Vom Du erzählen
Die Du-Anrede als narrative Strategie in volkssprachlichen religiösen Texten des späten Mittelalters
1211
2023
978-3-7720-5704-5
978-3-7720-8704-2
A. Francke Verlag
Verena Spohn
10.24053/9783772057045
Die Studie untersucht das Phänomen der erzählenden Anrede, die gattungsübergreifend in einer Vielzahl von religiösen Texten des Spätmittelalters auftaucht. In ihnen übernimmt die narrative Apostrophe vielfältige religionspragmatische Funktionen von der Immersion über die Vermittlung von Glaubens- und Bibelwissen bis hin zur Identitätsstiftung. Aufgrund ihrer ungewöhnlichen Struktur erweist sich die Apostrophe als Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie; ihre Einbettung in die Frömmigkeitspraktiken des späten Mittelalters verspricht darüber hinaus Einblicke in Funktionen und Gestaltungsweisen des religiösen Erzählens.
<?page no="0"?> Verena Spohn Vom Du erzählen Die Du-Anrede als narrative Strategie in volkssprachlichen religiösen Texten des späten Mittelalters <?page no="1"?> Bibliotheca Germanica HANDBÜCHER, TEXTE UND MONOGRAPHIEN AUS DEM GEBIETE DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON UDO FRIEDRICH, SUSANNE KÖBELE UND HENRIKE MANUWALD 73 <?page no="3"?> Verena Spohn Vom Du erzählen Die Du-Anrede als narrative Strategie in volkssprachlichen religiösen Texten des späten Mittelalters <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Überarbeitete Fassung der im Sommersemester 2018 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau eingereichten Dissertationsschrift mit dem Titel »Vom Du erzählen - Die Du-Anrede als narrative Strategie in volkssprachlichen religiösen Texten des späten Mittelalters«. DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783772057045 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISSN 0067-7477 ISBN 978-3-7720-8704-2 (Print) ISBN 978-3-7720-5704-5 (ePDF) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Einführung in die Thematik und Methodisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur: kommunikationstheoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.1.1 › Du ‹ und › Ich ‹ in linguistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.1.2 Das Spektrum der Du-Anrede in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.2 Die Du-Anrede als narrative Strategie in der mittelalterlichen Literatur . . 45 1.3 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1.3.1 Deutschsprachige religiöse Literatur in mediävistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1.3.2 Second-Person Fiction und die historische Narratologie . . . . . . . . . . . 52 1.4 Methodologische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.4.1 Prinzipien und Arbeitsweisen einer historisch arbeitenden Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.4.2 Religiöses Sprechen in soziologischer und sprachphilosophischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.1 › Gattung ‹ - ein valides Kategorisierungsinstrument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.2 Textkorpus: Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.3.1 Religiöse Epik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.3.2 Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.3.3 Erbauungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.3.4 Religiöse Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.4 Tradition der narrativen Apostrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.5 Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2.5.1 Erzählkerne und Prozesse des Narrativisierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.5.2 Narrativität auf verschiedenen Ebenen und Spuren von mündlichem Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.5.3 Zwischenfazit: Narrativität in der mittelalterlichen Du-Erzählung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3 Narratologische Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive . . . . . . . 118 3.1.1 Modelle zur Du-Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3.1.2 Typologie der mittelalterlichen Du-Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 <?page no="6"?> 3.1.3 Alterität versus Kontinuität: die Aussagekraft der Narratologie der Du-Erzählung für die mittelalterliche Literatur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.2 Alteritäres Erzählen: die mittelalterliche Du-Erzählung als Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.2.1 Hybridisierung: Der liminale Charakter der narrativen Apostrophe 141 3.2.2 Im Dazwischen von Fiktionalität und Faktualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.2.3 Kommunikation im und über den Text hinaus: Erzähler, Sprecher, Sprachhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3.2.4 (Basis-)Parameter der Erzählung: die Gestaltung von Raum und Zeit 194 3.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4.1.1 Eintauchen in den heilsgeschichtlichen Imaginationsraum: Immersive Strategien in Bertolds Zeitglöcklein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 4.1.2 Intimität mit dem Göttlichen: Beziehungsarbeit und Affektivität im Itinerarium Beatae Virginis Marie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.1.3 Flankierende Immersionsangebote: Kombinatorisches Erzählen . . . . 230 4.1.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 4.2.1 Ethische Vervollkommnung: Die narrative Apostrophe als › Spiegel ‹ zur Selbsterkenntnis im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth . . . 241 4.2.2 Präskriptiv, diskursiv, deskriptiv: Das Programm der andaht und die narrative Apostrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 4.2.3 Exkurs: Laienbildung en passant - Von Gottes zukunft und Christi Hort als › Wissensliteratur ‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4.2.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.3 Compendiously was remembrid thus - Christliche memoria, christliche Identität in den Legendengebeten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4.3.1 commemoratio und memoria - Erinnern als performativer Vollzug und die Rolle christlicher Erinnerungsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4.3.2 Funktionalisierte memoria: Identitätskonstitution im Rahmen der narrativen Apostrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 4.3.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 4.4 Im Spiegel der Zeit: die Du-Erzählung als Indiz soziokultureller Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 5 Eine andere Art, den Rezipienten einzubinden - Klagen und Gebete als unselbstständige Du-Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 6 Inhaltsverzeichnis <?page no="7"?> 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 6.1 Die narrative Apostrophe und alteritäres Erzählen - Erzähltheoretische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 6.2 Die narrative Apostrophe und die mittelalterliche Religionspraxis - Literaturpragmatische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 6.2.1 Immersion und Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 6.2.2 Didaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 6.2.3 Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 6.2.4 Die religiöse Apostrophe des Mittelalters und die Macht der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Anhang 1: Übersicht über die Texte des Untersuchungskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Anhang 2: Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Vormoderne Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Neuzeitliche Primärtexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Verzeichnis der Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Inhaltsverzeichnis 7 <?page no="9"?> Dank Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2019 von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet. Sie entstand während meiner Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg 1767 »Faktuales und fiktionales Erzählen«. Mein tief empfundener Dank gilt Professor Dr. Henrike Manuwald, die diese Arbeit nicht nur als Doktormutter begleitet, sondern auch angeregt hat. Ihre Begeisterung für das deutsche Mittelalter hat mich angesteckt und mir den Weg zum (für mich) spannendsten Forschungsfeld eröffnet. Mit ihrem bewundernswerten Wissen und einer in der Academia in diesem Ausmaß selten anzutreffenden Wertschätzung hat sie mich durch Studium, Examensarbeit und Promotion begleitet. Ich hätte mir keine bessere Betreuerin wünschen können. Für das Zweitgutachten und die Betreuung im Rahmen des Graduiertenkollegs 1767 danke ich Professor Dr. Monika Fludernik. Professor Dr. Martina Backes, die das Drittgutachten erstellt hat, danke ich für die herzliche Aufnahme am Deutschen Seminar und die Möglichkeit, Erfahrungen in der Hochschuldidaktik zu sammeln. Gedankt sei an dieser Stelle auch der DFG, die das Graduiertenkolleg 1767 ermöglicht und finanziert hat. Das GRK bot mir nicht nur nahezu ideale Bedingungen, um an meinem Forschungsprojekt zu arbeiten, sondern hat mir auch eine Forschungsgemeinschaft zur Seite gestellt. Von meinen MitkollegiatInnen habe ich nicht nur fachlich, sondern auch menschlich profitiert: In unzähligen Gesprächen zu allen möglichen und unmöglichen Uhrzeiten, in denen wir den großen und kleinen Fragen nachgegangen sind, sind aus KollegInnen FreundInnen geworden. Ihnen allen sei gedankt. Vor allem aber danken möchte ich Andrea Klatt und Vera Podskalsky, deren Freundschaft ich nicht mehr missen möchte. Auch den HeldInnen der zweiten Kohorte Sebastian Kleinschmidt, Tom Vanassche, Thorsten Glückhardt, Martin Hintze und Daniela Henke sowie Nikola Keller danke ich für die gemeinsame Zeit im GRK. Für viele anregende Gespräche, Gedanken und Mittagspausen danke ich auch meinen KollegInnen am Deutschen Seminar Linus Möllenbrink, Susanne Bernhardt und Charlotte Nennecke sowie den Mitgliedern des OFFG-Netzwerks (Oxford-Fribourg-Freiburg-Genf ). Zuletzt möchte ich meiner Familie meinen Dank aussprechen: meinen Eltern Karl-Heinz und Ursula Linder, die bei meinem Abenteuer in der Mediävistik wie in allen Entscheidungen immer an mich geglaubt haben, meinem Mann Lucas, der mich mit seinem naturwissenschaftlichen Geist immer wieder aus dem Elfenbeinturm herausgelockt hat, und meinen Schwiegereltern Wolfgang und Ulrike Spohn, die meine Dissertation vom ersten Exposé bis zur letzten Druckfahne begleitet haben. Ihnen allen sei dieses Buch gewidmet. <?page no="11"?> Einleitung Du schickst dich an, eine Dissertation mit dem Titel › Vom Du erzählen ‹ zu lesen. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Lass deine Umwelt im Ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer der Fernseher. Sag es den anderen gleich: »Nein, ich will nicht fernsehen! « Heb die Stimme, sonst hören sie ’ s nicht: »Ich lese! Ich will nicht gestört werden! « Vielleicht haben sie ’ s nicht gehört bei all dem Krach; sag ’ s noch lauter, schrei: »Ich fang gerade an, diese Dissertation zu lesen! « Oder sag ’ s auch nicht, wenn du nicht willst; hoffentlich lassen sie dich in Ruhe. Passagen wie diese provozieren Fragen bei ihrem Lesepublikum: Wer verbirgt sich hinter der Stimme, die anspricht, auffordert und beschreibt? Wer ist dieses › Du ‹ , von dem hier die Rede ist? Ist das eine Figur des Textes oder sind Sie das etwa, die Leserin oder der Leser? Und falls ja, warum werden Sie hier so vertraulich angesprochen? Die Situation, die hier im Text beschworen wird, ist ungewöhnlich: Da ist eine Stimme, vielleicht die des Erzählers, zumindest jedenfalls eines Sprechers - oder ist es eine Sprecherin? 1 - , der sich an eine andere Person wendet, die nicht näher bestimmt mit dem Personalpronomen der zweiten Person angesprochen wird und um deren Lektüreakt es geht. Von den Anredeformen der zweiten Person geht eine beinahe unwiderstehliche Anziehungskraft aus: Man ist versucht, die Anrede auf sich zu beziehen - eine Wirkung, die hier noch dadurch verstärkt wird, dass das angesprochene › Du ‹ die gleichen Dinge zu tun scheint wie der Rezipient im Moment der Lektüre: Nicht nur die Figur innerhalb der Textwelt, auch der realweltliche Leser - also Sie, um das metafiktionale Spiel fortzusetzen - beginnen in diesem Moment mit der Lektüre einer mediävistischen Studie mit dem Titel › Vom Du erzählen ‹ . Auch für diese bedarf es wahrscheinlich einer gewissen Konzentration, wie sie der Sprecher einfordert, wenn er an sein Gegenüber appelliert: »Sammle dich. Schieb ’ jeden anderen Gedanken beiseite.« Aufgrund dieser Parallelisierung von dem, was im Text vonstattengeht, und dem, was außerhalb der Textwelt geschieht, liegt es nahe, die Anrede auf sich zu beziehen. Erst im weiteren Verlauf manifestieren sich Unterschiede zwischen dem, was der Text beschreibt, und den tatsächlichen Umständen der Lektüre: Möglicherweise läuft im Nebenzimmer gar kein Fernseher, vielleicht gibt es auch keine anderen Personen im Umfeld des angesprochenen › Du ‹ , von denen eine Ablenkung ausgehen könnte. Viel wahrscheinlicher ist es, dass diese Studie an einem Schreibtisch gelesen wird, vielleicht in einem Büro in einer Universität oder im Lesesaal einer Bibliothek. Mit jedem neuen Detail gewinnt das angesprochene › Du ‹ , das anfangs noch völlig offen 1 In dieser Arbeit wird das generische Maskulinum verwendet, wobei damit prinzipiell alle Geschlechter gemeint sind. Da einige der Untersuchungsgegenstände, um die es in dieser Studie geht, speziell für ein weibliches Publikum konzipiert wurden, werden in diesen Fällen die weiblichen Formen verwendet. <?page no="12"?> war, an Kontur, so dass dem Rezipienten nach und nach immer klarer wird, dass das beschworene › Du ‹ eine fiktive Figur oder zumindest eine andere Person sein muss, und dass auch die beschworene Lektüresituation außer dem Titel des Textes nichts mit der realen gemein hat. Kurzum: Sie, der reale Leser, können also doch nicht mit dieser Anrede gemeint sein. Selbst dann, wenn eigentlich klar ist, dass das › Du ‹ und der reale Leser zwei verschiedene Entitäten sind, bleibt die Anziehungskraft der Anrede weiter bestehen. Damit spielen Romane wie Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979), an dessen erste Sätze die obige Passage angelehnt ist. Sie bilden in der (post-)modernen Literatur ein eigenes Genre aus, die sogenannte »Du-Erzählung«, 2 in denen in Form der Anrede erzählt wird: Der Protagonist ist zugleich Adressat einer Anrede, der Angesprochene wiederum Handlungsträger der erzählten Geschichte. Die erzählende Verwendung der Deiktika der zweiten Person mit ihrer »semantischen Unschärfe« 3 begründet die transgressive Wirkung dieser Texte, in denen Text und Wirklichkeit zu verschwimmen scheinen und in der die Möglichkeit der Identifikation mit dem angesprochenen › Du ‹ nie ganz ausgeschlossen ist. Gleichzeitig stellt die Absurdität eines Erzählszenarios, in dem dem Angesprochenen sein eigenes Handeln dargelegt wird, eine Herausforderung für den Leser dar: Gerade vom Standpunkt eines dem Natürlichkeitsparadigma verpflichteten Erzählens erscheint die unterschwellig zugrundeliegende Kommunikationssituation eines anredenden Erzählens bzw. einer erzählenden Anrede als unnatürlich 4 oder zumindest markiert, oftmals wird sie sogar als fiktional gedeutet. Auch die mittelalterliche Literatur kennt Fälle, in denen ein Gegenüber angesprochen und zugleich von seinem Wirken, Handeln und Fühlen erzählt wird. Erzählende Anreden und anredende Erzählungen haben ihren festen Platz in der religiösen Literatur: in Gebetstexten, Andachtsbüchern, in religiöser Lyrik und religiöser Epik. Zugleich wirft dieser Kontext die Frage auf, ob hier überhaupt von › Du-Erzählungen ‹ , ja sogar überhaupt von › Erzählungen ‹ gesprochen werden kann. Die mediävistische Forschung jedenfalls hat dem Phänomen der erzählenden Anrede bislang keine Beachtung geschenkt, geschweige denn versucht, mittelalterliche und moderne Varianten eines Erzählens in der zweiten Person zu vergleichen. Grund für diese Forschungslücke ist möglicherweise die Tatsache, dass die narrativ gebrauchte Anrede im Mittelalter kein eigenes Genre ausbildet, sondern eine Erzählhaltung zu sein scheint, die in einer Vielzahl von Texttypen und Gestaltungsweisen gebraucht wird. Auf den ersten Blick können mittelalterliche und moderne Varianten nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden: Als das gebein dins gemahlen kam von dem heiligen lande do er umb cristen gelöbens willen vechtende umb kommen waz. Und du mit aller priesterschaft und mit vil volckes zu bobenberg mit grosser wirdikeit im engegen giengt. Und do du dich der bore nohetest do sprecht du andechteklich mit vergiessung der trähen [»]Herre Jesu Christe ich sag dir lob und danck das du mich din dienerin hest getröstet und mir erfüllet hest die grosse begirde die ich hatt zu sehende die gebein mins bruders mir ist nie leid daz er sich selber geopfferet hett ze hilff dinem heiligen lande. Aber nun wil ich in und mich 2 Der Begriff › Du-Erzählung ‹ , im Englischen › Second-Person Fiction ‹ ist terminologisch zwar unsauber, jedoch am weitesten verbreitet. Zur Begrifflichkeit siehe auch Kapitel 1.2 bzw. Kapitel 3.1.1. 3 Schiedermair: › Lyrisches Ich ‹ und › sprachliches Ich ‹ (2004), S. 54. Siehe dazu auch Kapitel 1.1.1. 4 Vgl. Fludernik: Introduction (1994), S. 290. 12 Einleitung <?page no="13"?> bevelhen dinem göttlichen willen. Öch wölte ich in nit ob es müglich wer mit einem wort heischen zu dem leben wider dinen willen des mir ein gezuge bist.[«] (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 49b - 51a) Als die Gebeine deines Ehemanns aus dem Heiligen Land überführt wurden, wo er des christlichen Glaubens willen im Kampf umgekommen war und du mit großer Würde ihm mit der gesamten Priesterschaft und einer großen Volksmenge zu Bamberg entgegengingst, und als du dich der Bahre nähertest, sprachst du andächtig und unter vielen Tränen: »Herr Jesus Christus, ich lobe dich und danke dir, dass du mir, deiner Dienerin, Trost gespendet und den großen Wunsch erfüllt hast, ein letztes Mal die Gebeine meines Bruders zu sehen. Mir tut es nicht leid, dass er sich geopfert hat, um deinem Heiligen Land zu helfen. Aber nun will ich ihn und mich deinem göttlichen Willen unterstellen. Selbst wenn es möglich wäre, ihn mit einem Wort wieder zum Leben zu erwecken, so würde ich das gegen deinen Willen nicht wollen, dessen seist du mein Zeuge.« 5 Der Ausschnitt entstammt dem Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth. Hier scheint zunächst der Kontext die Anrede an Elisabeth von Thüringen hinreichend zu erklären. Der Text belässt es jedoch nicht bei der bloßen Anrede der Heiligen: Die Adressatin tritt zugleich als Protagonistin auf, sie handelt und spricht, ihre Gefühlswelt wird narrativ vermittelt. Obwohl die Textsorte Gebet als nicht-narrativ gilt, wird hier offenbar doch erzählt. Die Minimaldefinition, die sich in der Narratologie zur Second-Person Fiction als konsensfähig erwiesen hat, ist mit der »durchgehenden Anrede einer textinternen, handlungstragenden Figur mit dem Pronomen der zweiten Person« 6 erfüllt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die mittelalterlichen Texte mit ihren modernen Vertretern einige Gemeinsamkeiten in der Wirkungs- und Rezeptionsästhetik besitzen: Denn auch hier bringt die erzählende Anrede ausgeprägte Immersionseffekte mit sich, auch hier bemühen sich die Texte mit der Komposition von Anredeszenarien darum, den Rezipienten zu involvieren, auch hier verschwimmen die Grenzen zwischen Text und Welt. Der Unterschied besteht darin, wie die Immersion des Lesers gelingt und welchen Funktionen, Zwecken und Absichten sie untergeordnet wird. Die Einladung, sich vom Text angesprochen zu fühlen und in die Textwelt einzutreten, geht in den mittelalterlichen Texten nicht von derAnrede selbst aus; im Gegenteil, das kleine Wörtchen › Du ‹ , von dem in moderner Literatur - und in anderem Kontext auch in der mittelalterlichen - eine starke Wirkung auf den Rezipienten ausgeht, ist reserviert für einen vom Leser klar unterscheidbaren Adressaten. Potenzielle Adressaten solcher erzählenden Anreden rekrutieren sich aus dem Personal der erweiterten christlichen Heilsgeschichte. Es sind › Personen ‹ der Trinität, Heilige oder sonstige Figuren, deren Leben in adressierender Form erzählt wird; eine unbestimmte, offene Referenzialisierung ist durch frühzeitige Namensnennung von vornherein ausgeschlossen. Anders als bei den modernen Vertretern knüpft das identifikatorische Potenzial an die Position desjenigen an, der spricht, anredet und erzählt. In der mittelalterlichen Du-Erzählung als Vorläufer der postmodernen Du-Erzählungen sind 5 Das Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth wird hier und im Folgenden zitiert nach Werner Heiland- Justi: Die Legende der Heiligen Elisabeth von Dietrich von Apolda. Nach der Freiburger Klarissen- Handschrift von 1481. Freiburg/ Basel/ Wien: Herder 2015. Soweit nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen hier und im Folgenden von mir. 6 Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 12. Struktur und Funktionsweise der narrativ gebrauchten Anrede soll im weiteren Verlauf noch eingehend thematisiert werden, siehe dazu Kapitel 3.1 »Die mittelalterliche Du-Erzählung« in narratologischer Perspektive. Einleitung 13 <?page no="14"?> Offenheit und Konkretheit entgegengesetzt verteilt: Bei klar festgelegtem Adressaten ist es die Sprecherposition, die einen hohen Grad an Vagheit aufweist und den Rezipienten dazu einlädt, sich ebendiese anzueignen. Warum wird angesichts der fundamentalen Unterschiede der Vergleich mit der modernen Du-Erzählung bemüht? Die damit verbundenen Herausforderungen sind offenkundig: Die Verwendung derselben Begrifflichkeiten für zwei Phänomene, die sich beide eines erzählenden › Du ‹ bedienen, dieses jedoch auf unterschiedliche Weise gestalten, birgt zwangsläufig die Gefahr, die begriffliche Schärfe aufzuweichen. Außerdem besteht das Risiko, mit der Verwendung von Theoriemodellen, die anhand moderner Texte entwickelt wurden, die Besonderheiten mittelalterlichen Erzählens auszublenden, Gemeinsamkeiten überzubewerten und Unterschiede zu nivellieren. Zugleich liegt in der Anwendung moderner Theorien auch eine Chance: Mit ihren Besonderheiten bietet die narrativ gebrauchte Anrede narratologisch interessierten Mediävisten die Möglichkeit, Prämissen und Strategien eines mittelalterlich-religiösen Erzählens aufzudecken. Hier liegt ein Ansatzpunkt, eine historische Narratologie voranzutreiben, wie sie Mediävisten und Narratologen gleichermaßen fordern. 7 Im besten Fall profitiert auch die moderne Erzähltheorie von der Erweiterung ihrer Analysegegenstände. Die unterschiedliche Ausgestaltung der narrativ gebrauchten Anrede im Mittelalter und in der Moderne ist, so die These, auf veränderte Voraussetzungen und unterschiedliche Zielsetzungen zurückzuführen. Die unterschiedlichen Gebrauchskontexte sind Grund für den Moduswechsel, den die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe vom Mittelalter zur Moderne durchläuft: Während die erzählende Anrede in der modernen Literatur ausschließlich in fiktionalen Kontexten Anwendung findet und dort als metafiktionales Verwirrspiel zwischen Erzähler und Leser besonderen Reiz entfaltet, muss das Phänomen für die mittelalterliche Literatur der Sphäre des Faktualen zugerechnet werden. Es findet sich nahezu ausschließlich in Texten, die im Feld des Religiösen angesiedelt sind und als solche einen völlig anderen Geltungsanspruch äußern. Seien es Gebete, Andachtsbücher, religiöse Epen oder religiöse Lyrik - Textsorten, in denen die narrativ gebrauchte Apostrophe gebraucht wird, weisen eine vielfältige Funktionalisierung auf, die weit über die ästhetisch-unterhaltende Dimension hinausgeht. Diese Funktionen, Absichten, Aufgaben und Verwendungskontexte sind es, was religiöse Literatur - als »textpragmatische Kategorie« verstanden - ausmacht. 8 Die Texte des Untersuchungskorpus sind also vor allem eines: Gebrauchstexte, die den Leser in seinem Glaubensleben anleiten und begleiten wollen, die ihn auf verschiedene Arten bilden und bei der Ausbildung seiner religiösen Identität unterstützen möchten. Vor allem aber sind es Texte, die als Kommunikationsmedien fungieren, mit denen der einzelne Gläubige in den Dialog mit seinem Gott treten kann. 7 Ein ausführlicher Forschungsüberblick über den Stand des Projekts einer historisch arbeitenden Narratologie sowie über Prinzipien und Arbeitsweisen folgt an späterer Stelle, siehe Kapitel 1.3.2 »Narratologie der Second-Person Fiction und historische Narratologie« sowie Kapitel 1.4.2 »Prinzipien und Arbeitsweisen einer historisch arbeitenden Narratologie«. 8 Hartmann: Religiöse Texte als linguistisches Objekt (1973), S. 116. 14 Einleitung <?page no="15"?> Erkenntnisinteresse und Thesen Ein doppeltes Erkenntnisinteresse leitet diese Studie, die einerseits nach den narratologischen Spezifika der mittelalterlichen Du-Erzählung, andererseits nach den konkreten literatursoziologischen Funktionen fragt, die die Erzählhaltung in den Einzeltexten bzw. textübergreifend übernimmt. Beide Untersuchungsperspektiven bedingen einander: Die narratologische Untersuchung bereitet den Boden für ein vertieftes Verständnis der jeweiligen Textwirkungen, die Verwendungskontexte und Funktionen wiederum bilden den Rahmen für die narrativen Strukturen, die herausgearbeitet werden. Verfasser religiöser Texte und Theologen aller Kulturen und Epochen sehen sich vor die Frage gestellt, wie überhaupt von ihrem Gegenstand gesprochen werden kann. Für sie ist das Transzendente per se dem unmittelbaren Zugriff der Immanenz entzogen: Wie kann nun aber von einem Gegenüber gesprochen werden, das dem menschlichen Verstehen zwangsläufig fremd ist? Wie kann mit diesem transzendenten Gegenüber, dem Heiligen oder dem Göttlichen, Kontakt aufgenommen werden, wie der Dialog begonnen werden? Was leisten Texte, was leistet Sprache überhaupt, um eine Brücke zwischen dem Gläubigen und den Zielfiguren seines Glaubens zu schlagen? In diesem Sinne, so der Ausgangspunkt dieser Studie, entfalten Religionen »poetogene«, also literaturschaffende Kraft: 9 Um über religiöse Vorstellungen und Glaubensinhalte sprechen zu können, um also eigentlich außerhalb der Erfahrungswelt Liegendes zu verarbeiten, muss erst eine eigene Sprache bzw. ein spezifischer Modus der Darstellung gefunden werden, der den zu bearbeitenden religiösen Inhalten gerecht wird. Paradigmatisch dafür ist das mystische Sprechen, dessen Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz als › mystisches Paradoxon ‹ in die Forschung eingegangen ist: Sein Inhalt, die unio mystica, das Einssein mit Gott, ist ein ineffabile, das sich als Transzendenzerfahrung nicht nur dem menschlichen Verstand, sondern auch der Versprachlichung entzieht. 10 Um dennoch über eigentlich Unsagbares zu sprechen, entwickeln die Autoren der Mystik genuine Darstellungsmodi, in der die Sprache keine »Folge des Religiösen, sondern dessen Medium« ist: Sie transzendiert sich selbst und transportiert »vermittelte Erfahrung [an der] Grenze des Sagbaren«. 11 9 Der Begriff »poetogene Situation« stammt von Jan und Aleida Assmann, die damit die literaturschaffende Kraft von Geheimnissen beschreiben: Die Beobachtung, dass Geheimnisse und ihre komplexen Mechanismen von Verschleierung und Aufdeckung literarische Arbeiten provozieren, lässt sich auch auf die Religion übertragen, vgl. Assmann/ Assmann: Das Geheimnis und die Archäologie der literarischen Kommunikation (1997), S. 8. 10 Vgl. Keller: Absonderungen (2000), S. 218. 11 Haas: Sermo Mysticus (1979), S. 130. Das mystische Paradoxon besteht für Susanne Köbele darin, dass die Beschreibung durch den mystischen Text signalisiert und die sinnliche Erkenntnisdimension überschritten wird, während gleichzeitig für diese letzte Erkenntnisstufe auf die Sprache der menschlichen Sinne zurückgegriffen wird, vgl. Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. (1993), S. 80 f. Als Beispiel führt sie die Hohelied-Metaphorik in Mechthilds von Magdeburg Fließendem Licht der Gottheit an: Die Hohelied-Bilder werden gebraucht, um die Vereinigung mit Gott zu beschreiben. Die erotisch aufgeladene Sprache stellt jedoch nicht nur Analogie und Vergleichbarkeit her, sondern entfaltet auch identifikatorisches Potenzial: »So ist das Sinnliche nicht nur Vehikel für eine andere › Erfahrung ‹ , dient nicht nur der Repräsentation abstrakter Inhalte, sondern ist sprachlicher Ausdruck der Einheit«, ebd., S. 77. Erkenntnisinteresse und Thesen 15 <?page no="16"?> Wie das mystische Sprechen, so meine Hypothese, ist auch die narrativ gebrauchte Du- Anrede ein Produkt der poetogenen Kraft der Religion. In Anbetracht dessen, dass sich die Autoren volkssprachlicher religiöser Texte im späten Mittelalter dieser Erzählform verstärkt bedienen, liegt die Vermutung nahe, sie stünde in einem besonderen Zusammenhang mit dem Denkrahmen der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung, die verstärkt auf den unmittelbaren und persönlichen Kontakt mit dem Transzendenten setzt. Mit der Kontaktaufnahme sind die Funktionen dieser Erzählform noch lange nicht erschöpft. Als Produkt der poetogenen Kraft der Religion, die ganz konkrete Angebote zur Sinnstiftung und Weltdeutung bietet, Modelle zur Lebensführung entwirft und den Einzelnen einem größeren Kollektiv eingemeindet, unterstützt sie die Intentionen und Zielsetzungen von Texten, die diese in der Religion entworfenen Praktiken und Deutungsmuster spiegeln und verbreiten. Unter der Prämisse, dass die Textform nicht weniger bedeutungstragend ist als die explizit gemachten Inhalte, bestimmen die folgenden Fragen das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung: Welches religiöse Wissen, welche religiöse Erfahrungen, welche Vorstellungen transportiert die narrativ gebrauchte Du-Anrede? Welche Funktionen übernimmt die Du-Erzählform im Kontext der volkssprachlichen religiösen Literatur, welche Wirkungen erzielt sie? Zwei Thesen liegen hier zugrunde: 1. Die narrativ gebrauchte Du-Anrede erscheint sowohl produktionsästhetisch als auch rezeptionsästhetisch besonders geeignet zur Vermittlung bestimmter Inhalte. Die Du-Erzählform ist eine Strategie der Nähesprachlichkeit, die weniger die Kognition als vielmehr den Affekt des jeweiligen Rezipienten ansprechen will. Der durch die Situation der Anrede eröffnete Rahmen ermöglicht es dem Leser, in das zum »Wiedergebrauchs-ich« 12 stilisierte Text-Ich zu schlüpfen. So entfaltet sie ein immersives Potenzial und lädt zur Identifikation ein. Darüber hinaus ist der narrativ gebrauchten Du-Anrede eine dialogische Kommunikationssituation eingeschrieben, in der der einzelne Gläubige mit dem Göttlichen bzw. dem Heiligen in direkten Austausch treten kann. Bereits die äußere Textform betrachte ich hier als bedeutungstragend: Die Du-Erzählform ist Ausdruck einer Text gewordenen Gottesnähe. Gleichzeitig bereitet die immersive Wirkung der Erzählhaltung den Boden für weitere wirkungsästhetische Ziele und Absichten, die sich unter das Schlagwort › Weltdeutung und Lebensführung ‹ subsumieren lassen. 2. Die narrativ gebrauchte Du-Anrede erfreut sich besonderer Beliebtheit im späten Mittelalter bzw. erlebt eine Blüte vor dem Hintergrund spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraktiken. Die religiöse Praxis des späten Mittelalters zeichnet sich durch »neue[ … ] Formen einer Entgrenzung, einer Durchlässigkeit und eines Transfers zwischen der akademischen Theologie, der monastischen Seelsorgepraxis von Priestern und der Alltagsfrömmigkeit von Laien« 13 aus. 14 Diese soziokulturellen Veränderungen gehen im 12 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 47. 13 Hamm: Die › nahe Gnade ‹ (2004), S. 541. 14 Die Vielschichtigkeit des Laienbegriffs, der in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutung annehmen kann, zeigt Georg Steer auf, der drei Definitionen des Begriffs › Laie ‹ anführt. In einem bildungsgeschichtlichen Sinn ist › Laie ‹ ein Synonym für den illiteratus, »der weder lesen noch schreiben noch Latein kann, der nur die eigene Muttersprache beherrscht [ … ], dem weder über eine Klosterbildung noch über die Schule und Universität das klerikale Bildungsgut der lateinischen Schriftkultur zugänglich geworden ist«. Daneben wird › Laie ‹ auch in einem kirchenrechtlichen Sinn gebraucht und meint »jenes Glied der Kirche [ … ], das nicht zum klerikalen Stand gehört« und dem 16 Einleitung <?page no="17"?> Wesentlichen auf zwei Aspekte zurück, nämlich die › christologische Wende ‹ in der Gottesvorstellung und die laikalen Bestrebungen, nicht mehr nur vermittelt über den Klerus an der religiösen Praxis zu partizipieren, sondern stattdessen die religiöse Bildung und Sicherung des Seelenheils in die eigene Hand zu nehmen. Beides hängt zusammen: Dominiert im frühen und im Hochmittelalter die Vorstellung von Gott als einem allmächtigen Weltenherrscher, der nur in stark ritualisierten Kontexten und angeleitet durch eine Priesterkaste angesprochen werden darf, so setzt sich im Spätmittelalter die Vorstellung des Menschensohnes und Erlösers durch, dessen Gnadengabe an den Menschen eine persönlich-vertraute Nähebeziehung ist. Im Zuge dessen erfährt auch das religiöse Wissen eine › Demokratisierung ‹ , die sich dadurch ausdrückt, dass Laien verstärkt die eigene Frömmigkeit selbst bestimmen: Geistliche Texte in der Volkssprache und die Nachahmung monastischer Lebensentwürfe sind ebenso wie die Herausbildung neuer Wallfahrtsorte und Frömmigkeitsrituale nur einige Beispiele dafür. 15 Im Zentrum all dieser Bemühungen und Entwicklungen steht das Ideal einer von Nähe und Emotionalität geprägten Gottesbeziehung, die als Schlüssel zum Heil und als Wegbereiter der Gnadenerfahrung betrachtet wird. Dass die narrativ gebrauchte Du-Anrede im späten Mittelalter verstärkt Anwendung findet, nimmt vor diesem Hintergrund nicht wunder. Wie und in welchen narrativen Strukturen Texte erzählen, ist zeit- und kulturspezifisch semantisiert. Hier verdichten sich literarische Konventionen und kulturelle Anthropologien, die in den Denkmustern des kulturellen Felds der Religion wurzeln. Die narrative Apostrophe, so scheint es, ist als narrative Technik zugleich Produkt und Träger ihrer Vorstellungswelt. Eine sorgfältige narratologische Analyse ermöglicht es, diesen auf anderen Wegen nicht erschließbaren Vorstellungen auf die Spur zu kommen, und verspricht vertiefte mentalitätsgeschichtliche Erkenntnisse über die Epoche des Spätmittelalters. Die Studie nimmt die spätmittelalterliche Ausprägung der Erzählhaltung › narrativ gebrauchte Anrede ‹ in den Blick und entwickelt ausgehend von den Beschreibungskategorien, die die narratologische Forschung zur Second-Person Fiction anhand von Texten der Gegenwart ausgearbeitet hat, ein analytisches Instrumentarium, mit dem die Spezifika des spätmittelalterlichen Pendants ergründet werden können. Zwei grundlegende Thesen thematisieren die zentralen Unterschiede zwischen modernen und mittelalterlichen Vertretern dieser Erzählhaltung: 3. Die narrativ gebrauchte Du-Anrede taucht vornehmlich in religiösen Texten auf, ihr Personal entstammt dabei der Bibel oder dem weiteren Kontext der Heilsgeschichte. Adressat und Protagonisten der Du-Anrede sind neben Jesus oder anderen › Personen ‹ der Dreifaltigkeit vor allem Heilige wie Maria oder die im obigen Beispiel geweihten Priester gegenübersteht. Dieses Verständnis ist im Corpus Iuris Canonici verankert, wo zwischen zwei Arten von Christen (duo genera Christianorum) unterschieden wird, den clerici, die »für den Dienst der Sakramentenspendung und Predigt geweiht« sind, und den laici, die nicht ordiniert sind. Zuletzt macht Steer auch ein frömmigkeitsgeschichtliches Laienkonzept aus, nach dem Laien solche Christen sind, die »nicht nach den [evangelischen] Räten (Armut, Gehorsam, Keuschheit)« leben, sondern ein »christliches Leben in der Welt führen« und die den religiosi gegenübergestellt werden, »Geistlichen, die dem spirituellen Programm nach der Welt entflohen sind«, Steer: Zum Begriff › Laie ‹ in deutscher Dichtung und Prosa des Mittelalters (1984), S. 764 - 767. 15 Vgl. Schreiner: Laienfrömmigkeit (1992), besonders S. 72 - 75. Erkenntnisinteresse und Thesen 17 <?page no="18"?> angesprochene Heilige Elisabeth. Daraus ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zur modernen Du-Erzählung: Während diese in aller Regel fiktive oder zumindest fiktionalisierte Figuren ansprechen und deren Handeln beschreiben, richten sich die narrativen Apostrophen der mittelalterlichen Literatur an Personen, die als real existent oder existiert habend verstanden werden. In der modernen Literatur gilt die hochgradig unnatürliche Kommunikationssituation als Zeichen der Fiktionalität; für die mittelalterlichen Texte stellt die Anredesituation hingegen kein Problem dar: Für die erzählenden Anreden an Personen aus der Heilsgeschichte gibt es Präzedenzfälle aus ursprünglich nicht-narrativen Kontexten wie der Liturgie oder dem Gebet; der oder die Heilige wird außerdem als überzeitlich ansprechbar begriffen, so dass Naturalisierungsstrategien überflüssig sind. 4. Die narrativ gebrauchte Du-Anrede bildet innerhalb der mittelalterlichen Literatur kein eigenes Genre aus, sondern ist vielmehr eine Erzählhaltung, eine narrative Strategie. Als solche kann sie in einer ganzen Reihe von › Gattungen ‹ 16 zur Anwendung kommen. Innerhalb der häufig disparat gestalteten religiösen Literatur muss ein Text diese Erzählhaltung allerdings nicht durchgängig beibehalten, vielmehr kann sich die Du-Anrede als narrative Strategie mit anderen Erzählmodi abwechseln. So könnte sogar eine intradiegetisch gebrauchte narrative Du-Anrede, beispielsweise ein erzähltes Gebet, eine Totenklage oder eine Lobrede innerhalb eines Epos, als (unselbstständige) Du- Erzählung bezeichnet werden. Als gattungsübergreifend gebrauchte Sprechhaltung bewirkt die narrativ gebrauchte Du-Anrede darüber hinaus eine Annäherung verschiedener Gattungen: Erzähltexte erhalten so den Charakter gebethaften Sprechens, Gebete werden narrativer. Die angestrebte Systematisierung erlaubt nicht nur die genaue Beschreibung eines in der Forschung bislang wenig beachteten Phänomens und die Diachronisierung einer eher abgelegenen Erzählhaltung, sondern trägt auch dazu bei, einen spezifisch mittelalterlichen Erzählbegriff zu schärfen. Der schon für die Narratologie der modernen Literatur herausfordernde Sonderfall des Erzählens in der zweiten Person 17 bietet Gelegenheit, etablierte Beschreibungsmodelle und -kategorien der allgemeinen Narratologie auf ihre Ergiebigkeit für alteritäre Kulturen wie die des Mittelalters hin abzuklopfen: Welche Erzählstrukturen erweisen sich als historisch und kulturell übergreifend, wo verlaufen Kontinuitäten, wo Brüche? Inwiefern eignen sich die modernen Kategorien zur Beschreibung des mittelalterlichen Phänomens? Eine weitere zentrale These lautet daher: 5. Die narrativ gebrauchte Du-Anrede erweist sich als ein fruchtbares Erkenntnisfeld einer historisch arbeitenden Narratologie. Gilt schon die Du-Erzählung der Moderne als »test case for narratology«, 18 der die Basiskategorien der Narratologie infrage stellt und deren Neubewertung herausfordert, so trifft diese Feststellung nicht weniger auf die narrative Apostrophe der mittelalterlichen religiösen Literatur zu. Als Phänomen, das 16 Auf die Gattungsproblematik wird an späterer Stelle nochmals zurückzukommen sein. Zu einem Abriss des Problems siehe Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999). 17 Wie im Folgenden noch ausführlich thematisiert wird, zeigt die Du-Erzählung nicht nur die Grenzen strukturalistischer Modelle auf, sondern auch die Probleme der poststrukturalistischen Theoriebildung, deren »Unzulänglichkeit, d[as] Stoßen [ … ] an die eigenen Grenzen« die eigenwillige Erzählhaltung offenlegt, Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 25. 18 So lautet der Titel eines 1994 im Style-Sonderheft »Second-Person Narrative« erschienen Aufsatzes »A Test Case for Narratology« von Monika Fludernik. 18 Einleitung <?page no="19"?> sich einer festen Einordnung immer wieder zu entziehen scheint, eignet sich die narratologische Untersuchung der narrativ gebrauchten Du-Anrede besonders dazu, das Instrumentarium einer historisch arbeitenden Narratologie zu schärfen, Brüche und Kontinuitäten aufzuzeigen und grundlegende Analysekategorien wie die Dichotomie von Fiktionalität und Faktualität, den Genre-Begriff, die Figurenkonzeption sowie die verschiedenen Ebenen der literarischen Kommunikation einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Zugleich macht das reziproke Verhältnis von Inhalt und Form, das bei der narrativen Apostrophe eminent ist, die Erzählhaltung zu einem ergiebigen Untersuchungsfeld und stellt in Aussicht, das mittelalterliche Erzählen besser zu verstehen und moderne Theoriemodelle auf ihre Aussagekraft für alteritäre Texte zu überprüfen. Anlage der Studie Ein doppeltes Erkenntnisinteresse leitet diese Studie, die einerseits nach den narratologischen Spezifika der mittelalterlichen Du-Erzählung, andererseits nach den konkreten literatursoziologischen Funktionen fragt, die die Erzählhaltung in den Einzeltexten bzw. textübergreifend übernimmt. Beide Untersuchungsperspektiven bedingen einander: Die narratologische Untersuchung bereitet den Boden für ein vertieftes Verständnis der jeweiligen Textwirkungen, die Verwendungskontexte und Funktionen wiederum bilden den Rahmen für die narrativen Strukturen, die herausgearbeitet werden. Ein erster Teil (»Einführung in die Thematik und Methodisches«) legt das theoretischmethodische Fundament der Untersuchung: Abschnitt 1.1 »Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur: einführende kommunikationstheoretische Überlegungen« fragt in linguistischer Perspektive, welche Funktionen die Pronomina › Ich ‹ und › Du ‹ in der Alltagskommunikation übernehmen und wie diese vielgebrauchten Deiktika semantisiert sind. Der Blick auf die linguistische Theorie erleichtert es, ein Panorama der Verwendungskontexte des › Du ‹ innerhalb der (mittelalterlichen) Literatur zu zeichnen, die sich zwischen den Polen einer › natürlichen ‹ , das heißt dem Alltagsgebrauch entsprechenden, und einer › markierten ‹ Verwendung bewegen. Diese Umschau mündet in eine erste Annäherung an das Phänomen der mittelalterlichen narrativen Apostrophe (1.2 »Die Du-Anrede als narrative Strategie in der mittelalterlichen Literatur«). Anschließend wird der gegenwärtige Stand der Forschung zur religiösen Literatur des Mittelalters und zur historischen Narratologie bzw. zur Narratologie der Second-Person Fiction aufgearbeitet (1.3). Die »Methodischen Vorüberlegungen« (1.4) legen die Prinzipien und Arbeitsweisen einer historisch arbeitenden Narratologie und die Besonderheiten religiösen Sprechens aus soziologischer und sprachphilosophischer Perspektive offen. Der zweite Teil (»Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte«) widmet sich der Charakterisierung der Texte, die die Studie als Untersuchungsgegenstand heranzieht. In Anbetracht der mediävistischen Diskussion um den Gattungsbegriff bedarf die Systematisierung des Untersuchungskorpus nach Gattungen der Begründung (2.1 »Gattung - ein valides Kategorisierungsinstrument? «), bevor anschließend die Auswahlkriterien für das Untersuchungskorpus erörtert werden (2.2 »Das Korpus: Auswahlkriterien«). Auf dieser Basis wird das Korpus der Studie mitsamt der jeweiligen › Gattungs ‹ traditionen vorgestellt (2.3 »Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition«): Welche Bezeichnungen Anlage der Studie 19 <?page no="20"?> wählen die Texte für sich selbst? Auf welche Quellen und Traditionslinien greifen sie zurück? Welchen Zielsetzungen, welchen poetologischen Programmen verschreiben sie sich in den »Paratexten«? Wie repräsentativ sind die Texttypen jeweils in Hinblick auf die Verwendung der narrativen Apostrophe? In 2.4 »Vorläufer und Tradition der narrativen Apostrophe« geht es schließlich um die Vorbilder für das Untersuchungskorpus. Gefragt wird, was in früheren Texten bereits angelegt ist und was als › Erfindung ‹ der Autoren des Untersuchungskorpus noch hinzukommt. Angesichts der Beobachtung, dass die Untersuchungstexte nach einem strukturalistischen Narrativitätsbegriff häufig nicht als › Erzählungen ‹ gelten, überdenkt Kapitel 2.5 »Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens« den Erzählbegriff. Der dritte Teil »Narratologische Annäherungen« beinhaltet die systematische, erzähltheoretische Erschließung des Phänomens, die wiederum Voraussetzung für die Verortung der Funktionen und Wirkungsweisen der Du-Erzählung im größeren Kontext der spätmittelalterlichen volkssprachigen Frömmigkeit ist. Vor dem Hintergrund, dass eine historisch arbeitende Narratologie notwendigerweise vom Textbestand ausgehen muss, um zu vermeiden, dass mit der Verwendung narratologischer Begrifflichkeiten auch implizite Annahmen mitübernommen werden, die den früheren Artefakten nicht gerecht werden, wird dabei nicht nur auf Erzähltheorie, sondern vor allem auch auf das Textkorpus zurückgegriffen. Der Abschnitt 3.1 »Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive« setzt sich mit bestehenden narratologischen Modellen zur (modernen) Du- Erzählung auseinander und entwickelt in Anlehnung daran ein eigenes Beschreibungsinstrumentarium sowie eine Typologie der mittelalterlichen Du-Erzählung. Die spätmittelalterliche narrative Apostrophe und ihr Einsatz in einem religiösen Kontext macht die Auseinandersetzung mit narratologischen Grundkategorien und die Frage nach deren Aussagekraft für alteritäre Texte zu einem dringlichen Anliegen (Abschnitt 3.2 »Alteritäres Erzählen: die mittelalterliche Du-Erzählung als Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie«). Untersucht wird die für das mittelalterliche Erzählen so charakteristische Tendenz zur Hybridisierung, die die narrative Apostrophe des Mittelalters zu einer gattungsübergreifenden Erzählstrategie macht und die Ausbildung eines eigenständigen Genres › Du-Erzählung ‹ wie in der Moderne unterbindet (3.2.1 »Hybridisierung: Der liminale Charakter der narrativen Apostrophe«). Daneben muss angesichts der Du-Anrede als narrative Strategie im religiösen Kontext die für die moderne Narratologie fest etabliert Dichotomie zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen hinterfragt werden (3.2.2 »Im Dazwischen von Fiktionalität und Faktualität«): Dass diese Grundbegriffe für das Mittelalter nicht ohne weiteres übernommen werden können, hat die mediävistische Forschung bereits verschiedentlich deutlich gemacht. 19 Der überwiegenden Konzentration auf als fiktional verstandene Texte stellt die Studie das Beispiel hybrider Texte entgegen, die von ihrem Geltungsanspruch her als faktual zu betrachten sind, deren Ausgestaltung jedoch diese Einordnung herausfordert. Das berührt neben der Konzeption von Figuren und Erzählern und dem Evozieren einer › storyworld ‹ auch die Dichotomien zwischen histoire und discours sowie zwischen Homo- und Heterodiegese. Gefragt wird 19 Einen Überblick über Forschungstradition und die wesentlichen Fragestellungen bieten Sonja Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013) und Timo Reuvekamp-Felber: Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung. Eine kritische Bestandsaufnahme (2013). Vgl. zuletzt Schneider: Fiktionalität im Mittelalter (2020) 20 Einleitung <?page no="21"?> außerdem nach der Rolle des › Wiedererzählens ‹ und den Lizenzen, die Autoren religiöser Literatur im Umgang mit dem sakrosankten Bibeltext zukommen. Schließlich fordert die Du-Erzählung die Beschäftigung mit den gängigen Modellen der literarischen Kommunikation heraus (3.2.3 »Kommunikation im und über den Text hinaus: Erzähler, Sprecher, Sprachhandeln«), die gegenüber anderen Texten durchlässiger und offener ist. Daran knüpft die Untersuchung der auffällig vagen Gestaltung von Raum und Zeit innerhalb der Untersuchungstexte an (3.2.4 » (Basis-)Parameter der Erzählung: die Gestaltung von Raum und Zeit«). Die Analyse bildet die Grundlage für die literaturhistorische Beschäftigung mit den konkreten Beispielen der narrativ gebrauchten Du-Anrede im vierten Teil (»Kontext und Funktionen der narrativ gebrauchten Du-Anrede - Fallstudien«). Hier liegt die Annahme zugrunde, dass religiöse Literatur als »textpragmatische Kategorie« 20 bestimmte kommunikative Funktionen erfüllt. Mehrere Fallstudien untersuchen die Funktionen, die die narrative Apostrophe in den Bereichen › Immersion ‹ , › Bildung ‹ und › Identität ‹ übernimmt: Wie gelingt es den Texten, ihren Leser zu affizieren? Wie trägt die narrative Apostrophe dazu bei, die didaktischen und identitätsstiftenden Ziele zu erreichen? Diese Funktions- und Wirkungsbündel aufzutrennen, ist dabei eine arbeitspragmatische Entscheidung, die der Wirklichkeit der Texte nicht immer gerecht wird, in denen die verschiedenen Zielsetzungen mit einer Vielzahl von Textstrategien verschränkt sind. Abschnitt 4.1 »Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe« betrachtet die narrative Apostrophe am Beispiel des Zeitglöckleins als genuin immersive Strategie, die darauf zielt, einen › Imaginationsraum ‹ zu erschließen. Damit verwandt ist der Einsatz von Strategien der Nähesprachlichkeit, die der Beziehungsarbeit dienen und mit der Stilisierung der Sprecherbzw. Senderrollen arbeiten - als Beispiel hierfür fungiert das Itinerarium Beatae Virginis Mariae. Den Abschluss des ersten Abschnitts bilden Beispiele, in denen das immersive Potenzial der narrativen Apostrophe durch weitere Angebote des Sich-Versenkens, beispielsweise durch Bildmedien, ergänzt wird (4.1.3 »Flankierende Immersionsangebote: Kombinatorisches Erzählen«). Im zweiten Abschnitt 4.2 »Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe« wird ausgehend von der These, dass die Texte des Korpus mehr sein wollen als bloße Erzählung, danach gefragt, inwiefern die narrative Apostrophe die didaktische Wirkung der Texte verstärkt. Die Inhalte, die dabei vermittelt werden, fallen nicht nur in die Bereiche Glaubens- und Sachwissen. Vielmehr, so zeigt das Beispiel des Elisabethgebets, fördert die narrative Apostrophe beim Rezipienten Selbstbildungsprozesse. Auf vielfältige Weise zur Anschauung gebracht wird durch die narrative Apostrophe implizites Wissen tradiert, nämlich Glaubenspraktiken wie die Frömmigkeitshaltung der andaht. Die narrative Apostrophe entfaltet so immer wieder eine doppelte Wirkungsästhetik aus Anleitung und Vollzug. Inwiefern die spätmittelalterliche religiöse Literatur auch über die narrative Apostrophe hinaus zur Laienbildung beitragen kann, zeigt die Fallstudie zu den den beiden religiösen Epen Christi Hort und Von Gottes zukunft. 20 Religiöse Literatur als »textpragmatische« Kategorie ist für Peter Hartmann ein »über die Verwendungskontexte definierbarer Begriff hinsichtlich (beliebiger) Textsorten«. Demnach sei das › Religiöse ‹ also »keine Qualität der Texte qua textuell geformter Sprach[verwendung] [ … ], sondern ein Charakteristikum ihrer Funktion, Absicht, Aufgabe oder ähnlich [sic]«, Hartmann: Religiöse Texte als linguistisches Objekt (1973), S. 116. Darauf wird jedoch später nochmals zurückzukommen sein. Anlage der Studie 21 <?page no="22"?> Daran anknüpfend untersucht der dritte Abschnitt »Christliche memoria, christliche Identität in den Legendengebeten« (4.3) das selbstbildende Potenzial der narrativen Apostrophe im Kontext einer übergeordneten christlichen Identität. Ausgangspunkt hierfür ist die Frage, welche Mechanismen des Erinnerns und der Identitätsstiftung in Zusammenhang mit der narrativen Apostrophe greifen. Am Beispiel der Legendengebete geht es um den performativen Aspekt der memoria, des Gedächtnishandelns, der in der involvierenden narrativen Apostrophe bereits angelegt ist, sowie um die Gegenstände dieses Erzählens als performative Aktualisierung eines zugrundeliegenden Heilshandelns. Schließlich wird gefragt, welche Momente der Fremd- und Selbstzuschreibung die narrative Apostrophe abruft. Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet (4.4 »Im Spiegel der Zeit: die Du-Erzählung als Indiz soziokultureller Entwicklungen«): Inwieweit spiegelt die Erzählhaltung der narrativ gebrauchten Anrede die theologischen Grundüberzeugungen des späten Mittelalters? Welche kulturellen Tendenzen korrespondieren mit den Effekten und Intentionen der narrativen Apostrophe? Der letzte Teil »Erzählte Klagen und Gebete als naturalisierte Du-Erzählungen« richtet den Blick auch auf solche Textbeispiele, in denen die narrative Apostrophe in einen größeren Erzählzusammenhang, etwa in eine Figurenrede, eingebettet ist. Diese Beispiele erweitern die in der narrativen Apostrophe initiierte Kommunikation über einen religiösen Adressatenkreis hinaus. Im Zentrum dieses Kapitels stehen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowohl der narratologischen Strukturen als auch der Funktionalisierung der narrativen Apostrophe. Die Studie schließt mit einem »Fazit«, in dem die Ergebnisse entsprechend der theoretischen und literaturpragmatischen Doppelperspektive und im Rückgriff auf die eingangs aufgestellten Thesen systematisiert werden. Dass die Analyse der narrativen Strukturen einen vertieften Blick auf Wirkungspotenziale, Kontexte und das zugrundeliegende Weltbild des untersuchten Materials ermöglicht und welche Anknüpfungspunkte sich für weitere Untersuchungen ergeben, soll im Fazit nochmals unterstrichen werden. 22 Einleitung <?page no="23"?> 1 Einführung in die Thematik und Methodisches Wer du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand. Denn wo Etwas ist, ist anderes Etwas, jedes Es grenzt an andere Es, Es ist nur dadurch, daß es an andere grenzt. Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht. Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in der Beziehung. (Martin Buber) 1 Dass der Mensch Wirklichkeit und Welt gefiltert durch seine eigene Sprache wahrnimmt, ist spätestens seit Ludwig Wittgensteins Diktum, Sprache sei »unhintergehbare Bedingung des Denkens«, 2 ein Gemeinplatz nicht nur in der Sprachphilosophie: Kommunikation und Text übernehmen wesentliche Funktionen für die Weltdeutung des Einzelnen, Sprache dient als Medium der Sinnstiftung. In ihr tradiert sich nicht nur das kulturelle Gedächtnis, auch die Geschichte des Individuums wird als Narrativ wahrgenommen, das im Moment der Versprachlichung erst greifbar wird. 3 Zentral ist dabei das › Dialogische ‹ , das als »Sozialstruktur des Menschen« 4 schlechthin nicht nur die philosophische Diskussion des 20. Jahrhunderts, sondern auch die individuelle Kommunikation bestimmt, in der Alltagssituation ebenso wie im kommunikativen Ausnahmezustand, gleichermaßen in Wort und Schrift. 5 In den oben zitierten Worten Martin Bubers klingt das an: Beziehung konstituiert sich ebenso wie das Menschsein in der Sprache. Sprache, so die einhellige Meinung von Philosophie und Psychologie, bewegt sich nicht im luftleeren Raum, sondern zielt immer auf einen Partner. Entstanden ist sie gewissermaßen aus der Situation der Anrede heraus: Sie ist dem »Individuum und allen seinen Akten vorgegeben« 6 und übernimmt so eine Gemeinschaftsfunktion. Sprechen ist Handeln, das Wirklichkeit beeinflusst und neue Verhältnisse erst schafft. Sprache spielt sich in einem »Zwischenraum« zwischen › Ich ‹ und › Du ‹ ab. Auf diese Weise bildet sie einen »dem einzelnen vorgegebene[n] [Horizont der] Deutung der Welt« 7 und entfaltet im Dialog ihre »integrierende Funktion«. 8 Zunächst ist nämlich jeder 1 Buber: Das dialogische Prinzip (1984), S. 8. 2 Stierstorfer: linguistic turn (2008), S. 447. Dass Sprache »nicht nur etwas Äußerliches [sei], sondern [ … ] in die Wurzeln des Menschseins hinein[reiche]«, war auch schon für Philipp Melanchthon, den praeceptor Germaniae, Gewissheit, der mit seiner Auffassung, religiöse Bildung müsse über die Werkzeuge der Sprache vermittelt und erworben werden, auch den Gedanken spätmittelalterlicher Frömmigkeitsstrategien benannte, vgl. Friedrich: Heilsvergegenwärtigung durch Bildung (2012), S. 280 f. 3 Vgl. Wolf: Dystopian Speculations and Other Reflections on the Relevance of Narratives for Human Life (2013), S. 2 f. 4 Bauer: Zur Poetik des Dialogs (1969), S. 1. 5 Vgl. Hoberg: Einführende Überlegungen zu › Sprache und Religion ‹ (2009), S. 9. 6 Bauer: Zur Poetik des Dialogs (1969), S. 1. 7 Bauer: Zur Poetik des Dialogs (1969), S. 2. 8 Bauer: Zur Poetik des Dialogs (1969), S. 2. <?page no="24"?> Sprecher, jede Sprecherin Zentrum des eigenen kognitiven Universums, erst im Moment der Anrede erfährt dieses Sprecher-Ich den Anderen als Mitmenschen und Mitglied einer größeren Kommunikationsgemeinschaft, die in der Dialogsituation als ein » › Wir ‹ oder › Einander ‹ « 9 begriffen wird. Im Akt des Sprechens tritt das › Ich ‹ in Beziehung zu einem Gegenüber. Das erfordert nicht nur ein Bewusstsein über die äußere Welt, sondern trägt auch zur Konstitution des Selbsts bei, wenn das › Ich ‹ die eigene Subjektivität bekundet und die eigene Sicht auf die Welt darlegt. 10 . Grundsätzlich ist das Gespräch mit dem Gegenüber auf Präsenz ausgerichtet, denn die kommunikative Situation erfordert eine reale oder virtuelle Gleichzeitigkeit des Sprechens, Verstehens und Reagierens, eine »dialogische Gegenwart, in der Ich und Du sich treffen«. 11 Während das Anreden als Grundbedingung des Dialogs an die Gegenwart gebunden ist, wird im Bereden, im Sprechen über etwas, ein Ausgreifen in der Zeit über das Hier und Jetzt hinaus möglich. Auch innerhalb der Literatur hat das Dialogische eine lange Tradition. Von den philosophischen Dialogen Platons bis hin zu Leseranreden firmiert es als grundlegende kommunikative Form. Strategien des Dialogischen erlangten zudem eine besondere Bedeutung in den religiösen Kulturen. Gerade die religiöse Kultur des späten Mittelalters, die zunehmend die individuelle Gottesbeziehung in den Vordergrund rückte, brachte eine Vielzahl von Texten hervor, die den › Dialog ‹ mit dem Göttlichen begleiten wollten. Grundmedium einer › Kontaktaufnahme ‹ mit dem Göttlichen ist das Gebet als »vornehmlich › personhafte ‹ , dialogische Zuwendung zu [ … ] Gott«. 12 Indem sie eine »asymmetrische Kommunikation« 13 einleitet, ist die Anredesituation konstitutiv, zugleich setzt sie, wie moderne Religionswissenschaftler und mittelalterliche Theologen gleichermaßen betonen, Glauben und eine bestimmte innere Haltung voraus. 14 Eine besondere Form »verschrift(lich)ter« 15 Dialogizität besitzen Texte, die von einem › Du ‹ erzählen und auf diese Weise die dialogische Situation des Gebets mit der Erzählung als Medium des Glaubens verknüpfen. Denn als »Erzählgemeinschaft« 16 aktualisiert sich das Christentum in Erzählungen über das Wirken Gottes in der Welt. Indem sie das Narrativ mit der Anrede an ein Gegenüber verknüpfen, verbinden die Texte die präsenzstiftende Macht der Anrede, die das Gebet zum Kommunikationsmedium mit dem Transzendenten macht, mit der identitätsstiftenden Funktion der Erzählung. Zur Synthese gebracht werden die Vergangenheit des Sprechenden und des Angesprochenen (die › Erzählung ‹ ) sowie die situative Gegenwart (der Dialog). Was für den Dialog im Allgemeinen gilt, dass nämlich die 9 Bauer: Zur Poetik des Dialogs (1969), S. 1. 10 Vgl. Bauer: Zur Poetik des Dialogs (1969), S. 4. 11 Grabher: Das lyrische Du (1989), S. 60. 12 Ratschow: Gebet (1984), S. 32. 13 Es folgt eben kein »Wechselspiel von Reden und Hören, Wort und Antwort, sondern [eine] kontemplative Anrede an Gott, eine Rede vor Gott«, Bernhardt: Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets (2006), S. 105. 14 Ratschow: Gebet (1984), S. 32. 15 Die mediävistische Forschung zur Mündlichkeit unterscheidet zwischen »Verschriftung« als »rein mediale[r] Transposition vom phonischen ins graphische Medium« und »Verschriftlichung« als »komplexe[m] Prozess[ … ] sprachlicher und/ oder weiterreichender kultureller Natur«, Schäfer: Die Funktion des Erzählens zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2004), S. 87. Die Transposition einer prinzipiell mündlichen Kommunikationssituation, die jedoch für das und im Medium der Schrift konzipiert wird, hat Anteile an beiden Prozessen. 16 Mauz: Theologie und Narration (2012), S. 42. 24 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="25"?> Vergegenwärtigung im Gespräch es ermöglicht, das Gegenüber »in seinem So-Sein und Anderssein [zu] bestätigen, seine Fremdheit [zu] akzeptieren«, 17 gilt im Besonderen für die erzählenden Anreden. Sie beinhalten die Geschichte des Göttlichen als Voraussetzung des Glaubens und praktizieren, was auf Grundlage dieses Glaubens möglich ist, nämlich die Beziehung des Einzelnen zum Göttlichen und die Teilhabe am Heil. Als Teil der religiösen Kultur ermöglichen die Du-Erzählungen des späten Mittelalters es ihren Rezipienten, sich nicht nur ihrer selbst, sondern auch des göttlichen Gegenübers bewusst zu werden und abstraktes Wissen in konkrete Überzeugungen zu überführen. 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur: kommunikationstheoretische Überlegungen › Du ‹ und › Ich ‹ gehören zum unverzichtbaren Wortschatz einer Sprache, Alltagskommunikation ohne diese Wörtchen scheint undenkbar. Auch in Texten, seien sie nun literarisch oder nicht, begegnen die beiden Pronomina auf Schritt und Tritt: Entspricht ihre Verwendung dabei dem Alltagsgebrauch, bereitet ihr Auftauchen keine Probleme. Weicht der Gebrauch der Pronomina im literarischen Text hingegen von dem in der Alltagskommunikation ab, so bergen sie ein erhebliches Irritationspotenzial. Warum die scheinbar unauffälligen Wörtchen › Du ‹ und › Ich ‹ innerhalb der Textkommunikation zwischen Markiertheit und Natürlichkeit oszillieren, zeigt sich beim Blick auf die linguistischen und kommunikationstheoretischen Prämissen. Ausgangspunkt ist die unmarkierte, natürliche Verwendung der Personalpronomina › Ich ‹ und › Du ‹ in der Alltagskommunikation: Die linguistische Theorie ermöglicht einen differenzierten Blick auf die semantische Offenheit, die die beiden Pronomina auszeichnet und ihre Flexibilität im Rahmen der Kommunikation im natürlichen Alltagsgebrauch begründet. Daran schließt sich die Frage nach der Verwendung von Personalpronomina in literarischen Texten an, die die Beschäftigung mit dem eigentlichen Untersuchungsgebiet der Studie ebnet. 1.1.1 › Du ‹ und › Ich ‹ in linguistischer Perspektive Fragt man nach der Bedeutung der beiden Wörter › Du ‹ und › Ich ‹ im Alltagsgebrauch, so stellt man schnell fest: Sie besitzen keine universelle lexikalische Bedeutung, sondern wechseln ihre Referenzenzialisierung entsprechend der jeweiligen Sprechsituation. 18 Im Alltagsgebrauch dienen sie dazu, auf eine beteiligte Person zu referieren. › Ich ‹ verweist auf den Sprecher, › Du ‹ auf den Adressaten, nur im Moment der jeweiligen Äußerung besitzen sie eine eindeutige Referenz. Bei dieser »semantische[n] Unschärfe« 19 ist die einzige Bedeutungskonstante also die »personale Identität des Referenten«, also desjenigen, der › Ich ‹ sagt oder mit › Du ‹ adressiert wird; die »Bezugspunkte« hingegen können wechseln. 20 Sie sind »Individualmarker«, 21 die immer wieder neu verhandelt werden. 17 Grabher: Das lyrische Du (1989), S. 60. 18 Vgl. Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 102. 19 Schiedermair: › Lyrisches Ich ‹ und sprachliches › Ich ‹ (2004), S. 54. 20 Fois-Kaschel: Das Unpersönliche am poetischen Ich (2007), S. 219 f. 21 Bühler: Sprachtheorie (1934), S. 107. 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 25 <?page no="26"?> Émile Benveniste charakterisiert die besondere »referentielle Organisation« von › Ich ‹ und › Du ‹ , indem er sie von Eigennamen und Substantiven abgrenzt: 22 Jede Gebrauchsinstanz eines Namens bezieht sich auf einen konstanten und › objektiven ‹ Begriff, der virtuell bleiben oder sich in einem besonderen Gegenstand aktualisieren kann und der immer identisch bleibt in der Darstellung, die er hervorruft. Aber die Gebrauchsinstanzen von ich bilden keine Referenzklassen, denn es gibt kein definierbares › Objekt ‹ wie ich, auf das diese Instanzen sich identisch beziehen könnten. Jedes ich besitzt seine eigene Referenz und entspricht jedesmal einem einzigen Wesen, das sich als solches hinstellt. 23 › Ich ‹ und › Du ‹ beziehen ihre Bedeutung also immer aus der Realität des Diskurses; anders als nominale Zeichen sind sie keine Signifikanten eines Gegenstands: »Ich bedeutet › die Person ‹ , welche die gegenwärtige Diskursinstanz, die ich enthält, aussagt ‹ .« 24 Analog dazu definiert Benveniste auch die Bedeutung des › Du ‹ , die er mit der Situation der Anrede verknüpft: › Du ‹ ist »die Person, die in der gegenwärtigen Diskursinstanz, welche die sprachliche Instanz du enthält, angesprochen wird.« 25 Wie lässt sich diese instabile Referenzialisierung genauer fassen? In Grammatiken werden die beiden Worte › Ich ‹ und › Du ‹ zur Klasse der Personalpronomina gezählt. 26 Während die Pronomina der dritten Person Pronomina im Wortsinn sind und in der Terminologie der Linguistik eine phorische Funktion besitzen, also anstelle des Nomens auf bereits genannte (anaphorisch) oder noch zu nennende Gegenstände (kataphorisch) 22 Gemeinsam mit Karl Bühler und Konrad Ehlich gehört Émil Benveniste zu den einflussreichsten Linguisten, die sich mit den Besonderheiten der Personalpronomina beschäftigten. Benveniste, der sich eingängig mit dem menschlichen Vermögen zur Kommunikation beschäftigte, betrachtete »Sprachlichkeit« als das »basale Moment der Konstitution des Menschen«, vgl. Janine Böckelmann: Die Semiotik des Sozialen (2012), S. 11. Diese linguistisch-sprachphilosophische Fragestellung macht Benveniste, dessen Schaffenszeit in die 1960er und 1970er fällt, auch heute für Linguisten wie Literaturwissenschaftler anschlussfähig. Seine Überlegungen zum diskursiven Charakter der Personalpronomina bilden daher nicht nur die Grundlage für die neuere Forschung zur Deixis, sondern können auch für diese Studie fruchtbar gemacht werden. 23 Benveniste: Die Natur der Pronomen (1974), S. 280 f. 24 Benveniste: Die Natur der Pronomen (1974), S. 281. 25 Benveniste: Die Natur der Pronomen (1974), S. 281. 26 Für Benveniste kann der Begriff › Person ‹ nur für die erste und zweite Person gelten, vgl. Benveniste: Die Natur der Pronomen (1974), S. 280. Auch Klaus Heger spricht sich für eine differenzierte Betrachtungsweise der Pronomina aus: Für ihn sind die grammatischen Personen keine Einheiten, die auf gleicher Ebene miteinander verglichen und zusammengefasst werden sollten. Stattdessen identifiziert Heger zwei Oppositionen, die eine hierarchische Abstufung beinhalten und in denen sich die »Grundgegebenheiten jeder Sprechsituation« widerspiegeln. Darunter versteht Heger im Anschluss an Bühlers Organon-Modell der Sprache die kommunikative Trias von Sender, Empfänger und den Gegenständen, über die gesprochen wird. Den Personenbegriff weist auch Heger allein der ersten und zweiten Person zu, die er als personnes von der non-personne der dritten Person abgrenzt. Dass › Ich ‹ und › Du ‹ gegenüber den Pronomina der dritten Person näher aneinanderrücken, bezeichnet er als »corrélation de personnalité«. Heger greift hier den Gedanken Lucien Tesnières auf, der der ersten und zweiten Person den Status ontif zuweist und die dritte Person als anontif demgegenüber stellt. Nach dieser grundsätzlichen Unterscheidung zwischen den Personen-haltigen Pronomina der ersten und zweiten Person und der non-personne der dritten Person macht Heger auf einer hierarchisch untergeordneten Ebene eine »corrélation de subjectivité« aus, die die beiden Standpunkte von › Ich ‹ und › Du ‹ nochmals genauer beleuchtet: Während er die Subjektivität der ersten Person herausstellt, sieht er in der zweiten Person, im antiontif, das Gegenstück zu dieser Subjektposition realisiert, vgl. Heger: Personale Deixis und grammatische Person (1965), S. 77. Dazu auch Berdychowska: Die Person und ihre Identifizierung (2007), S. 2. 26 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="27"?> verweisen, gehören die Pronomina der ersten und zweiten Person zum › Sprachmodus ‹ des Zeigens. Sie beziehen sich auf eine konkrete Gesprächssituation und bezeichnen im Wechsel Sprecher oder Hörer. 27 Die Pronomina der dritten Person sind deskriptiv. Sie werden dazu gebraucht, einem Anderen die Welt zu erklären. Die Pronomina der zweiten Person hingegen dienen primär der Interaktion mit einem Adressaten, während die Pronomina der ersten Person zwischen beiden Funktionen oszillieren. 28 In der Linguistik fallen die Personalpronomina unter das Konzept der › Deixis ‹ , 29 von griechisch δείκνυμι ( › ich zeige ‹ ). Bereits in der Antike bezeichnete der Rhetoriker Apollonius Dsykolos bestimmte Wörter aufgrund ihrer Verweisfunktion als ἄρθρα δείκτικα , als »hinweisende Gelenkwörter«. 30 Auch in der modernen Lingustik wird das Phänomen Deixis noch als »Sonderfall« 31 verstanden. Zwei Betrachtungsweisen kristallisieren sich dabei heraus: 32 ein zeichentheoretisch-sprachphilosophischer Ansatz, der maßgeblich von Charles S. Peirce geprägt wurde und den Deiktika auf Grundlage einer Einteilung der Zeichen in Symbol, Index und Ikon nachgeht, und eine auf Karl Bühler zurückgehende handlungstheoretisch-sprachpsychologische Richtung, in der das mit den Deiktika bewerkstelligte »Verständigungshandeln zweier Interaktanten« im Vordergrund steht. 33 Die zeichentheoretische Deixis-Konzeption setzt an der instabilen Referenzialisierung von Ausdrücken wie › Du ‹ , › Ich ‹ , › Hier ‹ oder › Jetzt ‹ an und begreift diese als »Ausdrucksklasse [ … ], deren Bedeutung anders als die symbolischer oder ikonischer Zeichen systematisch situationsabhängig« ist. 34 Die Bedeutung solcher Ausdrücke, die Peirce als deiktisch oder indexikalisch bezeichnet, kann demnach nur aus einem bestimmten pragmatischen Kontext heraus erschlossen werden. 35 Das macht die Deiktika in semiotischer Hinsicht austauschbar: Ihre Referenz ergibt sich aus dem Prinzip der Substitution, 36 27 Kähne: Anreden. Absichten. Apostrophen (2015), S. 21. 28 Vgl. Hoop/ Hogeweg: The Use of Second Person Pronouns in a Literary Work (2014), S. 111. 29 Wolfgang Müller sieht in der linguistischen Deixis-Konzeption den Versuch, »mit diesem Begriff jene Aspekte einer sprachlichen Äußerung zu erfassen, die sich auf den räumlichen und zeitlichen Standort des Äußerungsträgers und seine Interrelation mit dem Hörer beziehen«, Müller: Die Anrede an ein unbestimmtes Du in der englischen und amerikanischen Erzählkunst (1984), S. 118. 30 Vgl. Ehlich: Deixis und Anapher (1983), S. 82 bzw. Schiedermair: › Lyrisches Ich ‹ und sprachliches › Ich ‹ (2004), S. 63 f. Auch Kameyama bezieht sich auf Apollonius Dyskolos, um die Etymologie des Begriffs › Deixis ‹ zu klären, vgl. Kameyama: Persondeixis, Objektdeixis (2007), S. 577. 31 Braunmüller: Referenz und Pronominalisierung (1977), S. 119. 32 Braunmüller: Referenz und Pronominalisierung (1977), S. 119. 33 Schiedermair: › Lyrisches Ich ‹ und sprachliches › Ich ‹ (2004), S. 64 f. Schiedermair führt in ihrer synoptischen Behandlung der verschiedenen Deixiskonzeptionen außerdem noch die von Bertrand Russell geprägte logikorientierte Richtung an, die sie jedoch aufgrund ihrer anders gelagerten Fragestellung - hier geht es vor allem um den Wahrheitsgehalt von Propositionen - nur streift, vgl. ebd., S. 65. Sie weist außerdem darauf hin, dass die moderne Deixisforschung vor allem an Bühler anknüpft, dessen 1934 erschienenes Hauptwerk »Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache« 1965 eine Neuauflage erfuhr, die nicht nur die Rezeption von Bühlers Theorien, sondern auch die Beschäftigung mit dem Phänomen der Deixis enorm befeuerte. Auch diese Studie folgt Schiedermair in der Konzentration auf den zeichenbzw. handlungstheoretischen Ansatz. Ebenso wie die Arbeiten Émil Benvenistes gelten auch diejenigen Bühlers »bis heute als bewährte Grundlage für die Beschreibung sprachlicher Subjektivität«, Lösener: Die Origo der Subjektivität (2010), S. 155. 34 Kameyama: Persondeixis, Objektdeixis (2007), S. 578. 35 Vgl. Kameyama: Persondeixis, Objektdeixis (2007), S. 578. 36 Vgl. Kameyama: Persondeixis, Objektideixis (2007), S. 579. Das Konzept der Stellvertreterschaft bestimmt auch die von Monika Fludernik zitierte Deixis-Definition von Stephen Levinson, der die 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 27 <?page no="28"?> die Deixis ist demnach ein »Identifizierungsverfahren des zeigend denotierten Objekts«. 37 Ein Deiktikum ist somit ein leeres Zeichen, das sich vor allem durch das »Fehlen einer › Referenz auf ein definierbares Objekt ‹ « 38 auszeichnet. In der handlungstheoretischen Richtung werden Deiktika als Mittel der sprachlichen Kommunikation verstanden. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen dem »Symbolfeld« und dem »Zeigfeld« der Sprache. 39 Die Deiktika sind nach Karl Bühler klar im Zeigfeld verortet, 40 wo sie den Sprechverkehr zwischen Sender und Empfänger bestimmen. In diesem Rahmen übernehmen »Zeigwörter« gänzlich andere Funktionen als die sogenannten »Nennwörter«. 41 In einer minimal ausgestalteten Sprechsituation beispielsweise unterhalten sich zwei Sprecher über einen Gegenstand. Dabei bedienen sie sich zeigender Gesten, um sicherzustellen, dass die Aussage vom jeweils Anderen verstanden wird. Diese »demonstratio ad oculos« spielt sich in einem »System subjektiver Orientierung« ab. 42 Für Bühler vollzieht sich sprachliche Handlung als soziales Geschehen zwischen drei Positionen: einem Sender (1), der einem Empfänger (2) einen Sachverhalt (3) mitteilt. Alle drei Koordinaten erfüllen eine idealtypische Funktion: die Ausdrucksfunktion, in der der Sprecher das Zeichen zu einem »Ausdruck« seiner selbst macht, die Appellfunktion, in der sich das Zeichen wie ein Signal an den Empfänger richtet und diesen zu einer Handlung veranlasst, und die Darstellungsfunktion, in der das Zeichen als Informationsträger für den verhandelten Sachverhalt oder Gegenstand fungiert. Der Interaktant, der als Sprecher die Äußerung tätigt, bestimmt die Perspektive auf die Sprechhandlung: Er setzt einen »Koordinatenausgangspunkt« für die räumlich-zeitliche Organisation der Wahrnehmung, die Origo, 43 der als Nullpunkt des › Hier ‹ und › Jetzt ‹ die Sprechhandlung räumlich und zeitlich verortet. Gleichzeitig fungiert die Origo als »Ursprung aller umgesetzten Perspektiven und Bezeichnungen«. 44 Von hier aus ergeben sich alle weiteren Relationen der Sprechsituation, die in den Bühlerschen Feldern der Deixis nach dem jeweiligen »Grad des Sprecherbezugs« angeordnet sind. 45 Die Felder 1 und 2 besetzen die an der Sprechsituation Beteiligten: Während die Feld 1bzw. »hic-Deixis« die Rolle des Subjekts verankert, dessen Origo das ganze Wahrnehmungsfeld bestimmt, entspricht die Feld 2bzw. »istic-Deixis« der »Kategorie des Gegenübers«. Sie ist ebenfalls in der Perspektive des › Ichs ‹ verankert, aber von einem realen oder nur gedachten Abstand zwischen › Ich ‹ und › Du ‹ geprägt. Die Felder 3 und 4 hingegen sind von der dritten Person Kontextabhängigkeit betont: »[T]he interpretation of utterances [i. e. deictic utterances] depends on the analysis of that context of utterance. Thus the pronoun does not name or refer to any particular entity on all occasions of use; rather it is a variable or place-holder for some particular entity given by the context (e. g. a gesture). (Levinson 1983: 54)«, Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 102. 37 Schiedermair: › Lyrisches Ich ‹ und sprachliches › Ich ‹ (2004), S. 66. 38 Schiedermair: › Lyrisches Ich ‹ und sprachliches › Ich ‹ (2004), S. 60. 39 Kähne: Anreden. Absichten. Apostrophen (2015), S. 21. 40 Alles Deiktische »erfährt im Zeigfeld die Bedeutungserfüllung und Bedeutungspräzision von Fall zu Fall«, Bühler: Sprachtheorie (1965), S. 80. 41 Kameyama: Personaldeixis, Objektdeixis (2007), S. 580. 42 Schiedermair: › Lyrisches Ich ‹ und sprachliches › Ich ‹ (2004), S. 54. 43 Vgl. Bühler: Sprachtheorie (1934), S. 102. 44 Marschall: Vokative und Anredeformeln (2007), S. 72. 45 Marschall: Vokative und Anredeformeln (2007), S. 72. 28 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="29"?> besetzt: »Ein ER/ SIE/ ES bezeichnet eine Person oder ein Objekt, die oder das zwar im realen Ich/ Du-Situationskontext anwesend sein kann, aber - als › das Andere ‹ - nicht zur inneren ICH/ Du-Gegenseitigkeit gehört.« 46 Hier ist Platz für den Gesprächsgegenstand, der zwischen den beiden Gesprächspartnern › Ich ‹ und › Du ‹ verhandelt wird. 47 Da sich alle Teilnehmer der Sprechsituation prototypisch egozentrisch orientieren, 48 lassen sich die personalen Deiktika › Du ‹ und › Ich ‹ als › Rollenpronomen ‹ verstehen. 49 Diese Kommunikationsrollen sind dabei genauso umkehrbar wie die ihnen jeweils zugeordneten Pronomina. 50 Eine »nicht eliminierbare Subjektivität« 51 ergibt sich daraus, dass die Kommunikationspartner an die jeweils eigene Origo gebunden sind; eine erfolgreiche Kommunikation verlangt dem Sprecher deshalb stets eine Interpretationsleistung ab. 52 Unter dem Stichwort › Orientierungsleistungen ‹ hat Konrad Ehlich derartige Interpretationen untersucht, die mit dem Gebrauch von Deiktika verbunden sind. Sogenannte › deiktische Prozeduren ‹ finden dann statt, wenn ein Sprecher in einem bestimmten Verweisraum auf einen Gegenstand oder Kommunikationspartner verweist. Sie lassen sich in vier Teilprozesse zerlegen: Zunächst richtet der Sprecher seine Aufmerksamkeit auf ein Objekt, auf das verwiesen wird, in einem zweiten interaktionalen Schritt orientiert der Sprecher den Hörer, indem er eine Sprechhandlung initiiert, die einen deiktischen Ausdruck enthält und von einer nonverbalen deiktischen Handlung, beispielsweise einer Zeigegeste, begleitet sein kann. Die Verarbeitung dieser Sprechhandlung erfolgt auf Hörerseite in einem dritten Teilprozess, wenn der Hörer die Sprechhandlung mitbzw. nachvollzieht und schließlich in einem vierten Schritt die eigene Aufmerksamkeit auf das Verweisobjekt richtet. 53 Der prototypische Ort einer deiktischen Prozedur ist der Wahrnehmungsraum, der mit der unmittelbaren Sprechsituation eröffnet wird und der Bühlers Grundsituation der › demonstratio ad oculos ‹ entspricht. Menschliche Kommunikation wäre jedoch kaum leistungsfähig, wenn deiktische Prozeduren nur in solchen Verweisräumen stattfänden, die Sprecher und Hörer teilen. Vielmehr können Zeigegesten und deiktische Sprechakte in einen anderen Verweisraum verlagert werden, der durch Text, Rede oder in der Vorstellung begründet ist. Innerhalb der Sprechsituation fungieren Deiktika »als die sprachlichen Äquivalente eines gestischen (leibgebundenen) Zeigens«. 54 Im Rederaum, das heißt in der 46 Marschall: Vokative und Anredeformeln (2007), S. 74. 47 Die Felder 3 und 4, auch bezeichnet als dieserbzw. jener-Deixis, gliedern sich entsprechend der jeweiligen Distanz, die ihre Gegenstände zu den Personen der Felder 1 und 2 aufweisen; Feld 3 wird bezeichnet als eine »Zone der Nähe«, das Feld 4 als eine »Zone der Ferne«, vgl. Marschall: Vokative und Anredeformeln (2007), S. 74. 48 Vgl. Berdychowska: Die Person und ihre Identifizierung (2007), S. 2. 49 Graefen: Pronomen (2007), S. 677. Graefen zieht zur Untermauerung dieser Beobachtung die Etymologie des Begriffs › Personalpronomen ‹ heran, das sie vom altgriechischen πρόσωπον ( › Maske ‹ ) ableitet. Sie stellt eine »Analogie zwischen antikem Theater und [den] grundlegenden Phänomenen der Kommunikation« her, indem sie darauf hinweist, dass die Aufteilung der Pronomina nach den drei Personen die Konvention des antiken Theaters widerspiegele, nach der sich insgesamt nie mehr als drei Schauspieler auf der Bühne befinden sollten. 50 Vgl. Berdychowska: Die Person und ihre Identifizierung (2007), S. 5. 51 Berdychowska: Die Person und ihre Identifizierung (2007), S. 9. 52 Vgl. Berdychowska: Die Person und ihre Identifizierung (2007), S. 9. 53 Kameyama: Persondeixis, Objektdeixis (2007), S. 584 f. 54 Pitroff: Reden und Anreden (1999), S. 242. 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 29 <?page no="30"?> »aktuelle[n] und erinnerte[n] Rede im Diskurs«, sowie im Textraum als dem »durch den Text konstituierte[n] mental-sprachliche[n] Raum« können Deiktika auf vorausgegangene oder nachfolgende Elemente verweisen; Sprecher und Hörer müssen dann jedoch eine höhere Abstraktionsleistung vollziehen. Auch Verweise im Vorstellungsraum, in der »gemeinsame[n] Vorstellung von Sprecher und Hörer«, sind denkbar: Die Elemente, auf die hier verwiesen wird, sind imaginierte Größen, weshalb diese Art des Zeigens auch als »imaginative Deixis« bzw. von Bühler als »Zeigen am Phantasma« bezeichnet wird. Hörer und Sprecher sind hier nicht länger kopräsent, ihre Origo nun nicht mehr zeitlich oder räumlich in der Sprechsituation verankert, so dass eine »Origo-Versetzung« notwendig wird. 55 Personale Deiktika refererieren primär auf die an der Redesituation beteiligten Personen: Mögliche Referenzobjekte der Personaldeixis sind also nur Sender bzw. Sprecher und Empfänger bzw. Hörer der Äußerung, wobei damit auch eine Gruppe gemeint sein kann (Sprechergruppenbzw. Hörergruppendeixis). Charakteristisch ist dafür die Umkehrbarkeit von › Ich ‹ und › Du ‹ (bzw. im Plural von › Wir ‹ und › Ihr ‹ ), die personalen Deiktika haben Rollencharakter: Sender und Empfänger sind abstrakte Rollen, ihre Personalpronomina werden daher auch als › Rollenträger ‹ bezeichnet. Sie bilden »die Grundpfeiler der kommunikativen Minimalsituation«, indem sie »die - vertauschbaren - Pole des sich im Gegenüber entwickelnden Dialogs [fixieren]«. 56 Innerhalb der intersubjektiven Kommunikation enthalten sie stets neue individuelle Aussagen und übernehmen so wichtige Aufgaben: Die Sprache hat [ein] Problem gelöst, indem sie einen Komplex › leerer ‹ , in Bezug auf die › Realität ‹ nicht referentieller, immer verfügbarer Zeichen schuf, die › voll ‹ werden, sobald ein Sprecher sie in jede Instanz seiner Rede aufnimmt. 57 In neueren Ansätzen der zeichentheoretischen Deixiskonzeption wird das Verständnis von Deiktika als › leeren ‹ Zeichen mit den Grundannahmen zur pragmatischen Funktionsbestimmung deiktischer Ausdrücke zusammengedacht. Unter dem Stichwort der »Re- Semiotisierung von Deixis« 58 erfährt diese Auffassung referenzieller Leere eine Revision: Zwar besitzen deiktische Ausdrücke einen indexikalischen Charakter, der eine situationsabhängige Interpretation erfordert, dennoch lassen sich in jedem Deiktikum situationsunabhängige, symbolisch-lexikalische Bedeutungskomponenten ausmachen: In jedem Deiktikon ist eine Beziehung zwischen Origo und Deixisobjekt lexikalisiert, d. h. eindeutig festgelegt. [ … ] Diese Bedeutungen sind [ … ] fest; was hingegen die Denotate betrifft, auf die die Ausdrücke bezogen sein können, so zeichnen sich Deiktika bekanntlich durch Referenzvariabilität aus. [ … ] Das heißt: Ein durch morgen bezeichneter Tag ist immer der Tag, der auf denjenigen Tag folgt, an dem die Äußerung stattfindet (= Bedeutung); welcher Tag aber letztendlich konkret [ … ] denotiert wird (= Referenz), ist von Fall zu Fall verschieden. 59 55 Kameyama: Persondeixis, Objektdeixis (2007), S. 586 - 588. 56 Marschall: Vokative und Anredeformeln (2007), S. 73 f. bzw. Kähne: Anreden. Absichten. Apostrophen (2015), S. 27. 57 Benveniste: Die Natur der Pronomen (1974), S. 283. 58 Redder: Textdeixis (2000), S. 285. 59 Sitta: Deixis am Phantasma (1991), S. 50 f. 30 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="31"?> Überträgt man die Beobachtung von Deiktika als »disponible Doppelzeichen« 60 auf die Personalpronomina, so lässt sich ähnliches feststellen: Nur aus der Redesituation heraus ist zu entscheiden, wer mit dem › Du ‹ gemeint ist. Fest lexikalisiert ist die Beziehung zwischen den beiden Gesprächspartnern. 61 Besonders deutlich zeigt sich dieses dialogische Potenzial der personalen Deiktika an der Bezeichnung, den die frankobzw. anglophone Linguistik den Personalpronomina der ersten und zweiten Person zuweist: › shifters ‹ 62 oder › embrayeurs ‹ , also › Gesprächsauslöser ‹ oder › Situationsstifter ‹ . Hier kommt die Dialogizität der menschlichen Kommunikation deutlich zum Ausdruck. 63 1.1.2 Das Spektrum der Du-Anrede in der Literatur 64 Pronomina der ersten und zweiten Person finden sich in nahezu jeder Art von Text wieder, nicht nur in der alltäglichen Kommunikation. Mit der Verwendung innerhalb der schriftlichen Kommunikation gehen die Spezifika der personalen Deixis keineswegs verloren, auch wenn die »[l]iterarische, will sagen verschriftete Ich-Du-Kommunikation« 65 60 Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1991), S. 79. 61 Nach Ursula Wiest-Kellner benennen Pronomina weniger den »singulären Status einer Person als vielmehr ihr Verbundensein mit anderen Individuen und das, was zwischen ihnen vorgeht«, Wiest- Kellner: Messages from the Threshold (1991), S. 80. Auch nach Irene Kacandes lexikalisiert das Pronomen › Du ‹ eine Beziehung zwischen den Gesprächsteilnehmern. Sie charakterisiert in diesem Zusammenhang das Pronomen der zweiten Person als »pronoun of relationship«, Kacandes: Narrative Apostrophe (1994), S. 330. 62 Überblickend zu den deiktischen › shifters ‹ siehe Fludernik: Shifters and deixis (1991). 63 Vgl. Marschall: Vokative und Anredeformeln (2007), S. 74. 64 Dass sich ein moderner Literaturbegriff nur bedingt auf das Mittelalter übertragen lässt und die Rede von einer › mittelalterlichen Literatur ‹ den Sachverhalt nur unzureichend wiedergibt, liegt auf der Hand. Hintergrund ist, dass im Mittelalter noch keine vollständige Trennung zwischen Kunst, Wissenschaft, Religion und Lebenspraxis vollzogen ist und Texte immer auch eine »außerpoetische Funktionalisierung« aufweisen. Diese »pragmatische Einbindung in die unterschiedlichsten Formen und Bedingungen des Lebensvollzugs« ist für Jens Haustein eine der »Grundbedingung[en] vormoderner Literatur«, die es nahelegt, poetische Texte und Gebrauchstexte gleichermaßen miteinzuschließen, vgl. Haustein: Minne und Wissen um 1200 und im 13. Jahrhundert (2010), S. 346 bzw. Klein: Mittelalter (2015), S. 7: »Als Literatur gilt [der älteren deutschen Literaturwissenschaft] alles, was verschriftet ist«. Da das Mittelalter noch kein eigenständig ausdifferenziertes System › Literatur ‹ kennt, wird verschiedentlich sogar dafür plädiert, in der Mediävistik ganz auf den Literaturbegriff zu verzichten. Christian Kiening etwa geht so weit, mittelalterliche Texte generell als »Texte vor dem Zeitalter der Literatur« zu bezeichnen, vgl. Kiening: Zwischen Körper und Schrift (2003). In dieser Studie soll jedoch am Literaturbegriff festgehalten werden. Ich gebrauche ihn in einem weiten Sinne, der Gebrauchstexte miteinschließt und die »Pluralität« mittelalterlicher Schreib- und Literaturpraktiken mitdenkt. Einen solchen › pluralen ‹ Begriff des Literarischen veranschlagen beispielsweise Burkhard Hasebrink und Peter Strohschneider, die jedoch insgesamt dem › Text ‹ -Begriff den Vorzug geben, vgl. Hasebrink/ Strohschneider: Religiöse Schriftkultur und säkulare Textwissenschaft (2014), S. 284. Im Hinblick darauf, dass sich Gebrauchsfunktion und Literarizität nicht ausschließen, bleibt der Begriff des Literarischen auch für diese Studie ergiebig. 65 Zimmermann: Das Ich und sein Gegenüber (1995), S. 11. Grund dafür ist nach Silke Zimmermann die Tatsache, dass die literarische Kommunikation eine Illusion direkter Kommunikation in einem Raum erzeugen möchte, in dem diese per se nicht möglich ist. Verkompliziert wird die Sache vor allem dadurch, dass personale Deiktika innerhalb der textuellen Kommunikation potenziell mehrdeutig sind. Das liegt daran, dass Texte als Träger medialer Kommunikation nicht nur einen einzigen, klar markierten Adressaten besitzen müssen. Vielmehr zeichnen sie sich durch das Phänomen der »Mehrfachadressierung« aus, vgl. Prak-Derrington: Wie redet der Autor seinen Leser an? (2007), 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 31 <?page no="32"?> komplexer ist als in der mündlichen Alltagssituation. Entscheidend sind in auch der Textkommunikation zwei Aspekte: Der Gebrauch der personalen Deixis verweist auf eine Redesituation, die im Einzelnen ganz unterschiedlich gestaltet sein kann. 66 Zudem ist die Referenz von › Du ‹ und › Ich ‹ 67 auch im Text nicht immer eindeutig lexikalisiert, sondern an die jeweilige, nun in den Text verlagerte Redesituation gebunden: Wer also mit einem › Du ‹ angesprochen wird oder als › Ich ‹ selbst spricht, ist im Text nicht gesetzt, die Deixis kann auf unterschiedliche Sprecher und Adressaten referieren. Ein erster Unterschied zwischen alltäglicher und textueller Kommunikation scheint in der Kommunikationsrichtung zu liegen: Betrachtet man den Text als Mitteilung eines Senders an seine Leser, so ist die Kommunikation mittels des Textes »unidirectional, from a fixed speaker (narrator) to an addressee (reader). There is no interaction between the narrator and the reader.« 68 Diese Beobachtung muss jedoch noch weiter spezifiziert werden. Insbesondere literarische Texte, so der Konsens in der narratologischen Forschung, sind in vielschichtige Kommunikationszusammenhänge eingebunden. 69 Die meisten Modelle zur narrativen Kommunikation gehen von drei Ebenen aus, 70 auf denen je verschiedene Instanzen kommunizieren: Auf einer übergeordneten Ebene tritt ein realweltlicher Autor mit einem ebenso realen Leser mittels seines Erzählwerks in Austausch; innerhalb dieses Werks kommuniziert ein Erzähler mit einer in den Text eingeschriebenen Leserrolle; auf einer dritten Ebene erfolgt die Kommunikation innerhalb der erzählten Welt, also auf Ebene der histoire, wenn die Figuren miteinander kommunizieren. 71 Während also S. 205. Predigten und Briefe beispielsweise hatten zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, sofern sie nicht von vornerein zur Publikation konzipiert wurden, einen klar umrissenen Adressatenkreis, der bei der Überlieferung und Verbreitung im Schriftmedium erheblich erweitert wird. Der Autor lässt sich mit dem sprechenden › Ich ‹ zwar noch klar benennen, die Zuordnung zu einem einzelnen Adressaten hingegen ist nicht mehr möglich. Noch komplizierter ist der Fall bei solchen Texten, die nicht als faktische Äußerung eines Sprecher-Ichs zu verstehen sind. Anders als bei derartigen Gebrauchstexten lassen sich in literarischen Texten hinter der jeweiligen Sprecher- oder Empfängerrolle verschiedene Instanzen ausmachen, je nachdem, ob man die textinterne oder die textexterne Kommunikation in den Fokus rückt. 66 Wolfgang Müller betont jedoch, dass das › Du ‹ im Text fast zwangsläufig die Atmosphäre »intimster oraler Kommunikation«« kreiert, Müller: Die Anrede an ein unbestimmtes Du in der englischen und amerikanischen Erzählkunst (1984), S. 120. 67 Pitroff betont, dass ein »ich-loses Sprechen« kaum vorstellbar ist: Auch in Texten, die sich der Anredepronomina bedienen und in denen nicht explizit von einem › Ich ‹ die Rede ist, denkt der Rezipient ein »Textsubjekt« mit, »das die Leistungen dieses Ichs vollzieht«, Pitroff: Reden und Anreden (1999), S. 243. 68 Hoop/ Hogeweg: The Use of Second Person Pronouns in a Literary Work (2014), S. 110. 69 Vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 15. Mit Seymour Chatman und Ansgar Nünning zitiert Fotis Jannidis zwei einflussreiche Narratologen, die die narrative Kommunikation untersuchten. 70 Vgl. Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 330. 71 Vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 16. Je nach Theoriebildung erfährt dieses Modell Erweiterungen oder Schwerpunktsetzungen. Um beispielsweise die Rolle des Lesers bei der »Bedeutungskonstitution« des literarischen Textes zu betonen, fügt Walker Gibson einen »mock reader« ein, vgl. Gibson: Authors, Speakers, Readers and Mock Readers (1950), dem Wayne C. Booth als Gegenstück auf Autorseite den »implied author« gegenüberstellt, vgl. Booth: The Rhetoric of Fiction ([1961] 1983). Auch Peter J. Rabinowitz beschäftigt sich mit der Instanz des Publikums, das er in insgesamt vier Teilinstanzen aufgliedert: Der tatsächlichen Leserschaft (actual audience) steht ein auktoriales Publikum (authorial audience) gegenüber, das als ein vom Autor intendiertes Publikum gedacht wird. Dieses ist sich der Tatsache bewusst, dass es mit einem fiktionalen ästhetischen Text zu tun hat. Erst nach dieser Zwischeninstanz setzt Rabinowitz den »implied reader«, den er nun »narrative 32 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="33"?> die Kommunikation zwischen einem realen Autor und einem realen Leser, die über das Medium des Textes erfolgt, sehr wohl durch Asymmetrie und Unaustauschbarkeit der Sprecher- und Hörerrolle gekennzeichnet ist, muss das nicht zwangsläufig auch für die textinterne Kommunikation gelten: Hier kann die Asymmetrie zur Auflösung gebracht werden, indem die Instanzen des implizierten Autors und des implizierten Leser zusammengeführt werden 72 und beide in einen Dialog treten. Auf Ebene der Figurenkommunikation bereitet das Auftauchen personaler Deiktika meist keine Probleme: Integriert in die direkte Rede bilden sie die alltägliche Kommunikation ab, der Redekontext macht ausreichend deutlich, wer jeweils Sender- und Empfänger ist. Während die neueren Philologien, insbesondere die Anglistik, die Verwendungskontexte von Anreden an ein Gegenüber bereits kartographiert haben, 73 steht eine solche überblicksartige Darstellung für das Feld der mittelalterlichen Literatur noch aus. Irene Kacandes ’ Vorschlag, die verschiedenen Gebrauchsformen der Pronomina der zweiten Person entsprechend ihrer Umkehrbarkeit zu kategorisieren, ist ein guter Ausgangspunkt, um das Phänomen der Du-Anrede auch in der mittelalterlichen Literatur zu überblicken: I propose a categorization of literary use of the second person along a spectrum of reversibility. The various uses of the second person in fiction [ … ] will range between a dialogic pole (total reversibility possible, although not necessarily realized) and an apostrophic pole (where, the linguistic markers of dialogue notwithstanding, communication can flow only in a single direction). 74 Unter › reversibility ‹ oder › Umkehrbarkeit ‹ versteht Kacandes »the ability of an addresser and an addressee actually to exchange positions, to be in turn speakers and listeners«. 75 Kriterium für die Verwendung des Pronomens › Du ‹ ist hierbei Natürlichkeit. Der unmarkierte Fall der Alltagssprache ist der, dass die Positionen von › Ich ‹ und › Du ‹ mit jedem Sprecherwechsel auf den jeweils anderen übergehen und die Sprechsituation dialogisch ist. Je weniger innerhalb der Textsituation mit einem solchen Sprecherwechsel zu rechnen ist, desto markierter ist der Gebrauch der zweiten Person. Am einen Ende des Spektrums steht für Kacandes die Verwendung des › Du ‹ in der direkten Rede, die die Kommunikationssituation des Alltags gleichsam reproduziert. 76 Die Pronomina der ersten und zweiten Person entsprechen den Rollen der unmittelbar an der Kommunikation beteiligten Personen. Die dritte Person referiert auf eine Rolle außerhalb audience« nennt: Dieses gleichsam fingierte Publikum ist Teil der fiktionalen Welt und fungiert als Empfänger der narrativen Kommunikation, vgl. Rabinowitz: Truth in Fiction (1977) bzw. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 32. Narrative Kommunikation wird an späterer Stelle noch ausführlicher behandelt, vgl. Kapitel 3.2.3. 72 Für Prak-Derrington haben die Instanzen im Erzähltext einen doppelten Status: »Sprecher wie Rezipient sind zugleich real und fiktional, an- und abwesend.« Sie greift auf ein vereinfachtes Modell der Kommunikationsebenen im Erzähltext zurück, indem sie von einer »Spaltung des Sprechers in einen Autor und Erzähler« und von einer »Spaltung des Rezipienten in einen fiktiven Leser und realen Leser« ausgeht, Prak-Derrington: Wie redet der Autor seinen Leser an? (2007), S. 205. 73 Siehe dazu Korte: Das Du im Erzähltext (1987). 74 Kacandes: Narrative Apostrophe (1994), S. 335. Kacandes räumt gleichzeitig auch ein, dass sich verschiedene Textstellen ein und desselben Werkes an verschiedenen Positionen innerhalb dieser Skala einordnen lassen. 75 Kacandes: Narrative Apostrophe (1994), S. 335. 76 Vgl. Kacandes: Narrative Apostrophe (1994), S. 335. 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 33 <?page no="34"?> der Sprechsituation, 77 sei es, dass im Erzählerbericht auf die Figuren Bezug genommen, sei es, dass innerhalb der Figurenrede auf eine nicht am Gespräch beteiligte Figur verwiesen wird. Diese Verwendung der zweiten Person ist nicht nur für die Untersuchungsgegenstände der neueren Philologien der Standardfall, sondern stellt auch in der mittelalterlichen Literatur den größten Anteil an Fällen, in denen ein › Du ‹ angesprochen wird. 78 Der folgende Ausschnitt aus dem Marienleben Bruder Philipps des Kartäusers illustriert diese Verwendungsweise: Als Marîâ, diu magt reine, was bî irme ſ un aleine, ſ üeze rede ſ î ane vie der ich ein teil wil ſ agen hie. manger vrâge ſ î begunde mit ir ſ un die er kunde ſ ie be ſ cheiden alle wol, wand aller wî ſ heit was er vol. ſ î ſ prach: › ich bite dich, hêrre ſ un, daz du kunt mir welle ſ t tuon des ich dich nu wil vrâgen, des enlâz dich nicht betrâgen. ‹ Jê ſ us ſ prach › du muoter mîn, wes ouch gert daz herze dîn, daz lâ, vrouwe, wizzen mich, des be ſ cheide ich alles dich. ‹ Marîâ ſ prach › vil lieber hêrre, ein vrâg lâ dir niht we ſ en ſ wære, wand ich weiz wol daz du bi ſ t got ſ chpeher alles des dâ i ſ t in dem himel und ûf der erden: wie ge ſ chach daz du dô werden wolde ſ t mîn kint, unt wâ du wære dâ vor, des gip mir die lêre. ‹ (Marienleben, vv. 5082 - 5105) 79 77 Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 170 f. 78 Obwohl Anja Becker in ihrer 2008 erschienenen Dissertation zur »Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200« eine Untersuchung der epischen Dialogszenen noch als »Forschungsdesiderat« (S. 12) bezeichnet, scheint dieser Verwendungskontext der Anrede an ein › Du ‹ vergleichsweise gut erschlossen. 79 Das Marienleben wird hier und im Folgenden zitiert nach der Edition von Heinrich Rückert: Bruder Philipps des Carthäusers Marienleben. Quedlinburg/ Leipzig: Basse 1853. Die Ausgabe Rückerts wird von der modernen Forschung sowohl in Bezug auf den abgebildeten Text als auch auf den kritischen Apparat »als unvollständig und unzuverlässig« betrachtet, vgl. Gärtner: Marienleben (1989), Sp. 595. Da das Marienleben immer wieder abgeschrieben und bearbeitet wurde, macht die breite Rezeption und die Vielzahl an Textzeugen die Suche nach einer › ursprünglichen ‹ Textfassung, wie sie Rückert anstrebte, unmöglich. In Ermangelung einer Edition, die modernen Ansprüchen genügt, greife ich jedoch auf diese Ausgabe zurück. Rückert folgt bei seiner Edition des Marienleben vor allem der Handschrift UB, Ms. Bos. 4°8, die aus dem 1. Viertel des 14. Jahrhunderts stammt. In dieser Handschrift wurden die Verse, in denen Philipp das Werk dem Deutschen Orden zueignet, durch die »Copyright- Version« des Deutschen Ordens ersetzt: ein bu ͤ ch habent die tevtschen herren / daz wart in gesant von verren / Dar ab wart geschriben ditze (»Die deutschen Ordensleute besitzen ein Buch, das ihnen aus der Ferne zugeschickt wurde; dieses Buch ist eine Kopie davon«), vgl. Gärtner: Marienleben (1989), Sp. 438. 34 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="35"?> Als Maria, die unbefleckte Jungfrau, eines Tages mit ihrem Sohn allein war, begann sie ein liebevolles Gespräch, das ich hier nun teilweise wiedergeben will. So manche Frage richtete sie an ihren Sohn, die er ihr gut beantworten konnte, da er große Weisheit in allen Dingen besaß. Sie sagte: »Ich bitte dich, verehrter Sohn, antworte mir auf meine Fragen, lass dich davon nicht langweilen.« Jesus antwortete: »Oh du meine Mutter, wonach auch immer dein Herz verlangt, das lass mich wissen, Herrin, das will ich dir alles erklären.« Maria sagte: »Liebster Herr, lass dir diese eine Frage nicht beschwerlich sein, denn ich weiß sehr wohl, dass du Gott und der Schöpfer all dessen bist, das da auf Himmel und Erde ist. Erkläre mir bitte, wie es kam, dass du als mein Kind auf die Welt kommen wolltest und wo du zuvor warst.« Die Verse bilden die Einleitung für ein längeres Gespräch (Marienleben, vv. 5082 - 5359) zwischen Maria und ihrem erwachsenen Sohn Jesus, in dem einige dogmatische Sachverhalte gestreift werden. 80 Eingebettet in den Bericht eines Erzählers, der die Unterhaltung ankündigt, eröffnet und die › turns ‹ , die Sprecherwechsel, mit Hilfe von inquit-Formeln markiert, entspinnt sich eine wehselrede zwischen den beiden Figuren. 81 Als Teil eines Zum Zusammenhang zwischen Bruder Philipps Marienleben und dem Deutschen Orden, siehe Löser: Literatur im Deutschen Orden (2008). 80 Das Gespräch folgt auf die Erzählung von Jesu Taufe durch Johannes. Während in den neutestamentlichen Erzählungen (Mk 1,9 - 11; Mt 3,13 - 17; Lk 3,21 f.) die Taufe den Übergang von Kindheit zu Jesu öffentlichem Wirken markiert, übernimmt der Dialog zwischen Jesus und Maria im Marienleben diese Aufgabe. Die Szene hat kein biblisches Vorbild, findet sich jedoch bereits in der Vorlage Philipps, der Vita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmica, einem vor 1250 anonym in Südostdeutschland auf Latein verfasstes Marienleben, das für einige volkssprachliche Marienleben des 13. bis 15. Jhs. als Quelle diente, vgl. Gärtner: Vita beatae virginis Mariae et salvatoris rhythmica (1999), Sp. 437. In einer der zahlreichen Glossen, die nicht nur Wort- oder Sacherklärungen bieten, sondern auch exegetische Probleme erörtern und die Zuverlässigkeit der im Prolog genannten Quellen und Gewährsmänner diskutieren, wird der Wahrheitsgehalt dieser Passage kritisch geprüft: Qui isti dyalogo contradicere voluerit, respondeat, si in XXVIIII annis, quibus Maria mater mansit cum filio suo Jesu, ipsa mater cum filio suo Jesu unquam aliquam collacionem habuerit vel aliqua verba consolcaionis; et si dixerit quod sic, sciat eos tantummodo de celestibus et divinis scripturis et de misteriis incarnacionis et fidei katholike habuisse sermonem: et sic presens dyalogus aput sciolos et garrulos locum obtinebit (»Wer diesem Dialog widersprechen will, dem möge man entgegnen: In den 29 Jahren, in denen die Mutter Maria mit ihrem Sohn Jesus zusammen war, so wird sie sicherlich als Mutter mit ihrem Sohn irgendwann eine Unterhaltung geführt oder Worte des Trosts ausgetauscht haben. Und wenn sie sich unterhalten haben, dann soll er wissen, dass sie diese Unterhaltung nur über die himmlischen und göttlichen Schriften und von den Mysterien der Inkarnation und über den allumfassenden Glauben geführt haben: und so wird dieser Dialog bei den Halbwissern und Schwätzern seinen Platz behaupten«), vgl. Max Päpke: Das Marienleben des Schweizers Wernher (1913), S. 155, zit. n. Masser: Bibel, Apokryphen und Legenden (1969), S. 26. Was diesen Dialog glaubwürdig macht, ist also das Kriterium der Wahrscheinlichkeit: In der Zeit, die Jesus und Maria miteinander verbracht haben, ist es wahrscheinlich, dass sie irgendeine Form von Zwiegespräch miteinander geführt haben und währenddessen über Glaubensinhalte gesprochen haben, vgl. Masser: Bibel, Apokryphen und Legenden (1969), S. 26. 81 Anja Becker gibt dem Begriff der wehselrede denjenigen des › Dialogs ‹ bzw. des › Gesprächs ‹ den Vorzug, da er sich »sowohl durch seine Verwendung im Mittelhochdeutschen als auch durch seine Tradierung in nur geringfügig veränderter Form in die Gegenwartssprache aus[zeichnet]«, Becker: Poetik der wehselrede (2009), S. 40. Außerdem, so Becker, suggeriere der Begriff des › Dialogs ‹ »die Illusion eines freien, momentan entspringenden Gespräches zwischen den vorgestellten Figuren«, Bauer: Poetik des Dialogs (1969), S. 10. Die wehselrede definiert sie folgendermaßen: »Konstitutiv ist die formale Figur des Wechsels ( › Turn ‹ ), welcher sich zwischen den Figurenäußerungen ( › Halbturns ‹ ) vollzieht und durch den die Teilnehmer ihre Rollen tauschen (Sprecher/ Hörer). Die Figurenäußerungen können sowohl verbal-sprachlicher als auch nonverbaler Natur sein (Geste). Für eine wehselrede ist es notwendig, dass mindestens zwei Halbturns gegeben sind, von denen mindestens 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 35 <?page no="36"?> epischen Texts ist auch die Figurenrede durch einen Erzähler vermittelt, der sich in Form von Redeeinleitungen immer wieder in den Dialog einschaltet. Die Redebeiträge selbst folgen den Prinzipien der alltäglichen Kommunikation: Sowohl Maria als auch Jesus gebrauchen Anredeformen, meist erweiterte Vokative wie hêrre ſ un oder du muoter mîn, um ihr Gegenüber anzusprechen und ihren Redebeitrag klar zu adressieren. Die Kommunikation verläuft darüber hinaus in beide Richtungen: Auf die einleitende Bitte Marias, ihr einige Fragen zu beantworten, reagiert ihr Kommunikationspartner, indem er diesen Gefallen zusichert, woraufhin die Gottesmutter schließlich ihre erste Frage stellt. Der Gebrauch der personalen Deiktika markiert jeweils die eigene Sprecherrolle, charakterisiert den jeweiligen Sprechakt - wie beispielsweise das › ich bite dich[ ‹ ] aus dem Munde Marias - und weist dem Gegenüber die Rolle des Empfängers zu. Dass mit jedem › turn ‹ die Rollen innerhalb der Gesprächssituation getauscht werden, unterstreicht die Mimesis der Alltagskommunikation, die sich durch einen hohen Grad an Reziprozität auszeichnet. Ein weiteres Beispiel für die Kommunikation zwischen den Figuren auf Handlungsebene stellen stichomythische Passagen dar, das heißt Redeszenen, in denen Rede und Gegenrede jeweils einen Vers umfassen. 82 Die folgende Redeszene zwischen Isalde und ihrer Vertrauten Brangæne stammt aus dem Tristrant Eilharts von Oberg: »Brangenen, liebe frúndin min! Ich bedarff wol deß rautteß din, wie ich min ding súll vahen an, wann ich zu ͦ dem kúng wil ligen an.« Brangenen sprach: »daß waiß ich nit.« Ysald sprach: »wie bin ich so bericht? « Brangenen sprach: »waß sol ich reden? « Ysald sprach: »gu ͦ tten raut soltu an heben.« Brangenen sprach: »ich en kann.« (Tristrant, vv. 2863 - 2871) 83 »Brangæne, meine liebe Freundin! Ich benötige dringend deinen Rat, wie ich mein Unterfangen angehen soll, wenn ich mich zum König legen werde.« Brangæne antwortete: »Das weiß ich nicht.« Isalde sagte: »Wie werde ich auf diese Weise belehrt? « Brangæne entgegnete: »Was soll ich denn sagen? « Isalde sagte: »Guten Rat sollst du mir geben.« Brangæne entgegnete: »Das kann ich nicht.« Auch hier ist die die Redeszene vermittelt: Ein Erzähler bleibt präsent, der die Redebeiträge von Brangäne und Isalde mit der immer gleichen inquit-Formel sie sprach einleitet, und so anzeigt, dass sich zwei Perspektiven, nämlich die des Erzählers und die der beteiligten einer (wesenhaft) verbal sprachlich verfasst sein muss. Zudem muss zwischen den Figurenäußerungen eine (reziproke) Bezugnahme auf semantischer oder deiktischer Ebene gegeben sein«, Becker: Poetik der wehselrede (2009), S. 48 f. 82 Vgl. Becker: Poetik der wehselrede (2009), S. 116. Becker weist jedoch darauf hin, dass nur in den wenigsten Fällen am Schema der »Zeilenrede« festgehalten wird. Viel häufiger seien stattdessen der schnelle Wechsel von › turns ‹ , die aus Halbversen bestehen oder in die sich auch zwei oder drei Zeilen lange › turns ‹ mischen. 83 Der Tristrant wird hier zitiert nach der Edition von Danielle Buschinger: Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde (nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 346). Berlin: Weidler 2004. 36 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="37"?> Figuren auf Handlungsebene vermengen. 84 In der Stichomythie wechseln sich Sprecher- und Empfängerrolle versweise ab, wobei die inquit-Formel jeweils sicherstellt, dass Sprecher und Empfänger noch vergleichsweise einfach zugeordnet werden können. Wenn sich der Erzähler im weiteren Verlauf zurückzieht, wird die Zuordnung schwieriger. Die häufigen, unmarkierten Wechsel tendieren dazu, »die kognitive Wahrnehmungsleistung des [ … ] Rezipienten« 85 zu überfordern. Aufgrund der Dynamik der schnellen › turn ‹ - Wechsel erscheint die stichoymthische Redeszene zwar im Vergleich zu der mimetischen Gesprächssituation zwischen Jesus und Maria markiert, die dem Alltagsgebrauch entsprechende Funktion der Deiktika, Sprecher- und Hörerrollen zu kennzeichnen, bleibt jedoch erhalten. In beiden Beispielen für die Figurenrede ist also Kacandes ’ Kriterium der › reversibility ‹ erfüllt: Beide Figurenpaare sind jeweils in der Lage, auf die an sie gerichtete Rede zu reagieren. Zumindest auf Handlungsebene entspinnt sich so ein echter Dialog, 86 der die nicht-markierte Default-Situation der Alltagskommunikation abbildet. Am anderen Ende des Spektrums verortet Kacandes die Apostrophe und fasst damit verschiedene Formen der Anrede zusammen, die nicht nur von der Alltagskommunikation, sondern auch von der narrativen Norm abweichen. 87 Der aus der antiken Rhetorik stammende Begriff › Apostrophe ‹ bezeichnet eine »Figur, bei der der Redner sich von seinen eigentlichen Zuhörern ab- und stattdessen einem anderen, überraschend gewählten Publikum zuwendet.« 88 Eine solche Hinwendung zu einem anderen Ansprechpartner als dem ursprünglichen Publikum kann sich in literarischen Texten auf eine Vielzahl von potenziellen Kommunikationspartnern beziehen, auf Abstrakta und mythologische Ge- 84 Vgl. Becker: Poetik der wehselrede (2009), S. 41. 85 Becker: Poetik der wehselrede (2009), S. 126. 86 Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Reziprozität der Kommunikation nur auf Handlungsebene gegeben ist. Auf Ebene des discours hingegen findet eine andere Art der Kommunikation statt: die Kommunikation zwischen dem Erzähler und seinem fiktiven Leser bzw. narrataire, die unabhängig davon verläuft und die zwar ebenfalls reziprok gestaltet sein kann, es jedoch weitaus häufiger nicht ist. 87 Vgl. Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 329. 88 Diese Definition der Apostrophe stammt von Albert Halsall, der sich dem Begriff etymologisch annähert und ihn als Substantivbildung zum griechischen ἀποστρέφειν (aus ἀπό › weg ‹ und στρέφειν › drehen, wenden ‹ ) begreift, Halsall: Apostrophe (1992), S. 830. Zur Figur der Apostrophe siehe einführend auch Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik (1990), § 442 f. Wie Jonathan Culler in Anlehnung an Quintilian richtig bemerkt, hat die Apostrophe ihren Ursprung im Kontext der antiken Gerichtsrede und fungiert in diesem Zusammenhang als »a diversion of our words to address some person other than the judge«, vgl. Culler: Apostrophe (1983), S. 135 bzw. Quintilian, Institutio Oratoria IX,2,38 f.: [38] aversus quoque a iudice sermo, qui dicitur ἀποστροφή mire movet, sive aduersarios invadimus: quid enim tuus ille, Tubero, in acie Pharsalica? sive ad invocationem aliquam convertimur: vos enim iam ego, Albani tumuli atque luci; sive ad invidiosam implorationem: O leges Porciae legesque Semproniae! sed illa quoque vocatur aversio [39] quae a proposita quaestione abducit audientem: non ego cum Danais Troianam excindere gentem | aulide iuravi - . Quod fit et multis et variis figuris, cum aut aliud exspectasse nos aut maius aliquid timuisse simulamus aut plus videri posse ignorantibus, quale est prooemium pro Caelio, zitiert nach der Ausgabe von Quintilian: The Orator ’ s Education. Volume I: Books 9 - 10. Edited and translated by Donald A. Russell. Cambridge, Mass: Harvard University Press 2002. Als Beispiele aus der antiken Dichtung zieht Kacandes Anreden der Erzählerfiguren in den Epen Homers und Vergils an Charaktere oder Leser heran, vgl. Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 329. Das Phänomen der Apostrophe soll jedoch im Kapitel zur Du-Erzählung nochmals genauer betrachtet werden, siehe Kapitel 3.1. 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 37 <?page no="38"?> stalten, auf Abwesende und Tote sowie auf unbelebte Gegenstände. 89 Die literarische Imitation einer natürlichen Alltagskommunikation unterscheidet sich von der artifiziellen Anredesituation derApostrophe dadurch, dass sich letztere zwar der Dialogmarker bedient, ohne selbst dialogisch zu sein: However, though marked by vocative forms, apostrophe is not dialogue, even if the addressee is part of the orator ’ s audience. Rather, apostrophe is › short-circuited ‹ communication; messages do not flow in both directions. In other words, even when the addressee is a sentient being who can hear the message, under no circumstances does s/ he in turn become a speaker. 90 Das Spezifikum der Apostrophe ist also ihre anormale kommunikative Struktur, die sich aus der fehlenden Reversibilität ergibt: Wird ein wie auch immer geartetes Gegenüber im Rahmen einer solchen Apostrophe angesprochen, wird dem Adressaten nur scheinbar die Hörerbzw. Empfängerrolle zugewiesen, eine echte Kommunikation, in der der Angesprochene auf die Anrede reagieren könnte, findet nicht statt. 91 Damit verdoppelt die Apostrophe die Kommunikationssituation, die jedem literarischen Text eigen ist: So wie sich das literarische Werk bereits in einem einseitigen Kommunikationsakt als Botschaft eines realen Autors an einen Leser richtet, wendet sich innerhalb der textimmanent eröffneten Redesituation ein Sprecher an ein ebenso wenig zur Antwort fähiges Gegenüber. 92 Besonders deutlich ist das in solchen Fällen, in denen der Adressat ein unbelebter Gegenstand oder eine Personifikation ist. Hier verbieten die Gesetze der Logik, eine Reaktion auf die Anrede oder ein Aktiv-Werden des Angesprochenen anzunehmen: Die Zuordnung der zweiten Person zu einem in der Äußerung angesprochenen Kommunikationspartner ist in dieser Art der »Pseudokommunikation« 93 aufgehoben. Zu den Formen der Pseudokommunikation auf discours-Ebene gehört das Phänomen der Leseranrede durch einen Erzähler, die auch in der mittelalterlichen Literatur durch alle Gattungen und Text-sorten hindurch Anwendung findet. 94 In religiösen Texten haben derartige Leser- und Hörerapostrophen häufig einen didaktischen Gestus. Das zeigt sich im folgenden Beispiel aus der Heilslehre Von Gottes zukunft des Dichters Heinrich von Neustadt: Nu merke, mensch, nu ᵉ merke: Din hertze in dugenden sterke! Ist daz din hertze begert Jhesum, dez wirst du gewert. 89 Vgl. Pittrof: Reden und Anreden (1999), S. 245. Pittrof erklärt diese »Freiheiten der Adressierung« folgendermaßen: »Wenn Götter, Abwesende, Tote, ja unbelebte Gegenstände als › Du ‹ angesprochen werden, so sind damit unsere Aussagemöglichkeiten über die alltägliche Sprachpraxis hinaus erweitert, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. › Du ‹ darf all das genannt werden, was uns dazu verhilft, › Ich ‹ zu sagen«, ebd., S. 245 f. 90 Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 330. 91 Vgl. Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 174 f. 92 Vgl. Zemanek: Das suggestive Du (2011), S. 233. 93 Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 175. 94 Nicht nur Irene Kacandes (Narrative Apostrophe (1993), S. 336), sondern auch Barbara Korte und Wolfgang Müller identifizieren diesen Anredetypus und bezeichnen ihn als »Kommunikation zwischen dem Erzähler und einem fiktiven in den Text eingeschriebenen Leser (NARRATEE, narrataire)«, Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 173. bzw. als »direct address« und als »Situation kolloquialer mündlicher Kommunikation«, Müller: Die Anrede an ein unbestimmtes Du in der englischen und amerikanischen Erzählkunst (1984), S. 134. 38 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="39"?> Neige dich in demu ͦ t, wiz barmhertzig und gu ͦ t, wiz stete an dinem sinne, Habe gantze Gotes minne [ … ] (Von Gottes zukunft, vv. 4149 - 4156) 95 (Nun, Mensch, achte auf das Folgende: Stärke dein Herz in den Tugenden! Wenn es Jesus ist, nach dem dein Herz verlangt, so wird er dir zuteilwerden. Verneige dich in Demut, sei barmherzig und gut, sei beständig in deinen Gedanken und sei ganz und gar voller Liebe zu Gott [ … ]) Die Anrede ist doppelbödig: Vordergründig richtet sie sich an den Leser, zugleich ist sie jedoch so vage, dass sie als generische Rede an den »Menschen im allgemeinen« 96 verstanden werden kann. Eine Reaktion des Lesers ist zwar vorstellbar, aber dem › narratee ‹ 97 nicht fix zugeschrieben - insofern ist die Kommunikation einseitig und allenfalls imaginiert reziprok. Ähnliche Funktionen übernehmen Leseranreden in Gebrauchstexten wie Predigten oder Andachtsbüchern: Hier sind sie als zentrales Mittel, um die innere Beteiligung des Rezipienten sicherzustellen - eine Funktion, die vor allem auf das »Identifikationsangebot« des Anredepronomens gründet, das sich »unabhängig von seinem (Haupt-)Referenten« immer auch auf den Leser zu beziehen scheint. 98 Auch in weltlichen Texten tauchen solche Anreden an den Rezipienten regelmäßig auf, verfolgen hier jedoch vornehmlich das Ziel, die Aufmerksamkeit des Lesers zu steuern oder die Fiktionalität des Textes herauszustellen. Auch auf Ebene der histoire finden Apostrophen Anwendung, wenn der Erzähler seinen Bericht unterbricht, um die Protagonisten der Erzählhandlung anzusprechen. In Heinrichs Heilslehre Von Gottes zukunft schaltet sich der Erzähler innerhalb der Erzählung von Maria Magdalena am Grabe Jesu mehrmals mit Apostrophen an seine Protagonistin ein: Maria zart, nu weine! Weinens ist dir worden zit: Die jamerkeit dir weinen git. Maria stu ͦ nt mit ungehabe Und weinte sere vor dem grabe. (Von Gottes zukunft, vv. 3792 - 3796) Liebe Maria, nun weine! Es ist nun für dich an der Zeit zu weinen, denn der Kummer bringt für dich Tränen mit sich. Völlig außer sich stand Maria vor dem Grabe und weinte bitterlich. 95 Von Gottes zukunft wird hier und im Folgenden zitiert nach der Edition von Samuel Singer: Heinrich von Neustadt: › Apollonius von Tyrland ‹ nach der Gothaer Handschrift. › Gottes Zukunft ‹ und › Visio Philiberti ‹ nach der Heidelberger Handschrift. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1906. 96 Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 175. 97 Zum Begriff › Narratee ‹ siehe Schmid: Narratee (2013). Das Konzept wurde von Gerard Prince geprägt, der seinerseits Barthes ’ › Narrataire ‹ modifiziert und damit den »addressee of the narrator, the fictive entity to which the narrator directs his narration« identifiziert, ebd., S. 364. Schmid weist darauf hin, dass prinzipiell jedes Narrativ einen fiktiven Adressaten anspricht. Wie sehr der fiktive Adressat im discours greifbar wird, kann jedoch ganz unterschiedlich ausfallen: Häufig, so Schmid, korrespondiert beispielsweise die Markiertheit des › Narratee ‹ mit der Markiertheit des Erzählers: »[T]he more marked the narrator, the more likely it is that he will evoke an image of the counterpart he addresses«, Schmid: Narratee (2013). 98 Zemanek: Das suggestive Du (2011), S. 233. Kacandes führt dies auf die Flexibilität der der zweiten Person zugehörigen Formen zurück, die in der Alltagskommunikation ja stets im Moment des Gebrauchs semantisiert werden und daher eine »irresistible invitation« auf den Leser ausüben, vgl. Kacandes: Are You in the Text? (1993), S. 139. 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 39 <?page no="40"?> Die Figurenapostrophe leitet hier einen neuen Erzählabschnitt ein: Während die beiden Jünger Johannes und Petrus angesichts des leeren Grabes wieder kehrtmachen, bleibt Maria Magdalena vor Ort und die Erzählung konzentriert sich nun auf das innere Erleben Marias. Mit derApostrophe an seine Protagonistin verlässt der Erzähler die Erzählebene, die Grenze zwischen discours und histoire wird durchlässig. Anders als bei der Leserapostrophe lässt die Anrede an eine Figur dem Angesprochenen kaum Reaktionsspielraum: Während eine Reaktion des Lesers zumindest textextern vorstellbar ist, ist die angesprochene Figur Maria Magdalena als Geschöpf des Erzählers auf die Adressatenrolle festgelegt. Sie ist in dieser Apostrophe ein bloß »rhetorisches Du«, 99 da sich die Ansprache des Erzählers nur formal an sie richtet. Die Figur Maria Magdalena ist im Grunde nur Adressatin, nicht jedoch Hörerin: »The addressee in an act of linguistic communication is also the hearer; the addressee of apostrophe is not« 100 - auch hier handelt es sich in erster Linie um Pseudokommunikation. In Gebrauchstextsorten begegnen mitunter Anreden an Figuren, die als aversio ab auditoribus dem Phänomen der Apostrophe zugerechnet werden können. So spricht beispielsweise Berthold von Regensburg in seinen Predigten immer wieder Personen aus dem Alten oder Neuen Testament sowie fiktive Subjekte wie Engel und Teufel an. 101 Um das stetige Nebeneinander von Gut und Böse zu illustrieren, wendet sich Berthold in einer Predigt an Kain und Abel: Her Kâîn unde her Abel, nû wahset mit einander! [ … ] Kâîn, wâ sitzest dû? dîn bruoder sæze als billîche als dû den dû hâst ermordet (Berthold von Regensburg, Predigten, I,367: »Herr Kain und Herr Abel, nun rückt zueinander! [ … ] Kain, warum sitzt du hier? Dein Bruder, den du ermordet hast, saß genauso rechtens hier wie du«). 102 Wie auch schon bei der Anrede Maria Magdalenas handelt es sich hier um ein rhetorisches › Du ‹ ; mit einer Antwort ist nicht zu rechnen, denn der Angesprochene ist Adressat, nicht jedoch Hörer. Geradezu gattungskonstitutive Kraft entfaltet die Apostrophe im Bereich der Lyrik. 103 In den Anredeliedern des Minnesangs wendet sich oftmals ein Sänger-Ich an eine Dame 104 wie hier im Lied Walthers von der Vogelweide: 99 Anderegg: Fiktion und Kommunikation (1977), S. 74: Eine »rhetorische Anrede« ist nach Anderegg »eine Mitteilung, die wohl als Mitteilung gedacht ist, die aber nicht demjenigen gilt, der in ihr als der Angesprochene erscheint. Das Ansprechen einer Person, die weder angesprochen werden kann, noch angesprochen werden soll, hat den Wert einer Geste. Als solches zeugt es von des Erzählers Verbundenheit mit der erzählten oder berichtend dargestellten Gestalt. In der Geste wird der Erzähler faßbar als einer, der nicht nur Bescheid weiß, sondern auch Stellung bezieht zu dem, was er weiß und vermittelt.« 100 Banfield: Unspeakable Sentences (1982), S. 129 bzw. Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 175. 101 Vgl. Dank: Rhetorische Elemente in den Predigten Bertholds von Regensburg (1995), S. 161. 102 Bertholds Predigt wird hier zitiert nach der Ausgabe von Franz Pfeiffer und Joseph Strobel: Berthold von Regensburg: Predigten. Wien: Braunmüller 1862. 103 Für Thomas Pittrof ist Anredelyrik außerdem »die älteste und grundlegende Form der Lyrik«, Pittrof: Reden und Anrede (1999), S. 246. Vgl. dazu auch Braun/ Schöpsdau/ Lebsanft: Anrede (1992), S. 644. 104 Vgl. Schweikle: Minnesang (1989), S. 122. Damit hier nicht der Eindruck entsteht, dies sei innerhalb des Minnesangs der Normalfall, sei hier Günther Schweikle zitiert, der feststellt, dass »das Werbe- oder Minneklagelied in Form einer unmittelbaren, direkten Wendung des Sängers an eine Umworbene nicht die Regel [ist], [sondern] vielmehr - abgesehen von den wenig zahlreichen Dialogliedern - relativ selten [ist].« 40 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="41"?> Herzeliebez vrouwelîn, got gebe dir hiute und iemer guot. Kunde ich baz gedenken dîn, des hete ich willeclîchen muot. Waz mac ich dir sagen mê, wan daz dir nieman holder ist? Ouwê, dâ von ist mir vil wê. (Walther von der Vogelweide, L 49,25) Liebste junge Herrin, Gott möge dir heute und immerdar seine Gaben schenken! Wenn ich noch stärker an dich denken könnte, so würde ich das nur allzu gerne tun. Was kann ich dir aber noch anderes sagen, als dass niemand dich mehr liebt als ich? Ach, daraus erwächst mir großer Schmerz. 105 Auch wenn die in der mediävistischen Forschung lange einhellig vertretene Auffassung von Minnesang als › Rollenlyrik ‹ nicht mehr vorbehaltlos aufrechterhalten werden kann, 106 ist 105 Walthers Lied Herzeliebez vrouwelîn wird zitiert nach der Ausgabe Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten. Übersetzungen von Margherita Kuhn. Frankfurt am Main: 1995, S. 414 f. Die initiale Anrede vrouwelîn wurde in der mediävistischen Forschung stark diskutiert. Konsens besteht weitgehend darin, dass das Diminutiv des höfischen vrouwe keine Aussage über den Stand der Angesprochenen impliziert, sondern Vertraulichkeit und Nähe mit der Angesprochenen zum Ausdruck bringen soll, vgl. Scholz: Walther von der Vogelweide (2005), S. 121 bzw. Kuhn: Minnelieder Walthers von der Vogelweide (1983), S. 70. Zuletzt dazu auch Beate Kellner: Spiel der Liebe im Minnesang (2018), S. 433. 106 Am Forschungskonsens, »Minnesang [sei] fiktional, [sei] Rollenlyrik [ … ] und folglich radikal von Person, Biographie und Fühlen des Verfassers abzutrennen« und somit »das Gegenteil von Erlebnislyrik«, übte vor allem Harald Haferland in seiner Habilitationsschrift »Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone« (2000) Kritik, vgl. Müller: Die Fiktion höfischer Liebe (2004), S. 48 bzw. Haferland: Minnesang als Posenrhetorik (2004). Sein Alternativvorschlag, die Inszenierung eines Sprecher-Ichs als »Pose« zu betrachten und die Ich-Rede des Minnesangs als authentische, individuell zurechenbare Aussage zu betrachten, wurde zwar von der Forschung weitgehend zurückgewiesen, seine Kritik am Rollenbegriff hat sich jedoch als fruchtbar und weiterführend erwiesen, vgl. Müller: Die Fiktion höfischer Liebe (2004), S. 49 - 51 bzw. Haustein: Minne und Wissen um 1200 und im 13. Jahrhundert (2010), S. 349. Dass der Begriff der › Rolle ‹ falsche Assoziationen weckt, »[d]er Minnesänger [nicht] › einen Liebenden vor[führt] ‹ wie der Schauspieler Hamlet« und sich nicht im Sinne eines soziologischen Rollenverständnisses in Opposition zu einer sozialen Rolle setzt, betont Jan-Dirk Müller. Für ihn verweist die Frage nach dem Sprecher-Ich auf die Frage nach der »Fiktionalität des Minnesangs«, die er in Anlehnung an Wolfgang Isers Konzept des »Imaginären« bzw. Arnold Gehlens Vorstellung von »institutionellen Fiktionen« mit einem dreistelligen Fiktionalitätsmodell zu beantworten versucht. Indem Müller zwischen den Polen »Text« und »Realität« eine Zwischenebene der »kollektiven Fiktion« ansiedelt, geht er nicht von der Relation zwischen einem kontingenten individuellen Selbst und dem Text-Ich, sondern von der zwischen Text-Ich und imaginären Selbst aus, vgl. Müller: Die Fiktion höfischer Liebe (2004), S. 51 - 53. bzw. Hausmann: Einleitung (2004), S. 15. Während der höfische Diskurs über minne damit eine Fiktion ersten Grades ist, der eine »unverbindliche Maßgeblichkeit« innewohnt, erscheint der Einzeltext als Fiktion zweiten Grades, die sich als »(literarische) Vollzugsform dieser Fiktion« lesen lässt, vgl. Müller: Die Fiktion höfischer Liebe (2004), S. 52 f. Müller ist zuzustimmen, wenn er den Minnesang nicht zwangsläufig als Rollenspiel begreift - auch wenn Haferland einigen Genres ein »rollenmäßiges Verkörpern« zugesteht, das aber nicht die »einzige Form des Liedvortrags ist« und daher nicht verallgemeinert werden darf, vgl. Haferland: Minnesang als Posenrhetorik (2004), S. 73 bzw. 76. Stattdessen ist die Ich- Rede des Sängers im Sinne Greenblatts als »self-fashioning«, als »literarische Modellierung eines gesellschaftlich Imaginären« zu begreifen, das den Sänger zum »Sprachrohr des imaginären Selbst« macht, vgl. Müller: Die Fiktion höfischer Liebe (2004), S. 60 - 64 bzw. Stephen Greenblatt: Renaissance self-fashioning (1984). Die Probleme, die mit dem Auftauchen eines Text-Ichs auftreten, sind Gegenstand des Kapitels 3.2.3. Zur Fiktionalität des Minnesangs siehe auch Reuvekamp-Felber: Fiktionalität als Gattungsvoraussetzung (2001). 