Franz Grillparzer
Neue Lektüren und Perspektiven
0214
2022
978-3-7720-5726-7
978-3-7720-8726-4
A. Francke Verlag
Birthe Hoffmann
Brigitte Prutti
10.24053/9783772057267
Zum 150. Todesjahr Franz Grillparzers (1791-1872) stellt sich die Frage nach der Lebendigkeit seines OEuvres im 21. Jahrhundert. Wer Grillparzer erst einmal unter die Haut bekommen hat - seinen Sinn für den Menschen in seiner paradoxen Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit zwischen Barbarei und Humanität, seine scharfsinnige Analyse von Machtstrukturen, von zwischenmenschlichen und interkulturellen Dynamiken, seine gebrochene poetische Sprache und facettenreiche Theatralik - muss sich immer wieder über seine relative Unbekanntheit wundern. Der Status eines österreichischen Klassikers und die Vereinnahmung für diverse identitätspolitische Zwecke scheinen sein Werk eher ins Abseits geführt zu haben statt in jene Zukunft, die ihn eigentlich erst einholen müsste. Eben dies versucht Franz Grillparzer - Neue Lektüren und Perspektiven mit einer Reihe von Aufsätzen, die die Perspektiven der internationalen Grillparzerforschung repräsentieren. Sie zielen auf die hermeneutische Provokation und transkulturelle Dimension seines OEuvres sowie auf wichtige Fragen der Dramenästhetik und der Rezeption.
<?page no="0"?> Franz Grillparzer Birthe Hoffmann / Brigitte Prutti (Hrsg.) Neue Lektüren und Perspektiven <?page no="1"?> Franz Grillparzer <?page no="3"?> Birthe Hoffmann / Brigitte Prutti (Hrsg.) Franz Grillparzer Neue Lektüren und Perspektiven <?page no="4"?> DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783772057267 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. 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Photo © White Cube (Charles Duprat) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 19 31 59 93 113 143 183 203 231 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Fetz Was tun mit dem Klassiker? Franz Grillparzer im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birthe Hoffmann „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ - Geschichte als Groteske in Büchners Dantons Tod und Grillparzers Bruderzwist in Habsburg . . . . . . . . . Imke Meyer Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Geulen Sich am Tod versehen: Auf Abwegen zwischen Grillparzers Selbstbiographie und der Medea-Trilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gilles Darras Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabiola Valeri Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘: Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ als Kritik an Essentialismus und Ethnozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . Antonio Roselli „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“: Grillparzers Ästhetik des Unverfügbaren im Kontext des Frührealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marc Lacheny Grillparzer von Frankreich aus betrachtet: Platz in der Literaturgeschichte, Aufführungen, Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Bollig Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen in den Inszenierungen Mateja Koležniks und Aribert Reimanns . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 265 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Einleitung Das Werk Franz Grillparzers ist ein bemerkenswerter Fall verhinderter Rezep‐ tion, deren Ursachen sicher zum Teil in seiner Vereinnahmung für identitäts‐ politische Zwecke liegen. Der Status eines österreichischen Klassikers, mit dem impliziten oder expliziten Auftrag von Identitäts- und Sinnstiftung durch die vielen Krisen der Monarchie und der beiden österreichischen Republiken, scheint seinem Werk und seiner Wirkung eher abträglich gewesen zu sein. Bis in die 1990er Jahre hinein lässt sich in der Grillparzerforschung das Bild des Dramatikers als konservativer Verteidiger einer monarchischen Ordnung und einer quietistischen Weltsicht barocker Provenienz verfolgen, der von Anfang an auf verlorenem Posten steht. Der oft vereinfachte Befund einer Kritik an nationalistischen Strömungen in den Texten Grillparzers wurde in dieser Forschungstradition mit der These verbunden, Grillparzer hätte eine Kritik des neuzeitlichen Subjektivismus im weitesten Sinne geäußert. Ideengeschichtlich wurde Grillparzer somit als ein Verfechter einerseits überzeitlicher, humanisti‐ scher Werte, andererseits als der genaue Gegensatz zum deutschen Idealismus und zur protestantisch-preußischen Denkart stilisiert. Eine solche Lesart, die nach stabilisierbaren Philosophemen und ideologischen Positionen sucht, lässt sich aber nur unter Ausblendung einer Vielzahl von Textperspektiven durch‐ führen, die dieser Eindeutigkeit widersprechen. Die dadurch hervorgerufenen Herausforderungen an die Leser: innen bzw. Zuschauer: innen dürften eine wei‐ tere Ursache seiner erschwerten Rezeption und seiner relativen Unbekanntheit sein. Sie sind aber zugleich ein Grund, weshalb man ihn heute wieder lesen sollte: Im Widerspruchsvollen, Ambivalenten und Paradoxen seines Schreibens scheint etwas einzigartig Reales auf. Grillparzers Figuren sind keine Charaktere, die irgendetwas repräsentieren sollen. Sie sind in ihrem Wesen unkoordiniert: Zwischen Denken, Sprechen und Handeln tun sich Abgründe auf. Sie sehnen sich nach Ordnung und Sinn, aber jede Ordnung ist zugleich grausam und kann schnell ins Chaos umschlagen - den Sinn muss jeder für sich selbst zurechtbasteln. Der Prozess der Geschichte, in den jeder unentrinnbar einge‐ bettet ist, rollt unaufhaltsam über das Streben der Menschen hinweg - und doch trägt jeder eine persönliche Verantwortung für seine Taten. Für unser heutiges Geschichtsverständnis ist diese paradoxe Auffassung der Rolle des Subjekts in historischen Prozessen und Konstellationen, die weder das Subjekt <?page no="8"?