 Einwohner hatte, geht es nun eindeutig um eine Eisdiele für die Bevölkerung, nicht allein für die Besatzungssoldaten. Am 16. Oktober 1945 schreibt Rechtsanwalt Kimmig im Auftrag von Volk, sie wolle nun im Haus Hussenstraße 20 ein Café betreiben, dort Kaffee, Tee und Limonade ausschenken und Eis und Gebäck verabreichen. Auch dieses Gesuch lehnte das Landratsamt am 28. Dezember 1945 ab. Am 15. Januar 1946 erhob Volk wieder mit Hilfe ihres Rechtsanwalts Ein‐ spruch und zog nun einen weiteren Trumpf: Ein Offizier namens Duteil von der Abteilung Personnel du Général des Quartier Général bestätigte in einem beigelegten Schreiben vom 18. Dezember 1945, dass die Wiederinbetriebnahme des in der Hussenstraße 20 in Konstanz gelegenen Eis-Salons zu begrüßen und deshalb zu befürworten sei. Wenn die Besatzungsmacht involviert war, wurde die Sache heikel. Das Landratsamt ließ daher ein Verzeichnis der im Stadtkreis Konstanz konzessionierten Kaffees erstellen, das 19 Cafés auflistet, von denen zwölf in Betrieb, drei weitere für Besatzung offen und nur vier außer Betrieb waren. Die Akten wurden nun an das Badische Ministerium des Inneren nach Freiburg zur Entscheidung gesandt. Dieses lehnte am 25. März 1946 das Gesuch Dora Volks endgültig ab, vor allem weil ein Bedarf an einem zusätzlichen Café in Konstanz nicht bestehe. Wieder akzeptierte Volk den Beschluss nicht und versuchte ihn auszuhebeln. Am 30. März 1946 sprach Oberfeldwebel Daumain von der französischen Garnison Konstanz im Landratsamt vor. Er beabsichtige in der Hussenstraße 20 die Eröffnung eines Eissalons, für die er den Pachtvertrag der Inhaberin Volk und die Genehmigung der Militärregierung vorlegte. Der Landrat antwortete, dass 302 Franz Hofmann eine Konzession für einen ausschließlich für die Besatzungsmacht arbeitenden Betrieb nicht erforderlich sei. Sollte das Geschäft späterhin auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht werden, müsse aber wieder ein Konzessionsantrag gestellt werden. Die erhoffte Konzession blieb Dora Volk nach wie vor versagt, und am 13. Mai 1946 zog sie alle Einsprüche zurück. Die Räume in der Hussenstraße 20 standen weiterhin leer. Ende 1946 erschien ein weiterer Interessent mit dem ungewöhnlichen Namen Jan Introligator (polnisch für: Buchbinder). Er verhandelte mit Dora Volk über die Nutzung der Räumlichkeiten, die gegen eine Entschädigung ihren Pachtvertrag aufgab. Introligator legte als Displaced Person ein Avis favorable des Gouvernement Militaire Konstanz vor. Daraufhin wurde er vom Wohnungsamt in die Räume der ehemaligen Eisdiele Pampanin eingewiesen und schloss am 8. Dezember 1946 einen Mietvertrag mit der Hausverwalterin Grete Rauner ab. Das Problem dabei war, dass damit Romano Pampanin völlig übergangen wurde und ein Dritter ohne seine Zustimmung in seine ehemalige Eisdiele einzog. Pampanin hatte ja 1938 mit Grete Rauner einen Pachtvertrag abge‐ schlossen und 1945 über seinen Bevollmächtigten Otto Genter die Räume an Dora Volk nur untervermietet. Der Pachtvertrag war eigentlich noch gültig, aber Genter war 1946 verstorben und konnte daher nicht intervenieren. Aber es kam noch komplizierter. Obwohl Introligator ab Ende 1946 in den Räumen der Eisdiele wohnte, stellte der 1906 in Basel geborene, seit 1942 in Konstanz lebende Bäcker und Konditor Oskar Bühler am 17. Januar 1947 den Antrag auf eine Konzession für die Eisdiele in der Hussenstraße 20. Das Landratsamt machte ihm klar, dass sein Antrag aussichtslos war, aber nicht etwa, weil die Räume bewohnt waren - das wusste das Landratsamt offenbar gar nicht -, sondern weil kein Bedarf bestehe. Bühler zog seinen Antrag daher zurück. Romano Pampanin hat die neuen Umstände offenbar erst viel später mitbe‐ kommen. Er setzte Ende 1948, als er erstmals wieder in Konstanz war, den Konditor und Bäckermeister Wolfgang Genter, den Sohn des Otto Genter, als Geschäftsführer ein und erteilte diesem eine umfassende Vollmacht für die Zeit seiner Abwesenheit. In der Zwischenzeit hatte Introligator es nicht bei der Nutzung als Wohnung belassen, sondern betrieb dort ein Textilwarengeschäft. Die Einrichtung der Eisdiele war dadurch zum großen Teil zerstört worden. Wolfgang Genter versuchte, wie er am 1. April 1949 an das Landratsamt schrieb, Herrn Introligator auf gütigem Wege zu bewegen, die Räume wieder zu verlassen, nachdem Herr Pampanin beabsichtigt, seine Tätigkeit hier wieder aufzunehmen. Vor dem Amtsgericht verklagte die Hausverwalterin Grete Rauner den mittlerweile in der Döbelestraße 2 wohnenden Introligator auf Mietaufhebung Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 303 und Räumung des Geschäfts in der Hussenstraße 20. Der alte Mietvertrag mit Romano Pampanin sei nie gekündigt worden, Introligator habe die Mieträume unrechtmäßig an sich gebracht. Obwohl dies den Tatsachen entsprach, wurde die Klage am 7. Juni 1949 abgewiesen. Durch die Zuweisung der leerstehenden Räume an Introligator als Displaced Person sei ein rechtmäßiges Mietverhältnis zustande gekommen, für das der Mieterschutz gelte. Dies sei auch im Falle der Rückkehr des Kaufmanns Pampanin wirksam. Immerhin bestätigte Grete Rauner am 7. Juli 1949 schriftlich, dass sie die früheren Räume des Herrn Pampanin, sobald dieselben von Herrn Introligator wieder freigegeben sind, Herrn Pampanin […] reservieren werde. Als Introligator schließlich im Januar 1951 das Geschäft räumte, nützte diese Erklärung jedoch nichts mehr. Denn nun kam ein weiterer Interessent ins Spiel: Floriano Pra- Levis aus Forno di Zoldo, der bisher bereits eine Eisdiele in Bingen am Rhein betrieb. Woher hatte Pra-Levis die nötigen Informationen? Dafür gibt es nur die eine Erklärung, dass er zuhause im Val di Zoldo von Pampanins Schwierigkeit gehört hatte, seine Eisdiele in Konstanz wiederzubekommen. Der Heimatort von Floriano Pra-Levis ist nur wenige Kilometer von Zoppè di Cadore entfernt, wo Romano Pampanin wohnte. In einer Blitzaktion riss sich Pra-Levis die Eisdiele regelrecht unter den Nagel. Im November 1950 konnte er gegen Bezahlung einer entsprechenden Abfindungs‐ summe Introligator zum Auszug bewegen und sicherte sich den Laden durch einen 10-jährigen unkündbaren Vertrag, den er direkt mit dem schweizerischen Hausbesitzer Karl Amgwerd in Schwyz abschloss. Sofort beauftragte er den Konstanzer Immobilienmakler Eugen Sauter, sich um die Konzession für die Eisdiele in der Hussenstraße 20 zu kümmern. Am 26. November stellte er den offiziellen Antrag beim Landratsamt. Da das Lokal bereits als Eisdiele gedient hatte, genügten kleinere Umbauten und die Erneuerung der Einrichtung, die er bis Ende Januar 1951 durchführen ließ. Romano Pampanin wurde von dem schnellen Vorstoß von Pra-Levis völlig überrumpelt - das war offensichtlich auch so beabsichtigt. Über seinen Rechts‐ anwalt legte er am 31. Januar 1951 Widerspruch ein, der allerdings erst nach Ablauf der Frist einging. Er habe eine feste Zusage gehabt, sein Geschäft wieder übernehmen zu können. Er denke nicht daran, sich diese offensichtliche Schiebung gefallen zu lassen. Pampanin hatte wohl nicht ganz Unrecht, hatte jedoch die schlechteren Karten, denn der Mietvertrag von Pra-Levis mit dem Hausbesitzer war nicht anzufechten, während der Mietvertrag Pampanins von 1938 ja bereits mehrfach in Frage gestellt worden war. Am 19. März 1951 wurde Floriano Pra-Levis die Konzession erteilt, am 27. April eröffnete er das Lokal Dolomiti. Schnell stellte sich schnell heraus, 304 Franz Hofmann 12 Alle Informationen zur Eisdiele Pampanin in Konstanz ab 1951 nach StA KN, S IIa 2354, Eisdiele Romano Pampanin, Marktstätte 3, Filiale Wilhelmstraße 9, 1951-1958, und StA KN, S XI, unverzeichnete Gaststättenakte Marktstätte 5, 1938-1987; hieraus auch alle Zitate in diesem Kapitel. Weitere Informationen durch freundliche Mitteilung von Tiziano Pampanin, Eisdiele Pampanin, am 24.9.2020. dass er gar nicht die Absicht hatte, nach Konstanz zu ziehen, sondern die Eisdiele für seinen Schwiegersohn Arcangelo Gamba gedacht war, der offiziell als Geschäftsführer fungierte. Wie dem auch sei: Romano Pampanin hatte den jahrelangen Kampf um „seine“ Eisdiele in der Hussenstraße 20 - quasi auf den letzten Metern - endgültig verloren. Romano Pampanin kämpft hartnäckig um seine Rückkehr nach Konstanz (1951) Es war schon für Floriano Pra-Levis schwierig genug, gegen den Widerstand der alteingesessenen Geschäfte eine Konzession zu erhalten. Noch schwieriger wurde es nun für Romano Pampanin, da es ja nun bereits eine Eisdiele in Konstanz gab. 12 Der Verlust seines Lokals war auch eine finanzielle Katastrophe, er konnte überhaupt nur weitermachen, weil ein befreundeter italienischer Hotelier in Kreuzlingen ihm den nötigen Kredit gewährte. So schnell wie möglich suchte Pampanin nach einer anderen Lokalität. Die fand er auch, sogar an geeigneterer Stelle, nämlich an der Marktstätte, an der Südseite im Haus Nr. 3 (zuvor Puppenhaus Steiger), direkt neben dem Gebäude der 1937 aufgelösten Oberpostdirektion. Abb. 6: Romano Pampanin am „Büffet“ seiner Eisdiele in Konstanz, Marktstätte 3, 1954 (Foto: Familie Pampanin, Konstanz und Zoppè di Cadore) Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 305 In seinem Antrag vom 25. August 1951 betont Pampanin, dass er bereits eine Konzession besitze und seine Eisdiele ohne jede Beanstandung betrieben hatte. Er habe im Krieg mangels Rohstoffen zwangsweise schließen müssen, aber weiter Pacht bezahlt. Bei seiner Rückkehr 1948 sei sein Geschäft anderweitig vergeben und ein großer Teil der wertvollen Einrichtung verloren gewesen. Er betont: Das Geschäft in der Hussenstraße verlor ich ohne mein Verschulden. Jetzt habe er mit großer Mühe ein neues Geschäft in der Marktstätte 3 gefunden, einen Mietvertrag auf zehn Jahre abgeschlossen und die Miete für ein Jahr im Voraus bezahlt. Während die Eisdiele in der Hussenstraße längst florierte, musste Pampanin nun wieder das ganze Zulassungs- und Prüfungsverfahren durchlaufen. Die Saison 1951 konnte er abhaken, und es war fraglich, ob er überhaupt eine Kon‐ zession bekommen würde. Über ihn persönlich und seine bisherige Tätigkeit war immerhin nur Positives zu berichten, ebenso über den nötigen Umbau des Ladengeschäfts zum Lokal, mit dem Pampanin den am Bauhaus Dessau ausgebildeten Architekten Hermann Blomeier (1907-1982) beauftragte. Doch die Einsprüche der alteingesessenen Konstanzer Konditoren und Ca‐ fébetreiber ließen nicht lange auf sich warten und hatten zunehmend einen despektierlichen und fremdenfeindlichen Ton. Am 11. Oktober 1951 schrieb Alfred Graf, der im Nebenhaus Marktstätte 5 das Café Royal betrieb, auch im Namen der Herren Bohe, Kammerer, Probst und Mende, über den Italiener Herr Pampanin: Beim Zusammenbruch 1945 flüchtete er wieder nach Italien und ließ sein Geschäft im Stich. Ein anderer Italiener übernahm in der Zwischenzeit sein Geschäft. […] Ich erhebe Einspruch dagegen, dass ein Italiener heute die Zuzugsgeneh‐ migung erhält und dazu die Konzession, dem einheimischen bodenständigen Gewerbe Konkurrenz zu machen. […] Der Straßenhandel mit Eis hat einen solchen Umfang erreicht, dass es wirklich nicht mehr nötig ist, dass ein Ausländer […] eine Eisdiele errichtet. Das Konditoren- und Speiseisgewerbe sei in Konstanz sowieso überbesetzt. In ähnlichem Ton schrieb die Geschäftsstelle Konstanz des Gaststättenge‐ werbes: Es gebe bereits 4 Café’s und 10 Hotels und Gaststättenbetriebe in der nä‐ heren Umgebung, sowieso müssten gerade an Speiseeis besondere hygienische Anforderungen gestellt werden. Die hygienischen Voraussetzungen sind dort wohl nicht gegeben. Der Gesuchsteller ist Italiener. Damit schien alles gesagt. Und auch die Konditoren-Innung legte Einspruch ein. Die Eisdiele in der Hussenstraße sei nur genehmigt worden, weil es zuvor noch keine in Konstanz gegeben habe. Das sei nun anders, außerdem gebe es genügend Lokale, die Speiseeis anböten, so dass es keinen weiteren Bedarf gebe. 306 Franz Hofmann Der Oberbürgermeister und der Stadtrat folgten in einer nichtöffentlichen Sitzung am 8. November 1951 den Einsprüchen und beschlossen in dieser Sache: 1. Gegen die Zulassung der Eisdiele […] werden Bedenken grundsätzlicher Art erhoben. 2. Die Marktstätte eignet sich nicht für die Aufnahme einer Eisdiele. 3. Aus der Tatsache, dass Pampanin vor Jahren Konstanz verlassen hat, ohne sich um das Geschäft weiter zu kümmern, muss gefolgert werden, dass er auf die frühere Konzession verzichtet. Das war offensichtlich nur vorgeschoben. Es ging - wie schon 1938 - nur darum, den eingesessenen Geschäftsleuten einen unliebsamen Konkurrenten vom Leib zu halten. Pampanin schaltete einen Rechtsanwalt ein, der in einem Schreiben an das Landratsamt am 13. November 1951 noch einmal mit ausführlicher Begründung darauf abhob, dass die Konzession von 1938 noch gelten müsse. Bezüglich der Stadtratsbeschlüsse fuhr der Rechtsanwalt nun schwerere Geschütze auf: Herr Pampanin hat infolge der Beschlagnahme seiner früheren Eisdiele durch das Wohnungsamt Konstanz schwere Verluste erlitten. Der wesentliche Teil seiner Geschäfts‐ einrichtung ist ihm verloren gegangen. Sein Gesuch hat daher in etwa auch den Charakter einer Wiedergutmachungsforderung. Pampanin schrieb nochmals selbst am 17. Dezember 1951 an das Landratsamt, sicher juristisch beraten: Ich war gezwungen, mein Geschäft zu schliessen, aber wohl betont, nicht aufzugeben. […] Erst im Jahre 1948 erhielt ich wieder ein Einreisevisum. Als ich dann […] nach Konstanz kam, fand ich meinen Laden besetzt von einem Israeliten namens Jan Introlligator [sic], der auf Anweisung des Wohnungsamtes Konstanz in meine Räume eingezogen war. […] Eine Klage wegen Schadenersatz gegen die Stadtverwaltung Konstanz […] behalte ich mir vor. Zu den Beschlüssen des Stadtrats erwiderte er, dass erstens seine Konzession nie offiziell erloschen sei, dass zweitens seine Eisdiele auf der Markstätte nicht störend sei - dazu legte er ein Schreiben von Hermann Blomeier bei - und dass drittens Konstanz im Sommer völlig überfüllt mit Feriengästen ist und deshalb einwandfrei auch eine zweite Eisdiele vertrage. Damit dürfte widerlegt sein, was die Stadtverwaltung argumentiert. Die Einspruchsgründe der Übrigen sind an den Haaren herbeigezogen, wenn ich es so betiteln darf. Im Falle einer Ablehnung kündigte er an, beim Verwaltungsgericht Klage zu erheben. Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 307 Abb. 7: „Eis-Diele Pampanin“ in Konstanz, Marktstätte 3, nach dem Umbau und der Erweiterung in das erste Obergeschoss, 1958 (Foto: Familie Pampanin, Konstanz und Zoppè di Cadore) Das Landratsamt folgte der Argumentation Pampanins und erteilte ihm am 22. Dezember 1951 die Konzession für seine Eisdiele an der Marktstätte 3. Die fünfseitige Begründung kam einer Ohrfeige für den Stadtrat gleich, dessen Ab‐ lehnungsgründe der Reihe nach regelrecht zerpflückt wurden. Die Einsprüche seinen sämtlich unbegründet. Gleich gar nicht sei die beantragte Genehmigung deshalb zu versagen, weil der Gesuchsteller Italiener und nicht Deutscher ist. Und zum städtebaulichen Argument: Ein modern eingerichteter Eissalon dürfte sich repräsentativ in die Marktstätte ebensogut einfügen, wie die übrigen bereits dort befindlichen Conditorei-Cafés, [und] dürfte das Gesamtbild der Marktstätte weniger stören, wie einzelne dort befindliche Ladengeschäfte mit ihren oft bescheidenen und primitiven Schaufensterauslagen. Romano Pampanin konnte seine neue Eisdiele an der Marktstätte 3 zur Saison 1952 eröffnen. Sie war erfolgreich, trotz der direkten Konkurrenz durch Arch‐ angelo Gamba im alten Geschäft in der Hussenstraße 20. Der neue Standort in der Nähe vom Bahnhof, vom Hafen und von großen Hotels war sogar deutlich besser gelegen, was die Touristen als wichtigen Kundenkreis anbetrifft. Aber natürlich besuchten auch die Konstanzerinnen und Konstanzer die Eisdiele. 308 Franz Hofmann Abb. 8: Inserat der Eisdiele Pampanin, Marktstätte 3, im „Südkurier“ vom 22. Mai 1954 (Stadtarchiv Konstanz) Pampanin konnte bald sogar expandieren: Am 5. Juni 1957 erhielt er die Geneh‐ migung, eine Filiale im rechtsrheinischen Petershausen, in der Wilhelmstraße 9 (seit 1964 Theodor-Heuss-Straße), zu eröffnen. Auch diese Filiale florierte. Der Familienbetrieb, in dem neben Romano auch seine beiden Söhne Attilio (geb. 1926) und Flavio (geb. 1939) voll mitarbeiteten, war aus Konstanz nicht mehr wegzudenken. Zum Jahresende 1968, im Alter von 73 Jahren, ging Romano Pampanin in den Ruhestand. Die beiden Eisdielen übergab er seinem älteren Sohn Attilio, der zuvor schon Geschäftsführer war. Wie Konstanz sich für das Eis erwärmte 309 daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe Italien im Blick von Konstanzer Autorinnen und Autoren Manfred Bosch Der Bodensee gilt den Deutschen gern als Vorschein des Südens, und wer bereit ist, sich den Illusionen einer erfindungsreichen Tourismuswerbung oder den gärtnerischen Inszenierungen hiesiger Seepromenaden zu überlassen, kann im Sommer sogar den Eindruck gewinnen, hier strecke Italien gewissermaßen einen großen Zeh über die Alpen. Das mag beim Normaltouristen, dem land‐ schaftliche Eindrücke genügen, eher ankommen als beim klassischen Bildungs‐ reisenden, dem es mehr um Kunst und Kultur geht - doch gehört der nicht ohnehin einer aussterbenden Spezies an? Und für die Montaigne, Goethe und wer sonst noch seinen Weg über die Seegegend gen Süden nahm, lag Rom sowieso immer schon zu nah, als dass er bzw. sie länger als notwendig am Bodensee hätte verweilen wollen. Wenn schon Süden, dann der richtige. Da es dieser Band unternimmt, die reichen Beziehungen der Stadt Konstanz zu Italien darzustellen, soll im Folgenden danach gefragt werden, ob und wie sich diese in neuerer Zeit auch literarisch niedergeschlagen haben. Herangezogen sei hierfür beispielhaft ein knappes Dutzend Autorinnen und Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts - gleichgültig, ob diese nun in Konstanz geboren wurden, zugezogen oder auch nur Bewohner auf Zeit gewesen sind. Welches Bild ver‐ mitteln sie von Italien, welches sind die Erfahrungen und Erlebnisse, von denen sie uns in ihren Reiseberichten, Erinnerungen oder in sonstigen literarischen Genres Kenntnis geben? Da sind so unterschiedliche Zeugen wie Friedrich Pecht und Otto Kimmig, die das Land auf klassischen Wegen als Bildungsreisende besuchten; andere wie Martin Andersen Nexö oder Oskar Wöhrle durchstreiften es auf eher abenteuerliche Art; Karl Hofer diente Konstanz immer wieder als Zwischenstation auf dem Weg in den Süden, und Alice Berend ging nach 1933 ins italienische Exil und dort starb. Und dann sind da noch die Dichter Emanuel von Bodman und Wilhelm von Scholz, die für einige ihrer Werke italienische 1 P E C H T , Friedrich: Südfrüchte. Skizzenbuch eines Malers. Zwei Bände, Berlin 1853. 2 P E C H T , Friedrich: Aus meiner Zeit. Lebenserinnerungen. München 1894, Bd.-2, S.-43. 3 P E C H T (wie Anm. 2), Bd.-2, S.-63. 4 Ebd., S.-279 f. 5 Ebd., S.-298. Motive und Stoffe beliehen, sowie der Komponist Hans Werner Henze, den es aus künstlerischen wie politischen Gründen nach Italien zog. Friedrich Pecht Unseren Auftakt macht der noch heute als „Lithograph des Bodensees” bekannte Friedrich Pecht (1814-1903). Er lernte von kleinauf im väterlichen Betrieb, studierte an der Münchner Akademie und baute für die Firma Hanfstaengl Kontakte zu den Kunstmetropolen Dresden, Berlin und Leipzig auf. Trotz häufiger Wohnsitzwechsel - Pecht lebte auch in Paris, London und mehrfach in Italien - blieb er seiner Vaterstadt Konstanz lose verbunden. Als ihm 1885 die Leitung der Zeitschrift „Die Kunst für alle“ übertragen wurde - über Jahrzehnte eine der auflagenstärksten und einflussreichsten Kunstzeitschriften - hatte er seine Tätigkeit als Porträt-, Genre- und Historienmaler aufgegeben, um ins Fach der Kunstschriftsteller zu wechseln. Als solcher hatte er vor allem mit „Süd‐ früchte. Skizzenbuch eines Malers“ 1 reüssiert, dem literarisch-künstlerischen Niederschlag eines eineinhalbjährigen Italienaufenthalts zwischen August 1851 bis Dezember 1852. Die dort enthaltenen Kunsturteile, schrieb er in seiner Autobiographie „Aus meiner Zeit“, seien zwar der weitaus unreifste Teil dieser Früchte  2 , wie sich die außerordentlich günstige Aufnahme seines Werkes denn dem Umstand verdanke, dass die meisten Rezensenten von der italienischen Kunst noch viel weniger verstanden als ich.  3 Sei ihm doch selber Italien bei seinem ersten Besuch im Jahre 1847 nur Gegenstand des Gaffens gewesen, gleich den meisten; eine ungeheure Theaterdekoration, die man heute sieht und morgen vergisst  4 . Neun Zehntel der Italienreisenden Landsleute kämen über dieses Stadium ohnehin nie hinaus und täten besser daran, zuhause zu bleiben. […]; es sei ohnehin schwer genug, vom heutigen Italien vollends mit seinem Schmutz und seinen Lumpen zu dem der Renaissance oder gar zur Römerzeit eine Brücke zu schlagen.  5 Nichtsdestotrotz stellten die „Südfrüchte“ mit ihren 76 Briefen, die zunächst in verschiedenen Periodika erschienen und sämtliche Lebensbereiche und Interessensgebiete vom Tourismus über Politik, Kultur und soziales Leben bis zur Kunst umfassten, den Beginn einer fruchtbaren Kunstpublizistik dar - auch wenn sich Pecht weder als Schriftsteller verstand noch irgendwie die Prätension 312 Manfred Bosch 6 P E C H T (wie Anm. 1), Bd.-1, S. [V]. 7 P E C H T (wie Anm. 1), Bd.-2, S.-24. 8 Ebd., S.-30. 9 P E C H T (wie Anm. 1), Bd.-1, S. XIV. 10 P E C H T (wie Anm. 1), Bd.-2, S.-342. hatte es zu sein. 6 Umso urteilsstärker und unverblümter fielen seine Berichte aus, in denen sich alle Tonlagen von blankem Abscheu über gesehenes Elend bis zu höchstem Lob finden: Ich muß alle die Herrlichkeit nur nach und nach schlürfen, auf einmal würde es einem fast zu viel, schreibt er aus Neapel, die Natur ist hier so unermeßlich reich an Formen und Farben, daß ihr kaum das Auge, geschweige denn Feder oder Pinsel nachkommen können.  7 Für die Arbeit John Ruskins, dem er während dessen Arbeit an den „Stones of Venice“ begegnete, brachte er so wenig Verständnis auf wie für die deutsche Künstlerszene in Rom, wo er die meiste Zeit lebte. Hier, monierte er, kämen [a]uf einen Feuerbach oder Böcklin immer hundert, auf die Rom bloß verderblich  8 wirke. Weit davon entfernt, in Italienschwärmerei zu verfallen, musste sich Pecht schließlich doch eingestehen, daß die angeborene unverwüstliche Liebenswürdigkeit des Volkes so große Macht über mich ausübt, daß ich nächst meinem eigenen das italiänische am meisten von allen liebe, es heute noch für das geistreichste und begabteste von allen halte, so schlecht und unbefriedigend diese Begabung oft auch verwendet werden mag, da ich vor Allem der Anschauung der Werke seiner hervorragendsten Geister aus seiner Glanzperiode, der zauberischen Schönheit, die die Natur über Land und Volk ausgegossen, eine solche Fülle des Genusses verdanke, daß ich meinen Freunden, wie es manche meiner Leser vielleicht werden, nicht Besseres zu wünschen vermag, als daß auch sie die Herrlichkeit schauen möchten, die ich ihnen mit freilich unzureichenden Kräften zu schildern versuche…  9 Beifall und Bewunderung fand vor allem der stete Wechsel gemalter Land‐ schaften und Szenerien -[a]nfangs der Naturalismus der Venetianer und ihr Farbenzauber, dann römischer Ernst und Größe mit seinen herrlichen stylvollen Formen, endlich der Florentiner naive Grazie, liebevolle feine Naturbeobachtung, behagliches Vertiefen in die Schönheit der eigenen Existenz. 10 daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 313 Friedrich Pecht, um 1875 Als Pecht 1879 ein letztes Mal Italien besuchte, besang er von Verona aus nahezu begeistert die Vitalität der Italiener: Italien übt den alten Zauber auf mich aus, jetzt, wo ich mit grauen Haaren einhergehe wie einst, da ich’s unter braunen hervor betrachtet! Ich bin gestern den ganzen Tag wie entzückt herumgetaumelt und habe mir die herrlichen Paläste wieder angesehen, in deren jedem man einen so stattlichen, prachtliebenden, jähzornigen alten Herrn heraustreten sehen zu müssen meint, wie den alten Capulet. Und auf jedem Balkone schäkern noch immer glutäugige Julien in die bunten, engen und lärmenden Gassen hinunter, in denen die Menge sich drängt und schiebt, schreit und brüllt, daß einem das Herz im Leibe lacht, wie ungeniert sich die Leute gehen lassen. Die Glücklichen, sie sind alle nicht erzogen worden und daher soviel natürlichere Menschen geblieben! Sicherlich nicht bessere, aber interessantere und aufgewecktere als bei uns, wo der Schulmeister nur vom Korporal abgelöst wird in dem lobenswürdigen Geschäft, uns alle Natur und allen gesunden Menschenverstand auszutreiben. Am auffallendsten ist das in dem tollen Gewühl, wenn man z. B. auf dem lustigsten Platz Italiens, die von höchst malerischen Gebäuden eingefaßte Piazza d’Erbe tritt, wo all das, was spezifisch italienisches Volksleben heißt, sich so wunderbar zusammendrängt, die Verkäufer feilschen und schreien, daß einem die Ohren gellen, die Jungens jubelnd aus der Schule kommen, die Mädchen wie die Eidechsen durch die Menge gleiten und den schwarzen Schleier und Fächer so anmutig zu gebrauchen wissen, wo der Abbate salbungsvoll behaglich einherzieht, flotte Jäger und die preußische Strammheit nachahmende Offiziere den Mädchen nachsetzen. In all dem Getriebe, das nur auf die Befriedung der nächsten und gröbsten Bedürfnisse gerichtet ist, 314 Manfred Bosch 11 Ebd., S.-287 f. 12 Zitiert nach Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 2. Oktober 1894. 13 B R I N G M A N N , Michael: Friedrich Pecht (1814-1903). Maßstäbe der deutschen Kunst‐ kritik-zwischen 1850 und 1900, Berlin 1982. 14 Beide Urteile stammen von Hans Thoma, zitiert nach B R I N G M A N N (wie Anm. 13) S. 185. 15 H E S S E , Hermann: Gesammelte Briefe. Hg. von Ursula und Volker Michels, Frankfurt/ M. 1973, Bd.-1 (1895-1921), S.-145. erscheint jeder einzelne im Grunde recht sehr gewöhnlich. Ja, das Allergemeinste ist sogar durchaus vorherrschend, weil sich da alles ans Licht drängt und höchst ungezwungen gehen läßt, was bei uns sich ins Innere der Häuser zurückzieht.  11 Ein so lebendiger Schilderer Pecht sein konnte, so sehr verengten sich seine Kunstansichten im Alter. So schien es ihm ausgemacht, dass ein großer Künstler […] nur inmitten seines Volkes entstehen  12 könne. Michael Bringmann hat in seiner Studie 13 über Friedrich Pecht dargelegt, dass sich die Kompetenzen des „Reichspostillons“ und „Hauptleithammels“ 14 der deutschen Kunstkritik mit dem Aufkommen neuer Künstlergenerationen spätestens seit den 1880er Jahren erschöpft hatte. Lesenswert bleiben seine „Südfrüchte“ gleichwohl, nicht anders als seine Autobiographie „Aus meinem Leben“. Otto Kimmig Die Nachrufe auf Otto Kimmig (1858-1913) sind ebenso wie die Erinnerungen an ihn von seltener Einmütigkeit: eine der führenden badischen Lehrerpersön‐ lichkeiten der Vorkriegszeit, habe er umfassende Bildung, zumal in den alten Sprachen und in der Literatur, mit pädagogischen Fähigkeiten vereint, die fern aller Pedanterie auf das Beispiel der eigenen Persönlichkeit setzten. 1869 hatte der aus Tiengen stammende Kimmig das Konstanzer Gymnasium bezogen, wohin er nach Studium und ersten Lehrerstellen 1889 zurückkehrte (und seit 1907 das Amt des Direktors bekleidete). Damals hatte er sich längst einen Ruf als altsprachliche Autorität erworben, die auch von Hermann Hesse „mit der Frechheit des Literaten und Laien angegangen wurde, um womöglich wieder so übern Zaun ein paar Äpfel aus dem […] Garten der Gelehrsamkeit zu erwischen.“ 15 Und bereits 20jährig hatte Kimmig unter Pseudonym das Stück „Götter, Lumpen und Rezensenten“ vorgelegt, das schon im Titel auf seine geistig-satirische Grundveranlagung verwies, die er auch als Lyriker und Aphoristiker unter dem nom de guerre Peter Sirius bei den auflagenstarken „Fliegenden Blättern“ und den „Meggendorfer Blättern“ unter Beweis stellte. Auswahlen daraus brachten die Bände „Lieder des Peter Sirius“ (1885) und „Tausend und ein Gedanke“ (1899). daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 315 16 K I M M I G , Otto: Kennst du das Land? Wander- und Wundertage in Italien und Sizilien, München 1896. 17 Ebd., S.-241. 18 Ebd., S. XV. 19 Dieses und das vorige Zitat bei K I M M I G (wie Anm. 16) S. XI. 20 Ebd., S.-203 f. Unter demselben Pseudonym ließ Kimmig auch sein umfangreiches Buch „Kennst du das Land? “ 16 erscheinen. Seine Tour führte den Autor zusammen mit zwei männlichen Begleitern von Mailand über Florenz, Rom, Neapel und Capri bis Sizilien, das ihm der wahre Süden  17 zu sein schien; auf der Rückreise berührte er neben Assisi, Perugia und Verona auch Venedig, um dem Land zum Schluss noch einen „Supplemento poetico“ zu winden, ein starkes Dutzend hymnischer gestimmter Gedichte. […] so mache dich denn auf die Reise mit mir, lieber Leser, heißt es in der Vorrede, in der Kimmig sogleich mit seinen Absichten herausrückt: Nicht als Gelehrte wollen wir reisen, nicht als Archäologen, Philologen, Künstler, Archi‐ tekten - einfach als Menschen. Das ist schon viel, wenn man’s nur recht nimmt, und es ist zumal mit Italien, dem Lande der Humanität, das Höchste.  18 Eine zweite Prämisse gilt dem Vorsatz, das Land unvoreingenommen zu sehen, wie man sich überhaupt, wenn man in fremden Ländern reist, recht von innen heraus in der Fremde fühlen und die Heimat zu Hause lassen solle. So stößt Kimmig denn auch jener Chor der Philister übel auf, der da in Vorfreude auf baldige Heimkehr tönt: „Ha, übermorgen sitze ich wieder bei einem soliden Seidl Bier! “ - „Na, in zwei Tagen lächle ich endlich wieder über einem ordentlichen Beefsteak! “ oder „Juchhei, wie will ich mich wieder mollig in mein vaterländisch Bett hineinstecken“. 19 All das schließt Kimmigs kritischen Blick keineswegs aus. So notiert er etwa bei einem abendlichen Gang durch Neapel einen argen Missklang zwischen der herrlichen Natur und dem, [w]as einem da alles angepriesen, angeboten, unter die Augen gehalten, zugeflüstert [wird], oft von halbwüchsigen Jungen, von Greisen! Welche Nacktheit der sittlichen Begriffe steht hier am Markte. Ich rechne mich zu jenen derbgesunden Naturen, denen alle Prüderie ekelhaft und die auch einen starken Hieb vertragen können; ich habe auch Sinn für eine freiere Lebensführung, wenn sie von innerem Aufschwung getragen ist - aber der Einblick in das Raffinement des Zuchtlosen, in das bar Unsittliche, wie es hier gezischelt oder auch laut ausgerufen wird, war mir widerlich. 20 316 Manfred Bosch 21 Ebd., S.-373. 22 S C H A F H E I T L I N , Adolf: So ward ich. Tagebuchblätter. Bd.-1, Berlin 1903, S.-213. 23 Ebd., S.-329. Solche Passagen bleiben freilich die seltene Ausnahme; ganz überwiegend blickt Kimmig begeistert auf das Land, das ebenso begeisternd zurückblickt - nicht zuletzt, weil es ein gehöriges Gegenbild zum weniger sinnenfrohen Norden darstellt. So überkommt es Kimmig zum Schluss wie Heimweh, dass er diese Fremde nun verlassen sollte. Diese Fremde, die mir keine mehr war. 21 Adolf Schafheitlin Den Namen Adolf Schafheitlin - 1852 in Pernambuco als Sohn eines ausgewan‐ derten Konstanzers geboren - verzeichnet heute keine Literaturgeschichte mehr. Als Jugendlicher an den Bodensee zurückgekehrt, wurde ihm sein aufgezwungener Kaufmannsberuf zum Ekel, sodass er seine Bestimmung in Dichtung und Philosophie suchte; im Zentrum seines Denkens stand das Wunschbild einer Gesellschaft, wie es ihm in der Antike und selbst noch im Italien seiner Zeit vorgebildet schien. Schafheitlins umfangreiches Werk, hauptsächlich in Positano entstanden, umfasst unter anderem Gedichtbände, das seiner „Heimatstadt Konstanz“ gewidmete Trauerspiel „Jan Hus“ (1902) sowie das dreibändige Tagebuch „So ward ich“ (1903) mit Beobachtungen, Erfahrungen und Reflexionen aus den Jahren 1881 bis 1902. Darin finden sich ausgedehnte Schilderungen von Leben und Alltag nur am Rande; Schafheitlins Gedanken und Empfindungen münden in pointiert vorgebrachte Resümees und zielen auf Prinzipielles: Jetzt reist man nach Italien aus äußern Gründen, etwa des Klimas wegen. Nun, das hat auch Manches für sich. Aber […] damals war die Italienreise ein Seelenereignis. Man kam, um zu lernen, größer zu denken und ehrlicher zu werden gegen den Geist.  22 Derlei Vergleiche sind typisch für Schafheitlin; so auch ein Eintrag von Ende 1896: Was trieb mich denn nach dem Süden? Ich fühlte instinctiv: All diese Menschen, die dich umgeben, deine Landsleute sind krank oder konfus. Du aber willst gesunden an Leib und Seele, du glühst nach reinem, edlem Geschmack. Unter den nördlichen Schnörkeleien draußen und drinnen, wo willst du ihn finden? Also auf ins Land reiner, geläuterter Formen.“  23 daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 317 24 Ebd., S.-172. 25 Ebd., o. S. Diese Konsequenz hatte Schafheitlin bereits 1880 gezogen. Im Dissens mit seiner Zeit und allem Pomp feind, wie ihn die parvenuehafte wilhelminische Großmannssucht hervorbrachte, notierte er: Die deutsche Bauart mit ihren hohen Giebeldächern, ihren vielen Erkern, Türmchen und Verzierungen, die wie Knollen und Knorpel hervorquellen, kann mir nicht sympathisch sein […]. Man stelle zwischen eine Anzahl solcher nordischen Erker- und Türmchenbauten einen italienischen Palazzo, und wir wollen sehen, ob er nicht wie ein König unter Plebejern dasteht. 24 Im Gegensatz zu seinen Gedichten und Dramen, denen die Kritik nachsagte, allzu gewichtig einherzustelzen, sind die Tagebücher das kennenswerte Doku‐ ment eines skeptischen Einzelgängers in der Nachfolge Friedrich Nietzsches. Seinem Werk gegenüber hegte Schafheitlin, der zeitlebens wenig Erfolg hatte und 1917 auf Capri starb, wenig Illusionen. Ich blicke zurück auf ein Leben voll Mühe und Arbeit, schrieb er im Vorwort zu „So ward ich“, um hellsichtig hinzuzusetzen: Werden die Deutschen fortfahren, mich ihrer Aufmerksamkeit nicht zu würdigen?   