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 41 <?page no="42"?> es plausibel, hinter dem vrouwelîn des Gedichts keine in der Vortragssituation direkt angesprochene Dame zu vermuten, sondern die Anrede als rhetorische Figur der Apostrophe zu interpretieren. Als lyrisches Stilmittel dient sie dazu, »die (unerreichbaren) Objekte der Welt in potentiell antwortende zu verwandeln [ … ] und eine Ich-Du-Beziehung zu ihnen aufzubauen«. 107 Die Anrede beschwört vor allem die Präsenz des Dichters, die Angesprochene fungiert mehr als Folie denn als Hörerin. Somit eignet also auch der lyrischen Apostrophe nur ein geringes Maß an Reversibilität. Noch deutlicher als bei der Dame als unerreichbarem Objekt der Begierde und Gegenstand der Anrede wird diese Funktion der Anrede in solchen Minneklagen, die an Abstrakta adressiert sind, beispielsweise an die personifizierte Minne in Friedrichs von Hausen MF 53,22 Minne, got müeze mich an dir rechen oder an den höfischen Gesang in Walthers L 64,31 Ouwê, hovelîchez singen. Hier ist die fehlende Reversibilität augenscheinlich. Insgesamt erweist sich Irene Kacandes ’ Kriterium der Reversibilität bei der Kategorisierung der verschiedenen Arten der Anreden an ein Gegenüber als viables Konstrukt, mit dem der Grad der Natürlichkeit einer Anrede in Relation zu ihrem Gebrauch in der Alltagskommunikation gemessen werden kann. Dass die Theoriebildung nicht immer die literarische Praxis widerspiegelt und diese eher Mischformen als Idealtypen hervorbringt, wird bei einem Blick auf das Phänomen der Apostrophe auf der discours-Ebene deutlich. 108 Hier wird häufig eine zweiseitige Kommunikation fingiert, beispielsweise, wenn sich der Erzähler in Form von Leserapostrophen an seinen narratee wendet und dieser wiederum reagiert. 109 Ein Beispiel für ein solches metafiktionales Spiel zwischen Erzähler und einem fingierten Leser stellt die berühmte Beschreibung von Enites Pferd im Erec Hartmanns von Aue dar. Im Rahmen der Zelterepisode (Erec, vv. 7264 - 7766) wird die Handlung unterbrochen, um in einer descriptio des Pferdes das eigene Dichten zu thematisieren. 110 Schon zu Beginn der Passage hatte der Erzähler seinen Erzählduktus durchbrochen, um sich direkt an einen fingierten Leser oder Zuhörer zu wenden, so beispielsweise in der die Passage einleitenden Frage: waz sol doch si nû rîten, / diu sch œ ne guote wol geborn? / wan si hâte ir phert verlorn, / als ir ê wol hôrtet sagen (Erec, vv. 7265 - 7268: »Worauf sollte sie, die schöne, edle Dame von edlerAbstammung, denn nun reiten? Sie hatte nämlich, so wie es euch zuvor schon erzählt worden war, ihr Pferd verloren«). 111 Die Reaktionen des Erzählers auf mögliche Fragen und Einwürfe seitens einer fiktiven Leserschaft verselbstständigen sich zu einem Dialog mit ebenjener, wenn die descriptio die Beschaffenheit des Sattels beschreibt: ouch tuot daz mînem sinne kranc, daz ich den satel nie gesach: wan als mir dâ von bejach 107 Kähne: Anreden. Absichten. Apostrophen (2015), S. 41. 108 Obwohl andere Kategorisierungsansätze, beispielsweise nach dem ontologischen Status des Adressaten ( › belebt ‹ - › unbelebt ‹ ; › Leser ‹ - › Figur ‹ ) oder nach dessen Situierung innerhalb des Textes ( › discours ‹ - › histoire ‹ ) denkbar sind, erscheint Kacandes ’ Kriterium der Reversibilität als besonders fruchtbar. 109 Vgl. Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 173 f. 110 Vgl. Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf (2013), S. 174. 111 Hartmanns Erec wird hier und im Folgenden zitiert nach derAusgabe Albert Leitzmann: Hartmann von Aue: Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente. Hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen: Niemeyer 2006. 42 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="43"?> von dem ich die rede hân, sô wil ich iuch wîzzen lân ein teil wie er geprüevet was, als ich an sînem buoche las, sô ich kurzlîchest kan. › nû swîc, lieber Hartman: ob ich ez errâte? ‹ ich tuon: nû sprechet drâte. › ich muoz gedenken ê dar nâch. ‹ nû vil drâte: mir ist gâch. › dunke ich dich danne ein wîser man? ‹ jâ ir. durch got, nû saget an. › ich wil diz mære sagen. ‹ (Erec, vv. 7485 - 7500) Außerdem tut es meiner Absicht Abbruch, dass ich den Sattel nie selbst gesehen habe: So wie ich es aber von jenem erfahren habe, von dem ich die Geschichte habe, so möchte ich euch ein wenig davon berichten, wie er [der Sattel] gestaltet war, so wie ich es aus seinem Buch entnommen habe und so kurz wie ich es kann. »Nun sei still, lieber Hartmann: Ob ich es wohl errate? « Ich schweige: Jetzt sprecht aber schnell. »Ich muss zuvor noch ein wenig darüber nachdenken.« Auf, auf, ich habe nicht viel Zeit. »Denkt ihr, dass ich ein verständiger Mann bin? « Ja, das denke ich. Bei Gott, fangt an zu sprechen. »Ich möchte euch davon erzählen.« Dieses Beispiel ist insofern schwierig zu deuten, als es formal mit seiner Anrede an einen eigentlich abwesenden Gesprächspartner, dem fingierten Leser, der Apostrophe zuzuordnen ist. Da die Antworten des narratee jedoch mitfingiert werden, kann hier Kacandes ’ Kriterium der reversibility nicht mehr vorbehaltlos angelegt werden: Was zunächst als typische Leseranrede durch einen Erzähler begonnen hatte, verselbstständigt sich im Voranschreiten der Passage zu einer wehselrede zwischen den Figuren des Erzählers und des Lesers, die sich durch den ständigen Wechsel der Kommunikationsrollen von › turn ‹ zu › turn ‹ auszeichnet und in der die alltägliche Verwendung der personalen Deiktika nachgebildet wird. Mit der Aufwertung des zunächst noch unbestimmten Lesers zu einer Figur, die zwar auf discours-Ebene angesiedelt ist, aufgrund ihrer individualisierten Reaktionen jedoch mehr und mehr als anwesend gedacht wird, entfernt sich die Passage vom konventionellen Gebrauch der Figur › Apostrophe ‹ : Je stärker die Leserfigur ausgestaltet wird, desto weniger lädt sie den tatsächlichen Leser dazu ein, die in der Apostrophe eröffnete Empfängerrolle zu besetzen. 112 Vergleichbar ist eine Szene im Parzival Wolframs von Eschenbach, in der sich der Erzähler in ein Gespräch mit einem zu Beginn nicht näher bestimmten Gegenüber verwickeln lässt: › Tuot uf. ‹ wem? wer sît ir? › ich wil inz herze dîn zuo dir. ‹ sô gert ir zengem rûme. › waz denne, belîbe ich kûme? 112 Vgl. Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 174. Kacandes betrachtet den Fall der dialogisch gestalteten Leserapostrophe als unproblematisch und rechnet den gesamten Bereich der »reader address« der fehlenden › reversibility ‹ zu, Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 336. Dass diese Zuordnung zu einfach ist und differenzierter als Mischtyp aus Dialog auf Figurenebene und Apostrophe zu betrachten ist, konnte die Erörterung des obigen Beispiels hoffentlich zeigen. 1.1 Das › Du ‹ in Alltagskommunikation und Literatur 43 <?page no="44"?> mîn dringen soltu selten klagn: ich wil dir nu von wunder sagn. ‹ jâ sît irz, frou aventiure? (Parzival, vv. 433,1 - 7) 113 »Macht auf.« Wem? Wer seid ihr? »Ich will zu dir in dein Herz.« Dann begehrt ihr einen Platz, der zu eng ist. »Was denn? Kann ich nur mit Mühe einen Platz finden? Darüber, dass ich dich bedränge, kannst du wirklich nur selten klagen: Ich will dir jetzt von Wunderbarem berichten.« Ja, seid ihr es, Frau Aventiure? durch iwer güete gebt uns trôst, op der von jâmer sî erlôst. Lât h œ ren uns diu mære, ob Parzival dâ wære Beidiu iur hêrre und ouch der mîn. (Parzival, vv. 433,27 - 434,1) Um eurer Güte willen, spendet uns Trost und verratet es uns, ob er von Kummer erlöst wurde. Lasst uns die Geschichte hören, ob Parzival dort war, der sowohl euer als auch mein Herr ist. Die Passage nimmt den umgekehrten Weg und beginnt als Dialog der personifizierten Aventiure, der Personifikation des Parzival-Stoffes, die sich an den Erzähler wendet. Die Kommunikation auf discours-Ebene trägt die Züge einer alltäglichen Redesituation: Mittels eines Imperativs markiert die Aventiure den Erzähler als den Adressaten ihrer Rede; indem er auf die Rede reagiert, nimmt der Erzähler die Empfängerrolle an und spielt mit seiner Frage nach der Identität der Sprecherin den Ball zurück. Hat der Erzähler sein Gegenüber jedoch erstmal erkannt, so reißt er die Sprecherrolle an sich und überschüttet die personifizierte Aventiure mit Fragen, bis sie als Figur des discours wieder in Schweigen verfällt: Was als Dialog mit einem hohen Grad an Reziprozität begonnen hatte, wird im Verlauf mehr und mehr zurApostrophe an die Aventiure, deren Antwort ausbleibt und auch gar nicht mehr erforderlich ist. So wie sich schon in der Figurenapostrophe an Maria Magdalena zeigte, richtet sich auch diese Rede an ein rhetorisches › Du ‹ , das nur noch formal Adressat der Erzählerrede ist. Insgesamt bietet Kacandes ’ Skala der Reversibilität also ein heuristisches Instrumentarium, um die Varianten der Du-Anrede nach dem Grad ihrer Artifizialität zu beurteilen. Die Verwendungskontexte und Ausprägungen, die für die › moderne ‹ Literatur identifiziert werden, können weitgehend auch in den Literaturen des Mittelalters gefunden werden - das gilt zumindest für die Phänomene, die Kacandes um die beiden Pole des Figurendialogs und der Apostrophe gruppiert. Die Typen hingegen, die sich in einem Zwischenbereich zwischen reversiblen und nicht-reversiblen Du-Anreden verorten lassen, sind im Mittelalter nicht ohne weiteres ausfindig zu machen. Vor allem diejenigen Typen der Anrede, die einem personalen Erzählmodus oder dem reflector mode angehören, die also mit ausgeprägten Einblicken in das Bewusstsein und Innenleben der Figuren verbunden sind, scheint die mittelalterliche Literatur noch nicht zu kennen: Das gilt vor allem für das 113 Wolframs Parzival wird hier zitiert nach der Ausgabe von Karl Lachmann: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach d. Ausg. von Karl Lachmann. Übers. u. Nachw. von Wolfgang Spiewok. Stuttgart: Reclam 2010. 44 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="45"?> Phänomen der Selbst-Anrede, die Kacandes unter dem Oberbegriff des inneren Monologs bearbeitet 114 und die sie als potenziell dialogisch, formal aber apostrophisch beschreibt. 115 1.2 Die Du-Anrede als narrative Strategie in der mittelalterlichen Literatur Blicken wir noch einmal zurück auf die bereits in der Einleitung betrachtete Passage des Elisabethgebets. Wie lässt sich eine solche Passage in das eben entfaltete Panorama der Anredetypen innerhalb der mittelalterlichen Literatur verorten? Als das gebein dins gemahlen kam von dem heiligen lande do er umb cristen gelöbens willen vechtende umb kommen waz. Und du mit aller priesterschaft und mit vil volckes zu bobenberg mit grosser wirdikeit im engegen giengt. Und do du dich der bore nohetest do sprecht du andechteklich mit vergiessung der trähen [»]Herre Jesu Christe ich sag dir lob und danck das du mich din dienerin hest getröstet und mir erfüllet hest die grosse begirde die ich hatt zu sehende die gebein mins bruders mir ist nie leid daz er sich selber geopfferet hett ze hilff dinem heiligen lande. Aber nun wil ich in und mich bevelhen dinem göttlichen willen. Öch wölte ich in nit ob es müglich wer mit einem wort heischen zu dem leben wider dinen willen des mir ein gezuge bist.[«] (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 49b- 51a) (Als die Gebeine deines Ehemanns aus dem Heiligen Land überführt wurden, wo er des christlichen Glaubens willen im Kampf umgekommen war und du mit großer Würde ihm mit der gesamten Priesterschaft und einer großen Volksmenge zu Bamberg entgegengingst, und als du dich der Bahre nähertest, sprachst du andächtig und unter vielen Tränen: »Herr Jesus Christus, ich lobe dich und danke dir, dass du mir, deiner Dienerin, Trost gespendet und den großen Wunsch erfüllt hast, ein letztes Mal die Gebeine meines Bruders zu sehen. Mir tut es nicht leid, dass er sich geopfert hat, um deinem Heiligen Land zu helfen. Aber nun will ich ihn und mich deinem göttlichen Willen unterstellen. Selbst wenn es möglich wäre, ihn mit einem Wort wieder zum Leben zu erwecken, so würde ich das gegen deinen Willen nicht wollen, dessen seist du mein Zeuge.« Die Anrede an Elisabeth von Thüringen scheint aus der Gebetssituation heraus erklärbar, die Klassifikation als Apostrophe naheliegend. Bei genauerem Hinsehen treten jedoch einige Besonderheiten zutage, die die Einordnung dieser speziellen Anredesituation verkomplizieren: Elisabeth ist nicht nur die Adressatin des Gebets, sie ist außerdem Protagonistin einer Erzählepisode sowie Hauptakteurin ihrer gesamten Geschichte. Sie 114 Vgl. Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 335: »The self splits off a part of the self, creating a › you ‹ in dialogue with whom hidden knowledge is discovered.« In diese Richtung geht auch Barbara Kortes Beschreibung des Phänomens der »direkten Bewußtseinsdarstellung«, die sich in einer »Dialogisierung des inneren Monologs« manifestiert: Sie meint damit eine »innerliche Form der Figurenrede« und betrachtet diesen Fall als »eine einseitige Pseudo-Kommunikation, bei der eine unmittelbare sprachliche Reaktion des › Du ‹ ausgeschlossen ist und die nicht der Vermittlung von Information an die Angeredete dient, sondern einen Versuch des Denkenden darstellt, sich über seine Gefühle für die Pseudo-Adressatin klarzuwerden. Der wirkliche Adressat dieser Reflexion ist also das Ich selbst«, Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 172 f. 115 Auch Wolfgang Müller identifiziert diesen Typus in seinem Überblick über die Verwendung der Anredepronomina in literarischen Texten: Für ihn verbirgt sich hinter einem solchen › Du ‹ »ein verkapptes oder - genauer gesagt - substituiertes › Ich ‹ , die Anrede ist demnach Teil eines Selbstgesprächs, Müller: Die Anrede an ein unbestimmtes Du in der englischen und amerikanischen Erzählkunst (1984), S. 134. 1.2 Die Du-Anrede als narrative Strategie in der mittelalterlichen Literatur 45 <?page no="46"?> erscheint als Handelnde, deren äußere 116 und innere Haltung 117 vom Erzähler beschrieben und der eine elaborierte Figurenrede in den Mund gelegt wird - typische Elemente einer Erzählung, die in Gebeten die Ausnahme darstellen. 118 Zwei Aspekte kommen hinzu, die diesen Typus der Apostrophe von den zuvor vorgestellten unterscheiden. Während das Auftauchen von Anredeformen (Pronomina und Verbformen der zweiten Person sowie Vokative) ein für alle Apostrophen verbindliches Kriterium ist, erfüllt die vorliegende Passage zudem das Kriterium der Narrativität: 119 Sowohl nach einem sequenzialistischen Verständnis von Narrativität, demzufolge ein Text dann narrativ ist, wenn er Handlungs- oder Ereignisfolgen beinhaltet, 120 als auch nach anderen Ansätzen, die Narrativität vom Plot abkoppeln und stattdessen mit der Vermittlung anthropomorpher Ereignishaftigkeit bzw. »experientiality« 121 verknüpfen, gilt die Passage als narrativ. 122 Die angesprochene Person ist also Aktant auf Handlungsebene und Adressat auf discours-Ebene. Damit rückt die Passage in die Nähe eines Phänomens, 123 das sonst in (post-)modernen Texten auftritt und von der Erzählforschung als »Du-Erzählung« (oder »second person-fiction«) 124 oder auch als »narrative Apostrophe« 125 bezeichnet wird. 126 Die Art und Weise, wie die Forschung zur Du-Erzählung den Begriff › Apostrophe ‹ verwendet, den ich für diese Studie übernehme, weicht insofern von der Definition der Rhetorik ab, als mit › Apostrophe ‹ nun nicht mehr zwangsläufig eine begrenzte Anrede an ein Gegenüber gemeint ist. Die Anrede ist vielmehr durchgängig und langfristig gebraucht und konstituiert die Erzählhaltung entscheidend mit, anstatt sie zu durchbrechen. Ungeachtet der verschiedenen Begrifflichkeiten, mit denen das Phänomen auch bezeichnet wurde, kris- 116 Diese kommentiert der Erzähler mit den Worten mit grosser wirdikeit und betont damit, dass Elisabeth in ihrer Trauer Haltung und Würde bewahrt. 117 Dass Elisabeth in diesem Moment der Trauer Gottvertrauen und Vorbildlichkeit an den Tag legt, zeigt der vorsichtige Blick ins Innere der Heiligen, der mit der Einschätzung andechteklich angedeutet wird. 118 Es handelt sich hier also um ein Elisabethleben in Gebetsform. 119 Welche Begriffe von › Erzählung ‹ und › Narrativität ‹ dieser Studie zugrunde gelegt werden, wird an anderer Stelle erläutert. Hier möge der Verweis auf Vera Nünning genügen, die Narrativität als »Bündel von formalen und thematischen Merkmalen« begreift, vgl. Nünning: Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie (2011/ 2012), S. 90. 120 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 3: Als Minimalbedingung für Narrativität gilt hier das Vorhandensein »mindestens eine[r] Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment«, wobei nach Schmid drei Teilbedingungen erfüllt sein müssen: temporale Struktur, Äquivalenz zwischen Ausgang und Ergebnis, Identität des Subjekts/ des Settings. 121 Fludernik: Towards A › Natural ‹ Narratology (1996), S. 26. 122 Um die verschiedenen Konzepte von Narrativität geht es in Kapitel 2.5. 123 Die narratologischen Spezifika der Du-Erzählung oder narrativen Apostrophe werden ausführlich thematisiert in Kapitel 3.1.1. 124 So benennen beispielsweise Monika Fludernik und Barbara Korte das Phänomen und stellen sich damit in die Tradition früherer Narratologen wie Michel Butor, Bruce Morrissette, Helmut Bonheim, Uri Margolin oder Brian Richardson. Auch hier sei auf den noch später erfolgenden Forschungsabriss verwiesen. 125 Die Bezeichnung stammt von Irene Kacandes, vgl. Kacandes: Narrative Apostrophe (1993). Für Evi Zemanek eignet sich der Begriff der › narrativen Apostrophe ‹ besser dazu, die dahinterliegende Erzählhaltung zu erfassen: Der Begriff › Apostrophe ‹ berücksichtige stärker die »Einseitigkeit des kommunikativen Akts« und erfasse die in der (post-)modernen Literatur so vielseitigen Phänomene präziser, die bisher unter dem Schlagwort › Erzählen in der zweiten Person ‹ zum Teil nicht immer ganz zutreffend subsumiert wurden, vgl. Zemanek: Das suggestive Du (2011), S. 233. 126 Auch Evi Zemanek kennt eine solche »Kerndefinition der › Du-Erzählung ‹ , wonach die Geschichte des › Du ‹ erzählt wird«, Zemanek: Das suggestive Du (2011), S. 232. 46 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="47"?> tallisiert sich in der Forschung doch ein Minimalkonsens heraus, auf den auch UIrike Wiest- Kellner ihre Definition gründet: Die You-Form wird inzwischen allgemein akzeptiert als die durchgehende Anrede einer textinternen, handlungstragenden Figur mit dem Pronomen der zweiten Person, mit weitreichenden Folgen für das Verhältnis dieser Figur zu Histoire und Erzählerpersona und mit gleichzeitig dadurch eröffneten Möglichkeiten der subtil verwirrenden und handlungsinvolvierenden Leseranrede. 127 Die damit eröffnete Erzählsituation birgt - zumindest in der Literatur der Moderne - ein erhebliches Irritationspotenzial: Die Verwendung des Anredepronomens lädt den Leser dazu ein, 128 das Personalpronomen und die Anrede auf sich zu beziehen. Mit dieser »Mehrfachadressierung« 129 spielt beispielsweise Calvinos metafiktionales Erzählexperiment › Wenn ein Reisender in einer Winternacht ‹ (1979), in dem anfangs ein namenloses › Du ‹ angesprochen wird, das parallel zum Lesevorgang des realen Lesers mit der Lektüre des Romans beginnt: 130 Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen. 131 Der »[fiktionalisierte] Lesevorg[a]ng[ … ]« 132 lädt den Leser dazu ein, sich mit der Anrede zu identifizieren. Erst nach und nach wird dieses › Du ‹ mit weiteren Charakterzügen und einer eigenen Biographie ausgestattet, so dass klar wird, dass nicht der extradiegetische Leser gemeint sein kann. Ein solches Verwirrspiel findet im Elisabethgebet nicht statt. Schon der Gebetskontext macht deutlich, dass der Adressat nicht der Leser ist, weitere Anreden, die sich über die ganze Erzählung hindurch verstreut finden, flechten immer wieder den Namen der Angesprochenen ein. Eine Identifikation mit dem angesprochenen › Du ‹ ist in dieser Art der Du-Erzählung nicht intendiert und durch die Anrede ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz besitzt auch sie ein erhebliches identifikatorisches Potenzial: 133 Das Identifikationsangebot ist jedoch nicht an die Anrede geknüpft, sondern an die Rolle des Sprecher-Ichs, das im Text explizit gestaltet oder auch nur implizit präsent ist. Denn jede an ein Gegenüber gerichtete Äußerung ist notwendigerweise an die Instanz eines Sprecher-Ichs gebunden. 134 Die Du-Erzählung wird so zur »Durchlässigkeitsstelle [ … ], die 127 Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 12. 128 Vgl. Kacandes: Are You in the Text? (1993), S. 139. Auch Erika Greber bemerkt die »appellative Kraft [der Du-Erzählung], die erzählte Welt so zu überschreiten, dass sich der Leser im ersten Moment selbst angeredet fühlen kann«, Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung? (2006), S. 47. 129 Vgl. Prak-Derrington: Wie redet der Autor seinen Leser an? (2007), S. 205. 130 Vgl. Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung? (2006), S. 53. 131 Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München/ Wien: Carl Hanser Verlag 1983, S. 7. 132 Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung? (2006), S. 53. 133 Etwas anders benennt Christian Schmidt ein solches Identifikationsangebot als »identitätsstiftende[s] und - formende[s] Potenzial[ … ]«, Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 125. Schmidts Begrifflichkeiten, so treffend sie auch sind, nehmen bereits eine Interpretation vor, indem sie die identitätsformende Eigenschaft der in der Du-Anrede eröffneten Ich-Position betonen. Deshalb sei hier der neutralere Begriff des »identifikatorischen Potenzials« gebraucht, das lediglich das Angebot zur Identifikation festhält, aber nicht zwangsläufig eine vorgeformte Identität impliziert, in die das Subjekt schlüpfen kann. 134 Benveniste: Problems in general linguistics (1971), S. 197. 1.2 Die Du-Anrede als narrative Strategie in der mittelalterlichen Literatur 47 <?page no="48"?> das gegenseitige Sich-Berühren und Ineinanderfließen von außer- und inner[textueller] Welt ermöglicht«. 135 Unnatürlich wirkt außerdem das kommunikative Szenario eines Erzählers, der einer anderen Person deren eigene Geschichte erzählt und dieses Gegenüber währenddessen durchgängig anspricht. 136 Dass das tendenziell als anormal empfunden wird, liegt daran, dass das Szenario gegen das Grice ’ sche Kooperationsprinzip verstößt, nach dem Sprecher ihre Äußerungen so gestalten, wie es der gegenwärtige Zeitpunkt der Äußerung erfordert. 137 Um die anormale Kommunikationssituation plausibel zu machen, werden verschiedene Strategien angelegt, die allesamt darauf abzielen, die Notwendigkeit einer eigentlich überflüssigen und irrelevanten Kommunikation herauszustellen. Zuweilen stellen sich moderne Du-Erzählungen daher als versteckte Ich-Erzählungen heraus, bei denen die narrative Apostrophe ein inneres Geschehen dialogisiert oder › liminale ‹ Erfahrungen thematisiert. 138 Im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth fehlen jedoch derartige Plausibilisierungsstrategien (»naturalizations«). 139 Dass mit Elisabeth eine Heilige, das heißt eine besondere Entität, angesprochen wird, macht die Erzeugung eines besonderen »Kommunikationsrahmens« 140 überflüssig. Erzählen vom Heiligen ist immer auch Preisen des Heiligen, der Anrede also ein hymnisches Moment eingeschrieben. Daneben hat die in die Du-Anrede verlagerte Erzählung performative Elemente, die, vor allem in Gebeten, Heilige auf ein bestimmtes Handeln verpflichtet und keine Irritationen auslösen. Anders als die modernen Du-Erzählungen bewegen sich die mittelalterlichen Vertreter des Erzählmodus nicht zwangsläufig am apostrophischen Pol innerhalb von Kacandes ’ »spectrum of reversibility«: Zwar bleibt auch hier die Heilige auf die Rolle der Empfängerin festgelegt und schaltet sich nicht selbst in die Kommunikation ein; sie wird aber dennoch als echte Gesprächspartnerin verstanden, mit deren Reaktion der Rezipient fest rechnet. 135 Ursula Wiest-Kellner spricht von einem »Ineinanderfließen von außer- und innerfiktionaler Welt«, Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 25. Dass diese Einschätzung jedoch nicht eins zu eins übernommen werden kann und stattdessen von »außer- und inner t e x t u e l l e r Welt« zu sprechen ist, ist Thema des Kapitels zur › Fiktionalität ‹ der Untersuchungsgegenstände. 136 Für Monika Fludernik ist das »a patently absurd situation under normal circumstances«, Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 221. Werner Wolf rechnet die Du-Erzählung aufgrund der mangelnden Plausibilität ihrer Kommunikationssituation sogar zu den »illusionsstörenden Erzählverfahren«, Zemanek: Das suggestive Du (2011), S. 251. 137 Um das zu illustrieren, zitiert Barbara Korte die Grice ’ schen Maximen der Quantität (»1. Make your contribution as informative as is required (for the current purposes of the exchange); 2. Do not make your contribution more informative than is required«) und der Relation (»Be relevant«). Die Wahrscheinlichkeit, gegen eine dieser Maximen zu verstoßen, so Korte, ist im Falle der Du-Erzählung hoch, vgl. Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 182. 138 Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 31: Wiest-Kellner bezieht sich hierbei auf Victor Turners Konzept von Liminalität (Victor Turner: Variations on a Theme of Liminality (1977)): Liminalität ist danach bestimmt von »Zustände[n] der Instabilität und Unerreichbarkeit, des Schwebens und Schwankens zwischen den Welten, [der] Konturlosigkeit, Doppelgesichtigkeit und Paradoxie, die die Eigenart des grenzgängerischen Wesens ausmachen«. 139 Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 221. 140 Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung? (2006), S. 47. 48 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="49"?> 1.3 Forschungsstand Die narrativ gebrauchte Du-Anrede als Erzählverfahren des späten Mittelalters wurde von der mediävistischen Forschung bislang nicht beachtet. Selbst in den neueren Philologien fristet die moderne Du-Erzählung ein Randdasein. Die Studie erschließt somit einen von der mediävistischen Forschung lange vernachlässigten Teilbereich der religiösen Literatur, zugleich überprüft und erweitert sie Theorie und Methodologie einer historisch arbeitenden Narratologie. Ein kurzer Forschungsabriss bietet zunächst einen Überblick über bisherige Erkenntnisse und noch zu bearbeitende Lacunae. 1.3.1 Deutschsprachige religiöse Literatur in mediävistischer Perspektive Insbesondere im Vergleich mit den › Klassikern ‹ des deutschen Mittelalters sind im Bereich der volkssprachlichen religiösen Literatur des späten Mittelalters noch viele Fragen ungeklärt. Gut erschlossen sind mystische Texte oder die religiösen Lieder im Oeuvre der Lyriker, außerdem gibt es eine reiche Forschungstradition zu Predigt und Legendarik. Andere Texttypen wie beispielsweise die religiöse Versepik wurden jedoch lange vernachlässigt. So übernahm die neuere Forschung lange die abwertende Haltung gegenüber bibelepischen und legendarischen Texten. Das Schaffen jener Dichter, die Stoffe aus dem Umfeld der Bibel bearbeiteten, wurde als kunstlos und uneigenständig, nicht selten sogar als minderwertig betrachtet. Stellvertretend sei hier die Kritik angeführt, mit der Elias von Steinmeyer seinen Artikel über den Autor des Apollonius von Tyrland und von Von Gottes zukunft in der »Alten deutschen Biographie« von 1880 beschließt: Daher bildet H[einrich] unter den zeitgenössischen Dichtern immerhin eine erfreuliche Erscheinung, wenn ihm auch nahezu alle Eigenschaften des wahren Dichters abgehen und sein formales Talent sehr gering erscheint. 141 Einschätzungen wie diese sind keine Einzelfälle und prägten die Forschungslandschaft nachhaltig. Noch 1977 macht Peter Wiedmer in der Einleitung seiner Dissertation zum Schaffen Heinrichs von Hesler die Beobachtung, dass »[d]ie neuere germanistische Forschung [ … ] die Bibelepik des späten Mittelalters weitgehend [ignoriere].« 142 . Als Grund führt Wiedmer an, dass dem modernen Leser die Religiosität der Texte ebenso fremd erscheine wie die Tatsache, dass religiöse Bildungsinhalte in Versform aufbereitet wurden. 143 Erst langsam nimmt die Zahl an Studien zu religiösen Epen zu, die volkssprachlichlaikale Dichtung wird mit ihrem Blick auf die mittelalterliche Lebenswelt zunehmend als ergiebiges Untersuchungsfeld gesehen, um mittelalterlichen Denkmustern und Vorstellungen nachzuspüren. 144 Erschwert wird die wissenschaftliche Beschäftigung mit bibelepischen und legendarischen Werken ebenso wie mit der Gebetsliteratur oftmals durch veraltete oder gar fehlende 141 Steinmeyer: Heinrich von Neustadt (1880), S. 639 f. 142 Wiedmer: Sündenfall und Erlösung bei Heinrich von Hesler (1977), S. 9. 143 Vgl. Wiedmer: Sündenfall und Erlösung bei Heinrich von Hesler (1977), S. 9. 144 Siehe dazu auch der von Bruno Quast und Susanne Spreckelmeier herausgegebene Sammelband »Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit« (2017). 1.3 Forschungsstand 49 <?page no="50"?> Editionen: Nicht selten stammen die Texteditionen noch aus dem ausgehenden 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert, so beispielsweise die Ausgabe Gundackers von Judenburg Christi Hort durch J. Jaschke aus dem Jahre 1910 oder die 1906 durch Samuel Singer angefertigte Edition von Von Gottes zukunft des Heinrich von Neustadt. Selbst bei der Erforschung eines mittelalterlichen › Bestsellers ‹ wie dem Marienleben des Philipp von Seitz ist die Forschung auf die 1853 erschienene Ausgabe von Heinrich Rückert angewiesen, die nun durch die im Entstehen begriffene Neuedition durch Kurt Gärtner ersetzt werden soll. 145 Obwohl die mediävistische Forschung inzwischen damit begonnen hat, die Forschungslücken auf dem Gebiet der erzählenden religiösen Literatur zu schließen, ist das Feld in vielerlei Hinsicht noch unbearbeitet. Es dominieren basale Fragestellungen, etwa nach Überlieferungs- und Abhängigkeitsverhältnissen oder zur Motivgeschichte. Weiterführende Analysen und Fragestellungen stehen für viele Einzelbeispiele noch aus: Dazu gehören narratalogische Ansätze wie etwa die Frage nach der Machart der Texte oder literatursoziolgische Überlegungen bezüglich der Funktion bestimmter Textstrukturen innerhalb eines Werkes und in der Rezeptionssituation. In dieser Hinsicht ist die Mediävistik in Bewegung geraten: Einen besonderen Schwerpunkt wird in jüngerer Zeit auf die Frage gelegt, wie religiöse Inhalte narrativ vermittelt werden können und wie vom Heiligen überhaupt erzählt werden kann. Narrationen erscheinen dabei als ein wesentliches Element der religiösen Kommunikation, die je nach Kontext spezifische Funktionen übernehmen und somit mentalitätsgeschichtliche Einblicke verheißen. Vor allem das legendarische Erzählen des Mittelalters nutzt Strategien, um Sachverhalte zu vermitteln, die sich der Versprachlichung entziehen, und Vorstellungen vom Heiligen zu kommunizieren. Derartige Texte stoßen seit den 2000er Jahren auf verstärktes Interesse, stellvertretend für eine Vielzahl von Untersuchungen von hagiographisch-legendarischen Texten seien hier der 2002 erschienene Aufsatz »Erlaubte Fiktionalität: die Heiligenlegende« von Benedikt Vollmann genannt, der Beitrag Peter Strohschneiders »Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg › Alexius ‹ « (ebenfalls 2002) sowie Bruno Quasts Artikel »Narrative Freiräume in Gundackers von Judenburg Christi Hort und in Der Sælden Hort« (2009). Das seitdem fortbestehende Interesse an der Legendarik bestätigen der jüngst erschienene Sammelband »Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter« (2019, herausgegeben von Julia Weitbrecht, Maximilian Benz, Andreas Hammer, Elke Koch, Nina Nowakowski, Stephanie Seidl und Johannes Traulsen) sowie der ebenfalls 2019 veröffentlichte Aufsatz von Daniel »Von Wundern und Flatulenzen. Narratologische Überlegungen zum Forschungsparadigma des › legendarischen Erzählens ‹ «. Bei der Untersuchung von religiösen Gebrauchstexten wie Gebeten, Predigten, Traktaten überwog lange das Interesse an der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur, wobei die Texte als Quelle für historisch-theologische Fragestellungen heranzogen wurden. 146 Auch in diesem Bereich fehlt es oftmals an Editionen, so liegen auch einige Texte aus dem 145 Siehe dazu den Editionsbericht auf Handschriftencensus: https: / / editionsbericht.de/ ? n=E_Gaertner1 [zuletzt aufgerufen am 20.03.2021]. 146 Ein Beispiel dafür bietet das Urteil Joseph Klappers, für den das deutschsprachige Privatgebet wichtig für die Erforschung der Volksfrömmigkeit sei, »da sich in ihm, anders wie in einzelnen religiösen Werken, das gesamte Volk offenbart«, Klapper: Das deutsche Privatgebet im ausgehenden Mittelalter (1914), S. 216. 50 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="51"?> Untersuchungskorpus dieser Studie wie Bertholds Zeitglöcklein oder das Andachtsbuch Itinerarium Beatae Virginis Mariae oder Die Wallfahrt oder Pilgerschaft der allerseligsten Jungfrau Maria nur in unedierter Form vor. Statt eines rein historischen Erkenntnisinteresses verfolgen neuere Publikationen das Ziel, Form und Funktion von Gebrauchsliteratur in einen Zusammenhang zu bringen. Hierbei sind vor allem die von Christian Kiening angestoßenen Untersuchungen zur Medialität religiöser Literatur zu nennen, die die Gestaltung von Texten aus literatursoziologisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht. Kienings Beobachtung, dass gerade religiöse Texte ein »performatives Potenzial« 147 besitzen, das Präsenzeffekte erzeugt und den Dialog zwischen dem abstrakten Heiligen und dem einzelnen Gläubigen ermöglicht, 148 ist ein Anknüpfungspunkt für diese Studie. Die Kombination literaturwissenschaftlicher Fragestellungen mit der Verortung der Texte in einem bestimmten soziokulturellen Kontext liegt als Forschungsperspektive auch dem von Volker Mertens herausgegebenen Band »Predigt im Kontext« (2013) sowie dem Band »Medialität und Praxis des Gebets«, herausgegeben von Mirko Breitenstein und Christian Schmidt (2019), zugrunde. Bislang wurde noch nicht versucht, die Verwendung der narrativ gebrauchten Du- Anrede bis in das deutschsprachige Mittelalter zurückzuverfolgen 149 und ihre Machart und Funktionsweisen systematisch zu untersuchen. Dennoch knüpft die Untersuchung an andere Forschungsbereiche mit verwandter Thematik an: Zu nennen ist hier die Anredeforschung, die sich mit den sozialen Implikationen von Anredeformen auseinandersetzt und deren Einsatz in literarischen Werken beleuchtet. Als anschlussfähig erweist sich zudem die noch junge Disziplin der › historischen Dialogforschung ‹ , der beispielsweise Jörg Kilians Monographie »Historische Dialogforschung« (2005) oder die von Nine Miedema und Monika Unzeitig seit 2012 herausgegebenen Reihe »Historische Dialogforschung« entsprungen sind, in der bisher drei Bände zu den »Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik« (2011), zum »Sprechen mit Gott« (2013) und zu »Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur« (2017) erschienen sind. Auch die Erkenntnisse zur Rhetorik von Gebeten können für diese Arbeit fruchtbar gemacht werden, insbesondere Eckhard Conrad Lutz ’ 1984 erschienene Untersuchung »Rhetorica divina« sowie Christian Thelens groß angelegter Überblick über das »Dichtergebet in der deutschen Literatur des Mittelalters« (1989) bieten Anknüpfungspunkte. Als singuläre Studien, die sich speziell mit der erzählenden Du-Anrede beschäftigen, obgleich nicht unter dezidiert narratologischem Blickwinkel, seien abschließend Betty Busheys 147 Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 11. Für mittelalterliche religiöse Texte konstatieren Cornelia Herberichs und Christian Kiening Folgendes: »Das göttlich inspirierte oder autorisierte Wort, die christliche Offenbarungsmacht von Sprache und Schrift, sie ermöglichten es, Texte mit Transzendenzenergie aufzuladen und mit ontologischen Zügen zu versehen - also nicht nur Veranschaulichungen und Repräsentationen, sondern Verkörperungen und Realisationen heilsgeschichtlicher Faktizität«, ebd., S. 17. 148 Kiening: Einleitung (2009), S. 8 f. In seinem Aufsatz »Gebete und Benediktionen von Muri« beobachtet Kiening diese Tendenz zur Vergegenwärtigung und das performative Ausstellen von Selbstwirksamkeit anhand der Gebrauchstextsorte Gebet, vgl. Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), besonders S. 115. Ähnliches gilt auch für die Gattung des geistlichen Spiels, vgl. Kiening: Präsenz - Memoria - Performativität (2007). 149 Monika Fludernik hat in ihrer Bibliographie zu Texten in der Du-Form auch die mittelenglische Legend of Seynt Gyle von John Lydgate aufgenommen, die sie als früheste, ihr bekannte Du-Erzählung wertet, vgl. Fludernik: Second-Person Narrative: A Bibliography (1994), S. 533. 1.3 Forschungsstand 51 <?page no="52"?> Aufsatz »Das Leben Christi in Gebetsform in Gundackers › Christi Hort ‹ « (1984) und Sabine Grieses Artikel »Der › Herzmahner ‹ - ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein« (2012) genannt. Die Verwendung der narrativ gebrauchten Du-Anrede steht im Kontext der einfühlenden Passionsfrömmigkeit bzw. -spiritualität. Deren Praktiken, die von der mediävistischen Forschung bisher vor allem am Beispiel der Devotio moderna untersucht wurden, zielen auf eine »neue Verinnerlichung des christlichen Glaubens« 150 und setzen auf Techniken, die eine »verlebendigende Vergegenwärtigung der [Passion] mit dem Ziel [ … ] persönliche[r] Anteilnahme« 151 bewirken. Das komplexe Zusammenspiel verschiedener Immersionsstrategien, die oftmals Bildmedien miteinbeziehen, wurde ausgiebig im 1993 von Walter Haug und Burghart Wachinger herausgegebenen Sammelband »Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters« behandelt. Auf die davon angestoßenen Untersuchungen - genannt seien hier Hartmann Tyrells Aufsatz »Religiöse Kommunikation - Auge, Ohr und Medienvielfalt« (2002) und Thomas Kaufmanns Untersuchung »Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation« (2012) - greift diese Studie zurück. 1.3.2 Second-Person Fiction und die historische Narratologie Die Erzählhaltung, die unter den verschiedensten Bezeichnungen - › Second-Person Fiction ‹ , › narrative Apostrophe ‹ , › Du-Erzählung ‹ - kursiert, fand erst in jüngerer Zeit innerhalb der narratologischen Forschung Beachtung. In den als Standardwerken geltenden Erzähltheorien von Franz Stanzel und Gérard Genette wird das Phänomen lediglich am Rande behandelt, in Wayne C. Booth ’ s »The Rhetoric of Fiction« ist die zweite Person als Erzählung »nicht mehr als eine Fußnote wert: › Efforts to use the second person have never been very successful, but it is astonishing how little real difference even this choice makes. ‹ « 152 Dass die Du-Erzählung lange Zeit »ein Stiefkind der Literaturwissenschaft« 153 blieb, liegt vor allem daran, dass in der Zeit der großen strukturalistischen Erzähltheorien noch kaum Du-Erzählungen bekannt waren. Einen Impuls zur Beschäftigung mit der Erzählform erhielt die Narratologie durch Michel Butors 1957 erschienenen Roman La Modification, der sich der narrativen Anrede bedient und damit einiges Aufsehen unter Literaturkritikern und -wissenschaftlern erregte. Butor ist auch einer der ersten, der sich aus narratologischer Perspektive mit dem Phänomen befasste, so in seiner Studie »Recherches sur la technique du roman« (1964). Ihm folgten weitere Narratologen und Literaturwissenschaftler, die die narrative Apostrophe als weitere Erzählhaltung in der Narratologie etablierten. Stellvertretend für eine Reihe von Untersuchungen sei hier Bruce Morrissette mit seiner Studie »Narrative › You ‹ in Contemporary Literature« (1965) genannt. Die narratalogische Erschließung der 150 Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 169. 151 Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 176. 152 Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 169. Das Zitat stammt aus Booth: The Rhetoric of Fiction (1961), S. 150, Anm. 3. 153 Als Frage formuliert, leitet Ursula Wiest auf diese Weise ihren Forschungsüberblick ein, vgl. Wiest: Die You-Erzählsituation (1993), S. 76. 52 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="53"?> Erzählhaltung erlebte einen Höhepunkt Ende der 1980er 154 bzw. Anfang der 1990er Jahre, als sich in kurzer Folge eine Reihe von Untersuchungen mit der Verwendung der zweiten Person in Erzähltexten beschäftigten, beispielsweise Paul Goetschs Beitrag zu den »Leserfiguren in der Erzählkunst« (1983), die bereits zitierte Studie von Barbara Korte zum »Du im Erzähltext« (1987) oder Wolfgang Müllers 1984 erschienener Aufsatz »Die Anrede an ein unbestimmtes Du in der englischen und amerikanischen Erzählkunst«. Es folgten weitere Arbeiten, die sich dezidiert dem narrativ gebrauchten › Du ‹ widmeten, unter anderem Irene Kacandes Dissertation »Narrative Apostrophe: Case Studies in Second Person Fiction« (1990) sowie deren 1993 veröffentlichte Folgestudien »Are You in the Text? The › Literary Performative ‹ in Postmodernist Fiction« und »Narrative Apostrophe: Reading, Rhetoric, Resistance in Michel Butor ’ s La Modification and Julio Cortázar ’ s › Graffiti ‹ « (1993), Brian Richardsons Aufsatz »The Poetics and Politics of Second Person Narrative« (1991), Uri Margolins Artikel »Narrative › You ‹ Revisited« (1993) und Ursula Wiests Aufsatz »The Refined Though Whimsical Pleasure: Die You-Erzählform« (1993). Einen Fokus auf die narratologische Erschließung der Du-Erzählform legte Monika Fludernik, die in mehreren Aufsätzen 155 die Ansätze der bisherigen Forschung zusammenbrachte. 156 Sie ergründete außerdem die Ursprünge der Du-Erzählformen, indem sie natürliche Vorläufer wie Handbücher und Rezepte, das Selbstgespräch oder das Verhör vor Gericht, aber auch literarische Prototypen wie den russischen Skaz oder Briefromane ausfindig machte. 157 Außerdem schlug sie eine erste Typologisierung vor, 158 vor, in der sie die Erzählform in die Kategorien der Genetteschen bzw. Stanzelschen Erzähltheorien integriert. Die Erkenntnis, dass das Phänomen sich nur begrenzt typologisieren lasse, 159 leitete eine neue Phase der Beschäftigung mit der Du-Erzählung ein. Angesichts des »Rückfall[s] in überwunden geglaubte Ordnungs- und Dichotomisierungzwänge« 160 , der sich an den Versuchen ablesen lässt, der Du-Erzählung mittels narratologischer Kategorien Herr zu werden, wendet sich die neueste Forschung zur narrativ gebrauchten Du-Anrede nun vermehrt den Funktionen zu, die diese schwer greifbare Erzählhaltung übernimmt. Dazu zählen neben der bereits erwähnten Dissertation von Wiest-Kellner, in der die Du- Erzählform als textuelles Korrelat zu Situationen der Liminalität interpretiert wird, auch Erika Grebers Aufsatz »Wer erzählt die Du-Erzählung? Latenter Erzähler und implizites Gendering« (2006) sowie der 2011 erschienene Artikel Evi Zemaneks zum »Suggestive[n] Du« (2011). 154 Als Beispiel für das sporadisch immer wieder aufkommende Interesse an der Du-Erzählform sei hier Helmut Bonheim: Narration in the Second Person (1983) genannt. 155 Fludernik: Second person fiction (1993), Second-Person Narrative As a Test Case for Narratology: The Limits of Realism (1994), Erzähltexte mit unüblichem Personalpronominagebrauch: engl. One und it, frz. on, dt. man« (1995), The Category of › Person ‹ in Fiction: You and We-Narrative - Multiplicity and Indeterminacy of Reference (2011). 156 Vgl. Fludernik: Second person fiction (1993), S. 218. 157 Vgl. Fludernik: Second person fiction (1993), S. 235 - 238 (natürliche Modelle) bzw. S. 231 - 234 (literarische Modelle). 158 Fludernik: Second person fiction (1993), S. 217. 159 Wiest-Kellner: Messages from the threshold (1999), S. 24. 160 Wiest-Kellner: Messages from the threshold (1999), S. 19. 1.3 Forschungsstand 53 <?page no="54"?> Narratologische Studien zur Verwendung des narrativen › Du ‹ in der spätmittelalterlichen Literatur stehen bislang noch aus, weshalb sich die Studie auch als Beitrag zur Historisierung dieser Erzählform versteht. Inwieweit die narratologischen Modelle und literaturpragmatischen Funktionen, die anhand (post)moderner Texte erarbeitet wurden, jedoch für mittelalterliche Texte sinnvoll sind, wird noch zu klären sein. Mit Fragen dieser Art beschäftigt sich die junge Forschungsrichtung der historischen Narratologie: 161 Wichtige Impulse, eine Lücke in der narratologischen Forschung zu schließen und Beschreibungskategorien und -modelle der Disziplin zu historisieren, gaben Ansgar Nünnings »Towards a Cultural and Historical Narratology« (2000) sowie Monika Fluderniks Aufsatz »The Diachronization of Narrative« (2003). Anstoß dazu bot vor allem die Untersuchung von Narrativen außerhalb der Literatur. Erklärtes Ziel ist bis heute, den synchronen Blick strukturalistischer Erzähltheorien zu einer diachronen Betrachtungsweise hin auszuweiten. 162 Auch innerhalb der Philologien der Vormoderne existieren Untersuchungen, die den Grundstein für eine historisch arbeitende Narratologie legten: Stellvertretend für eine Reihe von Arbeiten, die sich dezidiert mit narratologischen Problemstellungen auseinandersetzen, sei hier Gert Hübners Habilitationsschrift »Erzählform im höfischen Roman: Studien zur Fokalisierung im › Eneas ‹ , im › Iwein ‹ und im › Tristan ‹ « (2004) genannt, in der er das Genettesche Modell der Fokalisierung auf die mittelalterliche Literatur anzuwenden suchte. Auch die Altphilologin Irene de Jong, die Grundbegriffe der Narratologie wie Erzähler oder Fokalisator auf alteritäre Texte, nämlich auf die homerischen Epen anwendet, gehört zu den Pionieren eines solchen Unternehmens. 163 Obwohl eine Historisierung der Narratologie als Forschungsdesiderat fest etabliert ist, steht die Entwicklung einer universalen historischen Erzählgrammatik, sollte diese überhaupt möglich sein, noch aus. Was eine übergreifende historische Narratologie leisten müsste, erörtern sowohl Eva von Contzen in ihrem 2014 im DIEGESIS-Themenheft »Historische Narratologie« erschienen Aufsatz »Why We Need a Medieval Narratology« als auch Hartmut Bleumer (»Historische Narratologie« (2015)). 164 Für die Mediävistik existieren bereits zahlreiche Studien, die dem Drängen auf eine Historisierung der Narratologie nachgeben und sich Einzelphänomenen widmen. Dazu zählen die Aufsätze im 2010 von Harald Haferland und Matthias Meyer herausgegebenen Sammelband »Historische Narratologie, mediävistische Perspektiven« sowie diejenigen im Band »Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum«, der 2018 von Eva von Contzen und Florian Kragl herausgegeben wurde. Außerdem arbeiten mehrere Projekte und Netzwerke wie das von Alexander Bareis geleitete Projekt »Historische Narratologie« (HU Berlin) und das von Eva von Contzen initiierte DFG- 161 Da im folgenden Unterkapitel die Methodologie der historisch arbeitenden Narratologie als Instrumentarium der Studie vorgestellt wird, möge hier ein kurzer Forschungsabriss genügen. 162 Vgl. Fludernik: The Diachronization of Narrative (2003), S. 331 f. 163 Jong: Narrators and Focalizers (2004), A Narratological Commentary on the Odyssey (2001), Narrator, Narratees and Narratives in Ancient Greek Literatur (2004). Irene de Jong ist außerdem Autorin des Eintrags »Diachronic Narration« im »living handbook of narratology« (2014). 164 Armin Schulz ’ Arbeitsbuch »Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive« (2012) lässt sich jedoch, wie Christine Putzo rezensiert, »nicht oder höchstens streckenweise [als] [eine veritable mediävistische Erzähltheorie]« bezeichnen. Stattdessen stelle sie vielmehr den Versuch einer »mediävistischen Perspektivierung der Erzähltheorie« dar, Putzo: Alteritäre Narratologie (2014), S. 114. 54 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="55"?> Netzwerk »Medieval Narratology« im interdisziplinären Verbund an der Historisierung narratologischer Modelle. Zu nennen ist außerdem das von Eva von Contzen und Stefan Tilg initiierte »Handbuch Historische Narratologie« (2019). Als Beispiel für eine neuere Studie, die traditionelle narratologische Begriffe historisiert, sei hier zudem Harald Haferlands Untersuchung »Erzähler, Fiktion, Fokalisierung« (2019) angeführt. 1.4 Methodologische Vorüberlegungen Wie der Forschungsabriss gezeigt hat, verfolgt die Studie das Ziel, zum einen den noch längst nicht erschlossenen Bereich der mittelalterlichen religiösen Literatur weiter aufzuarbeiten, zum anderen das Projekt einer historisch arbeitenden Narratologie voranzutreiben. Das erklärte Ziel, die historischen Ausprägungen der Du-Erzählform zu beschreiben, ihren spezifischen Charakter herauszuarbeiten und somit das Konzept dieses Erzählverfahrens zu historisieren, macht eine Auseinandersetzung mit den Grundüberlegungen und Ansätzen einer historischen Narratologie erforderlich. Der Blick auf historische Vertreter eines bestimmten Erzählverfahrens und der narratologische Umgang damit bringt bestimmte Probleme mit sich, allen voran die Grundfrage, inwieweit sich narratologische Modelle zur Rückübertragung auf alteritäre Literaturen eignen. Die Lösungsvorschläge und Ansätze einer historisch arbeitenden Narratologie sind daher Gegenstand des folgenden Kapitels. Da sich die Studie jedoch auch für die Funktionen interessiert, die die narrativ gebrauchte Du-Anrede im größeren Kontext der spätmittelalterlichen religiösen Literatur übernimmt, ist es unerlässlich, sich mit den Besonderheiten religiöser Rede auseinanderzusetzen: Die Methodologie einer soziologisch-theologisch arbeitenden Sprachphilosophie bietet ein vielversprechendes Instrumentarium, das es ermöglicht, sich der zirkulären Struktur der religiösen »Sondersprache« 165 anzunähern. 1.4.1 Prinzipien und Arbeitsweisen einer historisch arbeitenden Narratologie Über die Grenzen der Einzelphilologien hinaus gilt es in der Erzählforschung als ausgemacht, dass Erzählen ein ubiquitäres Phänomen und der Mensch ein homo narrans ist. 166 Uneinig sind sich Narratologen jedoch darüber, wie ähnlich sich Erzählen in verschiedenen Epochen und Kulturen gestaltet: Wie historisch variabel sind Erzähltechniken und inwieweit können scheinbar universale narratologische Kategorien und Konzepte auf ältere Texte und Literaturen angewandt werden? Während insgesamt anerkannt ist, dass Erzählpraktiken historisch variabel sind, wirft die zweite Frage ungleich mehr Probleme auf: Schwierigkeiten bereitet schon die Bezeichnung, die sich die »Wissenschaft von Geschichte, Erzählung und Erzählen« 167 165 Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 12. 166 Monika Fludernik, Nicole Falkenhayner und Julia Steiner sprechen in ihrer Einleitung zum Sammelband »Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven« von der »Ubiquität des Erzählens als menschliche Verhaltensweise«, Fludernik/ Falkenhayner/ Steiner: Einleitung (2015), S. 7 bzw. Haferland/ Meyer: Einleitung (2010), S. 3. 167 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 213. Der Begriff geht, wie David Herman erläutert, auf Tzvetan Todorov zurück, der damit eine »science of narrative« meinte, Herman: Histories of Narrative Theory (I) (2005), S. 19. 1.4 Methodologische Vorüberlegungen 55 <?page no="56"?> mit dem Begriff › Narratologie ‹ selbst gibt. Diese Selbstbezeichnung wurzelt im Strukturalismus und unterstreicht den Anspruch auf theoretische Geschlossenheit und universale Anwendbarkeit sowie ihr Selbstverständnis als empirische Wissenschaft. 168 Grundlage für eine solche Art der Erzähltheorie ist die auf Ferdinand de Saussure zurückgehende Strukturierung von Sprache in langue (als Sprache als System) und parole (als individuelle Äußerung, die innerhalb dieses Systems geäußert und interpretiert wird). 169 Diese Binarität schlägt sich auch in den Theoriemodellen der klassisch-strukturalistischen Narratologie nieder, in denen die binäre Opposition zum bestimmenden Prinzip erhoben ist. 170 Problematisch ist auch das Verhältnis von Theorie und Praxis: Einerseits möchte die Narratologie ein Instrumentarium für die Analyse von Texten verschiedenster Art bereitstellen, ist damit also eine angewandte Wissenschaft; andererseits aber legt die strukturalistische Narratologie ihr Augenmerk stark auf Semiotik und Erzählgrammatik und versteht sich insofern als Theoriekonzept. 171 Der »grundlegende[ … ] Systemanspruch« 172 wird durch die Ausweitung der Narratologie im Zuge des › narrative turn ‹ auf ein breiteres Spektrum von nicht-literarischen Disziplinen und Textsorten noch zusätzlich unterminiert. Bei der Anwendung von narratologischen Paradigmen auf Diskurse des Rechts, der Medizin oder der Wirtschaft besteht die Gefahr, dass narratologische Begriffe aufgeweicht werden und ihre Trennschärfe verlieren. 173 Doch auch die Konzentration auf literarische Untersuchungsobjekte vormoderner Epochen stellt die Narratologie vor Probleme: Denn die Modelle Genettescher und Stanzelscher Prägung wurden anhand › moderner ‹ Texte entwickelt, an der Epik des 18. und 19. Jahrhunderts, 174 Gérard Genette etwa erarbeitete seine Theorie an den Romanen Marcel Prousts. Ungeachtet dessen, ob am »Axiom einer radikalen Alterität von Literatur, kultureller Praxis und Denkformen im Mittelalter« 175 festgehalten wird oder nicht, liegen den mittelalterlichen 168 Vgl. Herman: Histories of Narrative Theory (I) (2005), S. 19 bzw. Fludernik: Histories of Narrative Theory (II) (2005), S. 38. 169 Herman: Histories of Narrative Theory (I) (2005), S. 19. 170 Seymour Chatman etwa unterscheidet grundlegend zwischen dem, wovon ein Narrativ handelt, der »story«, und dem Text selbst, dem »discourse«, Chatman: Story and Discourse (1978) bzw. Fludernik: Histories of Narrative Theory (II), S. 42. Bei Gérard Genette werden Texte entweder als homo- oder als heterodiegetisch klassifiziert, ihre Erzählperspektive als extern oder intern fokalisiert beschrieben, Genette: Narrative Discourse (1980) bzw. Fludernik: Histories of Narrative Theory (II) (2005), S. 39 f. Auch in Franz Stanzels »Theorie des Erzählens« (1979) dominiert das Modell der Opposition: Auf seinem Typenkreis des Erzählens ordnet er auf drei Achsen mit binären Oppositionen die Prototypen narrativer Situationen an, vgl. ebd., S. 40 f. 171 Vgl. Fludernik: Histories of Narrative Theory (II) (2005), S. 38. 172 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 214. 173 Fludernik: Histories of Narrative Theory (II) (2005), S. 46 f. 174 Hartmut Bleumer konkretisiert diese Beobachtung sogar noch weiter, indem er »moderne[ … ] › realistische[ … ] ‹ literarische Erzählungen vorzugsweise aus Europa und Nordamerika« als die Folie benennt, auf der die Narratologie ursprünglich agierte, vgl. Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 12. 175 Reuvekamp-Felber: Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung (2013), S. 419. Reuvekamp-Felber, der sich selbst gegen ein solches › Axiom ‹ ausspricht, betont, dass der Bruch zwischen Vormoderne und Moderne traditionellerweise ideengeschichtlich begründet wird: Forscher, die diesen Standpunkt vertreten, hielten demnach die jeweiligen literarischen Systeme aufgrund ihrer jeweiligen kulturellen, anthropologischen und epistemologischen Voraussetzungen für nicht vergleichbar, vgl. ebd., S. 419. Besonders plastisch wird die Debatte im »Streitgespräch«, mit dem Harald Haferland und Matthias Meyer ihren Sammelband »Historische Narratologie, mediävistische 56 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="57"?> Texten aufgrund der zeitlichen und kulturellen Differenz andere Annahmen über Literatur und Autorschaft zugrunde. 176 Werden nun aber narratologische Kategorien auf vormoderne Texte angewandt, werden nicht selten auch implizit moderne Konzepte auf die Vertreter einer Kultur übertragen, in der ebendiese Konzepte möglicherweise noch gar nicht existierten. 177 Während beispielsweise in der Moderne streng zwischen Erzähler und Autor geschieden wird, gilt das für die mittelalterliche Literatur nicht in gleichem Maße: Wenn hier eine Erzählinstanz namens Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach auftritt, ist dieses textuelle alter ego zwar keineswegs identisch mit der realen Autorpersönlichkeit; sie als rein textinterne Größe zu betrachten, wäre jedoch eine anachronistische Lesart. 178 Auch andere in der Literatur des Mittelalters gängige Phänomene wie das Auftreten flacher Charaktere oder von scheinbaren Logikbrüchen als Strukturelement sowie die Sinn- und Bedeutungskonstitution über die Praxis des Wiedererzählens bleiben in der klassischen Narratologie unberücksichtigt. Erzählen, so scheint es, ist zwar eine »anthropologische Konstante«, 179 seine Ausgestaltung ist jedoch veränderlich: Zwar teilen Erzählungen elementare Grundeigenschaften; zusammen mit der Gesellschaft, innerhalb derer sie produziert werden, durchlaufen sie tiefgreifende Veränderungen, die die Entwicklung der Erzählpraktiken ebenso wie den literarischen Geschmack beeinflussen. 180 Vormodernes Erzählen ist in einen Rahmen eingebunden, der anderen Gesetzmäßigkeiten folgt: Begriffe und kulturelle Techniken sind »Bestandteile historischer Wissensordnungen«, Literatur ist daher eingeschrieben in den »Rahmen einer anderen Episteme mit anderen Modellen der Relation zwischen Wirklichkeit und mentalen Prozessen«. 181 Um dem eigenen Universalitätsanspruch gerecht zu werden, blendet die strukturalistische Narratologie mit ihrer textimmanenten Arbeitsweise die historischen und kulturellen Umstände aber weitgehend aus. Perspektiven« (2010) beschließen: Haferland beispielsweise plädiert für die Alterität des Mittelalters und seiner Kultur und spricht sich für die differenzierte Betrachtung von Erzählphänomenen aus; Meyer hingegen betont die Kontinuitäten und Konvergenzen und geht davon aus, dass es keine distinkte Opposition zwischen Mittelalter und Moderne gebe. Stattdessen spricht er von einer »Pluralität der Modernitätsschwellen«, bei denen die verschiedensten »Formen und Sagenweisen« prinzipiell gleichzeitig und parallel nebeneinander bestehen, vgl. Haferland/ Meyer: Streitgespräch (2010), bes. S. 432 - 434. 176 Vgl. Contzen: Saints ’ Lives as Narrative Art? (2014), S. 172. 177 Hartmut Bleumer bringt die Gefahr eines Zirkelschlusses folgendermaßen auf den Punkt: »Die Applikation moderner Begriffe [trägt] nicht nur strukturalistische Implikationen, sondern auch moderne Imaginationskonzepte in die älteren historischen Gegenstände hinein«, Bleumer: › Historische Narratologie ‹ ? (2010), S. 235. Auch Eva von Contzen kommt zu diesem Schluss, wenn sie sich Ursula Kochers Urteil anschließt, dass eine solche Lektüre Ergebnisse hervorbringt »that are already inscribed in its theoretical framework«, Contzen: Saints ’ Lives as Narrative Art? (2014), S. 172 bzw. vgl. Kocher: Möglichkeiten und Grenzen einer historischen Narratologie (2010), S. 417. Contzen: Saints ’ Lives as Narrative Art? (2014), S. 172. 178 Vgl. Unzeitig: Autorname und Autorschaft (2010), S. 60 f. Siehe zum Autorbegriff auch Bleumer: Autor und Metapher (2015). 179 Haferland/ Meyer: Einleitung (2010), S. 3. 180 Vgl. Haferland/ Meyer: Einleitung (2010), S. 4 bzw. Contzen: Why We Need a Medieval Narratology (2014), S. 16. 181 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (2015), S. 14. 1.4 Methodologische Vorüberlegungen 57 <?page no="58"?> In der Folge wählt sie einen synchronen Zugriff, ihre Beschreibungskategorien sind kaum historisiert. 182 Die Forderung nach einer Historisierung der Erzähltheorie macht den inneren Widerspruch deutlich, dem das Projekt einer historischen Narratologie zwangsläufig begegnen muss: In einer Erzähltheorie, die sich als »universale[ … ] › Grammatik ‹ der Erzählung« 183 versteht, unterminiert die eingeforderte Diachronisierung diesen Selbstanspruch. Um sich den Texten des Mittelalters anzunähern, muss der Kontext mitberücksichtigt werden. Hier kann eine narratologische Analyse nur dann angemessene Lesarten hervorbringen, wenn die spezifischen Denkmuster miteinbezogen werden, die der mittelalterlichen Literaturpraxis zugrunde liegen. Eine solche Vorgehensweise würde nicht nur die Konzentration auf den Text, sondern auch den Anspruch der Narratologie, eine universale Theorie zu sein, erheblich beeinträchtigen. Eine historisch arbeitende Narratologie steht also von vorneherein vor einem Dilemma. Bei einer an den Begriffen der strukturalistischen Narratologie festhaltenden Beschäftigung mit den Texten würde man der Spezifizität mittelalterlichen Erzählens nicht gerecht, Gemeinsamkeiten würden überbetont, Unterschiede marginalisiert. Die Modifikation narratologischer Begriffe anhand der mittelalterlichen Texte hingegen birgt die Gefahr der Aufweichung: »Wenn sie [= die historische Narratologie] historisch-induktiv vorgeht, ist sie im klassischen Sinne keine Narratologie, wenn sie dagegen auf ihrem theoretischen System- und Universalitätsanspruch beharrt, ist sie nicht historisch«. 184 Eine solche historisch-induktiv verfahrende Narratologie würde lediglich verschiedene Erzähltheorien hervorbringen, »die niemals den Geschlossenheitsanspruch der klassischen Narratologie erreichen«. 185 Wie aber gehen historisch arbeitende Narratologen mit dieser »Spannung zwischen der historischen Dynamik des Erzählens und dem Bedürfnis ihrer wissenschaftlich-systematischen Fixierung« 186 um? Austariert werden muss, wie weit sich die Narratologie von ihren ursprünglichen Beschreibungskategorien entfernen kann bzw. in welchem Maße diese adaptiert werden können. 187 In seinem Aufsatz »Towards a Cultural and Historical Narratology« (2000) entwirft Ansgar Nünning seine Vorstellung einer kulturwissenschaftlich und historisch arbeitenden Narratologie: Sie müsste die Literatur kontextualisieren und innerhalb der Diskurse, aus denen die jeweilige Rahmenkultur besteht, verorten. 188 Sie wäre nach Nünning also Kontext-orientiert, anwendungsbezogen, inter- 182 Vgl. Haferland/ Meyer: Einleitung (2010), S. 8. 183 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (201), S. 15. 184 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 214. Bleumer entlarvt die Versuche der Forschung, dieses Dilemma aufzulösen, indem die Universalität der Narratologie von der Universalität des Erzählens abgeleitet wird, als eine reine Problemverlagerung. 185 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 214. 186 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 215. 187 Dazu auch Monika Fludernik, die die widerstreitenden Positionen treffend charakterisiert: »This move [ … ] can be seen in analogy with the debate between, on the one hand, structuralist narratology, which assumes the existence of a finite list of categories that can be applied to any narrative in any historical period or medium; and a historicized narratology that has yielded the subdisciplines of classical, medieval, early modern, modern, postmodern, even postcolonial narratologies«, Fludernik: Medieval Fictionality from a Narratological Perspective (2020), S. 259 f. 188 Für Harald Haferland ist Literaturwissenschaft eine »Erfahrungswissenschaft, die das beschreibt, was sie vorfindet [ … ]. Dazu kann sie ihre Begriffe definitorisch schärfen, aber nicht über Definitonen Größen erst erzeugen«, Haferland: Erzähler, Fiktion, Fokalisierung (2019), S. 36. 58 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="59"?> disziplinär und dynamisch, verstünde sich also mehr als eine »analytic toolbox« 189 denn als allgemeine Literaturtheorie. Narratologische Kategorien, darüber besteht Konsens, sind Bestandteil einer bestimmten Wissensordnung, 190 ihre Anwendung »[konstituiert] Phänomene in der Weise derjenigen Wissensordnung [ … ], der sie entstammen«. 191 Daher kann der in der strukturalistischen Narratologie geäußerte Anspruch auf eine epochen- und kulturübergreifende Universalität nicht uneingeschränkt aufrechterhalten werden: Um einen solchen Geltungsanspruch einzulösen, müsste sich die Narratologie in ihren Modellen auf die kognitiven Kompetenzen des Erzählens und Verstehens von Erzählungen verlagern - ein Ansatz, der mit dem › cognitivist turn ‹ der Narratologie zwar durchaus verfolgt wird, für vergangene Epochen jedoch nicht praktikabel ist. 192 Der pragmatische Kompromiss, der zwischen dem Anspruch der Narratologie auf eine vergleichsweise abstrakte und allgemeingültige Anwendbarkeit und einer adäquaten Annäherung an vormoderne Texte gefunden werden kann, besteht also darin, einen kontingenten Ausgangspunkt für die Analyse zu wählen und die daran entwickelten Begrifflichkeiten in der Anwendung auf Texte früherer Epochen dann entsprechend zu modifizieren. 193 Obwohl sich eine solche Narratalogie als »poststrukturalistisches Projekt« 194 verstanden wissen will, könnten die etablierten narratologischen Beschreibungskategorien anfänglich herangezogen werden. Insbesondere diejenigen Begrifflichkeiten, die allgemeine Phänomen des Narrativen beschreiben, taugen auch in Bezug auf die mittelalterlichen Literaturen. So schlägt Eva von Contzen einen Minimalkatalog vor, der neben den Kategorien Autor/ Erzähler, Handlungsstruktur und Charaktere die Motivation, Perspektive und raumzeitliche Ausgestaltung beinhaltet. Prämisse ist die Annahme einer mittelalterlichen Alterität, die weniger die großen Strukturen als vielmehr einzelne Parameter betrifft: Auch in mittelalterlichen Texten treten beispielsweise Erzählerfiguren auf, wird perspektivisch erzählt, 189 Vgl. Nünning: Towards a Cultural and Historical Narratology (2000), S. 357 - 359, insbesondere die Tabelle auf S. 359. 190 Gert Hübner betrachtet die discours-Narratologie als historische Wissensordnung, die auf ein sich im 18. Jahrhundert herausbildendes subjektphilosophisches Wirklichkeitsverständnis zurückgeht: »Alle durch Erzählinstanz, Perspektive und Zeitrepräsentation begrifflich konstituierten Phänomene zielen auf eine Analyse von Erzählungen als subjektiver Weltdarstellung.« Dieser »Repräsentation von subjektivem Erleben« trägt, wie Hübner bemerkt, Monika Fluderniks Kategorie der »Experientialität« Rechnung, die ein sequenzialistisches Narrativitätsverständnis ablöst, vgl. Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (2015), S. 13. 191 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (2015), S. 11. 192 Vgl. Fludernik: Histories of Narrative Theory (II) (2005), S. 49. Im Zuge des › cognitive turn ‹ berücksichtigt die Forschung verstärkt auch menschliche Verstehensprozesse und konnte herausarbeiten, dass jeder Leser mit einem gewissen Vorwissen und kognitiven Verstehensschemata den Verständnisprozess antritt. Dabei bezeichnet man das »inhaltliche, semantische Vorwissen« als › frames ‹ ; das »prozedurale Vorwissen, zum Beispiel welche Ereignisse wohl in einer konkreten Situation nacheinander auftreten« wird als › script ‹ begriffen. Diese › frames ‹ und › scripts ‹ sind historisch, kulturell und sprachlich variabel. Was den intendierten Adressaten des Autors noch bekannt gewesen sein dürfte, muss, wie Sönke Finnern darlegt, aus heutiger Perspektive erst rekonstruiert werden, vgl. Finnern: Kognitive Erzählforschung und religiöse Texte (2012), S. 23. 193 Gert Hübner formuliert die folgende Maxime: Die Begriffe sollten so verändert werden, »wie es für die Ziele der Operation taugt, aber die Begriffsveränderungen [sollten] dabei möglichst unter Kontrolle [gehalten werden]«, Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (2015), S. 12. 194 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 215. 1.4 Methodologische Vorüberlegungen 59 <?page no="60"?> finden sich eingelegte Erzählungen. Wie diese Oberstrukturen in der Vormoderne ausgestaltet werden, kann jedoch stark von der modernen › Norm ‹ abweichen. Ausgangspunkt für die Untersuchung, so von Contzen, kann deshalb nur der Text selbst sein: Narratologische Beschreibungskategorien dürfen daher nicht unhinterfragt dem vormodernen Text aufoktroyiert werden, sondern müssen in Zweck und Funktion dem veränderten mittelalterlichen Kontext angeglichen werden. 195 In eine ähnliche Richtung geht auch Hartmut Bleumer, der nach einer »entsprechend spezifizierte[n] terminologische[n] Minimalausstattung [ … ]« 196 fragt. Bemüht man sich außerdem darum, »historisch spezifische Konstellationen jeweils als komplexe Kombinationen elementarer Strukturmuster« zu beschreiben, so wäre die »Kontinuität der narratologischen Beschreibungssprache zu retten, ohne daß automatisch moderne Verhältnisse zurückprojiziert würden.« 197 Eine solche Verfahrensweise wäre allerdings eher eine »narratologische Phänomenologie«, die, sofern sie »mit ihren Gegenständen [ … ] adäquaten Kategorien« 198 operiert, auch historisch ist. Als Beispiel dafür, wie im Rahmen einer solchen »historischen Narrativistik« 199 angemessen mit narratologischen Großstrukturen umgegangen werden kann, die je nach Kontext unterschiedliche Ausgestaltung erfahren, führt Hartmut Bleumer die Studie von Fotis Jannidis zur Figurenkonzeption an: Dessen pragmatisches Modell ist insofern epochenübergreifend einsetzbar, als es eine »Leerstelle für historisch variantes Weltwissen vorsieht« 200 und so Wissensordnungen Rechnung trägt, die von modernen Romanen abweichen. In den Diskurs einer solchen Historisierung der Narratologie schreibt sich auch diese Studie ein. Sie versteht sich als Versuch, adäquate Beschreibungsmuster für eine komplexe Erzählform zu entwickeln, und so die Modellbildung einer historisch arbeitenden Narratologie, oder besser: einer › historischen Narrativistik ‹ , zu bereichern. 1.4.2 Religiöses Sprechen in soziologischer und sprachphilosophischer Perspektive Dass Gesellschaften einen eigenen »kommunikativen Haushalt« besitzen, ein »strukturierte[s] Gesamt all jener kommunikativen Vorgänge, die einen Einfluß auf Bestand und Wandel einer Gesellschaft ausüben«, 201 hat Ende der 1980er Jahre der Soziologe Thomas Luckmann herausgearbeitet. Dieser Haushalt besteht aus spontanen kommunikativen Sprachhandlungen sowie aus kommunikativen Gattungen, die als »historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte Lösungsmuster für kommunikative Probleme« 202 195 Vgl. Contzen: Saints ’ Lives as Narrative Art? (2014), S. 173 bzw. Contzen: Why We Need a Medieval Narratology (2014), S. 16. 196 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 215. 197 Hübner: Fokalisierung im höfischen Roman (2004), S. 134. 198 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (2015), S. 16. 199 Diesen alternativen Terminus wählt Hartmut Bleumer, dessen Konzeption derjenigen Hübners ansonsten sehr ähnlich ist, Bleumer: › Historische Narratologie ‹ ? (2010), S. 236. 200 Vgl. Bleumer: › Historische Narratologie ‹ ? (2010), S. 235 bzw. Jannidis: Figur und Person (2004). Auch derAufsatz von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und Simone Winko: Radikal historisiert (2009) illustriert, wie ein moderner erzähltheoretischer Begriff für andere Epochen fruchtbar gemacht werden kann. 201 Luckmann: Kultur und Kommunikation (1989), S. 43. 202 Luckmann: Kultur und Kommunikation (1989), S. 40. Diese sprachlichen Verhaltensmuster bestehen aus verschiedenen Elementen, die abgerufen oder an die aktuelle Situation angepasst, variiert und neukombiniert werden können. Solche Elemente sind nicht nur bestimmte (außer-)sprachliche 60 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="61"?> einerseits normierend und restringierend, andererseits auch entlastend für das kommunikative Handeln einer Gesellschaft wirken. Kommunikative Gattungen sind das Resultat einer Ausbildung von Formen und Mustern, die auf den gemeinsamen Wissensvorrat einer Gesellschaft zurückgehen und die »Bewältigung, Vermittlung und Tradieren intersubjektiver Erfahrungen der Lebenswelt« 203 vorprägen. Indem sie in die Strukturen einer Gesellschaft oder eines Teilbereichs eingebunden sind, tragen sie zur gesellschaftlichen Konstitution von Wirklichkeit und Identität bei. 204 Religion stellt einen solchen Teilbereich, ein Bourdieu ’ sches › Feld ‹ dar, das »als relativ eigenständige[r] und nach je eigenen Gesetzmäßigkeiten strukturierte[r] Bereich[ … ]« betrachtet werden kann. 205 Auch Niklas Luhmanns systemtheoretischer Ansatz zur funktionalen Differenzierung hilft, das › Feld ‹ Religion zu erschließen. Während gesellschaftliche Differenzierungsprozesse zunächst durch Ausbildung zahlreicher gleicher Einheiten ablaufen (»segmentäre Differenzierung«), bald aber durch »stratifikatorische Differenzierung«, durch die hierarchisch organisierte Herausbildung von Schichten, abgelöst werden, ist nach Luhmann spätestens mit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der »funktionalen Differenzierung« angebrochen, in dem sich Teilsysteme entsprechend ihren gesellschaftlichen Funktionen herausbildeten. Jedes Feld entwickelt aufgrund dieser dominierenden gesellschaftlichen Funktionen eine »Leitdifferenz«, 206 die die soziale Kommunikation bestimmt. Auch wenn die von Luhmann beschriebenen sozialen Prozesse im Mittelalter noch in vollem Gange sind, treffen seine Erkenntnisse bezüglich des Feldes der Religion auch auf diese Epoche zu. Die Feststellung, dass Religion ein eigenes soziales Feld mit eigenen Diskursen und Kommunikationsweisen ist, 207 erleichtert es, sich dem schwer greifbaren Charakter des religiösen Sprechens anzunähern. Was einen religiösen Text oder religiöse Literatur im Allgemeinen ausmacht, kann auf mehreren Ebenen, allerdings mit unterschiedlichem Aussagewert, bestimmt werden. 208 Auf ontologisch-semantischer Ebene könnte ein Diskurs dann als religiös bezeichnet werden, wenn sein Inhalt religiös ist. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Charakter auftritt, der als religiös präsentiert wird, das Übernatürlich- Ausdrucksmittel, sondern umfassen auch die korrespondierende soziale Situation sowie den gesellschaftlichen Status aller an der Kommunikation Beteiligten, vgl. Klein/ Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (2009), S. 10. 203 Knoblauch/ Schnettler: Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung (2010), S. 292. 204 Vgl. Johannsen: Einleitung »Konstruktionsgeschichten« (2013), S. 9. 205 Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (1999), S. 253. Wie Christian Klein und Matías Martínez erläutern, ist das Feld Produkt einer »Etablierung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien«, das je nach Autonomisierungsgrad von den Bewertungskategorien anderer Felder abhängt oder nicht, vgl. Klein/ Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (2009), S. 11. 206 Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition (1980) bzw. Klein/ Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (2009), S. 13. Die Leitdifferenz für das Feld Religion wäre nach Klein und Martínez die binäre Opposition »dem Heil förderlich/ dem Heil nicht förderlich«, vgl. ebd., S. 14. 207 Richard Schaeffler charakterisiert beispielsweise die Sprache der Religion als Sondersprache, die nur bei »Sonder-Gelegenheiten« Anwendung findet, Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 12. 208 Auf diese Schwierigkeit verweist Thomas Hanna, wenn er verschiedene Verwendungsweisen des Attributs › religiös ‹ diskutiert und auch auf Kontexte Bezug nimmt, in denen es als Werturteil, als »upper graduation of value«, fungiert, Hanna: What Does One Mean by › Religious Literature ‹ ? (1965), S. 376. 1.4 Methodologische Vorüberlegungen 61 <?page no="62"?> Transzendente als Teil der erzählten Welt beschrieben wird oder auf religiöse Texte, Glaubensvorstellungen, Rituale oder Plätze Bezug genommen wird. 209 Eine solche Bestimmung bleibt jedoch vage. Auch der Versuch einer syntaktischen Annäherung ist wenig zielführend, lassen sich doch keine stilistisch-sprachlichen Merkmale ausmachen, die allein einem religiösen Sprechen vorbehalten wären. Am ergiebigsten ist es das › Religiöse ‹ der religiösen Literatur als textpragmatische Kategorie zu betrachten, wie es Peter Hartmann vorschlägt, und so auch dem Luckmann ’ schen Konzept der Kommunikationshandlungen Rechnung zu tragen. Demnach wäre die »religiöse Valenz« eines Textes auf Ebene seiner Funktionen zu bestimmen und keine »Qualität der Texte qua textuell geformter Sprach [verwendung]«: 210 Was generell gilt, nämlich dass sich Kommunikation in Form von Text - und zwar nicht nur Schrifttext, sondern jede Art von Kommunikation - vollzieht, 211 gilt ganz besonders für das Feld der Religion, die sich als »spezifische Erzählkultur[ … ]« 212 fassen lässt. Die Verbindung von Sprechen und Handeln interessiert auch eine pragmatisch orientierte Sprachphilosophie, die einer sprachphilosophisch arbeitenden Religionswissenschaft beim Versuch, den Charakter des religiösen Sprechens zu erfassen, Vorschub leistet. Der von Ludwig Wittgenstein angestoßene › linguistic turn ‹ in der Philosophie führte dazu, dass sich der Fokus von Sachzu Sprachproblemen verschob. Das Erkenntnisinteresse richtete sich fortan nicht mehr auf die › Dinge an sich ‹ , sondern auf die Art und Weise, wie von Dingen gesprochen wird. Die Vorstellung, Sprache sei ein transparentes Mittel, um die Wirklichkeit zu erfassen und zu vermitteln, wich der »Auffassung von Sprache als unhintergehbare Bedingung des Denkens«: Jede Art von Erkenntnis sei demnach sprachlich strukturiert, die Wirklichkeit von Sprache bestimmt und jenseits der Sprache »nicht existent oder zumindest unerreichbar«. 213 Zunächst vertrat Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus (1919) noch eine Abbildtheorie der Sprache, die an der 209 Vgl. Finnern: Narration in Religious Discourse (2014). 210 Hartmann: Religiöse Texte als linguistisches Objekt (1973), S. 116. 211 Vgl. Arens: Religiöse Sprache und Rede von Gott (2009), S. 44. Eine solche funktionale Bestimmung liegt auch Falk Wagners tautologisch anmutender Definition der religiösen Sprache als einer »religiös oder in der Religion verwendeten Sprache« zugrunde, Wagner: Was ist Religion? (1986), S. 398. Ebenso Romano Guardini, für den eine religiöse Aussage immer die religiöse Erfahrung zum Ausdruck bringt, vgl. Guardini: Die religiöse Sprache (1983), S. 55, oder Paul Tillich, der die religiöse Sprache als den Versuch betrachtet, »sich qualitativ anderen Wirklichkeitsschichten anzunähern«, Tillich: Das Wesen der religiösen Sprache (1983), S. 82 f. Auch Sönke Finnern berücksichtigt die pragmatische Dimension religiösen Sprechens, wenn er bei seiner Definition dem religiösen Inhalt auch einen religiösen Kommunikationskontext zur Seite stellt, vgl. Finnern: Narration in Religious Discourse (2014). Besonders treffend ist die an Hans Grass anschließende Beobachtung Andrea Schultes, dass sich religiöse Rede in vier Relationen vollziehe: »als Geschehen vom Menschen zu Gott, von Gott zum Menschen, von Mensch zu Mensch und vom Menschen zu sich selbst«, Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 61 bzw. Grass: Erwägungen über den religiösen Satz (1967), S. 131. 212 Johannsen: Einleitung »Konstruktionsgeschichten« (2013), S. 9. Insbesondere das Christentum erweist sich als »Erzählgemeinschaft« mit einer »narrativen Tiefenstruktur«, daneben existieren jedoch noch weitere Modi des religiösen, theologischen bzw. theologierelevanten Sprechens, vgl. Mauz: Theologie und Narration (2012), S. 42 bzw. Arens: Die Erzählstruktur christlichen Glaubens in systematischer Perspektive (1988), S. 48 - 51. 213 Stierstorfer: linguistic turn (2008), S. 447. Für eine zentrale Folge dieser Fokusverschiebung hält Karl- Heinz Stierstorfer, »dass [die] Reflexion des Denkens, bes[onders] die Philosophie, damit zur Sprachkritik wird und dass Reflexion sprachlicher Formen, auch der Lit[eratur], nur unter den Bedingungen des reflektierten Gegenstandes, eben der Sprache geschehen kann«, ebd. 62 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="63"?> Existenz einer Wirklichkeit festhielt, die insbesondere von der (Wissenschafts-)Sprache funktional abgebildet werden könne. Entsprechend eines positivistischen Verständnisses habe Sprache immer dann Gegenwartsbezug und Bedeutungsgehalt, wenn sie sich auf eindeutig identifizierbare Personen oder Sachverhalte in eindeutig identifizierbaren Situationen beziehe und die Eindeutigkeit der verwendeten Begriffe gegeben sei. 214 Sinnvoll sind Sätze nach dieser Auffassung nur dann, wenn in ihnen die eigenen Wahrheitsbedingungen eingeschrieben sind; Aussagen, die sich also nicht auf eine Wirklichkeit beziehen, wären demnach unüberprüfbar und ohne Sinn. Damit verwoben ist die Zielvorstellung einer › normativen Sprache ‹ oder › einer Idealsprache ‹ , die die wissenschaftliche Beschreibung der Welt ermöglicht. Für die Betrachtung religiöser Sprache ist dieses Urteil jedoch problematisch, da sie - gemessen an den für andere Aussagesätzen gültigen Wahrheits- und Sinnbedingungen - als › sinnlos ‹ erachtet würde. Insbesondere John L. Austin, der den außerwissenschaftlichen Sprachgebrauch stärker berücksichtigte, kritisierte diesen normativen Maßstab, da nach ihm sehr viele alle Arten des Sprechens als sinnlos gelten müssten. Er ging stattdessen davon aus, dass es nicht nur Aussagen gebe, die Sachverhalte beschreiben oder verifizieren: Dem Typus der Aussage stellte er die Sprachhandlung gegenüber. 215 Einen solchen Sprechakt definiert beispielsweise Hermann Schrödter als diejenige »Handlung, die ein Mensch mit einer bestimmten, einzelnen Sprechäußerung vollbringt«. 216 Anders als Aussagesätze, die beanspruchen, eine bereits existierende Wirklichkeit zu beschreiben, stellen Sprachhandlungen diese erst her. 217 Die Beurteilung einer Sprechhandlung nach ihrem Wahrheitsgehalt gehe demnach nach Austin fehl, Performative unterlägen somit eben nicht der Verifizierbarkeit. Die Frage müsste vielmehr lauten, ob sie wirksam oder unwirksam sind, das heißt glücken oder scheitern. Insofern überwinden performative Akte die »Differenz von Sprache und Wirklichkeit« 218 und schaffen im Vollzug des Sprechens eine neue Realität. Als paradigmatisch für eine Sprechhandlung erachtet Austin das »sakramentale Wort«. Dieses sei eine Äußerung, »die den durch sie bezeichneten Sachverhalt wirksam hervorbring[t]«. 219 Indem er die › Wahrheit ‹ einer Sprechhandlung von ihrer Wirksamkeit abhängig macht, legt Austin seiner Sprachtheorie ein anderes Wahrheitsverständnis zugrunde als noch Wittgenstein. 220 214 Vgl. Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 17 f. 215 Das ist Grundlage der Unterscheidung zwischen konstatierenden und performativen Aussagen. Nach Bayer bezieht sich eine konstatierende Äußerung auf »einen Sachverhalt, der sich schon konstituiert hat; ihre Handlung ist die - nun eben des Feststellens. Der konstatierende Satz läßt also in Erscheinung treten, was ist«, Bayer: Was ist das, Theologie? Eine Skizze (1973), S. 25 f. Eine performative Äußerung definiert Andrea Schulte hingegen als zum »Vollzug einer Handlung« dienlich: »[E]ine solche Äußerung tun, ist die Handlung vollziehen, eine Handlung, die man vielleicht kaum, zumindest nicht mit gleicher Präzision, auf andere Weise vollziehen könnte«, Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 28. 216 Schrödter: Analytische Religionsphilosophie (1979), S. 136. 217 Dass dennoch auch »darstellende[m] und feststellende[m] Sprechen« ein »intersubjektive[r] Handlungscharakter« innewohnt, betont Andrea Schulte, vgl. Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 26. 218 Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 34. Richard Schaeffler formuliert das griffig folgendermaßen: »Während Aussagesätze beschreiben, was ist, stellen Sprachhandlungen Verhältnisse her, ohne die sie nicht entstünden«, Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 19. 219 Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 18 f. 220 Vgl. Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 31 - 33. 1.4 Methodologische Vorüberlegungen 63 <?page no="64"?> Die Deutung religiöser Rede als Sätze, die zwar Aussagen tätigen, gleichzeitig aber Sprachhandlungen sind und bewirken, »was ohne sie nicht zustände käme«, 221 hilft zwar die Besonderheiten dieser Sondersprache zu erklären, löst jedoch nicht alle Probleme. Gerade das Wahrheitsproblem, das Austin für Sprechhandlungen als irrelevant erachtet hatte, wird hier durch die Hintertür doch wieder virulent: Sprecher eines religiösen Satzes, so Sprachphilosoph Richard Schaefflers, verstehen diese Sprache nicht nur als › wirksam ‹ , sondern halten auch an deren Wahrheit fest. Der Ansatz der jüngeren Sprachphilosophie, die religiöse Rede als »verkleidete Sprachhandlung[ … ]« 222 zu interpretieren, bietet daher aus theologischer Perspektive keine befriedigende Lösung - und wird auch dem Denkrahmen der spätmittelalterlichen religiösen Literatur nicht gerecht. Eine Lösung bietet hier Ludwig Wittgensteins Konzept der autonomen Sprachspiele, das der Eigengesetzlichkeit religiösen Sprechens Rechnung trägt. In seinen Philosophischen Untersuchungen revidierte er seine Abbildtheorie der Sprache, indem er von mehreren strukturverschiedenen, aber unabhängigen und gleichberechtigten, › autonomen ‹ Sprachsystemen ausging, deren Regeln nur gesellschaftlich vermittelt, nicht aber philosophisch-logisch erschlossen werden können. Des Weiteren ging Wittgenstein davon aus, dass eine kritische Bewertung eines Sprachspiels vom Standpunkt eines anderen Sprachspiels und mit dessen Mitteln nicht möglich sei. Statt einer logisch-normativen Sprache vertrat er nun die Auffassung von Sprache als »menschlicher Tätigkeit und gesellschaftlicher Praxis«, die an Austins »ordinary language philosophy« erinnert. 223 Die zirkuläre Struktur religiösen Sprechens erfordert außerdem einen Blick auf eine weitere Eigentümlichkeit dieses Sprachspiels, den »ich-beteiligenden Sprachgebrauch«: 224 Dieses »self-involvement« 225 zeigt sich im religiösen Kontext darin, dass die Aussagen eines Sprechers diesen stets mit einbinden. Ein Sprechen von Gott ist also immer auch eine Selbstaussage, die Glauben voraussetzt und zum Ausdruck bringt. 226 Der Kontext religiöser Rede ist ein spezifisch strukturierter Erfahrungshorizont, der den Eintritt in eine bestimmte Sprachgemeinschaft bedingt. Religionsphilosoph Hermann Cohen geht in Anlehnung an das kantianische Konzept der Objektkonstitution davon aus, dass auch das Subjekt nicht einfach vorausgesetzt werden könne, sondern als › Idee ‹ erst konstituiert werden müsse. Indem sie die Einheit des › Ich ‹ und die Ganzheit der Welt stiften, seien Sprachhandlungen transzendental wirksam. Der propositionale Gehalt solcher Sprachhandlungen bestehe also im Ermächtigungsgrund, den ein Subjekt in seiner Sprachhandlung benennt, um ebendiese Einheit zu stiften. 227 Religiöse Performative besitzen außerdem einen besonderen Referenzrahmen, ein eigenes »truth program« 228 mit ganz eigenen ontologischen Zusammenhängen. Verankert sind Sätze in einer Wirklichkeit, die der jeweilige Sprecher im Moment der Sprachäußerung 221 Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1992), S. 1. 222 Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1992), S. 56. 223 Vgl. Stierstorfer: linguistic turn (2008), S. 448. 224 Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 46. 225 Vgl. Evans: The Logic of Self-Involvement (1963). 226 Das bringt Andrea Schulte auf den Punkt: »Es ist ihm [= einem Sprecher im religiösen Kontext] nicht möglich, von Gott zu sprechen, ohne zugleich zu sagen, daß er selber sich zu Gott bekennt«, Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 92. 227 Vgl. Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 65 f. 228 Schaeffer: Fictional vs. Factual Narration (2013). 64 1 Einführung in die Thematik und Methodisches <?page no="65"?> als gegeben betrachtet. Im religiösen Kontext schließt das eine Wirklichkeit des › Göttlichen ‹ mit ein, die sich kategorial von der Wirklichkeit der Sinnenwelt unterscheidet. 229 Religiöse Sprache ist daher immer auch ein »Interaktionsritual« des Sprechenden, um sich dem Numinosen als dem »der eigenen Verfügung entzogenen göttlichen Gegenüber« 230 anzunähern. Als solches kreiert sie eine »neue geistliche Wirklichkeit für den, der das performative Wort im Glauben annimmt« und äußert. 231 Die Wirksamkeit religiöser Rede kann mit Ric œ urs Konzept der dreifachen Mimesis erfasst werden: Auf einer ersten Stufe, der »Präfiguration«, sprechen (nicht nur Schrift-) Texte den Rezipienten in seiner unmittelbaren Lebenswelt an und ziehen ihn daraufhin in die Textwelt hinein, in der er neue Perspektiven entwickeln kann (»Konfiguration«). In einem dritten und letzten Schritt kehrt der Rezipient in die eigene Lebenswelt zurück und kann im Rahmen einer »Refiguration« die in der Imagination erfahrenen Möglichkeiten ausprobieren. Texte entwerfen demnach eine Welt, indem sie dem Rezipienten neue »Seinsmöglichkeiten« aufzeigen, die im Verstehensprozess reflektiert und übernommen werden können. 232 Die Anstöße aus Philosophie und Soziologie macht sich diese Studie zunutze, indem sie sie als Leitlinien für den zweiten Abschnitt, der Analyse der Funktionen der narrativen Apostrophe gebraucht. Ausgehend vom Verständnis der Religion als eigenes › Feld ‹ im Sinne Bourdieus bzw. der religiösen Sprache als autonomes Sprachspiel kann deren zirkuläre Struktur akzeptiert werden. Vor allem aber kann es auf dieser Grundlage gelingen, die textpragmatischen Funktionen ernst zu nehmen, denen sich die untersuchten Texte verschreiben: Sie beanspruchen für sich, Sprachhandlungen vorzugestalten, die konkrete Auswirkungen auf das Leben ihrer Rezipienten haben. 229 Vgl. Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 108. Nach Jan und Aleida Assmann ist das Göttliche die »radikale Alterität und Differenz«, die zwar der Welt innewohnt, aber qualitativ anders als diese ist, vgl. Assmann/ Assmann: Einführung. Geheimnis und Offenbarung (1997). Das wiederum entzieht das Göttliche grundsätzlich der »Einsichtsfähigkeit des Bewusstseins und der Kommunizierbarkeit«, Hahn: Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten (1997), S. 26. 230 Arens: Religiöse Sprache und Rede von Gott (2009), S. 48. 231 Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 128. 232 Ric œ ur: Zeit und Erzählung (1989), S. 87 - 135. 1.4 Methodologische Vorüberlegungen 65 <?page no="66"?> 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte Aus aller Ordnung entsteht zuletzt Pedanterie; um diese loszuwerden, zerstört man jene, und es geht eine Zeit hin, bis man gewahr wird, daß man wieder Ordnung machen müsse. ( Johann Wolfgang von Goethe) 1 Angesichts der eingangs angestellten Vermutung, die Verwendung der narrativ gebrauchten Du-Anrede sei kein Spezifikum einzelner Textsorten und das Konzept der Erzählhaltung liege damit quer zu demjenigen der Gattung, mag die Kategorisierung des Textkorpus nach Gattungen nach eben jener Pedanterie anmuten, die im Goethe-Zitat als Begleiterscheinung eines jeglichen Ordnungsversuchs gilt. Dennoch kommt der Gattungsfrage auch im Zusammenhang mit der Erzählhaltung der narrativen Apostrophe einige Bedeutung zu: Gattungen bilden den Rahmen für den jeweiligen Einzeltext, sie schließen bestimmte Traditionen, Strukturmuster und Strategien mit ein und beeinflussen insofern auch die Erzählhaltung; je nachdem welcher Gattung ein Text angehört, so die These, rücken andere Funktionen und Aspekte der narrativ gebrauchten Du-Anrede in den Vordergrund. Vor der Folie ihrer jeweiligen Tradition werden die Texte selbst befragt: Welche Bezeichnungen wählen sie für sich selbst? Welche Quellen gebrauchen sie, in welche Traditionen schreiben sie sich ein? Welche Zielsetzungen und Poetologien werden in Pro- und Epilogen offenbart, die in dieser Hinsicht häufig als Paratext fungieren? Zu fragen ist außerdem, wie repräsentativ die Texttypen im Hinblick auf die narrative Apostrophe sind. Da der Begriff › Gattung ‹ in der Literaturwissenschaft, insbesondere in der Mediävistik, Gegenstand intensiver Kontroversen war und ist, wird zunächst die Diskussion um das Konzept › Gattung ‹ noch einmal nachgezeichnet. 2.1 › Gattung ‹ - ein valides Kategorisierungsinstrument? Mit seiner provokanten Frage, ob »Gattungen sein müssen«, 2 spricht Hans Magnus Enzensberger ein in der Literaturwissenschaft vieldiskutiertes › Problem ‹ an. Seit die Regelpoetiken des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihren normativen und präskriptiven Tendenzen 3 einem deskriptiven Ansatz wichen, 4 stand der Begriff › Gattung ‹ immer wieder 1 Goethe: Gedenkblätter an Goethe (1846), S. 48. 2 Enzensberger: Vom Nutzen und Nachteil der Gattungen (2009), S. 65. 3 Man denke an die Regelpoetik Poetices libri septem des Julius Caesar Scaligers (1561) oder Johann Christoph Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730). Solche präskriptiven Gattungstheorien »verkündete[n] Normen, schrieb[en] vor, wie ein wertvolles episches oder dramatisches Werk zu sein hatte. Sie stellte[n] Regeln auf, die sie besonders gern Musterbeispielen der Antike entnahm[en], und bestand[en] im Geiste des Klassizismus auf der Reinheit, Unvermischtheit der Gattungen«, vgl. Horn: Theorie der literarischen Gattungen (1998), S. 10. 4 András Horn charakterisiert eine solche »deskriptive« Gattungspoetik folgendermaßen: »[S]ie versucht überall auffindbare, › elementare ‹ Merkmale der Gattungen schlicht zu beschreiben. Ob <?page no="67"?> auf dem Prüfstand. Auch wenn das Prinzip › Gattung ‹ nie komplett verworfen wurde, 5 ist man sich weitgehend einig, dass Gattungsbegriffe in erster Linie Hilfskonstruktionen sind: Gattungen › gibt ‹ es nicht einfach. Gattungen werden von Menschen erdacht. [ … ] Gattungen sind keine realen Sachen [ … ]: Gattungen existieren nur durch Begriffe, die wir uns davon bilden. 6 In Hinblick auf den »kommunikativen Haushalt« einer Gesellschaft 7 lässt sich dennoch eine »sekundäre Traditionalisierung« beobachten, während derer sich Formen und Muster konstituieren, die als literarisches Wissen zur Verfügung stehen. 8 In der Kommunikation wird auf solche »institutionell eingebettete[n] Muster« 9 zurückgegriffen, die das kommunikative Handeln entsprechend dem jeweiligen situativen Anlass vorprägen. Auch für spontane kommunikative Vorgänge existieren eine Vielzahl konsolidierter kommunikativer Handlungen und Muster, die über einen längeren Zeitraum hinweg verbindliche Elemente in der Kommunikation vorgeben und zur Ausbildung bestimmter Texttypen beitragen. Auf diesen Rahmen beziehen sich »Interagierende sowohl bei der Produktion kommunikativer Handlungen als auch bei ihrer Rezeption«. 10 Innerhalb der jüngeren Gattungstheorie hat sich die Interaktion zwischen den am Literaturbetrieb beteiligten Protagonisten zum entscheidenden Kriterium gemausert. Anstatt weiterhin nach essenziellen Kriterien zu fahnden, die als gattungsbegründend zu betrachten wären, hat sich der Konsens etabliert, Gattungen seien »Konstrukte[, die] aus der Interaktion von Erkenntnissubjekt und -objekt resultieren[ … ]«. 11 Diese pragmatische Sichtweise auf das Phänomen › Gattung ‹ zielt auf die Kommunikation mit und in (literarischen) Texten ab; hier ist › Gattung ‹ eine »historische[ … ] Größe« bzw. »literarische[ … ] Konvention«, 12 die in ihrer spezifischen Ausformung variabel ist. 13 Eine ahistorische Gattungssystematik, die Vollständigkeit und überzeitlich kohärente Kriterien postuliert, geht daher an der Wirklichkeit des zeitgenössischen Literaturbetriebs vorbei und diese Merkmale in einem konkreten Werk aufweisbar[sic] sind oder nicht, sagt nach ihrer Auffassung nichts über seinen ästhetischen Wert aus«, vgl. Horn: Theorie der literarischen Gattungen (1998), S. 10. 5 Das schlug etwa Benedetto Croce vor, für den das Kunstwerk »individueller Akt der Expression« unvereinbar mit jeder Art von inhaltlich-formaler Beschreibungskategorie ist, Croce: Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft (1930), S. 42. Kritisiert wird vor allem seine stark vereinfachende Vorstellung, der künstlerische Ausdrucksakt sei subjektiv und daher nicht kategorisierbar. Dazu Ulrich Wyss in Anlehnung an Theodor Adorno: »[K]ein Kunstwerk kann als absolut subjektiv gedacht werden; auch die innerlichste Expression muss sich auf eine Realität ausserhalb [sic] des Subjekts beziehen, und einmal von diesem abgelöst, ist sie ein Stück von ihr«, vgl. Wyss: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik (1973), S. 2. 6 Fricke: Definitionen und Begriffsformen (2010), S. 7. 7 Luckmann: Kultur und Kommunikation (1989), S. 189, vgl. dazu Kapitel 1.3.3. 8 Knoblauch/ Schnettler: Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung (2010), S. 292. 9 Knoblauch/ Schnettler: Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung (2010), S. 292. 10 Knoblauch/ Schnettler: Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung (2010), S. 292. 11 Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese (1973), S. 27 bzw. Dunker: Gattungssystematiken (2010), S. 12. Ganz ähnlich geht Klaus Grubmüller davon aus, dass Gattungen die »literarische Produktion anleite[n] und literarische Ordnungsmuster anbiete[n]«, vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 195. 12 Grubmüller: Gattungskonstitution (1999), S. 195. 13 Vgl. Knoblauch/ Schnettler: Sozialwissenschaftliche Gattungsforschung (2010), S. 292. 2.1 › Gattung ‹ - ein valides Kategorisierungsinstrument? 67 <?page no="68"?> muss insbesondere beim Versuch scheitern, ein mittelalterliches volkssprachliches Gattungssystem zu rekonstruieren. 14 Denn für die volkssprachige Literatur des deutschen Mittelalters fehlt eine Gattungspoetik. 15 Auch die termini technici, mit denen sich die Texte selbst benennen, sind wenig aufschlussreich. So bezeichnen sich beispielsweise zwei der hier untersuchten Texte als getiht (Christi Hort, v. 190) 16 oder als Produkt eines [t]ihten (Von Gottes zukunft, v. 39 bzw. Christi Hort, v. 1305), wenn sie sich nicht sogar ganz unspezifisch als bu ͦ ch (Christi Hort, v. 38) charakterisieren. Dass die Begriffe tihten und getiht dabei ein ganzes Bedeutungsspektrum umfassen - von der Bezeichnung des Schreibvorgangs über den Aspekt des Versmaßes in der Bedeutung des lateinischen poetari ( › versifizieren ‹ ) bis hin zum Vorgang des Fiktionalisierens in Annäherung an das lateinische fingere ( › formen, gestalten, bilden; erdichten, erfinden ‹ ) 17 - macht die gewählten Selbstbezeichnungen nicht aussagekräftiger. 18 Damit unterscheidet sich die volkssprachige Literatur des Mittelalters stark von der mittellateinischen Literatur, die sehr wohl zeitgenössische Systematisierungsversuche 19 kennt. Obwohl der direkte Einfluss derartiger »rudimentärer [ … ] Gattungskataloge« 20 auf 14 Klaus Grubmüller sieht die Ursache für eine solche Herangehensweise in der Dominanz der aristotelischen Denktradition, die bis zum 19. Jahrhundert als Bezugspunkt für Gattungspoetiken verschiedener Couleur Wirkmacht besaß, vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 200 bzw. Dunker: Gattungssystematiken (2010), S. 12. Für einen Überblick zur antiken Gattungstheorie siehe Freund: Gattungstheorie in der Antike (2010). Zur Wirkmacht des aristotelischen bzw. platonischen triadischen Modells siehe Schwinge: Griechische Poesie und die Lehre von der Gattungstrinität in der Moderne (1981). Die Versuche von Hugo Kuhn und Hans Robert Jauss, die mittelalterliche Literatur mithilfe eines rekonstruierten Gattungssystems zu erfassen (Kuhn: Versuch einer Literaturtypologie des deutschen 14. Jahrhunderts (1980) bzw. Jauss: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters (1972)) bezeichnet Klaus Grubmüller als gescheitert: Letzterer sei zu explizit und kranke daher an »Überschneidungen, verfließende[n] Ränder[n], willkürlichen Zuordnungsentscheidungen«, Kuhns Vorschlage mangele es hingegen an Geschlossenheit und Explizitheit, vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 199. 15 Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 195. 16 Gundackers Christi Hort wird hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von J. Jaschke: Gundacker von Judenburg: Christi Hort. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1910. 17 Modell für das poetische tihten ist die Schaffenskraft des Logos. In Christi Hort wird auch die Vokabel tihten gebraucht, wenn die creatio ex nihilo geschildert wird: Got geschûf unt tihte / elliu dinch von niht, / er hieze mit worten werden / paidiu himel und erden (Christi Hort, vv. 1 - 4: » Gott erschuf und brachte alle Dinge aus nichts hervor; mit Worten ließ er sowohl Himmel als auch Erde entstehen«). 18 Die Beispiele, die Klaus Grubmüller wählt, um die Schwierigkeiten zu illustrieren, ein mittelalterliches Gattungssystem aus der zeitgenössischen Terminologie zu rekonstruieren, sind liet und maere, die jeweils nicht für bestimmte Texttypen reserviert sind. So könnte mit liet nicht nur ein lyrisches, strophiges Gedicht, sondern auch ein Epos wie beispielsweise der Nibelunge liet bezeichnet werden, vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 196. Siehe zur Etymologie auch Gärtner: tihten/ dichten (2006) bzw. BMZ/ LEXER, s. v. › tihten ‹ 19 Dazu zählen die vielzitierten Überlegungen von Isidor von Sevilla in dessen Etymologiae VIII,7, vgl. Ernst: Gattungstheorie im Mittelalter (2010), S. 201. Als weitere (exemplarische) Beispiele führt Klaus Grubmüller das Speculum doctrinale des Vinzenz von Beauvais und die Parisiana Poetria des Johannes von Garlandia an. Diesen Ordnungsversuchen ist gemein, dass sie auf antike Quellen zurückgehen, diese kompilieren, ergänzen und ihre Argumentation mit Beispielen aus der antiken Literatur belegen, vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 196 - 198. 20 Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 198. 68 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="69"?> die mittelhochdeutsche Literatur begrenzt scheint, 21 ist es plausibel, angesichts des ausgeprägten Traditionalismus der mittelalterlichen Kultur, die sich mehr an »Autoritäten und autorisierten Mustern [denn an] Begriffe[n], Regel[n] und Systeme[n]« orientiert, von einem gewissen Gattungsbewusstsein auszugehen, das »in der Gestalt des Werkes« in Erscheinung tritt: 22 Dieses orientierte sich demnach an den als gattungskonstituierend empfundenen Kriterien - idealiter an einem Kriterienset - und schriebe sich gewissermaßen in eine › Reihe ‹ von Werken und Traditionen ein. 23 Ernst Cassirers Gattungsverständnis etwa erklärt Intertextualität zum bestimmenden Prinzip. Für ihn bilden Gattungen kein klassifikatorisches System, sondern stellen vielmehr eine »empirische Reihenform der Koexistenz und Sukzession« 24 dar. Eine Gattung umfasst demnach eine Reihe von Texten, die auf ein als musterhaft empfundenes Gattungsvorbild oder auf mehrere Prätexte Bezug nehmen. Gemeint ist also ein »sich verändernde[s] Geflecht von Bezügen«, deren Prototypen als »gattungsstiftend« 25 gelten können. 26 Die Vorstellung einer solchen Prototypensemantik rückt Cassirers Konzept in die Nähe von Ludwig Wittgensteins Idee der › Familienähnlichkeit ‹ . 27 Dieses Konzept, das Wittgenstein am Beispiel des Spiels illustriert, eignet sich, um Zugehörigkeiten zu beschreiben, für die sich keine hinreichenden oder notwendigen Kriterien finden lassen und die daher nicht mit taxonomischen Ordnungsmustern zu erfassen sind: Wie bei einer Familie muss ein einzelnes Mitglied nicht alle Merkmale aufweisen, um als Teil ebendieser Familie erkennbar zu sein; auch Verwandtschaftsverhältnisse mit anderen Familien sind denkbar. 28 Für die Beschreibung von Literatur ist das Modell der Familienähnlichkeit insofern geeignet, als es »die historische Variabilität von Gattungszuschreibungen ebenso zu erkennen gibt wie die offenkundige Konstruktionstätigkeit [des einzelnen Literaturwissenschaftlers bei der Zu- 21 Udo Kindermann bezeichnet sie sogar als bloße »Orientierungsversuche mittelalterlicher Geisteswissenschaft«, Kindermann: Gattungssysteme im Mittelalter (1989), S. 303. Die Gründe für eine fehlende volkssprachliche Gattungspoetik sind vielfältig: Zum einen mangelt es der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters an Einbindung in die Instanzen des Wissenschaftsbetrieb Schule und Universität sowie Kirche und Kloster, die am Lateinischen als Wissenschaftssprache und den korrespondierenden Bildungsinhalten festhalten, zum anderen existiert Literatur noch nicht als »verselbstständigtes oder gar autonomes System«, sondern »immer nur als Teil von Lebenssituationen«, vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 204 - 208. Dass die mittelalterliche Literatur immer in die »Komplexität des Lebensvollzugs [eingelassen]« ist (Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 207), wurde schon an anderer Stelle thematisiert. 22 Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 198. 23 Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 198. Als Beispiel für solche »Werkreihen, deren Gattungscharakter nicht in Zweifel gezogen werden kann«, nennt Klaus Grubmüller die Artusromane, aber auch Minnelieder, Sangsprüche oder die Vertreter des geistlichen Spiels, vgl. ebd., S. 199. 24 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (1994), S. 484. Das Konzept der › literarischen Reihe ‹ wurde, wie Ulrich Wyss festhält, zuerst von den russischen Formalisten entwickelt, vgl. Wyss: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik (1973), S. 15. 25 Schaller: Vergil und die Wiederentdeckung des Epos im frühen Mittelalter (1987), S. 96. 26 Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter (1999), S. 201 bzw. 208 f. 27 Eine solche Gattungstheorie vertreten u. a. Marie-Laure Ryan, Alastair Fowler oder Ulrich Suerbaum. Ryan: On the why, what and how of generic theory (1981); Fowler: Kinds of Literature (1982), Suerbaum: Text, Gattung, Intertextualität (2004). 28 Vgl. Dunker: Gattungssystematiken (2010), S. 15. Auch die in Kapitel 1.3.3 erwähnten › Sprachspiele ‹ können mit dem Konzept der Familienähnlichkeit beschrieben werden. 2.1 › Gattung ‹ - ein valides Kategorisierungsinstrument? 69 <?page no="70"?> ordnung einzelner Texte]«. 29 Dieses Verständnis von Gattung im Sinne von Wittgensteins Familienähnlichkeit bzw. der Reihenbildung nach Cassirer wird auch hier zugrunde gelegt: Demnach kann ein einzelnes Werk mehr oder weniger einem Prototypen entsprechen, das zugrundeliegende gattungskonstituierende Muster kann übernommen, variiert oder in den Hintergrund gedrängt sowie Merkmale anderer Reihen übernommen werden. 2.2 Textkorpus: Auswahlkriterien Anreden an ein Gegenüber, die sich der Pronominalformen der zweiten Person bedienen, sind in der mittelalterlichen Literatur keine Seltenheit. Über die Aufnahme der Texte in das Untersuchungskorpus entscheidet daher ein Kriterienkatalog, der sich auch als Minimalkonsens der Forschung zur Second-Person Fiction herauskristallisiert hat. Drei Kriterien müssen demnach erfüllt sein, um einen Text als narrative Apostrophe zu klassifizieren: erstens die Anrede an ein Du, das zweitens Protagonist oder zumindest handlungstragend ist, und drittens das Vorliegen von Narrativität. 30 Als viertes Kriterium kann Erfahrungshaftigkeit, › experientiality ‹ , hinzutreten, die sich in der Beschreibung der Gedankenwelt oder der Wiedergabe von Gefühlen und Rede des Du-Protagonisten ausdrückt. Der Schwerpunkt ergibt sich dabei aus dem Material selbst: Die narrativ gebrauchte Du- Anrede findet sich vor allem in religiösen Texten, außerdem lässt sich ein gehäuftes Vorkommen im späten Mittelalter beobachten, was mit der verstärkten Produktion religiöser Literatur im Zuge der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur zusammenhängt. Der historische Kontext bedingt eine Verengung auf den Zeitraum des ausgehenden 13. bis zum frühen 16. Jahrhundert, frühere Texte sollen aber mitunter als Vergleichsfolie herangezogen werden, um Kontinuitäten und Brüche aufzuzeigen. Ein weiteres Kriterium ist die Sprache: Unter der Prämisse, die Du-Erzählform erlebe eine besondere Konjunkturphase im Zusammenhang mit laikalen Frömmigkeitspraktiken, liegt der Fokus auf volkssprachlichen Texten des deutschen Sprachraums. Auch hier gilt es, lateinische Vertreter der narrativ gebrauchten Du-Anrede zum Vergleich heranzuziehen, um eventuelle Traditionen ausfindig zu machen: So wird die lateinische Vita Christi des Ludolf von Sachsen als Vorläufer der meditatio betrachtet. Vor dem Hintergrund, dass die mittel- und frühneuhochdeutschen Texte die narrative Apostrophe mit ähnlicher Zielsetzung gebrauchen, indem sie vor allem als textuelle Mittler zwischen dem Gläubigen und dem Transzendenten fungieren und eine von Nähe geprägte Beziehung stiften, wird außerdem ein Text aus dem englischen Kulturkreis in das Untersuchungskorpus mitaufgenommen, der das Spektrum der Funktionen ergänzt: die mittelenglische Legend of Seynt Gyle des Benediktiners John Lydgate. Diese ist weniger Gebrauchstext als Experiment mit den poetischen Möglichkeiten, die die narrative Apostrophe bereithält, und kommt insofern der Artifizialität moderner Du-Erzählungen bereits sehr nahe. Das breite Spektrum an repräsentierten Gattungen bestätigt die Arbeitshypothese, die narrativ gebrauchte Du-Anrede sei weniger Gattungskonstituent als eine gattungsübergreifende Erzählhaltung. Gleichzeitig wird mit dem Untersuchungskorpus nicht Voll- 29 Dunker: Gattungssystematiken (2010), S. 15. 30 Zugrunde gelegt wird hier ein weiter Narrativitätsbegriff, siehe dazu Kapitel 2.5. 70 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="71"?> ständigkeit angestrebt, die Texte erlauben vielmehr eine exemplarische Untersuchung des Phänomens. Erzählende Anreden finden sich in einer Vielzahl von Textsorten, beispielsweise in Gebetstexten wie dem im Hermetschwiler Gebetbuch cod. cart. 208 (Sarnen) überlieferten Gebet zum Heiligen Christophorus, in Heiligenlegenden wie der (in Gebetsform gebrachten) Vita im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth (Klemm Sammlung I,104), in bibelepischen Texten wie in Gundackers von Judenburg Christi Hort oder Von Gottes zukunft des Heinrich von Neustadt, in der geistlichen Lyrik des Mönchs von Salzburg oder in Andachtsbüchern wie Bertholds Zeitglöcklein. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 2.3.1 Religiöse Epik Sowohl in Hinblick auf seine Verbreitung als auch auf seine literarischen Funktionen spielt das religiöse Erzählen im Mittelalter eine zentrale Rolle. 31 Bei der Vielfalt der Bezeichnungen für erzählende Texte mit religiöser Färbung ist das Label › religiöse Epik ‹ das treffendste. In Analogie zu einer pragmatischen Bestimmung der › religiösen Literatur ‹ wird damit nicht nur der Inhalt der Erzählungen, sondern auch deren Zielsetzungen und Gebrauchsfunktionen berücksichtigt. 32 Auch wenn der Begriff › Epos ‹ Kontinuität zu den antiken Epen suggeriert, ist er weniger als Gattungsbegriff denn als Bezeichnung für eine › Schreibweise ‹ , nämlich für das Narrative, zu verstehen. 33 › Religiöse Epik ‹ meint also »die erzählende Umsetzung biblischer (und apokrypher) Stoffe in nichtliedhafte Versdichtungen größeren Umfangs«. 34 Im Zentrum religiösen Erzählens stehen die Bibel bzw. die kanonischen Schriften, von denen »ein literaturschaffende[r] und literaturprägende[r] Impuls« ausging. 35 . Vorbereitet durch eine Reihe spätantiker Bibelepiker wie Juvencus, Arator und Prudentius 36 setzt die deutschsprachige Bibeldichtung - wie auch die volkssprachige Dichtung überhaupt - mit der Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg (vor 870) ein. Eine »Fülle von Bibel- 31 Vgl. Wehli: Sacra Poesis (1969), S. 51. 32 Diese offenere Bezeichnung wählt Kurt Gärtner, vgl. Gärtner: Marienverehrung und Marienepik im Deutschen Orden (2008), S. 398. In eine ähnliche Richtung zielen Nicole Eichenbergers Benennung › geistliches Erzählen ‹ (Eichenberger: Geistliches Erzählen (2015)) oder Max Wehrlis auf das Christentum rekurrierende Bezeichnung › christliche Epik ‹ (Wehrli: Sacra Poesis (1969), S. 51). Achim Masser oder Dieter Kartschoke charakterisieren diese Art des Erzählens anhand des zugrundeliegenden Erzählstoffes bzw. Quellenmaterials als › Bibel- und Legendenepik ‹ (Masser) oder als › Bibelepik ‹ (Kartschoke), vgl. Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (1976) bzw. Kartschoke: Bibelepik (1984). Zur Bestimmung der › religiösen Literatur ‹ siehe Kapitel 1.4.2. 33 Vgl. Dunker: Gattungssystematiken (2010), S. 14. Zur Hybridität der Bibelepik »zwischen dem universalen Heilsanspruch des biblischen Textes und den partikularen Geltungsansprüchen von Erzählkulturen« siehe auch Quast/ Spreckelmeier: Literarische Inkulturation (2017), S. 7. 34 Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 23. 35 Wolf: Aspekte der Wirkungsgeschichte der Bibel in volkssprachlicher Literatur des Mittelalters (2006), S. 35. 36 Deren › biblisierte ‹ , also an der Bibel orientierte Sprache fand Eingang auch in Texte außerhalb der Bibelepik, beispielsweise in die Confessiones des Augustinus, - und prägten das mittelalterliche Latein, vgl. Wolf: Aspekte der Wirkungsgeschichte der Bibel in volkssprachlicher Literatur des Mittelalters (2006), S. 35. Der Gattungsgeschichte der spätantiken Bibelepik widmet sich Reinhart Herzog: Die Bibelepik der lateinischen Spätantike (1975). 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 71 <?page no="72"?> dichtungen« in der Volkssprache folgte, 37 deren Autoren auf die lateinische Schrifttradition Bezug nahmen und diese in die Volkssprache übertrugen. Während sich die hochmittelalterliche religiöse Epik vor allem mit Stoffen des Alten Testaments beschäftigte, rückte in der erzählenden Bibeldichtung des 13. und 14. Jahrhunderts zunehmend das Neue Testament ins Blickfeld, das durch apokryphe Stofftraditionen ergänzt wurde. 38 Die lateinische Vita beatae virginis Mariae et Salvatoris rhythmica, ein Sammelbecken für apokryphe Motive, inspirierte wiederum eine Reihe bibelepischer Autoren dazu, die um apokryphe und legendarische Motive ergänzte Geschichte des Neuen Testaments anhand des Lebens der Gottesmutter neu zu erzählen. Selbst mit dem Einsetzen von Bibelübersetzungen im ausgehenden Mittelalter und in der Reformation wurde die Gattung der religiösen Epik keineswegs obsolet. 39 Der »von [der] Glaubensgemeinschaft [Christentum] getragene Kanon[ … ] biblischer Schriften« bildet das Fundament der religiösen Epik. 40 Dieser stoffliche Kern wird durch außerbiblische Erzählungen ergänzt, die sich aus verschiedenen Quellen speisen: Neben Legenden, die »da [anknüpfen], wo die Bibel › aufhört ‹ «, 41 sind das Apokryphen, aber auch die kirchliche bzw. theologische Tradition. 42 Stoffe aus dem Umfeld der biblischen Geschichte bilden dabei ein Kontinuum, das eine trennscharfe Unterscheidung zwischen verschiedenen Unterkategorien unmöglich macht. 43 Der Bezug auf die Bibel »als kulturelle Normvorgabe« 44 hat weitreichende Konsequenzen, zumal die Bibel einen doppelten Status als heiliger und als »kultureller Text« besitzt. 45 37 Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 27 - 29. 38 Vgl. Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 30 f. 39 Vgl. Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 31 f. bzw. Wehrli: Sacra Poesis (1969), S. 66. In der Frühen Neuzeit erlebt die Gattung eine neue Blüte, die sich aus ihrer Funktionalisierung im politischen Kontext ergibt, vgl. Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit (2013). In gewisser Hinsicht lassen sich auch moderne Blockbuster, etwa Ridley Scotts Exodus (2014) oder Darren Aronofskys Noah (2014), als Fortschreibung des Genres betrachten. 40 Irsigler: Erzählen in biblischer Literatur (2016), S. 26. Vgl. dazu auch Kurt Goldammer, für den der Kanon eine »Sammlung heiliger Bücher, deren Umfang und Inhalt genauestens festgelegt sind«, darstellt, vgl. Goldammer: Die Formenwelt des Religiösen (1960), S. 254. 41 Die biblische Legende »führt dort fort, wo die Bibel nichts mehr sagt - obwohl noch viel zu sagen und zu hören wäre; sie unterrichtet da, wo sich die Bibel ausschweigt - obwohl man noch über so vieles Bescheid wissen möchte. Die biblische Legende bringt also zusätzliche Informationen«, Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (1976), S. 16. Nicht-biblische Legenden hingegen entstammen einer »kultpraktischen Notwendigkeit«: Sie unterfüttern den Heiligenkult, indem sie die Anrufung von »besonders qualifizierte[n] Verstorbenen«, vor allem von Märtyrern, legitimieren, die als »Bindeglied zwischen den sündigen Menschen und der göttlichen Allmacht« begriffen werden, Wyss: Legenden (1984), S. 40 f. 42 Vgl. Wehrli: Sacra Poesis (1969), S. 52. 43 »Bibel und Apokryphen, Kanonisches und Nichtkanonisches [bilden] als Quelle für geistliche Erbauung, als Grundlage der darstellenden Kunst wie der erzählenden Dichtung, soweit sie sich mit Themen aus dem Umkreis der biblischen Geschichte befaßt, eine feste Einheit«, Masser: Bibel, Apokryphen und Legenden (1969), S. 31. 44 Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 403. Diesen Status der Bibel als »die Schrift schlechthin« beschreibt Dieter Kartschoke folgendermaßen: »Was letztlich zu erzählen lohnt, ist immer schon erzählt - als Geschichte des Heils von der Erschaffung der Welt über das göttliche Erlösungswerk bis hin zu ihrem Untergang am Ende der Tage«, Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 20. 45 Vgl. Quast: Vera Icon (1999), S. 216. Die Unterscheidung geht zurück auf Jan Assmann und beruht wesentlich auf dem Verhältnis von Text und Ritus: »Beim heiligen Text ist der Ritus das Wesentliche, und die während der heiligen Handlung verlautbarte sprachliche Äußerung ist nur ein Teil des Ganzen. 72 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="73"?> In den heiligen Texten 46 aller Religionen und Kulturen manifestiert sich das › Göttliche ‹ , aus der christlichen Bibel › spricht ‹ Gott. Damit ist der Bibeltext keine bloße Erzählung, sondern gilt - zumindest nach christlichem Verständnis - als Ausdruck einer »höheren Wirklichkeit« 47 und »Träger verbindlicher Wahrheit«. 48 Als kultureller Text wirkt die Bibel zudem normativ: Sie kodifiziert soziale Normen, die identitätsstiftende Wirkung entfalten können. 49 Aufgrund dieses Doppelcharakters sind die Autoren religiöser Erzähltexte in der Wahl ihrer Bearbeitungsstrategien nicht völlig frei, sie bewegen sich vielmehr in einem »Rahmen klarer Bindungen«. 50 Religiöse Epik, die sich mit biblischen Stoffen befasst, changiert also zwischen Dichtung und Paraphrase. Diese den Texten eingeschriebene Intertextualität erweist sich als höchst produktiv: Autoren religiöser Epik bearbeiten literarische Vorlagen, gießen sie in eine neue Form und bringen so ein breites Spektrum an Typen hervor. 51 Zentrales Bearbeitungsprinzip ist dabei die Kompilation: Individuelle Werke werden aufgebrochen, einzelne Teile mit anderen Stoffen kombiniert und zu neuen Gesamttexten zusammengestellt. 52 Beim kulturellen Text dagegen ist die Vergegenwärtigung des Textes das Wesentliche, und der Ritus bietet lediglich den Rahmen für seine Darbietung«, Asssmann: Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2007), S. 134. 46 Was einen »heiligen Text« ausmacht, ist Gegenstand zahlreicher akademischer und außerakademischer Debatten. Für einen Überblick über die unübersichtliche Forschungslage siehe Mauz: Machtworte (2016). So versteht beispielsweise Christoph Elsas unter heiligen Texten »religiöse Texte mit einer umfassenden Deutung der Welt und Eignung zur Verwendung im Kult, die - anders als in der Mythentradition traditionaler Stammesreligionen - in schriftlicher Form verbindlich fixiert werden. Diese schriftlichen Traditionen sind zum Teil durch mündliche vorgeformt, und viele religiöse Traditionen halten dazu an, ein mündliches Kommunikationssystem wiederherzustellen«, Elsas: Vom Aufnehmen zum Weitergeben und Übertragen (1994), S. XXVII. Andreas Mauz weist darauf hin, dass die Antwort auf die Frage »Was ist ein › heiliger Text ‹ ? « nicht nur von der jeweiligen Disziplin und ihren Interessen abhängt, sondern welcher Definitionstypus (lexikalisch, stipulativ, Explikation) angewandt wird. Auf Grundlage von vier exemplarisch herangezogenen Untersuchungen kommt er zu dem Schluss, dass sich »heilige Texte« durch Textoberflächenphänomene der »Offenbarung« auszeichnen, also einen heiligenden und einen geheiligten Text in sich vereinen: Trotz verschiedener Strategien ist heiligen Texten »der Umstand [gemein], dass sich die Texte explizit als Produkte einer menschlich-übermenschlichen Schreibkooperation darstellen«, vgl. Mauz: Machtworte (2016), S. 52 f. Das Festhalten an »Offenbarung« als dem konstitutiven Merkmal des heiligen Textes ist für diese Arbeit jedoch zu eng gedacht, anschlussfähiger erscheint eine weite Definition wie beispielsweise Assmanns Verständnis: »Unter dem Begriff › heilige Texte ‹ fasse ich solche sprachlichen Äußerungen zusammen, mit denen sich die Vorstellung einer Gegenwart des Heiligen verbindet«, vgl. Assmann: Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2007), S. 133. 47 Kutzer: In Wahrheit erfunden (2006), S. 40 bzw. Quast: Vera Icon (1999), S. 215. 48 Quast: Vera Icon (2009), S. 216. 49 Diese für kulturelle Texte charakteristischen Aspekte bezeichnet Bruno Quast als »Normativität« und »Formativität«, vgl. Quast: Vera Icon (1999), S. 216. 50 Quast: Vera Icon (1999), S. 216 bzw. Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (1976), S. 14. 51 Vgl. Kutzer: In Wahrheit erfunden (2006), S. 40. Volker Kapp und Dorothea Scholl weisen darauf hin, dass das »Verfassen von Dichtung mit vorgegebenen Elementen« Teil einer ausgeprägten »Gedächtniskultur« ist, vgl. Kapp/ Scholl: Bibeldichtung (2006), S. 22. 52 Dieses Verfahren bezeichnet Dieter Kartschoke als »sekundäre« oder »parasitäre Produktion«, Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 27. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 73 <?page no="74"?> Diese Flexibilität hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass religiöse Stoffe einen festen Platz in der Lebenswelt, einen »Sitz im Leben« haben. 53 Drei Ziele lassen sich insbesondere aus den poetologischen Programmen der Pro- und Epiloge immer wieder herauslesen. Vordergründiges Ziel ist das Lob Gottes: Religiöse Erzähltexte dienen dazu, Gottes Geschichte zu tradieren und den Glauben aufs Neue zu aktualisieren, sind also »Form der Verherrlichung und Verkündigung Gottes« in einem. 54 Darüber hinaus möchte die religiöse Epik auch erbauen: Abstrakte theologische Sachverhalte erhalten eine konkrete, insbesondere für das Laienpublikum greifbare Gestalt, was als Voraussetzung für die »innerliche Aneignung« des Stoffes 55 begriffen wird und damit zur »grundlegenden religiösen Glaubens-, Lebens- und Weltdeutung« beiträgt. 56 Religiöses Wissen wird so aufbereitet, dass es verinnerlicht und mit in die Lebensführung aufgenommen werden kann, wobei die Grenzen zwischen biblischer und lehrhafter Dichtung fließend sind. 57 Zuletzt ermöglicht die religiöse Epik die Kontaktaufnahme mit dem Göttlichen, denn sie begreift den Bibelstoff als »Etwas, das in die Aktualität eingreift«. 58 Diese verschiedenen spirituellen Funktionen spiegeln sich in der oftmals heterogenen Ausgestaltung der Texte wider. Auf diesen heilsvermittelnden Intentionen gründet auch das Selbstverständnis der Autoren religiöser Epik: Sie verstehen ihr Dichten als einen karitativen, spirituellkatechetischen Dienst an der christlichen Gemeinschaft und bemühen sich dadurch nicht zuletzt auch um »Selbstheiligung«. 59 Diese Gattungstradition hat Auswirkungen auf die Verwendung und den Gebrauch der narrativen Apostrophe. Entsprechend der zweifachen Intention von Gotteslob und erbaulicher Anleitung erweist sich diese Erzählhaltung als nur eine von vielen Möglichkeiten, mit denen die Dichter ihre Ziele umzusetzen suchen. Sie taucht kaum als einzige Sprechhaltung auf, sondern wechselt sich mit anderen Erzählweisen ab, je nachdem, welches Ziel gerade Vordergrund steht. Es scheint naheliegend, dass die Du-Erzählform als nähestiftende Strategie immer dann Anwendung findet, wenn es darum geht, Präsenz herzustellen und mit dem Heiligen in Kontakt zu treten. Nichtsdestoweniger ist der Gebrauch der narrativen Apostrophe in der mittelhochdeutschen religiösen Epik ein seltenes Phänomen: Allein in der Heilslehre Von Gottes zukunft von Heinrich von Neustadt und in Gundackers von Judenburg Christi Hort findet diese Erzählhaltung, soweit ersichtlich, Einsatz. 53 Zum Begriff › Sitz im Leben ‹ siehe Wagner: Gattung und › Sitz im Leben ‹ (1996). Diese Zweckgebundenheit teilt die religiöse Epik mit der mittelalterlichen Literatur im Allgemeinen: »Die literarische Verarbeitung der Bibel etabliert sich als eigene Tradition neben der theologischen Beschäftigung mit ihr, die ursprünglich keine klare Trennung zwischen den mehr doktrinären und mehr spirituellen, auf die Lebenspraxis ausgerichteten Deutungen der Heiligen Schrift machte«, Kapp/ Scholl: Bibeldichtung (2006), S. 14. 54 Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (1976), S. 13. 55 Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (1976), S. 15. 56 Irsigler: Erzählen in biblischer Literatur (2016), S. 26. 57 Sowinski: Lehrhafte Dichtung des Mittelalters (1971), S. 4. 58 Wolf: Aspekte der Wirkungsgeschichte der Bibel in volkssprachlicher Literatur des Mittelalters (2006), S. 39. 59 Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 21. Davon zeugen die in religiösen Erzähltexten häufig in den Epilogen vertretenen Bitten des Autors um Fürbitte. 74 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="75"?