> aus der Verantwortung entlässt, noch idealistisch als autonom begreift, äußerst relevant. Die für die Leser: innen besonders anspruchsvolle Verarbeitung historischer Stoffe in vielen von Grillparzers Dramen mag auch manchen Regisseur abge‐ schreckt haben, seine Kräfte an dem großen Dramatiker zu erproben, muss doch hinter dem Gewand des Historischen die zukunftsträchtige Analyse ge‐ schichtlicher Prozesse erst hervorgeholt werden. Ausgerechnet Thomas Mann, ein in vieler Hinsicht von Grillparzer weit entfernter Autor, hat vor 100 Jahren instinktiv ein untrügliches Gespür für die doppelbödige Sprache Grillparzers gezeigt. In seiner Huldigung für Grillparzer, zum fünfzigsten Todestag am 22. Januar 1922 in der Neuen Freien Presse veröffentlicht, heißt es: Es gibt Plauderei, die heimlich Hochgesang, gibt das Pasquill, das in der Tiefe Verherrlichung ist, Feierlichkeit, unter der es kichert. Einen ähnlichen, man darf sagen: romantischen Zwiespalt empfand ich in Grillparzers Dichtung von jeher, einen solchen der Form und des Geistes. Jene mag man klassizistisch, ja bei kritisch-nega‐ tiver Gesinnung epigonenhaft nennen; dieser ist dem Gefühl so menschlich-nahe, so zart-modern-lebendig, so durchdringend persönlich, daß das bei allem Zauber des Verses leicht museale Kleid des Jambendramas beinahe wie Ironie wirkt - auf mich, ich kann es nicht anders sagen. Man hört den Vergleich mit Schiller und Goethe noch heraus, wenn auch mit Sinn für den Gewinn, der mit der Differenz zur Weimarer Klassik einhergeht. Wie einige Beiträge zu diesem Band demonstrieren, ist der Bruch Grillparzers mit der idealistischen Tragödienästhetik der Goethezeit weitaus radikaler, als die teils noch klassizistische Form auf den ersten Blick vermuten lässt. Die illusionslose Beobachtung der Entwicklungen seiner Zeit, die er auch in die Zukunft extrapolierte, machte ihn in ästhetischer und politischer Hinsicht zu einem Ungleichzeitigen. Nur wenige seiner Zeitgenossen - wie etwa Georg Büchner und davor schon Heinrich von Kleist - waren bereit, die idealistische Art der Kontingenzbewältigung zu verabschieden, um so tief in den Abgrund der Dialektik von Ordnung und Barbarei zu blicken. Viele neue Ansätze in der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte kommen den Herausforderungen durch das Doppelbödig-Bruchhafte in den Texten Grillparzers und einer Neubewertung seines Œuvres im Lichte aktueller Fragestellungen sehr entgegen. Die Implikationen der in der Forschung schon früh anerkannten Komplexität der Psychologie und Figurengestaltung, sowie die Aufwertung des Sinnlichen bei Grillparzer kann heute noch differenzierter beschrieben werden, u. a. durch affekttheoretische Ansätze und ein phänome‐ 8 Einleitung <?page no="9"?> nologisch geprägtes Interesse für das Nebeneinander verschiedener Wahrneh‐ mungsformen. Die Erweiterung der Hermeneutik durch Rezeptions- und Wirkungsästhetik hat den Blick für die vielen Leerstellen geschärft, die oft gegen die Selbstdar‐ stellung der Figuren im Sinnhorizont der Leser: innen in Betracht gezogen werden müssen. Provozierend ist auch die Heterogenität der sprachlichen und dramatischen Register, darunter das Ineinander-Hinübergleiten bzw. Kippen von Tragik und Komik, Grauen und Groteske in den Texten Grillparzers, das in manchen Aspekten bereits auf die Dramatik nach 1945 vorausweist. Auch Anregungen durch den Poststrukturalismus und die Dekonstruktion sind vielversprechend, um Grillparzers Analyse von Mechanismen der Macht, der Sprache und Identitätskonstruktionen unterschiedlicher Art herauszuar‐ beiten. Dies beinhaltet die Konstruktion von Gender, die bei Grillparzer an der kritischen Dekonstruktion von problematischen Männlichkeitskonstruktionen und der Gestaltung von Figuren jenseits der typischen Weiblichkeits- und Männlichkeitsdiskurse sichtbar wird. Nicht zuletzt trifft dies aber auch auf die Dekonstruktion von Alteritäts- und Nationalitätsdiskursen zu, wofür Grill‐ parzer als Beobachter der komplexen Dynamiken im spannungsvollen transkul‐ turellen Kontext der Habsburger Monarchie besondere Voraussetzungen hatte. Die durch poststrukturalistische Ansätze angeregten neuen Möglichkeiten der Aktualisierung seines Œuvres scheinen aber im Fall Grillparzers bei weitem noch nicht erschöpft zu sein. Der vorliegende Sammelband verfolgt das Ziel, neue ertragreiche Wege der Analyse von Grillparzers Werk zu zeigen. Er enthält acht literaturwissen‐ schaftliche Beiträge aus der internationalen Forschung und einen einleitenden Essay vom Direktor des österreichischen Literaturmuseums zur Praxis der Literaturvermittlung im 21. Jahrhundert am Beispiel Franz Grillparzers. Sein Anliegen geht weit über den Wunsch hinaus, einen großen europäischen Autor österreichischer Prägung anlässlich seines 150. Todesjahres zu würdigen. Er gibt einen Einblick in aktuelle Lektüren und Perspektiven, die das große, noch nicht eingelöste Potenzial dieses Autors neu zu entfalten suchen. Wie kann man Grillparzer heute einem Publikum ohne literarische Vorkennt‐ nisse vermitteln und zur Lektüre des scheinbar toten Klassikers anregen? - Darüber reflektiert Bernhard Fetz im ersten Beitrag dieses Bandes. Seine Bestandsaufnahme fällt zunächst negativ aus: es fehlt noch an einer modernen textkritischen Ausgabe des Werkes und einer entsprechenden Leseausgabe; der Missbrauch seiner Texte als Schullektüre zu identitätspolitischen Zwecken in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik ist im österreichisches Bildungs‐ system noch nicht durch ein neues, offeneres und europäisch ausgerichtetes 9 Einleitung <?page no="10"?> Interesse an Literatur ersetzt worden. Als Direktor des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek hat Fetz diese Ausgangssituation aber auch als Chance gesehen, neue Wege zu Grillparzer anzubieten. Sein Beitrag gibt einen anregenden Einblick in die Prinzipien hinter der Dauerausstellung im Wiener Grillparzerhaus, die im Falle des ‚Hausherrn‘ Grillparzers ihren natür‐ lichen Ausgangspunkt im denkmalgeschützten Arbeitszimmer des Beamten Grillparzers nimmt. Von hier aus entfaltet sich eine multimediale Vermittlung des Autors, seines Werks und seines historischen Kontexts mit Hilfe von Comics, Touch-Screens, Hörstationen mit kommentierenden Nacherzählungen zentraler Werke durch zeitgenössische Autor: innen und Künstler. Über die Beschreibung der konkreten Ausstellung hinaus bietet der Beitrag von Fetz interessante Reflexionen zur zeitgemäßen Vermittlung auratischer Museumsgegenstände und zum Spannungsfeld zwischen Konstruktion und erneuter Infragestellung von literarischen Kanons. Als Kenner des grillparzerschen Werks deutet Fetz nicht zuletzt auch auf die vielen Anknüpfungspunkte für unsere Gegenwart hin, so z. B. seine subtilen Analysen von Machtmechanismen und Genderkonstruk‐ tionen. Die Reihe der Textinterpretationen wird von Birthe Hoffmann eingeleitet, die für eine Neubewertung der Geschichtsdramatik Grillparzers im Lichte seiner postidealistischen Dramaturgie plädiert. Mit ihrer Lektüre des um 1850 verfassten, aber erst 1872 posthum uraufgeführten Geschichtsdramas Ein Bru‐ derzwist in Habsburg, verfolgt sie die für Grillparzer zentrale Problematik des Perspektivismus und der Unauslotbarkeit menschlicher Handlungen, die hier mit der geschichtsphilosophischen Reflexion eng verbunden ist. So wird gezeigt, wie dieses Drama auf der Folie der Krise des Habsburgischen Reiches vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges geschichtliche Prozesse nach der Französischen Revolution reflektiert. Eingeleitet wird die Lektüre mit einem Vergleich mit Georg Büchners Dantons Tod, wodurch überraschende Affinitäten zwischen dem revolutionären Büchner und dem politisch eher konservativen Grillparzer aufgezeigt werden können im Hinblick auf Personengestaltung, Anthropologie und Dramaturgie. Anknüpfend an Helmut J. Schneiders Analyse der Differenzen der postidealistischen Tragödienästhetik Büchners zum Ge‐ schichtsdrama der Goethezeit kann somit auch Grillparzers Verabschiedung des Idealismus verdeutlicht werden. Beide Autoren reflektieren Dynamiken politi‐ scher Krisen, in denen die Idee des gesellschaftlich Guten in ein barbarisches Massentöten umschlägt, bei denen die Opfer jeden idealen Sinn verloren haben. Bei beiden Dramatikern entfesseln sich die Kräfte geschichtlicher Prozesse von denen, die in diese eingreifen wollten - gleichzeitig fokussieren sie auf die polyphone, gleichsam transpersonale Auseinandersetzung der Figuren mit 10 Einleitung <?page no="11"?