25 Martin Andersen Nexö Der dänische Arbeiterdichter Martin Andersen Nexö (1869-1954), der durch Romane wie „Ditte Menschenkind“ und „Pelle der Eroberer“ Weltruhm erlangen sollte, lebte zwischen 1923 und 1930 am Bodensee. In seinen Erinnerungen „Mit Lust gelebt“ (1950) hat Norbert Jacques ironievoll geschildert, wie er als selbstbewusster Dichter „stadtbildprägend“ die Konstanzer Gassen durchmaß, bevor er sich mit seiner dritten Frau in Allensbach niederließ. Dabei war sein Ziel eigentlich Italien gewesen, doch weil ihm das Land die Einreise verweigerte, hatte er mit dem Bodensee als Ersatz vorliebnehmen müssen. 318 Manfred Bosch 26 A N D E R S E N N E XÖ , Martin: Sommertage. Reisebilder aus Andalusien, Berlin 1927. Martin Andersen Nexö während seiner Bodenseezeit. Zeichnung Willi Münch-Khe (1922). Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte er noch mehr Glück gehabt. Um seine Lungentuberkulose auszukurieren, hatte Andersen Nexö 1894 eine zweijährige Reise durch Italien, Nordafrika und Spanien unternommen. Dabei war dem 1869 in einem Elendsviertel Kopenhagens aufgewachsenen Schriftsteller die „Grand Tour“ als Bildungs- und Gesellschaftsreise für die Söhne des Adels und des gehobenen Bürgertums vermutlich noch kein Begriff. Der ehemalige Hütejunge hatte sich nämlich sein Wissen durch eigenes Interesse und Fleiß zäh erworben und konnte sich seine Reise nur dank einer mäzenatischen Dichterwitwe leisten. Der Blick des proletarischen Autors unterschied sich denn auch fundamental von dem der Pairs und Großbürger, deren Bildungsreisen den klassischen Stätten der Antike und des Humanismus galten. Was der 25-Jährige dagegen als Reiseskizzen von seiner Tour zwischen Brenner und Sizilien, aus Rom und Neapel, Palermo und Genua an die Zeitung „Bornholms Tidende“ schickte und was später in sein Buch „Sonnentage. Reisebilder aus dem Süden“ 26 Eingang fand, waren erlebnisnahe Alltagsschilderungen, die dem Leben und Treiben einfacher Menschen galten. Seine Aufmerksamkeit zeigte sich zwar empfänglich für alle Landschaften und Farbnuancen des Südens; doch sein Interesse galt den Bauern, Händlern und Bettlern. Hier, so schreibt Andersen Nexö später, sei ihm die Internationale der Armen aufgegangen, und nicht zufällig reifte hier sein Entschluss zum proletarischen Autor. Als solchen unterscheiden ihn seine Schilderungen von den romantisch gestimmten Auspinslern pittoresker Armut, an denen es zumal der italienischen Reiseliteratur nie gefehlt hat. Mit seinen daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 319 27 Ebd., S.-9. 28 W Ö H R L E , Oskar: Der Baldamus und seine Streiche. Veränderte endgültige Fassung, 92.-100. Tausend, Berlin 1931. ungemein lebendigen und lesenswert gebliebenen Beobachtungen verstand es Andersen Nexö, als Schriftsteller in der Heimat auf sich aufmerksam zu machen. Und doch hing sein Herz mehr an Spanien; Italien sagte er [t]rockenen Auges […] Lebewohl. Selbstverständlich ist Italien schön, gestand er sich ein, aber ein wenig zu viel Tableau, allzusehr Idylle. Seine Gauner sind gar zu lächelnd liebenswürdig, die ganze Nation lacht und öffnet sich - für Trinkgelder. […] Überdies ist das Land ganz bekleckert von aller Welt Malern, Poeten und Philosophen. Diese Pinie hat Mads Hansen gemalt, diese alten Mauerreste hat Mads Hansen in gereimten Versen besungen, und was hat nicht ‚unser Goethe‘ gesagt und Byron getrieben! Jedes Fleckchen Erde trägt seine Fuhre Papier und Leinwand und Reminiszenzen; und will nun ein armer moderner Schriftsteller ebenfalls in Berufsangelegenheiten ein wenig austreten, gleich warnt eine Schar abgeschiedener Großgeister aus der Erde - ähnlich den Kobolden im Märchen. Wie in China kann man vor lauter Ahnen nicht ausspucken und vor eitel Überlieferung nicht frei Atem schöpfen. 27 Man mag diesen Ennui, diesen Widerstand gegen das Einstimmen in den hohen Ton des Italienlobs trotzig oder überheblich finden; als „Gegenstimme von unten“ haben die genau beobachteten und glänzend geschriebenen, oft nur wenige Seiten umfassenden Streiflichter etwas Erfrischendes - sie sind bis heute lesenswert geblieben. Oskar Wöhrle Nicht lange nach Martin Andersen Nexö unternahm ein weiterer Autor eine ausgedehnte Vagabondage rund ums Mittelmeer: Oskar Wöhrle (1896-1946). Sieht man von ihrer sozialen Herkunft ab, so waren die beiden höchst unter‐ schiedlicher Natur. Der rigiden Erziehung und der Colmarer Lehreranstalt war der Elsässer alsbald in die Ungezwungenheit der Landstraße entflohen, um auf Umwegen schließlich in der Fremdenlegion zu landen. Beide „Stationen“ bilden den Inhalt von Wöhrles erstmals 1913 erschienenem Buch „Der Baldamus und seine Streiche“ 28 , das mit seiner urwüchsigen Sprache und der Verve der Unbeeindruckbarkeit einen beträchtlichen Kontrast zur Literatur jener Jahre darstellte und es in verschiedenen Ausgaben auf eine Gesamtauflage von über 100.000 Exemplaren brachte. Das autobiographisch gefärbte Buch vereint jugendlichen Abenteuergeist und einen antibürgerlich-rebellischen Gestus mit einer strikten Verweigerungshaltung gegenüber allen Erwartungen zu einem 320 Manfred Bosch 29 Vgl. B O D M A N , Clara von: Emanuel von Bodman. Aus seinem Leben. Typoskript o. O., o. J. Für den Hinweis danke ich Dr. Walter Rügert. - In „Donatello“ (im Druck 1907) nutzte Emanuel von Bodman den Florentiner Renaissance-Bildhauer als Maske für seine eigene Lebensproblematik - die Entscheidung zwischen zwei Frauen. Nachdem das Stück lange auf seine Aufführung hatte warten müssen, kam es 1919 zunächst in Zürich heraus und erlebte am 20. Januar 1920 am Theater Konstanz seine deutsche Erstaufführung. Eine auf den 11. Oktober 1939 festgelegte erneute Aufführung unter Intendant Schmidhammer fiel dem Kriegsbeginn zum Opfer. - Hermann Hesse wie‐ derum, den es schon 1901 und auch in seiner Gaienhofener Zeit immer wieder nach Italien gezogen hatte, nannte seinen Kater Gattamelata - nach Donatellos Denkmal für den venezianischen Söldnerführer. Vgl. auch M I C H E L S , Volker (Hg.): Mit Hermann Hesse durch Italien, Frankfurt/ M. 2020. ungebärdigen Vitalismus. Wöhrle werde immer verachten, was nur Literatur und nicht zugleich auch Leben sei - auf diese knappe Formel hat Eduard Reinacher den Charakter seines engsten Freundes gebracht. Und doch ist der Kontrast zu den Erfahrungen Andersen Nexös unübersehbar. Zwar kommt es in Wöhrles Stromer- und Landstreicherroman quer durch Italien und Frankreich zu zahlreichen Begegnungen mit Seinesgleichen, doch gilt der aus einem dumpfen Klassenbewusstsein kommende Blick des Erzählers vor allem seinem Protagonisten. Was zwischen Ventimiglia und Spezia, Mailand und Florenz, Rom und Neapel in den Blick des Baldamus gerät, hat kaum etwas mit Interesse an Land und Leuten zu tun, sondern gilt allein der Sorge ums tägliche Essen und den nächsten Schlafplatz, so dass man von einem Entwicklungsroman ohne rechte Entwicklung sprechen möchte. Dabei ist der Roman in einer derben und zugleich lebensprallen Sprache gehalten, die von den regionalsprachlichen Eigenheiten des Sundgaus ebenso geprägt ist wie vom Rotwelsch der Landstraße. Zugleich verbirgt sich unter dem grobianischen Stil ein mentaler Subtext, der seinen landsknechtshaften Ausdruck in Wöhrles politischer Orientierung fand. Nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg, der ihn zum Antimilitaristen und Sozialisten machte, dem Scheitern als Verleger im Konstanz der Nachkriegszeit schied Wöhrle im Unfrieden von der Stadt, rächte sich an ihr mit dem Hus-Roman „Der letzte Tag“ und landete 1933 auf der Liste der unerwünschten Autoren. Aus dem tschechischen Exil kehrte er jedoch 1937 nach Deutschland zurück und passte sich dem Regime an. Wilhelm von Scholz Wie sein Gottlieber Kollege Emanuel von Bodman, den ein Aufenthalt im Florenz des Jahres 1902 zu ersten Arbeiten an seinem Drama „Donatello“ inspi‐ rierte 29 , bediente sich auch Wilhelm von Scholz (1874-1969) verschiedentlich daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 321 30 S C H O L Z , Wilhelm von: Mein Theater, Tübingen 1964, S.-208. 31 R Ö H R D A N Z , Günther: Claudia Colonna von Wilhelm von Scholz, in: Der Führer. Haupt‐ organ der NSDAP Gau Baden, 6. Oktober 1940, S. 4. - In „Mein Theater“ spricht Scholz etwas ziviler von einem unseligen Krieg und führt weiter aus: Die Aufregung über den Krieg, vor dessen Eindrücken die Seele flüchtete, befeuerte das Schaffen, da man in solchen Zeiten sich nur in der Arbeit wohlfühlen, nur in ihr leben kann. Zitiert nach S C H O L Z (wie Anm. 30) S.-209. italienischer Stoffe. Nach „Vincenzo Trappola“ (1927), einer im Rom des Jahres 1820 angesiedelten Novelle um eine kleine Gesellschaft deutscher Künstler, die das Leben des titelgebenden Magiers und Alchimisten zu allerhand Erzählungen über geheimnisvolle Geschehnisse anregt, griff er mit seinem Drama „Claudia Colonna“ Motive einer altitalienischen Novelle von Giovanni Battista Giraldi (1504-1573) auf. In „Mein Theater“, worin er auf sein dramatisches Schaffen zurückblickt, beschreibt Scholz das unverwischbare Erlebnis, das ihm ein Besuch Roms in späteren Jahren bedeutete. Mit Achtsamkeit und Freude beobachtete er, daß sich die Stadt aus meinem innerlichen Rom gar nicht sehr zu verwandeln brauchte, um das wirkliche zu werden, das genauso phantastisch und weltbedeutend vor mir stand, wie ich es im Geiste getragen hatte, als ich ihm nun klopfenden Herzens - am Tiber hin, am Soracte vorüber - entgegenfuhr. 30 In der Folge Scholz lässt eine Reihe historischer Schauplätze und Begebenheiten am Auge des Lesers vorbeiziehen, wie sie jeder beliebige Reiseführer vermittelt, um dann vom Rom der Antike über das der Renaissance und Goethes, der Päpste, des Barock, des Rokoko sowie der Nazarener auf das gegenwärtige Mussolinis zu kommen. Diese Begegnung im Jahre 1939, so Scholz, habe für ihn selber nichts weniger als eine Wiedergeburt bedeutet. Unmittelbar danach begann er die Niederschrift einer neuen dramatischen Arbeit, in die Einzelheiten jenes römischen Aufent‐ haltes einflossen. Als „Claudia Colonna“ 1940 am Badischen Staatstheater Karlsruhe aufgeführt wurde, berichtete Scholz der Presse, das Stück sei während des Polenkrieges, sozusagen zwischen den mitreißenden Heeresberichten und den Sondermeldungen entstanden.  31 Im Genua des 16. Jahrhunderts angesiedelt, spiegelt das Drama freilich keine aktuellen Zeitumstände; vielmehr geht es um eine Witwe, bei der ein junger Mann unwissentlich Zuflucht sucht, der ihren Sohn in einem Duell getötet hat. Als die Witwe erkennt, wen sie schützt, nimmt sie ihn an Sohnesstatt an. So ergiebig das dramatische Potential des Stückes, wird man bei heutiger Lektüre allerdings Max Herrmann-Neißes Urteil von 1921 zustimmen, um das Werk von Scholz’ sei eine Atmosphäre achtbarer 322 Manfred Bosch 32 H E R R M A N N -N E I S S E , Max: Kritiken und Essays. Bd. 1: 1909-1920. Hg. Renate Giblak. Bielefeld 2021, S. [15]. 33 S C H E N K E N D O R F , Werner: „Claudia Colonna“ vom Dichter inszeniert, in: Der Führer. Hauptorgan der NSDAP Gau Baden, 3. November 1942. 34 Vgl. hierzu M O S E R , Arnulf: Wilhelm Schürmann-Horster (1900-1943). Ein politischer Schauspieler als Opfer des Nationalsozialismus, in: Schrr VG Bodensee 125 (2007) S.-141-151. 35 Hier erhielt Hofer Besuche seiner Karlsruher Freunde Karl Albiker, Schöpfer des Konstanzer Zeppelin-Denkmals, und Leopold Ziegler, dessen Mutter Hofers erste Mäzenin war. Vgl. H Ü N E K E , Andreas (Hg.): Leopold Ziegler - Karl Hofer. Briefwechsel 1897-1954, Würzburg 2004, S.-157 f. Langweiligkeit. 32 Nur zu gerne würde man den humanistischen Subtext des Dramas anerkennen, stünde dem nicht eine allzu widersprüchliche politische Haltung von Scholz’ entgegen. Ende 1942 kam „Claudia Colonna“ auch am „Grenzlandtheater Konstanz“ heraus; Werner Schenkendorf berichtete von einer außerordentlich eindrucksvollen Erstaufführung, die ihre besondere Note dadurch erhielt, dass der Dichter sein Werk persönlich in Szene setzte. Die Titelrolle fand ihre ideale Verkörperung durch Maria Koppenhagen. Das Haus feierte Darsteller und Dichter mit ungewöhnlich herzlichem Beifall. 33 Einen schlimmen Zeitbezug erhielt die Konstanzer Aufführung durch den Schauspieler Wilhelm Schürmann-Horster, der seit 1941 als Dramaturg und Propagandaleiter am Theater tätig war und am 9. September 1943 aufgrund seiner Widerstandstätigkeit wegen „Hochverrat“ in Plötzensee hingerichtet wurde. Der letzte Eintrag in seinem Theaterkalender lautet: Claudia Colonna. 34 Karl Hofer Ein Stipendium, das ihm der Winterthurer Industrielle und Kunstsammler Theodor Reinhart aussetzte, erlaubte Karl Hofer (1878-1955) im Jahre 1903 die Übersiedlung nach Rom. 35 Weder die Gluthitze des Sommers, wenn alles die Stadt flieht, noch der lähmende Schirokko fochten uns an, gab es doch so unendlich viel zu sehen und zu erleben in diesem ältesten noch erhaltenen Kulturzentrum. Rom ist eine Stadt der hohen Form, die Stadt der Skulptur, wie Florenz die Stadt der Malerei, schreibt Hofer in seinen Erinnerungen. Fünf Jahre hatten wir nun in der Ewigen Stadt zugebracht, Jahre heitersten Daseins, wie sie nur einmal im Leben beschert werden. […] Manches in diesem reichen Land wäre noch zu besuchen gewesen, viele Orte der Kunst und der schönen Natur, die der daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 323 36 H O F E R , Karl: Erinnerungen eines Malers, Berlin 1953, S.-83, 119 f. nur Durchreisende nicht auslässt. Sitzt man aber fest an einem Ort und hat scheinbar unbegrenzte Zeit vor sich, so nimmt man sich nur vor, da oder dorthin zu fahren - und eines Tages bricht man auf und hat Wichtiges versäumt. So bin ich nie nach Apulien und Sizilien gekommen, und manchen norditalienischen Ort habe ich nicht gesehen. Venedigs Zauber sollte ich erst fünfundzwanzig Jahre später mit meiner zweiten Frau erleben. Alles wirklich Erfahrene aber liegt nicht so sehr in der Vielfalt wie in der Intensität des Erlebens, oft im ganz Alltäglichen. Wir liebten die einfachen ländlichen Osterien, verkehrten in keinerlei ‚Kreisen‘, das einfache Volk war uns vor allem vertraut, nie hat das Café Aragno uns gesehen, all die fünf Jahre nicht. Wir waren auch keine Forestieri, wir waren Artisti, und Künstler sind in Italien keine Fremden.  36 Karl Hofer mit seiner Frau Elisabeth und Erika Leiner (links) vor dem Leiner’schen Gartenhaus am Lorettosteig (um 1940) Ins Jahr 1925 fiel Hofers erster Aufenthalt im Tessin, der ihm manches Jahr den Süden ersetzen musste. Zahlreiche Landschaftsbilder künden von seiner Liebe zu dieser Gegend. Auf dem Weg dorthin pflegten Hofer und seine zweite Frau Lisbeth im Malhaus der Familie Bruno Leiner einzukehren - so auch 1939, als sie in Caslano vom Kriegsbeginn überrascht wurden: Der Narr von Berchtesgaden hatte wie sein Vorgänger von Gottesgnaden der Welt den Krieg erklärt, und wir begaben uns, bereits in der Schweiz unter Schwierigkeiten, auf die Heimfahrt […]. In Konstanz musste ich meinen Wagen aufgeben, denn es gab kein Benzin mehr, das Blut der Mordwaffen. Dort waren wir auch erstmalig Zeugen des Elends der 324 Manfred Bosch 37 Ebd., S.-225. 38 Vgl. S T A R K , Barbara: Karl Hofer am Bodensee. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Städtischen Wessenberg-Galerie Konstanz, 24. Mai bis 6. Juli 2003, Konstanz 2003. 39 L E I N E R , Ulrich: Karl Hofer in Konstanz, in: Konstanzer Almanach 1956, S.-61. 40 Zitiert nach S T A R K (wie Anm. 38), S.-8. 41 Ebd., S.-18. von ihrem Besitz, von ihrem Grund und Boden vertriebenen Menschen. Die Franzosen hatten mehrere badische Dörfer völlig zerstört, und Konstanz nahm nun die Flüchtlinge auf. Man half so gut man konnte, und ich half auch unserem guten Freund Dr. Leiner, die Schätze seines Rosgartenmuseums einzupacken. Und gerade dieses wäre nicht nötig gewesen, denn Konstanz blieb völlig unversehrt.  37 Von Mitte Oktober 1940 bis Ende September 1941 lebte das Paar in Leiners Sommerhaus An der Steig 2. Über die Konstanzer Zeit 38 , die Hofer in seinen Erinnerungen eher kursorisch behandelt, führt Ulrich Leiner aus: Spaziergänge an die Ufer des Sees und über die Höhen zum Wasserturm oder zur Insel Reichenau füllen die Tage. […] Die Landschaft bot ihm willig ihre Motive in so reichem Maße, wie zuvor nur das Tessin. 39 1943 musste Hofer die Zerstörung seines Berliner Ateliers erleben; nach und nach schickte er die geretteten und neuen, teils auch „nachgemalten“ Bilder zur Sicherung nach Konstanz. Dorthin gingen auch oft seine Gedanken. Das Schönste wäre ja, wenn man ein eingerichtetes Häuschen, ev. Bauernhaus mit Garten, nur nicht Piefkeatmosphäre, zu mieten bekäme am Bodensee. Aber wir sind eben durch Torrezza [im Tessin, M. B.] so sehr verwöhnt. Sollten Sie aber wider Erwarten von einer solchen Gelegenheit Kenntnis haben, so bäte ich auf jeden Fall um Mitteilung.  40 Und an anderer Stelle heißt es: Ich wüßte in Deutschland nichts, wo ich lieber hinginge, und auch meiner Frau ist diese Landschaft ans Herz gewachsen. 41 1946 war Hofer dann mit sieben Bildern auf der von Leiner initiierten „Konstanzer Kunstwoche“ vertreten; 1955, in seinem Todesjahr, richtete man Karl Hofer im Kunstverein eine Gedächtnisausstellung aus. Alice Berend Der aus Berlin stammenden Schriftstellerin Alice Berend (1875-1938) war Florenz seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur zweiten Heimat geworden. Im Ersten Weltkrieg musste sie mit ihrer Familie Italien verlassen. Mit Romanen wie „Die Reise des Herrn Sebastian Wenzel“ (1912), „Frau Hempels Tochter“ (1913) oder „Die Bräutigame der Babette Bomberling“ (1915) im renommierten daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 325 42 Schreiben vom 22. März 1931, in: Privatarchiv Ulrich Leiner †, ohne Sigle. Verlag S. Fischer hatte sie sich damals bereits den Rang einer der beliebtesten und auflagenstärksten Autorinnen erschrieben. Schwägerin von Lovis Corinth, lebte sie nun mit ihrer Familie in München, Dachau und Oberstdorf. Als ihr Sohn Nils-Peter 1919 an Tuberkulose erkrankte, lernte sie auf einer Fahrt nach Arosa den Bodensee kennen. 1920 ließ sich Alice Berend mit ihrer Familie in Konstanz nieder und beauftragte den Architekten Josef Picard mit dem Bau des von ihr so genannten „Schreiberhäusle“ in der Eichhornstraße, das zu einem beliebten Treffpunkt der regionalen Künstlerschaft wurde. Zu ihr zählte auch der Maler Hans Breinlinger, den sie 1926 nach der Scheidung von ihrem Mann John Jönsson heiratete, um mit ihm nach Berlin zu übersiedeln. Hier gehörte neben dem Dichter Theodor Däubler auch Karl Hofer zu ihrem Freundeskreis. Doch der Bodensee und seine Atmosphäre wirkten nach. Heut komm ich […] mit einer Bodenseeanfrage, wandte sie sich im Frühjahr 1931 an den befreundeten Apotheker und Leiter des Konstanzer Rosgartenmuseums Bruno Leiner, [k]önnen Sie mir Chronik, Kalender oder sonst Historisches senden, das mir dazu verhilft, das Jahr 1859 (zwischen Konstanz und Meersburg insbesondere) wieder lebendig zu machen? Ich schreibe eine romantische Sache, die in diesem Jahr 1859 spielt, ich bin in Gedanken also beständig am Bodensee  42 . Alice Berend. Zeichnung von Emil Stumpp (1928). Die „romantische Sache“ erschien 1932 als „Der Kapitän vom Bodensee“ und galt der Jugend des Grafen Zeppelin. Schon 1927 war „Die goldene Traube“ erschienen, ein Bodenseeroman aus dem Winzermilieu; 1934 folgte die Jugend‐ 326 Manfred Bosch 43 Brief vom 13. Januar 1937, in: Privatarchiv Ulrich Leiner †, ohne Sigle. erzählung „Zwei Kinder fahren den Rhein hinab“, die im Konstanzer Malhaus ihren Ausgang nimmt. 1932 weilte die Autorin ein letztes Mal in Konstanz, um im Hotel Halm aus ihrem Zeppelin-Roman zu lesen. 1933 ging auch die Ehe mit Hans Breinlinger in die Brüche. Die evangelisch getaufte Jüdin behielt zwar ihren Berliner Wohnsitz bei, wandte sich jedoch 1935 wieder nach Florenz, das sie in den zwanziger Jahren immer wieder besucht hatte. Hier war auch ihr Roman „Rücksicht auf Marta“ entstanden. Aus Schaffhausen, wo sie eine Zeitlang bei ihrer Tochter Carlotta weilte, erfuhr ihr lieber Freund Leiner Anfang 1937 von ein[em] große[n] Ereignis, dem einschneidendste[n] wohl meines Lebens: Ich habe also alles Vergangene weit hinter mir. […] Im Juli machte ich es endlich zur Wirklichkeit, ich trat in die heil. katholische Kirche ein! Nachdem ich schon sehr lange vorher von geistlicher Seite darauf vorbereitet gewesen […]. Ich erhielt allein für mich, bei für andere geschlossenen Türen, die heil. Taufe im Baptisterium in Florenz, Tage darauf die Firmelung [! ] vom Bischof von Florenz. Dieses und die Busszeit vorher, bringt soweit an die letzten Dinge heran, dass wenn man es überlebt, was mir nicht immer gewiss gewesen, man sich sehr weit entfernt von seinem früheren Ich und dessen Irrtümern. Sie müssen nicht etwa an Frömmelei denken, nur an höheren Glauben und dessen gewaltige Geistigkeit. Und sie setzte hinzu: […] ganz neue Welten taten sich mir auf, in der Geschichte der Kirche, der Menschheit und in der Religionsphilosofie [! ]. Wie kurz ist das Leben für alles das. Man wird bang, und zugleich gefestigt, aber ich stehe durch alles in einer Krise meines Schaffens und da steht man allein für sich, und muss sich selbst wieder auf seinem Schaffensweg zurecht zu finden suchen.  43 Zu diesem Zeitpunkt waren die Lebenskräfte der mittlerweile 62-Jährigen längst angegriffen. Auch finanziell standen ihre Verhältnisse nicht zum Besten. In Deutschland hatte Berend seit 1933 immer weniger veröffentlichen können, sodass sie fast ausschließlich auf Einkünfte von Schweizer Zeitungen angewiesen war. Erbe‐ tene Vorschüsse abzuarbeiten fiel ihr immer schwerer. Als die „Basler National- Zeitung“ ihren Roman „Spiessbürger“ zum Vorabdruck angenommen hatte, entschuldigte sie sich bei Redakteur Otto Kleiber: Ich wollte abwarten, bis der Abdruck begonnen hat, aber mein Portemonnaie weiss nichts mehr von guten Ma‐ daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 327 44 Brief vom 21. Mai 1934, in: Nachlass Kleiber, Universitätsbibliothek Basel, Sign. NL 336: A 4, 10. 45 Brief vom 26. Oktober 1937, in: Nachlass Kleiber (wie Anm. 44), Sign. NL 336: A 4, 17. nieren.  44 Und im Oktober 1937 berichtete sie ihm von einer Infektionskrankheit, die sie sich in Forte dei Marmi eingefangen hatte und die ihre Lebensenergie bis zum Äußersten erschöpft habe. Erst seit ganz kurzem versucht meine Konstitution zu beweisen, dass sie Reserven hat, vielleicht sogar ausreichende, um mich am Leben zu erhalten.  45 Nur ein halbes Jahr später war Alice Berend tot. Dass sie verhungert sei, wie in Anlehnung an eine Erinnerung von Max Krell immer wieder zu lesen ist, muss man wohl eher symbolisch verstehen; doch völlig verarmt war sie mit Sicherheit - und vergessen auch. Als sie nach ihrem Tod am 2. April 1938 auf dem Florentiner Cimitero Evangelico agli Allori beigesetzt wurde, nahm vom Ende dieser einstmals berühmten Dichterin kaum jemand Notiz. Im Jahr ihres Todes erschien noch die Buchausgabe ihres Romans „Spiessbürger“ in einem Zürcher Verlag. Tochter Carlotta übergab mehrere Koffer mit dem Nachlass einer Freundin Berends zur Aufbewahrung; sie fanden sich nach Kriegsende, durch Dritte bis auf wenige Manuskripte ausgeraubt, auf einem Dachboden wieder. Das Grab von Alice Berend und ihrer Tochter Carlotta auf dem Cimitero Evangelico agli Allori, Florenz. Aufnahme Ilse Friedrich (2022). 328 Manfred Bosch 46 Hüetlinstraße 39, bei Merkle. 47 Brief vom 10. Dezember 1945, in: StAF, Sign. A 96/ 1 Nr.-4780. 48 Brief vom 15. Dezember 1945, in StAF (wie Anm. 47). Guido Parisch In den ersten Nachkriegsmonaten richtete ein gewisser Guido Parisch (1885-? ), der seit dem 20. Juni 1945 in Konstanz polizeilich gemeldet war 46 , eine Eingabe an Landeskommissär Dr. Nordmann - betreffend die Genehmigung zur Grün‐ dung einer Konstanzer Ortsgruppe der „Dante Alighieri-Gesellschaft“. Parisch reagierte damit nach eigenen Angaben auf eine Sendung von Radio Rom, in der zur Gründung solch lokaler Ableger aufgerufen worden war. Obschon die Zulassung einer Dante-Gesellschaft nicht in die Zuständigkeit Nordmanns fiel, ließ er vertrauliche Erhebungen über Parisch anstellen. Das kriminalpolizeiliche Ergebnis fiel negativ aus: Parisch soll angeblich schlechte deutsche Filme nach Italien und solche italienischen Filme nach Deutschland verkauft haben. Als echter italienischer Geschäftsmann sei er überall auf dem Filmmarkt zu finden gewesen, wo es etwas zu verdienen gab. Die charakterliche Eigenschaft soll echt südländisch sein. Auch soll er in Berlin Mitglied der faschistischen Kolonie gewesen sein; im April 1945 habe er versucht, nach Italien zurückzureisen, sei aber trotz gültiger Papiere durch die Besatzung daran gehindert worden, weshalb er sich jetzt scheinbar [! ] in Konstanz aufhalte, um seine Vermögensreste auf irgendeine günstige Art zu investieren. Für die Gründung einer lokalen Dante-Gesellschaft sei Parisch die denkbar ungeeignetste Person.  47 Ein völlig anderes Bild Parischs entsteht in den Einlassungen von Parischs langjähriger Mitarbeiterin Gerda Wedel, die damals in der Gottlieber Straße 16 wohnte. Danach hatte der in Rom geborene Parisch 1922 aus politischen Gründen seine Heimat verlassen, um seine Filmgeschäfte - Produktion, Nach‐ synchronisation, Verleih und Vertrieb - von Berlin aus zu betreiben. Zum Schutz seiner selbst wie seiner zahlreichen Familie sei er zwar der faschistischen Partei beigetreten, sei dabei aber selbst Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Parisch habe Juden ins Ausland gebracht; seine jüdische Sekretärin habe er ebenso beschützt wie sie selbst als „Halbjüdin“. Als er auf Anordnung des italienischen Botschafters vertretungsweise das Konsulat in Freiburg übernahm, habe er sich für die Ex-Internierten italienischen Arbeiter und Soldaten eingesetzt, auf dass diese freikämen und in die Heimat zurückkehren konnten. Ich wäre Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Nordmann, äußerst dankbar, schloss Gerda Wedel, wenn ich Herrn Parisch durch mein Zeugnis dazu verhelfen könnte, um ihm dadurch ein klein wenig den Dank abzustatten, den ich ihm für meine Kinder, meine Familie und mich selbst schuldig bin.  48 Vier Tage später wies Nordmann Guido Parisch daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 329 49 STAF, Sign. A 96/ 1 Spec. 4780.221. 50 Zu Parisch vgl. auch K L Ö C K L E R , Jürgen: Abendland - Alpenland - Alemannien. Frank‐ reich und die Neugliederungsdiskussion in Südwestdeutschland 1945-1947 (Studien zur Zeitgeschichte, 55) München 1998, S.-257. 51 Die Aufführung fand tatsächlich statt. Vgl. N I X , Christoph/ B R U D E R , David und L E I P O L D , Brigitte (Hgg.): Hier wird gespielt. 400 Jahre Theater Konstanz, Berlin 2007, S.-202. 52 H E N Z E , Hans Werner: Lehrzeit in Konstanz, in: Dillmann, Michael: Heinz Hilpert. Leben und Werk, Berlin 1990, S.-393. darauf hin, dass für die Genehmigung seines Antrags die Militärregierung zuständig sei 49 , wozu weitere Akten jedoch nicht existieren. Weder über das weitere Schicksal Guido Parischs noch auf die Existenz einer Konstanzer Dante- Gesellschaft existieren irgendwelche weiteren Hinweise. 50 Hans Werner Henze Bevor sich der Komponist Hans Werner Henze (1926-2012) im Jahre 1953 nach Italien zurückzog, wo seine Freundschaft und Zusammenarbeit mit Ingeborg Bachmann begannen, war er 1948 ein Engagement als Hauskomponist und Korrepetitor am „Deutschen Theater“ Konstanz eingegangen. Dies war mein erster regulärer Theaterjob […], und ich war mit großer Begeisterung dabei, notierte er. Ich schrieb in dieser Saison Musik zu einer amerikanischen Komödie, es waren Klavierstücke - die Noten sind leider verloren gegangen. […] In der gleichen Saison schrieb ich für die Uraufführung der ‚Gefangenen‘ von Max Kommerell einige Sätze für Streichquartett. Das Manuskript existiert noch. Ich kann mich allerdings nicht mehr an die Aufführung erinnern - vielleicht ist es bei der Planung geblieben?   51 Für Henze bedeutete die Arbeit unter Heinz Hilpert den Anfang meiner Liebe zum Theater: Ich habe damals elementare Grundbegriffe kennen‐ lernen dürfen, die sich auch auf das Musiktheater anwenden ließen: Begriffe von der gesellschaftlichen Funktion, den erzieherischen Möglichkeiten und der künstlerischen Wirklichkeit, dieses tief in das Seelische hineinreichenden Ausdrucksmittels.  52 Auch wenn es bei nur einer Spielzeit blieb, weil Hilperts Ansprüche an ein viel zu kleines Konstanzer Publikum zielsicher in den Ruin führten, erwiesen sich die genannten elementaren Grundbegriffe für Henzes weiteres musikalisches Schaffen als wegweisend. Sie standen weitgehend quer zu den atonalen und serialistischen l’art pour l’art-Prinzipien der Nachkriegsavantgarde, wie sie für Luigi Nono, Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen damals charakteris‐ tisch waren. Solch ausgezehrte Klangästhetik war auf Dauer nichts für den Fortner-Schüler, dem es immer neu um die Fruchtbarmachung musikalischer 330 Manfred Bosch 53 H E N Z E , Hans Werner: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955-1984, München 1984, S.-52. 54 H E N Z E , Hans Werner: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mittei‐ lungen 1926-1995, Frankfurt/ M. 1996, S.-152. 55 Ebd., S.-146. Traditionen ging und der in seiner Option für Stilpluralismus gern bei den Menschen sein wollte - aber bitte weit entfernt von konformistischen Clubs. 53 Wofür sich Henze entschied, war ein Schönheitsbegriff, der etwas mit der Idee von der Wahrheit, der inneren, der eigenen zu tun hatte, und keinem anderen Denken verpflichtet sein würde als dem meinen.  54 Hans Werner Henze Anfang 1950 in Berlin, kurz nach Beendigung seines Engagements als Hauskomponist am Stadttheater Konstanz. © Hans Werner Henze-Stiftung, Nürn‐ berg. Diese Prämisse seiner künstlerischen Vorstellungen verlangte nach doppelter Distanz: Henze entfloh der westdeutschen Restauration, und er entfloh der deutschen Musikavantgarde und/ oder der Avantgardemusik, denen sein Schaffen als Anachronismus galt. Ich hatte es nötig, schrieb Henze, ganz allein, wie ein Eremit, herauszufinden, was Musik ist für mich, wie sie mit unserer Existenz verbunden ist, was sie zu bedeuten hat, welche kulturelle Aufgabe der Komponist in der menschlichen Gesellschaft erfüllt. 55 Den erwünschten Abstand fand der Komponist auf Ischia - und später in Neapel, Rom, Castel Gandolfo und Marino. Schon als Henze das Land 1951 zum ersten Mal betrat - er nannte das Datum daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 331 56 Ebd., S.-139. 57 Ebd., S.-124. 58 Ebd., S.-147. 59 Ebd., S.-226. 60 Ebd., S.-240. 61 Ebd., S.-201. der Grenzüberschreitung den schönsten Tag meines Lebens  56 - hatte er notiert: Es gab also doch eine bessere Welt! Sie lag in der Luft und war gleichzeitig durchaus sichtbar. Die Menschen waren hier freundlicher zueinander als bei uns. An diesem Abend verliebte ich mich unsterblich in das italienische Volk  57 und ließ, wie so viele Deutsche vor mir, die Italianità widerstandslos in mich hinein.  58 Es war dies ein Entschluss fürs Leben: Italien sollte der Geburtsort meiner Werke sein, in der luftigen lustigen campagna sollte das stattfinden, und wenn ich genug hatte von der Arbeit und Einsiedelei, dann würde ich in die eine oder die andere der großen Metropolen gehen und dort praktische Arbeit tun, dirigieren, inszenieren, lehren, mich amüsieren. 59 In seiner neuen Heimat griff Henze manches wieder auf, was in Konstanz unausgeführt oder unverwendet liegen geblieben war, hier entstand ein weit gefächertes, kaum noch überschaubares Werk, das von Kammermusik über Vokalwerke und Sinfonien bis zur Oper reicht, und hier war auch der Boden für fruchtbare Rückgriffe auf die Tradition - seien es die Kompositionsweisen eines Monteverdi oder Bach, die Liebe zur Volksmusik, die ihn das Musikfestival von Montepulciano gründen ließ, oder ein Bild Géricaults, das ihn zum Oratorium „Das Floß der Medusa“ inspirierte. Zu diesem humanen und mehr und mehr kämpferischen Konzept bekannte sich Henze gegen alle Anfeindungen, glaubte er sich doch trotz großer, auch internationaler Erfolge immer wieder dem Verdikt eines Korpsgeistes ausgesetzt, wonach jede Abweichung von […] amtlich festgelegten Regeln und Maßstäben für das Leben und die Kunst sofort denunziert und geahndet werden mußte. 60 Der Verwirklichung seiner Absicht, Werke von klassischer Schönheit zu erfinden und alle die Stücke [zu] schreiben, die ich in der Musik vermißte  61 , konnten alle Widerstände wenig anhaben. Am Ende blieben den Avantgardisten die Funkstudios und Mitternachtssendungen, während dem auftragsverwöhnten, freilich auch umstrittenen Henze die Sinfoniekonzerte und Opernhäuser offenstanden, in denen er zu einer der farbigsten Figuren seiner Generation wurde. Und mutet nicht, um Henzes Liebe zu Italien ein weiteres Mal hervorzuheben, die folgende Passage aus seinem Aufsatz „Neapel“ von 1956 wie ein spätes Echo auf Friedrich Pechts Veroneser Eindrücke an? Die Stadt ist von Geräuschen erfüllt, 332 Manfred Bosch 62 Ebd., S.-43 f. von gellendem Lärm, beunruhigenden Lauten und es scheint, daß das alles mit Singen zu tun hat, vom Singen herkommt und in Singen endet. Und mit diesen Stimmen im Ohr, fährt Henze fort: Aber es fängt an mit dem Sprechen. Nicht sprechen im europäischen Sinne - es ist ein Durchlaufen aller erdenklichen Klangfarben, immer mit der Tendenz, in Gesang zu münden, es ist Zärtlichkeit, Weichheit, es ist der rauhe, schwere Laut der Fischersprache, die wendigen städtischen Akzente der Lazzaroni, schnelle aufgeregte Staccati und milde beteuernde Legati, das Pathos der Commendatori, Seufzen, Schmeicheln, Lästern der Ca‐ valieri. Stimmbänder wie gespannte Bogensehnen, da schnellt der Schrei in die Luft. […]. Es ist der Geburtsschrei, der Notschrei, der Marktschrei, Hungergestöhn, Sterbegewinner. Die höhnenden Gassenbuben, die zeternde Mutter, die Straßenhändler, jeder von ihnen mit seinem eigenen Ruf, seinen eigenen drei, vier Tönen, wörtlich übernommen von Griechen und Mauren.  62 daß ich nächst meinem eigenen das italiänische Volk am meisten von allen liebe 333 1 Der Programmflyer trug den Titel: „Ja, wenn der ganze Bodensee … 111 Jahre Willi Hermann“. 2 R A U , Jörg-Peter: Was wird aus Willi Hermanns Liedern? Ein Fasnachter kämpft für die Schlager, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 22. August 2018. Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern Zur Rolle des späteren Konstanzer Fasnachtsliederkomponisten Willi Hermann im Zweiten Weltkrieg Jürgen Klöckler Kaum je hat die Rekonstruktion einer vom Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg geprägten Biografie die Konstanzer Stadtgesellschaft so aufgewühlt, wie es die im Sommer 2018 der Öffentlichkeit präsentierte Lebensskizze des Fasnachtskomponisten Willi Hermann tat. Dabei hatte alles so harmlos begonnen: Der stadtbekannte Musiker und Komponist Wolfgang Mettler verfolgte zusammen mit der Narrengesellschaft Niederburg die Idee, eine Konzert mit den populärsten Fasnachtsliedern in Kooperation mit der Südwestdeutschen Philharmonie im Oberen Konzil-Saal am 24. und 25. No‐ vember 2018 aufzuführen. 1 Die Partitur, eine halbe Million Noten umfassend, war von Mettler bereits in dreijähriger Arbeit niedergeschrieben worden, 2 eine grandiose Sinfonie der Konstanzer Fasnachtslieder war entstanden. Deren Komponist war Willi Hermann (1907-1977), ein gebürtiger Stockacher, der erst nach 1945 in Konstanz ansässig geworden war. Sein 111. Geburtstag sollte dann tatsächlich - freilich anders wie ursprünglich geplant - unver‐ gessen bleiben. Willi Hermann auf einer fasnächtlichen Bühne, um 1960 (Archiv des Südkuriers) Die Tageszeitung „Südkurier“ war bereits zu einem frühen Zeitpunkt als Medienpartner für das musikalische Projekt gewonnen worden; die Zeitung sollte die Biografie des Komponisten in groben Zügen für eine anzufertigende Festschrift verfassen. Dem beauftragten Journalisten gelang es jedoch nicht, Willi Hermanns Leben vom Ende der Weimarer Republik bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland wenigstens in Grundzügen zu rekonstruieren. Keine einzige Quelle und kein einziger Zeitzeuge konnten beigebracht werden. Niemand - auch die Familie nicht - kannte den Lebenslauf von Willi Hermann von vor 1945. Sein vorheriges Leben war offensichtlich in der Nachkriegszeit beschwiegen worden. Ratsuchend wandte sich der Journalist des Südkuriers an das zuständige Stadtarchiv, mit der Bitte um Erhellung der Biografie. Als ausgewiesener Zeithistoriker recherchierte der Archivleiter den Fall in zahlrei‐ chen Archiven in Deutschland und Frankreich. Die Ergebnisse waren derart gravierend, dass sie mit Blick auf die bereits angekündigten und beworbenen Konzerte umgehend veröffentlicht werden mussten. Das wiederum zog die sofortige Aufkündigung der Medienpartnerschaft nach sich. Durch die Presse kam schließlich Anfang August 2018 der Fall Willi Hermann ans grelle Licht der Öffentlichkeit. 336 Jürgen Klöckler 3 K L Ö C K L E R , Jürgen: Die braune Vergangenheit von Willi Hermann, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 10. August 2018, S.-19. 4 R A U , Jörg-Peter: „Mit jetzigem Wissen werden diese Lieder zynisch“ [Interview mit Museumsdirektor Tobias Engelsing], in: Südkurier - Ausgabe K - vom 18. August 2018. 5 F R I C K E R , Uli/ R A U , Jörg-Peter: Schatten über einer Fasnachtsikone, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 10. August 2018. Damals erschien nämlich in der Tageszeitung „Südkurier“ ein großer bio‐ grafischer Artikel 3 aus der Feder des Stadtarchivars, in dem im Wesentlichen Hermanns Rolle als hauptamtlicher NS-Propagandaredner in der Karlsruher Gauleitung und seine Verstrickung in eines der schwersten Kriegsverbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg behandelt wurden. Jetzt brachen alle Dämme. Unzählige Leserbriefe erschienen in der Presse, Kommentare im Rundfunk sowie Features im SWR-Fernsehen wurden gesendet, endlose Auslas‐ sungen und Polemiken verbreiteten sich in den sogenannten Sozialen Medien, intensive Diskussionen wurden nicht nur an den Stammtischen geführt: Hitzig wurde vielerorts debattiert, ob Willi Hermanns Lieder zukünftig noch Platz in der Fasnacht finden könnten oder ob sie angesichts der rekonstruierten NS- Biografie einfach nur noch zynisch 4 sind. Mit zeitlichem Abstand von fünf Jahren kann man festhalten: die Lieder werden bei offiziellen Anlässen weder bei der SWR-Fernsehfasnacht im Konzil noch anlässlich der Veranstaltungen der Niederburg mehr gesungen, andererseits sind sie aber aus der „wilden“ Straßenfasnacht auch nicht gänzlich verschwunden. Tatsächlich hatte die jahr‐ zehntelang beschwiegene und nunmehr aufgedeckte Lebensgeschichte von Willi Hermann die von zwei Südkurier-Journalisten vorhergesagte „Wucht, die Fasnacht bis in ihre Grundfeste zu erschüttern“. 5 Das war exakt der Punkt, weshalb die Emotionen so aufwallten. Nähern wir uns nun im Rahmen dieses Sammelbandes zu den Konstanzer transalpinen Beziehungen der Kriegsdienstzeit des späteren Fasnachtslieder‐ komponisten Willi Hermann in der Wehrmacht und seines Einsatzes in Frank‐ reich und vor allem in Griechenland. Wie tief war er, der nach 1945 mit schmis‐ sigen Fasnachtsliedern und gesanglichen Bühnenauftritten auf sich aufmerksam machen sollte, in die Ermordung tausender italienischer Kriegsgefangener verstrickt? Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 337 6 Die nachfolgenden Details zu Hermanns Kriegseinsatz wurden bereits veröffentlicht bei: K L Ö C K L E R , Jürgen: Eine Ikone der Fasnacht am Bodensee. Zur NS-Vergangenheit des Konstanzer und Stockacher Fasnachters Willi Hermann, in: Schrr VG Bodensee 137 (2019) S.-3-32, hier S.-15-24. 7 Das Landesschützen-Bataillon 421 wurde am 26. Mai 1942 von Évreux nach Amiens, dann nach Mantes verlegt, um schließlich ab 3. September 1942 wieder in Évreux stationiert zu werden; Lagebericht des Chefs der Militärverwaltung A für den Zeitraum vom 16. Mai bis 30. September 1942, gefertigt am 4. Oktober 1942; BundesA/ MA Freiburg RW 35/ 1221. 8 Ebd. 9 Lagebericht Nordwestfrankreich vom 1. November bis 30. November 1942; Bun‐ desA/ MA Freiburg RW 35/ 1223. 10 Bericht des Chefs der Militärverwaltung A vom 3. Dezember 1942; ebd. 11 BundesA Berlin NSDAP Parteikorrespondenz R 9361 II/ 380823. Willi Hermann als Soldat der Wehrmacht 6 Am 12. September 1940 wurde Willi Hermann zur Wehrmacht eingezogen und zwar zur 2. Kompanie des Infanterie-Ersatz-Bataillons 390 nach Neckarsulm. Nach der infanteristischen Grundausbildung wurde er im Dezember 1940 mit dem Dienstgrad Schütze zur 3. Kompanie des Landesschützen-Bataillons 421 befohlen, das im Militärverwaltungsbezirk A in Nordwestfrankreich 1941/ 42 im Raum Évreux in der Normandie, dann in Amiens, danach als „bewegliche Reserve“ des Militärbefehlshabers in Mantes 7 und schließlich wieder in Évreux als Sicherungseinheit stationiert war. „Die Haltung der L[an]d[es]s[chützen] ist zuverlässig und anständig“, heißt es in einem Lagebericht vom 4. Oktober 1942, trotz „häufiger Eintönigkeit als Wach- und Sicherungsdienst“ 8 . Eine Beförderung zum Unteroffizier folgte im Mai 1942. „Im Zuge der Maßnahmen gegen das bisher unbesetzte Frankreich“ wurde das „Lds.Btl. 421 (Evreux) mit Transportkolonne 1“ im November 1942 nach Südfrankreich abgegeben - wie es in einem weiteren Lagebericht für Nordwestfrankreich heißt. 9 Nun war das Landesschützen-Bataillon 421 in Limoges stationiert, als Teil der „Gruppe Knörzer“. 10 Im Februar 1943 wurde Willi Hermanns Einheit zur 11. Kompanie des Sicherungs-Regiments 192 umbenannt, das Landesschützen- Bataillon 421 selbst bildete das vierte Bataillon des neuaufgestellten Regiments. Das vierte Bataillon, dem Willi Hermann angehörte, lag nun in Bourges. Im Sommer oder Herbst 1942 muss Willi Hermann im besetzten Frank‐ reich straffällig geworden sein. Denn nur so ist erklärlich, dass der für Sicherheitsfragen zuständige M-Beauftragte der Karlsruher Gauleitung das Gaupersonalamt am 24. August 1943 darüber informierte, dass Willi Hermann auf „meinen Antrag auf Verwendung des Obengenannten in der kämpfenden Truppe“ entsprechend abgestellt worden sei. 11 Das Schreiben trägt das Akten‐ 338 Jürgen Klöckler 12 Im Stadtarchiv Évreux ist laut schriftlicher Auskunft von Stadtarchivar Olivier Innocent kein Material zu Willi Hermann vorhanden; E-Mail an den Verfasser vom 14. September 2018. 13 T H E I S , Kerstin: „Das Ziel ist klar, ein 1918 wird das Ersatzheer nie erleben.” Die Wehr‐ machtjustiz der Ersatztruppen an der „Heimatfront” während des Zweiten Weltkriegs, in: Claudia Bade/ Lars Skowronski/ Michael Viebig (Hg.): NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (Berichte und Studien, 68) Göttingen 2015, S.-165-180, hier S.-173. 14 T H E I S , Kerstin: Wehrmachtjustiz an der „Heimatfront“. Die Militärgerichte des Ersatz‐ heeres im Zweiten Weltkrieg (Studien zur Zeitgeschichte, 91) Berlin 2016, S.-397. 15 Rundschreiben Nr. 61/ 42 gRs. vom 9. Dezember 1942, in: BundesA NS 6/ 339, abgedruckt in: K L A U S C H , Hans-Peter: „Wehrunwürdig“, die Bewährungsbataillone 999 und das Problem der Desertion als eine Form des antifaschistischen Widerstandes, in: Fietje Ausländer (Hg.): Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus (DIZ-Schriften, 2) Bremen 1990, S.-160 f. 16 Archives nationales: La France et la Belgique sous l’occupation allemande 1940-1944. Les fonds allemands conservés au Centre historique des Archives nationales. Inventaire de la sous-série AJ 40 , Paris 2002 sowie M A R T E N S , Stefan (Hg.): Frankreich und Belgien unter deutscher Besatzung 1940-1944. Die Bestände des Bundesarchiv-Militärarchivs Freiburg bearbeitet von Sebastian R E M U S (Instrumenta, 7) Stuttgart 2002. zeichen „53b/ 2.10.42“. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Willi Hermann mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dem 2. Oktober 1942 in eine Straftat im besetzten Frankreich - und zwar in oder bei Évreux 12 , Amiens oder Mantes - verwickelt gewesen sein muss, da er anschließend - wie noch zu zeigen sein wird - in eine „Bewährungsbataillon“ der Wehrmacht strafversetzt wurde. Die Wehrmachtjustiz war seit Herbst 1941 dazu übergegangen, die Verbüßung von Strafen zunehmend zur „Frontbewährung“ bis zum Kriegsende auszusetzen. 13 Im Februar 1942 wies das Oberkommando der Wehrmacht die Heeresgerichte an, angesichts der zugespitzten militärischen Lage, statt „Strafen zu vollziehen die Verurteilten zur ‚Bewährung‘ an die Front zu schicken.“ 14 Der Leiter der NSDAP-Parteikanzlei, Martin Bormann, instruierte die Gau‐ leitungen im Dezember 1942 entsprechend: „Die einberufenen Wehrunwürdigen gelten mit dem Tage der Einberufung während ihres aktiven Wehrdienstes als wehrwürdig. Die Verleihung der dauernden Wehrwür‐ digkeit haben sie jedoch erst durch Kampfeinsatz und besondere Bewährung zu erwerben.“ 15 Von dieser als „geheime Reichssache“ deklarierten Mitteilung Bormanns hatte auch der M-Beauftragte der Karlsruher Gauleitung Kenntnis. Fakt ist, dass die Überlieferungslage der Unterlagen der Militärverwaltung und insbesondere der Wehrmachtjustiz 16 infolge des Rückzuges der deutschen Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 339 17 Auch in Frankreich selbst hat sich deutsches Quellenmaterial erhalten: Q U É G U I N E U R , Frédéric: Les archives allemandes dans les fonds des services spéciaux aux archives du Service historique de la Défense, in: Francia 45 (2018) S.-279-292. 18 BundesA/ MA Freiburg RW 60/ 3933 [1939-1942] und 3936 [1945]. 19 W Ü L L N E R , Fritz: Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, Baden-Baden ²1997, S.-133 ff. 20 Die in Frankreich requirierten Schreibmaschinen verfügten über keine Taste mit dem „ß“. Truppen aus Frankreich ab Sommer 1944 sich als sehr disparat darstellt. 17 Die Unterlagen des Gerichts der Feldkommandantur 591, dem das Landesschüt‐ zenbataillon 421 unterstellt war, sind nur rudimentär erhalten. Es sind zwei Sonderhefte zur Strafsachenliste überliefert, die jedoch lediglich die Zeiträume 1939-1942 und 1945 betreffen. 18 Die Akten einer im Sommer oder Herbst 1942 begangener Straftat sind frühestens im 1943 oder 1944 an das Heeresarchiv nach Potsdam abgegeben worden. Genau diese Akte mit den Strafsachenlisten der Jahre 1942-1944 fehlt jedoch heute im Bundesarchiv/ Militärarchiv in Freiburg - aus welchen Gründen auch immer. Dazu kommt der Umstand, dass sämtliche „weglagereifen“ Einzelfallakten der Wehrmachtsjustiz, also auch diejenigen des Gerichts der Feldkommandantur 591, noch während des Krieges an das Heeres‐ archiv nach Potsdam abgegeben wurden. Das Heeresarchiv selbst ist nach einem britischen Bombenangriff vom 14. April 1945 vollständig ausgebrannt. 19 Daher haben sich die Verfahrensakten der von deutschen Soldaten im Bereich des Gerichts der Feldkommandantur 591 verübten Straftaten nicht erhalten. Wir wissen daher nicht, was sich Willi Hermann im besetzten Frankreich hat zu Schulden kommen lassen. Doch können wir zumindest einen Eindruck aus den erhaltenen Berichten über das besetzte Frankreich gewinnen. In einem Lagebricht für den Militär‐ verwaltungsbezirk A vom 3. September 1942 heißt es unter „IV. Besondere Vorkommnisse bei der Wehrmacht“ für den Zeitraum vom 1. bis 31. August 1942 unter dem Punkt „Manneszucht“: „Verhalten der Truppe im Grossen 20 wie bisher gut. An Einzel-Verstössen wurden gemeldet: 11 Fälle von Fahnenflucht […] 18 sonstige Verstösse […] und zwar: 1x Plünderung; 6x Einbruchdiebstahl, 5x Diebstahl bzw. Hehlerei; 1x Wachvergehen; 1x fahrl[ässige] Behandlung der Schusswaffe: dadurch Tod einer Französin; 1x Verursa‐ chung eines Verkehrsunfalls und Fahrerflucht; 1x Bedrohung eines Kameraden nach Aufforderung zu gemeinsamem Raub (mit tödlichem Ausgang); 1x tätlicher Angriff mit der Waffe auf einen Wachmann; 1x Erschiessung eines Kameraden. Bei den 4 letztgenannten Fällen spielte Trunkenheit eine Rolle. Urteile der Feldgerichte gegen Wehrmachtsangehörige: Fahnenflucht 1 Todesurteil; unerlaubte Entfernung 2 Fälle, je 340 Jürgen Klöckler 21 Vergewaltigung. 22 Lagebericht des Ic-Offiziers beim Kommandostab des Militärverwaltungsbezirks A für den Zeitraum vom 1. bis 31. August 1942, gefertigt am 3. September 1942; BundesA/ MA Freiburg RW 35/ 1221. 23 Lagebericht des Chefs der Militärverwaltung A vom 16. Mai bis 30. September 1942, gefertigt am 5. Oktober 1942; ebd. 24 M E Y E R , Hermann Frank: Blutiges Edelweiß. Die 1. Gebirgs-Division im Zweiten Welt‐ krieg, Berlin ³2010, S.-300. 25 F R I C K E , Gert: Das Unternehmen des XXII. Gebirgsarmeekorps gegen die Inseln Kefa‐ lonia und Korfu im Rahmen des Falles „Achse“ (September 1943). Ein Dokumentarbe‐ richt, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1/ 1967, S.-40. ein Fall: Wachverfehlung, Zersetzung der Wehrkraft, tätlicher Angriff gegen Vorge‐ setzte, unbefugte Anmassung von Befehlsgewalt, Plünderung, Diebstahl, Notzucht 21 , Körperverletzung und Fahrerflucht, 2 Fälle von Verstössen gegen Verkehrsordnung.“ 22 Für den Zeitraum vom 16. Mai bis 30. September 1942, also den für die Biografie von Willi Hermann entscheidenden Zeitraum, heißt es zusammenfassend im Lagebericht des Militärverwaltungsbezirks A: „Die eingegangenen Anzeigen bezogen sich auf nachstehende strafbare Handlungen: Mord- oder Versuche 4; Brandstiftungen 162; Sittlichkeitsverbrechen 12, Selbstmorde 10; Verkehrsun‐ fälle 114; Trunkenheitsausschreitungen 8“. 23 Bei einem dieser Fälle handelte es sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um Willi Hermann. Versetzung in ein „Bewährungsbataillon“ Im Mai 1943 wurde Willi Hermann aus - wie oben gezeigt - nicht mehr zu rekonstruierenden Gründen zur vierten Kompanie des Festungs-Grenadier‐ bataillons 909 strafversetzt, die von Oberleutnant Helmut Sigeneger geführt wurde. Das war eines der berüchtigten „Bewährungsbataillone“ der Wehrmacht, das von den Landsern treffend als Strafbataillon bezeichnet wurde. Das Bataillon wurde in Hanau bei Frankfurt neu aufgestellt. Es bestand „in der Masse aus wehrunwürdigen Soldaten - zur Bewährung“ 24 , so Oberstleutnant Johannes Barge, der Kommandeur des aus den Bataillonen 909 und 910 bestehenden, rund 1800 Mann umfassenden Festungs-Grenadierregiments 966, dessen Kampfwert allgemein als nicht sehr hoch eingeschätzt wurde 25 . Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 341 26 Diese griechische Insel (Betonung: Kefalònia) wird im deutschen Sprachraum unter‐ schiedlich bezeichnet: Kephalloniá, Kefallenía, Kefallinia, Kephalonia. 27 Zur Biografie Gandins und den Ereignissen auf Kefalonia aus italienischer Perspektive vgl. La divisione Acqui a Cefalonia Settembre 1943. A cura di Giorgio R O C H A T e Marcello V E N T U R I , Mailand 1993, S.-100-165. 28 S C H R E I B E R , Gerhard: Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten - Verachtet - Vergessen (Beiträge zur Militärgeschichte, 28) München 1990, S.-157. 29 Zur militärischen Lage auf Kefalonia im September 1943, die Massaker freilich ausspa‐ rend vgl.: F R I C K E (wie Anm. 25) S.-31-58. 30 Zeugenaussage von Willi Hermann vom 30. September 1966; Zentrale Stelle/ Bundes‐ archiv Außenstelle Ludwigsburg B 162/ 20797. 31 Ebd. Die Massaker auf der griechischen Insel Kefalonia Das Festungs-Grenadierbataillon 909, in dem Willi Hermann nun diente, wurde im August 1943 auf die griechische Insel Kefalonia 26 (genauer: in die auf der dortigen Halbinsel Paliki gelegenen Hafenstadt Lixouri) verlegt, rund 150 Kilometer südlich von Korfu gelegen und strategisch wegen der Zufahrt zum Isthmus von Korinth wichtig. Dort war die italienische Division „Acqui“ unter General Antonio Gandin (1893-1943) 27 mit „mindestens 11 525 Mann, darunter 525 Offiziere“ 28 , stationiert. Nach dem „Verrat“ Italiens, also dem am 8. September 1943 bekanntgegebenen Waffenstillstand mit den Alliierten, sollte das Festungs-Grenadierregiment 966 die italienische Division entwaffnen und in Kriegsgefangenschaft führen. Doch die Italiener leisteten auf Kefalonia ab dem 10. September 1943 bewaff‐ neten Widerstand. 29 Die vierte Kompanie des Festungs-Grenadierbataillons 909 war mittlerweile von der Halbinsel Lixouri zur infanteristischen Verstär‐ kung einer deutschen Sturmgeschützabteilung in die Inselhauptstadt Argostoli verlegt worden, wo die Italiener - nach den Erinnerungen Hermanns anläss‐ lich einer Zeugenvernehmung auf dem Kriminalkommissariat Konstanz im September 1966 - „plötzlich Feindseligkeiten“ eröffneten: „Es wurden von ihnen mehrere Fährschiffe zwischen Lixouri und Argostoli be‐ schossen. Außerdem wurde ein Angehöriger meiner Gruppe namens Wesserlin beim Marsch durch die Stadt Argostoli an einer Straßenecke von einem italienischen Scharfschützen erschossen.“ 30 Es gelang den zahlenmäßig weit überlegenen Italienern, in Argostoli im Rahmen der Kampfhandlungen die 1. und 4. Kompanie des Bataillons 909, darunter auch Hermann - wie er selbst in seiner Zeugenvernehmung im September 1966 gegenüber Kriminalkommissar Kofner einräumte 31 - sowie die 2. Sturm- 342 Jürgen Klöckler 32 M E Y E R (wie Anm. 24) S.-362 f. 33 Es handelte sich mutmaßlich um das II. Bataillon des Infanterie-Regiments 17 des italienischen Heeres; Vermerk des Oberstaatsanwalts Maaß vom 8. März 2007, S. 12; Zentrale Stelle/ BundesA B 162/ 20800. 34 M E Y E R (wie Anm. 24). 35 Ebd., S.-416. Geschützabteilung 201 unter Oberleutnant Jakob Fauth gefangen zu setzen. Die kriegsgefangenen Wehrmachtssoldaten der „Kampfgruppe Fauth“ wurden vom Pumpwerk am südlichen Ende der Bucht von Argostoli auf ein freies Feld in einem Talkessel bei Troianata, unweit der Festung Agios Georgios, verbracht. Mit Zustimmung der italienischen Bewacher machten die deutschen Soldaten das provisorische Gefangenenfeld an allen vier Ecken mit großen Hakenkreuzfahnen kenntlich, um nicht aus der Luft versehentlich von deut‐ schen Sturzkampfbombern angegriffen zu werden. 32 Die knapp 500 deutschen Kriegsgefangenen wurden von einer Kompanie Italienern bewacht, zudem lag ein italienisches Bataillon rund um Agios Georgios 33 . Zwischenzeitlich war die 1. Gebirgsdivision, ein deutscher Elite-Verband, im nördlichen Teil der Insel gelandet und drängte die Italiener zurück. Auf Weisung Hitlers galt es, keine Gefangenen zu machen. Auf Kefalonia wurden in den folgenden Tagen - nach neuesten militärgeschichtlichen Studien 34 - mindestens 2500 (und bis zu 5000) italienische Soldaten, die sich bereits ergeben hatten, kriegsvölkerrechtswidrig erschossen. Die deutschen Verluste sollten sich auf 60 Tote, sieben Vermisste und 104 Verwundete summieren. 35 Nach einer rückblickenden Zeugenaussage eines Kameraden von Hermann wurden auch die gefangengesetzten Angehörigen des Festungs-Grenadierba‐ taillons 909, unter ihnen der unverletzte Willi Hermann, von den Gebirgsjägern der Kampfgruppe des Majors Reinhold Klebe am 21. September 1943 nachts gegen 22: 00 Uhr befreit und zwar ohne dass ein einziger Schuss fiel. Die italieni‐ schen Bewacher, rund 150 Soldaten, wurden am Morgen des 22. September 1943 zusammen mit den Angehörigen eines Bataillons, das rund um Agios Georgios lag, erschossen - insgesamt mehrere hundert Mann. Ob nur die Gebirgsjäger die italienischen Gefangenen erschossen - wie vielfach der Sekundärliteratur zu entnehmen ist - bleibt unklar, ein Augenzeuge erinnerte sich rückblickend gegenteilig: „Ca. 100“ der gefangenen Italiener lagerten an einem Hang bei Troianata, „in deren Nähe sich noch ca. 15 deutsche Soldaten unter Führung eines […] Offiziers aufhielten, bei denen es sich um befreite Gefangene han‐ delte.“ Die rund 100 kriegsgefangenen Italiener wurden wohl von Angehörigen des Festungs-Grenadierbataillons 909 oder der Sturm-Geschützabteilung 201 Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 343 36 Aussage des Sanitätsfeldwebels Hans Kappel; zitiert nach M E Y E R (wie Anm. 24) S.-366. 37 Gustav Hosenfeld diente in der ersten Kompanie des Festungs-Grenadierbataillons 909. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er bei der Bundesbahn als Bundesbahnoberinspektor in Alsfeld/ Hessen beschäftigt. 38 Zeugenaussage von Gustav Hosenfeld vom 22. Dezember 1966; BundesA Außenstelle Ludwigsburg B 162/ 20797. 39 Korrigiert aus „Siegeneger“. Oberleutnant Helmut Sigeneger ist im Zweiten Weltkrieg gefallen, weshalb er in der Nachkriegszeit nicht vernommen werden konnte. 40 Zeugenaussage von Willi Hermann vom 30. September 1966; BundesA Außenstelle Ludwigsburg B 162/ 20797. erschossen. Nach dem Massaker hätten diese Wehrmachtssoldaten „von Zeit zu Zeit in den Leichenhaufen“ geschossen, weil „darin noch Bewegung war.“ 36 Lassen wir nun Willi Hermanns Kameraden Gustav Hosenfeld (1917-2010) 37 zu Wort kommen, der seine freizügige, ihn selbst belastende Zeugenaussage auf dem Krankenbett eines hessischen Kreiskrankenhauses am 30. September 1966 ebenfalls gegenüber Kommissar Kofner machte: Die Gebirgsjäger beschimpften die befreiten deutschen Festungs-Grenadiere als „Feiglinge“, sie bewaffneten sie mit Beutekarabinern ihrer vormaligen Bewacher und verteilten die Soldaten „willkürlich“ auf eigenen Einheiten, wohl um sie bei der Umsetzung des „Füh‐ rerbefehls“, sprich der Tötung der Italiener, zu kontrollieren. 38 Daran erinnerte sich der damalige Gruppenführer, Unteroffizier Willi Hermann im September 1966: „Gleich nach unserer Befreiung setzten wir uns unter Führung von Ob[er]l[eu]t[nant] Sigeneger 39 in Richtung Argostoli in Marsch. Wir rückten gruppenweise zwischen Gebirgsjägern vor. Zu Feindwiderstand kam es jedoch nicht mehr.“ 40 An die sich anschließenden zahlreichen Erschießungen konnte er sich nicht mehr erinnern, er habe nur „vom Hörensagen“ davon Kenntnis gehabt - zweifellos wollte er sich nicht selbst belasten. Formal zwingend hätte dann nämlich gegen ihn ermittelt werden müssen. Er stand buchstäblich mit einem Bein im Gefängnis. Willi Hermann erklärte gegenüber der Kriminalpolizei im September 1966 des Weiteren: Bezüglich „derartiger Erschießungen habe ich jedoch persönlich keine Wahrnehmungen gemacht. Ich weiß auch nichts von einem Befehl, daß sämtliche Italiener auf der Insel erschossen werden sollten.“ Diese Aussage steht in diametralem Gegensatz zu derjenigen seines Kameraden Gustav Hosenfeld: Erschießungen gefangengenommener italienischer Soldaten Den befreiten deutschen Soldaten des Festungs-Grenadierbataillons 909 sei - so Hosenfeld - von den Gebirgsjägern eingeschärft worden, „daß laut Führerbefahl kein Italiener die Insel lebend verlassen“ solle. Es sei zudem darauf geachtet 344 Jürgen Klöckler 41 Schreiben von Simon Wiesenthal vom Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes in Wien an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung Ludwigsburg vom 22. Juli 1964: „Bei meinem letzten Besuch in Italien wurde ich von Freunden der Resistance auf ein während des Krieges an italienischen Soldaten began‐ genes Kriegsverbrechen aufmerksam gemacht“; BundesA Außenstelle Ludwigsburg B 162/ 20797. 42 Die Ermittlungen wurde als „Strafsache gegen Barge und andere wegen Mordes“ unter dem Aktenzeichen 45 Js 34/ 65 von der Staatsanwaltschaft Dortmund durch Staatsanwalt Johannes Obluda geführt. Vgl. dazu: S C H M I N C K -G U S T A V U S , Christoph U.: Kephalloniá 1943-2003. Auf den Spuren eines Kriegsverbrechens, Bremen 2004, S.-204. Die Einstellungsverfügung befindet sich in der Akte BundesA Außenstelle Ludwigsburg B 162/ 20799. Die Verfahrensakten der Dortmunder Zentralstelle für NS-Verbrechen lagern heute im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen-Abteilung Westfalen in Münster. Es handelt sich um 13 Bände der Jahre 1964-1975. Das 1968 eingestellte Verfahren wurde 2001 wieder aufgenommen und im März 2007 erneut eingestellt; Schreiben des Landesarchivs an den Verfasser vom 11. September 2018. 43 Etwa in dem Artikel: „Härter als üblich“, in: Der Spiegel 50/ 1969, S.-50-54. 44 Vgl. dazu F L E I S C H E R , Hagen: „Endlösung“ der Kriegsverbrecherfrage. Die verhinderte Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland, in: Norbert Frei (Hg.): Trans‐ nationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, 4) Göttingen 2006, S.-531 ff. worden, dass sich alle befreiten Soldaten des Bataillons 909 „an den Exekutionen beteiligen“. Hosenfeld selbst gab an, dass er kurz vor der Hauptstadt Argostoli erlebt habe, wie „in 2 Fällen jeweils 20 bis 30 italienische Soldaten, darunter auch Offiziere, gefangengenommen worden, an Ort und Stelle zusammengetrieben und auf Befehl des Zug- oder Gruppenführers der Einheit, der sie angeschlossen gewesen seien, erschossen worden seien.“ Die Festungs-Grenadiere seien „in die Lage hineingepreßt worden und hätten keine Möglichkeit gehabt, dem Exekutionskommando zu entgehen.“ Er selbst habe „mit seinem Gewehr in die Luft geschossen. […] Kurz nach der 2. Exekution sei dann der Befehl durchgekommen, daß keine Gefangenen mehr zu erschießen seien.“ Hosenfeld war sich keiner Schuld bewusst - ein Ermittlungsverfahren wurde weder gegen ihn (obwohl er sich selbst schwer belastet hatte! ) noch gegen einen anderen Kameraden des Festungs-Grenadierbataillons 909 eröffnet, auch nicht gegen Willi Hermann. Selbst das Verfahren gegen den ehemaligen Regimentskomman‐ deur Johannes Barge, das 1964 von Simon Wiesenthal initiiert worden war 41 , wurde schließlich mit Verfügung vom 17. September 1968 eingestellt 42 . In diesem Zusammenhang berichtete die deutsche Presse erstmals über die Geschehnisse auf Kefalonia. 43 Das Kriegsverbrechen an mindestens 2500 bereits gefangengenommenen Italienern auf Kefalonia blieb somit bis heute, trotz einer Wiederaufnahme 44 Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 345 45 Angestoßen wurden die neuen Ermittlungen durch die Recherchen der Journalistin Christiane K O H L : Vertuschte Massaker. Rom will jetzt lange verheimlichte Gräuel der Wehrmacht verfolgen, in: Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2000 bzw. Ermordete Frauen, verbrannte Kinder. Erstmals schildern deutsche Soldaten das Wüten der Wehrmacht auf der griechischen Insel Kephalloniá, in: Süddeutsche Zeitung vom 24./ 25. März 2001 sowie weitere Artikel. Im Rahmen des von Oberstaatsanwalt Maaß geleiteten Verfahrens wurden nochmals rund 400 ehemalige Wehrmachtsangehörige vernommen. Im März 2007 stellte er das Verfahren ein; M E Y E R (wie Anm. 24) S.-440. 46 „Früherer Soldat Alfred Stork wegen Massaker verurteilt“, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2013 (online). 47 So etwa der Artikel „Bäche von Blut“. Vor 60 Jahren haben deutsche Gebirgsjäger auf der Insel Kephallenia etwa 500 italienische Soldaten getötet, in: Der Spiegel 23/ 2003, S.-42 ff. 48 M E Y E R (wie Anm. 24) S.-417. und erneuten baldigen Niederschlagung des Verfahrens nach der Jahrtausend‐ wende 45 , weitgehend ungesühnt. Lediglich zwei Soldaten wurden vor Gericht gestellt: Zum einen Hubert Lanz (1896-1982), ehemaliger Kommandeur des XXII. Gebirgs-Armeekorps, der 1948 vom Nürnberger Militärtribunal wegen der Tötung General Gandins und seiner Offiziere zu zwölf Jahren Haft verur‐ teilt und 1951 vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Und zum anderen ein ehemaliger Gebirgsjäger-Unteroffizier, der als einziger, unmittelbar beteiligter Wehrmachtssoldat im Oktober 2013 - damals 90-jährig - wegen der Ermordung von 117 italienischen Offizieren von einem römischen Militärtribunal in Ab‐ wesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Alfred Stork hatte 2005 gegenüber deutschen Staatsanwälten zugegeben, am 24. September 1943 auf Kefalonia zu dem Exekutionskommando gehört zu haben, das 117 Offiziere samt General Gandin bei der „Casetta rossa“, einer einsam auf einer Landzunge gelegenen roten Villa, getötet hatte. 46 Es bleibt festzuhalten: erst nach der Jahrtausendwende nahmen deutsche Medien und auch die wissenschaftliche Forschung dieses weitgehend ungesühnte Kriegsverbrechen verstärkt ins Vi‐ sier. 47 Doch zurück nach Kefalonia, im Morgengrauen des 22. Septembers 1943. Es ist höchstwahrscheinlich, dass Unteroffizier Hermann bei dem gemeinsamen Vorrücken der Festungs-Grenadiere mit den beiden Spitzenkompanien der Gebirgsjägern auf die Inselhauptstadt - die Entfernung betrug maximal zehn Kilometer - auf sich ergebende italienische Soldaten gestoßen ist, was er ja auch indirekt gegenüber der Kriminalpolizei im September 1966 bestätigte: „Feindwiderstand“ sei nicht mehr vorgekommen, die italienischen Soldaten ergaben sich offensichtlich in sehr großer Zahl. Die deutschen Verluste des 22. September sprechen eine klare Sprache: Ein Gefallener war zu verzeichnen. 48 346 Jürgen Klöckler 49 So sagte der Gefreiter Bruno Opalka vom Pionierzug des Festungs-Grenadierregiments 966 aus, er habe einen über ein Hausdach vor den Erschießungen fliehenden italie‐ nischen Soldaten gestellt. Der Mann habe um sein Leben gefleht, worauf Opalka entschieden habe, „ihn als Wasserträger mitzunehmen“. Selbst rangniedrigste Soldaten hatten es auf Kefalonia in der Hand, über Leben und Tod zu entscheiden; ebd., S.-371. 50 So die Aussage von Elmar Thurn als Zeitzeuge in der ZDF-Sendung „History“ vom 25. März 2001. 51 Gefechtsbericht des Majors von Hirschfeld, zitiert in: F R I C K E (wie Anm. 25) S.-47. Willi Hermann war zweifellos in eines der schwersten Kriegsverbrechen mit direkter Beteiligung von Wehrmachtseinheiten im Zweiten Weltkrieg verwi‐ ckelt. Ob er selbst geschossen hat oder seine Grenadier-Gruppe Erschießungen befohlen hat, kann nicht mehr geklärt werden. Es sind Fälle überliefert, dass vereinzelt italienische Soldaten, die sich ergeben hatten, als Wasser- oder Mu‐ nitionsträger Verwendung fanden und deshalb nicht erschossen wurden. 49 Ein damals beteiligter Leutnant, der spätere Bundesrichter Elmar Thurn (1921-2015), brachte es auf den Punkt: Es lag auf Kefalonia in der Hand eines „Unteroffiziers, ob einer leben sollte oder nicht“ 50 . Einer dieser Unteroffiziere war Willi Her‐ mann. Wie er sich bei der Gefangenahme italienischer Soldaten verhalten hat, wissen wir nicht. Folgendes Geschehen lässt sich rekonstruieren: die befreiten Festungsgrena‐ diere, unter ihnen Willi Hermann, wurden auf die beiden Spitzenkompanien des dritten Bataillons des Gebirgsjägerregiments 98 verteilt, nach dem Regi‐ mentskommandeur auch „Kampfgruppe Klebe“ genannt. In einem erhaltenen Gefechtsbericht heißt es: „Um 22.00 Uhr überfällt Kampfgruppe Klebe nach zwanzigstündigem Marsch und drei Stunden Rast ein in Ruhe befindliches Btl. bei H[agios] Georgios, vernichtet es und befreit 470 deutsche Kriegsgefangene. Damit ist die Entscheidung gefallen. Mit Morgengrauen des 22.9. greift III./ 98 über Metaxata ausholend Argostolion an. […] Um 11.00 Uhr dringt das III./ 98 in Argostolion ein. […] Um 12.00 Uhr ist der Feind in voller Auflösung, die Masse der feindlichen Batteriestellungen genommen, die Säuberung von versprengten, noch Widerstand leistenden Feindteilen im Gange. Um 14.00 Uhr ist die Gefechtstätigkeit beendet.“ 51 In den hier geschilderten Angriff auf die Inselhauptstadt waren auch Unterof‐ fizier Hermann und seine Gruppe Festungs-Grenadiere in vorderster Linie zu‐ sammen mit den Gebirgsjägern beteiligt. Hermann und seine Soldaten standen unter erheblichem psychischem Druck, da die Gruppe links und rechts von Gebirgsjägertrupps kontrolliert wurde; als Angehörige eines Strafbataillons hatten sie sich - zuvor schon als „Feiglinge“ beschimpft - „besonders zu bewähren“. Zudem hatte die Gruppe wenige Tage zuvor einen Kameraden Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 347 52 Die Aussage des Obergefreiten Klemens Seischab ist zitiert nach: M E Y E R (wie Anm. 24) S.-377. 53 Ebd., S.-374. 54 Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab). Band III: 1. Januar 1943 - 31. Dezember 1943. Zusammengestellt und erläutert von Walther H U B A T S C H . Zweiter Halbband III/ 6, München 1982, S.-1134. 55 F R I C K E (wie Anm. 25) S.-50. 56 F R I E S E R , Karl-Heinz (Hg.): Die Ostfront 1943/ 44. Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 8. Hg. vom Militärge‐ schichtlichen Forschungsamt) München 2007, S.-1091. durch einen italienischen Scharfschützen verloren. Rachegelüste nach dem „Verrat“ der Italiener kamen sicherlich noch dazu. Doch es sei nochmals betont: Es gibt keine Zeugenaussage aus der Nachkriegszeit über das Verhalten von Unteroffizier Hermann und seiner Festungsgrenadier-Gruppe. Ein Kamerad Hermanns, ebenfalls Angehöriger der 4. Kompanie, sagte in seiner kriminalpolizeilichen Vernehmung 1966 aus: „Als wir durch die Stadt [Argostoli] marschierten, sahen wir in den Lagerhallen in der Nähe des Hafens größere Mengen toter Italiener“. 