> 2.3.1.1 Heinrich von Neustadt, Von Gottes zukunft Das um 1300 entstandene »religiöse Gedicht« 60 Von Gottes zukunft des Heinrich von Neustadt bietet eine »heilsgeschichtliche[ … ] Gesamtschau«, 61 die von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht reicht. Der laikale Dichter - er gibt sich im Epilog als Meister Heinrich [ … ] / Geheizen von der Nu ᵉ wenstat / [ … ] Ein bu ᵉ ch artzat von der ku ᵉ nst (Von Gottes zukunft, vv. 8093 - 8096: »Meister Heinrich, genannt von Neustadt, ein gelehrter Arzt«) zu erkennen - setzt sich zum Ziel, die christliche Heilsgeschichte 62 für ein gleichermaßen laikales Publikum nachvollziehbar zu machen. In drei Büchern erzählt er von den drei › Zukünften ‹ - Ankünften - Gottes, vom dreifachen Kommen Gottes auf Erden. Eine Inhaltsangabe findet sich im Epilog, der unter den Rubriken Wer diz buch gedihtet habe. (vor v. 8092) bzw. Wie diz buch heisze. (vor v. 8118) paratextuelle Angaben nachreicht: Gotes zu ku ͦ nft ist genant Diz buch nach der nu ᵉ wen hant. Nu merkt auch me da bi: Diz buch ist geteilt in dri. Daz erste wie Got abher quam; Daz ander wie er sich an nam In siner frunde hertzen Mit liebe und auch mit smertzen; Dar nach dez driten bu ᵉ ches list, Wie er zu gerihte komen ist An dem ju ᵉ ngsten tage. (Von Gottes zukunft, vv. 8118 - 8128) »Gottes Zukunft« heißt dieses Buch, das neu verfasst wurde. Nun achtet auch darauf: Das Buch ist in drei Teile geteilt. Das erste erzählt, wie Gott auf die Erde kam, das zweite, wie er mit Liebe und Schmerzen in die Herzen seiner Freunde gelangte. Danach könnt ihr im dritten Buch lesen, wie er am Jüngsten Tage zum Gericht kam. Der moderne Begriff › Heilsgeschichte ‹ ist ambig und bedarf der Klärung: › Heilsgeschichte ‹ meint einerseits die › objektiven ‹ , aus der Bibel ablesbaren Heilstatsachen, die sich als lineare Entwicklung begreifen lassen. In ihrem Zentrum steht die Menschwerdung, die erste zu ku ͦ nft, das Geschehen steuert unweigerlich auf das Jüngste Gericht hin, das den Inhalt des dritten Buches ausmacht. Andererseits lässt sich der Begriff als Chiffre für einen 60 Diese Gattungszuweisung stammt von Peter Ochsenbein: Heinrich von Neustadt (1981), Sp. 842. Edith Bauer bezeichnet das Werk als »Lehr- und Erbauungsgedicht«, Bauer: Heinrich von Neustadt (1969), S. 419. 61 Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (1976), S. 146 bzw. Huber: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen (1988), S. 235. 62 Der Begriff › Heilsgeschichte ‹ , gleichwohl aus der Theologie des 19. Jahrhunderts stammend, bezeichnet die insbesondere das Mittelalter prägende Vorstellung, dass Geschichte vom Handeln Gottes bestimmt ist und sich dieses Handeln am Menschen in ihr manifestiert. In der Bibel, die eine Chronologie von Anbeginn der Zeit in der Genesis bis zu ihrem Ende in der Johannesapokalypse aufspannt, sahen Irenäus und andere Kirchenväter seit dem Ende des 2. Jahrhunderts eine universale Geschichte der Menschheit, deren Urheber und Ziel Gott ist. Augustinus ’ Verständnis, profane und biblische Heilsgeschichte zu verbinden, legte den Grundstein für das mittelalterliche Geschichtsbewusstsein, nach dem Geschichte immer auch Heilsgeschichte ist. Diese Vorstellung von Geschichte als historia sacra, als Offenbarungsgeschichte, griffen mittelalterliche Theologen wie beispielsweise Rupert von Deutz oder Joachim von Fiore auf, vgl. Hengel: Heilsgeschichte (2009), S. 3 bzw. 21 - 27. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 75 <?page no="76"?> individuellen Weg zum Heil lesen, dessen Ziel ein »existenziales«, 63 nämlich das »Sein › in Christus ‹ « 64 ist. Dieses doppelte Verständnis von Heilsgeschichte als universaler und als individueller Geschichte legt auch Heinrich seinem Werk zugrunde. Er möchte nicht nur die › objektive ‹ Heilsgeschichte erzählerisch darbieten, sondern auch den einzelnen Rezipienten auf dessen › subjektivem ‹ Heilsweg anleiten. Deutlich wird das bei der Inhaltsangabe des zweiten Buchs, wo Jesu irdisches Leben, Passion und Kreuzigung sowie die Auferstehung als Kommen Gottes in die hertzen, als »Herzenserleuchtung«, 65 bezeichnet wird. 66 Aus den Passagen des Pro- und Epilogs, die gattungskonform Selbstzuschreibungen beinhalten, lässt sich das Neben- und Miteinander beider Ziele, die erzählende Darstellung der Heilsgeschichte und die zur Partizipation am Heilsgeschehen aufrufende Anleitung, deutlich ablesen. Das Eingangsgebet (vv. 1 - 36 bzw. 77 - 88) evoziert zunächst die universale Heilsgeschichte. Schon mit den Anrufungen der ersten beiden Verse Olpha et O! deus Sabaoth! / An angenge, an ende ein Got! (vv. 1 f.: »Alpha und Omega, Gott Sabaoth! Ohne Anfang, ohne Ende Gott«) wird Gottes Wirken als Rahmen für die Heilszeit charakterisiert. Die Wahl der Gottesnamen erinnert abwechselnd an den Alten Bund und den Neuen Bund, beispielsweise wenn Gott als Schöpfergott apostrophiert oder das Tetragrammaton (v. 18), ein Synonym für den alttestamentlichen Gottesnamen JHWE, als Anredetitel gebraucht wird. Anrufungen wie Messyas, Heilant! (v. 22) lassen die Erfüllung des im Alten Testament geäußerten Heilsversprechen anklingen. 67 Demgegenüber nimmt die Wirkungsästhetik, die im Prolog (vv. 37 - 76) entfaltet wird, den menschlichen Adressaten und dessen individuelle Heilsgeschichte in den Blick. Dass er Kürzungen und Erweiterungen gegenüber seiner Vorlage, der enzyklopädischen Allegorie Anticlaudianus des Alanus ab Insulis, 68 vornehmen wird, rechtfertigt Heinrich nämlich mit dem Schlagwort Bonum delectabile (Von Gottes zukunft, v. 72), das gleich darauf eine Übersetzung in die Volkssprache erfährt: Daz spricht lu ᵉ stliches gu ᵉ t (v. 73: »Das heißt erfreuliches Gut«). Dahinter verbirgt sich der »horazische[ … ] Wirkungstopos des utile cum 63 Frey/ Kraut/ Lichtenberger: Einführung (2009), S. XVI. 64 Schnackenburg: Biblische Heilsgeschichte (1960), Sp. 151. 65 Dinzelbacher: Eschatologie bei Heinrich von Neustadt (2006), S. 644. 66 Das Modell eines dreifachen adventus Domini findet sich früher schon bei Alanus ab Insulis, den Heinrich im Prolog als seine Quelle nennt: triplex legitur Christi adventus; primus in carnem, per misericordia; secundus, in mentem per gratiam; tertius ad judicium per gloriam (lib. Sent. 17: »Von einer dreifachen Ankunft Christi ist hier die Rede; die erste erfolgt in Fleisch, die zweite in den Geist durch die Gnade, die dritte geschieht zum Jüngsten Gericht durch Ruhm und Ehre«), zit. n. Marti: › Gottes Zukunft ‹ von Heinrich von Neustadt (1911), S. 70. Im Zwischenprolog (Von Gottes zukunft, vv. 4992 - 5021) wird das dreischrittige Modell um eine vierte › Zukunft ‹ ergänzt. Vorlage dafür war möglicherweise die Legenda Aurea des Jacobus a Voragine, die eine der Hauptquellen Heinrichs für das zweite Buch gewesen sein muss: quadruplex est adventus [Domini]: scilicet in carnem, in mentem, in mortem et judicium (»die Ankunft des Herrn ist eine vierfache; nämlich in Fleisch, im Geist, im Tod und zum Gericht«), zit. n. Marti: › Gottes Zukunft ‹ von Heinrich von Neustadt (1911), S. 70. 67 Dass Prologgebete eine wichtige Rolle in der Entfaltung und Darlegung der werkeigenen Programmatik spielen, hat Christian Thelen in seiner Studie über »Das Dichtergebet in der deutschen Literatur« (1989) herausgearbeitet. 68 Peter Ochsenbein konnte zeigen, dass Heinrich statt des Anticlaudianus eine Zusammenfassung des Werkes (abbrevatio) gebrauchte, das sogenannte Compendium Anticlaudiani, in dem die heilsgeschichtliche Umdeutung der Allegorie mit der Gleichsetzung des homo novus mit Christus bereits erfolgt war, vgl. Ochsenbein: Das Compendium Anticlaudiani (1969), S. 81 - 83. 76 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="77"?> dulci« 69 (ars poetica, 343 f.), also die bis ins Mittelalter populäre Vorstellung, dass Unterhaltung und Belehrung Hand in Hand gehen. 70 Die geistlich-pädagogisch Absicht wird weiter expliziert, wenn der Dichter Gottes Hilfe für seine Katechese erbittet, denn sein Text wolle bewirken, daz man gebezzert da von si (Von Gottes zukunft, v. 85: »dass man davon [= von der Lektüre] gebessert wird«). Diese Formulierung wird im Epilog nochmals aufgegriffen, wenn Heinrich proklamiert, er habe sein Werk nicht durch der werlte gunst, sondern in rehter andaht verfasst, daz gebezzert da von wesen / Die ez horn oder lesen (Von Gottes zukunft, vv. 8097 - 8101: »nicht im Streben nach weltlichem Ruhm, sondern in rechter Andacht verfasst, damit alle, die es hören oder lesen, davon gebessert werden«). Verinnerlichung des Stoffes ist also die erklärte Absicht Heinrichs. Als Textstrategie, die eine affektive Lektüre ermöglichen will, findet die narrativ gebrauchte Du-Anrede im zweiten Buch der Heilslehre Anwendung. Während die Geschichte von Sündenfall, Gottesrat und Menschwerdung Gottes und der Ausblick auf das Jüngste Gericht erzähltechnisch überwiegend konventionell in einer auktorialen Erzählhaltung dargestellt werden, nutzt Heinrich für die Schilderung des irdischen Lebens Jesu die Du-Erzählform. Zu Beginn des zweiten Buches erzählen rund siebenhundert Verse in Form der narrativen Du-Anrede: Unter der Rubrik In dem andern buch stet waz Got durch uns sunder erliten hat. (vor v. 1987: »Im zweiten Buch steht, was Gott wegen uns Sündern erlitten hat«) wird von Jesu Geburt, der Flucht nach Ägypten und seinem Fasten in der Wüste erzählt (vv. 1987 - 2180). Die Passage unter der Rubrik Von Jhesu ungedult und von der miltekeit siner gute. (vor vv. 2181: »Von Jesu Ungeduld und der Großzügigkeit seiner Güte«), die sich der narrativen Apostrophe bedient, behandelt Jesu Taufe durch Johannes, seine Tätigkeit als Prediger und die Sammlung der Apostel sowie Judas ’ Verrat und das letzte Abendmahl (vv. 2181 - 2432). Mit Judas ’ Verrat beschäftigen sich auch zwei Passagen, die von den Rubriken Von Judas ku ͦ sse und von sinen valschen rate. (vv. 2433 - 2454: »Von Judas ’ Kuss und seinem Verrat«) und Dez gotlichen mundes gu ᵉ te. (vv. 2455 - 2522: »Die Güte des göttlichen Mundes«) eingeleitet werden, unter der Rubrik Von der grozen smachheit. (vor v. 2523: »Von der großen Schmach«) wird schließlich von Jesu Passion erzählt (vv. 2523 - 2692). In die Erzählung fließen immer wieder Anreden an Jesus ein, die den Erzählfluss kurz unterbrechen und einem trinitarischen Gottesverständnis Vorschub leisten. Während im ersten Teil der narrativen Apostrophe Jesus allein angesprochen wird, adressiert das Sprecher-Ich in der zweiten Passage auch andere Gesprächspartner, so den Menschen im Allgemeinen, an den sich ein längerer Appell zur vergegenwärtigenden Lektüre und zur Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit richtet (vv. 2297 - 2328). In kürzeren Einschüben werden außerdem Lucifer (v. 2337) und her Judas (v. 2349) angesprochen - diese Anreden lassen sich ebenso wie diejenigen an den Rezipienten als konventionelle, das heißt nicht-narrative Apostrophen werten, die weniger erzählen als vertiefen wollen. Dass insgesamt jedoch für die Erzählung von Jesu irdischem Wirken die Erzählhaltung der narrativ gebrauchten Du-Anrede 69 Huber: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen (1988), S. 217. 70 Bernhard Sowinksis Urteil, Bibelepik habe keine unterhaltende, sondern lediglich informierende und belehrende Funktion, erweist sich angesichts von Textpassagen wie dieser als zu pauschal, vgl. Sowinski: Lehrhafte Dichtung des Mittelalters (1971), S. 4. Auch Susanne Köbele, die Registerwechsel, in denen sich »funktionale Sprechweisen« abwechseln oder zusammenklingen, als gattungstypisch ansieht, scheint dem Genre implizit durchaus unterhaltende Funktion zuzugestehen, vgl. Köbele: Wiedererzählen, bibelepisch (2017), S. 173 f. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 77 <?page no="78"?> dominiert, lässt sich als textuelles Abbild der individuellen Gottesbeziehung interpretieren, die durch Gottes Menschwerdung ermöglicht wird und in die der Rezipient mit Hilfe des Textes treten kann. 2.3.1.2 Gundacker von Judenburg, Christi Hort Obgleich weniger ausgeprägt als in der weiter ausholenden Heilslehre Gottes zukunft ist auch die um 1300 entstandene religiöse Dichtung Christi Hort deutlich heilsgeschichtlich gefärbt. 71 Das einzige Werk des steirischen Dichters Gundacker von Judenburg, einem latein- und bibelkundigen Dichter mit breiten liturgischen und theologischen Kenntnissen, ergänzt das Leben Jesu, indem es mit dem Schöpfungsbericht einen »heilsgeschichtlichen Grund [legt]« und mit der Pilatus-Veronika-Legende über den Evangelienbericht hinaus fortführt. 72 Trotz der linearen Chronologie ist das Werk in sich so heterogen gestaltet, dass die Verfasser- und Werkeinheit immer wieder angezweifelt wurde: 73 Vier Teile lassen sich ausmachen, die sich sowohl in Bezug auf ihre formale Gestaltung als auch auf ihren Inhalt stark unterscheiden. Diesen Sammelcharakter spiegelt der Titel der Dichtung, hort, wider. 74 Ein erster Teil (vv. 1 - 170) fungiert als Exposition zur Christus-Vita und erzählt in aller Kürze und in einer konventionellen auktorialen Erzählhaltung die Ereignisse der Genesis, die den Heilsplan in Gang setzen, Sündenfall, Engelssturz und Heilsratsplan. Der zweite Teil (vv. 171 - 1304) harmonisiert die Ereignisse des Neuen Testaments von Mariä Verkündigung bis zur Gefangennahme Jesu. Primäre Quelle dafür sind die kanonischen Evangelien, auf die sich Gundacker während seiner Erzählung immer wieder in Form von Einschüben wie nach der schrifte sage (Christi Hort, v. 369) oder also tu ᵉ t uns diu schrift bechant (v. 486) beruft. 75 Das irdische Leben Jesu wird - und darin ähnelt Christi Hort Heinrichs Heilslehre - in Gebetsform erzählt: Eingeleitet durch die Formel ich man dich ( › ich erinnere dich ‹ ) wird der narrative Teil in die Anredeform gebracht und mündet schließlich jeweils in eine Gebetsbitte, die Aspekte 71 Fechter: Gundacker von Judenburg (1981), Sp. 303 bzw. Huber: Gundacker von Judenburg (2009), S. 427. 72 Vgl. Fechter: Gundacker von Judenburg (1981), Sp. 303 f. 73 Werner Fechter konnte zeigen, dass Gundacker in Stil und Technik dem (spät-)höfischen Dichten verpflichtet ist und insbesondere die Dichtung Mai und Beaflor »in allen vier Teilen nachwirkt (wenn auch stoffbedingt unterschiedlich«, Fechter: Gundacker von Judenburg (1981), Sp. 305 bzw. Fechter: Gundacker von Judenburg und › Mai und Beaflor ‹ (1974), S. 202. Für Bruno Quast hingegen geht die »Suche nach der Werkeinheit des Textes«, die von einer an klassischen Maßstäben orientierten »Kohärenzerwartung« ausgegangen ist, an dem »spezifische[n] Ansinnen von Gundackers Text« vorbei. Quast plädiert dafür, dass die Brüche in Christi Hort gezielt gesetzt seien und einer eigenen Erzähllogik folgen, vgl. Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 389 f. Zuletzt plädierte auch Henrike Manuwald für die Werkeinheit von Christi Hort: Jesus und das Landrecht (2018), S. 98 - 111. 74 Betty Bushey beispielsweise übersetzt das als »aufgehäufte Kostbarkeiten«, Bushey: Das Leben Christi in Gebetsform (1984), S. 50. 75 Zuweilen finden sich auch Spuren aus der mittelalterlichen Bibelexegese, beispielsweise wenn Gundacker bei der Schilderung der Flucht nach Ägypten den kurzen Bericht des Matthäusevangeliums ergänzt, indem er Hermopolis als Aufenthaltsort der Heiligen Familie angibt, und damit seine Kenntnis der Legenda Aurea verrät, vgl. Stübiger: Untersuchungen zu Gundacker von Judenburg (1922), S. 86 f. Außerdem verrät der zweite Teil Kenntnisse der Liturgie und exegetischer Texte. Stübigers Feststellung, Gundacker habe sich an Perikopen für die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern orientiert, zweifelt Werner Fechter angesichts der Umstellungen und Kürzungen - Predigten und Gleichnisse beispielsweise werden nahezu ausnahmslos ausgespart - jedoch an, vgl. Fechter: Gundacker von Judenburg (1981), Sp. 304. 78 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="79"?> des zuvor Erzählten aufgreift. Der dritte Teil, der sich wie auch der vierte einer konventionellen Erzählhaltung bedient, wird mit einem zweiten Prolog eröffnet, der das Evangelium Nicodemi als neue Quelle benennt. Hier werden die Geschehnisse um Christi Prozess und Passion, Auferstehung, Himmelfahrt und Pfingsten erzählt. Beschlossen wird dieser Abschnitt vom Descensus-Bericht der Söhne Simeons, der den heilsgeschichtlichen Aspekt betont. Im vierten Teil, immer noch dem Evangelium Nicodemi folgend, bietet Gundacker schließlich eine ausführliche Version der Pilatus-Veronika-Legende. 76 Auch hier geben die selbstreflexiven Passagen der beiden Prologe Aufschluss über Gundackers poetologisches Programm. Der Prolog (vv. 171 - 325), der dem ersten Teil nachfolgt, ist in Gebetsform gehalten. In topischen Passagen enthüllt der Erzähler seine moralischen Defizite und gibt sich im Anschluss an seine Bitte um Heil zu erkennen: des pitte ich inerchlichen dich: nicht verwirfe, herre, mich von deinem antlûtze liecht, [ … ] mich Gundachern vil armen. von Judenburch pin ich geborn (Christi Hort, vv. 181 - 183 bzw. 188 f.) Darum bitte ich dich inständig: Vertreibe mich nicht von deinem strahlenden Angesicht, Herr, [ … ] mich, Gundacker, den Bemitleidenswerten. Ich stamme aus Judenburg. Diesen Duktus eines su ᵉ ndhafte[n] mans (v. 205: »sündigen Mannes«) behält er auch in der anschließenden Verteidigung des Werkes vor möglichen Spöttern bei. Der Stoff seines Werkes, die materi sinnereich / und so gar ernstliche (vv. 207 f.: »eine sinnenreiche und ernsthafte Materie«), bringe besondere Herausforderungen mit sich, so erfordere sie einerseits gewisse Geistesgaben, sinne (v. 199), andererseits aber auch göttlichen Beistand, genade [ … ] / unt gotlicher minne (vv. 199 f.: »göttliche Liebe und Gnade«). Vordergründiges Ziel Gundackers ist das Lob Gottes: nu tû mir deiner gnade schein, / daz ich dich loben mu ᵉ ge, / daz ez deinen eren tu ᵉ ge (vv. 248 - 250: »Offenbare mir nun deine Gnade, damit ich dich so loben kann, dass es zu deiner Ehre tauge.«). Dass das Prologgebet und die Werkbezeichnung getiht damit den göttlichen Schöpfungsakt evozieren - die Wiedererzählung der Genesis macht ausgiebig Gebrauch vom Wortfeld tihten, das leitmotivisch Gott als › Dichter ‹ beschreibt, der die Welt mit Worten formt 77 - , legitimiert das Dichten Gundackers, der kraft göttlicher auctoritas selbst zum auctor wird. 78 Der Bitte ist gleichzeitig auch das Wissen um die Heiligkeit des Evangelientexts eingeschrieben, der als »normative Maßgabe« 79 nicht angetastet werden darf und dessen erzählerische Wiedergabe als Gottesdienst verstanden wird. Im zweiten Prolog (vv. 1305 - 1326 bzw. 1367 - 1380) wird die Poetologie eines auf Wahrheit und Schriftbezug pochenden Dichtens im Dienste Gottes wieder aufgegriffen: 76 Vgl. Fechter: Gundacker von Judenburg (1981), Sp. 303 f. Zur Verarbeitung des Nicodemus-Evangeliums, das Peter Strohschneider als »Heils-Mythos« bezeichnet, siehe Hoffmann: The Gospel of Nicodemus in High German Literature of the Middle Ages (1997) bzw. Strohschneider: Höfische Textgeschichten (2014), S. 92. 77 Dieses Motiv findet sich prominent gleich zu Beginn von Christi Hort: Got geschûf unt tichte / elliu dinch von niht, / er hieze mit worten werden / paidiu himel und erden. / Got geschûf an allen orten / elliu dinch mit worten (vv. 1 - 6: »Gott erschuf und brachte alle Dinge aus nichts hervor; mit Worten ließ er sowohl Himmel als auch Erde entstehen. Überall erschuf er mit seinen Worten alle Dinge«). 78 Vgl. Kiening: Literarische Schöpfung des Mittelalters (2015), S. 30. 79 Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 390. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 79 <?page no="80"?> Normvorgabe ist mit dem Evangelium Nicodemi, das Gundacker als Augenzeugenbericht des biblischen Nicodemus heranzieht, 80 zwar kein kanonisierter Text mehr, doch der Gattungsname › Evangelium ‹ kommuniziert deutlich den »Anspruch [ … ], als Evangelium den Evangelien zur Seite gestellt zu werden«. 81 Der Vorsatz, Gott mit diesem Werk zu ehren, wird hier jedoch um eine weitere Zielsetzung ergänzt: du sagt aller erste Nichodemus wie gemartert wart Jesus, unt hiez daz schreiben ebrayschen an, da von wirz in latin han; von der latin han ich ez praht zetiusche in die andaht daz Got da von werde gelopt ûf der erde. (Christi Hort, vv. 1373 - 1380) Als erster berichtete Nicodemus davon, wie Jesus gemartert wurde, und ließ das auf Hebräisch niederschreiben; eine lateinische Übersetzung davon ist uns erhalten geblieben. Aus dem Lateinischen habe ich es schließlich ins Deutsche in die Form der Andacht gebracht, damit Gott dadurch auf Erden gelobt wird. Indem Gundacker die Textgenese vorstellt, beansprucht er für sein eigenes Werk Authentizität und enthüllt eine weitere Intention, nämlich die mit dem Gotteslob verknüpfte Andacht. Diese dem Text inhärente Poetik zeigt sich vor allem im zweiten Teil (v. 171 - 1304), der Erzählung und Gebet miteinander verbindet und der als manunge dem Rezipienten eine emotionalisierte Aneignung des erzählten Geschehens ermöglicht. 82 Die narrative Apostrophe ist auf diesen zweiten Teil beschränkt. 2.3.1.3 John Lydgate, The Legend of Seynt Gyle Im umfangreichen Werk des Chaucer-Schülers und Benediktinermönchs John Lydgate (um 1370 - 1451) finden sich zahlreiche Legendendichtungen, darunter auch die Legende des Heiligen Ägidius, die aufgrund ihrer formalen Gestaltung eine Sonderstellung einnimmt. Die in der Balladenstrophe verfasste Ägidius-Vita ist als »experimentierende[ … ] Legende« eine der vielen Spielarten der Lydgateschen Legendendichtungen, die bei typisch hagiographischem Inhalt in formaler Hinsicht aus dem Rahmen fällt. 83 Eingeleitet durch einen Prolog (Str. 1 - 5) erzählt die Legende das Leben des Nothelfers Ägidius (Str. 6 - 41) und mündet schließlich in Gebet und Geleitwort (Str. 42 - 45/ 46). Erzählt wird dabei unter durchgängigem Gebrauch der Anrede der zweiten Person, so dass die Grenzen zwischen den Invokationen des Prologs bzw. des Schlussgebets und der eigentlichen Erzählung verschwimmen und der Text die »Form eines erzählenden Gebets« 84 annimmt. 80 Vgl. Masser/ Siller: Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa (1987), S. 9. Damit übernimmt Gundacker die authentifizierende »Verfasser-Fiktion des Vorworts«, das die apokryphen Acta oder Gesta Pilati, ein Sammelwerk aus dem 4./ 5. Jahrhundert, dem bei Johannes genannten Nicodemus ( Jh 3,1; 7,50; 19,39) zuschreibt, vgl. Schelb: Evangelium Nicodemi (1980), Sp. 659. 81 Masser/ Siller: Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa (1987), S. 11. 82 Vgl. Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 389 f. 83 Schirmer: John Lydgate (1952), S. 148. 84 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 120. 80 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="81"?> Auch Lydgate kennzeichnet im Prolog, in Übereinstimmung mit den Konventionen der religiösen Epik, seine Legende einerseits als kommemorativen Lobpreis des Heiligen, andererseits als erbaulichen Text, der seine Leser zur kontemplativen Betrachtung anregen will: [ … ] I wolde seye, In thy Wurship compendiously to wryte, By a maner breef compylacyoun, To remember, so as I can Endyte, Thy glorious lyff, thy conversacyoun, Thorugh al the world in euery regyoun Rad and rehersid, be examples ful notable, Lyk a merour of Contemplacyoun [ … ] (Legend of Seynt Gyle, vv. 8 - 15) 85 Ich möchte dir zu Ehren in aller Kürze schreiben, in derArt einer kurzen Zusammenstellung, um, so gut ich es vermag, an dein glorreiches Leben und deinen Umgang zu erinnern, damit es, auf der ganzen Welt in jeder Gegend gelesen und nachgeahmt, als bemerkenswertes Beispiel diene, wie ein Spiegel der Kontemplation. Dieser Inszenierung als Dichter eines Erbauungstextes steht jedoch das Urteil der Forschung entgegen, Lydgate gebrauche hagiographische Dichtung als »a platform for his self-fashioning«. 86 Während nämlich Heiligenlegenden gemeinhin die Heiligkeit im Narrativ entfalten und letztlich auch erzeugen, 87 sind Lydgates Legenden statisch. 88 Sie präsentieren sich als »already finished portrait[s]«, 89 die aus einer außerpoetisch funktionalisierten Gattung ein selbstreferenzielles Kunstwerk machen. Die narrative Apostrophe entbehrt bei Lydgate der nähestiftenden Züge, wie sie beispielsweise bei Heinrich von Neustadt oder Gundacker von Judenburg zu finden sind. Die Erzählhaltung scheint hier weniger affizierende Strategie als vielmehr artifizielles Experiment zu sein. 2.3.2 Gebet Unter den verschiedenen Formen des Religiösen bzw. der religiösen Rede ist das Gebet die grundlegende. 90 Als »pragmatische Textsorte« 91 hat es einen festen Platz im Leben bzw. der 85 Lydgates Legend of Seynt Gyle wird hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Henry Noble MacCracken: John Lydgate: The minor poems of John Lydgate. London: Oxford Univ. Pr. 1962. 86 Contzen: Narrating vernacular sanctity (2015), S. 175. Monika Fluderniks Einschätzung, dass die Vermischung von Gebet und Erzählung in Lydgates Ägidiuslegende »as a strategy of meditation« zu verstehen sei, ist meines Erachtens nicht zuzustimmen, fehlen ihr doch trotz der formalen Strukturgleichheit mit meditativen Texten andere essenzielle Strategien der Nähesprachlichkeit, vgl. Fludernik: Second-Person Narrative and Related Issues (1994), S. 296. 87 Vgl. Contzen: Narrating vernacular sanctity (2015), S. 173 - 175. 88 Zur Statik von Legenden im Allgemeinen siehe Bleumer: › Historische Narratologie ‹ ? (2015), S. 238 - 245. 89 Contzen: Narrating vernacular sanctity (2015), S. 174. 90 Vgl. Goldammer: Formenwelt des Religiösen (1960) bzw. Arens: Religiöse Sprache und Rede von Gott (2009), S. 48. Für Edmund Arens stehen Religion und Sprache in engem Zusammenhang, die zentralen Sprechakte des Religiösen benennt er als Beten, Verkündigen, Bezeugen und Bekennen, vgl. ebd. S. 49 - 51. 91 Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch (2013), S. 125. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 81 <?page no="82"?> Kultpraxis und gehört zu den wesentlichen »heilsnotwendigen Vollzüge[n] des christlichen Lebens«. 92 Verstanden als »Ausdruck menschlicher Zuwendung zur Gottheit« 93 sind zwei grundsätzliche Ausrichtungen des Gebets denkbar: Als »kontemplative und meditative Konsonanz« thematisiert der Betende zum einen das eigene Selbst, zum anderen fungiert der Gebetsakt auch als »Zwiesprache mit Gott«. In diesem Fall - der wohl eher dem mittelalterlichen Verständnis entspricht - wird Gott nicht als »transpersonale Entität«, sondern als konkretes personales Gegenüber wahrgenommen, an das ein konativer Sprechakt bzw. eine Sprechaktsequenz adressiert ist. 94 Als Medien der Kommunikation erlauben Gebete es, »die Distanz zwischen Immanenz und Transzendenz zu überwinden und in Kontakt mit Gott zu treten«. 95 Trotz dieses ausgeprägten kommunikativen Moments stellt die Gattung einen »kommunikativen Sonderfall« 96 dar, dessen Grundsituation asymmetrisch ist. Zwar zielt Beten auf ein Gegenüber und ist in funktionaler Hinsicht dialogisch. Ein echter Dialog, ein »Gespräch von Subjekt zu Subjekt« findet jedoch nicht statt und auch das Kriterium des Sprecherwechsels ist nicht erfüllt; formal betrachtet ist Beten also monologisch 97 und bleibt ein »hypothetisches Zwiegespräch«. 98 Auch der mittelalterliche Diskurs über die Gebetspraxis versteht Beten in erster Linie als »Kommunikationsakt«. 99 Primärer Bezugspunkt sind die Schriften der Kirchenväter. Nach Augustinus etwa bietet das Gebet dem Gläubigen die Möglichkeit, auf Gottes Ansprache durch die Schrift zu reagieren - über Bibellektüre und Gebet entspinnt sich so ein Dialog zwischen Transzendenz und Immanenz: oratio tua locutio est ad deum; quando legis, deus tibi loquitur; quando oras deo loqueris (Augustinus, Enarrationes in Psalmos LI-C; CCSL 39, Sp. 1181: »Dein Gebet ist eine Rede zu Gott; wenn du liest, spricht Gott mit dir; wenn du betest, sprichst du zu Gott«). Auch Isidor von Sevilla macht im dritten Buch des Liber Sententiarum das dialogische Wechselspiel von lectio und oratio zum Bezugspunkt: Qui vult cum Deo semper esse, frequenter debet orare, frequenter et legere. Nam cum oramus, cum Deo ipsi loquimur; cum vero legimus, Deus nobiscum loquitur (Isidor, Patrologia Latina 83, Sp. 679: 92 Wulf: Gebet (1962), S. 424 bzw. Ratschow: Gebet (1984), S. 31. Ähnlich bezeichnet auch G. Frei das Gebet als »wesentlichen Heilsakt«, vgl. Frei: Gebet (1960: 542). Die religionsübergreifende Bedeutung des Gebets betonen Andreas Renz, Hansjörg Schmid und Jutta Sperber, wenn sie das Gebet in der »Mitte jeglicher Theologie und religiöser Praxis« ansiedeln, Renz/ Schmid/ Sperber: Menschliche Hinwendung zu Gott (2006), S. 238. 93 Vgl. Ratschow: Gebet (1984), S. 31 bzw. Ochsenbein: Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400 (1988), S. 398. 94 Zu den beiden »Verstehensweisen des Gebets« siehe Bernhardt: Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets (2006), S. 103 f. Zur konativen Funktion des Gebets Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), S. 103. 95 Thali: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur (2009), S. 241. 96 Becker: Gesprochenes Niederdeutsch um 1500 (2016), S. 140 bzw. 157. 97 Hagby/ Hüpper: Gebete als dialogische Rede (2012), S. 191 f. bzw. Bernhardt: Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets (2006), S. 105. 98 Goldammer: Formenwelt des Religiösen (1960), S. 236. Nichtsdestoweniger bleibt dem Gläubigen nichts anderes übrig als sich der Transzendenz dialogisch anzunähern, vgl. Miedema/ Schrott/ Unzeitig: Einleitung (2012), S. 5. 99 Obermann: Überlegungen zur (Für-)Bitte als Inanspruchnahme Gottes aus biblischer Sicht (2006), S. 87. 82 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="83"?> »Wer immer mit Gott sein will, muss häufig beten, häufig auch lesen. Denn wenn wir beten, sprechen wir mit Gott selbst; wenn wir aber lesen, so spricht Gott mit uns«). 100 Als »Medium der Kontaktaufnahme mit Gott« 101 ist das Gebet eine hochgradig performative Text-sorte. Während konstative, das heißt beschreibende Sprechakte lediglich Aussagen treffen, gehen performative Sprechakte einen Schritt weiter: »Beim Prozess des Lesens bzw. Sprechens des Textes vollzieht sich das Gebet«, 102 wird durch Sprache gehandelt. 103 Den Gebeten wohnt also eine Wirkungsästhetik eines »Sagen[s] als Tun« inne, sie besitzen eine ausgeprägte »literarische Performativität«. 104 Inhalte und Ausprägungen sind höchst unterschiedlich und spiegeln das gesamte Spektrum möglicher Affekte beim Gläubigen wider. Die drei Grundkategorien des Gebets, die in den biblischen Texten bereits angelegt sind, insgesamt jedoch selten idealtypisch auftreten, sind Bitt- und Dankgebete sowie Lobpreis. 105 Eine Klassifikation nach phänomenologischen Gesichtspunkten wie Form und Stil ist ebenfalls möglich, so unterscheiden Religions- und Sprachwissenschaftler zwischen dem Gebet in Gemeinschaft und im Privaten, zwischen eher »intellektuell und affektiv betonte[m] Gebet« oder zwischen spontan freiem und gebundenem bzw. geformtem Beten. 106 Was macht das Gebet angesichts dieser »Mannigfaltigkeit der Gebetsarten« 107 überhaupt zum Gebet? Gebete wollen zunächst als »Wirklichkeitserzählungen« 108 verstanden werden. › Erzählung ‹ meint dabei jedoch noch nicht Narrativität in einem narratologischen Sinn. Auch solche Gebete können als »Wirklichkeitserzählungen« bezeichnet werden, die weder einem sequenzialistischem Erzählbegriff noch anderen Konzepten von Narrativität entsprechen. Vielmehr geht es um den jeweiligen Geltungsanspruch: Gebete treffen Aussagen über Ansprechenden und Angesprochenen, nehmen Bezug auf die Lebenswelt des Sprechenden und bringen »Sein und Eigenschaften des › intendierten Hörers ‹ « zur Sprache. 109 Trotz der Variationsbreite, die sich nicht zuletzt aus dem produktiven Spannungsverhältnis von tradierter Form und je neuer Ausgestaltung, von schriftlicher und 100 Thali: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur (2009), S. 242 bzw. Thali: Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen Frömmigkeitskultur (2010), S. 430. 101 Thali: Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen Frömmigkeitskultur (2010), S. 454. Als solches zählt das Gebet neben Lobpreis, Dank, Segens- und Weiheworten sowie Bekenntnissen zu den anabatischen Sprechhandlungen, wobei anabatische und katabatische Akte (zum Beispiel Proklamation und Prophetie) häufig miteinander verklammert sind, vgl. Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), S. 103. 102 Thali: Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen Frömmigkeitskultur (2010), S. 430. Eduard Arens bezeichnet das als »performativ-propositionale Doppelstruktur«, Arens: Religiöse Sprache und Rede vor Gott (2009), S. 43. 103 Bezeichnenderweise illustriert John Langshaw Austin Sprachhandlungen als »sprachliche[ … ] Äußerungen, die den durch sie bezeichneten Sachverhalt wirksam hervorbringen« anhand des sakramentalen Worts, vgl. Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 18. 104 Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 17 - 19. Ausführlich dazu Kapitel 3.2.3.3. 105 Lutz: Rhetorica Divina (1984), S. 109 f. 106 Vgl. Frei: Gebet (1960), S. 545 f. Zur Unterscheidung zwischen Privat- und Gemeinschaftsgebet, siehe Ochsenbein: Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form (1997), S. 138 bzw. Heiler: Erscheinungsformen und Wesen der Religion (1961), S. 331. 107 Frei: Gebet (1960), S. 545. 108 Klein/ Martínez: Wirklichkeitserzählungen (2009), S. 1. 109 Mauz: In Gottesgeschichten verstrickt (2009), S. 203. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 83 <?page no="84"?> mündlicher Praxis ergibt, lässt sich außerdem eine idealtypische »sprachliche Form« 110 ausmachen. Konstitutiv ist dabei die Trias von invocatio bzw. Anrufung, Gebetsnarratio (meist als Lobpreis oder captatio benevolentiae), und der Bitte als dem eigentlichen Kernstück des Gebets. Alle drei Bestandteile des Gebets übernehmen dabei spezifische kommunikative Funktionen. Die Anrede bzw. acclamatio nominis begründet die Kommunikationssituation, indem sie die Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen kodiert. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Gottesnamen zu, der nicht nur die beschwörende Macht einer Epiklese besitzt, sondern überdies an eine bestimmte Eigenschaft des Angesprochenen appelliert und diesen auf ein entsprechendes Handlungsprogramm zu verpflichten sucht. 111 Als »Akt des Erinnerns und Akt der aktuellen Begegnung« 112 entfaltet die Anrufung obendrein auch für den Sprechenden identitätsstiftende Funktion: 113 Indem sie den Gegrüßten auf eine bestimmte Art und Weise identifiziert, versichert sich der Anrufende, dass sein Gegenüber der gleiche ist, den er in früheren Begegnungen kennengelernt hat. In der Anredesituation wird also »das Identische in der Differenz von Begegnungssituationen« greifbar, gleichzeitig gewinnt das anrufende › Ich ‹ in der Begegnung mit dem Angesprochenen neue Kontur - »der [ … ] Gebrauch von Grußformeln und Namensnennungen definiert in besonderer Weise das Rollenspiel zwischen dem Grüßenden [und] dem Gegrüßten«. 114 In unterschiedlichem Umfang sind heilsgeschichtliche Erzählungen eingewoben, die das performative Potenzial des Gebets entfalten. Indem an frühere Heilstaten des Angerufenen erinnert wird, werden neue angeregt. Sie korrespondieren mit dem Erzählten und finden ihren expliziten Niederschlag schließlich in der Gebetsbitte. 115 In Gebete eingelassene Erzählungen übernehmen sowohl die »Organisation der Vergangenheit im Blick auf die Gegenwart« als auch »die Organisation der Gegenwart im Blick auf die Vergangenheit«, verflechten die Geschichte des Betenden mit der Heilsgeschichte. 116 Der dialogische Charakter des Gebets bedingt den durchgängigen Gebrauch der Anredeform. Gebete beinhalten schon allein aufgrund des ausgiebigen Gebrauchs von Namensnennungen und Anrufungen ein narratives Moment, da der jeweilige Name als Kurzformel die entsprechenden heilsgeschichtlichen Ereignisse evoziert. Dieses narrative Moment wird zuweilen derartig ausgedehnt, dass die konventionelle Du-Anrede in die Form der narrativen Apostrophe übergeht. Hier lassen sich Verbindungslinien zwischen der narrativen Apostrophe in Gebeten und der (weitgehend lateinischen) Hymnentradition beobachten, die seit dem frühen Christentum als laus Dei in cantico im Gottesdienst, später 110 Vgl. Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), S. 103 f. bzw. Unzeitig: Göttlich autorisiertes Sprechen (2012), S. 223. Einfluss auf die Ausbildung einer verbindlichen Gebetsstruktur im Mittelalter haben, wie Ruth Wiederkehr aufzeigt, vor allem die Gebetsrhetoriken des Origenes und des Wilhelm von Auvergne, vgl. Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch (2013), S. 126. 111 Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 105 - 110. Nach Richard Schaeffler wurzeln Gottesbegriffe in nahezu allen Religionen in den Namen der Anrufung, vgl. Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 25. Zur Funktion des Gottesnamens siehe Heiler: Erscheinungsformen und Wesen der Religion (1961), S. 275 f. 112 Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 21. 113 Vgl. Breitenstein/ Schmidt: Einleitung: Medialität und Praxis des Gebets (2019), S. 275. 114 Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 110 bzw. 119. 115 Vgl. Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), S. 113 f. 116 Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 51. 84 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="85"?> dann auch im monastischen Gebet verankert war. 117 Prägend für die lateinisch-christliche Gattungstradition wirkte hier Ambrosius, 118 der sein Hymnenkorpus am Beispiel der biblischen Hymnen wie beispielsweise des Magnificat im Neuen Testament modellierte. 119 Bei einem strengen formalen Aufbau 120 und einem festen Motivrepertoire, das immer wieder um zeittypische Züge erweitert wird, ist die Apostrophe das zentrale Charakteristikum des Hymnus, wie beispielsweise die erste Strophe des Marienhymnus Gaude, Maria des Notker Balbulus zeigt: 121 Gaude, Maria, Virgo dei genitrix, Quæ promissis Gabrihelis Spe devota credidisti. 122 Freue dich, Maria, jungfräuliche Gottesgebärerin, die du den Verheißungen Gabriels in Hoffnung und ergeben vertraut hast. Der verstärkte Einsatz des Hymnus in Liturgie und Stundengebet legt nahe, dass diese Gattung auch für die volkssprachliche Gebetsliteratur vorbildhaft war. Aufgrund ihrer Funktionalisierung als Medium für die intime Kommunikation zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott bzw. dem Heiligen geht diese Erzählhaltung in Gebeten noch stärker als im gemeinschaftlich gesungenen Hymnus mit Strategien der Nähesprachlichkeit und Präsenzstiftung einher. Da die Verwendung der narrativen Apostrophe in Gebeten relativ häufig ist, haben die beiden hier untersuchten Gebetstexte, das Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth und das Gebet zum heiligen Christophorus, exemplarische Funktion. Sie wurden zum einen deshalb ausgewählt, weil sie die narrative Apostrophe - im Gegensatz zu vielen anderen Gebetstexten, in denen sich narrative Apostrophe und eine konventionelle Anredehaltung abwechseln - durchgängig gebrauchen. Zum anderen sind sie vom Umfang her höchst unterschiedlich - das Christophorus-Gebet umfasst gerade 117 Verse, während das Elisabethgebet sich auf mehreren Dutzend Manuskriptseiten ausbreitet, so dass ein Vergleich zwischen einer extrem verdichteten Form der narrativen Apostrophe und einer weniger komprimierten Variante möglich wird. Das Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth ist außerdem insofern ein lohnender Untersuchungsgegenstand, als hier die auch in Christi Hort gebrauchte ich man dich-Formel in ihrem genuinen Kontext verwendet wird. 2.3.2.1 Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth (Klemm-Sammlung I,104) Das Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth ist Teil einer Sammelhandschrift (Leipzig, Klemm Sammlung I,104), die 1481 im Freiburger Klarissenkloster entstand und eine Reihe von Texten über die 1235 heiliggesprochene Elisabeth von Thüringen (1207 - 1231) enthält. 117 Vgl. Walsh/ Hannick: › Hymnen ‹ (1986), S. 766. 118 Dass die Benediktsregel (c. 9, 12,17) dazu aufforderte, zu den einzelnen Horen einen Hymnus zu singen - die Benediktsregel spricht von einem ambrosianum - trug neben dem poetischen Rang der Hymnen erheblich zur Verbreitung der Gattung bei, vgl. Bernt: › Hymnen, Hymnographie, I. Lateinisches Mittelalter ‹ (1991), Sp. 245. 119 Vgl. Hannick: › Hymnen, Hymnographie, II. Byz. und altkirchenslavische Literatur ‹ (1991), S. 246. 120 Bernt: › Hymnen, Hymnographie, I. Lateinisches Mittelalter ‹ (1991) Sp. 245. 121 Zu Notker I. von St. Gallen und seinem Liber Ymnorum siehe Haefele: Notker I. von St. Gallen (1987). 122 Zit. n. Steinen: Notker der Dichter und seine geistige Welt (1948), S. 20 f. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 85 <?page no="86"?> Neben einigen Gebeten an und über die Heilige beinhaltet der auf Papier und Pergament verfasste Kodex, der von einer sich selbst als Elisabeth Schriberin bezeichnenden Klarisse niedergeschrieben wurde, eine frühneuhochdeutsche Übersetzung der Elisabeth-Vita Dietrichs von Apolda. Daneben sind weitere hagiographische Texte über heiliggesprochene Mitglieder der Familie Elisabeths enthalten. 123 Mit seinem kompendienhaften Charakter repräsentiert die Sammelhandschrift die Vielfalt der auf Elisabeth folgenden Legendentradition. 124 Die Handschrift ist für den Gebrauch einer weiblichen Rezipientin bestimmt, wie der Gebrauch weiblicher Formen und die Entstehung in einem Frauenkloster nahelegt. Wie den erzählenden religiösen Texten ist auch dem Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth (fol. 209 r - 259 v ) nicht nur eine hymnenartige Anrufung der Heiligen (4b - 6a) vorangestellt, sondern auch eine vor rede von den gebett der wir digen himmel fürstin Sanct Elysabethen (1 - 4a, hier 1: »die Vorrede des Gebets der ehrwürdigen Himmelsfürstin Sankt Elisabeth«). Diese Vorrede entfaltet das poetologische Programm des Gebets und leitet die Leserin zur richtigen Lektüre an. Sie setzt mit einer Verfasserangabe ein, die ein[en] selige[n] wöl gelerte[n] vatter kartuser ordens (1: »einen seligen gebildeten Vater aus dem Kartäuserorden«) als Autor des Gebets benennt. 125 Entscheidend für den Geltungsanspruch des Gebetstexts ist die Stilisierung des Autors als litteratus, als gelehrt und theologiekundig. Sie begründet auch die Genese des Textes: Der namenlos bleibende Kartäusermönch habe nämlich das heilige[ … ] leben der seligen fröwen und muter Sanct Elysabeth (1: »das heilige Leben der seligen Dame und Mutter Sankt Elisabeth«) aus dem Lateinischen übertragen und dabei nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine generische Transformation vorgenommen, indem er die Vita in ein an dechtig gebett gemacht und gesetzd (1: »in die Form eines andächtigen Gebets brachte«). In diesem Zusammenhang kommt die Vorrede auch auf die bereits existierende Tradition des Elisabethstoffs zu sprechen: vil und manigerley lobliches (2: »viel und vielerlei Lobenswertes«) sei bereits über die Heilige geschrieben worden, das on zwifel warlich und luter beschriben (2: »ohne Zweifel ehrlich und wahrhaftig beschrieben«) sei. Trotz der Zuverlässigkeit dieser Legendentradition betont die Vorrede, dass dis gegenwirtig gebet [ … ] nit von dem gemeinem lesen genomen [ist] (2: »dieses folgende Gebet wurde nicht der bekannten Lektüre entnommen«), womit die Elisabeth-Vita Dietrichs von Apolda gemeint sein dürfte, die Ende 123 Zugrunde liegt hierbei die Vorstellung einer »saintité dynastique«, vgl. Backes/ Fleith: Eine Heilige für Alle? (2008), S. 265. Für eine Übersicht über die in der Handschrift überlieferten Texte siehe den Eintrag im Handschriftencensus, vgl. Ulrike Bodemann: Leipzig, Deutsches Buch- und Schriftmuseum, Klemm-Sammlung Nr. I, 104, 2015, unter www.handschriftencensus.de/ 12884 [zuletzt aufgerufen am 19.06.2017]. 124 Vgl. Honemann: Die »Vita Sanctae Elisabeth« des Dietrich von Apolda und die deutschsprachigen »Elisabethleben« des Mittelalters (2007), S. 421. 125 Ob sich hinter diesem der Humanist Gregor Reisch verbirgt, wie Werner Heiland-Justi vermutet, ist fraglich. Dass Gregor Reisch der Verfasser des Gebets gewesen sein könnte, ergibt sich für ihn daraus, dass im Abschnitt Von irer grossen senftmütikeit Betrachtungen über das Laster des Zorns angestellt werden, die keine Vorlage im Libellus haben und die ihn an die Margarita philosophica des Gregor Reisch denken lassen. Problematisch ist diese Identifikation jedoch insofern, als Reisch erst 1467 geboren wurde und zum Zeitpunkt der Niederschrift der Handschrift erst 14 Jahre alt gewesen sein müsste. Heiland-Justi mutmaßt, dass Reisch früher als gedacht geboren sein könnte, dass das Gebet, das auf einer neuen Lage beginnt, erst nachträglich mit den anderen Texten zusammengebunden wurde, oder dass vielleicht doch ein anderer Autor Verfasser des Elisabethgebets sein muss, vgl. Heiland-Justi: Elisabeth: Königstochter von Ungarn, Landgräfin von Thüringen und Heilige (2007), S. 34 - 36. 86 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="87"?> des 13. Jahrhunderts entstand und weite Verbreitung fand. 126 Die Vorrede pocht auf ihre Unabhängigkeit von dieser potenziellen Quelle und beruft sich stattdessen auf offizielle Dokumente, die im Zuge des Kanonisierungsverfahren angefertigt wurden: urkunden und kuntschaften der gezugen die in dem dem[sic] werk der erhabung dieser aller seligesten fröwen vor unserem aller heiligesten vatter dem Bobst und der samnung der aller Erwürdigsten Herren der Cardinalen bi irem eyde dar geleit hand als von dem gelöbhafftigen oder gewissen der woren hystorien halb zu sammen gelesen. (2 f.) Urkunden und Berichte der Zeugen, die während der Heiligsprechung dieser allerseligsten Dame, die vor unserm allerheiligsten Vater, dem Papst, und der Versammlung aller ehrwürdigen Herren Kardinäle von den Zeugen unter Eid vorgelegt wurden, wie sie nach bestem Wissen und Gewissen zum Zweck einer authentischen Historie zusammengetragen wurden. Die Akten des Heiligsprechungsverfahrens sind zum einen die Summa Vitae des Konrad von Marburgs (1231/ 32), zum anderen der Libellus de dictis quatuor ancillarum confectus (1234/ 35), der die Protokolle der Zeugenaussagen der Vertrauten Elisabeths beinhaltet - Quellen also, auf denen auch die bald darauf einsetzende Textproduktion im »Medium volkssprachlicher Schriftlichkeit« 127 fußt. Sowohl die Inszenierung des Autors als Mitglied der klerikalen Schriftkultur als auch seine Beteuerungen, sich auf verlässliche Quellen zu stützen, begründen den Anspruch auf Faktizität. Indem die Vorrede von einem Prozess des zusammen [ … ]lesen der urkunden und kuntschaften spricht, impliziert sie eine ausführliche Quellenkritik, in deren Rahmen die Inhalte evaluiert und Lücken durch den Rückgriff auf andere Quellen geschlossen wurden. Ergebnis dieser Arbeitsleistung ist, wie die Vorrede selbstbewusst verkündet, eine wore[ … ] hystorie[ … ] (3: »wahre Geschichte«). Nicht zufällig übernimmt diese Selbstbezeichnung das lateinische historia als Lehnwort, das mit »[G]eschichtserzählung, [B]ericht«, zuweilen auch mit »[G]eschichtsbuch« übersetzt wird. 128 Denn in den mittellateinischen Poetiken, die, vermittelt über Isidor von Sevilla, auf Cicero und Quintilian zurückgehen, steht der Begriff historia auf einer »Skala der Wahrscheinlichkeit« für all diejenigen Ereignisse, die im Gegensatz zu fabula (Ereignisse, die weder geschehen sind noch geschehen können) 126 Sie gilt als erster »Versuch, die verstreute, bislang literarisch nur wenig gestaltete Überlieferung zur Heiligen Elisabeth auf möglichst breiter Grundlage zu einer Darstellung des Lebens dieser berühmten Heiligen zu vereinen, die inhaltlich und formal der Bedeutung ihres Kultes angemessen war«, Honemann: Die »Vita Sanctae Elisabeth« des Dietrich von Apolda und die deutschsprachigen »Elisabethleben« des Mittelalters (2007), S. 422. 127 Backes/ Fleith: Eine Heilige für alle? (2007), S. 252 bzw. Schmidt: Die zeitgenössische Überlieferung zum Leben und zur Heiligsprechung der heiligen Elisabeth (1981), S. 1 - 3. Dass der Libellus prägend für die »Ausformung des Gedächtnisses Elisabeths« sei, betont Lothar Vogel: Der Libellus der vier Dienerinnen (2008), S. 172. Zur umfangreichen Elisabeth-Literatur siehe auch Honemann: Die »Vita Sanctae Elisabeth des Dietrich von Apolda und die deutschsprachigen »Elisabethleben« des Mittelalters (2007), Lomnitzer: Zu deutschen und niederländischen Übersetzungen der Elisabeth-Vita Dietrichs von Apolda (1970), Ders.: Die heilige Elisabeth in deutschen Prosalegendaren des ausgehenden Mittelalters (1983). Dass das Gebet entgegen der Beteuerung seines Verfassers nicht ausschließlich auf die offiziellen Dokumente, sondern auch auf die Vita Dietrichs von Apolda zurückgegriffen haben muss, legt Werner Heiland-Justi nahe, der die Episodenstruktur der Elisabeth-Vita im Gebet, im Libellus und bei Dietrich von Apolda vergleicht, vgl. Heiland-Justi: Elisabeth, Königstochter von Ungarn, Landgräfin von Thüringen (2007), S. 66 f. 128 Vgl. FWB s. v. › geschichtbuch ‹ . 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 87 <?page no="88"?> oder argumentum (Ereignisse, die zwar nicht stattgefunden haben, sich aber hätten ereignen können) die höchste Form der Wirklichkeitsreferenz besitzen. 129 Der Anspruch auf Faktizität, der durch die quasihistoriographische Arbeitsweise und die Quellenberufung geäußert wird, begründet die Wirkungsabsicht des Gebets. Denn Thema ist das mustergültige Verhalten der Heiligen, das der Rezipientin als edle[s] exempel aller tugenden (1: »edles Beispiel aller Tugenden«) zur Nachahmung anempfohlen wird. Wie Gundacker von Judenburg und Heinrich von Neustadt macht es sich auch der anonyme Autor des Elisabethgebets zur Aufgabe, einen lateinischen Text in die Volkssprache zu übertragen und damit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Neben der Laienbildung verfolgt das Gebet aber auch noch ein anderes Ziel, das in Form eines Appells an die jeweilige Rezipientin offengelegt wird: Dorumb ein ieglicher mensch der do tugend suchet ere und lise stetiklich in disem leben den buch daz dir diese fröw der tugenden gezeichnet hett. Und umb daz du das gelesen hast nit versumest so volgen in nach mit den werken und habe diese aller durchluchtigste meisterin der tugenden und die aller seligeste fröwe Elysabeth alle zit in wirdigen eren. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 3b - 41) Darum soll ein jeder Mensch, der nach Tugend strebt, [die Heilige] ehren und immerfort in diesem Heiligenleben das › Buch ‹ lesen, das dir diese Herrin der Tugenden bereitgestellt hat. Und wenn du das gelesen hast, so versäume es nicht, diesem Vorbild mit Taten nachzufolgen, und halte diese erhabene Meisterin der Tugenden und allerseligste Herrin Elisabeth auf alle Zeit in Ehren. Vorrangiges Ziel ist neben dem Lobpreis der Heiligen, der am Ende der Vorrede anklingt, die moralische Belehrung der Leserin. Die Vorbildhaftigkeit der Heiligen soll die Leserschaft zur Nachahmung anregen und »das Erkennen der religiösen Botschaft« von der Allmacht Gottes erleichtern. 130 Die Heiligenbiographie setzt den Fokus auf die Tugendhaftigkeit Elisabeths, deren Leben von früher Kindheit über die Zäsur des Todes ihres Ehemanns bis hin zu ihrem eigenen, von allerlei Mirakeln begleiteten Sterben erzählt wird. Die Linearität der Chronologie bietet jedoch lediglich den großen Rahmen, erzählt wird nach thematischen Gesichtspunkten: Unter Rubriken wie Von irem andechtigen gebett (10: »Von ihrem andächtigen Gebet«) oder Von irer willigen armut (42: »Von ihrer freiwilligen Armut«) werden einzelne Ereignisse, feste Charakterzüge und Gewohnheiten nach Tugenden gegliedert erzählt, iteratives und singulatives Erzählen ebenso miteinander verflochten wie chronologisches und thematisches. Die narrative Apostrophe ergibt sich hier aus der Gebetssituation, die mit der Gattungsbezeichnung gebett in der Vorrede beschworen wird und über den umfangreichen Text hinweg durch Anrufungen und Bitten ebenso präsent gehalten wird. Auch der Gebrauch der ich man dich-Formel, die die Lebensbeschreibung eröffnet, erinnert an die Gebetspraxis: O aller millteste fröw [ … ] ich din armes unwirdiges dirnli beruff dir wider in din gedechtnisse [ … ] (6 f.: »Oh allergütigste Herrin [ … ], ich, deine arme unwürdige Dienerin, erinnere dich daran [ … ]«). Mit Ausnahme der Leseranrede der Vorrede und der Apostrophe an die Tugenden Demut und Liebe im vorletzten Kapitel beziehen sich alle Formen der zweiten Person auf die Heilige. Angerufen wird diese von einem Sprecher-Ich, das die kollektive 129 Vgl. Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 410 f. bzw. dies.: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 182. Zur Trias von historia, fabula und argumentum siehe auch Kapitel 2.2.2.1. 130 Rener: The Making of a Saint (2008), S. 197. 88 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="89"?> Identität des Klarissenordens widerspiegelt. 131 Dass die Gebetsbitten trotz der Selbstanklagen und -bezichtigungen, die das › Ich ‹ ausspricht, ein vertrauensvolles Verhältnis vorformulieren, entspringt der Funktion des Gebets als Kontakt- und Kommunikationsmedium. 2.3.2.2 Gebet zum heiligen Christophorus (Hermetschwiler Gebetbuch, Cod. char. 208, 29v - 32v) Das Gebet zum heiligen Christophorus ist Teil des heterogenen Hermetschwiler Gebetbuchs, das Anfang des 15. Jahrhunderts im Kloster Hermetschwil im Kanton Aargau entstand. Das Kompendium ist gleichermaßen zur Verwendung in Liturgie und zum Privatgebet angelegt und enthält zudem auch Segenssprüche und Texte zur erbaulichen Lektüre. Damit ist es typisch für solche Gebrauchstexte, die in Frauenklöstern verwendet wurden. Weibliche Formen für die Position des Gebets-Ichs machen auch hier eine weibliche Rezipientin oder Besitzerin wahrscheinlich, 132 das Gebetbuch fungierte wohl als »Alltagsbegleiter einer Nonne im späten Mittelalter«. 133 Das in Paarreimen verfasste Gebet zum heiligen Christophorus, das mit einer Reihe von anderen kürzeren Gebeten zur dritten Lage des Gebetbuches gehört, 134 weist die gebetstypische Dreiteilung auf: invocatio (vv. 1 - 3), narratio (vv. 4 - 113), die eine Quellenberufung sowie eine Reflexion über die Wirkmächtigkeit des Heiligen beinhaltet, sowie peroratio (vv. 114 - 117). Vorlage für die Erzählung vom Leben des Christophorus, einem Märtyrer des 3. bzw. 4. Jahrhunderts und einem der vierzehn Nothelfer, ist die Legenda Aurea: Aus dieser Legendensammlung stammen beispielsweise die Berufungen auf den Heiligen Ambrosius als Quelle - Der hoche Ambrosius / lobet dich in siner geschrifft allsus / von den wundern, die du hast getan. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 95 - 97: »Der ehrwürdige Ambrosius preist dich in seiner Schrift wegen der Wunder, die du bewirkt hast«) 135 - sowie die Namen, die der Heilige vor und nach seinem Bekehrungserlebnis trägt. Der Gebrauch der narrativen Apostrophe ergibt sich ebenfalls aus der Anredehaltung des Gebets, das jedoch aufgrund seines ausgedehnten narrativen Kerns (wie auch das Elisabethgebet) eher ein Heiligenleben in Gebetsform ist. Die dem Gebet zugrundeliegende Dialogizität wird in die narratio übernommen, die nun gleichzeitig anspricht und erzählt. Diese in das Gebet integrierte Erzählung erfüllt jedoch nicht nur eine doxologische, also preisende Funktion, die in der Absichtserklärung der invocatio anklingt: mit lob ich dinen nam ere (Gebet zum heiligen Christophorus, v. 2: »Indem ich dich preise, ehre ich deinen Namen«). Vielmehr dient sie auch dazu, das performative Potenzial des Gebets zur Entfaltung zu bringen: Indem die Heiligkeit konstituierenden Ereignisse im Leben des Christophorus auserzählt werden, wird der Heilige auf das Handlungsprogramm des 131 Vgl. Backes/ Fleith: Zur Funktion von Heiligenviten in Text und Bild (2007), S. 165. 132 Vgl. Wiederkehr: Fürbitterin, Gnadenmutter und Belehrende (2017), S. 90. 133 Vgl. Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch (2013), S. 5 f. Ob das Gebetbuch Produkt einer »weiblichen Autorschaft« oder Schreibtätigkeit ist, lässt sich nach Ruth Wiederkehr nicht mit absoluter Sicherheit beweisen. 134 Bevor das Gebetbuch schließlich in seiner endgültigen Form gebunden wurde, scheinen die einzelnen Lagen separat als »Kurzgebetbücher« gebraucht worden zu sein, vgl. Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch (2013), S. 252. 135 Das Christophorusgebet wird hier und im Folgenden zitiert nach der Edition von Ruth Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch (2013). 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 89 <?page no="90"?> Nothelfers verpflichtet, der qua seines eigenen Martyriums zum Fürsprecher des Betenden wird. 2.3.3 Erbauungsliteratur Obwohl das erbauliche Schrifttum den größten Teil der überlieferten Handschriften insbesondere des späten Mittelalters ausmacht, 136 bereitet die Definition, was › Erbauungsliteratur ‹ überhaupt ist, Schwierigkeiten. Zunächst erschwert der hohe Grad an Unschärfe, der dem »Dach-« bzw. »Sammelbegriff« innewohnt, 137 die Beschäftigung mit dem Phänomen. Denn unter Erbauungsliteratur versteht man »ein möglichst breites Spektrum religiöser (seelsorgerischer) Gebrauchsfunktionen zwischen Heilsverkündigung, Paränese, Exegese und religiöser delectatio, mit dem übergreifenden Ziel der Konsolidierung des Glaubens«. 138 Ergänzt wird diese bewusst weite Definition um das Kriterium eines emotional-affektiven Darstellungsmodus 139 sowie einer volkssprachlichen Darstellung 140 und die Nähe zur laikal geprägten Frömmigkeitspraxis. 141 Im Gegensatz zu theologischinstitutioneller Literatur fehlen dogmatische, exegetische oder apologetische Zielsetzungen weitgehend. Die Unschärfe, die diese Art von Literatur kennzeichnet, korrespondiert auch mit der Ambiguität des theologischen Phänomens »Erbauung«, das zwischen seinem »materiell-handwerklichen Sinn« und einer »bildhaft-geistige[n] Bedeutung« changiert. 142 Während der Begriff im Alten Testament die Erbauung des »Hauses« Israels, also den Bund zwischen Gott und seinem erwählten Volk und die Errichtung der Gemeinde im ekklesiologischen Sinne meint, versteht das Neue Testament darunter auch die Erbauung des einzelnen Gläubigen und der Gesamtgemeinde. 143 Angesichts dieses weiten Gattungsbegriffs überrascht es nicht, dass Erbauungsliteratur ein breites Spektrum an Subgattungen, Themen und Ausprägungen beinhaltet. 144 Sie umfasst letztlich alle Arten von Texten, »die dem Christen zur Bekräftigung im Glauben, zur Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und zur Anleitung christlicher Lebensführung« und dem profectus spiritualis dienen. 145 Je nach dem, welche Funktionen überwiegen, wählen die Texte andere Schwerpunkte oder Strategien. Im Vordergrund steht dabei stets 136 Vgl. Schmidt: Zur deutschen Erbauungsliteratur im späten Mittelalter (1969), S. 201. 137 Vgl. Köbele: › Erbauung ‹ und darüber hinaus (2015), S. 421 bzw. Schedl/ Moser: Erbauungsliteratur (1997), S. 487. 138 Köbele: › Erbauung ‹ und darüber hinaus (2015), S. 421. 139 Vgl. Zeller: Erbauungsliteratur (2006) bzw. Köbele: › Erbauung ‹ und darüber hinaus (2015), S. 423. 140 Vgl. Mennecke-Haustein: Erbauungsliteratur (1992), S. 233 bzw. Zeller: Erbauungsliteratur (2006). 141 Vgl. Zeller: Erbauungsliteratur (2006). 142 Friedrich/ Krause: Erbauung (1982), S. 18. 143 Vgl. Mennecke-Haustein: Erbauungsliteratur (1992), S. 233. Susanne Schedl und Dietz-Rüdiger Moser weisen jedoch darauf hin, dass sich die Erbauung erst »mit Erstarken der Laienfrömmigkeit im späteren Mittelalter [ … ] überwiegend dem Einzelnen und seiner Lebensführung zuwendet«, vgl. Schedl/ Moser: Erbauungsliteratur (1997), S. 484, und damit dem heute überwiegenden Verständnis von Erbauung »als ein[em] Tun und eine[r] Haltung des Einzelnen für sich« nahekommt, vgl. Schlier/ Angermaier: Erbauung (1995), Sp. 961. 144 Nach Hans Rupprich hat das Mittelalter »fast sämtliche Formen und Gattungen der Erbauungsliteratur ausgebildet«, zit. n. Mohr: Erbauungsliteratur (1982), S. 45. 145 Schedl/ Moser: Erbauungsliteratur (1997), S. 484 bzw. Mennecke-Haustein: Erbauungsliteratur (1992), S. 234. 90 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="91"?> der Gebrauch der Texte in der wiederholten Lektüre. 146 Der Ursprung des erbaulichen Schrifttums liegt im monastischen Bereich: Spätestens mit den Bettelorden, die mit ihrem karitativen Seelsorgeauftrag in die Städte hineinwirkten, machte sich das Inspirationspotenzial, das von der Institution Kloster ausgeht, deutlich bemerkbar. Weitere Impulse erhielt die mittelalterliche Erbauungsliteratur durch die theologischen Subjektivierungstendenzen im 12. und 13. Jahrhundert, die von der bernhardinisch-franziskanischen Braut- und Passionsmystik ausgingen, sowie von den laikalen Emanzipationsbestrebungen des 14. und 15. Jahrhunderts. Diese brachten eine Literatur hervor, die dem »Bedürfnis der Laien nach Unabhängigkeit von kirchl[icher] Heilsverwaltung in Glaubenswissen u[nd] Frömmigkeit« entgegenkam. 147 Eine wichtige Rolle spielte dabei das Medium des Textes, das die Vergegenwärtigung der Heilstatsachen ermöglichte: Bei der Suche nach einem ganz »eigenen Zugang zu Gott« konnte der einzelne Gläubige den verschriftlichten Text als Anleitung und Stütze gleichermaßen gebrauchen und sich so zunehmend vom Wort als Medium einer kollektiv-kirchlichen Frömmigkeit lösen. 148 Erbauliche Schriften besitzen meist ein paradoxales Moment. Sie fungieren einerseits als Anleitung zu einer bestimmte Glaubenshaltung, andererseits als Vollzug dessen, wozu sie instruieren: Erbauung [ … ] ist seit ihren christlichen Anfängen eine zugleich theologische, frömmigkeitspraktische und wirkungsästhetische (funktionale) Kategorie [ … ]. Als methodische Gebets-Einübung sind sie [die Texte] zugleich auch Gebets-Serie, als Weganleitung zugleich Weg, als Erbauung zugleich selbst das erbaute Gebäude. 149 Dieses Grundparadoxon konstituiert Erbauungstexte in einem engeren Sinne und unterscheidet sie von solchen Texten, die - wie die oben thematisierten religiösen Erzähltexte - zwar auch erbauliche Züge besitzen, jedoch nicht unmittelbar auf einen einübenden Vollzug von Frömmigkeitshaltungen zielen. 150 Die sich selbst transgredierende Anleitung taugt als Differenzkriterium einer bestimmten Sorte von Texten, die hier als › Erbauungsliteratur ‹ begriffen werden. Thematisch und auch formal weisen diese Überschneidungen mit anderen Texten des Korpus auf, die entsprechend einer weiten Definition allesamt als erbaulich klassifiziert werden müssten: Auch sie › erzählen ‹ von biblischen Inhalten, auch sie bedienen sich der Gebetssituation. Das Spezifikum der Erbauungstexte besteht jedoch in der paratextuellen Rahmung, die den Gebetsübungen eine detaillierte › Gebrauchsanweisung ‹ beifügt und die Lektüre einem frömmigkeitspraktischen Ziel unterordnet. Die narrative Apostrophe wird in der Erbauungsliteratur vergleichsweise häufig gebraucht, da sie einerseits auf die Vergegenwärtigung eines biblischen Ereignisses, andererseits auf die affektive Nähebeziehung zwischen dem Gläubigen und dem Göttlichen zielt. Die beiden hier untersuchten erbaulichen Texte, die deutsche Fassung des Itinerarium Beatae Virginis Mariae und Bruder Bertholds Zeitglöcklein, stehen exemplarisch für eine ganze Reihe an Texten. Nicht nur aufgrund ihrer Entstehung in einem dezidiert laikalen 146 Vgl. Niekus-Moore: Erbauungsliteratur (1997), S. 121. 147 Mennecke-Haustein: Erbauungsliteratur (1992), S. 235. 148 Vgl. Mennecke-Haustein: Erbauungsliteratur (1992), S. 234. 149 Köbele: › Erbauung ‹ und darüber hinaus (2015), S. 426 bzw. 431. 150 Wolfgang Brückner unterteilt die religiöse Literatur entsprechend ihrer »Denkebenen, Vermittlungsformen und Bildungsziele«, Brückner: Thesen zur literarischen Struktur des sogenannten Erbaulichen (1985), S. 505. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 91 <?page no="92"?> Kontext, sondern auch wegen der explikativen Offenlegung ihrer Textstrategien in den Vorreden eignen sich beide Texte besonders, um die Funktionen und Kontexte der narrativ gebrauchten Du-Anrede herauszuarbeiten. 2.3.3.1 Itinerarium Beatae Virginis Mariae / Die walfart oder bylgerschafft der aller seligisten Junggfrowen Marie inhaltend alle staat jrs lebens (Basel: Ysenhut 1489) Die walfart oder bylgerschafft der aller seligisten Junggfrowen Marie inhaltend alle staat jrs lebens, so der auf der ersten Seite des Inkunabeldrucks 151 gesetzte Titel, ist von seinerAnlage und Gestalt her nur schwer zu kategorisieren. Die darin enthaltenen »Gebetsbetrachtungen über das Leben Mariens in Prosa« 152 gehen auf eine lateinische Vorlage zurück, das Itinerarium [seu peregrinatio] Beatae Virginis Mariae, die nicht viel früher entstanden sein kann als die deutsche Fassung. 153 Der hier herangezogene Druck entstammt der Basler Druckerei Lienhart Ysenhuts und ist mit zweiundfünfzig Illustrationen ausgestattet. 154 Dem Werk geht eine vored in die walfart oder bylgerung der ſ eligen jungfrowen vnd mu ͦ ter gottes Marie, uß latin zu ͦ tüct ſ cht gemacht (Itinerarium, fol. 2a: »Vorrede zur Wallfahrt oder Pilgerreise der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria, aus dem Lateinischen ins Deutsche übertragen«) voran, die als paratextuelle Rahmung den Rezipienten instruiert. Die Vorrede bezeichnet den Text als gebet (Itinerarium, fol. 2a) und erläutert die Struktur des Textes: ſ iben haupteil (Itinerarium, fol. 2a), die wiederum in je drei › Artikel ‹ unterteilt sind: Fu ͦ r baß ſ o wirt vch ein yetweder hauptteil di ſ es gebetß geteilt in dry artikel, noch dem vnd albeg ein anfang eins yetlichen teylß die mu ͦ ter gotz durch etliche bry ſ ung vnd lob ge ſ enftmu ͦ tiget vnd willig gemacht wirt vnß zu erhörn. Inmitten werden vil vnd mancherley ermanungen begrieffen, die dan in dez ſ elbigen ſ taat oder alter der iunckfrowen marie ſ in be ſ chehen. Un zu ͦ letzt ſ t werden er ſ t die obgemelten bittungen angehenckt zu ͦ gefu ͦ gt, die dan den teilen vnd materi ſ ich zinmen vnd dienen. (Itinerarium, fol. 4a) Weiterhin wird jeder Hauptteil dieses Gebets in drei Artikel unterteit, wonach immer zu Beginn eines jeden Teils die Muttergottes durch Lob und Preis sanftmütig gestimmt wird, damit sie bereit ist, uns zu erhören. Im Mittelteil werden viele verschiedene › Mahnungen ‹ an Ereignisse [im Sinne von erzählenden, vergegenwärtigenden Anreden] eingefügt, die sich im entsprechenden Stand oder Lebensalter der Jungfrau Maria ereignet haben. Und zuletzt werden erst die oben beschriebenen Bitten angehängt, die jeweils den Teilen und ihrem Inhalt entsprechen. Alle drei Artikeltypen (Lob, Ermahnung und Bitte) übernehmen bestimmte Funktionen: Das Lob erfüllt die Aufgabe einer captatio benevolentiae, mit der die Muttergottes auf ihre Rolle als Fürsprecherin und mediatrix verpflichtet wird, die › Mahnungen ‹ erzählen von den 151 Das Itinerarium wird hier und im Folgenden zitiert nach dem in der Universitätsbibliothek Freiburg aufbewahrten Inkunabeldruck aus der Basler Druckerei Lienhart Ysenhuts, 1489 (ISTIC: ii00222300 bzw. GW: 15408). Sowohl Übersetzung als auch Transkription des nicht-edierten Textes stammen von mir. Dabei wurde die Groß- und Kleinschreibung des frühneuhochdeutschen Textes beibehalten. Es wurde kein u/ v- und i/ j/ y-Ausgleich vorgenommen und keine Interpunktion eingefügt. 152 Hilg: › Itinerarium Beatae Virginis Mariae ‹ (1983), Sp. 428. 153 Hardo Hilg listet als früheste lateinische Überlieferung München, clm 4426 aus dem Jahre 1488 auf, vgl. Hilg: › Itinerarium Beatae Virginis Mariae ‹ (1983), Sp. 428. 154 Stehlin 1889, Regest Nr. 1250 und Nr. 1277, zit. n. Romy Günthart: Deutschsprachige Literatur im frühen Basler Buchdruck (2007), S. 30. 92 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="93"?> einzelnen Stationen im Leben Marias und bereiten die Gebetsbitten vor, deren Anliegen aus der Erzählung begründet wird. Aufschlussreich für die Ziele, denen sich das Werk verschreibt, sind die Erklärungen der Vorrede bezüglich der Siebenteiligkeit. Zunächst orientiert sich die Siebenzahl an den ſ iben ſ tend oder alter [ … ], die ſ ie in di ſ er zit gehebt und gefürt het (Itinerarium, fol. 2a: »die sieben Stände oder Alter, die sie [= Maria] zeit ihres Lebens jeweils gehabt und geführt hat«). Als weitere inhaltliche Begründung werden die sieben Marienfeste im Kirchenjahr angeführt, die ſ iben hochzytlichen fest [ … ] der junckfrow Marie/ die dan yetz zu ͦ mal in der heiligen kirchen gehalten werden (Itinerarium, fol. 3a: »die sieben Hochfeste der Jungfrau Maria, die jetzt und immer schon in der heiligen Messe gefeiert werden«). Die anderen beiden Gründe, die die Vorrede für eine Siebenteilung anführt, entspringen frömmigkeitspraktischen Gesichtspunkten. Sie geben erste Hinweise darauf, dass sich der Text entgegen der prominenten Gattungsbezeichnung der vored nicht als reines Gebetsbuch verstanden wissen will: [ … ] wegen der bittungen die dan in di ſ em gebett begriffen ſ in/ die da in ſ iben bittungen mogent geteilt werden. Die er ſ t i ſ t für die ſ ünder dy aller er ſ t für ſ etzend, von den ſ ünden zu ͦ lassen/ von welcher bittung in dem er ſ ten teil di ſ es gebets gemeldet wirt. Die andern zwu ͦ bittung ſ in für die an fahenen men ſ chen, nach dem vnd inen zimpt bu ͦ ßwirdikeit vff zu ͦ nehmen/ das ſ y thu ͦ n mogend in zweiyerley gestalt, als dy ſ ünd warlich zu ͦ bü ſſ en. vnd starck wider ſ y zu ͦ stryten von welchen in den andern vnd dritten teyl ge ſ agt wirt. Es ſ ind vch zwu ͦ bittungen für dy zu ͦ nemenden men ſ chen, nach dem vnd inen zimpt in verdienung zu ͦ zu ͦ nehmen/ das mögen ſ y vch thun in zwen weg, als mit würcken tugentliche wort vnd werck, vnd mit liden widerwertige ding/ von denen in dem fierden vnd fünften teil gebrucht wirt. Aber die letzten zwu ͦ ſ ind für die gerechten men ſ chen, noch dem vnd inen gebürt von den zitlichen dingen ſ ich vff zu ͦ erheben/ das dan ſ ie vch in zweierlei wiß thun mögen, als die himili ſ che ding rüyglich zu ͦ ſ chauen, vnd des tods ſ icherlich zu ͦ warten/ von welchen in den zweien letzten teylen gehandelt würt. (Itinerarium, fol. 2bf.) [ … ] Zu den Bitten, die in diesem Gebet enthalten sind, die da in sieben verschiedene Bitten unterteilt werden können: Die erste [dieser Bitten] ist für die Sünder, die sich zum ersten Mal zum Vorsatz machen, von ihren Sünden abzulassen, von dieser Bitte wird im ersten Teil dieses Gebets gesprochen. Die anderen zwei Bitten sind für die › anfangenden ‹ Menschen, da es auch ihnen wohl ansteht, Buße zu tun; das sollen sie dann auf zweierlei Art und Weise tun, nämlich indem sie ihre Sünde aufrichtig büßen und außerdem aufs heftigste gegen sie ankämpfen; davon ist im zweiten und dritten Teil die Rede. Es gibt auch zwei Bitten für die › zunehmenden ‹ Menschen, da es auch ihnen angelegen ist, ihre Verdienste zu mehren; das sollen sie auf zwei Wegen erreichen, nämlich indem sie tugendhafte Worte und Taten wirken und indem sie widerwärtige Dinge erleiden; davon wird im vierten und fünften Teil gesprochen. Aber die letzten zwei Bitten sind für die › gerechten ‹ Menschen bestimmt, denen gebührt, sich von den vergänglichen Dingen zu erheben; das sollen sie auf zweierlei Arten tun, nämlich indem sie voller Reue die himmlischen Dinge sehen oder den Tod erwarten; davon handeln die letzten beiden Teile. Mit dieser Erklärung enthüllt die Vorrede die zugrundeliegenden Kompositionsprinzipien und offenbart zugleich ihre Intentionen. An die Erzählungen über die einzelnen Lebensabschnitte Marias 155 sind › echte ‹ Gebetsbitten angeschlossen. Mit deren Voranschreiten soll 155 An anderer Stelle spricht die Vorrede davon, dass in einem yetlichen puncten eins yetwedern atikels gewonlich ein lang histori [ … ] begriffen ist (Itinerarium, fol. 4b: »in einem jeden Abschnitt eines jeden Artikels gewöhnlich eine lange › Historie ‹ inbegriffen ist«). 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 93 <?page no="94"?> der Leser aus seiner Sündhaftigkeit geführt und zu einem gerechten men ſ chen geformt werden. Diese Bitten korrespondieren mit den jeweils erzählten Ereignissen und werden für die moralisch-ethische Erziehung instrumentalisiert: Das Leben Marias wird damit zum exemplum, an dem sich der Rezipient orientieren soll. Als Adressatin dieser Bitten wird Maria zugleich als Fürsprecherin und Helferin auf dem persönlichen Heilsweg des Lesers in Anspruch genommen. Wie mit dem Text umzugehen ist, erklärt die Vorrede ebenfalls im Zusammenhang mit den Gliederungsprinzipien: Alweg den er ſ ten teil an dem mentag an zu ͦ fahen da mit das der fünfft teil der da ſ aget von dem lyden gotz an dem fritag ge ſ prochen werd (Itinerarium, fol. 3b: »Es soll immer mit dem ersten Teil an einem Montag angefangen werden, damit der fünfte Teil, der vom Leiden Gottes erzählt, auf einen Freitag fällt«). Dadurch dass jeder der sieben Lebensabschnitte einem festen Wochentag zugeordnet wird, erfährt der Text eine Ritualisierung und wird in einem von der Liturgie vorgegebenen Rahmen verankert. 156 Auch hier werden also Gebet und Erzählung enggeführt, um dem Rezipienten ein Vorbild vor Augen zu stellen, das die Charaktereigenschaften und Tugenden verdeutlicht, um die zugleich gebetet werden soll. Diese explizite Gebrauchsanweisung rückt das Itinerarium ebenso in die Nähe des Erbauungsbuchs wie das umfangreiche Inhaltsverzeichnis (Itinerarium, fol. 5b - 9b), das eine schnelle Orientierung erlaubt und den Einsatz des Buchs in der religiösen Alltagspraxis vereinfacht. Bevor das hybride, zwischen Gebet und Erzählung changierende Marienleben beginnt, ist eine kurze Sündenklage zwischengeschaltet (10a - 12b), die insbesondere den erbaulichen Aspekt betont. Ihre Überschrift lässt den Besserungsprozess anklingen, zu dem Marias exemplum und Fürbitte den Sünder anleiten soll: Klag des ſ ünders der vß betrachtung vnd bekanntnyß ſ ines ellends dürftigkeit zu ͦ flu ͦ cht ſ ucht by Marie der mu ͦ ter aller barhertzikeyt. (Itinerarium, fol. 10a: »Klage des Sünders, der aufgrund der Betrachtung und des Bekenntnisses der Armseligkeit seines Elends bei Maria, der Mutter aller Barmherzigkeit, Zuflucht sucht«). Die Klage, die mit Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen beginnt und schließlich ein erstes Sündenbekenntnis vorformuliert, wendet sich schließlich an Gott in seiner Eigenschaft als creator mundi, dessen Barmherzigkeit und Nachsicht gegenüber der Schöpfung beschworen werden. Als Verheißung der göttlichen misericordia - du bi ſ t vnergruntlich in diner barmhertzigkeit (Itinerarium, fol. 11b: »du bist unergründlich in deiner Barmherzigkeit«) - wird der verhey ſſ en[e] [abloß der ſ ünd] (Itinerarium, fol. 11b: »der versprochene Sündenablass«) beschworen. Der Sprecher charakterisiert sich noch einmal explizit als Sünder und setzt sich damit in Kontrast zu biblischen Gestalten wie Abrahamm, Ysaac vnd Jacob vnd den andern die dyr nit ge ſ ündet habenn, (Itinerarium, fol. 11b f.: »Abraham, Isaak, Jakob und die anderen, die sich nicht gegen dich versündigt haben«). Obwohl diese gerechte men ſ chen sind, profitieren sie nicht von der Revision des 156 Die Vorrede trägt der laikalen Lebenswirklichkeit Rechnung, indem sie die Lektüre an einem bestimmten Wochentag als idealtypisch vorstellt, jedoch auch eine der Lebensweise des Betenden angepasste Lektüre anerkennt: Ob aber es zu ͦ einem mal gar zu ͦ ſ prechen verdrossen or zit vnd mu ͦ ß nit verhanden wer/ ſ o mag doch di ſ es gebet in ſ underheit noch ſ inen ſ iben teilen den ſ iben tagen in der wochen wie dan geuellig i ſ t zu ͦ geordnet vnd gefügt werden/ da mit dz nit gar ver ſ chwigen blyb die gedechtnus der erwirdigen magt Marie. (Itinerarium, fol. 3b: »Falls aber der Betenden zu verdrossen ist, um zu beten, oder es ihm an Zeit und Muße dazu fehlt, so soll doch dieses Gebet insbesondere nach seinen sieben Teilen den sieben Tagen der Woche, wie es dann gefällt, zugeordnet und zugeteilt werden, damit die Erinnerung an die ehrwürdige Jungfrau Maria nicht ganz unerwähnt bleibt.«). 94 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="95"?> Sündenfalls - dem Sprecher hingegen wird der göttliche Gnadenakt unverdient zuteil, wie das emphatische Bekenntnis nahelegt: Ich hab aber ge ſ ündet vber die zal des ſ andß in dem mere, vnd myne boßheittenn ſ ynd va ſ t gemert worden/ noch i ſ t mir kein vnderbleybung zu ͦ ſ ünden/ ſ ünder hab ich bewegt dyn zorn, vnd vor dir vyl vbels gethu ͦ n, myn ſ ünd ſ chwerlich zu ͦ meren. Hierumb O herr neig ich die füß der begir mins hertzen, dine barmhertzige gütigkeit demütigklich zu ͦ bitten. Danu ich hab ge ſ ündet. Ich hab ge ſ ündet vnd vil vbelß gethon. Ich bit dich herre got verzych myr. (Itinerarium, fol. 12a) Ich habe aber gesündigt, öfter als es Sandkörner im Meer gibt, und meine Übeltaten sind unzählbar geworden, auch kann ich nicht von den Sünden ablassen. Ich Sünder habe deinen Zorn erregt und vor dir viel Böses getan, um meine Sünde noch vielfach zu vermehren. Oh Herr, ich beuge die Knie aus tiefstem Herzen, um demütig deine barmherzige Güte zu erbitten. Denn ich habe gesündigt. Ich habe gesündigt und viel Übles getan. Ich bitte dich, Herrgott, verzeih mir. Das hier vorformulierte Sündenbekenntnis bildet die notwendige Voraussetzung, um analog zu Marias › Pilgerschaft ‹ den eigenen Heilsweg überhaupt erst antreten zu können. Wie die Vorrede enthüllt also auch die Sündenklage die erbauliche Intention des Textes: Beide markieren sie Start und Zielpunkt einer › Reise ‹ , auf der der Text den einzelnen Leser begleiten will. Die narrative Apostrophe findet im Itinerarium jeweils in den Abschnitten der ermanungen Anwendung. Daneben gibt es Anrufungen, die jeweils den Lobpreis einleiten und sich ebenfalls der Du-Anrede bedienen; trotz der Anspielungen auf einzelne Narrative sind sie jedoch noch keine voll ausgebildeten Du-Erzählungen. Entsprechend des hybriden Charakters des Textes synthetisiert die narrative Apostrophe die verschiedenen Funktionen, die mit dieser Erzählhaltung verknüpft sind: Sie will einerseits erzählen (der ausgeprägt narrative Charakter erinnert an den des Elisabethgebets), andererseits aber performativ die eigene Wirkmacht entfalten, indem sie die mediatrix Maria auf Grundlage der Vergegenwärtigung ihrer eigenen Lebensgeschichte zur Hilfe verpflichtet (diese Funktion teilt das Itinerarium mit dem Christophorusgebet). Beides steht im Dienst einer erbaulichen Lektüre. 2.3.3.2 Berthold, Das andechtig zittglögglyn des lebens vnd lidens christi nach den xxiii ſ tunden vßgeteilt (Basel: Johann Amerbach, 1492) In seiner Anlage und Gestaltung ähnelt das Zeitglöcklein 157 dem Itinerarium: Auch hier wird das neutestamentliche Geschehen, das leben vnd liden christi, für den Rezipienten aufbereitet und mit einer ausführlichen Gebrauchsanweisung versehen. Der Text leitet zur richtigen Andachtshaltung an und begleitet diese im Vollzug. Während der deutschsprachige Text des Zeitglöckleins keine Angaben über seinen Verfasser macht, ist der offenbar später angefertigten lateinischen Übertragung ein Passus zugefügt, der nicht nur den Namen des Autors nennt, sondern auch Aufschluss über das intendierte Zielpublikum sowohl der volkssprachlichen als auch der lateinischen Fassung gibt: 157 Hier und im Folgenden wird, sofern nicht anders gekennzeichnet, das Zeitglöcklein im Druck von Johann Amerbach aus dem Jahre 1492 herangezogen (ISTIC: ib00512000 bzw. GW: 4168). Sowohl die Übersetzungen als auch die Transkription des nicht-edierten Textes stammen von mir. Dabei wurde die Groß- und Kleinschreibung des frühneuhochdeutschen Textes beibehalten. Es wurde kein u/ v- und i/ j/ y-Ausgleich vorgenommen und keine Interpunktion eingefügt. Die Trennzeichen / wurden beibehalten. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 95 <?page no="96"?> Cum ego frater Bertoldus sacerdos ordinis predicatorum elongaui fugiens mansi in solitudine septem annis de vita Christi et eius passione et morte doloriosissima vnum libellum theutunica[! ] lingua composui: quem horologium deuotionis nominavi. Sed quia deuota et quamplura alia theutonica lingua scripta minime sapient litteratis hominibus: idcirco predictum libellum in latinum et in grammaticam dei adiutorio transferre curaui. Ich, Bruder Berthold, Priester des Predigerordens der Dominikaner, habe mich sieben Jahre in die Einsamkeit zurückgezogen und ein Büchlein über das Leben Christi und seine Passion und seinen schmerzensreichen Tod in deutscher Sprache verfa[ss]t, das ich › Horologium devotionis ‹ , Uhr der Andacht, genannt habe. Aber weil die auf Deutsch verfassten erbaulichen Schriften den lateinkundigen Gebildeten nicht gefielen, habe ich mich darum bemüht, das oben genannte Buch mit Hilfe Gottes ins Lateinische zu übertragen. 158 Aufgrund stilistischer Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in den Prologen wurde der Autor, der sich hier als Dominikanerbruder Berthold zu erkennen gibt, mit dem Verfasser der deutschen Rechtssumme identifiziert, 159 was eine Datierung des Textes auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts wahrscheinlich macht. In der Passage findet sich die möglicherweise topische Andeutung, der deutschsprachige Text sei auf Kritik durch die litterati gestoßen. Als Reaktion darauf sei eine lateinische Überarbeitung entstanden, die nun auch ein theologisch gebildetes, lateinkundiges Publikum adressiere. Da die breite Rezeption des volkssprachlichen Textes - elf Handschriften und dreizehn verschiedene Druckauflagen - erst nach der Veröffentlichung der lateinischen Druckfassungen einsetzte, ist anzunehmen, dass der lateinische Text in die Volkssprache rückübersetzt wurde. Bereits der zusammen mit dem Holzschnitt einer Glockenuhr auf das Titelblatt gesetzte Titel Das andechtig zittglo ᵉ gglyn des lebens vnd lidens christi nach den xxiiii ſ tunden vßgeteilt. (Zeitglöcklein, fol. 1a, Abb. 7) 160 gibt neben einer kurzen Inhaltsangabe erste Hinweise darauf, wie mit dem Erbauungsbuch umgegangen werden soll. In der Vorrede wird dies weiter spezifiziert: Das andechtig zittglo ᵉ gglyn diß büchlins hat vier vnd zwentzig ſ tuck / vßgeteilt nach den xxiiii ſ tunden des naturlichen tags / die der andechtig men ſ ch zu ͦ ſ iner andacht bruchen vnd betrachten mag / alle ſ tund eyn ſ tuck / oder tag vnd nacht xii ſ tuck / oder viii oder vi / vii / iii / oder / iiii/ nach dem vnd ſ in ſ stat / ſ in houpt oder sin vermo ᵉ gen erlyden mag. (Zeitglöcklein, fol. 1a) Das andächtige Zeitglöcklein dieses Buches hat vierundzwanzig Kapitel, angeordnet nach den vierundzwanzig Stunden eines natürlichen Tages, die der andächtige Mensch während seiner Andacht benutzen und betrachten kann: entweder zu jeder Stunde ein Kapitel oder Tag und Nacht zwölf Kapitel, oder acht oder sechs, sieben, drei oder vier, ganz wie ihm der Sinn danach steht oder wie es sein Geist oder seine Fähigkeit vermag. Das Zeitglöcklein folgt somit einer Struktur, die sich nach der Zeiteinteilung des Lesers richtet. Zugleich wird diese zeitliche Ordnung um eine inhaltliche ergänzt, die das Leben Christi in vierundzwanzig Stationen bzw. Kapitel unterteilt. Anders als in der lateinischen Fassung, die sich bewusst an den litteratus richtet, ist die Publikumsadressierung hier bewusst offen gehalten: Ein jeder, der sich der Andacht widmen will, solle den Text dazu gebrauchen. Nicht nur die Wahl der Volkssprache zeugt von Rücksichtnahme auf die 158 Zit. und übersetzt n. Griese: Das Andachtsbuch als symbolische Form (2005), S. 6. 159 Zur Rechtssumme und seinem Autor siehe Johanek: Bruder Berthold (1978). 160 Diese und alle folgenden Abbildungen sind dem Anhang zu entnehmen. 96 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="97"?> Geistesgaben des Rezipienten; auch der Appell an den Leser, das Lektürepensum an das eigene houpt und vermo ᵉ gen anzupassen, und der Hinweis, ein oberflächliches und eiliges Lesen bleibe wirkungslos, zielt auf den ungeübten Leser. Für diesen sind außerdem optische Marker gesetzt, die schnelle Orientierung bei der Lektüre bieten sollen: Darumb nach vnder ſ cheidunge der pünctlyn mit di ſ em zeichen al ſ o / ¶ / wo das ſ tat da mach ſ tu verheben ze le ſ en / vnd din gemüt da ſ elbs uß ſ trecken in betrachtung. Fynde ſ tu denn das du ſ u ͦ che ſ t / was bedarfftu den wijter louffen. I ſ t aber keyn neigung dins gemüts vff das ſ elb pünctly / ſ o mach ſ tu fürer gan vnd le ſ en von eynen ¶ / biß zu ͦ dem anderen biß du din ergetzung finde ſ t (Zeitglöcklein, fol. 2af.) Deshalb wurden die einzelnen Abschnitte mit diesem Zeichen ¶ versehen. Wo das steht, da kannst du mit dem Lesen beginnen und deinen Geist der Betrachtung zuwenden. Wenn du das, was du suchst, gefunden hast, dann musst du nicht weitergehen im Text. Wenn dein Geist aber mit diesem Abschnitt nichts anfangen kann, so kannst du weitergehen und von einem ¶ zum nächsten springen, bis du etwas findest, das dich erfreut. Auch aus den Erklärungen zur Mikrostruktur der einzelnen vierundzwanzig Kapitel lässt sich das Bemühen ablesen, dem Rezipienten einen für seine individuelle Andacht aufbereiteten Text bereitzustellen. Jedes Kapitel setzt mit einer Anrufung Gottes ein, die der jeweilige Leser nach den eigenen Vorlieben gestalten kann: da mag yeglicher thu ͦ n nach ſ iner gewonheit / oder als er allerge ſ chickte ſ t ist (Zeitglöcklein, fol. 3bf.: »Da kann ein jeder so verfahren, wie er es gewohnt ist oder wie er es am besten kann«). Indem die Vorrede Vorschläge für die Gebetsanrufung macht, unter anderem die lateinischen Worte des Psalms 69,2 Deus in adiutorium meum intende oder die Antiphon Veni sancte spiritus, verortet sich das Zeitglöcklein in der Tradition der Stundenbücher, die sich für die Gebetseinleitungen zu Laudes und Vesper ebendieser Anrufungen bedienen. 161 Auf die Anrufung folgt jeweils eine Kapitelüberschrift, die graphisch abgesetzt die wesentlichen Inhalte zusammenfasst und den Leser schnell informiert. Dann erst beginnt die eigentliche Erzählung, wofür überwiegend der Gestus der Anrede und damit die narrative Apostrophe gebraucht wird, gefolgt von der expliziten Nennung des Nutzens, die der Rezipient aus der jeweiligen Erzählung für sich ziehen kann. Eine Gebetsbitte beschließt jedes Kapitel, indem sie nochmals auf das Erzählte Bezug nimmt. Mit zusammenfassenden Überschriften, Kapitelübersichten (eine solche findet sich am Ende der Vorrede, Zeitglöcklein, fol. 5b - 7a) und den Paragraphenzeichen bedient sich der Druck des gesamten Repertoires zur visuellen Aufbereitung und Erschließung des Textes. Über Inhalt und Quellen gibt die Vorrede ebenfalls detailliert Auskunft und verschreibt sich dabei dem inhärenten Programm der Andacht und einer vergegenwärtigenden und emotionalisierten Lektüre: Die evangelische Lebensgeschichte Christi wird im Zeitglöcklein durch die milten betrachtungen andechtiger lerer vnd anderer andechtigen glo ᵉ bigen (Zeitglöcklein, fol. 3a: »sanftmütigen Betrachtungen andächtiger Lehrer und anderer andächtiger Gläubigen«) ergänzt. Erklärtes Ziel ist die anzündung des gemüts (»die Entzündung des Geistes«) und die hitzige übung andechtiger danckbarkeit (Zeitglöcklein, fol. 3a: »die hitzige Übung in andächtiger Dankbarkeit«): De ſ glichen vil vnd one zal mag das andechtig hertz betrachten / mit großem nutz (Zeitglöcklein, fol. 3b: »Derartiges kann das andächtige Gemüt häufig und nicht zu oft mit einem großen Nutzen betrachten«). 161 Vgl. Griese: Das Andachtsbuch als symbolische Form (2005), S. 15. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 97 <?page no="98"?> Expliziert wird der erbauungstypische Andachtscharakter, der eingeübt und vollzogen werden soll, indem der Text und seine Intention ineins gesetzt werden: Diß büchlyn i ſ t überal nit anders denn andechtig betrachtungen / dar zu ͦ ſ ich der men ſ ch mit allem fliß ſ chicken ſ ol (Zeitglöcklein, fol. 5a: »Dieses Büchlein ist durch und durch nichts anderes als andächtige Betrachtung, um die sich der Mensch mit allem Eifer bemühen soll«). Um den richtigen Umgang mit dem Zeitglöcklein sicherzustellen, erörtert die Vorrede, unter welchen Voraussetzungen die Andacht korrekt vollzogen wird, und macht einige Vorschläge, wie eine richtige Andachtshaltung aussehen könnte: Nit ylends überlouffen / ſ under ſ enfftlich / begirlich / gemechlich / vnd lieplich le ſ en / vnd hertzlich betrachten. Darzu ͦ ouch hilff bruchen / als hertz bewegliche wort / vnd zu ͦ wortly / als da ſ ind / Ach we / leider / o herr / o gott / vnd der glichen / Wie denn yeglicher gewont hat / vnd in bewegen mag. Für die alle ſ ind hiereinn / A vnd O / vnd Ach gesetzt. ¶ Etwenn in ſ o ᵉ lichem an das hertz ſ lagen / Die ougen in den hymel erheben. Etwenn venyen vff dem herd oder vff dem banck nemmen an heymliche ſ tetten. Ettwenn ob es ſ ich fügt / di ſ ciplin nemmen mit der gei ſ len oder ru ͦ ten / Das bild chri ſ ti an ſ ehen / in der ge ſ talt als denn yegliche ſ tund vordert / vnd hieby funden wirt. Die vnd de ſ glichen ding alle / mit vßerlichen geberden / ſ o ᵉ llen in geheym vnd al ſ o ge ſ chehen / daz da von nyemand geergert / ſ under alle glich ſ nery vermitten werden. (Zeitglöcklein, fol. 5af.) [Man soll] nicht eilends über den Text hasten, sondern sanft, bemüht, langsam und liebevoll lesen und von Herzen aus betrachten. Es hilft auch, Worte und Beiwörtchen zu gebrauchen, die das Herz bewegen, wie zum Beispiel »Ach weh«, »leider«, »oh Herr«, »oh Gott« und dergleichen, so wie es ein jeder gewohnt ist und wie sie einen jeden bewegen können. Für diese wird hier »Ah« und »Oh« und »Ach« verwendet; auch kann man sich dabei an die Brust schlagen und den Blick gen Himmel richten, an privaten Orten Kniebeugen am Ofen oder auf einer Bank machen, oder wenn es sich anbietet, sich selbst mit der Geißel oder einer Rute züchtigen; oder ein Bildnis Christi betrachten, wie es für jede Stunde passt und wie es hier [im Druck] geboten ist. Diese und ähnliche Dinge, die äußere Gebärden erfordern, sollen im Geheimen und auf die Art und Weise geschehen, dass davon niemand verärgert wird und alle Heuchelei vermieden wird. Die Andacht wird damit zu einem »Wahrnehmungsprozess, eine[m] lesenden und betrachtenden, d. h. meditierende[m] Vorgang«, 162 den die Vorrede mit seinen Hinweisen zum konzentrierten Lesen anleitet. 163 Als Grundhaltung des Textes befördert die narrative Apostrophe vor allem die Einnahme einer meditierenden Andachtshaltung. Ihr involvierendes Potenzial wird erweitert, indem der Text die Apostrophe mit weiteren Strategien wie Dialog oder Nähesprachlichkeit kombiniert; die Fokussierung einzelner Momente im Lebensweg Christi trägt dazu bei, eine intensive Lektüre zu befördern. 162 Griese: Das Andachtsbuch als symbolische Form (2005), S. 13 f. 163 Noch deutlicher drückt der Prolog des lateinischen Texts die Nähe zur Meditationsübung aus, die die Formulierung Formulierung ante faciem cordis sui tenere (»vor das Angesicht seines Herzens stellen«) gebraucht, vgl. Griese: Das Andachtsbuch als symbolische Form (2005), S. 14. Die Nähe zu den meditationes beobachtet auch Betty Bushey: Das Leben Christi in Gebetform in Gundackers › Christi Hort ‹ (1984), S. 66 bzw. 69. 98 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="99"?> 2.3.4 Religiöse Lyrik Auch in lyrischen Texten werden religiöse Themen und dogmatische Sachverhalte verhandelt. Ähnlich wie im Falle der religiösen Epik und der religiösen Literatur 164 fungiert auch der Begriff › religiöse Lyrik ‹ als »Sammelbegriff«, 165 der eine Bandbreite an Themen und Formen versammelt: Er umfasst diejenigen › lyrischen ‹ Texte, in denen christlichdogmatische Glaubensinhalte bearbeitet und ausgestaltet werden. Je nach Thematik und Kontext bedienen sich diese eines bestimmten Gestus, etwa dem des Bitt-, Dank- oder Lobliedes, oder thematisieren wie im Falle mystischer Lyrik subjektive religiöse Erfahrungen. Während das Konzept des › Religiösen ‹ sowohl Thematik als auch Funktionalisierung der Texte meint, ist der Begriff › Lyrik ‹ für die mittelalterliche Literatur als einer Kultur von »Texte[n] vor dem Zeitalter der Literatur« klärungsbedürftig. 166 Denn nicht einmal die im mittelalterlichen Schulbetrieb institutionell verankerte (mittel)lateinische Literatur, die sehr wohl ein normatives Gattungsverständnis erkennen lässt, kannte eine › Großgattung ‹ Lyrik. Stattdessen verortete sie Textsorten, die am ehesten einem modernen Lyrikverständnis entsprächen, als »sangbares Genre [ … ] im Feld verwandter poetischer Formen«. 167 Die Übergängigkeit von Texttypen und die damit einhergehenden »dynamischen Wechselbeziehungen von generischen Strukturen, Topoi und Medialisierungsformen«, 168 ein Charakteristikum der mittelalterlichen Literatur im Allgemeinen, hat besondere Bedeutung für diejenigen Texte, die hier als › religiöse Lyrik ‹ gefasst werden. Welcher Lyrikbegriff muss also angelegt werden? Breiten Zuspruch hat die Vorstellung gefunden, dass »lyrische Qualität« mit einer »ästhetischen Präsenzerfahrung« einhergehe, 169 die die Lyrik zu einer »symbolischen Form« mache und in die Nähe des Mythos rücke. 170 Eine solche lyrische Qualität ergebe sich vor allem aus der Subjektivität des lyrischen Sprechens und der damit verbundenen »Intensivierung des Ichs«. 171 Diese 164 Damit ist diejenige Literatur gemeint, »in der christl[ich] religiöse Thematik dominiert«, vgl. Schulze: Geistliche Dichtung (1989), Sp. 118. 165 Vgl. Köbele: › Erbauung ‹ und darüber hinaus (2015), S. 421. Für lyrische Texte mit religiösen Inhalten scheint innerhalb der mediävistischen Forschung der Begriff einer › geistlichen Lyrik ‹ verbreiteter zu sein, in Analogie zur Gattung der religiösen Epik spricht diese Studie jedoch von › religiöser Lyrik ‹ . 166 Vgl. Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 1. Die Probleme, die sich daraus für die Frage nach Gattungen in der mittelalterlichen Literatur ergeben, wurden bereits an anderer Stelle erörtert, siehe Kapitel 2.1. 167 Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 3. 168 Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 1. 169 Vgl. Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 17. Nach Emil Staiger muss eine solche »lyrische Qualität« kein Spezifikum lyrischer Texte sein, sondern kann auch in anderen Großgattungen Anwendung finden: »Lyrisch, episch, dramatisch sind also keine Namen von Fächern, in denen man Dichtungen unterbringen kann. [ … ] Die Adjektive lyrisch, episch, dramatisch [ … ] erhalten sich als Namen einfacher Qualitäten, an denen eine bestimmte Dichtung Anteil haben kann oder auch nicht«, Staiger: Grundbegriffe der Poetik (1959), S. 237. 170 Susmann: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik (1910), S. 16 f. Die mythologischen Züge der Lyrik notiert auch Jurij Lotman: »Es ist nicht zu übersehen, daß die Lyrik, in der sich das Sujet auf die Formel › ich=er (sie) ‹ oder › ich=du ‹ bringen läßt, in dieser Hinsicht das › mythologischste ‹ Genre der modernen Literatur darstellt«, Lotman: Kunst als Sprache (1981), S. 184. 171 Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 17: »Im lyrischen Ich kulminiert diese Präsenzfigur insofern, als hier paradoxerweise gerade durch die Subjektivität des lyrischen Ausdrucks eine Objektivitätserfahrung erreicht wird; das Ich der Lyrik ist in seiner 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 99 <?page no="100"?> »narrative[ … ] Selbstbezüglichkeit« kann jedoch unterschiedlich intensiv ausfallen und taugt daher nur bedingt als Definiens des lyrischen Sprechens. 172 Gerade die mittelhochdeutsche Lyrik kennt bei einer Vielzahl poetischer Formen unterschiedliche Abstufungen einer solchen lyrischen Qualität, die der Minnesang in vergleichsweise hoher Intensität realisiert, 173 während der Sangspruch nach diesem engen Lyrikbegriff als › unlyrisch ‹ gelten müsste. 174 Gerade die Unmöglichkeit, mittelalterliche Texttypen taxonomisch zu betrachten, legt einen weiten Lyrikbegriff nahe. Entsprechend eines auf einer Prototypensemantik beruhenden Gattungsverständnisses wäre die lyrische Qualität eines › Gedichts ‹ dann nur eines von mehreren Gattungsmerkmalen, das nicht notwendigerweise in Vollform realisiert sein muss. Ein weiter Lyrikbegriff umschlösse dann auch diejenigen Dichtungsformen, in denen die lyrische Qualität wenig ausgeprägt ist. 175 Dass sich die narrative Apostrophe als ein Modus des Erzählens auch in lyrischen Texten wiederfindet, also auch Lyrik narrativ sein kann, mag auf den ersten Blick überraschen. Tatsächlich kennt die mittelalterliche Literatur »vielfältige generische Übergangseffekte« 176 zwischen Narrativik und Lyrik. Besonders deutlich wird dies in den Gedichten des Minnesangs, die oftmals narrative Strukturen auf Ebene des Einzeltextes aufweisen oder als narratives Handlungskontinuum über ein Gesamtoeuvre hinweg - wie beispielsweise bei Oswald von Wolkenstein - entwerfen. 177 Dass die Modi des Lyrischen und des Narrativen einander nicht zwangsläufig ausschließen, zeigt sich beim Versuch, narratologische Beschreibungsverfahren auf lyrische Texte anzuwenden. 178 Die elementare Unterscheidung zwischen histoire als einem durch die Erzählung dargestellten Geschehen und discours als dessen Vermittlung kann auch für Lyrik getroffen werden, wobei die Schwerpunkte unterschiedlich akzentuiert sind: Während in der Epik nämlich eine mimetische Aussagesubstanz Wirklichkeit entwirft, zielen lyrische Texte, insbesondere solche mit stark ausgeprägter lyrischer Qualität, auf die Fiktion einer bestimmten Bewusstseinshaltung. In lyrischen Texten wird die Stratifikation der Ebenen in histoire und discours tendenziell rückgängig gemacht, indem sie die narrative Struktur des Geschehens freisetzen und auf der discours-Ebene abbilden und so die »narrative[ … ] Zeitkonstitution« 179 invertieren. Narrative Strukturen sind besonders auch in den Texten der religiösen Lyrik impliziert, die die narrative Apostrophe gebrauchen. Hier ist die Narration nicht als Selbstzuschreibung eines lyrischen Ichs zu verstehen, denn das thematisierte Geschehen ist nicht vollständigen Vereinzelung zugleich verallgemeinerbar, es spricht für alle.« Dass der Begriff des › lyrischen Ichs ‹ keineswegs obsolet ist, vertritt auch Matías Martínez: Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs (2002). 172 Vgl. Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 24. 173 Selbst innerhalb des Subgenres Minnesang lassen sich graduelle Abstufungen beobachten, so wäre die Minnekanzone als genre subjectif beispielsweise paradigmatisch für eine selbstbezügliche lyrische Qualität, im Tagelied als genre objectif hingegen wäre die lyrische Qualität nicht oder nur kaum ausgeprägt, vgl. Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 7. Zur Komplementarität der beiden Untergattungen siehe Cormeau: Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang (1992). 174 Vgl. Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 24. 175 Vgl. Theben: Die mystische Lyrik im 14. und 15. Jahrhundert (2010), S. 19. 176 Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 4. 177 Vgl. Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 8 f. 178 Bode: Erzählen lyrische Texte? (2015). 179 Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 20 f. 100 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="101"?> Ergebnis eines subjektiven Erlebens. Im Fall der hier untersuchten Texte entspricht das thematisierte Geschehen der Geschichte des › Du ‹ und ist insofern Teil der Heilsgeschichte. Indem das heilsgeschichtliche Geschehen im christlichen Verständnis jedoch für jeden einzelnen Gläubigen Implikationen bereithält, erhalten die Gedichte auch einen subjektiven Charakterzug. In Bezug auf das › narrativierte ‹ Erleben bleiben die Ebenen von histoire und discours getrennt. Da das lyrische Ich hier gewissermaßen als »Leerdeixis« 180 fungiert, bewirken auch diese Texte Präsenzeffekte, die auf ein subjektives Erleben zielen. Bei aller Vielfalt an Gattungen und Kontexten im Bereich religiöse Lyrik lassen sich doch eine Reihe gemeinsamer Züge ausmachen: die Entstehung in einem »monast[isch]-kirch [lichen] Milieu«, die Adressierung eines sowohl geistlichen als auch laikalen christlichen Publikum sowie die doppelte Intention von Lobpreis und Belehrung. Die religiöse Lyrik wurzelt in dem Bedürfnis, das Gebet in allen denkbaren Ausprägungen dichterisch auszugestalten, wobei dieses Bedürfnis nach einer Ästhetisierung der Gottesbeziehung wiederum auf die Bedeutung der Liturgie für die mittelalterliche Kultur im Allgemeinen zurückzuführen ist. 181 Übertragungen lateinischer Hymnen, Sequenzen und Cantiones ins Deutsche stellen den größten Teil der volkssprachlichen Lyrik. Sie ergänzen die lateinischen Liturgie, indem sie es der Laiengemeinde ermöglichten, Teile der Messe wie Gloria oder Credo in der Volkssprache mitzugestalten. 182 Neben dieser volksliedhaften religiösen Lyrik, die auch im außerbzw. paraliturgischen Kontext von religiösen Festen und Spielen gebraucht wurde, entstanden »persönl[ich] geprägte geistl[iche] Lieder für einen eher höf[ischen] Aufführungsrahmen«. 183 Auch in der Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts waren lyrische Formen weit verbreitet, wo sie vor allem im Klosterleben das gemeinschaftliche und private Gebet ergänzten. Zentrales Thema mystischer Lyrik ist die unio als »Erfahrung unmittelbarer Gottesnähe, [als] Einheitserfahrung mit Gott, sowie das Streben danach«. 184 Während die konventionelle Apostrophe an ein göttliches Gegenüber in den religiösen Liedern weit 180 Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten (1995), S. 49 f. bzw. Bleumer/ Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen (2011), S. 20 bzw. 26. 181 Leclerq: Geistliche Dichtung (1989), Sp. 1180. 182 Vgl. Spechtler: Geistliche und weltliche Lyrik (1982), S. 394. Spechtler weist darauf hin, dass das geistliche Lied »nach seinen Funktionen in folgende Typologie gefasst werden [kann]: Gemeindelied (für alle Teilnehmer am Gottesdienst), Chorlied (für eine Schola), Konventikellied (für geistliche Gemeinschaften) und Gemeinschaftslied adeliger und städtischer Gesellschaften.« Die Dominanz des Lateinischen in der geistlichen Lyrik gründet vor allem darauf, dass die Volkssprache in der Liturgie als dem Ort für geistliche Lieder unterrepräsentiert war. Denn aus kirchenrechtlicher Perspektive wurde die Volkssprache innerhalb der Liturgie erst mit dem 2. Vaticanum (1962 - 1965) zugelassen und, obwohl bis zum Konzil von Trient (1545 - 1563) Entscheidungen bezüglich der Liturgie im Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Bischofs lagen und sich so im Einzelfall dennoch Aufführungsmöglichkeiten für volkssprachliches Liedgut ergeben konnten, stehen den zahllosen lateinischen Gedichten nur einige hundert deutsche Lieder entgegen, vgl. Spechtler: Geistliche und weltliche Lyrik (1982), S. 393. Bereits im 4. Jahrhundert war die lateinische Tradition der geistlichen Lyrik mit den Hymnen des Ambrosius nahezu vollständig ausgebildet, die in den alttestamentlichen Psalmen ihr Vorbild haben, Vgl. Leclerq: Geistliche Dichtung (1989), Sp. 1180. 183 Schulze: Geistliche Dichtung (1989), Sp. 118. 184 Theben: Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhundert (2010), S. 13. Judith Theben benennt in Anlehnung an Otto Langer drei Gruppen mystischer Texte: Texte, die die Erfahrung der unio thematisieren oder zu ihr hinführen wollen, auch mystagogische Texte genannt, sowie Texte, die »Einheitserfahrungen in bestimmten Kategoriensystemen behandeln«, vgl. Langer: Mystik (2000), S. 653 f. bzw. Theben: Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts (2010), S. 15. 2.3 Die Texte des Korpus im Profil: Inhalt, Kontext, Tradition 101 <?page no="102"?> verbreitet ist, ist die Anrede an »eine transzendente Instanz« in mystischen Texten nicht ausgeschlossen, jedoch vergleichsweise selten. Es überwiegen Anreden an »diesseitige Rezipienten«, etwa die eigene Seele oder eine Gemeinschaft. 185 Obwohl die Anrede an eine Vielzahl von Ansprechpartnern für die religiöse Lyrik einen ähnlich gattungskonstitutiven Status besitzt wie für das Gebet, stellt die narrative Apostrophe in diesem Kontext jedoch ein Randphänomen dar. Als Spielart der hymnischen Anrufung findet sie sich vor allem innerhalb der Marienlyrik, soweit ersichtlich jedoch nicht in den Marienleichs. 186 Drei Gedichte aus dem Bereich der Marienlyrik sollen exemplarisch herangezogen werden, um das Oszillieren der Anrede zwischen Hymnus und narrativer Apostrophe zu illustrieren: die frühe Mariensequenz von Muri (um 1180), die sich in einem hymnischen Duktus vor allem mit der Jungfrauengeburt beschäftigt, sowie das der höfischen Lyrik verpflichtete Gedicht Oswalds von Wolkenstein (ca. 1376 - 1445) Hört zü, was ellentleicher mer (Kl. 114), 187 das das Leiden Marias während Christi Passion zum Thema hat und die narrative Apostrophe nur partiell gebraucht. Auch im an Christus adressierten Passionslied des Mönchs von Salzburg (2. Hälfte 14. Jhd.) 188 Eia der grossen liebe findet eine nicht voll ausgebildete narrative Apostrophe Anwendung. Diese lyrische Apostrophe, die zwischen Preis und Erzählung oszilliert, stützt die These einer »ursprünglichen Nähe von Gedicht und Gebet«. 189 Sie verlässt jedoch den institutionalisierten Rahmen der Gebetssituation und erprobt eine Sprechhaltung, die ein narratives Moment in die Lyrik bringt. 2.4 Tradition der narrativen Apostrophe Als hybride Erzählhaltung, die in einer Vielzahl von Gattungen auftaucht, ist die narrative Apostrophe in ihrer Ausbildung stark von der jeweiligen Gattungstradition geprägt. 190 Neben dem jeweiligen Gattungskontext lassen sich auch ganz konkrete Texte und Traditionslinien ausmachen, aus denen die narrative Apostrophe schöpft. Besonders zwei Typen spielen hierbei eine wichtige Rolle: die Gebetsform der manunge und die ursprünglich lateinische Tradition der meditationes. Was ist in diesen › Vorläufern ‹ bereits angelegt, was übernimmt die narrative Apostrophe, wo verlaufen Grenzlinien? Wichtige Anstöße erhält die Erzählhaltung aus der Gebetsform der manunge. Diese kurzen Einzelgebete erinnern an bisherige Heilstaten und verfolgen dabei das Ziel, den 185 Judith Theben sieht darin ein Differenzkriterium zwischen Gebet und mystischem Lied, vgl. Theben: Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts (2010), S. 17. 186 Die Marienlyrik entsteht im Zuge der marianischen Wende und der im Spätmittelalter aufblühenden Marienverehrung. Die Mariologie wurzelt in der Christologie und erhält wesentliche Impulse aus dem Glaubenssatz natus ex Maria virgine, der während der Lateransynode 640 die Jungfräulichkeit Marias zum Dogma erhob, sowie der auf dem Nyzäum verabschiedeten Vorstellung von Christus als theòs homooúsis to patrí ( › Gott, der dem Vater gleichrangig ist ‹ ) mit dem Christus Gott zur Seite gestellt und Maria zur θεοτόκος ( › Gottesgebärerin ‹ ) erhoben wurde, vgl. Schäfer: Untersuchungen zur deutschsprachigen Marienlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts (1971), S. 2 f. 187 Zu Oswald von Wolkenstein siehe Wachinger: Oswald von Wolkenstein (1989). 188 Zum Mönch von Salzburg siehe Wachinger: Der Mönch von Salzburg (1987). 189 Pitroff: Rede und Anrede (1999), S. 247. 190 Die narrative Apostrophe als hybrides Konstrukt wird in Kapitel 3.2.1 thematisiert. 102 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="103"?> Angesprochenen so zur Erneuerung seiner Hilfe zu bewegen. 191 Dieser kommemorative Aspekt kommt bereits in der Bezeichnung manunge sowie in der häufig gebrauchten Formel ich man dich zum Ausdruck. 192 Etymologisch leitet sich das mittelhochdeutsche manen vom lateinischen monere ab und bedeutet › erinnern, ermahnen, auffordern, antreiben ‹ . Die manunge ist somit nicht nur eine › (Er-) Mahnung ‹ , sondern kann auch für eine › beschwörende Bitte ‹ stehen. 193 Ursprünglich beschränkt sich dieser Texttypus auf die Erinnerung an Einzelereignisse aus dem Leben und Wirken eines Heiligen bzw. an bestimmte Züge Gottes, die für die erbetene Hilfeleistung beschworen werden sollen. Einzelne manungen können jedoch auch zu ganzen Gebetsfolgen ausgebaut werden und so großflächig zusammenhängende Ereignisse, ganze Lebensgeschichten, nachvollziehen. 194 In diesen erzählenden Gebetsfolgen ist die narrative Apostrophe erreicht. Zwei Aspekte werden in der manunge sichtbar, die für die narrative Apostrophe konstitutiv sind: Zum einen fordert sie den Rezipienten zu einem performativen Gedächtnisakt, zur andächtigen Vergegenwärtigung auf. 195 Zum anderen setzt sie einen Kommunikationsakt in Gang, der auf das »beschwörende Moment des Betens« 196 zielt und schon in der feierlichen Aussprache des Namens angelegt ist. Beide Wirkungsabsichten finden sich in den Texten des Untersuchungskorpus. Während die manunge jedoch eine eher vage Vorläuferrolle für die narrative Apostrophe einnimmt, ist der Einfluss der meditatio auf Erzählphänomen klarer fassbar. In diesen Andachtstexten, die ab 1300 einen Aufschwung erlebten, wurde die vergegenwärtigende Betrachtung einzelner Begebenheiten in chronologischer Anordnung zu vollständigen Narrativen ausgeweitet. Wegbereitend wirkten dabei Bonaventura und Bernhard von Clairvaux mit ihren Leben-Jesu-Betrachtungen. 197 Weitere Impulse erhielt die Tradition durch die anonym überlieferten Meditationes vitae Christi (zwischen 1264 und 1335) 198 sowie durch den Kartäuser Ludolf von Sachsen, der mit seiner Vita Christi (zwischen 1348 und 1368) als Gattungsarcheget deutschsprachige Rezeption in Gang setzte. 199 Ludolfs Vita Christi besteht aus zwei Teilen, die jeweils eine »Abfolge christologischer Betrachtungen zum gesamten christlichen Heilsmysterium« 200 beinhalten. Jedes Kapitel ist dabei nach dem gleichen Muster von »Lesung-Darlegung, Durchdringen-Anwendung 191 Conrad Eckart Lutz bezeichnet diese Gebetsform als »Paradigmengebete«: »Es [= das Paradigmengebet] wird in äußerster Lebensgefahr gesprochen, wendet sich an Gott, den Allmächtigen, und erinnert ihn an früher durch ihn bewirkte wunderbare Errettungen; sie können sich auf › das Volk ‹ oder auf einzelne Personen beziehen. Jedenfalls soll die Erinnerung an sie Gott zur konsequenten Fortsetzung seiner Hilfe bewegen«, Lutz: Rhetorica divina (1984), S. 140 - 144, hier S. 141. 192 Vgl. Bushey: Das Leben Christi in Gebetsform in Gundackers › Christi Hort ‹ (1984), S. 61. 193 LEXER bzw. BMZ s. v. manen bzw. manunge. 194 Ein solches Baukastenprinzip verwendet etwa Gundacker in Christi Hort, um das irdische Leben Jesu darzustellen, vgl. Bushey: Das Leben Christi in Gebetsform in Gundackers › Christi Hort ‹ (1984), S. 61. 195 Vgl. Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (1976), S. 120. 196 Lutz: Rhetorica divina (1984), S. 144. 197 Vgl. Baier/ Ruh: Ludolf von Sachsen (1985), Sp. 972. 198 Vgl. Bushey: Das Leben Christi in Gebetsform in Gundackers › Christi Hort ‹ (1984), 62. 199 Unter anderem lassen sich Bertholds Zeitglöcklein und das Itinerarium in dieser Traditionsreihe verorten. 200 Baier/ Ruh: Ludolf von Sachsen (1985), Sp. 971. Die inhaltliche Zäsur der insgesamt 181 Kapitel bildet das Bekenntnis Petri zur Göttlichkeit Christi, das S. Mary Immaculate Bodenstedt (S. N. D.) als »pivotal point« bezeichnet, vgl. Bodenstedt: The Vita Christi of Ludolphus the Carthusian (1944), S. 96. 2.4 Tradition der narrativen Apostrophe 103 <?page no="104"?> und [ … ] zusammenfassende[s] Gebet am Schluß« 201 aufgebaut. Die abschließenden Gebete, bei denen Ludolf auf die Evangelientexte und weitere theoretische und theologische Schriften zurückgreift, 202 beeinflussen die narrative Apostrophe am deutlichsten: In ihnen wird das zuvor Betrachtete zusammengefasst und zu einem narrativen Kern verdichtet, wobei die Erzählung in die Anrede integriert ist. Die erzählend-zusammenfassenden Gebete sind größtenteils an Christus adressiert, gelegentlich richten sie sich aber auch an anderes Personal der Heilsgeschichte: Wer innerhalb des Kapitels im Fokus stand, ist nun Adressat und Protagonist der abschließenden Gebetserzählung. 203 Trotz des summarischen Charakters der Gebete bilden sie im Verbund eine fortschreitende Erzählung. Nicht nur die Einheitlichkeit der adressierten Personen, sondern auch die chronologische Anordnung bindet diese zu einer Einheit zusammen. Zuweilen kommen weitere Gliederungssysteme hinzu: In den Gebeten, die etwa das Passionsgeschehen betrachten, wird komplementär die Zeitstruktur des Stundengebets unterlegt: Beginnend mit Jesu Gebet auf dem Ölberg zur Komplet bis hin zur Grablege Christi an der Komplet des folgenden Tages wird der Zyklus des Stundengebets auf die chronologische Ordnung der Erzählung aufgepropft. 204 Einige Charakteristika der narrativen Apostrophe zeichnen sich bereits im ersten Gebet ab, das an Gott adressiert ist und die Schöpfungsgeschichte zum Thema hat: De divina et aeterna Christi generatione Domine Deus, Pater omnipotens, qui coaeternum et coaequalem, et consubstantialem tibi ante omnia saecula Filium ineffabiliter genuisti, cum quo atque Spiritu Sancto omnia visibilia et invisibilia, ac me miserum peccatorem inter omnia creasti, te adoro, te laudo, teque glorifico: propitius esto mihi peccatori et ne despicias me opus manuum tuarum, sed salva et adjuva me propter nomen sanctum tuum. Operi manuum tuarum dexteram porrige, carnali fragilitati succurre. Qui me fecisti, refice infectum vitiis; qui me formasti, reforma corruptum peccatis; ut secundum magnam tuam misericordiam salves animam meam miseram. Amen. (Vita Christi I,1) Über die göttliche und ewige Erschaffung Christi. Gott, Herr, allmächtiger Vater, der du vor Anbeginn der Zeit auf unbeschreibliche Art und Weise deinen Sohn geschaffen hast, der dir gleich an Ewigkeit, Rang und Wesen ist; mit diesem und dem Heiligen Geist hast du alles Sichtbare und Unsichtbare und mich armen Sünder unter allem anderen erschaffen; dich bete ich an, dich lobe ich, dich verehre ich: Sei mir Sünder gnädig und verachte mich nicht, der ich das Werk deiner Hände bin, sondern rette mich und hilf mir wegen deines Heiligen Namens. Reiche mir, dem Werk deiner Hände, deine Rechte und komm ’ der fleischlichen Schwäche zu Hilfe. Du, der du mich gemacht hast, erneuere mich, der ich von Fehlern und Lastern geschwächt bin; du, der du mich geformt hast, forme mich, der ich von Sünden verdorben bin, ein weiteres Mal, damit du entsprechend deiner großen Barmherzigkeit meine elende Seele rettest. Amen. 205 201 Baier/ Ruh: Ludolf von Sachsen (1985), Sp. 971. 202 Für eine Auflistung der zentralen von Ludolf verwendeten Quellen siehe Baier/ Ruh: Ludolf von Sachsen (1985), Sp. 972. 203 Dieses Verfahren übernehmen sowohl Bertholds Zeitglöcklein als auch das Itinerarium. 204 Vgl. Bodenstedt: The Vita Christi of Ludolphus the Carthusian (1944), S. 97. 205 Die Vita Christi wird hier und im Folgenden zitiert nach der Edition von S. Mary Immaculate Bodenstedt: Praying the Life of Christ. First English Translation of the Prayers Concluding the 181 Chapters of the Vita Christi of Ludolphus the Carthusian: the Quintessence of His Devout Meditations on the Life of Christ. Salzburg: Institut für Englische Sprache und Literatur 1973. 104 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="105"?> Die nicht in die Form der Anrede gebrachte Rubrik benennt das Thema des vorausgegangenen Abschnitts. Sie fungiert als Überschrift für das nachfolgende Gebet, das vor allem eine Bitte des › Ichs ‹ enthält. Das narrative Moment ist in Ludolfs Gebeten in der invocatio angelegt, die Gott in seiner Eigenschaft als Weltenschöpfer anspricht. Denn neben den preisenden Anreden ist in die invocatio ein Miniaturnarrativ integriert, das mit der Erschaffung allen Lebens, den Sprechenden miteingenommen, ein wesentliches Storyelement beinhaltet. Dazu bedient sich die invocatio der Konstruktion des prädikativen Relativsatzes, der an den »hymnischen Partizipialstil« 206 erinnert und mit dem vergangene Heilstaten in die Anredeform gebracht werden. Der auf die beiden Vokative domine und pater bezogene Relativsatz und seine Perfektformen in der zweiten Person, genuisti und creasti, erinnern an die göttlichen Taten. So wird eine Narrativität entfaltet, die von den präsentischen Formen des angeschlossenen Gebets (adoro, laudo, glorifico) kontrastiert wird. Die enge Verknüpfung von Heilsgeschichte und Gegenwart, die das präsenzstiftende Moment der narrativen Apostrophe vorwegnimmt, zeigt sich besonders deutlich in den Imperativen: So zielt die Aufforderung, den von Lastern geschwächten Sprecher wiederherzustellen (refice infectum vitiis) zwar auf zukünftiges Handeln; indem Gott jedoch als Adressat dieses Imperativs als Subjekt des in der Vergangenheit liegenden Schöpfungsakts beschrieben wird (qui me fecisti), überlagern sich beide Zeitebenen. Für die Gebete in Ludolfs Vita Christi ist der »hymnische Relativstil« die Keimzelle für Narrativität. Auch in Gebet I,33 (De sermone Domini in monte), das sich an den Abschnitt zur Bergpredigt anschließt, ist die invocatio narrativ: Domine Jesu Christe, qui ut altiora virtutum culmina doceres, in montem cum discipulis ascendisti: ibique beatitudines et virtutes sublimes docuisti et praemia singulis congruentia promisisti; da mihi fragili, ut tuam vocem audiens, studeam per virtutum exercitium habere meritum, quatenus te miserante consequar et praemium. (Vita Christi, I,33) Herr Jesus, der du mit deinen Jüngern auf den Berg gestiegen bist, um sie in den höheren Gipfeln der Tugenden zu unterweisen, und der du dort die höchsten Seligkeiten und Tugenden gelehrt und ihnen den einzelnen [Tugenden] entsprechenden Lohn versprochen hast; hilf mir, der ich schwach bin, dass ich mich bemühe, während ich deine Stimme höre, durch die Übung einen Verdienst zu haben, um am Ende durch deine Barmherzigkeit Lohn zu erreichen. Die Anrede mit ihrem prädikativen Relativsatz bildet hier das Scharnier für die Gegenwart des Sprechens und das von Jesus bewirkte Heilsgeschehen. Dabei überschreitet die › Erzählung ‹ sogar die Grenze des Relativsatzes und eröffnet einen eigenständigen »narrative clause«. 207 Nicht bei allen Gebeten der Vita Christi geht die einleitende invocatio in die Kurzerzählung eines Handlungsabschnitts über. Stattdessen überwiegen die Gebete, in denen die jeweilige Station nicht narrativ dargeboten wird, sondern lediglich als Folie für die Bitte anzitiert wird. Ein Beispiel ist das Gebet I, 62, das die Episode von der Frau aus Samaria beschließt: Domine Jesu Christe, dives omnium bonorum, et largitor opulentissime, da mihi fatigato in hujus vitae itinere cibum et potum, ut reficiar a te: fons vitae et omnium gratiarum uberrime, cor meum ab ubertate voluptatis tuae inebria, ut obliviscatur omnia ista transitoria. (Vita Christi, I, 62) 206 Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 28 f. 207 Labov/ Waletzky: Narrative Analysis: Oral Versions of Personal Experience (1967), S. 22. 2.4 Tradition der narrativen Apostrophe 105 <?page no="106"?> Herr Jesus Christus, reich an allen Gütern und freigebigster Spender, gib mir, der ich erschöpft bin, auf dem Weg dieses Lebens Speise und Trank, damit ich von dir erfrischt werde: Du Quelle des Lebens und überreich an allen Gnaden, mache mein Herz voll mit der Fülle der in dir bestehenden Lust, damit es all diese vergänglichen Dinge vergisst. Eine narrative Einlassung fehlt hier. Die Bitte schließt zwar inhaltlich an die bei Jh 4, 1 - 30 überlieferte Episode an, indem es die Metaphorik des gnadenspendenden Tranks gebraucht. Sie belässt es jedoch bei den Andeutungen und springt direkt zur Bitte an Jesus, das › Ich ‹ ebenso zu › erfrischen ‹ . Die Funktionalisierung des Narrativs für die Gebetsbitte zeigt sich sowohl in den Gebeten, die ein Miniaturnarrativ enthalten, als auch in denen, die das zugrundeliegende Narrativ lediglich indirekt als Folie gebrauchen. In den Gebeten, die narrative Sätze beinhalten, lässt sich zudem deutlich zwischen discours und histoire unterscheiden: Hier bilden die einleitende invocatio und die an die Kurzerzählung angeschlossene Bitte den Rahmen für das Erzählte, auch der Tempusgebrauch trägt zur klaren Differenzierung zwischen beiden Ebenen dar. Was hier schon im Kleinen angelegt ist, greifen die untersuchten Texte auf und entfalten es: Die narrativen Passagen werden gegenüber den diskursiven Partien ausgedehnt, die die Kommunikationssituation initiieren und aufrechterhalten. Zwar überwiegt das Moment des Gebetssprechens bei Ludolf von Sachsen noch deutlich, die chronologisch linear fortschreitende Gesamterzählung ist jedoch schon vorhanden. Hier knüpfen die Texte des Untersuchungskorpus an: Ob sie die Erzählung in verschiedene Abschnitte portionieren, die die diskursive Rahmung von Anrede und Bitte jeweils auf neue aktualisieren - wie in Christi Hort, in den Andachtsbüchern und im Elisabethgebet - , oder die gesamte Erzählung in einen einzigen Rahmen einbetten und innerhalb dieses Rahmens mit ihrer Geschichte fortfahren (im Christophorusgebet oder in der Ägidiuslegende) - stets erzählen die Texte die vollständige, linear in der Chronologie fortschreitende Geschichte ihrer jeweiligen Protagonisten. In diesem Sinne wirkt Ludolfs Vita Christi durchaus traditionsbildend für Texte wie das Zeitglöcklein und das Itinerarium. 208 2.5 Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens Dass die Texte, in denen die narrative Apostrophe Anwendung findet, auch wirklich narrativ sind, ist nicht immer augenscheinlich, sondern hängt stark davon ab, welches Verständnis von Narrativität zugrunde gelegt wird. Erzählen wird zwar allgemein als Grundkomponente menschlichen Lebens betrachtet, 209 die Frage, was Erzählen ist, ist jedoch nach wie vor offen. Während die Vertreter klassischer Erzähltheorien in Anlehnung an die antike Theorie 210 insbesondere den kommunikativen Aspekt von Erzählungen 208 Vgl. Bushey: Das Leben Christi in Gebetsform in Gundackers › Christi Hort ‹ (1984), S. 63. 209 Vgl. Branigan: Narrative Comprehension and Film (1992), S. 3. Dorothea Erbele-Küster bezeichnet Narrativität als »eine Form, das menschliche Sein zu erschließen«, Erbele-Küster: Narrativität (2009). Dazu auch Jörg Schönert, für den Narrative »anthropologisch vorgegebene, kulturell entwickelte und diversifizierte Grundmuster [darstellen], um sich in der Welt zu orientieren und Sinn zu erzeugen«, Schönert: Was ist und was leistet Narratologie? (2006). 210 Siehe dazu Abbott: Narrativity (2014). 106 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="107"?> fokussierten und Narrativität an »einer mittelbare[n] erzählerische[n] Wirklichkeitspräsentation« 211 festmachten, definierten strukturalistische Theoretiker Erzählen anhand der Qualität des Erzählten: Ein Text sei demnach narrativ, wenn das in ihm Dargestellte Handlungs- oder Ereignisfolgen beinhaltet, also Sequenzialität bzw. Ereignishaftigkeit gegeben ist. Dieses Konzept geht auf Jurij Lotman zurück, der ein Ereignis ( › event ‹ , › événement ‹ , › sobytie ‹ ) mit einer Zustandsveränderung gleichsetzt. 212 Für Wolf Schmid muss eine Zustandsveränderungen drei Bedingungen erfüllen, um Narrativitäts-begründend zu wirken: Es bedarf einer temporalen Struktur mit mindestens zwei Zuständen, wobei Ausgangs- und Endzustand eine gewisse Äquivalenz aufweisen müssen. Die Zustände müssen sich außerdem auf das gleiche Handlungssubjekt (Handlung) bzw. -objekt (Vorkommnis) oder auf das gleiche setting beziehen. 213 Außerdem ist Ereignishaftigkeit nach Schmid eine skalierbare Größe, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann und deren Grad sich anhand weiterer Merkmale bestimmen lässt: Ereignisse sollten erstens relevant sein und zweitens ein gewisses Maß an Imprädiktabilität aufweisen, um auch als ereignishaft gelten zu können. Darüber hinaus könne ein Ereignis eine höhere Ereignishaftigkeit besitzen, wenn es außerdem konsekutiv ist, also Einfluss auf die erzählte Welt hat, irreversibel und non-iterativ ist. Gerade diejenigen Texte der narrativen Apostrophe, die subsumierend erzählen bzw. aufgrund des Vorwissens der Rezipienten vorhersehbar sind, würden nach diesem strengen Verständnis nicht als ereignishaft und als nicht-narrativ gelten. Was aber in eine spezifischen Erzählkultur oder innerhalb einer bestimmten Gattung als ereignishaft betrachtet wird, ist, wie Schmid einräumt, variabel. Dem strukturalistischen Narrativitätsbegriff stellten poststrukturalistische Narratologen wie Monika Fludernik ein anderes Konzept entgegen, das Narrativität vom Plot abkoppelt. Für sie muss ein Text stattdessen anthropomorphe Erfahrungshaftigkeit ( › experientiality ‹ ) erzeugen: »[N]arrativity is constituted by a narrative ’ s creation of experientiality, and experientiality to a large extent relates to a protagonist ’ s consciousness«. 214 Hier wird die Erkenntnis der kognitiven Forschung aufgegriffen, dass Erfahrung als emotional aufgeladene Erinnerung verarbeitet und gespeichert wird. Die Vermittlung solcher Erfahrung, in Form von Handlungen, Gefühlen und Intentionen gilt hier als Hauptmerkmal von Narrativität. 215 Diese beiden vorangegangenen Definitionen bringt Vera Nünning zur Synthese, wenn sie Narrativität als »Bündel von formalen und thematischen Merkmalen« 216 begreift: 211 Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 1. 212 Nach Lotman (Die Struktur des literarischen Texts (1972)) konstituiert sich ein Sujet als ereignishafte Handlungsfolge, die ein bestimmtes semantisches Feld voraussetzt, das sich in zwei Teilmengen gliedern lässt. Die Überschreitung der - normalerweise unüberschreitbaren - Grenze zwischen beiden Bereichen durch einen Helden als Handlungsträger ist damit Bedingung für das Vorliegen von Sujethaftigkeit bzw. Narrativität: »Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes«, vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 13. 213 Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 3. Das Kriterium der Temporalität wird häufig durch die Bedingung einer Motivation bzw. eines Kausalzusammenhangs ergänzt, die wiederum unterschiedlich ausfallen kann und kausaler, finaler oder kompositorischer Natur sein kann, wie Matías Martínez und Michael Scheffel erörtern, vgl. Martínez/ Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 114 - 122. 214 Monika Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction (2001), S. 93 bzw. Fludernik: Towards a › Natural ‹ Narratology (1996), S. 30. 215 Vgl. Fludernik: Towards a › Natural ‹ Narratology (1996), S. 29. 216 Nünning: Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie (2011/ 12), S. 90. 2.5 Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens 107 <?page no="108"?> Demnach seien Sequenzialität und Erfahrungshaftigkeit zwar zentrale, nicht jedoch das jeweils einzige Kriterium für Narrativität. 217 Nünnings offener Erzählbegriff umfasst daneben noch weitere Konstituenten wie den Bezug auf bestimmte Kommunikationssituationen und Rezipienten, der je nach Gattung unterschiedlich ausfallen kann. In Anlehnung an erzähltheoretische Positionen von Aristoteles über Forster bis hin zu Nelson spielt für sie auch die erzählerische Vermittlung eine Rolle: Als »kulturelle Weise[ … ] der Welterzeugung« ermögliche erst die vermittelte Darstellung den Zugang zu der Vorstellungswelt, den Werten und Dispositionen der erzeugten Welt. Zudem nehmen Erzählungen, so Nünning, oftmals eine wertende bzw. moralische Positionierung vor, die in expliziten Erzählerkommentaren oder impliziten Darstellungsmitteln zum Ausdruck kommt. 