> den nun problematisch gewordenen Begriffen wie Recht, Wahrheit, Ethik und individuelle Verantwortung. Wie bei Büchner geht das geschichtliche Chaos bei Grillparzer vom unkoordinierten Wesen des Menschen aus, dem somit Autonomie, Freiheit und Selbsterkenntnis aberkannt wird. Das eindrucksvollste Beispiel dieser Problematik wird in Ein Bruderzwist in Habsburg in der psychisch extrem komplexen und labilen Figur Rudolfs II . gegeben. In ihm fallen Idee und Praxis auseinander, die Trennung von Mensch und Kaiserrolle bricht zusammen, als das Chaos des kommenden Krieges durch die Affekte Rudolfs beschleunigt wird. Die Idee einer humanen, alle Gegensätze überbrückenden Ordnung wird ebenfalls von Rudolf selbst vernichtet, als er - der gerade das Recht verbürgen sollte - seinen illegitimen Sohn Don Cäsar auf willkürliche und barbarische Weise verurteilt und ohne Gerichtsverfahren sterben lässt. Einzige Alternative zum paternalistischen Herrschaftskonzept der Habsburger bildet daher nur die vertragliche Sicherung von Bürgerrechten, die von den böhmischen Ständen und Bischof Klesel gefordert wird - eine heimliche Konzession des Juristen Grillparzers an die liberalen Kräfte seiner Zeit. Der unheimliche Schluss dieses wohl schwärzesten Stückes von Grillparzer mit seiner grotesken Mischung aus Tragik und Komik bezeugt, dass die Zukunft eher den Säuberungsideologen und Weltmetzgern gehörte. In den beiden nächsten Textlektüren des Bandes stehen zwei Prosagattungen im Mittelpunkt, denen der Dramatiker Grillparzer eher abgeneigt war und die er doch auf brillante und originelle Weise zu prägen verstand: das auto‐ biographische Schreiben und die Novelle. In beiden schlägt sein besonderer Sinn für Dramatik durch, und in beiden betreten wir - in den Worten Imke Meyers - „epistemologisch instabiles Terrain“ und werden gezwungen, uns mit der Unverfügbarkeit der Wahrheit über menschliche Handlungen auseinander‐ zusetzen. Imke Meyer zeigt, wie Grillparzer in seiner ersten und im Vergleich zum Armen Spielmann weit weniger bekannten Novelle Das Kloster bei Sendomir (1827) in den Gewändern des schauerromantischen Repertoires die Leser: innen einer komplex vermittelten Geschichte über Familienverfall, Betrug, Mord, Schuld und Sühne aussetzt, die sich am Ende - durch die bisher verborgene Doppelidentität des Binnenerzählers - wie ein Bumerang gegen die Glaubwür‐ digkeit des Erzählten kehrt. Meyer nimmt die Herausforderung durch diese schockartige Destabilisierung des Narrativs auf und liest die Novelle neu als die Inszenierung einer Wahrheitskonstruktion durch den Binnenerzähler, die mit Hilfe eines Frauenopfers fragile und fragwürdige Männlichkeitskonstrukte einer homosozial-paternalistischen Welt stabilisieren soll. In ihrem eingehenden und zugleich kultur- und ideengeschichtlich tief eingebetteten close reading 11 Einleitung <?page no="12"?> deckt Meyer auf, wie in der Novelle durch das Fehlen einer eindeutigen Wissensgrundlage und die subjektiv-affektive Prägung der Wahrnehmung auf mehreren Ebenen ein Kampf zwischen zwei Epistemen stattfindet, der die Novelle in den ideengeschichtlichen Auseinandersetzungen der Spätaufklärung und des beginnenden 19. Jahrhunderts verortet. Die Fronten in der Novelle gehen somit zwischen einer männlich konnotierten, visuellen Wahrnehmung, die in der Aufklärung mit dem Primat rationaler Erkenntnis verbunden ist, und einer weiblich bzw. tierisch konnotierten, haptischen Erkenntnis, die neben der rationalen koexistiert und die distanzierte Wahrnehmung herausfordert. In der erfolglosen Suche der Leser: innen nach einer sicheren Beurteilung der in der Novelle verhandelten Zusammenhänge und Schuldfragen wird der Zusammen‐ hang von visueller Wahrnehmung, haptischer Erfahrung und Sinnkonstruktion beleuchtet und reflektiert. So ist Grillparzers Handhabung von Konventionen der Schauernovelle äußerst modern: Weder kann der Erzähler die Wahrheit des Erzählten verbürgen, noch kann der Rahmen das Unerhörte des Inhalts aufheben und eingrenzen, sondern wird immer wieder gesprengt und lässt die Leser: innen auf instabilem Terrain zurück. Die Unausdeutbarkeit von Schuldfragen und kausalen Zusammenhängen steht im Beitrag Eva Geulens ebenfalls im Mittelpunkt. Ihre Suche nach Zu‐ sammenhängen zwischen der Selbstbiographie und der Dramentrilogie Das goldene Vließ fängt mit der Charakterisierung der Besonderheiten jenes oft gelobten autobiographischen Fragments an, das erst posthum unter dem Titel Selbstbiographie an die Öffentlichkeit gelangte. Durch ihre Auseinanderset‐ zung mit Grillparzers verschleiernd-verschweigender Darstellung familiärer Verhältnisse, die zugleich bizarre Züge aufweist, greift Geulen zwei zentrale Merkmale von Grillparzers Schreiben auf, die auch auf seine Dramatik zutreffen: Einerseits die grotesk-unheimliche Mischung bzw. Überblendung von Tragik, Grauen und Komik, andererseits die Verschleierung vom Agens, was eindeutige Schuldzuschreibungen und Rekonstruktionen eines Kausalnexus erschwert. Ausgehend vom grotesken Bild der hinter ihrem Bett in stehender Todesstarre aufgefundenen Mutter, welches in der Forschung meist übergangen wurde, nimmt Geulen über den ‚Abweg‘ der persönlichen Lektüre, bei der diese Stelle unvergesslich mit der scheintoten Madame Sauerbrot bei Wilhelm Busch verschmilzt, die Leser: innen mit auf die Suche nach möglichen Spuren der in der Selbstbiographie dargestellten Ereignisse in der Vließ-Trilogie, deren Entstehungsprozess vom Tod der Mutter eine Zeitlang unterbrochen wurde. Bei dieser Suche geht es aber nicht um eine biographische Lesart der Tragödie, sondern eher um die Analyse von strukturellen Gemeinsamkeiten. Auf diesem Weg werden die auch in der Dramentrilogie ins Dunkel gehüllten Todesarten 12 Einleitung <?page no="13"?