52 Nach Einnahme der Inselhauptstadt und deren anschließenden Plünderung marschierten die Festungs-Grenadiere auf der Küstenstraße wieder nach Lixouri zurück. Dort wurde ein Soldat eines Instandsetzungstrupps des Regiments 966 Zeuge, wie Angehörige seines „Regi‐ ments gerade entwaffnete italienische Soldaten zusammentrieben und […] mit Maschinengewehren erschossen“. Daraufhin habe man die „Felsen abgesprengt um die Leichen der [200 bis 250] Erschossenen zu bedecken“. 53 Es ist wenig plausibel, dass Willi Hermann von den Massakern an den italienischen Kriegs‐ gefangenen nur vom „Hörensagen“ erfahren haben will, jeder Soldat konnte die Leichen der Ermordeten sehen und der rasch einsetzende Verwesungsgeruch war nach Zeugenaussagen auf der Insel noch längere Zeit allgegenwärtig. Im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht sind die Ereignisse laut Eintrag vom 23. September 1943 lakonisch kurz dargestellt: „Auf Kephalonia sind der ital[ienische] Befehlshaber und 4000 Mann, weil sie Widerstand leisteten, gemäß dem Befehl des Führers […] behandelt worden.“ 54 Auf Anweisung der Heeresgruppe E blieb das Festungs-Grenadierregiment 966 auch nach diesen Geschehnissen auf Kefalonia als Besatzungstruppe statio‐ niert, mit dem Befehl, „das Festsetzen von Feindkräften auf der Insel solange als möglich zu verhindern“ 55 . Das Regiment räumte die Insel am 13. September 1944 und wurde auf das griechische Festland verlegt. 56 Die Nachkriegsermittlungen des Dortmunder Leitenden Oberstaatsanwalts führten - obwohl damals bereits 27 kriegsvölkerrechtswidrige Exekutionen 348 Jürgen Klöckler 57 Faksimile einer Liste der Tatorte aus den Dortmunder Ermittlungsakten in: S C H M I N C K - G U S T A V U S , Christoph U.: Kephalloniá 1943-2003. Auf den Spuren eines Kriegsverbre‐ chens, Bremen 2004, S.-204 ff. 58 [Einstellungs-]Verfügung 45 Js 34/ 64 des Leiters der Zentralstelle im Lande Nordrhein- Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Dortmund vom 17. September 1968, masch. 105 Seiten. 59 Vermerk 45 JKs 34/ 64 vom 8. März 2007; BundesA Außenstelle Ludwigsburg B 162/ 20800. 60 F R I E S E R (wie Anm. 56) S.-1097. 61 „Politischer Lebenslauf “, verfasst von Wilhelm Hermann am 29. April 1948; MAE-AdO 1BAD-575 Dossier W.Hermann. aktenkundig geworden waren 57 - im September 1968, wie bereits erläutert, zur Einstellung des Verfahrens gegen den Kommandeur des Festungs-Grenadierre‐ giments 966, an dem auch Willi Hermann als Zeuge vernommen worden war: „Die ermittelten und vernommenen Unteroffiziere und Mannschaften des Festungs‐ grenadier-Bataillons 909 […] haben ausnahmslos in Abrede gestellt, an Erschießungen italienischer Gefangener beteiligt gewesen zu sein. Das Gegenteil konnte ihnen nicht nachgewiesen werden, da weder von italienischer noch von deutscher Seite gegen bestimmte Personen aus dem Unteroffiziers- oder Mannschaftsstand konkrete Vorwürfe erhoben worden sind. Das Verfahren gegen die Angehörigen des FGB 909 ist daher einzustellen.“ 58 Nur wenige Italiener haben durch glückliche Umstände und in der Regel schwer verletzt die Erschießungen überlebt, keiner von ihnen hat jemals gegenüber deutschen Staatsanwälten ausgesagt. Zusammenfassend für den Teil der Insel, in dem Willi Hermann eingesetzt war, vermerkte Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß im März 2007: „Die italienische Literatur verzeichnet für diesen zweiten Kampftag im südöstlich von Argostoli gelegenen Raum zahlreiche Erschießungen, bei denen sowohl unter‐ schiedslos alle Gefangenen getötet wurden als teilweise auch nur Offiziere, die bei der Gefangennahme von den Mannschaften getrennt und dann meist abseits erschossen wurden.“ 59 Rückzug aus Griechenland Den Rückzug der Wehrmacht aus Griechenland ab Ende September 1944 erlebte Willi Hermann mit dem Festungs-Grenadierregiment 966 als Teil des XXII. Ge‐ birgsjäger-Armeekorps. Die Rückzugsgefechte des Armeekorps führten durch Albanien, Mazedonien und Serbien. 60 Auf dem Balkan erlitt er nach eigenen Angaben einen Kniedurchschuss und „schwere Erfrierungen“ 61 - vielleicht bei Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 349 62 Schreiben der Deutschen Dienststelle an den Verfasser vom 7. August 2018. 63 K L Ö C K L E R (wie Anm. 6). 64 B R U M M , Benjamin: „Er war an Kriegsverbrechen beteiligt“, in: Südkurier - Ausgabe R - vom 7. Februar 2019. den heftigen Kämpfen Mitte November 1944 bei Skopje. Näheres über seinen Einsatz auf dem Balkan kann nicht mehr rekonstruiert werden, auch nicht, in welchem Lazarett er im Winter 1944/ 45 zur Genesung lag. Im Frühjahr 1945 war er jedenfalls Soldat in der „Alarmkompanie Dürrschnabel“ und geriet am 23. April 1945 an einem unbekannten Ort in amerikanische Kriegsgefangenschaft. 62 Abschließende Überlegungen Nach Entlassung aus französischer Internierungshaft begann Willi Hermann Ende der 1940er Jahre mit dem Komponieren von weinseligen Fasnachtsliedern, die auf den Veranstaltungen der Narrenvereinigung Niederburg vorgetragen wurden. Sie galten als schmissig und wurde rasch sehr populär. So wurde Willi Herrmann zum Star in der Konstanzer und später auch der Stockacher Fasnacht, nämlich im bekannten Hohen Grobgünstigen Narrengericht, in das er 1961 aufgenommen worden ist. Niemand konnte von seiner Verstrickung in die Ermordung italienischer Kriegsgefangener auch nur ahnen. Vor diesem Hintergrund sind dann aber - mit unserem jetzigen Wissen - auch diese beliebten Fasnachtslieder zu beurteilen. Ist es denn sehr weit hergeholt, sie als Selbsttherapieversuche eines traumatisierten, in Kriegsverbrechen verstrickten Unteroffiziers der Wehrmacht und eines ideologischen Wegbereiters des Natio‐ nalsozialismus im Kreis Stockach und in ganz Baden zu sehen? Willi Hermanns Biographie war seit Sommer 2018 der Öffentlichkeit bekannt, im Februar 2019 erschien zudem ein wissenschaftlicher Aufsatz in einer regi‐ onalgeschichtlichen Zeitschrift 63 , der weitere Details seines Lebens öffentlich machte. Auch hierüber berichtete der „Südkurier“ 64 ausführlich. Gleichwohl scheiterte ein Jahr später der Versuch des Präsidenten der Narrenvereinigung Kamelia Paradies, die Hermann-Lieder auf Berliner Bühne zu rehabilitieren, gründlich. Mitte Februar 2020 hatte auf einem Fasnachtsabend in der badenwürttembergischen Landesvertretung Vereinspräsident Marcus Nabholz zwei Lieder von Willi Hermann angestimmt. Auch der anwesende Konstanzer CDU- Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der CDU-Bundestags‐ fraktion Andreas Jung hatte mitgesungen, was er freilich kurz danach bereute: „Mir war im Vorfeld nicht bekannt, dass Lieder von Willi Hermann im Programm 350 Jürgen Klöckler 65 Zitat in: R A U , Jörg-Peter: Lieder eines Nazis auf Berliner Bühne: Narren entschuldigen sich für Fehltritt, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 17. Februar 2020. 66 S C H U L E R , Andreas: Ich respektiere diese Entscheidung, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 9. November 2020. 67 S C H U L E R , Andreas: Frustrierter Nabholz will nicht mehr, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 6. November 2020. 68 Insbesondere Präsident Mario Böhler von der Narrenvereinigung Niederburg und Marcus Nabholz von der Kamelia, im Internet-Magazin „seemoz“ am 20. Februar 2020 als „Oberkamel“ verunglimpft, bezogen gegeneinander Stellung. Vgl. R A U , Jörg-Peter: Tiefes Zerwürfnis über Hermann-Lieder, in: Südkurier - Ausgabe K - vom 17. Februar 2020. 69 Zitat in R A U : Lieder (wie Anmerkung 65). vorgesehen waren - und ich bedauere, dass es bei mir nicht gleich ‚klick‘ gemacht hat, als es so weit war.“ 65 Marcus Nabholz kündigte für den Aschermittwoch des Jahres 2020 sein Ausscheiden aus dem Amt des Präsidenten der Kamelia Paradies an 66 und trat schließlich zurück. 67 Durch die Konstanzer Fasnacht ging ein tiefer Riss bis hin zu offenem Streit. 68 Die Narrenvereinigung Hegau-Bodensee mit ihren 121 Zünften entschuldigte sich für den Fehler in der Programmgestaltung des Berliner Abends. NVHB-Präsident Rainer Hespeler erklärte: „Durch die Auf‐ nahme zweier Lieder von Willi Hermann in das Programm des Fasnachtsabends in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin ist uns ein schwerer Fehler unterlaufen“. Er werde dem Präsidium eine Richtlinie vorschlagen, nach der „Lieder von Willi Hermann generell nicht mehr in unseren Programmen gesungen werden.“ 69 Ab diesem Zeitpunkt waren die Lieder von Willi Hermann - zumindest von offizieller närrischer Seite - endgültig Geschichte, wenngleich sie nicht „verboten“ waren oder sind. Heute werden sie nur noch hin und wieder auf der „wilden“ Straßenfasnacht gesungen, aber nicht mehr offiziell im Rahmen der organisierten Fasnacht. Ein schweres Kriegsverbrechen an Italienern 351 1 Anmerkung: Einzelne Teile dieses Beitrages sind bereits im Hegau-Jahrbuch 2020 zum Band „Migration“ erschienen und wurden nun um neue Forschungsergebnisse erweitert. 2 Anmerkung: Die allgemein übliche zeitgenössische Bezeichnung „Gastarbeiter“ wird in diesem Beitrag als Quellenbegriff verwendet. Auch wenn der Begriff in den späten 1960er Jahren zunehmend in die Kritik geriet, wurde er bis in die 1980er Jahre genutzt. „Ausländische Arbeitnehmer“ ist die amtliche Bezeichnung für Arbeitsmigrantinnen und -migranten und erscheint hier ebenso als Quellenbegriff. Die Nutzung weiterer Begrifflichkeiten wie beispielsweise „Ausländerbeirat“, „Tag des ausländischen Kindes“ und „Ausländerfrage“ sind aus heutiger Sicht und wachsender Sprachsensibilität als problematisch anzusehen und somit oft negativ konnotiert. Sie sind daher ebenfalls als zeitgenössische Quellenbegriffe einzuordnen (vgl. dazu Diskussion über die Auslän‐ derbeschäftigung in Europa ( Januar 1973), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2015,-<www.europa.clio-online.de/ quelle/ id/ q63-28546>, Fußnote 8). Italienische „Gastarbeiterfamilien“ Vom Leben und Arbeiten in Konstanz 1 Daniela Schilhab Das am 20. Dezember 1955 geschlossene „Abkommen über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften in die Bundesrepublik Deutschland“ steht für den Beginn einer systematischen staatlichen Anwerbung von ausländi‐ schen Arbeitskräften durch die Bundesrepublik Deutschland. Als fundamentaler Bestandteil dieser bilateralen Vereinbarung galt das „Rotationsprinzip“. Dem‐ entsprechend war der Arbeitsaufenthalt der italienischen Staatsangehörigen befristet, ihre dauerhafte Niederlassung nicht beabsichtigt und eine Integration somit unerwünscht. Die zunächst für neun Monate gestattete Arbeitsaufnahme und die vorgesehene Rückkehr ins Heimatland trugen dazu bei, die aus dem Aus‐ land stammenden Arbeitskräfte als sogenannte „Gastarbeiter“ zu bezeichnen. 2 Die Vermittlung von italienischen Arbeitskräften fand auf offiziellem Weg durch die deutschen Anwerbekommissionen in den italienischen Städten Verona und Neapel statt. Die Kommissionen wurden von der Bundesanstalt für Arbeits‐ vermittlung und Arbeitslosenversicherung entsendet. An diese Kommissionen 3 Deutsch-italienische Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italieni‐ schen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland vom 20.12.1955, in: Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 4, 1956, 2, Nürnberg, 1956, S.-52-55. 4 Kreisarchiv Konstanz AA8 574, Ergebnisprotokoll über die 11. Sitzung des Verwaltungs‐ ausschusses des Arbeitsamtes Konstanz vom 23.03.1956. 5 Ebd., Ergebnisprotokoll über 10. Sitzung des Verwaltungsausschusses des Arbeitsamts Konstanz am 26. September 1955. 6 Ebd. 7 Thurgauer Volksfreund, REPORTAGE vom 20.04.1989. richteten die deutschen Arbeitgeber direkt ihre Gesuche. Nach einer Vorauswahl durch die italienischen Behörden übermittelte die Kommission den deutschen Interessenten die potenziellen Arbeitskräfte. Die endgültige Entscheidung, die zu einer Einstellung oder Ablehnung der italienischen Arbeitkräften führte, wurde somit auch in Konstanz vom Arbeitgebenden getroffen. 3 In Konstanz dringend benötigt: Arbeitskräfte aus dem Ausland Die erste aktenkundige Erwähnung bezüglich einer Anwerbung von italieni‐ schen Arbeitskräften geht auf das Ergebnisprotokoll über die 11. Sitzung des Verwaltungsausschusses des Arbeitsamts Konstanz am 23. März 1956 zurück. 4 Zu dieser Zeit war der Arbeitslosenstand in der größten Stadt am Bodensee ausgesprochen niedrig. Zwischenzeitlich stieg der Überhang an offenen Stellen auf 1200 an, der tatsächliche Bedarf an Arbeitskräften wurde schätzungsweise sogar um 30 Prozent höher eingestuft. 5 Neben einem Mangel an Facharbeitern litten die Konstanzer Betriebe unter der Abwanderung von Arbeitskräften in die Schweiz. Besonders im Textil-, Nahrungs- und Genussmittelgewerbe mussten Stellen besetzt werden. Hilfs- und Facharbeiter waren in der Land- und Forstwirtschaft und im Metall- und Baugewerbe gefragt. 6 Da vor Ort keine ausreichenden Kräfte zur Verfügung standen, griffen die Konstanzer Be‐ triebe infolgedessen verstärkt auf das deutsch-italienische Anwerbeabkommen zurück. Bei Firmen wie der heutigen C. S. Schupp Bau GmbH und den Textilun‐ ternehmen Herosé und L. Stromeyer & Co. fanden Italienerinnen und Italiener in großer Zahl eine Beschäftigung. Konstanzer Betriebe stellen ein Die Textilindustrie nahm in der Grenzstadt Konstanz eine herausragende Stellung ein: Noch im Jahr 1968 war ein Drittel der Industriearbeiterschaft im textilen Sektor beschäftigt. 7 354 Daniela Schilhab 8 StA KN, WI 201, Anwerbung und Einstellung von Arbeitskräften, 07.06.1968. 9 Ebd., WI 599 Personalkartei, Arbeiter, A-Z, um 1920-1970. 10 Ebd., WI 201, Bekanntmachung vom 23.05.1969. Das Unternehmen L. Stromeyer & Co. galt als bedeutender Arbeitgeber und bot zahlreichen Konstanzer Familien generationenübergreifend einen beständigen Arbeitsplatz. Auch Arbeitskräfte aus Italien waren in großer Zahl vorwiegend als Näherinnen und Sattler beschäftigt. Neben einer Anwerbung durch die deutschen Kommissionen in Italien versuchte Stromeyer ab Ende der 1960er Jahre verstärkt, die eigenen Arbeitskräfte zu mobilisieren, Verwandte oder Bekannte aus dem Ausland anzuwerben. 8 Obwohl in den Lohnlisten auch italienische Arbeiterinnen und Arbeitern aufgeführt werden, die dem Betrieb seit mindestens zehn Jahren angehörten, hatte das Konstanzer Unternehmen mit Fluktuation zu kämpfen. Typische Phänomene waren ein Fernbleiben vom Arbeitsplatz, unentschuldigtes Fehlen oder dass sich die „Gastarbeiter“ als ungeeignet für die vorgesehene Tätigkeit erwiesen. Der in den Akten mehrfach angeführte Vermerk „angebliche Rückkehr ins Heimatland“ legt die Vermutung nahe, dass von betrieblicher Seite angenommen wurde, dass die Arbeitskraft einer anderen Tätigkeit in der Bundesrepublik nachging. 9 Um eine Abwanderung zu verhindern, förderte Stromeyer daher Familienzusammenführungen. Im Zuge dessen stellte der Betrieb seinen Arbeiterinnen und Arbeitern mehrfach entsprechenden Wohn‐ raum zur Verfügung, da die aus dem Ausland stammenden Familien eine größere Unterkunft nachweisen mussten. Ebenso bemühte sich das Unternehmen anhand von Empfehlungsschreiben seine Arbeitskräfte auf dem freien Konstanzer Woh‐ nungsmarkt zu vermitteln. Zudem richtete das Textilunternehmen spezifische Sprechstunden ein. 10 Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 355 11 Ebd., WI 302. 12 Ebd., WI 204, Bezeichnung der Ausländer-Unterkünfte vom 01.06.1970. 13 Interview mit Familie Carbonaro am 04.08.2021. Abb. 1: Beim Konstanzer Textilunternehmen L. Stromeyer & Co. kommen italienische Arbeitskräfte vorwiegend in der Näherei und Sattlerei zum Einsatz. (Foto: Rosgartenmuseum Konstanz, 1972) Auf Grund unvollständiger Listen lässt sich keine Zahl aller jemals angewor‐ benen und bei L. Stromeyer & Co. tätigen „Gastarbeitern“ ausmachen, aber es ist feststellbar, dass spätestens ab 1960 bis mindestens August 1971 durchgängig Arbeitskräfte aus dem Ausland beschäftigt waren. Wie eine Auflistung der Lohnempfängerinnen und -empfänger in Konstanz aus dem Jahr 1971 zeigt, bildeten die italienischen Staatsangehörigen die größte Gruppe am Gesamtaus‐ länderanteil. Fast 62 % der italienischen Arbeitskräfte waren Frauen. Von den im August 1971 beschäftigten 631 Lohnempfängerinnen und -empfänger in Kon‐ stanz stammten insgesamt 317 Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Ausland. Somit bestand knapp die Hälfte der Belegschaft aus Arbeitsmigrantinnen und -migranten. 11 Auf dem eigenen Areal trieb Stromeyer den Bau firmeneigener Wohnheime voran. In „Stromeyersdorf“ existierten für die drei größten „Gastarbeitergruppen“ das sogenannte „Casa italiana“, das „Spanier-Wohnheim“ und das „Neue Jugo‐ slawen-Wohnheim“. 12 Auch Maria und Vincenzo Carbonaro lebten für einige Zeit auf dem Firmengelände: „Ein Bett und ein(e) Ofen zum was Kochen und Kaffee machen […], zwei kleine Stühle, ein kleiner Tisch […] und ein kleine(r) Schrank. Und do haben wir drei Jahre lang gewohnt.“  13 Dusche und Toilette waren separat und mussten geteilt werden. Als die Firma beschloss, keine Kinder mehr auf dem 356 Daniela Schilhab 14 Südkurier, Ausgabe Konstanz, 29.04.1983. Firmenareal zu dulden, mussten auch die Carbonaros mit ihrer kleinen Tochter eine neue Unterkunft finden. Dem Textilbetrieb blieben sie allerdings treu verbunden, bis Stromeyer im Jahr 1973 Konkurs anmelden musste. Der allgemeinen textilen Krise hatte der Familienbetrieb nicht mehr standhalten können. Abb. 2: In den 1980er Jahren gehört die Byk Gulden Lomberg Chemische Fabrik GmbH zu den größten Arbeitgebern in Konstanz. Die Aufnahme zeigt die Italienerin Maria Giovanna Carbonaro im Kreise ihrer Kollegen. (Foto: Privatbesitz) Anfang der 1980er Jahre hatte ein Wandel auf dem Konstanzer Arbeitsmarkt stattgefunden, die chemische Industrie und die Elektrotechnik waren zum größten Arbeitgeber geworden: Der Computerhersteller AEG-Telefunken beschäftigte rund 1400 Mitarbeiter, die Konstanzer Niederlassung der Byk Gulden Lomberg Chemische Fabrik-GmbH zählte rund 1450 Arbeitskräfte. 14 Zu letzteren gehörten derzeit auch Maria und Vincenzo. Beide hatten beim pharmazeutischen Betrieb in der Gottlieber Straße eine neue Wirkungsstätte gefunden. „Ich bin Analphabe‐ tikerin […]“, erzählt Maria. „Aber Stromeyer hat mir ein(e) so besondere(s) Zeugnis gegebe(n), […] Byk Gulden hat gesagt, […]wo lesen und schreiben sinds genug do, wir brauchen gute Mitarbeiter.“ Sie arbeitete schließlich in der klassischen Dragierung, ihr Mann war für das Unternehmen als Lagerist tätig. Besonders Vincenzo blickt heute auf ein vielseitiges Arbeitsleben zurück: Im Jahr 1961 hatte er in Konstanz zunächst als Schuhputzer sein Geld verdient, die Reichenau hatte er als Erntehelfer kennengelernt - als tüchtiger und verlässlicher Arbeiter blieb er über 10 Jahre L. Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 357 15 Interview mit Familie Carbonaro am 04.08.2021. 16 S A L A , Roberto: Die migrationspolitische Bedeutung der italienischen Arbeitswande‐ rung in die Bundesrepublik, in: Kreienbrink, Axel/ Oltmer, Jochen/ Sanz Díaz, Carlos (Hg.): Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesre‐ publik Deutschland und Westeuropa, München 2012, S.-71-88, hier: S.-85. 17 Vgl. Artikel 48 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Stromeyer & Co. treu und beendete sein Berufsleben schließlich, wie Maria, nach über 20 Jahren bei Byk-Gulden. 15 Der italienische Sonderweg Rechtlich verblieben die Italienerinnen und Italiener durch das Anwerbeab‐ kommen in Deutschland zunächst unter dem Status eines Ausländers. Dies schränkte sie in ihrer Bewegungsfreiheit und in der Möglichkeit ein, sich selbst vor Ort auf eine andere Arbeitsstelle bewerben zu können. Diese Abhängigkeit zum Arbeitgebenden war zudem mit einem vergleichsweise niedrigen Lohn und der Gefahr einer jederzeit möglichen Ausweisung verbunden. Um die rechtliche Absicherung ihrer Staatsangehörigen zu stärken, erreichte die italienische Re‐ gierung Anfang der 1960er Jahre die Einführung sogenannter „Musterverträge“. Diese verpflichteten die deutschen Arbeitgebenden unter anderem dazu, eine „angemessene Unterkunft“ für die Italienerinnen und Italiener bereitzustellen. 16 Da Italien ein Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war, veränderte sich die rechtliche Lage der Italienerinnen und Italiener in den folgenden Jahren beträchtlich: Die innerhalb der EWG getroffenen „Beschlüsse zur Freizügigkeit der Arbeitskräfte“ traten im November 1968 in Kraft: Nach dem Wegfall des Sichtvermerks im Pass im Jahr 1962 und mit dem Ende der Vorzugs‐ behandlung inländischer Arbeitskräfte 1964 entfiel nun die Notwendigkeit einer Arbeitserlaubnis. Demzufolge waren die italienischen den deutschen Arbeit‐ nehmerinnen und Arbeitnehmern gleichgestellt und konnten unabhängig von einem staatlichen Stellenangebot in die Bundesrepublik einreisen. Ebenso war es ihnen innerhalb der EWG gestattet, Geschäfte zu eröffnen. 17 Die Konstanzer Gastronomie wurde infolgedessen durch Speiselokale und der Einzelhandel durch italienische Lebensmittelgeschäfte bereichert. Bei der Stellensuche verließen sich die italienischen Staatsangehörigen vor‐ wiegend auf Empfehlungen von bereits in Deutschland tätigen Verwandten und Bekannten. Doch für diese erlangte Unabhängigkeit gaben die sie eine bedeutende Sicherheit auf: Frei Eingereiste erhielten keinen Mustervertrag. Dementsprechend war der Arbeitgebende nicht dazu verpflichtet, ihnen eine Unterkunft bereitzustellen. Dennoch entschied sich die Mehrheit der Italie‐ 358 Daniela Schilhab 18 S A L A (wie Anm. 16) S.-85. 19 Badische Neueste Nachrichten, Karlsruhe, vom 09.04.1960; Offenburger Tageblatt vom 16.04.1960. 20 KA KN, AA8, 574, Ergebnisprotokoll über 30. Sitzung des Verwaltungsausschusses des Arbeitsamts Konstanz vom 30.01.1961. 21 Staatsanzeiger für Baden-Württemberg vom 30.03.1974. nerinnen und Italiener dieses Wagnis einzugehen, sodass im Jahr 1971 nur noch ein Prozent der italienischen Arbeitskräfte über das deutsch-italienische Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik vermittelt wurde. 18 Betreuung statt Integration Um den italienischen Staatsangehörigen das Einleben in Konstanz zu erleich‐ tern, wurde im Jahr 1960 in der Geschäftsstelle der Caritas zunächst ein Saal zum Klubraum umfunktioniert. Das sogenannte „Casa italiana“ gab den Italienerinnen und Italienern einen festen Treffpunkt, um sich in der Freizeit austauschen zu können. Neben dem Ausschank alkoholfreier Getränke boten ausliegende Bücher, Tageszeitungen und Illustrierte in italienischer Sprache die Möglichkeit, den Kontakt zur Heimat aufrecht zu erhalten. 19 Mit der Errichtung des italienischen Centros „Associazione Lavoratori Italiani di Costanza“, kurz „ALIC“, wurde ein weiterer Ort zur kulturellen Begegnung geschaffen. Im ALIC wurden unter der Trägerschaft des Caritasverbandes Konstanz Feste mit italienischer Musik und Tanz organisiert, die auch von der Konstanzer Bevölkerung zahlreich besucht wurden. Mit der Zeit schwand jedoch das Interesse der Zugewanderten an der Einrichtung. Obwohl das bilaterale Abkommen eine Rückkehr der „Gastarbeiter“ nach Italien vorsah, zeichnete sich ein längerer Aufenthalt in Konstanz bereits Anfang der 1960er Jahre ab. 20 Dennoch warben der Deutsche Gewerkschaftsbund und die baden-württembergische Regierung weiterhin für eine Rückkehr der Arbeits‐ kräfte nach Italien. 21 In der Praxis ließ sich das Rotationsprinzip nicht dauerhaft aufrechterhalten, da sowohl die italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter als auch die deutschen Arbeitgeber an einer dauerhaften Beschäftigung interessiert waren. Da besonders die Italiener verstärkt das Interesse bekundeten, ihre Partnerinnen samt Kindern in die Bodenseestadt nachzuholen, mussten sich die Stadt Konstanz und die Konstanzer Wirtschaft diesen neuen Gegebenheiten stellen. Von einer systematischen Integration der Italienerinnen und Italiener in die Konstanzer Gesellschaft kann jedoch nicht gesprochen werden, lediglich das Schlagwort „Betreuung“ ist in den Sitzungsprotokollen des Verwaltungsaus‐ schusses des Konstanzer Arbeitsamts zu finden. Die Verwaltung vermied es, Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 359 22 KA KN, AA8, 574, Ergebnisprotokoll über die 11. Sitzung des Verwaltungsausschusses des Arbeitsamts Konstanz vom 23.03.1956. 23 B E N E D E T T I , Marcello/ N A S C A , Mariano: Proposta alternativa di intervento sociale per una adeguata risposta ai bisogni della collettivita italiana emigrate nella provincia di Costanza, Konstanz, 1979, S.-80. diesen Begriff zu konkretisieren. Man wisse ja nicht, in welchem Ausmaß die Italiener eine Betreuung annehmen würden. 22 An die Arbeitgebenden wurden lediglich unverbindliche Empfehlungen erlassen, deren Umsetzung die Unter‐ nehmen meist vom wirtschaftlichen Nutzen abhängig machten. Abb. 3: Caritas-Sozialarbeiter Marcello Benedetti (links) bearbeitet die vielseitigen Anliegen der italienischen Gemeinschaft in Konstanz. Bis heute kümmert er sich, inzwischen selbst in Rente, ehrenamtlich um zahlreiche inzwischen betagte Landsleute. (Foto: Archiv Wolff-Seybold/ Werner Konrad Siegert Stiftung) Die Verwaltung sah die Verantwortung in erster Linie bei den sozialen Wohl‐ fahrtsverbänden und der katholischen italienischen Mission. Die zuständigen Stellen in Konstanz wurden vom Caritas Verband und der Missione Cattolica Italiana verkörpert. Letztere wurde am 1. Dezember 1970 in Konstanz ins Leben gerufen. Ein italienischer Priester war für die geistliche und religiöse Betreuung der Italienerinnen und Italiener in Konstanz zuständig. 23 Ein Plan für die gesamte Betreuungsarbeit wurde vom Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg in Zusammenarbeit mit der Pontificia Opera di Assistenza in Rom erstellt. In Konstanz setzte die Caritas ab Mai 1958 zunächst eine italienische Fürsorgerin 360 Daniela Schilhab 24 Archiv des Deutschen Caritasverbandes e. V. in Freiburg, 380.21.057 Fasz.02, Schreiben an Caritasdirektor Fritz vom 11.06.1958. 25 KA KN, AA8, 575, Caritasverband für die Erzdiözese Freiburg im Breisgau, Betreuung der ausländischen Arbeitnehmer in unserer Erzdiözese, Stand: Mitte September 1961. 26 Archiv des Deutschen Caritasverbandes e.-V. in Freiburg, 380.21.057 Fasz.02. 27 B E N E D E T T I / N A S C A (wie Anm. 23) S.-79. 28 StA KN, SXII, 1617, Schreiben von Bürgermeister Weilhardt, Stadt Konstanz - Statistik und Wahlen vom 30.07.1973. ein 24 , deren Arbeitsfeld äußerst umfangreich und vielschichtig war: Neben regelmäßigen Sprechstunden und der Kontaktpflege mit öffentlichen Behörden, gehörten Besuche in Arbeiterunterkünften und die Freizeitgestaltung zu ihrem Aufgabenbereich. 25 Zudem war die Betreuerin nicht nur für die in Konstanz lebenden Italienerinnen und Italiener zuständig - ihr Arbeitsgebiet umfasste auch Südwürttemberg und -baden. Dementsprechend war die Arbeitsbelastung so hoch, dass mehrere junge Italienerinnen und Italiener das Amt nach und nach aufgaben. Erst mit Else Fiori war die Stelle ab Juli 1959 längerfristig besetzt. 26 Einer ihrer Nachfolger war ab 1974 Marcello Benedetti, der sich auch heute noch ehrenamtlich um die Belange zahlreicher inzwischen betagter Landsleute in Konstanz kümmert. Durch die zunehmenden Familiennachzüge erweiterte sich Benedettis Tätigkeitsfeld in den 1970er Jahren beträchtlich. Daher wurde Ende des Jahres 1977 ein zweiter italienischer Sozialbetreuer, Camillo Scamuffa, eingestellt. Er gehörte dem Istituto di Patronato per l’Assistenza Sociale, kurz „IPAS“, an und unterstützte die italienischen Arbeitskräfte besonders in Fragen der sozialen Sicherheit und des Arbeitsrechts. 27 Nicht selten gesundheitsgefährdend - Die Wohnsituation der italienischen „Gastarbeiterfamilien“ Obwohl die städtische Verwaltung darauf bedacht war, Häuser und Wohnan‐ lagen nicht ausschließlich an Zugezogene aus dem Ausland zu vermieten, konnte eine Art Ghettobildung nicht verhindert werden. Dass es in Konstanz längst solche Bezirke gab, verdeutlicht eine Übersicht zum Ausländeranteil in den einzelnen Stadtteilen aus dem Jahr 1973. Von den insgesamt 2402 Italienerinnen und Italienern siedelten sich 1009 in der Altstadt, vorzugsweise in der Niederburg, und 512 in Petershausen an. 28 Wer nicht im firmeneigenen Wohnheim untergebracht war oder vom Arbeitgebenden eine Wohnung ge‐ stellt bekam, musste sich auf dem freien Wohnungsmarkt um eine Unterkunft bemühen. Da viele „Gastarbeiter“ zu Beginn ihrer Arbeitsaufnahme planten, möglichst viel Geld an die Verwandten in Italien zu schicken und schnellst‐ möglich ins Heimatland zurückzukehren, gaben sie sich mit Sozialwohnungen Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 361 29 KA KN, AA8, 575, Kreissozialamt Konstanz vom 22.10.1963, Aktennotiz für Herrn Landrat Dr. Seiterich 30 StA KN, SIIa, 4174, Koordinierungsausschuss für die Betreuung ausländischer Arbeit‐ nehmer im Landkreis Konstanz, Niederschrift über die vorbereitende Besprechung am Montag 21.6.1971; StA KN, SXII, 1619, Niederschrift über die Sitzung des Ausländerbei‐ rats am 20.01.1989 in den Handelslehranstalten Konstanz. 31 StA KN, SXII, 1006, Allgemeine Umfrage zur Wohnsituation der ausländischen Bevöl‐ kerung in Konstanz und Behelfsunterkünften wie umgebauten Ställen, Wohnwagensiedlungen oder Eisenbahnwaggons zufrieden. Nicht selten hausten sie unter menschenunwür‐ digen Bedingungen. 29 Mit der Dauer des Aufenthaltes änderten sich jedoch die Prioritäten. Je länger die Italienerinnen und Italiener in der Bodenseestadt verweilten, desto mehr glichen sich ihre Vorstellungen vom Wohnen denen der Konstanzerinnen und Konstanzer an. Nun war das größte Anliegen, eine bessere Wohnung zu finden. In den 1970er Jahren stand dieses Thema an erster Stelle auf den Tages‐ ordnungen der städtischen Gremien zur „Ausländerfrage“. 30 Nicht nur wegen der Konstanzer Wohnraumproblematik war es für die Arbeitsmigrantinnen und -migranten äußerst schwierig, sich auf dem freien Wohnungsmarkt zu behaupten. Obwohl es deutsche Vermieterinnen und Vermieter gab, die die Ita‐ lienerinnen und Italiener als zuverlässige und angenehme Menschen schätzten, verhinderten überwiegend Vorbehalte gegen die vermeintlich „dauerlauten“ und „feiernden“ Großfamilien ein Mietverhältnis. 31 362 Daniela Schilhab Abb. 4: Wohnen auf engstem Raum: Ohne Küche und Bad lebt diese sechsköpfige italienische Familie auf rund 25 Quadratmetern in der Konstanzer Altstadt. (Foto: Archiv Wolff-Seybold/ Werner Konrad Siegert Stiftung) Besonders in der sanierungsbedürftigen Altstadt berichtet der lokale Südkurier mehrfach über skandalöse Zustände. So rückte beispielsweise ein Haus in der Sal‐ mannsweilergasse in den Fokus, das komplett von italienischen Familien bewohnt wurde. Neben fehlenden Wasseranschlüssen, schockierten besonders Berichte über Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 363 32 Südkurier Ausgabe Konstanz vom 10.05.1980. 33 SAK, SXII, 1617, Schreiben des Sozial- und Jugendamts Konstanz an Bürgermeister Weilhard vom 19.09.1978. 34 Interview mit F.C. am 14.10.2021; F O R M H A L S , Lina: Jedem Deutschen wöchentlich ein Bad! Die Dusch- und Wannenbäder in Konstanz, in: Klöckler, Jürgen (Hg.): Konstanzer Bäder und Badeanstalten: Ein Beitrag zur Geschichte des Badewesens am Bodensee, Konstanz 2020, S.-221-230. 35 SAK, SXII, 1617, Schreiben von Bürgermeister Weilhard vom 06.12.1978. 36 SXII 1619, SK 11.01.1989. die hygienischen Zustände der Hinterhöfe. Kinder seien bereits mehrfach von Ratten gebissen worden. 32 Wie auch in diesem Fall gerieten italienische Familien oft an Vermieter, die ihre finanzielle Notlage geschickt für sich zu nutzen wussten. Während die Konstanzer Einwohnerschaft nicht für die heruntergekommenen Wohnungen zu gewinnen waren, wurden von „Gastarbeitern“ überhöhte Mieten für spärlich „möblierte“ Zimmer verlangt, die weder über Tageslicht noch Heizmög‐ lichkeiten verfügten. Oft mangelte es zudem an ausreichendem Brandschutz, in den Wohnungen gab es weder eine eigene Kochgelegenheit noch Sanitärräume. Diese waren lediglich über einen Flur zu erreichen und mussten mit mehreren Parteien des Hauses geteilt werden. 33 Noch heute berichten italienische Arbeitsmigrantinnen und -migranten davon, dass es keine Seltenheit war ein öffentliches Bad zur Reinigung aufzusuchen. Wie auch viele deutsche Anwohnende nutzen sie dazu beispielsweise das Stephansbad an der Laube. 34 Aus Scham oder Angst vor einer Kündigung des Mietverhältnisses schwieg die Mehrheit der italienischen Mietparteien und harrte in ihrer Lage aus. Kamen Missstände aber ans Licht der Öffentlichkeit, wurden für die krassesten Fälle Sofortmaßnahmen eingeleitet: Wenn die italienischen Sozialbetreuer von fristlosen Kündigungen oder Mietwucher in Kenntnis gesetzt wurden und zudem auch der Südkurier über gesundheitsgefährdende Wohnsituationen berichtete, mussten die offiziellen Stellen einschreiten. Eine Wiederbelegung der Räumlichkeiten ohne Renovierung wurde den Vermieterinnen und Vermietern untersagt. Auf diese Weise trieben die städtischen Behörden auch die Altstadtsanierung voran. 35 Mit der steigenden Attraktivität der linksrheinischen Altstadt und damit einhergehend steigenden Mieten, veränderten sich allerdings die Anwohnenden: Während die sogenannte erste Generation mit ihren Kindern noch vorwiegend in der Niederburg lebte, ließen sich aus Italien zugewanderte Familien nun Ende der 1980er Jahre verstärkt in den Stadtteilen Petershausen, Fürstenberg und im Berchengebiet nieder. 36 364 Daniela Schilhab 37 Anmerkung: Die „terza media“ steht in dieser Zeit für die achtjährige Schulpflicht in Italien. Dieser Abschluss war die Voraussetzung um in Italien eine öffentliche Stelle antreten oder eine selbstständige Tätigkeit ausüben zu dürfen (vgl. dazu: B E N E D E T T I , Marcello: Kurzbericht über die heutige Situation der italienischen Gemeinschaft in Konstanz für die Sitzung des „Forums für Integration“ am 28.03.2001). 38 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 22. Oktober 1960; S E I T Z , Martina: Italien zwischen Zentralisierung und Föderalismus. Dezentralisierung und Nord-Süd-Konflikt, Wies‐ baden 1997, S.