218 Zugleich zeigt sich, dass Narrativität einen Idealtypus repräsentiert, der in der Realität der Texte als ein › Mehr oder weniger ‹ angetroffen werden kann. Als »Makroschema« 219 wird Narrativität in unterschiedlichen Textgattungen unterschiedlich realisiert, 220 von einer kaum narrativen Berichtssequenz bis hin zu einer voll ausgestatteten Erzählung. Konsequenterweise betont Nünning daher, dass es die »prototypische › Erzählung an sich ‹ « 221 nicht gebe, sondern die Merkmale von Narrativität auf unterschiedliche Weise realisiert sein können. Das ist auch für das mittelalterliche Erzählen und die mittelalterliche Du-Erzählung von Bedeutung: In welchem Maße sind diese Text überhaupt narrativ und welche Formen von Narrativität bzw. Erzählen lassen sich ausfindig machen? Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in Gebeten ebenso wie in lyrischen Texten Anreden oftmals einen Minimalgrad an Narrativität besitzen. Der Rezipient wird dann dazu aufgefordert, einzelne 217 Eine solche Synthese mehrerer Konzepte ist außerdem auch in der Argumentation Fluderniks angelegt, die mehrere Konstituenten des Narrativen benennt: eine logisch-kausale › gebundene ‹ Sequenzialität, die Intentionalität des Protagonisten als bewusste Entscheidung für eine von mehreren möglichen Handlungsverläufen sowie die dynamische Teleologie des Erzählens, die sich aus der Transformation einer Ausgangssituation in ein Ergebnis ergibt, vgl. Fludernik: Towards a › Natural ‹ Narratology (1996), S. 22. 218 Vgl. Nünning: Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie (2011/ 12), S. 91 - 93. Eine Definition von Narrativität, die mehrere der genannten Kriterien umfasst, bietet Marie-Laure Ryan: Avatars of Story (2006), S. 8: »Narrative must be about a world populated by individuated existents. This world must be situated in time and space and undergo significant transformations. The transformations must be caused by nonhabitual physical events. Some of the participants in the events must be intelligent agents who have a mental life and react emotionally to the states of the world. Some of the events must be purposeful actions by these agents, motivated by identifiable goals and plans. The sequence of events must form a unified causal chain and lead to closure. The occurrence of at least some of the events must be asserted as fact for the story world. The story must communicate something meaningful to the recipient«. Auch Monika Fludernik legt ihrer »Einführung in die Erzähltheorie« einen offenen Begriff von › Narrativität ‹ zugrunde: »Eine Erzählung (engl. narrative, frz. récit) ist eine Darstellung in einem sprachlichen und/ oder visuellen Medium, in deren Zentrum eine oder mehrere Erzählfiguren anthropomorpher Prägung stehen, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht existenziell verankert sind und (zumeist) zielgerichtete Handlungen ausführen (Handlungs- oder Plotstruktur), Wenn es sich um eine Erzählung im herkömmlichen Sinn handelt, fungiert ein Erzähler als Vermittler im verbalen Medium der Darstellung. Der Erzähltext gestaltet die erzählte Welt auf der Darstellungsbzw. (Text-)Ebene kreativ und individualistisch um, was insbesondere durch die (Um-)Ordnung der zeitlichen Abfolge in der Präsentation und durch die Auswahl der Fokalisierung (Perspektive) geschieht«, Fludernik: Erzähltheorie (2008), S. 15. 219 Nünning: Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie (2011/ 12), S. 90. 220 Vgl. Fludernik: Towards A › Natural ‹ Narratology (1996), S. 323. 221 Nünning: Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie (2011/ 12), S. 94. 108 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="109"?> Storyelemente während der Lektüre zu einem Plot zu ergänzen und als narrativ zu interpretieren. Die häufige Strukturierung der Du-Erzählungen in Abschnitte nach dem Vorbild der manunge, legt außerdem die Frage nahe, inwieweit Narrativität ein Phänomen ist, das auf Ebene der Einzelepisode und auf der des gesamten Textes angelegt sein kann. Schließlich wird nach weiteren Erzählstrategien neben dem › konventionellen ‹ linearchronologischen Erzählen gefragt. 2.5.1 Erzählkerne und Prozesse des Narrativisierens Die Annahme, dass Narrativität ein skalierbares Phänomen sei und dabei ein Spektrum von »non-narrative to minimally narrative to fully narrative texts« 222 abdecken könne, gründet auf den Erkenntnissen einer kognitiv ausgerichteten Erzählforschung: Narrativität sei dabei kein dem Text inhärentes Merkmal, sondern vielmehr eine rezeptionsästhetische Kategorie; sie sei das Resultat einer Interpretationsleistung des Lesers, der während der Lektüre eine »Narrativisierung« vornimmt und dadurch erst Narrativität konstituiert. 223 In der Rezeption bemühe sich ein Leser demnach darum, einen Text als narrativ zu lesen, selbst dann, wenn dieser überhaupt nicht narrativ ist. Das illustriert Monika Fludernik am Beispiel eines Textes mit einem inkonsistenten Plot: They therefore attempt to re-cognize what they find in the texts in terms of the natural telling or experiencing or viewing parameters, or they try to recuperate the inconsistencies in terms of actions and event structures at the most minimal level. This process of narrativization, of making something narrative by the sheer act of imposing narrativity on it, needs to be located in the dynamic reading process where such interpretative recuperations hold sway. 224 Im Falle einer nur unvollkommen ausgebildeten Narrativität fordere der Text den Rezipienten dazu auf, einzelne Elemente umzustrukturieren, zu kombinieren und zu ergänzen, um einen unvollständigen und widersprüchlichen Plot zu rekonstruieren. 225 Das Definiens für Narrativität, Sequenzialität und Ereignishaftigkeit, ist nach dieser Auffassung also Resultat eines Interpretationsprozesses und steht als solches im Zusammenhang mit der Rezeption: The event is but a hermeneutic construct for converting an undifferentiated continuum of the raw data of experience, or of the imagination, into the verbal structures we use to talk about experience: narratives, stories. 226 222 Fludernik: Towards A › Natural ‹ Narratology (1996), S. 323. 223 Vgl. Fludernik: Towards A › Natural ‹ Narratology (1996), S. 20. 224 Fludernik: Towards A › Natural ‹ Narratology (1996), S. 34. 225 Folgende Aufforderungen zur Narrativierung ergehen nach Marie-Laure Ryan von den Textelementen an den Rezipienten: »[E]mbed them, combine them, multiply them, interleave them, dilute them with other ingredients, strip them of some of their basic elements, distort them, propose them for their own sake or use them in support of an argument, promise and defer them sometimes without guarantee of their eventual completion, derive them from the text by responding to a narratorial invitation, read them into the text on its implicit suggestion, and impose them on the text as an act of personal interpretation«, Ryan: The Modes of Narrativity and Their Visual Metaphors (1992), S. 385. 226 Fleischman: Tense and Narrativity (1990), S. 99. 2.5 Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens 109 <?page no="110"?> Als weitere Form einer nur unvollkommen ausgebildeten Narrativität gilt die »embryonic narrativity«, 227 bei der nur ein narrativer Kern vorhanden ist, etwa die Anspielung auf eine Erzählung. Auch hier vollziehe der Leser einen Narrativisierungsprozess, indem er das im Text nur angedeutete, nicht jedoch ausgeführte narrative Element erschließt, um Kohärenz herzustellen. 228 Es drängt sich der Vergleich mit dem mittelalterlichen Bildmedium auf, bei dem wohl eine ähnliche Interpretationsleistung durch den Betrachter vollzogen wurde: Der mittelalterliche Mensch und Künstler sah und dachte in Bildern und Bildfolgen, gleich, ob sich das Bildgeschehen innerhalb eines Bildes oder in Einzelbildern abspielte. Auch wenn Vorgänge aus einer Bildfolge als Einzelmotive herausgelöst wurden, blieb für den Künstler und Betrachter, aus der Kenntnis des Gesamtgeschehens, der Vorstellungszusammenhang erhalten. 229 Das Gesamtgeschehen müssen Rezipienten auch bei denjenigen Apostrophen erschließen, in der Narrativität lediglich angedeutet ist. In dieser Du-Erzählung in Schwundstufe kommt vor allem derAnrede häufig narrativisierende Funktion zu: Oftmals bildet sie eine minimale Einheit, die stichwortartig ein dahinterstehendes Narrativ anreißt, ohne es vollständig auszuerzählen, zuweilen als › Überschrift ‹ , als › abstract ‹ des Narrativs. 230 Gerade die in die Anrede integrierten Namen und Titel wirken hier narrativisierend. Sie verdichten biblische Ereignisfolgen oder verkürzen theologische Dogmen auf ein Schlagwort. Wie in der Alltagskommunikation ist die Anrede meist mit dem Namen verknüpft. Als Designator wird dieser dazu gebraucht, das Gegenüber zu identifizieren, etwa in der Anrede du hast an dainer gothait / nicht gelitten, Christ (Eia der grossen liebe, vv. 94 f.: »Du hast an deiner Gottheit nicht gelitten«). 231 Oftmals ergänzen daher Epitheta den Personennamen, die den Angesprochenen näher beschreiben, also als › qualifier ‹ fungieren: Sie greifen zentrale Charakteristika heraus, die im religiösen Kontext in einem heilsgeschichtlichen Narrativ begründet sind. Die Anrede O du falscher Judas (Eia der grossen liebe, v. 127: »oh du falscher Judas«) 232 etwa spielt auf den Verrat an Christus an und evoziert damit ein Narrativ, das als bekannt vorausgesetzt ist und deshalb nicht auserzählt werden muss. Daneben gebrauchen die narrativierenden Apostrophen auch Funktionsnamen, mit denen soziale Konstellationen 233 und Ereignisketten verkürzt abgebildet werden, beispielsweise bei der Anrede von Christus als Herr oder Maria als Herrscherin. Auch formelhaft gewordene Anreden wie des 227 Ryan: The Modes of Narrativity and Their Visual Metaphors (1992), S. 384. 228 Ähnliches stellen Jan Baetens und Mieke Bleyen auch für die Narrativität von Fotographien bzw. bildlichen Darstellungen fest: »This would mean that a single-frame photograph can only be considered › completely narrative ‹ if it succeeds in piquing the spectator ’ s curiosity with a chronologically and causally organized and motivated visual narrative and making him or her yearn for some ending«, Baetens/ Bleyen: Photo Narrative, Sequential Photography, Photonovels (2010), S. 171. 229 Gert Duwe: Der Wandel in der Darstellung der Verkündigung an Maria vom Trecento zum Quattrocento (1988), S. 30. 230 Vgl. Fludernik: Towards A › Natural ‹ Narrativity (1996), S. 325. Die Bezeichnung › abstract ‹ als »announcement of a theme« entlehnt Fludernik der Terminologie William Labovs, der damit den ersten, orientierenden Teil in der narrativen Struktur einer mündlichen Erzählung bezeichnet, vgl. Labov: Language in the Inner City (1972) bzw. Labov/ Waletzky: Narrative Analysis (1967), S. 32. 231 Vgl. Schaeffler: Das Argument und das Gebet (1989), S. 109. 232 Das Lied des Mönchs von Salzburg wird zitiert nach der Ausgabe von Franz Viktor Spechtler: Die geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Berlin/ New York: De Gruyter 1972. 233 Vgl. Braun/ Schöpsdau/ Lebsanft: Anrede (1992), S. 649. 110 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="111"?> himilis chuniginne (Mariensequenz von Muri, v. 10: »Himmelskönigin«) 234 oder O jungfröuleiche raine maid (Hört zue, was ellentleicher mär, v. 27: »Oh jungfräuliche reine Magd«) 235 sind im Grunde Funktionsnamen. Sie drücken einerseits Ehrerbietung aus, spielen andererseits aber auch auf theologisches Wissen wie das Dogma der semper virgo an. 236 Eine Mischung aus Funktions- und Personenname ist der Name Christophorus, der sich vom griechischen Χριστός ( › Christus ‹ ) und φορείν ( › tragen ‹ ) ableitet. Hier greift der Name ein narratives Kernelement auf, das im Christophorusgebet auch auserzählt wird. Damit die Anreden überhaupt narrativisiert werden und als Verkürzungen eigenständiger Plots fungieren können, bedarf es eines gemeinsamen › frame ‹ . Nur wenn Leser und Text auf einen solchen zugreifen können, kann das chiffrierte Wissen aufgelöst werden. Als Wissensspeicher dient in erster Linie die Bibel. Vor allem das Neue Testament liefert das nötige Hintergrundwissen, um die narrativen Kerne zu entschlüsseln und während der Lektüre mit den korrespondierenden Ereignisketten zu unterfüttern. Besonders ausgiebigen Gebrauch hiervon macht die Mariensequenz von Muri, die zahlreiche Marienbilder in den Anreden anzitiert. Hier wird die Gottesmutter etwa als gotes cella, / beslozzinû porta (Mariensequenz von Muri, vv. 4 f.: »Gottes Cella, verschlossene Porta«) angerufen und damit ihre heilsgeschichtliche Rolle bei der Inkarnation betont. Identifikatorische und memorative Funktion übernehmen die narrativen Kerne der Anreden, indem sie mit dem Zitat der zugrundeliegenden Plots die Angesprochenen auf ein bestimmtes Profil festlegen. 237 Ganze Erzählsequenzen sind in solchen Anreden schon angelegt, die sich anschließend in Form von Erzählepisoden entfalten oder in einem nichtnarrativen Kontext für sich stehen können. 238 Als minimale narrative Einheiten laden sie den Leser dazu ein, sein Hintergrundwissen zu aktivieren und die in der Anrede gespeicherten Episoden abzurufen. Ähnliche Prozesse werden auch angeregt durch eine lückenhafte oder gar fehlende Plotstruktur, die etwa in Von Gottes zukunft mit einer Übergewichtung der discours-Ebene gegenüber der histoire einhergeht. Den Rahmen bietet hier die lineare Chronologie: Wie auf einem Zeitstrahl fügen sich die einzelnen Ereignisse aus dem irdischen Leben Christi aneinander, wobei manche Episoden ausführlicher erzählt, manche nur gestreift oder in Form von gebetshaften Bitten oder Anrufungen eingeflochten werden. Die folgende Passage thematisiert auf diese Weise etwa die Menschwerdung: Doch wollte du die armut han. Da du geborn worde, Da waz ku ͦ mers borde Und ellende do mit alle: In einem sno ᵉ den stalle 234 Die Mariensequenz von Muri wird zitiert nach der Ausgabe von Eberhard Haufe: Deutsche Mariendichtung aus neun Jahrhunderten. Herausgegeben und erläutert von Eberhard Haufe. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1960. 235 Oswalds Hört zue, was ellentleicher mär wird zitiert nach der Edition von Karl Kurt Klein: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. 4. grundlegend neu bearb. Aufl. von Burghart Wachinger. Berlin/ New York: De Gruyter 2015. 236 Mindestens genauso präsent ist die Episode auch in der Anrede Marias als magt vor und nach (Oswald von Wolkenstein, Hört zue, was ellentleicher mär, v. 6: »Jungfrau vor und nach [der Geburt]«). 237 Vgl. Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 19. 238 Vgl. Schaeffler: Kleine Sprachlehre des Gebets (1988), S. 55. 2.5 Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens 111 <?page no="112"?> Din bette waz ein krippe. Du von ku ᵉ niges sippe, Wie waz din demu ͦ t so groz! Doch kanten wol die zwei noz, Der esel und daz rindelin, Ir herre were daz kindelin. (Von Gottes zukunft, vv. 2082 - 2092) Doch du wolltest Armut erleiden. Als du geboren wurdest, da herrschte großer Kummer und damit überall Elend: Dein Bett war eine Krippe in einem einfachen Stall. Du, der du von Königen abstammst, wie groß war deine Demut. Doch erkannten wohl die zwei Gesellen, der Esel und das Rind, dass das Kindlein ihr Herr war. Im engeren Sinne erzählt der Text nicht oder nur kaum, lediglich die Adverbiale Da du geborn worde ordnet das Geschehen in einen temporalen Zusammenhang ein. Ansonsten begnügt sich Heinrich hier damit, ein Panorama zu erzeugen, das einer Text gewordenen Krippenszenerie entspricht. Die im Evangelium auserzählte Geschichte von der erfolglosen Suche nach einer Herberge und die eigentliche Geburt werden abgeblendet, nur der Hinweis auf ku ͦ mer und ellende verweist auf die vorausgegangene Geschichte. Diese wirkt als minimal-narrative › embryonische ‹ Anlage, indem sie den Rezipienten dazu auffordert, Lücken zu einem Plot aufzufüllen und so die Narrativität des Textes erst zu stiften. 2.5.2 Narrativität auf verschiedenen Ebenen und Spuren von mündlichem Erzählen Selbst Texte, die einen hohen Grad an Narrativität aufweisen, sich also sehr leicht als Erzählung begreifen ließen, bestehen nicht ausschließlich aus narrativen Elementen, sondern sind oftmals heterogen gestaltet. Als Vertreter eines » › mixed ‹ genre« bestehen Erzähltexte in der Regel aus mimetischen und diegetischen Elementen und vereinen verschiedene Diskursmodi. 239 Das gilt auch für die Texte, in denen die narrative Apostrophe gebraucht wird: Insbesondere in den längeren Texten, die sich in mehrere Unterabschnitte gliedern, wird deutlich, dass nicht alle Passagen gleichermaßen narrativ sind, sondern textintern verschiedene Grade an Narrativität aufweisen. Der Blick auf das Verhältnis von Einzelepisoden und Gesamttext lässt außerdem verschiedene Strategien der Strukturierung des Erzählten offenkundig werden. In fast allen Texten des Korpus ist die erzählte Geschichte in kleinere, episodenhafte oder thematische Abschnitte untergliedert. Bei den beiden Andachtstexten ist das Geschehen sowohl chronologisch als auch nach andachtspraktischen Gesichtspunkten gegliedert. Die vierundzwanzig Stunden des Zeitglöckleins korrespondieren mit dem Tagesablauf des 239 Fludernik: Genres, Text Types, or Discourse Modes (2000), S. 274. Seymour Chatman beispielsweise unterscheidet zwischen den Modi des Deskriptiven, Narrativen und Argumentativen, Jon Adams macht Narration, Deskription und Exposition als diejenigen Modi aus, die sich auf der Textoberfläche untersuchen lassen, vgl. Chatman: Coming to Terms (1990) bzw. Adams: Narrative Explanation (1996). In Anlehnung an Tuija Virtanen und Brita Wårvik schlägt Monika Fludernik ein dreistufiges Modell vor: Auf einer übergeordneten Ebene siedelt sie das »macro-genre« an, das sich vor allem auf kommunikative Funktionen bezieht, die zweite Ebene besetzt das »genre«, davon abhängig lassen sich verschiedene Diskursmodi auf Ebene des Einzeltexts ausmachen, beispielsweise das Narrative oder das Deskriptive, vgl. Fludernik: Genres, Text Types, or Discourse Modes (2000), S. 280 f. bzw. Virtanen/ Wårvik: Observations sur les types de texte (1987). 112 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="113"?> Rezipienten, die sieben Lebensalter Marias, die im Itinerarium Beatae Virginis Mariae beschrieben werden, werden mit der siebenschrittigen Entwicklung des Sünders enggeführt. Auch das epische Christi Hort ordnet als Evangelienharmonie die in den kanonischen Evangelien erzählten Ereignisse und Begebenheiten aus dem Leben Jesu auf einem Zeitstrahl an. Im Rückgriff auf die jeweils anderen Evangelien werden dabei die Lücken geschlossen, die bei der Lektüre nur eines einzelnen Evangeliums mit seinem jeweiligen Schwerpunkt blieben. 240 Das Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth folgt grundsätzlich ebenfalls einer chronologischen Ordnung, sortiert die Episoden aber zugleich auch thematisch. Die Gliederungspunkte und -themen werden in den Rubriken benannt, beispielsweise werden unter der Rubrik Von ir kuschikeit (»Von ihrer Keuschheit«) Ereignisse aus verschiedenen Phasen subsumiert, vom kindlichen Apostellosen über die Josefsehe mit Ludwig bis hin zum Wunsch der Witwe, unverheiratet zu bleiben. In Christi Hort folgen die meisten der narrativen Einzelepisoden bemerkenswerterweise dem Episodenschema, das William Labov und Joshua Waletzky bei mündlichen Alltagserzählungen beobachtet haben und das offenbar über Genre- und Textsortengrenzen hinaus Gültigkeit besitzt. 241 Die einleitenden ich man dich-Formeln fungieren jeweils als › abstract ‹ , indem sie das zentrale Ereignis der Episode oder Thema benennen. In der Episode, die von Jesu Gebet auf dem Berg Tabor erzählt, wird genau das in der Gebetseröffnung angekündigt, wenn es heißt: ich man dich, lieber herre mein, / daz du mit drin jungern d ı ᵉ n / gie uf den perc zeTabor peten (Christi Hort, vv. 867 - 869: »Ich erinnere dich daran, mein lieber Herr, dass du mit drei deiner Jünger auf den Berg Tabor gingst, um dort zu beten«). Der › abstract ‹ , die Themenbenennung, geht anschließend nahtlos in die › orientation section ‹ über, die das Geschehen als Exposition situiert: Die Namen der ihn begleitenden Jünger werden genannt, außerdem macht der Text deutlich, dass der Rückzug zum Gebet typisch für Christus ist. 242 Eine zeitliche Verortung, wie sie sonst oft in den › orientations ‹ vorgenommen wird, bleibt aus. Anschließend setzt die eigentliche Erzählung mit der temporalen Adverbiale du ir chomet oben ouf den perck (Christi Hort, v. 875: »als ihr oben auf dem Berg angekommen wart«) ein. Die › complicating action ‹ , das erzählwürdige Geschehen, besteht in den Wunderzeichen, die Jesu Göttlichkeit unter Beweis stellen und auf die die Jünger zunächst mit Furcht reagieren. Die Episode schließt mit der › resolving action ‹ , dem Sendungsauftrag Jesu an die Jünger, den Menschen das Geschehene zu verkünden. Schließlich beurteilt eine › evaluation ‹ die Episode, indem das Sprecher-Ich den Schluss zieht, Jesus habe auf dem Berg Tabor gotlichiu werk (Christi Hort, v. 876: »göttliche Taten«) vollbracht und damit seine Göttlichkeit unter Beweis gestellt. 243 240 »Die kanonischen Evangelien enthalten meist nur spärliche Angaben, die die Neugier der christlichen Nachwelt mehr weckten als befriedigten. Lediglich Matthäus und Lukas überliefern knappe Berichte über Vorfahren, Geburt und Kindheit. [ … ] Erst in den späteren Darstellungen [ … ] wird teils in Anknüpfung an den Stoff der kanonischen Evangelien, teils aufgrund anderer Überlieferung nach allen Richtungen hin ergänzt, werden Lücken gefüllt und so letztlich geschlossene Erzählzyklen geschaffen«, Masser: Bibel, Apokryphen und Legenden (1969), S. 18 f. 241 Vgl. Labov Waletzky: Narrative Analysis (1967), S. 32 - 41. 242 Im Text heißt es: als du tæte an manigen steten (Christi Hort, v. 870: »so wie du es an vielen Orten tatest«). 243 Nach Labov und Waletzky muss die › evaluation ‹ nicht durch den Erzähler expliziert, sondern kann auch in die Geschichte integriert werden. In der Erzählung von Jesu Salbung durch Maria Magdalena wird das Geschehen durch ein Gleichnis gedeutet, das Jesus als Protagonist der Erzählung selbst erzählt. 2.5 Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens 113 <?page no="114"?> Die Gebetsbitte, die die Erzählung abschließt, fungiert als › coda ‹ , als »functional device for returning the verbal perspective to the present moment«. 244 Indem das Sprecher-Ich mit seiner Bitte, von Jesus ebenso erleuchtet zu werden wie es den Jüngern auf dem Berg Tabor erging, an die Erzählung anknüpft, tritt die zyklische Struktur der Passage deutlich zutage, die in der Diskursgegenwart ihren Anfang nimmt und wieder auf diese zielt. Im Christophorusgebet, das keine klare Untergliederung aufweist, aber dennoch unterschiedliche Ereignisse erzählt, lässt sich diese Erzählstruktur ebenfalls beobachten: Auch hier fungiert die Gebetsbitte als › abstract ‹ , das mit dem Verweis auf den von Gott gegebenen Namen Christophorus das zentrale Ereignis, die in die Taufe mündende Gottesbegegnung, benennt. Eine deutlich expositorische Orientierung findet in den darauffolgenden Versen statt: Von Kananea were du geborn eben, du were vor Reubus genant, dar nach Cristofferus zu ͦ hant. Din person het sterke gros, an lenge wart nie din genos, vii eln lang were du vor war. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 4 - 9) Du wurdest in Kanaan geboren, zunächst wurdest du Reubus, später dann Christophorus genannt. Du besaßest eine große Körperkraft und auch an Körpergröße kam dir niemand gleich, denn du maßest wahrhaftig sieben Ellen. Zeit und Ort werden zwar nicht explizit benannt, die Herkunftsbezeichnung eröffnet jedoch einen von biblischen Konnotationen abgesteckten Raum für Assoziationen und verortet die Erzählung in einem heilsgeschichtlichen Kontext. Als Personenvorstellung fungieren die Verse, die auf die exzeptionelle Gestalt des Heiligen Bezug nehmen 245 und die im › abstract ‹ anklingende Wandlung vom Reubus 246 zu Christophorus aufgreifen. Die einzelnen Stationen der Vita des Heiligen werden in Form mehrerer aneinander gereihten Episoden, bestehend aus › complicating action ‹ and › resolution ‹ , aus actio und reactio, erzählt. Der Gebetsschluss, der die Erzählung abschließt und wieder in die Gegenwart des Diskurses führt, ist auch hier › coda ‹ . › Abstract ‹ , › orientation ‹ und › coda ‹ bilden somit das »Scharnier, auf dem vom kommunikativen Umfeld in die Geschichte hinein und aus ihr heraus geschaltet wird«. 247 Dass die Texte, unabhängig davon, ob sie als Gebrauchstext oder als Dichtung angelegt sind, in ihren Basiseinheiten auf einer Struktur basieren, die im mündlichen Erzählen dominiert, ist Ausdruck des performativen, auf Vollzug gerichteten Charakters der narrativen Apostrophe. 248 244 Labov/ Waletzky: Narrative Analysis (1967), S. 39. 245 Die Größe von vii eln, das entspricht ungefähr dreieinhalb Metern, ist im Vergleich zu den zwölf Ellen, XII cubitos, von denen der Vorlagentext, die Legenda Aurea spricht, noch abgeschwächt, vgl. Legenda Aurea 100, S. 1294, z. 8. 246 Der Name Reubus ist eine verballhornte Version des in der Legenda Aurea überlieferten Namens Reprobus, wobei der Name ebenso sprechend ist wie der später verliehene Name Christophorus. reprobus bedeutet nämlich › verworfen, ruchlos ‹ und stellt die Konversion des Hünen in die Tradition des Saulus, der zum Paulus wird. 247 Fludernik: Erzähltheorie (2013), S. 59. 248 Auch in lexikalischer und syntaktischer Hinsicht weisen die Texte Merkmale eines mündlichen Diskurses auf, beispielsweise in Form zahlreicher Interjektionen, zum Beispiel we in die daz tâten! 114 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="115"?> In Christi Hort gibt es einige Episoden, die lediglich einen narrativen Kern besitzen oder auch überhaupt nicht narrativ sind. So finden sich beispielsweise in der Episode, die unter der Rubrik hie maht Got plinten sehen. (»Hier heilt Gott die Blinden«) summarisch die Wunderheilungen Jesu auflistet, zwar die diskursiven Elemente des Erzählschemas, also › abstract ‹ , zuweilen › orientation ‹ , und › coda ‹ . Das Wechselspiel von › complicating action ‹ und › resolving action ‹ , das die voll ausgebildete Narrativität konstituiert, fehlt jedoch. Die einzelnen Wunderheilungen werden nicht auserzählt, sondern in Gruppen sortiert und belegen in der Summe Jesu Nächstenliebe. Während in Christi Hort die Einzelepisoden zwischen einem sequenziellen Erzählen und einer nur im Kern angelegten Narrativität oszillieren, bewegt sich das Erzählen im Elisabethgebet zwischen den Polen des singulativen und des iterativen Erzählens. Einige wenige Einzelereignisse werden sehr kurz, fast schon stichwortartig › auserzählt ‹ , wie es beispielsweise in der Episode vom Bett- oder Kreuzwunder der Fall ist. 249 Es überwiegt jedoch die einführende Benennung eines Themas, meist in der Rubrik, unter der verschiedene Ereignisse gebündelt werden. Auf Dauer angelegte Zeitangaben wie von dinen iungen tagen biss zu end dins lebens (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 23: »von deiner Jugend bis zu deinem Tode«) oder steteklich (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 10: »immer«) zeigen an, dass es sich hierbei um typische Eigenschaften handelt, die allesamt als Belege für das eingangs angeführte Stichwort gelten. Auf Wiederholung angelegt sind auch Formulierungen wie Du pflegt öch zu sprechen (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 17: »Für gewöhnlich sagtest du«), die ebenfalls darauf zielen, eine bestimmte Haltung oder Verhaltensweise als typisch und iterativ zu zeichnen. Mit der groben Chronologie von Geburt bis zum Tod der Heiligen ist der vitentypische Rahmen zwar gegeben, die untergeordnete Erzählordnung ist allerdings einem thematischen Prinzip verpflichtet, so dass innerhalb der einzelnen Rubriken in der Chronologie hin- und hergesprungen wird. Die Sprechhaltung der narrativen Apostrophe kennt also ein ganzes Spektrum von Formen des Narrativen sowie verschiedene Grade an Narrativität. Gleichzeitig bestätigt sich die Annahme eines weiten Erzählbegriffs, der Erzählen nicht von einem strukturalistisch-sequenzialistischem Verständnis abhängig macht, sondern Narrativität im Sinne einer Prototypensemantik als ein skalierbares Phänomen begreift, das je nach Absicht und Schwerpunktsetzung verschiedene Ausprägungen zulässt. (Christi Hort, v. 1072: »Wehe denen, die so handelten! «) oder dem übermäßigen Gebrauch parataktischer Konstruktionen. 249 In dieser Episode kümmert sich Elisabeth um einen Aussätzigen, den sie schließlich sogar im Bett ihres Ehemanns unterbringt. Als dieser Elisabeth deswegen zur Rede stellen will, verwandelt sich der Aussätzige vor den Augen Ludwigs in Christus und der Zorn des Landgrafen ist daraufhin verflogen: Do du den aller grusamlichsten ussetzigen den du selbs gewäschen gebadet hattest in dins gemahels bett leitest in angesicht des selben dines gemahels wunderbarlich verwandleten in sin eigene gestalt des gecrutzgeten den man solt anbetten dich also löblich erloste von dem zorn dins gemahels gegen dem du dorumb verklegt warst (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 33b - 34: »Als du den sehr entstellten Aussätzigen, den du selbst gewaschen und gebadet hattest, in das Bett deines Ehemannes legtest, verwandelte sich dieser vor den Augen deines Gatten auf wunderbare Weise in die Gestalt des Gekreuzigten, den man anbeten muss, und erlöste dich auf diese Weise vom drohenden Zorn deines Mannes, dem gegenüber du deshalb angeschuldigt warst«). Eine Ausnahme ist die Passage unter der Rubrik Von irem gemahel und sinem gebeine dar (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth49 - 60). Sie ist schon auf Ebene der Einzelepisode eine voll ausgebildete Erzählung, in der verschiedene Merkmale des Narrativen wie Erzählerkommentare, direkte Rede, Innensicht etc. verwirklicht sind. 2.5 Narrative Vielfalt: Formen des Erzählens 115 <?page no="116"?> 2.5.3 Zwischenfazit: Narrativität in der mittelalterlichen Du-Erzählung? Als Sprechhaltung, die zwischen Erzählung und Gebet changiert, fordert die narrative Apostrophe dazu heraus, den Erzählbegriff zu überdenken. Insbesondere die Texte, in denen lediglich narrative Kerne zu finden sind, machen die Unzulänglichkeiten eines rein sequenzialistischen Narrativitätsverständnisses deutlich, nach dem eine Erzählung über das Kriterium der Ereignishaftigkeit definiert und eine temporal-kausale Handlungsstruktur auf Ebene der histoire vorausgesetzt wird. Ein weit gefasster Begriff von Narrativität erlaubt es, auch solche Texte miteinzubeziehen, in denen lediglich eine »embryonic narrativity« 250 angelegt ist. Diese ist zumeist durch Anreden an das Personal der Heilsgeschichte begründet, die auf bestimmte Ereignisse anspielen und zugrundeliegende Narrative › anzitieren ‹ . Solche narrativen Kerne fordern den Rezipienten dazu auf, die korrespondierenden Ereignisse mental abzurufen und den Text zu narrativisieren. Gleichzeitig zeigt sich, dass Narrativität ein Phänomen ist, das auf verschiedenen Ebenen greifbar ist. Während die Einzelepisoden für sich genommen häufig nicht narrativ sind, bilden sie zusammengenommen ein chronologisch-lineares Narrativ, das sequenzialistischen Definitionen entspricht. Narrativität muss also als skalierbares Phänomen begriffen werden. Bemerkenswert ist zudem, dass die meisten Texte dem Schema mündlicher Alltagserzählungen folgen. Wie mündliche Erzählungen weisen auch die nach dem Schema der manunge konstruierten Episoden einen discours-Rahmen auf, der in der Jetztzeit der Gesprächssituation angesiedelt ist und in den das zu erzählende Ereignis eingebettet ist. Diese Nähe zu mündlichkeitstypischen Strategien lässt sich nicht zuletzt mit dem ausgeprägten performativen Potenzial der Texte erklären, die die Texte zu Kommunikationsmedien par excellence machen. 250 Ryan: The Modes of Narrativity and Their Visual Metaphors (1992), S. 384. 116 2 Das Textkorpus - Gattungen und Einzeltexte <?page no="117"?> 3 Narratologische Annäherungen Une technique romanesque renvoie toujours à la metaphysique du romancier. ( Jean-Paul Sartre) 1 Sartres Beobachtung, die erzählerische Technik des Romans spiegele die metaphysische Haltung des Autors wider, besitzt auch für andere Gattungen Gültigkeit. Zeitgenössische Vorstellungen und Weltbilder prägen Literatur, die ihrerseits gestaltend auf diese zurückwirkt. Für lyrische Texte liegt das klar auf der Hand: Ein Teil der vermittelten Erfahrung, die › Botschaft ‹ des Gedichts, liegt nicht nur in dem, was gesagt wird, sondern auch in der Art und Weise, wie es gesagt wird. Und auch die Technik eines Erzähltextes ist Bedeutungsträger, der nicht nur textinterne Gedanken und Sachverhalte speichert, sondern auch textexterne Vorstellungen in Textform transponiert und verdichtet. Betrachtet man daher die Machart eines Textes, kommt man den metaphysischen Prämissen, unter denen er verfasst wurde, und der Gedankenwelt seines Autors auf die Schliche. Der Literaturwissenschaftler - vor allem, wenn er sich mit Werken früherer Epochen beschäftigt - ist damit Archäologe des Immateriellen, der Text das Grabungsfeld, in dem die Denkmuster und Weltbilder, die Philosophien und Überzeugungen einer Kultur geborgen liegen. 2 Eines der Werkzeuge, derer sich der Literaturwissenschaftler als »Textarchäologe« 3 bedienen kann, ist die Narratologie, mit der nicht zuletzt Alteritätserfahrungen bei der Lektüre vormoderner Texte aufgedeckt und erklärt werden können. 4 Die spätmittelalterliche Du-Erzählung, so die Hypothese, ist ein lohnendes Untersuchungsfeld, wenn es darum geht, einen Teil der religiösen Denk- und Vorstellungswelt des späten Mittelalters zu erschließen. Die narrative Technik, die hier zum Einsatz kommt, ist Produkt und Träger dieser Vorstellungswelt. Die narratologische Untersuchung bildet den ersten Schritt zu einem vertieften Verständnis und ermöglicht erste Aussagen über das Weltverständnis, das sich in diesen Texten manifestiert. Da ein spezifisch mediävistisches Instrumentarium für die Narratologie der narrativen Apostrophe noch aussteht, entwirft diese Studie ein solches zunächst. Ausgangspunkt sind narratologische Modelle, die die Forschung bereits für (post-)moderne Texte entwickelt hat. Aufgrund der historischkulturellen Distanz zu den (post-)modernen Vertretern der narrativ gebrauchten Du- Anrede muss das bestehende narratologische Instrumentarium auf seine Aussagekraft für 1 Sartre: Situations (1947), Bd. I, S. 66. 2 Eindrücklich formuliert das Fotis Jannidis: Figur und Person (2004), S. 28: »Seine Aufgabe ist [ … ] die Rekonstruktion der Kommunikation insgesamt, der sie ermöglichenden Codes und Konventionen und der Verwendung, die ein Autor in einem spezifischen Werk davon macht, um sein kommunikatives Ziel zu erreichen.« 3 In Anlehnung an den Begriff › Textarchäologie ‹ , den der Amerikanist Udo Hebel im Kontext der Intertextualitätstheorie geprägt hat, vgl. Hebel: Romaninterpretation als Textarchäologie (1989). 4 Zur Diskussion des Alteritätsbegriffs siehe Kapitel 1.4. <?page no="118"?> spätmittelalterliche Texte hin überprüft und gegebenenfalls angepasst, das Konzept des Erzählverfahrens historisiert werden. Aus diesem Grund werden bereits an dieser Stelle die Texte des Untersuchungskorpus stark miteinbezogen. Der Sonderfall der religiösen narrativen Apostrophe bietet dahingehend auch die Chance für eine historisch arbeitende Narratologie, Erkenntnisse über die Besonderheiten mittelalterlichen Erzählens zu gewinnen. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 3.1.1 Modelle zur Du-Erzählung Narratologen, die sich mit der Erzählhaltung der narrativ gebrauchten Du-Anrede beschäftigen, laufen Gefahr, sich in eine theoretische Aporie zu begeben. Die Ambiguität der Anrede, mit der moderne Erzählungen ihre Leser in den Text ziehen, verstellt den Blick auf die Erzähl- und Handlungssituation, die unübliche Adressierung der Erzählung an den Protagonisten erschwert die Einordnung in herkömmliche Narratologien. In diesem Zusammenhang wurde das narrative › Du ‹ auch als »protean shapeshifter« 5 bezeichnet: Wie der griechische Meeresgott Proteus wandle die Du-Erzählung ihre Gestalt genau in dem Moment, in dem man schon glaubte, sie durchdrungen zu haben, und entziehe sich so dem unmittelbaren Verständnis. Was aber macht eine Erzählung zur Du-Erzählung 6 und warum ist es so schwer, ihrer mit narratologischen Modellen habhaft zu werden? Die Terminologie und die Kurzdefinitionen, die die Forschung aufgestellt hat - wenn sie dem Phänomen denn überhaupt ihre Aufmerksamkeit geschenkt hat 7 - , scheinen auf den ersten Blick unproblematisch. Tatsächlich erweist sich jedoch schon der in der deutschsprachigen Forschung gebrauchte Begriff der › Du-Erzählung ‹ oder des › Erzählens in der zweiten Person ‹ 8 als unzulänglich. Der Terminus ist zwar in Analogie zu fest etablierten Erzählkonzepten wie dem › Ich-Erzählen ‹ naheliegend, wird jedoch der Kommunikationssituation der Anrede nicht gerecht. Denn die Pronomina in Begriffen wie › Er-Roman ‹ , › Du- Erzählung ‹ und › Ich-Erzähler ‹ beziehen sich auf die Protagonisten der Erzählung, 9 sind jedoch insofern terminologisch unsauber, als sie nicht die zugrundeliegende Kommuni- 5 Bonheim: Narration in the Second Person (1983), S. 79. 6 Eine erste Skizzierung des Phänomens erfolgte schon in Kapitel 1.2. 7 Zur Forschungsgeschichte siehe auch Kapitel 1.3.2. Bruce Morrissette, der sich als einer der ersten mit der Du-Erzählung beschäftigte, stellte fest, dass die Du-Erzählung in den Standardwerken der anglistischen Narratologie quasi nicht beachtet wurde: Sie findet keine Erwähnung bei E. M. Forster, in Wayne Booth ’ s »The Rhetoric of Fiction« wird sie als »unsuccessful« beurteilt, jedoch nicht näher beschrieben, vgl. Morrissette: Narrative › You ‹ in Contemporary Literature? (1965), S. 6 f. Bei Gérard Genette findet die Du-Erzählung keine Erwähnung, Franz Stanzel betrachtet in seiner »Theorie des Erzählens« das »Erzählen in der zweiten Person« als »Selbstdramatisierung des Ichs« und gliedert es somit dem Ich-Erzählen ein, vgl. Stanzel: Theorie des Erzählens (1979), S. 286. 8 Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung (2006), S. 46 bzw. Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 169. 9 Vgl. Fludernik: Erzähltheorie (2013), S. 43. 118 3 Narratologische Annäherungen <?page no="119"?> kationssituation mit ihrem Wechsel der Sprecher- und Senderrolle abbilden. 10 Zutreffender ist es, wenn die Perspektivierung zum Definiens erhoben wird. So geht beispielsweise Barbara Korte in ihrer Umschau über die Verwendungsmöglichkeiten der Anredepronomina in literarischen Texten vor. Für sie ist die Du-Erzählung »die Vermittlung des fiktionalen Geschehens aus der Perspektive eines handelnden Dus«. 11 Damit berücksichtigt sie zwar die Situierung des › Dus ‹ auf Handlungsebene, lässt jedoch die Implikationen, die die Schilderung eines Geschehens aus Sicht des Protagonisten- › Dus ‹ für die Erzählerfigur bereit hält, unbeachtet. Weit verbreitet sind Beschreibungsversuche, die die Erzählhaltung nicht von einer Erzählerfigur her aufzuzäumen versuchen, sondern die Kommunikationssituation der Anrede in den Fokus stellen. Der Austausch von Sprecher und Empfänger bildet die Standardsituation der Kommunikation. Sie verständigen sich über einen Inhalt, wobei die kommunikativen Rollen nicht festgelegt, sondern in einen reziproken kommunikativen Schaltkreis eingebettet sind. Irene Kacandes ’ Anordnung der Gebrauchsmöglichkeiten des › Du ‹ in einem literarischen Text innerhalb eines Spektrums, das sich zwischen einem dialogischen und einem apostrophischen Pol aufspannt, 12 ist zwar gut geeignet, die Du- Erzählung wie in der Einleitung in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Die Handlungsbeteiligung des angesprochenen › Dus ‹ , die in Kortes Definition schon anklang, wird hier jedoch ausgeblendet. Dem Phänomen der narrativ gebrauchten Du-Anrede werden also solche Beschreibungsversuche am ehesten gerecht, die sowohl die durch die Anrede eröffnete Kommunikationssituation als auch die Handlungsbeteiligung des mit › Du ‹ angesprochenen Protagonisten berücksichtigen. Beide Aspekte bringt Monika Fludernik in ihrer Definition zusammen. Sie erachtet sowohl die Anredefunktion, die dem deiktischen Personalpronomen › Du ‹ 13 innewohnt (»the conative level of address«), 14 als konstitutiv als auch die Tatsache, dass diese Anrede auf einen Protagonisten der Handlungsebene bezogen ist, (»the level of story reference«). 15 Für Fludernik ist eine Du-Erzählung »fiction that employs a pronoun of address in reference to a fictional protagonist« 16 bzw. »a narrative which uses a pronoun (or term) of address in reference to the main protagonist of a story«. 17 Darauf basiert auch der Definitionsversuch von Ursula Wiest-Kellner, der zur Skizzierung der Erzählhaltung des 10 Bonheim: Fiction in the Second Person (1983), S. 263 f.: »The impossibility of a third-person narrator is revealed if we try to project the idea onto a simple communication model [ … ] The fact that he [the narrator of a third-person narration] does not refer to himself as › I ‹ , obviously does not make him into a › third-person narrator ‹ . The very term is a self-contradiction, a coinage which misleads rather than illuminates, if one takes it too literally.« 11 Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 169. 12 Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 335 - 337. 13 Monika Fludernik betont, dass die Anrede nicht an das › Du ‹ gebunden ist: »Du-Erzählungen inkludieren alle Varianten von Anredepronomina - es gibt also auch Du-Erzählungen mit Höflichkeitspronomen › vous ‹ (frz.) oder › Lei ‹ (ital.)«, vgl. Fludernik: Erzähltheorie (2013), S. 169. 14 Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 218. 15 Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 218. 16 Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 217. 17 Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 105. Dem stimmt auch Brian Richardson zu: Die Du-Erzählung ist für ihn »any narration that designates its protagonist by a second person pronoun«, Richardson: The Poetics and Politics of Second Person (1991), S. 311 bzw. Richardson: Unnatural voices (2006), S. 19. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 119 <?page no="120"?> narrativ gebrauchten › Du ‹ in der Einleitung und für den Kriterienkatalog des Korpus 18 herangezogen wurde. 19 Diese Verflechtung von Anrede und Protagonistenreferenz stellt für die Narratologie eine besondere Herausforderung dar. Problematisch ist sie deshalb, weil die daraus resultierende Erzählsituation einen logischen Verstoß gegen die Grice ’ schen Kommunikationsmaximen von Informationsgehalt und Relevanz darstellt: Denn als Protagonist seines eigenen Handelns, das Gegenstand der Kommunikation ist, weiß der Angesprochene darüber eigentlich Bescheid. Die kommunikativ übermittelte message bietet also keine neuen Informationen und der Kommunikationsakt verliert seine Relevanz. 20 Diese potenzielle Anomalität der Du-Erzählung wird oftmals durch Plausibilisierungsstrategien (»naturalizations«) 21 aufgelöst, mit denen die Erzählung doch noch zum »gelungene[n] und sinnvolle[n] Akt der Kommunikation« 22 werden kann. Auf Handlungsebene wird in solchen Fällen oft eine Situation inszeniert, in der Nicht-Wissen oder Vergessen des Du-Protagonisten die anredende Erzählung motivieren. Auch der Kniff, einen zum Zeitpunkt der Erzählung abwesenden oder verstorbenen Protagonisten zu adressieren, begegnet häufig. 23 Die Anomalität des Kommunikationsakts hängt mit einer Besonderheit der Anrede zusammen, die noch weitere Probleme für die Narratologie bereithält, ihrem identifikatorischen Potenzial: 24 Despite their different references, all of these uses [of second person pronouns] play on our instinctive reaction to think me when we hear you, and to feel personally concerned by the textual utterance. 25 Grund dafür ist die Disposition der Anredepronomina, weniger auf den Angesprochenen Bezug zu nehmen als vielmehr eine Einladung an den textexternen Rezipienten auszusprechen, die Anrede auf sich zu beziehen 26 - eine Eigenschaft, die sich eine Vielzahl von Texten in Form von Leserapostrophen (beispielsweise die gängige Anrede an den 18 Vgl. Kapitel 2.2. Das in Wiest-Kellners Definition implizierte Merkmal der Narrativität wurde als Aufnahmekriterium für das Textkorpus nochmals stark gemacht, um dem erweiterten mittelalterlichen Literaturbegriff Rechnung zu tragen: Während Wiest-Kellner sich von vornherein mit dem klar begrenzten Feld fiktionaler Erzählungen beschäftigt, in dem Narrativität als gegeben vorausgesetzt werden kann, muss das Vorliegen von Narrativität für die einzelnen Texte des Untersuchungskorpus eigens überprüft werden. Es umfasst nämlich Genres, die nicht notwendigerweise narrativ sind, wie etwa lyrische oder Gebrauchstexte. 19 »Die durchgehende Anrede einer textinternen, handlungstragenden Figur mit dem Pronomen der zweiten Person«, Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 12. Siehe dazu auch Kapitel 1.2. 20 Aufgrund dieser mangelnden Plausibilität rechnet Werner Wolf die Erzählhaltung zu den »illusionsstörenden Erzählverfahren«, Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst (1993), S. 419 f. bzw. Zemanek: Das suggestive Du (2011), S. 252. 21 Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 221. 22 Korte: Das Du im Erzähltext (1987), S. 182. 23 »Naturalisierte Du-Erzählungen« thematisiert das Kapitel 5. 24 Vgl. Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 118. 25 Ryan: Narrative as virtual reality (2001), S. 138. 26 Diese Eigenschaft wird in der Linguistik unter dem Stichwort »theory of self-ascription« diskutiert, vgl. Wechsler: What › You ‹ and › I ‹ mean to each other: Person Indexicals, self-ascription, and theory of mind (2010), S. 353 bzw. Hoop/ Hogeweg: Use of second person pronouns in a literary work (2014), S. 113. 120 3 Narratologische Annäherungen <?page no="121"?> › Geneigten Leser ‹ ) zunutze machen. Die Ambiguität, die aus der Ansprache des Du- Protagonisten resultiert, 27 wird vereindeutigt, wenn der Figur im Fortschreiten der Erzählung immer mehr fixe Merkmale zugeschrieben werden. Diese signalisieren dem Leser, dass er mit der Anrede nicht gemeint sein kann. Daraus entspinnt sich ein metafiktionales Spiel, das beispielsweise in Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht zum Prinzip erhoben wird. Aus narratologischer Sicht gravierender ist, dass das Anredepronomen auch einen Sprecher impliziert. 28 Denn diese Implikation stellt die basale Dichotomie von Homo- und Heterodiegese infrage, da sie die klare Trennung von Erzähl- und Handlungsebene, von discours und histoire, unterminiert. Mit der Annahme eines › Ichs ‹ , das notwendigerweise bei der Anrede mitgedacht werden muss, stellt sich die Frage nach dessen Beteiligung an den erzählten Geschehnissen. Im unproblematischen Szenario der Ich-Erzählung begründet diese Handlungsbeteiligung den Unterschied zwischen einer homo- und heterodiegetischen Erzählung: Erzählt der Erzähler seine eigene Geschichte oder Ereignisse, an denen er beteiligt war, existiert er sowohl auf Ebene der Erzählung als auch auf der des Erzählten (Homodiegese). 29 Während die Homodiegese sich also dadurch auszeichnet, dass der Erzähler eine Funktion sowohl auf der Ebene des discours als auch auf der der histoire übernimmt, so gilt das nicht für die Heterodiegese, wo der Erzähler die Geschichte eines Anderen erzählt und seine Funktion auf die Erzählebene beschränkt ist. Bei Franz Stanzel ist die (Dis-)Kontinuität bzw. (Nicht-)Identität der »Seinsbereiche, in denen der Erzähler und die Charaktere beheimatet sind«, 30 ausschlaggebend: Während der Ich-Erzähler Teil der fiktionalen Welt ist, so ist der Er-Erzähler von dieser strikt getrennt. 31 Wie geht man nun mit dem in der Anredesituation implizierten Sprecher-Ich um? Konstituens für die Du-Erzählung ist das Vorhandensein eines Protagonisten, auf den im Laufe der Erzählung durchgängig mittels der Pronomina der zweiten Person referiert wird. Die dominierenden Erzählmodelle von Genette und Stanzel fokussieren mit ihren distinktiven Oppositionen von Homo- und Heterodiegese bzw. von Identität und Nicht- Identität der Seinsbereiche die Figur des Erzählers, so dass sich nur ein Ausschnitt aller möglichen Du-Erzählungen mit diesen Modellen erfassen lässt. Unproblematisch ist in dieser Hinsicht lediglich eine Erzählung, in der ein Erzähler-Ich sowohl auf Erzählebene angesiedelt als auch Teil der erzählten Welt ist und in der zugleich ein Du-Protagonist vorkommt. Eine solche Erzählung (beispielsweise Günther Grass ’ Katz und Maus (1961)) lässt sich mit dem Begriff › Homodiegese ‹ erfassen, wobei die Handlungsbeteiligung des Erzählers an den erzählten Geschehnissen von peripher bis zentral ausfallen kann (autodiegetisch). Dass sich die Seinsbereiche von Erzähler und Adressat einer Du-Erzählung 27 Eine Auswahl der Bezeichnungen, die die Forschung zur Benennung dieses Phänomens gefunden hat, bietet Erika Greber (die ihrerseits von der »appellativen Kraft« der Du-Erzählung spricht), vgl. Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung? (2006), S. 47: »double address of apostrophe«, vgl. Kacandes: Narrative Apostrophe (1993), S. 338; »double deixis«, vgl. Herman: Textual you and double deixis (1994); »multiple Referenzialität«, vgl. Zimmermann: Das Ich und sein Gegenüber (1995), S. 152 f. 28 Vgl. Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 219. 29 Vgl. Genette: Die Erzählung (1994), S. 175. Erzählt der Ich-Erzähler seine eigene Geschichte, so spricht Genette von einem autodiegetischen Erzähler. 30 Vgl. Stanzel: Theorie des Erzählens (1979), S. 72. 31 Vgl. Stanzel: Theorie des Erzählens (1979), S. 72. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 121 <?page no="122"?> vermengen, ist keinesfalls gesetzt. 32 Weitaus häufiger sind Du-Erzählungen, in denen die Erzählerfigur keine Entsprechung auf der Handlungsebene hat. Diesen Fall macht Genette zum Paradigma, wenn er die Du-Erzählung zu den heterodiegetischen Erzählhaltungen zählt. Er wird damit aber der Variationsbreite, mit der Du-Erzählungen in der Literatur auftauchen, nicht gerecht und blendet die Ambiguität aus, die sich aus der Anredesituation auch für die Anwesenheit eines Sprecher-Ichs ergibt. Die Erzählhaltung des narrativ gebrauchten › Du ‹ erschwert nicht nur die Einordnung in die binäre Opposition zwischen Hetero- und Homodiegese; sie unterminiert auch die elementare Unterscheidung zwischen discours und histoire, wie sie beispielsweise Genette oder Todorov vertraten. Diese basiert nämlich auf der Annahme einer zugrundeliegenden Fabel und ihrer textuellen Ausformung. In prototypischen Erzählungen tritt eine Erzählerfigur auf, die entweder die eigene Geschichte oder die eines anderen erzählt und zugleich ein textinternes Publikum anspricht, das zum Adressaten des Erzählvorgangs wird - eine Situation, die durch die Ansprache eines Du-Protagonisten ad absurdum geführt wird. 33 In denjenigen Du-Erzählungen, in denen das › Du ‹ ausschließlich auf Handlungsebene auftaucht, greift Stanzels Reflektormodus, in dem es keine personal konturierte Erzählerfigur gibt, die als › Sender ‹ eines Erzählvorgangs fungiert. 34 Taucht der Du-Protagonist hingegen auch auf Erzählebene auf, so rückt das Verhältnis zwischen dem › Du ‹ auf Erzählebene und dem auf Handlungsebene in die Nähe der Relation von erzählendem und erlebenden Ich in einer herkömmlichen Ich-Erzählung. Während in der Ich-Erzählung der Ich-Erzähler den Fixpunkt darstellt, der nicht notwendigerweise einen Erzähladressaten anspricht, so benötigt die Du-Erzählung lediglich einen Du-Protagonisten, nicht jedoch einen personal gedachten Erzähler: Die Funktion des Sprechers ist reines »addendum«. 35 Das lässt sich nur schwer mit der Basisdichotomie von discours und histoire vereinbaren, die in den gängigen Erzähltheorien auf den Prämissen einer mimetischen Erzählsituation fußen, das heißt einer Erzählsituation, die eine real denkbare Kommunikation nachgestaltet und in einen realistischen Denkrahmen eingebettet ist. 36 Die Vorstellung einer Erzählung ohne Erzähler, wie es in der Du-Erzählung nicht selten der Fall ist, läuft solchen realistischen Paradigmen ebenso zuwider wie die Unnatürlichkeit der Erzählsituation, »the very nonnaturalness of their design, telling the narratee ’ s or addressee ’ s story«. 37 Indem die klare Trennung zwischen Erzähl- und Handlungsebene gesprengt wird, verringert sich auch die Distanz zwischen Rezipienten und Erzählung. Die Anredefunktion der zweiten Person verklammert nämlich, zumindest in den Fällen, in denen ein Sprecher-Ich 32 Vgl. Fludernik: Erzähltexte mit unüblichem Personalpronominagebrauch (1995), S. 283 f. 33 Vgl. Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 220 f. Das gilt jedoch freilich nur für die textinterne Kommunikationssituation. In der textexternen Kommunikation mit dem impliziten Rezipienten ist Du-Anrede genauso unproblematisch wie die Erzählung eines Ich-Erzählers, der sein Erzählen mit der Ansprache eines fiktiven Gegenübers plausibilisiert. 34 Vgl. Stanzel: Theorie des Erzählens (1979), S. 196 - 199. 35 Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 223. 36 »Second-person narrative [ … ] flies in the face of any › realistic ‹ conceptions of fictional story telling«, Fludernik: Introduction (1994), S. 290. Das betrifft jedoch auch hier nur die textinterne Kommunikationssituation. Denn die histoire ist keine eigenständige Größe, sondern eine Abstraktion dessen, was auf discours-Ebene ausgestaltet ist. 37 Fludernik: A Test Case for Narratology (1994), S. 457. 122 3 Narratologische Annäherungen <?page no="123"?> auftritt, die verschiedenen Ebenen der Erzählung und zieht den Leser in die Textwelt hinein: 38 Second-person narratives, in so far as a speaker or addresser emerges from the text [ … ], tend to move along and across [the] boundary line [ … ] between the discourse and the story [ … ]; they tend to project a story from the discourse level through the very act of address, a story then need no longer relate to a fictional past set apart from the present of narration (and address). 39 Trotzdem wurde verschiedentlich der Versuch unternommen, die Varianten der narrativ gebrauchten Du-Anrede zu systematisieren. Als einer der ersten erstellte Brian Richardson eine Typologie der Du-Erzählung. Im Zentrum steht die »Standard Form«: In diesen Erzählungen richten sich die Anredepronomina an einen Angesprochenen, der zugleich auch Erzähler ist. Sie sind also Ausdruck einer Selbstanrede, die überwiegend im Präsens erfolgt. Diese »Standard Form« sieht Richardson in Michel Butors La Modification (1957) repräsentiert. Daneben macht er zwei weitere Varianten aus, die »Subjunctive Form«, die er 2006 in »Hypothetical Form« unbenannte, 40 sowie die »Autotelic Form«. Der »Subjunctive Mode« zeichnet sich aus durch den verstärkten Einsatz von Imperativen sowie die häufige Verwendung des Futurs, wodurch die Du-Erzählung in die Nähe von Gebrauchsanweisungen und Selbsthilfe-Ratgebern rückt. Erzähladressat und Erzähler bleiben strikt voneinander getrennt. Der autotelische Modus zeichnet sich durch eine direkte Anrede eines Erzählers an ein Gegenüber aus, die Du-Protagonist und tatsächlichen Leser miteinander vermischt. Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht stellt für Richardson das Paradigma der autotelischen Form dar. 41 Richardsons Modell hat jedoch Schwächen: Zum einen erfasst es das Feld der Du- Erzählung nicht vollständig, 42 die Übergängigkeit zwischen homodiegetischen Erzählungen und den in einen Bereich zwischen Homo- und Heterodiegese fallenden Erzählungen wird ausgeblendet, in denen sowohl ein Erzähler-Ich als auch ein Adressaten-Du auf Handlungs- und Erzählebene auftauchen. 43 Zum anderen bleibt die Typologie oberflächlich, da in der generischen Rundumschau die komplexe Vermengung von Erzähl- und Handlungsebenen nicht berücksichtigt wird. Das wiederum leistet Monika Fludernik in drei Aufsätzen - »Second Person Fiction« (1993), »Second-Person Fiction as A Test Case for Narratology« (1994) und »The Category of › Person ‹ in Fiction« (2011) - , in denen sie das Phänomen der Du-Erzählung auf Grundlage der Modelle von Genette und Stanzel beschreibt. Ausgehend von der Beobachtung, dass konative Adressfunktion und Handlungsbezug des › Du ‹ die Du-Erzählung bestimmen, überblickt Fludernik die strukturellen Möglichkeiten, die sich aus der Kombination von Anrede und Handlungsbezug ergeben. Die erste Möglichkeit, die Anrede an 38 Vgl. Fludernik: A Test Case for Narratology (1994), S. 457. 39 Fludernik: Introduction (1994), S. 288. 40 Vgl. Richardson: Unnatural Voices (2006), S. 29. 41 Richardson: The Poetics and Politics of Second Person Fiction (1991), S. 311 - 321. 42 Fludernik: Introduction (1994), S. 288: »[S]econd-person narratives are › open ‹ in severals respects. They can accommodate a variety of › you ’ s ‹ and a variety of › I ’ s ‹ , and a combination of these.« 43 Monika Fludernik folgt in ihrer Einleitung zum Style-Sonderheft zunächst Richardsons enger Definition, ergänzt diese aber um den Bereich der Apostrophe: »[I] add that second-person texts frequently also have an explicit communicative level on which a narrator (speaker) tells the story of the › you ‹ to (sometimes) the › you ‹ protagonist ’ s present-day absent or dead, wiser, self«, vgl. Fludernik: Introduction (1994), S. 288. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 123 <?page no="124"?> ein › Du ‹ , das jedoch nicht zugleich auch den Protagonisten bezeichnet, fällt nicht in den Bereich der Du-Erzählung; die Anrede kann sich hier an einen extradiegetischen Erzähladressaten richten, beispielsweise den Leser, oder ein verallgemeinertes › Du ‹ im Sinne von › man ‹ . Ein › Du ‹ kann zweitens sowohl auf Handlungsals auch auf Erzählebene existieren (»the addressee is also an actant«), 44 wobei die Sprecherrolle zumeist von einem Erzähler- Ich ausgefüllt wird, das Anteil an der erzählten Welt hat. Das entspräche dem oben skizzierten homodiegetischen Erzählmodus, der von Richardsons Modell nicht berücksichtigt wird. Zuletzt benennt Fludernik Texte, in denen ein › Du ‹ auf Handlungsebene, nicht jedoch auf Erzählebene angesprochen wird: Hier ist die Adressfunktion der Pronomina der zweiten Person von ihrer referenziellen Funktion abgekoppelt. Ein Sprecher-Ich ist nicht auszumachen, die Erzählhaltung kann auktorial oder figural sein. Daneben existieren zahlreiche Du-Erzählungen, in denen das Erleben des Du-Protagonisten aus dessen Perspektive vermittelt ist und die dem Stanzelschen Reflektormodus bzw. Richardsons »Standard Form« entsprechen. 45 discours histoire [Ich] [Ich] [Du] Du Abb. 1: Kommunikationssituation in Du-Erzählungen (Diagram I, Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction 2011, S. 107) In einem Schema (Abb. 1) stellt Fludernik die verschiedenen Konstellationen aus Erzähler und Erzähladressaten und ihren Gegenstücken auf Handlungsebene dar. Allein das › Du ‹ der histoire ist notwendiges Kriterium für die Anrede, die übrigen Positionen können unbesetzt bleiben bzw. müssen nicht notwendigerweise ein Äquivalent auf der jeweils anderen Ebene der Erzählung besitzen. 46 Diese Grobstrukturierung versucht Fludernik in einem zweiten Schritt mit Stanzels und Genettes Theoriemodellen zu synthetisieren (Abb. 1). Ihrer Typologie legt sie in Anlehnung an die Unterscheidung zwischen erzählendem und erlebendem Ich die Opposition von angesprochenem und erlebendem › Du ‹ zugrunde, mit der sich die Identität bzw. Nicht-Identität der Seinsbereiche zwischen › Du ‹ 44 Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 221. 45 Vgl. Fludernik: Second Person Fiction (1993), S. 221 f. 46 Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 107. 124 3 Narratologische Annäherungen <?page no="125"?> auf Handlungs- und auf Kommunikationsebene erfassen lässt. 47 Sie ergänzt außerdem Genettes Basisopposition von Homo- und Heterodiegese um eine grundsätzliche Unterscheidung von Erzählungen mit einer Kommunikationsebene und Erzählungen ohne eine solche und greift damit auf Stanzels Distinktion zwischen Erzähler- und Reflektormodus zurück. In Du-Erzählungen mit einer Kommunikationsebene bleiben die deiktischen Eigenschaften der Anredepronomina intakt, wohingegen sie diese Eigenschaften in den Varianten ohne Kommunikationsebene verlieren. 48 Der Begriff › Kommunikationsebene ‹ wird hier jedoch allein auf die textinterne Kommunikation bezogen: Sie ist dann gegeben, wenn auf Ebene des discours eine wie auch immer geartete Kommunikation zwischen einer Erzählinstanz und einem Angesprochenen stattfindet. In allgemeineren Modellen der literarischen Kommunikation ist die Kommunikationsebene nicht auf die textinterne Situation beschränkt, sondern kann auch die Kommunikation zwischen Autor bzw. Erzähler und dem Rezipienten beinhalten. 49 Erzählungen im Erzählermodus, also solche mit kommunikativer Ebene, lassen sich nach Monika Fludernik in homokommunikative und heterokommunikative Erzählungen unterteilen. Homokommunikative Erzählungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Figuren als Kommunikationspartner auf Ebene des discours agieren. 50 Das gilt sowohl für Erzählungen, in denen ein Ich-Erzähler die eigene Geschichte oder miterlebte Geschichte eines › Du ‹ erzählt, als auch für diejenigen, in denen der Du-Protagonist sowohl auf histoire- Ebene handelt als auch auf Erzählebene in die Interaktion mit einem Erzähler eingebunden ist. Diesen Fall, in dem erlebendes und angesprochenes › Du ‹ , nicht aber erzählendes und erlebendes Ich zusammenfallen, bezeichnet Fludernik als homokonativ. Der konative Aspekt, das heißt die Orientierung auf den Empfänger, zeigt sich in den Bemühungen des Erzählers, dem Du-Adressaten eine kommunikative Rolle zuzuweisen. 51 Erzähler und Adressat teilen also die Anwesenheit auf der enunziativen Ebene, wobei auf Ebene des Erzählten nur der Adressat, nicht jedoch der Erzähler auftaucht. 52 Die Spannbreite an möglichen Erzählerfiguren reicht von solchen, die lediglich die Anredefunktion wahrnehmen, bis hin zu auktorial-figuralen Erzählern. In heterokommunikativen Erzählungen dagegen hat das Anredepronomen lediglich eine referenzielle Funktion, die erzählte Welt bleibt von der Ebene des Erzählens getrennt; Erzähler und Erzähladressaten haben keine Entsprechung in der histoire. Ein heterokommunikatives › Du ‹ ist nur Protagonist, nicht Adressat des Erzählaktes. 53 Das Modell bietet für die Analyse von Texten mit narrativ gebrauchter Du-Anrede eine Reihe von Vorteilen. Es schließt eine Lücke im Stanzelschen Typenkreis, der zwar die Du- 47 Vgl. Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 106. 48 Vgl. Fludernik: Second-Person narratives as a test case for narratology (1994), S. 446. 49 Monika Fluderniks Modell folgend wird der Begriff › Kommunikationsebene ‹ zunächst gebraucht, um die textinterne Kommunikation zwischen Sprecher-Ich und angesprochenem › Du ‹ zu bezeichnen. In Kapitel 3.2.3 wird dann auch die extratextuelle Kommunikation mit einbezogen und der Begriff in seinem herkömmlichen Sinn gebraucht. 50 Vgl. Fludernik: Second-Person narratives as a test case for narratology (1994), S. 446. 51 Vgl. Reitan: Theorizing Second-Person Fiction (2011), S. 156. 52 Eine homokonative Erzählung definiert Monika Fludernik als »story setup in which the narratee is also a character, but the narrator- › I ‹ is not«, Fludernik: Second-person narrative as a test case for narratology (1994), S. 446. 53 Vgl. Fludernik: Second-Person narratives as a test case for narratology (1994), S. 449. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 125 <?page no="126"?> Erzählung im Reflektormodus - in Übereinstimmung mit Genettes Unterscheidung zwischen Modus und Stimme - , nicht jedoch die narrative Du-Anrede im Erzählmodus berücksichtigt. 54 In ihrer 2011 überarbeiteten Typologie entwickelt Fludernik darüber hinaus ein Beschreibungsmodell, das die Bandbreite an Du-Erzählungen erfasst und das sich auch für die Analyse mittelalterlicher Du-Erzählungen eignet. IC „First-Person Narrative with You -Protagonist“ IF „Communicational I -andyou -Narrative“ Ich Ich Ich Ich Du Ø Du Du Ø Ø Ich Du IB „Non-Communicative I andyou -Narrative“ [Ich] Du Du ID „Homodiegetic You - Narrative“ Du? Du IE „Self-Address N arrative“ Ø Ø Ø Du IA „Reflectoral You - Narrative“ Abb. 2: Typen des narrativen › Du ‹ (Diagram IA - IF, Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction 2011, S. 108 - 113.) Sechs verschiedene Typen macht Fludernik aus (Abb. 2), die nicht ganz deckungsgleich mit ihrer Typologie von 1993/ 1994 sind. Während die Typen IC und IF in den Bereich der homodiegetischen Erzählung fallen und das erlebende › Ich ‹ auf Handlungsebene um einen Du-Protagonisten (der nicht zwangsläufig auch Erzähladressat sein muss, vgl. IC) ergänzt wird, fällt Typus ID in den Bereich der homokonativen Erzählung: 55 Das Personalpronomen der zweiten Person ist hier zugleich in anredender und referenzieller Funktion gebraucht, Du-Protagonist und Du-Adressat teilen einen gemeinsamen Seinsbereich. Was für eine Art von Sprecher-Ich durch das Anredepronomen impliziert wird, kann variieren: Die Sprecher-Rolle kann auf Erzählebene explizit ausgestaltet sein, indem die Erzählerfigur ihre auktoriale Allwissenheit unter Beweis stellt oder das eigene Erzählen thematisiert, oder sie kann durch konative Sprechakte auf Erzählebene, zum Beispiel in Form von Imperativen, lediglich angedeutet sein. 56 Typ IB erfüllt die Bedingungen einer hetero- 54 Diese Studie zieht Stanzels Typenkreis, der von der Narratologie seit Erscheinen von Monika Fluderniks Untersuchungen stark kritisiert wurde, nicht weiter als theoretisches Instrumentarium heran. 55 Den von der ursprünglichen Terminologie abweichenden Begriff der › homodiegetischen Du-Erzählung ‹ begründet Fludernik mit der Analogie zwischen der Personaleinheit von Erzähler und Protagonist im Falle der homodiegetischen Ich-Erzählung und der Einheit von Angesprochenem und Protagonist in dieser Form der Du-Erzählung, vgl. Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 110. 56 Diese Variante von Typus IF, insbesondere in der schematischen Darstellung eines eingeklammerten Sprechers, weicht die Unterscheidung zwischen homo- und heterokommunikativen Du-Erzählungen auf. 126 3 Narratologische Annäherungen <?page no="127"?> kommunikativen Erzählung, in der sich die Ebenen der Erzählung nicht überlappen. Der damit verwandte Typ IA entspricht der Erzählung im Reflektormodus, das heißt einer Erzählung ohne Kommunikationsebene. Typ IE ist eine Erweiterung gegenüber dem ursprünglichen Modell, die den verwandten Fall des inneren Monologs nicht berücksichtigt: Um hier jedoch als Variante der Du-Anrede gelten zu können, muss Fludernik zufolge unbedingt das Kriterium der Narrativität gegeben sein, das heißt die Selbstanrede muss erzählen und den Protagonisten als Teil der in der Selbstanrede entworfen storyworld zeichnen. 57 Fluderniks Modell konzentriert sich auf die Kommunikation innerhalb des Textes, die »Erzählkommunikation«, und blendet die literarische Kommunikation zwischen Autor und Rezipient, die »Autorkommunikation«, daher weitgehend aus. 58 Nichtsdestoweniger ist auch die textinterne Erzählkommunikation zwischen Sprecher-Ich und Du-Protagonisten Teil eines größeren, über den Text hinausgehenden Kommunikationsgefüges, in dem sich letztlich der Autor und Rezipient als Sender und Empfänger gegenüberstehen. Diese beiden Instanzen zerfallen wiederum in konkrete und abstrakte Entitäten: den konkreten Autor und den konkreten Rezipienten, die jeweils auch außerhalb des Werkes existieren, sowie den abstrakten Autor und abstrakten Leser 59 - in anderen Terminologien auch »impliziter« Leser bzw. Autor genannt. 60 Letztere sind »keine pragmatischen Kommunikationsinstanzen, sondern semantische Rekonstrukte«. 61 Der abstrakte Leser, hier verstanden als »jenes Bild[ … ] vom Empfänger [ … ], das der Autor beim Schreiben vor sich hatte«, 62 wird auch dann angesprochen, wenn er nicht explizit über Personalpronomina adressiert wird. Hierbei entwickeln Texte, insbesondere die der mittelalterlichen Du- Erzählung, eigene Strategien der Leseradressierung. Dass der abstrakte oder implizite Leser die Grundlage für die Textrezeption durch den konkreten Leser bildet, spielt im IV. Teil eine zentrale Rolle, wenn es um die Funktionen der narrativ gebrauchten Du-Anrede geht. 3.1.2 Typologie der mittelalterlichen Du-Erzählung Der Kontext, in dem die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe innerhalb der mittelalterlichen Literatur Anwendung findet, ist ein völlig anderer als der ihres (post-)modernen Gegenstücks: Während die (post-)modernen Du-Erzählungen eindeutig fiktional sind und sich in diesem Rahmen häufig als ein erzählerisches Experimentieren mit einer artifiziellen Sprechsituation präsentieren, findet sich die narrativ gebrauchte Anrede im Mittelalter, 57 Vgl. Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011), S. 108 - 113. 58 Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 45. Die literarische Kommunikation wird im Rahmen der alteritären Parameter nochmals ausführlich thematisiert, vgl. Kapitel 3.2.3. 59 Vgl. Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 47. 60 Vgl. Chatman: Voice (1996), S. 164. 61 Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 64. An anderer Stelle definiert Wolf Schmid den abstrakten Autor folgendermaßen, wobei der Begriff des › abstrakten Lesers ‹ in Analogie dazu gesetzt werden kann: Der abstrakte Autor sei das »Korrelat[ … ] aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Texte. Diese Zeichen entwerfen sowohl eine weltanschauliche Position als auch eine ästhetische Konzeption. › Abstrakt ‹ heißt nicht › fiktiv ‹ . Der abstrakte Autor ist keine dargestellte Instanz, keine intendierte Schöpfung des konkreten Autors, und insofern unterscheidet er sich kategorial vom Erzähler, der immer eine - entweder explizit oder nur implizit - dargestellte Instanz ist«, ebd., S. 60. 62 Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 67. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 127 <?page no="128"?> zumindest in selbstständiger, das heißt nicht eingebetteter Form, ausschließlich in Texten mit religiöser Färbung. Sie richtet sich hier an eine als faktisch gedachte Person der Heilsgeschichte, die nicht fiktiv ist, sondern den ontologischen Sonderstatus des Transzendenten besitzt. 63 Die Kommunikationssituation, die mit der narrativ gebrauchten Anrede eröffnet wird, ist daher keineswegs artifiziell; vielmehr bildet sie die zwar seltene, aber durchaus natürliche Situation eines Gesprächs mit dem Göttlichen bzw. Heiligen ab. Darin, dass sie sich an ein göttliches Gegenüber oder einen Heiligen wendet, liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen der mittelalterlichen Du-Erzählung und ihrem (post-) modernen Pendant begründet: Die mittelalterliche Du-Erzählung ist immer kommunikativ, konstruiert sie doch eine Gesprächssituation, die über die Diegese hinausgeht. Das liegt zum einen daran, dass die Existenz des Gegenübers als faktisch vorausgesetzt wird, zum anderen ergibt sich dies aus dem christlichen Kontext, in den das christliche Sprecher-Ich eingebunden ist. Die Möglichkeit einer nicht-kommunikativen Du-Erzählung im Reflektormodus entfällt dadurch für die mittelalterliche Literatur. Denn das angesprochene › Du ‹ ist immer ein › wirkliches ‹ Gegenüber, eine andere Person, die Kommunikation ist zwar einseitig und in die Textwelt verlagert, aber dennoch › echt ‹ . Dadurch behalten die Anredepronomina ihre deiktischen Eigenschaften 64 und verweisen ausschließlich auf das Gegenüber. Anders als in den modernen Varianten ist das › Du ‹ hier nicht ambig und lässt keine (temporäre) Identifikation des Lesers zu. Frühzeitige Namensnennungen und das Auftauchen eines Sprecher-Ichs unterdrücken von Anfang an die potenzielle Mehrdeutigkeit der Anrede. Das identifikatorische Potenzial der Du-Anrede entfaltet sich jedoch auch hier: Denn auch die narrative Apostrophe der mittelalterlichen Du-Erzählung spricht eine deutliche Einladung an den Rezipienten aus, die textuelle Kommunikationssituation zu betreten. Sie knüpft jedoch nicht an das Anredepronomen an, sondern an das in der Anredesituation implizierte Sprecher-Ich: Die offene Gestaltung der Sprecher-Position fordert den Rezipienten dazu auf, sich dieses vorgestaltete Text-Ich zu eigen zu machen und in den Dialog mit dem Gegenüber zu treten. Daneben existieren auch Texte, in denen das Sprecher-Ich nicht zur Vereinnahmung auffordert, sondern einem vorgestalteten Erzähler- Ich vorbehalten ist. In diesem Fall ist der Rezipient nicht Teilnehmer eines Gesprächs mit dem Heiligen, sondern Beobachter einer Kommunikation zwischen Erzähler und angesprochenem › Du ‹ . Die in den Text verlagerte Gesprächssituation schließt auch die Möglichkeit einer heterokommunikativen Du-Erzählung aus: Während in den (post-)modernen Du-Erzählungen nämlich die Ebenen des Erzählens und des Erzählten voneinander getrennt bleiben und Erzählsituationen beinhalten können, in denen der Du-Protagonist keine Entsprechung auf der discours-Ebene besitzt, gibt es in den mittelalterlichen Du-Erzählungen stets Überschneidungspunkte zwischen dem Personal der Erzählebene und den Protagonisten der histoire. Das gilt primär für den Du-Protagonisten, der immer auch Kommunikations- 63 Um die in den mittelalterlichen Du-Erzählungen angesprochenen Figuren geht es in Kapitel 3.2.2.4. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die mittelalterlichen Du-Erzählungen von ihren modernen Gegenstücken: Während auch in der modernen Du-Erzählung nicht nur fiktionale, sondern auch › faktische ‹ Figuren angesprochen werden können, ist die Erzählhaltung dennoch insgesamt als ein Zeichen dafür zu betrachten, dass der Text fiktional ist. In der mittelalterlichen Literatur findet die narrative Apostrophe nur in faktualen Kontexten Anwendung, es sei denn, sie wird durch Einbettungen »naturalisiert«, vgl. Kapitel 5. 64 Siehe zu den Besonderheiten der Deixis auch Kapitel 1.1. 128 3 Narratologische Annäherungen <?page no="129"?> partner auf der extradiegetischen Ebene des discours ist; zuweilen besitzt auch das Ich der discours-Ebene eine Entsprechung auf Handlungsebene. Mittelalterliche Du-Erzählungen bewegen sich im Vergleich mit ihren (post-)modernen Gegenstücken in einem überschaubaren Feld: Sie existieren ausschließlich im Feld des homokommunikativen Erzählens, für das die Doppelung von › Du ‹ in Anrede- und referenzieller Funktion konstitutiv ist. Je nachdem, ob das Sprecher-Ich auch in der histoire auftaucht oder nicht, sind homodiegetische oder homokonative Ausprägungen denkbar. Trotz dieser strukturellen Unterschiede ist Fluderniks Modell dazu geeignet, die Spezifika der mittelalterlichen Du-Erzählungen zu ergründen. 65 Das Feld der potenziellen Varianten der Du-Erzählung mag strukturell auf den homokommunikativen Bereich zusammengeschrumpft sein, nichtsdestoweniger gibt es für die Gestaltung des Sprecher-Ichs einen gewissen Spielraum. Ob das Ich von einem Erzähler besetzt wird, der die Identifikation des Rezipienten mit der Sprecherposition nicht oder nur bedingt erlaubt, oder ob ein »Wiedergebrauchs-ich« 66 im Text angelegt ist, das den Rezipienten in die Rolle des Sprechenden versetzt, ist für die Struktur der Erzählsituation zunächst irrelevant. Auf Basis des Untersuchungskorpus konnten drei Typen der narrativ gebrauchten Du- Erzählung ausfindig gemacht werden: die homokonative Du-Erzählung, die homokonative Du-Erzählung mit Mehrfachadressierung und die narrativierende Apostrophe. Ihnen allen ist eine Grundsituation gemein, die im Vergleich mit der (post-)modernen Du-Erzählung stärker festgelegt ist (Abb. 3). Die Basiskonstellation der mittelalterlichen Du-Erzählung ergibt sich aus dem allgemeinen Minimalkriterium des Vorhandenseins eines Du-Protagonisten auf Ebene der Erzählung, besetzt sind zudem die Positionen von Sprecher und Angesprochenem auf Ebene des discours. Das Sprecher-Ich kann ein Äquivalent auf Ebene der histoire besitzen, wobei dies nicht zwingend notwendig ist. 67 Abb. 3: Kommunikationssituation der mittelalterlichen Du-Erzählung 65 In ihre Übersicht über die Geschichte der Du-Erzählung bezieht Monika Fludernik selbst mittelalterliche Beispiele mit ein, unter anderem die Ägidiuslegende, die auch in dieser Studie untersucht wird, vgl. Fludernik: Introduction (1994), S. 293 - 296. 66 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 47. 67 Eine Übersicht über die Texte des Untersuchungskorpus findet sich im Anhang. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 129 <?page no="130"?> 3.1.2.1 Homokonative Du-Erzählung Die Erzählsituation im Gebet zum heiligen Christophorus entspricht dem Typus ID (»homodiegetic you-narrative«) in der Typologie Fluderniks: 68 O Cristoffere, gottes martere herre, mit lob ich dinen nam ere, den dir got selber het gegeben. Von Kananea were du geborn eben, du were vor Reubus genant, dar nach Cristofferus zu ͦ hant. Din person het sterke gros, an lenge wart nie din genos vii eln lang were du vor war. Den gewaltigen herren zwar, der do lept uf erden, dem wolltest du do zu ͦ dienst werden. Do wart zehant kunt, das er den bo ᵉ sen geist vo ᵉ rchte ze stund, den su ͦ chtest stille und offenbar und wolltest im dienen zwar. Du wandest, daz er der ho ᵉ chste were, du wert verirret sere, untz daz dich got ermant, daz du werde sin knecht. Zu ͦ hant liest du die welt und den bo ᵉ sen geist und dientest do got volleist. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 1 - 22) Oh Christophorus, der du ein Blutzeuge Gottes bist, indem ich dich preise, ehre ich deinen Namen, den Gott selbst dir verliehen hat. Du wurdest in Kanaan geboren und wurdest zunächst Reubus, später dann Christophorus genannt. Du besaßest eine große Körperkraft und auch an Körpergröße kam dir niemand gleich, denn du maßest wahrhaftig sieben Ellen. Du wolltest in den Dienst des wahrlich größten Fürsten treten, den es auf der Erde gab. Doch es wurde bald bekannt, dass dieser manchmal den Teufel fürchtete; du suchtest heimlich und öffentlich nach diesem, um ihm zu dienen. Du dachtest, dass er der mächtigste wäre, aber damit irrtest du, bis Gott dich dazu aufforderte, sein Diener zu werden. Auf der Stelle entsagtest du der Welt und dem Teufel und dientest Gott allein. Die ersten beiden Verse umreißen zunächst die Kommunikationssituation. Unter Verwendung eines Ehrentitels, gottes martere herre, wird Christophorus adressiert, wobei die Interjektion O den kommunikativen Charakter noch zusätzlich unterstreicht. Gleich zu Beginn gibt sich auch ein Ich zu erkennen, das sein Sprechen als Lobpreis des Christophorus deklariert. Als Tempus des Diskurses gebraucht das Gebet das Präsens. Mit der Ankündigung, den Heiligen ehren zu wollen, zeigt sich der konative Aspekt der Anrede, die das Gegenüber in das Gespräch hineinzuziehen und zu beeinflussen versucht. Noch deutlicher wird diese konative Funktion am Ende des Gebets, wo das Sprecher-Ich den Heiligen zur 68 Da der Begriff › homodiegetisch ‹ hier nicht die Einheit eines › Ichs ‹ auf Erzähl- und Handlungsebene markiert, sondern die Identität von discours- und histoire-Du, das heißt die Einheit von angesprochenem und erlebendem › Du ‹ in Analogie zur Identität von erzählendem und erlebendem › Ich ‹ in der Homodiegese hervorhebt, wird dieser Typus in Abweichung zur Terminologie von Fludernik als »homokonative Du-Erzählung« bezeichnet. 130 3 Narratologische Annäherungen <?page no="131"?> Fürbitte auffordert: bit got, daz wir uff dieser erden / keines unrechtes todes niemer funden werden (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 114 f.: »Bitte Gott darum, dass wir auf der Erde niemals einen ungerechten Tod erleiden.«) Auf der präsentisch konstruierten Ebene des discours stehen sich also ein Sprecher-Ich und ein Adressaten-Du gegenüber. Die Kommunikation zielt hier vor allem darauf, den Angesprochenen zu einem bestimmten Handeln zugunsten des Sprecher-Ichs zu bewegen. In Vers 4 beginnt schließlich die Erzählung vom Leben des Christophorus, die nun das Präteritum als Erzähltempus gebraucht. Übereinstimmend mit der zeitlichen Distanz zum Erzählten hat das Sprecher-Ich keinen Anteil an der erzählten Geschichte. Die Äußerungen, in denen es sich selbst thematisiert, beziehen sich ausschließlich auf den Erzählakt und gehören der discours-Ebene an. Das hat zur Folge, dass das › Du ‹ während der Erzählung überwiegend in referenzieller Funktion angesprochen wird; diskursive Elemente wie Anreden oder Aufforderungen sind fast ganz zurückgenommen, allein in Vers 85 findet sich eine erneute Anrede an Cristofore, die die extradiegetische Gesprächssituation präsent hält. Der angesprochene Christophorus ist sowohl auf Ebene des discours als auch auf der der histoire angesiedelt, die Identität der Seinsbereiche in Bezug auf den Du-Protagonisten und den Du-Adressaten also gegeben. Das Sprecher-Ich hingegen besitzt kein Gegenstück auf der Handlungsebene. Somit sind die Bedingungen für die »homokonative Du- Erzählung« erfüllt. Die Geschichte des Du-Protagonisten wird mit dem Wissensvorsprung eines auktorialen Erzählers geschildert, der genauestens über ein Geschehen Bescheid weiß, an dem er selbst keinen Anteil hat, und dabei Einblick in die Gedankenwelt des Du-Protagonisten nimmt. Der Text schildert zunächst Christophorus ’ Weg zu Gott und offenbart auktoriales Wissen, wenn er Absichten des Heiligen benennt: dem wolltest du do zu ͦ diensten werden (v. 12) bzw. und wolltest im dienen zwar (v. 16). Im letzten Drittel des Gebetstextes zeigt sich, dass dieses Wissen auf der Lektüre autoritativer Texte gründet. Hier wird eine Quelle für das erzählte Geschehen angeführt: Der hoche Ambrosius / lobet dich in siner geschrift allsus (vv. 95 f.: »Der ehrwürdige Ambrosius preist dich in seiner Schrift folgendermaßen«). Zwar rezipiert der Gebetstext Ambrosius sekundär über die Legenda Aurea des Jacobus a Voragine, 69 mit der Berufung auf den Kirchenvater bekräftigt das Sprecher-Ich jedoch, dass es qua Lektüre genaue Kenntnis vom Leben und Handeln des Heiligen erlangt hat. Die Sprecher-Position ist kaum ausgestaltet, das Ich ist zwar auf der Diskursebene präsent, bleibt aber ohne individuelle Eigenschaften. Die Verweise auf Gottes Wirken und der fromme Wunsch, die an Christophorus gerichtete Bitte möge einer größeren Gemeinschaft zugutekommen, betten das Sprecher-Ich in die christliche Gemeinschaft ein. Die Offenheit innerhalb des christlichen Bezugsrahmens, macht die Sprecher-Position anschlussfähig für den Rezipienten. Entsprechend des Entstehungskontextes des Hermetschwiler Gebetbuchs in einem Frauenkloster ist diese nicht geschlechterspezifisch gestaltet: Das Ich der discours-Ebene ist klar ein »Wiedergebrauchs-ich«. Mit der Legend of Seynt Gyle des englischen Benediktinermönchs John Lydgate findet sich im Untersuchungskorpus eine strukturgleiche Du-Erzählung des homokonativen Typs, die anstelle eines »Wiedergebrauchs-ich« eine voll ausgebildete Erzählerfigur in die 69 Diese beinhaltet ebenfalls das Quellenzitat des nicht namentlich genannten Ambrosius-Textes. Zur Legendensammlung des Dominikanermönchs siehe Kunze: Art. › Jacobus a Voragine ‹ (1983). 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 131 <?page no="132"?> Position des Sprechers setzt. Hier thematisiert der Erzähler die Entstehungsgeschichte seines Werkes und gibt sich so als der › reale ‹ Autor John Lydgate zu erkennen. Durch diese Abgrenzung vom Rezipienten wird das identifikatorische Potenzial der Ich-Deixis unterminiert. Eine weitere Variante des homokonativen Typus verkörpert die religiöse Erzähldichtung Christi Hort des Gundacker von Judenburg. Auch hier stehen sich auf einer Kommunikationsebene jenseits der Erzählung ein Sprecher-Ich und ein mit den Pronomina der zweiten Person adressiertes › Du ‹ gegenüber: Ich man dich, herre, mere daz du mit su ᵉ zer lere daz volch in deiner chinthait lertest rechte wîshait. (Christi Hort, vv. 493 - 496) Ich erinnere dich außerdem daran, oh Herr, dass du in deiner Kindheit das Volk mit süßer Unterweisung in der rechten Weisheit lehrtest. Prominent am Versbeginn beansprucht das Sprecher-Ich die diskursive Handlungsmacht für sich, indem es sein Gegenüber Christus dazu auffordert, sich eine Episode aus dessen Leben, die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel, zu vergegenwärtigen. Der konative Aspekt ist mit der appellativen ich man dich-Formel 70 stark ausgeprägt, die im Sinne einer adhortatio einen eindringlichen Aufruf zur Vergegenwärtigung beinhaltet. 71 Neben dieser Appellfunktion übernimmt die Formel, die in jeder der insgesamt einundzwanzig Episoden auftaucht, auch die Aufgabe einer Exposition, die das Thema der Episode benennt. Sie ist ein diskursives Element, das den Kommunikationspartner in ein Gespräch zu verwickeln sucht und zugleich die Erzählung strukturiert. Wie schon das Christophorusgebet gebraucht auch Gundacker verschiedene Tempora, um die Ebenen von discours und histoire zu trennen. Der Dialog mit dem Göttlichen ist im Präsens gestaltet und beansprucht damit eine überzeitliche Gültigkeit, die nicht nur im Moment der Produktion, sondern in der Jetzt-Zeit der jeweiligen Rezeptionssituation abgerufen werden kann. Die Episoden aus dem Leben Jesu werden dagegen im Präteritum erzählt: Ez geschach zeainer hohceît, als uns diu schrift urchunde gît, daz die juden alle ze Jerusalem mit schalle chomen nach ir gewohnhait, als in uf was gelait. Dein mu ᵉ ter und der vater dein Chomen ouch dar mit dir, herre mein; Da verlurn si paide dich. (Christi Hort, vv. 497 - 505) Es ereignete sich während eines Festtages, wie uns die Schrift berichtet, dass die Juden alle entsprechend ihren Bräuchen, die ihnen auferlegt waren, mit einigem Aufheben nach Jerusalem 70 Dieser Typus folgt dem Schema »einleitende Ermahnungsfolge«, »narrativer Teil«, Schluss, der die »Ereignisse mit der Heilssuche des sprechenden Ichs in einem Bittgestus zusammen[ … ]führt«, Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 390. Siehe dazu auch den Abschnitt zur manunge in Kapitel 2.4. 71 Vgl. Griese: Der › Herzmahner ‹ - ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein (2012), S. 172. 132 3 Narratologische Annäherungen <?page no="133"?> kamen. Auch deine Mutter und dein Vater kamen mit dir dort hin, mein Herr; da verloren die beiden dich. Temporale Adverbialen wie zeainer hochceît oder die Partikel da führen den zeitlichen Abstand der Geschehnisse der histoire zur extradiegetischen Kommunikationssituation vor Augen. Im Zentrum der Erzählung steht der angesprochene Christus, der über die Possessiva dein mu ᵉ ter und der vater dein als zentrale Figur, als Du-Protagonist, gekennzeichnet ist, auch wenn er zunächst nicht handelnd in Erscheinung tritt. Eingeflochten ist außerdem ein Verweis auf die Bibel, die schrift, die als Quelle für das Erzählte herangezogen wird und aus der das Sprecher-Ich sein Wissen bezieht; diese Quellenberufung erklärt die auktoriale Allwissenheit des Sprecher-Ichs. Als Aussage der discours-Ebene gebraucht die eingelassene Quellenberufung das Präsens. Das Sprecher-Ich, das die Kommunikation eingeleitet hatte, steuert und durch wiederkehrende Anreden wie das herre mein vergegenwärtigt, taucht in den erzählenden Abschnitten nicht weiter auf: Allein der Adressat besitzt Protagonistenstatus. Damit ist auch hier die Grundstruktur der homokonativen Du-Erzählung gegeben: Die Pronomina der zweiten Person erfüllen eine anredende und referenzielle Funktion, der Kommunikationspartner Christus ist Handlungsträger seiner Geschichte; das Ich handelt lediglich als Sprecher auf der Diskursebene. discours histoire Ich Ich Du Du Abb. 4: Homokonative Du-Erzählung mit homodiegetischen Einlassungen Was die Erzählsituation in Christi Hort jedoch vom reinen homokonativen Typus unterscheidet, wie ihn das Christophorusgebet verkörpert, sind die an die Erzählung angeschlossenen Bitten. Formal sind auch sie Teil der discours-Ebene. In ihnen meldet sich das während der Erzählung zurücktretende Sprecher-Ich wieder verstärkt zu Wort, indem es Christus in Anlehnung an das Erzählte um Beistand bittet. Abermals zeigt ein temporaler Marker den Wechsel zwischen den Ebenen an: nu erhore, herre, mein gebet (Christi Hort, v. 538: »Nun, oh Herr, erhöre mein Gebet«). Verstärkt gebraucht das Sprecher- Ich Anreden und invocationes und beansprucht damit die Diskurshoheit für sich. In diese Bitten eingelassen ist zudem eine Sündenbiographie des Sprecher-Ichs, in der der Du- Protagonist Christus nur noch Randfigur ist (Abb. 4): Die fragmentarischen Selbstaussagen 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 133 <?page no="134"?> des › Ichs ‹ , aus den einundzwanzig Bitten zusammengenommen, bilden eine eigene Geschichte, in der die Seinsbereiche nun in der Figur des Sprechenden zusammenlaufen. Sie handelt von der Sündhaftigkeit des › Ichs ‹ , seiner Anfälligkeit für irdische Versuchungen, und dem Bewusstsein, sein Anrecht auf Gottes Gnadengeschenk verwirkt zu haben. In der an die Erzählung vom Tempelbesuch des zwölfjährigen Jesus angeschlossenen Bitte bekennt sich das Sprecher-Ich beispielsweise dazu, Gott verloren zu haben: owe herre hoh geborn, / wie dicke ich dich dich han verlorn / mit meinen sunden! (Christi Hort, vv. 533 - 535: »Owe, hochgeborener Herr, wie oft habe ich dich schon durch meine Sünden verloren! «). Als greifbares › Ich ‹ tritt der Sprecher vor allem in den Bitten zutage: Es positioniert sich eindeutig als Sprecher-Ich, das den Austausch mit seinem Gesprächspartner sucht. Obgleich die Sündenbiographie abstrakt genug bleibt, um dem Rezipienten die Identifikation mit dem Ich zu ermöglichen, ist das Text-Ich strenggenommen kein »Wiedergebrauchs-ich«, sondern Ausdruck einer Erzählerfigur. Diese Erzählerrolle des › Ichs ‹ betonen zunächst die zahlreichen Verweise auf die schrift als Vorlage für das Erzählte. Als Erzähler inszeniert sich das Ich jedoch im Bescheidenheitsgestus der folgenden Passage: Du hast getan hie zaichen vil, von den ich nîmer sprechen will, want diu rede wurd zelanc; ouch is m ı ᵉ n sin gar cecranch daz ich ez wol den leuten gar mu ᵉ ge pedeuten; da von muz ich ez lazen unt mich der rede mazen. (Christi Hort, vv. 997 - 1004) Du hast viele Wunder bewirkt, von denen ich hier jedoch nicht weiter sprechen möchte, denn die Erzählung wurde zu lang; außerdem ist mein Geist zu schwach, als dass ich es den Leuten angemessen und vollständig erklären könnte; deshalb muss ich es sein lassen und mich in der Rede mäßigen. Obwohl sich das Sprecher-Ich hier deutlich als Erzähler zu erkennen gibt und die Sündenbiographie als seine eigene Geschichte kennzeichnet, bleiben die Bitten mit ihrer abstrakten Motivik offen genug, um ein Identifikationsangebot an den Rezipienten auszusprechen. In struktureller Hinsicht bilden die Durchblicke auf die Geschichte des Sprechers einen von der Geschichte des › Du ‹ unabhängigen Erzählstrang, der sich als fragmentarische Homodiegese bezeichnen lässt und der die eigentlich homokonative Erzählsituation erweitert. Auch hier sind unterschiedliche Gestaltungen der Sprecher- Position möglich: Das Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth beispielsweise gestaltet eine homodiegetische Sündenbiographie, die nicht mit einem Erzähler-Ich in Verbindung zu bringen ist. Stattdessen inszeniert sie eine Sprecher-Position, die sich mit gegenderten Selbstbezeichnungen - ich din armes unwirdiges dirnli (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 6b) - deutlich von der Autorfigur des selige[n] wöl gelerte[n] vatter kartuser ordens (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 1a: »seliger wohl gelehrter Vater aus dem Kartäuserorden«) abhebt und sich am intendierten Zielpublikum orientiert. 3.1.2.2 Homokommunikative Du-Erzählung mit Mehrfachadressierung Ein weiterer Typus der narrativ gebrauchten Du-Anrede findet sich im Zeitglöcklein. Auf den ersten Blick scheint auch dieser Text der homokonativen Kommunikationssituation zu 134 3 Narratologische Annäherungen <?page no="135"?> entsprechen: Ein › Ich ‹ wendet sich an ein als anwesend gedachtes Gegenüber, das zum Handeln aufgefordert wird, dabei spielt auch hier die vergegenwärtigende Betrachtung des Heilsgeschehens eine zentrale Rolle. Anders als im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth oder Gundackers Christi Hort wird jedoch nicht das göttliche Gegenüber zur Vergegenwärtigung aufgefordert. Stattdessen ist es das Sprecher-Ich, das die Meditation der Christus-Vita einleiten will und dazu die Hilfe des angesprochenen › Dus ‹ erbittet. Die vierundzwanzig gleich strukturierten Einheiten der Vita - bestehend aus Anrufung, Inhaltsangabe, Erzählung, Auslegung und Gebet - werden durch Formeln wie Hilff mir [ … ] andechticlich betrachten (Zeitglöcklein, fol. 8a) eingeleitet. Auf einer extradiegetischen Ebene stehen sich ein Sprecher-Ich und ein Adressat gegenüber, die Kommunikation wird durch die Bitte des Sprechers um Hilfe bei der vergegenwärtigenden Betrachtung der Geschichte des › Dus ‹ eröffnet. Die Tempusverteilung, Präsens für die Kommunikation auf der discours-Ebene, Präteritum für die Erzählung der histoire, gilt auch hier. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass das › Ich ‹ ein Gegenstück auf der Handlungsebene besitzt. › Du ‹ und › Ich ‹ , Sprecher und Angesprochener existieren also sowohl auf der Ebene der Kommunikation als auch auf der des Erzählten. Die Seinsbereiche des › Ichs ‹ auf Erzähl- und auf Handlungsebene sind jedoch nicht absolut deckungsgleich, wie die Erzählung von Schöpfung und Sündenfall zeigt: Almechtiger / ewiger / barmhertziger gott / Wie über ſ wencklu ͦ ch i ſ t din barmhertzikeit vßge ſ toßen vnd ſ chinbar word ē / in dem daz du mich vnwirdigen men ſ chen ge ſ chaffen / vnd nach diner glich nuß gebildet ha ſ t. Wie wol ich gegen dinen engeln zerechn ē gemy ˉ dert bin / ſ o ha ſ tu mich doch mit hoh ē eren vn ˉ großer wirdikeit begabet vnd geedlet / über ander dine ge ſ chaffn ē ding / vnd mich ze her ſ chen über alle werck diner h ē den ge ſ etzt. [ … ] O vatter aller barmhertzikeit / gott / vnd geber alle ſ tro ſ ts / Wie ward din trüw vetterlich hertz ſ o ſ charpff ge ſ toch ē / da ich in ſ ünde verfiel / ich armer m ēſ ch / den du ſ o gar inneclich liep gehept / vnd über die werck diner henden ſ o hoch gewydmet vnd geliebet ha ſ t / Vn ˉ ich aber durch überfarung dins gebotts / mit rechter vrtel vß d ē paradis vertrib ē / erblos word ē / vnd mit aller arbeit ke ſ tigung / iamer vnd ellend / vmgeb ē bin. (Zeitglöcklein, fol. 8a - 9b) Allmächtiger, ewiger, barmherziger Gott, wie deutlich ist deine Barmherzigkeit zutage getreten und offenbar geworden, dadurch dass du mich unwürdigen Menschen erschaffen und mich dabei nach deinem Bilde geformt hast. Obwohl ich gegenüber den Engeln als minderwertig gelten muss, hast du mich doch mit hohen Ehren und mit großer Würde ausgezeichnet und mich geadelt vor den anderen [von dir] geschaffenen Dingen, dadurch dass du mich als Herrscher über die Werke deiner Hände eingesetzt hast. [ … ] Oh Vater aller Barmherzigkeit, Gott und Spender allen Trostes, wie sehr wurde dein treues väterliches Herz so scharf verletzt, als ich in Sünde geriet, ich armer Mensch, den du so innig liebtest und über die Werke deiner Hände erhoben hast. Ich aber wurde wegen der Übertretung deines Gebots mit gerechtem Urteil aus dem Paradies verstoßen, wurde erblos und bin von den Kasteiungen von Leid, Jammer und Elend umgeben. Das › Ich ‹ , das in der Erzählung agiert, hat Anteil an der Geschichte des › Du ‹ ; es entsteht aus dem Wirken des göttlichen Gegenübers und veranlasst dieses wiederum zum Handeln, wenn es gegen göttliches Gebot verstößt und infolgedessen aus dem Paradies vertrieben wird. Gegenüber dem Sprecher- › Ich ‹ der discours-Ebene ist das › Ich ‹ jedoch erweitert: Spricht dort ein individuelles › Ich ‹ Gott an, ist das › Ich ‹ in der Erzählung als ein verallgemeinertes › Ich ‹ zu sehen, als Verknappung für ein inkludierendes › Wir ‹ , das die gesamte Menschheit mit einschließt. Dieses verallgemeinerte › Ich ‹ , als dessen Teilmenge sich das anredende › Ich ‹ versteht, entspricht einem peripheren Ich-Erzähler, der nur 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 135 <?page no="136"?> bedingt in der erzählten Geschichte handelt. Die Erzählsituation fasst Sprecher und Adressat auf Handlungsebene ebenfalls zu einem › Wir ‹ zusammen - damit nähert sich die Erzählsituation dem Typus ID (»Communicational I-and-you-Narrative«) in Fluderniks Modell an. Der Typus muss jedoch noch weiter modifiziert werden. Zwar schreitet die Erzählung, unterbrochen von den diskursiven Abschnitten von Anrufung, Auslegung und Bitte, entsprechend der Chronologie linear fort, das › Ich ‹ spricht jedoch eine Vielzahl von Adressaten an, die das erzählte Geschehen mittragen und jeweils die Doppelrolle von Du- Adressat und Du-Protagonist übernehmen. Nachdem die Anrede an den Schöpfergott zur Anrede an die heilige trifaltikeit / gott vatter vn ˉ ſ un vn ˉ heiliger gei ſ t (Zeitglöcklein fol. 11b) erweitert wird, 72 wendet sich das Sprecher-Ich schließlich an Gabriel: Eya / gabriel / der großen ere / dz du für ander v ō got gewirdiget vnd in den geymlichen rat gotts geuordert / vnd der großen ho ᵉ ch ſ t ē dingen bott ſ chafft ze werben / beru ͦ fft vn ˉ geordnet bi ſ t. O / wie wi ſ lich vnd flißiclich ha ſ tu dich dar in gehalt ē [ … ] vnd [wie du] sy [= Maria] gegrüßet ha ſ t mit ſ o ᵉ lich ē worten / Ave gratia plena / Gegrüßet sye ſ t dz gnaden voll / der herr i ſ t mit dir / ge ſ egnet bi ſ t du über alle frowen. (Zeitglöcklein, fol. 12bf.) Eya, Gabriel, welch große Ehre [widerfuhr dir], als du vor [allen] anderen von Gott gewürdigt und in den geheimen Rat Gottes beordert wurdest, und dazu berufen und angewiesen wurdest, die Botschaft von den höchsten Dingen zu verkünden. Oh, als wie weise und beflissen hast du dich dabei erwiesen und wie hast du Maria mit folgenden Worten gegrüßt: »Ave gratia plena, sei gegrüßt, du bist voll der Gnade, der Herr ist mit dir und du bist gesegnet vor allen Frauen.« Die Position des › Du ‹ ist nicht fest besetzt und kann variieren: Angesprochen wird immer die Person der Heilsgeschichte, die in der gegenwärtig erzählten Episode handlungstragend ist; die referenziell-adressierenden Anreden beziehen sich auf Personen der Dreifaltigkeit, auf Engel oder auf Maria. discours histoire Ich Ich = Wir Du n , Du n+1 Du n , Du n+1 Abb. 5: Homokommunikative Du-Erzählung mit Mehrfachadressierung 72 Nach christlichem Gottesverständnis ist das jedoch noch nicht als Adressatenwechsel zu werten. 136 3 Narratologische Annäherungen <?page no="137"?> Auch hier besitzt das erzählend-anredende › Ich ‹ eine gründliche Kenntnis vom Geschehen und nimmt Einblick in die Gefühlswelt der Protagonisten; die auktoriale Allwissenheit des › Ichs ‹ , das sich durch sein verallgemeinertes Gegenstück auf der histoire dem Rezipienten zur Vereinnahmung anbietet, gründet sich auch hier auf das Studium der Evangelien, die in der Vorrede als Quelle benannt werden. 3.1.2.3 Narrativierende (multiple) Apostrophe Neben diesen beiden Typen einer voll ausgebildeten Du-Erzählung existiert noch ein weiterer Typus, bei dem das Kriterium der Narrativität nur in Ansätzen erfüllt ist und der sich in der religiösen Dichtung Von Gottes zukunft findet. Wie in den anderen Texten wendet sich hier ein Sprecher-Ich an ein Gegenüber. Die Kommunikation zielt jedoch nicht auf einen Handlungsbericht, die Anrede ist vielmehr Lobpreis, in den die neutestamentlichen Ereignisse entsprechend ihrer Chronologie eingebettet werden. Die Textkommunikation hier ist weniger narrativ als diskursiv: Es dominieren Anrufungen voller Ehrentitel und Epitheta, die der Passage einen hymnischen Charakter verleihen, beispielsweise wenn Christus als Jhesu, zartes bruderlin (Von Gottes zukunft, v. 2074: »Jesus, zartes Brüderlein«) oder als Jhesus, du lamp ane meil! (Von Gottes zukunft, v. 2181: »Jesus, du Lamm ohne Makel«) angesprochen wird. Die einzelnen Ereignisse werden nicht auserzählt, sondern, wie im Falle der Menschwerdung, in den hymnischen Duktus integriert: › Jhesus kint von Nazareth! Groz barmhertzikeit daz det Daz du dich lieze vahen Und an ein cru ᵉ ce hahen. Dem vater wer du undertan Biz in den dot, du reiner man. Von im wart dir ein hoher nam Der diner wirde wol gezam: Jhesus der losere. Der nam ist so erbere Daz er uber alle namen ist. Im dienent alle zu aller frist, Sich mußent bigen alle knie Zu himel und uf erden hie Und in der nidern helle cruft. (Von Gottes zukunft, vv. 1987 - 2001) Jesus, Kind aus Nazareth, große Barmherzigkeit hat bewirkt, dass du dich gefangen nehmen und an ein Kreuz schlagen ließest. Gott dem Vater warst du bis in den Tod ergeben, du reiner Mann. Von ihm wurde dir ein ehrenvoller Name zuteil, der deiner Würde gut entspricht: Jesus, der Erlöser. Dieser Name ist so ehrenvoll, dass er über allen anderen Titeln steht. Ihm dienen alle und auf alle Zeit; alle Knie müssen sich beugen, im Himmel, hier auf der Erde und in der dunklen Höllengruft. Dem Sprecher-Ich geht es in diesen Passagen weniger um die detailgetreue Wiedergabe des Geschehens, sondern um dessen Preis: Elemente der Exegese werden hier mit Lob verschmolzen, wenn der Kreuzestod in Einklang mit der christlichen Soteriologie als Opfertod und Heilsgeschenk stilisiert wird. Die Fokussierung auf das preisende Moment bewirkt ein Übergewicht des discours gegenüber der histoire. Den Pronomina der zweiten Personen kommt daher auch eine eher adressierende als referenzielle Funktion zu, der auf 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 137 <?page no="138"?> der Kommunikationsebene präsente Du-Adressat hat kein Gegenstück auf Ebene des Erzählten. Die Kommunikation mit dem Gegenüber erlaubt zwar Durchblicke auf dessen Geschichte, erzählt die Einzelepisoden jedoch nicht aus. Dass die Anredesituation mehr der rhetorischen Figur der Apostrophe ähnelt als einer in die Anrede verlagerten Erzählung, zeigt sich auch darin, dass das Sprecher-Ich zwischen mehreren Adressaten wechselt. Immer wieder durchbricht es die Anrede an Christus oder Gott, um den Leser direkt anzusprechen, etwa mit dem Appell Kranker mensche, nu ᵉ nim war / Wie gu ᵉ tig und gedu ᵉ ldig gar / In siner not din schepfer si (Von Gottes zukunft, vv. 2297 - 2299: »Elender Mensch, nun erkenne, wie gütig und duldsam dein Schöpfer in seiner Not ist«), oder wenn er ihn als Teil einer größeren Gruppe zum Gebet auffordert: Wis fro, wis ku ᵉ ne, cristen diet! / Sprich und singe sin lobe liet (Von Gottes zukunft, vv. 2009 f.: »Sei froh und unverzagt, Christenvolk! Sprich und sing sein [= Christi] Loblied! «). Die direkte Anrede an den tatsächlichen Rezipienten nimmt auch das sonst an die Sprecher-Position geknüpfte Identifikationsangebot zurück. Das Sprecher-Ich ist eine Erzählerfigur, die als Sprachrohr des Autors fungiert, kein »Wiedergebrauchs-ich«. Wie bei John Lydgate finden sich hier Passagen, die den Sprechakt als solchen thematisieren, beispielsweise: Ich heben aber an als e: / Wann siner gute der waz me. (Von Gottes zukunft, vv. 2329 f.: »Ich aber fahre fort: Denn seine [= Christus] Güte war damit nicht erschöpft«). Auch die Rubriken fungieren als Erzählereinlassungen, die den Text strukturieren wollen, so beispielsweise die Rubrik vor Vers 2433 Von Judas ku ᵉ sse und von sinem valschen rate (»Von Judas ’ Kuss und seinem falschen Rat«). 3.1.3 Alterität versus Kontinuität: die Aussagekraft der Narratologie der Du- Erzählung für die mittelalterliche Literatur? Wie im Rahmen der »methodologischen Vorüberlegungen« bereits skizziert wurde, diskutiert die Mediävistik über die Aussagekraft narratologischer Beschreibungsmodelle für die mittelalterliche Literatur. Das Textkorpus und die in ihm vertretenen Typen der Du- Erzählung bestätigen die Annahmen einer historisch arbeitenden Narratologie bzw. einer »narratologischen Phänomenologie«: 73 Bei aller historisch und kulturell bedingten Alterität der mittelalterlichen Literatur lassen sich einige erzählerische Grundkomponenten und -strategien ausmachen, die über die Diachronie hinweg Bestand haben. Für die Beschreibung dieser Großstrukturen, die über Epochengrenzen hinweg weitgehend erhalten bleiben, eignen sich die Basiskategorien der Narratologie als »terminologische[ … ] Minimalausstattung«, 74 ihre Ausgestaltung und mögliche Kombinationen variieren jedoch. Das macht eine Anpassung an den vormodernen Kontext erforderlich. Grund dafür ist nicht zuletzt die im eingangs zitierten Diktum Sartres angenommene Verbindung von Weltvorstellung und Erzählen. Eingebunden in spezifisch-mittelalterliche Denkmuster, bedienen sich die Autoren zwar überzeitlich gängiger Erzählmuster, gestalten Erzählerfiguren, die in die Erzählung eingreifen oder nicht, konstruieren Kommunikationssituationen in und über die Textwelt hinaus und schildern die Geschichte von fiktiven oder 73 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (2015), S. 16. 74 Bleumer: Historische Narratologie (2015), S. 215. 138 3 Narratologische Annäherungen <?page no="139"?> als historisch gedachten Personen. Die veränderten Weltvorstellungen, die den modernen Rezipienten von den Produzenten und Rezipienten der mittelalterlichen Texte trennen, bewirken jedoch Alteritätseindrücke. Das hat zwar Folgen für das Verständnis der Texte, ist jedoch nicht auf unterschiedliche Strukturen zurückzuführen, sondern gründet auf abweichend gesetzten Parameter innerhalb dieser Grobstrukturen. Der plot eines Artusromans etwa weist andere Motivationsstrukturen auf als der eines Gegenwartstextes; seinen Protagonisten eine psychologische Motivation zu unterstellen, wäre eine Verkennung der zeitgenössischen Anthropologie, in die die christliche Vorstellung einer auf providentia gestützten Ordnung hineinspielt. 75 Grundlegende Mechanismen bleiben oftmals überzeitlich konstant; das Weltwissen hingegen, das etwa für die Konstruktion von Figuren oder Plotstrukturen abgerufen wird, unterscheidet sich mitunter erheblich. Um den Text angemessen interpretieren zu können, muss dieses Weltwissen rekonstruiert und in die narratologische Analyse eingebracht werden. Was bedeutet das nun für die Anwendung narratologischer Modelle auf die mittelalterliche Du-Erzählung? Fluderniks Modell eignet sich insofern als Ausgangspunkt für die narratologische Beschreibung der narrativ gebrauchten Apostrophe des Mittelalters, als es mit wenigen elementaren Kategorien auskommt. Im Mittelpunkt ihres Modells steht die Kommunikationssituation, die sich auf zwei hierarchisch gegliederten Ebenen abspielt: die Kommunikation mit dem Gegenüber, die in den Schema-Zeichnungen als discours bezeichnet wird, und die Wiedergabe der Geschichte des Angesprochenen, die in die Kommunikation eingebettet ist, von dieser umrahmt oder durchdrungen wird (histoire). Die zugrundeliegende Struktur ist also dieselbe. Dass diese jedoch auf andere Weise mit Inhalt gefüllt wird, als es in der modernen Du- Erzählung der Fall ist, ist vor allem der unterschiedlichen Funktionalisierung der Texte geschuldet. Während die modernen Du-Erzählungen aufgrund ihrer antimimetischen Kommunikationssituation als artifiziell und fiktional gelten, bewegt sich die mittelalterliche Du-Erzählung im Bereich faktualen Erzählens. 76 Die Texte verstehen sich nicht als Spiel mit den Demarkationslinien der Diegese, sondern erfüllen ein breites Spektrum an religiösen Funktionen, wie in Teil II für die jeweiligen Einzeltexte bereits gezeigt wurde: Sie fungieren als Hilfsmittel in der religiösen Alltagspraxis, indem sie Meditation und Gebet anleiten und zum Medium der Kommunikation mit dem Transzendenten werden; sie dienen der Wissensvermittlung und der Katechese, indem sie Glaubenswissen für ein überwiegend laikales Publikum aufbereiten. Selbst in Texten, die explizit unterhalten wollen, wie beispielsweise Heinrichs Von Gottes zukunft, wird die Unterhaltung zugunsten weiterer Funktionen instrumentalisiert. Für den transgressiven Charakter der Textkommunikation zeichnet der Gebrauchscharakter der Texte verantwortlich: Während die modernen Du-Erzählungen mit einer ambigen Anrede spielen, zielt die im Text eröffnete Gesprächssituation in den spätmittelalterlichen Texten auf eine exophorische, das heißt über den Text hinausgehende Kommunikation und wendet sich an eine auch außerhalb des Textes existente Entität; die Kommunikation überschreitet den »Referenzrahmen des Textes hin[ … ] auf die Gegenwart 75 Zum durchaus pluralen mittelalterlichen Konzept von Kontingenz und providentia siehe Reichlin: Kontingenzkonzeptionen in der mittelalterlichen Literatur (2010). 76 Um das Fiktionalitätskonzept, wie es der religiösen Literatur des Mittelalters zugrunde liegt, geht es in Kapitel 3.2.2. 3.1 Die mittelalterliche Du-Erzählung in narratologischer Perspektive 139 <?page no="140"?> des mittelalterlichen Publikums« 77 und ist somit durchlässig. Für die religiöse Literatur des Mittelalters muss das Modell der Textkommunikation also angepasst werden. Ein weiterer Unterschied, der sich aus der erweiterten Funktionalisierung der mittelalterlichen Texte ergibt, besteht in der abweichenden Gewichtung des Erzählaktes. Vor allem in den Gebets- und Andachtstexten steht ein Sprachhandeln im Vordergrund, das über das bloße Erzählen hinausgeht. Wichtiger als dieses ist das performative Potenzial, das auf Vollzug ausgelegt ist und diesen präsent hält: Die narrativen Momente sind verknüpft mit Handlungsaufforderung oder Lobpreis oder leiten und begleiten die Meditation. Vor allem die Ausgestaltung der Sprecher-Situation unterscheidet sich oftmals stark von der modernen Du-Erzählung. Insbesondere das Phänomen eines »Wiedergebrauchs-ich«, das die individuelle Reaktualisierung der textuell entworfenen Gesprächssituation ermöglicht, legt es nahe, den Begriff des › Erzählers ‹ für die mittelalterliche Literatur zu überdenken. Mit ihrer doppelten Adressierung eines Lesers und eines göttlichen Gegenübers weicht nicht nur die textexterne Kommunikationssituation von den Bedingungen moderner Texte ab, auch textintern lassen sich Unterschiede bei gleichbleibenden Grobstrukturen beobachten. Diese betreffen insbesondere die Trennung zwischen den Ebenen von Erzählung (discours) und Erzähltem (histoire). Während in fiktionalen Erzählungen nämlich verhältnismäßig einfach zwischen intra- und extradiegetischen Äußerungen unterschieden werden kann, ist dies in den mittelalterlichen religiösen Du-Erzählungen nicht so ohne weiteres möglich. Die Überzeitlichkeit des Heiligen, der nicht nur eine erzählbare Vergangenheit besitzt, sondern stets ansprechbar ist und sein wird, bricht mit einer linearen Zeitvorstellung: Das zeigt sich besonders deutlich in der narrativierenden Mehrfachapostrophe, in der Tempushinweise nicht mehr klar zwischen der Jetztzeit des Kommunikationsaktes und der Vergangenheit des kommunizierten Geschehens unterscheiden. In der Du-Erzählung mit ihrem Erzählgegenstand › Heilsgeschichte ‹ verbindet sich lineares und zyklisches Denken: 78 [Heilsgeschichte] setzt die Zeitlichkeit vergangener Immanenz (als Geschichte des Heiligen) und die Zeitlosigkeit ewiger Transzendenz (als Geschichte des Heiligen) in eins, sie erzählt sozusagen Geschichtlichkeit und Geschichtslosigkeit gleichzeitig und überspringt so gleich wieder ihre primordiale Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. 79 Die größten Abweichungen in der Ausgestaltung der mittelalterlichen Du-Erzählung von ihrem modernen Pendant dürften mit der Frage nach der Fiktionalität der Texte zusammenhängen. Denn die narrative Apostrophe des Mittelalters richtet sich nicht an fiktive Figuren, sondern an Heilige. Das sind › Figuren ‹ , die einem eigenen Wissensbereich entstammen und als solche eine andere Welthaftigkeit besitzen, nichtsdestoweniger aber als › faktisch ‹ empfunden werden. Gleiches gilt für die in den Texten konstruierten Welten, die als mit der › realen ‹ extradiegetischen Textwelt übereinstimmend gedacht sind. Auch dies muss bei der Anwendung narratologischer Modelle auf mittelalterliche Texte berücksichtigt werden. 77 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 125 f. 78 Vgl. Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 53. 79 Strohschneider: Textheiligung (2002), S. 115. 140 3 Narratologische Annäherungen <?page no="141"?> 3.2 Alteritäres Erzählen: die mittelalterliche Du-Erzählung als Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie Wie die unterschiedliche Ausgestaltung von historisch und kulturell überzeitlichen Erzählstrukturen im Kontext der spätmittelalterlichen Du-Erzählung aussieht, zeichnet sich deutlich in vier Bereichen ab: im gattungsübergreifenden Charakter der Du-Erzählhaltung, in den faktualen Praktiken religiösen Erzählens, in der komplexen, den Text überschreitenden Kommunikationssituation und in der raumzeitlichen Gestaltung der Du- Texte. Was dabei untersucht wird, ist zwar für die Du-Erzählung im Allgemeinen relevant, in den Texten jedoch in unterschiedlichem Maße realisiert. Untersuchungsgrundlage sind daher jeweils diejenigen Texte, in denen einzelne Aspekte besonders greifbar werden und die somit einen exemplarischen Einblick in die Funktionsweisen und Ausgestaltung der mittelalterlichen Du-Erzählung erlauben. Dabei werden auch Aspekte behandelt, die nicht auf die Du-Erzählung beschränkt sind, sondern für weitere Felder der mittelalterlichen Literatur Gültigkeit besitzen, wie beispielsweise die Frage nach Autorenpersonae und Erzählerfiguren oder nach den Praktiken des Faktualen. Ausgangspunkt für die Analyse des Textkorpus sind gängige Theorien und Modelle der Narratologie. Sie dienen einerseits als Folie, vor der die Spezifika des mittelalterlichen (Du-)Erzählens deutlich zutage treten, sollen aber andererseits in einer hermeneutischen Kreisbewegung auf ihre Ergiebigkeit für die Untersuchung vormoderner Texte überprüft und dahingehend adaptiert werden. 3.2.1 Hybridisierung: Der liminale Charakter der narrativen Apostrophe In den anfänglich aufgestellten Thesen 80 wurde vermutet, die narrative Apostrophe konstituiere keine eigene Gattung, sondern finde als Sprechhaltung gattungsübergreifend Einsatz. Wie die Analyse der narrativen Strukturen zeigte, gehen Unterschiede in der Ausgestaltung der narrativen Apostrophe nicht auf bestimmte Gattungskontexte, sondern auf verschiedene, jeweils an die Erzählhaltung geknüpfte Funktionen zurück: Ob der Sprecher der Du-Anrede beispielsweise als »Wiedergebrauchs-ich« oder als Erzähler-Ich zu begreifen ist, hängt weniger mit der Verwendung der narrativen Apostrophe in unterschiedlichen Textgattungen und -traditionen zusammen, sondern mit der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung, die einmal auf das erzählerische Experimentieren mit einer besonderen Erzählhaltung, einmal auf die Immersion des Rezipienten abhebt. Der gattungsübergreifende Charakter der narrativen Apostrophe ergibt sich aus einem Prozess der Hybridisierung, wobei verschiedene Stile, Sprechhaltungen, Elemente neu miteinander verknüpft werden. Hybridisierung ist zu verstehen als eine Art der literarischen Kombinatorik, die über die bloße Montage einzelner Elemente hinausgeht, weil sich die unterschiedlichen Sinnbilder [ … ] wechselseitig durchdringen, indem ein Element [ … ] von mehreren Logiken her bestimmt wird, im Sinne einer strukturellen Überdetermination. 81 80 Siehe Einleitung. 81 Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2012), S. 121. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 141 <?page no="142"?> Diese Neuverflechtung aus Elementen von zwei oder mehreren Traditionen geht über die bloße Anhäufung hinaus. Aus der Vielfalt wird, so Michail Bachtin, eine »neue, spannungsvolle Einheit«: 82 Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei › Sprachen ‹ , zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen Äußerungen, Stilen, Sprachen und Horizonten gibt es [ … ] keine formale - kompositorische und syntaktische - Grenze; die Unterteilung der Stimmen und Sprachen verläuft innerhalb eines syntaktischen Ganzen, oft innerhalb eines einfachen Satzes, oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente [ … ]. 83 Hybridisierungserscheinungen sind typisch für die mittelalterliche Literatur. Mit ihrem offenen Gattungssystem, das auf losen Familienähnlichkeiten beruht, 84 begünstigt sie Verschmelzungs- und Kombinationsprozesse. Grund dafür ist der eminent intertextuelle Charakter der Literatur des Mittelalters. Diese Intertextualität führt zu Differenzen und Rekurrenzen, die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein können, von der Gesamtstruktur der histoire über einzelne Strukturmomente bis hin zur Neuauflage von Episoden und Motiven. Auch Elemente der Textoberfläche bzw. der discours-Ebene können intertextuell verarbeitet werden, wie beispielsweise eben auch die Verwendung der narrativen Apostrophe, die zwar ursprünglich im Kontext der Gebetsliteratur verankert ist, jedoch auch in epischen Texten gebraucht wird. Auch die Übernahme von pragmatischen Elementen wie der Textfunktion in einen anderen Rahmen, wie es im Falle des Elisabethgebets geschieht, in dem die für die Hagiographie typische Exemplarität und die erbauliche Wirkung auch für den Gebetstext beansprucht wird, ließe sich so als intertextuelle Referenz beschreiben. Sie mündet letztlich in die »Amalgamierung« bzw. »Hybridisierung« zu neuen Textformen. 85 Eine solche Amalgamierung verschiedener Stimmen, einer gebetshaften und einer Erzählstimme, findet in der narrativen Apostrophe statt. Genuin gebetshafte Elemente sind in erster Linie die Anrufungen, invocationes, die mal sparsam, mal in fast schon manieristischer Häufung in allen Texten des Korpus eingesetzt werden. Im Zeitglöcklein beispielsweise wird Gott im ersten Abschnitt mehrmals direkt angerufen: Allmechtiger ewiger barmhertziger gott (Zeitglöcklein, fol. 8a: »Allmächtiger, ewiger, barmherziger Gott«), O herr gütiger vatter (Zeitglöcklein, fol. 9b: »Oh Herr, gütiger Vater«), herr / myn gott (Zeitglöcklein, fol. 10a: »Herr, mein Gott«); nahezu jeder Abschnitt setzt mit einer neuen Anrufung ein, die den hymnischen Duktus des Gebets in den Text übernimmt. Auch die einzelnen Erzählabschnitte spielen mit der Struktur der Anrufung: 82 Schulz: Poetik des Hybriden (2000), S. 9. 83 Bachtin: Das Wort im Roman (1980), S. 195. 84 Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen (1994), S. 484. 85 Dass die genuinen Spezifika des Gebets jedoch in der Vorrede ausgeblendet und stattdessen typische Aufgabenbereiche der Heiligenvita okkupiert werden, hebt außerdem das narrative Potenzial hervor, das der Text sich zuschreibt. 142 3 Narratologische Annäherungen <?page no="143"?> O herr / gütiger vatter / Wie heffticlich wurd ē die glider diner innechlich ē barmhertzikeit durch getrengt vnd bewegt / über das vnableßlich ges ſ chrey / über die heißen begirlich ē treh ē / über das pynlich verl ā gen / myner vorderen vnd vetter ē in der vorhellen gefangen ē / diner lieben vnd ußerwelten fründen / die denn teglich und vnableßlich zu ͦ dir in den hymel ru ͦ fftend / vnd sprachen / Er ſ t ā d herr, wor ū b abwende ſ t du din antlit / vnd vergiße ſ t vnser armu ͦ t / Er ſ t ā d herr / hilff vnd erlo ᵉ ſ e vn ſ durch dinen namen. (Zeitglöcklein, fol. 9bf.) Oh Herr, gütiger Vater, wie stark wurden die Glieder deiner hingebungsvollen Barmherzigkeit bewegt und gerührt angesichts des unaufhörlichen Geschreis, der heißen und sehnsuchtsvollen Tränen, des schmerzhaften Strebens meiner Vorväter und Ahnen, die in der Vorhölle gefangen waren, deiner lieben und auserwählten Freunde, die täglich und unaufhörlich dich im Himmel anriefen und sagten: »Nimm uns wahr, Herr, warum wendest du dein Antlitz von uns ab und vergisst unsere Not? Bemerke uns, Herr, hilf ’ und erlöse uns in deinem Namen.« Gleichzeitig wird in dieser Anrufung erzählt, sowohl in einem sequenzialistischen Sinn als auch nach einem Erzählbegriff, der auf Erfahrungshaftigkeit gründet. 86 Die Einbettung von Bitten und deren pragmatische Funktion der Kontaktaufnahme bzw. des Dialogs entstammt ebenfalls der Gebetstradition. Weitere Elemente, die typischerweise nicht aus der Tradition des Gebets, sondern aus der des epischen Textes stammen, ist der Gebrauch direkter Rede. Das geschieht nicht nur in den Texten, die sich insgesamt als episch präsentieren, wie beispielsweise Gundackers Christi Hort, 87 sondern auch in den Texten, die sich selbst als Gebetstext deklarieren wie beispielsweise im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth. In der Episode, die vom Tod Ludwigs erzählt, tritt Elisabeth als Sprecherin auf: do du dich der bore nohetest do sprecht du andechteklich mit vergiessung der trähen Herre Jesu Christe ich sag dir lob und danck das du mich din dienerin hest getröstet und mir erfüllet hest die grosse begirde die ich hatt zu sehende die gebein mins bruders mir ist nit leid daz er sich selber geopfferet hett ze hilff dinem heiligen lande. Aber nun will ich in und mich bevelhen dinem göttlichen willen. Öch wölte ich in nit ob es müglich wer mit einem wort geischen zu dem leben wider dinen willen des du mir ein gezuge bist. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 49b - 51a) Und als du dich der Bahre nähertest, sprachst du andächtig und unter vielen Tränen: »Herr Jesus Christus, ich lobe dich und danke dir, dass du mir, deiner Dienerin, Trost gespendet und den großen Wunsch erfüllt hast, ein letztes Mal die Gebeine meines Bruders zu sehen. Mir tut es nicht leid, dass er sich geopfert hat, um deinem Heiligen Land zu helfen. Aber nun will ich ihn und mich deinem göttlichen Willen unterstellen. Selbst wenn es möglich wäre, ihn mit einem Wort wieder zum 86 Zum Narrativitätsbegriff bzw. dem Konzept der › Ereignishaftigkeit ‹ , siehe Kapitel 2.5. 87 Ein gutes Beispiel ist die Erzählung von der Salbung Jesu durch Maria Magdalena, in die ein Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern eingebettet ist, die Maria Magdalenas Tun kritisieren: › owe des ungemaches, ‹ / sprachen die junger, › was flust ist daz! / wær daz nicht verchauft paz / um drihundert phenninge unt me / unt wer den armen gegeben ê danne disiu wer geschehen? ‹ / da gegen din munt begunde jehen / › diu frowe hat nicht ubel getan, / ir mu ᵉ gt ze allen zeiten han / die armen, des mu ᵉ gt ir mich nicht: / ez ist geschehen ze ainer geschit, / si hat ez getan ze hu[l]de mir, / darumb sprecht nicht ubel ir. ‹ (Christi Hort, vv. 706 - 718: » › Owe, was für eine Unanehmlichkeit ‹ , sagten die Jünger, › was ist das für ein Verlust! Wäre es nicht besser gewesen, das Öl wäre für dreihundert Pfennige oder sogar noch mehr verkauft und das Geld den Armen gegeben worden, als es so zu verwenden? ‹ Darauf antwortete dein Mund: › Die Frau hat nichts Schlechtes getan, denn die Armen werdet ihr immer haben, mich jedoch nicht: Das ist geschehen und eine Geschichte geworden, sie hat es getan, um mir Ehre zu erweisen, deswegen sprecht nicht schlecht über sie. ‹ «). 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 143 <?page no="144"?> Leben zu erwecken, so würde ich das gegen deinen Willen nicht wollen, dessen seist du mein Zeuge.« Nicht nur die Integration von Redezitaten, sondern auch Einblicke in das Innenleben der Figuren rücken den Sprecher in die Nähe eines auktorialen Erzählers, der auch Dinge wiederzugeben beansprucht, die über seinen Wissensstand hinausgehen. Die Amalgamierung verschiedener Traditionen bedingt den Gattungsgrenzen überschreitenden Charakter der narrativen Apostrophe. Als Erzählhaltung, die sich aus der unauflöslichen Verquickung gebetshafter und narrativer Elemente ergibt, zeichnet sich die narrativ gebrauchte Anrede durch Liminalität aus. In der Anthropologie meint der Begriff › Schwelle ‹ die Transgression einer »real vorhandene[n] Schwelle« im Rahmen von Übergangsritualen und den so entworfenen Raum eines »nicht mehr« und »noch nicht«. 88 Der Begriff › Schwelle ‹ , bezogen auf »alle Prozesse des Übergangs und der Verwandlung«, bezeichnet nicht nur die Schwellenphase bzw. die »Schwellenzeit«, sondern auch diejenigen Akteure, die sich »auf der Schwelle befinden« und sich als »amorphe Zwischenwesen [ … ] losgelöst von allen Bindungen durch das Niemandsland der Schwellenphase [bewegen] und über eine Vielzahl kultureller Manifestationsmöglichkeiten verfüg[en]«. 89 Liminalität wohnt auch der hybriden, zwischen zwei Bereichen oszillierenden narrativen Apostrophe inne. Gleichsam als › Zwischenwesen ‹ bewegt auch sie sich zwischen Gebet und Epik und erhebt diese Schwellenhaftigkeit zur neuen, eigenständigen Form. Wenn für die narrative Apostrophe der Moderne festgestellt wird, sie sei »Ausdrucksform eines kollektiven kulturellen Wissens, das keine anderen Vermittlungswege mehr findet«, 90 so gilt das auch für die mittelalterliche Du-Erzählung: So wie die Heilserfahrung, die in den Texten erzählt (und gleichzeitig beschworen) wird und sich damit im instabilen Raum eines › Dazwischen ‹ befindet, ist auch der erzählerische Modus von dieser Transgressivität geprägt, die jedoch nicht auf ein vollständiges Überschreiten, sondern auf ein Verweilen auf der Schwelle zielt. Die Erzähltechnik der narrativ gebrauchten Apostrophe ist damit der Versuch, ein erzählerisches Äquivalent für die paradoxale Heilserfahrung zu entwerfen, die die Bereiche der mensch-lichen Sphäre und des Heiligen umfasst. Sie changiert zwischen Verheißung und Erfüllung und zwischen Entwurf und Vollzug eines Handlungsaktes. So setzt sie die dichotomischen Bereiche ineins, transgrediert sie zugleich und lässt sie in der Schwebe. Die Liminalität, die sich aus Hybridisierung der verschiedenen Traditionen ergibt, beschränkt sich jedoch nicht auf die Gattungsfrage: Sie betrifft auch den Status zwischen fiktionaler Darstellung und faktualem Geltungsanspruch, die liminale, weil Grenzen überschreitende Kommunikationssituation und die Offenheit des Erzählens. 88 Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 29 - 31, besonders S. 29. Siehe dazu auch Gennep: Les Rites de Passages (1909). Im Rückgriff auf Arnold van Gennep erarbeitete der Sozialanthropologe Victor Turner sein Konzept der Liminalität, in dem die › Schwelle ‹ (lat. limen) zentrale Bedeutung erlangt: »A limen is a threshold, but at least in the case of protracted initiation rites or major seasonal festivals, it is a very long threshold, a corridor almost or a tunnel which may, indeed, become a pilgrim ’ s road or passing from dynamics to statics, may cease to be a mere transition and become a set way of life, a state, that of the anchorite or monk«, vgl. Turner: Variations on a Theme of Liminality (1977), S. 37. 