> und -ursachen (insbesondere der Pelias-Figur) deutlich. Die dadurch erreichte Verkomplizierung der Schuld- und Rachefragen wird nicht nur als Versuch betrachtet, sich deutlich von älteren Vorlagen abzuwenden - nach Geulen könnte die Entdramatisierung der Tode und Todesarten in der Dramentrilogie, die keinen dramatischen Knoten mehr binden können, auch als ‚realistische‘ Wendung des Dramas gesehen werden. Daran anschließend widmen sich die beiden folgenden Beiträge von Gilles Darras und Fabiola Valeri ganz der Lektüre von Grillparzers Vließ-Trilogie, die in den letzten Jahren immer stärker ins Zentrum des internationalen Forschungsinteresses gerückt ist und wegen der Brisanz ihrer Themen auch auf den deutschsprachigen Bühnen neuerdings häufig zu sehen war. Ihre Aktualität in der Forschung und auf dem Theater unterstreicht die Relevanz von Grillparzers Dramatik für die Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen und Konflikten in der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Gilles Darras unternimmt eine Erörterung der zentralen Hell-Dunkel-Mo‐ tivik im Goldenen Vließ und bespricht ihre Funktion im Rahmen von Grillparzers symbolischer Dramaturgie. Seine Lektüre des Dramentextes und der szenischen Konfiguration demonstriert die enge Verschränkung von Ästhetik und Psycho‐ logie in der „bahnbrechende[n] Bearbeitung des Medea-Mythos“ in der Trilogie mit ihrem Wechselspiel von Licht und Schatten und der Polarität von Tag und Nacht. Bei Grillparzer ist diese konstitutive Polarität seiner These zufolge am nachdrücklichsten in der schillernden Medea-Figur selbst verkörpert, die sich allen essentialistischen Identitätszuschreibungen und jeder hermeneutischen Vereindeutigung entzieht. Als eine radikal transgressive und transkulturelle Figur demontiert sie die Xenophobie und den Manichäismus in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der anderen Kolcher sowie der Griechen. Darras unterstreicht die konstitutive Ambivalenz und die kritische Dimension von Grillparzers Medea mit seiner Bezeichnung für sie als aufgeklärte Königin der Nacht, und er rückt sie in die Schwesternschaft einer mehrfachen Nähe zu anderen mythischen Gestalten im modernen deutschsprachigen Drama zwischen Weimarer Klassik und Wiener Moderne, nämlich Goethes Iphigenie, Kleists Penthesilea and Hofmannsthals Elektra. Neue Einsichten bringt auch seine tiefenpsychologische Lektüre der traumatischen Höhlenszene in den Argonauten und die Diskussion ihrer Wiederkehr in den Bildern der Medea. Konzentriert sich Gilles Darras in seiner präzisen Lektüre auf wichtige leitmotivische Verknüpfungen in der Dramaturgie und Bildersprache der Vließ-Trilogie, so rückt Fabiola Valeri in ihrem diskurskritischen Beitrag die in‐ terkulturelle Konfliktkonstellation und die zeitgenössischen Alteritätsdiskurse in den Blick, die in Grillparzers moderner Adaption des Argonauten- und 13 Einleitung <?page no="14"?> Medea-Mythos ästhetisch verhandelt werden. Sie tut dies aus der Perspektive der interkulturellen Literaturwissenschaft, deren Theoriegeschichte und dyna‐ misch-hybriden Kulturbegriff die Einleitung zu ihrem Aufsatz knapp referiert. Das Kulturkontakt-Szenario in Grillparzers Trilogie betrachtet sie parallel zu anderen neueren Deutungen unter dem Vorzeichen der scheiternden Interkul‐ turalität, sieht darin aber keinen geschichtsphilosophischen Pessimismus oder eine resignative Kulturkritik ihres Verfassers am Werk, sondern ein innerdra‐ matisches Versagen auf der Figurenebene, das Grillparzer in seiner Trilogie mit dramaturgischen Mitteln kritisch exponiert und transzendiert. Das Augenmerk in ihrem ersten Analyseschritt liegt auf den kulturell geprägten Mustern der Selbst- und Fremdwahrnehmung auf Seiten von Grillparzers Figuren, die in ihren essentialistischen und ethnozentrischen Denk- und Wahrnehmungsmus‐ tern geläufige zeitgenössische Diskursmuster um 1800 von eigen versus fremd repräsentieren und reproduzieren. Es ist ein heterogener Mix aus diskursiven Versatzstücken der Winckelmannschen Ethno-Ästhetik, von kolonialen Topoi der Reiseliteratur und geschichtsphilosophischen Theoremen, deren sich die Dramenfiguren hier bei Grillparzer bedienen, um das jeweils Andere bzw. die Anderen zu stigmatisieren und die eigene kulturelle Überlegenheit zu behaupten. In ihrem zweiten Analyseschritt demonstriert Valeri, wie Grillpar‐ zers Trilogie die ethnozentrische Perspektive seiner Figuren auf vielfache Weise destabilisiert und dekonstruiert, nicht zuletzt durch die zahlreichen transkulturellen Parallelen und die Transgressionsfiguren auf beiden Seiten. Was im Umfeld des erstarkenden Nationalismus in der post-napoleonischen Ära fast wie eine literarische Antizipation der plakativen politikwissenschaftlichen These vom „Kampf der Kulturen“ im Sinn von Samuel P. Huntington erscheinen könnte, ist de facto die hellsichtig vorwegnehmende Kritik eines solchen antagonistischen Denkens in der markanten dramatischen Auseinandersetzung mit Alteritätsdiskursen um 1800. Antonio Roselli erörtert in seinem Aufsatz zentrale Aspekte von Grillparzers Ästhetik im Kontext des Frührealismus, den er mit Ulrich Fülleborn und Monika Ritzer als eine von Grillparzer und wichtigen Vormärz-Autoren wie Grabbe, Büchner und Heine geteilte „gemeinsame Problemlage“ beschreibt, was das krisenhafte Verhältnis zur Wirklichkeit anbelangt. Der Begriff verzeichnet die stilistische Pluralität ihrer Literatur als Pendant dieses Krisenbewusstseins angesichts der Unverfügbarkeit der Wirklichkeit, nicht als ästhetischen Mangel, und er vermeidet die geläufigen Schwierigkeiten in der Zuordnung von Grillpar‐ zers Werk im Rahmen geschlossener Epochenkategorien. Entstehungsphasen, Veröffentlichungs- und Aufführungsdaten fallen bei Grillparzer häufig weit auseinander, wie Roselli in seiner Einleitung am Beispiel von Libussa erinnert. 14 Einleitung <?page no="15"?