-44. Trotz „Anwerbestopp“ - Vom „Mezzogiorno“ nach Konstanz Für zahlreiche italienische Staatsangehörige war das sogenannte „Nord-Süd- Gefälle“ ausschlaggebend als „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik zu gehen. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht Italiens hat seine Wurzeln im Mittelalter und konnte auch mit der Einheit Italiens 1861 nicht überwunden werden, die Diskrepanz verstärkte sich: Um 1950 florierte die Wirtschaft im industria‐ lisierten Norden, während im landwirtschaftlich geprägten und ökonomisch schwachen Süditalien die Arbeitslosenzahlen unaufhörlich stiegen. Der vielge‐ nannte „Mezzogiorno“ beginnt unmittelbar südlich von Rom. Nicht selten waren alle Familienmitglieder im Kampf ums wirtschaftliche Überleben gefordert, wor‐ unter die Bildung vieler Süditalienerinnen und -italiener litt. Die überwiegende Mehrheit besaß keinen Schulabschluss oder hatte die Bildungseinrichtung lediglich bis zur „terza media“ besucht. 37 Wer jedoch qualifizierter war und einen höheren Bildungsabschluss erreichte, konnte in Norditalien Fuß fassen, während die Masse an unqualifizierten Gelegenheitsarbeiterinnen und -arbeiter zurückblieb. 38 Dementsprechend nahmen besonders Männer und Frauen aus Süditalien eine Tätigkeit als „Gastarbeiter“ an, um der Armut und Perspektivlosigkeit im Heimatland zu entfliehen. Wie eine Umfrage unter Italienerinnen und Italienern in Konstanz zeigt, stammten auch die meisten von ihnen aus den südlichen Regionen Italiens. Die Mehrheit war aus Lukanien (ca. 36 %) und Kampanien (ca. 24 %) an den Bodensee gekommen. Ebenso machten sich Arbeiterinnen und Arbeiter vermehrt aus Sevilla und Kalabrien (ca. 12 %) sowie Apulien (ca. 8 %) auf den Weg nach Konstanz. Weitere Befragte stammten aus den Abruzzen und dem Latium (ca. 4 %). Der Großteil plante, nach ein einigen arbeitsreichen Jahren und mit einem finanziellen Polster in die Heimat zurückkehren. Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 365 39 B E R L I N G H O F F , Marcel: Der europäisierte Anwerbestopp, in: Kreienbrink/ Oltmer/ Sanz Díaz., a.-a.-O. 2012, S.-149-164, hier: S.-149. 40 B E N E D E T T I / N A S C A (wie Anm. 23) S.-41. Abb. 5: Über die „Neapel-Schleuse Singen“ reisen zahlreiche italienische Arbeitskräfte in die Bundesrepublik ein. Für viele ist Singen nur eine Zwischenstation auf dem Weg ins südwest- und norddeutsche Bundesgebiet. (Foto: Fotonachlass Fauth, Stadtarchiv Singen, 1960) Der am 23. November 1973 verkündete „Anwerbestopp“ markiert offiziell das Ende der „Gastarbeiterperiode“ in der Bundesrepublik. Der Beschluss bedeutete jedoch nicht, wie allgemein angenommen, das endgültige Ende einer Anwer‐ bung von Arbeitskräften aus dem Ausland. Neben Expertinnen und Experten und hochqualifizierten Kräften waren auch Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und anderen „westlichen“ Ländern weiterhin auf dem deutschen Arbeitsmarkt gefragt. 39 Der Zustrom an Italienerinnen und Italienern riss auch in Konstanz nicht ab. Wie die untenstehende Statistik zeigt, lebten Ende August 1977 insgesamt 1.817 italienische Staatsangehörige in der Stadt. 40 Nach dem verkündeten An‐ werbestopp gingen die Zahlen unter den Neuzugezogenen zwar leicht zurück, stiegen ab 1976 jedoch wieder beträchtlich an. Auch wenn die Hochphase der Neuankünfte von 1965-1969 nicht wieder erreicht wurde, blieb die italienische Einwanderung somit in Konstanz auch nach dem „Anwerbestopp“ bestehen. 366 Daniela Schilhab 41 Ebd. 42 Sozial- und Jugendamt Konstanz (Hg.): Ausländer in Konstanz. Darstellung der Situation und Maßnahmenkatalog, Konstanz 1979. 1977 232 12,77% 1976 180 9.90% 1975 127 7% 1974 127 7% 1973 150 8,26% 1972 125 6,88% 1971 133 7,32% 1970 119 6,55% 1965-1969 400 22% 1960-1964 183 10,07% 1955-1959 35 1,93% 1945-1954 6 0,32% Italienische Neuankünfte in Konstanz Il loro anni di arrivo, Benedetti/ Nasca, 1979, S.-41. Die „Gastarbeiterkinder“ rücken in den Fokus Die italienische Gemeinschaft setzte sich im Jahr 1977 in Konstanz aus den folgenden Altersklassen zusammen 41 : Italienische Erwachsene im Alter von 19 bis 65 Jahren stellen mit 1288 Personen die größte Gruppe dar, der Anteil an min‐ derjährigen Personen ist jedoch beachtlich: Insgesamt 329 junge Italienerinnen und Italiener zwischen einem und 18 Jahren lebten in Konstanz - das sind 29,09 Prozent der hiesigen italienischen Bevölkerung. Unter Bürgermeister Willy Weilhardt veröffentlichte die Stadt Konstanz im Jahr 1979 eine „Darstellung über die Situation der Ausländer“. Der darin enthaltene Maßnahmenkatalog verdeutlicht, in welchen Bereichen die Stadt einen dringenden Handlungsbedarf sah. Im Zuge dessen rückten auch die „Gastarbeiterkinder“ in den städtischen Fokus. 42 Als sogenannte zweite Generation lassen sich Kinder oder Jugendliche von Arbeitsmigrantinnen und -migranten bezeichnen, die entweder in der Bundes‐ Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 367 43 B E N E D E T T I (wie Anm. 37). 44 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 15.01.1980. 45 SAK SIIa 4174, Deutscher Städtetag, Problemschwerpunkte und Lösungsvorschläge, 29.11.1973. 46 SXII 1617 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 28.10.1972 47 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 25.11.1982 48 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 09.10.1982. republik geboren wurden oder im Zuge von Familienzusammenführungen nach Deutschland kamen. Die italienischen Sozialberater in Konstanz berichten, dass zunächst mehrheitlich der Vater seine Arbeitsstelle antrat, während die Kinder in der Regel mit der Mutter oder bei den Großeltern in Italien zurückblieben. In Folge des Familiennachzuges mussten sie oft im Laufe des Schuljahres ihre Heimat verlassen und fanden sich in einer neuen, fremden Umgebung wieder. Wie ihre Eltern kamen viele von ihnen zunächst schwer in der neuen Stadt zurecht, da sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren. 43 Oft konnten sie dem deutschsprachigen Unterricht nicht folgen, weshalb sie nicht selten von der Grundschule in die Sonderschule zurückgestuft wurden. 44 Um dies zu vermeiden und um den italienischen Kindern den Einstieg zu erleichtern, wurde in Konstanz eine internationale Klasse an der Berchenschule und an der Stephansschule eingerichtet. 45 Außerdem fand sich die Arbeitsgruppe „Gastar‐ beiterkinder“ im Jugendhaus am Raiteberg zusammen. Dort betreuten Schüle‐ rinnen und Schüler und Studierende die zugezogenen Kinder im Vorschul- und Schulalter. 46 Wer jedoch von Kindesbeinen in der Bundesrepublik aufwuchs und die Möglichkeit hatte, einen Kindergarten zu besuchen, war für die deutsche Schullaufbahn besser gerüstet. In den städtischen oder konfessionellen Einrich‐ tungen wurden die Kinder nicht nur sprachlich gefördert, sondern auch mit der fremden Kultur außerhalb der Familie vertraut gemacht. Wie die Leiterin des katholischen Münsterkindergartens berichtete, hätte es keine Probleme zwischen deutschen und ausländischen Kindern gegeben: „Die wissen oft gar nicht, da(ss) ein anderes Kind ausländischer Herkunft ist. Die Kinder nehmen sich gegenseitig als Persönlichkeit an und gehen ganz normal miteinander um.“  47 Sprachschwierigkeiten würden schnell behoben, die Kinder fungierten als Dolmetscher. Dass im Jahr 1982 bereits 90 % der ausländischen Kinder einen Kindergarten in Konstanz besuchten, bezeichnete der Leiter des Sozial- und Jugendamtes, Josef Kleiber, als großen Fortschritt. Diesen Erfolg schrieb er vor allem Aufklärungsschriften in der jeweiligen Landessprache und Gesprächen mit den Eltern zu. 48 Einen großen Anteil an diesem Erfolg dürfte aber auch ein Wandel in der Lebensplanung der Zugewanderten gehabt haben. Anfang der 368 Daniela Schilhab 49 SAK SXII 1006, Fragebögen an Schulen, Grund- und Hauptschule; SAK SXII 1617 Bericht zur Situation der ausländischen Kinder an den Sonder-, Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien der Stadt Konstanz vom 21.11.1977. 50 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 09.10.1982 51 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 15.10.1979. 52 Ebd. 1960er Jahre wussten viele von ihnen nicht, wie lange sie in der Bundesrepublik bleiben wollten, daher war für sie ein Kindergarten- oder Schulbesuch ihrer Kinder eher zweitrangig, stattdessen priorisierten sie es, die Muttersprache zu pflegen. Um den muttersprachlichen Unterricht sollte sich über die Jahre eine anhaltende Auseinandersetzung zwischen den Konstanzer Schulen und italienischen Eltern entspinnen: Während Lehrkräfte italienische Kinder auf Grund der Doppelbelastung als mehrheitlich überfordert erlebten und eine erfolgreiche Integration gefährdet sahen, wollten deren Eltern vermeiden, dass ihre Kinder die nationale Identität und somit den Bezug zur Heimat verlieren. Eine Rückkehr nach Italien sollte möglich bleiben. 49 „Tag des ausländischen Kindes“ Die Förderung ausländischer Kinder hatte für den Leiter des Sozial- und Jugend‐ amts Josef Kleiber oberste Priorität. 50 Damit auch die Konstanzer Öffentlichkeit sich der Anliegen seiner kleinen Mitbürgerinnen und Mitbürger bewusst wurde, fand im Oktober 1979 erstmalig der „Tag des ausländischen Kindes“ statt. Dass Sozial- und Jugendamt hatte mit den zuständigen Betreuungsstellen und zuge‐ wanderten Familien ein vielseitiges Programm zusammengestellt, das die kul‐ turelle Begegnung und das gegenseitige Verständnis fördern sollte. Während auf der Marktstätte verschiedene Tanz- und Musikgruppen ihr Können darboten, zeigten sich die Konstanzer Einwohnerschaft im direkten Kontakt allerdings eher zurückhaltend. 51 Auf Plakaten hatten die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auf Probleme hingewiesen, ein Gespräch kam dabei aber nur selten zustande. Ein internationales Stadtspiel hingegen, bei dem die Kinder an Konstanzer Haustüren klopfen und Aufgaben lösen mussten, erfreute sich beiderseits großer Beliebtheit. Für reges Interesse sorgte ebenso eine in der Stephansschule stattfindende Podiumsdiskussion mit dem Thema „Ausländische Kinder mitten unter uns“. Dabei konnten sich Kinder und Jugendliche selbst Gehör verschaffen und deutlich aufzeigen, wo in ihren Augen dringender Handlungsbedarf herrschte. „[…]Wir sind fünf Personen und leben in einem einzigen Zimmer. Ich habe keinen Platz zum Lernen […]“. 52 Diese Schilderung eines elfjährigen Jungen verdeutlicht, dass die Wohnraumproblematik und Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 369 53 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 14.02.1961. 54 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 28.01.1965 55 Schwarzwälderbote vom 15.01.1965. somit die Sorgen der Erwachsenen auch auf das Leben der sogenannten zweiten Generation übergriffen. Die Stephansschule beschreitet neue Wege Wer erst im Zuge von Familienzusammenführungen an den Bodensee kam und nicht mehr im Kleinkindalter war, für den stand die Frage des Schulbesuchs im Raum. Für „Gastarbeiterkinder“ gab es in Baden-Württemberg zunächst keine Schulpflicht. Dennoch gingen in Südbaden bereits im Februar 1961 insgesamt 324 ausländische Kinder zur Schule, davon stammten 116 aus Italien. 53 In Konstanz existierte eine italienische Schulklasse, in der insgesamt 31 junge Italienerinnen und Italiener regelmäßig einmal in der Woche zusammenkamen. Dort stand Unterricht in italienischer Sprache auf dem Stundenplan, an den anderen Werktagen besuchten sie eine deutsche Schule. 54 Abb. 6: „Tag der offenen Tür“ in der Stephansschule: In den hinteren Reihen beobachten interessierte Eltern den Unterricht einer internationalen Vorbereitungsklasse . (Foto: Archiv Wolff-Seybold/ Werner Konrad Siegert Stiftung) Erst ab dem 1. April 1965 galt auch in Baden-Württemberg für aus dem Ausland zugezogene Kinder die Schulpflicht. 55 Dies stellte in Konstanz besonders die Stephansschule vor große Herausforderungen, da ihr Schulbezirk einen großen Teil der Altstadt umfasste. Infolgedessen waren an der Stephansschule knapp 370 Daniela Schilhab 56 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 14.06.1982. 57 Anmerkung: Die deutsche Bildungspolitik orientierte sich lange Zeit an der soge‐ nannten „Ausländerpolitik“, samt zeitlich befristetem Aufenthalt und Anwerbestopp. Dementsprechend wurden Kinder gleicher Nationalität getrennt von deutschen Kin‐ dern in ihrer Muttersprache unterrichtet, um eine Rückkehroption ins Heimatland zu wahren, vgl. dazu: F E R E I D O O N I , Karim: Schule - Migration - Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen, Wiesbaden 2011, S.-40. 58 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 24.01.1981. 59 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 29.05.1980. 60 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 20.03.1981 und 16.03.1982. 61 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 14.06.1982. 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler ausländischer Herkunft. 56 Um die Neu‐ ankömmlinge an die deutsche Sprache und das deutsche Schulsystem heranzu‐ führen, wurden daher drei internationale Vorbereitungsklassen eingerichtet. 57 Diese würden die Kinder jedoch von den deutschen Klassenkameradinnen und -kameraden isolieren und somit neue Probleme schaffen, wie Direktor Alfred Eble Anfang der 1980er Jahre anmerkte. 58 Die Stephansschule nahm daher am Modellversuch „Erweitertes Bildungsangebot an Hauptschulen“ des Landes Baden-Württemberg teil. Das Ziel war dabei nicht nur, die Hauptschule als weiterführende Schule attraktiver zu gestalten, sondern auch eine Begegnungs‐ stätte außerhalb der Schulzeit zu schaffen. Infolgedessen wurden die internatio‐ nalen Klassen an der Stephansschule aufgelöst und die Kinder und Jugendlichen den altersentsprechenden Regelklassen zugeteilt, nur der Deutschunterricht fand separat statt. Ein erweitertes freiwilliges Bildungsangebot mit speziellen Förderkursen stand sowohl zugewanderten als auch deutschen Kindern offen. Beim textilen Werken, in der Theater AG oder beim Kochen internationaler Gerichte standen das gemeinsame Arbeiten und Handeln im Vordergrund - zudem wurden die deutschen Sprachkenntnisse gefördert. Der Direktor hoffte so, die Chancengleichheit und das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken. 59 Nach zwei Jahren wurde das Projekt der Konstanzer Öffentlichkeit bei einem Schulfest präsentiert und darf durchaus als Erfolg gewertet werden. Von den insgesamt 312 Hauptschülerinnen und -schülern nahmen 197 freiwillig am Modellversuch teil, 70 davon hatten einen Migrationshintergrund. 60 Hinsichtlich der weiterführenden Schulen lässt sich festhalten, dass sich das Bildungsniveau der sogenannten zweiten Generation in Baden-Württem‐ berg langsam verbesserte. Während 1975 nur 44,7 % den Hauptschulabschluss erreichten, waren es 1979 schon 61 %. Der Realschulbesuch erhöhte sich von 12 % im Jahr 1977 auf 15 % im Jahr 1979. In diesem Zeitraum stieg der Anteil ausländischer Schülerinnen und Schüler am Gymnasium von 9 % auf 11 % an. 61 Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 371 62 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 20.06.1981. 63 Ebd. 64 Interview mit Camillo Scamuffa am 08.06.2021. 65 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 20.06.1981. 66 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 08.10.1983; Interview mit Camillo Scamuffa am 08.06.2021. Mehr als nur Unterhaltung - Il gruppo teatrale italiano di Costanza Anfang der 1980er Jahre berichtete der Südkurier über die italienischen „Gast‐ arbeiterfamilien“: „Sie leben oft schon seit vielen Jahren mitten unter uns. Aber von ihren Sorgen wissen wir wenig. […]“  62 Dieser Umstand war auch den Italienerinnen und Italienern in Konstanz bewusst. Daher wagte eine kleine Gruppe von rund 20 Laienschauspielerinnen und -spielern Anfang der 1980er Jahre einen spielerischen Versuch der Konstanzer Öffentlichkeit zu zeigen, „[…] wo manchmal der Schuh drückt, was das Herz bewegt und wie gedacht oder gefühlt wird.“  63 Der Sozialberater Camillo Scamuffa leitete die „gruppo teatrale italiano“ über viele Jahre - als kreativer Kopf führte er Regie, malte die Kulissen und bespielte selbst die Bühne. Vor allem seiner Initiative ist es zu verdanken, dass die Gruppe im Jahr 1980 zusammenfand und trotz zwischenmenschlicher Konflikte über ein Jahrzehnt zusammenblieb. Die Vorbereitung der Szenen und Aufführungen waren mit einem großen zeitlichen Aufwand verbunden, die Gruppe traf sich zwei Mal wöchentlich zur Probe. Doch nicht nur die gemeinsame Leidenschaft für das Theaterspiel verband sie - ein tieferes Be‐ dürfnis sorgte dafür, dass die Italienerinnen und Italiener auch nach einem langen und kräftezehrenden Arbeitstag diese Strapazen auf sich nahmen: „Wir wollten der anonymen ausländischen Arbeitskraft ein Gesicht geben“, berichtet Scamuffa. 64 Mit typischen italienischen Volksstücken wollte die Gruppe die für die Konstanzerinnen und Konstanzer fremde Kultur greifbarer machen. Eine Komödie wie „La farmacia di turno / Die diensthabende Apotheke“ von Edoardo de Filippo sollte durch Spaß und Heiterkeit den Raum für Begegnung und gegenseitiges Verständnis schaffen. Dass das gesellschaftliche Experiment von Erfolg gekrönt war, zeigen Berichte des Südkuriers, die den Italienerinnen und Italienern bescheinigten, dass sie „mit viel Temperament“ und „ansteckender Begeisterung auf der Bühne“ agierten. 65 Zahlreiche deutsche Gäste besuchten den ersten Auftritt im Kolpinghaus an der Hofhalde. Auch außerhalb der Konzilstand zog die italienische Theatergruppe das Publikum in ihren Bann: Gastspiele folgten bis Anfang der 1990er Jahre in italienischen Zentren in Freiburg, Sindelfingen, Singen und im schweizerischen Kreuzlingen. 66 Mit den 372 Daniela Schilhab 67 Ebd. 68 KAK AA8 575, Ergebnisprotokoll der 51. Sitzung des Verwaltungsausschusses des Arbeitsamtes Konstanz vom 02.03.1966. 69 Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 16.10.1984. im angrenzenden Kanton Thurgau lebenden Italienerinnen und Italienern ergab sich dabei ein intensiver Austausch: Die beiden Gruppen bereicherten ihre kulturellen Veranstaltungen diesseits und jenseits der Grenze. 67 Abb. 7: Die italienische Theatergruppe bei ihrem ersten Auftritt im Kolpinghaus im Jahr 1981. Mit der in Süditalien spielenden Komödie „La farmacia di turno/ Die diensthabende Apotheke“ möchten sie der Konstanzer Einwohnerschaft die italienische Kultur näher‐ bringen. (Foto: Privatbesitz) Aktiv mitgestalten - Der Ausländerbeirat Bereits Mitte der 1960er Jahre wurde den Mitgliedern des Verwaltungsaus‐ schusses des Arbeitsamtes Konstanz bewusst, dass der Fragenkomplex rund um die außerbetriebliche Integration der „Gastarbeiter“ eines gesonderten Gre‐ miums bedurfte. 68 Die Frage um die Teilhabe ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürgern am politischen Entscheidungsprozess gelangte allerdings erst deut‐ lich später in die breite Konstanzer Öffentlichkeit: Bei den Kommunalwahlen 1984 entspann sich eine lebhafte Debatte zwischen Konstanzer Kommunalpoliti‐ kern um das Wahlrecht für die Zugezogenen. 69 Zwar blieb jenen bei dieser Wahl noch das Stimmrecht versagt, die kommunalen Entscheidungsträger waren nun aber dazu gedrängt, sich bezüglich eines Wahlrechts zu positionieren. Nach langwierigen Gesprächen und mit der Zustimmung des Gemeinderates Italienische „Gastarbeiterfamilien“ 373 70 Ebd., Südkurier, Ausgabe Konstanz, vom 12.04.1984. 71 Ebd., Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 22.06.1985. 72 Ebd., Südkurier, Ausgabe Konstanz vom 12.04.1984. sollte im Jahr 1985 ein Ausländerbeirat eingerichtet werden 70 : Neben dem Oberbürgermeister und acht Gemeinderäten sollten acht ausländische Vertre‐ terinnen und Vertreter dem Gremium angehören. Insgesamt 2950 Personen waren wahlberechtigt. Sie setzten sich aus den vier großen sogenannten „Gast‐ arbeiternationen“, Italien, Spanien, Jugoslawien und der Türkei, zusammen. Die übrigen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger blieben bei der Wahl unberücksichtigt. 71 Der Beirat sollte vor allem die Verständigung zwischen Einheimischen und Migrantinnen und Migranten fördern und den Gemeinderat bei Fragen beraten, die die Zugezogenen betrafen. 72 Damit besaß der Ausländerbeirat keine weisungsgebende Entscheidungskraft. Dennoch ist der symbolische Wert nicht zu unterschätzen: Das erlangte Wahlrecht stand für einen jahrzehntelangen, vor allem von Seiten der Sozialbetreuer, gefochtenen Kampf um die Mitbestimmung der Ausländerinnen und Ausländer betreffenden Angelegenheiten in Konstanz. Mit der Abstimmung zum Ausländerbeirat am 23. Juni 1985 konnten die sogenannten „Gastarbeiter“ nun erstmals direkt, wenn auch in vergleichsweise kleinem Rahmen, am kommunalen Geschehen mitwirken. 374 Daniela Schilhab 1 Der Text wurde vor einigen Jahren von meinem Vater als persönliche Erinnerung für den familiären Gebrauch verfasst. Gelegentlich dieser Edition habe ich ihn sehr zurückhaltend überarbeitet, gekürzt, um wenige Anmerkungen versehen und um ein oder zwei Details ergänzt, die ich bei ihm zusätzlich erfragt habe. Ansonsten trägt der Text nahezu vollständig die Handschrift meines Vaters und die seiner Erinnerung, Fabio Crivellari. Eine unbeabsichtigte Einwanderung Ein Zeitzeugenbericht eines italienischen Migranten 1 Alberto Crivellari Ausbildung in Italien Ich hatte bis zu meinem 19. Lebensjahr eine unbeschwerte und glückliche Kindheit in Sestri Levante (Ligurien) gehabt. Dorthin war meine Familie Ende 1944 von Donada, etwa 70 Kilometer südlich von Venedig, umgezogen. Als mein Vater 1944 aus dem Krieg heimkehrte, hatte er einen Antrag auf Versetzung als Volksschullehrer dorthin gestellt, um seiner Mutter, die im benachbarten Riva Trigoso mit der Schwester meines Vaters wohnte, näher zu sein. Als Lehrer genoss mein Vater ausweislich meiner Spielkameraden offenbar großen Respekt. Trotzdem war meine Kindheit von nicht so üppigen Schuler‐ folgen gekrönt, wie es sich meine Eltern gewünscht hätten. Stattdessen zeich‐ nete ich mich immer wieder durch den Drang aus, die Welt kennenzulernen, und war an allem interessiert, was mich in der technischen Welt zum Staunen brachte. Nach der Mittelschule, die ich im Internat bei den Salesianern beendete, fuhr ich täglich von Sestri Levante die etwa 50 Kilometer mit dem Zug nach Genua, um dort ein dreijähriges Studium als „Perito Tecnico“, in Deutschland etwa vergleichbar mit der heute nicht mehr bestehenden Ingenieurschule, zu absolvieren, mit den Hauptfächern Elektronik, Rundfunk und Fernsehtechnik sowie Digitaltechnik. Bereits während der Schule erkundigte ich mich sowohl beim deutschen Konsulat in Genua als auch bei einem deutschsprachigen Freund, wie ich nach Erwerb des Diploms zunächst ein halbes Jahr in Deutsch‐ 2 Vgl. S A L A , Roberto: Vom „Fremdarbeiter“ zum „Gastarbeiter“. Die Anwerbung italieni‐ scher Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft (1938-1973), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1/ 2007, S.-93-120, bes. S.-107, 114. 3 Ebd., S.-98. 4 Vgl. P R O N T E R A , Grazia: Das Emigrationszentrum in Verona. Anwerbung und Vermitt‐ lung italienischer Arbeitskräfte in die Bundesrepublik Deutschland 1955-1975, in: Jochen Oltmer/ Axel Kreienbrink/ Carlos Sanz Díaz (Hg.): Das „Gastarbeiter-“System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, München 2012, S.-89-102, S.-89. land arbeiten könne, bevor ich in Italien ein Aufbaustudium beginnen würde. Zudem nahm ich privaten Deutschunterricht bei einer Deutschen, die mit einem Italiener verheiratet war und in der Nähe wohnte. Verona, Migrationszentrale Italiens Damals, Ende der 50er Jahre, setzte aus Süditalien ein regelrechter Exodus Richtung Deutschland ein. 2 Deutschland benötigte Hilfskräfte, Arbeiter und Fachkräfte vieler Fachrichtungen, die in Deutschland aufgrund der schnell wachsenden Konjunktur nicht aus der eigenen Bevölkerung gestellt werden konnten. Zugleich hatte Italien ein großes Problem mit Arbeitslosenzahlen, vor allem im Süden, und suchte nach Möglichkeiten, Emigranten geordnet in andere Länder zu vermitteln. 3 Um diese Masse von Migrationswilligen bewältigen zu können, hatten die deutschen Behörden ein Arbeitsvermittlungszentrum in Verona errichtet, das wie ein Lager aufgebaut war: Das Zentrum bestand aus einem zentralen Holzbau, rundherum standen Baracken als kurzfristige Unterkünfte falls die Auswanderungsprozedur länger als einen Tag dauern würde. Im zentralen Bau wurden die ärztlichen Gesundheitskontrollen sowie die fachlichen Eignungsprüfungen der potentiellen Emigranten durchgeführt. Bei Verdacht auf Krankheiten oder bei nicht vorhandener Eignung für das angegebene Berufsbild wurden die Betroffenen sofort nach Hause geschickt. Ich hätte zu dieser Zeit bereits privat als Tourist nach Deutschland einreisen und mir dann einen Job suchen können. 4 Die Verlockung allerdings, noch vor Reisebeginn eine gesicherte Arbeitsstelle mit Vorvertrag in der Tasche zu haben und das kostenlose Bahnticket haben mich den traurigen Anblick des Lagers schnell vergessen lassen. Die Prüfungen waren für mich kein Problem, und ich konnte somit ohne Übernachtung am selben Tag mit dem Zug via München nach Hannover meine erste Auslandsreise antreten. Mein künftiger Arbeitgeber dort wurde die Firma Telefunken, deren Werk für Rundfunk- und Fernsehtechnik eines der größten in Deutschland war. Mein Vater, der mich nach Verona begleitet hatte, hat zwar meinen Wunsch auszuwandern (auch wenn nur sechs 376 Alberto Crivellari Monate geplant waren) nicht ganz verstanden, aber am Zug mit den Worten kommentiert: „Ich finde es sehr gut, dass Du versuchst, Deinen Weg alleine zu finden. Solltest Du aber feststellen, das dieser Weg nicht so verläuft, wie Du es Dir vorgestellt hast, komm sofort zurück, in unserer Wohnung ist die Tür immer offen“. Er drückte mir genug Geld in die Hand, um etwa einen Monat auszukommen, und als er sich umdrehte, glaubte ich erkannt zu haben, dass er große Schwierigkeiten hatte, die Tränen zu unterdrücken. Als ob er ahnte, dass aus den geplanten sechs Monaten der Rest meines Lebens werden würde. Abreise nach Hannover mit Zwischenstation München Da ich bereits ein wenig Deutsch gelernt hatte, wurde ich von den Migrati‐ onsbehörden gebeten, im Zug bei Sprachproblemen mit den etwa einhundert mitreisenden Italienern zu helfen. In meinem Abteil saß ich umgeben von Süditalienern, die den Großteil der Migranten ausmachten. Als sie vor der Abfahrt erfuhren, dass ich einige Worte Deutsch konnte, und sie sich deshalb bei Problemen an mich wenden sollten, wurde ich mit Fragen konfrontiert, die ich aufgrund des neapolitanischen bzw. sizilianischen Dialekts oft kaum verstand. Jetzt hatte ich zwei Probleme: Ich konnte nicht genügend Deutsch, um dieser Aufgabe gerecht zu werden und konnte meine Landsleute genauso wenig verstehen. Aber der Einäugige ist bekanntlich immer König unter den Blinden. Aufgrund der Fragen, die ich bruchweise verstand, konnte ich ahnen, dass sie mich bewunderten und nicht verstanden, wieso ein „diplomierter“ Mensch in dem gleichen Zug saß wie sie auch. Glücklicherweise wurden meine falsch eingeschätzten Deutschkenntnisse nicht beansprucht, und somit erreichten wir abends München, wo etwa dreißig Begleiter den Zug verließen. Auch ich packte meinen Koffer und stieg aus, um eine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen, denn der Anschluss nach Hannover fuhr erst am nächsten Morgen weiter. In diesem gewaltigen Hautbahnhof und mit meinem Koffer in der Hand kam ich mir recht verloren vor. Ich holte mein Adressbüchlein aus dem Rucksack, wo ich Dokumente, Arbeitsvertrag und allerlei Informationen über Deutschland hatte, und rief kurzerhand eine Strandbekanntschaft aus Sestri an. Sie war nach spätestens zwanzig Minuten mit ihrem Vater vor dem Bahnhof, und nach der Begrüßung luden sie mich ein, in einen Mercedes einzusteigen. Der Vater sagte mir, dass wir jetzt eine Rundfahrt durch München machen würden, um mir die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn Papa heimgefahren wäre und uns allein gelassen hätte. Nach ca. eine Stunde fuhr er vor einer Pension in Bahnhofnähe vor, die angeblich gut und günstig war. Sie verabschiedeten sich und wünschten mir viel Erfolg in Hannover Eine unbeabsichtigte Einwanderung 377 und verschwanden. Wir haben uns nie wieder gesehen. Am nächsten Morgen, aus Angst mein Zug zu verpassen, habe ich über eine Stunde am Bahngleis gestanden bis der Zug mit Ziel Hamburg eintraf. Am Bahnsteig habe ich mehrere Gesichter vom Vortag erkannt, die zwischen München und Hamburg ihr Ziel hatten. Ankunft in Hannover Am späten Nachmittag waren wir endlich in Hannover angelangt, wo ein distinguierter Mann mit einem Schild winkte, auf dem mein Name stand. Ich wurde also erwartet. Ich näherte mich und lächelte freundlich, worauf er fragte ob mein Name „Crivellari“ sei. Ja! Der Mann war Jugoslawe und sprach perfekt Italienisch. Er bat mich ihm zu folgen und begleitete mich ein Stockwerk tiefer vom Bahnhof bis zu einem Eingang, über dem „Bahnhofsmission“ stand. Er sagte mir, dass ich hier über‐ nachten solle und morgen früh würde er mich hier wieder abholen, um alle Formalitäten sowohl bei den Behörden als auch in der Personalabteilung bei Telefunken zu erledigen. Der Gedanke, in der Bahnhofsmission ein Bett zu belegen, zusammen mit etwa dreißig weiteren, mehr oder weniger betrunkenen Männern, war mir derart fremd - ich konnte es gar nicht fassen und war schlichtweg entsetzt. Gegenüber dem Bahnhof war eine große Beleuchtung mit dem Schriftzug „Hotel“. Ich habe dem Mann, dessen Name ich nicht mehr weiß, gesagt, ich würde jetzt dort übernachten, die Kosten selbst übernehmen, und morgen früh könne er mich dort abholen. Er hat mich angesehen als wäre ich gerade aus einem Ufo ausgestiegen und erkundigte sich mehrmals, ob ich wirklich soviel Geld dabei hätte, um mir das zu leisten. Ich habe ihn beruhigt, und er verabschiedete sich mit den Worten: „a domani“ - bis Morgen! Nachdem ich mein Zimmer belegt hatte, wollte ich noch kurz Hannover, meine neue Heimat auf Zeit, in der näheren Umgebung des Hotels kennen‐ lernen. Der erste Eindruck war enttäuschend und für mich sehr fremd. Vor jeder Kneipe und die Straße entlang habe ich mehr betrunkene Männer und Frauen gesehen als je zuvor in meinem Leben. Im Hotel angekommen, versuchte ich ohne Erfolg einzuschlafen. Am nächsten Morgen erschien mein „Betreuer“ pünktlich im Foyer, und wir stiegen in denselben VW-Bus, mit dem er gestern gekommen war. Es waren etwa fünf Kilometer bis zu Telefunken. Er begleitete mich in einen Raum mit der Bitte um etwas Geduld. Kurz darauf kam ein Mann in weißem Kittel und sagte mir, vom Jugoslawen ins Italienische übersetzt, dass ich mich vor der endgültigen Vertragsunterschrift einer Eignungsprüfung unterziehen müsse, 378 Alberto Crivellari um festzustellen, ob ich am Produktionsband oder im Entwicklungslabor für Prüfmittelbau eingesetzt werden solle. In meinem Kopf kreiste nur der Gedanke, ob nun das ganze bisherige Theater umsonst gewesen sei, ich hatte schließlich bereits in Verona meine Prüfung bestanden. Ich habe trotzdem gelächelt und genickt, worauf mehrere Fragebögen auf den Tisch gelegt wurden (zum Glück auf Italienisch) mit der Bitte, diese zu beantworten. Ein erster Blick auf die ersten Fragen gaben mir Anlass, mich zu beruhigen, denn es waren elementare Fragen wie: In welcher Richtung fließen die Elektronen in einer Röhre? Was ist ein Boosterkondensator? Wie viel Volt liegen an der Kathode einer Bildröhre? All das waren Fragen, die ich aufgrund meiner Schulkenntnisse leicht beantworten konnte. Meine erste Arbeitsstelle bei Telefunken Ich bekam meinen endgültigen Vertrag und wurde einem Labor zugewiesen, in dem Prüfgeräte entwickelt und gebaut wurden für die weitgehende automa‐ tische Kontrolle der Fernsehgeräte. Meine Vorgesetzten hatten offensichtlich Freude daran, einen Ausländer als Kollegen zu haben, und haben sich sehr bemüht, mir trotz meines Mangels an Sprachkenntnissen mit Zeichnungen, einigen Worten in Italienisch und durch Nutzung von „Händen und Füssen“ das zu erklären, was sie von mir gebaut haben wollten. Zwei Wochen später war für mich klar, dass es nicht so weiter gehen konnte, und ich bat meine Vorgesetzten, mich vorübergehend in die Fertigung zu versetzen bis meine Sprachkenntnisse für die Tätigkeit im Prüfmittellabor ausreichend wären. Sie wunderten sich über meinen akribischen Willen alles richtig machen zu wollen, lobten mich für meine Offenheit und erfüllten meinen Wunsch. Ich blieb zwei Monate in der Fertigung bzw. im so genannten Prüffeld. Denn als der Bandmeister erfuhr, dass ich viel von Fernsehtechnik verstand, hat er mich sofort dorthin gesteckt, wo ich die Fernsehgeräte, die am Ende des Fertigungsbandes ankamen, bestimmten Tests unterzog und die defekten Geräte auch gleich repariert habe. Es war eine interessante Aufgabe, aber hier erfuhr ich seitens der meisten Kollegen klassische Ausländerfeindlichkeit, die ich damals nur als niveaulos verbuchte. Ausdrücke wie „Spaghettifresser“, „Scampoli“ und hier nicht wiederholbare Wörter waren üblich, um mich auf irgendetwas aufmerksam zu machen oder mir einfach etwas mitzuteilen. Ich habe es drei Monate ausgehalten und mich gerade wegen dieser Stimmung in die Autodidaktik des Deutschlernens vertieft, damit ich schnellstens wieder ins Labor zurückkehren konnte, wo freundliche und zivilisierte Menschen gearbeitet haben. Alle Kollegen dort waren über meine Fortschritte mit der Eine unbeabsichtigte Einwanderung 379 deutschen Sprache erfreut und fragten mich immer wieder, wie ich in der kurzen Zeit so gut Deutsch gelernt habe. Ich sagte: Ich verdanke diese Fortschritte den Kollegen von der Fertigung. Sie haben den tieferen Sinn meiner Antwort vermutlich nie verstanden. Am ersten Tag, an dem ich wieder im Labor begonnen hatte, bekam ich, wie es sich gehört, einen weißen Kittel, den ich tagsüber bzw. während der Arbeit tragen sollte. Die „Herrschaften in Weiß“ gehörten zwar nicht der „oberen Kaste“ an aber immerhin distinguierten