89 Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 33. 90 Wiest-Kellner: Messages from the Threshold (1999), S. 28. 144 3 Narratologische Annäherungen <?page no="145"?> 3.2.2 Im Dazwischen von Fiktionalität und Faktualität? Geht man von einer prinzipiellen Kontinuität von Erzählen und Erzähltechniken aus, bei der nicht das Erzählen selbst, sondern die Prämissen dieses Erzählens als alteritär zu verstehen sind, stellt sich auch die Frage nach der Fiktionalität bzw. Faktualität eben jener Texte, die die narrative Apostrophe gebrauchen. 91 Dass Praktiken des Fiktionalen und Faktualen in unterschiedlichen Kulturen und Epochen bekannt waren, aber durchaus unterschiedlich verwendet wurden, zeigt sich angesichts der narrativen Apostrophe, die in der Literatur der Gegenwart nahezu ausschließlich in fiktionalen Erzählwerken auftaucht (verwandte Gebrauchstextsorten wie Anleitungen, Rezepte oder Reiseführer ausgenommen), im Mittelalter jedoch in einem faktualen Kontext gebraucht wurde. Was in der mittelalterlichen Poetik, die mit anderen Kategorien als dem › Fiktionalen ‹ bzw. › Faktualen ‹ operiert, als › wahr ‹ oder › wahrhaftig ‹ gilt, welche Textstrategien jeweils angewendet werden, welche Bedingungen und Lizenzen an das fiktionale oder faktuale Erzählen geknüpft sind, unterscheidet sich erheblich von der modernen Fiktionalitätspraxis. 92 Der Blick auf die mittelalterliche Du-Erzählung, insbesondere als Vertreter einer religiösen Literatur mit nochmals eigenen Praktiken, verspricht daher ein vertieftes Verständnis von Fiktionalität bzw. Faktualität innerhalb der › Literatur ‹ des Mittelalters und erlaubt eine Historisierung eines zwar überzeitlich existenten, nicht jedoch überzeitlich konstanten Phänomens. Problematisch ist vor allem das Übergewicht der Fiktionalität in der Theoriebildung: 93 Denn Faktualität, die grundsätzlich als Modus für die mittelalterliche Du-Erzählung angenommen wird, wird normalerweise ex negativo unter Zuhilfenahme von Fiktionalitätskonzepten definiert. Faktualität gilt dabei als Gegenpol von Fiktionalität und wird mit dem › Nicht-Fiktionalen ‹ gleichgesetzt. 94 Gleichzeitig gehen Fiktionalitätstheorien von einem »logischen Primat des Faktualen«, 95 dem Anspruch auf Wirklichkeitsentsprechung, aus und begreifen Faktualität als »default-Modus« 96 des Erzählens. Zudem benennen die Begrifflichkeiten »diachron und diatop ganz verschiedene Phänomene«, 97 wobei die 91 Zuletzt dazu Christian Schneider: Fiktionalität im Mittelalter (2020). Die Probleme, die sich ergeben, wenn versucht wird, verschiedene historische Praktiken des Fiktionalen nachzuzeichnen, erörtert Eva-Maria Konrad: On the History of the Practice of Fictionaliy (2020). 92 In der mediävistischen Forschung wird die Kategorie des Fiktionalen stark diskutiert und häufig als nicht erkenntnisfördernd verworfen, so zum Beispiel von Manuel Braun: Der Glaube an Heroen und Minnende als › Glaube der anderen ‹ (2015) oder Christian Schneider: Fiktionalität, Erfahrung und Erzählen im › Lanzelet ‹ Ulrichs von Zatzikhoven (2013). Aus zwei Gründen bringt diese Studie die Kategorie des Fiktionalen dennoch in Anschlag: Vor dem Hintergrund, dass die Du-Erzählweise in modernen Texten eine dezidierte Strategie des Fiktionalen ist, erfordert die Historisierung der narrativen Strategie eine Auseinandersetzung mit der Fiktionalitätsthematik. Ungeachtet der Tatsache, dass die mittelalterliche Poetik mit anderen Termini operiert, lassen sich auch für das Mittelalter Praktiken des Fiktionalen bzw. Faktualen ausmachen, die mit bestimmten Kommunikations- und Rezeptionsabsichten verbunden sind. 93 Der Versuch, Faktualität als eigenständiges Phänomen - und nicht aus der Fiktionalität heraus - zu begreifen, wurde jüngst von Monika Fludernik und Marie-Laure Ryan unternommen: Narrative factuality: a handbook (2020). 94 Sonja Glauch formuliert das pointiert: »Was das eine ist, will das andere nicht sein«, Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 389. 95 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 389. 96 Zipfel: Fiktionssignale (2014), S. 105. 97 Hempfer: Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie (1990), S. 111. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 145 <?page no="146"?> zugrunde liegenden Prämissen nicht immer offengelegt werden. Das wiederum führt dazu, dass die Begriffe häufig nicht trennscharf verwendet werden. 98 Fernerhin besteht auch ein Begriffsproblem: Während einige Theorien von einem klassifikatorischen Begriff ausgehen und Fiktionalität als eine Eigenschaft betrachten, die entweder vorliegt oder nicht, vertreten andere eine relationale, komparative Fiktionalitätskonzeption, die von einer skalierbaren Fiktionalität als einem Mehr- oder Weniger ausgeht. 99 Eine dritte Position kombiniert den klassifikatorischen und den komparativen Aspekt: Klaus Hempfer etwa plädiert für einen Typusbegriff, nach dem Fiktionalität (oder Faktualität) zwar einer »Entweder-oder«-Entscheidung unterliegt, jedoch in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung vorliegen kann - ein fiktionaler Text wäre demnach »mehr oder weniger« typisch. 100 Zuletzt beeinflussen auch die Anwendungsbereiche der Fiktionstheorien ihr Definiendum. In der Literaturwissenschaft hat der Begriff der Fiktion oder Fiktionalität auch texttypologische Funktion, wird also herangezogen, wenn es darum geht, literarische Texte von nicht-literarischen zu unterscheiden. Obwohl in der Theoriedebatte inzwischen weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass Fiktionalität keineswegs als »differentia specifica literarischer Texte« 101 zu betrachten ist, hat sich die implizite Gleichsetzung von Literarizität und Fiktionalität in der Literaturwissenschaft lange gehalten. 102 98 Der unterschiedliche Gebrauch im Deutschen und im Englischen oder Französischen verschärft dieses › Sprachproblem ‹ noch weiter. Dass beispielsweise das englische › fiction ‹ mehr oder weniger synonym für › Roman ‹ oder sogar › Literatur ‹ gebraucht, weicht die Trennschärfe der Begrifflichkeiten weiter auf. 99 Eine Übersicht über die von der Mediävistik ausgemachten Typen graduell verstandener Fiktionalität bietet Benjamin Gittel: Fiktion und Genre (2018), S. 33 - 39. 100 Hempfer: Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie (1990), S. 119. Um das zu illustrieren, greift Hempfer auf das Beispiel des Pyknikers zurück, das der Erkenntnistheoretiker Franz von Kutschera anführt: »[Es] ist [ … ] sinnvoll zu sagen: a ist ein typischerer Fall eines Pyknikers als b, d. h. Pykniker sein ist nicht nur eine Sache des Entweder-Oder, sondern eine Sache des Mehr-oder-Weniger.« Hempfers Vorstellung einer skalierbaren Fiktionalität betrifft jedoch nicht alle Ebenen, auf denen man Fiktionalität ansetzen kann, gleichermaßen, so dass sein Plädoyer für einen › Typus ‹ Fiktionalität ergänzt werden muss: Während auf einer pragmatischen Ebene die Frage nach der Fiktionalität nämlich sehr wohl eine »entweder-oder«-Entscheidung ist, ein Text also nur als faktual oder als fiktional intendiert und rezipiert wird, ist auf einer ontologischen bzw. syntaktischen Ebene ein »Mehr-oder-Weniger« denkbar: Denn ungeachtet der Tatsache, dass ein Text grundsätzlich fiktional ist, kann er mit wenigen fiktiven Elementen auskommen, ohne deswegen jedoch faktual zu werden - und umgekehrt können, wie das Beispiel mittelalterlicher religiöser Literatur beweist, faktuale Texte eine Reihe an fiktiven Inhalten bzw. fiktionalen Textstrategien aufweisen, ohne deswegen ihren grundsätzlich faktualen Status zu verlieren. Hempfers Konzept müsste also insofern präzisiert werden, dass ein höherer oder geringerer Grad an Fiktivität, nicht jedoch an Fiktionalität möglich ist, dass es also der Anteil an fiktiven Elementen und fiktionalen Textstrategien ist, nicht der grundsätzliche Geltungsanspruch, der einen Text zu einem mehr oder weniger typischen Vertreter von Fiktionalität macht. Ähnlich sieht das auch Christian Schneider für die mittelalterliche Literatur: »Insofern die mittelalterlichen Texte zeitgenössisch offenbar verschiedenen Umgangsformen zugänglich waren - nämlich sie einerseits für rein fiktional, andererseits für Wirklichkeitsdarstellungen zu halten - , ist die Vorstellung einer skalierten Fiktionalität plausibel. Dem widerspricht jedoch nicht, dass die Kategorie der Fiktionalität an sich - ob sich ein individueller Rezipient also dafür entschied, einen Text als Aussage über tatsächliche Sachverhalte zu verstehen oder nicht - ein Entweder-Oder ist«, Schneider: Fiktionalität im Mittelalter (2020), S. 97 f. 101 Hempfer: Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie (1990), S. 113. 102 Vgl. Hempfer: Zu einigen Problemen einer Fiktionstheorie (1990), S. 113. 146 3 Narratologische Annäherungen <?page no="147"?> Die Debatte kreist um drei Hauptdefinitionen, die Fiktionalität auf verschiedenen Ebenen verorten: eine semantisch-ontologische, eine syntaktisch-logicolinguistische und eine pragmatische Definition. Die semantisch-ontologische Definition betrachtet den ontologischen Status des Erzählten. Referenzialität ist hierbei entscheidend: Besitzt das Erzählte ein Gegenstück in der außersprachlichen Wirklichkeit, gibt es Referenzen auf Entitäten in der realen Welt und kann der Wahrheitsgehalt des Erzählten anhand einer externen Realität überprüft werden? Die Nichtreferenzialisierbarkeit des Erzählten, das heißt die »mangelnde[ … ] Korrespondenz zwischen der Repräsentation und ihrem Gegenstand«, 103 gilt als Kriterium für Fiktionalität, Referenzialisierbarkeit als solches für Faktualität. 104 Erhebliche Bedeutung kommt hier dem Konzept des Fiktiven zu, das als »Opposition zum Wirklichen, Faktischen und Wahren« 105 begriffen wird. Die Problematik des semantisch-ontologisch Bestimmungsversuchs zeigt sich jedoch, wenn ein fiktionaler Text fiktive und reale Elemente vermischt. 106 Einen anderen Zugang wählten Theoretiker wie Käte Hamburger oder Dorrit Cohn. In ihren syntaktisch-logicolinguistischen Theorien gingen sie davon aus, dass fiktionale Texte eine eigene Sprache ausbilden. Sie versuchten, empirisch überprüfbare Merkmale auf Textebene herauszuarbeiten, die die Einordnung eines Textes als fiktional oder faktual erlauben. Ihren Höhepunkt fand die Suche nach »textimmanente[n] Zeichen«, nach »characteristica specifica, die ein Autor obligatorisch einsetzen muss, wenn sein Roman als Fiktion rezipiert werden soll«, 107 in den »syntaktischen« Fiktionstheorien, der 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Ausgehend von der Beobachtung, dass auch faktuale Texte, zum Beispiel journalistische Texte, sich offenkundig Textstrategien bedienen können, die entsprechend solcher › Fiktionsheuristiken ‹ dem Bereich der Fiktionalität angehören würden, wurde dieser Auffassung entschieden widersprochen. 108 Bestimmte Textstrategien sind statistisch zwar besonders häufig in dem einen oder anderen Bereich, stellen jedoch keine notwendigen oder hinreichenden Merkmale für Fiktionalität bereit. Während Befürworter einer auf Referenzialisierbarkeit gründenden Fiktionstheorie auf Ebene der im Text erzeugten Welt ansetzen und die Verfechter eines linguistisch-syntaktischen Ansatzes Fiktionalität an bestimmten Textmerkmalen festmachen, stützen sich Vertreter des pragmatischen Ansatzes auf sprachlogische Argumente: Im Vordergrund einer Fiktionalitätsdefinition steht damit nicht mehr die Referenzialisierbarkeit des Gesagten, sondern der Anspruch auf Referenzialisierbarkeit. Entscheidend für den Status eines Textes als fiktional oder faktual ist der Geltungsanspruch, mit dem Erzählten auf eine außersprachliche Wirklichkeit zu referieren - oder eben nicht. Für Gottfried Gabriel etwa 103 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 187. 104 Vgl. Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction (2001), S. 85. 105 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 143. 106 Wenn in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz Berlin als Schauplatz gewählt wird, hat das im Text repräsentierte Berlin ein realweltliches Gegenstück; Textwelt und reale Welt weisen Überschneidungspunkte auf, sind jedoch nicht deckungsgleich. Unter dem Stichwort des »Problems der › realen Enitäten ‹ in fiktiven Geschichten« unterscheidet Frank Zipfel in Anlehnung an Terence Parsons zwischen »objects native to the story« und »objects that are immigrants to the story«, vgl. Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 92 bzw. Parsons: Nonexistent Objects (1980), S. 52. 107 Zipfel: Fiktionssignale (2014), S. 100. 108 John Searle spricht sich entschieden gegen die Existenz von textimmanenten Merkmalen aus: »There is no textual property, syntactical or semantic, that will identify a text as a work of fiction«, Searle: The Logical Status of Fictional Discourse (1974/ 75), S. 327. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 147 <?page no="148"?> ist fiktionale Rede die »nicht-behauptende Rede, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt«, 109 auch Andreas Kablitz plädiert dafür, die übergeordnete Ebene des Sprachhandelns miteinzubeziehen. Sprechakte können potenziell eine »Als-Ob-Struktur« annehmen, innerhalb derer die Welt der Fiktion für den Augenblick der Lektüre als eine »Welt der Wirklichkeit« akzeptiert wird. 110 Nach diesem Verständnis liegt Fiktionalität auf einer Ebene außerhalb des Textes. Sie ist keine Eigenschaft des Textes oder seines Inhalts, sondern »eine dem Text zugeschriebene Qualität, eine[ … ] Intention oder [ein] Modus der Sprachhandlung«: 111 Fiktionalität also meint die Eigenschaft eines spezifischen Diskurses; sie ist eine kommunikative Größe und bezeichnet die Aufhebung einer Restriktion für den Umgang mit der Sprache. [ … ] Sie macht Aussagen möglich, die außerhalb von fiktionalen Texten unzulässig sind. 112 Zu erkennen, ob die Inhalte eines Textes nun für bare Münze genommen werden dürfen oder nicht, erfordert vom Rezipienten eine gewisse Übung bzw. »Fiktionskompetenz«: 113 Paratextuelle Hinweise wie etwa die Gattungsbezeichnung › Roman ‹ zeigen dem Leser an, dass die kommunikative Funktion der Sprachhandlung › Erzählung ‹ suspendiert und der Inhalt › wahrheitsindifferent ‹ ist: Essenzielles Merkmal fiktionaler Texte ist für Fiktionstheoretiker die »Vergleichgültigung gegenüber dem Wahrheitswert ihrer Sätze«. 114 Autor und Leser schließen einen Fiktionsvertrag, 115 der »den Text von der anderweitig geltenden Verpflichtung [entbindet], dass die Inhalte seiner Prädikationen wahre Sachverhalte darstellen müssen«. 116 Auf dem Denkrahmen der › kommunikativen ‹ These, »nach der die (oft nicht nachprüfbare) Frage der Erfundenheit nachrangig ist und fiktionale oder faktuale Texte als solche produziert und als solche rezipiert werden«, 117 beruht auch die › institutionelle ‹ Theorie der Fiktionalität, die versucht, den unterschiedlichen Ebenen der Fiktionstheorien gerecht zu werden. Das › Institutionsmodell ‹ vereint produktions- und rezeptionsästhetische Ansätze, indem es einen Interaktionszusammenhang zwischen Autor und Rezipient voraussetzt: 118 »Die Eigenschaft bestimmter Texte [ … ], fiktional zu sein, [beruht] auf einer sozialen Praxis koordinierten, konventionsbasierten Handelns«. 119 Diese Praktiken, »Institutionen« oder »konventionelle Regelung[en]«, 120 gehen einerseits von einer Sprecher- 109 Gabriel: Fiktion und Wahrheit (1975), S. 28. 110 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 142. 111 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 145. 112 Kablitz: Kunst des Möglichen (2003), S. 262. 113 Vgl. Schaeffer: Pourqoui la fiction (1999), S. 165. 114 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 167. 115 Vgl. die Sprichwort gewordene Formulierung von Samuel Taylor Coleridge - »the willing suspension of disbelief« - , mit der das vorübergehende Aussetzen des Zweifels an fiktiven Inhalten bezeichnet wird, Coleridge: Biographia Literaria (1907), S. 6. 116 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 166. 117 Fludernik/ Falkenhayner/ Steiner: Einleitung (2015), S. 116. 118 Dass Fiktionstheorien nicht nur die »spezifischen Produktionshandlungen auf der Autorseite«, sondern auch die »charakteristischen Haltungen und Handlungen des Lesers bei der Fiktions- Rezeption« berücksichtigen müssen, betont Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 229. 119 Köppe: Die Institution Fiktionalität (2014), S. 35. Siehe dazu auch das von Benjamin Gittel herausgegebene Special Issue des Journal of Literary Theory mit dem Titel »History of the Modern Practice of Fiction« (2020). 120 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 166. 148 3 Narratologische Annäherungen <?page no="149"?> intention aus, nach der ein Text als fiktional (oder auch als faktual) intendiert sein muss. Andererseits setzen sie ein »geteilte[s] Wissen um die Konventionen der Fiktionalitätsinstitution« 121 voraus. Fiktionalität ist demnach nicht auf einer einzigen Ebene festzumachen, sondern ergibt sich aus dem Zusammenspiel der semantischen, syntaktischen und pragmatischen Eigenschaften eines Textes: Fiktionstypische »Bündel von Normen« bestimmen ein »angemessenes Rezeptionsverhalten«, legen dem Rezipienten eine »imaginative Auseinandersetzung mit fiktionalen Äußerungen« nahe und schließen einen unmittelbaren Rückschluss »vom Gehalt der Äußerungen [ … ] auf das Bestehen der beschriebenen Sachverhalte in der Wirklichkeit« 122 aus, kappen also die Referenz von Text und Welt. Aufgrund derartiger Praktiken werden die Texte von ihren referenziellen Funktionen entbunden und können ihre Geltung unabhängig von der Referenzialität ihrer propositionalen Gehalte entfalten. 123 Auch in dieser Theorie ist Fiktionalität kein textimmanentes Merkmal, sondern Voraussetzung und Produkt einer Zuschreibung: 124 Fiktional ist ein Text [ … ] nicht an und für sich, sondern in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext, d. h. er ist fiktional für ein Individuum, eine Gruppe, eine Gesellschaft, in einer bestimmten Situation, in einer bestimmten Epoche. 125 Damit wird Fiktionalität zur »Disposition der Textrezeption«, 126 die es erlaubt, unter veränderten Konventionen und Praktiken prinzipiell jeden Text als fiktional zu behandeln. Das Institutionsmodell der Fiktionalität trägt dem hier angelegten Verständnis einer historischen und kulturellen Variabilität von prinzipiell überzeitlichen Strukturen Rechnung, indem es die Frage nach dem Status eines Textes von seinen Inhalten abkoppelt. Stattdessen fragt es nach den Bedingungen, unter denen Texte als fiktional produziert und rezipiert werden. 127 Damit wird ein dezidiert rezeptionsästhetischer Standpunkt eingenommen, der dem Leser einen »besonderen Stellenwert [ … ] für die Bedeutungskonstitution« 128 beimisst, ohne die Textseite außer Acht zu lassen. Denn bei der Interpretation eines Textes spielen dessen strukturellen Eigenschaften eine wichtige Rolle, die semantischen Relationen müssen in ihrer potenziellen Bedeutung jedoch erst abgerufen und »operativ, d. h. durch die Produktion von Plausibilitäten« 129 entwickelt werden. Fiktionalität bzw. Faktualität als kommunikative Größen bzw. als »diskursive Struktur« 130 zu betrachten, erlaubt es, die Existenz fiktiver und realer Elemente in Texten zu analysieren 121 Köppe: Die Institution Fiktionalität (2014), S. 36. 122 Köppe: Die Institution Fiktionalität (2014), S. 36 f. 123 Vgl. Manuwald: Der Drache als Herausforderung für Fiktionalitätstheorien (2018). 124 Köppe: Die Institution Fiktionalität (2014), S. 41. 125 Martínez/ Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 17. 126 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 218. 127 »Die institutionelle Theorie der Fiktionalität geht [ … ] davon aus, dass die soziale Praxis der Fiktionalität (wie alle sozialen Praxen) eine diachrone Entwicklung durchlaufen kann«, Köppe: Die Institution Fiktionalität (2014), S. 45. Als Beispiel dafür führt Tillmann Köppe den Mythos an, der in der Antike als faktual gelesen wurde, heutzutage unter veränderten kulturellen Vorzeichen jedoch als fiktional gilt. 128 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 200. 129 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 200 f. 130 Kablitz: Kunst des Möglichen (2013), S. 168. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 149 <?page no="150"?> und unterschiedlichen Wahrheitskonzepten und Wirklichkeitsauffassungen auf die Spur zu kommen. Was heißt das für die Beschäftigung mit der narrativen Apostrophe? Mit Hilfe des Institutionsmodells können Strategien und Techniken identifiziert werden, die im Mittelalter abweichend konnotiert waren, und der Pluralität literarischen Schaffens in einer Zeit vor der › Literatur ‹ gerecht werden. Vor dem Hintergrund, dass sich die narrative Apostrophe in einem religiösen und damit prinzipiell faktualen Kontext bewegt, ist auch das von Christian Klein und Matías Martínez entworfene Konzept der »Wirklichkeitserzählung« hilfreich: Ihre knappe Definition als »Erzählung[ … ] mit unmittelbarem Bezug auf die konkrete außersprachliche Realität« 131 mag zwar auf den ersten Blick an die bereits verworfene ontologisch-semantische Definition erinnern, sieht jedoch den Dreh- und Angelpunkt weniger in der Referenz als in einem referenziellen »Anspruch auf unmittelbare Verankerbarkeit in der außersprachlichen Wirklichkeit«. 132 Sie beschränkt sich daher nicht auf deskriptive bzw. konstatierende Wirklichkeitserzählungen, sondern schließt normative und voraussagende bzw. »visionäre« Wirklichkeitserzählungen mit ein. 133 Inwieweit sich trotzdem - oder gerade deswegen - syntaktische oder semantische Strategien und Signale in den Texten finden lassen, wird im Folgenden gefragt. 3.2.2.1 Religiöse Texte des Mittelalters als faktuale Literatur? Auch wenn in der mediävistischen Debatte die Kategorien des Fiktionalen und Faktualen vielfach verworfen werden, kann man ein pragmatisches Fiktionalitätskonzept auch für die mittelalterliche Literatur in Anschlag bringen. 134 Trotz einer prinzipiellen Vergleichbarkeit von modernen und mittelalterlichen Fiktionalitätspraktiken erschweren einige Faktoren einen solchen Vergleich. Das beginnt schon mit der Unmöglichkeit, eine mittelalterliche Fiktionalitätspraxis lückenlos zu rekonstruieren. Gebrauchs- und Überlieferungszusammenhänge lassen zwar Rückschlüsse auf die zeitgenössische Lesart eines Textes als faktual oder fiktional zu, sind aber mehr Hinweise denn Beweise und erlauben allenfalls eine indirekte Rekonstruktion. 135 Zudem fehlen »systematische Selbstbeschreibungen« 136 in Form von zeitgenössischen Poetiken oder Fiktionalitätstheorien. Um ein eventuelles Fiktionalitätsbewusstsein von Produzenten und Rezipienten mittelalterlicher Literatur herauszuarbeiten, wird neben selbstreflexiven Passagen in den Erzählwerken auch immer 131 Klein/ Martínez: Wirklichkeitserzählungen (2009), S. 1. 132 Klein/ Martínez: Wirklichkeitserzählungen (2009), S. 6. 133 Christian Klein und Matías Martínez erweitern den Geltungsanspruch eines bloßen »So ist es (gewesen)« um ein »So soll es sein« (normativ) bzw. »So wird es sein« (visionär/ voraussagend), Klein/ Martínez: Wirklichkeitserzählungen (2009), S. 1 bzw. 6. 134 Timo Reuvekamp-Felber etwa plädiert dafür, Kategorien wie › fiktional ‹ und › faktual ‹ zu den Grundkategorien mittelalterlicher Texte zu rechnen, betont aber die gegenüber der modernen Fiktionalitätspraxis veränderten Funktionsweisen und Institutionen literarischer Fiktion bzw. von Fiktionalität, vgl. Reuvekamp-Felber: Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung (2013), S. 417 - 419. Siehe dazu auch Haferland: Erzähler, Fiktion, Fokalisierung (2019), S. 48 - 58. Auch er veranschlagt das »Konzept eines pragmatischen (Fiktions-)Rahmens«, ebd. S. 50. 135 Die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion mittelalterliche Praktiken betont auch Henrike Manuwald: Fictionality and Pleasure (2020), S. 223. Siehe dazu auch Fludernik: Medieval Fictionality from a Narratological Perspective (2020), S. 262. 136 Vgl. Manuwald: Der Drache als Herausforderung für Fiktionalitätstheorien (2018), S. 69 bzw. Orlemanski: Who has Fiction? (2019), S. 158. 150 3 Narratologische Annäherungen <?page no="151"?> wieder die antike Rhetorik herangezogen, die im Mittelalter breit rezipiert wurde. In der römisch-rhetorischen Dreigliederung von fabula, argumentum und historia, wie sie beispielsweise der fälschlicherweise mit Cicero identifizierte Rhetor ad Herennium oder Quintilian in seiner Institutio Oratoria vornehmen, wird der erzählte und erzählbare Stoff in eine Skala der Wahrscheinlichkeit eingeordnet - eine Kategorisierung, die Isidor von Sevilla in seinen Etymologiae übernimmt: Nam historiae sunt res verae quae factae sunt; argumenta sunt quae etsi facta non sunt, fieri tamen possunt; fabulae vero sunt quae nec factae sunt nec fieri possunt, quia contra naturam sunt. (Etymologiae I,44,5) Denn › Geschichte ‹ [historia] sind wahre Dinge, die geschehen sind; › Darstellungen ‹ [argumenta], sind Dinge, die, auch wenn sie nicht geschehen sind, dennoch geschehen können; › Fabeln ‹ [fabulae] jedoch sind Dinge, die nicht geschehen sind und nicht geschehen können, weil sie gegen die Natur sind. Der default-Modus ist in dieser präskriptiven Poetik das tatsächlich geschehene Ereignis, die historia, die Isidor an anderer Stelle noch präziser als narratio rei gestae (de grammatica I,40), als › Erzählung des Geschehenen ‹ fasst. Während die historia damit am Pol des Faktischen angesiedelt ist, muss die fabula als Schilderung eines wirklichkeitswidersprechenden Ereignisses am gegenüberliegenden Ende der Skala angesetzt werden und entspricht am ehesten der modernen Fiktion. 137 Eine Mittlerposition, an der sich die Bedeutung des verisimile, des Wahrscheinlichen, ablesen lässt, nimmt das argumentum als »Mögliche[s], aber nicht Eingetretene[s]« 138 ein. Diese Dichotomie von historia und fabula, von factum und fictum, stellt vor neue Herausforderungen: Die Begriffe werden in der zeitgenössischen Rezeption nämlich weniger gebraucht, um den Wahrheitsgehalt einer Erzählung zu bezeichnen, sondern enthalten ein Urteil über Dignität und Wert des Textes. 139 Sie setzen zwar auf einer ontologischen Ebene an, haben jedoch insofern andere Implikationen, als beispielsweise die Erfundenheit der fabula den Geltungsanspruch auf einer moralischen Ebene nicht beeinträchtigt. Erschwert wird die Deutung der unscharfen rhetorischen Begriffe, die zwischen Fiktion und Fiktionalität zu changieren scheinen, durch die »extreme[ … ] Pluralität und Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«, 140 die sich nicht zuletzt aus der noch nicht abgeschlossenen Ausdifferenzierung des Systems Literatur ergibt. Für die Frage nach der mittelalterlichen Fiktionalitätspraxis heißt das, dass bei unterschiedlichen Rezeptionsgemeinschaften 141 ein »Nebeneinander[ … ] verschiedener Fiktionalitätsdispositive in verschiedenen kulturellen und epistemischen Situationen« 142 herrscht. Ein Teilsystem dieser pluralen Fiktionalitätspraxis ist die religiöse Literatur des Mittelalters. Dieses System adressiert eine spezifische Rezeptionsgemeinschaft, besitzt spezi- 137 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 410. 138 Manuwald: Der Drache als Herausforderung für Fiktionalitätstheorien (2018), S. 69. 139 So weist Sonja Glauch darauf hin, dass fabula als abwertendes Urteil in der Bedeutung von »Geschwätz, Gerede« gebraucht wurde, das Label historia als »das durch Schriftkultur Verbürgte« hingegen die Autorität eines Textes attestierte, vgl. Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 138. 140 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 391. 141 Vgl. Manuwald: Der Drache als Herausforderung für Fiktionalitätstheorien (2018), S. 69. 142 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 391. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 151 <?page no="152"?> fische Regeln und Konventionen und bildet ein spezifisch religiöses Fiktionalitäts- oder vielmehr Faktualitätsdispositiv aus. Gleichzeitig zeichnet es sich durch eine eigene Wirklichkeitsauffassung aus, die nicht deckungsgleich mit der anderer gesellschaftlicher Felder ist. Trotz Unterschiede zu den Diskursen anderer Felder wird dieses »truth program« 143 jedoch nicht als problematisch empfunden. In den Texten, die die narrative Apostrophe gebrauchen, gehört der Anspruch auf Geltung des Gesagten zum Standardrepertoire der Prologe und Vorreden: Auf Grundlage von Quellenstudium oder Autoritätenlektüre betonen die Autoren immer wieder, wahre Aussagen über die als faktisch empfundene Wirklichkeit der Heilsgeschichte zu machen. Obwohl Quellenberufungen auch in fiktionaler Literatur wie der Artusepik an der Tagesordnung stehen, steht der faktuale Geltungsanspruch dieser Texte auf stabileren Füßen. Unterstrichen wird er durch einen festen Sitz im religiösen Leben von Klerikern und Laien: Die explizite Funktionalisierung als Andachtsübung, Erbauungstext oder Bildungsmedium bekräftigt den faktualen Anspruch der Gebrauchstexte. Welche Wirklichkeitsauffassung den religiösen Texten des Mittelalters zugrunde liegt und welche Art von Referenzialisierbarkeit innerhalb dieses › truth program ‹ möglich ist, ist damit jedoch noch nicht beantwortet. Insgesamt liegen dem Mittelalter ein »historisch differente[s] Wirklichkeitsmodell[ … ]« 144 und ein »andersartige[s] Welt- und Geschichtsverständnis« 145 zugrunde. Diese Auffassung spiegelt die epistemische Situation des Mittelalters wider, die vielfach an die Grenzen dessen stößt, was überhaupt bewusst werden kann: »Der Raum des sicheren Wissens geht ab gewisser Distanz in Räume des Ungewissen über«. 146 Eine solche Distanz zum Alltagswissen zeichnet die allermeisten Inhalte der Wissensräume aus, wo »existenziell Fernes (Übermenschlich-Übernatürliches) als sakralreligiöses Wissen, zeitlich Fernes als Mythos und Geschichtsüberlieferung, räumlich Abgelegenes als potentiell erfahrbares Fremd-Faszinierendes [gilt]«. 147 In diesem Raum des begrenzten Wissens spielt vor allem die kirchlich sanktionierte und kanonisierte Literatur eine legitimierende Rolle. Der Wahrheitsgehalt eines Textes wird also weniger an der › Wirklichkeit ‹ als »Umwelt der Menschen« überprüft als vielmehr am »literarisch überlieferte[n] Wissen Vieler«. 148 143 Nach Jean-Marie Schaeffer existieren im gesellschaftlichen Diskurs verschiedene › Wahrheitsprogramme ‹ , die mit verschiedenen ontologischen Zusammenhängen verbunden sind: »[T]he social construction of › truthful discourse ‹ posits an array of › truth programs ‹ linked to various ontological domains (e. g. the profane as distinct from the sacred). Thus › myth ‹ can be › true ‹ (i. e. treated as serious and referring to some reality), even if believing in its truth enters into conflict with what in another ontological domain is accepted as truthful. For example, in myth and its corresponding reality, people can be endowed with powers nobody would imagine them having in everyday life. This does not imply that there is no distinction between fact and fiction, but that what counts as a fact may be relative to a specific › truth program ‹ «, Schaeffer: Fictional vs. Factial Narration (2013). 144 Müller: Literarische und andere Spiele (2004), S. 282. Auch für Christian Schneider ist der »Referenzhorizont im Mittelalter anders gesteckt [ … ] als heute«, Schneider: Fiktionalität im Mittelalter (2020), S. 85. 145 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 390. 146 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 392. Siehe dazu auch Schneider: Fiktionalität im Mittelalter (2020), S. 85 f. 147 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 390. 148 Gerhardt: Gab es im Mittelalter Fabelwesen? (1988), S. 159. Das Miteinander von realer Erfahrung und literarisch vermittelter Erfahrung hält auch Michelle Karnes für ein typisches Element mittelalterlicher Episteme, Karnes: The Possibilities of Medieval Fiction (2020), S. 225. 152 3 Narratologische Annäherungen <?page no="153"?> Innerhalb dieser epistemisch anders gelagerten Wissensbestände des Mittelalters nimmt der Glaube eine Sonderrolle ein: Primärquelle für »Glaubenswissen« 149 ist in der christlichen Theologie Gott selbst, der sich in den heiligen Schriften offenbart. 150 Um diesen Wissenskern herum lagern sich weitere Schichten von religiösem Wissen an, die sich verstehen lassen als »reflexives und praktisches Wissen darum, wie der Mensch Gott zur Verfügung zu stehen hat« und wie der Gläubige seinerseits Gott »handhabbar« machen kann. 151 Dieses Wissen unterscheidet sich insofern von anderen Wissensbeständen, als es sich noch weniger mit einer › objektiven ‹ Realität abgleichen lässt. Es ist Gegenstand eines stetigen Aushandlungsprozesses und wird immer wieder transformiert, medialisiert, aktualisiert und weitervermittelt. 152 In diesem Zusammenhang stehen eine Reihe weiterer Formen nahezu gleichwertig neben der literarischen Vermittlung von Glaubenswissen: Rituale und Praktiken wie Liturgie, Andacht oder Predigt, aber auch Architektur, Repräsentation und Kunst sind Medien der Vermittlung und Tradierung religiösen Wissens. Nicht nur die Begrenztheit des Wissens unterscheidet das Mittelalter von der epistemischen Position der Moderne. Einflussreich ist auch ein ethisch-moralischer Wahrheitsbegriff, die veritas der Psalmen, nach dem die richtige ethische Grundhaltung höheres Gewicht besitzt als die ohnehin nur schwer nachprüfbare › historische ‹ Wahrheit. 153 Eine physikalisch objektive und objektivierbare Wirklichkeit ist aus diesem Grund weitgehend irrelevant: Sowohl Natur als auch Literaturtradition, das › Buch der Natur ‹ und das › Buch der Bücher ‹ , gelten lediglich als zwei unterschiedliche Offenbarungen des Göttlichen und werden nach den gleichen hermeneutischen Prinzipien gedeutet. Die Deutungshoheit über das › Wahre ‹ liegt somit bei der Theologie, 154 eine » › historische ‹ , › faktische ‹ Wahrheit« 155 wird hingegen nicht als Maßstab angelegt. Wirklichkeit ist also immer auch religiöse Wirklichkeit: Wissen über das Transzendente, dessen ontologischer Status nicht nachprüfbar ist und das aus nicht-christlicher Perspektive »Setzungscharakter« 156 besitzt, wird insofern als wahr begriffen, als es auf »eine unhinterfragbare, gegenwärtig wahre Vergangenheit« 157 referiert. Mit der Orientierung an einer heilsgeschichtlich gefärbten Wirklichkeit geschieht Wissenskonstitution »unter dem Vorzeichen einer vorwissenschaftlichen Wirklichkeits- 149 Forschungsprogramm des SFB 226 »Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter« (1987), S. 12. 150 Bock: Einleitung (2016), S. 1. 151 Bock: Einleitung (2016), S. 1. 152 Vgl. Bock: Einleitung (2016), S. 10. 153 Vollmann: Erlaubte Fiktionalität (2002), S. 65. 154 Gerhardt: Gab es im Mittelalter Fabelwesen? (1988), S. 162 - 165. Entscheidend ist nicht die naturwissenschaftliche Wahrheit als solche, sondern die Frage, »ob sie eine Entsprechung zum Heilsgeschehen besitzt« und ob die »similitudo zum Heilsgeschehen [ … ] gegeben« ist, Henkel: Studien zum Physiologus (1976), S. 141. 155 Meincke: Narrative Selbstreflexion (2007), S. 337. Hans Blumenberg charakterisiert in seiner Erörterung historischer Wirklichkeitsbegriffe das mittelalterliche Verständnis von Wirklichkeit als »garantierte Realität«. Diese zeichnet sich durch eine metaphysische Durchdringung von Welt aus, in der das Transzendente als »verantworliche[r] Bürge für die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis« und damit gewissermaßen als Garant für die Weltsicht steht, Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans (1969), S. 12. 156 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 390. 157 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 393. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 153 <?page no="154"?> auffassung«. 158 Texte, die sich in diese Wissenstradition einschreiben, zielen zwar auf Fiktionen in einem weiten, nicht-literarischen Sinne. Sie rekurrieren jedoch auf »imaginäre[ … ], historisch gleichsam wirksame[ … ] Weltentwürfe« 159 und entfalten so ihre Wirkmacht. Eine Fiktionalitätsdefinition, die sich auf ontologische Kriterien stützt, muss vor diesem Hintergrund zwangsläufig ins Leere laufen. Heilige und Figuren der Heilsgeschichte haben keine direkte Entsprechung in der Erfahrungswirklichkeit der Rezipienten, vielmehr liegt ihr Charakteristikum gerade in der ihnen eigenen Ontologie, nach der sie trotz aller Differenz als existent gedacht werden. 160 Die Inhalte der religiösen Literatur werden nicht nur an einem nicht-faktischen Wahrheitsbegriff gemessen, ihre empirischfaktische Referenz erweist sich als irrelevant, 161 geht es den Texten doch vor allem um die höhere Wahrheit der göttlichen Offenbarung, um eine »Wahr(haftig-)heit, die im Sinn des Berichteten liegt«. 162 Der nicht-referenzialisierbare Inhalt solcher Texte bzw. die Fiktivität des Erzählten kann daher nicht als hinreichender Beweis für die Fiktionalität der Texte angeführt werden, ebenso wenig darf auch Faktualität an die Faktizität des Erzählten gebunden werden: Entscheidend ist vielmehr der Anspruch, › wahre ‹ Dinge zu verhandeln und dadurch Geltung zu entfalten, 163 sowie die Bereitschaft der Rezeptionsgemeinschaft, die Geltung des als faktual intendierten Textes anzuerkennen. 164 Eine solche pragmatische Sichtweise erlaubt es, 165 die Lizenzen, die Autoren religiöser Texte zugestanden werden, miteinzubeziehen und die »Übergängigkeit von nichtfiktionalen und fiktionalen Erzählformen und -registern« 166 zu berücksichtigen, ohne ihren prinzipiell faktualen Status infrage zu stellen 158 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 390. 159 Müller: Rezension Knapp/ Niesner (2004), S. 111. Solche Weltentwürfe, zu denen neben moralischen Normen und Gesetzen auch Glaubensüberzeugungen zählen, erweisen sich als »gedachte Ordnungen wirklicher Welten«, die die historische Alltagswelt mitbestimmen, Müller: Literarische und andere Spiele (2004), S. 298. 160 Siehe dazu Kapitel 3.2.2.4. 161 Gemessen an einem modernen, auf Referenzialisierbarkeit zielenden Fiktionalitätsverständnis wären die behandelten Texte als fiktional zu verstehen. 162 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 182. 163 Siehe dazu auch Manuwald: Fictionality and Pleasure (2020), S. 216 bzw. 221. 164 Sonja Glauchs Vermutung, angesichts von religiösen Texten, insbesondere von Offenbarungstexten, kollabiere die Unterscheidung von Faktualität und Fiktionalität (»Fiktionalitätsindefinitheit«, vgl. Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 399), kann auf Basis dieses Befunds nicht zugestimmt werden: Begreift man Fiktionalität oder im Falle religiöser Texte Faktualität als kommunikatives Dispositiv, so spielt der ontologische Status des Erzählten lediglich eine untergeordnete Rolle. Ob für den mittelalterlichen Rezipienten Drachen und andere Fabelwesen existierten, ist bei der Beurteilung eines Textes als faktual irrelevant; vielmehr muss es darum gehen, die Bereitschaft hinter diesen möglicherweise auch im Mittelalter als fiktiv angesehenen Elementen eine tiefere, heilsgeschichtliche Wahrheit anzuerkennen. Nach Henrike Manuwald muss bei einem solchen pragmatischen Faktualitätsverständnis berücksichtigt werden, dass der Wahrheitsanspruch auf verschiedenen Ebenen greifen kann. Bei einer Exempelerzählung beispielsweise besitzt die narratio in der Tat keine Wahrheit auf propositionaler Ebene, ihre Lehre hingegen ließe sich ohne weiteres als propositional fassen, während eine solche Erzählung in kommunikativer Perspektive als faktual zu begreifen wäre, vgl. Manuwald: Der Drache als Herausforderung für Fiktionalitätstheorien (2018), S. 82. Siehe dazu auch die Entwicklungslinien, die Gerd Bayer nachzeichnet, Bayer: Fiktionalität in der Renaissance/ Frühmoderne (2020), S. 103 - 106. 165 Ein solches pragmatisches Fiktionalitäts- (und damit auch Faktualitäts-)Konzept veranschlagt Timo Felber: Historiographisierung als Kompilationstechnik (2020), S. 60. 166 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 400. 154 3 Narratologische Annäherungen <?page no="155"?> 3.2.2.2 Intertextualität als Beglaubigungsstrategie? Berufungen auf eine Vorlage durchziehen die mittelalterliche Literatur, seien es eindeutig fiktionale Texte wie höfische Epen, Gebrauchstexte wie fachwissenschaftliche Schriften oder ihrem Geltungsanspruch nach faktuale geistliche Dichtungen: Intertextualität per se stellt kein hinreichendes Kriterium für die Faktualität eines Textes bereit. 167 Dennoch untermauern die Verfasser faktualer Texte ihren Anspruch auf die Wahrhaftigkeit des Erzählens, indem sie sich in einen Autoritätendiskurs einschreiben. Denn das Zitat einer als glaubwürdig akzeptierten Vorlage verleiht auch dem neuen Text etwas von deren auctoritas und Dignität. Neben diesen Fällen, in denen die Intertextualität in Form einer Quellenberufung markiert wird, lassen sich intertextuelle Bezüge auch in unmarkierter Form, etwa als Strukturreferenz, als Motiv- oder Stilzitat, als Anspielungen oder Kommentar, ausfindig machen. Da das durch Literatur vermittelte Wissen im Mittelalter keineswegs als nachrangig galt, lohnt es sich, die Strategien, mit denen sich die Texte der narrativen Apostrophe in ein »klerikal[ … ] [bestimmtes] Diskursuniversum« 168 einschreiben, vor der Folie des Wiedererzählens zu betrachten. › Wiedererzählen ‹ bzw. Retextualisierung 169 meint nicht nur in der mediävistischen Literaturwissenschaft das Wiederaufgreifen und Neuverarbeiten bereits existenter Stoffe. Die Anleihen, die bei einem Prätext gemacht werden, beziehen sich auf verschiedene Elemente wie Form, Struktur, Motive oder Stil. 170 Prozesse des Wiedererzählens sind nicht auf die schriftliche Kommunikation beschränkt, ihre kommemorativen und identitätsstiftenden Funktionen entfalten sogenannte › retellings ‹ unabhängig vom Kommunikationsmedium: 167 Ebenso wenig stellt sie aber auch ein Signal für Fiktionalität dar, wie Frank Zipfel vermutet, wenn er Geschichten, die offenkundig nach ästhetischen Kriterien konstruiert wurden oder deutliche intertextuelle Bezüge aufweisen, als eher fiktional begreift. Dass Fiktionssignale - und analog dazu auch Faktualitätssignale - nicht eindeutig sind, ist jedoch bereits Zipfels Kurzdefinition eingeschrieben: »Unter Fikionssignalen werden im Allgemeinen Phänomene verstanden, die auf mehr oder weniger eindeutige Weise anzeigen oder nahelegen, dass ein Text fiktional ist«, Zipfel: Fiktionssignale (2014), S. 97 bzw. S. 109 f. Fiktionssignale können, wie Zipfel erörtert, auch widersprüchlich eingesetzt werden, außerdem ist das »Erkennen und Bewerten dieser Signale [ … ] Teil der Rezeptionsleistung des Lesers«, die glücken oder auch scheitern kann, Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität (2001), S. 243. Insbesondere für die Literatur des Mittelalters wäre eine allzu strenge Grenzlinie irreführend, da die rhetorische Überformung aller Arten von Texten naturgemäß auch den verstärkten Einsatz gängiger Erzählschemata beinhaltet, die nicht notwendigerweise auf einen fiktionalen Geltungsanspruch verweisen. 168 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 196. 169 Joachim Bumke und Ursula Peters beispielsweise bevorzugen den neutraleren Begriff › Retextualisierung ‹ , »der die verschiedensten Ebenen und Aspekte vormoderner › Arbeit ‹ am Text als eine Interaktion von Prä- und Re-Text faßt«, Bumke/ Peters: Einleitung (2005), S. 2. 170 Einen konkreten Definitionsversuch unternimmt John Stephens: Retelling Stories Across Time and Cultures, S. 92: »Retellings of old tales are thus shaped by interaction amongst three elements: first, the already-known story, in whatever versions are circulating at the time of production, together with other stories of similar type or including similar motifs; second the current social preoccupations and values [ … ] which constitute its top-down framing and ideology (and these may be mediated by current interpretations of the known story); and third, the textual forms through which the story is expressed (narrative modes, genres and so on)«. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 155 <?page no="156"?> Beim Erzählen von shared stories geht es [ … ] weniger um den Neuigkeitswert einer Episode bzw. die Information, sondern darum, die Beziehung in der Gruppe zu stärken, sich und die anderen als Mitglieder der Gruppe zu bestätigen und im Erzählen die gemeinsamen Werte darzustellen. 171 Das erfordert eine Rekontextualisierungsleistung, bei der der neu zu erzählende Stoff an die kommunikativen Ziele des Erzählers und den veränderten Rahmen angepasst wird. 172 Durch solche retellings entstehen intertextuelle Bezüge, die mehr oder weniger manifest sein können. 173 Wiedererzählen ist ein Phänomen, das zu allen Zeiten und in den verschiedensten Kulturen eine essenzielle Rolle spielt und sich für das Mittelalter 174 als »die fundamentale allgemeinste Kategorie mittelalterlicher Erzählpoetik erweist. 175 Das hängt mit einem Kunstverständnis zusammen, das fernab des seit dem späten 18. Jahrhundert geltenden »Imperativ[s] künstlerischer Originalität« 176 liegt. Vielmehr galt dem Mittelalter Wiederholung als »Wieder-Schöpfung« 177 und damit als kulturelle Leistung. Nach diesem Verständnis ist der mittelalterliche Dichter kein creator, kein Schöpfer eines neuen Stoffes, 171 Schumann et al.: Wiedererzählen. Eine Einleitung (2015), S. 14 - 16. 172 Vgl. Schumann et al.: Wiedererzählen. Eine Einleitung (2015), S. 15. 173 Intertextualität wird je nach Schule unterschiedlich konzeptualisiert, wobei Literatur und Text als »Gewebe« (Roland Barthes: Der Tod des Autors (2000), S. 190 f.) oder als »Mosaik von Zitaten« ( Julia Kristeva: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin (1972), S. 348) betrachtet werden. Für die literaturwissenschaftliche Arbeit viabel erweist sich nach Achim Aurnhammer ein enger Intertextualitätsbegriff, wie ihn beispielsweise Ulrich Broich vorschlägt: Intertextualität läge demnach dann vor, »wenn ein Autor bei derAbfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt. Intertextualität in diesem engeren Sinne setzt also das Gelingen eines ganz bestimmten Kommunikationsprozesses voraus, bei dem nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textes bewußt sind, sondern bei dem jeder der beiden Partner des Kommunikationsvorgangs darüber hinaus auch das Intertextualitätsbewußtsein seines Partners miteinkalkuliert«, Broich: Formen der Markierung von Intertextualität (1985), S. 31 bzw. Aurnhammer: Variation, Transformation, Korrektur (2019). Zur Intertextualität als Methode der germanistischen Mediävistik siehe auch Emmelius: Intertextualität (2015). 174 Thomas Klinkert sieht den Grund dafür in den Bedingungen literarischer Produktion: Die mittelalterliche Literatur zeichne sich durch ein besonderes Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aus, das sich je nach Standpunkt unter dem Stichwort › Semiliteralität ‹ oder › Semioralität ‹ fassen lässt (Schäfer: Die Funktion des Erzählens zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2004), S. 85). Zwischen diesen Polen entspinnt sich das Zusammenspiel einer schriftlich geprägten, lateinischen Literaturtradition und der mündlichen Erzähltradition wie beispielsweise der Heldenepik. Auch die Rezeptionssituation von Texten aller Art zeichnet sich durch Mündlichkeit aus: Sie sind zumeist auf eine Vortragssituation hin angelegt, wie formelhafte Wendungen zeigen, in denen ein Vortrags-Ich auftritt. Derartige Relikte einer Mündlichkeitstradition finden sich beispielsweise im Duktus des Nibelungensängers: Uns ist in alten maeren | wunders viel geseit (Nibelungenlied 1,1 f.) oder in Texten, die sich bewusst in einen derartigen Vortragsstil einschreiben und Mündlichkeit gewissermaßen › fingieren ‹ (Goetsch: Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen (1985), Schaefer: Die Funktionen des Erzählens zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (2004), Müller: »Improvisierende«, »memorierende«, und »fingierte« Mündlichkeit (2005)). Durch die kopiale Überlieferung entstehen zudem Texte, die nicht stabil sind und › mouvance ‹ besitzen, Klinkert: Wiedererzählen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive (2015), S. 90. 175 Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen (1999), S. 130. 176 Klinkert: Wiedererzählen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive (1999), S. 89. 177 Lieb: Die Potenz des Stoffes (2005), S. 365. 156 3 Narratologische Annäherungen <?page no="157"?> seine Aufgabe ist hingegen die Bearbeitung eines bereits existenten Stoffes, einer materia. 178 Die Neubearbeitung einer materia ist keine reine Übertragungsleistung, sondern »variierender Nachvollzug«, dessen Wertschätzung im artificium-Begriff der lateinischen Poetiken zum Ausdruck kommt. 179 Die Bedeutung dieser Dichtungskonzeption zeigt sich auch in der Häufigkeit, mit der die mittelalterlichen Dichter selbst über die Bedingungen ihres Schaffens reflektieren, zum Beispiel bei Konrad von Würzburg, der sich im Prolog des Engelhards zum Ziel setzt, ein wârez maere zu erniuwen (Engelhard, v. 154: »eine wahre Geschichte neu zu erzählen«) 180 oder im Prolog von Chrétien de Troyes Erec et Enide, wo es heißt tret d ’ un conte d ’ aventure / une molt belt conjointure (Erec et Enide, v. 13 f.: »Er [= Chrétien de Troyes] bringt seinerseits eine Reihe von Ereignissen, wie sie erzählt werden, in einen wohlgeordneten Zusammenhang«). 181 Das Dichtungsverständnis eines erneuernden Bearbeitens findet sich auch bei den Autoren religiöser Dichtung. Heinrich von Neustadt etwa kennzeichnet sein Tun als Wiederaufgreifen eines Prätextes, wobei dieser zugleich die Transformation einer Übersetzung durchläuft. Wenn Heinrich im Prolog von Von Gottes zukunft seine Quelle, den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis, benennt, charakterisiert er sein Dichten als übersetzendes Verfügbarmachen einer ursprünglich lateinischen materia: Ich hebe in Gotes namen an Ein bu ͦ ch, dez ich gedaht han uz latin zu dihten, in dutsche rimen rihten. Wie diz buch si gedaht Und in latine an uns braht? [ … ] Nu ist manig jar bliben Daz ez wip oder man In du ᵉ tsche geschriben nie gewan. (Von Gottes zukunft, vv. 37 - 52) In Gottes Namen beginne ich nun mit einem Buch, das ich aus dem Lateinische übertragen und in deutsche Verse bringen möchte. Was es mit diesem Buch auf sich habe und wie es auf Latein zu uns gekommen sei? [ … ] Nun ist es viele Jahre her, ohne dass eine Frau oder ein Mann es auf Deutsch lesen konnte. 178 Die materia bezeichnet Armin Schulz treffend als die »zentrale Bezugsgröße der stilistisch-rhetorischen und auch kompositorischen Anstrengung der Autoren«, Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2012), S. 124. 179 Worstbrock: Übersetzen und Wiedererzählen (1999), S. 92 f. Ludger Lieb verfeinert Worstbrocks Interpretation des materia-artificium-Modells, wenn er die dichtende Neubearbeitung als Freisetzung eines Potenzials betrachtet: »Die Materia des Wiedererzählens ist nichts irgendwie schon Wirkliches, der Stoff des Erzählens nicht irgendwo als Bestimmtes, Geformtes, Verwirklichtes vor. Er ist vielmehr die Möglichkeit, die in der einzelnen Erzählung verwirklicht werden kann«, Lieb: Die Potenz des Stoffes (2005), S. 368. 180 Der Engelhard Konrads von Würzburg wird hier zitiert nach der Edition von Ingo Reiffenstein: Engelhard. Konrad von Würzburg. 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke. Berlin: De Gruyter 2013. 181 Der altfranzösische Text von Chrétien Erec et Enide wird hier zitiert und übersetzt nach der Ausgabe von Albert Gier: Chrétien de Troyes: Erec et Enide / Erec und Enite. Altfranzösisch/ Deutsch. Stuttgart: Reclam 1987. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 157 <?page no="158"?> Bezeichnend ist, dass diese Übersetzungsleistung hier als dihten bezeichnet wird und Heinrich seiner übersetzenden Bearbeitung die ästhetische Qualität eines artificium zuspricht. 182 Ähnlich präsentiert sich auch die intertextuelle Situation des Elisabethgebets, dessen Autor in der Vorrede erklärt, die Kanonisierungsakten als Quelle für sein Gebet verwendet zu haben. Damit kennzeichnet der Autor seine Tätigkeit eingangs als Ergebnis eines sorgfältigen Kompilationsprozesses. Indem er jedoch nicht nur Exzerpte aneinanderreiht, sondern in die Form der narrativen Apostrophe gießt und dadurch einen neuen, auch in formaler Hinsicht homogenen Text kreiert, verlässt er das Feld der bloßen Kompilation und reiht sich mit seiner transformierenden Aneignung des Stoffes in die Tradition der Retextualisierung ein. Nicht immer liegt der Bezug auf den Prätext offen, 183 wie das Gebet zum heiligen Christophorus zeigt. Mit dem Verweis auf die geschrift des hochen Ambrosius (Gebet zum heiligen Christophorus, v. 95 f.) wird hier zwar eine Autorität zitiert, diese ist jedoch nicht die eigentliche Quelle des Textes. Vielmehr folgt die Erzählung der Anordnung der Legende in der Legenda Aurea des Jacobus a Voragine. Die Darstellung ist zwar um einige Details gekürzt, die wesentlichen Handlungselemente sind jedoch auch ins Christophorusgebet übernommen, inklusive der Namensetymologie und des Verweises auf den Kirchenvater, der als Gewährsmann für die astronomische Zahl von Bekehrungen, die Christophorus bewirkt haben soll, angeführt wird. Mit der verschleierten inhaltlich-strukturellen Referenz auf die Legenda Aurea und dem daraus entnommenen Ambrosius-Zitat ist das Christophorusgebet ein Beispiel für ein solches intertextuelles › Textgewebe ‹ . Quellenberufungen steigern dabei die auctoritas des Textes. Indem offengelegt wird, dass der Re-Text auf eine verbürgte Tradition zurückgeht und die Kontinuität eines etablierten Stoffes beschworen wird, erfährt dieser Legitimierung. Das Einschreiben in einen Autoritätendiskurs erfüllt damit ganz wesentliche kommunikationspragmatische Funktionen, 182 Das Selbstverständnis, das Heinrich von Neustadt hier zu erkennen gibt, ist typisch für die Situation der mittelalterlichen Literatur, die sich zwischen den Polen Rezeption und Autonomie bewegt und innerhalb der der Translationsvorgang eine dominierende Rolle spielt. Das mittelhochdeutsche tihten bezeichnet nach Monika Unzeitig die »Autor-Werk-Relation, [ … ] also Autorschaft im Sinne von Verfasserschaft für das jeweilige Werk«, Unzeitig: Autor und Translator (2002), S. 60. Der Hinweis auf die Übertragung der Vorlage ins Deutsche bedient sich des Wortfelds von tiutschen, mit dem in der mittelhochdeutschen Epik auf die Translation als einem Verfügbarmachen in der Volkssprache abgehoben wird, vgl. ebd., S. 57. Die auf die antike Tradition zurückgehende Rhetorik unterscheidet zwei Arten der Übersetzung: eine wortlautgebundene Übersetzung, verbum de verbo, wie es im Pammachius-Brief des Hieronymus heißt, und eine sinngemäße Übersetzung, die als sensus de sensu bezeichnet wird. Heinrich wählt demgegenüber eine dritte Bearbeitungsweise, die mit mehr Lizenzen in der rhetorisch-kompositorischen Gestaltung verbunden ist und als »freie[ … ] Bearbeitung, Nachdichtung und Umdichtung« bezeichnet werden kann, vgl. Klein: (2015), S. 26. Dass dieses Oszillieren zwischen rezipierender Bearbeitung und Neuschöpfung ein Spezifikum der mittelalterlichen Literatur ist, die mit einem modernen, auf Originalität gründenden Autorschaftskonzept nicht angemessen beurteilt werden kann, und dass der mittelalterlichen Literatur die »Kategorie des › erniuwens ‹ «, des Wiedererzählens, fundamental inhärent ist, kann nicht oft genug betont werden, Unzeitig: Autor und Translator (2002), S. 57. Um die damit verbundenen Lizenzen geht es in Kapitel 3.2.3. 183 Hier kommt Gérard Genettes Begriff der › Transtextualität ‹ ins Spiel, mit dem alles bezeichnet wird, was den Text »in eine geheime oder manifeste Beziehung [zu anderen] bringt«. Eine Bezugnahme wie bei Heinrich von Neustadt, die den Prätext explizit zitiert, wäre für Genette Intertextualität, ein unausgesprochener Text-Text-Bezug würde bei ihm als »Architextualität« gelten, vgl. Martínez: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis (1997), S. 442. 158 3 Narratologische Annäherungen <?page no="159"?> die über den bloßen rhetorischen Allgemeinplatz hinausgehen. 184 In Kontexten, in denen es um die Verbreitung religiöser Wahrheiten geht, unterstreichen die prominenten intertextuellen Bezüge den faktualen Geltungsanspruch der Texte. Was bereits für Texte gilt, die sich in einem weiteren kirchlich sanktionierten Umfeld bewegen, gilt im Besonderen für die Schriften des christlichen Kanons. 185 Die Bibel als »kulturelle Normvorgabe« bzw. als »heilig-kultureller Text« 186 wird immer wieder präsent gehalten, um nicht nur deren Wahrheitsanspruch auf den Re-Text zu übertragen und dessen Glaubwürdigkeit zu steigern, sondern auch die in der Bibel vertextete Gotteserfahrung zu aktualisieren. In allen Texten, in denen die narrative Apostrophe gebraucht wird, um das Leben Jesu oder Marias zu schildern, sind Berufungen auf die Heilige Schrift omnipräsent. Bertolds Zeitglöcklein beispielsweise bindet die Erzählung gleich zu Beginn an die heiligen ewangeli ſ ten (Zeitglöcklein, fol. 2b). In Christi Hort, das die in den Evangelien erzählten Stationen aus dem Leben Jesu in eine chronologische Reihenfolge bringt und mit apokryphem Material ergänzt, 187 sind die Quellenberufungen sogar in die Erzählung eingestreut. Immer wieder finden sich Schriftberufungen wie als ichz von der schrift nim (Christi Hort, v. 464: »wie ich es der Bibel entnehme«), zuweilen sogar in Kombination mit Bibelparaphrasen und -zitaten, wie hier in der Erzählung von der Versuchung Jesu: din munt im su ᵉ zliche rede bot, du sprêch als uns diu schrift gîth: › der mensh lebt alaine nicht von dem prôt su ᵉ nderbar, wan von Gotes worten gar! ‹ (Christi Hort, vv. 584 - 588) Dein Mund entgegnete ihm süße Rede, du sprachst, wie es uns die Schrift verrät: »Der Mensch lebt nicht nur allein vom Brot, sondern ganz von Gottes Worten! « 184 Contzen: Diachrony (2019), S. 627: »[C]laims of truth and validity are more important than the verifiability of facts«. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Sonja Glauch: »Das gesamte Netz des Welt- und Geschichtswissens bildete sich durch Zitat und Diskussion von Äußerungen, die als autoritativ verstanden werden konnten. Es spannte sich kaum einmal an empirisch oder aus den Quellen erhobenen und überprüfbar gemachten Fakten, sondern an Namen und Texten von auctoritas auf«, Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 187. 185 Hubert Irsigler definiert diesen Schriftkanon als »von einer Glaubensgemeinschaft getragen[ … ]«, der »grundlegend religiösen Glauben, Lebens-und Weltdeutung und menschliches Handeln orientier[t] und zwar als unterschiedliche menschliche Bezeugungen von Transzendenzerfahrungen«, Irsigler: Erzählen in biblischer Literatur (2015), S. 26. 186 Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 403. 187 Die in den vier kanonischen Evangelien erzählten Ereignisse werden in eine chronologische, im Fall der Wunderheilungen thematische Reihenfolge gebracht und zu einem Gesamtnarrativ kompiliert. Die Kompilation füllt somit die Lücken, die bei der Lektüre eines einzelnen Evangelientextes entstehen, im Rückgriff auf die jeweils anderen Evangelien. Zuweilen werden dabei parallele Evangelienberichte vermengt bzw. ineinander gesetzt, beispielsweise bei der Erzählung von der Salbung Jesu durch Maria Magdalena. Hier schlägt sich einerseits die Variante von Mt 26,6 - 13 und Mk 14,3 - 9 nieder, die das Geschehen im Haus Simeons verortet und die Kritik durch die Jünger betont, andererseits ist aber auch die bei Johannes und Lukas überlieferte Variante (Lk 7,36 - 50 und Joh 12,1 - 8) verarbeitet, die das Gleichnis von den zwei Schuldnern beinhaltet und die Salbende als Sünderin stilisiert, vgl. Stübiger: Untersuchungen zu Gundacker von Judenburg (1922), S. 90. Mit dem Evangelium Nicodemi zieht Gundacker im Anschluss an die Christusvita die apokryphe Darstellung über Jesu Passion und Auferstehung als Quelle heran. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 159 <?page no="160"?> Dass der sprichwörtlich gewordene Ausspruch in der volkssprachlichen Fassung dem lateinischen Diktum, wie es bei Matthäus und Lukas übereinstimmend berichtet wird, 188 verbum de verbo folgt, zeigt das Bemühen des Textes, die Christusworte möglichst authentisch wiederzugeben. Um dem Vorwurf der Lüge oder der Verfälschung zu entgehen, hält sich Gundacker hier mit dem explizit gemachten Bibelzitat eng an die »von der Tradition bereitgestellten semiotischen Ressourcen«. 189 Die Aufgabe des bearbeitenden Erneuerns ist im Bereich der religiösen Literatur also ein »Prozess erzählerischer Grenzfindung«. 190 Die Bearbeitung von biblischem Prätext und sekundären Texten gleicht einer Gratwanderung: Eng an den als autoritativ begriffenen und sakrosankten Bibeltext oder zumindest an den im Dunstkreis des Sakrosankten stehenden Autoritätentext gebunden erfordert das Wiedererzählen Transformationen des Stoffes, die auf neue kommunikative Ziele - die Erbauung bei Bertold oder die Bereitstellung eines Gebetsformulars im Christophorusgebet - ebenso Rücksicht nehmen müssen wie auf ein verändertes Zielpublikum. 191 In den Pro- und Epilogen insbesondere der bibelepischen Texte finden sich daher immer wieder Reflexionen über den korrekten Umgang mit dem biblisch überlieferten Text, so beispielsweise bei Gundacker von Judenburg, der für die Abfassung seines Werkes göttlichen Beistand erfleht: 188 Dort heißt es jeweils: non in pane solo vivet homo sed in omni verbo quod procedit de ore Dei (Mt 4,4 bzw. Lk 4,4). 189 Klinkert: Wiedererzählen in literaturwissenschaftlicher Perspektive (2015), S. 97. Das gilt auch für nicht-kanonische Texte wie das Evangelium Nicodemi, das Gundacker von Judenburg als Quelle für den dritten und vierten Teil von Christi Hort heranzieht. Dieses weist als Quelle gleich eine doppelte Authentizität auf: Zunächst einmal wohnt dem apokryphen Evangelium Nicodemi der Anspruch inne, »als Evangelium den Evangelien zur Seite gestellt zu werden«, vgl. Masser/ Siller: Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa (1987), S. 11. Zum anderen ist das Evangelium Nicodemi insofern legitimiert, als dem »biblisch beglaubigte[n]« Nicodemus Augenzeugenschaft am Passionsgeschehen zugeschrieben wird. Auf diese Augenzeugenschaft beruft sich wiederum Gundacker bei seiner eigenen Darstellung und verleiht dem Erzählten zusätzliches Gewicht, wenn er erklärt: aller erste wil ich tichten / unt die leut berichten / von diner marter, su ᵉ zer Christ, wie ez allez dort ergangen ist, / also schreipt uns Nichodemus, / der berichtet uns da von sus / wie ez alles ergie und wie ez geschach, / want er ez allez horte unt sach, / da von chund erz gesagen (Christi Hort, vv. 1305 - 1313: »Als erstes möchte ich dichten und den Leuten von deinem Leiden berichten, süßer Christus, wie sich alles damals zugetragen hat. So schreibt es uns Nicodemus, er berichtet uns davon, wie es alles geschah und sich ereignete, denn er hatte alles selbst gesehen und gehört; deswegen konnte er davon erzählen.«). Dass selbst der Verweis auf Augenzeugenschaft paradox ist, betont Peter Strohschneider in Hinblick auf Konrads von Heimesfurt Diu urstende, die sich ebenfalls auf Nicodemus beruft: »Augenzeugenschaft setzt auf Evidenz [ … ], auf unmittelbare sinnliche Wahrnehmung, welche freilich stets durch zeitliche, räumliche und soziale Restriktionen eingegrenzt ist. [ … ] Ehemalige Evidenz aber lässt sich in der Regel nicht beweisen und unter den gegebenen medientechnischen Voraussetzungen auch weder wiederherstellen noch wiederholen. Sie kann bloß behauptet werden und der Augenzeuge ist die Instanz dieser Behauptung«, Strohschneider: Höfische Textgeschichten (2014), S. 96. Im Medium der Schrift wird schließlich auch der Leser, wie Horst Wenzel anmerkt, zum »Augenzeugen zweiter Ordnung«, Wenzel: Spiegelungen (2009), S. 171. 190 Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 388. 191 Vgl. Quast: Narrative Freiräume (2009), S. 388. Nach Max Wehrli hat der Umgang mit der sakrosankten Vorlage verschiedene Schwerpunktsetzungen erfahren. Er konstatiert für die ersten mittelalterlichen Bibeldichtungen eine Vertiefung und Ausgestaltung des Bibeltextes und eine neue, insbesondere didaktische Funktionalisierung. Für die Bibeldichtungen der späteren Zeit diagnostiziert Wehrli hingegen die zunehmende Ablösung vom sakralen Prätext zugunsten von lehrhaften oder anekdotischen Ausblicken, bis die Funktion von Bibeldichtungen schließlich von › eigentlichen ‹ Bibelübersetzungen übernommen wird, vgl. Wehrli: Sacra Poesis (1969), S. 57 bzw. 62 - 67. 160 3 Narratologische Annäherungen <?page no="161"?> Swer von t ı ᵉ ffer materi sol Sprechen, der bedarffe wol Genade unde sinne Unt gotlicher minne (Christi Hort, vv. 197 - 200) Wer von tiefsinniger Materie erzählen will, der ist wohl auf die Gnade und Geist und die Liebe Gottes angewiesen. Obwohl sich Gundacker wie alle Verfasser bibelepischer Texte als Wiedererzähler versteht, ist sein artificium noch stärker dem Prätext verpflichtet als es bei anderen, auf profanen Vorlagen beruhenden Texten der Fall ist. Grund dafür ist, dass die t ı ᵉ ffe materi, die Gundacker bearbeitet, eine eminente Bedeutung im Leben der Gläubigen besitzt: Das Heilsgeschehen soll nicht nur wiedererzählt werden, sondern in seiner Wirkung durch den Text entfaltet werden. Derartige »Textsicherungsklausel[n]« dienen also nicht allein der Autorisierung des Textes, sondern vor allem der »Heilssicherung«. 192 3.2.2.3 Fiktional(isierend)e Tendenzen im faktualen Text? Die Lizenzen, die mit der Neugestaltung des als faktual verbürgten Bibelstoffes einhergehen, ähneln denen, die die mediävistische Forschung für historiographische Genres herausarbeiten konnte und die von der antiken Geschichtsschreibung vorgeprägt wurden. Erweiterungen und Aufschwellungen des Stoffes, sogenannte dilatationes materiae, gehören ebenso dazu wie die rhetorisch-kompositorische Überformung oder das Fingieren von Kohärenz und Kausalität. 193 Das »imaginative Auffüllen eines gegebenen Rahmens« 194 gehört dabei zu den legitimen Techniken eines Autors, der gültige Aussagen über einen historisch oder religiös verbindlichen Sachverhalt treffen möchte. Die mittelalterlichen Poetiken, aber auch die Texte selbst begründen dies mit den Funktionen, auf die diese Technik zielt. Heinrich von Neustadt beispielsweise erläutert im Prolog von Von Gottes zukunft: Gelerten lu ᵉ ten sanfte du ᵉ t / Daz sie ir wort florieren / Und auch mit spru ᵉ chen zieren (Von Gottes zukunft, vv. 74 - 76: »Es steht gebildeten Autoren wohl an, dass sie ihre Texte kunstvoll gestalten und mit Sprichwörtern und Zitaten schmücken«). Er stellt diese Vorgehensweise in den Dienst einer Darstellungsweise, die auf unterhaltende Vermittlung setzt und die er unter das horazische utile cum dulci subsumiert. 195 Derartige »Ausschmückungs- und Literarisierungsspielräume« 196 machen Texte anschaulicher und schließen sie an den Erfahrungsraum der Rezipienten an, beispielsweise indem Figuren entsprechend 192 Becker: Mittelalterliches Textwissen in Metaphern (2016), S. 40. 193 Vgl. Reuvekamp-Felber: Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung (2013), S. 429. 194 Müller: Literarische und andere Spiele (2004), S. 295. 195 Vgl. Huber: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen (1988), S. 217. Dennoch versichert Heinrich an der gleichen Stelle (Von Gottes zukunft, vv. 63 - 70), seiner Vorlage nichts hinzufügen oder weglasssen zu wollen, und bittet potenzielle Kritiker um Verzeihung, sollte er diesem Vorsatz zuwiderhandeln. Die Passage lässt sich auch als als Vorwegnahme möglicher Kritik deuten, den Bibelstoff nicht mit der erforderlichen simplicitas zu bearbeiten. Denn in der »klassisch-rhetorischen Dreistillehre« gilt das genus humile im Rahmen der »genuin christlichen[ … ] Inversion der › Erhabenheit des Niedrigen ‹ « als die angemessene Stillage, Köbele: Wiedererzählen, bibelepisch (2017), S. 174 bzw. 185. 196 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 178. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 161 <?page no="162"?> zeitgenössischer Schönheitsideale beschrieben 197 oder Verhaltensweisen und Alltagsbeschreibungen an die Lebenswelt der Rezipienten angepasst werden. 198 Eine solche »fingierende Ausgestaltung des › Wahren ‹ « 199 ändert jedoch nichts am grundsätzlichen Wahrheitsanspruch des Textes, sondern gehört als »gebundene«, das heißt »amplifizierende, anschaulichkeitsfördernde fictio« 200 zum Standardrepertoire von Autoren faktualer und fiktionaler Texte. 201 Was eine »funktionale« fictio, also die Praxis, »einen vorgegebenen als historisch geglaubten Stoff dichterisch-rhetorisch zu gestalten«, 202 von einer »autonomen« bzw. »freien« oder »massiven« fictio unterscheidet, 203 ist der begrenzte Einfluss, den die Ausschmückungen auf den Gesamtstatus des Textes haben. Während Burrichter die funktionale fictio als Strategie der discours-Ebene betrachtet und darunter vor allem das rhetorische Ornat und psychologisierende Deutungen subsumiert, kann auch die histoire von funktionsgebundener Fiktion betroffen sein: Lücken oder Leerstellen der Vorlage werden im Zuge der Bearbeitung häufig nach dem Kriterium des verisimile aufgefüllt. 204 In den Texten des Untersuchungskorpus lassen sich beide Komponenten eines auf den ersten Blick fiktionalen Erzählens beobachten, das jedoch am grundsätzlich faktualen Anspruch nichts ändert, sondern die moralisch-didaktischen Intentionen des Textes unterstützt. Die aus lebensweltlicher Perspektive › fantastischen ‹ Elemente in den Erzählungen von Christus und Maria sind durch die Bibel sanktioniert und fordern vor dem Hintergrund einer christlichen Weltanschauung keine fiktionale Lesart heraus. Vergleichbare Erzählelemente in den Heiligenlegen, die Anteil am Wunderbaren haben, sind in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit zwar nicht prekär, weisen aber ein Autorisierungsgefälle gegenüber den dogmatisch abgesicherten Erzählinhalten der Bibel auf. Sowohl in Lydgates Ägidiuslegende als auch in den beiden von Christophorus und Elisabeth berichtenden Erzählgebeten sind Wunderepisoden eingeflochten, die nach modernen Gesichtspunkten als fiktiv gelten müssten. 205 Alle Heiligen werden topisch als exzeptionell geschildert: Christophorus ist außergewöhnlich stark und groß, Elisabeth und Ägidius zeichnen sich durch eine adlige Abstammung aus, wobei Elisabeths Herkunft aus der ungarischen Königsfamilie ein offensichtlicheres historisches Faktum darstellt als der vage Hinweis, Ägidius entstamme 197 So beispielsweise Maria und Jesus im Marienleben Wernhers des Schweizers, vgl. Manuwald: Der › Blick ‹ auf Jesus im Marienleben Wernhers des Schweizers (2011). 198 Das geschieht beispielsweise im Marienleben Bruder Philipps (vv. 694 - 812), wenn das Leben der unverheirateten Maria an den monastischen Alltag angeglichen wird, vgl. Gärtner: Regulierter Tagesablauf im Marienleben Philipps von Seitz (1984). 199 Müller: Literarische und andere Spiele (2004), S. 286. 200 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 180. 201 Vgl. Reuvekamp-Felber: Zur gegenwärtigen Situation mediävistischer Fiktionalitätsforschung (2013), S. 431. 202 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 394 bzw. Burrichter: Wahrheit und Fiktion (1996). 203 Als Alternative zu Burrichters Gegensatz von autonomer und funktionaler fictio wurde beispielsweise von Fritz Peter Knapp das Begriffspaar › suppletiv ‹ vs. › frei ‹ vorgeschlagen, vgl. Knapp: Historisches und fiktionales Erzählen (2002), S. 148. Sonja Glauch unterscheidet an dieser Stelle zwischen oberflächlicher und massiver Fiktionalität, Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 181. 204 Green bezeichnet ein solches Vorgehen, das vor allem in bibelepischen Texten Anwendung findet, die auf den Evangelien basieren, als »episodische Fiktion«, vgl. Green: The Beginnings of Medieval Romance (2002), S. 189 - 191. 205 Siehe dazu auch Felber: Historiographisierung als Kompilationstechnik (2020). 162 3 Narratologische Annäherungen <?page no="163"?> dem griechischen Königsgeschlecht (Legend of Seynt Gyle, v. 2: Born in Athenys of Grekes royall lyne). Typisch sind auch die Schemata, nach denen die Heiligkeit der drei Figuren beschrieben werden: Christophorus ’ Karriere als Heiliger ist eine Konvertierungsgeschichte, seine Heiligkeit stellt sich erst nach einem Wendepunkt heraus, während die Heiligkeit von Ägidius und Elisabeth von Anfang an erkennbar ist. 206 Aus nicht-christlicher Perspektive fiktive Elemente auf Ebene der histoire sind auch die Wunderepisoden, die in allen Legendentexten auftauchen. Von Elisabeths Beerdigung beispielsweise berichtet der Text Folgendes: Din seliges sterben hatt öch geeret din lieber herre Jesus mit manigen loblichen wunder zeichen won als din erwürdig lycham zu der kilchen getragen usz do hatt ein unzalliche menge der aller hübschesten vögilin daz tach der kilchen bedecket die so maniger ley süss und ungehört stimmen des gesanges usz liessent daz si alle die die si hertend zu einer beschöwung und zu einer vast grossen verwunderung bewagten daz alle mit ein ander schruwend und sprechent die vögili werent on zwifel die heiligen engel allein diner heiligen sele du aller seligeste Elysabeth sunder dinem heiligen lycham ze eren von gott dem herren engegen geschickt. Dor an öch gantz kein zwifel ze haben ist. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 90 - 92) Dein seliges Sterben hat dein lieber Herr Jesus mit vielen lobenswerten Wundern erhöht, denn als dein ehrwürdiger Leichnam zur Kirche getragen wurde, da bedeckte eine große Menge der schönsten Vögel das Dach der Kirche, die einen so süßen, zuvor ungehörten Gesang hören ließen, dass sie alle, die das hörten, zum Betrachten und zu sehr großer Verwunderung veranlassten, so dass alle miteinander riefen und sagten, dass die Vögel ohne Zweifel die heiligen Engel seien, die allein deiner heiligen Seele, du allerseligste Elisabeth, insbesondere deinem Leichnam zu Ehren von Gott dem Herrn entgegengeschickt wurden. Daran ist überhaupt kein Zweifel. Dass die Naturerscheinung den Rahmen des Üblichen überschreitet, macht der Kartäusermönch mit dem Hinweis auf den ungehört[en] Gesang der Vögel, die in unzalliche menge versammelt sind, deutlich. Das fantastische Element wird jedoch gleich doppelte abgesichert: Auf Ebene der histoire deuten die bei der Beerdigung Anwesenden das Wunder aus, indem sie die Vögel mit Engeln identifizieren, die von Gott geschickt wurden, auf Ebene des discours bekräftigt die Sprecher-Stimme mehrmals, dass an diesem Wunder kein zwifel sein kann. In anderen Wundererzählungen wie der vom Kreuzeswunder, bei der sich ein Aussätziger, den Elisabeth im Bett ihres Gatten pflegt, in ein Abbild des gekreuzigten Christus verwandelt, 207 wird der die Gesetze der Natur sprengende Charakter des Erzählten nicht einmal thematisiert. 206 Ägidius beispielsweise verschenkt als Junge seinen Mantel an einen Bedürftigen (As seith thy lyff, in almesse-deede, / Of compassioun castyst of thy weede, / Gaff it freely to oon that quook for cold, / which was maad hool reffresshed in his neede, Legend of Seynt Gyle, vv. 52 - 54: »Wie es deine Vita berichtet, in Nächstenliebe und aus Mitgefühl nahmst du deinen Mantel ab und gabst ihn einem Armen [zum Schutz] gegen die Kälte, der in seiner Bedürftigkeit gänzlich unterstützt wurde.«), Elisabeths Heiligkeit kündigt sich schon früh durch besondere Andacht und den Versuch, die anderen Kinder zu Gott zu führen, an. 207 Im Text heißt es: Do du den aller grusamlichesten ussetzigen den du selbs gewäschen gebadet hattest in dins gemahels bett leitest in angesicht des selben dines gemahels wunderbarlich verwandleten in sin eigene gestalt des gecrutzgeten den man solt anbetten dich also löblich erloste von dem zorn dins gemahels gegen dem du dorumb verklegt warst (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 33 f.: Als du den sehr entstellten Aussätzigen, den du selbst gewaschen und gebadet hattest, in das Bett deines Ehemannes legtest, verwandelte sich dieser vor den Augen deines Gatten auf wunderbare Weise in die Gestalt des 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 163 <?page no="164"?> Episodische Fiktion, die eine Leerstelle der Bibel schließt, findet sich in Bertholds Zeitglöcklein bei der Flucht nach Ägypten. Hier wird ein Tableau der Herausforderungen entworfen, die die heilige Familie bei der Wanderung durch die Wüste zu bewältigen hat: Ach des manigfaltig ē ſ chreckens / ſ o diner iunckfro ᵉ wlichen blo ᵉ dikeit in mengerley wi ſ e begegnet / yetz von grü ſ el des vngewonen wegts / der wilden wü ſ te / der ſ eltzemen grü ſ elich ē thieren begegnung / vnd forcht der grifftigen würm ē / der rouber vn ˉ mo ᵉ rder / müdy diner glyder / hitz vn ˉ fro ſ t / wynd vn ˉ regn ˉ / mangel an wa ſſ er vnd an brot / vnd vil me das nyeman gantz be ſ ynn ē kann. (Zeitglöcklein, fol. 37af.) Ach, die vielen Schrecken, die deiner jungfräulichen Einfachheit da auf vielfache Art und Weise begegnet sind, aufgrund der Beschwernisse des feindlichen Weges und der wilden Wüste, wegen der Begegnung mit furchterregenden, seltsamen Tieren und der Furcht vor giftigen Schlangen, wegen der Räuber und Mörder, wegen der Erschöpfung deiner Glieder, wegen Hitze und Frost, Wind und Regen, wegen Mangel an Wasser und Brot und noch vielem mehr, das niemand voll erfassen kann. Die Ergänzungen entspringen der Vorstellungskraft des Verfassers, der die Schwierigkeiten der Wüstendurchquerung nach dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit gestaltet. Die partielle Fiktion mindert jedoch nicht den Wahrheitsanspruch des Textes. Stattdessen macht sie eine Station im Leben Jesu anschaulicher, die im Evangelientext vergleichsweise nüchtern erzählt wird, und erleichtert so die affektive Partizipation des Rezipienten. Vergleichbare Erweiterungen finden sich in der Passionserzählung des Itinerarium: Do hab ē villicht etlich dir ſ chantliche wort zu ͦ gezog ē vn ˉ gesproch ē Nem ē d war dz i ſ t dy vn ſ elig gebererin di ſ es verfürers. woru ͦ m wirt ſ y nit mit im als ſ y wirdig i ſ t uch gekrücyt. (Itinerarium, fol. 80b) Da haben einige dir vielleicht Schimpfworte zugerufen und gesagt: »Seht, das ist die unselige Mutter dieses Verführers. Warum wird sie nicht auch mit ihm gekreuzigt, da sie es doch verdient hätte.« Hier werden Mutmaßungen darüber angestellt, was Maria während der Passion möglicherweise - villicht - erlebt haben könnte. Indem der Text nach dem Kriterium des verisimile, des Wahrscheinlichen, die Perspektive Marias in die Passionsdarstellung miteinbezieht, wird das Geschehen plastischer und befördert die Intimität der Gesprächssituation zwischen Maria und dem Sprecher-Ich. Auf Ebene des discours finden sich außerdem Einlassungen eines Erzählers. Diese sind jedoch nicht als metafiktionale Einmischung in das Geschehen der erzählten Welt zu betrachten, sondern steuern als semiorales Rudiment die Rezeption des Lesers. Dazu zählen beispielsweise die Rubriken in Christi Hort, die das Thema der Episoden benennen, oder die Kapitelüberschriften in Bertolds Zeitglöcklein. Auch in die Erzählung eingeschaltete Ankündigungen oder Resümees übernehmen solche leserleitende Funktion, beispielsweise die Aufforderung des Erzählers in Von Gottes zukunft an den Rezipienten, die Demut Gottes zu erkennen: Ach mensch, bloder wurm! / [ … ] Siech an die demu ᵉ tikeit / Die Jhesus hat an sich geleit / durch dinen willen, nit durch sich (Von Gottes zukunft, vv. 2317, 2325 - 2327: »Ach Mensch, du elender Wurm! [ … ] Betrachte die Demut, die Jesus deinetwegen, nicht seinetwegen, bewiesen hat«). Ein Produkt der rhetorischen Überformung, die jedoch nicht zwangsläufig ein Merkmal für Fiktionalität ist, sind die topischen Namen, mit denen Gekreuzigten, den man anbeten muss, und erlöste dich auf diese Weise vom drohenden Zorn deines Mannes, dem gegenüber du deshalb angeschuldigt warst«). 164 3 Narratologische Annäherungen <?page no="165"?> Maria und Christus in der religiösen Lyrik immer wieder angesprochen werden. Auch die kunstvollen Metaphern, die gebraucht werden, um beispielsweise das Dogma der jungfräulichen Geburt zu umschreiben, fallen in diese Kategorie. 208 Eine Spielart der Fiktionalität, die für diejenigen Texte diskutiert wird, die religiöse Wahrheiten schildern, ist die sogenannte »signifikative«, 209 »spekulative« 210 oder »theologische« fictio. 211 Das Erzählen in Form von Gleichnissen, Parabeln oder Allegorien, bei dem faktuale Wahrheiten in das Gewand eines fiktiven Stoffes gekleidet werden, taucht in den Texten des Untersuchungskorpus jedoch nur vermittelt über die Vorlagentexte auf, beispielsweise in Form des Gleichnisses von den zwei Schuldnern (Christi Hort, vv. 730 - 743), das Jesus in Christi Hort auf die Kritik der Jünger an der Salbung durch Maria Magdalena erzählt und die Bedingungen der Sündenvergebung herausarbeitet. Bei genauerer Betrachtung der Gestaltungsstrategien, die in den Texten des Untersuchungskorpus zur Anwendung kommen, zeigt sich eine gewisse Tendenz zum Ausgestalten: Innerhalb eines von Vorlagentext und Aussageintention abgesteckten Rahmens sind fiktive Elemente auf Handlungsebene an der Tagesordnung, eine rhetorisch überformte Sprache mit reicher Metaphorik und intertextuellen Bezügen auf die Autoritätentexte erinnern an das stilistische Programm fiktionaler Texte. Derartige Strategien lassen den als faktual intendierten Text jedoch nicht ins Fiktionale umschlagen, › fiktionalisieren ‹ also nicht, sondern zählen zum Standardrepertoire mittelalterlicher Historiographen bzw. Verfasser religiöser Texte. Wie viel Anreicherung ein faktualer Text aushält, bevor er seine Glaubwürdigkeit verliert, lässt sich nicht beantworten - fiktional wird er dadurch jedenfalls nicht. Für das Feld der mittelalterlichen religiösen Literatur lässt sich vielmehr festhalten, dass vor dem Hintergrund einer historisch differenten epistemischen Situation dem »faktuale[n] Erzählen deutlich größere Freiräume für narrative Überformung offenstanden«. 212 Das Transponieren fest etablierter Glaubensinhalte in die Form der narrativ gebrauchten Du-Anrede, die rhetorisch-stilistische Überformung auf discours-Ebene hat zwar großen Einfluss auf die Textoberfläche, der Wahrheitsanspruch der erzählten Inhalte ist jedoch nicht betroffen. Die erzählerischen Freiräume, die im Zuge der Überformung genutzt werden, um Ereignisse auf Handlungsebene weiter anzureichern, sind durch das Prinzip der funktionalen fictio sanktioniert. Sie tragen dazu bei, Form und Inhalt stärker aneinanderzubinden, und unterstützen zugleich die immersiven und affektiven Effekte der narrativen Apostrophe. 213 208 In Christi Hort beispielsweise heißt es über die jungfräuliche Geburt: als durch daz ganze geworhte glaz / scheinet diu sunne clar, / zeglicher wise si dich gebar / an scham unt ane we (Christi Hort, vv. 340 - 343: »Wie durch ein unzerbrochenes Glas die Sonne scheint, so gebar sie [= Maria] dich ohne Scham und Schmerzen«). 209 Signifikative fictio führe nach Fritz Peter Knapp »Nichtseiendes zur gleichnishaften Erhellung der Wahrheit des Seins« vor, Knapp: Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik II (2005), S. 10. 210 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 396. 211 Stephen G. Nichols beschreibt das als »a mode of representation combining wisdom mediated through imagination to convey doctrinal or dogmatic › truth ‹ «, Nichols: Enigma of Wisdom (2009), S. 454. 212 Glauch: Fiktionalität im Mittelalter (2013), S. 395. 213 Um die mit der narrativen Apostrophe verknüpften Immersionsangebote und die sich daraus ergebende affektive Ansprache des Rezipienten geht es in Kapitel 4. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 165 <?page no="166"?> 3.2.2.4 Faktuale Welten, faktuale Figuren Im Fokus der untersuchten Texte stehen die Protagonisten, die zugleich Ansprechpartner und Gegenstand des Erzählens sind. 214 Als Gegenstand faktualer Texte sind sie Figuren, deren Lebensgeschichte mit dezidiertem Geltungsanspruch erzählt wird und die als Wissenselement der religiösen Sphäre selbst faktualen Status besitzen. Wie aber › funktionieren ‹ Figuren aus narratologischer Perspektive, wie werden sie rezipiert und was zeichnet faktuale Figuren im Gegensatz zu fiktionalen aus? Während frühe narratologische Theoriemodelle zur Figur auf »einer postulierten Äquivalenz der Figuren mit realen Personen« 215 basierten und ihre mimetischen, das heißt realitätsimitierenden Eigenschaften fokussierten, 216 gilt die Figur in strukturalistischen Theorien als Element der Handlung. In der Nachfolge von Wladimir Propp betrachtete etwa Algirdas Julien Greimas Figuren als Aktanten, als »Funktionsstellen der Handlung«. 217 Sein Modell basiert auf der Annahme einer › Tiefenstruktur ‹ , die der Diegese vorausgeht, sowie einer › Textoberfläche ‹ , eines discours, auf der die zugrundeliegenden Organisationprinzipien in Figuren und Handlung umgeformt werden. Im Zuge des › cognitive turn ‹ , der seit den 1970er Jahren die mentalen Prozesse während des Lesens stärker berücksichtigt, wurde diese Vorstellung von Tiefen- und Oberflächenstruktur jedoch stark kritisiert: histoire und discours seien demnach nur durch die Abstraktionsleistung des Lesers voneinander zu scheiden, die histoire existiere nicht vollständig unabhängig vom discours, denn »Handlung und dargestellte Welt [werden] allererst durch ihn [= den Wortlaut, den discours] vermittelt«. 218 Der kognitiv gestützte Ansatz stellt insofern einen Mittelweg dar, als er textanalytische und rezeptionsästhetische Ansätze vereint: The character is not a human being, but it resembles one. It has no real psyche, personality, ideology, or competence to act, but it does possess characteristics which make psychological and ideological description possible. 219 Welche Strategien wenden Texte an, um sprachliche Zeichen zu erzeugen, die während des Leseprozesses vom Rezipienten als Figuren wahrgenommen werden, und wie sehen diese 214 Nach Jens Eder sind Figuren »Elemente von Texten, Medien und kommunikativen Praktiken« und dienen »der individuellen und kulturellen Orientierung, der Auseinandersetzung mit Werten und Weltverhältnissen, der Konstruktion von Wahrnehmungsformen, Wissen und Macht«, Eder: Gottesdarstellung und Figurenanalyse (2016), S. 27. 215 Nieragden: Figurendarstellung (2001), S. 175. 216 Diese Ansicht wurde mitunter als naiv kritisiert, vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 169. Das sieht auch Armin Schulz so: »Wir erhalten von einem Text nicht die Person selbst, die die Figur darstellen soll, sondern eine begrenzte Reihe von Merkmalen, die stellvertretend für das › Gesamt ‹ dieser fiktiven Person stehen, im Sinne einer komplexen synekdochischen bzw. metonymischen Relation [ … ] Zugespitzt formuliert, stellen uns Texte keine Personen vor, sondern Ensembles von Zeichen, aus denen unsere Einbildungskraft die Vorstellung von Menschen erzeugt«, Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive (2012), S. 10 f. 217 Jannidis: Figur (2001), S. 175. 218 Hempfer: Die potentielle Autoreflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts › Orlando furioso ‹ (1982), S. 136. Im Rahmen strukturalistischer Theorien erfährt die Figur eine »Niedriggewichtigung«. Sie wird »zur Orientierungsgröße innerhalb der Handlung, als Hilfe zur Klassifizierung und Orientierung abgewertet«, Markus Stock: Figur (2010), S. 189. Wesentliche Kritik an dieser Position wurde von Seymour Chatman geäußert. Für ihn sind Figuren nicht nur Handlungserzeuger, sondern besitzen ein Eigengewicht gegenüber der Handlung, vgl. Chatman: Story and Discourse (1978), S. 118. 219 Bal: Narratology: Introduction to the Theory of Narrative (1999), S. 115. 166 3 Narratologische Annäherungen <?page no="167"?> Rezeptionsprozesse aus? Auf Textseite spielt die Bezeichnung der Figur eine wichtige Rolle. Sie fungiert als »Umrisslinie«, 220 innerhalb derer semantische Merkmale als Eigenschaften der Figur gebündelt werden. Als Benennung dienen nicht nur Eigennamen, sondern auch generische Bezeichnungen oder Appellativa. Der Erstnennung kommt eine zentrale Bedeutung zu, markiert sie doch - zumindest im Falle von fiktiven Figuren - den Moment, in dem die Figur erzeugt wird. Mit der Namensnennung wird ein Referenzpunkt gesetzt, an den mit voranschreitender Lektüre weitere Eigenschaften angeschlossen werden. 221 Diese können unterschiedlicher Natur sein, 222 sie bezeichnen »enduring personality traits and dispositions, knowledge and belief sets, intentions, wishes, attitudes, desires and emotion, and [ … ] internal states and actions«. 223 Im Regelfall entsprechen diese den Prinzipien von Kohärenz und Kontinuität und lassen die Figur als »a definable pattern or intelligible structure« erscheinen. 224 Die Merkmale einer Figur kann der Leser entweder direkten Charakterisierungen entnehmen, beispielsweise Erzählerkommentaren oder Fremdbzw. Selbstbeschreibungen, oder auf indirekte Weise aus der Handlung oder der Figurenrede extrapolieren. 225 Auf Textebene erfolgt also zunächst die »Ausbildung von › Rekurrenzmustern ‹ um einen Eigennamen oder ein Appellativum herum«. 226 Damit diese »sprachlich erzeugte konzeptionelle Einheit« 227 zum Leben erweckt wird, bedarf es der kommunikativen Kompetenzen des Lesers, außerdem spielen verschiedene semiotische Verfahren des Figurenentwurfs hinein. Prinzipiell sind Figuren prototypisch um das »Zentrum › Mensch ‹ « 228 organisiert, können diese Kategorie jedoch mehr oder weniger typisch verkörpern: Sie sind demnach insofern menschlich oder menschenähnlich, als sie gewisse menschliche Eigenschaften wie Handlungsfähigkeit, Intentionalität oder ein Innenleben besitzen. 229 Dieses diachron stabile Konzept von Figur als Entität mit »proto- 220 Jannidis: Figur und Person (2004), S. 125. 221 Jannidis: »Das Bezeichnete wird durch den ersten Akt des Referierens auch geschaffen.« Gleichzeitig wird der Figur nach Fotis Jannidis auch ein »Modus der Existenz zugeschrieben«, der faktisch, kontrafaktisch, hypothetisch, möglich, rein subjektiv sein kann, vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 129. 222 Eigenschaften können »physical or external, actantial, social and mental or internal (cognitive, emotive, volitional and perceptual)« sein, Margolin: Character (2008), S. 53. 223 Margolin: Character (2008), S. 53. 224 Margolin: Character (2008), S. 53. Für Jannidis ist der Normalfall des Erzählens die »stabile Identität«, die er als »Rekurrenzphänomen« bezeichnet: »Es wird erneut auf eine Figur referiert, also koreferiert, auf die im Text bereits referiert wurde«, Jannidis: Figur und Person (2004), S. 138. 225 Jannidis: Figur (2001), S. 175. 226 Stock: Figur (2010), S. 194 in Anlehnung an Weinsheimer: Theory of Character (1979), S. 195. 227 Jannidis: Figur und Person (2004), S. 147. Jens Eder versteht unter mentalen Modellen »multimodale, dynamische mentale Repräsentationen«: »Sie verbinden verschiedene Formen der Informationsverarbeitung - sprachlich, bildlich, akustisch u. s. w. - zu einer anschaulich erlebten Ganzheit, die sich im Zeitverlauf verändert«, Eder: Gottesdarstellung und Figurenanalyse (2016), S. 32. Eder betont außerdem die Einbindung von Figuren in kommunikative Zusammenhänge: Figuren sind für ihn »kommunikative Konstrukte mit einer implizit normativen Komponente« bzw. »intersubjektive kommunikative Konstrukte«, vgl. ebd., S. 31. 228 Vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 119. 229 Die Prototypensemantik geht davon aus, dass Kategorien durch besonders typische Exemplare repräsentiert werden, gleichzeitig jedoch auch solche Vertreter ausbilden, die weniger prototypisch sind, aber trotzdem noch unter die Kategorie fallen: »Die Kategorie › Figur ‹ ist prototypisch um das Zentrum › Mensch ‹ organisiert, d. h. als typisches Exemplar der Kategorie gilt der sprachlich bezeichnete Mensch in einer fiktionalen Welt, aber es gibt zahlreiche Abweichungen von diesem 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 167 <?page no="168"?> typically assigned human-like properties« 230 interferiert jedoch mit historisch und kulturell variablen Denkmustern, die auf Rezipientenseite aktiviert werden. Darunter fallen neben gattungsspezifischem Wissen über Figuren und Strategien der intertextuellen Sinnkonstitution vor allem kulturelle Anthropologien, die die Wahrnehmung von Personen beeinflussen. 231 Sie formen einen »Basistypus der Figur«, 232 der eingebettet ist in Annahmen und Modelle, wie das Innenleben der Figur organisiert ist, wie ihre Handlungen und Intentionen motiviert sind und was sie überhaupt erst zur Person macht. Eine solche › Alltagsanthropologie ‹ ist notwendigerweise von den Modellen der umgebenden Kultur geprägt und damit nicht deckungsgleich mit den Entwürfen früherer oder späterer Epochen. 233 Das betrifft nicht nur das mentale Modell von Personen und Figuren, sondern auch den situativen Rahmen, der in den Erzähltexten evoziert wird: Für typische Handlungsabläufe werden mentale › scripts ‹ gespeichert oder Informationssets, sogenannte › frames ‹ , angelegt, die als kontextueller Rahmen die Sinnstruktur mitgestalten. 234 Dass sich Alltagssoziologien 235 und das Wissen darüber, wie Figuren motiviert sind, von Kultur zu Kultur stark unterscheiden, zeigt sich daran, dass mittelalterliche Figuren auf den modernen Leser häufig eindimensional wirken - was sich dadurch erklären lässt, dass die mittelalterliche Literatur mit ihrer ausgeprägten Intertextualität verbindliche literarische Codes ausgebildet hat, die die Produktion und Rezeption von Texten mitbestimmen. 236 Textuelle Modelle prägen als intertextuelle Strukturreferenzen ebenso die narrative Modellierung wie die Wahrnehmung der Rezipienten. Die Figurenrezeption ist somit ein vielschichtiger Prozess. Im Verlauf der Rezeption werden die im Text kodierten Eigenschaften des Zeichenkomplexes › Figur ‹ zunächst unter einen Namen subsumiert, wobei mentale Vorstellungen wie das Wissen um einen Prototyp oder anthropologische Modelle ebenso aktiviert werden wie epochenspezifisches Welt- und Alltagswissen, um das Zeichenensemble in der Lektüre zu einer › Figur ‹ zu komplettieren. 237 Der Unterschied zwischen der Rezeption von Figuren in fiktionalen und faktualen Texten typischen Exemplar, die keineswegs alle Merkmale des Menschen haben müssen, sondern nur wenige, und es muss auch nicht jedes Exemplar von diesen wenigen Merkmalen immer dieselben aufweisen«, vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 119. 230 Margolin: Character (2008), S. 53. 231 Vgl. Stock: Figur (2010), S. 192/ 4. 232 Diesen beschreibt Fotis Jannidis als »basale Struktur der Informationen in der mentalen Repräsentation einer Figur, die Erklärungen und Beschreibungen von Verhalten aufgrund der folk psychology ermöglichen«, Jannidis: Figur und Person (2004), S. 192. 233 Vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 187 bzw. 192 - 195. Nichtsdestoweniger lässt sich ein überzeitlicher »geistiger und semiotischer Zwang zur Anthropomorphisierung und Personalisierung« beobachten, vgl. Eder: Gottesdarstellung und Figurenanalyse (2016), S. 39. 234 Vgl. Jannidis: Figur und Person (2004), S. 133 f. 235 Andere Begriffe für dieses Phänomen sind › folk psychologies ‹ bzw. › folk sociologies ‹ , vgl. Eder: Gottesdarstellung und Figurenanalyse (2016), S. 38. 236 Das »prägendste Charakteristikum des mittelalterlichen Romans« ist für Markus Stock die schematische Modelliertheit der Figuren, die »generische[n] und sozial vorgegebene[n] Schemata« folgen, Stock: Figur (2010), S. 195. Davon geht auch Jan-Dirk Müller aus, der auf die »Möglichkeit historisch andersartiger Entwürfe von psychologischen Dispositionen, Verhaltensmustern und personaler Identität« verweist, Müller: Spielregeln für den Untergang (1998), S. 202. 237 James Phelan umschreibt diesen Prozess in seiner Definition von Figur als »subject of a group of predicates which the reader adds up as he goes along«, Phelan: Reading People, Readings Plots (1989), S. 3 f. 168 3 Narratologische Annäherungen <?page no="169"?> liegt weniger in den Strategien der Texte oder den grundsätzlichen Mechanismen, die während der Lektüre greifen, sondern vielmehr in der Informationsvergabe: Während nämlich in fiktionalen Texten die Informationen bezüglich der Figuren auf das beschränkt sind, was der jeweilige Text über diese Figur aussagt, und die Figur zugleich mit der Information überhaupt erst ins Leben gerufen wird, ist die faktuale Figur auch außersprachlich (prä-)existent. 238 Auch wenn für das Personal der Heilsgeschichte ein Prätext existiert, aus dem sich das Wissen über dessen Handeln und Eigenschaften speist, existieren Heilige - zumindest im Bewusstsein christlicherAutoren und Rezipienten - auch außerhalb der Texte. Sie müssen daher nicht neu entworfen werden, vielmehr existiert bereits ein Konzept des jeweiligen Heiligen, das die wesentlichen Charakterzüge und zentralen biographischen Stationen beinhaltet. 239 Heilige stellen zudem insofern eine besondere Kategorie von › Personen ‹ dar, als sie nicht nur als zu einem bestimmten Zeitpunkt existent gedacht, sondern als überzeitlich im Sinne der Heilsgeschichte begriffen werden. Anders als eine historische Person ist der Heilige damit von seinem ursprünglichen Wirkungszeitraum entkoppelt und existiert gewissermaßen außerhalb der linearen Zeit - eine wichtige Voraussetzung für die Kommunikationssituation der narrativen Apostrophe, die sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Rezeption aktualisieren lässt. Während der Wahrheitsgehalt fiktiver Figuren unbestimmt ist, ist derjenige von Figuren, die als heilsgeschichtlich konzeptualisiert sind, durch die Bibel und das umgebende Gerüst an Autoritätentexten abgesichert. Sie haben außerdem einen festen Platz im kollektiven christlichen Gedächtnis. Auf diesen Wissensraum beziehen sich die mittelalterlichen Du- Erzählungen, die »Glaubenswissen« 240 vermitteln und aktualisieren. Dennoch wird auch hier nur ein Ausschnitt von der Figur des Heiligen geboten, denn was der Text über die faktuale Figur präsentiert, ist Ergebnis eines Selektionsprozesses. Hierbei spielen nicht nur zeitgenössische Anthropologien des Heiligen bzw. Göttlichen, 241 sondern auch literarische Typen und Schemata eine wichtige Rolle. Das lässt sich am Elisabethgebet gut beobachten. Der Ankerpunkt für die Ausbildung eines mentalen Modells von der Heiligen wird hier gesetzt, wenn die Vorrede mit dem heiligen leben der seligen fröwen und muter Sanct Elysabeth (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 1) das Thema des Gebets benennt und aus dem Pantheon der christlichen Heiligen Elisabeth herausgreift. Dass es hier nicht um eine gewöhnliche Frau geht, machen die Prädikationen deutlich, die mit dieser Erstnennung verbunden sind: Sanct Elisabeth wird als selig bezeichnet, ihr Leben als heilig charakte- 238 Dass sich auch Übergangsphänomene beobachten lassen, macht die Figur des Artus in den Artusepen deutlich: Vorbild für Artus ist der römische Heerführer Ambrosius Aurelianus, der in der Chronik De excidio et conquestu Brittaniae des Heiligen Gildas im 6. Jahrhundert erstmals erwähnt wird und in der anonym überlieferten Historia Britonum (9. Jahrhundert) mit dem Sachsenkampf in Verbindung gebracht wird. Als Scharnier einer faktisch konzeptionalisierten und einer literarisierten Artus-Figur fungiert die Historia regum Britanniae des Geoffrey of Monmouth, in der Artus christianisiert und in die höfische Welt transloziert wird. In den Artusromanen schwingt der Sagenkern noch mit, das Wissen über Artus ist jedoch maßgeblich von den höfischen Texten geprägt. Zur Stoffgeschichte siehe Schirok: Artûs, der meienbaere man (1989). 239 Vgl. Eisen/ Müllner: Einleitung (2016), S. 21. 240 Wolf: Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 226 (1987), S. 12. 241 Zu den Problemen, die mit der narratologischen Betrachtung der Figur › Gott ‹ einhergehen, siehe Eisen/ Müllner: Einleitung (2016), S. 15 - 22. Gott ist insofern ein Sondertypus der Figur, als er in noch stärkerem Maß als Heilige menschliche und übernatürliche Züge in sich vereint 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 169 <?page no="170"?> risiert. Der prototypische Entwurf, der hier evoziert wird, ist also nicht der einer menschlichen Figur, sondern der von Heiligkeit. Bei aller Vielfalt, die innerhalb dieser Kategorie herrscht, werden bestimmte Assoziationen von christlicher Heiligkeit geweckt, die die Konstruktion der Figur Elisabeth durch den Leser bestimmen. Dazu gehört die Vorstellung, dass Heiligkeit Resultat einer besonderen Begnadung ist, eine »überindividuelle Eigenschaft«, 242 auf die der Heilige selbst keinen oder nur begrenzten Einfluss hat. Noch die Vorrede bestätigt diese Erwartung, indem sie Elisabeths königliche Abstammung mit ihrer göttlichen Auserwähltheit parallelisiert: Du gesegnete nit allein des kunges von ungern sunder öch des kunges des himmelschen ierlin aller seligeste tochter Elysabeth durch luchtig des vorsprungs der geburt, durch luchten in der tugend des geistes. Uber aller durchluchtendest in der höhi der gnoden hie uff erden. Aber nun in der volkommenheit der gloryen ob es sich also gezimt ze reden über aller durchluchtendest in den himeln. Erfröwe dich also und bist frölich du viel erliche nit allein des durchluchten Ludwyfs lantgrofen ze turingen gesellige ee fröwe, sunder öch des kunges der himmelschen glorye aller liebste gemahel (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 4b - 6b Du, gesegnete Elisabeth, die du nicht nur die Tochter des Königs von Ungarn, sondern auch die allerseligste Tochter des Königs der himmlischen Heere bist, ausgezeichnet bist du wegen deiner hohen Geburt und strahlend in der Tugend deines Geistes, überaus strahlend in der Höhe der Gnade hier auf Erden, aber nun in der Herrlichkeit der Glorie, wenn es wohl ansteht darüber zu sprechen, strahlst du im Himmelreich. Erfreue dich daran, denn du bist nicht nur die liebe Ehefrau Ludwigs, des erlauchten Landgrafen von Thüringen, sondern auch die allerliebste Gemahlin des Königs der himmlischen Glorie. Elisabeths irdischer Status korreliert mit ihrem jenseitigen als Braut Christi, ihre Abstammung aus dem ungarischen Königshaus mit ihrer Tugend. An der Vollkommenheit Elisabeths lässt sich also bereits von Anfang an das Wirken Gottes ablesen: Elisabeth repräsentiert die göttliche Macht und ist gleichzeitig Ausdruck dieser in der Immanenz. 243 Obwohl die Erzählung den historischen Fakten ihrer Lebensgeschichte folgt, entspricht sie doch einem festgelegten Schema, das für die Hagiographie typische Topoi und Motive beinhaltet. Elisabeth zeichnet sich durch zwei zentrale Tugenden aus, hinter denen sie gewissermaßen zurücktritt, 244 Demut und Fürsorge. In diese Schablone der imitatio Christi bzw. der imitatio Mariae werden die Ereignisse selbst dann eingepasst, 245 wenn das literarisch tradierte Schema von Heiligkeit mit den gängigen Anthropologien, beispielsweise von Adel, konfligiert. Der literarisch vermittelte Filter bestimmt die Rezeption des Lesers, wenn er Elisabeths freiwillige Exklusion aus der höfischen Gesellschaft und ihren Ausstieg aus der immanenten Weltordnung zugunsten einer transzendenten als Topos der Heiligkeit akzeptiert und den Widerspruch zum Alltagswissen über eine hierarchische Gesellschaftsordnung auflöst. 246 Auch das mit dem Entwurf von Heiligkeit unvereinbar 242 Riehl: Kontinuität und Wandel der Erzählstrukturen am Beispiel der Legende (1993), S. 14. 243 Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung (2009), S. 222. 244 Riehl: Kontinuität und Wandel der Erzählstrukturen am Beispiel der Legende (1993), S. 13. 245 Siehe dazu Kapitel 4.2.1. 246 Vgl. Seidl: Blendendes Erzählen (2012), S. 28. Jan- Dirk Müller nennt das »Abkehr von der Immanenz« durch »Abgrenzung von allem Weltlichen«, Müller: Höfische Kompromisse (2007), S. 274. Diese Weltabkehr hält auch Armin Schulz für typisch für das legendarische Modell, wenn er ein Verschwinden des Heiligen »aus den feudalen › Sichtbarkeitszusammenhängen ‹ « konstatiert, Schulz: Hybride Epistemik (2009), S. 662. 170 3 Narratologische Annäherungen <?page no="171"?> scheinende Faktum der Ehe und Mutterschaft Elisabeths 247 wird dem hagiographischen Modell untergeordnet. So verbrämt der Text die Ehe zwischen Elisabeth und dem Landgrafen von Thüringen als Josefsehe und betont die Keuschheit, zu der sich Elisabeth nach Ludwigs Tod entschließt. Ihre biologische Mutterschaft wird durch eine geistig-spirituelle überschrieben, die ihren Ausdruck im Ehrentitel muter der armen (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 23) findet. Die hagiographietypische Topik macht Heiligkeit erkennbar und bekräftigt die religiöse Botschaft - ungeachtet der historischen Wirklichkeit. 248 Als Reflex der gängigen Modelle von inneren Zuständen ist der Text weitgehend extern fokalisiert: Einblick in das Innenleben der Heiligen erhält der Rezipient nur dann, wenn es sich an äußerlichen Merkmalen ablesen lässt, beispielsweise bei der Bestattung Ludwigs, an der Elisabeth mit vergiessung der trähen (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 50) teilnimmt, oder es sich aus der Figurenrede extrapolieren lässt. Auch das anthropologische Modell des »Körpers als Zeichensystem«, 249 das seinen Ursprung in der theologischphilosophisch fundierten Wahrnehmungs- und Imaginationstheorie hat, 250 interferiert mit dem Figurenentwurf der Heiligen. Nach diesem Modell, das von der antiken Idee der › Kalokagathia ‹ bestimmt ist, besteht ein Verweisungszusammenhang von Körper und Seele. Demnach gilt ein schöner Körper als Zeichen für eine vollkommene Seele und umgekehrt; der Körper wird zum Spiegel, zum speculum, die Bewegungen des Körpers, motus corporis, machen die Bewegungen des Geistes, motus animae, sichtbar. 251 Eine solche Anthropologie lässt Heiligkeit als etwas, das der Sinneswahrnehmung zunächst entzogen ist, greifbar werden: Sie zielt auf die »Sichtbarmachung von Nicht-Sichtbarem« und die » › Immanentmachung ‹ von Transzendentem«. 252 Während die Erzählung jedoch bei der Beschreibung der Heiligen solche körperlichen Hinweise nur sparsam einsetzt, kommt die Funktion des Körpers als Zeichenträger dann voll zum Tragen, wenn der Leichnam der Heiligen zum eindeutigen Symbol ihrer Heiligkeit wird. Im Wunder des nicht-verwesenden Körpers wird gewissermaßen die aus dem Sündenfall resultierende Vergänglichkeit des Menschen aufgehoben und gleichsam Christi Versprechen auf Erlösung aktualisiert. 253 Auch jenseits von Einzelmotiven ruft die Erzählung von Elisabeths Leben auf struktureller Ebene ein tradiertes hagiographisches Schema ab. Die Heilige entspricht dem Muster der Einmal-Geborenen, deren Heiligkeit von Anfang sichtbar ist. Schon in frühester Kindheit, so betont der Gebetstext, zeigt sich Elisabeths besondere Demut, etwa im ausgiebigen Beten oder im Verzicht auf kindliche Spiele. Das Gegenstück dazu ist der »zweimal [g]eborene[ … ]« 254 Heilige, der als Bekehrungsnatur erst nach einem Wendepunkt zu Gott findet - dieses Modell dominiert im Christophorusgebet. Die Heiligenfiguren 247 Vgl. Haarländer: Zwischen Ehe und Weltentsagung (2008), S. 211. 248 Vgl. Rener: The Making of A Saint (2008), S. 196. 249 Feistner: Der Körper als Fluchtpunkt (1999), S. 134. 250 Vgl. Antunes/ Reich: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter (2012), S. 11. 251 Vgl. Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 141. Daneben existieren noch andere Körperkonzeptionen, bei denen genau das Gegenteil der Fall ist. Diese anthropologischen Modelle bestehen jedoch nebeneinander, das Elisabethgebet ist eindeutig von der Kalokagathia-Idee bestimmt. 252 Antunes/ Reich: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter (2012), S. 14. 253 Vgl. Müller: Höfische Kompromisse (2007), S. 90. 254 Vgl. Scheler: Zur Ethik und Erkenntnislehre (1933), S. 173. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 171 <?page no="172"?> sind also Aktanten, die bestimmten Handlungsschemata entsprechen. Der faktuale Geltungsanspruch geht durch diese Schematisierung jedoch nicht verloren. Im Gegenteil: Das Schema bekräftigt als textgewordener Beweis die Heiligkeit sogar noch und untermauert den Geltungsanspruch. Zugleich bleibt trotz der narrativen Überformung ein Abgleich der Textwirklichkeit mit der historischen › Wirklichkeit ‹ möglich, wie sie in den Kanonisierungsakten › belegt ‹ ist. Das führt dazu, dass der Verfasser bei Erweiterungen und Ausschmückungen im Rahmen einer funktionalen fictio gewisse Grenzen berücksichtigen muss. Trotz aller Gestaltungsspielräume handelt es sich beim Leben der Elisabeth um einen Wissensinhalt, der theologische Bedeutung hat und insofern eine autonome fictio nicht zulässt. Sowohl fiktionale als auch faktuale Figuren sind - vor allem in der mittelalterlichen »Umschreibepraxis« 255 - nicht an einen bestimmten Text gebunden, sondern tauchen in verschiedenen Werken des gleichen oder mehrerer Autoren auf. Sie werden mitunter in völlig neue Erzählzusammenhänge, formaler oder inhaltlicher Art, eingebunden: Aus Erec beispielsweise, dem Titelhelden in Hartmanns Erstlingsroman, wird im Iwein eine Randfigur, die nur kurz erwähnt wird; der Musterritter Gawein spielt in beiden Romanen eine Rolle, wobei die Eigenschaften, die ihm zugeschrieben werden, auch über die Romangrenzen hinaus konsistent bleiben. Das Beachten bestimmter literarischer Codes und der figurenspezifischen semantischen Merkmale ist essenziell, wenn es um die Erzeugung literarischer Welten, › storyworlds ‹ , geht. 256 Die Konsistenz der erzählten Figuren und Handlungselemente über die Grenzen des Einzeltext hinaus ist bei der Neugestaltung religiöser Inhalte noch wichtiger als bei fiktionalen Texten, gelten die erzählten Inhalte doch als Teil der christlichen Glaubenslehre, deren Richtigkeit Konsequenzen für das Seelenheil des Lesers hat. Am Motivkomplex von Judas ’ Verrat lässt sich ablesen, wie verschiedene Du-Erzählungen auf eine gemeinsame faktuale Welt referieren, die in den kanonischen Evangelien vorgestaltet ist. In allen Darstellungen bestimmt der elementare Handlungskern von Verrat und Täuschung die Wahrnehmung der Figur Judas. Bezeichnenderweise gebrauchen die Texte dazu ähnliche, zum Teil identische Strategien und Wortfelder, um ein zentrales heilsgeschichtliches Ereignis zu beschreiben. Sie bemühen hierzu ein ökonomisches Vokabular, indem sie den Verrat mit der Metapher des Verkaufs umschreiben. In der entsprechenden Kapitelüberschrift des Zeitglöckleins heißt es etwa: Die achte ſ tund / wie der herr von iudas verkoufft ward (Zeitglöcklein, fol. 6af.: »Die achte Stunde handelt davon, wie der Herr von Judas verkauft wurde«). Auch das Itinerarium schlägt einen ähnlichen Ton an: Gedenck uch als er in dem garten gefangen werden, uch wylligklich für vnß lyden wolt, wie er da ſ elb ſ t von dem inda synen eygnen junger in die hend der bo ᵉ ſ en mit dem fal ſ chen ku ᵉ ß gegeben ward vnd uch von den fynden grülich gefangen. (Zeitglöcklein, fol. 73b) Erinnere dich auch daran, dass er, als er im Garten gefangen wurde, willentlich für uns leiden wollte, wie er da selbst von Judas, seinem eigenen Jünger, durch einen verräterischen Kuss in die Hände der Bösen übergeben und von seinen Feinden auf gräuliche Weise gefangen wurde. In einigen Texten wird dieses Motiv noch intensiviert durch die Angabe der Summe, die Judas im Gegenzug für seinen Verrat erhält, beispielsweise in Christi Hort: um driezic 255 Bumke/ Peters: Einleitung (2005), S. 2. 256 Vgl. Margolin: Character (2008), S. 54. 172 3 Narratologische Annäherungen <?page no="173"?> phenninge verchouft er dich, su ᵉ zer Christ (Christi Hort, v. 1127: »Für dreißig Pfennige hat er dich verkauft, süßer Christus«). Auch die Wertungen, die Judas durch die Erzählerstimmen erfährt, schlagen in die gleiche Kerbe und stützen den Eindruck eines kohärenten Text-Universums. In mehreren Texten wird Judas als Anhänger des Teufels bezeichnet, zum Beispiel in Von Gottes zukunft: [ … ] der finstern helle kint. / Von uch sprich ich, her Judas (Von Gottes zukunft, vv. 2348 f.: »das Kind der finsteren Hölle - von euch spreche ich, Herr Judas«) oder auch Judas der helle hunt (Von Gottes zukunft, v. 2451: »Judas, der Höllenhund«), beim Mönch von Salzburg wird Judas als Luzifer geselle (G 24, v. 137) bezeichnet. Charakteristisch ist seine Falschheit: Judas ist der falsche hu ᵉ nt (Von Gottes zukunft, v. 2287), auch sein Kuss ist falsch (Itinerarium, fol. 72a). Konsequenterweise teilen die Autoren Texte dann auch die Überzeugung, dass Judas für seinen Verrat bezahlen muss. In Christi Hort verflucht die Stimme des Sprecher- › Ichs ‹ all diejenigen, die Jesus verraten: we in die daz tâten! (Christi Hort, v. 1072), der Mönch von Salzburg ist davon überzeugt, dass Judas zur Strafe hellische pein (G 24, v. 136) erleiden muss. Vorgeprägt sind die transtextuellen, die textübergreifend konsistenten Figuren und Erzählungen durch den Prätext des Evangeliums. 257 Selbst dann wenn der Retext neue Schwerpunkte setzt, bemühen sich die Autoren darum, ein mit der Tradition übereinstimmendes Bild zu zeichnen: Das Itinerarium etwa erzählt die Passion zwar aus dem Blickwinkel Marias, lässt aber dieselben in der Tradition angelegten Details einfließen wie das Passionsgedicht des Mönchs von Salzburg, das den bewusst hingenommenen Verrat durch Judas als Zeichen der göttlichen Liebe interpretiert. Die Stimmigkeit, mit der die Figuren über den Einzeltext hinweg beschrieben werden, bildet die Grundlage für das Gelingen einer Kommunikationssituation, die ebenfalls über die Textgrenzen hinausreicht und die nur im Bewusstsein der Heiligkeit des Gegenübers gelingen kann. 3.2.3 Kommunikation im und über den Text hinaus: Erzähler, Sprecher, Sprachhandeln Erzählen ist eine Form der Kommunikation, ein Erzählwerk »kommunizierte Kommunikation« 258 und somit immer kommunikativ: Erzählen richtet sich an bestimmte Adressaten und erfüllt mehr oder weniger deutlich formulierte Ziele. 259 Es liegt auf der Hand, dass literarische und Alltagskommunikation trotz einiger Überschneidungen nicht deckungsgleich funktionieren. Als Kommunikationsakte eines Autors sind Erzählungen zwar abgeschlossen. In der Lektüre werden sie jedoch durch den Leser aktualisiert, der eine neue Kommunikationsbeziehung eingeht. 260 Den kommunikativen Charakter von Erzähltexten thematisieren mehrere narratologische Kommunikationsmodelle, allen voran diejenigen von Seymour Chatman (1978/ 1990) 257 Ute Eisen und Ilse Müllner weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Figuren der Heilsgeschichte nicht nur transtextuell, sondern sogar transmedial sind: Vermittelt über verschiedene Medien, vom literarischen Text über kultische Praktiken bis hin zu Bildwerken bildet sich medienübergreifend eine Figur heraus, die in ihren wesentlichen Merkmalen konsistent ist, vgl. Eisen/ Müllner: Einleitung (2016), S. 21. 258 Baum: Narrativik und Sprachwissenschaft (1977), S. 31 bzw. 33. 259 Vgl. Phelan: Self-Help for Narratee and Narrative Audience (1994), S. 352 bzw. Contzen: Saints ’ Lives as Narrative Art (2014), S. 181 f. 260 Vgl. Baum: Narrativik und Sprachwissenschaft (1977), S. 33. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 173 <?page no="174"?> und Ansgar Nünning/ Manfred Jahns (1994). 261 Sie alle gehen von einer mehrschichtigen Kommunikation aus und schließen an Bühlers Organon-Modell der allgemeinen Kommunikation an, in dem sich drei Entitäten gegenüberstehen: Sprecher, Hörer und Botschaft. 262 Übertragen auf das Erzählwerk heißt das: Zunächst wendet sich auf einer textexternen Ebene ein realweltlicher Autor mit seinem Text, seiner › Botschaft ‹ , an einen realen Leser. Innerhalb des Textes kommuniziert - zumindest in einem idealtypischen Roman - ein Erzähler seine Erzählung gegenüber einem Leser und präsentiert dabei die erzählte Welt. Dieser Leser stimmt nicht zwangsläufig mit dem realen Leser überein, sondern ist eine textuell konstituierte Leserrolle bzw. Leserfigur. In manchen Modellen wird diese Ebene noch weiter differenziert. Wayne C. Booth etwa geht von einem implizierten Autor aus, der als »Konstrukt des Interpreten« 263 eine Autorabsicht enthüllt; Wolf Schmid betrachtet den »abstrakten Autor« als »Korrelat[ … ] aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes«. 264 Wolfgang Iser wiederum stellt dem implizierten Autor einen implizierten Leser gegenüber: Dieser ist nicht mit dem realen Leser identisch, sondern wird von diesem während des Rezeptionsprozesses konstruiert. 265 Auf einer inneren Ebene kommunizieren die Figuren der erzählten Welt schließlich untereinander. Die Kommunikationssituation im literarischen Text lässt sich also mit folgendem Schema beschreiben: realer Autor - [impliziter Autor] Erzähler - Erzählung - Erzähladressat/ narratee - [impliziter Leser] - realer Leser 266 Eine mehrschichtige Kommunikationssituation liegt auch den mittelalterlichen Du-Erzählungen zugrunde. Die elementaren Strukturen bleiben über die Diachronie hinweg konstant, ihre Parameter sind jedoch in den Texten des Untersuchungskorpus anders gesetzt, was eine gründliche Analyse der einzelnen Elemente der Kommunikation erforderlich macht. Dies verspricht Einblicke in das mittelalterliche Verständnis von Basiskategorien wie Erzähler, Sprecher und Autor sowie in den funktionalistisch-pragmatischen Charakter der Texte, der mit einer vergleichsweise offeneren und durchlässigen Kommunikationssituation einhergeht. 3.2.3.1 Wer spricht, erzählt, verantwortet? Erzähler, Sprecher und › Autoren ‹ Vor dem Hintergrund, dass die Rolle des Sprechenden bzw. Erzählenden unterschiedlich ausgestaltet sein und sich sogar innerhalb eines Textes wandeln kann, müssen die Konzepte 261 Nünning/ Jahn: A Survey of Narratological Models (1994), Chatman: Story and Discours (1978). 262 Vgl. Baum: Narrativik und Sprachwissenschaft (1977), S. 31. Baum weist außerdem darauf hin, dass Kommunikation einer »sozio-kulturelle[n] Einbettung in die Kommunikationsgesellschaft« unterliegt, in die auch die individuellen Kommunikationsbedingungen und Eigenschaften der Kommunikationspartner miteinfließen. Zudem bedienen sich die Gesprächspartner eines gemeinsamen Codes. 263 Booth: The Rhetoric of Fiction (1983) bzw. Fludernik: Erzähltheorie (2013), S. 37. 264 Schmid: Elemente der Narratologie (2014), S. 60. 265 Iser: Der implizite Leser (1972) bzw. Fludernik: Erzähltheorie (2013), S. 37. Sowohl impliziter Autor als auch impliziter Leser sind Konzepte, die in der erzähltheoretischen Forschung nicht unumstritten sind: Sie sind keine wirklichen Kommunikationsteilnehmer, stellen also keine Sprecher-Stimme dar, sondern repräsentieren jeweils »a set of implicit norms«, Rimmon-Kenan (1983), S. 88 bzw. Contzen: Saints ’ Lives as Narrative Art (2014), S. 88. 266 Vgl. Chatman: Voice (1996), S. 164. 174 3 Narratologische Annäherungen <?page no="175"?> von Erzähler, Sprecher und Autor hinterfragt werden. Das stellt narratologisch arbeitende Mediävisten vor ein Dilemma: Ohne Begriffe wie Text, Autor, Subjekt, Subjektivität, Ich, Rolle, Fiktionalität ist nicht einmal die elementarste Beschreibung literarischer Phänomene denkbar, andererseits ist nicht einer dieser Begriffe mit seinen dezidiert modernen Konturen ohne Bedenken für vormoderne Texte brauchbar. 267 Dass sich das mittelalterliche Erzählen schon aufgrund seiner medialen Gegebenheiten anders gestaltet, wurde verschiedentlich schon festgestellt: Als eine »Kultur [ … ], die das Schreiben prinzipiell beherrscht, aber große Teile der Kommunikation und der Dichtung der Stimme und dem Hören anvertraut«, 268 bewegt sich das Mittelalter zwischen den Polen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, ohne dass es sich dauerhaft einem der beiden Pole zuordnen ließe. 269 Vor dem Hintergrund dieser literarisierten, gleichzeitig aber noch mündlichen Formen verpflichteten Literatur muss auch die Figur des Erzählers anders gefasst werden. Vor allem epische, insbesondere höfische Texte scheinen ursprünglich für die Vortragssituation konzipiert worden zu sein. Während im Falle der Autorrezitation jedoch Autor und die Stimme des Vortragenden zusammenfallen, bringt das Buch als Medium der Schriftlichkeit eine Verschiebung mit sich. Die Stimme des Vortragenden wird dabei vom ursprünglichen Verfasser abgekoppelt und bringt so eine »aus den Buchstaben geborenen persona«, 270 einen Erzähler, hervor. Schwierigkeiten bereitet dies bei der Frage nach dem Verhältnis von Erzähler, Sprecher und Autor. Der Prozess der Verschrift(lich)ung löst den Text nämlich von seinem Autor ab und macht auch Texte jenseits der Heldendichtung zur »Wiedergebrauchsrede«, die als Teil des kollektiven Gedächtnisses in der oralen Tradition perpetuiert werden und die Sprecher- Position als immer wieder neu besetzbare Leerstelle gestalten. 271 In dieser Wieder- 267 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 99. 268 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 35. 269 Hugo Kuhn etwa spricht vom Mittelalter als einer »Zwischenkultur«, Franz Bäuml bescheinigt der mittelalterlichen Literatur eine »Semioralität« und »quasi-literacy«, Hans Fromm bezeichnet den mittelalterlichen Literaturbetrieb als »symbiotische Mischkultur«, Kuhn: Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur (1980), S. 5; Bäuml: Medieval texts and the two theories of oralformulaic composition (1984/ 85), S. 34; Fromm: Der oder die Dichter des Nibelungenlieds (1974), S. 66. Ausführlich dazu siehe Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 35 - 37. 270 Assmann: Exkarnation (1993), S. 153. Sonja Glauch bietet einen Überblick zu den verschiedenen Forschungspositionen und zitiert unter anderem Rainer Warning, der eine fingierte Mündlichkeit innerhalb einer weitgehend schriftlichen Literatur als »Ausgangspunkt für Fiktionalität« hält, vgl. Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 37 bzw. Warning: Der inszenierte Diskurs (1983), S. 194 - 198. Die Spuren von Mündlichkeit, die immer wieder ausfindig gemacht wurden, sind nicht eindeutig zu beurteilen und lassen sich einerseits als »ein literatur-immanentes Spiel«, als eine sekundäre oder fingierte Mündlichkeit interpretieren, können andererseits jedoch auch als »Spuren außertextlicher Praxis und Realität« betrachtet werden, Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 42. Sonja Glauch verwirft die sogenannte »Leser-These«, nach der Mündlichkeitsspuren ein rein literarisches Konstrukt und somit als »Stilschablone des schreibenden Dichters« zu werten seien. Sie betont die gegenseitige Durchdringung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die es unmöglich mache, Texte entweder als Vortragsdichtung oder als Lesedichtung zu begreifen. Vor dem Hintergrund, dass die Texte auf die Vortragssituation hin entworfen wurden, ist nach Glauch von einer »textuell konservierte[n], mimetische[n] Mündlichkeit« zu sprechen, die »nicht gleichbedeutend mit fiktiver Mündlichkeit« ist, vgl. ebd., S. 73. 271 Vgl. Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 47 bzw. 49. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 175 <?page no="176"?> gebrauchs-Situation nähern sich epische Texte Gattungen wie Schwurformeln oder Gebeten an, in denen das › Ich ‹ nicht eindeutig festgelegt ist. Statt auf einen individuellen Autor zu referieren, ist das › Ich ‹ hier eine »bewegliche Subjektposition«, »elastisch« und kann »durch verschiedene situative Subjekte« je neu besetzt werden. 272 Die in der strukturalistischen Narratologie gängige Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler kann für mittelalterliche Texte nicht ohne weiteres übernommen werden. 273 Die Erzähler der Versepen sind in den meisten Fällen keine fiktiven Figuren, sondern lediglich eine »Instanz, von der [ … ] der Text als Äußerung ausgegangen sein muss«, 274 also eine logisch notwendige Größe. Die pragmatische Relation zwischen Verfasser, Text und Rezipient auszuklammern, wie es in der strukturalistischen Erzähltheorie üblich ist, geht jedoch fehl, denn die »narratologische Entweder-Oder-Grenze« zwischen Autor und Erzähler ist ein »historisch spezifisches, kontingentes, nämlich modernes Literaturphänomen«. 275 Dass der Erzähler nicht ohne einen zugrundeliegenden Autor im Sinne eines Verfassers zu denken ist, zeigen die häufigen Namensnennungen, die gewissermaßen als »Paratexte avant la lettre« 276 fungieren. Doch obwohl die Erzählerrollen nicht völlig vom Verfasser zu trennen sind, ist der Umkehrschluss, die Gleichsetzung von realem Autor und dem sich im Text zu erkennen gebenden Autor, nicht ohne weiteres zulässig. Denn auch in der mittelalterlichen Literatur kann mit der Autorrolle gespielt werden: Autoren positionieren sich, nehmen Rollen oder Posen ein, treten mal deutlich im Text zutage oder verschwinden hinter ihrer Erzählung. Hilfreich ist hier die Unterscheidung zwischen dem realweltlichen »empirische[n] Autor« und einer »im Text manifestierte[n] Autorrolle«. 277 Sie umgeht die Gefahr einer biographistischen Lesart, indem sie die »Differenz eines Selbstentwurfs zur Realität des biographischen Autors« 278 berücksichtigt. Autorrollen, die in einer realweltlichen Autorperson gründen und textuell entfaltet werden, finden sich in einigen Texten, die sich der narrativen Apostrophe bedienen. Am stärksten ausgeprägt ist sie in John Lydgates Ägidiuslegende, die mit ihrer auf den Autor festgelegten Sprecher-Position einen Sonderfall innerhalb des Korpus darstellt. Das Fundament dafür bildet die ausführliche Erzählung der Entstehungsgeschichte des Textes, die Lydgate an den Beginn seiner Legendendichtung stellt: [ … ] By Goddis grace, fortune, or aventure, Ther was to me brought a lytell bylle Of greet devossionn by a cryature, Requyryng me to do my besy Cure, Affter the tenour only ffor Gyles sake, Out of Latyn translate that scripture. Folwyng the copie, this labour vndertake; 272 Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), S. 105. Vgl. Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 47. Das schließt jedoch nicht die Ausgestaltung von ausgeprägten Erzählerfiguren aus, wie sie sich im Parzival Wolframs von Eschenbach finden lässt. 273 Vgl. Haferland: Erzähler, Fiktion, Fokalisierung (2019), S. 34 - 36. 274 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 78. 