> Er erläutert die an den Veränderungen der Zeitsemantik orientierte historische Typologie der Wirklichkeitsbegriffe bei Hans Blumenberg, dessen vierter von vier Wirklichkeitsbegriffen ebenfalls auf die schiere Faktizität (das „factum brutum“) einer unverfügbaren Realität zielt, und mit Bezug auf Fülleborn, der sie mit Blick auf die Zeitgestaltung in Grillparzers Dramen beschrieben hat. Un‐ verfügbar wird im Zuge des äußeren Begründungsdefizits und der gesteigerten Kontingenzerfahrung nach 1800 auch das Subjekt für sich selbst, wie Roselli im folgenden Abschnitt seines Beitrags expliziert, der zur Beschreibung dieser Tatsache auf den Begriff der negativen Anthropologie und der postidealistischen Subjektivität rekurriert. Seine weiteren Ausführungen gelten den ästhetischen Implikationen zu diesem Krisenbefund in Grillparzers unsystematischer und antisystematischer Ästhetik und seiner Kritik des Systemdenkens generell sowie der Problematik der Ordnungsvorstellungen in seinem Œuvre. Er zeigt, was die ästhetische Evidenzerfahrung bei Grillparzer ausmacht, und illuminiert das zentrale Bild von der „Körperlichkeit der Poesie“ und den sprachlich geschaffenen Erfahrungsraum, den dieses Bild eröffnet. Die beiden Beiträge von Marc Lacheny und Barbara Bollig zur internationalen Grillparzer-Rezeption in Frankreich und zur neueren Adaption seiner Stücke auf deutschsprachigen Bühnen im 21. Jahrhundert unterstreichen abschließend noch einmal den Gegenwartsbezug des ganzen Bandes. Marc Lacheny präsentiert einen Aufriss zur französischen Grillparzer-Rezep‐ tion in der Literaturwissenschaft und im Theater sowie zu den Übersetzungen seines Œuvres. Der historische Befund ist eher dürftig, wie sein informativer Überblick zeigt, denn Grillparzer war in der Vergangenheit weder in den französischen Literaturgeschichten noch auf dem Theater besonders häufig vertreten, und wenn dann in einigen wenigen Inszenierungen und Gastspielen in deutscher Sprache. Die französische Germanistik hat ihn in erster Linie als ex‐ emplarischen Österreicher betrachtet, mit Blick auf das literarische Vorbild von Weimar und als literarischen Erben einer barocken Tradition - am wirkungs‐ vollsten und nachhaltigsten im einflussreichen Werk von Roger Bauer. Das gemeinsame Ziel trotz methodologischer Differenzen war die Bestimmung der kulturellen Besonderheiten der österreichischen Literatur. Weitere Impulse für die französische Forschung haben die verschiedenen Grillparzer-Jubiläen und Gedenktage geboten; die aufregendsten Entwicklungen aber sind neueren und neuesten Datums und umfassen eine jüngere Generation von Austriazist: innen, zu denen neben Jacques Lajarrige und Éric Leroy du Cardonnoy auch der Verfasser des vorliegenden Beitrags zählt. Ein Mittelpunkt der neueren franzö‐ sischen Forschung und Literaturvermittlung betrifft Grillparzers Goldenes Vließ. Es war Gegenstand von mehreren Tagungen und einigen wichtigen Veröffentli‐ 15 Einleitung <?page no="16"?> chungen, wie Lacheny dokumentiert. Im Herbst 2017 erschien auch die mit dem renommierten Prix-Nerval-Goethe ausgezeichnete französische Übersetzung von Grillparzers antiken Dramen von Gilles Darras, die die Möglichkeiten einer breiteren Rezeption Grillparzers auf französischen Bühnen eröffnet. Lacheny konstatiert eine „Grillparzer-Renaissance“ in der französischen Forschung mit dem Hinweis auf weitere wichtige Projekte und Übersetzungen. Die Zeichen stehen gut für den großen Unbekannten, von dem Jean-Louis Bandet noch 1972 sagen konnte, dass sogar das gebildete französische Publikum nicht einmal seinen Namen kenne. Mit einem großen internationalen Publikum für Grillparzer ist wohl auch im 21. Jahrhundert nicht zu rechnen, aber aufmerk‐ same Romanleser: innen müssten mindestens schon seinen Namen kennen seit Mathias Énards Roman Boussole (frz. 2015; engl. Compass 2017; dt. Kompass 2018), der seinen fiktiven Wiener Musikologen Franz Ritter mit Grillparzers Reisetagebüchern im Gepäck nach Istanbul schickt. In Kürze können interes‐ sierte Leser: innen auch mit der französischen Übersetzung von Grillparzers Reisetagebüchern unterwegs sein. Barbara Bollig rückt zwei hoch aktuelle und sehr unterschiedliche Inszenie‐ rungen des Medea-Mythos aus dem Jahr 2019 ins Zentrum der Überlegungen in ihrem Beitrag, nämlich die Aufführung von Aribert Reimanns Medea-Oper am Aalto-Musiktheater Essen und das Medea-Schauspiel von Mateja Koležnik am Staatstheater Stuttgart. Beiden Umsetzungen des Stoffes im zeitgenössischen deutschen Musik- und Sprechtheater gemeinsam ist die Tatsache, dass sie Grillparzers Version des Medea-Mythos in seiner Vließ-Trilogie als dramentex‐ tuelle Grundlage für ihre Adaptionen benutzen. In ihrer eingehenden Analyse der theatralischen Zeichenrepertoires von beiden Aufführungen zeigt Bollig, wie diese Inszenierungen nach Grillparzer funktionieren und welche interpre‐ tativen Schwerpunkte sie jeweils setzen als moderne Globalisierungs- und Psychodramen mit dem titelgebenden goldenen Widderfell in einer zentralen Rolle (Reimann) und der visuell verkörperten weiblichen Psyche in Form eines halb durchsichtigen Milchglaskastens auf der Bühne (Koležnik). Die mythische Medea ist die exemplarisch schlechte Mutter, anhand derer bis in die Gegenwart hinein divergente Mutterschaftsvorstellungen und Mutterschaftspathologien stets neu wieder verhandelt werden. Bollig lokalisiert die besondere Attrak‐ tivität von Grillparzers moderner dramatischer Bearbeitung des klassischen Stoffes für die künstlerische Weiter-Arbeit am Mythos im 21. Jahrhundert bei Reimann und Koležnik in der komplexen weiblichen Figurenpsychologie und -pathologie, die die kausal-genetischen Voraussetzungen und Umstände des Kindermordes in den Blick rückt. Die aktuellen Bearbeitungen bezeugen die gesellschaftspolitische und ästhetische Relevanz des Themas, und Bollig 16 Einleitung <?page no="17"?> öffnet ihre Diskussion zur Aneignung des Medea-Mythos nach Grillparzer für grundsätzliche Fragen zur Relation von Literatur und Psychopathologie. Der vorliegende Band ist unter außerordentlichen Bedingungen zustande ge‐ kommen. Die Pandemie hat auch für Geisteswissenschaftler: innen zu wesent‐ lich erschwerten Arbeitsbedingungen geführt, und einige Beiträge mussten trotz des großen Interesses für dieses Buch abgesagt werden. Wir sind den Autor: innen dieses Buches dankbar, dass sie trotz der widrigen Umstände zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben. Wir danken dem Institut für Englisch, Germanistik und Romanistik an der Universität Kopenhagen und dem Department of German Studies an der University of Washington, Seattle, für ihre finanzielle Unterstützung dieses Bandes, sowie Nanke Nicolaisen für ihre fachkundige Hilfe beim Redigieren und Formatieren der Manuskripte. Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag danken wir für sein Interesse an dem Projekt und die gute Zusammenarbeit. Brigitte Prutti und Birthe Hoffmann 17 Einleitung <?page no="19"?