sie sich von den „Graukittlern“ am Band oder im Prüffeld. Erstaunlich war festzustellen, dass die Kollegen vom Band die mir zufällig über den Weg liefen, nie mehr ihr primitives Vokabular nutzten um mich zu rufen oder zu grüßen. Fazit: Bereits ein weißer Kittel genügte, um von manchen respektiert zu werden. Einerseits war ich froh, aus dieser speziellen Tätigkeit ausgestiegen zu sein, andererseits hat mir gerade dieses Milieu viel gegeben im einfachen Umgang mit der Sprache. Dadurch konnte ich sprachlich erst mal schnell einsteigen, denn in Hannover wird bekanntlich Hochdeutsch gesprochen und zwar auch am Band, was mir in meiner weiteren Karriere sehr genutzt hat. Ich konnte meine Kollegen in Weiß richtig zum Lachen bringen, indem ich einige umgangssprachliche „Bandausdrücke“ im richtigen Zusammenhang brachte, wie „Bist Du von den Socken“ oder „Der hat den Schirm zu gemacht“. Das war nichts Besonderes, aber nach nur drei Monaten im richtigen Zusammenhang im Gespräch angewendet, hat das oft für Erstaunen gesorgt. Im Rückblick zeigt es vor allem, wie fremd sich damals die Welten von Einheimischen und „Gastarbeitern“ eigentlich waren. Dazu gehörten auch die unterschiedlichen Essgewohnheiten zu dieser Zeit. Eines Tages ging ich mit Kollegen in weißen Kittel zur Kantine, beim Vorbei‐ gehen, links und rechts das übliche „Mahlzeit! “, dieses Wort habe ich fleißig jeden Mittag bestimmt fünfzig Mal wiederholt, und doch blieb mir dessen Bedeutung lange Zeit ein Rätsel. Erst später, in Konstanz, erklärte mir ein Kollege, dass das Wort von Mahlen stamme, also es ist Zeit „zum Mahlen“. Bei dem Gedanken musste ich jedes Mal schmunzeln. Was für ein Wort anstatt „Guten Appetit“ zu sagen. Warum nicht gleich „Kauzeit“ anstatt „Mahlzeit“? Ich war mir aber auch bewusst, dass Deutsche auch über italienische Wörter wie Pipistrello (Fledermaus) oder Francobollo (Briefmarke) lachen. Sprachen lernen fand ich immer lustig und die Wortstämme zu analysieren noch lustiger. Meine Kantinenerfahrung war nicht immer so unterhaltsam: Eines Tages stand ich wie immer brav in der Schlange zur Selbstabholung des Mittagessens und bekam von der Dame hinter der Theke (seltsamerweise auch mit weißem Kittel, obwohl sie vermutlich nicht die geringste Ahnung von Strom und Span‐ nung hatte) einen Teller, darin etwas für mich Undefinierbares, und obendrauf, 380 Alberto Crivellari wurde ein braunes Pulver geschüttet. Am Tisch mit den anderen Kollegen angekommen, nahm ich Platz und sah, wie sie alle wirkten, als seien sie bei einer Geburtstagsparty eingeladen. Ich habe meinen ersten Löffel vorsichtig in den Mund „begleitet“ als ein Kollege fragte: „Schmeckt Dir auch Milchreis mit Zimt so gut? “ Seitdem habe ich nie wieder etwas gegessen ohne mich vorher eingehend erkundigt zu haben, woraus das bestand. Leider war damals die Auswahl außer Reis und Zimt, Kohl, Spiegelei oder Rührei mit Spinat sowie Wienerwürstchen mit Kartoffelsalat, Bratwurst und Schaschlik, Fleischkäse und Kartoffeln mit Quark sehr ungewohnt für mich. Das waren alles Speisen, die für meine italienischen Gewohnheiten wohl ebenso fremd waren, wie die italienische Küche damals für Deutsche. Nach knapp einem halben Jahr in Hannover hatte ich große Sehnsucht nach den üblichen Gerichten, die Mama zubereitete, aber deswegen nach Sestri Levante zu fahren, kam natürlich nicht in Frage. Außerdem, wenn ich meiner Mama gesagt hätte, dass ich nichts Vernünftiges zu essen bekomme, hätte sie mich niemals wieder nach Hannover fahren lassen. Somit ließ ich Mama in dem Glauben, ich würde in frischer Pasta schwelgen. Für manche vielleicht erstaunlich, bin ich inzwischen zwar Deutscher, aber trotzdem noch kein Anhänger von Würstchen geworden. Wohnen Die ersten drei Wochen in Hannover habe ich vorübergehend in einem Jugend‐ wohnheim gewohnt. In dieser Zeit habe ich mich mit Hilfe der Personalabteilung um eine geeignetere Unterkunft bemüht. Diese wurde mir vom Personalleiter im Ortsteil Garbsen vermittelt. Ein freistehendes Einfamilienhaus, wo Mutter, Tochter und Tante wohnten. Der Mann war einige Jahre zuvor gestorben. Die Tochter engagierte mich sofort als Italienischlehrer und freute sich bei jedem neuem Wort auf ihren ersten Italienurlaub. Ich konnte bei dieser Familie täglich meinen Wortschatz erweitern und alle drei Mitglieder freuten sich sichtlich, mir die Bedeutung neuer Worte zu erklären. Obwohl ich sehr gerne dort gewohnt habe, war mir der Weg zur Arbeit zu weit. Zwei Monate später mietete ich ein Zimmer direkt gegenüber dem Firmeneingang. In dieser Wohnung wohnte nur „Oma“, so wollte sie genannt werden. Sie hat mir später erzählt, dass mein Lächeln an der Tür gereicht habe, um mich unter den fünf Bewerbern als Untermieter zu nehmen. Trauriger Abschied in Garbsen, aber ich versprach, sie ab und zu wieder zu besuchen. Zwei oder drei Mal war ich dort bis es sich „verlief “. Für das Zimmer in Ricklingen (bei Oma) habe ich damals 50 DM bezahlt, was bei einem Monatslohn von ca. 300 DM, nicht teuer war. Oma hatte ihren Mann Eine unbeabsichtigte Einwanderung 381 im Ersten Weltkrieg verloren. Sie hatten noch eine Tochter mit Enkeltochter, die in der Nähe wohnten und täglich zu Besuch kamen, weil sie dort immer eine „Stulle“ mit Wurst bekamen. Wenn Tochter und Enkelkind die täglichen Stullen gegessen hatten, verließen sie meistens sofort die Gastgeberwohnung, und sobald sie auf der Straße waren, blickte Oma indigniert durch die Gardine und seufzte: „Die kommen nur um mein Brot und Wurst zu fressen.“ Kontakt zu Landsleuten Ich hatte mir zwar fest vorgenommen, so gut wie keinen Kontakt mit italienischen Landsleuten zu pflegen, weil das meinem Ziel, die deutsche Sprache möglichst gut zu lernen, nicht förderlich gewesen wäre. Mit Antonio habe ich eine der wenigen Ausnahmen gemacht, weil er nett war, und sich auch als wirklicher Freund erwiesen hat. Ich habe ihn im Innenhof von Telefunken kennengelernt. Er hörte, wie ich einem Kollegen versuchte, die Betonung eines italienischen Wortes vorzusprechen und sprach mich an. Die üblichen Fragen: Woher bist Du? Was machst Du? Sein Dialekt war nicht ganz so streng wie bei den Landsleuten, die ich in Verona erlebt hatte, sodass ich ihn ohne Probleme verstehen konnte. Antonio konnte noch kein einziges Wort Deutsch und fühlte sich am Band sehr wohl. Er sagte, dass die Kollegen am Band sehr nett seien, sie luden ihn immer wieder zum Biertrinken ein aber bezahlen müsse er immer die ganze Runde. Ich traf ihn fast täglich im Hof während der Pause. Als seine Beziehung in die Brüche ging, ist er aus lauter Enttäuschung nach Frankfurt gezogen, arbeitete dort ein Jahr in einer Elektrofirma und kehrte dann für immer nach Hause am Fuße des Ätnas zurück, wo er später heiratete und Vater von zwei Mädchen wurde. Die zweite Ausnahme im Umgang mit Landsleuten machte ich, als ein Brief aus Genua eintraf, in dem zwei Schulfreunde von der Ingenieursschule mich fragten, ob sie auch eine Chance hätten, bei Telefunken eine Arbeitsstelle zu bekommen. Ich fragte meinen Vorgesetzten, ob er noch zwei Mitarbeiter brauchen könne, die in etwa die gleichen fachlichen Voraussetzungen hätten wie ich. Er sagte mir, dass sie jederzeit vorbeikommen könnten, und wenn die persönlichen Vorstellungsgespräche positiv wären, sie mit gleichen Bedin‐ gungen wie ich eingestellt werden könnten. Eine Woche später waren sie da und wurden nach dem Vorstellungsgespräch (vom Jugoslawen übersetzt) eingestellt. Ich habe sie in der Jugendherberge am Waterlooplatz einquartiert und für uns alle drei eine Wohnung gesucht, wo wir eine WG gegründet haben. Die Wohnung unmittelbar neben der Firma Hanomag war groß, aber eher eine Spelunke was die Ausstattung betraf. Der Stadtteil war eines der letzten Arbeiterviertel, das in Hannover vom Bombenhagel der Alliierten weitgehend 382 Alberto Crivellari verschont geblieben waren. Unsere Wohnung hatte nur einen Bollerofen im Wohnzimmer oder was als solcher vom Vermieter bezeichnet wurde. Die Schlafzimmer waren je mit einer alten Couch als Bettersatz ausgestattet. In der Küche war ein winziges emailliertes Waschbecken und einen Meter darüber der Wasserhahn. Die Toilette befand sich im Treppenhaus ein Stockwerk tiefer und wurde von Bewohnern aus zwei Stockwerken genutzt. Die Wandtapeten fehlten oder hingen halb herunter. Die Miete war zudem horrend teuer. Nach zwei Monaten kündigten wir. Es war eine damals verbreitete Benachteiligung von Ausländern, die viele dieser Arbeitskräfte in billigere Barackenheime trieb. Nur so konnten sie von dem verdienten Lohn einen Anteil an ihre Familien in der Heimat schicken. Nach dieser Erfahrung wurde ich von Oma wieder mit offenen Armen empfangen, während meine Bekannten bei deutschen Familien je ein Zimmer mieten konnten. Sie sind ein Jahr geblieben, haben diese Zeit als kleines Abenteuer gewertet und sind dann zurückgekehrt nach Genua. In meiner Freizeit am Wochenende fuhr ich oft in die nähere Umgebung von Hannover und besuchte Städte wie Hildesheim, Osnabrück, Herzberg, Celle usw. Überall an den Bahnhöfen versammelten sich kleinere bis größere Gruppen von Portugiesen und Italienern. Erst ein Jahr später habe ich es über mich gebracht, einen mir unbekannten Italiener aus einer solchen Gruppe zu fragen, warum sie nahezu jeden Tag am Bahnhofseingang oder Bahnhofshalle stünden um später wieder zu gehen. Er antwortete: „Weil die anderen da sind und man kann sich in der Heimatsprache unterhalten“. Erst Jahre später erfuhr ich auch einen möglichen anderen Grund. Irgendwo wurde geschrieben, dass der Bahnhof die Stelle sei, wo Ausländer unbewusst den nächsten Verbindungspunkt zu Ihrer Heimat finden. Von dort fahren die Züge mit denen sie zu Weihnachten und in den Sommerferien mit zusammengebundenen Koffern und vollen Plastiktüten innerhalb von zwei bis drei Tagen nach Hause gelangen. Sehnsucht nach Hause, Sehnsucht nach ihren Familien und Dörfern - nur selten ist eine richtige Integration dieser Emigranten in Deutschland gelungen. Mit „richtig“ meine ich den einfachen oder auch vollständigen Erwerb der Sprache, Teilhabe an politischen Strukturen, kulturelle Anpassung sowie Ver‐ ständnis für gewisse Gebräuche, auch wenn diese in der eigenen Heimat nicht üblich sind. Beziehung mit Folgen Norddeutschland ist nicht gerade eine Hochburg des Karnevals, aber Groß‐ firmen bemühen sich, bei solchen Anlässen ihre soziale Seite zu öffnen und laden alle Mitarbeiter zu großen Karnevalsbällen ein. In Hannover wurden wir Eine unbeabsichtigte Einwanderung 383 5 Zur Übernahme der Konstanzer Firma Pintsch Electro durch Telefunken ab 1957/ 58 vgl. B U R C H A R D T , Lothar: Konstanz zwischen Kriegsende und Universitätsgründung (Geschichte der Stadt Konstanz, 6) S.-305 ff. 6 Ebd. von Telefunken in den „Schwarzen Bär“ eingeladen, ein großes Lokal in dem mehrere Hundert Personen Platz fanden. Geschlossene Gesellschaft, Speisen und Getränke frei. Nach rund zwei Stunden waren viele der Anwesenden, milde ausgedrückt, völlig betrunken. Die etwas versteckten Ecken waren von Paaren besetzt, die alle Hände voll zu tun hatten. An einem Tisch seitlich des Saals entdeckte ich eine Gruppe, die noch kein Zeichen von Alkohol zeigte. Ich setzte mich zu ihnen und fragte, in welcher Abteilung sie tätig seien. Eine jüngere Frau antwortete: „Wir gehören zu Werk 2, sind für die kaufmännischen Belange der Firma zuständig und fühlen uns hier etwas fremd, weil wir ansonsten niemand kennen.“ Hier begann die Story aus der eine Familie mit Frau und drei Kindern werden sollte. Als sie mich etwa vier Wochen nach dem Kennenlernen ihrem Vater vorstellte, bekam ich das seit der Fließbanderfahrung vergessene Gerede wieder zu hören: „Was, ein Makkaronifresser? “ Das Gesicht meiner Freundin wurde rot, und ich dachte: „Sie kann nichts dafür“ und beschränkte künftige Begegnungen mit ihm auf ein Minimum. Anfang 1962 hatte ich den Eindruck, beruflich keine Aufstiegschance mehr zu bekommen. Das wollte ich nicht und bat meine Vorgesetzten, mich nach Konstanz zu versetzen, wo Analog- und Digitalrechner entwickelt und gebaut wurden. 5 Nach einem kurzen Schriftwechsel zwischen den beiden Per‐ sonalabteilungen ging die Versetzung äußerst schnell über die Bühne. Ich hatte gerade noch Zeit, meine Freundin, die auch bei Telefunken arbeitete, zu fragen, ob sie mit mir nach Konstanz ziehe. Ihre Versetzungsantrag wurde ebenfalls genehmigt, und ich begann im März 1962 in Konstanz zu arbeiten, während sie im Juli nachreiste. In Mai 1963 heirateten wir in Konstanz, und im Juni 1964 wurde unsere Tochter von der Hebamme mit lauwarmem Bodenseewasser gewaschen. Konstanz als idealer Kompromiss zwischen Norden und Italien Die ersten vier Monate bei Telefunken in Konstanz arbeitete ich im Prüffeld, wo Richtfunkgeräte für militärische Zwecke gebaut wurden. 6 Es war gewiss nicht meine Erfüllung, zumal ich überzeugter Pazifist war und jegliche Tätigkeit für kriegerische Auseinandersetzung verabscheute, aber hier hatte ich die Chance mehr daraus zu machen. Bei Telefunken in Konstanz gab es keine Bandfertigung, sondern u. a. Entwicklung und Konstruktion von Großrechnern, Briefsortier‐ 384 Alberto Crivellari anlagen und professionellen Magnetofonanlagen für Rundfunkanstalten. Zu meiner Entzückung waren in dieser Firma fast nur „Weißkittler“ beschäftigt, wodurch die Befürchtung, als „Spaghetti“ betitelt zu werden, nahezu null war. Es war auch wirklich so. Der Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten war in der ganzen Firma genauso freundlich und zuvorkommend wie im Labor in Hannover. Das spornte mich geradezu an meine Grenzen zu erkunden, und ich bewarb mich darum, an einem sechsmonatigen internen Programmierkurs für digitale Großrechner teilzunehmen. Nach einem bestandenen Eignungstest wurde ich vom zuständigen Abteilungsleiter gewarnt, mit meiner schulischen Voraussetzung würde ich mich mit dem neuen Stoff schwertun. Er bewunderte aber meinen Mut und Willen weiterkommen zu wollen und unterstützte mich in meinem Vorhaben oft mit zusätzlichen Erklärungen des Stoffes. Die Prüfung war schwer, aber ich habe sie bestanden. Programmiersprachen zu lernen, war damals eine Pioniertätigkeit, denn dieser Beruf war noch nicht richtig geboren. Das Studium „Informatik“ wurde erst einige Jahre später an den Universitäten eingeführt, und wir frischgebackenen Programmierer glaubten wirklich etwas Besonderes zu sein. Nachdem ich den der Kurs erfolgreich hinter mich gebracht hatte, kursierten die schlimmsten Gerüchte bezüglich der Weiterentwicklung dieser Großrechner in Konstanz. Der Bund hatte die finanziellen Mittel für die weitere Entwicklung solcher Großprojekte aufgrund der wachsenden Wirtschaftskrise eingestellt und Telefunken konnte aus eigener Kraft diese Kosten nicht tragen. Zurück ins Prüffeld wollte ich auf keinen Fall und überlegte eine Lösung in Hannover, wo bei Telefunken einer der Großrechner installiert wurde, die von Konstanz geliefert wurden. Der Gedanke, als Programmierer dort im Rechenzentrum tätig zu sein, wurde mir nach wenigen Tagen vertraut, und meine Frau war begeistert, wieder in Hannover zu Hause zu sein. Telefunken Hannover brauchte dringend Programmierer und hatte damals Mathematiker und Physiker zu Fortbildungen nach Konstanz geschickt. Der Leiter des Rechenzentrums Han‐ nover war froh, jemand einzustellen, der bereits ausgebildet war, sodass die Einarbeitungskosten entfallen würden. In Konstanz war man ebenfalls froh über diese Lösung, denn sie wussten, dass ich sonst entweder nach Italien oder in ein anderes Rechenzentrum in Deutschland gegangen wäre. Mein Anfangsgehalt am 1. August 1964 lag deutlich über dem Durchschnitt. Wir kauften unseren ersten elfenbeinfarbenen VW Käfer und bezogen eine Neubauwohnung in Hemmingen-Westerfeld, etwa 4 Km von Telefunken entfernt. Unsere Tochter wuchs die ersten zweieinhalb Jahre dort zwischen Kartoffelfeldern und Rüben auf. Während der Sommerferien fuhren wir immer nach Sestri Levante zu meinen Eltern, wo man begeistert war, wenn wir mit Kind dort ankamen. Eine unbeabsichtigte Einwanderung 385 Zweimal kamen sie auch zu Besuch nach Hannover, und mein Vater, der damals noch recht rüstig war, fuhr die lange Strecke mit einem Fiat Seicento - Hut ab, denn die Autobahnen waren damals breiter als lang. Einmal beantragte ich eine Besuchergenehmigung für meine Eltern in der Firma. Ich zeigte ihnen das Fertigungsband und Prüffelder, wo ich meine Arbeitsanfänge hatte, danach die zweite Karrierestufe im Labor, wo mein ehemaliger Vorgesetzter sich unendlich freute, mich mit meinen Eltern zu sehen. Er hat meinem Vater soviel technische Details erklärt und vorgeführt, dass der Eindruck entstand, mein Vater verstehe was von Strom, Spannung, Bits und Bytes. Mein Vater konnte nicht einmal meiner zaghaften Simultan‐ übersetzung folgen, geschweige denn den Inhalten. Nachdem wir dann im Rechenzentrum landeten, wo dieser saalgroße Rechner stand, an dem Tausende von Registern und Flipflops leuchteten, ließ ich ein von mir geschriebenes Programm über Lochkartenleser laufen. Magnetbänder und Flipflop an der Rechnerfront spielten verrückt und mein Vater platzte fast vor Stolz darüber, wieweit sein Sohn allein in der „Fremde“ gekommen war. Am 1. Januar 1967 wurde die Fusion von AEG und Telefunken als „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft AEG-Telefunken“ mit Sitz in Frankfurt am Main vollzogen. Das hatte auch Konsequenzen für Telefunken, weil nun das gesamte Unternehmen alle Arbeitsabläufe vereinheitlichen musste. Programmierer zu sein ohne eine spezielle Fachrichtung zu beherrschen, entspricht einem Reiter ohne Pferd. Mein Chef ließ mich deshalb einen Monat im Bereich der Ferti‐ gungstechnik mit den sogenannten Lager- und Stücklistenverfahren ausbilden. Das wurde mein Arbeitsgebiet für die Automatisierung der Fertigungsabläufe von Rundfunk und Fernsehen. Alle Kollegen waren so nett, dass ich heute noch, nach über vierzig Jahren, deren Namen nicht vergessen habe. Mit der Zeit suchte ich eine Abwechslung zum Programmieren bei Telefunken und bewarb mich erfolgreich bei der Deutschen Krankenversicherung in Köln. Die DKV hatte damals eines der größten IBM-Rechenzentren in Deutschland, was mich antrieb, mich beruflich weiter zu qualifizieren. Kurz vor meinem neuen Arbeitsbeginn in Köln wurde unser Sohn in Hannover geboren, das war 1967. 1969 bewarb ich mich in Genua erfolgreich als Programmierer bei der Firma Shell. Auf dem Rückweg nach Köln machte ich Zwischenstation in Konstanz, wo ich ehemalige Kollegen und Freunde besuchen wollte. Inzwischen hatte sich das Rechnergeschäft erholt und die Programmierabteilung bei Telefunken wuchs auf mehrere hundert Programmierer. Ich traf den Leiter der Program‐ mierabteilung für Betriebssysteme, der mich fragte, ob ich in seinem Team an der Entwicklung eines COBOL-Compiler arbeiten wolle und er machte mir ein unschlagbares Angebot. Ich war wie vom Blitz getroffen, rief meine Frau 386 Alberto Crivellari in Köln an, erzählte die Story, blieb ein Tag länger in Konstanz um weitere Einzelheiten zu klären und nahm einen Arbeitsvertrag mit, den ich drei Tage später unterschrieben nach Konstanz zurückschickte. Wieder Konstanz, diesmal für immer Es war wohl Schicksal. Zudem hatte ich zu diesem Zeitpunkt zahlreiche negative Beschreibungen bezüglich Arbeitsbedingungen, sozialen Leistungen und Gesundheitswesen in Italien erhalten, was meinen Entschluss erleichterte und dazu führte, dass ich bei Shell wieder abgesagt habe. In dieser Zeit wurde unser jüngster Sohn geboren. Ein Jahr zuvor, 1971, hatte Nixdorf die Großrechnersparte von AEG-Tele‐ funken übernommen woraus die Telefunken-Computer (TC) entstand. Bereits zwei Jahre später zeigte sich Nixdorf nicht in der Lage, dieses Geschäft weiter‐ zuführen und Siemens übernahm 1974 dieses Teilgeschäft und benannte es „Computer Gesellschaft Konstanz mbH“, abgekürzt CGK. Nach mehreren Jahren als Entwicklungsprogrammierer wechselte ich 1977 in die Systemberatung, war Systemberater mehrerer Universitäten sowie für den Berliner Senat und auch für AEG-Telefunken Hannover, wo ich Kurse über COBOL für meine ehemaligen Kollegen gehalten habe. Danach widmete ich mich ausschließlich dem Vertrieb von Schriftlesegeräten. Mein Vertriebsgebiet war Italien, wo ich sehr gute Umsätze erzielte. Nach kurzer Zeit war ich, auch Dank rudimentärer Sprachkenntnisse in Spanisch und Französisch, Vertriebsleiter für die Mittel‐ meerländer von Griechenland bis Portugal mit Ausnahme von Frankreich und Jugoslawien. Ein Weinkeller nebenbei Anfang der 70er Jahre fuhr ich öfter nach Italien und besuchte meine Eltern in Sestri, was meinen Kollegen nicht verborgen blieb. So wurde ich immer wieder gebeten, einige Flaschen guten Rotwein mitzubringen. Irgendwann wurde die Geschäftsidee geboren, einen Import für italienische Weine zu gründen. Dafür mietete ich mit einem Freund einen Felsenkeller in der Hoheneggstraße in Konstanz. Dieser Keller wurde bis dato für die Champignonkulturen genutzt und bot ideale Bedingungen für die Lagerung und den Verkauf von Weinen. Wir importierten zunächst die „Crivellari“-Weine, die von meinem Cousin Gianni in Rosolina bei Venedig produziert wurden. Dank der steigenden Nachfrage erweiterten wir die Importe aus verschiedenen Regionen Italiens. Später kamen auch Produkte aus Südafrika, Frankreich und Spanien hinzu. Wir steckten viel Eine unbeabsichtigte Einwanderung 387 Liebe und Arbeit in das Projekt, das doch in allen Jahren nur ein Hobby blieb, mit sehr wenigen Öffnungszeiten in der Woche. Aber bis heute erinnern sich viele Konstanzerinnen und Konstanzer an den Felsenkeller in der Hoheneggstraße, in dem es auch gesellige Weinproben mit Speisebegleitung gegeben hat. Im Jahr 1977 übernahmen wir von der Reichenau Gemüse GmbH den Nachbarkeller, der größer und komfortabler war als der ursprüngliche. Ein Glück, denn im April 2013 rutschte der Hang über dem alten Kellergrundstück ab, verlegte den Ein‐ gang und zerstörte den zugehörigen Schuppen mit unserer alten „Probierküche“. Ab 2007 war ein neuer Compagnon eingestiegen, der den Felsenkeller intensiv ausgebaut und seit meinem Ruhestand eigenständig übernommen hat. Selbständigkeit Im Jahr 1995 wagte ich den Sprung in die Selbständigkeit, kündigte bei CGK und wurde deshalb als verrückt bezeichnet. So einen tollen Job und eine gute Firma freiwillig zu verlassen, um in einer ungewissen Selbständigkeit zu beginnen. Ich wollte es wissen und ging das Risiko ein, zunächst als Teilhaber in Hilzingen, später nach erfolgtem Umzug der Firma als Inhaber und Geschäftsführer in Konstanz. Die Selbstständigkeit, man hatte mich davor gewarnt, war kein leichter Spaziergang, mit allen Facetten von negativen und positiven Phasen. Wir entwickelten und vertrieben nahezu die gleiche Produktpalette, die ich zuvor im Angestelltenverhältnis bei der CGK vertrieben hatte. CGK wurde sogar unser wichtigster Kunde für die Produkte, die sie nicht im Programm hatte. Im Kern führten wir mit unserer späteren Firma SIS/ SEAC den Vertrieb und die Adaption von elektronischen Beleglesern für bestimmte Endkunden durch. Meine neue Lebenspartnerin kam ebenfalls in die Firma und war für Finanzen und Controlling zuständig. In einem kleinen Team gelang es uns, das Geschäft erfolgreich zu übergeben, als ich 2004 aufgrund zunehmender Schwerhörigkeit vorzeitig in den Ruhestand ging. Meine Firmenanteile wurden einvernehmlich an unseren besten Softwarekunden und an meinen damaligen Firmenpartner verkauft. Staatsangehörigkeit Ich hatte mehrfach mit dem Gedanken gespielt, Deutscher Staatsbürger zu werden, allerdings waren die Bedingungen zu umständlich und das Verfahren zu teuer. Nach meiner Pensionierung musste ich aber immer stärker feststellen, dass ich mich mit dem italienischen Staat und der dort betriebenen Politik nicht einmal mehr im Grundsatz identifizieren konnte. Und so entschloss ich mich im 388 Alberto Crivellari Jahr 2019, nach einer Aufnahmeprozedur, zu der nach rund 60 Jahren Aufenthalt im Land doch noch ein schriftlicher Sprachtest gehörte, die deutsche Staatsange‐ hörigkeit anzunehmen. Bei einem Festakt im Konstanzer Landratsamt wurden den Neubürgerinnen und Neubürgern die Urkunden übergeben. Und damit wurde nun das juristisch festgeschrieben, was für den längsten Teil meines Lebens mein Alltag war. Eine unbeabsichtigte Einwanderung 389 1 M Ö H R I N G , Maren: Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012. 2 J A N Z , Oliver/ S A L A , Roberto (Hg.): Dolce vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt a.M./ New York 2011. Guinness und Pizza Luigi Pesaro aus Varese und sein Old Mary’s Pub in Konstanz Winfried Humpert Migrationsbewegungen und kulinarische Transferprozesse sind besser zu ver‐ stehen, wenn man eine transnationale Perspektive einnimmt. Im folgenden Beitrag stehen die Länder Italien und (West-)Deutschland im Mittepunkt. Da der Beitrag einen lokalen (Konstanz) und einen exemplarischen Fokus (den Gastronomen Luigi Pesaro und seine Restaurants) hat, soll diese Perspektive allerdings nur sehr kurz dargestellt werden. Ausführlich beschrieben wurde die Entwicklungsgeschichte der ausländischen Gastronomie in Deutschland erstmals von Maren Möhring in der Monographie „Fremdes Essen“ (2012) 1 . Die detailreiche Konsum- und Ernährungsgeschichte, eine Habilitationsschrift, hat einen primär süd- und südost-europäischen Blickwinkel. Die Migrationsbewe‐ gungen aus Italien - und hier vor allem aus Süditalien - und das Leben der Migranten im Nachkriegsdeutschland sind ausführlich bei Janz und Sala (2011) 2 beschrieben. Italiener und Deutsche nach 1945 Etwa ein Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs führte der wirtschaftliche Boom der Länder im nordalpinen Europa zu einer wachsenden Arbeitsmigration (zunächst) aus Südeuropa. Im Jahre 1955 wird das erste zwischenstaatliche Anwerbeabkommen für italienische Arbeitskräfte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien getroffen und bis Mitte der 60er Jahre kommen die meisten „Gastarbeiter“ aus Italien. Bezüglich der Gründung von gastronomi‐ schen Betrieben gab es jedoch bis in die 1970er Jahre bürokratische Hürden. Die behördliche Bedürfnisprüfung für ein Lokal wurde vom Bundesverfas‐ sungsgericht zwar bereits 1953 als verfassungswidrig erklärt; die einzelnen Bundesländer in Westdeutschland ließen sich allerdings unterschiedlich viel Zeit bei der Umsetzung. Auch für die neu angeworbenen „Gastarbeiter“ hing der Himmel über Deutschland nicht voller Geigen. Ressentiments und auch rassistische Stereotypisierungen sind erheblich, wie z. B. die Bezeichnung „Spa‐ ghetti- oder Knoblauchfresser“ zeigt. Italiener gelten nicht wenigen Deutschen als Messerstecher und Frauenhelden, also auch als eine Bedrohung für die (männliche) deutsche Bevölkerung. Mit der Entdeckung von Italien als Sehnsuchtsort für die Deutschen in den 1960er Jahren (Goethes Italienische Reise spielte hierbei keine Rolle) für Ferien unter Palmen am blauen Strand und dem parallel zur Arbeitsmigration anwachsenden Massentourismus ändert sich (allmählich) das Bild bezüglich der fremden (gefährlichen) Italiener. Italienische Speisen (oder was man in Deutschland dafür hielt) eroberten nun die deutsche Gastronomie. Luigi Pesaro gründete übrigens die erste Pizzeria in Konstanz, aber davon später mehr. Essen beim Italiener (nebenan) wird nun zum kulturellen Vergnügen und Cornelia Froboess trällerte ab 1962 dazu, wenn man wieder in den eigenen vier Wänden war, während italienische Klänge aus der Pizzeria noch im Ohr waren: Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein. Doch zwei kleine Italiener möchten gern zu Hause sein. Die beiden Italiener träumen von Neapel und den zurückgelassenen Frauen oder Freundinnen. Und was für die Nachkriegsdeutschen inzwischen „schick und fein“ ist, nämlich eine Reise in den Süden, ist für die beiden Italiener als „Gastarbeiter“ kaum möglich. Später im Liedtext heißt es: Zwei kleine Italiener vergessen die Heimat nie, die Palmen und die Mädchen am Strande von Napoli. Conny Froboess transportierte stereotype Projektionen von Liebeskummer und Bella Italia, die kaum der Wirklichkeit der ausländischen Arbeiter z. B. in den Stahl- und Bergwerken des Ruhrgebiets entsprachen. Die (Süd-)Italiener waren ja nach Deutschland gekommen, um die Armut in ihrem Lande hinter sich zu lassen, Aber Conny Froboess weckte mit dem Lied Reisesehnsüchte der Deutschen, die in der kleinen Pizzeria um die Ecke (oder auch in einem kurzen Sommerurlaub an der Adria) ein klein wenig gestillt werden konnten. Der Schlager war auch deshalb so erfolgreich, weil er erstmals die „Gastar‐ beiter“-Thematik musikalisch ansprach, wenn auch verzerrt romantisierend. 392 Winfried Humpert 3 S C H U C H T , Joachim. „Toskana-Fraktion“ Modernisierer mit Genussfähigkeit, in: Der Stern vom 10.07.2003. 4 V O L L E N W E I D E R , Alice: Essen in Italien, in: Wagenbach, Klaus (Hg.): Nach Italien! Anleitung für eine glückliche Reise, Berlin 2001, S.-43-60. Die Arbeitsmigranten, euphemistisch Gastarbeiter genannt, waren in den italienischen Restaurants so gut wie nicht zu sehen. Heute - 50 bis 60 Jahre später - sind die Italienerinnen und Italiener in der Mitte der Gesellschaft von Deutschland angekommen und dennoch sind auch heute noch die italienischen Restaurants vornehmlich von Deutschen besucht. Wer allerdings als Deutscher genügend Geld hat und besonders fein essen will, fährt eher z. B. im Herbst zum Trüffelessen ins Piemont oder zum Tafeln in die Toskana als in ein Pizzeria-Ristorante im Quartier zu gehen. Die „Toskana- Fraktion“ der 1990er Jahre ist ein prominentes Beispiel dafür. Politgrößen (primär aus der SPD; u. a. Björn Engholm, Oskar Lafontaine, Otto Schily, Ger‐ hard Schröder, Joschka Fischer) hatten Ferienhäuser dort gekauft oder gemietet und verbrachten dort Urlaubstage als „Modernisierer mit Genussfähigkeit“, wie Schucht im „Stern“ (2003) 3 spöttisch schrieb. Pizza und Pasta In Deutschland fasste die italienische Küche erst relativ spät Fuß. Während in den USA z. B. die italienische Pizza bereits 1905 eingeführt wurde, wurden Pizzerien hier in nennenswertem Ausmaß erst während des Wirtschaftsauf‐ schwungs nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet. In Norditalien gab bis zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Pizzerien. Das Pizzaessen in Gaststätten war bis vor etwa 50 Jahren in Italien auf wenige große Städte in Süditalien (besonders Neapel) und einige ländliche Gebiete (so z. B. Kalabrien) beschränkt. Über die italienische Küche im Allgemeinen gibt Alice Vollenweider, (2001, S.-43) 4 folgendes Bild: In Italien isst man (übrigens generell) besser als im europäischen Durchschnitt: dies gilt fürs Restaurant wie für den Familientisch und hängt damit zusammen, dass hier der Geschmack und die Freude am guten Essen zum Lebensgenuss gehören. Wie schönes Design, elegante Kleider, Musik, Oper und Malerei. Die italienische Küche war Wegbereiter für andere ausländische Küchen in Deutschland. Italienische Restaurants (aber eben nicht Pizzerien) entstanden hier bereits Ende des 19. Jahrhunderts und zur Jahrtausendwende war jede zehnte Gaststätte in Deutschland ein italienisches Lokal (Möhring, 2012, S. 238). Besonders zahlreich wurden die italienischen Eiscafés. In Konstanz Guinness und Pizza 393 5 T R U M M E R , Paul: Pizza globale - ein Lieblingsessen erklärt die Weltgeschichte, Berlin 2010. 6 G E M I G N A N I , Tony: Die Pizza-Bibel - von der Kunst perfekte Pizza zu backen. Stuttgart, 2021. eröffnete die erste und nach wie vor im Familienbesitz bestehende Eisdiele „das PAMPANIN“ im Jahre 1938 (siehe dazu den Beitrag von Franz Hofmann in diesem Band). Als Geburtsstadt der Pizza gilt gemeinhin Neapel mit der Pizza neapolitana oder Pizza Napoli. Ursprünglich im privaten Bereich als „Resteessen“ (bzw. „Arme-Leute-Essen“) daheim komponiert, kam in den 60er-Jahren das Pizza‐ essen im italienischen Ambiente mit Fischernetzen und Chianti-Flaschen mit Hanfgeflecht und Bildern mit Sonne und Strand am blauen Meer (Capri) als Freizeitgenuss in Mode. Diese folkloristischen Inszenierungen der italienischen Restaurants trugen besonders dazu bei, dass die inzwischen Mittelmeer-Reisenerprobten Gäste gern ein Pizzeria-Ristorante aufsuchten. Die ursprüngliche neapolitanische Pizza hatte wenig Belag. Möglichst selbst hergestellte Soße sonnengereifter italienischer Tomaten und Mozarella reichten für die Pizza Margherita völlig aus. Eine besondere Kunst war die Teigherstel‐ lung. Die Kunst des handwerklichen Pizzabackens wurde übrigens 2017 von der UNESCO als Weltkulturerbe geadelt. Das Verdienst liegt vor allen an den Pizzabäckern aus Neapel, die zudem als die schnellsten Köche der Welt gelten. Paul Trummer 5 zeigt in seinem Buch Pizza Globale schon vor über einem Dutzend von Jahren auf, wie die globalisierte Weltwirtschaft auch vor den Pizzabäckern nicht halt macht. Überall auf der Welt sind gastronomische Handelsketten (z. B. Pizza-Hut) entstanden und in den Supermärkten und im Einzelhandel werden - wie bereits erwähnt - im Jahr allein in Deutschland eine Milliarde Tiefkühlpizzen mit normierten Zutaten verkauft, die aus dem Chemielabor stammen und immer gleich schmecken. Aber vielleicht haben Sie auch Lust bekommen, mal eine Pizza selbst zu backen. Im Rezeptbuch des 13-fachen Pizza-Weltmeisters Tony Gemignani (2021) 6 können Sie vielleicht noch etwas dazulernen, z.-B. wie man einen guten Vorteig macht. Parallel zur Pizza kamen die - viel länger bestehenden - italienischen Nudeln nach Deutschland, die schnell (vor allem) als Spaghetti im deutschen Wirtschaftswunderland einen großen Ruf genossen und im Supermarkt auch mit industriell vorgefertigter portionierter Tomatensoße als „Miracoli“ für die deutsche (Schnell-)Küche angeboten wurden und werden: Wie wunderbar, igitt! Nudeln haben in Italien eine Tradition, die weit ins Mittelalter zurückführt und Italienerinnen und Italiener schwärmen nach wie vor von Spaghetti mit selbstgemachten Soßen als Hochgenuss. So schreibt etwa der Neapolitaner 394 Winfried Humpert 7 M A R O T T A , Giuseppe: Spaghetti, in: Wagenbach, Klaus (Hg.) Mein Italien, kreuz und quer. Berlin 2004, S.