275 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 98. 276 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 45. 277 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 96. Zur Problematik des Autorschaftsbegriffs siehe auch Bleumer: Autor und Metapher (2015). 278 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 96. 176 3 Narratologische Annäherungen <?page no="177"?> To whos requeste lowly I dyd Obeye, Breeffly this story to put in remembraunce, Long prossesse left, took the next weye, For short metris do gladly gret plesaunce, By cler report rehersed the substaunce, Prolyxite ffor to sette aside, Bood no lenger but gan my penne avaunce, Trustyng Seynt Gyle for to be my guyde. (Legend of Seynt Gyle, vv. 26 - 40) Durch Gottes Gnade, auf Wink des Schicksals oder durch Zufall brachte jemand ein kleines Büchlein zu mir, das große Andacht enthielt; von mir wurde verlangt, um Sankt Ägidius willen mein Bestes zu geben und diese Schrift aus dem Lateinischen zu übersetzen. Dieser Überlieferung folgend sollte ich dieses Werk auf mich nehmen. Dieser Bitte folgte ich demütig, indem ich mich bemühte, die Geschichte kurz und präzise niederzuschreiben/ festzuhalten. Ich kürzte den Text und überarbeitete ihn, denn kurze Metren erregen großes Wohlgefallen und eine klare Darstellung verdeutlicht den Inhalt. Ich mied eine langwierige Darstellung - aber nun nicht mehr davon! Meine Feder begann voranzuschreiten, während ich mich Sankt Ägidius als Lenker und Führer anvertraute. Indem das Sprecher-Ich seinen Text als anspruchsvolle Bearbeitung eines bereits existenten Stoffes charakterisiert und zugleich seine Arbeitsweise beschreibt, besetzt es deutlich die Rolle eines Autors, der einem gewissen literarischen Standard entsprechen will: Es habe den Text nicht nur aus dem Lateinischen übersetzt, sondern ihn in wohlgefällige Metren übertragen. Um den Inhalt besser herauszuarbeiten und ihn ansprechender zu machen, habe es außerdem gekürzt. Mit dem Verweis auf die Feder (penne) spielt das › Ich ‹ auf das künstlerische Handwerk des Schriftstellers an. Gleichzeitig unterstellt es sein Schaffen einer höheren Macht, indem er Ägidius zu seinem guyde ernennt und die anfängliche Inspirationsbitte thy grace lat Enspyre, / In-to my penne (Legend of Seynt Gyle, vv. 3 f.: »Deine Gnade möge meine Feder leiten«) aktualisiert. Der empirische Autor Lydgate und die im Text inszenierte Rolle eines Autors Lydgate, der auf Umwegen zu einer Ägidiuslegende gelangt und diese nun ins Mittelenglische überträgt, sind hier nur schwerlich zu trennen: Lydgate inszeniert sich im Text zwar, erfindet allerdings keine Erzählerfigur, sondern besetzt die Sprecher-Rolle selbst. Lydgates Autorrolle enstpricht dem »Diskurstyp [des] › namenlose[n] ‹ bzw. namentlich nicht signierte[n] Autordiskurses«, bei dem »[d]as Sprecher-Ich [ … ] im präsentischen Jetzt des Vortrags Beginn und die Entstehung des Werkes [bezeichnet]«. 279 In dieser Autorrolle wendet sich Lydgate an sein Publikum. Zwar ist diese Autor-Rolle und die dazugehörige Erzählstimme in der Eingangspassage besonders stark ausgeprägt. Doch auch im weiteren Verlauf der Erzählung, die durch ein Zurücktreten des Erzählers dynamisiert wird, bleibt der mit Lydgate identifizierbare Erzähler greifbar. Regelmäßig schaltet sich die Erzählstimme Lydgates in die Erzählung ein, so in der Überleitung von Prolog zu Erzählung, wo es heißt: So far in ordre I schall rehersyn here (Legend of Seynt Gyle, v. 42: »Ich möchte nun der Reihe nach hier beginnen«). Häufig erinnert Lydgate an die Entstehungsgeschichte seines Textes, der auf einer zu übersetzenden Vorlage beruht. So thematisiert er die eigene Leseerfahrung, beispielsweise As I reede hys name was Fluent (Legend of Seynt Gyle, v. 166: »wie ich las, lautete sein Name Fluvius«) oder auch in kurzen Einschüben, die auf den Quellentext Bezug nehmen: thy story 279 Unzeitig: Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden (2004), S. 64 f. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 177 <?page no="178"?> doth expresse (Legend of Seynt Gyle, v. 82: »Deine Geschichte erzählt«) oder thy lyff remebreth that ye wepte both (Legend of Seynt Gyle, v. 264: »Deine Vita erinnert daran, dass ihr beide da weintet«). Auch auf bereits Erzähltes wird referiert und die Sprecher-Position damit eindeutig Lydgate zugeschrieben, wenn es heißt: As I told erst (Legend of Seynt Gyle, v. 103: »wie ich bereits erzählt habe«). Auch wenn diese Einschaltungen eines Erzählers, der sein eigenes Erzählen thematisiert, im Laufe der Erzählung weniger werden, dass Erzählerprofil abflacht, 280 sind diese an die Person Lydgates gebunden. Die Vermengung von realweltlichem Autor Lydgate und der textuell inszenierten Autorrolle im Sinne einer Erzählerstimme bewirkt, dass Lydgate auch in der Rezeption als sprechendes › Ich ‹ identifizierbar bleibt: In der Lektüre oder im Vortrag ist die Sprecher-Rolle an die Person des Autors Lydgate zurückgebunden, die Reaktualisierung der Sprechsituation betrifft also auch die Person Lydgates. Vergleichbar mit Lydgates Autor-Erzähler-Rolle ist die Heinrichs von Neustadt in Von Gottes zukunft. Auch hier ist die Sprecher-Stimme von einem Erzähler besetzt, der an die Person des Autors gekoppelt ist. Die Autornennung erfolgt entsprechend der Konvention im Epilog der Heilslehre, wo sich Heinrich nicht nur mit Namen nennt - Diz bu ͦ ch hat mit erbeit / meister Heinrich bereit / Geheizen von der Nu ᵉ wenstadt (Von Gottes zukunft, vv. 8092 - 8094: »Dieses Buch hat unter großer Mühe der Meister Heinrich, genannt von Neustadt, fertiggestellt«) - , sondern außerdem sein Werk als Dienst an Gott und den Mitmenschen bezeichnet. Als Lohn für diesen Dienst erbittet Heinrich die Fürbitte seiner Leser: Er heizt biden da bi Wer so dugent riche si, Daz er mit gu ᵉ tlichem sitte Fur den selben diehter bitte, Daz Got im ein gutes leben Und ruwe an sinem ende geben, Und helf im in daz werde lant Da von geschriben hat sin hant, Und mache in von den pinen fri. (Von Gottes zukunft, vv. 8102 - 8110) Er fordert dabei jeden, der reich an Tugenden ist, dazu auf, nach guter Sitte für den Dichter zu bitten, dass Gott ihm ein gutes Leben und Ruhe an seinem Lebensende schenken möge, und dass Gott ihm in dieses wunderbare Reich verhelfe, von dem die Hand des Dichters geschrieben hat, und ihn von allem Leid befreie. Die topische Bitte um Fürbitte, die den religiösen Text zum »Mittel der Selbstheiligung« 281 macht, zeigt die Verflechtung von Autor und Text-Ich. Die Sprecher-Rolle ist damit deutlich Heinrich als einem individuellen Autor zugewiesen, dessen Dichten nicht zuletzt ihm selbst zugutekommen soll. Wie in Lydgates Ägidiuslegende ist auch hier die Sprecher-Rolle an einen realweltlichen Autor gebunden, der als Erzählerbzw. Autorrolle im Text präsent ist. Dass Heinrich die Hoheit über den Text behält, zeigt sich in denjenigen Abschnitten, in denen das Erzählen als 280 Vgl. Fludernik: Erzähltheorie (2013), S. 111. 281 Kartschoke: Bibelepik (1984), S. 21. 178 3 Narratologische Annäherungen <?page no="179"?> individueller Handlungsakt charakterisiert wird. So thematisiert auch Heinrich verschiedentlich die eigene Lektüre, die ihm als Grundlage für das eigene Erzählen dient: Die schrift hort ich von dir sagen, Do du keme baz zu tagen, Da pflege du nit der uppikeit, Zu dugenden waz din leben bereit. (Von Gottes zukunft, vv. 2141 - 2144) Ich hörte, wie die Bibel von dir erzählt, dass du, als du älter wurdest, nicht im Überfluss lebtest, sondern dass du zu einem tugendreichen Leben bereit warst. Auch typische Erzählerkommentare wie das strukturierende und aufmerksamkeitssteuernde Ich heben aber an als e (Von Gottes zukunft, v. 2329: »Ich setzte nun aber meine Erzählung dort fort, wo ich sie unterbrochen habe«) oder die Anreden an den Leser sind Äußerungen einer Erzählerfigur, hinter der die Person des Autors durchscheint. Neben dem Phänomen einer aufs engste mit der realen Person des Autors verknüpften Erzähler-Rolle, die das »Postulat einer grundsätzlichen, prinzipiellen Differenz zwischen Autor und Erzählerstimme« 282 infragestellt, lassen sich in Verbindung mit der narrativen Apostrophe auch solche Texte ausfindig machen, in denen das textuell entworfene Szenario nicht an eine Autorenpersona gebunden ist. In ihnen ist die Sprecher-Position neu besetzbar, ohne dass ein Konflikt »mit einer ursprünglichen Sprecher-origo« 283 droht. Dass der Übergang von einem mit dem Autor identifizierbaren Erzähler-Ich und einem »Wiedergebrauchs-ich« ein fließender ist, zeigt sich in der Gestaltung der Ich-Position in Gundackers von Judenburg Christi Hort. Wie Heinrich von Neustadt nennt auch Gundacker sich selbst im paratextuellen Rahmen des Prologs. Anders als Heinrich spricht Gundacker jedoch in der ersten Person Singular von sich, wenn er die Selbstnennung in die Bitte um Inspiration und Seelenheil integriert: unt la mich dir erbarmen, / mich Gundachern vil armen. / von Judenburch pin ich geborn (Christi Hort, vv. 187 - 189: »Erbarme dich meiner, mir, dem überaus armen Gundacker, der ich aus Judenburg stamme«). Wie bei Von Gottes zukunft drängt sich die Frage nach einem Erzählerbzw. Sprecher-Ich vor allem bei der Betrachtung der Passagen auf, die die narrative Apostrophe gebrauchen. Das Prolog-Gebet enthält die von einem › Ich ‹ geäußerte Inspirationsbitte und Selbstnennung und stellt Reflektionen über den verarbeiteten Stoff und die Zielsetzung des Werkes an, bis sie nahtlos in die Erzählung vom Leben Christi übergeht. Übergangslos wechselt die Ich-Aussage dabei in die Erzählhaltung der narrativ gebrauchten Du-Anrede. Das › Ich ‹ des Prologs, das mit Gundacker als realweltlichem Autor weitgehend identisch ist, bestimmt daher prinzipiell auch die Rezeption des › Ichs ‹ der Erzählung, das erstmals in der einleitenden ich man dich-Formel verwendet und zu Beginn der Evangelienharmonie mit dem Autornamen in Verbindung gebracht wird. Einige Schriftberufungen sind hier eingestreut, die sich als Quellenlegitimation des Autors lesen lassen, etwa als ichz von der schrift nim (Christi Hort, v. 464: »wie ich es der Schrift entnehme«). Außerdem thematisieren Einlassungen den Erzählakt und identifizieren die Sprecher-Position als Erzähler-Position, so in der bereits zitierten Passage über Jesu Wunderheilungen: 282 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 77. 283 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 90. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 179 <?page no="180"?> Du hast getan hie zaichen vil, von den ich nîmer sprechen will, want diu rede wurd zelanc; ouch ist m ı ᵉ n sin gar cecranch daz ich ez wol den leuten gar mu ᵉ ge pedeuten; da von muz ich ez lazen unt mich der rede mazen. (Christi Hort, vv. 997 - 1004) Du hast viele Wunder bewirkt, von denen ich hier jedoch nicht weiter sprechen möchte, denn die Erzählung wurde zu lang; außerdem ist mein Geist zu schwach, als dass ich es den Leuten angemessen und vollständig erklären könnte; deshalb muss ich es sein lassen und mich in der Rede mäßigen. Hier spricht ein Erzähler, der seine Auswahl des Erzählstoffes begründet, indem er die unüberschaubare Anzahl von neutestamentlichen Wunderheilungen anspricht. Gleichzeitig verknüpft der Hinweis auf die unzureichenden Geistesgaben das Sprecher-Ich der Erzählung mit dem Autor-Ich, das sich im Prolog ganz ähnlich über seine Unzulänglichkeiten äußerte: Gundacker erklärt im Prolog-Gebet, daz ich pin siech und chranch (Christi Hort, v. 175: »dass ich krank und gebrechlich bin«) und bittet bei der Abfassung seines Werkes um göttlichen Beistand, want ich so wizick nicht enpin / daz ich dich loben chu ᵉ nne (Christi Hort, vv. 244 f.: »denn ich bin nicht so verständig, dass ich dich loben könnte«). Damit ist das Sprecher-Ich der Evangelienharmonie mit dem Erzähler-Ich identisch, das wiederum als Autorrolle Gundackers gelesen werden kann. Diese Vereinnahmung der Sprecher-Position durch Autor und Erzähler ist jedoch nicht absolut. Abgesehen von jener den Erzählakt thematisierenden Passage sind die Aussagen, in denen ein › Ich ‹ sich selbst zur Sprache bringt, offen genug, um den Rezipienten die Identifikation mit diesem › Ich ‹ zu erlauben. Das identifikatorische Potenzial der narrativen Apostrophe wird unterstützt durch die Konstruktion einer christlich motivierten Identität als Sünder. Dazu arbeitet sie mit den gängigen Topoi der Sündenklagen: Dem › Ich ‹ werden Sündenbekenntnisse in den Mund gelegt, die auf mangelnden Glauben und Vertrauen, die allgemein-menschliche Anfälligkeit für fleischliche Sünden oder auf einen Mangel an inneren Tugenden wie Demut oder Gehorsam zurückgehen. Die Ich-Referenz öffnet sich damit für den Rezipienten, der das Sprecher-Pronomen nicht als individuelle Äußerung eines Erzählers deuten muss, sondern aufgrund einer gemeinsamen Sündengeschichte als »Leerstelle« 284 betrachten kann, die er selbst auszufüllen vermag. Noch ausgeprägter ist diese Leerstellenfunktion in denjenigen Du-Erzählungen, die den Text von ihrem Autor abkoppeln. Diese Texte kommen ohne ein Erzähler-Ich aus und besitzen Formularcharakter, dem die Wiedergebrauchssituation inhärent ist. Im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth ist die Einladung an den Rezipienten, die Sprecher-Position zu besetzen, bereits dadurch evident, dass der Autor, der sich in der Vorrede als Kartäusermönch zu erkennen gibt, eine auf seinen Rezipientenkreis zugeschnittene Sprecher- Position konstruiert, die mit dem realweltlichen Textautor nicht identisch sein kann: Die Ich-Position ist weiblich gestaltet, wie die Selbstnennungen ich din armes unwirdiges dirnli (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 6b) oder ich dine[ … ] arme[ … ] dinerin (Gebet 284 Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), S. 105. 180 3 Narratologische Annäherungen <?page no="181"?> vom Leben der Heiligen Elisabeth, 9b) zeigen. Obwohl augenscheinlich › erzählt ‹ wird, fehlen Einlassungen oder Kommentare, die einem Erzähler zugeschrieben werden könnten; anstelle eines Erzähler-Ichs ist hier ein Gebets-Ich gestaltet. Das Fehlen eines Erzähler- Ichs oder eines realweltlichen Autors lässt sich auch im Gebet zum heiligen Christophorus beobachten. Als »textgestützte Vollzugsform« ist dieses völlig auf den erneuten Wiedervollzug ausgerichtet, das im Text vorgeformte Gebet ist ein »Wiederholungsereignis«, 285 ein stets aktualisierbares »Skript für [den] Dialog zwischen Gott und Seele«. 286 Auch Bertholds Zeitglöcklein und das Itinerarium Beatae Virginis Mariae gestalten die Sprecher- Position als »Wiedergebrauchs-ich« und verzichten auf die Inszenierung einer Autorbzw. Erzählerrolle. Ihnen allen ist gemein, dass hier eine spezifisch mittelalterliche, »konträre Form von Textualität« vorliegt, in der die Verschiebung der Ich-Origo die Performanz gegenüber der Lektüre bevorzugt. 287 In der Sprecherkonfiguration der narrativen Apostrophe offenbaren sich die Besonderheiten des mittelalterlichen, zumindest des religiösen Erzählens: Wenn im Text Erzählerrollen entworfen werden, so sind diese nie völlig losgelöst vom Autor. Vor dem Hintergrund, dass (religiöse) Dichtung als Gottesdienst und als christliches Werk am Mitmenschen begriffen wurde, bleibt dieses Verdienst an die Person des Autors geknüpft. Streng genommen wird der Begriff › Erzähler ‹ damit überflüssig, sofern keine ausgestaltete fiktive Figur mit einer eigenen Identität gemeint ist. 288 Da dies in den faktualen religiösen Du-Erzählungen nicht der Fall ist, ist der Begriff › Autorrolle ‹ bzw. › Pose ‹ zu bevorzugen. 289 Daneben existieren Texte - und das scheint für die Du-Erzählung der häufigere Falle zu sein - , die bewusst auf eine feste Autorrolle verzichten und für den Wiedergebrauch bestimmt sind: Als »Wiedergebrauchs-ich« sind diese Sprecher-Positionen dem performativen Vollzug verpflichtet und erfüllen Funktionen, die über die Textwelt hinausgehen. Eine weitere Besonderheit hält das mittelalterliche Erzählen noch in Bezug auf einen weiteren Mitspieler bereit, der eine Relativierung des Autorschaftsbegriffs nahelegt: Ermächtigungsgrund religiöser Texte ist die göttliche auctoritas. › Autoren ‹ wie Heinrich von Neustadt oder Gundacker von Judenburg, wie auch die anonymen Verfasser der Gebets- und Andachtstexte sind demnach keine Autoren im ursprünglichen Sinne. Der »einzig denkbare[ … ] auctor« ist Gott, 290 der als Urheber der Schöpfung auch »Autor aller Texte« 291 ist. Deutlich zeigt sich das anhand der zahlreichen Inspirationsbitten, die vor allem innerhalb der religiösen Epik zum Standardrepertoire gehören. Heinrich von Neustadt beispielsweise stellt sein Werk unter den Schutz Gottes, wenn er anfangs erklärt Ich hebe in Gotes namen an / Ein bu ᵉ ch [ … ] zu dichten (Von Gottes zukunft, v. 37 f.: »In Gottes Namen beginne ich damit, ein Werk zu verfassen«) und kurz darauf (Von Gottes zukunft, vv. 285 Kiening: Freiräume literarischer Theoriebildung (1992), S. 414. 286 Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 126 bzw. 137. 287 Haferland: Minnesang als Posenrhetorik (2004), S. 82. 288 Vgl. Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 79. 289 Glauch: An der Schwelle zur Literatur (2009), S. 96 bzw. Haferland: Minnesang als Posenrhetorik (2004), S. 80. 290 Dass im Mittelalter allein Gott als Schöpfer gedacht werden kann, betont auch Christian Kiening. Er zitiert das Dogma solus creator est deus und verweist auf den auf Augustinus zurückgehenden Gedanken, dass die creatio ex nihilo Gott allein vorbehalten bleibt und dem menschlichen Schaffen damit Grenzen gesetzt sind, vgl. Kiening: Literarische Schöpfung im Mittelalter (2015), S. 8 - 10. 291 Keller: Absonderungen (2000), S. 208. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 181 <?page no="182"?> 77 - 88) Gottes Beistand bei der Abfassung des Werkes erbittet. Damit weisen die Texte gleichsam eine »doppelte[ … ] Autorschaft« 292 auf: Heinrich, Gundacker, aber auch Ldygate, der die Hilfe des Heiligen Ägidius erfleht, stilisieren sich mit Hilfe der »Metapher des durch Gott sprechenden Menschen« als »göttlich sanktionierte[ … ] Autor[en]«. 293 Auch das Geschehen, von dem sie erzählen, ist nicht auf ihr Tun zurückzuführen: Die »Urheberschaft einer jeden Legende [liegt] nicht bei dem Menschen, der sie aufschreibt, umschreibt oder einem neuen Zweck zuführt, sondern bei Gott«. 294 Religiöse Literatur ist somit ein Kooperationswerk, das die göttliche auctoritas mitbedingt, wobei sie zugleich auch auf menschliche Vermittlung angewiesen ist. 295 Die Rolle Gottes wird nicht nur in den Inspirationsbitten, sondern auch auf Handlungsebene immer wieder beschworen. Im Gebet zum heiligen Christophorus ist Gott Katalysator für Heiligkeit. Denn das Konversionserlebnis, das Christophorus erst zum Heiligen macht, gründet auf einer Gotteserfahrung: Darnach erzeigte sich dir got schon: Do du schlieft in diner hüten so liss, do ru ͦ ft er dir in kindes wis. Zwurent er dir verswand, zu ͦ dem driten mal funt du in zehant. Du nemt in uf din arm und tru ᵉ gt in Über als ein kindelin, doch trukt er dich under dez wazzers fluss und do ᵘ fte dich Cristofferus. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 26 - 34) Danach gab sich Gott dir deutlich zu erkennen: Als du in deiner Hütte sanft schliefst, rief er dich in der Art und Weise eines Kindes. Zweimal verschwand er für dich wieder, erst beim dritten Mal trafst du ihn an. Da nahmst du ihn auf deinen Arm und trugst ihn über den Fluss hinüber wie ein Kind; er jedoch tauchte dich unter Wasser und taufte dich auf den Namen Christophorus. Obwohl der Heilige als Gegenüber den discours dominiert, ist es immer noch Gott, auf den diese Dominanz zurückgeführt werden muss. Christophorus ’ Wundertaten sind Produkt göttlichen Wirkens, auch sein Erfolg als Missionar gründet auf dem Wirken des Heiligen Geistes: Der heilig geist begonde dich leren, / das bregetest den gelo ᵘ ben und den namen ünsers herren (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 43 f.: »Der Heilige Geist fing an dich darin zu lehren, den Glauben und den Namen unseres Herrn zu predigen«) bzw. Do schu ͦ f die go ᵉ tliche minne, daz du si machtest gelo ᵘ ben an got (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 60 f.: »Da bewirkte die göttliche Liebe, dass du sie dazu brachtest, an Gott zu glauben«). Selbst die Bitten, die das Sprecher-Ich an den Heiligen richtet, sind Ausdruck der Überzeugung, dass Christophorus seine Fürsprecherrolle nur aufgrund gotes erbarmherzekeit (Gebet zum heiligen Christophorus, v. 112) entfalten kann. Gott ist in den Texten als wirkende Macht präsent und muss daher als ermächtigende Kraft in das Autorkonzept miteinbezogen werden: 292 Unzeitig: Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden (2004), S. 65. 293 Unzeitig: Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden (2004), S. 65. 294 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 116. 295 Vgl. Keller: Absonderungen (2000), S. 205 bzw. Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 117. 182 3 Narratologische Annäherungen <?page no="183"?> Heiligkeit ist ein Werk Gottes, das jedoch den Beitrag des heiligen Menschen einschließt. Die Erinnerung an Heilige als notwendige Grundlage zur Etablierung und Verbreitung ihrer Kulte wiederum setzt die hagiographische Tätigkeit voraus, die sich zwar auf göttliche Inspiration beruft, jedoch vor allem auf den Beitrag des menschlichen Autors angewiesen ist. 296 Insgesamt erweist sich die Ich-Position innerhalb der einzelnen Du-Erzählungen als offen und kann für mehrere Protagonisten der Textkommunikation besetzbar sein: für den realweltlichen Autor in einer Erzähler- oder Autorrolle oder für den Rezipienten, der sich die Ich-Position zu eigen macht. Selbst in ein und demselben Text können die Ich-Rollen verschiedentlich referenzialisiert sein und dabei Wechsel durchlaufen. Unterschiedlich besetzte Ich-Positionen finden sich in weltlichen epischen Texten wie dem Willehalm Wolframs von Eschenbach beobachten: Während hier jedoch die Offenheit auf den Sender der Textkommunikation beschränkt ist, sich also zwischen einem dem realweltlichen Autor entsprechenden Prolog-Ich und einem Erzähler-Ich bewegt, 297 überschreitet die Sprecher- Position der Du-Erzählung die Textgrenzen auch in Richtung Rezipient, der zur Identifikation mit dem Text-Ich eingeladen wird. 3.2.3.2 Wer spricht mit wem? Permeable Kommunikation Das christliche Weltverständnis, das Gott als letzte Autorität hinter dem Text verortet, sowie das spezifisch mittelalterliche Verständnis religiöser Figuren machen es notwendig, das allgemeine Kommunikationsmodell an die Gegebenheiten der Texte anzupassen. In den untersuchten Texten ist die Kommunikationssituation über den Text hinaus erweitert und schließt verschiedene extratextuelle Adressaten mit ein. Der Unterschied zu den modernen Vertretern der Du-Erzählung liegt darin, dass die extratextuelle Kommunikation mit der Ansprache des göttlichen oder heiligen Gegenübers gebunden ist, während die Ansprache des implizierten Rezipienten im modernen Gegenstück offenbleibt. Weitere Komplexität entsteht dadurch, dass sich die Kommunikationsebenen überlagern und zuweilen mehrere Adressaten gleichzeitig angesprochen werden. Zugleich fließen Text- und außertextuelle Welt ineinander. Das komplexe Mit- und Ineinander der verschiedenen Kommunikationsebenen, Sprecher- und Adressaten-Instanzen wird im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth als Beispiel für einen Wiedergebrauchstext und in Gundackers Christi Hort als Beispiel für einen Text mit Erzähler-Ich greifbar. Verhältnismäßig unproblematisch ist die intradiegetische Kommunikation: Auf einer inneren Ebene kommunizieren die Figuren der erzählten Welt miteinander. Diese erzählte Rede der Figuren innerhalb der Diegese kann explizit gestaltet sein und sich der direkten Rede bedienen oder den Kommunikationsakt auch nur als solchen benennen, beispielsweise in der Erzählung von Jesus auf dem Ölberg: du gie aber pitten me / und spræch daz erste gepet als ê (Christi Hort, vv. 1203 f.: »Du machtest dich daran, wieder zu bitten, und sprachst ein Gebet wie zuvor«). Gundacker macht reichlich Gebrauch von der direkten Rede, für die er häufig Zitate aus dem Neuen Testament heranzieht. Das ist etwa der Fall in der Episode hie wart Got in tempel pracht. (Christi Hort, Rubrik vor v. 433): 296 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 115. Hildegard Keller beschreibt dieses Spannungsfeld als »Schwelle zu einer Autorschaft, die immer ein Größerer behalten wird«, Keller: Absonderungen (2000), S. 208. 297 Vgl. Kiening: Reflexion - Narration (1991), S. 120. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 183 <?page no="184"?> Simeon ouch dar cham, ûf die arme er dich nam. Do dich der alt an sach, er lopt dich hohe unt sprach: › du solt mich niht lenger sparen, la dinen chnecht ze gemache varen, want meiniu ougen habent gesehen an dir des waren liechtes brehen, daz durch liuchtichlichen gar erleuchtet alle die werlt fur war. ‹ (Christi Hort, vv. 437 - 446) Simeon kam auch dorthin und nahm dich auf den Arm. Als der Greis dich ansah, pries er dich und sagte: »Du sollst mich nicht länger am Leben halten, lass deinen Knecht zur Ruhe kommen, denn meine Augen haben in dir das Strahlen des wahren Lichts erkannt, dass wahrhaftig die ganze Welt hell erleuchtet.« Eingeleitet wird die Figurenrede Simeons, die eng dem neutestamentlichen Canticum Simeonis folgt, 298 mit einer konventionellen inquit-Formel. Diese berücksichtigt die Anrede an Christus als die kommunikative Ausgangssituation und adressiert den Redebeitrag damit doppelt, einmal als Wiedergabe der ursprünglichen Kommunikation innerhalb der erzählten Welt und zudem verlagert in die Kommunikationssituation der Anrede auf discours-Ebene. Als Adressat der Erzählung tritt auch Jesus innerhalb der Diegese als Sprecher auf. Hier zitiert Gundacker bevorzugt Bibelworte, wie beispielsweise in der Erzählung vom letzten Abendmahl: Du segenst ob dem tische daz prot Daz in dein hant gu ᵉ tlichen pôt: › nemt hin, ditz ist mein lîcham. ‹ Diu spise den dein wol gezam. Da mit segenst du den wein: › hie pi shult ir gehugen mein, ‹ spræch du, › nu trinchet mein plu ᵉ t; als oft ir daz tût, so gehuget mein da pi, daz ich iwer loser sei. ‹ (Christi Hort, vv. 1107 - 1116) Beim Mahl segnetest du das Brot, das deine Hand ihnen [= den Jüngern] gütig darbot: »Nehmt, dies ist mein Leib.« Die Speise war den Deinen angemessen. Mit den folgenden Worten segnetest du den Wein: »Hierbei sollt ihr meiner gedenken«, sagtest du, »nun trinkt mein Blut; jedes Mal, wenn ihr das tut, so sollt ihr dabei meiner gedenken und daran, dass ich euer Erlöser bin.« Die Figurenrede ist hier mit Hilfe von inquit-Formeln klar als solche markiert. Dass der Text eng am Neuen Testament bleibt (Mt 26,17 - 29, Mk 14,12 - 26, Lk 22,14 - 20 bzw. 1 Kor 11,23 - 26), mag mit der didaktischen Absicht des Textes zusammenhängen, dem Rezipienten die Bibel nahezubringen. 298 LK 2,29 - 32: Nunc dimittis servum tuum Domine, secundum verbum tuum in pace: quia viderunt oculi mei salutare tuum, quod parasti ante faciem omnium populorum: lumen ad revelationem gentium, et gloriam plebis tuae Israel (»Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, entsprechend deines Wortes, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel«). 184 3 Narratologische Annäherungen <?page no="185"?> In Christi Hort tritt auch Gottvater als Gesprächsteilnehmer innerhalb der Diegese auf, dessen Redeanteile stets besonders inszeniert werden. Als abstraktes Konzept bleibt Gott gesichtslos und teilt sich über sein Wort mit, wie hier bei der Taufe Jesu: Do toufet dich in dem Jordan Johannes, der viel hailig man; Die himel stu ᵉ den offen ob dir, des vater stimme hort man da schir: › ditz ist mein sun, an dem ich mir pin wol gevallen, dem schult ir horen ‹ , sus der vater sprach. (Christi Hort, vv. 551 - 557) Da taufte dich Johannes, der überaus heilige Mann, im Jordan. Die Himmel öffneten sich über dir und kurz darauf erklang die Stimme des Vaters: »Dies ist mein Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; dem sollt ihr gehorchen.« So sprach der Vater. Die als Stimme inszenierten Gottesworte korrespondieren mit dem Prologgebet der Dichtung, das die Schaffenskraft des göttlichen Wortes thematisiert hatte. 299 Auch im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth wird auf Handlungsebene kommuniziert. Hier ist die direkte Rede jedoch ein Vorrecht der Protagonistin, andere Handlungsträger wie Elisabeths Dienerinnen, ihr Beichtvater Konrad von Marburg oder auch Ludwig von Thüringen übernehmen zwar ebenfalls die Sprecherrolle, ihre Worte werden jedoch nicht als direkte Rede zitiert. Einzig Christus tritt am Ende als weiterer Redner auf, wenn er am Totenbett der Heiligen erscheint: Dor dir selige muter zu dem lesten die ewig glorie in den himmeln gegeben waz und dich uff der erden so vollkommenlich erfullte mit gnode der süsse herre Jesus der hatt dich in dem bett diner kranckheit besehen [ … ] also sprechende kumm du min usserwelte in die wonung die dir von ewikeit bereit ist und nusse immer ewigen glory won du umb minen willen alle ding verschmohet hast. Und dorumb daz du vil armut in allen dinen leben willeklich gelitten hast. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 84 f.) Als dir, selige Mutter, schließlich ewiger Ruhm im Himmel zuteilwurde und der süße Herr Jesus dich noch auf der Erde völlig mit seiner Gnade beschenkte, erschien Jesus an deinem Krankenbett [ … ], auf diese Weise sprechend: »Komm, du meine Auserwählte, in die Wohnstatt, die dir von Ewigkeit bereitet ist und genieße auf immer ewigen Ruhm, denn du hast um meinetwillen alle [irdischen] Dinge verschmäht und außerdem während deines ganzen Lebens freiwillig große Armut gelitten.« Christus erscheint in dieser Rede als Dreh- und Angelpunkt heiligmäßigen Handelns. Als auctor hinter der Heiligkeit Elisabeths ist es nur konsequent, dass auch er als Sprechender inszeniert wird und Elisabeth in ihrer Rolle als Sprechende ergänzt. Die Figurenrede, die Elisabeth in den Mund gelegt wird, übernimmt häufig die Funktion eines Guckkastens in das Innere der Heiligen. Die direkte Rede arbeitet Eigenschaften, die 299 Leitmotivisch steht hier das tihten, das Gott als einen Dichter inszeniert, der die Welt mit Worten formt: Got geschûf unt tichte / elliu dinch von niht, / er hieze mit worten werden / paidiu himel und erden. / Got geschûf an allen orten / elliu dinch mit worten (Christi Hort, vv. 1 - 6: » Gott schuf und brachte alle Dinge aus nichts hervor; mit Worten ließ er sowohl Himmel als auch Erde entstehen. Überall erschuf er mit seinen Worten alle Dinge«). Das Prologgebet greift das Konzept des λόγος auf ( Jh 1,1 - 4), die Engführung von Schöpfungsakt und gestalterischem Akt des Dichters wird außerdem mit dem Psalmzitat dixit et facta sunt (Ps 32,9: »so sprach er und es geschah«) noch weiter gestärkt, vgl. Kiening: Literarische Schöpfung (2015), S. 13. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 185 <?page no="186"?> zuvor nur abstrakt erzählt worden waren, plastisch heraus und löst gleichzeitig etwaige Widersprüche in der Biographie auf. Das ist auch in der Episode der Fall, in der Elisabeth sich einem geistlichen Lehrer unterstellt: Dor noch hest du bi dem leben dins gemahlen gehorsame gelopt in die hend eins gelerten armen und andechtigen priesters des gebeten und ermanung du umb gottes willen vor rechtsamer denn die kind in der schulen und der ruten des meisters in allen dingen aller vollkommenlichest gehorsam gewesen bist. [ … ] Du pflegt öch zu sprechen ich hette gemöcht gehorsame haben geton etlichen grossen bsychoffen oder äpten sunder so hab ich die lieber wellen tun einem armen priester den ich allein umb gottes willen und nit durch kein ander dinge ze förchten hette. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 16 - 18) Noch zu Lebzeiten deines Gemahls hast du einem gelehrten armen und andächtigen Priester Gehorsam gelobt, dessen Gebeten und Ermahnungen du um Gottes willen in allen Dingen noch ausgeprägteren Gehorsam entgegenbrachtest, als es die Kinder in der Schule gegenüber der Rute ihres Lehrers tun. [ … ] Du pflegtest auch das Folgende zu sagen: »Ich hätte mich vielen großen Bischöfen und Äbten zu Gehorsam verpflichten können, aber ich wollte lieber einem armen Priester gehorchen, den ich nur wegen Gott und nicht wegen anderer Dinge fürchten muss.« Ihre Entscheidung, sich einem Kleriker unterzuordnen, führt der Gebetstext auf Elisabeths Gottesliebe zurück. Statt aber den Widerspruch zu thematisieren, der aus dem Statusgefälle zwischen der Landesfürstin und dem einfachen Priester erwächst, verlagert der Text dies in die Figurenrede: Elisabeth selbst nimmt die mögliche Frage des Lesers vorweg und reicht die Motivation für ihre Entscheidung nach. Die Figurenrede wird damit zum Ort, an dem das erzählte Verhalten begründet und genauer beleuchtet wird. Während die Kommunikation auf Ebene der Diegese klar umrissen und von der extratextuellen Kommunikation weitgehend abgekoppelt ist, ist die übergeordnete nicht mehr ohne weiteres von der über den Text hinausgehenden Kommunikation zu unterscheiden. In der Textkommunikation, aber außerhalb der Diegese stehen sich ein Sprecher- Ich und die Figur des angesprochenen Protagonisten gegenüber. Ob dieses Sprecher-Ich einem Erzähler gehört, der so weit mit dem realen Autor konvergiert, dass zwischen Autor und Erzähler nicht unterschieden werden kann, oder ob die Position des › Ich ‹ als Leerstelle konstruiert wurde, die der jeweilige Rezipient immer wieder neu besetzen kann, ist irrelevant. Auf Textebene spricht ein › Ich ‹ , das die Erzählung einleitet und dafür die ich man dich-Formel gebraucht: In Christi Hort wird diese bei jeder Episode immer wiederholt, im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth genügt die anfängliche Formel ich din armes unwirdiges dirnli beruff dir wider in die gedechtnisse (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 6 f.: »Ich deine arme unwürdige Dienerin rufe dir ins Gedächtnis«) auch als Einleitung für spätere Abschnitte. Aufs engste verknüpft ist diese Kommunikationsebene mit einer weiteren Ebene, die den Rahmen des Textes sprengt und eine Kommunikation initiiert, die einem › realen ‹ Dialog mit dem Göttlichen gleichkommt. Besonders deutlich wird das in den gebetshaften Bitten, die an die einzelnen Episoden sowohl in Christi Hort als auch im Elisabethgebet angefügt sind: In ihnen wendet sich der Autor, der die Ich-Position mit dem Leser teilt, oder der Rezipient selbst an das göttliche Gegenüber. Die Kommunikation überschreitet den Text und wird zum »Gespräch mit einer göttlichen, d. h. übertextlichen und übermenschlichen Ebene« 300 transformiert. Die Bitten des › Ich ‹ entkoppeln den Dialog mit dem Trans- 300 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 114. 186 3 Narratologische Annäherungen <?page no="187"?> zendenten vom Text und verlagern ihn in einen Raum, der nicht zeitlich fixiert, sondern immer wieder im Hier und Jetzt der jeweiligen Rezeptionssituation aktualisierbar ist. Diese Überzeitlichkeit spiegelt sich textuell in der Verwendung von »Vollzugsformeln«, die einen »performativen Gegenwartsbezug« 301 herstellen und die Heilsdimension des erzählten Geschehens unterstreichen: su ᵉ zer herre, nu enphahe ouch mich ze ainem junger, daz ouch ich dir immer gehorsam unt dinem wu ᵉ nnechlichen nam stête immer gehudge trage unt mich der werld gar entzage. (Christi Hort, vv. 647 - 652) Süßer Herr, nun nimm auch mich als deinen Jünger an, damit auch ich dir immer Gehorsam leiste und ich stets deines heilsspendenden Namens gedenke und der Welt ganz und gar entsage. Sowohl im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth als auch in Christi Hort leiten die Deiktika nun bzw. nu die jeweilige Bitte ein. Begründet werden diese durch Verweise auf das Narrativ, die die heilsgeschichtlich relevante Vergangenheit mit der Gegenwart des Rezipienten verklammern. So knüpft das Sprecher-Ich im obigen Beispiel an die Erwählung der Jünger an; mit dem Wunsch, zum Jünger Jesu zu werden, bittet es um eine Wiederholung der Heilsgeschichte. Doch nicht nur zwischen dem angesprochenen Heiligen und dem auch über den Text hinaus mit dem Gegenüber in Kontakt tretenden Rezipienten (oder Autor) findet eine Kommunikation statt, die den Rahmen des Textes durchbricht. Vielmehr lassen auch die Du-Erzählungen eine Autor-Leser-Kommunikation beobachten, mit der der Verfasser auf seinen Rezipienten einwirken will. In Passagen wie der Vorrede des Elisabethgebets meldet sich der Autor zu Wort und enthüllt die mit seinem Werk verbundenen, katechetischen Zielsetzungen: Er möchte mit seinem Gebet der Rezipientin ein Beispiel für ein tugendhaftes, gottgefälliges Leben an die Hand geben, zur moralischen Besserung anleiten und einen Heilsweg aufzeigen. Eng damit verbunden sind auch die Versuche, über die Erzählung eine christliche Identität zu beschwören und die christliche Glaubensgemeinschaft zu stärken. In die Kommunikation zwischen Autor und Leser ist also die Aufgabe der »Selbstkonstitution« 302 verlagert; die Lektüre soll »formend auf Selbstwahrnehmung, Verhalten und Identität der Lesenden« 303 wirken. Eine wichtige Rolle in Christi Hort spielen die zahlreichen Berufungen auf die Bibel als gemeinsame Quelle, die den Grundstein der christlichen Theologie und ihrer Werte legt. Formulierungen wie als uns diu schrift urchunde gît (Christi Hort, v. 498: »wie uns die Schrift bezeugt«) oder uns tût chunt / diu schrift (Christi Hort, vv. 1210 f.: »uns offenbart die Schrift«) zeugen vom Wissen um die Normativität des Evangelientexts. 304 Noch deutlicher wird der Versuch, eine christliche Kommunikationsgemeinschaft zu inszenieren, in Passagen wie der folgenden: durch unsern val cho ᵉ m du her nider, (daz du uns da von lostes wider), 301 Hammer: Inszenierung und Vergegenwärtigung (2013), S. 353. 302 Becker: Poetik der wehselrede (2009), S. 237. 303 Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 126. 304 Vgl. Irsigler: Erzählen in biblischer Literatur (2015), S. 29. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 187 <?page no="188"?> den uns oûf pracht Adam mit seiner ungehorsam; daran uns allen mislanc. des valles der erst val uns twanc da von der flûch ouf uns gelac. diu minne des fluches uns gewac, des schul wir lob der minne sagen daz si uns des hat uber tragen. (Christi Hort, vv. 259 - 268) Wegen unseres Sündenfalls kamst du auf die Erde herab, (damit du uns von diesem erlöst), den Sündenfall, den Adam mit seinem Ungehorsam auf uns zog; deshalb war es um uns schlecht bestellt. Der erste Sündenfall zwang uns die Erbsünde auf, seit ihm lag der Fluch auf uns. Die [göttliche] Liebe hat uns davon befreit, deshalb sind wir ihr zu Dank verpflichtet, dass sie das für uns getan hat. Der Sündenfall wird hier als Ereignis beschworen, das bis in die Gegenwart des Rezipienten Auswirkungen hat: Sie bedingt die Sündhaftigkeit des Menschen und ist Grund für das Heilswirken Gottes, das die Menschheit zu einer Gemeinschaft zusammenschließt. Dass die Sprecher-Position auf ein › Wir ‹ ausgeweitet wird, 305 das › Ich ‹ sich also im Appell an die Gesamtheit der Christen (uns allen) in eine übergreifende Gemeinschaft einbindet, ist Zeichen der textüberschreitenden Kommunikation. Weitere implizite Ansprachen an den Rezipienten stellen auch die zahlreichen Appelle und Hinweise auf die richtige Andachtshaltung dar. Stark ausgeprägt ist ein solcher Appell etwa im Christophorusgebet, das mit seiner Schlussklammer (vv. 104 - 112) nicht nur den Heiligen anspricht, sondern indirekt auch den Gläubigen zum andächtigen Anrufen des Heiligen auffordert: Die in die Wirkmacht und Hilfe des Heiligen vertrauende Aussage, jeder, der Christophorus um Hilfe bittet und dabei die rechte Andacht an den Tag legt, würde sofort den Beistand des Heiligen erfahren, nimmt nicht nur den Heiligen in die Pflicht, sondern kommt einer Aufforderung an den Rezipienten gleich. 306 1. Figur Figur(en) 2. Ich 3. Erzähler/ Autor 4. Leser Adressat(enkreis) Gott/ Heiliger Intratextuelle Kommunikation Extratextuelle Kommunikation Abb. 6: Modell der exophorischen Kommunikation 305 Zur Narratologie von › Wir ‹ -Erzählungen siehe Fludernik: The Category of › Person ‹ in Fiction (2011). 306 Diese Passage wird auch im Zusammenhang mit der Frage nach dem performativen Potenzial der Du- Erzählung nochmals betrachtet werden, vgl. Kapitel 3.2.3.3. 188 3 Narratologische Annäherungen <?page no="189"?> In den Texten lassen sich also vier Ebenen der Kommunikation ausmachen, die durchlässig sind und sich gegenseitig überlagern (Abb. 6): Auf Ebene der Handlung, das heißt in der intratextuellen Kommunikation, treten die Figuren der Erzählung miteinander in ein Gespräch. Auf einer übergeordneten zweiten Ebene kommuniziert das Sprecher-Ich, das nicht oder nur bedingt Teil der erzählten Welt ist. Mit dem Heiligen bzw. mit Gott adressiert es ein Gegenüber und erzählt dessen Geschichte. Unabhängig von der Ausgestaltung der Sprecher-Position als Autorrolle oder als »Wiedergebrauchs-ich«, das vom Rezipienten vereinnahmt wird, durchbricht diese Kommunikation die Grenzen des Texts: Die Anrede an den Heiligen bzw. an Gott ist nicht nur auf den Text beschränkt, sondern stellt gleichzeitig eine extratextuelle Kommunikation auf der »übertextliche[n] und überweltliche[n] Ebene des christlichen Kosmos« 307 dar. Daneben lässt sich eine weitere extratextuelle Ebene beobachten, die den Text nicht nur als Botschaft an eine Figur aus der Heilsgeschichte, sondern als Versuch der Kommunikation eines Autors mit seinen menschlichen Adressaten begreift. Obwohl die Kommunikationsebenen durch die Verwendung der Du-Anrede, die den Leser stärker in den Text involviert, besonders permeabel sind, besitzen diese Beobachtungen auch für andere Textsorten Geltung. So hat Eva von Contzen bereits für Heiligenviten eine vergleichbare, auf Permeabilität hin ausgerichtete Kommunikationssituation aufgezeigt. Eine solche scheint charakteristisch für die religiöse Literatur des Mittelalters: Indem sie sich nicht nur an ein Publikum, sondern auch an Gott als außertextuelles Gegenüber wendet, ist die religiöse Literatur »exophorisch, d. h. sie weist über den Referenzrahmen des Textes hinaus«. 308 Der Grund für diese Durchlässigkeit ist der andere Weltentwurf und der faktuale Geltungsanspruch, der moderne Leser befremdet: Zugrunde liegt hier vor allem die theologische Vorstellung eines »im Hintergrund [ … ] stets präsent[en]« Gottes. 309 3.2.3.3 Handeln durch Sprache - das performative Potenzial der narrativen Apostrophe Vor dem Hintergrund einer textüberschreitenden Kommunikation gewinnt Sprache eine wirklichkeitsbeeinflussende Kraft. Was für religiöse Rede im Allgemeinen gilt, gilt für Texte, die sich der narrativen Apostrophe bedienen, im Besonderen: Sie fungieren als Aussage und als Sprachhandlung zugleich, weisen also eine »performativ-propositionale Doppelstruktur« 310 auf, wobei das Performative überwiegt. 311 Im Fall der Du-Erzählung ist das durch die Nähe zum Gebet bedingt, wobei das Gelingen der Textkommunikation von 307 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 126. 308 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 125. 309 Contzen: Heiligkeit als narratives Konstrukt (2014), S. 126. 310 Arens: Religiöse Sprache und Rede von Gott (2009), S. 43. 311 Der Begriff › Performativität ‹ ist mehrdeutig: Zum einen kann er sich auf die Aufführungssituation beziehen (»performance of a narrative, i. e. [ … ] its fully embodied, live enactment in front of an audience in a real world context or on stage«), zum anderen kann er sich auf die textuelle Illusion einer Aufführungssituation beziehen (»the illusion of a performance created in non-corporeal presentations if a narrative«), Berns: Performativity (2014). Im Kontext der Sprechakttheorie meint der Performativitäts-Begriff einen sprachlichen Handlungsmodus, vgl. ebd. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 189 <?page no="190"?> einem spezifischen Referenzrahmen christlicher Glaubensaussagen abhängt. 312 Performative oder auch illokutionäre Akte, wie John Austin und John Searle sie im Rahmen ihrer Sprechakttheorien beschreiben, zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Distanz von Sprache und Wirklichkeit aufheben: Handeln erfolgt auch und nicht zuletzt durch Sprache; in Form von Sprechakten wird Wirklichkeit konstituiert und verändert. 313 Der Illokutionsakt meint also »das Vollziehen einer Handlung mit Hilfe einer sprachlichen Äußerung«, 314 die Illokution die »systematische Zweckhaftigkeit des sprachlichen Handelns«. 315 Mit ihrem hybriden Charakter zwischen mündlicher Tradition und Schriftkultur neigt die mittelalterliche Literatur ohnehin zur Performativität. Ihre Texte besitzen von Haus aus einen mehr oder weniger offensichtlichen Vollzugscharakter, 316 der in den religiösen Texten in gesteigerter Form greifbar wird. Für mittelalterliche Texte, ungeachtet ihres Kontexts, haben Cornelia Herberichs und Christian Kiening eine »Ästhetik des Performativen« 317 entworfen. Sie gründet auf Strategien, mit denen die Texte versuchen, »über sich selbst hinaus Wirksamkeit [zu] erlangen«. 318 Auf diese Weise werden Texte zu dynamischen Entitäten mit besonderer »Vollzugsdimension«. 319 Durch die Modellierung ebensolcher Text-Vollzüge können sie zugleich ihre Wirkungsmöglichkeit ausstellen, reflektieren und sich damit Geltung verschaffen. 320 Für Herberichs und Kiening ist Sprachhandeln ein wesentlicher Bestandteil von Performativität. Drei Aspekte bewirken das sogenannte »performative Potenzial« 321 eines Textes. Gemäß dem Schlagwort »Sagen als Tun« müssen literarische Texte demnach ihre Evidenz immer erst in und durch sich selbst konstituieren. Modell hierfür bietet das theologische Konzept des λόγος , die Wirkmacht des göttlichen Wortes, die sich in Texten niederschlägt, diese ontologisiert und sie zu »Verkörperungen und Realisationen heilsgeschichtlicher Faktizität« 322 macht. Essenziell ist außerdem die Wiederholbarkeit eines Textes, die es erlaubt, an Vergangenes anzuschließen, Handlungsakte zu begründen und Gegebenes jeweils aufs Neue zu vollziehen. Zuletzt betonen Herberichs und Kiening die Bedeutung von Rahmungen, die überhaupt erst eine »Eigengeltung« 323 und damit ein Sprachhandeln möglich machen. Warum aber ist die Du- Erzählung hochgradig performativ? Wie drückt sich das performative Potenzial der Du- Erzählungen aus und welche Sprachhandlungen werden in den untersuchten Texten vollzogen? 312 Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 93 bzw. 108. Nach Schulte besitzen »[r]eligiöse Performative [ … ] einen Referenzrahmen von Glaubensaussagen, in den sie hineingehören und der ihr Verständnis ermöglicht«, ebd., S. 112. 313 Vgl. Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 34. 314 Kirchner/ Hoffmeister/ Regenbogen: Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1998), s. v. »illokutionärer Akt«, S. 307. 315 Ehlich: Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation (1994), S. 25. 316 Hans Rudolf Velten charakterisiert diesen kulturellen Rahmen folgendermaßen: Kultur wird verstanden »als Handlung, als dynamische[r] Prozess[ … ], in dessen Rahmen kulturelle Ereignisse, aber auch Texte sich zunächst aus ihrem Vollzug, ihrer Konstituierung verstehen lassen«, Velten: Performativität (2002), S. 221. 317 Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 9. 318 Haeseli: Sprachmagische Texte (2008), S. 65. 319 Vgl. Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 11. 320 Vgl. Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 11. 321 Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 11. 322 Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 17. 323 Vgl. Herberichs/ Kiening: Einleitung (2008), S. 13 - 19. 190 3 Narratologische Annäherungen <?page no="191"?> Das Christophorusgebet besitzt eine Rahmung aus den typischen Gebetselementen invocatio und peroratio. Die invocatio, die Anrufung, mit der das Gebet eröffnet wird, fungiert als Epiklese, also als Beschwörung des Heiligen: O Cristoffere, gottes martere herre, mit lob ich dinen nam rere, / den dir got selber het gegeben (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 1 - 3: »Oh Christophorus, der du ein Blutzeuge Gottes bist, indem ich dich preise, ehre ich deinen Namen, den Gott selbst dir verliehen hat«). Unter Verwendung eines Ehrentitels und indem sich der Sprecher einer transzendenten Macht beugt, wird der Heilige beschworen. 324 In der illokutionären Teilhandlung der Akklamation 325 nennt der Sprecher den Heiligen beim Namen und eröffnet so eine Kommunikationssituation, die eine Beziehung mit dem Angesprochenen stiftet. 326 Die peroratio, die eigentliche Bitte, beschließt das Gebet: O Cristofere, herre, durch diner heiligen marter ere bit got, daz wir uff dieser erden keines unrechtes todes niemer funden werden. Amen. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 113 - 117) Oh Christophorus, oh Herr, wegen des Ruhms deines heiligen Martyriums bitte bei Gott für uns, dass wir auf der Erde niemals einen ungerechten Tod erleiden. Auch die peroratio bekräftigt die Kommunikation mit einer Anrede. Die Bitte an Christophorus nimmt Bezug auf die im Gebet erzählte Vita, kraft derer der Heilige überhaupt erst zum Fürsprecher werden konnte. 327 Die gleichen Rahmungen finden sich auch in anderen Gebetstexten, beispielsweise im Elisabethgebet, wo Anrufung und Bitte die Eckpfeiler der Gesprächssituation entwerfen. Selbst in epischen Texten wie Christi Hort sind Klammern gesetzt, die die Gebetsstruktur von invocatio und peroratio gebrauchen. Die Rahmung ist »phatische Rede«, die eine hauptsächlich soziale Funktion erfüllt, in diesem Fall die Beziehung stiftet. 328 Die Schlussklammer des Rahmens wird im Christophorusgebet um eine Passage ergänzt, in der die Geltungsbedingungen des Gebets entworfen werden: Wer in dinem namen anru ᵉ fent ist Und din lop will eren und meren, dem du ͦ st du sin leit den tag verkeren. Weles tages ein mo ᵉ nsch din bilde Eret und sich mit andacht darzu ͦ keret Und es eret durch dinen willen, 324 Vgl. Heiler: Erscheinungsformen und Wesen des Religiösen (1961), S. 317. 325 Vgl. Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 105. 326 Arens: Religiöse Sprache und Rede von Gott (2009), S. 52. 327 Die Bitte um Fürsprache bei Gott ist von einem streng textlinguistischen Standpunkt aus betrachtet ein perlokutionärer Akt, der eine Wirkung erzielen will, die nicht deckungsgleich mit der des illokutionären Akts ist. 328 Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960), S. 88 f. Der Begriff geht auf Bronislaw Malinowski zurück, der phatische Kommunikation als Form der Rede betrachtet, »in which ties of union are created by a mere exchange of words«, Malinowski: The Problem of Meaning in Primitive Languages (1923), S. 315. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 191 <?page no="192"?> den wilt du gestillen den tag sin not und sin hertzleit, daz hast du erworben um gotes erbarmherzekeit. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 104 - 112) Wer in deinem Namen betet und deinen Preis ehren und mehren möchte, dem wendest du noch am gleichen Tag sein Leid zum Besseren. Wann auch immer ein Mensch dein Bild ehrt und sich ihm mit Andacht zuwendet und ihm in Gedenken an dich Ehre erweist, dem willst du sogleich seine Not und seinen Kummer lindern; das hast du durch Gottes Barmherzigkeit erreicht. Indem das Gebet die Wirkungsbedingungen der Bitte reflektiert, bereitet es diese vor und bekräftigt sie zugleich. Dazu wird die Erfahrung eines erfolgreichen Gebetes narrativiert, die wiederum dem Sprecher-Ich in den Mund gelegt wird. Im Rahmen einer »wenn … , dann … «-Struktur 329 wird der Heilige auf seine Hilfeleistung verpflichtet, die an die antike Vorstellung des do, ut des anschließt und einen »berechenbaren Austausch« 330 darstellt. Indem die Reaktion des Heiligen auf an ihn gerichtete Gebete und Andachten geschildert wird, wird sie zugleich auch beschworen. Betont wird hier die Unmittelbarkeit dieses › Austauschs ‹ und die temporal-kausale Korrelation zwischen Gebet und Gebetserfüllung. Auch der Gläubige wird in dieser Passage auf ein bestimmtes Verhalten eingeschworen, denn das Gebet ist nur dann wirksam, wenn es mit der entsprechenden Geisteshaltung gesprochen wird: Für diese aufrichtige Haltung, die die äußere Form des Gebets begleiten, steht hier verkürzt die Leitvokabel der andacht. 331 Damit ist dem Gebet die eigene »Möglichkeitsbedingung« eingeschrieben, es bewegt sich »zwischen einer Sprechhaltung, die die Erfüllung des Anliegens von einer fremden Zusprache abhängig macht, und einer, die sich durch eigene Wortmacht selbst bewirken möchte«. 332 Diese Passage spielt auch im Zusammenhang mit dem zweiten Konstituens für Performativität, der Wiederholbarkeit, eine Rolle. Die konditionale Struktur, mit der die Gebetserfüllung und ihre Bedingungen verklausuliert werden, entkoppelt die Bitte von einem fixierten Zeitpunkt und macht sie wiederholbar. Auch die offene Gestaltung der Sprecher-Position als »Wiedergebrauchs-ich« ermöglicht ein Zeit- und Sprecher-unabhängiges Sprachhandeln, das im Medium der Schrift fixiert ist. Denn als »Verdauerungsform sprachlichen Handelns« 333 stellt der Gebetstext ein »Muster für den je neuen Vollzug der Illokution« 334 bereit; die Deiktika erlauben es, den Text »je neu mit situativer Präsenz zu füllen«. 335 Die auf Wiedervollzug ausgerichtete Gestaltung des Textes bewirkt eine Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart, von Heilsgeschichte und individueller Biographie des Rezipienten: Sie zielt darauf, die »Grenzen zwischen historischem Heilsgeschehen und der Gegenwart › fließend ‹ werden zu lassen und aufzuheben«. 336 Essenziell dafür ist die in den Gebetstext eingelassene »Analogieerzählung«, die ein »Scharnier« zwischen Text und 329 Bernd Hamm beobachtet, dass Gebetsbitten häufig eine »latente Vertragsstruktur« aufweisen, die er unter dem Begriff der »Zweiseitigkeitsformel« fasst, Hamm: Die Medialität der nahen Gnade (2009), S. 46. 330 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade (2009), S. 46. 331 Vgl. Thali: andacht und betrachtung (2012), S. 227. 332 Kiening: Gebete und Benediktionen von Muri (2008), S. 115. 333 Ehlich: Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation (1994), S. 25. 334 Haeseli: Sprachmagische Texte (2008), S. 72. 335 Haeseli: Sprachmagische Texte (2008), S. 72. 336 Thali: Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen Frömmigkeitskultur (2010), S. 445. 192 3 Narratologische Annäherungen <?page no="193"?> Wirklichkeit bildet. 337 Während die Verschränkung einer aktuellen Situation mit dem mythischen Rahmen der Heilsgeschichte im Christophorusgebet eher eine implizite Analogie aufweist, da allein in der peroratio Aussagen über die aktuelle Situation getroffen werden, tritt die Analogie im Elisabethgebet deutlich zutage: 338 Unter der Rubrik Von der ab brechung irs eigenen willen erzählt das Gebet von Elisabeths selbstgewählter Unterordnung unter geistliche Führung, um anschließend die Heilige als Vorbild für die Lebensweise der Rezipientin zu beschwören: Durch söliche diner grosser gnod willen erwirb mir du nun aller geistlichste fröwe Elysabeth rechte gehorsame gegen minen oberen und volkommene vertilckung eigens willens demut des gemütes und libes und in der stroffung der streich und der wort umb min manigvaltige gebresten ein underwerffung. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 18) Aufgrund solcher Gnade, die dir reichlich zuteilwurde, erwirb du mir nun, du allergeistlichste Herrin Elisabeth, rechten Gehorsam gegenüber denjenigen, die höher stehen als ich, und die vollständige Überwindung meines eigenen Willens, erwirb mir die Bescheidenheit des Geistes und des Leibes und Unterwerfung bei der Strafe durch Schläge und Tadel wegen meiner vielfältigen Laster. Analogie entsteht dadurch, dass Elisabeth als ein Ideal gezeichnet wird, das die Rezipientin noch lange nicht erreicht hat. Dass die Bitte die Formulierungen, die für die Beschreibung der Heiligen gebraucht wurden, wiederholt, trägt dazu bei, Heilige und Rezipientin stärker aufeinander zu beziehen: So ist sowohl in Bezug auf Elisabeths Verhalten als auch auf die erbetene Verhaltensänderung der Leserin die Rede von der vertilckung eigens willens (15/ 18). Auch die Schlüsselbegriffe gehorsam (15/ 18) und demut (17/ 18) werden wiederholt und evozieren die Aktualität des eigentlich vergangenen Geschehens. Die Einbindung der Erzählung in einen sakralen bzw. (para)rituellen Kontext leitet einen Sinnbildungsprozess ein, der das performative Potenzial des Gebets auf Rezipientenseite zu aktivieren sucht. 339 In den Andachtstexten wird die Analogie sogar noch metabzw. paratextuell durch Rubriken angezeigt: Im Zeitglöcklein beispielsweise erfolgt im Anschluss an die Erzählung eine Auslegung, die in der Vorrede als die frucht vnd der nutz / ſ o dem men ſ chen vß yeglicher ſ tund nachvolget (Zeitglöcklein, fol. 4b: »die Frucht und der Nutzen, der dem Menschen aus jedem Abschnitt erwächst«) angekündigt wurde und die das Erzählte auf seine Auswirkungen auf den Rezipienten hin abklopft. Der narrativen Apostrophe wohnt insgesamt ein performatives Potenzial inne, das die Texte zu »Medien der Kontaktaufnahme« bzw. der »Heilsvermittlung« macht, »mit de[r]en Hilfe der Mensch in ein Zwiegespräch mit Gott zu treten sucht«. 340 Die »Ich-Beteiligung« der »self-involving language«, die ein wesentliches Charakteristikum religiöser Rede im Allgemeinen ist, 341 macht den Sprechenden zum Handelnden. Ziel dieses Sprachhandelns ist es nicht nur, das göttliche Gegenüber zum Handeln zu bewegen und dadurch eine 337 Haeseli: Sprachmagische Texte (2008), S. 71. 338 Haeseli: Sprachmagische Texte (2008), S. 72. 339 Vgl. Kiening: Arbeit am Absolutismus des Mythos (2004), S. 37. 340 Thali: Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen Frömmigkeitskultur (2010), S. 430 bzw. S. 440 - 445. 341 Vgl. Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 46. Siehe dazu Kapitel 1.4.2. 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 193 <?page no="194"?> Veränderung der Wirklichkeit durch Sprache in Gang zu setzen, sondern auch sich selbst in einen religiösen Kontext einzubinden und auf diesen zu verpflichten. 342 3.2.4 (Basis-)Parameter der Erzählung: die Gestaltung von Raum und Zeit Die Gestaltung von Raum und Zeit gilt für nahezu alle Arten von Erzählungen als »konstitutive[r] Bestandteile der erzählten Welt«. 343 Auch in den hier untersuchten Texten finden sich selbstverständlich Repräsentationen von Raum und Zeit: Welche Tendenzen lassen sich hier im Zusammenhang mit der narrativen Apostrophe beobachten? Auf den ersten Blick fällt auf, dass Zeit und Raum keineswegs die dominierenden Größen der Erzählung sind. Dies gilt für die Ebene des discours, vor allem aber für die des Erzählten. Angaben über Schauplätze sind, wenn sie überhaupt gemacht werden, vage und beschränken sich meist auf allgemeine Ortsangaben. In der Verkündigungsszene in Christi Hort wird beispielsweise nur erwähnt, dass Gabriel Maria vorfindet. Abgesehen von dieser Grobverortung des Geschehens fehlen aber weitere Hinweise auf das räumliche Umfeld, die Gottesmutter sitzt geradezu im raumzeitlichen Nichts: der engel des du ᵉ niht enliez, / da er die magt sitzen sach, / er gie zu ir in unt sprach (Christi Hort, vv. 278 - 280: »Der Engel kam dem [= Gottes Auftrag, Maria die Geburt Jesu anzukündigen] nach. Als er sie dort sitzen sah, ging er zu ihr hin und redete sie an«). Was hier außerdem beobachtet werden kann, ist eine Bewegung durch den Raum zu der im Augenblick fokussierten Person, die für den Moment in den Mittelpunkt der Erzählung rückt: Maria ist der Fluchtpunkt für die Bewegungen des Engels. Diese Strategie findet sich auch in anderen Episoden. In der Erzählung von den drei Weisen aus dem Morgenland wird ebenfalls nur eine grobe Verortung des Geschehens vorgenommen - die drei Könige sind auf dem Weg zeJerusalem (Christi Hort, v. 407) - , ansonsten bleibt das Geschehen auch hier unbestimmt. Wichtiger als eine genaue räumliche Beschreibung ist abermals die Bewegung durch den Raum und, mehr noch, der Zielpunkt dieser Bewegung, Christus. Ähnliches lässt sich auch im Christophorusgebet beobachten, das lediglich einen Ortsnamen enthält, der Christophorus ’ Herkunft benennt: Von Kananea were du geborn eben (Gebet zum heiligen Christophorus, v. 4: »Du stammst aus Kanaan«). Obgleich der Text deutlich macht, dass Christophorus ’ Leben nicht in engen räumlichen Kreisen verläuft, sind Hinweise auf den Raum nur sparsam gesetzt. Es überwiegen relative Ortsangaben wie beispielsweise das Ufer eines ungenannten Flusses und eine nahegelegene Hütte oder das Gefängnis eines namentlich nicht genannten Königs. Abermals sind es die Bewegungen, die den erzählten Raum konstituieren: In konzentrischen Kreisen macht sich Christophorus auf die Suche nach dem mächtigsten Herrn, in dessen Dienste er treten kann, bis er schließlich zu Gott findet: Zu ͦ hant liest du die welt [ … ] / und dientest do got volleist (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 20 - 22: »Auf der Stelle entsagtest du der Welt und dientest Gott allein«). Selbst im Elisabethgebet, das dem zeitgenössischen Rezipienten eine historische Figur der jüngeren Vergangenheit präsentiert, sind nur wenige konkrete Angaben zur Verortung der Erzählung zu finden: Dass Elisabeth aus dem Königsgeschlecht von Ungarn stammte und 342 Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 92: »Es ist ihm nicht möglich, von Gott zu sprechen, ohne zugleich zu sagen, daß er selber sich zu diesem Gott bekennt«. 343 Martínez/ Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie (2012), S. 151. 194 3 Narratologische Annäherungen <?page no="195"?> später die Frau des Landgrafen von Thüringen wurde, muss ausreichen, um Ungarn und Thüringen als Schauplatz für das Leben der Heiligen zu benennen. Die räumliche Gestaltung der Handlung erfolgt nahezu ausschließlich über Raumrelationen, ergänzt durch eine Reihe allgemein gehaltener absoluter Ortsangaben, die den Hintergrundraum, das allgemeine Setting, bestimmen. Auf Ebene des discours rückt die räumliche Gestaltung noch stärker in den Hintergrund. Im Christophorusgebet beispielsweise ist die einzige räumliche Angabe eine metaphorische, der Hinweis auf die geschrift des Ambrosius (Gebet zum heiligen Christophorus, v. 95). Das Buch wird zum Ort, von dem das Wissen des Sprecher-Ichs stammt und der legitimierend wirkt. Gleichzeitig evoziert der Hinweis auf das Werk des Kirchenvaters die weitere kirchliche Tradition, die als zugrundeliegender Wissens › raum ‹ transloziert und aktualisiert wird. Auch in Christi Hort gibt es keine klaren räumlichen Verortungen auf der discours- Ebene. Stattdessen werden jedoch eine Reihe abstrakter räumlicher Begriffe eingesetzt, die eine starke Semantisierung aufweisen: Immer wieder kommt in den Gebetsbitten die werlt vor, die als Sinnbild für die Versuchung steht. Von dieser gilt es sich in einer Bewegung durch den metaphorischen Raum zu lösen. Zielpunkt ist auch hier Christus: nu hilf, helferiche, / daz ouch ich gewaltichliche / der werlt, dem tivel an gesig (Christi Hort, vv. 613 - 615: »Nun hilf mir, du Hilfreicher, damit auch ich die Welt und den Teufel überwinde«). Die damit beschworene Raumrelation ist die Dichotomie von Gottesnähe und Gottesferne, wie etwa in der Episode von der Menschwerdung: nu behu ᵉ t mich, lieber herre mein, / [ … ] daz mich meins bro ᵉ den flaisches gîr, / herre mein, nicht verre dir. (Christi Hort, vv. 329 - 333: »Nun behüte mich, mein lieber Herr, damit mich nicht die Triebe meines schwachen Fleisches, von dir, mein Herr, entfernen«). Die räumlichen Kategorien sind damit metaphysisch zu verstehen und zielen auf die erhoffte Annäherung an Christus. Auch bei der Gestaltung des zeitlichen Settings hält die narrative Apostrophe einige Besonderheiten bereit. Statt der konkreten zeitlichen Einordnung gibt es auch hier nur relative temporale Marker - selbst im Elisabethgebet, das immerhin eine historische Person beschreibt. Als Maßstab dieser relationalen Zeitangaben fungiert das angesprochene Gegenüber. In Christi Hort beispielsweise werden die wenigen Ereignisse, die eine Zeitangabe enthalten, in die linear voranschreitende Biographie Christi eingeordnet: Die Beschneidung beispielsweise findet am achten tage nach Christi Geburt statt (Christi Hort, v. 370), die Taufe im Alter von dreißig Jahren (Christi Hort, vv. 543 - 545). Daneben existieren relationale Angaben, die auf die providentia anspielen, beispielsweise wenn es kurz vor der Passion heißt: do dir chom diu cît (als uns diu schrift urchunde gît) daz du die marter soldest leiden als du woldest. (Christi Hort, 1153 - 1156) Da kam für dich die Zeit - wie es uns die Schrift bezeugt - , dass du die Passion erleiden solltest, wie du es selbst wolltest. Was sich schon bei der räumlichen Gestaltung gezeigt hat, gilt auch für die zeitliche: Referenzpunkt ist stets der angesprochene Protagonist, der die Erzählung nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich dominiert. Eine grobe zeitliche Verortung genügt auch im Christophorusgebet: Der einzige temporale Marker steckt indirekt in der Herkunfts- 3.2 Alteritäres Erzählen: Erkenntnisfeld für eine historisch arbeitende Narratologie 195 <?page no="196"?> angabe Von Kananea, die an das biblische Kanaan anknüpft und den Heiligen in die Heilsgeschichte eingliedert. Daneben finden sich eine Reihe temporaler, relativer Deiktika, die den chronologischen Fortgang jeweils in Abhängigkeit zum bereits Erzählten beschreiben und das Geschehen in der Schwebe lassen. Bezugspunkt ist immer die Gegenwart des Angesprochen, der gleichsam aus der Zeit herausfällt und immer gegenwärtig und aktuell bleibt. Diese Herauslösung aus einer klar messbaren Zeit lässt sich auch an der Zeitgestaltung in den diskursiven Gebetsbitten beobachten: Was im Christophorusgebet einmal geschieht, dass nämlich in der Kommunikation mit dem Heiligen die Gegenwart auf die Vergangenheit des Heiligen hin durchbrochen wird, ist in der Gestaltung der Du-Passage von Christi Hort Prinzip. Auf übergeordneter Ebene evoziert der Text eine Kommunikationssituation, die in der Gegenwart von Produktion und Rezeption stattfindet und damit wiederholbar wird. Das › Ich ‹ des Textes verschwimmt im Falle eines »Wiedergebrauchsich« zu einem kollektiven › Ich ‹ . Sowohl im Christophorusgebet als auch in Christi Hort wird zur Unterscheidung zwischen den Zeitebenen von Erzählung und Kommunikation auch zwischen dem Präsens als Marker für die Jetztzeit und dem Präteritum als Erzähltempus gewechselt. Die Reaktualisierung der durch den Text initiierten Kommunikation wird durch temporale Marker wie der temporalen Partikel nu möglich. Diese leiten den Großteil der Gebetsbitten an Christus ein und markieren den Übergang von der Erzählung zur Bitte. Darüber hinaus finden sich auch überzeitlich gültige Aussagen, die eine Wiederholung des Gebets implizieren, zum Beispiel wenn es im Christophorusgebet heißt: Weles tages ein mo ᵉ nsch din bilde Eret und sich mit andacht darzu ͦ keret Und es eret durch dinen willen, den wilt du gestillen den tag sin not und sin hertzleit. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 107 - 111) Wann auch immer ein Mensch dein Bild ehrt und sich ihm mit Andacht zuwendet und ihm in Gedenken an dich Ehre erweist, dem willst du sogleich seine Not und seinen Kummer lindern. Hier zeigt sich neben dem performativen Potenzial der Du-Anrede auch das christliche Zeitverständnis, das parallel zu einer linearen Zeitauffassung ein spezifisch heilsgeschichtliches Kontinuum annimmt. In diesem ist das Heilige überzeitlich präsent und kann immer wieder angesprochen werden. Die raumzeitliche Vagheit, die in den Texten der narrativen Apostrophe durchgängig zu beobachten ist, ergibt sich zum einen aus dem besonderen Status des Du-Protagonisten, hängt aber zum anderen mit der Funktionalisierung der Texte als Kommunikationsmedium zusammen. Indem der Angesprochene nämlich Zeit und Raum bestimmt, wandert der Erzählfokus einer Kamera gleich mit diesem mit. 344 Die Erzählung trägt der Überzeitlichkeit des Heiligen Rechnung und erlaubt gleichzeitig, immer und überall mit dem Gegenüber in Kontakt zu treten. Die Konzentration auf die beiden Gesprächspartner, die sich aus der sparsamen raumzeitlichen Gestaltung ergibt, entfaltet eine starke Wirkung. 345 344 Eva von Contzen fasst das treffend in einem Aphorismus zusammen: » › here ‹ is always where the centre is«, Contzen: Saints ’ Lives as Narrative Art (2014), S. 191. 345 Die immersive Wirkung von Du-Erzählungen ist Gegenstand des Kapitels 4.1. 196 3 Narratologische Annäherungen <?page no="197"?> 3.3 Zwischenfazit Prämisse für die detaillierte narratologische Analyse war die Überlegung, dass in den erzählerischen Techniken Vorstellungen und Denkmuster kodiert sind, die der Literaturwissenschaftler als Textarchäologe mit Hilfe der Narratologie aufdecken kann. Aufschlussreich ist die narrative Apostrophe, da sie einige zeitgenössische Glaubensvorstellungen widerspiegelt. Aufgrund der Tatsache, dass die Du-Erzählung sich herkömmlicher narratologischer Theoriebildung zu entziehen scheint, ist sie bestens dazu geeignet, Grundlinien des mittelalterlichen Erzählens herauszuarbeiten. Ausgangspunkt für eine narratologische Annäherung war die Theorie zur (post-)modernen Du-Erzählung, nach der die Aspekte Anrede und Handlungsbeteiligung konstitutiv sind. Diese Verflechtung von Anrede und Protagonistenreferenz erschwert die Einordnung der Erzählhaltung in bekannte Theoriemodelle, da sie den Grice ’ schen Kommunikationsmaximen zu widersprechen scheinen, durch die Anrede ein hohes Maß an Ambiguität hervorbringen und die Dichotomien von histoire und discours sowie Hetero- und Homodiegese unterminieren. Der größte Unterschied zwischen der modernen und der mittelalterlichen Du-Erzählung ergibt sich aus dem jeweiligen Kontext. In der mittelalterlichen Literatur ist die Erzählsituation der narrativen Apostrophe, zumindest in der selbstständigen Form, 346 auf den Bereich des Religiösen beschränkt und verfolgt so ein konkretes Ziel, nämlich den Kontakt mit dem Göttlichen. Die mittelalterliche Du-Erzählung verfolgt mit ihrer Adressierung eines eindeutig festgelegten Gesprächspartners also besondere kommunikative Ziele, die sich von denen der modernen Du-Erzählungen unterscheiden. Das identifikatorische Potenzial der Anrede knüpft nicht an die Pronomina der zweiten Person an, sondern ist an die durch die Anrede implizierte Sprecher-Position gebunden. Damit beschränkt sich das Spektrum möglicher Typen auf den homokommunikativen Bereich, in dem eine Kommunikation zwischen › Ich ‹ und › Du ‹ auf Ebene des discours stattfindet. Je nach Schwerpunktsetzung kann die Sprecher-Position variabel ausgestaltet sein: Sie changiert zwischen Erzähler-Rolle und »Wiedergebrauchs-ich« und mündet mitunter in die Darstellung der eigenen, vom angesprochenen › Du ‹ unabhängigen Geschichte. Für die in der Einleitung gestellte Ausgangsfrage nach der Alterität bzw. Kontinuität mittelalterlichen Erzählens ergibt sich der folgende Zwischenbefund: Narrative Basiskonstellationen und -elemente haben über die Diachronie Bestand und lassen sich mit narratologischen Basiskategorien beschreiben. Alterität herrscht auf der Ebene unterhalb der Basisstrukturen: Was einen Erzähler ausmacht, wie die Textkommunikation aussieht oder welche Praktiken des Fiktionalen im Mittelalter gepflegt wurden, weicht in der konkreten Ausgestaltung teils erheblich von den als Defaultmodus wahrgenommenen Praktiken › moderner ‹ Literatur ab. Grund dafür sind alteritäre Denkrahmen, Wahrnehmungsmodelle und Konzepte, die sich in der Literatur als Kulturträger und -medium niederschlagen. 346 Wird die narrative Apostrophe in einen Erzählzusammenhang zweiter Ordnung eingebettet, so kann sie durchaus auch in einem nicht-religiösen Kontext gebraucht werden, siehe dazu Kapitel 5. 3.3 Zwischenfazit 197 <?page no="198"?> Die Beobachtung, dass der Einsatz der narrativen Apostrophe die Grenze zwischen den Gattungen Gebet und Erzählung zunehmend verwischt, unterstreicht einmal mehr, wie problematisch das Konzept › Gattung ‹ für die mittelalterliche Literatur ist. Die narrativ gebrauchten Du-Anrede ist Ergebnis eines Hybridisierungsprozesses, in dem sich gebetshaftes und erzählendes Sprechen überlagert und ein neues Erzählkonzept ausbildet. Der liminale, gattungsüberschreitende Charakter der narrativen Apostrophe bildet gleichsam die grenzüberschreitende Erfahrung der Kontaktaufnahme mit dem Transzendenten ab, die in den Texten des Untersuchungskorpus verschriftlicht und angeleitet wird. Ein zentraler Aspekt der mittelalterlichen Du-Erzählung ist die Verarbeitung von in der Bibel oder anderen kirchlich sanktionierten Texten überlieferten Stoffen, die zum Inventar des zeitgenössischen Glaubenswissen gehören. Dabei zeigt sich der historisch differente Umgang mit Stoffelementen, die keine eindeutige Referenz zur außersprachlichen Wirklichkeit besitzen und deren ontologischer Status nicht überprüfbar ist. Auf Basis eines pragmatischen Fiktionalitätsbzw. Faktualitätsverständnis konnte jedoch gezeigt werden, dass sich der Geltungsanspruch der mittelalterlichen Du-Erzählungen nicht an der Faktizität ihres Inhalts festmachen lässt. Vielmehr ist er Teil eines Kontrakts zwischen Leser und Autor, Stoffe als › wahr ‹ zu akzeptieren, wenn sie in das › truth program ‹ des christlichen Glaubens eingebettet sind. Voraussetzung dafür ist die von der modernen Praxis unterschiedliche Wahrheits- und Wirklichkeitsauffassung. Hier ist der Bereich dessen, was gewusst werden kann, enger; in der mittelalterlich-religiösen Weltsicht wird zudem selbst das faktisch-empirische Wissen heilsgeschichtlich ausgedeutet. Eine wichtige Rolle spielt zudem textuell vermitteltes Wissen, das durch den Bezug auf Autoritäten wie die Bibel eine zusätzliche Legitimation erfährt: In den Texten der narrativen Apostrophe dienen intertextuelle Bezüge in Form von offenen oder impliziten Zitaten oder Strukturreferenzen als Beglaubigungsstrategie und untermauern den faktualen Geltungsanspruch. Vor dem Hintergrund, dass die Faktualität der Texte eine kommunikative Größe ist, die dem Text diskursiv zugeschrieben wird, zeigt sich eine Tendenz zur funktionalen fictio: Das rhetorische oder strukturelle Ausgestalten von historischen oder religiösen › Fakten ‹ ist eine zulässige Strategie, die den generellen Wahrheitsanspruch der Texte nicht unterminiert und die durch die jeweiligen Intentionen funktionalisiert und legitimiert ist. In den Texten, die die narrative Apostrophe gebrauchen, dienen derartige dilatationes nicht selten dazu, die in der Anredesituation erzeugte Nähe und Intimität noch weiter auszubauen: Sowohl im Zeitglöcklein als auch im Itinerarium lassen die Ergänzungen und Aufschwellungen gegenüber dem Prätext das Geschehen plastisch hervortreten und unterstreichen den Anspruch der Texte, die Kommunikation mit einem echten Gegenüber erlebbar zu machen. Das Zusammenspiel von narrativer Überformung und faktualem Geltungsanspruch zeigt sich auch in der Gestaltung der › Figuren ‹ , die angesprochen und erzählt werden. Hier greifen kulturell und historisch variable Anthropologien, Alltagswissen darüber, was als › heilig ‹ oder › göttlich ‹ erachtet wird, sowie intertextuelle Referenzen: Die Einpassung der Figuren in ein kulturell und textuell vermitteltes Schema von Heiligkeit stellt auch hier keine Fiktionalisierungsstrategie dar, sondern ist, im Gegenteil, Ausdruck von deren Faktualität. Welche Rolle hier der christlichen Tradition zukommt, wird angesichts der Konsistenz deutlich, mit der faktuale Figuren über die Textgrenzen hinweg gestaltet und in eine faktuale, christliche › storyworld ‹ eingebettet werden. 198 3 Narratologische Annäherungen <?page no="199"?> Der faktuale Status der Texte und die Besonderheiten der in ihnen entworfenen und präsentierten Figuren sind Voraussetzung für die hier zutage tretende Kommunikationssituation, die sehr viel offener und durchlässiger als die der modernen Texte ist. Die narrative Apostrophe versteht sich als textgewordenes Abbild einer Gotteserfahrung, die sie zugleich auch für weitere Rezipienten reproduzierbar machen möchte. Die Offenheit der Ich-Position erlaubt dem Rezipienten, selbst Teil der Textkommunikation zu werden und die einmal verschriftlichte Kommunikation in der Lektüre stets aufs Neue zu aktualisieren. Dass dies gelingt, liegt zu großen Teilen an der Faktualität der angesprochenen Figuren, die entsprechend den christlichen Entwürfen von Heiligkeit als überzeitlich ansprechbar gedacht werden, und am performativen Potenzial der Texte, die Vollzug und Anleitung zum Vollzug zugleich sind. Neben dieser in die Transzendenz ausgreifenden Kommunikation verfolgen die narrativen Apostrophen noch weitere, konventionelle kommunikative Ziele: So kommunizieren Autoren mit ihren Lesern, indem sie den Rezipienten aufmerksamkeitssteuernd oder didaktisierend ansprechen und zum Verinnerlichen der in den Texten aufgezeigten Ideale anhalten. Die Offenheit der Kommunikationssituation erfordert es, narratologische Begriffe wie Erzähler oder Autor für die religiösen Texten des Mittelalters zu überdenken. Erzählerfiguren, die den Autor gänzlich hinter sich lassen, tauchen in diesen Texten nicht auf: Entweder ist die Sprecherrolle als »Wiedergebrauchs-ich« so weit vom Autor entkoppelt, dass sie in jeder beliebigen Situation wie ein Formular neubesetzt werden kann und den Erzählerbegriff dadurch überflüssig macht, oder sie ist durch Selbstnennungen und -stilisierungen des Autors an diesen rückgebunden. Denn vor dem Hintergrund, dass Erzählen als Dienst an Gott und Mitmenschen begriffen wurde, bleibt der realweltliche Autor im Text als solcher präsent - die Ausbildung einer eigenen Erzählerfigur würde nicht nur die kommunikativen Absichten der Didaxe und Bildung schmälern, sondern dem realweltlichen Autor die Chance verwehren, durch das Dichten sein Seelenheil zu mehren. Eine Besonderheit der mittelalterlichen Du-Erzählung stellt die ausgesprochen sparsame raumzeitliche Gestaltung der Texte, sowohl auf Ebene der histoire als auch des discours dar. Die Vagheit von Raum und Zeit, macht den Adressaten zum dominierenden Element der Texte, die mit wenigen absoluten Ortsbzw. Zeitangaben auskommen und das Geschehen vor allem relational verorten. Raum und Zeit werden meist in Hinblick auf den göttlichen Kommunikationspartner semantisiert, wobei Dichotomien zwischen der Sphäre des Sprecher-Ichs und des Heiligen entworfen werden, die durch Bewegungen durch Raum und Zeit auf den Heiligen hin überbrückt werden wollen. Auf discours-Ebene etabliert sich der Eindruck von Allgegenwärtigkeit und Wiederholbarkeit: Der Heilige bzw. das Göttliche steht jenseits der irdischen Zeit bzw. im Zentrum der heilsgeschichtlichen Zeit und kann damit immer und überall vom Rezipienten angesprochen werden. Bei Betrachtung der verschiedenen Parameter, die die narrative Apostrophe ausmachen, zeigt sich die von der Moderne abweichende Ausgestaltung: Hier manifestiert sich ein christliches Zeit- und Weltverständnis, das mit den kommunikativen Funktionen korrespondiert, die den Texten eingeschrieben sind. Gleichzeitig findet die narrativ gebrauchte Du-Anrede als nicht eingebettete Sprechhaltung nur dann Anwendung, wenn ihr eine bestimmte Figurenkonzeption zugrunde liegt, nämlich die des Göttlichen bzw. Heiligen. Als Kommunikationsmedien, die über den Text hinaus nicht nur den Leser, sondern ein real gedachtes überzeitliches Gegenüber ansprechen wollen, verstehen sich die Texte als 3.3 Zwischenfazit 199 <?page no="200"?> Formular für ein wirkmächtiges Handeln durch Sprache. Gleichzeitig ist den mittelalterlichen Du-Erzählungen ein faktualer Geltungsanspruch inhärent, der gegenüber modernen Texten deutlich Lizenzen im Gestaltungsspielraum aufweist, durch das christliche › truth program ‹ jedoch bestätigt wird. Diesen christlichen Denkrahmen auszublenden, würde den Texten und Absichten ebenso wenig gerecht werden wie ihren Rezipienten. 200 3 Narratologische Annäherungen <?page no="201"?> 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede Bücher weiten die Seele. (Voltaire) 1 Der Gedanke, Kunst sei zweckfrei und stehe für sich selbst, › l ’ art pour l ’ art ‹ , ist dem Mittelalter weitgehend fremd: Zwar mag in einzelnen Werken eine solche Poetologie der ars gratia artis frei von außerpoetischen Wirkungsabsichten bereits anklingen. 2 Für den überwiegenden Teil des mittelalterlichen › Literatur ‹ betriebs lag eine solche Trennung von Kunst und außersprachlicher Realität jedoch außerhalb der Vorstellungskraft: In der mittelalterlichen Kunst, insbesondere in der Literatur, sind ästhetische und pragmatische Absicht unauflöslich miteinander verwoben. Wenn hier und im Folgenden von › Absichten ‹ und › Funktionen ‹ des Textes die Rede ist, dann geschieht dies unter dem Vorbehalt, dass die Intentionen des jeweiligen Autors nicht vollständig rekonstruiert, sondern als Resultat der Interpretation allenfalls erschlossen werden können. In Anlehnung an die Neohermeneutik bzw. den hermeneutischen Intentionalismus wird davon ausgegangen, dass literarische Werke als »Bedeutung tragende[ … ] sprachliche[ … ] Gebilde« 3 das Ergebnis eines absichtsvollen Handelns sind. Sie sind Teil eines komplexen Kommunikationsprozesses, innerhalb dessen ein Autor oder Verfasser gegenüber seinem Leser bestimmte Mitteilungsabsichten verfolgt und zu diesem Zweck bestimmte Darstellungsstrategien einsetzt. 4 Selbstverständlich lassen sich verschiedene Grade an Intentionalität ausmachen, so werden in Vorreden oder Epilogen häufig die großen Zielsetzungen der Texte expliziert, wohingegen untergeordnete Intentionen oftmals implizit erschlossen werden müssen. Im Anschluss an den hermeneutischen Intentionalismus sollen die Absichten des Autors aus der jeweiligen Handlung, beispielsweise aus der Wahl eines textuellen Verfahrens, erschlossen und die potenzielle Wirkung auf den oder die Rezipientin beschrieben werden. Die Wirkungsabsichten, die mit religiöser Literatur und den spätmittelalterlichen Du- Erzählungen verbunden sind, liegen auf der Hand: Ihnen geht es in erster Linie darum, Religion und Glaubensinhalte erfahrbar zu machen, den Leser zu beeinflussen und zu formen. Mit diesem ersten Ziel sind weitere Absichten verknüpft, etwa die »Konsolidierung des Glaubens«, 5 die Vermittlung heilsgeschichtlichen Wissens, die Tradierung von Glaubenswahrheiten und die Anleitung des individuellen Rezipienten zu einem an christlichen Normen und Idealen orientierten Leben. Demnach hätten die spätmittelalterlichen Autoren wohl auch dem eingangs zitierten Aphorismus Voltaires zugestimmt. Die Zielsetzungen der 1 Voltaire: Das Naturkind (1981), S. 347. 2 So beispielsweise in den carmina des Abtes Baudri de Bourgeil, der sein Dichten scherzhaft als bloßen Zeitvertreib für sich und seine Leser charakterisiert, vgl. Schnell: Alterität der Neuzeit (2013), S. 87. Zu Baudri de Bourgueil und seinem Werk siehe auch Lutz: Schreiben, Bildung und Gespräch (2013). 3 Köppe/ Winko: Neohermeneutik (2008), S. 135. 4 Vgl. Köppe/ Winko: Neohermeneutik (2008), S. 137. 5 Köbele: › Erbauung ‹ - und darüber hinaus (2015), S. 427. <?page no="202"?> Texte sind Gegenstand dieses Kapitels: Worin besteht das wirklichkeitsaffizierende Potenzial der religiösen Texte und welche Rolle übernimmt die Erzählstrategie der narrativen Apostrophe? Wie gelingt die Immersion des Lesers, wie erreicht die narrativ gebrauchte Anrede ihre didaktischen und identitätsstiftenden Ziele? Wie wird dieses erzählerische Mittel mit anderen Strategien verknüpft, um sein Potenzial voll zu entfalten? Mit ihrer Konzentration auf den Gläubigen als Individuum und Subjekt seines Glaubens und dem Ideal einer auf affektiver Teilhabe gründenden Gottesbeziehung ist die im Kontext der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung entstandene Literatur prädestiniert für die Entwicklung immersiver Strukturen, die den Leser gleichsam in den Text hineinziehen und eine ganzheitliche Erfahrung bieten. Das betrifft nicht nur die kognitiv-intellektuelle Ansprache des Rezipienten, sondern appelliert dezidiert an den Affekt des jeweiligen Gläubigen, der in der zeitgenössischen theologischen Reflexion als wichtigster »Ort der religiösen Erfahrung« 6 gilt. Die narrative Apostrophe ist jedoch nur eine von mehreren Erzähl- und Darstellungsstrategien, um die gewünschte immersiv-emotionalisierende Textwirkung zu erzielen; in Kombination mit anderen Verfahren der Immersion und der Affektivität wird ihre Wirkmächtigkeit noch potenziert. Auch Synergieeffekte, die sich aus der kombinierten Anwendung verschiedener, zum Teil auch außersprachlicher Darstellungsstrategien ergeben, werden in diesem Kapitel thematisiert. Die narratologische Analyse der Erzählhaltung dient dabei als Fundament für die Untersuchung des immersiven und affektiven Potenzials der Du-Erzählung. Die zugrunde liegende Kommunikationssituation, die über den Text hinausgeht und sowohl den irdischen Rezipienten als auch den transzendenten Du-Protagonisten miteinbezieht, bildet dafür ebenso Voraussetzung wie die Tatsache, dass sich die hybride Apostrophe an einen besonderen Figurentypus wendet, dessen Ontologie besondere Schwerpunktsetzungen ermöglicht. Nach der Untersuchung des Wie sollen die erweiterten Zielsetzungen der Texte, das Was, genau unter die Lupe genommen werden. Unter der Prämisse, dass mit dem Einsatz der narrativen Apostrophe eine intensivierte Partizipation am Text möglich wird und die Lektüre gleichsam zur › Erfahrung ‹ wird, wird danach gefragt, welches Wissen überhaupt vermittelt und erfahrbar gemacht wird und welche Identifikationsangebote mit den Ich- Positionen des Textes jeweils verknüpft sind. Außerdem ist zu fragen, welche Bedeutung die kollektive christliche memoria hat und welche Typen von Identität konstituiert werden. Obwohl die immersiv-affektiven Strategien und die damit verfolgten Ziele ein nur schwer zu trennendes Konglomerat von Ursache und Wirkung bilden, wurde hier ein systematischer Zugang gewählt und versucht, die Wirkungsbündel aufzulösen und einzelne Aspekte in den Fokus zu rücken. In Fallstudien werden die Aspekte › Immersion ‹ , › Didaxe ‹ und › Identität ‹ aus dem Blickwinkel der narrativen Apostrophe untersucht. Dabei muss bedacht werden, dass die Du-Erzählung innerhalb der volkssprachlichen religiösen Literatur und selbst auf Ebene des Einzeltextes häufig nur eine von vielen Strategien ist. Gleichzeitig ist die › Zuordnung ‹ der Texte zu einem Aspekt keine ausschließliche: In der Tat lassen sich in nahezu allen Texten des Untersuchungskorpus immersive und affektive Effekte beobachten, die in der Verwendung der narrativen Apostrophe bereits angelegt sind, aber von Text zu Text unterschiedliche Intensität entfalten. Ebenso verhält es sich mit 6 Köpf: Ein Modell religiöser Erfahrung in der monastischen Theologie (1992), S. 114. 202 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="203"?> den Wirkungsabsichten der Texte: Sie alle verfolgen didaktische und identitätsstiftende Ziele, setzen aber jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. Die Fallstudien sind daher als exemplarische Untersuchung zu verstehen. Der Gefahr, einzelne Aspekte überzubetonen und andere im Gegenzug zu vernachlässigen, wird insofern entgegengesteuert, als trotz der Konzentration auf den jeweiligen Beispieltext auch andere Texte des Korpus ausblickshaft miteinbezogen werden. Im Anschluss an die Untersuchung der Wirkungsweisen und Funktionen, die an die narrative Apostrophe bzw. die Gesamttexte geknüpft sind, werden die Befunde in den kulturgeschichtlichen Kontext eingeordnet. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe Das erste Wirkungsziel der religiösen Texte 7 mit narrativer Apostrophe ist es, den Rezipienten in die Textwelt hineinzuziehen und für die textuell vermittelten Botschaften empfänglich zu machen. Das Heilsgeschehen soll dem Rezipienten plastisch vor Augen gestellt und von ihm nachvollzogen werden. Die so erreichte compassio mit dem biblischen Personal oder dem Heiligen wird dann in einem zweiten Schritt wiederum zur Voraussetzung für weitere sekundäre Wirkungsabsichten, die durch die emotionale Aneignung intensiviert werden. Mit der Ansprache des Affekts geraten die Texte des Untersuchungskorpus in die Nähe einer bestimmten Meditationspraxis, die mit der »kognitiv-memorative[n], imaginative[n] und affektive[n] Vergegenwärtigung« 8 bestimmter Glaubensinhalte arbeitet und diese in ästhetisch-emotionale Erfahrung umwandeln will. Den theologischen Hintergrund bildet unter anderem die im Hochmittelalter aufkommende Passions- und Christusfrömmigkeit, wie sie von Bernhard von Clairvaux und Hugo von St. Viktor maßgeblich geprägt wurde. Der damit zusammenhängende Wandel im Gottesbild nimmt den einzelnen Gläubigen stärker in die Pflicht, macht es doch eine persönliche Beziehung zwischen Individuum und einem nah- und ansprechbaren Gott zur Voraussetzung für die richtige Glaubenspraxis. Die Folge ist nicht nur eine Tendenz zur Subjektivierung, sondern auch zu einer stärker affektbetonten Religiosität. 9 Was in Glaubensgemeinschaften und Frömmigkeitsbewegungen propagiert wurde, ist die Partizipation am und die Verinnerlichung des Glaubens, die 7 Zugrunde liegt hier ein erweiterter Textbegriff, der auch materiellen Objekten wie beispielsweise Andachtsbüchern textuellen Status zuweist. 8 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 27 bzw. Largier: Ästhetische Spekulation (2015), S. 39. Im Spätmittelalter mit seiner Pluralität der Glaubenspraktiken und -modelle existierten eine Reihe verschiedener Meditationspraktiken mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Während manche eine rationale, oftmals lectio-gestützte Meditation anstreben, liegt der Schwerpunkt bei anderen auf der sinnlich-anschaulichen Vergegenwärtigung, die den Affekt als zentrales Medium der Gotteserkenntnis betrachtet. Diese Praktiken haben nebeneinander Bestand; in den Texten, die sich der narrativen Apostrophe bedienen, scheint sich jedoch die affektbetonte Versenkung durchzusetzen. 9 Vgl. Rau/ Scheel: Meditation und Gebet (2016), S. 269 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 203 <?page no="204"?> nicht nur einen persönlichen Heilsweg aufzeigt, sondern auch eine tiefere Gotteserkenntnis ermöglichen will. 10 Dazu setzen die Texte vor allem auf zwei Strategien, die auf den gemeinsamen Nenner › Immersion ‹ gebracht werden können und die wesentlich von der Erzählhaltung der narrativen Apostrophe mitgetragen werden: Sie regen zum einen die Imagination des Lesers an, indem sie die Lektüre als ein je individuelles Erlebnis gestalten, evozieren die Präsenz des göttlichen Gegenübers und erlauben dem Gläubigen das Eintauchen in die Heilsgeschichte. 11 Zum anderen spiegeln die Texte den Wunsch der Gläubigen nach einer persönlichen Beziehung zu Gott bzw. dem Heiligen wider: Sie kodieren eine Nähe- Beziehung voller Vertrauen, die den Grundstein für eine intime Gotteserfahrung legt. Wieso sich die narrative Apostrophe besonders dazu eignet, sowohl die Immersion des Rezipienten zu befördern als auch Gottesnähe textuell zu begründen, wird anhand des Zeitglöckleins und dem deutschen Itinerarium Beatae Virginis Mariae untersucht. Zu den immersiven Strategien zählt auch das › kombinatorische ‹ Erzählen: Bild und Text gehen in den spätmittelalterlichen religiösen Du-Erzählungen eine Symbiose ein, die den immersiven Effekt der Einzelmedien potenziert, das sinnliche Erlebnis intensiviert und eine transmediale »Poetik der Sichtbarmachung« 12 entfaltet. 4.1.1 Eintauchen in den heilsgeschichtlichen Imaginationsraum: Immersive Strategien in Bertolds Zeitglöcklein Die narrative Apostrophe findet sich vor allem in solchen Meditationstexten, die ein Einfühlen des Rezipienten in die Heilsgeschichte befördern und eine sinnliche Aneignung der im Evangelium vermittelten Glaubensinhalte ermöglichen. Eine wichtige Rolle spielt hier die imaginatio als das »auf der Vorstellungskraft beruhende Sich-Vertiefen in eine Szene«. 13 Sie klingt in der vielfach gebrauchten Formulierung ante oculos cordis ponere ( › vor 10 Vgl. Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 169. 11 Nach Hartmut Bleumer wurde der Begriff › Immersion ‹ in der mediävistischen Diskussion nur selten gebraucht. Als Grund dafür nennt Bleumer das scheinbare »Visualitätsprimat«, das in der neueren Immersionsauffassung weit verbreitet ist und deswegen die Assoziation mit neuen Medien wie Film oder Virtual Reality-Programmen nahelegt. In Anlehnung an Marie-Laure Ryan, für die Immersion »eine Verschiebung des Bewusstseinsschwerpunktes des Betrachters [ist], der bei der ästhetischen Erzeugung des Textes in den Text selbst projiziert wird«, definiert Bleumer Immersion als »das aktive, selbstbeobachtende Eintauchen in imaginative Welten, die vom Betrachter als paradoxe ästhetische Objekte mit einer Art anästhetischer Wirkung gegen die distanzierende Selbstreflexion hervorgebracht werden«. Er gibt außerdem zu bedenken, dass die mediävistische Forschung immersive Phänomene schon längst untersucht hat, ohne diese jedoch terminologisch zu fixieren. Der Begriff hat, wie er in Anlehnung an Lambert Wiesing ausführt, seinen Ursprung in der Theologie und meint dort das »Eintauchen bei der Taufe«, wo es weniger um eine sinnliche als vielmehr eine semantische Erfahrung, das »intensive Aufgehen in Bedeutung« geht, Bleumer: Immersion im Mittelalter (2012), S. 5 - 9. Versteht man unter Immersion also das »Wechselspiel von textuell, visuell oder allgemein technisch erzeugten Bild- und Raumangeboten einerseits und mentalen Bilderzeugungsprozessen andererseits« und bezieht die ästhetisch-semantische Dimension ein, die »sich zwischen der Empathie des Betrachters und jenen eigenständigen Akten des Bildentwurfs« ergibt, lässt sich der Immersionsbegriff nach Bleumer auch für die zahlreichen Präsenzeffekte der mittelalterlichen Literatur fruchtbar machen, vgl. ebd., S. 9 f. 12 Wenzel: Spiegelungen: zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 12 f. 13 Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 176. 204 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="205"?> das Auge des Herzens stellen ‹ ) an und zielt wie auch die narrative Apostrophe auf die Eröffnung einer Kommunikationssituation, in der ein › Ich ‹ im Gespräch mit einem Gegenüber imaginiert wird. 14 Eine derartige innere Anteilnahme und Versenkung des Rezipienten in die narrativ vermittelten Heilsereignisse wird auch in der Vorrede zu Bertholds Zeitglöcklein beschworen, die ein inneres Sehvermögen einfordert. Denn die Vorrede benennt nicht nur die emotionale Ansprache des Rezipienten, die anzünd ū ng des gemüts (Zeitglöcklein, fol. 3a: »die Entzündung des Gemüts«), als ihr primäres Ziel, sondern fordert den Leser zu einer bestimmten Art des Sehens auf: De ſ glichen vil vn ˉ one zal mag das andechtig hertz betrachten mit großem nutz (Zeitglöcklein, fol. 3b: »Derartiges kann das andächtige Gemüt häufig und nicht zu oft mit einem großen Nutzen betrachten«). 15 Dass hier der Sehsinn mit der inneren Betrachtung im Herzen enggeführt wird, ist typisch für die mittelalterliche Wahrnehmungstheorie. Sehen ist im doppelten Sinne zu verstehen: als rein äußerliches, »materielle[s] Sehen mit den Augen der Welt« und als »Sehen mit den inneren Augen der Imagination«. 16 Intra- und extramentale Wahrnehmung gehen hier Hand in Hand. Produziert werden äußere Bilder, die der Sehsinn liefert, und innere Bilder, die die Imaginationskraft im Inneren des › Sehenden ‹ erzeugt. 17 Diese Wahrnehmungstheorie 18 basiert auf der mittelalterlichen Vorstellung, dass Körper und Seele und damit auch äußere und innere Sinne einander bedingen. Wenn nach dieser dualistischen Sichtweise, die auf Aristoteles zurückgeht und von Theologen und Philosophen wie Thomas von Aquin rezipiert wurde, die Seelenregungen, die motus animae, an den Bewegungen des Körpers, den motus corporis, abgelesen werden können, Körper und Geist also »Zeichenträger« 19 für den jeweils anderen sind, ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch innere und äußere Sinne in einem stetigen Wechselspiel miteinander verbunden sind. 20 In dieser Vorstellung wird das äußere Auge zum »Fenster der Seele«, das erst ein Sehen mit den »Augen des Herzens« ermöglicht. 21 14 Zur immersiven Wirkung eines textuell konturierten › Ichs ‹ in einem Passionsgebet des Engelberger Gebetbuchs siehe Buschbeck: Sprechen mit dem Heiligen und Eintauchen in den Text (2019). 15 Ausdrücke wie betrachten bzw. betrachtunge sind volkssprachliche Äquivalente zum lateinischen meditari bzw. meditatio. Sie können als termini technici für das meditierende Aufnehmen und Verinnerlichen gelten, vgl. Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte (2011), S. 344. 16 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 13. 17 Vgl. Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 42. 18 Diese Wahrnehmungstheorie wurde schon im Zusammenhang mit den kulturellen Anthropologien gestreift, die den Figurenentwurf mitbestimmen, siehe Kapitel 3.2.2.4. 19 Feistner: Der Körper als Fluchtpunkt (1999), S. 134 bzw. Marek: Bild und Körper im Mittelalter (2006), S. 10. Nach Klaus Oschema überwiegt im Mittelalter die »Vorstellung vom Körper als aussagekräftige [r] Spiegel der menschlichen › Seele ‹ «, Oschema: Die ganze Person (2014), S. 171. 20 Vgl. Philipowski: Der geformte und der ungeformte Körper (2004), S. 70 f. bzw. Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 141. Auch für Peter Dinzelbacher dient der »Zeichencharakter des Körperlichen« der Kommunikation, Dinzelbacher: Über die Körperlichkeit in der mittelalterlichen Frömmigkeit (1999), hier S. 86. 21 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 47. Das Verhältnis von Materiellem und Sinnlichem ist schon im Neuen Testament angelegt, so zitiert Fritz Oskar Schuppisser mit 1 Kor 32 bzw. Hebr 5,12 Passagen, in denen »der Weg vom kindlichen Begreifen zum geistlichen Verständnis der Fortgeschrittenen« im Übersteigen der sinnlichen Wahrnehmung propagiert wird. Das Anliegen eines solchen Schriftverständnisses besteht darin, »vom Materiellen und Sinnlichen in den Bereich des Geistigen vorzustoßen«, Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 172. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 205 <?page no="206"?> Im Hinblick auf seine Angebote zur sinnlichen Rezeption ist das Textmedium jedoch prekär, denn die Sinneserfahrungen, die Texte ermöglichen, sind notwendigerweise »medienspezifisch transferiert« 22 und in einem graphischen Code gespeichert. Erst im Rezeptionsprozess werden diese in imaginäre Bilder und sensorische Empfindungen umgewandelt. 23 Eine wichtige Rolle spielt hier das »Körpertastbild«, das heißt die Vorstellung des Lesers vom eigenen Körper, der während der Lektüre imaginiert und in den Raum der jeweiligen Szene versetzt wird. 24 Dieses Körpertastbild erlaubt dem Leser, zum Subjekt der Wahrnehmung zu werden, in diesem aufzugehen oder die Distanz zum Wahrnehmungsangebot zu wahren: Wir lesen das anschauliche Erleben anderer so, als erlebten wir es selbst. Das ist nicht eine Leistung unserer emphatischen › Identifikation ‹ mit der betreffenden Figur, sondern nur der Nachvollzug einer prägnanten Vorgabe des Textes. 25 Zu den »Vorgaben des Textes« zählen verschiedene Techniken, die den »Mangel an optischen Sinnesdaten« des Schriftmediums kompensieren und den Leser beim Erzeugen innerer Bilder unterstützen. 26 Ihnen allen ist gemein, dass sie versuchen, die Distanz zwischen dem Rezipienten und dem narrativ vermittelten Geschehen zu verringern und dieses Wahrnehmungserlebnis zu gestalten, indem sie die »mentale Repräsentation« 27 des Rezipienten stimulieren. Aufschlussreich auch für die mittelalterliche Literatur ist die Beobachtung der Anglistin Laura Bieger: Die Ästhetik der Immersion ist eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz. Sie ist eine Ästhetik des empathischen körperlichen Erlebens und keine der kühlen Interpretation. Und: sie ist eine Ästhetik des Raumes, da sich das Eintaucherleben in einer Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum vollzieht. 28 Wenn hier allgemein beschrieben wird, wie es Texten gelingt, die Distanz zwischen Textwelt und Rezipienten aufzulösen, so gilt das auch für die Texte des Untersuchungskorpus mit ihrer Erzählhaltung der narrativen Apostrophe: Sie erzeugen eine doppelte Präsenz des narrativ vermittelten Geschehens in der Gegenwart des Lesers und des Lesers innerhalb des Textes. Das »Körpertastbild«, das bei jeder Lektüre entworfen wird, besitzt im Fall der narrativen Apostrophe sogar einen sprachlichen Ausdruck, der die Immersion erleichtert: Wie ein Skript hält die narrativ gebrauchte Anrede das › Ich ‹ als Leerstelle für den Rezipienten bereit, die die Adoption dieser Textstimme im Gespräch mit dem göttlichen Gegenüber erlaubt und gleichzeitig Vorgaben für die Teilnahme, die »innere Performanz« 29 22 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 47. 23 Vgl. Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 47. 24 Vgl. Bühler: Sprachtheorie (1999), S. 140. Bühlers Körpertastbild entspricht dem Raum der »Deixis am Phantasma«, in dem der Leser zum Augenzeugen zweiter Ordnung wird und in dem er sich mit Hilfe von lokalen und temporalen Deiktika orientieren kann. 25 Krusche: Zeigen im Text (2001), S. 324. 26 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 12. 27 Müller: Realpräsenz und Repräsentation (2004), S. 128. 28 Bieger: Ästhetik der Immersion (2007), S. 9. 29 Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 126. Thomas Lentes hält den Sehsinn auch in anderen Frömmigkeitspraktiken des Mittelalters für zentral - so beispielsweise für die Reliquienfrömmigkeit: »Auge und Blick waren wesentliche Instrumente bei der Kommunikation mit den Heiligen. Mit ihren Augen schauten die Menschen auf die Heiligen und erhofften entsprechend deren heilspendenden 206 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="207"?> des Gläubigen macht. Wie im Rahmen der narratologischen Analyse bereits gezeigt, verschwimmen dabei die Zeitebenen von Heilsgeschichte und Gegenwart. Beide werden aus ihrer jeweiligen Fixiertheit aufgebrochen und in einem textuell konstituierten Raum, einem »Imaginationsraum« 30 verschmolzen - mit dem Effekt, dass das Sich-Versenken des Lesers in die Textwelt erleichtert wird. Durch diesen virtuellen Raum 31 kann sich der durch die Ich-Position absorbierte Rezipient während der Lektüre bewegen. Gleich das erste der vierundzwanzig Kapitel des Zeitglöckleins, die allesamt nach dem Strukturmuster »Anrufung - Überschrift - Erzählung - Auslegung - Gebetsbitte« aufgebaut sind, 32 bemüht sich, Präsenz zu erzeugen und das Geschehen, die Lebensgeschichte Jesu, zu vergegenwärtigen. Hier zeigt sich die Hybridität der narrativen Apostrophe, die narrative Elemente und solche des Gebetssprechens vereint und in hohem Maße präsenzstiftend wirkt. 33 Wenn im Text › Ich ‹ und › Du ‹ als Deiktika für Sender und Empfänger der Rede aufgerufen werden, so ist der Rahmen einer Kommunikationssituation abgesteckt, in der Momente aus einer immer noch gültigen und auf immer Gültigkeit besitzenden Vergangenheit abgerufen werden. Das geschieht mit der ersten Anrufung des Zeitglöckleins: Hilff mir herr ie ſ u chri ſ te / andechticlich betrachten / din empfencknuß vnd m ēſ chwerd ū g / die in dem rat der heiligen trifaltikeit be ſ lo ſſ en / vnd in dem lib der iungfrow ē marie / durch engel ſ che verkundung volbracht ist. (Zeitglöcklein, fol. 8a) Hilf mir, Herr Jesus Christus, mit Andacht deine Empfängnis und deine Menschwerdung zu betrachten, die vom Rat der Heiligen Dreifaltigkeit beschlossen und im Leib der Jungfrau Maria nach der englischen Verkündigung vollbracht wurde. Der erste Imperativ des Andachtstexts beinhaltet Zeichen für beide Gesprächspartner: für Christus, dem die Bitte um Hilfe gilt, und für das Sprecher-Ich, das als Bittsteller den Dialog betritt. Die Kommunikation ist in der Jetztzeit angesiedelt, greift aber mit dem Aufrufen der heilsgeschichtlichen Ereignisse von Heilsratsbeschluss und Mariä Empfängnis weit über diese hinaus. Die Präsenz, die beschworen wird, ist jedoch nicht »im Sinne eines empirischen Jetzt« 34 zu verstehen. Heilsmomente wie der Heilsratsbeschluss oder die englische Verkündigung sind zwar geschichtliche Ereignisse, sind zugleich aber weit entfernt von der Alltagsrealität und bleiben mit ihrem Hinsteuern auf die Endzeit vorläufig. 35 Um ihre Heilswirkung zu entfalten, müssen diese Ereignisse verfügbar gemacht werden: Das gelingt nur »unter der Bedingung räumlich-zeitlicher Unmittelbarkeit, qua Kommunikation unter Anwesenden«. 36 Die Präsenz, die in den Texten evoziert wird, ist also vergleichbar mit der Präsenz Blick. Sehen und Angeschautwerden galten in dieser Logik als Vermittlungsinstanzen zwischen Himmel und Erde«, Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau (2002), S. 179. 30 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 12. Diesen »Imaginationsraum« bezeichnet Christian Schmidt in Einklang mit der zeitgenössischen Vorstellung vom »Sehen mit den Augen des Herzens« als »Herzensraum«, Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 126. 31 Zur »virtual reality« siehe Rabanus: Virtual Reality (2010). 32 Zur Struktur des Zeitglöckleins siehe Kapitel 2.3.3.2. 33 Vgl. Griese: Der Herzmahner - ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein (2012), S. 184. 34 Kiening: Präsenz - Memoria - Performativität (2007), S. 157. 35 Vgl. Kiening: Einleitung (2009), S. 8. 36 Kaufmann: Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation (2012), S. 25. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 207 <?page no="208"?> Christi in der Hostie: Der Text erzeugt keine »Realpräsenz«, sondern wird zum Medium, in der das Gegenüber in einer Gesprächssituation imaginiert und als anwesend beschworen wird. 37 Im Zeitglöcklein zeichnet sich also deutlich die von der narratologischen Forschung immer wieder konstatierte Offenheit der der narrativen Apostrophe ab, die ein Changieren zwischen verschiedenen Kommunikationsmodi erlaubt. Als proteanischer Gestaltwandler 38 wechselt die Anrede in einen mal stärker dialogischen, mal eher narrativen Modus - die konsequent durchgehaltene Anrede der zweiten Person bildet den Rahmen für verschiedene Schwerpunktsetzungen, die von der Anrufung bis hin zur Erzählung reichen. Ein Beispiel für das narrativ-dialogische Moment der Erzählhaltung findet sich gleich zu Beginn des Zeitglöckleins, das als homokommunikative Apostrophe mit Mehrfachadressierung die Schöpfungsgeschichte im Gespräch mit mehreren verschiedenen Ansprechpartnern vergegenwärtigt: Je nachdem, wer gerade das Geschehen dominiert, wechselt die Anrede zwischen den verschiedenen Protagonisten des Heilsgeschehen. Entsprechend der Chronologie der Heilsgeschichte ist der erste Ansprechpartner, den sich der Leser imaginiert, der als Schöpfer und Vater angerufene Gott. Mit der Schilderung des Heilsratsbeschlusses wechselt die Anrede mehrfach anschließend auf engstem Raum. Als zentrale Figur im Heilsplan Gottes wird zuerst Jesus angesprochen: O herr ie ſ us, de ſ lebend ē gotts ſ un. Wie ſ nell vnd wie gu ͦ twilliclich, wie fro ᵉ lich vnd begirlich ha ſ tu dich dar geboten (Zeitglöcklein, fol. 10b: »Oh Herr Jesus, Sohn des lebendigen Gottes, wie schnell und wie bereitwillig, mit welcher Freude und Opferwillen hast du dich angeboten«), kurz darauf werden die Engel als Zeugen des Heilsratsbeschluss angerufen: A ir hochwirdigen ſ elig ē gei ſ t, O ir heiligen engel der nün cho ᵉ ren, Was großen lobs uß groß ē fro ᵉ iden ſ ungend ir da mit der allerho ᵉ ſ ten rver ē tz vor dem thron gotts (Zeitglöcklein, fol. 11a: »Ah, ihr ehrwürdigen seligen Geister, oh ihr heiligen Engel der neun Chöre, welch großes Lob, gespeist aus großer Freude, sangt ihr da mit der größten Ehrerbietung vor Gottes Thron«). Die Anrufung der Dreifaltigkeit (O heilige trifaltikeit, gott vater vn ˉ ſ un vn ˉ heiliger gei ſ t, Zeitglöcklein, fol. 11b) beendet schließlich die Erzählung vom Heilsratsbeschluss. Damit oszilliert die Apostrophe zwischen den Polen des Narrativen und des Dialogischen. Die einleitenden invocationes, die den Adressatenwechsel anzeigen, sind dialogisch: Sie fungieren als konative Gesprächseröffnung und zitieren zugrundeliegende Narrative an, ohne sie auszuerzählen. In der obigen Anrede wird beispielsweise anlässlich des Heilsratsbeschlusses auf Jesu Erlösungstod angespielt. Dieser › narrative Kern ‹ initiiert einen Narrativisierungsprozess, der Heilsratsbeschluss und Christi Kreuzestod als zentrales Heilsmoment verknüpft und dem Rezipienten so die Teleologie der Heilsgeschichte vor Augen führt. 39 Anreden wie die an die Engel, die ebenfalls eher dem Dialogischen zuzuordnen sind, fungieren als Überschriften für das angeschlossene Narrativ. 37 Diesen Schwebezustand beschreibt Romano Guardini als »Zustand geheimnishafter Präsenz«, in dem »[d]ie normale Erfahrung der auseinanderliegenden Raumbestimmung [ … ] in jene des reinen › Hier ‹ , die Erfahrung der in Vergangenheit und Zukunft auseinanderliegenden Zeit in jene des reinen › Jetzt ‹ , die Erfahrung der Verschiedenheit der Dinge in jene des reinen Inbegriffs, die Mannigfaltigkeit der existentiellen Akte in den des reinen Da-Seins integriert [wird] - welches Dasein zugleich als Sich- Inne-Sein, das heißt, als › Wissen ‹ zu Bewußtsein kommt«, Guardini: Die religiöse Sprache (1983), S. 65. 38 Vgl. Bonheim: Narration in the Second Person (1983), S. 79. 39 Siehe dazu Kapitel 2.5.1. 208 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="209"?> Die Anrede ist nicht auf transzendente Personen begrenzt. In der Erzählung von Jesus bei Pilatus im zwölften Kapitel werden beispielsweise Johannes und Petrus mehrfach angesprochen (Zeitglöcklein, fol. 94a), bei der Schilderung der Kreuzesabnahme sind Josef von Arimathia und Nicodemus die Adressaten (Zeitglöcklein, fol. 149b) - in beiden Fällen stehen sie für einen Moment als Protagonisten im Fokus. Auch Judas wird vielfach vom › Ich ‹ als Gesprächspartner adressiert, wenngleich auch in völlig anderem Ton: Ach iudas, wie boßlich was din hertz vergiftet (Zeitglöcklein, fol. 70a: »Ach Judas, auf wie böse Art war dir dein Herz vergiftet«). Es fällt jedoch auf, dass außer Judas, dessen Verrat in theologischer Perspektive Teil des göttlichen Heilsplans ist und der als Werkzeug Gottes einen anderen Stellenwert in der Heilsgeschichte besitzt, keine Angehörigen der Gegner Jesu angesprochen werden: Weder Pilatus noch Herodes taugen dazu, als Gesprächspartner imaginiert zu werden. Auch sich selbst imaginiert der Leser in das Geschehen hinein. Im Zeitglöcklein geschieht das über eine konsequent für den Rezipienten reservierte Ich-Position, die den Leser mal mehr, mal weniger stark in das Geschehen zu involvieren sucht. Das immersive Potenzial der Ich-Position zeigt sich darin, dass der Leser über die verschiedenen Zeitebenen von heilsgeschichtlicher Vergangenheit, seiner eigenen Gegenwart und der Zukunft des Jüngsten Gerichts hinweg als beteiligt gezeichnet wird - eine Besonderheit der homokommunikativen Apostrophe, die nicht nur die Geschichte des Gegenübers, sondern auch die des Sprecher-Ichs erzählt. Zu Beginn des Zeitglöckleins ist die Beteiligung des Rezipienten vergleichsweise schwach ausgeprägt, dem › Ich ‹ kommt im Rahmen der Schöpfungsgeschichte eine passive Rolle zu: Almechtiger, ewiger, barmhertziger gott. Wie über ſ wencklu ͦ ch i ſ t din barmhertzikeit vßgestoßen vnd ſ chinbar word ē , in dem dz du mich vnwirdigen men ſ chen ge ſ chaffen, vnd nach diner glichnuß gebildet hast. Wie wol ich gegen dinen engeln ze rechn ē gemy ˉ dert bin, ſ o ha ſ tu mich doch mit hoh ē eren vn ˉ großer wirdikeit begabet vnd geedlet, über ander dine ge ſ chaffn ē ding vnd mich ze her ſ chen über alle werck diner h ē den ge ſ etzt. (Zeitglöcklein, fol. 8a - 9a) Allmächtiger, ewiger, barmherziger Gott, wie deutlich ist deine Barmherzigkeit zutage getreten und offenbar geworden, als du mich unwürdigen Menschen erschaffen und mich dabei nach deinem Bilde geformt hast. Obwohl ich gegenüber den Engeln als minderwertig gelten muss, hast du mich doch mit hohen Ehren und mit großer Würde ausgezeichnet und mich geadelt vor den anderen [von dir] geschaffenen Dingen, dadurch dass du mich als Herrscher über die Werke deiner Hände eingesetzt hast. Obgleich der Text nicht im Präsens erzählt, erscheint das erzählte Geschehen aktuell. Indem das Sprecher-Ich sich nicht nur in die Dialogsituation, sondern auch in die Erzählung der Schöpfungsgeschichte einschreibt und als deren Nutznießer stilisiert, wird das Heilsgeschehen wiederholbar. Intensiver ist die Teilhabe des › Ichs ‹ an schon längst vergangenen Geschehnissen bei der Schilderung des Sündenfalls, für die sich das Text-Ich selbst verantwortlich macht: O vatter aller barmhertzikeit, gott und geber alle ſ tro ſ ts. Wie ward din trüw vetterlich hertz ſ o ſ charpff ge ſ toch ē da ich in ſ ünde verfiel, ich armer m ēſ ch, den du ſ o gar inneclich liep gehept vnd über die werck diner henden ſ o hoch gewydmet vnd geliebet ha ſ t. Vn ˉ ich aber durch überfarung dins gebotts mit rechter urtel uß d ē paradis vertrib ē , erblos word ē vnd mit aller arbeit ke ſ tigung, iamer vnd ellend vmbgeb ē bin. (Zeitglöcklein, fol. 9af.) 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 209 <?page no="210"?> Oh Vater aller Barmherzigkeit, Gott und Spender allen Trostes, wie sehr wurde dein treues väterliches Herz so scharf verletzt, als ich in Sünde geriet, ich armer Mensch, den du so innig liebtest und über die Werke deiner Hände erhoben und geliebt hast. Ich aber wurde wegen der Übertretung deines Gebots mit gerechtem Urteil aus dem Paradies verstoßen, wurde erblos und bin von den Kasteiungen von Leid, Jammer und Elend umgeben. Das In- und Miteinander von Heilsgeschichte und Jetztzeit bewirkt eine Aufhebung der Zeitdifferenz: »Die erzählte Zeit wird zur gegenwärtigen und vergegenwärtigten Zeit«, 40 an der der LeserAnteil hat, die er miterlebt und für die er daher auch mitverantwortlich ist. 41 Während in diesen beiden Ausschnitten die Sprecher-Rolle den Rezipienten als am Geschehen involviert zeichnet, aber noch kein konkretes Handeln imaginiert, gehen einige Passagen im Zeitglöcklein noch einen Schritt weiter. Sie beschreiben eine aktivere Form der Teilhabe und beziehen den Rezipienten noch stärker in das Handlungsgeschehen ein. Im zweiten Kapitel ruft der Text die Ereignisse um die Geburt Jesu auf und entwirft gewissermaßen ein Handlungsskript für den im Imaginationsraum gegenwärtigen Leser. Mit einer Vielzahl von Unsagbarkeitstopoi werden zunächst die Freuden Marias bei der Geburt beschrieben, um das eigentlich unfassbare Ereignis der Inkarnation zu fassen. 42 Dabei bringt das Sprecher-Ich seinen Wunsch zum Ausdruck, selbst am Geschehen teilzunehmen: Die thier, das rynd, der e ſ el, die hirtten, das ge ſ tirn, die gnadrichen men ſ chen vnd alle creatur ē zo ᵉ igtend nüwgeberdig iubil vnd fro ᵉ id mit großem lob diner heiligen geburt. Ach, dz ich da by gewesen were. Was hette ich da vor fro ᵉ iden geweynet, wie flißig zu ͦ dien ſ t, wie andechtig zu ͦ gebett, zu ͦ beschowen, zu ͦ heben vnd zu ͦ tragen den herren, ſ o es mir vrloub der gütig ē milten mu ͦ ter maria hette mog ē ſ in. A, Maria, wirdige iungfrow, mu ͦ ter der barmhertzikeit, vergo ᵉ nn mir hie eyn zitt by dir ze bliben, vn ˉ mich ze ergetzen mit dir, daz min gei ſ t ouch des fro ᵉ lichen vß ſ prungs in gott myn ē heil din din ē ſ un ſ ich erlabe. D ē n hie i ſ t keyn übels, keyn truren, keyn bitterkeit. Hie ſ ind tu ſ ent vnd vil me großer ding ze ſ eh ē vnd ze betrachten. Hie ist keyn ſ laffen, keyn vrdrutz denn ytel tu ſ ent tu ſ ent fro ᵉ id ē ſ prüng der geliept ē ſ ele in irem ſ cho ᵉ ppfer in irem heil vnd in dir, o mu ͦ ter vn ˉ gebererin alles heils vn ſ ers herren ie ſ u chri ſ ti (Zeitglöcklein, fol. 21b - 22b) Die Tiere, das Rind und der Esel, die Hirten, die Sterne, die begnadeten Menschen und alle Kreaturen zeigten ungebärdigen Jubel und Freude unter Lob deiner heiligen Geburt. Ach, dass ich da dabei gewesen wäre. Was hätte ich da vor Freude geweint, wie fleißig hätte ich Dienst getan, wie andächtig gebetet, wie sehr wäre ich bereit gewesen, den Herrn zu betrachten, ihn zu halten und zu 40 Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte (2011), S. 340. Ganz ähnlich beschreibt auch Christian Kiening dieses Phänomen als »vergegenwärtigende Erinnerung eines historisch-überhistorischen Heilsgeschehens«, Kiening: Präsenz - Memoria - Performativität (2007), S. 143 41 Diese »doppelte Zeitstruktur« ist charakteristisch für das christliche Zeitverständnis. Es geht von einer »historische[n] Geraden« aus, der linear verlaufenden Heilsgeschichte, in der das zyklische Kirchenjahr und das daran ausgerichtete Leben des einzelnen Gläubigen aufgeht. In dieser Überlagerung von linearer und zyklischer Zeitkonzeption wird das heilsgeschichtliche Moment wiederholbar und dauerpräsent, zu einem »évènement sans fin«. Nach Keller ist die »Vermengung von linearem und zyklischem Denken« charakteristisch für das Mittelalter und manifestiert sich deutlich in der Liturgie, die »die Lebensdaten und Heilstaten Jesu in den kirchenjährlichen Lauf, in dem die Zeit sich sozusagen um sich selbst dreht, einordnet«, Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 53 f. 42 So heißt es beispielsweise: O wie mocht din gei ſ t v ō ſ o ᵉ lich ē groß ē ding ē ſ o in vnbegrifflich ē fro ᵉ iden vffspringen (Zeitglöcklein, fol. 21a: »Oh wie sehr mochte dein Gemüt sich aufgrund solch großartiger Ereignisse zu unfassbarer Freude aufschwingen«). 210 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="211"?> tragen, sofern es mir die gütige und milde Mutter Maria gestattet hätte. Ach Maria, ehrwürdige Jungfrau, Mutter der Barmherzigkeit, vergönn es mir, eine Zeit lang hier bei dir zu bleiben und mich mit dir zu freuen, damit sich mein Geist auch an der glückseligen Ankunft Gottes, meines Heilands und deines Sohnes, erfreue. Denn hier gibt es kein Übel, keine Traurigkeit, keine Bitterkeit. Hier sind tausend und noch mehr große Dinge zu sehen und betrachten. Hier gibt es keine Trägheit und keinen Verdruss, nur tausende und abertausende Freudensprünge der geliebten Seele wegen ihres Schöpfers, ihres Heils und wegen dir, oh Mutter und Gebärerin allen Heils, unseres Herrn Jesus Christus. Zunächst ruft sich das › Ich ‹ die Freude über die Geburt Jesu in Erinnerung, die alle Geschöpfe - Menschen, Tiere und selbst die unbelebten Sterne - erfasst. Diese Imagination von Freude weckt im › Ich ‹ die Sehnsucht, selbst das zentrale Heilsereignis miterleben zu dürfen. Es beginnt, sich im Nachhinein in die Szene zu versetzen: Wenn es bei den im Text beschriebenen Ereignissen anwesend gewesen wäre, hätte das › Ich ‹ Freudentränen geweint, hätte das Jesuskindlein gemeinsam mit Maria betrachtet und liebevoll in den Armen gehalten. Diese Kette aus › was wäre, wenn ‹ -Überlegungen ermöglicht ein Eintauchen in den Imaginationsraum, das mit der Bitte an die Jungfrau, bei ihr verweilen zu dürfen, eine neue Ebene erreicht und die Präsenzerfahrung nochmals intensiviert. Die narrative Apostrophe bildet mit ihrem selbst-involvierenden Sprachgestus den Boden für weitere Immersionsangebote, die sich aus der im Text inszenierten Kommunikationssituation ergeben, aber über diese hinausgehen. Damit erscheint die Erzählhaltung der narrativ gebrauchten Anrede insofern besonders produktiv, als sie die Verwendung weiterer Elemente, die Immersionseffekte erzielen, vorbereitet und sogar verstärkt. Das zeigt sich vor allem in Passagen wie der eben beschriebenen: Indem das › Ich ‹ seine Empfindungen imaginiert, beschwört es sie und erlebt sie parallel zur Lektüre. Gleichzeitig werden objektives Heilsgeschehen und subjektive Gegenwartserfahrung enggeführt 43 und ein Imaginationsraum eröffnet, der weder vollständig identisch mit der Gegenwart des Rezipienten ist noch in der Vergangenheit der Heilsgeschichte liegt: Vielmehr handelt es sich um einen Begegnungsraum, in dem sich die Zeitebenen überlagern. Es ist ein paradoxaler Raum der Innerlichkeit, gleichermaßen mit den Erfahrungen des Hier und des Dort aufgeladen, wie sie in der mehrfach wiederholten lokal-temporalen Deixis hie Ausdruck finden: Der aufgerufene Moment ist »ein Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Präsentation, Evokation und Signifikation engführendes › ewiges Nu ‹ «. 44 Dass das Zeitglöcklein somit Skript für ein »imaginäre[s] Theater« 45 auf der Bühne des Inneren ist, das in der imaginären Vergegenwärtigung den individuellen Nachvollzug anleitet, zeigt sich im zwölften Kapitel, das Jesu Abschied von Maria schildert, bevor dieser zu seiner Predigertätigkeit aufbricht. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Schmerz Marias angesichts dieser Trennung, die der Text zum Anlass nimmt, das › Ich ‹ als handelnd zu inszenieren: 43 Vgl. Thali: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur (2009), S. 261. 44 Kiening: Präsenz - Memoria - Performativität (2007), S. 162. Nach Horst Wenzel machen die verschiedenen Deiktika den Text zu einem »ad-hoc-Geschehen«, das eine eigene Raumzeitlichkeit besitzt, vgl. Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 49. Ähnlich wie Kiening betont auch Hildegard Elisabeth Keller die Bedeutung des deiktischen nu, das eine »Überlagerung der Jetztzeit mit der Endzeit« bewirke, Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 60. 45 Müller: Realpräsenz und Repräsentation (2004), S. 127. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 211 <?page no="212"?> Da ward alle fro ᵉ id in groß ſ wert ſ nydlich mittlyden ir beyder hertzen verwandlet, da wurden die roten ro ᵉ ſ ly von hierico bleich, vn ˉ ir fro ᵉ lichen blettly nit ſ ich hangen. A myn arme ſ ele, merck eben vff vn ˉ betrüb dich ſ eliclich in ē red darzwü ſ ch ē vn ˉ su ͦ ch ob keyn mittel da ze fynden ſ ye, dz der herr ie ſ us lenger blibe, empfach die ſ eligen iungfrowen an dyn arm, die ſ üßen künglich ē mu ͦ ter, gib ira wa ſſ er, erbarm dich über swyndlend ē anmacht, leg eyn küssy vnder ir ſ enfftmütig houp, ſ ag vnd red ettwas tro ſ tlicher worten, vernünffticlkich, da von ſ y mo ᵉ g gelabet vnd getro ᵉ ſ tet werd ē . Sag ira wie der herr ie ſ us in ſ yn glorye müß gan. Sag von der groß ē ere, die im ſ yn hymel ſ cher vatter bereit hat, vnd wie er in di ſ e welt k ō men i ſ t, die ere gotts ze verkler ē mit würck ū g großer zeichen, mit erlüchtung der fyn ſ tern hertzen vnd erzo ᵉ igung des wegs zum ewigen leben mit ſ iner warlichen predige vnd dem vorbild ſ yns ſ eligen lebens [ … ] Al ſ o wirt das bitter ſ enen des müterlichen hertzen gemiltert vn ˉ wirt dir vergo ᵉ nnt by ira ze bliben vnd mit ira d ē herren ie ſ us nach ze gan an ſ in predigen vn ˉ dar nach an alle ort biß in ſ yn grab. (Zeitglöcklein, fol. 57b - 58b) Da wurde alle Freude in großes und scharfschneidiges Mitleid in den Herzen der beiden verwandelt, da wurden die roten Röslein von Jericho bleich und ihre fröhlichen Blättlein hingen kraftlos herunter. Ach, meine arme Seele, merke eben auf und trauere selig mit ihnen, rede dazwischen und schau, ob sich nicht irgendein Weg finden lässt, damit der Herr Jesus ein Weilchen länger bleibe. Nimm die selige Jungfrau in deine Arme, die süße königliche Mutter, reich ihr Wasser, hab ’ Mitleid mit ihrer schwindelnden Ohnmacht, leg ihr ein Kissen unter ihr sanftes Haupt, rede mit ihr und spende ihr ein paar tröstende Worte, auf verständige Art und Weise, damit sie dadurch erfreut und getröstet wird. Sag ihr, dass der Herr Jesus in seiner Glorie gehen muss, berichte ihr von der großen Ehre, die ihm sein himmlischer Vater bereitet hat und wie er in diese Welt gekommen ist, um Gottes Ruhm zu verklären, indem er große Wunderzeichen wirkt, finstere Herzen erleuchtet und ihnen mit seiner wahrhaftigen Predigt und mit seinem eigenen Vorbild den Weg zum ewigen Leben zeigt [ … ] Auf diese Art wird die bittere Sehnsucht des mütterlichen Herzens gelindert und dir wird es vergönnt sein, bei ihr zu bleiben und mit ihr dem Herrn Jesus nachzufolgen bei seiner Predigt und danach an alle Orte bis hin zu seinem Grab. Auch hier wird der Handlungsfortgang unterbrochen, um die Partizipation des › Ichs ‹ am Geschehen zu imaginieren, diesmal jedoch eingeleitet mit der Selbstanrede bzw. der Adressierung der eigenen Seele, die als Protagonist im Imaginationsraum aktiv werden soll. Das imperativische Merck fungiert als Zeigegeste, die das Gesagte unterstreicht und die Aufmerksamkeit des Rezipienten bindet. 46 Das › Ich ‹ imaginiert sich in der Rolle eines Helfers und Gefährten der Gottesmutter, der sich um deren körperliches und geistiges Wohl sorgt. In der Selbstanrede entfaltet das Ich die Fähigkeit, die Heilsgeschichte über den Handlungsmoment hinaus zu erfassen. Es schlägt in der imaginierten Trostrede den Bogen vom Heilsplan Gottes hin bis zum Opfertod Jesu, obgleich dieser im Rahmen der Trostworte jedoch nur verhalten anklingt. Auch hier mündet die Imagination im Wunsch, länger bei Maria verbleiben zu dürfen und ihr in einem Raum jenseits der eigenen Gegenwart und der unweigerlich voranschreitenden Heilsgeschichte nahe zu sein. Die Unmittelbarkeit, die sich aus der Einbindung des Rezipienten in diesen Kommunikationsbzw. Imaginationsraum ergibt, bekräftigt die »überzeitliche Geltung« des Heilsgeschehens und ruft dessen Heilsdimension ab. 47 Eine Variante dieser Imagination, die eine weitere Dimension der Teilhabe eröffnet und die sich durch die konsequente Anrede mitsamt ihrer Ich-Positionierung ergibt, findet sich 46 Vgl. Hammer: Inszenierung und Vergegenwärtigung im ersten Buch des Passional (2013), S. 345 bzw. Wenzel: Spiegelungen: zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 51. 47 Vgl. Hammer: Inszenierung und Vergegenwärtigung im ersten Buch des Passional (2013), S. 353. 212 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="213"?