> Was tun mit dem Klassiker? Franz Grillparzer im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek Bernhard Fetz Der österreichische Klassiker Franz Grillparzer steht auf tönernen Füßen; weder gibt es eine fundierte Leseausgabe (oder philologisch abgesicherte Studienaus‐ gabe), noch steht der Autor bei Germanist: innen hoch im Kurs. In den Schulen ist Grillparzer, im Gegensatz zur Vereinnahmung als Vertreter einer positiven Österreich-Ideologie in den 1950er Jahren, so gut wie nicht existent. Dieses Schicksal teilt er mit einem Großmeister der (österreichischen) Erzählkunst im 19. Jahrhundert, dessen dickleibige Romane ebenso wie seine Erzählungen ebenfalls kaum mehr eine Rolle im Schulunterricht spielen. Doch ist Adalbert Stifter unter Literatur- und Kulturwissenschaftler: innen, so hat es zumindest den Anschein, beliebter als Grillparzer; der Gegensatz von Regionalität und Ur‐ banität, Stifters Interesse für Umweltphänomene wie extreme Wetterereignisse, seine Verteidigung des Alten, der gefährdeten Bauwerke und handwerklichen Techniken, gegen die Zumutungen der industriellen Moderne, schließlich sein Interesse für Landschaftspflege und Gartenbau - all das macht Stifter zum scheinbar aktuelleren Autor. Aber was hätte Grillparzer nicht alles aufzubieten! Im Zentrum seines Werks stehen Praktiken der Machtgewinnung, der Machterhaltung, der Subversion von Macht und der Aufgabe von Machtansprüchen. Zwischen Ottokar, dem Berserker, und dem armen Spielmann als Personifikation eines erfolglosen Menschen, dessen Existenz auf fast nichts gebaut ist, entwickelt Grillparzer seine literarische Bearbeitung von Machtverhältnissen. Der gewitzte, sprachge‐ wandte Leon in „Weh dem, der lügt! “ misst den - sprachlichen - Handlungs‐ spielraum desjenigen aus, der das Gute tun möchte und verspricht, zu dessen Erreichung auf jegliche (Not-)Lüge zu verzichten. Zentral ist auch der Kampf der Geschlechter, Medea, Libussa, die weichende Königin Margarete im „Ottokar“, sie sind moderne Figuren. Und trotzdem: Die Zeit des Klassikers Grillparzer <?page no="20"?> 1 Strigl, Daniela (2016). „Und die Größe ist gefährlich“. Über den schwierigen Umgang mit einem Klassiker. In: Fetz, Bernhard / Hansel, Michael / Schweiger, Hannes (Hrsg.) Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart. Wien: Zsolnay Verlag, 9-23, hier 17. 2 Vgl. ebd., 19 f. 3 Vgl. Fetz, Bernhard (2021). Der Dichter mit der Kettensäge. Thomas Bernhards zerfetzte Arbeitshose. In: Kaukoreit, Volker / Gausterer, Tanja / Inguglia-Höfle, Arnhilt / Atze, Marcel (Hrsg.) Pässe, Reisekoffer und andere „Asservate“. Archivalische Erinnerungen ans Leben. Wien: Praesens Verlag, 242-246. (= Sichtungen. Archiv. Bibliothek. Litera‐ turwissenschaft.18./ 19. Jahrgang). scheint vorbei zu sein. „Grillparzer ist heute so out, wie er noch nie war“, konstatierte die Literaturkritikerin Daniela Strigl im Jahr 2016. 1 Die Klage über das Verschwinden verbindlicher Lektürelisten in den Schulen (zumindest in Österreich) 2 verdeckt die Tatsache, dass Kanons nur mehr als fluide, nicht selten identitätspolitisch missbrauchte Instrumentarien existieren. Sie sind keine Richtschnur mehr für (höhere) Bildung. Das kann man auch als die Gewinnung von Freiraum sehen, als Utopie eines neuen Bildungsideals, das im Austausch zwischen Lehrer: innen, Schüler: innen, Schulbehörden immer neue Listen entstehen lässt. Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus, anstelle frei verhandelter Lektüre-Listen, anstelle von Lust an literarischen Entdeckungen, an die Stelle einer notwendigen Erweiterung der nationalen, europäischen Kanons tritt nicht selten einfach die Einübung in Textsorten und kodifizierte Sprachpraxen als Vorbereitung für das Berufsleben. Was bedeutet das alles für ein Literaturmuseum, das sich zwar der österreichi‐ schen Literatur vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart widmet, sich jedoch als europäisches Projekt versteht und von der Überzeugung getragen ist, dass Literatur immer auch Weltliteratur in einem mehrfachen Sinne ist? Die Kanon-Frage begleitete die Diskussionen der Kurator: innen von Beginn der Planungen an, wie könnte es auch anders sein. Die chronologisch-thematische Grundstruktur der Dauerausstellung folgt manchmal mehr, manchmal weniger kanonisierten Werken und Autor: innen. Sie legt dabei Schwerpunkte, die Platz auch für unbekanntere Positionen und Autor: innen lassen. Der Verfestigung ka‐ nonischer Tendenzen arbeitet die Fülle an Material, die Fülle an Bildern, Tönen, Mikrogeschichten und Objekten entgegen. Fast zu jedem Objekt lassen sich Geschichten erzählen, sei es eine zerrissene Arbeitshose Thomas Bernhards 3 oder ein ethnologisches Fundstück aus dem 19. Jahrhundert (heimgebracht von der Weltreisenden und Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer). Die Regalstruktur des ehemaligen k. k. Hofkammerarchivs in der Wiener Johannesgasse bewirkt, dass sich eine festgefügte (Kanon-)struktur der Gestaltung geradezu aufdrängt, diese 20 Bernhard Fetz <?page no="21"?> jedoch in der Abfolge und großen Zahl an Regalfächern gleich wieder zum Verschwinden bringt. Es geht nicht nur um Grillparzer und sein Schattendasein als Klassiker, es geht um das Verschwinden von Lektürekompetenzen überhaupt und die oft konstatierte, kommentierte, beklagte Tatsache, dass von einem Lektüre‐ fundament weder bei den Abgänger: innen von höheren Schulen noch bei Germanistikstudent: innen ausgegangen werden kann. Wie die Mehrzahl der Museumsbesucher: innen verfügen auch sie über Vorkenntnisse, die sich Zu‐ fällen, Bildungsreminiszenzen, persönlichen Interessen, Peer Groups und sehr unterschiedlich intensiv betriebenen Studien verdanken können. Größte Bele‐ senheit und große Ahnungslosigkeit liegen nahe beieinander. Damit geht eine Erfahrung von Lehrer: innen und Museumspädagog: innen einher, die frühere Vermittler: innen in dieser Form nicht machen konnten: dass nämlich die Artefakte alle gleich sind; dass, in unserem Falle, Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ ein ebenso ferner Planet ist wie Handkes „Langsame Heimkehr“, oder wie es Grillparzers Dramen und Lustspiele sind. Deshalb kann sich die Lust am Text im besten Fall an jedem beliebigen Objekt im Museum entzünden, kann sich das Interesse an der Materialität von Literatur, an Handschriften und Stimmen, frei von bestimmten Erwartungen an jedem Punkt der Ausstellung festsetzen. Allerdings: Das freie Schweifen, das unvoreingenommene Entdecken folgt den Spuren, die andere, die die Kurator: innen und Gestalter: innen gelegt haben. Was heißt das nun für Grillparzer? Ohne ihn gäbe es wahrscheinlich kein Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek an dieser Stelle, ist doch das denkmalgeschützte Arbeits‐ zimmer des habsburgischen Beamten Teil der Ausstellung. 1811 versuchte Grillparzer erstmals, eine Stelle in der k. k. Hofbibliothek zu erlangen; der Wunschtraum, Bibliothekar zu werden, scheiterte aber. 1815 trat er bei der Hofkammer, dem späteren Finanzministerium, in den Staatsdienst und erhielt 1832 die Stelle eines Hofkammerarchivdirektors. Im Revolutionsjahr 1848 er‐ folgte der Umzug in ein neues Archivgebäude, das heutige „Grillparzerhaus“. (Dessen Anmutung, von außen betrachtet, eher ein biedermeierliches Palais vermuten ließe, als einen Zweckbau für die Aufbewahrung von Akten). Mit seiner ebenfalls denkmalgeschützten Regalstruktur zählt es zu den ältesten europäischen Verwaltungsarchiven. Dieser Ort drückt an sich schon das zwie‐ spältige Verhältnis des für eine aufgeklärte monarchische Ordnung eintretenden Dichters zur Realverfassung des Habsburgerstaates aus. Im Zentrum des Grillparzer gewidmeten Bereichs steht das Arbeitszimmer, dessen auffälligstes Möbelstück ein Stehpult ist, an dem Grillparzer mit ziem‐ licher Sicherheit auch an seinen literarischen Texten gearbeitet hat. Auch 21 Was tun mit dem Klassiker? <?page no="22"?