-149-157. Guiseppe Marotta 2004) 7 in einem Aufsatz mit dem Titel schlichten Titel „Spaghetti“: Was hinterlasse ich wohl meinen Kindern, wenn nicht die Spaghetti, die ich erbte (2004, S.-149). Abb. 1: Nudelmacherinnen in Italien um 1385 Da wird das drei Jahre früher entstandene oben angeführte Zitat von Alice Vollenweider über die italienische Küche auf einmal verständlich. Guinness und Pizza 395 Die erste Pizza in Konstanz In Konstanz gab es außer der Eisdiele Pampanin bis in die 1960er Jahre nur einen italienischen gastronomischen Betrieb, das Eiscafé-Restaurant „Roma“ in der Hüetlinstr. (heute Restaurant „Pfannkuchen“). Das Roma wurde allerdings bereits nach wenigen Jahren aufgrund von Beschwerden aus der Nachbarschaft wegen Lärmbelästigung geschlossen (s. Möhring, a.-a.-O. 2012, S.-255). Die Geschichte der Pizza in Konstanz beginnt einerseits in einer nord‐ italienischen Schule, in welcher der Lehrer von Luigi Pesaro die Schüler für die Idee des vereinten Europas zu gewinnen versuchte und ihnen die Römischen Verträge erklärte. Luigi fing Feuer für die europäischen Gedanken. Andrerseits sollte Luigi ein paar Jahre später zum Militär eingezogen werden. Diese Vorstellung gefiel Luigi gar nicht. Die Alternative war, ins Gefängnis zu gehen oder zehn Jahre ins Exil. Der gerade erwachsene Luigi wählte die zweite Möglichkeit (das verlockende (Nord-)Europa), setzte sich 1962 in Varese nicht weit vom Luganer See auf seine Vespa, überquerte damit die Alpen und fuhr weiter gen Norden über 2000-km auf zwei Rädern bis er in Stockholm ankam. Nach drei Monaten Aufenthalt in Stockholm, bekam Luigi, der in Stockholm nicht gleichzeitig eine Wohnung und Arbeitsstätte nachweisen konnte - dann von einem schwedischen Beamten eine Zugfahrkarte nach Hamburg in die Hand gedrückt - der kurze Aufenthalt in Schweden war behördlich beendet. Um in Schweden Aufenthaltsrecht zu haben, musste Arbeitsstelle und Wohnung nachgewiesen werden. Aber ohne Wohnung gab es keine Arbeitsstelle und ohne Arbeitsstelle keine Wohnung: wie bei der Katze, die sich in den Schwanz beißt. Von Hamburg ging es dann nach Wuppertal, wo Luigi Bekannte hatte. Hier arbeitete er rund drei Jahre, zunächst in verschiedenen Bereichen, zuletzt in der Gastronomie. Während der Stahlkrise im Ruhrgebiet mit Absatzschwierigkeiten durch Überproduktion Mitte der 1960er Jahre wurden die Aussichten in der Gastronomie im Ruhrgebiet schlechter und Luigi und sein Chef planten in einem Touristengebiet (Nordsee oder Bodensee) gastronomisch tätig zu werden. Luigi Pesaro zog es ein Stück zurück gen Süden und er ließ sich in Konstanz nieder. Die 1966 neu gegründete Universität Konstanz versprach ein wachsendes Zielpublikum für preiswertes Essen und (exklusiveres) Trinken. Und Luigi servierte im „Grill Room“ ab 1968 in der Konstanzer Bahnhofstr. - wie er es schmunzelnd nennt - das (in Konstanz noch unbekannte) „Ruhrge‐ biets-Programm“: Brat- und Currywurst, Spaghetti und Pizza. Übrigens alles auf Porzellantellern (der Zeit voraus bezüglich Nachhaltigkeit). Luigi schob also die allererste Pizza in Konstanz in den Backofen, die hier käuflich zu 396 Winfried Humpert erwerben war. Das „Ruhrgebiets-Programm“ bietet also auch in Konstanz ty‐ pisch italienische und typisch deutsche Speisen der schnellen Küche gleichzeitig an. Es handelt sich also bewusst nicht um ein Pizzeria-Ristorante, wie diese in den 1960er Jahren und verstärkt in den 1970er Jahren in Westdeutschland gegründet wurden. Hervorzuheben ist in Zeiten des Bewusstseins für den Klimawandel, dass Luigi schon 1968 alle Speise (einschließlich Curry-Wurst) auf Porzellantellern servierte. Old Mary’s Pub (N°1) ab 1973: Das erste Pub in Konstanz Getränke nahmen eine gewisse Sonderstellung in Speiselokalen ein. In den italienischen Pizza-Ristorante wurden (vor allem rote) italienische Weine wie Chianti oder Lambrusco serviert. Ausländisches Bier wurde besonders in den Pubs, die Ende der 1960er, anfangs der 1970er Jahre zuerst in den größeren Städten in Deutschland aufkamen, gezapft. Die Guinness-Brauerei brachte in Folge der Marktliberalisierung durch die EWG ganze Pubs mit Personal nach Deutschland. In Konstanz sah Luigi Pesaro hier die Chance in der Unistadt mit stark wachsenden Studentenzahlen Guinness in seinem Pub einzuführen. 1973 zog Luigi Pesaro in größere Räumlichkeiten in der Hüetlinstraße 8a um und konzipiert mit dem „roten“ Pub ein Lokal, in dem es in Konstanz das erste irische Bier vom Fass, nämlich Guinness, zu trinken gab. In dem Studentenlokal wurden zunächst ausschließlich Getränke verkauft und es heißt immer noch - wie vor 50 Jahren - „Old Mary’s Pub“. Die Wände sind mit alten, teils sehr großen, historischen Fotos von Personen (weitestgehend in Schwarzweiß) behängt, die Luigi in jahrelanger Suche zusammengestellt hatte. Für die Studentinnen und Studenten war das OMP so ein internationaler (europäischer) Wohlfühlort: irisches Bier, Fotos unbestimmter Herkunft und ein italienischer Wirt, der gut deutsch sprach und sich für das Leben der Studierenden interessierte. Kein Wunder, dass sie Luigi bald fragten, ob sie nicht im Pub auch etwas zu essen bekommen konnten. Und so wurde von Luigi wieder Pizza gebacken, selbstverständlich immer mit eigens frisch gefertigtem Teig und diesmal in englisch/ irischer Pubatmosphäre mit Guinness auf der Getränkekarte. Und wenn die Studis kein oder zu wenig Geld dabei hatten - was ja durchaus öfter vorkam - bekamen sie Kredit beim Wirt mit der Laufzeit bis zum nächsten Besuch im Pub. Guinness und Pizza 397 8 G Y R , Marcel: Letzter Ausweg: Kreuzlingen - Konstanz am ersten Samstag nach dem Fall des Mindestkurses, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19.1.2015, S.-11. Old Mary’s Pub (N°2) ab 1980 Der Umzug des OMP von der Hüetlinstraße in die Kreuzlingerstraße 19 war sozu‐ sagen ein Aufstieg in den architektonischen und kulinarischen „Olymp“. Allein die Außenfassade mit den bleiverglasten Fenstern mit den Halbbögen des Jugendstil‐ hauses war mehr als einladend. Im Inneren gaben die ganz im Stil englischer Pubs gehaltenen dunkelroten Teppichböden und die roten und dunkelgrünen Tapeten und die rot gepolsterten Sofas eine ganz eigene, entspannende (Pub-)Atmosphäre. Die erhöhten Sitzplätze am Fenster zur kleinen Nische waren hochbegehrt und im Nebenzimmer waren (Studenten-)Gruppen versammelt. Marcel Gyr schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (19.1.2015, S.-11) 8 : Als das Konstanzer Old Mary’s Pub 1973 seinen Betrieb aufnahm, gab es sich revolutionär und schenkte in einer der Hochburgen des deutschen Pils als erstes Lokal Guinness aus. Mehr als 40 Jahre später gab es das Old Mary’s Pub noch immer. Die einstige Studentenkneipe hat sich zum Treffpunkt für Professoren und andere Teile der Konstanzer Kultur-Intelligenzia gewandelt. Nun kann man sicher darüber streiten, ob Konstanz 1973 mit seinen (damals) etlichen Weinstuben „eine Hochburg des deutschen Pils“ war - eine eigene Traditions-Brauerei hat Konstanz allerdings schon. Unbestritten ist natürlich, dass Luigi Pesaro mit seinem OMP das erste Guinness in Konstanz einführte, und zwar in Schankräumen mit besonderer Atmosphäre. In der Reihe des Südkurier „Wie lebt es sich in Konstanz“ schreibt z.-B. Michael Buchmüller über den Stadtteil Stadelhofen (18.3.2021, S.-20) und erwähnt als herauszuheben den „Old Mary’s Pub mit seinem heimeligen Schankraum“ (Hervorhebung vom Autor). Der Schankraum hat nicht nur ein heimeliges Ambiente, sondern auch eine besondere Pub-Atmosphäre. Die von Luigi Pesaro über längere Zeit persönlich gesammelten und gehängten alten (Personen-)Fotos machen den Pub darüber hinaus unverwechselbar. 398 Winfried Humpert Abb. 2: Anne und Luigi Pesaro im Schankraum OMP N°2 Antonio Lelitro: lebenslanger Süditaliener und leidenschaftlicher Pizzabäcker Und in der Gastronomie erweitert sich die Palette. Mit dem Eintritt des leiden‐ schaftlich süditalienischen Kochs Antonio Lelitro ins Pub wird der hybride Charakter des OMP erweitert. Inzwischen stehen neben verschiedenen Pizza‐ varianten und Nudelgerichten auch (elsässische oder badische) Dünnele auf der Speisekarte. Und etwas nostalgisch wird auch Toast Hawai serviert. Die in den 1980er Jahren beliebte Pizza Hawai (mit einer Scheibe Ananas belegt) gab es im OMP allerdings nicht. Die 1984 gegründete „Associazione Verace Pizza Napoletana“ führte einen öffentlichen Kampf gegen die „kulturelle und kommerzielle Deformation der ursprünglichen Pizza. Die Debatte um die Pizza Hawai wurde von einem Pizzabäcker aus Neapel bis in die New York Times getragen. Sein Urteil: „Eine Pizza mit Ananas? Das ist ein Kuchen! “ (Zips, 2021, Guinness und Pizza 399 9 Z I P S , Martin. Aufregung um die Ananas. Ist eine Pizza Hawai richtig lecker oder eher eine böse Geschmacksverirrung? in: Süddeutsche Zeitung vom 17.05.2021, S.-8. 10 I L L U Z , Eva: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt/ New York 2003. S. 8) 9 . Auf Facebook wurde später die Debatte hochgekocht. Unter dem Motto „Ananas gehört NICHT auf die PIZZA“ startete 2009 eine sehr erfolgreiche Seite, ab 2015 folgte eine Reddit-Gruppe, in der sich Zehntausende als „Ritter der Ananas“ profilierten. Die Debatte ging bis in die hohe Politik. Aber zurück ins OMP. Abb. 3: Luigi mit Koch Antonio vor dem Pub Wenn die Zeit es eben erlaubt, bringt Antonio die Pizza rund 30 Jahre lang persönlich aus der Küche in den Gastraum, begleitet von ein paar freundlichen Worten auf Italienisch für die Gäste, die vorwiegend zu zweit oder als Gruppen ihre Pizza genießen. Im weiteren Sinne passt hier vielleicht auch im OMP für einen Teil der Paare die Beschreibung zum Pizzeria-Ristorante von Maren Möhring (2012, S.-251) die in Anlehnung an Eva Illuz (2003) 10 folgert: 400 Winfried Humpert Im Zuge der zunehmenden (…) Abhängigkeit der Liebe und der Paarbeziehung vom Wa‐ renkonsum avancierte das gemeinsame Abendessen in einem (italienischen) Restaurant zu einem Konsumakt, der als „symbolischer Ausdruck des Verliebtseins“ begriffen wurde. Für Antonio, der Jahrzehnte im OMP in der heißen Küche stand und den Pizzateig fachmännisch mit den Händen bearbeitete, war es sehr wichtig, dass die Gäste mit ihrer Pizza auch zufrieden waren. Dies wurde auch daran gemessen, dass die Gäste ihre Pizza auch aufessen. Eine Episode, die sich vor etwa zehn Jahren im Pub zugetragen hat, möge dies belegen: Ein Stammgast saß am vorderen Ende der Theke, war mit dem Essen fertig und hatte noch einige Reste vom Rand der Pizza auf dem Teller liegen. Antonio kam vom Servieren aus dem Gastraum auf dem Weg zur Küche am Tresen vorbei und sieht die Reste. Prompter strenger Kommentar von Antonio zum Gast: „Wenn Du die Pizza nicht aufisst, nimm doch in Zukunft eine Kinderpizza, damit nichts übrig bleibt! “ Zum Verständnis muss hinzugefügt werden, dass es auf der Speisekarte keine Kinderpizza gab. Das war ein besonderer Service (und kindgerecht preiswert), nach dem man die Bedienung im Pub fragen musste. Und zusätzlich zum Pizzabacken hielt Antonio das Pub „sauber“. Der Autor wurde Zeuge folgender Szene: Drei - nicht sehr vertrauensvoll wirkende - junge Männer betraten eines Abends das Pub und hielten sich dort im Eingangsbereich stehend eine Weile auf ohne Kontakt mit der Bedienung aufzunehmen. Nach einiger Zeit kam Antonio hoch aufgerichtet und zügigen Schrittes aus der Küche. Nino, die Bedienung, hatte den Alarmknopf hinter der Theke gedrückt. Antonio ging mit absolut streng fixierendem Blick auf den nächststehenden los und sagte in scharfem Ton lediglich das Wort „Amigo“. Die drei Männer verließen das Lokal umgehend. (Antonio erläuterte später mal, wie er die Technik des Umgangs gelernt hatte). Und in entspannten Momenten griff Antonio auch ab und zu mal zur Guitarre und sang ein paar populäre Songs im Pub. Guinness und Pizza 401 Abb. 4: Gäste im Pub Jazz in Old Mary’s Pub Und auch sonst wird für gute Laune im OMP gesorgt. Jeden letzten Sonntag‐ abend im Monat war Jazz im OMP. In Kooperation mit der Jazz- und Rockschule Konstanz spielen Jazzbands auf hohem Niveau aus der näheren und auch wei‐ teren Umgebung. Der Saal ist in aller Regel brechend voll, ein Teil der Gäste hat Stehplätze und die Stimmung ist bestens. Von der Jazz- und Rockschule Konstanz sorgten Klaus Knöpfle und Lisa Rüppel für ein vielfältiges und anspruchsvolles Programm. Lisa Rüppel tritt öfter im Pub auch mit ihrem Altsaxophon auf, was die Stimmung nochmals steigert. Abb. 5: Jazz im OMP 402 Winfried Humpert Die „Uni-Filiale“ des OMP „Die Arche“ In den 1980er Jahren übernahm Luigi Pesaro auch zusätzlich noch ein Speise‐ lokal in der Uni Konstanz, die Arche, ein Lokal, wo die Studierenden und Angestellten bewusst die Uni und Vorlesungen „draußen lassen“ konnten. Die Architekten hatten bewusst im Inneren des Hauptgebäudes der Uni einen fensterlosen Raum als Gaststätte, in dem von der übrigen Uni nichts sehen und hören konnte, sozusagen eine Arche des Geistes, wo man seine Pizza genießen konnte, ohne an Hausarbeiten und Prüfungen zu denken. An der Uni versorgte Luigi übrigens bei zahlreichen Festen die Studierenden Jahrzehnte lang mit Pizza u. a., wofür er vom ASTA der Uni Konstanz für „30-Jahre-Studi-Pizza“ eine besondere Ehrung von rund 1000 Studentinnen und Studenten bekam (s. unten: Absatz „Anerkennungen“) Luigi lernte übrigens in der Uni seine spätere Frau, Annegard Heilig, kennen, die - während sie ihre Doktorarbeit in Biologie schrieb - auch öfter in der Arche eine Pause machte. 50 Jahre, 51 Wochen pro Jahr, sieben Tage pro Woche Arbeitseinsatz im Pub Luigi arbeitete eigentlich immer. Er kommt allein auf 50 Jahre Arbeitszeit in Konstanz (47 Jahre im Old Mary’s Pub und 3 Jahre im Grillroom). In dieser Zeit machte er pro Jahr fast jedes Jahr nur eine Woche Ferien (da ging es dann meist nach Italien, oft in die alte Heimat Varese, weitere Reisen waren absolute Ausnahme). Der Ehrlichkeit halber muss hinzugesagt werden, dass zwischen den Jahren ab und zu ein paar Tage zum Langlaufen in Pontresina im Engadin hinzu kamen; (dort wo sich die frühere Bundeskanzlerin beim Langlaufen mal einen Beckenriss zuzog). Und die Woche hatte sieben Tage Arbeit bei Luigi (O- Ton: „Miete zahlt man für jeden Tag“). Das ist auf der Eingangstreppe zum OMP mit einem Messingschild festgehalten: „geöffnet täglich ab 17 Uhr“. Und Luigi war bei der Arbeit ganz Italiener: er hatte (so gut wie) immer gute Laune und im Pub hatte er immer ein paar freundliche Worte für die Gäste. Seltene Ausnahme war, wenn z. B. die studentischen Aushilfen die leeren Kästen nicht in den Keller getragen oder das neue Fass nicht rechtzeitig anschlossen hatten, dann konnte es kurzzeitig auch mal lauter werden. Wenn es abends im Pub leerer wurde, setzte sich Luigi auch mal im hinteren Raum am Abend zu den Gästen und trank ein Glas Rosé oder einen Grappa und dann brachte er den Gästen auch seine Gedanken nahe, z. B. zu Europa, einer europäischen Außenpolitik und europäischen Armee und auch einer europäi‐ schen Sprache. Da präsentierte er gründlich durchdachte Konzepte, bei denen Guinness und Pizza 403 11 Vgl. dazu weiter: R Ü G E R T , Walter/ T H E L E R , Andy (Hg.): Vom Grenzzaun zur Kunstgrenze. Zur Geschichte eines außergewöhnlichen Projekts (Keine Schriftenreihe des Stadtar‐ chivs Konstanz, 8) Konstanz 2007. 12 S C H U L E R , Andreas: Luigi Pesaro sagt leise Ciao zum Old Mary‘s, in: Südkurier vom 25.01.2020, S.-19. man es nicht leicht hatte, Zweifel zu äußern. Und seinen europäischen Geist zeigte Luigi nicht zuletzt beim (symbolischen) Durchschneiden des Deutsch- Schweizer Grenzzauns auf Klein Venedig, der dort von 1938/ 1939 gestanden hatte und 2006 abmontiert wurde. Heute stehen dort zur Symbolisierung der Grenze große Skulpturen und markieren die „offene Kunstgrenze“. 11 Und wenn der letzte Gast am Abend das Pub verlassen hatte, war es Luigi, der den Rollladen der Eingangstür herunterließ. Und es kam danach durchaus nicht selten vor, dass Luigi die letzten Stammgäste noch zu einem Gläschen einlud und dann - zu später Stunde - durch den Nebenausgang (Künstlerausgang, wie Luigi sagte) verabschiedete. Es gäbe noch sehr vieles aus Luigis Leben im OMP zu berichten. Aber manches muss auch privat bleiben; das gehört sozusagen nicht in die Zeitung. Und nach 52 Jahren Gastronomie in Konstanz macht Luigi Pesaro im Jahre 2020 (bedingt auch durch Corona) eine Zäsur: Er gibt das OMP in jüngere Hände. Nach 48 Jahren Old Mary’s Pub wurde Luigi auch noch angemessen vom „Südkurier“ verabschiedet. Das Kultlokal Old Mary‘s Pub hatte sozusagen seine Seele verloren. Hier sei lediglich der erste Satz aus dem Beitrag auf der Konstanzer Seite von Andreas Schuler wiedergegeben: Es gibt nicht wenige Konstanzer, die behaupten, Luigi Pesaro sei der sympathischste und liebevollste Wirt der Stadtohne damit irgend jemand anderen auf den Schlips treten zu wolllen. (SK, 25.1.2020, S.-19).  12 Aber Luigi wäre nicht Luigi, wenn er sich 2020 einfach zur Ruhe gesetzt hätte. 404 Winfried Humpert 13 Z I M M E R M A N N , Thomas Ede: Intensional Logic And Two-Sorted Type Theory, in: The Journal of Symbolic Logic. Vol. 54, 1, 1989. Abb. 6: Luigi und Anne Pesaro vor OMP 2020 (Foto: Oliver Hanser) Anerkennungen Luigi hatte Old Mary’s Pub bewusst als Studentenlokal gegründet. Das zeigt sich auch schon an der Speisekarte von 1973, wo das Cover bewusst auf englisch (und nicht italienisch oder deutsch) beschrieben ist. Für das Guinness gibt es englischsprachige Werbung: z. B. feel irish o.ä.), was die zukünftige Akademikerschaft anspricht. Und neben der Studierenden fanden sich auch die Assistenten und (natürlich in kleinerer Zahl) Professoren im OMP ein. Und zum Schluss von Luigis Old Mary’s Zeit kam auch so mancher ehemalige Student oder die ehemalige Studentin (oft von fern beim Bodenseebesuch) zurück ins Pub, um mal wieder eine Pizza dort zu essen. Bei den Studierenden begann es mit der Matrikelnummer 0018, inzwischen sind die Matrikelnummern schon lange fünfstellig. Unter ihnen z. B. der ehemalige Student der Universität Konstanz, Wu Xiaobing, der nach seiner Promotion zur Pharma-Firma Pfizer ging und dort zum Country Manager Pfizer China und Regional President aufstieg. Besonders erwähnenswert aus dem Lehrkörper ist eine Gruppe (junger) Wis‐ senschaftler der Linguistik (die Linguisten der Universität Konstanz genossen in den 1970er und 1980er Jahren übrigens national und auch international einen besonders guten Ruf), die sich regelmäßig im OMP trafen. Hier wurde auch von Professor Zimmermann ein Teil eines wissenschaftlichen Artikels für das Journal of Symbolic Logic vorbereitet, der 1989 13 erschien. Bei dem englischsprachigen Aufsatz steht direkt unter Titel und Namen des Autors Ede Guinness und Pizza 405 Zimmermann auf deutsch folgende Widmung: Den Herren Alain Féry und Luigi Pesaro gewidmet. Und auf dem Sonderdruck für Luigi Pesaro ist handschriftlich über dem Titel folgende besondere zusätzliche Widmung hinzugefügt: „Für Luigi, den spirituellen Mentor, Ede“. Luigi und die Atmosphäre im Pub trugen also offensichtlich zur Förderung der Wissenschaften bei. Das liegt nicht zuletzt am unermüdlichen Einsatz von Luigi im Pub, der aber auch oft ein (Fach-)Gespräch mit den Gästen einschloss. Während seiner Zeit im Old Mary’s Pub konnte Luigi insgesamt sechs runde Geburtstage feiern. Ein besonderer Geburtstag ist Luigis 70ster. Als Gratulant kommt auch der Besitzer des besonders schönen Jugendstil-Gasthauses, Wil‐ derich Graf von und zu Bodman, ins Pub. Luigi Pesaro hatte das ganze Haus von diesem 1980 gemietet und lebte dort mit seiner Frau auch privat bis 2022. Abb. 7: Graf von Bodman gratuliert Luigi Pesaro zum 70. Geburtstag Eine besondere Ehrung für Luigi Pesaro ist auch der Gastro-Preis für sein Lebenswerk durch die Konstanzer Gastronomie. Mit dem Preis in der Kategorie Lebenswerk wurde Luigi besonders für die Führung des Old Mary’s Pub geehrt. Der „Südkurier“ titelte am 17. Januar 2007: „Diplom nach ‚78 Semestern‘“ und 406 Winfried Humpert 14 P I L Z , Dieter: Diplom nach 78 Semestern, in: Südkurier vom 17.1.2007, S.-3 15 Und weil Luigi Pesaro so stadtbekannt ist, und weil fast jede und jeder nur „Luigi“ sagt, wäre es auch im Kontext dieses Textes unpassend nicht nur von „Luigi“ zu sprechen. 16 S C H U T Z -F R I E S E , Fritjof: Kein „Pizza-Doktor“ für Luigi Pesaro von Uni Konstanz---doch Ehrenurkunde vom ASTA in: Bodensee-Woche vom 15.10.2010. spielt damit auf Luigis 39-jährigen Einsatz für die Konstanzer Gastronomie. Und der Autor des Artikel Dieter Pilz 14 schreibt unter diesem Titel u.-a. „Den Preis der Jury für das Lebenswerk erhielt unter heftigem Applaus, Luigi Pesaro […] Das bekannteste seiner zahlreichen gastronomischen Unternehmen, das er in 39 Jahren Konstanz prägte, ist mit Sicherheit das Old Mary’s Pub. Schließlich ist es seit seiner Eröffnung 1973 bis zum heutigen Tag eine der beliebtesten Studentenkneipen der Stadt. In Konstanz gibt es heute kaum jemand der Luigi nicht kennt“.  15 Im Jahr 2010 bekommt Luigi, der hier 30 Jahre lang für die Uni-Feste der Studierenden Pizza gebacken hat, noch eine besondere Ehrung der Studenten‐ schaft, die auf der Befragung von annähernd 1000 Studierenden basierte (2010 hatte die Uni Konstanz knapp 9000 Studierende. Fritjof Schultz-Friese (2010) 16 kommentiert die Ehrung so: „Kein „Pizza-Doktor“ für den 67-jährigen Kult-Wirt Luigi Pesaro von der Konstanzer Uni, aber doch eine Ehrenurkunde von der Studentenvertretung ASTA,. Hier heißt es: Vielen Dank für 30 Jahre. Mit besten Wüschen ASTA-Konstanz.‘ (fett vom Autor) Bei der Ersti-Party, mit Begrüßung der Neuen auf drei Dance-Floors feierten die Studenten den kleinen umtriebigen italienischen Pizzabäcker aus Varese…“ Und noch eine ganz besondere Ehrung für Luigi darf in Konstanz nicht unerwähnt bleiben: An der Fasnet 2012 erhält Luigi vom Schneckenburger Präsidenten Jürgen Stöß den närrischen Verdienstorden im Konzil verliehen. Als Gondoliere von Venedig nimmt Luigi mit gestreiftem roten T-Shirt und Kapitänsmütze und einem Blech voll mit Pizza die Ehrung lachend entgegen. Aber wer denkt, Luigi hätte sich auf seinen Lorbeeren ausgeruht, kennt Luigi wirklich nicht. Zunächst führt er noch ein Jahrzehnt das Pub weiter, bis die Corona-Jahre den fast 80-jährigen zum (etwas) „kürzer treten“ bringen. Im Jahre 2020 übergibt er nach fast 50 Jahren das wirkliche Kult-Lokal in jüngere Hände, wie er so schön sagt. So geht es weiter: Das Eishandwerk ANeLU in Konstanz Anne Pesaro verkaufte zusätzlich Natureis ab 2008 in Ihrem Eiscafé am Hafen und produzierte später im Eislabor im Untergeschoss des OMP verschiedenste Guinness und Pizza 407 17 P F E I F F E R , Eva Maria: Frauenpower am Bodensee - Die Foodverrückten, in: Slow Food, 2018, Heft 1, S.-30-32. Eissorten ohne Chemie und Geschmacksverstärker unter dem Namen ANeLU Eishandwerk, das in Konstanz und Umgebung verkauft wird. Der „Brand Name“ des Eises erklärt sich, wenn man liest, was Eva Maria Pfeiffer unter der Überschrift „Wahre Liebe, eiskalte Leidenschaft“ im Magazin Slow Food 2018 17 auf Seite-32 schreibt (und auf die Anfangsbuchstaben der Vornamen achtet). Anne Pesaro hat zwei große Lieben im Leben. Die erste heißt Luigi, kommt aus Varese in Italien und ist ihr Mann. Für ihn hat sie ihren Beruf als promovierte Biologin im Fach Genetik hinter sich gelassen. Die zweite leidenschaftliche Liebe gilt dem Eis, das sie heute nach traditionell italienischer Methode herstellt - aus Naturprodukten, ohne- Farb- und Aromastoffe und nicht auf der Basis von Pasten, wie es die meisten Eisdielen machen. Für besondere private Anlässe (Hochzeiten, Geburtstage usw.) fertigt Anne Pesaro sie auch kunstvolle Eistorten und (wo gibt es die sonst) sog. Eisbomben an. Und im Old Mary’s ist nach wie vor ausschließlich Anne Pesaro für die Desserts zuständig. Sie hatte in Uwe Kochs Eisfachschule beim „Eis-Papst“) in Berlin das Eismachen gelernt und ist seit rund einem Jahrzehnt fachlich geprüfte Speiseeisherstellerin. Für die besondere Qualität Ihres Eises wurde sie übrigens mehrfach ausgezeichnet; so gewinnt sie z. B. den Gelato World Challenge mit ihrer Eiskreation „Persische Versuchung“ 2017 für Süddeutschland. Abb. 8: Anne Pesaro mit Eistorte 408 Winfried Humpert 18 H E R R , Sylvia: Dienstältester Gastronom. Gastgeber in Konstanz (22); Luigi und An‐ negard Pesaro im Old Mary’s Pub in der Kreuzlingerstraße, in: Stadtwerke Direkt. Kundenzeitung der Stadtwerke Konstanz (Heft 4) 2018, S.-16-17. 19 Dieser Aufsatz hätte nicht entstehen können ohne die große Hilfe von Anne und Luigi Pesaro, die mir ihre gesamten Berichte und Fotos zum Pub zur Verfügung stellten. Den Grundstein für diesen Artikel legten zudem die jahrelangen Pubbesuche, in denen (meist im Nebenzimmer) mit Luigi, Antonio und einigen Gästen sozusagen „oral history“ betrieben wurde, die unvergesslich ist. Anne arbeitet bei der Eisherstellung - wie gesagt - nach wie vor nur mit natürlichen Zutaten, und das schmeckt Frau und Mann natürlich. Das Eis von Anelu Eishandwerk wird in zahlreichen Cafés und Gaststätten und natürlich im Old Mary’s Pub in Konstanz und der Region verkauft. Luigi ist hier (mit neuer Aufgabe nach sechs Jahrzehnten) für den Kundenkontakt zuständig. Und die ehemalige Schwarzwälderin Anne verrät gern ab und zu mal auch ein Eisrezept zum Selbermachen. Wie wär‘s mit einem Tannenhonig-Parfait? Nachzulesen ist das Rezept in der Präsentation von Old Mary’s Pub von Sylvia Herr (2018) 18 . Anne Pesaro hält - wie Luigi auch - nicht viel von Ruhestand. Sie ist noch fast täglich im Eiskeller unter dem Old Mary’s Pub, anzutreffen. Und mit etwas Glück trifft man dort auch heute noch den dienstältesten Gastronomen von Konstanz, ihren Ehemann Luigi, der dort gerade das Eisauto belädt. 19 Und hier endet vorläufig die Geschichte von dem Italiener Luigi Pesaro, dem überzeugten Europäer, der seit 55 Jahren in Konstanz lebt und seinen Gedanken der Völkerfreundschaft durch seine Offenheit und Kontaktfreudig‐ keit lebenslang gepflegt und auch genossen hat. Und der sich heute noch gern regelmäßig ein Eis seiner Frau Anne gönnt - Italiener sind eben Feinschmecker, wie eingangs aus der Literatur ja schon belegt. Guinness und Pizza 409 1 O E R G E R , Michael: Partnerschaften in Europa. München 1992, S. 5. sowie F R E Y , Daniela/ H I R T , Claus-Dieter: Französische Spuren in Konstanz (Kleine Schriftenreihe des Stadt‐ archivs Konstanz, 11) Konstanz 2010, S.-135. Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei Claus-Dieter Hirt In letzte Zeit wurden Stimmen lauter, die danach fragen, warum heute noch Städtepartnerschaften notwendig seien. Ihnen sei geantwortet: „Der europäi‐ sche Einigungsprozess ist ein in der Geschichte beispielloses, weit fortgeschrit‐ tenes aber längst nicht abgeschlossenes Unternehmen. Städtepartnerschaften, wie sie vornehmlich in Zentraleuropa von Land zu Land gepflegt werden, sind eine Schöpfung der Nachkriegszeit und haben wesentlich mit dazu beige‐ tragen, die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten, die sich über Jahrhunderte bekriegten, von Grund auf zu verändern und auf das alltägliche Leben von Zehntausenden von Europäerinnen und Europäern auszustrahlen. Wie selbstverständlich finden sich deshalb am Ortseingang zahlreicher Städte und Gemeinden Hinweise auf Partnerschaften mit ausländischen Kommunen. Was heute als normal gilt, war in den 1950er und 1960er Jahren eine Pioniertat, ein mühsames Geschäft, bei dem es vielerlei Hürden zu nehmen galt. Die Hypothek der Vergangenheit wog schwer, und es bedeutete, bei der Anbahnung grenzüberschreitender Kontakte Ressentiments und über Jahrzehnte von allen Seiten genährte Vorurteile abzubauen“ 1 . Städtepartnerschaften beruhen auf den Werten Europas und des Humanismus. Sie sind nicht nur eine symbolische Geste, nicht nur ein Zeugnis des Friedens und der Brüderlichkeit; sie sind ein konkreter Akt, der Beziehungen zwischen den Institutionen, den Vereinen und den europäischen Bewohnerinnen und Bewohner fordert und fördert. Viele der gemeinsam initiierten Projekte richten sich an die Jugend und werden durch die verschiedensten EU-Fördertöpfe unterstützt. 2 Dr. Horst Eickmeyer, deutscher Verwaltungsjurist und Politiker (FWG) war von 1969 bis 1980 Bürgermeister in Meersburg und von 1980 bis 1996 Oberbürgermeister von Konstanz. 3 Niederschrift über die öffentliche Gemeinderatssitzung vom 2. September 1982. Warum Lodi? Seit 1960 verbindet Konstanz eine überaus erfolgreiche und von breiten Bevöl‐ kerungsschichten getragene Städtepartnerschaft mit Fontainebleau bei Paris. Das Zustandekommen dieser Städtepartnerschaft war Zufall und Glücksfall zugleich und hing mit der damaligen französischen Besatzung Süddeutschlands zusammen. In der Zeit des liberalen langjährigen Konstanzer Oberbürgermeis‐ ters Dr. Horst Eickmeyer 2 wurden die Konstanzer Partnerschaften um drei euro‐ päische Städte erweitert, die inhaltlich wie politisch als Gesamtpaket betrachtet werden müssen. Nachdem Fontainebleau sich 1978 mit dem Vorort einer an‐ deren europäischen Hauptstadt, dem London Borough Richmond upon Thames, verbrüdert hatte, schloss sich Konstanz mit Gemeinderatsbeschluss vom 2. Sep‐ tember 1982 ein Jahr später ebenso mit Richmond zusammen und bildete fortan ein Partnerschaftsdreieck ( Jahre später schlossen auch Fontainebleau und Lodi eine Städtepartnerschaft und bilden seither ein zweites Dreigespann). Verknüpft mit diesem öffentlichen Gemeinderatsbeschluss war zugleich der Auftrag an die Verwaltung die freundschaftliche Beziehung mit Tabor (CSSR) weiter zu vertiefen und weitere Gespräche über eine eventuelle Partnerschaft zu führen, dasselbe bei der Stadt Lodi (Italien)  3 . Für die Genehmigung der dritten Städtepartnerschaft mit Tabor in der damaligen CSSR musste sich Konstanz noch die Genehmigung des bundesrepublikanischen Außenministeriums einholen, denn schließlich lag die Stadt hinter dem damaligen „Eisernen Vorhang“. Es war das Schicksal des Magisters Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418), welches die historische Grundlage der Städtepartnerschaft zwischen Konstanz und Tabor bildete und es war der Staufer Kaiser Friedrich I. Barbarossa, der bei den sich entwickelnden Kontakten zu Lodi geistig Pate stand. Seit dem Gemeinderatsbeschluss von 2. September 1982 hatten sich meh‐ rere informelle Kontakte zwischen Künstlern und Chören, den Lions Clubs beider Städte und verschiedener Sportvereine entwickelt. Um den deutschitalienischen Gedankenaustausch auch unter Einbeziehung der zahlreichen in Konstanz wohnhaften Italienerinnen und Italiener zu vertiefen, wurde eine Deutsch-Italienische Vereinigung (DIV) gegründet. Der Verein vermittelte zu‐ sammen mit dem Italienischen Arbeiterverein von Konstanz (ALIC) Kontakte zu Gruppen und Einrichtungen in Lodi, organisierte eine Reise dorthin und bot 412 Claus-Dieter Hirt 4 Beide Vereine sind zwischenzeitlich aufgelöst. Ihre Aufgaben wurden vom „Cuore Italiano“ der Italienabteilung der Deutsch-Französischen Vereinigung Konstanz (DFV www.dfv-konstanz.de) übernommen, die zwischenzeitlich Reisen und Ausstellungen in die Partnerstadt organisiert und mehrfach am Palio teilnahm. 5 Südkurier vom 25. Januar 1985. 6 Niederschrift über die öffentliche Gemeinderatssitzung vom 24. Oktober 1985. 7 Südkurier vom 6. September 1986. italienische Sprachkurse an 4 . 1985 stellte sich Konstanz erstmals offiziell mit einer Foto-Ausstellung in der lombardischen Stadt vor 5 . Den 800. Jahrestag des historischen Konstanzer Friedens zwischen Kaiser Barbarossa und den lombardischen Städten 1983 nahm die Stadt Konstanz zum Anlass, Bürgerinnen und Bürger von Lodi zu einer Festwoche unter dem Motto „Europäische Begegnung am Bodensee - Italien zu Gast“ einzuladen und mit Konzerten, Ausstellungen, Vorträgen etc. Geschichte, Kunst und vor allem die Beziehungen zu dem südlichen Nachbarland darzustellen. Die italienischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden in die Gestaltung der Festwoche invol‐ viert. Ebenso mit an Bord war der Botschafter Italiens, der die Schirmherrschaft übernahm. Die Stadt Lodi präsentierte in diesem Rahmen nun ihrerseits eine Foto-Ausstellung in der damaligen Sparkasse am Bodanplatz und näherte sich der künftigen Partnerstadt Konstanz an. Der Apotheker, Kulturmäzen, Politiker und FWG-Fraktionsvorsitzende Dr. Ulrich Leiner beantragte sodann mit Schreiben vom 17. September 1985 an Oberbürgermeister Dr. Horst Eickmeyer, die Städtepartnerschaft mit Lodi auf die Tagesordnung der Oktober-Sitzung des Gemeinderates aufzunehmen und einen Beschlussantrag vorzulegen, wonach der Stadt Lodi angeboten wird, im Jahr 1986 eine Städtepartnerschaft zwischen Lodi und Konstanz abzuschließen. Der dem Gemeinderat vorgelegte Beschlussantrag wurde am 24. Oktober 1985 einstimmig angenommen 6 . Mit einem Festakt im Festsaal des Inselhotels wurde die Städtepartnerschaft mit Lodi am 7. September 1986 offiziell zwischen dem Bürgermeister von Lodi, Andrea Cancellato, und dem Konstanzer Ober‐ bürgermeister Dr. Horst Eickmeyer besiegelt. Kirchlichen Segen erhielt die Städtepartnerschaft durch ein Pontifikalamt unter Teilnahme des Generalvikars Monsignore Bassiao Staffieri aus Lodi im Münster Konstanz 7 . Anlässlich der Feier wurde von den Tageszeitungen „Südkurier“ und der Tageszeitung von Lodi, dem “Corriere Padano“ eine zweisprachige gemeinsame Sondernummer zur Städtepartnerschaft mit zahlreichen Informationen über die Partnerstädte herausgegeben. Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei 413 Lodi Lodi liegt am rechten Ufer der unteren Adda. Die Stadt kam nach der österrei‐ chischen beziehungsweise französischen Beherrschung ab 1860 für eine lange Zeit verwaltungsmäßig zu Mailand. Die Altstadt ist in sieben Stadtbezirke (San Gualtero, Borgo, San Fereolo, Sant’ Alberto, Porta Cremona, Colle Eghezzone, Maddalena) eingeteilt und vermittelt mit ihren kleinen Geschäften um die Piazza della Vittoria und den Piazza Broletto bis heute eine mittelalterliche Atmosphäre. Zentrum ist die älteste romanische Basilika der Stadt, die Dom‐ kirche der Bischöfe von Lodi, die würdevoll und unmittelbar neben dem Amtssitz des Bürgermeisters und des Ratssaals von Lodi, eingeschlossen von charakteristischen Bogengängen, im Stadtzentrum von Lodi steht. Hinzu kommt der Bürgertempel der Incoronata. Entworfen von Giovanni Battagio, 1488 errichtet, stellt es das größte Kunstdenkmal der Stadt Lodi dar und ist ein Meisterwerk der Architektur und Malerei. Die achteckige Kirche ist Ausdruck der Volksfrömmigkeit und komplett mit Fresken geschmückt. Patrizierpaläste, einstige Klöster und Kirchen (500 Kirchen, vorwiegend in Privathäusern, sollen es bis heute sein) sind Zeugen einer glanzvollen Vergangenheit. Alt ist auch die Tradition der Keramikherstellung in Familien‐ betrieben in Lodi. Ihren Höhepunkt erreichte die Keramikproduktion in Lodi, deren Arbeiten sich durch blau- oder feinpolychrome Motive auszeichnen im 17. Jahrhundert. Am bekanntesten und von vielen Konstanzer Gruppen besucht ist heute das „Ceramica Artistica Lodigiana Vecchia Lodi“. Lodi hat heute ca. 45.000 Bürgerinnen und Bürger. Die Stadt ist Industrie‐ zentrum (Handwerk, Landwirtschaft, Viehzucht, Milchproduktion) und wirt‐ schaftlicher und politischer Mittelpunkt des Gebietes „Il Lodigiano“ welches 60 Gemeinden mit ca. 230 000 Einwohnerinnen und Einwohner umfasst. Der Parco Tecnologico Padano, eines der qualifiziertesten Forschungszentren auf europäi‐ scher Ebene auf dem Gebiet der Agrar- und Lebensmittelbiotechnologien, ist in Lodi angesiedelt. Neue Strukturen der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Mailand, u. a. das Krankenhaus für Kleintiere, wurden auf dem Campus von Lodi eingerichtet. Zahlreiche Volksfeste mit künstlerischen, volkstümlichen und sportlichen Veranstaltungen verteilen sich auf das ganze Jahr. Den Startschuss macht das Fest zu Ehren des Stadtheiligen San Bassiano am 19. Januar. Nach der Messe im schützenden Dom werden auf den Straßen des Zentrums bei meist neblig-kaltem Wetter „trippa“ (Kutteln) mit kleinen Kartoffeln und Weißwein ausgegeben. 414 Claus-Dieter Hirt Historie Die Beziehungen zwischen Konstanz und Lodi reichen in das Hochmittelalter zurück. Lodi ist also die Partnerstadt mit den mit Abstand längsten Beziehungen zu Konstanz. In seiner Rede am Begegnungsabend im historischen Konzil anlässlich der „Freundschaftlichen Begegnung - Konstanz empfängt seine Partnerstädte“ (2.-5. Juni 1995), führte der Bürgermeister von Lodi, Dr. Alberto Segalini, am 2. Juni 1995 gemäß der deutschen Übersetzung, die dem Publikum ausgeteilt wurde, dazu wie folgt aus: Europa ist auf dem Weg der Einheit. Was uns zu diesem Ziel treibt, ist die Lektion zweier furchtbarer Kriege und die Einsicht, dass nur die europäische Einheit Europas Rolle in der Welt sichern kann. Diese Einsicht will und muss tief in das Bewusstsein unserer städtischen Gemeinschaften eindringen. Aus dieser Perspektive erinnern sich Lodi und Konstanz ihrer Begegnungen innerhalb der europäischen Geschichte; Begegnungen, die an Angelpunkten der politischen Entstehung Europas stattfanden. Das erste dieser Zusammentreffen stand tatsächlich am Anfang des Krieges zwischen dem Reich und den Städten Norditaliens. Im fern zurückliegenden Jahr 1153 war es für Lodi eine Frage des Überlebens, als zwei seiner Bürger als Bittsteller bei Friedrich I. in Konstanz vorstellig wurden, als dieser dort einen Reichstag abhielt. Kaiser Barbarossa wies die Bitte der Bürger Lodis nicht ab, obwohl der darauffolgende kaiserliche Befehl indirekt zur Folge hatte, dass Lodi zum zweiten Male zerstört wurde. Doch konnte der Kaiser, der zu seinem Wort stehen wollte, es vermeiden, dass Lodi gänzlich von der Karte gestrichen wurde: Er ließ die Stadt wieder errichten und nahm sie unter seinen persönlichen Schutz. Wieder in Konstanz, im Jahr 1183, am Ende des Krieges trafen sich die Vertreter Lodis mit Friedrich I. Dies war der feierliche Augenblick der Pax Constantie (der „Konstanzer Frieden“), eines der politischen Meisterwerke Friedrich Barbarossas: die Städte erlangten politische Autonomie im Rahmen des idealen Reichs Friedrich Barbarossas.- Am Anfang des 15. Jahrhunderts ging es wieder um Europa. Das große Schisma, das für Jahrzehnte andauerte, bedrohte zu dieser Zeit die religiöse Einheit. In diesem Zusammenhang kreuzte sich das Schicksal Lodis wieder mit dem Schicksal von Konstanz. In der lombardischen Stadt fand das Treffen zwischen dem Kaiser Sigismund und Johannes XXIII, einem der Anwärter auf das Pontifikat, statt. Ihr Gastgeber war der Herr von Lodi, Giovanni Vignati; in dieser Zeit wurde die Region von der Krise des Grafenhauses Visconti erschüttert. Als nicht weniger bedeutungsvoll erwiess sich die Vermittlungsarbeit des Bischofs der Stadt, dem Dominikaner Giacomo Arregoni. In der Weihnachtsstimmung des Jahres 1413 wurde der Zeitpunkt und der Ort des ökumenischen Konzils festgelegt, dass das Schisma beseitigen sollte. Ein Jahr später in Konstanz spielte der unerbittliche Bischof von Lodi eine wichtige Rolle, bis sein Schicksal sich auf tragische Weise mit denen der ersten Reformatoren, Jan Hus und Hieronymus von Prag kreuzte. - Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei 415 Die politische und religiöse Einheit Europas konnte nicht gewahrt werden. Diese weit zurückliegenden Zusammentreffen mit ihren sich abwechselnden Erfolgen und Misser‐ folgen zeigen uns den richtigen Weg, die Einheit wieder zu erlangen. Es ist der Weg des Dialogs: die einzig richtige Methode zur Überwindung der Unterschiede, ohne jedoch die Unterschiede zu beseitigen. Nur durch den Dialog können Übereinstimmungspunkte gefunden werden. Diese sind die vielen Dinge, die uns verbinden und uns auf den Weg der Übereinkunft führen, dem Weg des gemeinsamen Handelns im Namen gemeinsamer Werte. Bürgerschaftlicher Austausch „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm“, schrieb der wohl bekannteste deutsche Italienreisende Johann Wolfgang von Goethe in seinem Faust II; das war 1826. Aber auch 200 Jahre später gilt: Städte können öffentlichkeitswirksame Verträge machen; mit Inhalt ausfüllen müssen es die Bürgerinnen und Bürger. So prägten zunächst symbolische Baumpflanzungen, Einweihungen von Orts‐ eingang-Schildern und wechselseitige Ehrungen die ersten Jahre der Partner‐ schaft. Am Anfang war auch ein Bauwagen, und den transportierte ein Trupp der Freiwilligen Feuerwehr Konstanz unter Leitung von Konrad Schatz mit Traktoren über die Alpen in die italienische Partnerstadt. Dort wurde der Bauwagen als Spielmobil eingesetzt. Beispiele wie dieses zeigen den hohen Grad an Idealismus und die feste Überzeugung, einer sinnhaften Sache zu folgen, die eine Vielzahl von Bürgern/ innen beider Städte dazu motivierte, sich ehrenamtlich zu engagieren. Vorwiegend auf Vereinsebene und basierend auf persönlichen Beziehungen und Freundschaften werden auch 37 Jahre später jährlich Austauschprojekte mit Lodi veranstaltet und von den Stadtverwal‐ tungen beider Städte teils auch finanziell unterstützt. Die Vielfalt der Kontakte ist groß und es kann festgehalten werden: die Bürgerschaften von Konstanz und Lodi fühlen sich in ihrer jeweiligen Partnerstadt zuhause. Egal ob An‐ gelsportler, Ärzte, Betriebssportgemeinschaften, Chöre, Feuerwehr, Fußballer, Fanfarenzüge, Fotoclubs, Leichtathleten, Lions Clubs, Musikvereine, Pfadfinder, Radsportler, Roll- und Eissportclubs, Rotarier, Rotes Kreuz, Stadtpolizei, Theater, Touristikbüros, Triathleten oder Wassersportler. Immer mit dabei auch katho‐ lische Kirchenvertreter aus Lodi, deren Dom sich - wie oben erwähnt - in unmittelbarer Nähe des Amtssitzes des Bürgermeisters befindet. Hinzu kommt ein regelmäßiger künstlerischer und musikalischer Austausch zwischen beiden Städten. Genannt seien beispielhaft das Galakonzert der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz in Lodi oder das mit dem Weltstar Leo Nucci (der italienische Opernstar - Bariton - arbeitete mit Dirigenten wie Herbert von 416 Claus-Dieter Hirt Karajan zusammen und ist gefragter Verdi-Interpret an den größten Opernhäu‐ sern der Welt) im Konzilsaal in Konstanz 2006 sowie zahlreiche Klavierkonzerte von Dante Vanelli aus Lodi, in Konstanz. Im Auditorium der Banca Populare, einem Gebäudekomplex, der vom bekannten italienischen Architekten Renzo Piano entworfen wurde, spielte das Europäische Jugendorchester, bestehend aus Musikern aus den Partnerstädten Richmond, Fontainebleau, Lodi und Konstanz, 2016 sein erstes Konzert. Organisiert wurde der Auftritt von der Musikschule Konstanz und ihrer Partnerorganisation, der Accademia Gerundia Lodi. Wechselseitige Ausstellungen von Konstanzer Künstlern/ innen in Lodi und umgekehrt bilden seit Beginn der Städtepartnerschaft eine solide Basis des Kulturaustausches. Beispielhaft genannt seinen Gabriele Chemnitz-Bunten, aus Konstanz sowie Franco Razzini, Pino Secchi, Oliviera Ferri und Pier Manca aus Lodi. Es gibt zahlreiche Kontakte zwischen den Menschen in beiden Städten. Fakt ist aber auch, dass diese Verbindungen häufig von der Person abhängen, die gerade an der Spitze des Vereins oder der Organisation der Einrichtung steht, von deren persönlicher Motivation, den jeweiligen Sprachkenntnissen und den zwischenmenschlichen Kontakten. Palio Hartes Sporttraining dagegen ist Voraussetzung für die Teilnahme an dem von der Stadt Lodi und dem Sport- und Geselligkeitsverein der „Wasken Boys Lodi“ (der englische Name stammt aus der Nachkriegszeit, als der Verein gegründet und Italien von amerikanischen Truppen besetzt war) seit 1986 jährlich ausge‐ richteten „Palio de Rioni della città di Lodi“ (Wettkampf der Stadtbezirke Lodis). Zu diesem folkloristischen Wettkampf gehören der traditionelle „Cursa dei Cavai“ (Lauf der Eisenpferde) und der „concorso di barche allegoriche“ (Boots‐ wettbewerb). Dabei kämpfen Sportlerinnen und Sportler der oben erwähnten sieben Stadtbezirke von Lodi und die zum achten Stadtteil erklärte Partnerstadt Stadt Konstanz um den „el baston de san bassan“ (Bischofsstab). Der Wettkampf besteht aus drei Disziplinen: Ringestechen, Fohlenlauf und einem Pferderennen - aber nicht mit lebenden Tieren, sondern mit ihren selbstgebauten Ebenbildern. Die pferdeähnlichen Konstruktionen aus Eisen werden von jeweils zwei Wett‐ kämpfern geschoben und es gewinnen die Schnellsten. Über Rang vier kam keine Konstanzer Vertretung hinaus. Die Deutsch-Französische Vereinigung (DFV) stellte 2009 eine reine Frauenmannschaft. Zweimal (1995 und 2007) präsentierten die „Wasken Boys“ und die Stadt Lodi den Palio als Exportprodukt auf dem Stephansplatz in Konstanz. Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei 417 Abb. 1: Palio in Lodi; Foto: Pasqualino Borella, Lodi Katastrophenhilfen Zwei Katastrophen trafen Lodi seit Abschluss der Städtepartnerschaft mit Konstanz: im November 2002 traf Lodi, wie ganz Norditalien, eine schlimme Hochwasserkatastrophe. Der Konstanzer Gemeinderat beschloss eine großzü‐ gige finanzielle Hilfe und die Freiwillige Feuerwehr Konstanz schickte einen Hilfstrupp in die Partnerstadt, der den Kameraden vor Ort zur Seite stand. 2020 war die italienische Partnerstadt besonders hart von der Corona-Pandemie betroffen. Das Ausmaß der Krise war so groß, dass es am Nötigsten fehlte, etwa bei der Ausstattung von Rettungskräften. Das Rote Kreuz in Lodi - Croce Rossa Italia Comitato di Lodi (CRI) - richtete einen Hilferuf auch an Konstanz und seinen Partnerverein, das Deutsche Rote Kreuz Konstanz (DRK). Nachdem in der Anfangsphase der Corona-Pandemie eine Maskenlieferung aus Konstanz nicht möglich war, beziehungsweise die Masken in Konstanz selbst knapp waren, konzentrierte sich die Konstanzer Hilfe auf eine Spendenaktion. Die Stadt Konstanz und über 170 Konstanzer Bürger/ innen, Vereine, Institutionen spendeten. Auch die Konstanzer Jugendorganisationen der Parteien bewegte dies: in seltener Übereinstimmung riefen Grüne Jugend, Junge Union, Jusos, Junge Liberale und Linksjugend zu Spenden für Lodi auf. Insgesamt wurden 50.000 Euro gespendet. Hier zeigte sich der Wert der zahlreichen Begegnungen, welcher Menschen beider Städte miteinander verbindet. In der Zeit des Lock‐ downs wurde das CRI von dem Fotografen Michele Porcelluzzi begleitet, dessen Fotodokumentation (Corona-Lockdown Lodi 2020) der DRK-Ortsverein 2022 im Bürgersaal in Konstanz ausstellte. 418 Claus-Dieter Hirt Pietro Cremonesi Zahlreiche Einrichtungen aus beiden Städten verdanken ihre Kontakte, ihre Freundschaften und ihre langjährigen Programmprojekte dem beharrlichen und ehrenwerten Engagement des 2017, kurz vor seinem 86. Geburtstag verstorbenen Pietro Cremonesi. Peo, wie Freunde den gelernten Kaufmann nannten, war Seele und Motor der Städtepartnerschaft, sprach fließend deutsch und empfand Konstanz als seine zweite Heimat. Mit dem politischen Leben seiner Heimatstadt Lodi eng verwachsen, setzte sich Pietro Cremonesi - immer unterstützt von seiner Frau Alba Armani - seit Beginn der Städtepartnerschaft mit großem persönlichem Engagement für den Austausch der Menschen ein und bewirtete zahlreiche Konstanzer Gäste in seinem Haus in der Via Marsala in Lodi. Cremonesi fühlte sich dabei der Tradition seiner Familie verpflichtet, die, seit mehreren Generationen in Lodi ansässig, eine Reihe hochverdienter Persönlichkeiten - Bürgermeister und Ratsherren - hervorgebracht hat. 2001 beschloss der Gemeinderat der Stadt Konstanz einstimmig, Pietro Cremonesi für sein langjähriges Engagement für die Städtepartnerschaft Lodi - Konstanz den Ehrenring der Stadt Konstanz und damit die nach der Ehrenbürgerschaft der baden-württembergischen Kommunalverfassung zweithöchste Ehrung über‐ haupt zu verleihen. Abb. 2: Zwei Brückenbauer: Pietro Cremonesi, Lodi, und Claus-Dieter Hirt, Konstanz; Foto: Pasqualino Borella, Lodi Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei 419 3 Repräsentanten in Konstanz - 13 Repräsentanten in Lodi oder die fehlende Kontinuität an der Stadtspitze Lodis Die Verdienste von Pietro Cremonesi sind umso bedeutender, betrachtet man den häufigen politischen Wechsel in den Stadtregierungen von Lodi. Während in Konstanz seit Abschluss der Städtepartnerschaft mit Lodi nur drei Oberbür‐ germeister amtierten (Dr. Horst Eickmeyer 1980-1996, Horst Frank 1996-2012, Uli Burchardt seit 2012) und die Zuständigkeit über die gesamte Zeit in einer Hand im Hauptamt der Stadtverwaltung lag, standen dem auf Seiten Lodis 13 (! ) politisch Verantwortliche, nämlich neun Bürgermeister unterschiedlicher poli‐ tischer Ausrichtung und vier als Folge vorzeitiger Rücktritte der Bürgermeister eingesetzte Präfekte gegenüber. Die Liste der Bürgermeister und Präfekte wird auf der Homepage der Stadt Lodi wie folgt (abgerufen am 30. März 2023) aufgeführt: CANCELLATO Andrea - Bürgermeister seit 17. September 1980, Wiedereinberufen am 18. September 1985- MONTANI Antonio-- Bürgermeister seit 10. Juli 1990 MAGRINI Marco-- Bürgermeister seit 8. Oktober 1992 DE BONFILS Enrico-- Präfekturkommissar seit 13. September 1993- SEGALINI Alberto - Bürgermeister seit 6. Dezember 1993, Rücktritt am 16. No‐ vember 1995 LANTERI Maria-- Präfekturkommissar seit 22. Dezember 1995- FERRARI Aurelio-- Bürgermeister seit 11. Juli 1996 bestätigt am 17. Mai 2000- GUERINI Lorenzo-- Revisionsstelle seit 7. April 2005, bestätigt am 31. März 2010 Rücktritt am 31. Dezember 2012 ZAPPALORTO Vittorio-- Präfekturkommissar seit 21. Januar 2013 UGGETTI Simone - Bürgermeister seit 11. Juni 2013 am 3. Mai 2016 vom Amt suspendiert, am 8. Juni 2016 wieder im Amt zurückgetreten am 1. August 2016- SAVASTANO Mariano-- Präfekturkommissar seit 22. August 2016 CASANOVA Sara-- Bürgermeister seit 27. Juni 2017 FUREGATO Andrea-- Bürgermeister seit 15. Juni 2022 Dabei hat es die Stadtverwaltung von Lodi, im Unterschied zu allen anderen Konstanzer Partnerstädten (inklusive des 2007 hinzugekommenen chinesischen Suzhou) versäumt, die Zuständigkeit für ihre internationalen Beziehungen und ihre Städtepartnerschaften (Konstanz, Fontainebleau/ F, Lodi/ USA, Omegna/ I) in der Verwaltung zu institutionalisieren, mit der Folge, dass nach den häufigen politischen und persönlichen Wechseln an der Stadtspitze der italienischen Kommune die Verantwortlichkeit regelmäßig im Nirgendwo versank. 420 Claus-Dieter Hirt 8 Die Frente Polisario ist eine militärische und politische Organisation in der Westsahara: www.saharalibre.es. Politik Der Autonomiegrad der Kommunen in Italien und damit auch des Stadtrates von Lodi ist spürbar geringer als in deutschsprachigen Ländern. Gleichwohl wären gemeinsame humanitäre Projekte immer möglich gewesen. Ideen z. B. eines gemeinsamen Projekts zur Unterstützung der in der ehemaligen spanischen Westsahara um Unabhängigkeit kämpfenden Polisario 8 blieben Gedankenspiele von Bürgermeister Andrea Cancellato, Lodi. Zu Beginn der Städtepartnerschaft, am Ende der Achtziger-/ Anfang der Neunzigerjahre, gab es feste Kontakte zwischen den damals in beiden Kommunalparlamenten stärksten Parteien, den Christdemokraten und den Sozialdemokraten. Grundsätzliche Forderungen der norditalienischen Regionen und damit auch der Lodigiani nach Änderung des zentralistischen Steuersystems mit seinen Umverteilungsmechanismen und der Wunsch der Lombardei nach mehr Unabhängigkeit von Rom in Form der Übertragung exklusiver Kompetenzen des italienischen Zentralstaates auf die italienischen Regionen, veränderten die politische Landschaft Italiens komplett. Mit dem damit verbundenen Niedergang der etablierten politischen Kultur in Italien bildeten sich auch in Lodi z. B. mit der Lega Nord einflussreiche neue politische Formationen, die kein Pendant in der deutschen Politik haben. Das Selbstbewusstsein Lodis wurde 1992 durch den Besuch von Papst Johannes Paul II. gestärkt. Hinzu kam, dass, auf Beschluss des Parlaments von Rom, Lodi 1993 den Status einer eigenen Provinz mit dem Autokennzeichen „LO“ erhielt. Die Lega Nord wurde im gleichen Jahr erstmals stärkste politische Kraft im Stadtparlament und stellte den Bürgermeister. 2021 hatte die italienische Partnerstadt Lodi eine Regelung erlassen, welche die ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner ihrer Stadt verpflichtete, nachzuweisen, dass sie in ihrem Herkunftsland über keinerlei Besitz ver‐ fügen. Mit dieser Regelung wurden Kinder aus Flüchtlingsfamilien faktisch von öffentlichen Schulleistungen ausgeschlossen. War es bis dato Usus, auf ein Statement zu Entscheidungen/ Wahlen des Souveräns in einer Partnerstadt zu verzichten, intervenierten hier nun die Verantwortlichen der gemeinsamen Partnerstädte, Frédéric Valletoux, Fontainebleau und Uli Burchardt, Konstanz öffentlich und kritisierten den Akt. Ein Dialog mit Lodi wurde nicht mehr gesucht. Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei 421 9 Südkurier vom 21. Juni 1951. Barbarossa ist zu finden, aber Lodi fehlt im Konstanzer Stadtbild Jeder Gast, der das Hotel „Barbarossa“ am geschichtsträchtigen Obermarkt zu Konstanz betritt, setzt seinen Fuß auch auf das im Mosaik verewigte Konterfei von Barbarossa. Im Eingangsbereich des Hotels hat der Konstanzer Künstler Hans Ferdinand Sauerbruch den Einzug der Lombarden in Konstanz bildgewaltig festgehalten. Ebenso würdevoll wie pathetisch haben die Maler Friedrich Pecht und Fritz Schwörer von 1869 bis 1876 im Auftrag der Stadt Konstanz Friedrich I. Barbarossas Friedensschluss mit den Lombarden-Städten von 1183 großflächig auf einem Wandgemälde im historischen Konzil verewigt. Am alten Konstanzer Rathaus zeigt ein von dem Künstler Ferdinand Wagner in der gleichen Zeit (1864) gefertigtes Bilderfries über den Erdgeschoß-Arkaden wichtige Stationen der Stadtgeschichte; u. a. den Frieden von Konstanz von 1183 zwischen Friedrich I. Barbarossa und den Lombarden-Städten. Ein weiteres Bild zeigt den Einzug des Hohenstaufen, Friedrich II., datiert mit 1212, in Konstanz. „Er ist mit einem Rotbart als mindestens Dreißigjähriger dargestellt. Er war jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht 18 Jahre alt; deswegen wurde er auch bei seinem Erscheinen in Deutschland als „das Kind von Pülle“ (Apulien) genannt. Er ist am 26. Dezember 1194 geboren, sein Einzug in Konstanz erfolgte im September 1212. Es ist klar, dass die Darstellung historisch nicht stimmen kann. Doch ist davon die künstlerische Freiheit, einen Kaiser „kaiserlich“ darzustellen, zu trennen. Im September 1212 war er noch nicht einmal zum König gekrönt. Das Bild erinnert an seinen Großvater Friedrich Barbarossa“ 9 . Anlässlich der Ausstellung „Keramik aus Italien“ in der Wessenberg-Galerie 1991 schenkte Lodi der deutschen Partnerstadt ein dekoratives Wandbild aus Keramikplatten, das an der Berufsfachschule Lodi („Centro di formazione professionale consortile del Lodigiano- Sezione ceramica Lodi“) gefertigt wurde. Die Platten bilden das Motiv eines altdeutschen Teppichs nach. Das Werk schmückt heute den Treppenaufgang zum Ratssaal im Rathaus Konstanz. Nach über fünfzig kaiserlosen Jahren wurde der so genannte Kaiserbrunnen auf der Konstanzer Marktstätte im Rahmen der Neugestaltung des Platzes 1990 zum bis heute glanzvollen - wenngleich teilweise beschädigtem und von der Stadt Konstanz nicht wieder repariertem - Schmuckstück aufgewertet. Den städtischen Auftrag erhielten Barbara und Gernot Rumpf. Das Künstlerehepaar lehnte ein historisierendes Wiedererstehen der ehemaligen Kaiserfiguren ab. Der/ die Betrachter/ in soll auch die menschlichen Schwächen der Kaiser ablesen 422 Claus-Dieter Hirt 10 Der Kaiserbrunnen auf dem Marktstätte. Herausgeben von Kulturamt der Stadt Kon‐ stanz. Konstanz 1990, Seiten 10, 13 und 15. 11 Ebd. können  10 . Einer der drei dort heute abgebildeten Kaiser stellt Friedrich I. Barba‐ rossa dar, der Konstanz des Öfteren und gerne besuchte. Bereits im Jahr 1153 finden wir den König in Konstanz. „Länger und wichtiger war der Aufenthalt, den der Kaiser im Juni 1183 in Konstanz nahm. Der italienische Waffenstillstand war abgelaufen, es galt einen Frieden mit dem lombardischen Bund zu schließen. Am 25. Juni wurde der Friede mit den Lombarden-Städten unterzeichnet. Es waren glanzvolle Tage für die Geschichte der Stadt Konstanz“ 11 . Die am Kaiserbrunnen in Bronze angebrachte aufgerollte Urkunde mit dem „Frieden zu Konstanz“ trägt auch den Namen von Lauda, dem heutigen Lodi, der Konstanzer Partnerstadt in der Lombardei. Abb. 3: Darstellung Friedrich I. Barbarossa am Kaiserbrunnen in Konstanz durch das Künstlerehepaar Barbara und Gernot Rumpf; Foto: Hans-Peter Metzger, Konstanz Offensichtlich weniger Probleme mit der historisierenden Darstellung haben die italienischen Verantwortlichen. So beauftragte die Stadt Lodi ihren heimischen Künstler Giuseppina Vanilli 2009 mit der Fertigung der abgebildeten Statue von Friedrich I. Barbarossa im Stadtpark von Lodi. Überhaupt erscheint der geschichtliche Bezug zu Barbarossa in Lodi deutlich inniger als in Konstanz. So heißt es in der Satzung der Gemeinde Lodi (in Kraft seit dem 9. Januar 2004) bis heute: Die italienische Partnerstadt Lodi in der Lombardei 423 Die Gemeinde Lodi rühmt sich des Titels einer Stadt, deren Gründung am 3. Dezember 1158 mit einem kaiserlichen Diplom Friedrichs I. sanktioniert wurde. Die Gemeinde führt das Wappen, bestehend aus einem roten Kreuz auf goldenem Feld, Krone und Stadtschmuck. Abb. 3: Darstellung Friedrich I. Barbarossa in Lodi 2010 durfte Stadträtin Giuliana Cominetti aus Lodi 2010 eine neue Fähre der Stadtwerke Konstanz auf den Namen der italienischen Partnerstadt taufen. Der lodigianer Künstler Pier Manca schuf eine Keramik für die Lounge des Schiffs mit der Silhouette beider Rathäuser und wiederum einem Abbild des Brückenbauers Friedrich Barbarossa. Fährschiffe tragen auch den Namen der Partnerstädte Fontainebleau, Richmond und Tabor; aber während sich der Name der ersten Konstanzer Städtepartnerschaft in der Fontainebleau-Allee niedergeschlagen hat, sucht man einen nach Lodi benannten Platz oder einer Straße mit dem Namen der italienischen Partnerstadt vergeblich. Die italieni‐ sche Partnerstadt von Lodi, Omegna, hat ebenso wie die italienische Hauptstadt, Mailand und Cremona einen Platz nach Lodi benannt. Auch in Frankreich haben einige Städte wie Marseille, Le Havre oder Saint-Etienne Straßen nach Lodi benannt. Dies hängt aber weniger mit der Wertschätzung der lombardischen Ikone als mit dem Sieg Napoleons I. gegen die österreichischen Truppen an der Adda bei Lodi 1796 während des Revolutionskriegs zusammen. Infolgedessen ist die (für Frankreich siegreiche) Schlacht von Lodi auch im Triumphbogen („Arc de Triomphe“) in Paris aufgelistet. Das vierzigjährliche Jubiläum der Städtepartnerschaft 2026 wäre für die Stadt Konstanz passender Anlass, Lodi im Stadtbild durch eine Platz- oder Straßenbe‐ nennung sichtbar zu machen. Die „Wasken Boys Lodi“ würden anlässlich dessen sicherlich erneut ihr Palio in Konstanz präsentieren. Die Entscheidung obliegt dem Konstanzer Gemeinderat. 424 Claus-Dieter Hirt Verzeichnis der Autorinnen und Autoren B A R WIT Z KI , Lukas-Daniel (geb. 1990) geisteswissenschaftliches Studium und Assistenzzeit an den Universitäten Konstanz und Zürich, seit 2020 in der Privatwirtschaft tätig, derzeit berufsbegleitende Promotion an der HU Berlin. B O S C H , Manfred (geb. 1947) hat als freier Autor zahlreiche Bücher zu den Schwerpunkten regionale Zeit- und Literaturgeschichte veröffentlicht. In der „Kleinen Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz“ erschienen von ihm die Bände „Wettlauf mit dem Schatten. Der Fall (des) Wilhelm von Scholz“ (zu‐ sammen mit Siegmund Kopitzki) und „Konstanz literarisch“. C R IV E L LA R I , Alberto (geb. 1941) 1960 Abschluss des „Perito Tecnico“ auf der Schule des „Istituto Nazionale di Addestramento e Perfezionamento dei Lavor‐ atori dell’Industria“ in Genua, 1960 Übersiedlung nach Deutschland, 1960-67 Telefunken Hannover/ Konstanz, 1967 DKV Köln, 1969-95 AEG-Telefunken Konstanz, später CGK, 1995-2004 Unternehmer in Hilzingen und Konstanz, 2019 deutscher Staatsangehöriger. C R IV E L LA R I , Fabio (Mitautor und Sohn von Alberto Crivellari) (geb. 1967) Stu‐ dium Geschichte und deutsche Literatur in Konstanz, 2002-07 Projektleitung in München, 2007 Lecturer für Mediengeschichte an der Universität Konstanz, Promotion, seit 2016 Geschäftsführer der Binational School of Education an der Universität Konstanz. F R E Y , Daniela (geb. 1975) Studium der Soziologie und Geschichte an der Uni‐ versität Konstanz, Aufbaustudium zur PR-Beraterin in Heidelberg und Krems, freiberuflich als Historikerin, Texterin und Stadtführerin tätig. F R I E D R I C H , Ilse (geb. 1942) Studium der Architektur und Denkmalpflege in Karlsruhe und Rom, Dipl.-Ing., von 1987 bis 2005 Leiterin der Unteren Denk‐ malschutzbehörde der Stadt Konstanz, nach der Pensionierung weiterhin En‐ gagement bei ICOMOS Deutschland für Denkmalpflege, Kulturlandschaft und Welterbe. G ÖT Z , Simon (geb. 1995), Studium der Geschichte und Germanistik an der Uni‐ versität Konstanz, 2020 Staatsexamen, seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der AG für Mittelalterliche Geschichte der Universität Konstanz. G R O S S , Daniel (geb. 1966) Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Literatur des Mittelalters und Einblicke in die Archäologie an der Universität Konstanz, seit 1992 als Stadtführer in Konstanz unterwegs und seit 2015 Mitglied im „Delphin-Kreis“. H I R T , Claus-Dieter (geb. 1961) Dipl.-Verwaltungswirt (FH), Stadtoberverwal‐ tungsrat a.D. der Stadt Konstanz, u.a. zuständig für die Städtepartnerschaften, Mitglied des Kreistages Konstanz (Bündnis 90/ Die Grünen). H O F MAN N , Franz (geb. 1961) 1983-89 geisteswissenschaftliches Studium an der Universität Bamberg und der TU Berlin, 1995 Promotion, seit 2012 Mitarbeiter im Kreisarchiv Konstanz. H U M P E R T , Winfried (geb. 1948) Dipl.-Psychologe, Dr. rer. nat. (Marburg 1978), seit 1978 wissenschaftlicher Angestellter an der Universität Konstanz, 1995- 2014 Professor für Päd. Psychologie an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. M A Y E R , Moritz (geb. 1994) Lehramtsstudium der Fächer Deutsch, Geschichte, Politik- und Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Konstanz und Cork, Erstes Staatsexamen 2019, Referendariat in Biberach an der Riß, seit 2021 Gymnasiallehrer in Laichingen. M I E NHA R D T , Frank (geb. 1969) Studium der Architektur und Denkmalpflege an der Hochschule Saarbrücken und an der Universität Bamberg, seit 2005 Denkmalpfleger der Stadt Konstanz. K LÖC K L E R , Jürgen (geb. 1965) geisteswissenschaftliches Studium an den Univer‐ sitäten Mainz und Konstanz, 1996 Promotion; seit 2001 Leiter des Stadtarchivs Konstanz, 2011 Habilitation, 2014 Ernennung zum apl. Professor an der Univer‐ sität Konstanz. R ÖB E R , Ralph (geb. 1959) Studium der Ur- und Frühgeschichte, Alten und Mittleren Geschichte und Volkskunde an der Universität Münster, Promotion 1987, Oberkonservator und stellvertretender Museumsleiter des Archäologi‐ schen Landesmuseums Baden-Württemberg, seit 2005 Honorarprofessor der Universität Tübingen. S C HILHA B , Daniela (geb. 1991) geisteswissenschaftliches Studium an der Uni‐ versität Konstanz, seit 2014 freie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rosgar‐ tenmuseum Konstanz, seit 2021 Doktorandin im Fachbereich Geschichte und Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung. 426 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren S TA R K , Barbara (geb. 1959) geisteswissenschaftliches Studium an der Universität Heidelberg, 1993 Promotion, seit 1994 Leiterin der Städtischen Wessenberg-Ga‐ lerie Konstanz. T R A P P , Werner (geb. 1949) geisteswissenschaftliches Studium in Konstanz, Bristol und Rom, freiberuflicher Autor und Historiker, Antiquar in Konstanz, zahlreiche Veröffentlichungen u.a. „Mit Blick auf See und Gebirge. Der Bo‐ densee. Bilder vom Wandel einer touristischen Landschaft“ ( 2 2003) sowie „Das Konstanz der 20er und 30er Jahre“ (1985). T R E N K L E , Michael (geb. 1951) ab 1969 Ausbildung zum Buchhändler und Anti‐ quar in Konstanz, von 1974 bis 1985 in einem namhaften Buchauktionshaus im Taunus tätig, 1986 Gründung eines Antiquariats in Konstanz, 2018 zieht er sich aus der Firma zurück, lebt seither in Aach. T R E VI S I O L , Oliver (geb. 1972) Studium der Geschichte, Philosophie und Politik‐ wissenschaften an den Universitäten Konstanz und York (Kanada), 2004 Pro‐ motion, Fachreferent für Geschichte, Erziehungswissenschaften und Theologie am Kommunikations-, Informations-, Medienzentrum (KIM) der Universität Konstanz (ehemals UB). W E ID L E , Thomas (geb. 2001) Bachelorstudiengang Geschichte mit Nebenfach Soziologie an der Universität Konstanz, 2023 Bachelor of Arts, seit 2023 Master‐ studiengang Geschichtswissenschaft an der Universität Konstanz. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 427 Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz herausgegeben von Jürgen Klöckler Bisher sind erschienen: Band 3 Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanz in beiden Weltkriegen Festschrift für Lothar Burchardt 2004, 160 Seiten ISBN 978-3-89669-695-3 Band 7 Tatiana Sfedu Ein Konstanzer Bürgerwerk Das Rosgartenmuseum seit Ludwig Leiner 2007, 180 Seiten ISBN 978-3-89669-640-3 Band 8 Walter Rügert, Andy Theler (Hg.) Vom Grenzzaun zur Kunstgrenze Zur Geschichte eines außergewöhnlichen Projekts 2007, 100 Seiten ISBN 978-3-89669-642-7 Band 10 Lothar Burchardt (Hg.) Aufregende Tage und Wochen Das Tagebuch des Konstanzer Lehrers Herbert Holzer aus den Jahren 1945-1948 2010, 246 Seiten ISBN 978-3-86764-251-4 Band 11 Daniela Frey, Claus-Dieter Hirt Französische Spuren in Konstanz Ein Streifzug durch die Jahrhunderte 2011, 186 Seiten ISBN 978-3-86764-322-1 Band 13 Heike Kempe (Hg.) Die »andere« Provinz Kulturelle Auf- und Ausbrüche in der Bodensee-Region seit den 1960er Jahren 2013, 200 Seiten ISBN 978-3-86764-363-4 Band 14 David Bruder Soziale Stimme - streitbarer Sachverstand Geschichte des Mieterbundes in Konstanz seit 1912 2012, 154 Seiten ISBN 978-3-86764-381-8 Band 15 Manfred Bosch, Siegmund Kopitzki (Hg.) Wettlauf mit dem Schatten Der Fall (des) Wilhelm von Scholz 2013, 288 Seiten ISBN 978-3-86764-384-9 Band 16 Arnulf Moser Vom Königlichen Garnisons-Lazarett zur Arbeiterwohlfahrt Die wechselvolle Geschichte des Gebäudekomplexes Friedrichstraße 21 in Konstanz von 1882 bis heute 2013, 102 Seiten ISBN 978-3-86764-429-7 Band 17 Lisa Foege Wessenbergs Herzenskind Geschichte einer sozialen Fürsorgeinstitution in Konstanz 2013, 200 Seiten ISBN 978-3-86764-452-5 Band 18 Klaus Oettinger Aufrecht und tapfer Ignaz Heinrich von Wessenberg - ein katholischer Aufklärer Essays, Vorträge, Analekten 2016, 208 Seiten ISBN 978-3-86764-723-6 Band 19 Marita Sennekamp Grün in der Stadt Eine historische Spurensuche in Konstanz 2018, 154 Seiten ISBN 978-3-86764-848-6 Band 20 Manfred Bosch Konstanz literarisch Versuch einer Topografie 2019, 352 Seiten ISBN 978-3-86764-890-5 Band 21 Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanzer Bäder und Badeanstalten Ein Beitrag zur Geschichte des Badewesens am Bodensee 2020, 324 Seiten ISBN 978-3-7398-3073-5 Band 22 Dorothea Cremer-Schacht, Siegmund Kopitzki (Hg.) Lotte Eckener Tochter, Fotografin und Verlegerin 2021, 236 Seiten ISBN 978-3-7398-3108-4 Band 23 Jürgen Klöckler (Hg.) Konstanz und Italien Transalpine Beziehungen durch die Jahrhunderte 2023, 427 Seiten ISBN 978-3-7398-3232-6 Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz 23 Konstanz und Italien - das ist ein schier endloses Thema. Schon immer waren die Beziehungen der bedeutendsten Stadt am Bodensee in das nahe Norditalien eng. Viele Menschen sind sich dieser Beziehungen gar nicht bewusst. Wer weiß denn schon, dass der Bahnhof in Konstanz nach dem Vorbild des Palazzo Vecchio in Florenz errichtet wurde? Der Sammelband reflektiert anschaulich die Bereiche Kultur, Religion, Kunst, Handel, Architektur und Migration. Wer auch immer sich für transalpine Beziehungen von Konstanz durch die Jahrhunderte interessiert, wird dieses Buch mit großem Gewinn lesen. Danach wird man mit breiterem Wissen in den nächsten Urlaub ins „Land, wo die Zitronen blühen“ aufbrechen. ISBN 978-3-7398-3232-6 www.uvk.de