> im Rahmen der Passionserzählung. Das zwölfte Kapitel erzählt, wie der misshandelte Jesus vor Pilatus geführt wird. Hier wird aus dem Blickwinkel des › Ichs ‹ die äußere Gestalt des leidenden Jesus beschrieben: Aber leider man mocht dich ku ͦ m erkennen, al ſ o was dyn har verroufft, dyn houpt vnd dyn antlit, dyn ougen, dyn na ſ en, dyn mund vnd dyn halls von ſ weiß vnd blu ͦ t von dem würgen der banden vn ˉ kettyn ē von vnflat des ver ſ püwens ſ o gar ent ſ chickt vnd gele ſ tert die gantzen nacht. (Zeitglöcklein, fol. 93b) Aber man konnte dich leider kaum erkennen, so sehr war dein Haar zerrauft, dein Haupt und dein Gesicht, deine Augen, deine Nase, dein Mund und dein Hals von Schweiß und Blut bedeckt und von dem Würgen der Fesseln und Ketten und vom Schmutz des Bespucktwerdens die ganze Nacht so entstellt und gelästert worden. In dieser plastischen Beschreibung der Spuren, die die Folter hinterlassen hat, klingt noch das in der höfischen Epik gebräuchliche Muster der descriptio a capite ad calcem nach: Von oben nach unten schweift der Blick des Betrachters und lässt in der pervertierten Schönheitsbeschreibung das Ausmaß der Geißelung greifbar werden. Solchen Beschreibungen des Äußeren Christi liegen häufig Christusbildnisse zugrunde, die in der Tradition der Kirchenväter als besonders authentisch galten, so beispielsweise das Acheiropoieton des Abgar von Edessa, das mit dem Schweißtuch der Veronika identifiziert wurde, oder das dem Evangelisten Lukas zugeschriebene Christusbildnis in der Lateranbasilika. 48 Bemerkenswert ist die Reaktion auf diesen Anblick, die das Zeitglöcklein dem › Ich ‹ zuschreibt: A ſ üßer herr ie ſ us, yetz zittrend myne gebeyn vnd alle krafft vnd synne, ſ o ich an ſ ihen, wie die ober ſ t ē bischoff, die alten vn ˉ die witzigen im rat vff ſ tand mit val ſ chem ge ſ po ᵉ tt vnd dich gru ͦ ſ tend ha, herr der küng, ſ ynd wilk ō men. Wichuß, er i ſ t gotts ſ un, er i ſ t eyn prophet, aber die kun ſ t hat im gefelet. (Zeitglöcklein, fol. 93bf.) Ach süßer Herr Jesus, jetzt zittern meine Gebeine und [mir schwinden] alle Kraft und Sinne, da ich mitansehe, wie die obersten Bischöfe, die Alten und die Verständigen im Rat aufstehen unter falschem Gespött und dich grüßen: »Ha, der Herr, der König, seid willkommen. Passt auf, er ist der Sohn Gottes, er ist ein Prophet, aber die Kunst hat ihn verlassen.« Als »imaginärer Augenzeuge« 49 nimmt das › Ich ‹ am erzählten Geschehen teil - und bekommt dieses Erleben am eigenen Leib zu spüren: »[p]assio verpflichtet zur compassio und damit auch zur participatio«. 50 Zitternde Glieder und ein Ohnmachtsgefühl werden beschworen, der Rezipient vollzieht die Marter Jesu in abgeschwächter Form nach. Das Imaginationserlebnis wird damit zur imitatio Christi, die mit einem mimetischen, aber »konsequenzverminderten« actus conformationis einhergeht und das Erleben im Imaginationsraum mit realen Empfindungen verknüpft. 51 Indem es einerseits visuelle Eindrücke aufruft, andererseits körperliche Empfindungen zu erregen sucht, ist das Zeitglöcklein Vertreter einer »Dialektik von Verkörperlichung und Verinnerlichung«. 52 48 Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 180. 49 Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 51. 50 Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 51. 51 Vgl. Müller: Realpräsenz und Repräsentation (2004), S. 128. Müller betont die »Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf«, die im »Als-ob-Handeln« erhalten bleibt, vgl. ebd., S. 129. Auch Burghart Wachinger hebt den Modellcharakter der Passion für weitere Figuren des Glaubens und für Gläubige hervor, vgl. Wachinger: Die Passion Christi und die Literatur (1993), S. 3. 52 Kiening: Präsenz - Memoria - Performativität (2007), S. 151. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 213 <?page no="214"?> Derartige Passagen korrespondieren mit der Empfehlung der Vorrede, die Andachtsübung mit Gesten oder sogar Selbstkasteiungen zu begleiten: [Dazu ͦ ouch hilff bruch ē ] Ettwen in ſ o ᵉ lichem an das hertz slagen, Die ougen in den hymel erheben. Ettw ē veny ē vff dem herd oder vff dem banck nemm ē an heymlich ē ſ tett ē . Ettwen ob es ſ ich fügt di ſ ciplin n ē men mit der gei ſ len oder ru ͦ ten. (Zeitglöcklein, fol. 5af.) [Dabei hilft es, auch die folgenden Dinge zu gebrauchen: ] auch kann man sich dabei an die Brust schlagen und den Blick gen Himmel richten, an privaten Orten Kniebeugen am Ofen oder auf einer Bank machen, oder, wenn es sich anbietet, sich selbst mit der Geißel oder einer Rute züchtigen. Wie viele andere Meditations- und Andachtstexte des späten Mittelalters besitzt auch das Zeitglöcklein eine »nicht-verbale[ … ] Ebene der affektiven Teilnahme«, 53 die die imitatio Christi mit unterstützenden Handlungen befördern will. Hier offenbart sich ein Verständnis von Text als Erfahrungsmedium, das nicht länger nur kognitive, sondern auf Anschaulichkeit und Sinnlichkeit beruhende Erfahrung erzeugt. Bei dieser »Emanzipation der Sinnlichkeit« geht es darum, »den Text sichtbar für den Sehsinn, hörbar für den Hörsinn, riechbar für den Geruchssinn, schmeckbar für den Geschmackssinn, fühlbar für den Tastsinn werden zu lassen« und so letztlich dem Rezipienten den »Übergang vom Literalsinn zum Spiritualsinn« zu ermöglichen. 54 Eine weitere Strategie, die Imagination des Rezipienten anzuregen, ist die Vorgestaltung eines Gesprächs mit dem jeweils angesprochenen Protagonisten, für das der Text ein Skript bereitstellt. Auch hier spielt das Erzeugen von Präsenz eine entscheidende Rolle. Die narrative Apostrophe, die das Zeitglöcklein nahezu konstant durchhält, ist insofern schon immersiv, als sie die Imagination einer Kommunikationssituation erfordert, in der sich göttliches Gegenüber und der Gläubige gegenüberstehen. Dieses Potenzial wird jedoch an vielen Stellen weiter ausgeschöpft, indem das Sprecher-Ich sich nicht nur erzählendadressierend an das › Du ‹ wendet, sondern es mit seinen Gedanken, Reflexionen und Überlegungen konfrontiert und in Form von Fragen eine direkte Reaktion einfordert. Noch stärker als die rein adressierende Erzählung konstituieren diese Passagen die Präsenz des imaginierten Gegenübers. Die über die Anrede hinausgehenden Momente des Dialogs finden sich in verdichteter Form in den Abschnitten, die mit ursach, nutz oder frucht betitelt sind und in denen die Relevanz des Heilsgeschehens für das Leben des Rezipienten aufgezeigt wird. 55 Besonders eindringlich geschieht das im fünfzehnten Kapitel, in dem erzählt wird, wie Jesus zum Tode verurteilt wird: 53 Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 190. Auch Santha Bhattacharji benennt neben der Adressierung menschlicher Effekte und der visuellen Imagination auch die Evokation physischer Reaktionen als einen der zentralen Aspekte der kontemplativen meditatio: »emphasising physiciality, both in terms of physical practices as fasting or pilgrimage, and in terms of mapping out the spiritual path as a succession of physical phenomena«, Bhattacharji: Medieval Contemplation and Mystical Experience (2015), S. 53. 54 Largier: Die Applikation der Sinne (2007), S. 50 f. Überhaupt zeichnet sich die mystische Literatur nach Dietmar Mieth dadurch aus, dass sie sich an den »Grenzen von sprachlicher Ausdrucksfähigkeit [bewegt]« und eine ganz eigene Sprache der Erfahrungsvermittlung entfaltet, Mieth: Sprachbilder und Bildersprache bei Meister Eckhart (2015), S. IX. 55 Die Vorrede beschreibt diesen Unterkapitel-Typus folgendermaßen: Zum vierd ē [wirt be ſ tympt] die frucht vnd der nutz, ſ o dem men ſ ch ē vß yeglicher ſ t ū d nachuolget (Zeitglöcklein, fol. 4b: »Als viertes [werden] Frucht und Nutzen [dargelegt], wie sie dem Menschen aus jeder Stunde [= aus jedem Abschnitt des Lebens Christi] zugute kommen«). 214 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="215"?> O der wunderlich ē dingen. Ach gott, wer bin ich, daz ſ o ᵉ liche große ding mir ze heil be ſ chehend. Ich hab ge ſ ündet, ich byn dins tods eyn vr ſ sach, Ach gott, worumb bin ich geborn, des schedlichen leids, dz ich dich al ſ o ke ſ tigen vnd in den tod giben [ … ] Herr, worumb ha ſ tu di ſ e ding al ſ o gewo ᵉ llen volbringen. Darumbe wolte ſ tu am holtz lyden, daz du die frefelen vngehor ſ amy am holtz im paradiß verwürckt vnd den ewigen tod todte ſ t vn ˉ ableite ſ t. Du wolte ſ t das groß holtz ſ elbs tragen, vmb daz ich lernete eyn bu ͦ ßfertig leben vff mich nem ē vn ˉ ſ elbs üben. (Zeitglöcklein, fol. 120a - 121a) Oh diese wundersamen Ereignisse! Ach Gott, wer bin ich, dass solche großen Dinge mir zum Heil geschehen sind. Ich habe gesündigt, ich bin schuld an deinem Tod. Ach Gott, warum nur bin ich geboren? Dieses schädliche Leid, dass ich dich also martere und dem Tod überantworte [ … ] Herr, warum hast du diese Dinge so vollbringen wollen? Du wolltest deshalb am Kreuz leiden, um die Freveltaten und den Ungehorsam am Baum im Paradies zu sühnen und den ewigen Tod für uns zu erleiden und zu besiegen. Du wolltest das große Kreuz selbst tragen, damit ich lerne, ein bußfertiges Leben zu führen, und mich darin übe. Wie bei den anderen Passagen dieses Typs beginnt auch diese mit einer Interjektion, benannt wird zudem, was noch vertieft werden soll, in diesem Fall die scheinbare Widersprüchlichkeit der wunderlichen dinge[ … ]. Dass Christus als Gottessohn für den Sünder stirbt, erfüllt das › Ich ‹ mit ungläubigem Staunen und provoziert eine Reihe von Fragen und Antworten, die das › Ich ‹ nicht etwa an sich selbst richtet, sondern die es dezidiert in die Kommunikationssituation mit dem Gegenüber hineinnimmt. Die Antworten, die das › Ich ‹ selbst gibt, entsprechen den dogmatischen Glaubenswahrheiten, deren Zeuge es in der vorausgegangenen Erzählung geworden ist und die nun wie in einem Glaubensbekenntnis gegenüber der Kernfigur affirmiert werden. Aufgrund der »Ich- Beteiligung« 56 religiöser Rede ist diese »Aussage und Sprachhandlung zugleich« 57 und entfaltet in »Inszenierung einer direkten Gesprächssituation« ihre Wirksamkeit. 58 Die »performativ-dialogische Technik« eines »dramatisierten Betens« 59 findet sich auch in die Erzählung selbst eingestreut. Im elften Kapitel wird davon berichtet, wie Jesus vor die Hohepriester geführt wird. In die häufig wechselnden Anreden sind Fragen eingeflochten, die dem Rezipienten die Rolle eines Kommentators zuweisen: Ach herr, wo waren da dyne iunger, dyn fründe vnd lieben? O petre, iohan ˉ es, thoma vnd ander, wo ſ ynd üwer freidigen erbietungen, wo i ſ t üwer gelüpt, üwer by ſ tandt, üwer gloub? Ir ſ tand by der glu ͦ t vnd wermend üch. Worumb gand ir nit zu ͦ üwerem herren vn ˉ klagend vnd tro ᵉ ſ tend oder weyn ē d in, bekenn ē d ir in nit? I ſ t das üwer danck dz ir ſ o lang als die hünly vnder ſ ynen flügelen erzogen ſ ynd, alles mangels enig? (Zeitglöcklein, fol. 88bf.) Ach Herr, wo waren da deine Jünger, deine Freunde, deine Lieben? Oh Petrus, Johannes, Thomas und ihr anderen, wo ist eure freudige Ehrerbietung, wo ist euer Gelübde, wo euer Beistand, wo euer Glaube? Ihr steht bei der Glut und wärmt euch. Warum geht ihr nicht zu eurem Herrn und klagt? Warum tröstet ihr ihn nicht oder beweint ihn? Warum bekennt ihr euch nicht zu ihm? Ist das euer Dank dafür, dass ihr so lange wie Küken unter seinen Fittichen aufgezogen wurdet ohne irgendeinen Mangel? Indem es sich wechselseitig die Perspektive von Jesus und den Jüngern zu eigen macht, kommentiert das Sprecher-Ich das Geschehen, das sich ihm darbietet. Seine Fragen schüren 56 Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 91. 57 Schulte: Religiöse Rede als Sprachhandlung (1992), S. 91. 58 Suwelack: Performativität und Präsenz in spätmittelalterlichen Gebetstexten (2017), S. 168 f. 59 Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 131. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 215 <?page no="216"?> die emotionale Beteiligung, bringen im Fall der an Jesus gerichteten Frage nach dem Verbleib der Jünger Mitgefühl zum Ausdruck und nehmen zugleich einen vorwurfsvollen Tonfall gegenüber diesen an. Vor allem die Rede an die Adresse der Jünger erweckt den Anschein von Handlungsmacht: Die Fragen wirken wie Appelle, mit denen der Rezipient in das Geschehen einzugreifen versucht. Es sind Appelle, die sich letztlich an das › Ich ‹ selbst richten, wie im abschließenden Unterkapitel Der nutz vnd vr ſ ach deutlich wird: Leider mir armen, daz ich ſ o dick in ſ ünd fallen, dz ich durch blo ᵉ den glouben vnd bo ᵉ ſ e werck myns herren vn ˉ heils verlougnen vnd dem bo ᵉ ſ en fyend dien ē vnd gefallen dyn gaben nit an ſ ihen noch loben als ob ich dich nye bekan ˉ t vnd gantz nützit v ō dir hette. (Zeitglöcklein, fol. 91b) Weh mir Elendem, dass ich so sehr in Sünde geraten bin, dass ich durch schwachen Glauben und schlechte Werke meinen Herrn und mein Heil verleugne und dem bösen Feind diene und gefalle, dass ich deine Gaben nicht wertschätze und dich nicht lobe, als ob ich dich nie gekannt und nie so viel Gutes von dir erfahren hätte. Ex negativo wird hier das gewünschte Verhalten beschrieben, das der Rezipient im Gegensatz zu den Jüngern und auch in Kontrast zu seiner jetzigen Haltung einnehmen möchte. Die in der Anrede eröffnete Sprecher-Position ist eine Selbstverpflichtung, der größere Wirkmacht zugetraut wird, da sie den Leser in das erzählte Geschehen hineinzieht. 60 Indem die Stationen der Heilsgeschichte in Bezug zur individuellen Situation des Rezipienten gesetzt werden, wird das Heilsgeschehen zum je neu erfahrbaren und erfahrenen Ereignis mit je »aktuelle[m] Wahrheitsgehalt«. 61 Zu den präsenzstiftenden und die imaginatio fördernden Techniken zählt auch das »preisende[ … ] Aufrufen einzelner Momente des [Heils-]Geschehens«, 62 das nicht direkt an die Verwendung der narrativen Du-Anrede gebunden ist. Im sechzehnten Kapitel werden in hymnischer Sprache einzelne Momente der Kreuzigung evoziert, beklagt und zugleich gepriesen: A Herr diner seligen henden, die den hymel vmbgriffend. O der ſ cho ᵉ nen fu ͦ ßen, verkünder des heiligen fridens vnd ewigen lebens, wie übel wirt mit üch geh ā dlet, nepper, nagel, ſ eil vn ˉ hamer, da ſ i ſ t üwer danck vmb üwer gnad vnd barmhertzikeit. Ach der ſ tumpfen pynlichen nagel. Ach der wijten gemürdten wunden. O der richen blu ͦ tigen bechen. O des hertzlichen anblicks. O dins großen ſ mertzen dyns blo ᵉ den gei ſ ts, dyner ſ wyndlenden anmacht, dins fruchtbar ē gebett, diner ſ till ē gedultikeit. (Zeitglöcklein, fol. 124af.) Ach Herr, deine seligen Hände, die den Himmel umfassen! Oh die schönen Füße, Verkünder des heiligen Friedens und des ewigen Lebens, wie übel wird mit euch umgegangen - Schrauben, Nägel, Seil und Hammer, das ist für euch der Dank für eure Gnade und Barmherzigkeit. Ach, die stumpfen, schmerzverursachenden Nägel! Ach, die aufgerissenen gemarterten Wunden. Oh die blutigen Backen! Oh der herzzerbrechende Anblick! Oh deine großen Schmerzen deines geschwächten Geists, deine schwindelnde Ohnmacht, dein fruchtbares Gebet, deine stille Duldsamkeit! Wunden und Folterwerkzeuge, die arma Christi, werden abwechselnd adressiert und mit Jesu Heilswirken kontrastiert. Gegenüber dem nüchternen Evangelientext machen Andachtstexte wie das Zeitglöcklein Gebrauch von den Lizenzen funktionaler fictio und schmücken insbesondere den Passionsbericht stark aus. Derartige Passagen tragen zur 60 Vgl. Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte (2011), S. 339. 61 Weiske: Bilder und Gebet vom Leiden Christi (1993), S. 134. 62 Griese: Der Herzmahner - ein gedrucktes Andachts- und Gebetbüchlein (2012), S. 179. 216 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="217"?> Vergegenwärtigung bei, beschwören sie doch das vergangene Geschehen vor den Augen des Rezipienten und laden es mit Evidenz auf: Sie bewirken »ein Vor-Augen-Stellen dessen, [ … ] was räumlich und zeitlich entfernt ist, aber so › evident ‹ gemacht wird, als [ … ] sei [es] dem Hörer oder Leser gegenwärtig«. 63 Die hymnisch apostrophierten Elemente erlangen damit symbolischen und indexikalischen Charakter: In der Imagination stehen sie für die Folterwerkzeuge, im Erfahrungsraum des Rezipienten jedoch werden sie zu Symbolen für das Heilswirken Jesu. 64 Daneben finden sich weitere Visualisierungsstrategien, die auch in anderen Texten ohne die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe verbreitet sind. Dazu zählen vor allem das plastische Ausmalen und die Perspektivierung einzelner Personen, die beide auf die Erzeugung von compassio zielen. An vielen Stellen verwendet der Text viel Mühe darauf, das Geschehen besonders anschaulich zu beschreiben. Mitunter werden dabei Sinneserfahrungen evoziert, die über das Visuelle hinausgehen und zum geradezu synästhetischen Erlebnis werden. 65 So wird im Rahmen des Heilsratsbeschlusses der Jubel der Engel beschrieben: O herr, was fro ᵉ lichen hochzitts ward vff die ſ elbe ſ t ū d in den hymeln, dz alle ge ſ ang, bo ᵉ iggen, harppf ē , lut ē , orgelen, cmybel ē , p ſ altery ē vnd aller fro ᵉ iden ſ chall di ſ er welt des myn ſ t ē engels fro ᵉ id vn ˉ iubel nit geglichen mocht. (Zeitglöcklein, fol. 11b) Oh Herr, welch fröhliches Fest wurde da im Himmel veranstaltet, dass aller Gesang, alle Geigen, Harfen und Lauten, alle Orgeln, Zimbeln und Zithern und aller Freudengesang dieser Welt nicht der Freude und dem Jubel des geringsten Engels gleichkommt. Die Himmelsmusik, die sich dem menschlichen Geist eigentlich entzieht, wie der Unsagbarkeitstopos hier besagt, wird mit einer Vielzahl von Instrumenten und Klängen illustriert und vorstellbar gemacht. Diese »unähnliche Ähnlichkeit«, dissimilis similitudo, 66 gehört zu den typischerweise in religiösen Texten gebrauchten Strategien, um Ereignisse und Sachverhalte zu illustrieren, die sich der Vorstellungskraft und der Versprachlichung entziehen, aber dennoch imaginiert werden wollen. Hier macht sich der Text das ohnehin ausgeprägte Imaginationspotenzial der narrativen Apostrophe zunutze, um weitere immersive Textelemente anzusippen und die Versenkung des Lesers in den Text zu fördern. 63 Horst Wenzel beschreibt das Erzeugen von evidentia bzw. enargeia als rhetorische Technik, »die den Hörer oder Leser zum Augenzeugen machen will [und darauf] ab[zielt], mit sprachlichen Mitteln Augenscheinlichkeit so überzeugend zu fingieren, dass die Adressaten meinen, das Dargestellte selbst wahrzunehmen«, Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 41. 64 Vgl. Kiening: Präsenz - Memoria - Performativität (2007), S. 10. 65 Dass Heil synästhetisch erfahrbar gemacht werden soll, ist für Johanna Haberer ein wesentliches Charakteristikum der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur, vgl. Haberer: Distribution - Partizipation - Individualisierung (2012), S. 3. 66 Quast: Ereignis und Erzählung (2006), S. 33. Bruno Quast spricht in diesem Zusammenhang von der »paradoxalen Struktur des Zusammenhangs von Ereignis und Diskursivierung«: »Auf der einen Seite entzieht sich das Ereignis der Diskursivierung. [ … ] Auf der anderen Seite bedarf das Ereignis der Diskursivierung, weil nur auf diesem Weg der Ereignischarakter des Geschehens, seine Besonderheit, sichergestellt werden kann«, ebd., S. 45. Diese Darstellungsstrategie sei ein »Medium [, das] verfügbar mach[t], was als Ereignis entzogen ist. [Es] ermöglich[t] [ … ], eine absolute Fülle von Sein, Sinn oder Zeit im Diesseits punktuell und augenblickshaft mit [ … ] Macht und Intensität aufscheinen zu lassen«, Kiening: Einleitung (2009), S. 9. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 217 <?page no="218"?> Eine Klangkulisse, die direkt mit Eindrücken aus der Erfahrungswelt des Rezipienten arbeitet, wird im Rahmen der Kreuzigungsdarstellung erzeugt: Ah herr, was groß ē geprechtz vnd ge ſ chreygs ward da geho ᵉ rt, villicht tr ū peter, boiggen, pfiffer vn ˉ allerhand üppiger ſ pillüt wurden da an dich gereitzt mit vil la ſ ter on erbermd (Zeitglöcklein, fol. 123a: Ach Herr, welch großes Gekrächze und Geschrei wurde da vernommen, vielleicht Trompeter, Fiedler, Pfeiffer und viele weitere Spielleute wurden da mit großer Lasterhaftigkeit und ohne Erbarmen auf dich gehetzt. Was Fritz Oskar Schuppisser für Bildwerke beobachtet hat, dass Bilder nämlich keine »historisch exakte Rekonstruktion der Szene« bieten müssen, sondern vielmehr eine Mediävalisierung, also eine Übertragung des historischen Geschehens in die eigene Zeit, vornehmen, 67 wird bei der Aufzählung der Instrumente und Spielmannsleute auch im Text deutlich. Denn gemessen an der Kultur des römisch besetzten Judäas um die Jahrtausendwende mutet diese Szenerie anachronistisch an. An die Lebenswelt und die Gegenwart des Rezipienten schließt auch die Schilderung an, wie das Volk auf die Verurteilung Jesu reagiert. Derartige Szenen bieten eine Projektionsfläche für zeitgenössische Gebräuche und Konventionen bei Rechtsprozessen, die dem Leser das Nacherleben erleichtern. 68 Auf das ſ chalckhafftig[e] ge ſ chreig[ … ] krützig in, krützig (Zeitglöcklein, fol. 113a: »das boshafte Geschrei: › Kreuzigt ihn, kreuzigt ihn! ‹ «) wird eine emotionale Reaktion des Sprecher-Ichs beschworen, die wiederum Gelesenes und eigenes Empfinden engführt: O herr, wie übel mu ͦ ß ich mich ſ chemen, daz mir das grü ſ elich ge ſ chreye nit myns hertzen boden durchsn ſ ydet (Zeitglöcklein, fol. 113b: »Oh Herr, wie sehr muss ich mich schämen, dass mir das grausame Geschrei nicht den Grund meines Herzens durchschneidet«). Am eindringlichsten gelingt die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehen wohl immer dann, wenn das Sprecher-Ich die Perspektive eines Protagonisten übernimmt und dabei auch Einblicke in dessen Gefühlswelt erhält. Paradigmatisch für eine solche Perspektivierung ist Maria, die in der mittelalterlichen Theologie als »Prototyp des Mitleidens« 69 gilt. Auch im Zeitglöcklein folgt der Blick des Rezipienten dem Marias: Ach wirdige mu ͦ ter maria. Wie inneclich hu ͦ pt du an nüw treh ē uß boden dins hertzes vnd aller dyner natürlich ē krafft vergieß ē . O des go ᵉ ttlichen antlits. O der lieplich ē ougen. O der milt ē or ē . O der ſ cho ᵉ nen wang ē . O der wy ſ en na ſ en. O des hongflüßigen munds. O des künglichen houpts. O des müden ge ſ lagnen halls. O der vergelleten kelen. O des ge ſ wullnen gegeißleten ruggen. (Zeitglöcklein, fol. 138af.) 67 »Die Vermittlung der heilsgeschichtlichen Materie hieß [ … ] stets auch Aktualisierung dieser Materie: durch die Anpassung des Stoffes an kulturelle und soziale Praktiken der eigenen Zeit, durch moraltheologische Unterweisung und durch die Instrumentalisierung des heilsgeschichtlichen Stoffes für persönliche Kontemplation und Frömmigkeit. Die Aneignung heilsgeschichtlichen Wissens im und durch das Erzählen war so immer auch als eine unmittelbare Vergegenwärtigung des Heils gedacht«, Klein: Mittelalter. Lehrbuch Germanistik (2015), S. 268. 68 Vgl. Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 180. Dafür, Mediävalisierung als bewusst eingesetzte Technik im Dienst der Didaxe oder der imaginatio zu betrachten, plädieren beispielsweise auch Wolfgang Greisenegger in Bezug auf das Geistliche Spiel, vgl. Greisenegger: Die Realität im religiösen Theater des Mittelalters (1978), S. 148, sowie in Hinblick auf den Antikenroman Rouziès: Les Faits des Romains (2007), S. 232. 69 Hammer: Inszenierung und Vergegenwärtigung im ersten Buch des Passional (2013), S. 360: »In der Tradition der lateinischen Marienklagen sterben Christus und Maria gleichzeitig, Christus körperlich, Maria seelisch«. 218 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="219"?> Ach, ehrwürdige Mutter Maria. Wie innig begannst du da von neuem, Tränen vom Grund deines Herzens und all deiner Kraft zu vergießen. Oh das göttliche Antlitz! Oh die lieblichen Augen! Oh die zarten Ohren! Oh die schönen Wangen! Oh die weiße Nase! Oh der honigsüße Mund! Oh der müde geschlagene Hals! Oh die gequälte Kehle! Oh der geschwollene und gefolterte Rücken! Der Blick Marias wird hier zum Objektiv, durch das auch der Rezipient den Leichnam Jesu nach der Abnahme vom Kreuz betrachtet. Mit der Perspektive Marias übernimmt das › Ich ‹ auch deren Emotionen - das »Einnehmen der Figurenperspektive führt zwangsläufig zur Identifikation mit dem Heiligen«. 70 All diese Strategien zielen darauf, Heilsgeschichte erfahrbar zu machen. Die zentrale Herausforderung, der sich Texte wie das Zeitglöcklein stellen müssen, ist die »Subjektgebundenheit der Erfahrung«. 71 Anders als bloße Wissensinhalte ist insbesondere religiöse Erfahrung als ganzheitliche Einsicht nicht objektiv tradierbar: Sie gründet sich einerseits auf sinnlicher Wahrnehmung, andererseits aber auch auf den Schlussfolgerungen, die das Individuum auf Grundlage seiner Wahrnehmung zieht. Begünstigt wird sie durch die reale und metaphorische Begegnung. 72 Mit seinen durchgängigen Angeboten zur Imagination und zur Immersion ist die Erfahrung, die das Zeitglöcklein dem Rezipienten bietet, mit dem Eintreten in eine virtuelle Realität zu vergleichen. Das macht die Meditations- und Andachtstexte, zugespitzt formuliert, zu den virtual reality-Programmen des Mittelalters. In der Lektüre eröffnen sie dem Leser einen virtuellen Raum der Imagination, der wie eine »Art Guckloch in eine andere Zeitdimension« 73 Einblicke in das längst vergangene, aber dennoch aktuelle Geschehen der Heilsgeschichte bietet und Ausblicke auf das noch nicht eingetretene, aber schon antizipierte Jüngste Gericht ermöglicht. Der Text ähnelt mit seinem Fokus auf die Passionsgeschichte 74 einem virtuellen Kreuzweg, der mit seinen Erweiterungen um Schöpfung, Sündenfall, Heilsratsbeschluss und Jüngstes Gericht sowie den Ereignissen aus dem irdischen Leben Jesu zu einem Rundgang durch die Geschichte der Zeit von Anfang bis Ende ergänzt wird. Jedes Kapitel bietet dem durch Zeit und Raum der Heilsgeschichte wandelnden Rezipienten ein Diorama, mit dem er interagieren kann. An jeder › Station ‹ stehen jeweils neue Partner bereit, mit denen das › Ich ‹ das Heilsgeschehen gemeinsam erlebt, die als Gesprächspartner fungieren, um das Gesehene und Erlebte zu reflektieren, zu vertiefen und auf seine Bedeutung für das eigene Leben hin abzuklopfen. Dabei ist der virtuelle Raum, den der Rezipient kraft seiner Imagination betritt, weder eindeutig der Heilszeit noch der Gegenwart zuzuordnen. Vielmehr befindet sich der Rezipient in einem temporalen Schwebezustand, der Nicht-Zeit und All-Zeit zugleich ist. 75 Aus seiner 70 Thali: Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen Frömmigkeitskultur (2010), S. 444. Ebenso auch Suwelack: Performativität und Präsenz in spätmittelalterlichen Gebetstexten (2017), S. 172. Da die Perspektivierung auf emotional stark beteiligte Personen jedoch auch eine der zentralen Strategien ist, um Nähe zwischen Rezipient und Angesprochenem zu erzeugen, wird diese Technik unter dem Stichwort › Beziehungsarbeit ‹ noch einmal ausführlich behandelt, vgl. Kapitel 3.1.2. 71 Mieth: Annäherung an Erfahrung (1992), S. 7. 72 Vgl. Mieth: Annäherung an Erfahrung (1992), S. 7. Um den Aspekt der Begegnung bzw. der Beziehung geht es ebenfalls im folgenden Kapitel. 73 Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 54. 74 Zwölf Kapitel schildern die Stationen der Passion, drei weitere beschäftigen sich mit der Auferstehung. 75 In eschatologischer Perspektive leben Christen immer auch »in einer Spannung zwischen einem › Schon ‹ und einem › Noch-Nicht ‹ «, Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 54. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 219 <?page no="220"?> privilegierten Position heraus kann der Rezipient das Heilsgeschehen vollständig überblicken und hat insofern gegenüber den am Geschehen beteiligten Personen einen Wissensvorsprung, der es beispielsweise erlaubt, Maria mit dem Ausblick auf Jesu himmlische Ehre zu trösten oder Sündenfall und Heilsratsbeschluss auf sich zu beziehen. Zugleich ist das Eintauchen in und das Interagieren mit dem Imaginationsraum von körperlichen Empfindungen und Seelenregungen in der Gegenwart der Rezeption begleitet. Mit den Hilfestellungen, die das Zeitglöcklein dem Rezipienten bei der Andacht bietet, ist das Andachtsbuch ein › Lesebuch ‹ im vollen Sinne, dessen Layout und Hilfen zur Texterschließung (vgl. Abb. 10) 76 die »mentale Vergegenwärtigung« 77 unterstützen und verstärken. Auch die fünfundzwanzig Holzschnitte machen das Andachtsbuch zu einem multisensorischen Erlebnis. 78 Auszeichnungsschriften, Initialen, Rubrizierungen und vor allem die vielfältigen über den Text verstreuten Paragraphenzeichen ermöglichen dem Leser die Navigation durch den virtuellen Raum. 79 Sie erlauben es, von einem Gesprächspartner zum nächsten zu wandern, innezuhalten oder zurückzukehren. Damit wird über die in der Narration vermittelte Chronologie ein zweites Ordnungssystem gelegt, dass den Text in kleinere Sinnabschnitte unterteilt. Meist markieren die Paragraphenzeichen Adressatenwechsel oder zeigen einen neuen Gedanken an - sie unterstützen, wie in der Vorrede angekündigt, die Lektüreerfahrung. Das Zeitglöcklein ist »Präsenzsymbol« und Präsenzmedium in einem: 80 Es ist »textgestützte Vollzugsform«, das den »inneren Erfahrungsraum des Subjekts [zum] Schauplatz« 81 des Heilsgeschehens macht. 4.1.2 Intimität mit dem Göttlichen: Beziehungsarbeit und Affektivität im Itinerarium Beatae Virginis Marie Um die Prozesse religiöser Erfahrung im Medium des Textes reproduzierbar zu machen, bedienen sich die Texte, in denen die narrative Apostrophe gebraucht wird, einer Reihe von Techniken, die die Imagination des Lesers anregen. Sie alle zielen darauf, das › Faktum ‹ der Heilsgeschichte für den Leser erfahrbar zu machen und bereiten den Boden für eine über die sinnliche Wahrnehmung hinausgehende Erfahrung. Sie machen das göttliche Gegenüber ansprechbar und kreieren das Erlebnis einer individuellen Beziehung zwischen dem Göttlichen und dem › Ich ‹ . Geistesgeschichtlicher Hintergrund hierfür ist die Konzentration auf den Affekt, den die spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeitspraxis als konstitutiv für die Gotteserfahrung betrachtete. Mit der Schwerpunktverschiebung von kognitiven Methoden zur 76 Die Abbildungen 7 - 14 sind im Anhang zu finden. 77 Ute Mennecke-Hausteins Einschätzung geht sogar so weit, die Buchform als Voraussetzung zur »mentale[n] Vergegenwärtigung« zu betrachten, wenn sie schreibt, dass der Rezipient »ohne den vorgegebenen Text als Anleitung u[nd] Stütze nicht aus[komme]«, Mennecke-Haustein: › Erbauungsliteratur ‹ (1992), S. 234. 78 Vgl. Melion: Introduction: Meditative Images and the Psychology of Soul (2008), S. 1. 79 Darumb nach vnder ſ cheidunge der pünctlyn mit di ſ em zeichen al ſ o / ¶ / (Zeitglöcklein, fol. 2bf.: »Deshalb wurden die einzelnen Abschnitte mit diesem Zeichen ¶ versehen«). Die ganze Passage wurde im Rahmen der Textvorstellung in Kapitel 2.3.3.2 bereits ausführlich diskutiert. 80 Griese: Andachtsbuch als symbolische Form (2005), S. 24. 81 Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 126 bzw. 131. 220 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="221"?> Annäherung an Glaubensinhalte hin zu affektiven Strategien gerät auch das Subjekt mitsamt seinen je individuellen Affekten und Gefühlsregungen in den Mittelpunkt. Diese »subjektive[ … ] Aneignungsdimension« 82 nimmt den Gläubigen in die Pflicht: Das Glaubensgeheimnis entfaltet seine Wirkung nicht automatisch, erst durch eine kognitive und affektive Durchdringung kann es aktiviert werden. 83 So kann der Gläubige nach spätmittelalterlicher Vorstellung nur dann an der Heilsmacht der Glaubenswahrheit partizipieren, wenn er sich auch innerlich völlig auf sie einlässt. 84 Erst dann, so die Auffassung der mittelalterlichen Theologen, ist eine persönliche Beziehung zu Gott, die »unmittelbare Seelenbeziehung zum rettenden Heil« 85 möglich. Die Beziehungskonstitution ist also eine der primären Aufgaben der Texte, die wiederum zur Voraussetzung für weitere Ziele wird. Das gilt auch für das Itinerarium Beatae Virginis Marie bzw. Die walfart oder bilger ſ chafft der aller ſ eligi ſ ten Junggfrowen Marie inhaltend alle ſ taat jrs lebens. 86 Mit Maria als Sujet wählt das Itinerarium ein Gegenüber, das für die Gestaltung einer persönlich-personalen Beziehung geradezu prädestiniert ist. Denn aufgrund ihrer Rolle als Gottesmutter hat Maria wesentlichen Anteil an der Heilsgeschichte. Im Beziehungsgefüge zwischen dem Transzendenten und der Immanenz kommt ihr eine Mittlerposition zu. 87 Typologisch eine › zweite Eva ‹ ist sie advocatrix und adiutrix vor Gott. 88 Dieses Denken findet seinen ikonographischen Niederschlag im kolorierten Holzschnitt der › Schutzmantelmaria ‹ (Abb. 11), der die Verso-Seite des Titelblatts des Itinerarium ziert. 89 Die übergroße Mariengestalt hat hier ihren Mantel über eine Vielzahl von Gläubigen ausgebreitet. Die meisten haben die Hände zum Gebet gefaltet und schauen andächtig zur Gottesmutter auf. Die Figuren zu ihrer Rechten sind durch Kleidung und Kopfbedeckungen bzw. Haartracht als Kleriker zu erkennen, zu ihrer Linken haben sich die Laien eingefunden. Maria selbst hat das Gesicht zum von Christus beherrschten Himmel gewandt. Gloriole, die zum Segen erhobene Rechte und der Reichsapfel in der Linken weisen den Gottessohn als Weltenherrscher aus, sein Gefolge besteht aus elf weiteren Figuren, die ihn umrahmen und sich als die um Judas reduzierten Jünger identifizieren lassen. Die gelbgewandete Figur im oberen rechten Bildausschnitt, die den Schlüssel Petri und eine Bibel trägt, repräsentiert die 82 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 37. 83 Vhgl. Thali: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur (2009), S. 254. 84 Diese Notwendigkeit des »innerste[n] Ergriffen- und Aktiviertwerden der menschlichen Seelenkräfte« fasst Berndt Hamm pointiert zusammen: »Die Möglichkeit der Rettung am Ende seines Lebens gibt es nur für denjenigen, der im Stand der Gottesliebe stirbt, der Gott liebt und als Gottliebender von Gott geliebt und zur ewigen Seligkeit angenommen ist«, Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 26. 85 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 26. 86 Das Itinerarium wurde in Hinblick auf Inhalt, Vorlagen und Gestaltung schon in Kapitel 2.3.3.1 ausführlich vorgestellt. 87 Nach Gehard Schäfer prägen zwei Dogmen die Mariologie: zum einen die auf der Lateransynode von 649 verabschiedete Formel natus ex Maria virgine, in der die Jungfräulichkeit festgehalten wird, zum anderen die Vorstellung von Maria als θεοτόκος , als Gottesgebärerin, die sich auf dem Konzil von Ephesos 431 durchsetzte, vgl. Schäfer: Untersuchungen zur deutschsprachigen Marienlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts (1971), S. 3. Auch die Passionsbzw. Marienfrömmigkeit Bernhards von Clairvaux zeigt sich hier, nach der Maria als Mittlerin zwischen Christus und der Kirche galt, vgl. Knoch: Zur Bedeutung der Fürbitte im Hochmittelalter (2014), S. 224. 88 »Maria erscheint geradezu als von der Welt erwählte und applaudierte Sachwalterin ihres Heils«, Köster: Die marianische Spiritualität (1984), S. 460. 89 Herangezogen wird hier die Fassung aus der Basler Druckerei Lienhart Ysenhuts. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 221 <?page no="222"?> Kirche. Maria verbindet nicht nur Himmel und Erde, sondern auch Christus und seine Gläubigen miteinander, ihre Rolle als Fürsprecherin und Advokatin für die sündige Menschheit wird augenfällig in der Haltung ihrer Arme, die sie schützend über die Gläubigen hält. Der signifikante Heilsnutzen, den der Rezipient aus der Beziehung zu Maria zieht, wird in der Vorrede dargestellt: Un ˉ uß teglichem ver ſ uchen wirt wärlich bekannt vn ˉ erfarn ˉ , das der andechtig lieb haber d erwirdigen junckfrowen Marie, durch die mäß ſ olcher vbung gar bald ein newe vnd vnerfarne ſ üß ſ ikeit enpfind ē . (Itinerarium, fol. 5a) Und aus der täglichen Übung wird man wahrhaftig erkennen und erfahren, dass der, der die ehrwürdige Jungfrau Maria andächtig liebt, durch die regelmäßige Andachtsübung alsbald eine neue und bisher ungekannte Süße erleben wird. Ziel der täglichen Andachtsübung ist der Aufbau einer innigen Beziehung zu Maria, die ein affektives Glaubenserleben verspricht. Das Vokabular der Vorrede erinnert an die Brautmetaphorik des Hohelieds, die eine wichtige Rolle im monastischen Selbstverständnis und in der mystischen Literatur spielt. Wenn nämlich der Rezipient als lieb haber d erwirdigen junckfrowen bezeichnet wird, evoziert das den Gestus derjenigen mystischen Texte, in denen die Beziehung zwischen Gott und Seele als Braut Christi ebenfalls als Liebesbeziehung semantisiert wird. 90 Auch das, was dem Leser aus dieser textuell konstituierten Beziehung erwächst, wird anhand des Wortfelds eines auf Intimität und Affekt gründenden Bundes erschlossen. Die new vnd vnerfarene ſ üß ſ igkeit ist einerseits Metapher für die Beziehung zu Maria, andererseits verweist sie schon auf das ewige Leben, das nicht zuletzt durch Marias Fürsprache bei Gott erreicht werden kann. 91 Wie auch im Zeitglöcklein leistet die narrative Apostrophe einen wichtigen Beitrag zur › Beziehungsarbeit ‹ . Indem die erzählenden Anreden den Rezipienten zur Interaktion mit dem Text und über diesen hinaus ermuntern und ein Skript für den Dialog mit dem Göttlichen bzw. Heiligen bereitstellen, werden die Texte zu Präsenzmedien erster Güte. 92 90 Ein Beispiel für die von der Motivik des Hohen Lieds inspirierte Beziehung zwischen Seele und Gott in Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit bietet etwa die folgende Formulierung: Und únser loeser ist brútegovm worden! Die brut ist trunken worden von der angesihte des edeln antlútes (I,22 Z. 4 f.: »Und unser Erlöser ist Bräutigam geworden! Die Braut ist berauscht vom Anblick des edlen Angesichts.«). Zur Verarbeitung des Hohen Lieds durch Mechthild siehe Haug: Gottes-Erfahrung und Du-Begegnung (2000), S. 220 - 223 bzw. Haas: Struktur der mystischen Erfahrung (1979), S. 108 - 113. 91 Dass die Süßigkeit Weg zum und Teil des Reich Gottes zugleich ist, zeigt sich im weiteren Verlauf: Got wel das die ſ elbig ſ ü ſſ ikeit durch ir hilf al ſ o wird von vnß ver ſ ucht hie in zyt vn ˉ vf des weg, da mit ſ y uch zu ͦ letzt in dem ewigen vatter landt volkomen wird (Itinerarium, fol. 7a: »Gott will, dass wir diese Süße mit ihrer [= Marias] Hilfe so anstreben, jetzt und auf unserem weiteren Lebensweg, damit sie für euch zuletzt im ewigen Reich Gottes vollkommen wird«). 92 Wenn hier Zeitglöcklein und Itinerarium als › Medien ‹ bezeichnet werden, so ist damit keine Aussage über ihre Materialität getroffen. Beide Texte nämlich beinhalten Elemente, die sowohl Züge von Mündlichkeit als auch Schriftlichkeit aufweisen. Medium meint hier vielmehr die Vermittlerfunktion, die Texte im Rahmen der religiösen Kommunikation übernehmen: Sie mediieren zwischen der Sphäre des Göttlichen und dem Rezipienten und sind in diesem Sinne »Heilsmedien«. Bernd Hamm macht nach der Heilsvermittlung durch Christi Menschwerdung und Erlösungstod noch weitere sekundäre › Medien ‹ , aus, die die Gnadenerfahrung aktualisieren und dem Gläubigen nahebringen, vgl. Hamm: Die › nahe ‹ Gnade (2009), S. 27 - 34. Auch Christian Kiening fasst unter der »Medialität des Heils« verschiedene »Formen und Instanzen der Vermittlung«, die auf eine »Teilhabe am Göttlichen« zielen, Kiening: Einleitung (2009), S. 11. 222 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="223"?> Das liegt an der besonders offenen Kommunikationssituation dieser Erzählhaltung. Offen ist zunächst die Position des Sprechenden, die im Itinerarium nicht an eine Erzählerfigur oder eine Autorenpersona gebunden ist, sondern stets für den individuellen Rezipienten verfügbar bleibt. Auch das Itinerarium entfaltet so eine »performative Dynamik«, 93 indem es dem Leser erlaubt, sich die Gesprächssituation zu eigen zu machen. Darüber hinaus überschreitet die Kommunikationssituation des Itinerarium und die Anrede an eine heilige oder göttliche Figur 94 in vielfacher Hinsicht den Text. Neben der impliziten Adressierung des Rezipienten, die Grundkonstante literarischer Texte ist, schreibt das Itinerarium eine Kommunikation mit einem klar umrissenen intra- und extratextuellen Adressaten fest: Nym war ich armer ſ ünder vn ˉ dyn vnwirdiger diener. Begere dich mu ͦ ter vnd vnzer ſ törte jungfrowen ˉ , Vch myn getrwi ſ t ē be ſ chirmerin vß innerlich ē begir den myns hertz ē zu ͦ loben vn ˉ in myn hilf an zu ͦ ruffen, vn ˉ bit dich mit wein ē dem hertz ē ſ o getrwüliche ſ t als ich kann, inbry ſ ung vn ˉ zu ͦ lob dinß allerheilig ſ t ē nom ē s, vn ˉ zu ͦ heil miner arm ē gebre ſ thaft ē ſ el du welle ſ t ingedenck ſ in aller gab ē , gnad ē vn ˉ tugenden, aller fryheit, helikeit vn ˉ früden, mit den ē der barmhertzig got dich ſ in aller lieb ſ te mu ͦ [t]er [ … ] begabt, vnme ſſ iglich erfrowet vn ˉ vberflu ſſ iglich geziert het. (Itinerarium, fol. 14bf.) Merke, ich armer Sünder und dein unwürdiger Diener sehne mich danach, dich, Mutter und unbefleckte Jungfrau, die du auch meine treueste Behüterin bist, aus dem Drang meines tiefsten Herzens zu loben und um Beistand für mich zu bitten. Und ich bitte dich mit weinendem Herzen und so getreu wie ich nur kann, mit Preis und zu Lob deines allerheiligsten Namens, und zum Heil meiner armen, schwachen Seele: Du mögest eingedenk sein all der Gaben, Gnaden und Tugenden, aller Freiheit, Heiligkeit und Freuden, mit denen der barmherzige Gott dich, seine allerliebste Mutter, begabt, unermesslich erfreut und im Überfluss ausgestattet hat. Sowohl auf Ebene des Textes als auch über den Text hinaus stehen sich hier Rezipient und Maria gegenüber. Die Passage pflanzt dem Sprecher-Ich die Absicht zum Lobpreis und zur Bitte ein. Eben dafür entwirft sie ein Skript, das sich im weiteren Verlauf im Wechselspiel von Erzählung und Gebetsbitte entfaltet. Als Gebrauchstext stellt das Itinerarium ein Formular bereit, auf das der einzelne Gläubige bei seiner Andachtsübung zurückgreifen kann und das ihn zum Sprechen mit dem Göttlichen befähigt. Neben der Präsenzerzeugung 95 erlaubt die narrative Apostrophe auch den Einsatz von Strategien der Nähesprachlichkeit. Diese tragen wesentlich dazu bei, eine »Kultur der emotionalen Nähe« 96 zu kreieren, und hängen mit dem Gebetssprechen zusammen, das per se schon »Züge einer Sprache der Nähe« 97 trägt. Prototypisch für eine solche »Sprache der Nähe« bzw. für »Nahkommunikation« 98 ist das mündliche Gespräch in der Alltagskommunikation. Peter Koch und Wulf Oesterreich konnten in ihrem Aufsatz »Sprache der Nähe - Sprache der Distanz« (1985) zeigen, dass Schriftlichkeit oder Mündlichkeit nicht allein ausschlaggebend für die Zuordnung zu einem der beiden Pole ist. Vielmehr bilden beide Kategorien ein Kontinuum, das im Zusammenspiel verschiedener kommunikativer 93 Thali: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur (2009), S. 261. 94 In ontologischer Hinsicht gelten diese Figuren als überzeitlich und existieren außerhalb der linearen Zeit. Das erlaubt eine je neue Aktualisierung des Heilsgeschehens im »Akt des Lesens«, Thali: Formen und Funktionen des Lesens in der klösterlichen Frömmigkeitskultur (2010), S. 441. 95 Am Beispiel des Zeitglöckleins wurden diese schon ausführlich beschrieben, vgl. Kapitel 3.1.1. 96 Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte (2011), S. 359. 97 Becker: Gesprochenes Niederdeutsch um 1500 (2016), S. 140. 98 Koch/ Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz (1985), besonders S. 21 - 24 bzw. Kilian: Historische Dialogforschung (2005), S. 3. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 223 <?page no="224"?> Techniken und Parameter je neue Situationen hervorbringt. 99 Eine wichtige Rolle spielen dabei neben Kommunikationsbedingungen wie Rollenverteilung, Interaktion und (Un) Mittelbarkeit auch Versprachlichungsstrategien, die neben dem Planungsaufwand und der Art und Weise der Versprachlichung auch den Komplexitätsgrad betreffen. 100 Die Kommunikationsbedingungen, unter denen »Sprache der Nähe« gelingt, werden von Koch und Oesterreicher wie folgt beschrieben: Die Kombination › Dialog ‹ , › freier Sprecherwechsel ‹ , › Vertrautheit der Partner ‹ , › face-to-face- Interaktion ‹ , › freie Themenentwicklung ‹ , › keine Öffentlichkeit ‹ , › Spontaneität ‹ , › starkes Beteiligtsein ‹ , › Situationsverschränkung ‹ etc. charakterisiert den Pol › gesprochen ‹ . Die ihm entsprechende Kommunikationsform läßt sich am besten auf den Begriff Sprache der Nähe bringen. 101 Mit Blick auf die kommunikativen Strategien und die präferierten Medien kommen Koch und Oesterreicher zum Schluss, dass sich nähesprachliche Kommunikation durch Vorläufigkeit und Prozesshaftigkeit auszeichnet. Ein geringerer Planungsaufwand geht dabei mit einer geringeren Informationsdichte, Kompaktheit, Komplexität und Elaboriertheit einher. 102 In seinem 2001 erschienen Aufsatz »Sprachwandel, Varietätenwandel, Sprachgeschichte« überarbeitet Oesterreicher dieses Modell nochmals, indem er die Aspekte, zwischen denen das Kommunikationskontinuum aufgespannt wird, reduziert und zu Komplementärpaaren vereinfacht: Private vs. öffentliche Kommunikation, bekannte vs. unbekannte Kommunikationspartner, starke vs. schwache emotionale Beteiligung, raumzeitliche Ko-Präsenz vs. raumzeitliche Trennung, intensive vs. minimale Kooperation, dialogisches vs. monologisches Sprechen, Spontaneität vs. Reflektiertheit sowie thematische Freiheit vs. thematische Fixierung sind nun die zentralen Charakteristika. 103 Indem er dabei dem Begriff › kommunikativen Nähe ‹ den der › konzeptionellen Mündlichkeit ‹ zuordnet bzw. der › kommunikativen Distanz ‹ die › konzeptionelle Schriftlichkeit ‹ gegenüberstellt, betont er deutlich, dass das Medium nicht ausschlaggebend für die Zuordnung zum einen oder anderen Pol sein kann. 104 Das Itinerarium mit seiner Nähe zum Gebet lässt sich nach diesem Verständnis trotz des hohen Grades an thematischer Fixierung und Elaboriertheit dem Pol der Nahkommunikation zuordnen. Vor dem Hintergrund der spezifischen Kommunikationssituation gilt Maria als »personales Gegenüber, zu dem man in eine personale Beziehung [ … ] treten kann«, 105 auch in raumzeitlicher Perspektive gibt es keine Trennung. Stattdessen stehen sich beide Kommunikationspartner im »Imaginationsraum« kopräsent gegenüber. Das Itinerarium gestaltet somit eine »Zwiesprache mit Gott« 106 respektive mit Maria vor: 99 Vgl. Koch/ Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz (1985), S. 21. 100 Eine detaillierte Übersicht hierzu bildet das von Koch und Oesterreicher entworfene Schaubild, Koch/ Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz (1985), S. 23. 101 Koch/ Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz (1985), S. 21. 102 Vgl. Koch/ Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz (1985), S. 21. 103 Vgl. Oesterreicher: Sprachwandel, Varietätenwandel, Sprachgeschichte (2001), S. 220 f. 104 Oesterreicher: Sprachwandel, Varietätenwandel, Sprachgeschichte (2001), S. 221. Nähesprachlichkeit kann dabei global oder partiell sein, vgl. Koch/ Oesterreicher: Sprache der Nähe - Sprache der Distanz (1985), S. 24. Für Anja Becker zeichnet sich Sprache in Aktion durch »eine vermittelnde Bewegung zwischen den Gegenpositionen der Nähe und der Ferne, der Verbindung und der Trennung« und durch die »Dialektik von Aktivität und Passivität« aus, Becker: Poetik der wehselrede (2009), S. 251 f. 105 Bernhardt: Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets (2006), S. 103. 106 Bernhardt: Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets (2006), S. 103. 224 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="225"?> »Funktional dialogisch« ist das Itinerarium insofern, als »außer einem Sprecher [ … ] in der Rolle des Senders« auch »eine Hörer[in … ] in der Rolle des Empfängers an der Sprachhandlung teilhat«, 107 formal monologisch, als kein Wechsel von Sender- und Empfänger- Rolle stattfindet. Die Kommunikationssituation, die im Itinerarium zwischen Rezipienten und Maria evoziert wird, ist also trotz des Schriftmediums eine der Nähe. Die so gestiftete Beziehung rückt an eine innerweltliche, das heißt zwischenmenschliche Beziehung heran. 108 Die mit der narrativen Apostrophe verknüpften Anreden sind hier wichtig für die Beziehungskonstitution. Generell übernehmen Anreden, wie Roman Jakobson beschreibt, 109 in der Kommunikation oftmals phatische und emotive Funktionen. Sie dienen der Eröffnung, der Aufrechterhaltung und schließlich der Beendigung des Kontakts mit dem Angesprochenen und geben Auskunft über den Sprechenden. Diesem Kommunikationsprozess entspricht die Binnenstruktur des Itinerarium. Jeder der sieben Hauptteile ist weiter unterteilt in drei artikel: bry ſ ung vnd lob (Lobpreis), ermanung ē (vergegenwärtigende Erzählung) und bittung ē (Gebetsbitten) (Itinerarium, fol. 6a). Das anfängliche Lob dient der Kontaktaufnahme und entspricht einer captatio benevolentiae, die in die Erzählung eingestreuten Anreden halten den einmal eröffneten Kontakt aufrecht, die Anreden der Gebetsbitten beschließen ihn. Wie werden die Anredeformen nun im Itinerarium zur Beziehungskonstitution eingesetzt? Als Beziehungsmarker tragen sie dazu bei, die Beziehung zwischen Sender und Empfänger zu formen. Sie sind nicht nur rein phatisch, sondern erfüllen auch emotive, das heißt selbstenthüllende, und konative, also appellative Funktionen. Das Wortfeld, aus dem die Anreden des ersten Kapitels schöpfen, zeugt von der Mehrschichtigkeit der im Itinerarium vorgestalteten Kommunikation. Mit der preisenden Anrufung Marias setzt das erste Kapitel ein: Aller ſ chöni ſ te, lobrichi ſ te vnd vbertreffenlichi ſ te ymerwerende iunggfrow, vch ymerewige ge ſ egnete mu ͦ ter gottes Maria. O wunderbares wyb von allen creaturen wunderb ā rlich zu ͦ loben. Dann durch dich werden die element ernewert, die helli ſ chen ſ chad ē geheilt, die men ſ chen behalten, vn ˉ die kör der engel er ſ etzet. (Itinerarium, fol. 13a) 107 Kilian: Historische Dialogforschung (2005), S. 2. Siehe dazu auch Hagby/ Hüpper: Gebete als dialogische Rede (2012), S. 191. Jörg Kilian wendet jedoch in Anlehnung an Edda Weigand ein, dass Sprache grundsätzlich dialogisch ist und der Monolog damit kein Gegenbild, sondern ein »dem Dialog untergeordnete[r] Spezialfall« sei, Kilian: Historische Dialogforschung (2005), S. 2 bzw. Weigand (1986), S. 119. 108 Bongardt: Christliches Beten zwischen Abgrenzung und Offenheit (2006), S. 40. 109 Roman Jakobson erweitert Bühlers dreigliedriges Organonmodell auf insgesamt sechs Sprachfunktionen, indem er die drei › Akteure ‹ der Kommunikation, Sender, Botschaft und Empfänger um insgesamt sechs Faktoren mit spezifischen (Sprach-)Funktionen ergänzt: Zunächst bezieht er den Kontext (referent) als Grundlage für eine referenzielle, d. h. einen Inhalt vermittelnde Kommunikation ein. Der Botschaft schreibt er eine poetische Funktion zu, in der Sprache selbst Teil der vermittelten Information wird. Jakobson identifiziert außerdem den Kontakt selbst als Faktor, der durch die phatische, also kontakterhaltende Funktion der Botschaft aufrechterhalten wird, sowie den Code, in dem eine metasprachliche Komponente zum Tragen kommt. Diese erlaubt es, die Sprachverwendung selbst zu thematisieren. Auf Seiten des Senders, der mit seiner Botschaft Auskunft über sich selbst gibt, verortet Jakobson eine expressive bzw. emotive Sprachfunktion, auf Seiten des Empfängers hingegen die konative, das heißt die appellative Funktion, vgl. Jakobson: Linguistics and Poetics (1960). 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 225 <?page no="226"?> Allerschönste, lobenswerte und übertreffliche immerwährende Jungfrau, auch ewig gesegnete Muttergottes Maria. Oh wunderbare Frau, die vor allen anderen Geschöpfen wunderbar zu loben ist. Denn durch dich werden die Elemente erneuert, die höllischen Wunden geheilt, die Menschen bewahrt und die Chöre der Engel erfreut. In hymnischem Duktus wird Maria hier mit den üblichen Epitheta als Jungfrau und Gottesmutter adressiert, gleichzeitig betont die Anrede ihren herausragenden Platz im göttlichen Heilsplan. In einer Reihe weiterer Anreden wird ihre Miterlöserschaft bestätigt: leiter des heiligen patriarchen iacobs, der brinn ē t vn ˉ vnuerzirt bu ͦ sch mo ſ y, gru ͦ n ē t ru ͦ t aarons, ſ tam vn ˉ die wurczel ye ſſ e, be ſ chlo ſſ en garrt vnd [ … ] port Ezechiels (Itinerarium, 14a: »Leiter des heiligen Patriarchen Jakob, der brennende und unversehrte Busch Moses, die grüne Rute Aarons, Stamm und Wurzel Jesse, verschlossener Garten und Pforte Ezechiels«). All diese Marienbilder wurzeln in den Prophetien des Alten Testaments und haben ihren festen Platz in der Marienfrömmigkeit des Mittelalters. Den Ehrennamen ist eines gemein: Sie zielen auf die Erhöhung Marias und drücken mit der Ehrerbietung auch eine Unterordnung des Sprecher-Ichs aus. Der Abschnitt erinnert damit stark an die invocatio Dei, die in traditionellen Gebetsrhetoriken beispielsweise des Origines oder Wilhelms von Auvergne als Eingangspasssage beschrieben wird und die eine tendenziell asymmetrische Beziehung konstituiert. 110 In der darauffolgenden ermanunge wird diese Unterordnung expliziert. Zu den Ehrentiteln, mit denen Maria angesprochenen wird, gesellen sich Selbstbezeichnungen. So nennt sich das Sprecher-Ich mehrfach armer ſ ünder oder dyn unwirdiger diener (Itinerarium, fol. 14b) und erfüllt das für die Nähesprachlichkeit wichtige Kriterium von Involviertheit und Expressivität. 111 Während die Anrufungen des Lobpreises den Kontakt initiieren, schreiben die Komplementärpaare aus Anrede und Selbstbezeichnung die anfangs hervorgebrachte Beziehung mit ihrem deutlichen Gefälle weiter fort. Wie im Zeitglöcklein bzw. in den einzelnen Episoden von Christi Hort, mündet auch hier die Erzählung der ermanunge in eine abschließende Bitte, die die Gegenwart des › Ichs ‹ mit dem erzählten Heilsgeschehen verbindet. Anknüpfungspunkt ist nun Marias Rolle als Mutter Gottes - eine Rolle, die sie jetzt auch für den weiterhin als Sünder figurierenden Sprecher einnehmen soll. 112 Unter die Ehrentitel mischen sich nun intimere Anreden, die auf die persönliche Beziehung der Gottesmutter zum betend-erzählenden Gläubigen zielen. Sie erscheint einerseits als Helferin und Fürsprecherin der Sünder, wird beispielsweise als vnuer ſ igen brunnen der dur ſ tigen ſ elen oder als fürerin der vn ſ teten (Itinerarium, fol. 21b: »unerschöpflicher Brunnen der durstigen Seelen«, »Führerin der Unbeständigen«) angerufen. Zugleich schöpft das Sprecher-Ich auch aus dem Vokabular der Minne, adressiert Maria als aller ſ u ſſ i ſ te iungfrow (Itinerarium, fol. 23a: »allersüßeste Jungfrau«) und drückt damit Hoffnung und Zuversicht aus, dass die Intimität und Nähe angenommen und erwidert werden. 113 110 Vgl. Wiederkehr: Das Hermetschwiler Gebetbuch (2013), S. 126. Zum idealtypischen Aufbau von Gebeten siehe Kapitel 2.3.2. 111 Becker: Gesprochenes Niederdeutsch um 1500 (2016), S. 140. 112 Mit derartigen Einlassungen, die Einblicke in die Geschichte des Rezipienten erlauben, vor allem jedoch das Erleben der Du-Protagonistin schildern, erweist sich das Itinerarium als Paradebeispiel für den Typus der »homokonativen Du-Erzählung mit homodiegetischen Einlassungen«, vgl. Kapitel 3.1.2.1. 113 »[B]eharrliches Beten ist ein Ausdruck des tiefen Vertrauens in Gott, der Ernsthaftigkeit des eigenen Anliegens (so je nach Lk 11,5 ff.) sowie der Gewissheit, dass menschliches Bitten Gott zum Handeln zu 226 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="227"?> Gerade in diesem letzten Abschnitt der Bitte gewinnt die konative Funktion an Gewicht: Das Sprecher-Ich möchte eine Reaktion bei seinem Gegenüber bewirken und verpflichtet die Gottesmutter durch die Anreden auf ein Verhalten, das ebendiese Anreden vorwegnehmen. Die Anreden an Maria kodieren nicht nur eine bereits existierende Beziehung, sondern beeinflussen das Verhältnis beider Kommunikationspartner mit. 114 Sie sind insofern wichtiger Bestandteil der › Beziehungsarbeit ‹ , als sie die anfängliche Distanz und Asymmetrie in der Beziehung zwischen Gottesmutter und Rezipient verringern und die Beziehung › korrigieren ‹ . Zwar perpetuieren sie zunächst den durch die hymnischen Ehrentitel affirmierten Abstand zwischen beiden Partnern. Indem jedoch zunehmend Elemente der Nähe und Vertrautheit in die Anreden aufgenommen werden, wird die Beziehung facettenreicher und wird trotz des unverrückbaren Abstands zwischen Gottesmutter und Sünder zur intimen Begegnung. 115 Was damit außerdem deutlich wird, ist das Prozesshafte an der im Itinerarium angelegten Beziehung: Sie ist nicht festgeschrieben, sondern durchläuft eine Metamorphose, 116 die auf eine immer stärkere Annäherung des Gläubigen an die Gottesmutter abzielt. Befördert wird damit auch die Positionierungsarbeit des Rezipienten, der sich Maria in konzentrischen Kreisen nähert, bis er schließlich in den Kreis ihrer Schützlinge aufgestiegen ist. Diese Metamorphose korrespondiert mit der in der Vorrede prominenten Textabsicht, den sündigen Leser zu einem gerechten men ſ chen (Itinerarium, fol. 3a: »rechtschaffenem Menschen«) zu machen. Je näher der Rezipient diesem Ziel kommt, desto inniger wird die Beziehung zu Maria. Ein stetiger Aushandlungsprozess ist aber auch das Changieren zwischen »hymnischer Feierlichkeit und intimer Ansprache, zwischen Formelhaftigkeit und Spontaneität«. 117 Obwohl das Medium Andachtsbuch gegenüber dem spontanen Gebet an Flexibilität verliert, ein höheres Maß an Reflektiertheit einfordert und sich thematisch stärker festlegt, sind wesentliche Aspekte der Nähesprachlichkeit erfüllt. Die Konzentration auf die zu aktualisierende Beziehung zwischen Rezipienten und Gottesmutter zeugt von der spätmittelalterlichen Tendenz zur Individualisierung der Frömmigkeitspraxis und markiert »den zunehmenden Übergang des Betens von einer Sprache der Distanz zu einer Sprache der Nähe«. 118 In diesem Sinne ist das Itinerarium ein charakteristisches Beispiel für ein Sprechen, das sich aufgrund des Mediums und der Schriftform distanzsprachlicher Strategien bedient, über weite Strecken jedoch auch den Modus der Nähesprachlichkeit gebraucht. Dieser zeichnet sich vor allem durch eine starke emotionale Beteiligung aus, 119 die sich in der Affekt-Bezogenheit des Itinerarium niederschlägt. Das ergibt sich schon aus der Verwendung der zweiten Person Singular, die eine »engere persönliche Vertrautheit« 120 mit dem Gesprächspartner bewirkt und die eine »Situation intimster oraler Kommunikatibewegen vermag«, Obermann: Überlegungen zur (Für-)Bitte als Inanspruchnahme Gottes aus biblischer Sicht (2006), S. 80. 114 Vgl. Braun/ Lebsanft/ Schöpsdau: Anrede (1992). 115 Vgl. Mieth: Annäherung an Erfahrung (1992), S. 7. 116 Das Moment der Transformation ist in der Semantik des Itinerarium in das Bild der Reise, der Wallfahrt bzw. des Itinerarium gekleidet, das prominent im Titel steht. 117 Becker: Gesprochenes Niederdeutsch um 1500 (2016), S 140. 118 Becker: Gesprochenes Niederdeutsch um 1500 (2016), S 158. 119 Oesterreicher: Sprachwandel, Varietätenwandel, Sprachgeschichte (2001), S. 221. 120 Grosse: Reflexe gesprochener Sprache im Mittelhochdeutschen (2000), S. 1394. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 227 <?page no="228"?> on« 121 erzeugt. Mindestens genauso wichtig ist hier jedoch eine Strategie, die nicht direkt mit der Verwendung der narrativen Apostrophe zusammenhängt, deren Wirkung durch diese jedoch noch intensiviert wird und die auch im Zusammenhang mit den Imaginationsstrategien beleuchtet wurde: die Emotionalisierung des Rezipienten durch die Übernahme der Figurenperspektive. Noch stärker als im Zeitglöcklein nutzt das Itinerarium die paradigmatische compassio Marias, um den Rezipienten zu affizieren und dessen Beziehung zur Gottesmutter auf ein höheres Level zu heben. Besonders in den Abschnitten, in denen die Passion Christi erzählt wird, lässt sich eine solche Perspektivierung beobachten, die auf die Erzeugung von »psychischer Nähe« 122 zwischen beiden Gesprächspartnern zielt, so auch in der folgenden Schilderung der Gefangennahme Jesu: Betracht O du aller ſ enftmütigi ſ te iungfrow wie ſ o du von den jungern alle di ſ e ding (als gütlich zu ͦ glauben i ſ t) hören wa ſ e ſ t, ha ſ t dy gancze nacht gewachet, vnd dich ſ elbs mit weinen vnd ſ chmerczen hertiglich gepyuiget / Wan du warde ſ t geang ſ t mit ſ chmerczen, geke ſ tiget mit ſ ünfczen, vnnd in allen dinen inwendigen glider ſ o gar gemüdt, das du al ſ o ſ chwach vnd abnemendt kaum he ſ st o ᵉ dmen mögen, ſ icherlich wa ſ e ſ t du ein exempel des kumers vnd ſ chmerczen, allen denen die cri ſ tum lieb haben. (Itinerarium, fol. 76b) Denke daran, oh du allersanfteste Jungfrau: Wie man wohl glauben kann, hast du, als du von den Jüngern all diese Dinge hörtest, die ganze Nacht wachgelegen und dich selbst mit Weinen und Schmerzen kasteit. Denn du wurdest von Schmerzen so geängstigt und mit Seufzen gequält, und in allen tiefsten Gliedern warst du so ermattet, dass du so schwach und kraftlos kaum hast atmen können. Sicherlich warst du für alle, die Christus lieben, ein Vorbild für Kummer und Schmerz. Verlagert in die zweite Person werden hier nicht nur äußere Ereignisse wiedergegeben, vielmehr immediatisiert das Gesprächsformular den Schmerz Marias. Eine solche Perspektivierung verringert zudem den Abstand zwischen Gottesmutter und Rezipient. Indem Maria in ihren schwächsten Momenten gezeigt wird, erscheint sie dem Leser menschlich und ansprechbar. In Beziehung gesetzt zu den preisenden Anreden, die auch in die Anrufung dieses Teils integriert sind - Maria wird hier apostrophiert als mu ͦ ter gotz, vnzer ſ torte magt und erwirdigi ſ te frowen (Itinerarium, fol. 71b: »Mutter Gottes, unversehrte Jungfrau«, »ehrwürdigste Herrin«) - , zeigt sich hier die »unaufhebbare Spannung« zwischen dem Abstand von Gott und Mensch und der Gewissheit, dass Gott (und seine Vertreter) nahbar sind. 123 Das affizierende Potenzial liegt auch darin begründet, dass Maria als Imaginationsfigur den Blickwinkel des Lesers bestimmt, bis beide Perspektiven verschmelzen: 124 Gedenck aber wye du ge ſ ehen ha ſ t, das er mit ſ charpffer pen an der ſ tat golgatha ußge ſ chleyft, vnnd uf das krücz bloß vnd hart geworffen, grülich ußge ſ pantt, vnnd hin vnnd her ſ trengklich uß einander gedent vnnd gezogen mit durchlo ᵉ chertten henden vnd fü ſſ en. Betraht dar noch wie du yn ſ echt an dem 121 Müller: Die Anrede an ein unbestimmtes Du in der englischen und amerikanischen Erzählkunst (1984), S. 121. Damit ist auch das Gebet ein »unmittelbare[r] Akt von höchster Intimität«, Bernhardt: Systematisch-theologische Überlegungen zum Sinn des Bittgebets (2006), S. 103. 122 Müller: Die Anrede an ein unbestimmtes Du in der englischen und amerikanischen Erzählkunst (1984), S. 123. 123 Bongardt: Christliches Beten zwischen Abgrenzung und Offenheit (2006), S. 39 f. 124 Vgl. Rau/ Scheel: Meditation und Gebet (2016), S. 277. 228 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="229"?> krücz vfgehebet, mit ſ chweyß vn ˉ blu ᵉ t allenthalb vber go ſſ en, uch g ā cz vberal mit plagen, ſ chlegen vnd wunden ſ o bitterlich vnnd ſ charfferri ſſ en worden i ſ t. (Itinerarium, fol. 82b - 83b) Denke aber daran, wie du gesehen hast, dass er [= Jesus] unter bitteren Schmerzen zur Hinrichtungsstätte Golgotha geschleift wurde und dort auf das nackte und harte Holz geworfen wurde, wie er dort auf grausame Weise aufgespannt wurde, und in alle Richtungen unerbittlich gestreckt und gezogen wurde mit seinen durchlöcherten Händen und Füßen. Betrachte außerdem, wie du gesehen hast, wie er am Kreuz aufgerichtet wurde, überall mit Schweiß und Blut überströmt und auch überall mit Qualen, Schlägen und Wunden so bitter und heftig gequält wurde. Marias Blick leitet den Blick des Rezipienten, der so nicht nur ihre Perspektive, sondern auch ihre Innenwelt übernimmt. Der Text ermöglicht eine Ko-Präsenz, die nicht nur die gegenwärtige Kommunikation betrifft, sondern auch die Teilhabe an vergangenem Geschehen eröffnet: Maria wird dazu aufgefordert, sich ihr Erleben bei Christi Kreuzweg und der Kreuzigung zu vergegenwärtigen. Die zeitliche Distanz zwischen der Gegenwart der Rezeption und der Vergangenheit des Passionsgeschehen wird dabei nahezu aufgehoben. Der an Maria gerichtete Appell zur Vergegenwärtigung ist also ein Selbstappell an den Leser, an den längst vergangenen und nun aktualisierten Geschehnissen zu partizipieren. Was Passagen wie diese überdies auszeichnet, ist die Tatsache, dass Maria als Adressatin der Apostrophe nicht auch Subjekt des erzählten Geschehens ist. Auch Christus, der zwar grammatisches Subjekt der Handlung ist, ist nur Patiens des narrativ vermittelten Kreuzigungsgeschehens. Logisches Agens der Handlung sind vielmehr diejenigen, die Christi Kreuzigung zu verantworten haben und durchführen, die Gesprächspartner des Text- › Ichs ‹ haben für den Moment hingegen ihre Handlungsmacht verloren. Wie der Rezipient, der dazu aufgefordert wird, Marias Blickwinkel zu übernehmen, ist auch die Gottesmutter in der Kreuzigungsszene nur passive Beobachterin. Hier zeigt sich einmal mehr das erfahrungsstiftende Potenzial der narrativen Apostrophe: Indem die Beobachterperspektive, die Maria auf Ebene der histoire einnehmen muss, in der narrativen Gestaltung gespiegelt wird, Maria und Rezipient in der Beobachterperspektive also verschmelzen, erlebt der Rezipient Marias Ohnmacht und wird im Miterleben der Passion der Gottesmutter angeglichen. Als Demutsübung befördert diese selbstauferlegte Passivität zudem den Selbstbildungsprozess des Rezipienten. Die Strategien der Nähesprachlichkeit, die im Itinerarium und in anderen Texten des Korpus zur Beziehungskonstitution eingesetzt werden, sind Ausdruck eines »Ideal[s] größtmöglicher Unmittelbarkeit, einer [ … ] Immediatisierung des Heiligen«. 125 Die Du- Anrede erweist sich, vor allem in den dialogischen Passagen, als zentrales Medium, um Nähe zu stiften und die Beziehung zwischen dem Rezipienten und Maria zu formen. Die dialogischen Partien fügen sich dabei nahtlos in die narrative Vermittlung des Geschehens ein, bildet die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe doch auch hier den erzählerischen Rahmen, der unterschiedliche Schwerpunktsetzungen ermöglicht. Die Nähe zum Heiligen und Göttlichen beruht auf einer innigen Vertrautheit nicht nur mit dem Heilsgeschehen, sondern mit den Protagonisten dieses Heilsgeschehens. Sie zeugt von den Bemühungen des Gläubigen, »einen möglichst direkten Zugang [ … ] zum Erbarmen Gottes, das dem 125 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 21. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 229 <?page no="230"?> Menschen nahe gekommen ist« 126 zu finden. Abermals zeigt sich so die »poetogene Kraft« 127 der Religion, die hier im Medium des Textes einen Weg findet, zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen zu vermitteln. 4.1.3 Flankierende Immersionsangebote: Kombinatorisches Erzählen Die Frage, ob Bildnisse Gottes oder Abbildungen religiöser Szenen ein legitimes Mittel der Gotteserkenntnis sind oder nicht, beschäftigt nicht nur die christliche Theologie zu allen Zeiten. 128 Je nach theologischer Grundhaltung und Absicht reichen die Positionen dabei von strikter Ablehnung von Gottesbildern bis hin zur Befürwortung einer religiösen Bildkultur. Um den Einsatz von Bildern zu rechtfertigen, brachten Befürworter immer wieder ein Argument in Anschlag: Bilder seien für weite Bevölkerungsschichten leichter zugänglich, um bei mangelnder Lesekompetenz biblische Inhalte kennenzulernen und zu verinnerlichen. Einflussreich für die Praxis der hier untersuchten Andachtstexte und Gebetbücher, dem Text Bilder zur Seite zu stellen, 129 ist Bonaventura: Unter Berufung auf Gregor den Großen legitimierte er die Funktion von Illustrationen, Erinnerung und Erbauung zu unterstützen. 130 Drei Gründe, so der Franziskaner, rechtfertigten den Einsatz von Bildern: Sie eigneten sich für die Laien, die illiterati, besser, sprächen den Affekt besser an und blieben besser im Gedächtnis als Schriftmedien (propter simplicium ruditatem, propter affectuum tarditatem, propter memoriae labilitatem). 131 Auch der österreichische Weltgeistliche Ulrich von Pottenstein griff diese Position im 15. Jahrhundert in seiner Dekalog-Auslegung wieder auf, in der er Bilder als der layen schrift und pu ᵉ cher bezeichnete. 132 Insgesamt ergibt sich für das späte Mittelalter jedoch ein äußerst heterogenes Bild: 126 Hamm: Die › nahe Gnade ‹ (2004), S. 554. 127 Assmann/ Assmann: Das Geheimnis und die Archäologie der literarischen Kommunikation (1997), S. 8. 128 Vielzitierter Ausgangspunkt für die jüdisch-christliche Tradition ist das Bilderverbot im Dekalog in 2 Mose 20,1 - 5: »Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen.« Eine Interpretation des biblischen Bilderverbots findet sich bei Jan Assmann: Was ist so schlimm an den Bildern? (2006). Im frühen Christentum wurde mit Berufung auf das Bilderverbot zunächst jegliche Form von religiöser Kunst weitgehend abgelehnt, wobei sich schon Ende des 4. Jahrhunderts auch Kirchenväter wie Gregor von Nazianz oder Gregor von Nyssa für Sinn und Nutzen bildlicher Darstellungen aussprachen, vgl. Schreiner: Soziale, visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit (2002), S. 21 - 30. 129 Zu bebilderten Gebetbüchern siehe beispielsweise Ochsenbein: Bild und Gebet (1995). 130 Vgl. Schreiner: Soziale, visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit (2002), S. 22. 131 S. Bonaventurae Opera omnia, Bd. 3, Quarrachi 1997, S. 203 zit. n. Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 180. Siehe dazu auch Dugan: Was art really the › book of the illiterate ‹ ? (1989), S. 232. 132 Vgl. Schreiner: Soziale, visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit (2002), S. 15. Obwohl Bildnisse einen festen Platz im Glaubensleben des Mittelalters hatten, äußerten sich immer wieder auch »kritische und apologetische Stimmen«, die Bildern lediglich einen Verweischarakter zusprachen und versuchten, die »Bilderverehrung [ … ] von abergläubischen Vorstellungen freizuhalten«, ebd., S. 15 bzw. 21. In der Reformationszeit, insbesondere unter Zwingli, spitzt sich die Situation dann wieder so weit zu, dass die Bilderverehrung im Rückgriff auf das alttestamentarische Bildverbot als Götzenkult gebrandmarkt wurde. 230 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="231"?> Neben den Bildbefürwortern gibt es mindestens genauso viele Stimmen, die Bilddarstellungen dem Erzeugen innerer Bilder unterordnen oder den Gebrauch von Bildern sogar vollständig ablehnen. 133 Für die Erbauungs- und Frömmigkeitsliteratur spielen Bilder als imaginationsfördernde Praktiken eine wichtige Rolle. Imagines pictae, gemalte Bilder, sollten die geistige imaginatio anregen und das »Schauen mit den Augen des Herzens«, das ante oculis cordis ponere, 134 befördern. Im Rahmen dieser »Schaufrömmigkeit« 135 sind Bild und Text keineswegs strikt voneinander zu trennen: Sehen gilt hier als gleichermaßen geistiger wie spiritueller Akt, der innere und äußere Wahrnehmung engführt und dem Betrachter weitere Sinnschichten erschließ. Es befördert die affektive Teilhabe des Rezipienten und unterstützt die immersive Wirkung der Texte. 136 Was können nun Illustrationen in der multimedialen religiösen Kommunikation des Mittelalters leisten und wie wird die narrativ(ierend)e Apostrophe von Bildmedien flankiert? 137 Sowohl in Bertholds Zeitglöcklein als auch im Itinerarium Beatae Virginis Mariae geht die Funktion derAbbildungen über die bloße Illustration hinaus: Sie bieten eine »weitere Inszenierungsschicht«, 138 die den Immersionseffekt der narrativen Apostrophe unterstützt. Daneben existieren Text-Bild-Kombinationen, die noch weiter über die Abbildfunktion hinausgehen und neue hybride Erzähl- und Darstellungsformen entwickeln. Sowohl die Erzählung des Zeitglöcklein als auch die des Itinerarium wird mit einer Reihe von Illustrationen, in beiden Fällen in Form von Holzschnittdrucken, ergänzt, die als integraler Bestandteil der Erbauungstexte verstanden werden können. Beiden ist ein Titelblatt beigegeben, das jeweils eine weitere Sinnschicht erschließt. Im Itinerarium handelt es sich um den oben bereits vorgestellten Holzschnitt der Schutzmantelmaria, der Marias Rolle als Fürsprecherin des Gläubigen und Mittlerin zwischen Erde und Himmel 133 Als Verfechter der Bildlosigkeit kann beispielsweise Meister Eckhart gelten, der dafür plädiert, dass der »Erkenntnismodus der sinnlich vermittelten Bilder [ … ] überwunden werden [muss]«. Dafür greift er auf das dreistufige Erkenntnismodell Augustinus ’ zurück, der die konkreten sinnlichen Bilder auf der untersten Stufe ansiedelt. Selbst mentale bildhafte Repräsentationen, also geistige Bilder, die auf sinnliche zurückgehen, verwirft Eckhart und spricht sich für Gotterkenntnis durch Entsinnlichung, durch »sensorische Deprivation« aus. Vor dem Hintergrund, dass Eckhart in seinen Predigten selbst ausgeprägten Gebrauch einer bildhaften Sprache macht, erscheint diese Bildkritik durchaus paradox, lässt sich aber in Hinblick auf die Funktionalität dieser Bildsprache wiederum erklären: »Die bildkräftige Predigt Eckharts soll helfen, eine Erfahrung zu provozieren, die selbst ohne Bilder auskommen muss, [ … ] auf dieser Erfahrungsebene [ist] wieder von einer Bildkritik zu sprechen«, Achtner: Eckharts Bildkritik - vom Bild zur Bildlosigkeit (2015), S. 104 - 110. Ein einführender Überblick über die Positionen der Bildkritik findet sich auch bei Felix Prinz: Gemalte Skulpturenretabel (2018), S. 21 - 24. 134 Vgl. Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993). 135 Keller: Weltgerichtsspiele als Aktualisierungsmedium der Zeit (2004), S. 52. 136 Im Zusammenhang mit den Passionsbildnissen spricht Hans Belting von einer »intersubjektive[n] Beziehung zwischen dem abgebildeten Jesus und dem anblickenden Gläubigen«, die durch derartige »Erlebnisbilder« konstituiert wird und die devotio zur Voraussetzung hat, Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter (1995), S. 13 f. bzw. 18. 137 Vgl. Tyrell: Religiöse Kommunikation (2002), S. 50. 138 Die Formulierung der zusätzlichen »Inszenierungsschicht«, die Henrike Manuwald gebraucht, um zu beschreiben, wie die Visiones Georgii im Codex Reginus Latinus 522 durch bildliche Darstellungen ergänzt werden, erscheint mir auch für die Rolle der Bilder im Zeitglöcklein und Itinerarium gut geeignet, vgl. Manuwald: Das Jenseits in Szene gesetzt (2013), S. 403. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 231 <?page no="232"?> verbildlicht. Das Titelblatt des in dieser Studie untersuchten Drucks des Zeitglöckleins (Abb. 7) ziert das Bild einer Glockenuhr. Ungewöhnlich an der Uhr ist das mit einer Sonne verzierte Ziffernblatt, das alle vierundzwanzig Stunden des Tages abbildet und so auf den Buchtitel Bezug nimmt. 139 Mit Pendel und Glocke ist das Gebilde klar als Tischuhr zu erkennen, die Form des Gehäuses erinnert an das Portal eines Sakralbaus im gotischen Stil: Es besitzt krabbenverzierte Fialen an den Seitenstreben, die die Uhr umrahmen, sowie einen Turmhelm, der neben der Glocke hervorragt. Auf dem Dach des Uhrgehäuses sind außerdem zwei Figuren abgebildet: eine in Blau gewandete Frauengestalt mit blondem Haar und Gloriole, die an einem Katheder lehnt, und ein Engel, erkennbar an blonden Locken und Flügeln, der ein goldenes, kreuzförmiges Szepter und ein Spruchband trägt. Die Miniatur ist wohl eine Reminiszenz an die Verkündigung des Herrn, mit der das Zeitglöcklein einsetzt und die ebenfalls mit einem Holzschnitt illustriert wird (Abb. 8): Traditionsgemäß wird die Verkündigungsszene in der Ikonographie mit einer lesenden Maria gestaltet, wobei die Darstellung des Buchs auf die alttestamentarische Prophezeiung Jesajas von der Ankunft des Messias anspielt. Der Holzschnitt illustriert nicht nur den Titel des Werks, sondern ergänzt den Text um ein weiteres, bildmediales Interpretationsangebot: Die Uhr nimmt Bezug auf die Tradition des Stundengebet und verleiht der Intention Ausdruck, den Gläubigen durch den Tag begleiten zu wollen; die angedeutete Verkündigungsszene gibt einen Hinweis auf den Inhalt des Buches und verdeutlicht von Anfang an den heilsgeschichtlichen Rahmen; die Darstellung der Uhr als Sakralbau unterstreicht den institutionellen Rahmen von Gebet und Glaubensleben. Auf dem Titelblatt wird hier also etwas verbildlicht, das »seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag«: 140 die Verbindung des Einzelnen zu Heilsgeschichte und Kirche. Es fällt auf, dass das Titelbild aus der Druckerei Michael Greyffs (Reutlingen 1494) diese zusätzliche illustrative Sinnschicht nicht bietet (Abb. 9). Auch hier ist eine Uhr dargestellt, deren Ziffernblatt mit einer Sonne geschmückt ist und in römischen Ziffern die vierundzwanzig Stunden zeigt. Das Uhrengehäuse ist hier jedoch nicht als Sakralbau gestaltet, auch der Verweis auf die Heilsgeschichte fehlt. Wo nämlich der Holzschnitt von Johann Amerbach das Personal der Verkündigungsszene als Figurinen zeigt, bemüht sich das Titelbild bei Greyff um eine realistischere Darstellung des Zeitmessers und gewährt Einblicke in den Uhrenmechanismus: Über der Glocke erkennt der Betrachter die Spindelwaag als typisches Element von Uhren mit Spindelhemmung; die beiden Gewichte des Foliots sind figürlich gestaltet, scheinen jedoch Fantasiefiguren zu zeigen. Im Gegensatz zu den Titelbildern begnügen sich die meisten Illustrationen der beiden Andachtsbücher mit einer rein illustrierenden Funktion, wie das Beispiel des neunzehnten Kapitels des Zeitglöckleins zeigt. Hier wird von der Klage der Frauen, insbesondere vom Schmerz Marias, von der Kreuzabnahme und vom Begräbnis Jesu erzählt, für alle drei Handlungsschritte ist jeweils ein Holzschnitt in den Text eingelassen (Zeitglöcklein, fol. 147b, fol. 150b, fol. 153b). Sowohl die Illustration zur Kreuzesabnahme als auch die zum Begräbnis folgt dem Text, ihre Funktion ist die der »mediale[n] Doppelung«. 141 Auf die 139 Siehe zum Stundenbuch Matter: Mittelhochdeutsche Tagzeitengebet im Spannungsfeld von Liturgie und Privatandacht (2017). 140 Manuwald: Das Jenseits in Szene gesetzt (2013), S. 402. 141 Manuwald: Das Jenseits in Szene gesetzt (2013), S. 406. 232 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="233"?> expositorische Anrede an Nicodemus und Josef von Aramathia, die die Erlaubnis bei Pilatus erwirkt haben, Jesus bestatten zu dürfen, folgt die Illustration (Abb. 11). Als Bildunterschrift fungiert die Rubrik Wie der herr ie ſ us vom krütz genomen ward (Zeitglöcklein, fol. 150a: »Wie der Herr Jesus vom Kreuz herabgenommen wurde«). Der Holzschnitt bietet eine Momentaufnahme mit vielen Details, so lassen sich sowohl Josef als auch Nicodemus an ihren Kopfbedeckungen als Juden erkennen, das Kreuz trägt die Inschrift › INRI ‹ . Der besänftigte Gesichtsausdruck Marias, die am rechten Bildrand von Johannes umfasst wird, korrespondiert mit der Darstellung im Text: Ach ir tro ſ tlich ē herr ē vnd lieb ē fründe christi. Wie fro ᵉ lich machten dir die mu ͦ ter vnd alle fründ un ſ ers herren (Zeitglöcklein, fol. 150b: »Ach ihr trostspendenden Herren und lieben Freunde Christi, wie froh machtet ihr da die Mutter und alle Freunde unseres Herrn«). Das Bildmedium spricht den Sehsinn unmittelbar an, es ergänzt die plastische Beschreibung mit einer plastischen Darstellung des von blutenden Wunden übersäten Körpers Jesu. Derartige Bilder »bauen die Distanz zum Betrachter ab: Christus und Maria werden › demonstrativ ‹ vorgezeigt«, 142 sie betonen außerdem Details und konkretisieren das im Text Erzählte. Zugleich lösen sie das Geschehen aus der Gesamterzählung heraus, heben die zeitliche und räumliche Distanz zwischen Betrachter und Heilsgeschehen auf und fördern eine orts- und zeitungebundene »Betrachtung, Versenkung und Andachtssituation«. 143 Während auch der Holzschnitt zum Begräbnis Jesu eine solche bildliche Konkretisierung darstellt und das Erzählte veranschaulicht, weicht das Bild von der trauernden Maria von dieser Logik ab. Die Erzählung beginnt, indem Maria als Protagonistin angerufen wird: O Maria du eynige turturtub, nu ſ u ͦ ch wo du fynde ſ t din eynig liep nach allem vobring ē des ſ acraments vn ſ er erlo ᵉ ſ g. Sich an wo er yetz ru ͦ wet zu ͦ mittag. Wo blib ſ tu O mu ͦ ter der gnaden, laß mich mit dir gan vn ˉ in den lo ᵉ cheren des fel ſ en dins ſ uns, da du bi ſ t vffgezogen vnd verborg ē in ſ inem verwundten lib lebendig vnd todt by dir ru ᵉ wen. (Zeitglöcklein, fol. 147a) Oh Maria, du alleinige Turteltaube. Nun suche, wo du deinen einzig Geliebten findest, nachdem dieser das Sakrament unserer Erlösung vollbracht hat. Schau, wo er jetzt zu Mittag ruht. Wo bleibst du, oh Mutter der Gnaden, lass mich mit dir gehen und in der Felshöhle deines Sohnes bei dir ruhen, da du aufgestiegen und verborgen bist in seinem gemarterten Leib, lebendig und tot zugleich. Im Fokus steht auf Textebene Marias Schmerz, der in den Imperativen bzw. über die rhetorischen Fragen immediatisiert wird und in der Bitte des Rezipienten, Maria in ihrem Schmerz begleiten zu dürfen, zum Ausdruck kommt. Der von dieser Textpassage umrahmte Holzschnitt (Abb. 13) enthält mehr Informationen als der Text, er fasst diesen und die beiden folgenden Abschnitte zusammen. Dargestellt ist Maria, die von mehreren Figuren umgeben ist. Ihre Körperhaltung zeugt von Schwäche: Sie ist in sich zusammengesunken und muss von der Frau zu ihrer Linken und dem Jünger Johannes gestützt werden, eine weitere Frauenfigur hinter ihr beugt sich besorgt über sie. Der Holzschnitt bezieht hier also schon ein, was im Text erst später unter der Rubrik Von ir ſ westeren (Zeitglöcklein, fol. 148a: »Von ihrer Schwester«) erzählt wird: Es handelt sich um Maria Magdalena und eine weitere Frau, die von den Evangelisten (Mt 27,56, Mk 15,40, Jh 19,25) unterschiedlich identifiziert wird. Im weiteren Verlauf wird auch Johannes zu einem Adressaten: Nü gütiger geliepter iunger, ſ ant Johans (Zeitglöcklein, fol. 1498b: »Nun, gütiger geliebter Jünger, Sankt 142 Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte (2011), S. 338. 143 Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte (2011), S. 339. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 233 <?page no="234"?> Johannes«). Als einziger der Jünger habe Johannes nämlich, so erzählt der Text, der Kreuzigung beigewohnt und Maria getröstet. Dennoch ist links im Bild eine weitere Männerfigur zu erkennen: Es handelt sich um Petrus, der aufgrund des syrischen Bartes und des kahlen Kopfes mit der einzelnen Locke zu erkennen ist und mit besorgter Miene auf Maria blickt. 144 Petrus und Johannes verdecken eine weitere Männerfigur, von der nur Gesicht und Hände zu erkennen sind. Weder Text noch Bild geben einen Hinweis darauf, ob es sich dabei um einen der Jünger handelt, die nach der Kreuzigung die Handlungsbühne betreten. Es ist jedoch auffällig, dass die Farbe der Gloriole und vor allem auch die Blickrichtung ihn von den übrigen Figuren unterscheiden: Sein Blick ist nicht wie der der übrigen Personen auf Maria gerichtet, sondern scheint dem Betrachter zu gelten. 145 Der Holzschnitt überschreitet den Text in mehrfacher Hinsicht: Zum einen fasst er mehrere Handlungsbzw. Erzählabschnitte zu einem Standbild zusammen und betont den Schmerz Marias, der im Zeitglöcklein als Katalysator für die Immersion bzw. die compassio des Rezipienten fungiert. 146 Zum anderen fügt er dem Text mit der den Leser anblickenden Figur einen weiteren Präsenzeffekt hinzu und erzeugt einen Moment der Intimität zwischen dem Bildpersonal und dem Rezipienten: »Text und Bild [ … ] kreieren in ihrer Kombination die Gegenwärtigkeit der dargestellten Situation und Personen«. 147 Dass die Bildebene den Text übersteigt, ist im Zeitglöcklein jedoch der Ausnahmefall. Die konkretisierende Funktion der Bilder, die eine Geschichte parallel zum Text erzählen und mit ihrer seriellen Narrativität den Eindruck einer linearen und kontinuierlichen Geschichte stützen, 148 zeigt sich fast noch stärker im Itinerarium. Dass diese Bilder jedoch vom Rezipienten einiges an Vorwissen erfordern, um lesbar gemacht zu werden, liegt auf der Hand. Was Jeffrey F. Hamburger für den Bildzyklus im Gebetbuch der Ursula Begerin feststellt, gilt auch für das Itinerarium: The images ask to be › read ‹ , if not like an absent text, then in accord with complex conventions that deny [ … ] easy legibility to an eye unversed in the forms and usages that governed their creation. 149 Die Bilder sind stark beeinflusst von der ikonographischen Tradition, so ist Maria beispielsweise in der Verkündigungsszene - wie auch im Zeitglöcklein - entsprechend 144 Hier bestätigt sich, was schon Klaus Niehr beobachtet hat: Bilder sind zwar »Träger des Wissens«, aber als solche nicht eindeutig, Niehr: Die Geschwindigkeit und Langsamkeit der Bilder (2008), S. 92. 145 Möglicherweise handelt es sich hierbei um Christus, der der Szene beiwohnt. Dafür spräche die Beobachtung, dass die Gloriole goldgelb gefärbt ist statt braun wie bei den anderen Jüngern. Andererseits wird Jesus in den übrigen Bildern des Zeitglöckleins durchweg mit Kreuzesnimbus gezeigt. Außerdem fehlt die den Betrachter anblickende Männergestalt in anderen Druckprogrammen völlig: In der Druckfassung nach Michael Greyff beispielsweise zeigt der entsprechende Holzschnitt auf fol. 136v lediglich die ohnmächtige Maria in Begleitung einer weiteren Frau, sowie des bartlos dargestellten Johannes, der auch im Text als Begleiter Marias erwähnt wird, und eines weiteren Mannes, der anhand des syrischen Bartes und der charakteristischen Haartracht als Petrus zu erkennen ist. 146 Wie Esther Meier am Beispiel des Schweißtuchs der Veronika erörtert, kommt Bildwerken im Allgemeinen eine »entscheidende Aufgabe bei der persönlichen Andacht« zu, Meier: Die heilende Kraft des Angesichts Christi (2007), S. 129. 147 Jaritz: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau (2002), S. 333 f. 148 Hamburger: A Liber Precum in Sélestat and the Development of the Illustrated Prayer Book in Germany (1991), S. 226. 149 Hamburger/ Palmer: The Prayer Book of Ursula Begerin. I. Art-Historical and Literary Introduction (2015), S. 16. 234 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="235"?> der Tradition an einem Katheder sitzend und in einem Buch lesend dargestellt (Abb. 14 Mitte), die Krippenszene (Abb. 14 rechts) zeigt nicht nur Maria und Josef in betender Haltung, sondern auch Ochs und Rind, die durch ein Fenster dem Jesuskind ihre Reverenz erweisen. Jedem Bild ist außerdem eine Bildüberschrift beigegeben, die als kurze Inhaltsangabe dient und dem Rezipienten die Möglichkeit bietet, die Geschichte Marias und Jesu auch als Bildergeschichte im Schnelldurchlauf zu erfassen (Abb. 14). Narrativ sind hier sowohl der Text als auch der Bildzyklus, der mit Bildüberschriften die einzelnen Szenen nochmals klar kennzeichnet: Beide stehen für sich, arbeiten sich Schritt für Schritt in der Chronologie der Ereignisse vor. Die Kombination bildlicher und textueller › Erzählstränge ‹ bietet dem Rezipienten keinen inhaltlichen Mehrwert. Vielmehr verbildlicht die Darstellung den Text und stützt so die kommemorierende Betrachtung. Die »Sprachlichkeit der Bilder«, etwa in Form des Spruchbands, das die Erinnerung an den Mariagruß wachruft, konvergiert mit der »Bildlichkeit der Sprache«, die zu geistigen Entwürfen anregt. 150 Dass dabei häufig › mediävalisiert ‹ wird, das historische Geschehen also aus dem Blickwinkel der mittelalterlichen Gegenwart betrachtet wird, zeigt sich in den Abbildungen im Itinerarium ganz deutlich: Neben mittelalterlicher Kleidung und Attributen, wie sie beispielsweise der als Bischof gezeichnete Priester bei der Eheschließung von Maria und Josef trägt (Abb. 14 links), sind es vor allem architektonische Elemente, die anachronistisch wirken. Der Raum, in dem die Trauung stattfindet, erinnert mit seinen romanischen Bögen an einen Sakralbau, das Zimmer, in dem Maria von Gabriel aufgesucht wird, ist mit Glasfenstern ausgestattet (Abb. 14 Mitte), der Stall in der Krippenszene ist ein gemauerter Bau, der weniger in das Judäa der Jahrtausendwende als vielmehr ins mittelalterliche Westeuropa zu verorten ist. Diese bildliche Angleichung des Heilsgeschehen an die Alltagswelt des Rezipienten erleichtert dem Rezipienten die Immersion und fördert die emotional-persönliche Verinnerlichung - eine »historisch exakte Rekonstruktion der Szene« 151 möchte sie hingegen nicht bieten. Die Hybridisierung von bildlichen und textlichen Darstellungsstrategien dient vor allem dazu, dem Gläubigen eine multisensoriale Erfahrung, eine »Passionsmeditation in Wort und Bild« 152 zu ermöglichen. Die Illustrationen spielen eine wichtige Rolle, wenn es um die affektive Ansprache des Rezipienten geht. Zum einen stehen sie für sich selbst und erlauben es, den bekannten Verlauf des Passionsgeschehens anhand der Bilder nachzuvollziehen. Zum anderen fördert die bildlich erzeugte Nähe die Teilhabe, 153 die aufgrund der Materialität des Bildes über das Partizipationsangebot der Texte hinausgeht. 154 Obwohl Andachts- und Gebetbücher Text und Bild in einem gemeinsamen Träger verbinden, 155 ist die Buchmalerei nur in den seltensten Fällen bloße Textillustration. Zwar begleiten Illustrationen den Text, erzählen ihn nach oder ermöglichen ein kursorisches schnelles Erfassen der erzählten bzw. visualisierten Inhalte, doch ihre Funktion ist keineswegs darauf 150 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 38. 151 Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (1993), S. 180. 152 Weiske: Bilder und Gebete vom Leben und Leiden Christi (1993), S. 128. 153 Vgl. Griese: Text-Bilder und ihre Kontexte (2011), S. 261. 154 Davon zeugen Gebrauchsspuren in vielen Kodizes, etwa Schlieren, abgeriebene Stellen oder Fingerabdrücke, die durchaus davon herrühren können, dass ein Betrachter in inniger Andacht das Bild immer wieder berührt oder geküsst hat. 155 Vgl. Geh/ Römer: Mittelalterliche Andachtsbücher (1998), S. 11. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 235 <?page no="236"?> beschränkt. Insgesamt erweisen sie sich als eine weitere »Inszenierungsschicht«, die vom Textinhalt abweichen kann, ihn ergänzt, variiert, deutet und auslegt. Ausgebildet werden neue »Bild-Text-Verhältnisse«, »Ikonotexte«, die »sich durch genuine Qualitäten auszeichnen, die Text oder Bild alleine nicht erreichen können«. 156 Die Bilder verstärken die der narrativen Apostrophe innewohnende nähestiftende und affektive Wirkung, indem sie die imaginäre Sinneserfahrung stützen, sinnlich-emotional affizieren und die in der Anredesituation konstituierte Nähe visuell verstärken. 157 Sie erweitern das Lektüreerlebnis um ein konkretes visuelles Erleben, ermöglichen dem Betrachter die »affektive › Einfühlung ‹ in die Glaubensmysterien« 158 und zielen ebenfalls auf das Ideal der Innerlichkeit und Partizipation. 4.1.4 Zwischenfazit Itinerarium und Zeitglöcklein zeigen, wie die narrative Apostrophe in den Texten eingesetzt wird, um den Leser in den Text hineinzuziehen. An die erzählende Du-Anrede knüpfen sich sowohl Textstrategien der Nähesprachlichkeit als auch der Immersion, die die Lektüre zu einem echten Erlebnis werden lassen. Warum es Texten gelingen kann, in der Lektüre eine sinnliche Welt zu evozieren und den Leser sinnliche Erfahrungen durchleben zu lassen, erklärt die Neurologie mit der Theorie der Spiegelneuronen. Diese verhilft auch zu einem besseren Verständnis der immersive Wirkung der narrativen Apostrophe: Welche neurobiologischen Mechanismen werden bei der Textrezeption in Gang gesetzt und was hat das mit Immersion zu tun? Ein großer Teil der spätmittelalterlichen Meditationstexte und der hier untersuchten Texte zielen auf die Verinnerlichung des Dargestellten durch den Rezipienten in einem ganzheitlichen Sinne: Frömmigkeit gilt nach diesem Verständnis als ganzheitlicher Akt, der den homo interior und den homo exterior in Einklang bringt. 159 Nicht nur der Geist des Rezipienten soll ganz auf das Gelesene bzw. Gesehene gerichtet sein, auch die beschriebenen affektiven oder physischen Empfindungen sollen vom Rezipienten nachvollzogen werden. Die › embodiment ‹ -Theorie bietet eine Erklärung für die Verschränkung von sensorischen und psychisch-mentalen Prozessen, die in den Meditationstexten immer angestrebt und durch Aufforderungen zu non-verbalen Handlungen wie Knien, Fasten oder Selbstkasteiungen expliziert wird: Kognitive Prozesse lösen demnach automatisch motorische aus, der Bewegungsapparat wird ebenso wie das physische Empfindungssystem von mentalen Aktivitäten beeinflusst. 160 Eine wichtige Rolle spielt außerdem das System der Spiegelneuronen. Das sind Nervenzellen, die auch dann aktiviert werden, wenn eine Handlung nicht aktiv ausgeführt, sondern lediglich wahrgenommen wird. 161 Die Lektüre, aber auch das bloße Hören oder 156 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 229. 157 Zu den Funktionen von Bildern innerhalb der Mystik, die sich auf die hier betrachteten Beispiele übertragen lassen, siehe Largier: The Poetics of the Image in Late Medieval Meysticism (2015), S. 182 f. 158 Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter (1995), S. 31. 159 Vgl. Schreiner: Soziale, visuelle und körperliche Dimensionen mittelalterlicher Frömmigkeit (2002), S. 9. Zur Konzeption des homo interior und des homo exterior, die auf Isidor von Sevillas Etymologiae zurückgeht, siehe auch Largier: The Art of Prayer (2014), besonders S. 58. 160 Vgl. Gibbs: Embodiment and Cognitive Science (2005). 161 Vgl. Rizzolatti/ Sinigaglia: Mirrors in the Brain (2009). 236 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="237"?> Sehen von Repräsentationen von Empfindungen, fungieren als emotionale Stimuli und reichen aus, das neuronale Netzwerk zu aktivieren. Dabei werden sensorische Informationen unmittelbar in den Cortex insularis übermittelt, der unter anderem für die emotionale Bewertung von Schmerz und für das Empfinden von Empathie zuständig ist. Diese Information aktiviert wiederum die Spiegelneuronen, die auf Basis der rezipierten Emotionsbeschreibungen den entsprechenden emotiven Modus aktivieren. 162 Für den Rezipienten wird die Lektüre bzw. Bildbetrachtung zur Simulation einer virtuellen Realität, die sogar von psychosomatischen Reaktionen begleitet werden kann. 163 Um compassio zu erzeugen, machen sich Meditationstexte diese Effekte des neuronalen Mechanismus und der physischen Reagibilität auf emotional-sensorische Impulse zunutze. Regelmäßig praktiziert mündet die Andachtsübung, die in den Texten als langfristiges Ziel festgeschrieben ist, in der Habitualisierung partizipativer Techniken. Sie verstärkt die Erfahrung der simulierten, virtuellen Realität und erweitert die emotionalen Fähigkeiten des Gläubigen, sich auf diese Meditationstechnik einzulassen. 164 Vor dem Hintergrund also, dass beim Sehen, Hören und auch beim Lesen von Emotionen oder sensorischen Empfindungen die entsprechenden neuronalen Netzwerke aktiviert werden wie es beim aktiven Erleben dieser Empfindungen der Fall wäre, wird die Wirkmächtigkeit der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsliteratur erklärbar, die die Wechselwirkung zwischen Wahrnehmung und Psyche, zwischen Lektüre und körperlicher Empfindung forciert: Die textuelle Nähebeziehung wird in der Rezeption aktualisiert und entfaltet eine Wirkung, die einer › echten ‹ Nähebeziehung um nichts nachsteht. Im Zeitglöcklein, das vornehmlich unter dem Aspekt der Imagination untersucht wurde, zeigt sich die Engführung von tatsächlichem und imaginiertem Sehen, das unter dem Schlagwort des ante oculos cordis ponere das Potenzial des Textes als Visualisierungsmedium ausschöpft. Um die Distanz zwischen dem Leser und dem zu vermittelnden Heilsgeschehen zu überwinden und die doppelte Präsenz des Lesers im Text bzw. des Textes im Leser zu erzeugen, gebraucht das Zeitglöcklein einige Imaginationsstrategien, die an die narrative Apostrophe gekoppelt sind: Die Ich-Position ist ein Spezifikum der narrativ gebrauchten Du-Anrede. Sie macht nicht nur das heilige oder göttliche Gegenüber im Moment der Lektüre präsent, sondern ermöglicht auch die Teilnahme des Rezipienten am Heilsgeschehen. Der Text wird so zu einem Raum, in dem der Rezipient eigene Erfahrungen machen kann: Mit dem vorgestalteten › Ich ‹ , das nicht nur als Gesprächsführer, sondern auch als Handelnder fungiert, kann sich der Rezipient an die Seite der beteiligten Protagonisten imaginieren, ihnen Fragen stellen, ihr Handeln kommentieren und ihnen zusprechen. Die Teilhabe des Rezipienten ist dabei jedoch keine Einbahnstraße: Beschworen werden nicht nur ein emotionales Gespräch mit Maria oder Jesus, sondern auch körperliche Reaktionen auf das imaginierte und dadurch miterlebte Geschehen. Weitere 162 Vgl. Taguchi: Imitating Christ as a Meme (2012), S. 317. 163 Die Erfahrung, wie real sich im virtuellen Raum Erlebtes anfühlen kann, wird auch in Mostly Harmless (1993), dem vierten Teil von Douglas Adams ’ Kultbuch The Hitchhiker ’ s Guide to the Galaxy verarbeitet: »The fact that all of this was happening in virtual space made no difference. Being virtually killed by virtual laser in virtual space is just as effective as the real thing, because you are as dead as you think you are.« 164 Vgl. Mayumi Taguchi, der auf diese Weise die körperlichen Reaktionen auf Andachtspraktiken folgendermaßen kommentiert: »One does not have to be St. Francis of Assisi to receive the stigmata«, Taguchi: Imitating Christ as a Meme (2012), S. 318. 4.1 Das ich solt da by gewesen - Immersion, Affektivität und die narrative Apostrophe 237 <?page no="238"?> Imaginationstechniken, die nicht an die narrative Apostrophe gebunden sind, wie die plastische Ausgestaltung des Erzählten bis in das letzte Detail, unterstützen diesen Imaginations- und Immersionseffekt noch zusätzlich. Sie machen das Zeitglöcklein zu einer virtuellen Realität, als deren Wegweiser und Karte die textstrukturierenden Elemente fungieren. Im Itinerarium liegt der immersive Schwerpunkt der Textgestaltung auf einer affektiven Beteiligung des Rezipienten durch die intensive Verwendung von Strategien der Nähesprachlichkeit - beides Elemente, die in der spätmittelalterlichen Theologie mit ihrer Aufwertung des Affekts gegenüber der Kognition und der Forderung nach einer persönlich-personalen Gottesbeziehung wurzeln. Obwohl das mündliche Gespräch prototypisch für den Pol der Nahkommunikation ist, sind nähesprachliche Züge nicht auf ein bestimmtes Medium beschränkt. Vielmehr erweist sich das Itinerarium, das mit seiner sich wiederholenden Struktur von Anrufung, Erzählung und Bitte in der Tradition des Gebets steht, als Nahkommunikation par excellence: Mit Maria als personalem Gegenüber und dem durch die Sprecher-Position in den Text eintretenden Rezipienten stehen sich im Textraum zwei Kommunikationspartner gegenüber, deren Beziehung durch Sprache konstituiert und immer weiter verändert wird. Die narrative Apostrophe mit ihrem ausgiebigen Gebrauch von Anreden entwirft nicht nur das Bild Marias, sondern begründet auch das Selbstverständnis des Rezipienten. Die in der Kommunikation eröffnete Beziehung ist daher eine mehrschichtige und durchaus spannungsreiche, die zwischen ehrerbietiger Distanz und vertrauensvoller Nähe changiert und die sich mit der Metamorphose des Rezipienten vom Sünder zum gerechten Menschen am Pol der Nähe konsolidiert. Intimität und Nähe sind also Ziel einer textuell gestützten Beziehungsarbeit, die durch weitere Strategien der Nahkommunikation unterstützt wird, die nicht unmittelbar an der narrativen Apostrophe hängen - wie beispielsweise die Verschmelzung von Figuren- und Leserperspektive. In den Andachtsbüchern wird die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe häufig mit Illustrationen, zumeist Bildzyklen mit einer ausgeprägten seriell-linearen Narrativität kombiniert. Trotz des im Frühchristentum vorherrschenden Bilderverbots setzten sich bis zum späten Mittelalter die Befürworter einer religiösen Bildlichkeit durch, die das nähestiftende Potenzial und das Imaginationsangebot von Illustrationen gerade auch im religiösen Bereich erkannten und zu einer wichtigen Stütze in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis beförderten. 165 Stellvertretend für eine ganze Reihe von religiösen Texten und Textmedien lassen sich im Itinerarium und im Zeitglöcklein Kombinationen von Text und Bild ausfindig machen: Während insbesondere die Titelblätter der beiden gedruckten Andachtsbücher die Grundintention bzw. die zentrale Aussage in textübergreifender und verdichteter Form widerspiegeln, begleiten die Illustrationen innerhalb des Textes die Gebete. Sie bilden zentrale Momente ab und formen so ein Buch im Buch. Je nach Lesefähigkeit, Zeit und Vorliebe des Rezipienten können die Illustrationen dazu genutzt werden, das Gelesene sinnlich zu vergegenwärtigen oder das Heilsgeschehen nur über die Bilder wahrzunehmen. Text und Bild können dabei so kombiniert werden, dass sie sich gegenseitig ergänzen, ausdeuten und kommentieren und erst in ihrem Zusammenspiel die vollständige Geschichte erzählen. 165 Zur gegenseitigen Beeinflussung von Bildkultur und Laienfrömmigkeit siehe auch Belting: Das Bild und sein Publikum im Mittelalter (1995), S. 36 - 52. 238 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="239"?> Für die narrative Apostrophe und ihre Verwendung als Immersionsstrategie ergibt sich folgendes: Die Erzählhaltung ist eine von vielen Strategien, die Immersion des Rezipienten zu befördern. In der Kombination entsteht eine komplexe Gemengelage, wobei die narrativ gebrauchte Anrede zum Knotenpunkt für die Ansippung weiterer Strategien wird, die das nähesprachliche bzw. imaginationsfördernde Potenzial der Erzählhaltung verstärken. Diese Verflechtung erschwert die isolierte Betrachtung der Funktionen dieser › proteanischen ‹ Erzählhaltung. Denn die konsequent beibehaltene Anrede an ein oder mehrere Gegenüber bildet einen Rahmen, der punktuell unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und den Wechsel zwischen eher narrativen und eher dialogischen Passagen ermöglicht. Die narrative Apostrophe stellt eindrücklich die poetogene Kraft der Religion unter Beweis: Die Konstitution einer Nähebeziehung im Text korrespondiert aufs Engste mit der Vorstellung eines ansprechbar gewordenen göttlichen Gegenübers, wie sie die spätmittelalterliche Glaubenswelt dominiert. Die narrative Apostrophe ist also eine Strategie, um die in der Bibel kodierten Gotteserfahrungen zu versinnlichen: 166 Sie ermöglicht eine Textrezeption, »bei der die explicatio des Textes in eine applicatio übergeht, die den › Sinn ‹ des Textes ent-semantisiert und in sinnlich-anschauliche experientia oder cognitio experimentalis verwandelt«. 167 Im Text manifestiert sich göttliches oder heiliges Personal, das zentrale Glaubensgeheimnis findet in der Form der narrativen Apostrophe eine textuelle Entsprechung bzw. seinen eigenen, textgewordenen Ausdruck - der Text schlägt eine Brücke zum Heil und wird damit zum sekundären »Heilsmedium«, 168 das die Erlösung perpetuiert. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe Die Texte, in denen die narrative Apostrophe gebraucht wird, wollen mehr sein als bloße Erzählung: Mit ihrer narrativen Entfaltung von Heilsgeschichte und Glaubenswahrheiten wollen sie »Heilswirkungen entfalten« 169 und Heil erfahrbar machen. Den Grundstein dafür legen affizierende und immersive Strategien. Wie zuvor herausgearbeitet wurde, ist die narrative Apostrophe Teil eines Repertoires an Techniken, die die affektive Aneignung des Textes durch den Leser anleiten und unterstützen. Im Folgenden wird nun untersucht, welche didaktische Funktion die narrative Apostrophe mit ihrem immersiv-affizierenden Potenzial übernimmt und warum sich ausgerechnet diese Erzählform besonders dazu 166 Hierin zeigt sich auch der von Jan Assmann beobachtete Unterschied zwischen kulturellen und heiligen Texten: Als kulturelle Texte wollen die Untersuchungstexte »beherzigt, befolgt und in gelebte Wirklichkeit übertragen werden. Dafür bedarf es weniger der Rezitation [wie bei heiligen Texten] als der Deutung. Auf das › Herz ‹ kommt es an, nicht auf Mund und Ohr«, Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis (2000), S. 58. 167 Largier: Die Applikation der Sinne (2007), S. 45. Niklas Largier beschreibt diese ästhetisierende Schriftlektüre, »die diese [= die Schrift] in einen sinnlichen-emotionalen Erfahrungsraum übersetzt«, mit dem Begriff der αἴσθησις , der erstmals bei Origenes und Gregor von Nyssa gebraucht wird, um die Erfahrung der Kommunikation mit Gott zu beschreiben, vgl. Largier: Inner Senses - Outer Senses (2003), S. 4 - 6. Darauf soll jedoch an späterer Stelle nochmals verstärkt eingegangen werden. 168 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade (2009), S. 36. 169 Becker: Mittelalterliches Textwissen in Metaphern (2016), S. 40. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 239 <?page no="240"?> eignet, dem Rezipienten heilsrelevante Wissensinhalte und Verhaltensmodelle nahezubringen. Zuvor muss jedoch geklärt werden, was in diesem Zusammenhang unter › Wissen ‹ zu verstehen ist. Zum einen lassen sich hier faktenbasierte Wissenstypen ausmachen, die bestimmten Themenfeldern angehören und als › Sachwissen ‹ kognitiv-rationales Wissen repräsentieren wie etwa die Kenntnis der Namen der zwölf Jünger, der genaue Wortlaut der Kreuzesworte oder die einzelnen Stationen des Kreuzweges. Neben diesen konkreten Wissensinhalten wird im Zusammenhang mit der narrativen Apostrophe erfahrungsbasiertes Wissen vermittelt. Dieses »implizite[ … ] Wissen[ … ]« 170 umfasst kulturelle Praktiken, also Handlungswissen, und spielt eine wichtige Rolle im Glaubensleben des Rezipienten wie etwas das Wissen um die richtige Ausübung von Andacht. Insbesondere die Vermittlung eines solchen implizit-prozessualen Wissens offenbart ein Verständnis von Bildung als einer »prozesshaften inneren Entwicklung des Menschen«. 171 Was in den Texten angestoßen werden soll, ist ein Transformationsprozess, der sich im Inneren des Rezipienten vollzieht: Über die ethische Vervollkommnung soll hier Heil erlangt werden. Der Text bietet dazu Anleitung und begleitet zugleich die Selbstbildung des Lesers. Dabei ist der Erfolg dieses Bildungsprozesses von weiteren Faktoren abhängig: von der Bereitschaft des Rezipienten, sich auf den Text und seine Handlungsmodelle einzulassen, und von dem in den Texten angesprochenen göttlichen oder heiligen Gegenüber, dessen Gnadenwirken den im Text aufgezeigten Heilsweg überhaupt eröffnet. Zu dieser Art von implizitem Wissen zählen die Beispiele und Handlungsanweisungen, die dem Rezipienten an die Hand gegeben werden. Zielrichtung dieses »heilsdidaktische[n] Moment[s]«, 172 das religiösen Schriften im Allgemeinen und Du-Erzählungen im Besonderen innewohnt, ist die Überwindung menschlicher Verfehlungen: Körperliche Askese und eine an christlichen Tugenden ausgerichtete Lebensweise nach dem Modell Christi oder eines Heiligen, der seinerseits in der Nachfolge Christi steht, bieten dem Gläubigen ein Modell zur Selbstheiligung. 173 So versteht sich beispielsweise das Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth ganz explizit als Hilfestellung zur moralisch-ethischen Besserung, wenn es denjenigen adressiert, der do tugend suchet (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 2: »der nach Tugend strebt«). 174 Anhand des Elisabethgebets wird detailliert untersucht, wie das Zusammenspiel von Anrede und Selbstaussage zu einem ständigen Abgleich des Rezipienten mit dem von der Heiligen vorgelebten Idealbild einlädt: Der Text ist hier Spiegel, der dem Rezipienten Selbsterkenntnis ermöglicht und im gleichen Moment einen Ausweg aus der eigenen Sündhaftigkeit aufzeigt. Aufgrund ihrer Hybridität eignet sich die narrative Apostrophe besonders dazu, ihre Ratgeber- und Vorbildfunktion auf verschiedenen Wegen zu entfalten. Als Erzählhaltung entwirft sie einen narrativen Entwurf idealen Handelns; ihr dialogischer Charakter erlaubt 170 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen (2015), S. 34. 171 Palmer: Bildung durch Gebet (2017), S. 213. 172 Schmidt: Andacht und Identität (2015), S. 141. 173 Vgl. Dinzelbacher: Über die Körperlichkeit in der mittelalterlichen Frömmigkeit (1999), S. 64. Auch Franziska Hammer thematisiert den »Weg zur Heiligkeit über die imitatio Christi und die Reinigung durch das Abtöten der als irdisch und teuflisch stigmatisierten Leiblichkeit«, Hammer: Grausamkeit als Modus der Unterhaltung (2009), S. 122. 174 Ein regelrechtes Aufstiegsmodell vom Sünder zum gerechten Menschen entwirft das Itinerarium in der Vorrede, siehe dazu die Einführung zum Itinerarium Beatae Virginis Mariae in Kapitel 2.3.3.1. 240 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="241"?> zugleich, das Programm der Andacht in die Kommunikation mit dem Rezipienten bzw. dem göttlichen bzw. heiligen Gesprächspartner zu verlagern und ein als ideal entworfenes Handlungsprogramm zu diskutieren. Die affektive Aneignung von Wissensinhalten als Grundlage für Selbsttransformation oder die aktive Teilhabe am Glaubensleben kann allerdings nur dann gelingen, wenn diese bekannt sind oder im Prozess zugänglich gemacht werden. Religiöse Literatur schöpft meist aus der klerikalen Wissenskultur, die weitgehend lateinisch geprägt ist und insofern aufgrund der Sprachbarriere für große Teil der laikalen Bevölkerung nicht oder nur schwer zugänglich ist. Eine wesentliche Leistung der Autoren liegt daher im bearbeitenden Übersetzen. An den beiden religiösen Dichtungen Von Gottes zukunft und Christi Hort wird exemplarisch die Vermittlung religiösen Wissens in religiöser Literatur untersucht: Welche Wissensinhalte werden überhaupt vermittelt? Wie ist das Verhältnis von Latein und Volkssprache, welche Interferenzen ergeben sich daraus und was heißt das für die Emanzipation des Deutschen als Literatursprache? 175 Der Exkurs beschäftigt sich mit Phänomenen, die zwar nicht ausschließlich an die narrative Apostrophe geknüpft sind, bei denen sich aber Überschneidungen in der Zielsetzung, der Verinnerlichung der Glaubensinhalte und der Betonung des Affekts ergeben. 4.2.1 Ethische Vervollkommnung: Die narrative Apostrophe als › Spiegel ‹ zur Selbsterkenntnis im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth Literatur, insbesondere religiöse, wird nach mittelalterlichem Verständnis zum Spiegel, mit dem der Rezipient einen Blick auf das werfen kann, »[w]as eigentlich außerhalb seines Blickfeldes liegt«: auf sich selbst. 176 Der Blick in den Spiegel, in der seit der Antike gebräuchlichen Terminologie speculatio, 177 bedeutet daher »permanente Selbstkorrektur« und die Aufforderung zur »Verwandlung der Seele«: 178 Wie im technischen Spiegel Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung miteinander gekoppelt sind, ist auch die Selbstdeutung im Spiegel des Anderen durch die Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung bestimmt. Das gilt nicht anders für die Rezeption von Handschriften und Büchern, in der sich Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung miteinander verbinden. Man erfährt sich nicht nur in der Gegenwart des Anderen, sondern auch dann, wenn man sich in der 175 Siehe dazu auch die Einordnung in den soziokulturellen Hintergrund in Kapitel 4.4. 176 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 95. 177 Die Spiegelmetapher hat nach Niklaus Largier ihren Ursprung in Gen. 1,27, wo der Mensch als »Spiegelbild und Spiegelung Gottes« bezeichnet wird. Auf diesem Diktum gründet sich die Vorstellung von der Natur als »Spiegel der Gottheit«. Augustinus beispielsweise ging davon aus, dass im Moment der Spiegelung, in der speculatio, die »komplementären Momente [gemeint sind Kreation und Inkarnation], in denen der Mensch aus Gott hervorgeht« zusammengeführt werden: Die Schöpfung ist also Spiegel, in dem Gott erkennbar wird; die spirituelle Schau führt zurück zum Zustand vor dem Sündenfall. Gleichzeitig verstand Augustinus auch Gott selbst als Spiegel: Gott als Spiegel birgt in Anlehnung an die platonische Ideenlehre nicht nur das Sein in sich, sondern lässt - wie ein Spiegel - die Schöpfung als Abbild aus sich hervorgehen. Diese Vorstellung vom »Spiegel als Explikationsfigur« wurde im Mittelalter produktiv aufgegriffen, beispielsweise von Meister Eckhart, Heinrich Seuse und weiteren von der Mystik beeinflussten Denkern, vgl. Largier: Spiegelungen (1999), S. 616 - 618. 178 Largier: Spiegelungen (1999), S. 616 f. An anderer Stelle spricht Niklaus Largier fast noch treffender von der »Wahrnehmungsformung als Modifikation des Lebens der Seele«, Largier: Ästhetische Spekulation (2015), S. 39. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 241 <?page no="242"?> Textwerkstatt mit den Figuren auseinandersetzt, die uns aus Handschriften und Büchern entgegentreten. 179 Prototypisches Spiegelmedium ist dabei die Heilige Schrift, die dem Gläubigen nicht nur Idealbilder, sondern zugleich auch die eigene Unzulänglichkeit vor Augen führt: Sowohl Figuren, die christliche Werte verkörpern, als auch die Anti-Helden der Heilsgeschichte lassen den Gläubigen erkennen, wie ein vorbildliches Leben aussieht und welche Defizite auf dem Weg dorthin noch zu überwinden sind. 180 Neben der Bibel können weitere auf die Schrift Bezug nehmenden Artefakte, sowohl Texte als auch Bildpraktiken, zum Spiegel werden, der die Transformation des Rezipienten in Gang setzt. 181 Warum sich die narrative Apostrophe in besonderem Maße dazu eignet, dem Rezipienten den Spiegel vorzuhalten und seine ethische Transformation in Gang zu setzen, wird anhand der Erkenntnis- und Wahrnehmungsmodelle deutlich, die die Kirchenväter von Augustinus bis Thomas von Aquin, von Plotin bis Cusanus immer wieder im Zusammenhang mit der Spiegelmetapher erörtern. Denn nach mittelalterlichem Verständnis zeichnet sich der Spiegel dadurch aus, dass der Moment des Spiegelns die Temporalität aufbricht. »Abbild und Bildgegenstand« sind so in eine »Gleichzeitigkeit« eingebunden, dass - wie bei der narrativen Apostrophe - ein besonderes Präsenzerlebnis möglich wird. 182 Ein Vorbild für dieses Verständnis ist in der Heilsgeschichte selbst angelegt: In Weish 7,26 wird Maria im Zusammenhang mit der Inkarnation als speculum sine macula (»ungetrübter Spiegel«) präsentiert, der Immanenz und Transzendenz miteinander verbindet. Maria ermöglicht dem Gläubigen einen Blick auf das Transzendente, indem sie es als Verheißung der Erlösung sichtbar macht, und verhilft im Spiegelungsprozess zugleich dem Göttlichen in die Welt, indem sie zum Medium der Inkarnation wird. 183 In derAuslegung dieser Bibelstelle durch Dionysius Areopagita wird der Spiegel zum »eigentlichen Bild göttlicher Produktivität und menschlicher Imitation des Göttlichen«. 184 Auch die narrative Anrede lässt wie ein Spiegel »alle Temporalität kollabieren«, 185 indem sie die Grenze zwischen Heilsgeschichte und Gegenwart des Rezipienten aufhebt und in eine neue Raumzeitlichkeit überführt. 186 Was damit in der Anredesituation in Gang gesetzt wird, ist nicht nur eine Erfahrung der Begegnung, sondern auch eine Selbsterfahrung: Als Spiegelung initiiert die narrative Apostrophe ein »imaginative[s], produktive[s] Verhältnis[ … ] der Gleichzeitigkeit«, 187 das dem Rezipienten erlaubt, sich im Spiegel des Idealbilds selbst zu erkennen und dem Ideal in der imitatio nachzueifern. 179 Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 80. 180 Vgl. Wenzel: Spiegelungen: Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (2009), S. 70. 181 Vgl. Largier: Die Applikation der Sinne (2007), S. 45. 182 Largier: Spiegelungen (1999), S. 617. 183 Nach Dionysius von Areopagita ist Maria insofern paradigmatisch, als sie »als immaculata, als makelloser Spiegel das Göttliche in die Welt zu bringen vermochte und damit die Inkarnation Gottes zum Vollzug kommen ließ«, Largier: Ästhetische Spekulation (1999), S. 618. 184 Largier: Spiegelungen (1999), S. 620. 185 Largier: Spiegelungen (1999), S. 617. Die Unmittelbarkeit des Spiegelungsprozesses betont auch die Bildtheorie der Mystik, insbesondere die Meister Eckharts, immer wieder: Der Spiegel als solcher sei ein »Bild ohne Bild«, der in der »Unwillkürlichkeit der Abbildung« zum »Motor der Imagination« wird, Wilde: Das neue Bild vom Gottesbild (2000), S. 85 - 87. 186 Diese von der narrativen Apostrophe induzierte Gleichzeitigkeit wurde bereits im Rahmen der Imaginations- und Immersionsstrategien ausführlich untersucht, siehe dazu Kapitel 4.1.1. 187 Largier: Spiegelungen (1999), S. 630. 242 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="243"?> Aufgrund der ausgeprägten Narrativität der Texte rückt diese Erzählhaltung außerdem in die Nähe der Legende. Hier ist die Spiegelfunktion geradezu gattungskonstitutiv: In der literarischen Repräsentation der Viten und Legenden werden Heilige regelmäßig als exemplum christlicher Ideale und Wertvorstellungen sowie als ideales und vorbildhaftes »Modell menschlichen Handelns« 188 inszeniert. Die Schilderung des heiligmäßigen Lebens konzentriert sich meist auf eine oder mehrere Tugenden, als deren Personifikation der Heilige begriffen wird und die als verbindlicher Maßstab für die christliche Gemeinschaft beschworen werden. 189 In dieser Eigenschaft ist der Heilige selbst jedoch von Christus vorgeprägt: Er fungiert also selbst als sekundärer Spiegel, der auf die Vorbildlichkeit Christi zurückverweist. Von den frühen Märtyrern bis zu den Heiligen, die sich durch besondere Askese oder Tugendwerke auszeichnen - immer spiegelt das Wirken des Heiligen Christi Heilswirken. 190 Das bringt auch John Lydgate in seiner Legend of Seynt Gyle zum Ausdruck, wenn er gleich zu Beginn das Heiligenleben als einen merour of Contemplacyoun (Legend of Seynt Gyle, v. 15), als einen Spiegel zur Kontemplation bezeichnet. Die narrative Apostrophe mit ihrer Verschränkung der Geschichte des Heiligen und des Selbst unterstützt die Spiegelfunktion der Texte, sie erinnert damit an die von Michel Foucault beschriebenen › techniques of the self ‹ . 191 Darunter versteht Foucault Formen der »Selbstthematisierung«, 192 das heißt Techniken und Methoden, mit denen das Individuum auf sich selbst wirkt, Handlungsmacht entfaltet und die individuelle Existenz transformiert. Die Foucaultschen Selbsttechniken permit individuals to effect by their own means or with the help of others a certain number of operations on their own bodies and souls, thoughts, conduct, and way of being, so as to transform themselves in order to attain a certain state of happiness, purity, wisdom, perfection, or immortality. 193 Kurzum: Sie eröffnen einen Zugang zum Selbst: Allgemeingültige, überindividuelle Formen und Schemata sind die Grundlage, um das eigene Handeln zu analysieren und zu problematisieren. So unterstützen sie die Neustrukturierung des eigenen Erfahrungshorizonts. Selbsterkenntnis durch den Abgleich mit festen Maßstäben ist Grundelement und Ausgangspunkt jeglicher Selbstthematisierung. 194 Insbesondere bei religiösen Prozes- 188 Philipowski: Der geformte und der ungeformte Körper (2004), S. 67 bzw. vgl. Belghaus: Der erzählte Körper (2005), S. 72. Exemplarizität ist jedoch nicht das alleinige konstitutive Merkmal für Heiligkeit, wie Hans Ulrich Gumbrecht feststellt: Neben der Rolle als »ethischer Virtuose«, der den Gläubigen zur imitatio auffordert, kann der Heilige auch die Rolle eines »magische[n] Helfer[s]« einnehmen. Diese »Funktionsambivalenz«, die Heiligkeit als »zusammengesetzte Kategorie aus rationalen und numinosen Momenten« inhärent ist, wird an späterer Stelle im Zusammenhang mit memoria nochmals ausführlich thematisiert werden, Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie (1979), S. 54 f. Siehe dazu auch Hammer: Erzählen vom Heiligen (2015), S. 5 - 9. 189 Vgl. Riehl: Kontinuität und Wandel von Erzählstrukturen (1983), S. 13. 190 Vgl. Hammer: Grausamkeit als Modus der Unterhaltung (2009), S. 122. Nach Edith Feistner zeigt sich in der Hagiographie die Vorstellung von Christus als primärer Mediator des Heils, in dessen Nachfolge die Heiligen mit ihrer imitatio treten und dabei die »Funktion einer sekundären Mediation« übernehmen, Feistner: Imitatio als Funktion der Memoria (2003), S. 263. 191 Foucault: Techniques of the Self (1988), S. 17. 192 Foucault: Techniques of the Self (1988), S. 17. 193 Foucault: Techniques of the Self (1988), S. 19. 194 Vgl. Freimuth: Körper und Selbstthematisierung in der mittelalterlichen Beichtpraxis (1999), S. 170 f. Auch in den Werken des Petrus Abelaerdus und Bernhards von Clairvaux findet sich die Vorstellung, 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 243 <?page no="244"?> sen spielen Selbsttechniken eine zentrale Rolle: Um eine christlich institutionalisierte Lebensführung zu adaptieren, bedarf es eines Selbstverhältnisses, auf dessen Grundlage Moralerfahrung überhaupt erst möglich ist. 195 Nicht umsonst betrachtet Foucault die Beichte als paradigmatisches Beispiel. Hier tragen vorgegebene Schemata erheblich dazu bei, ein Selbst-Bewusstsein zu erzeugen, ohne dass die Beichte nach christlich-theologischem Verständnis wirkungslos bliebe. Einsicht in die eigene Devianz vom Wertideal wiederum bildet die Voraussetzung für die Selbst-Transformation. 196 Das Potenzial zur Selbstthematisierung, das mehr oder weniger ausgeprägt in nahezu allen religiösen Texten angelegt ist, 197 wird in der Kombination mit der narrativen Apostrophe und ihrer den Leser involvierenden Natur voll ausgeschöpft. Ihre Nähesprachlichkeit lädt zunächst ein, sich mit dem heiligmäßigen Vorbild zu vergleichen. Zugleich verleiht sie der Hoffnung des Rezipienten Ausdruck, das in der Selbstthematisierung zum Maßstab genommene Ideal mit der Hilfe des angesprochenen Heiligen leichter zu erreichen. Besonders ausgeprägt ist der Appell, das Wirken des Heiligen auf sich zu beziehen, im Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, das die Komplementärpaare aus Tugendhaftigkeit und Sündigkeit zum Leitmotiv erhebt und dadurch Appellwirkung entfaltet. Die Struktur der narrativen Apostrophe, die abwechselnd die Geschichte der Heiligen und die der Rezipienten in den Fokus rückt, lädt dazu ein, das eigene Sein mit der exemplarischen Lebensgeschichte Elisabeths abzugleichen und befördert so die Selbstbildung. 198 Der Schwerpunkt liegt im Elisabethgebet auf Leben und Person der Heiligen: Ihre Lebensgeschichte, ihr Verhalten, aber auch ihre äußere Erscheinung ist Ausdruck göttlichen Heilswirken und weist als solches stereotype Züge auf, die nicht als Zeichen der literarischen Überformung, sondern vielmehr als Niederschlag des mittelalterlich-christlichen Verständnisses von Heiligkeit zu verstehen sind. 199 Die Typenhaftigkeit, mit der Heilige in der mittelalterlichen Literatur immer wieder gezeichnet werden, ist Ergebnis des Versuchs, »Nicht-Sichtbares« sichtbar zu machen 200 und »Unverfügbares« zu repräsentieren. 201 Daher verwundert es nicht weiter, dass Elisabeth in ihrer Heiligkeit als radikal Selbsterkenntnis sei die Voraussetzung für eine erfolgreiche Umkehr, vgl. Dinzelbacher: Das erzwungene Ich (2001), S. 44. 195 Vgl. Uffmann: Körper und Klosterreform (1999), S. 194. 196 Vgl. Freimuth: Körper und Selbstthematisierung in der mittelalterlichen Beichtpraxis (1999), S. 170. 197 Auch hier zeichnet sich der seit dem 12. Jahrhundert zunehmende »Trend zur Verinnerlichung und zu einer stärkeren Betrachtung des Individuums« ab, Freimuth: Körper und Selbstthematisierung in der mittelalterlichen Beichtpraxis (1999), S. 167. 198 Das Bedürfnis laikaler Leser nach derartigen Texten fasst Valerie Edden treffend zusammen: »What the individual lay person needed was help in reflecting on his or her own life and acknowledging how far he had fallen short of the way of life required of one committed to following the teachings of Christ«, Edden: The Devotional Life of the Laity in the Late Middle Ages (2005), S. 41. 199 Nach Viola Belghaus gebraucht die Hagiographie keine »Vermittlungsformen, die auf Individualität und Wirklichkeitsabbildung beruhen, sondern vielmehr in der Wiederholung der Stereotypen den Gang der Geschichte fort- und festschreiben«, Belghaus: Der erzählte Körper (2005), S. 71. Siehe dazu auch Kapitel 3.2.2.4. 200 Antunes/ Reich: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter (2012), S. 14. 201 Gebhard/ Geisler/ Schröter: Einleitung (2009), S. 10. Wie Gabriela Antunes und Björn Reich ausführen, ist die mittelalterliche Kultur »wesentlich auf Sichtbarkeit und Deixis abgestellt«. Um nun Abstrakta wie Heiligkeit oder Transzendenz greifbar zu machen, die sich der sinnlichen Wahrnehmung im herkömmlichen Sinne entziehen, weicht die Darstellung häufig auf Bild- und Sprachtechniken aus, die 244 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="245"?> anders beschrieben wird - sowohl in Bezug auf ihr Verhalten als auch auf ihr Äußeres. 202 Von Beginn des Gebetslebens an wird deutlich gemacht, dass diese Heiligkeit repräsentierende Alterität kein individuelles Verdienst, sondern eine »besondere Begnadung von Gott« und eine »über-individuelle Eigenschaft« ist. 203 Diese Auserwähltheit manifestiert sich außerdem in äußeren Zeichen, die im Elisabethgebet jedoch erst nach dem Tod der Heiligen evident werden. 204 Obwohl Elisabeths Leichnam mehrere Tage lang aufgebahrt wird, setzt keine Verwesung ein. Vielmehr verströmt er einen angenehmen Duft und schwitzt schließlich sogar ein heiliges Öl aus, von dem eine erquickende Wirkung ausgeht. Der heilige Körper wird damit zum Zeichen einer göttlichen Macht, die hier am Werk ist. Die Semiozität 205 des Heiligenkörpers reflektiert auch der Text: Söliche gute riechung und geschmack on zwifel din aller liebster gemahel der herre Jesus Christus dir siner kuschen gesponsen über natürlich in gegossen hatt uns zu einer erzöigung in wie grosser luterkeit der kuschekeit du din fleisch mit dem geist behütet hast. Und öch durch sinen grosse wunder zeichen dis virbass erzögte so ist worlich befunden daz din er wirdiger lycham als er in daz grab geleit warz heilig öly überflüsseklich von im schwitzte. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 93 f.) Solch ein angenehmer Duft und Geschmack hat dein allerliebster Gemahl, der Herr Jesus Christus, dir, seiner keuschen Gattin auf übernatürliche Weise eingegossen, um uns vorAugen zu führen, mit welcher Lauterkeit der Keuschheit du deinen Körper mit deinem Geiste gehütet hast. Und auch durch sein großes Wunderwirken bezeugte er das fortan und es ist von allen bemerkt worden, dass dein ehrwürdiger Leichnam im Überfluss ein heiliges Öl überreich verströmte, als er in das Grab gelegt wurde. Indem zwei nach christlichem Verständnis wesentliche Charakteristika des Mensch-Seins überwunden werden, Sterblichkeit des Körpers und als sündhaft betrachtete Sexualität, aktualisiert sich im Bild des nicht-verwesenden, Öl verströmenden Leichnams das Versprechen Christi auf Erlösung. Mit dem Ideal von Keuschheit wird so ein Weg aufgezeigt, auf dem die Rezipientin Seelenheil erlangen kann. In scharfem Kontrast dazu steht die implizierte Rezipientin. Während der Gebetstext mit seiner Konzentration auf Leben und Wirken der Heiligen nicht mit Beschreibungen von die Alterität des Göttlichen oder Heiligen zu visualisieren versuchen, Antunes/ Reich: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter (2012), S. 10. Das betrifft vor allem die »Darstellung des Heiligen-Leibes«, der als Zeichenträger gilt: »[A]nhand d[er] besondere[n] Qualitäten [dieses Leibes] [werden] die Exzeptionalität und die Auserwähltheit der Figur offenbar«, Seidl: Blendendes Erzählen (2012), S. 30. 