> 4 Die kommentierenden Nacherzählungen sind als Downloads unter https: / / www.hanser -literaturverlage.de/ buch/ franz-grillparzer/ 978-3-552-05805-7/ abrufbar. ohne inszenatorische Eingriffe (lediglich die Schriftstücke auf dem Schreib‐ tisch und die Bücher auf dem Bücherbord im Hintergrund sind Zutaten der Kurator: innen) wirkt das Zimmer als habsburgisches „Büro“; karg und ohne jegliches Zeichen von Extravaganz symbolisiert es die Zweckmäßigkeit der Verwaltung. Das Kruzifix, angebracht über dem Stehpult, gemahnt an die Staat und Verwaltung überwölbende göttliche Ordnung. In der Gangflucht außerhalb des Zimmers inszeniert die Ausstellung Grillparzers Doppelleben als Beamter und Schriftsteller. Wie an vielen Stellen wird auch hier das historische Setting durchbrochen - durch das Thema gestalterisch wie inhaltlich umspielende, erläuternde, ironisierende Elemente. Grillparzers Selbstzweifel als Schriftsteller, seine Befürchtung gar, sowohl „zur dramatischen Poesie“ als auch zum „Lustspiel“ „wenig Anlage“ zu besitzen, wurde vom Comiczeichner und Illustrator Nicolas Mahler zum Ausgangspunkt für ein Grillparzer-Comic genommen; es ist auf einem Touchscreen, der sich unmittelbar vor dem Zimmer befindet, zu lesen und zu betrachten. Grillparzer sitzt auf einem Hocker vor seinem Schreibpult, wie es der tatsächliche Grill‐ parzer ein paar Meter weiter tatsächlich tat, und schreibt mit vertrocknender „Dinte“ Sätze, die alle wie erfunden klingen, aber allesamt den Tagebüchern des Autors entnommen sind. „Wieder was zu schreiben! Ja! Aber was? “, so lautet die Eingangsfrage des ersten Bildes. Das letzte zeigt das Schreibpult ohne den Schriftsteller, am Boden liegen Blätter herum. Wollte doch Grillparzer „eine Tragödie in GEDANKEN schreiben können“. „Es würde ein Meisterwerk werden! “ und ohne den Körper des Dichters auskommen, der in den strichlierten Umrissen der Zeichnung verschwindet. Daneben befindet sich eine Hörstation, die kommentierende Nacher‐ zählungen von Grillparzer-Texten durch Autor: innen und Literaturwissen‐ schaftler: innen bietet. 4 Der Autor Clemens Setz erzählt die Geschichte des armen Spielmanns auf so anrührende Weise, dass einem das Schicksal der Figur zu Herzen gehen muss. Die Autorin Anna Kim widmet sich dem Schicksalsdrama „Die Ahnfrau“, ein Genre, das wohl nur mehr über den Umweg aktueller Populärkultur, Kim vergleicht es mit den Hollywood-Blockbustern unserer Tage, vermittelbar ist. Die Hörstationen wollen auch Anregungen sein, wie mit alten Texten umgegangen werden könnte, indem sie zum Beispiel ganz einfach nacherzählend kommentiert werden. Wobei sich zeigt, dass das Nacherzählen eine gar nicht einfache und höchst subjektive Kunst ist und dabei Erkenntnisse lebendiger vermitteln kann, als dies ein akademischer Aufsatz in der Regel tut. 22 Bernhard Fetz <?page no="23"?> Konstanze Fliedl weist in ihrem Beitrag zu „Weh dem, der lügt! “ darauf hin, dass Wahrheit und Lüge immer kontextabhängig sind, die Wahrheit manchmal nicht ernst genommen wird, weil sie als Scherz aufgefasst wird, was die Hauptfigur, der den anderen sprachlich überlegene Leon ausnützt. Wahre Sachverhalte lassen sich in der verbalen Kommunikation so zurechtbiegen, dass sie zwischen Wahrheit und Lüge changieren, was Leon meisterhaft beherrscht. Er lügt, auch wenn er tatsächlich die Wahrheit sagt, stellt Konstanze Fliedl fest. Der moralfeste Wahrheitsfanatiker Bischof Gregor muss schließlich konzedieren, dass der Anspruch die besten Absichten zerstören kann. Aus diesem Diskurs ließe sich jedenfalls ein Gespräch über Wahrheit und Lüge entwickeln, das im Zeitalter von Social Media notwendiger ist denn je. Das Hindernis solcher Versuche, den Klassiker als gegenwärtige Figur zu zeigen, liegt gleichwohl in der Sprache. Für viele ist die versgebundene Theatersprache des 18. und 19. Jahrhunderts schlicht nicht mehr zugänglich, zumal, wenn sie als (Schul-)Lektüre verordnet ist. Welche Kluft zwischen einer historischen und einer gegenwärtigen Inszenierung liegen kann, zeigen zwei Ausschnitte von Grillparzer-Aufführungen, die auf zwei nebeneinander plat‐ zierten Monitoren im Literaturmuseum zu sehen sind: Einmal eine Aufführung von „Ein Bruderzwist in Habsburg“ am Wiener Burgtheater aus dem Jahr 1963 mit der österreichischen Schauspieler-Ikone Attila Hörbiger als zögernder Kaiser Rudolf II , der den Bürgerkrieg nicht verhindern kann. Augenscheinlich ist, wie fremd, antiquiert, kostümiert die ältere Aufführung auf viele heutige Zuseher: innen wirken muss. Dass Attila Hörbiger als NSDAP -Mitglied ge‐ meinsam mit seiner zweiten Frau Paula Wessely in üblen NS -Propagandafilmen mitwirkte, fügt der Aufführungsgeschichte der Grillparzerschen Stücke noch einen Aspekt hinzu; 1955 war das Burgtheater mit „König Ottokars Glück und Ende“ feierlich wiedereröffnet worden, Attila Hörbiger verkörperte den guten Österreicher Rudolf von Habsburg. Welcher Abstand zwischen solchen Weihestunden kultureller Selbstbehauptung nach dem Krieg und jüngeren Inszenierungen liegt, zeigt eine Inszenierung des heutigen Burgtheaterdirektors Martin Kušej von „König Ottokars Glück und Ende“ von 2005, gespielt ebenfalls am Burgtheater. Michael Maertens in der Rolle Rudolf von Habsburgs paniert und brät zwei Wiener Schnitzel, bevor er eine Brandrede an sein Volk hält, in der er Freiheit, Zusammenhalt und eine neue Zeit beschwört. Der Grillparzersche Text ist angereichert um eine zeitgenössische Freiheits-Rhetorik, die mit ihren verbrauchten Schlagworten zwiespältig klingt. Eine Überlegung bei der Konzeption der Ausstellung war es, regelmäßig Kontrapunkte dieser Art zu setzen, um die historischen und ästhetischen Verbindungslinien gleichermaßen sichtbar zu machen wie die Differenzen. 23 Was tun mit dem Klassiker? <?page no="24"?