202 Während der Gebetstext Elisabeth sonst weitgehend als »[Vergegenständlichung] einer tätigen Tugend« zeigt, rückt hier die Komponente eines magischen Helfers in den Vordergrund, die weniger auf imitatio als vielmehr auf die transzendental-übersinnlich Macht der Heiligen verweist, Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie (1979), S. 54 bzw. Jolles: Einfache Formen (1969), S. 31. Vgl. Müller: Das Gedächtnis des gemarterten Körpers im spätmittelalterlichen Passionsspiel (1997), S. 90 bzw. Antunes/ Reich: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter (2012), S. 14. 203 Riehl: Kontinuität und Wandel von Erzählstrukturen (1993), S. 14. Siehe dazu auch die Eingangspassage des Elisabethgebets, in der Elisabeths irdischer und geistiger Adel enggeführt werden und die im Zusammenhang mit der narrativen Gestaltung von Heiligen als faktuale Figuren bereits ausführlicher untersucht wurde, Kapitel 2.2.2.4. 204 Zu Lebzeiten ist es Elisabeths Haltung und Verhalten, nicht das Äußere ihres Körpers, durch das sich Gottes Wirken manifestiert. 205 Zur zugrundeliegenden Anthropologie des »Körpers als Zeichensystem« siehe auch Kapitel 4.2.2.4. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 245 <?page no="246"?> Elisabeth geizt, werden weitaus weniger Aussagen über das Text-Ich gemacht. Eine wichtige Rolle spielt die narrative Apostrophe insofern, als sie mit der Sprecher-Position die Möglichkeit zur Selbstthematisierung eröffnet. Anreden und Selbstbezeichnungen sind hier komplementär und oszillieren zwischen der Exorbitanz der Heiligen und der Defizienz der Sprecherin. Schon mit dem ersten Komplementärpaar aus Anrede und Selbstpositionierung wird ein kategorischer Unterschied zwischen der Vollkommenheit der Heiligen und der Sündhaftigkeit der Rezipientin inszeniert: O aller milteste fröw Du aller seligeste Elisabeth, Du nun aller liebste fürsprecherin und patronin ich din armes unwirdiges dirnli beruff dir wider in din gedechtnisse die wunderbare andacht [ … ] die dir hest geübt (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 6 f.) Oh du überaus gütige Herrin, du allerseligste Elisabeth, du jetzt allerliebste Fürsprecherin und Patronin, ich, deine arme unwürdige Magd, möchte dir wieder die wunderbare Andacht [ … ] ins Gedächtnis rufen, die du gepflegt hast. Der Gegensatz zwischen Vollkommenheit und Sündhaftigkeit kommt nicht allein in der Semantik der gewählten Komplementärpaare zum Ausdruck. Schon die bloße Fülle der Epitheta, mit denen Elisabeth adressiert wird und die den christlichen Tugenden entsprechen, führt den Abstand des Text-Ichs zum Vorbild vor Augen: Was Elisabeth ist, ist die Sprecherin nicht. So kontrastiert die Ehrbezeichnung vrou mit der Diminutivform dirnli, die Milde der Heiligen wird der geistigen › Armut ‹ der Sprecherin gegenübergestellt, die Seligkeit Elisabeths ist Antonym zur Unwürdigkeit des › Ichs ‹ . Das Hin- und Her zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Soll- und Ist-Zustand ist hier »Reflexionsmoment« für die Rezipientin 206 und bietet eine »konkrete Kontaktsituation[ … ], die Reaktionen und Emotionen hervorruf[t]«. 207 Dabei zeigt sich die spätestens seit Augustinus in der christlichen Spiritualität zur Tradition gewordene Rhetorik des Dialogs, die auf »practices of staging and fashioning of the self« 208 zielt. Diese Technik eines dichotomischen Kontrastierens ist für das Elisabethgebet richtungsgebend und Grundlage für das didaktische Programm des Textes, der nicht nur Glaubensinhalte vorstellt, sondern den Gläubigen dazu aufruft, die durch das Beispiel der Heiligen greifbar gewordenen Tugenden zu verinnerlichen. 209 Während die Leserin mit der Lektüre voranschreitet und dabei die Biographie Elisabeths kennenlernt, durchläuft sie einen Prozess der Selbsttransformation [ … ], der sich vollzieht, indem [sie] sowohl [ihren] ursprünglichen Zustand, diese Transformationen selbst als auch die Erfahrung [ihrer] Veränderung mit den erreichten Stufen emotional (ex affectu) erkennt (cogitare) und fühlt (sentire). 210 Zwei Motive bzw. zwei Transformationsziele geben dabei die Stoßrichtung vor. Propagiert werden christliche Ideale im Allgemeinen und solche, die besonders für den Klarissenorden relevant sind, innerhalb dessen der Elisabeth-Kodex entstanden ist: die in der imitatio Christi angelegte Askese und Demut sowie das Ideal der Nächstenliebe, das der Gebetstext der Leserin mit dem Aufruf zur imitatio Mariae nahebringen möchte. 206 Antunes/ Reich: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter (2012), S. 10. 207 Gebhard/ Geisler/ Schröter: Einleitung (2009), S. 10. 208 Largier: Inner Senses - Outer Senses (2003), S. 4. 209 Zum »didaktischen Ansatz« der Hagiographie siehe Seidl: Blendendes Erzählen (2012), S. 126. 210 Das beobachten Anselm Rau und Johanna Scheel immer wieder für die mittelalterliche Devotionspraxis, Rau/ Scheel: Meditation und Gebet (2016), S. 281. 246 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="247"?> Eine asketische Lebensführung ist nach christlichem Verständnis ein erprobter Weg zum Seelenheil. Grundlage dafür ist die weit verbreitete sema-soma-Vorstellung, nach der die Seele in den Körper eingeschlossen sei. Einer der Verfechter dieser Abwertung des Körpers gegenüber der Seele ist Franziskus von Assisi, der den Antagonismus von Körper und Seele darauf zurückführt, dass der Körper anfällig für Versuchungen sei und somit das Seelenheil in Gefahr bringe. Gleichzeitig biete genau das auch eine Chance: Durch Selbstkasteiung und Enthaltsamkeit könne die vom Körper ausgehende Bedrohung in einen Heilsweg umgekehrt werden. 211 Das Elisabethgebet lässt keinen Zweifel, dass eine asketische Lebenspraxis für die von Gott begnadete Elisabet keine lästige Notwendigkeit ist, sondern ihrem Naturell entspricht. Statt erst einen mühsamen Vervollkommnungsprozess zu durchlaufen, entspricht Elisabeths Verhalten und Lebensführung von Anfang den Prämissen der imitatio Christi - freilich in je › altersgerechter ‹ Ausgestaltung. In Übereinstimmung mit dem hagiographischen Topos des »einmal geborenen« 212 Heiligen schildert der Text das Mädchen Elisabeth als mustergültiges Beispiel für ein weltabgewandtes und auf Gott ausgerichtetes Leben: in dieser zit als du noch kum ein funf ieriges iuncfröwlin wärst durch die göttliche gnad entzundet hastu vast die spiel geflohen und so du die nit fliehen mochtest die selben dem lob gottes zu gegeben. Won den armen kinden hestu die zehenden der ding mit dem spil gewunnen umb daz si etliche pater noster und ave mariae betten sollten geben. Du hast stetes gebettet so du dick viel andechteklich vor dem altar legt und hast psalter als ob du den selben lesest zu die geleit wie wöl dir den ze mol die geschrift unkunt waz. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 7 f.) In dieser Zeit, als du noch kaum ein fünfjähriges Mädchen warst, hast du, von göttlicher Gnade entzündet, oft die Spiele ganz vermieden, und wenn du dich einmal nicht zurückziehen konntest, hast du diese dem Lob Gottes gewidmet. Du hast nämlich den armen Kindern den zehnten Teil der Dinge gegeben, die du beim Spiel gewonnen hast, damit sie einige Vaterunser und Avemarias beten. Du hast auch stets selbst gebetet. Du hast gebetet, wenn du dich sehr oft andächtig vor den Altar legtest, und du hast den Psalter vor dich gelegt, als ob du ihn lesen würdest, obwohl dir die Schrift damals noch nicht bekannt war. Anstatt mit den anderen Kindern zu spielen, widmet sich die kleine Elisabeth lieber dem Gebet, das sie in kindlicher Andacht verrichtet. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, am sozialen Geschehen teilzunehmen, nutzt Elisabeth die Gelegenheit zum Dienst am Nächsten und gleichzeitigem Gotteslob. Dass die Rezipientin von diesem Ideal der Andacht weit entfernt ist, zeigt die Gebetsbitte, in der die Sprecherin sich stereotyp wiederum als dine[ … ] arme[ … ] dienerin (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 9) bezeichnet. Zusammen mit ihrer Bitte um Andacht enthüllt sie ihre Defizite: erwirb öch mir [ … ] daz ich in allen dingen minen gott alle zit andechtig dienst möge erbieten (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 9: »Verschaff auch mir, dass ich in all meinen Angelegenheiten Gott stets voller Andacht zu Diensten bin«). Damit sind die Gebetsbitten nicht nur eine Liste dessen, was sich das › Ich ‹ mit Hilfe der Heiligen noch erarbeiten will, sie figurieren gleichsam als Selbstaussage ex negativo. Eine Vielzahl dieser implizierten Selbstaussagen kreisen um den Wert der Askese und einer selbstgewählten Demut und Erniedrigung. Diese Handlungsmodelle stellen Elisabeth 211 Dinzelbacher: Über die Körperlichkeit in der mittelalterlichen Frömmigkeit (1999), hier S. 52 f. 212 Seidl: Blendendes Erzählen (2012), S. 3. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 247 <?page no="248"?> in die direkte Nachfolge Christi und unterstreichen ihre »Funktion einer sekundären Mediation«. 213 Mehrere der Rubriken, die das Leben Elisabeths nach Themenschwerpunkten ordnen, beschäftigten sich mit solchen Verhaltensmustern, die sich unter das Demutsbzw. Armutsideal subsumieren lassen: Von ir aller grösten demütikeit (»Von ihrer allergrößten Demut«), Von irer willigen armut (»Von ihrer bereitwilligen Armut«), Von der ab brechung irs eigenen willen (»Von der Unterdrückung ihres eigenen Willens«). Am Beispiel der hochadligen Königstochter und Landgräfin erscheint das Modell der Weltabkehr noch außergewöhnlicher: So du noch wert eins künges tochter und ein lantgräfin usz Türingen du etween usserlich dester gezierter gewesen bist noch der welt. So hastu doch din inner gezierd als die tieff demut dins gemütes die do ist die aller schönste zierung vor Gott dem Herren nie hin geleit. Sunder du bist alle zit demütiger gewesen [ … ] Du woltest öch nit von dinen dienerinnen fröw genant werden noch geiret werden sunder hiest du dich dutzen und dich nennen Elysabethen. Die selben din dienerinnen hestu öch zu dinem tisch und an din siten gesetzet und zwungt sie zu essen und zu trincken usz du die spisen nusste [ … ] In den offenen predigen hastu dich alle zit under die armen als ein arme gesetzet und nit an die hohen stett als ein fürstin des landes. In den crutz gegengen und pression bistu ünder den armen barfuss in einem growen kleid und angeleit mit einem härinen hemd gegangen. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 72 - 75) Als du noch eine Königstochter und Landgräfin zu Thüringen warst und du oft äußerlich umso mehr geschmückt warst, hast du deine innere Zierde nie aufgegeben, die tiefe Demut deines Herzens, die vor Gott dem Herrn die schönste Zierde ist. Sondern du bist immer überaus demütig gewesen [ … ] Du wolltest von deinen Mägden nicht »Herrin« genannt noch mit »Ihr« angesprochen werden, stattdessen ließest du dich duzen und Elisabeth nennen. Diese deine Dienerinnern hast du auch mit dir an deinen Tisch und an deine Seite gesetzt und sie dazu gebracht, [mit dir zusammen] zu essen und zu trinken, wie du die Speisen genossest. [ … ] Während der öffentlichen Predigten hast du dich immer wie eine Arme zu den Armen gesetzt und nicht als Landesfürstin auf den Ehrenplatz. In den Kreuzgängen und bei Prozessionen bist du gemeinsam mit den Armen barfuß und in einem grauen Kleid gegangen und hattest dir ein härenes Hemd angelegt. Elisabeth setzt sich über die äußerlichen Zeichen der Standeshierarchie hinweg, indem sie ihren Mägden auf Augenhöhe begegnet und sich unter die Ärmsten der Bevölkerung mischt. Ihren weltlichen Status ersetzt die Heilige mit den Zeichen eines auf Innerlichkeit und auf Transzendenz zielenden Tugendadels. Diese Umkehrung der immanenten Ordnung bedeutet einen »Identitätswechsel«, der die Heilige wortwörtlich »aus den feudalen Sichtbarkeitszusammenhängen« verschwinden lässt: 214 Mit dem Eintauschen ihrer höfischen Gewänder gegen ein schmuckloses graues Hemd entzieht sich Elisabeth der weltlichen Sphäre und deren Beobachtung 215 - vor dem Hintergrund der auf Visibilität und Repräsentation gründenden mittelalterlichen Adelskultur eine überdeutliche Aussage. 213 Feistner: Imitatio als Funktion der Memoria (2003), S. 263. 214 Schulz: Hybride Epistemik (2009), S. 662. 215 Vgl. Strohschneider: Textheiligung (2002), S. 132: »Teil einer Sphäre [der Heiligkeit] kann nur sein, was sich der Beobachtung [ … ] entzieht. Beobachtbar zu sein ist eine Einschränkung von Heiligkeit, und der Beobachtung sich zu entziehen ist daher notwendige Vollzugsform von Weltabkehr.« 248 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="249"?> Die Gebetsbitte setzt auch hier einen Kontrapunkt. Die Bitte ist nichts anderes als ein Eingeständnis des Abstands, der die Sünderin von der Heiligen trennt: Dorumb bitt ich dich du heilige demut daz du kummest durch daz verdienen diner aller undertenigesten der heiligen Elysabethen zu mir irem unwirdigen kind und beker mich gentzklich in dich. Also daz nit allein alle hohfart wit von mir sy sunder öch allenthalben in mir lüchtest daz ich mich durch dich möge überwinden daz ich mich in kein wise in hochfart über hebe weder mit hertzen worten oder wercken noch keinen menschen verschmehe. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 81 f.) Deshalb bitte ich dich, du heilige Demut, dass du dank des Verdiensts deiner aller untertänigsten Dienerin, der heiligen Elisabeth, zu mir kommst, ihrem unwürdigen Kind, und ich wende mich gänzlich dir zu; so, dass nicht nur alle Hochmut fern von mir sei, sondern dass du auch überall in mir erstrahlst, dass ich mich durch dich überwinden kann, damit ich mich nie in Hochmut über jemanden in Gedanken, Worten oder Taten erhebe und nie einen Menschen verschmähe. Die Tugenden, die Elisabeth auszeichnen, muss die Sprecherin erst noch unter großer Anstrengung erlernen: Während die Heilige als Epitome der Selbsterniedrigung charakterisiert wird, bezeichnet sich das › Ich ‹ als hochmütig; während Elisabeth willig Reichtum und Stellung aufgegeben hat, um ein Leben in Armut zu führen, bezichtigt sich das Text-Ich des übermäßigen Strebens nach irdischen Gütern. Was auch immer die Heilige qua göttlicher Gnade verkörpert, liegt noch vor der Rezipientin. Immerhin: Elisabeths Beispiel der imitatio Christi zeigt nicht nur die eigene Unzulänglichkeit auf, sondern präsentiert auch einen gangbaren Heilsweg. Die Verknüpfung von Idealvorstellung und Bestandsaufnahme im Wechselspiel von Anrede und Selbstaussage bestimmt auch die Vermittlung derjenigen Tugenden, die mit der imitatio Mariae verknüpft sind. Essenziell ist die Nächstenliebe, die sich in Elisabeths Aktivitäten in derArmen- und Krankenfürsorge ausdrückt. Auch diese wird als Zielvorgabe auf dem Weg zu einem gottgefälligen Leben beschworen. So wie Maria als Mutter Christi eine Mutterrolle für die gesamte Menschheit übernimmt, wird auch Elisabeth eine Mutterrolle über ihren unmittelbaren Wirkungskreis hinaus zugeschrieben: Du bist den werken der erbarmherzikeit von dinen iungen tagen biss zu end dines lebens so ermessiklich ob gelegen und allen ellenden armen und bekümereten menschen so milt und süss gesin me mit werken und gutteteten und mit dienstbarkeit alle zit gewesen. Also daz dich alle menschen nanten ein muter der armen. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 23) Du hast dich von frühester Kindheit an bis zum Ende deines Lebens so fleißig den Werken der Barmherzigkeit verschrieben und dich stets allen elenden, armen und betrübten Menschen so gütig und liebevoll sogar noch mehr mit Werk und Taten und mit deinen Diensten zugewandt, dass dich alle Menschen schließlich »Mutter der Armen« nannten. Die Heilige verkörpert exemplarisch caritas und misericordia, Nächstenliebe und Mitleid. Die Pflege dieser christlichen Kardinaltugenden bringen ihr den Ehrentitel › Mutter ‹ ein, der einen der häufigsten Anredenamen im Elisabethgebet darstellt. Auch hier zeigt sich das Nähepotenzial der Apostrophe, die eine Situation der Vertrautheit festschreibt: Ich din armes dienerli daz do vast arm ist an allen tugenden bitt dich öch mir wellest erlöben daz ich dich neme nun muter und erzeug alle zit gegen mir in allen minen nöten die gelider diner müterlichen miltikeit (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 30). 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 249 <?page no="250"?> Ich, deine arme Dienerin, die so arm ist an allen Tugenden, bitte dich, dass du mir ebenfalls erlaubst, dich als meine Mutter anzunehmen, und dass du mir gegenüber immer in all meinen Sorgen deine mütterliche Güte gewährst. Waren die Komplementärpaare aus Anrede und Selbstbezeichnung zunächst nach einem hierarchischen Beziehungsgeflecht modelliert, wird die asymmetrische Beziehung in der Bitte, Elisabeth als Mutter ansprechen zu dürfen, zwar weiter perpetuiert, aber auf ein intimeres Level gehoben. Für den Rest des Gebetstexts dominieren Anreden, die ein Mutter- Kind-Verhältnis zum Ausdruck bringen, so bezeichnet sich das › Ich ‹ fast durchgängig als kind und spricht Elisabeth als mutter an. Mit der Beschreibung der Krankenfürsorge wiederum propagiert der Gebetstext das Ideal eines Lebens im Dienst des Nächsten. Dass diese Nächstenliebe bis zur Selbstaufgabe reicht, zeigt sich in den plastischen Beschreibungen der Krankenpflege Elisabeths, die auch vor unappetitlichen Details nicht zurückschreckt: Die selben so ie unreiner und grussamklicher worent starckest du die under-teniklicher und hattest si hertzklicher lieb. Du wärt öch sölichen fürer fröidenklicher dienstbar sie handlende mit dinen eigenen henden und anrürend an den enden do si aller meist geschwer hattend und aller üblest schmacktend und mit den schleiger tuch dins höbtes ir unsuferkeiten menig mol ab trucknende. Du hast öch gepflegen di ussetzigen und krancken selbs ze baden ire höibter ze zwahen oder ze weschen und die nagel ir hend und füss ab ze schniden (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 31 f.) Je unreiner und grausiger diese [Kranken] waren, desto aufopferungsvoller und demütiger stärktest du sie und desto lieber hattest du sie. Du warst ihnen mit umso größerer Freude zu Diensten, indem du sie mit deinen eigenen Händen behandeltest und ihre Extremitäten berührtest, an denen die Kranken die schlimmsten Geschwüre hatten und am übelsten rochen. Mit deinem Kopfschleier hast du außerdem ihre Aussonderungen unzählige Male abgewischt. Gewöhnlich hast du die Aussätzigen und Kranken selbst gebadet, ihnen das Haupt gewaschen und ihnen die Finger- und Fußnägel geschnitten. Obwohl Krankenpflege im Tugendkanon adliger Frauen einen festen Platz hatte, sprengt das Beispiel Elisabeths den Rahmen des Üblichen. 216 Getreu dem Christuswort, dass der Dienst am Nächsten ein Dienst an Christus sei, 217 versorgt die Landesfürstin die Kranken eigenhändig, ohne Angst vor Ansteckung oder Ekel: je schlimmer der körperliche Zustand des Patienten, desto besser für die Heilige, die die Krankenfürsorge zum Bußdienst erklärt. Fokuspunkte für das »Bild des heiligmäßigen Lebens«, 218 das mit Elisabeth entworfen wird, sind also Demut und Selbstaufgabe. Während die aufopfernde Krankenpflege auch auf Christus verweist, ist Elisabeths Wunsch nach einem keuschen Leben ein mariologischer Topos, der für die Vita der verheirateten Heiligen nicht unproblematisch ist. Denn Virginität gilt in der Hagiographie als eines der zentralsten Kriterien für weibliche Heiligkeit, das historische Faktum ihrer 216 Backes/ Fleith: Eine Heilige für alle? (2008), S. 267. 217 Mt 25,40: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« Dieses Christuswort klingt im Elisabethgebet an, wenn Elisabeth während der Pflege eines Aussätzigen zu ihren Dienerinnen sagt: Ir min aller liebsten wöl uns daz wir den herren unseren gott also handlen mögent (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 32: »Ihr meine Allerliebsten, es ergeht uns wohl, wenn wir den Herrn, unseren Gott, auf dieselbe Art und Weise behandeln.«) 218 Schubert: Das Leben der heiligen Elisabeth im Spiegel der deutschen Literatur des Mittelalters (2008), S. 290. 250 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="251"?> Eheschließung mit Ludwig und die Tatsache, dass aus dieser Ehe mehrere Kinder hervorgingen, führt so zu dem »Dilemma [ … ], die Heiligkeit einer verheirateten Frau angemessen darzustellen«. 219 Die historische Wirklichkeit wird in der Folge jedoch nicht einfach geleugnet, sondern überblendet: Die Ehe von Elisabeth und Ludwig wird insofern als keusch gezeichnet, als Sexualität nur der Reproduktion dient und Elisabeth sich so weit als möglich von ihrem Gatten zurückzieht; so schläft sie beispielsweise nicht im Ehebett, sondern auf dem nackten Boden, nach Ludwigs Tod entscheidet sie sich entgegen des Wunsches ihrer Familie dafür, fortan unverheiratet zu bleiben und in eine Klostergemeinschaft einzutreten - ein Ideal, das vor dem Hintergrund, dass der Kodex eigens für den Gebrauch in einem Nonnenkloster angefertigt wurde, wie ein Wink mit dem Zaunpfahl erscheint. Das Narrativ der keuschen Heiligen erhält in der entsprechenden Gebetsbitte einen deutlichen Kontrapunkt in der Selbstoffenbarung des sündigen › Ich ‹ : O du aller kuscheste turtel tube du min aller süsseste muter Elysabeth erwirb öch mir dinem unwirdgen kind ewige kuschikeit des gemütes und des libes und beschirm mich alle zit mit dinem müterlichen flisse und stercke mich wider die boszheit der unreinen geist und der fleischlichen dinge und wider min eigene blödigkeit. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 63 f.) Oh du allerkeuscheste Turteltaube, du meine allerliebenswerteste Mutter Elisabeth, erwirb auch mir, deinem unwürdigen Kind, die ewige Keuschheit von Geist und Körper und behüte mich immerdar mit deiner mütterlichen Sorge und stärke mich gegen die Unzulänglichkeit des unreinen Geists und der körperlichen Dinge und stärke mich gegen meine eigene Schwäche. Auch hier initiieren die Komplementärpaare aus Anrede und Selbstbezeichnung einen Prozess der Selbsterkenntnis: Im › Spiegel ‹ der Heiligen erkennt das › Ich ‹ die eigenen Unzulänglichkeiten, indem es eben diese Heilige um Hilfe dafür bittet, die Differenz zum vorgestellten Ideal zu verringern. Die narrative Apostrophe mit ihrer selbst-involvierenden Sprache spricht eine deutliche Einladung an die Rezipientin aus, den von Elisabeth vorgelebten Heiligungsweg nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch selbst einzuschlagen. Der Wechsel von Ich- und Du- Passagen, von Gebetsbitten, in denen der Leserin das Bekenntnis zur Defizienz in den Mund gelegt wird, und erzählenden Apostrophen, in denen das Ideal herausgestellt wird, regt die Reflexion an und möchte so einen Transformationsprozess in Gang bringen. Die in die Gebetsituation eingebettete Heiligenlegende fungiert hierbei als »Analogieerzählung«, 220 die darauf zielt, einen Bezug zwischen der narrativ vermittelten Wirklichkeit und der selbst erlebten Wirklichkeit der Rezipientin herzustellen und eine neue, vom › Textspiegel ‹ inspirierte Wirklichkeit zu beschwören. Die Adoption der Gebetsstimme, wie sie in der narrativen Apostrophe notwendigerweise vorgestaltet ist, befördert die »Selbstaffektion« 221 der Leserin: In der Anrede an die Heilige wird so ein Prozess der Selbstbildung angestoßen, der »den praktischen Vollzug geistlichen Lebens« zum Ziel hat, »das heißt die unmittelbare Erfahrung, die der Mensch mit sich selbst in einem bestimmten religiösen Lebensstil macht«. 222 Das in die Gebetssprache gebrachte 219 Haarländer: Weibliche Heiligkeit (2008), S. 211. 220 Haeseli: Sprachmagische Texte (2008), S. 72. 221 Vgl. Largier: Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation (2009), S. 958. 222 Bohl: Geistlicher Raum (2000), S. 239. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 251 <?page no="252"?> Exempel wird so zu »einer Praxis der Beobachtung«, 223 die auf die Produktion eigener Erfahrung zielt und das Erzählen zum Medium der imitatio macht. 4.2.2 Präskriptiv, diskursiv, deskriptiv: Das Programm der andaht und die narrative Apostrophe Mit ihrer Hybridisierung von narrativen und diskursiven Elementen sind die Texte, in denen die narrative Apostrophe Anwendung findet, mehr als reine Gebetspraxis auf der einen und mehr als bloße Erzählung auf der anderen Seite. Es geht ihnen um die Vermittlung von Glaubensinhalten, die einen festen Platz im Leben der Rezipienten haben und zur »Konsolidierung des Glaubens« 224 beitragen. Genauso wichtig ist die Vermittlung »impliziten Wissens«, 225 das heißt von Wissen über kulturelle Praktiken und die dazugehörigen Handlungen. Die zwischen Gebet und Erzählung changierenden Du-Erzählungen haben also die doppelte Funktion, einerseits religiöse Erfahrung zu befördern, andererseits zur »Ausbildung eines Habitus« beizutragen, »in dem solche Erfahrung ihren Sitz hat«. 226 Implizites Wissen kann jedoch nur über »diskursivierende Explikationen« 227 zugänglich gemacht werden. Das implizite Wissen, auf das die Texte zielen, sind Frömmigkeitspraktiken, die unter dem Begriff › Andacht ‹ firmieren. Andaht als eine der »Leitvokabeln in der neuen Frömmigkeitskultur« 228 ist das volkssprachliche Äquivalent zum lateinischen devotio: In der Grundbedeutung als › Aufmerksamkeit ‹ oder › Denken an etwas ‹ zu übersetzen, meint andaht im religiösen Kontext die › Hingabe an ‹ Gott und wird schließlich im Laufe des späten Mittelalters zum terminus technicus für die › Andachtsübung ‹ , der die innere Haltung des Betenden ebenso miteinschließt wie den praktischen Vollzug der Gebetshandlung. 229 Die dazugehörige Literatur reflektiert und leitet solche Andachtsübungen an; sie speichert insofern › implizites Wissen ‹ , als die Texte Andachtspraktiken habituell einüben und in der langfristigen, regelmäßigen Übung eine grundlegende Transformation des Gläubigen herbeiführen. 230 Das gelingt vor allem dann, wenn Anweisung und Medium, Einübung und Vollzug eng verzahnt werden. In der medial vielgestaltigen Erbauungspraxis finden sich eine Reihe von Strategien, zu denen die narrative Apostrophe zählt: Ihre Anredesituation stellt einerseits 223 Largier: Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation (2009), S. 961. Niklaus Largier bezeichnet in treffender Formulierung Texte wie das Elisabethgebet als »exemplarische Grundlage individueller mimetischer Praxis [ … ] und einer kommunalen Habitusbildung«, vgl. ebd., S. 963. 224 Das ist nach Susanne Köbele ein zentrales Ziel von Erbauungstexten jedweder Art, Köbele: Erbauung - und darüber hinaus (2015), S. 435. 225 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Wissen (2015), S. 34. 226 Largier: Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation (2009), S. 953. 227 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Wissen (2015), S. 34. Der »Prozess der Belehrung [lässt sich] nicht auf einen Transfer von Wissensstoff einengen, den man praktisch verpackt, zeitsparend und sicher in das Gehirn von Literaturrezipienten befördern kann«, Huber: Lehre, Bildung und das Fiktionale (2017), S. 17. 228 Thali: andaht und betrachtung (2012), S. 227. 229 Vgl. Thali: andaht und betrachtung (2012), S. 234 - 237. 230 Vgl. Rau/ Scheel: Meditation und Gebet (2016), S. 281. 252 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="253"?> eine Vorlage für den Vollzug bereit, bietet andererseits in den erzählenden Passagen immer wieder Gelegenheit, die in der Lektüre angeregte Andacht zu beschreiben, zu reflektieren, zu vertiefen. Immer wieder werden Vollzugsmomente mit solchen der Diskursivierung verknüpft, um das zugrundeliegende implizite Wissen zu explizieren. Dass diese Strategien zur Vermittlung von Andachtspraktiken, die entweder in der Apostrophe selbst angelegt sind oder zu dieser hinzutreten, nun selbst wieder in einem breiten Spektrum von der Narration über den Appell bis hin zur Reflexion anzusiedeln sind, wird im Folgenden gezeigt. Deutlich greifbar werden Diskursivierungsstrategien in den Vorreden, die ihre Leser einstimmen und über die Zielsetzungen des Textes informieren wollen. Solche Passagen sind insofern präskriptiv, als sie Ziel und Zweck klar benennen und dem Leser eine bestimmte Rezeptionshaltung nahelegen. Sie fungieren dabei oft als Anleitung für den richtigen Umgang mit dem Andachtstext. Ein Beispiel dafür ist das Zeitglöcklein, dessen voller Titel, Das andechtig[en] zitglo ᵉ gglyn (Zeitglöcklein, fol. 1a), bereits die herausragende Bedeutung des Andachtsprogramms unterstreicht. Immer wieder tauchen in der Vorrede des Zeitglöckleins Formulierungen auf, die sich des Wortfelds andaht bedienen und dem Rezipienten nicht nur die Bereitschaft zur andächtigen Lektüre abverlangen. 231 Wie die richtig praktizierte Andacht auszusehen hat, definiert die Vorrede ex negativo: Doch weger wenig vnd mit ſē ffter vßfließ ū g in die wijte der andechtig ē betrachtunge, denn vil le ſ en vnd on andacht überlouffen, darnach wenig frucht volget (Zeitglöcklein, fol. 2a: »Aber [er möge lieber] wenig und mit sanftem Hineingleiten in die Tiefe der Betrachtung [lesen], denn viel zu lesen und es ohne Andacht zu überfliegen, bleibt ohne großen Nutzen«). Aus Perspektive des Zeitglöckleins ist volle Konzentration und innere Aufmerksamkeit nötig. Alle Sinne und Empfindungen müssen dazu auf die Andacht abgestimmt werden, es bedarf eines ā dechtig hertz[ens] (Zeitglöcklein, fol. 3b) und der andechtige[n] d ā ckbarkeit (Zeitglöcklein, fol. 3a). Eine Einschränkung gibt es dabei jedoch, denn Andacht ist trotz des Zutuns des Gläubigen letztlich Gnadengeschenk Gottes: Denn gott der herr gibt gnad vn ˉ andacht den ē die darumb bitt ē d mit demütigem hertz ē (Zeitglöcklein, fol. 4b: »Gott der Herr schenkt nämlich denen seine Gnade und Andacht, die mit demütigem Herzen darum bitten«). Das scheint auf den ersten Blick paradox: Die andächtige Betrachtung ist Grundlage für die erfolgreiche Zwiesprache mit Gott und Geschenk an den aufrichtigen Betenden, also Voraussetzung und Ziel der Lektüre zugleich. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich das jedoch als Scheinparadox: Ein echtes Bemühen um die erforderliche Andachtshaltung genügt, um das Gnadengeschenk einer ebensolchen Andacht zu erhalten - ein Bemühen, bei dem der Text dem Rezipienten unter die Arme greift, solange die richtige Andachtshaltung noch nicht vollständig habitualisiert ist. Ganz explizit beschreibt die Vorrede, mit welchen Handlungen, Gesten und Worten der Leser seine Andacht begleiten soll und gibt Empfehlungen für ein geeignetes Lesetempo, mit dem der Rezipient das Andachtspotenzial des Textes entfalten kann. Die zyklische Andachtsstruktur - der Leser versetzt sich mit Hilfe des Textes in eine günstige Ausgangssituation, bis ihm die von Gott geschenkte Andacht zuteil wird und das Spiel auf einer höheren Stufe von neuem beginnt - findet sich auch im Stufenmodell des 231 Der Text versteht sich als Hilfestellung für den andechtig m ēſ ch, der den Text zu ͦ ſ iner andacht bruchen vnd betracht ē mag (Zeitglöcklein, fol. 2a: »für den andächtigen Menschen«, der es »während seiner Andacht verwenden und betrachten mag«). 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 253 <?page no="254"?> Itinerarium, wo der durch die Lektüre gereifte Rezipient als andechtig lieb haber d erwirdigen iunckfrowen Marie (Itinerarium, fol. 5a: »des andächtigen Liebhabers der ehrwürdigen Jungfrau Maria«) beschrieben wird. Andacht, das bringt die Vorrede hier zum Ausdruck, ist Ziel des durch die Lektüre angeregten Bildungsprozesses. Dezidiert präskriptive Passagen finden sich innerhalb des Untersuchungskorpus nur in den Texten, die dem Erbauungsschrifttum zuzurechnen sind. Zwar sprechen auch die epischen Texte von andaht, beispielsweise erklärt Gundacker in Christi Hort, er habe das Nicodemus-Evangelium aus dem Lateinischen in die Volkssprache zum Zweck der Andacht (Christi Hort, vv. 1367 - 1380) übertragen. Diese Zielsetzung beinhaltet jedoch noch keine Anforderungen an die Rezeptionshaltung des Rezipienten und ist insofern nicht präskriptiv. In die Nähe des präskriptiven Gestus der Andachtsbücher rückt eine Passage aus dem Christophorusgebet, die Verse 104 bis 117, in denen über die Wirkmächtigkeit eines Gebets an Christophorus reflektiert wird und die schon unter dem Aspekt der Performativität untersucht wurden: Weles tages ein mo ᵉ nsch din bilde / eret und sich mit andacht darzu ᵉ keret / und es eret durch din willen, / den wilt du gestillen / den tag sin not und sin hertzleit (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 107 - 111: »Wann auch immer ein Mensch dein Bild ehrt und sich ihm mit Andacht zuwendet und ihm in Gedenken an dich Ehre erweist, dem willst du sogleich seine Not und seinen Kummer lindern«). 232 Wenn allerdings die Überlegungen zur Notwendigkeit in das Gebet verlagert und damit nicht in einer eindeutig an den Rezipienten adressierten Vorrede angestellt werden, wird die Andachtshaltung hier weniger präskribiert als diskursiviert. Begründet ist das in der ambigen Kommunikationssituation der narrativen Apostrophe, die hier nicht nur den heiligen Christophorus als primären Adressaten des Gebetssprechens anspricht, sondern sich implizit auch an den Rezipienten richtet. Während die Botschaft in der Adressierung an den Heiligen mehr appellativen Charakter besitzt und diesen mit der Beschwörung des erwünschten Verhaltens zu verpflichten sucht, erinnern die Verse an die persuasiven Strategien der Predigt, die ideales Verhalten weniger vorschreibt als vielmehr plausibilisiert. Der Inhalt ist gleichwohl sehr ähnlich: Andacht - und zwar unter der Voraussetzung, dass es sich um eine aufrichtige Andacht handelt, wie im durch dinen willen (v. 109) etwas verklausuliert gefordert wird - bildet die Grundlage, auf der der Heilige zum Fürsprecher werden kann. Am stärksten ausgeprägt sind, unabhängig vom Gattungskontext, deskriptive Vermittlungsstrategien, die sich nahtlos in die Narration eingliedern - hier zeigt sich deutlich die Funktion des Erzählens als »narrative Art der thematischen Entfaltung«. 233 Im Elisabethgebet etwa fungiert die Andacht der Heiligen als Leitmotiv - der Text narrativiert hier also ebendas, wozu er seine Rezipientin anleiten will. Indem detailliert erzählt wird, mit welcher Andacht Elisabeth betete, gewinnt die abstrakte Zielsetzung, die in der Vorrede mit der Textbeschreibung ein andechtig gebett (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 1) leise angedeutet wurde, an Anschaulichkeit. Mehrere Episoden durchziehen den Gebetstext, in denen Elisabeth ein Beispiel für die ideale Andacht gibt. Diese Veranschaulichung ermutigt die Rezipientin, selbst eine solche Andachtshaltung zu übernehmen. Damit ermöglicht die 232 Vgl. Kapitel 3.2.3.2. 233 Hübner: Erzähltes Handeln, kulturelles Handlungswissen und ethischer Diskurs (2017), S. 361. 254 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="255"?> narrative Apostrophe »narrativ-ethische Erfahrung«, 234 christliche Ideale und Handlungsweisen erfahren hier eine »narrativ-ethische Umsetzung«: 235 Handlungsdarstellung nämlich kann an konkretem Handeln vorführen, wie das Besondere der partikulären Situation mit Deutungs- und Regularitätenwisssen in einzelnen Fällen vermittelt wird. [ … ] Die Lehrhaftigkeit vormoderner Handlungsdarstellung bestand in der Diskursivierung eines Handlungswissens, das einerseits durch metaphysische Axiomatiken begründet war und das andererseits insbesondere in demjenigen Teil, der die Vermittelbarkeit zwischen partikulärer Handlungssituation, Deutungsmustern und Handlungsregularitäten betraf, als aus Geschichten bestehend gedacht war. 236 Neben der oben bereits erörterten Episode aus Elisabeths Kindheit, in der es um das andechteklich[e] Beten ging, wird die Andacht der Heiligen vor allem in den Wunderepisoden thematisiert. Das Kapitel Von irem andechtigen gebett beispielsweise schließt nahtlos an die Schilderung der fünfjährigen Elisabeth und ihrer Gebetspraxis an, wenn der Gebetstext feststellt, dass die Andacht der Heiligen gewissermaßen mitwächst: Als du gewachssen bist an dem libe bistu öch gewachsen an der andacht (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 10: »Du bist nicht nur an Körpergröße, sondern auch an Andacht gewachsen«). Was dann folgt, ist eine detaillierte Beschreibung für die Rezipientin, wie die ideale Andachtspraxis auszusehen hat: Öch in allen dinem leben einen gantzen flisz mit den aller süssesten trähen on alle verenderung diner angesicht und frölich von dinen ögen aller süsseklichest flussen. Dorumb du diner dienerin also pflegt ze sagen die do in dem gebett meinende ir anplit rümpffent und entschickent die werden geschetzet got ze erschrecken. Aber wir söllent frölich opferen daz so er verlicht. Du hast dich me won man gesagen möge über alle ding andechteklich gehalten in den messen in allen dinem leben. Und aller meist under der stillen messe und die vil das heilig opfer gehandlet wart. Also daz du usz grosser ererbietung uff die selb zit die gezirde von dinem höbt ab satztest. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 10 - 12) Auch flossen dein ganzes Leben lang [, wenn du gebetet hast], fröhlich die allersüßesten Tränen aus deinen Augen, ohne dass sich dein Angesicht dadurch veränderte. Deshalb pflegtest du auch deiner Dienerin zu sagen, die beim Sprechen des Gebets ihre Miene verziehen und entstellen, die dürften Gott erschrecken. Aber wir sollen fröhlich opfern im Gegenzug dafür, dass er so schenkt.« Du hast dich außerdem zeit deines Lebens, mehr als man es sagen kann, über alle Maßen andächtig in der Messe verhalten, und das am meisten während der stillen Messe während der Wandlung, nämlich in der Art und Weise, dass du aus großer Ehrerbietung deinen Kopfschmuck abnahmst. In die Erzählung verlagert - und dabei der Rezipientin in den Mund gelegt - wird hier erörtert, wie man sich während der Andacht zu verhalten hat. Ein wichtiger Bestandteil dieser narrativierten Idealvorstellung ist die emotionale Anteilnahme der Betenden, die sich ebenso in der äußerlich ablesbaren Gefühlsregung der Freudentränen als auch in der Demutsbekundung während der Andacht zeigt, darüber hinaus aber auch in den an die Dienerin gerichteten Worten zum Ausdruck gebracht wird. Die mehrschichtige Kommunikation, die mit dieser wörtlichen Rede eröffnet wird, erfüllt ebenfalls eine paränetisch-didaktische Funktion. Zwar adressiert die Rezipientin primär Elisabeth und flicht in die Anrede deren eigene Worte ein. Gleichzeitig durchbrechen die 234 Haug: Das Böse und die Moral (2001) bzw. Mieth: Moral und Erfahrung (1977). 235 Haug: Das Böse und die Moral (2001), S. 252. 236 Hübner: Erzähltes Handeln, kulturelles Handlungswissen und ethischer Diskurs (2017), S. 366 f. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 255 <?page no="256"?> Redezitate die textinterne Kommunikation auch in die andere Richtung: Hier scheint die Anrede nur vordergründig an die Dienerin gerichtet, vielmehr wendet sie sich an die Rezipientin, die auf diese Art und Weise belehrt wird. Die Redezitate des Gebetstexts lassen die Vorbildhaftigkeit der Heiligen für die Leserin deutlicher hervortreten, als es in einer abstrakten Erzählerbehauptung möglich wäre. Die vorbildhaften Worte der Heiligen stellen daneben auch Anweisungen und Leitlinien für ein gottgefälliges Verhalten zusammen, die das katechetische Anliegen des Gebetstexts, das in der Vorrede unter dem Stichwort der Tugendsuche anklingt, pointiert an die Rezipientin weitertragen. Sie besitzen - insbesondere dann, wenn man sie aus dem situativen Kontext der Erzählung herauslöst - , aphoristisch-lehrhaften Charakter und geben der Rezipientin praktische Anweisungen für eine gute Lebensweise an die Hand. Zuletzt reflektieren die Worte Elisabeths auch Christi Opfertod und verpflichten die Leserin zur Dankbarkeit. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter verwunderlich, dass die direkte Rede weitgehend auf Elisabeth beschränkt bleibt und die Heilige damit zur Glaubenslehrerin für die Rezipienten wird. Der Wechsel von thematischem und episodenhaftem Erzählen erweist sich als Versuch, die exemplarische Andacht der Heiligen von allen Seiten und unter Zuhilfenahme verschiedener Diskursmodi zu beleuchten. Kurz unterbrochen von einer Zwischenbitte, in der das Sprecher-Ich um die Fähigkeit zu einem intensiven Gebet bittet, wird die Narration vom andächtigen Handeln mit der Anekdote vom erhitzten Jüngling fortgeführt: Din gebet ist öch so inbrünstig gesin daz es andere menschen entzunte öch mit dem liplichen und bevintlichen verkunde. Als kunt ist an dem weltlichen iungling der do al du vir in bet also hitzig ward in sinem libe daz er bi noch gantz zu schweiss geschmoltzen und ab gangen waz und als er schrey Ö fröw ich verbrinne gantz hörent uff betten alles umb ständige volk zu im bewegte und also in dem geist erhitzgete daz er dor noch die welt verliss und daz kleid der geistlicheit an sich nahm. (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 13 f.) Dein Gebet ist auch so voller Inbrunst gewesen, dass es andere Menschen entzünden konnte auch durch eine körperliche und spürbare Verkündigung. Das konnte man an dem weltlichen Jüngling sehen, der damals, als du für ihn betetest, so in seinem Körper erhitzt wurde, dass er fast gänzlich in Schweiß zerfloss und beinahe daran zugrunde ging. Als er schrie: »Oh Herrin, ich verbrenne ganz und gar, hört auf zu beten! «, kam das umstehende Volk zu ihm und er wurde so sehr in seinem Geist entzündet, dass er sich darauf aus dem weltlichen Leben zurückzog und das Gewand des Klerus annahm. Die allgemeine Aussage, Elisabeths Beten habe auch andere Menschen beeinflusst, wird anhand eines Paradebeispiels belegt: Der junge Mann, für den Elisabeth betet, wird von dieser Fürbitte sowohl körperlich als auch geistig so stark affiziert, dass er ins Kloster eintritt. Die Episode narrativiert einerseits Elisabeths eigene Andacht, die nicht nur Gotteslob ist, sondern den Gottesdienst auf andere Personen ausdehnt. Andererseits ist sie Erzählung gewordene Belehrung, insofern sie die innere Beteiligung, die der Andachtspraxis sonst auf eher abstrakte Weise anempfohlen wird, durch die Narrativierung der Metapher veranschaulicht und der Rezipientin eine Vorstellung davon vermittelt, wie die › Entzündung ‹ des Herzens aussehen kann. Die Strategie, einen Protagonisten zum Sprachrohr der Katechese zu machen und die Doppelbödigkeit der literarischen Kommunikation zu nutzen, findet sich auch in Gundackers Christi Hort, allerdings nicht innerhalb des zweiten Teils, der sich der narrativen Apostrophe bedient. Im letzten Teil der Dichtung werden im Zusammenhang mit den 256 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="257"?> Ereignissen nach Passion, Kreuzigung und Auferstehung verschiedene Legenden synchronisiert. Auch die Geschichte von der Bestrafung des Pilatus, von Veronika und ihrem wundertätigen Schweißtuch und von der Heilung zweier römischer Kaiser durch dieses Christusbildnis ist hier Erzählgegenstand. Auf die Bitte des Boten Columban, der nach Jerusalem gekommen war, um Heilung für seinen Herrn Tiberius zu finden, begleitet Veronika den Römer mitsamt der Tuchreliquie nach Rom. Mehrmals erklärt sie in diesem Zusammenhang, mit welcher Geisteshaltung die Wirkmacht der Reliquie freigesetzt werden kann: Voraussetzung ist, dass der Bittende, der die Heilkraft des Archeipoireton erfahren will, gelaubhaft und getriu (Christi Hort, v. 4830) ist und dass er im Moment des Betrachtens den rechten gelauben (Christi Hort, v. 4832) an den Tag legt. Unmittelbar bevor Columban das Abbild Christi schließlich zu Gesicht bekommt, verwendet auch Veronika den Andachtsbegriff, wenn sie Columban auffordert: › nu tût nach meiner lere / unt seit nu mit andaht berait / recht durch iwer sælichait. ‹ (Christi Hort, vv. 4844 - 4846: »Nun handelt nach meiner Lehre und seid gerüstet mit Andacht, um eurer Seligkeit willen«). Veronika wiederholt als »Interpretin des Schweißtuchs« 237 mehrmals das Andachtsprogramm, das ihr eigenes Handeln selbst schon expliziert. Wenn Columban schließlich gegenüber seinem Herrn Tiberius die Handlungsanweisungen Veronikas mit ähnlichem Vokabular wiederholt, 238 hat er die Lehre Veronikas übernommen und kann sie seinerseits erneut formulieren und so an den sekundär angesprochenen Rezipienten weitertragen. Religiöses Wissen und vor allem religionspraktisches Wissen bedarf insofern einer besonderen Form der Vermittlung, als es in voller Form nur durch Erfahrung erlangt werden kann. Fremde Erfahrung kann über die Texterfahrung zur eigenen Erfahrung werden, 239 wie es beim Lernen über die richtige Andacht der Fall ist. Die Texte stellen nicht nur verschiedene Beispiele vor, anhand derer sich das Andachtsprogramm nachvollziehen lässt, sondern bieten zugleich auch Gelegenheit, das › Erfahrene ‹ anzuwenden. Die religiöse Du-Erzählung wird so zum Ort, an dem neues Glaubenswissen erlernt, hinterfragt, erklärt und angewendet wird. Dabei überlagern sich in der narrativen Apostrophe häufig verschiedene Arten der Vermittlung des Wissensinhalts › Andacht ‹ . Die in die Anredesituation verlagerte Erzählung vom idealen (Andachts-)Handeln der Protagonisten ist Gegenstand der Andacht und Anleitung zur Andacht zugleich, also gleichermaßen Ziel und Weg zum Ziel. Zudem bewirkt die offene Kommunikationssituation der narrativen Apostrophe eine Überlagerung der verschiedenen Kommunikationsebenen und führt so zu Interferenzen zwischen den verschiedenen potenziellen Ansprechpartnern des Textes. Dabei ziehen die Texte abwechselnd präskriptive, deskriptive oder diskursive Register, wobei auch präskriptivdeskriptiv oder präskriptiv-diskursive Ausprägungen möglich sind. Die Folge ist eine intensivierte Erfahrung des vorgestellten Andachtsprogramms, die zu einem mehrschichtigen Erleben und einer nachhaltigen Belehrung beiträgt. Intensiver, als es eine Gebets- 237 Spohn: (K)ein wirkmächtiges Ding? (2018), S. 115. 238 In der längeren Rede Columbans an Tiberius heißt es: › herre, welt ir gelaubthaft sein, / so mugt ir noch wol genesen. Ir sult mit rechter andaht wesen: / ich han iu pracht ain fru ᵛ wen, / die mugt ir gern scha ᵛ wen, / diu hat ein antlutz mit ir praht; / seht ir daz an mit andacht, / so chomt ir von aller iwer not.[ ‹ ] (Christi Hort, vv. 4978 - 4985: »Herr, wenn ihr gläubig sein wollt, so könnt ihr noch ganz gesund werden. Ihr sollt aufrichtige Andacht zeigen: Ich habe eine Frau zu euch gebracht, die ihr gerne betrachten könnt; sie hat ein Antlitz mitgebracht; wenn ihr das mit Andacht anseht, könnt ihr noch Heilung finden«). 239 Siehe dazu auch Bohl: Geistlicher Raum (2000), S. 239. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 257 <?page no="258"?> anweisung oder die konventionelle Erzählung eines exemplum vermöchte, legt die narrative Apostrophe die Basis für eine ganzheitliche Form der Heilsvermittlung. 4.2.3 Exkurs: Laienbildung en passant - Von Gottes zukunft und Christi Hort als › Wissensliteratur ‹ Nicht nur in Bezug auf die Vermittlung von lebens- und vor allem glaubenspraktischem Wissen fungieren religiöse Texte als › Wissensliteratur ‹ . 240 Während sich die narrative Apostrophe als didaktische Strategie im Dienste der Katechese erweist, die Bibel- und Glaubenswissen zu einer moralisch-religiösen Erziehung des Lesers instrumentalisiert, ist die wissensvermittelnde Funktion der religiösen Texte des Korpus damit noch lange nicht erschöpft. › Handfeste ‹ Wissensinhalte, wie Bibelwissen (oder Wissen über andere quasiautoritative religiöse Texte) sowie basale Lateinkenntnisse, Naturkunde- oder Weltwissen werden in den hier untersuchten Texten speziell für den lateinunkundigen Rezipienten aufbereitet. 241 Auch wenn die narrative Apostrophe bei der Vermittlung von kognitiven Wissensinhalten eine vergleichsweise marginale Rolle spielt und durch die Emotionalisierung des Lesers lediglich die Aufnahme ebendieser Wissensinhalte unterstützt, können vor allem die epischen Texte Christi Hort und Von Gottes zukunft, die sich partiell der narrativen Apostrophe bedienen, als Wissensliteratur im Sinne eines fakten- und weniger erfahrungsbasierten Wissens gelten. Diese Art der Wissensvermittlung bewegt sich im Spannungsfeld von Volkssprache und Latein sowie von klerikaler und laikaler Kultur. 242 Im Rahmen dieses › übersetzenden Bearbeitens ‹ schlagen die Texte eine Brücke zu einem Wissensraum, der für weite Teile der Bevölkerung aufgrund der Sprachbarriere des Lateinischen lange Zeit verschlossen war. Was mit derartigem Wiedererzählen an Wissen verfügbar gemacht wird, stellt einerseits als Bibelwissen die Voraussetzung für eine ganzheitliche Aneignung des Heilswissens dar und bildet das Fundament für weitere Strategien, die über die reine Wissensvermittlung hinausgehen. 243 Andererseits zielt die popularisierende Aufbereitung auch auf die Ver- 240 Der Begriff › Wissensliteratur ‹ lässt sich, wie das Forschungsprogramm des SFB 226 »Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter« darlegt, verschiedentlich konturieren: unter thematisch-inhaltlichen Gesichtspunkten, nach wesentlichen Vermittlungsinstanzen und sozialen Gruppen, innerhalb derer Wissen tradiert wird, oder nach den jeweiligen Vermittlungsformen, vgl. Wolf: Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 226 (1987), S. 12. 241 Die Herausgeberinnen des Sammelbands »Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters« betonen in diesem Zusammenhang das »Spannungsfeld zwischen dem Erwerb kognitiven Wissens zum besseren Verständnis der Schöpfung einerseits und dem Vorwurf der curiositas andererseits«, Lähnemann/ McLelland/ Miedema: Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters (2017), S. 10. 242 Siehe grundlegend dazu Palmer: Zum Nebeneinander von Volkssprache und Latein in spätmittelalterlichen Texten (1984). 243 Dass » › Bildung ‹ oder zumindest die Fähigkeit des Lesens heilsnotwendig sein könnte«, Laienbildung als »Voraussetzung für rechtes Bibelverständnis« vitale Notwendigkeit ist, betont Georg Steer, der zum Beleg die Mariendichtung des Priesters Wernher anführt, wo es im Prolog heißt: daz ez alle mugen lesen / die gotes chint wellen we ſ en, / unt ouch mugen ſ chouwen / phaffen leien vrouwen (Driu liet von der maget, vv. 139 - 142: »dass es alle lesen und betrachten wollen, die Kinder Gottes sein wollen, Pfaffen, Laien und Frauen«). Der Text wird hier zitiert nach der Edition von Carl Wesle: Priester Wernher: Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen. Zweite Auflage besorgt durch Hans Fromm. Tübingen: De Gruyter 1969. 258 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="259"?> mittlung eines wissenschaftlichen und sprachlichen Wissens, das ein besseres Verständnis auch der diesseitigen Welt ermöglichen soll. Welche Wissensinhalte werden vermittelt, wie funktionieren diese Vermittlungsformen und an welchen Punkten ergeben sich Überschneidungen mit bzw. Ähnlichkeiten zu den Wirkungsabsichten der narrativen Apostrophe? Sowohl Heinrich von Neustadt als auch Gundacker von Judenburg wenden sich dezidiert an ein volkssprachiges, vermutlich auch laikales Publikum. In den bereits diskutierten Prologpassagen (Von Gottes zukunft, vv. 1 - 88 bzw. Christi Hort, vv. 171 - 250 bzw. 1305 - 1326/ 1367 - 1380) charakterisieren beide Dichter ihre Werke als Übersetzung aus dem Lateinischen, Heinrich betont seine Absicht, den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis 244 für wip oder man (Von Gottes zukunft, v. 51) auf Deutsch verfügbar zu machen - und das sogar noch bevor er Inhalt und Quelle seiner Dichtung benennt. In Einklang mit dem Dichtungsverständnis des Mittelalters bezeichnen beide Autoren ihre Tätigkeit als dihten (Von Gottes zukunft, v. 39) bzw. tihten (Christi Hort, v. 1305) und weisen ihrem Werk damit die ästhetische Qualität eines artificiums zu. Dass beide für diesen Übersetzungsprozess die göttliche auctoritas als Ermächtigungsinstanz beschwören, schmälert diesen Anspruch nicht, sondern zeugt vom Selbstverständnis der Dichter, als göttlich autorisierte poetae interpretes, als dichtende Übersetzer bzw. übersetzende Dichter ihren Rezipienten nützliche Wissensbereiche zu erschließen. 245 Texte wie diese entstehen im Rahmen eines soziokulturellen Umschichtungsprozesses: Seit dem ausgehenden Hochmittelalter beginnt die Emanzipation der Laien von Klerus und Adel, im Zuge der zunehmenden Politisierung wird auch der Wunsch nach verbesserten Zugängen zu Bildung, insbesondere zu religiöser Bildung, laut. Die Folge ist, dass der Laienstand verstärkt Rezipienten als auch Produzenten von Literatur stellt, die diese Bedürfnisse befriedigen. Waren Laien bislang weitgehend vom Klerus als »Träger der lateinisch überlieferten Kultur und Bildung« 246 abhängig und auf dessen Unterstützung beim Heilserwerb angewiesen, so bemühen sie sich im späten Mittelalter verstärkt darum, das eigene Seelenheil selbst in die Hand zu nehmen und zu »selbstverantwortlichen Subjekt [en] ihrer Frömmigkeit« 247 zu werden. Die Vermittlung geistlicher Lehren löst sich damit mehr und mehr vom gesprochenen Wort in Form von Predigt und Katechese und erfolgt im Spätmittelalter verstärkt über eine speziell für den laikalen Leser gestaltete Literatur. 248 Der »Wandel der geistigen Bedürfnisse« 249 laikaler Rezipienten lässt sich an der Ausbildung neuer Literaturformen, wie sie Von Gottes zukunft und Christi Hort darstellen, 244 In Vers 56 heißt es: sie ist der hohsten ku ͦ nst ein stift (»Sie [= diese Schrift] ist ein Fundament der höchsten Kunst«). 245 Wie Werner Williams-Krapp am Beispiel der Hagiographie ausführt, »bewegte sich die Bandbreite der Übersetzungsstile von beinahe › interlinearer ‹ Übertragung zur (relativ) › freien ‹ Wiedergabe, frei vor allem, insofern weitgehend auf die rhetorischen und gelehrten Elemente der Vorlage verzichtet wurde«, Williams-Krapp: Laienbildung und volkssprachliche Hagiographie im späten Mittelalter (1984), S. 699. 246 Schreiner: Laienfrömmigkeit (1992), S. 15. 247 Schreiner: Laienfrömmigkeit (1992), S. 50. 248 Schmidt: Zur deutschen Erbauungsliteratur des späten Mittelalters (1969), S. 201. Diese Entwicklung kulminiert schließlich in der Reformation, so steht Bildung bei Luther beispielsweise im Dienst des »Verstehen[s] und der Interpretation der Heiligen Schrift, Friedrich: Heilsvergegenwärtigung durch Bildung (2012), S. 275. 249 De Boor: Geschichte der deutschen Literatur (1997), S. 413. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 259 <?page no="260"?> deutlich ablesen. Nicht nur die Absicht, lateinische Bildungsinhalte in die Volkssprache zu übertragen, sondern auch die Auswahl der Themen und die Art ihrer Aufbereitung zeugen von der Rücksichtnahme auf das jeweilige Publikum. 250 Eingedenk ihrer Adressaten wählen sowohl Heinrich als auch Gundacker einen überwiegend narrativen Zugriff auf die materia, theologische Reflexionen oder exegetische Überlegungen sind ausgeblendet und werden allenfalls in die Narration eingebettet. Die Popularisierung von lateinischem Heilswissen zeigt sich auf einer ersten Ebene darin, dass es narrativ inszeniert und so für ein laikales Publikum aufbereitet wird. Im dritten Buch von Von Gottes zukunft erzählt Heinrich nicht nur vom Jüngsten Gericht, sondern auch davon, was den gerechten Menschen im Himmel erwartet. Schritt für Schritt begleitet der Erzähler den Aufstieg des Gerechten in den Himmel und den Empfang durch Gott, bevor er schließlich ausführlich auf die Bewohner des Himmels zu sprechen kommt. Zu diesen zählt auch Maria, die sich den Neuankömmlingen zu erkennen gibt und die Heilsgeschichte noch einmal in aller Kürze Revue passieren lässt. 251 Neben dieser Wiederholung von heilsrelevanten Wissensinhalten nutzt Heinrich auch die Gelegenheit, theologisches Wissen über die Engel einzustreuen. Im Anschluss an die Evokation der Himmelsfreuden und die Belohnung, die alle › Gerechten ‹ im Himmel erwartet, beschreibt Heinrich auch die neun Chöre der Engel. Auf der neunten und damit dem Menschen am nächsten stehenden Stufe siedelt er die › Engel ‹ an: Die nehsten bi den lu ᵉ ten Die sint Engel genant. Ir herschaft ist also gewant Daz sie den menschen zu aller zit An Gotes dinst an wider strit Erwecken und entzu ᵉ nden Und schirment sie vor sunden. (Von Gottes zukunft, vv. 8049 - 8055) Die, die am nächsten bei den Menschen sind, werden Engel genannt. Ihre Herrschaft verhält sich so, dass sie den Menschen immer zum Dienst an Gott aufrufen, ihn dazu entflammen und ihn zugleich vor Sünde beschützen. Indem er die Funktion der Engel in die Gesamtnarration einbettet, erklärt Heinrich seinem Rezipienten nicht nur, wie er sich den Himmel vorzustellen hat, sondern zeigt ihm zugleich auch auf, in wessen Verantwortungsbereich die Sorge um die Menschheit fällt. In die Narration sind häufig auch exegetische Kommentare eingebettet, die das narrative Geschehen deuten und für den Rezipienten besser verständlich machen. Eine solche »Verknüpfung der narratio mit lehrhaft-erbaulichen Erweiterungen« 252 findet sich bei- 250 Vgl. Harmening: Katechismusliteratur. Grundlagen religiöser Laienbildung im Spätmittelalter (1987), S. 91 - 99 bzw. Klein: Mittelalter (2015), S. 27. 251 Die Strategie, wichtiges Wissen mehrmals in der Erzählung zu wiederholen, zeugt vom lehrhaften Charakter der Dichtung. Ähnliches findet sich auch in Christi Hort, wo im Rahmen der Veronikalegende die Heilige in einem Monolog einen Kurzabriss über die Heilsgeschichte von Sündenfall bis Erlösungstod bietet und dem Rezipienten so die Gelegenheit gibt, das erlernte oder aufgefrischte Wissen nochmals zu wiederholen, vgl. Spohn: (K)ein wirkmächtiges Ding? (2018), S. 109 f. 252 Klein: Mittelalter (2015), S. 264. 260 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="261"?> spielsweise in Christi Hort, wenn - in Form der narrativen Apostrophe - die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland erzählt wird: Ditz opfer si prachten dir hie: Golt, wîroh und mirren (des mochte siu n ı ᵉ men verirren): Daz golt als dem chunik grôz, der willich eren genôz; daz wîroh als dem waren Got (sie waren gehorsam d ı ᵉ nem gebot); die mirren ze eren d ı ᵉ nem begraben. (Christi Hort, vv. 412 - 419) Diese Opfergaben überbrachten sie [= die Weisen aus dem Morgenland] dir hier: Gold, Weihrauch und Myrrhe (davon konnte sie niemand abbringen): Das Gold boten sie dir als dem großen König, der die ihm zustehende Ehrerbietung bereitwillig genießen sollte, den Weihrauch für den wahren Gott (sie folgten deinem Gebot) und die Myrrhe schenkten sie dir zu Ehren deines Begräbnisses. Jedes der drei Geschenke, so erfährt der Rezipient, ist nicht nur ein an und für sich kostbares Präsent, sondern steht sinnbildlich für einen bestimmten Aspekt Jesu. Die Gaben der drei Weisen symbolisieren Christi Königtum und seine Gottesnatur, sie präfigurieren zugleich den Erlösungstod und bieten dem Rezipienten einen Einblick in die biblische Exegese, die hinter dem Literalsinn immer auch einen Spiritualsinn erkennt. Diese Exegese der Gaben wird noch weiter vertieft, wenn der Rezipient dazu aufgefordert wird, selbst Christus Gaben darzubringen: Anstelle von Gold möge er seine aufrichtige Gottesliebe als Geschenk an Christus darbringen, dem Weihrauch entspricht die innere Andacht, die Myrrhe wird gleichgesetzt mit der Buße des reuigen Gläubigen. Nicht nur religiöses Wissen, auch Wissensbestände aus dem Bereich der Wissenschaft und der Bildung werden in den Texten durch eine Einbettung in die Erzählung popularisiert. Von Gottes zukunft bietet im ersten Teil eine allegorische Erzählung von Heilsratschluss und Menschwerdung Gottes. Als Protagonisten agieren hier nicht nur Natura als kosmologische Größe und die personifizierten Tugenden, auch Personifikationen der Septem Artes Liberales treten als Figuren der Erzählung auf und ermöglichen dem laikalen Rezipienten einen Einblick in die hermetische Wissenschaftskultur des Mittelalters. Die Grammatik, die als erste Kunst des Triviums das Fundament der klassisch-mittelalterlichen Bildung bildet, wird folgendermaßen beschrieben: Sie ist Gramatica genant, Den gelerten lu ᵉ ten wol erkant. Sie ist der kunste urhab: Sie lert den ersten bu ͦ chstab Und dar nach latin sprechen wol. Ir bru ᵉ stelin waren milche vol Wider der ju ͦ ngfrauwen site: Do ist uns doch betutet mite Daz sie die kleinen kindelin, Die bi der milche sollten sin, Mit koste spiset sie so ju ͦ nge Und machet snelle ir zu ͦ nge. (Von Gottes zukunft, vv. 799 - 810) 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 261 <?page no="262"?> Sie heißt Grammatik und ist den gelehrten Leuten gut bekannt. Sie ist der Ursprung der Künste: Sie lehrt die ersten Buchstaben und danach, gut Latein zu sprechen. Ihre Brüste waren voller Milch, ganz entgegen der Jungfrauen Art: Damit ist für uns jedoch klar, dass sie die kleinen Kinder, die bei der Milch sein sollten, mit Kost speist, wenn sie noch so jung sind, und sie in der Sprachfähigkeit formt. Die Personifikation benennt hier die Grammatik als grundlegendes Basiswissen und stellt den entsprechenden › Lehrplan ‹ mit dem Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit, im Mittelalter überwiegend anhand des Lateinischen vermittelt, kurz vor. Explizit benennt der Text die Grammatik als der kunste urhab, also als Fundament für die weiteren Künste des Triviums und des Quadriviums sowie auch der anderen Wissenschaften. Einen besseren Eindruck von der fundamentalen Bedeutung, die der Grammatik im Schulcurriculum des Mittelalters zukommt, vermittelt jedoch die Beschreibung der personifizierten Gramatica, deren milchschwere Brüste ebenfalls ausgedeutet werden. Was für Kinder die Muttermilch ist, ist die Grammatik für Schüler am Beginn ihrer Bildungskarriere: geistige Nahrung, die für die weitere geistige Entwicklung rüstet. Die enge Verbindung des Lateinischen als Bildungssprache mit den Inhalten dieser Bildungskultur führt in beiden Epen zu Interferenzphänomenen, die sich aus dem »Wechsel der Sprachbereiche« ergeben, 253 die amalgamiert werden. Häufig finden sich in beiden Dichtungen Passagen, in denen Zitate aus dem lateinischen Prätext übernommen und anschließend übertragen oder kommentiert werden. Das betrifft besonders häufig Worte aus dem Mund Jesu oder anderer zentraler Figuren. In der Erzählung von Passion und Kreuzigung sowohl in Von Gottes zukunft als auch in Christi Hort sind mehrere der sieben Kreuzesworte in lateinisch-deutscher Doppelung wiedergegeben: 254 Er sprach: › consummatum est. ‹ Swen man daz an dem passen lest Daz sprichet; daz ist geendet. (Christi Hort, vv. 2055 - 2057) Er sagte: »Consummatum est.« Wenn man das in der Passion liest, so bedeutet das: »Es ist vollendet.« Die schrift waz gar erfu ᵉ llet her. › Consummatum est ‹ sprach er. › Ez ist alles vollebraht, Waz von mir ie wart gedaht. ‹ (Von Gottes zukunft, vv. 2939 - 2941) Die Schrift war damit erfüllt. »Consummatum est«, sagte er. »Es ist alles vollbracht, was je von mir gedacht wurde.« In beiden Passionserzählungen wird das vorletzte der sieben letzten Worte Jesu, das in Jh 19,30 überliefert ist, im lateinischen › Original ‹ und in wörtlicher (Christi Hort) bzw. sinngemäßer Übersetzung (Von Gottes zukunft) ins Deutsche geboten. 255 Oft werden 253 Grubmüller: Latein und Deutsch im 15. Jahrhundert (1986), S. 41. 254 Vgl. Grubmüller: Latein und Deutsch im 15. Jahrhundert (1986), S. 42. 255 Auch das vierte Kreuzeswort, überliefert in Mk 15,34 und Mt 27,46, ist in beide Dichtungen nach der griechischen Transkription des Aramäischen eingebettet: Er rûft also: › hely, heli, / lamazabactani. ‹ / Daz pediutet sich sunder spot, / iz spricht also: › mein Got, mein Got, / war umbe hast du verlazen mich? ‹ (Christi Hort, vv. 2033 - 2039: »Er ruft folgendermaßen: › Hely, heli, lamazabactani. ‹ Das bedeutet, ganz ohne Spott: › Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? ‹ «). 262 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="263"?> derartige Übersetzungen mit einer ankündigenden Formel eingeleitet, wie beispielsweise daz spricht (Von Gottes zukunft, v. 378), daz betu ᵉ tet sich also (Von Gottes zukunft, v. 1719) oder daz ist in dutsche (Von Gottes zukunft, v. 3359). Diese zweisprachig präsentierten Bibelzitate sind häufig tief in der Liturgie oder der Gebetspraxis verwurzelt. In Heinrichs Erzählung von der Vertreibung Adams aus dem Paradies wird beispielsweise eine Formel eingeflochten, die sowohl in der Messliturgie als auch in der des Stundengebets immer wieder begegnet: Er kerte sich umb und sprach, Do er Got nach im gen sach, Do im det daz hertze leit so we: › Domine, miserere! ‹ Daz spricht › herre, erbarme dich Gnedeclichen uber mich! ‹ (Von Gottes zukunft, vv. 374 - 378) Er wandte sich um, und sagte, als er sah, wie Gott über ihn nachsann, weil ihm das Leid so weh tat: »Domine, miserere! « Das heißt [auf Deutsch]: »Herr, erbarme dich gnädig meiner! « Indem das lateinische Zitat in die Erzählung integriert und anschließend noch einmal explizit übersetzt wird, übernimmt der Text gleichsam die Funktion eines basalen Lateinunterrichts. Die damit angestrebte Wissensvermittlung besitzt jedoch auch hier eine über die Kognition hinausgehende Dimension, die, wie die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe, auf die affektive Aneignung der Glaubensinhalte zielt. Der Rezipient kennt die omnipräsenten lateinischen Formeln zwar aus dem Gottesdienst, ob er sie tatsächlich auch unmittelbar versteht, ist jedoch nicht zwangsläufig gegeben. Indem die Texte sie in ihren biblischen Kontext einbetten und mit Sinn füllen, erleichtern sie eine aktive Partizipation an den christlichen Ritualen. Auch Psalterpassagen, die ebenfalls zu den »liturgisch[-]verbindlichen lateinischen Texten« 256 zählen, erfahren oft eine narrative Einbettung mitsamt zugehöriger Übersetzung, zum Beispiel der Ausschnitt aus Psalm 111,4 exortum est in tenebris lumen rectis, der auf eine Prophezeiung Davids zurückgeht und von Heinrich übersetzt wird (inder vinster ist uf gegan / ein l ı ᵉ cht den rechten sunder wan, Von Gottes zukunft, vv. 3657 f.: »In der Finsternis ist den Gerechten mit Sicherheit ein Licht aufgegangen«), aber auch allgegenwärtige Kurzformeln wie der englische Gruß werden erklärt: er gie zu ir unt sprach: / › ave gracia plena, / wis gegruzet. ‹ sprichet daz da (Christi Hort, vv. 280 - 282: »Er ging zu ihr und sprach: › Ave Maria Plena. ‹ - das heißt › Sei gegrüßet. ‹ «) Doppelt aufgeführt sind auch Begriffe aus der lateinischen Sphäre, die weniger auf Sinnstiftung und emotionale Partizipation am Ritus zielen als vielmehr in engem Sinne bilden wollen. Gundacker beispielsweise betreibt in Christi Hort Namensetymologie, wenn er in seiner Schilderung des Engelsturzes dem Rezipienten den Namen Lucifer erklärt: Den nant er do Lucifer, / daz sprichet tiusche › ain liechttrager ‹ . (Christi Hort, vv. 17 f.: »Diesen nannte er [= Gott] Luzifer, was auf Deutsch › Lichtträger ‹ heißt.«) Auch Heinrich widmet sich der Erklärung lateinischer Termini, indem er den Namen Endecrist, Antichrist, in seine Bestandteile zerlegt und mit › wider got ‹ (Von Gottes zukunft, v. 5142) übersetzt. Auch Begriffe aus der mittelalterlichen Philologie werden von Heinrich ins Deutsche übertragen, so übersetzt er die Gattungsbezeichnung › annales ‹ folgendermaßen: daz spricht zu tutsche alsus / › In der jar bu ͦ chen ‹ (Von Gottes zukunft, vv. 6027 f.: »das heißt auf Deutsch › in den 256 Grubmüller: Latein und Deutsch im 15. Jahrhunder (1986), S. 42. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 263 <?page no="264"?> Jahrbüchern ‹ «). In solchen Doppelungen zeigt sich das Bemühen, die lateinische Bildungswelt auch in der Volkssprache zu erschließen. 257 Volkssprachliche Bearbeitungen biblischer Themen, die in einem lateinischen Kontext wurzeln und daher für laikale Bevölkerungsschichten vor allem sekundär über Bildungsformen wie Predigt und Katechese, nicht jedoch durch eigene Lektüre zugänglich waren, lassen sich als katechetisch-edukative Literatur verstehen, deren Hauptaufgabe darin bestand, Glaubens- und Bibelwissen zu vermitteln. Dieses zu vermittelnde Wissen wird auf gattungsspezifische Weise aufbereitet, im Falle der religiösen Epik also narrativ inszeniert, und gründet auf der seit der Antike dominierenden Vorstellung einer gleichzeitig unterhaltenden und belehrenden Literatur, wie sie im Prolog von Von Gottes zukunft in der Formel des bonum delectabile (Von Gottes zukunft, v. 72) deutlich anklingt. 258 Was den Texten damit gelingt, ist eine Art der Wissensvermittlung, die parallel zur Lektüre verläuft: In die Erzählung verlagert und narrativ aufbereitet werden dem Rezipienten in »adäquate, adressatengebundene Spracheformen« 259 gebrachte Wissensinhalte, vom Bibelwissen über Glaubenspraktiken bis hin zu basalen Lateinkenntnissen, mitgegeben - eine Form der Laienbildung, die im Gegensatz zu den komplexeren Gattungen wie Traktate oder Enzyklopädien eine fast schon moderne pädagogische Strategie anwendet: spielerischunterhaltsames Lernen. Heinrich von Neustadt und Gundacker von Judenburg erweisen sich als Autoren einer laikalen Wissensliteratur, die dem Publikum ihre Inhalte nicht mit dem Holzhammer einzubläuen sucht, sondern den Leser fast unmerklich, gewissermaßen en passant, mit ihren Emotionalisierungs- und Immersionsstrategien jedoch umso nachhaltiger, an das vitale Heilswissen heranführen will. Sie überführen den Wissensinhalt Bibel in die Sprache der Laien und passen ihn mit dem Einsatz von affizierenden Strategien dem veränderten Verständnisrahmen und der Gefühlswelt ihrer Leser an. Das übersetzende Bearbeiten ursprünglich lateinischer Werke macht dabei einen heilsrelevanten Wissensraum für ein breiteres Publikum zugänglich, innerhalb dessen weitere Strategien der Textaneignung greifen können. Damit greifen volkssprachliche Autoren wie Heinrich und Gundacker durchaus Strategien auf, die auch in der lateinischen Tradition breite Anwendung fanden: Die narrative Apostrophe ist keine › Erfindung ‹ der spätmittelalterlichen volkssprachlichen 257 Dass die Koexistenz von Latein und Deutsch auch ein literaturschaffendes Potenzial besitzt, zeigt sich dann am eindrücklichsten, wenn beide Sprachwelten nebeneinander treten und die »Sprachmischung« eine »ästhetische-programmatische Intention« erfüllt, Klein: Mittelalter (2006), S. 31. Bei der Erzählung von Mariä Empfängnis in Von Gottes zukunft vermengt Heinrich von Neustadt beispielsweise beide Sprachen miteinander, wenn es heißt: Von Gotes crefte flammen, / Niht von mannes stu ᵉ re / Wirt swanger die gehu ᵉ re / Contra carnis iura. (Von Gottes zukunft, vv. 1334 - 1337: »Von den Flammen göttlicher Kraft, nicht durch das Werk eines Mannes wurde die Liebreizende schwanger contra carnis iura [= entgegen den Gesetzen der Natur]«). Ohne die lateinische Formel ins Deutsche zu übertragen gebraucht der Dichter beide Sprachen gleichberechtigt in einer Weise, die an das lateinische-deutsche Mischgedicht In dulci jubilo erinnert. Meist gelingt auch die Integration der lateinischen Worte in den Endreim des Deutschen, beispielsweise wenn Heinrich eclipsis auf gewis (Von Gottes zukunft, vv. 2031 f.) oder schone auf processione (Von Gottes zukunft, vv. 3255 f.) reimt. Solche Amalgamierungen, die sich nicht nur auf Ebene des Einzeltextes finden lassen, sondern auch in Form von lateinisch-deutschen Mischhandschriften auftreten, legen Zeugnis davon ab, dass die Volkssprache dem Lateinischen nun nahezu gleichwertig gegenübersteht und auch für religiöse Inhalte gebraucht werden kann. 258 Zur Wirkungsästhetik von Von Gottes zukunft siehe Kapitel 2.3.1.1. 259 Wolf: Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 226 (1987), S. 10. 264 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="265"?> Literatur, sondern vielmehr eine Neuakzentuierung des Affekts und der compassio, die als übergreifendes Ziel angestrebt wird. Wenn Heinrich dann in seiner Erklärung der fünf Sinne das Auditum, daz Ho ᵉ ren (Von Gottes zukunft, v. 1091) als denjenigen Sinn bezeichnet, der den glauben git (Von Gottes zukunft, v. 1093) dann wirkt das wie eine letzte Reminiszenz an eine Tradition der klerikalen Vermittlung, die nun durch eine vom Klerus unabhängige literarische Kultur der Laien ergänzt wird. Als übersetzende Dichter oder dichtende Übersetzer, und als Autoren einer innovativen, speziell auf ein laikales Publikum abzielenden Wissensliteratur haben Heinrich wie auch Gundacker ihren Rezipienten einen direkten Bildungsweg aufgezeigt, der den Primat des Hörsinns zugunsten einer selbstständigen Laienlektüre aufweicht. 4.2.4 Zwischenfazit Aufgrund ihres den Leser unmittelbar affizierenden Charakters eignet sich die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe besonders, um dem Rezipienten eine ideale christliche Lebensführung nahezulegen. Damit reiht sich die narrative Apostrophe in ein Repertoire an Erzähl- und Darstellungsstrategien ein, die sich einer sinnlich-experientiellen Erfahrung verschreiben. 260 Im Fokus steht die Versinnlichung von Glaubensinhalten, die sich normalerweise dem rationalen Zugriff entziehen. Eine bloße Präsentation dieser als Heilsweg präsentierten Idealvorstellungen würde möglicherweise ein Abstraktum bleiben, das der Rezipient nicht unmittelbar auf das eigene Leben beziehen kann; in sinnliche Erfahrung transformiert werden diese Werte für den Rezipienten greifbar. Als theoretisches Fundament dafür dient der Hoheliedkommentar des Origenes, der die besondere Qualität der ästhetischen Erfahrung beschreibt. Den Begriffen der Septuaginta und Vulgata, γνῶσις und scientia, die ein kognitives Erkennen verklausulieren, stellt er die αἴσθησις , den Erkenntnisbegriff von Spruch 2,5 (»dann wirst du verstehen die Furcht des Herrn und die Erkenntnis Gottes gewinnen«) gegenüber. Damit verschiebt er den Fokus von der explicatio, der Erklärung und der rationalen Durchdringung der Schrift und ihrer Glaubensinhalte hin zur applicatio, die der Leser im Rezeptionsprozess aktiv betreiben muss, um die Wissensinhalte »erfahrungshaft [zu] realisieren«. 261 Mit Hilfe von rhetorischen Effekten möchte der Text seinem Rezipienten also eigene › Erfahrungen ‹ ermöglichen, die »den Mangel rationalen Verstehens zu kompensieren vermögen«. 262 Charakteristisch für eine derartige Rhetorik ist die Verbindung von Elementen aus »scheinbar heterogenen diskursiven Bereichen«. 263 Didaktische Funktion entfaltet die Rhetorik der narrativen Apostrophe in der Verschmelzung von präsenzstiftenden, affizierenden und immersiven Elementen mit exemplarischen. Denn aufgrund ihrer Narrativität steht die Erzählhaltung in enger Verbindung zu legendarischen und hagiographischen Gattungen; als exemplarische Texte arbeiten sie die »Modellfunktion des Heiligen« 264 260 Niklaus Largier bezeichnet das als »ästhetische[ … ] Erfahrung«, Largier: Die Applikation der Sinne (2007), S. 52. 261 Largier: Die Applikation der Sinne (2007), S. 50. An anderer Stelle spricht Largier von einem »Übergang vom Literalsinn zum Spiritualsinn«, ebd., S. 51. 262 Largier: Die Applikation der Sinne (2007), S. 52. 263 Largier: Die Applikation der Sinne (2007), S. 53. Als Beispiel führt er die für die Mystik so typische Verflechtung von Elementen aus der höfischen Minnelyrik und der Kontemplationspraxis an. 264 Belghaus: Der erzählte Körper (2005), S. 73. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 265 <?page no="266"?> heraus und etablieren die Ausbildung eines › Habitus ‹ als langfristiges Ziel. Sie befördern die »affektive Einübung (exercitatio) und die ethische Formung« und motivieren so zu einer »individuelle[n] mimetische[n] Praxis«. 265 Im Elisabethgebet zeigt sich die ästhetische Erfahrungsdimension in der Spiegelfunktion, die der Text übernimmt: Der Rezipientin werden solche Verhaltensweisen und Tugendideale vermittelt und zur Nachahmung anempfohlen, die sich mit der imitatio Christi bzw. Mariae in Verbindung bringen lassen. Dazu gehören vor allem diejenigen Ideale, die als konstitutiv für die monastische Identität der Klarissen gelten und die gerade am Beispiel einer Adligen besonders deutlich gezeigt werden: apostolische Armut, Keuschheit, Demut und bedingungslose Nächstenliebe. Die selbst-involvierende Sprache der narrativen Apostrophe, die in der Sprecher-Deixis angelegt ist und durch Selbststilisierungen verstärkt wird, macht den Text zu einem Instrument der Selbstbildung im Sinne Foucaults. Die durch die Sprecherposition im Gebetssprechen eröffnete Selbstthematisierung kommt dabei einer Beichte über die eigene Unzulänglichkeit gleich, die sich in den Bitten mit ihrer Sündenbiographie manifestiert. Durch die komplementäre Kontrastierung mit der Heiligen, die mit ihrem heiligmäßigen Leben der Sünderin diametral gegenübersteht, entspinnt sich ein Spiel der Blicke, das sich mal nach innen, mal nach außen richtet und den Heilsweg umkreist. Das Elisabethgebet ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall: Das Wechselspiel von Selbstaussagen eines sündig gewordenen › Ichs ‹ und der Beschreibung eines als vorbildhaft gezeichneten Gegenübers, das den Rezipienten im Spiegel des Textes zum Abgleich mit dem Ideal auffordert, findet sich in nahezu allen Texten. In Christi Hort, wo die erzählenden Passagen ebenfalls mit Bitten verknüpft sind, ist es Christus, dessen Geschichte in Bezug zu der des Rezipienten gesetzt wird: Auch hier deckt die Kontrastierung die Differenz zum Ideal auf; wie im Elisabethgebet bilden die Heilstaten Christi die Voraussetzung dafür, dass das › Ich ‹ bei der Bitte um Überwindung der eigenen Sünden auf die Unterstützung des Angesprochenen zählen darf. Im Itinerarium entfaltet sich das Wechselspiel zwischen Ideal und Defizienz über die komplementär gestalteten Anreden, die ebenfalls Spiegelfunktion übernehmen. Als Textstrategie ist die narrative Apostrophe besonders geeignet, ein Thema von verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Sprechmodi zu beleuchten. Mit ihrer Scharnierposition zwischen verschiedenen Sprechhaltungen und Registern, zwischen Narration und Dialog, zwischen Leseransprache und Formular, erlaubt sie eine ganzheitliche Betrachtung derAndachtspraxis. Was andaht ist, wie sie sich präsentiert und unter welchen Bedingungen sie erfolgreich ist, wird im Zusammenhang mit der narrativen Apostrophe - zum Teil mehrfach innerhalb des gleichen Textes - verhandelt. In Form von Anleitungen an den Rezipienten, wie der Text gelesen werden soll, finden sich präskriptive Passagen meist standardmäßig in den Vorreden der Erbauungs- und Andachtsbücher. Aber auch in den Text selbst sind immer wieder präskriptiv-belehrende Formulierungen eingelassen, die zur richtigen Andachtshaltung aufrufen. Im Gebet zum heiligen Christophorus scheint die Anredesituation für einen Moment ambig zu werden, wenn gegen Ende der Heilige im Rahmen eines »latenten Vertrag[s]« 266 darauf eingeschworen wird, die 265 Largier: Die Phänomenologie rhetorischer Effekte und die Kontrolle religiöser Kommunikation (2009), S. 962 f. 266 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 46. 266 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="267"?> richtige Andachtshaltung mit seiner unmittelbaren Hilfe zu belohnen: Denn Adressat ist hier nicht nur der Heilige, der auf seine Hilfeleistung verpflichtet wird, sondern auch der Rezipient, der eingedenk dieser Erörterung sein Gebet mit der richtigen Andacht verrichten soll. Am häufigsten ist das Andachtsprogramm in der Du-Erzählung narrativ inszeniert. Leitmotivisch zieht sich das Andachtsthema beispielsweise durch das Elisabethgebet, das durch die Kontrastierung zwischen Erzählung und anschließender Bitte an Eindringlichkeit gewinnt. Die Betonung des Andachtsthemas ist jedoch kein Spezifikum dieser Erzählhaltung: In der Veronikalegende in Christi Hort, die konventionell in der dritten Person erzählt wird, werden präskriptive und narrative Elemente vermengt, wenn Veronika zugleich als Modellfigur der richtigen Andacht und als Lehrmeisterin derAndacht inszeniert wird und mit den textinternen Figuren auch den Leser adressiert. Insofern ist die narrative Apostrophe nicht alleinige Diskurs-Strategie, um bestimmte Themen zu beleuchten und dem Rezipienten nahezubringen. Mit ihrer Hybridität changiert sie jedoch zwischen dialogischen und narrativen Registern und erlaubt mit ihrer Flexibilität unterschiedliche didaktische Schwerpunktsetzungen, vom Präsentieren durch Erzählen bis hin zum Erörtern und Vorschreiben durch die direkte Ansprache. Mit dem Exkurs zur Laienbildung in religiösen Epen wurde in den Blick genommen, wie religiöses Wissen durch die Verbindung von intellektuellen und affizierenden Textstrategien erschlossen werden kann. Indem Wissensinhalte verschiedenster Art, vom Bibelwissen über Themen aus der mittelalterlichen Universitätskultur bis hin zu basalen Lateinkenntnissen, vermittelt werden, schlagen die bearbeitenden Übersetzungen ursprünglich lateinischer Werke eine Brücke zu heilsrelevanten Wissensräumen und legen das Fundament für weiterführende Textstrategien und -intentionen. Die Kenntnis glaubensbezogener Wissensinhalte ist die Voraussetzung, um sich diese Wissensinhalte überhaupt erst affektiv aneignen und ihre Wirkung abrufen zu können. Indem beispielsweise lateinische Formeln, die in der Liturgie oder im Privatgebet häufig eingesetzt werden, in die Volkssprache übersetzt und erklärt werden, fördern die Texte indirekt ein vertieftes Verständnis und erlauben dem Gläubigen eine aktive Partizipation an Liturgie oder Gebet. Insgesamt erweist sich die narrative Apostrophe als wichtige Strategie in Texten, die Heilsmedialität besitzen. Während das Eingreifen Gottes in die Geschichte der Menschheit durch Inkarnation und Erlösung das »grundlegende Kommunikations- und Kontaktgeschehen zwischen Gott und der sündigen Menschheit« und somit die »Basismedialität des Heils« darstellt, verfügen Gläubige über weitere Formen der Heilsmedialität, um dieses Basisgeschehen zu aktualisieren. 267 Als Heilsmedien »zweiter« und »dritter Ordnung« 268 fungieren Rituale und Artefakte, die das Heil durch Popularisierung für den einzelnen Gläubigen erreichbar machen. Zu diesen zählen nicht nur volkssprachliche religiöse Texte wie die hier untersuchten, sondern auch Bilder oder Reliquien, die allesamt darauf zielen, die Präsenz des Göttlichen in die Immanenz zu bringen und gleichzeitig individuelle Zugänge zum Heil zu eröffnen. 267 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 36. 268 Hamm: Die Medialität der nahen Gnade im späten Mittelalter (2009), S. 36 bzw. 41. 4.2 So hilf mir daz ich dir möge noch volge - Die narrative Apostrophe im Dienst der Didaxe 267 <?page no="268"?> 4.3 Compendiously was remembrid thus - Christliche memoria, christliche Identität in den Legendengebeten Erinnerung ist dem Christentum von Anfang an inhärent; begründet ist die christliche »Gedächtnisreligion« 269 nicht zuletzt in der Aufforderung Jesu an seine Jünger, des letzten Abendmahls zu gedenken. Jesu Appell zum Gedächtnishandeln, die Einsetzungsworte, die bei Lukas und im Korintherbrief übereinstimmend überliefert sind, 270 stehen mit der Anamnese bei der Eucharistiefeier im Mittelpunkt eines jeden katholischen Gottesdiensts. Wie die Gedächtnisforschung immer wieder betont, ermöglicht gemeinsames Erinnerungshandeln es den Mitgliedern einer Gesellschaft, über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg Bezugspunkte in der Vergangenheit festzuhalten und gemeinsame Orientierungsformen aufzubauen. Auf diese Weise kann man sich als Teil einer größeren Einheit begreifen, die weit über die individuelle Erfahrung hinausgeht. 271 Nach diesem Verständnis ist Erinnerung vor allem »ein soziales Phänomen«. 272 Erinnerung, memoria, und der Prozess des Erinnerns, commemoratio, bilden das Fundament des individuellen Glaubens und stiften überhaupt erst die Gemeinschaft, innerhalb der ein Ausleben dieses Glaubens möglich wird. Vehikel des gemeinschaftsstiftenden Erinnerns sind Rituale wie die Liturgie der Eucharistiefeier, aber auch Artefakte wie Bilder und Texte, die durch die ständige Tradierung und Wiederholung Eingang in das »kulturelle Gedächtnis« 273 finden und so das Geschichts- und Selbstbewusstsein einer Kulturgemeinschaft bestimmen. Anhand des Christophorusgebets und der Ägidiuslegende, ausblickshaft auch anhand des Elisabethgebets, wird untersucht, wie sich die Erzählhaltung der narrativen Apostrophe in die Wechselbeziehung zwischen Erinnerung und Identität einfügt. Die vor allem von Jan und Aleida Assmann entworfene Gedächtnistheorie bildet die Folie für die Frage, wie die Kommemoration von Heilswissen funktioniert und was sich daraus für die Konstitution einer christlichen Identität ergibt: Welches Selbstbild dominiert, wo verlaufen die Demarkationslinien zwischen einem christlichen › Wir ‹ und den › Anderen ‹ und wie unterstützt die narrative Apostrophe diese Ziele? Religionen, insbesondere die »Erzählgemeinschaft« 274 des Christentums, bilden Traditionen aus, die sich durch eine bemerkenswerte Stabilität auszeichnen und über Jahrhunderte hinweg erhalten bleiben können. Eine Erklärung dafür bietet das Konzept des kulturellen Gedächtnisses, wie es Jan und Aleida Assmann vorschlagen. In Anlehnung an den Soziologen Maurice Halbwachs unterscheiden sie zwischen einem »kommunikativen« und einem »kulturellen Gedächtnis«. Auf einer ersten Ebene, im »Zwischenbereich zwischen Individuen« und dem »Verkehr der Menschen« befindet sich das kommunikative Gedächtnis. 275 Diese Form der Erinnerung basiert auf Alltagskommunikation, die weit- 269 Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 259. 270 Dort heißt es jeweils: Hoc facite in meam commemorationem (Lk 22,19 und 1 Kor 11,24: »Tut dies zu meinem Gedächtnis«). 271 Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur (2013), S. 17. 272 Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis (2000), S. 11. 273 Assmann: Thomas Mann und Ägypten (2006), S. 70. 274 Mauz: In Gottesgeschichten verstrickt (2009), S. 194. 275 Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis (2000), S. 13. 268 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="269"?> gehend anlassgebunden, thematisch jedoch offen ist und die sich insgesamt durch ein geringes Maß an Organisiertheit auszeichnet. Als textuell verfestigter Sprechhaltung geht der narrativen Apostrophe in der Alltagskommunikation das freie spontane Gebet voraus. Zwar sind die Kommunikationsrollen dort verhandelbar, das heißt Sender und Empfänger wechseln einander ab, das spontane Gebet ist jedoch in seiner Anlage formal monologisch und sieht keine Sprecherwechsel vor. Auch die Alltagskommunikation folgt bestimmten, kontextabhängigen »Spielregeln«: 276 Selbst frei formulierte Gebete arbeiten mit einem Repertoire an standardisierten Formeln und Mustern, die sich auf die Institutionalisierung bzw. Normierung von Kommunikationsformen zurückführen lassen. Aufgrund der Einbindung in verschiedene Kommunikationskontexte ist wiederum jedes Individuum Teil verschiedener Kommunikationsgruppen mit je eigenen Spielregeln und Selbst- und Weltbildern. Teils überlagern sich diese, teil widersprechen sie sich, insgesamt bestimmen sie die Identität des Einzelnen mit. Durch Ritualisierung (Liturgie) oder Verschriftlichung (Gebetsbücher) wird diese Art von Kommunikation institutionalisiert, das heißt bestimmten Anlässen zugeordnet und mit bestimmten Mustern verknüpft. In dieser ersten Fixierung bildet sich das kommunikative Gedächtnis heraus. Kommunikationsgemeinschaften mit ihrem je spezifischen kommunikativen Gedächtnis besitzen eine kurze Halbwertszeit: Was hier tradiert wird, besitzt Gültigkeit für ein knappes Jahrhundert, was den biblischen › drei Generationen ‹ oder dem römischen saeculum entspricht. Der Horizont, so Assmann und Assmann, wandere dabei »mit fortschreitendem Gegenwartspunkt« 277 mit. Um Erinnerungsinhalte zu objektivieren, das heißt aus dem kommunikativen Gedächtnis in das kulturelle zu überführen, bedarf es der Konstitution eines stabilen Gruppenbewusstseins, das formierend und normierend auf die Gruppe wirkt. Den Horizont für die narrative Apostrophe bildet der Gottesdienst mit seiner normierend wirkenden Liturgie, die auf gesellschaftsübergreifende Institutionalisierung und Organisation zurückgeht. Aus dieser bezieht die Erzählhaltung nicht nur Sprachkonstrukte, sondern auch die auf sakraler Präsenz basierende Kommunikationssituation. Was sich in diesen Transformationsprozessen herauskristallisiert, ist »Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht«. 278 Anders als das kommunikative Gedächtnis hat das kulturelle Gedächtnis bestimmte Fixpunkte, die das Feld abstecken. Das sind einschneidende historische Ereignisse oder Entwicklungen, die durch »kulturelle Formung«, das heißt über Texte, Riten und Denkmäler, oder durch »institutionalisierte Kommunikation« als »Erinnerungsfiguren« bewahrt werden. 279 Sol- 276 Jan Assmann vergleicht diese »Spielregeln« der Alltagskommunikation mit den von Pierre Bourdieu beobachteten Marktgesetzen, vgl. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 11. 277 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 11. 278 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 9. 279 Als »Gedächtnisstützen« bzw. Gedächtnisorte (lieux de mémoire) fungiert nach Jan Assmann »der gesamte Umfang dessen, was [Maurice] Halbwachs Tradition nannte und der mémoire vécue gegenüberstellte«. Assmann bezeichnet das als »System von Merkzeichen, das es dem Einzelnen, der in dieser Tradition lebt, ermöglicht, dazuzugehören, d. h. sich als Mitglied einer Gesellschaft im Sinne einer Lern-, Erinnerungs- und Kulturgemeinschaft zu verwirklichen«, Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis (2000), S. 20. 4.3 Compendiuously was remembrid thus christliche memoria und Identität in den Legendengebeten 269 <?page no="270"?> che »Zeitinseln« bilden einen »Erinnerungsraum › retrospektiver Besonnenheit ‹ «, der sich einerseits durch »Zeitenthobenheit« auszeichnet, andererseits durch die fortwährende Aktualisierung in Form von »Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten« in die jeweilige Gegenwart eindringt. 280 Dieser Erinnerungsraum wird wesentlich von der »Tradition« bestimmt, die »ein[en] Sonderfall von Kommunikation« darstellt, »bei dem Nachrichten nicht wechselseitig und horizontal ausgetauscht, sondern vertikal entlang einer Generationslinie weitergegeben werden.« 281 Sechs Aspekte, die sich in unterschiedlicher Ausprägung auch im Zusammenhang mit der kommemorativen Funktion der narrativen Apostrophe beobachten lassen, sind kennzeichnend für das kulturelle Gedächtnis. Im Mittelpunkt steht zunächst die »Identitätskonkretheit«: Das ins kulturelle Gedächtnis eingegangene Wissen ist Ausdruck eines Identitätsstrebens, das eine Dichotomie zwischen »zugehörig« und »nichtzugehörig«, zwischen »fremd« und »eigen« konstituiert und so eine Abgrenzung zum Fremden ermöglicht. 282 Was im kulturellen Gedächtnis gespeichert ist, ist außerdem Resultat eines Rekonstruktionsprozesses, der immer mit dem gegenwärtigen Bezugsrahmen der jeweiligen Gesellschaft in einer bestimmten Epoche operiert. Das kulturelle Gedächtnis dient als Archiv, »als Totalhorizont angesammelter Texte, Bilder, Handlungsmuster«, und bietet einen »Modus der Aktualität« an, der die kulturellen Objektivationen auf die eigene Gegenwart hin perspektiviert. 283 Ein Beispiel dafür ist die Strategie der Mediävalisierung, mit der versucht wird, die Vergangenheit aus dem Blickwinkel der eigenen Gegenwart zu rekonstruieren. Über drei weitere Aspekte lässt sich das kulturelle vom kommunikativen Gedächtnis abgrenzen: Geformtheit, Organisiertheit und Verbindlichkeit. Die Geformtheit des Gedächtnisses, die »Kristallisation kommunizierten Sinns«, 284 bildet die Voraussetzung dafür, dass Inhalte überhaupt erst tradiert werden können. Unter Organisiertheit versteht Assmann die Institutionalisierung der Kommunikation, beispielsweise durch die Ausbildung fester Riten oder die Spezialisierung von »Trägern des kulturellen Gedächtnisses«, 285 deren Hauptaufgabe die Pflege kollektiven Wissens ist. Daraus wiederum ergibt sich die Verbindlichkeit dieser Gedächtnisinhalte, die die Mitglieder der Gruppe auf ein bestimmtes Selbstbild und Werte verpflichtet und sowohl formative, das heißt zivilisierendedukative, als auch normative, also handlungsanleitende Funktionen entfaltet. 286 Zuletzt zeichnet sich kulturelles Wissen durch ein hohes Maß an Reflexivität aus, die sich auf gängige Praktiken und das eigene Selbstbild richtet. 287 Auf diese Mechanismen des Erinnerns greifen auch die Legendengebete zurück. 280 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 11 f. 281 Assmann: Zeit und Tradition (1999), S. 64. 282 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 13. 283 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 13. 284 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 14. 285 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 14. 286 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 14 f. 287 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 15. 270 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="271"?> 4.3.1 commemoratio und memoria - Erinnern als performativer Vollzug und die Rolle christlicher Erinnerungsinhalte In den narrativen Apostrophen ist das Gedächtnismoment stark ausgeprägt und hinterlässt seine Spuren sowohl auf Ebene des Erzählens als auch auf der des Erzählten. Erinnern, das zeigt sich in diesen Texten deutlich, ist ein Kernelement des Christentums - oder vielleicht sogar von Religion im Allgemeinen - , das sich performativ entfaltet. Auf discours-Ebene werden verschiedene Formen des Erinnerns reflektiert, sowohl Erinnerungsprozesse, die der Textentstehung vorausgegangen sind und auf die nun zurückgegriffen wird, als auch solche, zu denen die Texte den Rezipienten anleiten wollen. Auch auf Ebene der histoire ist das Erinnerungsmoment höchst produktiv, instrumentalisiert es doch den Heiligen zum Erinnerungsmedium für das Protoheilsgeschehen Christi. Denn der jeweilige Heilige setzt auf seine Weise das Vorbild Christi um und schreibt so die Erinnerung fort. Der performative Charakter der Texte, der hier als commemoratio gefasst wird, gründet in erster Linie auf der Kommunikationssituation, die der narrativen Apostrophe zugrundeliegt. In dieser adressiert das Sprecher-Ich ein Gegenüber und erzählt zugleich dessen Geschichte, vergegenwärtigt und erinnert sie: Angestoßen wird ein gemeinsamer Erinnerungsprozess, der überdurchschnittlich häufig zum Gegenstand der Erzählung erhoben und reflektiert wird. Auf sprachlicher Ebene finden sich, zumeist in den Rahmenpartien, in den Gebeten in invocatio und peroratio, in den Erzähltexten meist in den Pro- und Epilogen, zahlreiche Formulierungen, die den kommemorativen Akt explizit benennen. Prototypisch dafür ist die vielfach gebrauchte Formel ich man dich, 288 wie sie in Christi Hort oder in variierter Form in der ersten Episode des Elisabethgebets mit der Formulierung ich [ … ] beruf dir wider in din gedechtnisse (Gebet vom Leben der Heiligen Elisabeth, 6) verwendet wird. Genau genommen stellt schon der Kommunikationsakt der Anrede einen Akt der Erinnerung dar: Um ein Gegenüber überhaupt ansprechen zu können, muss der Sprecher auf Erinnerungsinhalte zurückgreifen, sei es auf die Erinnerung an eigene Erfahrungen mit diesem Angesprochenen, sei es auf vermittelte Erinnerungen, wie sie beispielsweise in der Bibel oder anderen religiösen Texten begegnen. Die Anrede wird damit zum Begegnungsort für Ansprechenden und Angesprochenen: Hier »verknüpfen sich Gegenwart und Vergangenheit zu lebendiger Erinnerung und vergegenwärtigender Erzählung einer gemeinsamen Geschichte«. 289 Die Verknüpfung von performativen Sprechakten des Erinnerns, wie sie die ich man dich-Formel darstellen, und der ohnehin schon kommemorativen Anrede, begründet die Erinnerungsfunktion der Texte. Der performative Akt des Erinnerns beschränkt sich nicht auf eine Richtung: Die Appelle an den Adressaten, sich auf Momente seiner Geschichte zu besinnen, sollen nicht nur ebendiesen gnädig stimmen und die abschließende Bitte vorbereiten. Sie sind zugleich eine Aufforderung des Sprecher-Ichs an sich selbst, sich dem Adressaten in der commemoratio anzuschließen. Erinnern ist multidirektional: Vor dem Hintergrund der offenen und durchlässigen Kommunikationssituation 290 wird Erinnern zum Gemeinschaftshandeln, 288 Der kommemorative Aspekt der manunge wurde schon an früherer Stelle eingehend betrachtet, siehe Kapitel 2.4. 289 Arens: Religiöse Sprache und Rede von Gott (2009), S. 52. 290 Siehe dazu Kapitel 3.2.3.2. 4.3 Compendiuously was remembrid thus christliche memoria und Identität in den Legendengebeten 271 <?page no="272"?> das nicht nur das den Erinnerungsakt initiierende Individuum und das zur Vergegenwärtigung aufgeforderte Gegenüber miteinschließt, sondern den kollektiven Sinnhorizont absteckt und sich in die christliche Gemeinschaft einschreibt. In der ich man dich-Formel wird die von Assmann zum Merkmal für das kulturelle Gedächtnis und dessen Artefakte erhobene Reflexivität greifbar. Aber auch in den Texten, die ohne die explizite Aufforderung zur Vergegenwärtigung in Form der manunge auskommen, lässt sich ein hohes Maß an Reflexivität auf Ebene des discours beobachten. In John Lydgates Legend of Seynt Gyle beispielsweise finden sich zahlreiche Reflektionen, die allesamt aus dem Wortfeld des Erinnerns schöpfen. Im Rahmen des Prologs schildert ein sich als Autor zu erkennen gebender Erzähler, wie es zu der Entstehung des Textes kam: Ein kleines Büchlein, a lytell bylle (Legend of Seynt Gyle, v. 27), sei Lydgate übergeben worden, zusammen mit dem Auftrag, den darin enthaltenen lateinischen Text in englische Verse zu übertragen. Den Zweck dazu arbeitet der Autor deutlich heraus und betont ihn anschließend mehrmals: Contemplacyoun (Legend of Seynt Gyle, v. 15: »Andacht«) und Vergegenwärtigung, wie in den Formulierungen to remembre (Legend of Seynt Gyle, v. 11) oder to put in remebraunce (Legend of Seynt Gyle, v. 34) anklingt. Thematisiert wird auch die Geformtheit bzw. Organisiertheit des Stoffes, die nach Assmann charakteristisch für das kulturelle Gedächtnis sind. Wie Lydgate im Prolog ausführt, hat er seine Vorlage einiger Bearbeitung unterzogen, stilistisch überarbeitet, in Metren übertragen und gekürzt. 291 Im Übersetzungs- und Überarbeitungsprozess erhält der Ägidius-Stoff eine Form, so dass der bisher nur lateinisch (bzw. wahrscheinlich auch mündlich) tradierte Stoff in das kulturelle Gedächtnis aufgenommen werden kann. Lydgate übernimmt so die Rolle eines »Spezialisten«, der mit dem Text einen weiteren »Träger des kulturellen Wissens« erzeugt. 292 Mit dem Bezug auf eine Vorlage perpetuiert der Text zugleich kulturelles Wissen, das - zumindest in der lateinisch-klerikalen Kultur - schon fest verankert ist. Die Intertextualität verweist nicht nur auf den religiösen Kontext, in dessen Zentrum die Bibel als »norma normans« 293 steht. Sie betont außerdem den Erinnerungsmodus, der mit weiteren Zielen verknüpft wird, wenn Lydgate sich vorstellt, dass die Ägidiuslegende überall gelesen werden soll: Through al the world in euery regyoun / rad and rehersid, be examples ful notable (Legend of Seynt Gyle, vv. 13 f.: »in aller Welt und in jeder Gegend soll [das Gebet] gelesen und gesprochen werden, es soll ein denkwürdiges Beispiel sein«). Solche intertextuellen Bezüge, mit denen die Texte sich einen Platz im Autoritätendiskurs sichern, finden sich auch in den anderen Legendengebeten: 294 Im Christophorusgebet beispielsweise verknüpft das Sprecher-Ich die Erinnerung an den Heiligen mit einem Verweis auf den Kirchenvater 291 Das Stilideal, das Lydgate hier offenbart, ist das der brevitas, so gibt er zu verstehen, dass er das Leben des Ägidius kurz und präzise darstellen möchte (Full in purpos breeffly to Expresse / Centenciously thy myracles and thy lyff, Legend of Seynt Gyle, vv. 22 f.) - eine Formulierung, die am Ende des Prologs nochmals wiederholt wird: Breefly this story to put in remebraunce (Legend of Seynt Gyle, v. 34). 292 Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (1988), S. 14. 293 Bühler: Norma normans - norma normata (2010), S. 89. Die Rolle normativer Texte bei der Konstitution des kulturellen Gedächtnisses betont auch Aleida Assmann: Erinnerungsräume (1999), S. 13. 294 Intertextuelle Bezüge beschränken sich selbstverständlich nicht auf die Legendengebete oder das Korpus, sondern finden sich in der religiösen Literatur im Allgemeinen. 272 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="273"?> Ambrosius, 295 der den mit Christophorus verbundenen Erinnerungsraum mit Bezug auf die christliche Tradition in den weiteren Kontext eingemeindet. Im Elisabethgebet, das mit der Lebensbeschreibung einer Heiligen der jüngeren Vergangenheit fast schon einen Gegenstand des kommunikativen Gedächtnisses wählt, legitimiert der Text den Erinnerungsakt mit einem Verweis auf die hystorien, aus denen der Text zu schöpfen vorgibt. Während das › Ich ‹ der Ägidiuslegende jedoch einem Erzähler vorbehalten bleibt, lädt das »Wiedergebrauchs-ich« in Christophorus- und Elisabethgebet den Rezipienten dazu ein, sich nicht nur die textuell entworfene Kommunikationssituation, sondern auch den im Text vorgestalteten Erinnerungsvorgang zu eigen zu machen. In allen Fällen tragen die intertextuellen Bezüge dazu bei, verschiedene Zeitinseln, verschiedene Fixpunkte der als verbindlich erinnerten Geschichte, zu einem übergeordneten Erinnerungsraum zu verweben. Eine hohe Dichte an intertextuellen Bezügen, die mit der Semantik des Erinnerns arbeiten, weist die Ägidiuslegende auf, in der die kommemorative Funktion des Textes durchgängig präsent gehalten wird: Genauso häufig wie er das Erzählte damit belegt, dass er es in der Vita des Ägidius gelesen habe, zum Beispiel thy story doth expresse (Legend of Seynt Gyle, v. 82: »deine Vita drückt aus«) oder As I reede (Legend of Seynt Gyle, v. 116: »wie ich gelesen habe«), gebraucht Lydgate Verben, die ein Gedächtnishandeln zum Ausdruck bringen, beispielsweise in Vers 326, wo es heißt as i can remembre (»wie ich mich erinnern kann«) oder in Vers 264, wo die Legende selbst zum Agens der Erinnerung wird: Thy lyff remembreth that ye wepte both (»Deine Vita erinnert daran, dass ihr da beide weintet«). Diese gehäuften Reflexionen über das Erinnern sind ein deutlicher Hinweis auf die ausgeprägte kommemorative Komponente insbesondere der Hagiographie, die mit der narrativen Apostrophe in die Gebetstexte übernommen wird. Von der Forschung oftmals als »Repräsentations- und Reflexionsfeld der religiösen memoria« beschrieben, 296 ist die Hagiographie Ort des »Vollzug[s] des religiösen Gedächtnisses«. 297 In ihr schlägt sich das Verständnis von Christus als primärem Heilsmediator nieder, in dessen Nachfolge die Protagonisten eine sekundäre Mediation übernehmen - »liturgisches Memorialbewusstsein« trifft auf »memoriale Virtuosität« 298 und schreibt das kulturelle Gedächtnis fort. Wie die Liturgie bewirkt auch die Hagiographie eine Verschmelzung der Zeitebenen, in der sich der individuelle Gläubige der Bedeutung der christlichen Gedächtnisinhalte, auch in Bezug auf sein eigenes Leben, bewusstwerden kann. Diese Scharnierposition der 295 Im Text heißt es: Der hoche Ambrosius / lobet dich in siner geschrift allsus / von den wunder, die du hast getan. / Acht und vierzigtausend man / tote du vom ungelo ᵘ ben schiede, / die e waren heiden (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 95 - 100: »Der ehrwürdige Ambrosius lobt dich auf diese Weise in seinem Werk, indem er von den Wundern berichtet, die du gewirkt hast. 48.000 Mann, die zuvor Heiden waren, hast du vom Unglauben abgebracht.«). 296 Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 259. Auch Bruno Quast beispielsweise betrachtet die Hagiographie, insbesondere die Legende, als einen »Ort der Diskursivierung«, Quast: Von Kultur zur Kunst (1999), S. 277. Für Monika Rener ist die Tatsache, dass Hagiographen ihr Dichten oftmals mit dem »Bewahren der Erinnerung, testimonium« begründen, Beleg für die Gedächtnisfunktion der Hagiographie, Rener: The Making of a Saint (2008), S. 195. 297 Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 264 bzw. Rener: The Making of a Saint (2008), S. 195. 298 Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 263 f. Viola Belghaus beschreibt die Hagiographie als Gattungstradition, die »den Gang der Geschichte fort- und festschreibt«, Belghaus: Der erzählte Körper (2005), S. 71. 4.3 Compendiuously was remembrid thus christliche memoria und Identität in den Legendengebeten 273 <?page no="274"?> Heiligenlegende zwischen Vergangenheit und Jetzt-Zeit und die daraus resultierende »potentielle Unendlichkeit der [ … ] Vita« 299 trägt dazu bei, den Fortbestand im kulturellen Gedächtnis zu sichern. Bezieht schon die Liturgie den Gottesdienstbesucher in den Vollzug des kulturellen Gedächtnisses ein, so verstärkt die Verwendung der narrativen Apostrophe, zu deren charakteristischen Merkmalen das Ineinander von persönlicher und allgemeiner Heilsgeschichte zählt, dieses Moment noch. Grund dafür ist abermals die Ich-Position, die die Legendengebete eröffnen, und deren Einladung zur Teilhabe. 300 In der Kommunikation mit dem Gegenüber aktualisiert sich das Gedächtnis insofern, als »Vergangenes im Gegenwärtigen anwesend [gemacht] und auf dieses übertragen« 301 wird. Der Heilige vermittelt im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Mensch und Gott: In der Nachfolge Christi stehend aktualisiert der Heilige die Erinnerung an das primäre Heilswirken Gottes, mit der Vergegenwärtigung des Wirken des Heiligen erinnert wiederum der Gläubige an die sekundäre Mediation und das Gnadengeschenk der Erlösung - der Heilige fungiert als »Durchgangsstation beim Austausch der Gedächtnisgabe zwischen Gott und Mensch«, 302 die Legende als Scharnierstelle zwischen katabatischer und anabatischer Erinnerung. Diese zyklisch strukturierte Vermittlung kommt nicht nur in der abschließenden Gebetsbitte des Christophorusgebets zum Ausdruck, wenn das Sprecher-Ich den Heiligen eingedenk seines Martyriums um Fürsprache bei Gott bittet, sondern auch schon in den vorausgegangenen Beschwörungen des Heiligen, bei andächtiger Verehrung durch den Gläubigen diesem helfend zur Seite zu stehen - memoria ist die Gegengabe des Gläubigen im Austausch für die heilig-göttliche Zuwendung, die hier mit der narrativen Apostrophe personalisiert ist. 303 Auf discours-Ebene zeigt sich der kommemorative Charakter der Legendengebete, indem die Doppelfunktion von Erinnerung und Vollzug dieser Erinnerung bewusst gehalten wird. Auch auf Ebene der histoire wird die Funktion der Legendengebete als Ausdruck und Katalysator des kulturellen Gedächtnisses deutlich. Schablonenartig gezeichnete Heiligkeit 304 ist nicht nur Kennzeichen der Auserwähltheit durch Gott, sondern erinnert auch an das primäre Heilswirken Christi: Der Heilige fungiert im und über den Text hinaus als Agens eines performativen Erinnerungsprozesses, in dessen Fokus das Proto-Heilshandeln Jesu steht und in dem in der Exzeptionalität des Heiligen auch dessen Wirken aufscheint. 305 299 Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 260. Die besondere Zeitlichkeit der Legende erörtert auch Peter Strohschneider, für den die Gattung in einem produktiven Spannungsverhältnis der »Zeitlichkeit vergangener Immanenz« und der »Zeitlosigkeit ewiger Transzendenz« steht, das in einem Zugleich von »Geschichtlichkeit und Geschichtslosigkeit« resultiert, Strohschneider: Textheiligung (2002), S. 115. 300 Hierbei muss jedoch eingeräumt werden, dass die › Ich ‹ -Deixis der Legend of Seynt Gyle weitaus weniger offen für die Adoption durch den Rezipienten ist, sondern weitgehend einem Erzähler bzw. Autor vorbehalten bleibt. 301 Kiening: Präsenz - Memoria - Performativität (2007), S. 140. 302 Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 264. 303 Philipowski: Erinnerte Körper, Körper der Erinnerung (2003), S. 264. 304 »Diese Literaturgattung [= Legende] stellt die Person nicht so dar › wie sie war ‹ , nicht als geschichtliches Individuum, sondern so, wie die christlichen Gemeinden sie verehren, als Nachfolger Christi in Taten und Leiden«, Stark: Elisabeth von Thüringen (1996), S. 704. Hier wird abermals deutlich, welche Rolle »Organisiertheit« und »Geformtheit« für die Aufnahme eines Gedächtnisinhalts ins kulturelle Gedächtnis spielen. 305 Was bereits im Zusammenhang mit der charakteristischen Figurenkonzeption untersucht wurde, die Darstellung von Heiligkeit, wird nun unter dem Blickwinkel des Gedächtnismoments nochmals aufgerollt. 274 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="275"?> Zu den beliebten christlichen Topoi zählt das Heiligkeitsmodell der Weltabkehr, das in unterschiedlichem Maße in allen drei Legendengebeten Anwendung findet. Das Aufgaben des Adelsstands ist besonders deutlich im Elisabethgebet. Einige Mühe auf die Schilderung der adligen Abstammung verwendet auch der Prolog der Ägidiuslegende: Unmittelbar mit der ideellen Ansippung an Agamemnon einsetzend wird eingangs Ägidius ’ Herkunft aus Grekes royall lyne (Legend of Seynt Gyle, v. 2: »aus griechischem Königsgeschlecht«) beschworen. Dass diese Verortung in den Adel für das Verständnis des Heiligen wichtig zu sein scheint, zeigt sich darin, dass die eigentliche Erzählung mit einer Herkunftsbeschreibung einsetzt. Eine genealogische Einordnung benennt nicht nur Vater und Mutter, sondern erinnert nochmals an die Abstammung aus königlichem Geschlecht (Of roial blood bothe borne yffere, Legend of Seynt Gyle, v. 45). Diese Dynastie endet mit Ägidius, was durch die Weitergabe des Familienerbes an die Armen in einem symbolischen Akt bekräftigt wird. 306 Konsequenterweise ist der Rückzug aus der Adelsgesellschaft Gegenstand mehrerer Strophen, die die Erinnerung an das Vorbild Christi wachhalten. Neben einigen Wunderheilungen, die Ägidius dank compassion and grace of Cristis myht (Legend of Seynt Gyle, v. 213: »der Barmherzigkeit und Gnade von Christi Macht«) mit seinem Gebet bewirkt, ist es vor allem eine dreijährige Periode des Eremitentums in der Wüste, die den Heiligen in die Nähe Jesu rückt. Auch Ägidius wird von Satan in Versuchung geführt und wie schon das göttliche Vorbild widersteht der Heilige mit unerschütterlicher Keuschheit (with rigerous contynence, Legend of Seynt Gyle, v. 94) und tugendhafter Enthaltsamkeit (by vertuous abstynence, Legend of Seynt Gyle, v. 96). Die Engel, die Christus in der Wüste dienen, finden ihre Entsprechung in der Hirschkuh, die auf Gottes Befehl Ägidius ’ karge Diät aus Wasser und Kräutern mit ihrer Milch ergänzt. 307 Die Vorbildlichkeit, die in dieser Episode ebenso zum Ausdruck kommt wie in der Schilderung des dem Ideal der caritas und misericordia verpflichteten Jungen, der nicht nur seinen Mantel, sondern sogar sein gesamtes Erbe teilt, verweist auf ein bestimmtes Heiligkeitsmodell des Heiligen als »ethische[m] Virtuose«, 308 der einen abstrakte Tugendenkatalog konkretisiert. Ethische Virtuosität ist jedoch nur ein Aspekt von Heiligkeit, die sich als »zusammengesetzte Kategorie aus rationalen und numinosen Momenten« 309 erweist. Das zeigt sich in einer weiteren Mirakelerzählung. Zunächst geht es hier noch einmal um die Vorbildfunktion des Heiligen: Als nämlich Fluvius von Burgund in die Wüste zieht, um dort zu jagen, trifft er auf die Hirschkuh, die vor den königlichen Pfeilen bei Ägidius Zuflucht sucht. Ägidius wird verletzt, lehnt jedoch das Gold ab, das ihm der König zur Entschädigung 306 Im Vergleich mit dem Elisabethgebet zeigt sich die Uniformität der Heiligenleben: Auch Elisabeth lässt das Erbe, das ihr nach dem Tod Ludwigs zufällt, den Armen zukommen. Gleiches gilt auch für die Kindheit, in der sich erste Anzeichen der Heiligkeit beobachten lassen: Während Elisabeth sich durch besondere Andacht und Gläubigkeit auszeichnet, wird Ägidius von Lydgate als besonders tugendhaft und großzügig gezeichnet. So ist er nicht nur ein gelehrsamer Schüler, sondern beweist auch seine Nächstenliebe (compassioun, Legend of Seynt Gyle, v. 53), wenn er seinen Mantel einem Bedürftigen schenkt. 307 Im Text heißt es: Toward mydday she kam with ful glad cheer, / Of God provided to be thy vytayller, / With a repast of hir mylk most soote, / She was thy cook, she way thy boteleer (Legend of Seynt Gyle, vv. 108 - 111: »Um die Mittagszeit kam sie mit großer Freude zu dir, sie war von Gott geschickt worden, um deine Ernährerin zu sein; mit einem Vorrat an ihrer überaus nährenden Milch war sie deine Köchin und die, die dich tränkte«). 308 Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie (1979), S. 52 bzw. 54. 309 Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie (1979), S. 54. 4.3 Compendiuously was remembrid thus christliche memoria und Identität in den Legendengebeten 275 <?page no="276"?> anbietet. Stattdessen bittet er um die Errichtung eines Klosters, dessen Abt er schließlich wird. Seine monastische Enthaltsamkeit macht ihn nicht nur zur Personifikation christlicher Werte, sondern nähert ihn - wie auch Elisabeth mit ihrer bis zur Selbstaufgabe reichenden selbstgewählten Armut und Demut - Christus an. In dieser Funktion lädt der Heilige den Rezipienten zur Nachfolge ein und bietet ein »Vorbild zur Lebensbewältigung durch gerechtes Handeln« 310 an. Den Bereich des imitabile verlässt die Erzählung, wenn Ägidius ’ imitatio Christi weiter expliziert wird. Denn das Legendengebet berichtet davon, dass die Wunde, die Ägidius beim Versuch, die Hirschkuh zu schützen, erlitten hat, nicht abheilt und Zeit seines Lebens offenbleibt: Thy wounde open, thy blood dystellyng doun, [ … ]Ay to remember on Crystys passyoun, Prayeng Þe lord during al thy lyve, Be experience as it was after ffounde, On remembraunce of Cristis woundis ffyve, That ever bledyng sholde be thy wounde, That no leche with salue sholde sownde Thy grievous hurt, to staunche it, or to bynde, Cristis carectis large, wyde and rownde, Eternally enprente hem in thy mynde. (Legend of Seynt Gyle, vv. 158 - 168) Deine Wunde blieb offen, das Blut tropfte unablässig daraus, um an Christi Passion zu erinnern; du priesest den Herrn zeit deines Lebens. Später erfuhr man, dass dies dazu diente, die Erinnerung an die fünf Wunden Christi wach zu halten, dass deine Wunde deswegen immer bluten sollte, dass keine Tinktur oder Salbe deine schwere Verletzung heilen sollte, dass nichts die Blutung stillen oder stoppen konnte; Christi Wunden, großflächig und rund, verewigten ihn auf ewig in deinem Geist. Auch hier wird der Körper des Heiligen zum »Zeichenträger«, 311 anhand dessen sich die Auserwähltheit des Heiligen ablesen lässt 312 und der die Erinnerung an Christi Leiden aktualisiert. Vor allem aber zeugt die »göttliche Gravur«, 313 die Beschriftung des Heiligenleibs durch Martyrium und Wunder, von der kategorialen Andersheit des Heiligen. 314 Auch Christophorus aktualisiert als Märtyrer die Passion Christi und lädt in dessen Nachfolge Christi dazu ein, seinem und Christi Beispiel zu folgen. »Christoformitas« ist für die Hagiographie und damit auch für die Legendengebete die conditio sine qua non. 315 Die magische Komponente von Heiligkeit zeigt sich am deutlichsten in der Mirakelepisode, in der Ägidius - anachronistisch - zum Fürsprecher von Karl dem Großen wird. Als 310 Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie (1979), S. 54. 311 Bachorski/ Klinger: Körper-Fraktur und herrliche Marter (2002), S. 313. 312 Vgl. Seidl: Blendendes Erzählen (2012), S. 30. 313 Seidl: Blendendes Erzählen (2012), S. 32. 314 Für Peter Strohschneider besteht die Andersheit des Heiligen in dessen Status als »Transzendentes, als das aus der Immanenz Ausgeschlossene«. Daraus resultiert für Strohschneider das Paradoxon vom »Hereinragen der Transzendenz in die Immanenz«, nach dem »das Heilige als Transzendentes zugleich auch immanent zu sein vermag«, Strohschneider: Textheiligung (2002), S. 111 bzw. 114. Dem schließt sich Andreas Hammer an, der in Anlehnung an Strohschneider und Luhmann das Heilige als »Distanzkategorie« betrachtet und die paradoxale »Verfügbarmachung des Unverfügbaren« im Heiligen realisiert sieht, Hammer: Erzählen vom Heiligen (2015), S. 3. 315 Hammer: Erzählen vom Heiligen (2015), S. 14 f. 276 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="277"?> sich nämlich der Ruf des Abtes (thy good fame, Legend of Seynt Gyle, v. 201) herumspricht, lässt der Kaiser, so die Legende, nach Ägidius schicken. Nachdem dieser auf dem Weg zu Charlemagne noch erfolgreich einen Kranken heilt, wird er Beichtvater des Kaisers und als solcher darum gebeten an Karls Stelle um Sündenvergebung zu bitten. Die Fürbitte, die Ägidius mit großem Eifer (By gret avys, Legend of Seynt Gyle, v. 226) ausspricht, zeigt unmittelbare Wirkung: Ein Engel überbringt eine goldene Bulle, die dem Kaiser die Absolution erteilt und auch eine göttlich legitimierte Investitur des Heiligen als intercessor darstellt: Graunted to the ffor a prerogatyff, In this bylle with thys addycycoun, What sinful man lyst amende hys lyff, Full repentaunt with contrycyoun, And the sacrament of confessyoun, The lord aboue schal hem to mercy take, Throuh thy prayer and holy orisoun So that they lyst ther synne to for-sake. (Legend of Seynt Gyle, vv. 249 - 256) Mit dem folgenden Zusatz wurde dir in dieser Bulle auch ein besonderes Vorrecht gewährt: Wenn ein sündiger Mensch sein Leben ändern möchte und er voller aufrichtiger Zerknirschung und Reue ist und er das Sakrament der Beichte erhalten hat, so wird der Herr im Himmel ihm durch deine Bitte und Gebet seine Gnade gewähren, so dass ihnen ihre Sünde vergeben wird. Die erfolgreiche Fürsprache für Karl wird somit zum Präzedenzfall für weitere Fürbitten, die der einzelne Gläubige - unter der Voraussetzung von echter Reue und der Bereitschaft zur Umkehr - in Anspruch nehmen kann. Das Legendengebet fungiert somit als Aition, das Ägidius ’ Aufnahme unter die vierzehn Nothelfer begründet. Zugleich reichert sie das Modell von Heiligkeit um einen weiteren Aspekt an. Ägidius ist nicht nur exemplum christlicher Werte, sondern auch »magischer Helfer«, 316 der seine Heiligkeit aus der göttlichen Investitur bezieht: Mit dieser göttlichen Auszeichnung hat der Heilige dem Gläubigen etwas voraus, das nicht ohne Weiteres eingeholt werden kann - »[d]ie Legende erzählt › nicht nur vom Imitabile des Heiligen [ … ], sondern immer auch von dessen Inkommensurabilität ‹ «. 317 Während Elisabeth und Ägidius dem Typ des »einmal geborenen Heiligen« entsprechen, deren Heiligkeit von Anfang an sichtbar ist und sich im Verlauf der Vita noch steigert, verkörpert Christophorus den nicht-weniger stereotypen Typ einer »Bekehrungsnatur«. 318 Auch Christophorus fällt aus dem Rahmen des Üblichen, allerdings mehr durch äußere Merkmale wie Körpergröße und Stärke als durch einen besonders heiligmäßigen Lebenswandel. Umschlagspunkt in seiner Vita ist die Begegnung mit dem Christuskind. Die katalytische Funktion der Taufe, mit der Christophorus ’ Karriere als Heiliger überhaupt erst in Gang gesetzt wird, wird auch hier durch Parallelen zur Vita Christi unterstrichen. So wie Jesus nach der Taufe seine Tätigkeit als Prediger aufnimmt, beginnt auch Christophorus sein Wirken als Missionar nach der Initiation durch das Taufritual. Wie Christus und Ägidius widersteht auch Christophorus fleischlichen Versuchungen, die in diesem Falle 316 Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie (1979), S. 54 bzw. 56. 317 Köbele: Die Illustion der einfachen Form (2012), S. 373. 318 Seidl: Blendendes Erzählen (2012), S. 3 Anm. 3. 4.3 Compendiuously was remembrid thus christliche memoria und Identität in den Legendengebeten 277 <?page no="278"?> aber irdische Ursachen haben. Denn der heidnische König versucht mit Hilfe seiner Frauen, weitere Bekehrungen durch Christophorus zu vereiteln: Er hies zu ͦ dir legen sinü wip, die da sollten tro ᵉ sten dinen lip und verkeren dine sinne. Do schu ͦ f die go ᵉ tliche minne, daz du si machtest gelo ᵘ ben an got und daz di apgo ᵉ te warent ir spot. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 57 - 62) Er befahl, seine Frauen zu dir zu legen, die sich dir körperlich zuwenden und dir auf diese Weise die Sinne verdrehen sollten. Da aber bewirkte die göttliche Liebe, dass du sie dazu brachtest, an Gott zu glauben und der falschen Götter zu spotten. Bei allen Parallelen ist die Rolle als magischer Helfer bei Christophorus wesentlich stärker ausgeprägt: Nicht nur die Predigttätigkeit beginnt der Heilige unter der Anleitung des Heiligen Geistes, auch der körperlichen Versuchung widersteht Christophorus mehr durch den Beistand der göttlichen Liebe als durch besondere Tugendhaftigkeit. Die Umstände seines Todes, der als Opfer für einen höheren Zweck stilisiert wird, lassen die Schablone Christi erkennen lässt. So wie Christus im Garten Gethsemane erst mit dessen Zustimmung ergriffen werden kann, sind auch die verschiedenen Foltertechniken, mit denen Christophorus traktiert wird, zunächst wirkungslos: Die Fesseln, mit denen Christophorus auf die Folterbank gebunden wird, lösen sich; dreihundert Ritter können den Heiligen nicht verletzen und der Pfeil, den der König schließlich selbst auf Christophorus abschießt, kehrt in der Luft um und verletzt das Auge des Angreifers. Nachdem Gottes Macht genügend unter Beweis gestellt wurde, fordert Christophorus den König auf, ihn zu enthaupten und sich mit dem Blut die Augen zu waschen, um die Sehkraft wiederherzustellen. Stante pede erfolgt die Erlösung des sündigen Königs: Er w(u)rde gesunt, daz zeichen beschach an der stund. Den ungelo ᵘ ben leite der küng nider Und alles sin lant ward sider Darum [bekert]. (Gebet zum heiligen Christophorus, vv. 90 - 94) Er wurde gesund, das Wunder geschah sofort. Daraufhin entsagte der König seinem Unglauben und sein gesamtes Land wurde deswegen später [zum Christentum] bekehrt. Inszeniert wird hier das Heilsgeschehen des Kreuzestodes im Kleinen, das sogar das Vergießen des Blutes der Eucharistiefeier evoziert. Die einzelnen Episoden der Legende »spiegel[n] also pars pro toto das Ganze wider«. 319 In allen drei Legendengebeten initiiert die Anrede immer auch einen Erinnerungsprozess, der durch entsprechende Formulierungen wie der ich man dich-Formel oder Reflexionen über die commemoratio noch weiter verstärkt werden kann. In diesem Erinnerungsprozess wird gegenwärtige Erfahrung mit kulturell tradierter Vergangenheit verknüpft und zugleich deren Fortbestand in der Aktualisierung des Gedächtnisinhalts gesichert. 320 Die narrative Apostrophe ist dabei ein Instrument, um sich den Erinnerungs- 319 Hammer: Erzählen vom Heiligen (2015), S. 16. 320 Vgl. Schaeffler: Das Gebet und das Argument (1989), S. 129. 278 4 Kontext und Funktion der narrativ gebrauchten Du-Anrede <?page no="279"?> akt, die commemoratio, zu eigen zu machen. In Form der zahlreichen Variationen der ich man dich-Formel verleiht sie der christlichen memoria auch sprachlich Ausdruck. Die Inhalte, die in den Legendengebeten memoriert werden, sind nicht an die Erzählhaltung der narrativ gebrauchten Anrede gebunden: Die Topoi einer schematischen Heiligkeit, die die imitatio Christi beschreiben und tradieren, finden sich auch in Texten, die mit anderen Erzählmodi arbeiten, werden jedoch durch die narrative Apostrophe besonders eindringlich aktualisiert. 321 4.3.2 Funktionalisierte memoria: Identitätskonstitution im Rahmen der narrativen Apostrophe Während in den Darstellungen des Heiligen als magischer Helfer die Transzendenz von Heiligkeit aufscheint, übernehmen die Elemente, die dem ethischen Virtuosen zuzuordnen sind, durchaus auch pragmatische Funktionen: Mit dieser »Funktionsambivalenz« dienen die legendarischen Gebete »nicht nur der Repräsentation von Transzendenz [ … ], sondern [übernehmen] zugleich ganz verschiedene Funktionen der Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen«. 322 Sie bieten Rollenmodelle und Handlungsmuster an, die es erlauben, ein religiöses Selbstbild performativ umzusetzen und die über das individuelle Glaubensleben hinaus Verbindlichkeit besitzen. Als Artefakte des kulturellen Gedächtnisses entfalten derartige Texte für die christliche Gemeinschaft identitätsstiftende Funktion. Wesentlich ist die Konstitution einer Vergangenheit, die sich nicht nur als Völker- oder Stammesgeschichte lesen lässt, sondern die im katholischen Sinne als universal gelten kann. Kollektive memoria ist sowohl retroals auch prospektiver Bezugspunkt in der christlichen Gemeinschaft, ist Grundlage und Zielpunkt zugleich: Gedächtnis und Identität sind untrennbar miteinander verbunden. »[N]eed for identity« treibt nach Jan Assmann die Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses an. 323 Das gilt auf Ebene des Individuums auch für die hier untersuchten Texte: Als › Selbsttechniken ‹ unterstützen sie das Individuum bei der Verständigung über und Ausbildung einer eigenen Identität. Das identifikatorische Potenzial der narrativen Apostrophe verstärkt dies, indem sie ein christliches Identitätsmodell der Tugendhaftigkeit mit einem komplementären Selbstbild von Defizienz und Sündhaftigkeit verwebt; über die Kontrastierung zwischen Ideal und Status-Quo trägt sie dazu bei, ein »religiöses Selbstverständnis performativ [ … ] [zu] verwirklich[en]«. 324 Die Identitäten, die diskursiv entworfen werden, schöpfen allesamt aus einem bestimmten Werterepertoire und werden je nach Gebrauchskontext verschiedentlich akzentuiert: Während das im Freiburger Klarissenkloster entstandene Elisabethgebet eine monastische Identität diskursiviert, die um das Ideal der apostolischen Armut und den Wert der Askese kreist, entwerfen Texte wie die für laikale Rezipienten entworfenen Andachtsbücher Itinerarium und Zeitglöcklein 321 Dieser Aspekt wurde bereits im Zusammenhang mit Strategien der Selbstbildung analysiert (siehe Kapitel 4.2.1) und wird nun noch einmal unter dem Aspekt der überindividuellen Identitätskonstitution betrachtet. 322 Backes/ Fleith: Zur Funktion von Heiligenviten in Text und Bild in elsässischen und südwestdeutschen Frauenklöstern des Mittelalters am Beispiel des Odiliakultes (2007), S. 165. 323 Mol: The Identity Model of Religion (1979), S. 15 bzw. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identit