> 5 Der emeritierte Sekundararzt des Wiener Allgemeinen Krankenhauses Dr. Ignaz Hof‐ mann Edler von Hofmannsthal (1807-1886) - ein Großonkel des Dichters Hugo von Hofmannsthal - ersuchte in einem Schreiben aus dem Jahr 1847 um Bewilligung der Einsichtnahme in Akten des kaiserlichen Oberkriegs- und Hoffaktors Samuel Oppenheimer (1635-1703). Zweck der Archivrecherchen war die Abfassung einer Biographie zu Oppenheimer. Dieser arbeitete jahrelang ohne Bezahlung in Wiener Spitälern und stiftete zahlreiche Spitals-Bibliotheken. Oppenheimer war als Geldgeber für Kaiser Leopold I. und den Staat unverzichtbar. Durch riskante Geldtransaktionen zu großem Reichtum gelangt, finanzierte er mit seinem Privatvermögen ab 1683 den Krieg gegen die Türken und später gegen die Franzosen. Sein Wirken rief viele Neider auf den Plan, Betrugsvorwürfe führten zu seiner mehrmaligen Verhaftung. Im Jahre 1700 wurde seine Wohnung in Wien von einer aufgebrachten Menge gestürmt und geplündert. Nach seinem Tod kam es zu einer der gefährlichsten Finanzkrisen Österreichs. In seiner in österreichischem Beamten-Deutsch abgefassten Antwort an die „Hochlöbliche k. k. allgemeine Hofkammer! “ schreibt der Archivdirektor Franz Grillparzer am 9. April 1847: „Unter vielen hundert Aktenstücken, welche mit Oppen‐ heimer geschlossene Lieferungs-Contracte aller Art, Geldanweisungen und Verrech‐ nungen, oder Zollbegünstigungen und andere auf diese Lieferungsgeschäfte Bezug nehmende Verhandlungen betreffen, hat man nur sehr wenige gefunden, die seine Person eigenthümlich angehen, und deren Einsicht und Benützung dem Bittsteller gestattet werden dürfte, da die übrigen als Forderungen weniger kanonisierten Werken und zur Einsicht nicht geeignet erscheinen.“ (Siehe die entsprechenden Objekte im Grillparzer-Kapitel der Dauerausstellung im Literaturmuseum.) Das Kapitel zu Franz Grillparzer bietet über den unmittelbaren Schauwert Material an, das von Lehrer: innen und Vermittler: innen genutzt werden kann: Material zur Praxis der Zensur etwa, deren Opfer Grillparzer selbst war, die er aber, das zeigt ein exemplarischer Fall in der Ausstellung, selbst befürwor‐ tete, wenn es darum ging, einem Leser Einsicht in für das Haus Habsburg auch unangenehme Akten zu gewähren. 5 Grillparzers Haltung zur Zensur war durchaus vielschichtig, wie etwa seinem Aufsatz „Ueber die Aufhebung der Zensur“ von 1844 zu entnehmen ist. Die Idealvorstellung einer die Wahrheit befördernden und die Lüge verhindernden Zensur ist in der Realität nicht durchführbar, weshalb es trotz auch einiger positiver Argumente besser wäre, sie abzuschaffen. Das zitierte Beispiel eines umständlichen Aktenlaufes, mit dem Ziel den freien Archivzugang zumindest zu erschweren, eignet sich als Ausgangspunkt für weiterführende Diskussionen, um den wenig animierenden Begriff der „Didaktisierung“ zu vermeiden. Zum Schluss seien zwei Szenen, zwei Textstellen angeführt, die ausgehend von der Ausstellung dazu beitragen könnten, den toten Klassiker äußerst lebendig erscheinen zu lassen: In seiner posthum veröffentlichten „Selbstbiographie“ beschreibt Grillparzer eine zur Perfektion getriebene Habsburgische Machtpolitik, die sich im genau 24 Bernhard Fetz <?page no="25"?> 6 Vgl. Dusini, Arno (2017). Zensur und Diskretion. Zu Franz Grillparzers Selbstbiographie. In: Dusini, Arno / Kaufmann, Kira / Reinstadler, Felix (Hrsg.) Franz Grillparzer: Selbst‐ biographie. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 223-242, hier 228 f. (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hg. von Bernhard Fetz). 7 Ebd., 232. 8 Ebd., 148 f. abgestuften Gefüge zwischen Beamten, Zensoren und Kaiserhaus, Intellektu‐ ellen und Theaterleuten entrollt. Demütigungen, Literaturfeindlichkeit, Zensur, innere Emigration sind die Stichwörter. Verbote erscheinen, als ob sie gar keine wären. Arno Dusini hat in seinem Nachwort zur Neuausgabe der „Selbstbiogra‐ phie“ auf einen wichtigen Punkt hingewiesen, auf das Modell Goethe, das die Autobiographie des Schriftstellers als Projekt fasst, in dem es um ein Aushandeln von widerstreitenden Interessen und Konflikten geht. Demgegenüber gehe es bei Grillparzer um die Darstellung der Ohnmacht, um „Vernichtung“ und Verhinderung; also um eine grundlegende Störung des öffentlichen Raumes. 6 Grillparzer schildert die Geschichte der Verhinderung seines Stücks „König Ottokars Glück und Ende“, das nach der Einreichung bei der Zensurbehörde für zwei Jahre einfach verschwand, als kakanisches Schauspiel. „Die Darstellung der Komplizenschaft von Tyrannei und Intimität, die Grillparzer mit dieser Erinnerung an Friedrich von Gentz vorlegt, ist einzigartig“, schreibt Arno Dusini über diese Szene. 7 Grillparzer macht sich auf zu Hofrat Gentz, bei dem das Manuskript des Stückes vermutet wird, der Abschnitt aus der „Selbstbiographie“ sei kurz zitiert: Noch erinnere ich mich des widerlichen Eindrucks, den die Wohnung des Mannes auf mich machte. Der Fußboden des Wart=Salons war mit gefütterten Teppichen belegt, so daß man bei jedem Schritte wie in einen Sumpf einsank und eine Art Seekrankheit bekam. Auf allen Tischen und Kommoden standen Glasglocken mit ein‐ gemachten Früchten zum augenblicklichen Naschen für den sybaritischen Hausherrn, im Schlafzimmer endlich lag er selbst auf einem schneeweißen Bette im grauseidenen Schlafrocke. Rings herum Invenzionen und Bequemlichkeiten. Da waren bewegliche Arme, die Dinte und Feder beim Bedarf näher brachten, ein Schreibpult das sich von selbst hin und her schob, ich glaube daß selbst der Nachttopf allenfalls durch den Druck einer Feder sich zum Gebrauch darreichte. Gentz empfieng mich kalt aber höflich. Er hatte mein Stück allerdings empfangen und gelesen aber bereits wieder abgegeben. Ich gieng. Neuer Kreislauf, neue Ungewißheit, zuletzt Verschwinden aller weitern Spur. 8 Die Pointe dieser Szene ist, dass ein Grillparzer freundlich gesinnter anderer Hofrat den Autor bei einer späteren, zufälligen Begegnung aufklärt. Er selbst sei 25 Was tun mit dem Klassiker? <?page no="26"?> 9 Ebd., 156. es gewesen, so der freundliche Herr, der das Stück die ganze Zeit zurückgehalten habe. Gefährliches habe er zwar nicht gefunden, „aber ich dachte mir: man kann doch nicht wissen-! “ 9 Die zweite Textstelle stammt aus den Tagbüchern und ist in der Ausstellung auf einer der Original-Archivleitern inszeniert. Zwar ereignete sich der von Grillparzer geschilderte Fall von der Leiter noch im Vorgängerbau, aber er hätte ebenso gut beim Hantieren mit den Akten im Neubau von 1848 stattfinden können. An diesem Zitat kann gezeigt werden, und dies ist bei Führungen erprobt, in welchem Verhältnis die Wirklichkeit, der tatsächliche Fall, zu seiner literarisierten Beschreibung steht, in welchem Verhältnis auch die Realzeit des freien Falls zur Lesezeit steht: Gestern Mittags, wo ich allein im Archiv war, und ein Dokument aus einem Faszikel in der obersten Reihe der Akten fast am Plafond herausnehmen wollte, fiel ich, von der Schwere des beinahe fünfzig Pfund schweren, über meinem Kopf stehenden Faszikels aus dem Gleichgewichte gebracht, von der obersten Sprosse der Leiter und stürzte die ganze Höhe des Archivsaales, also doch mindestens fünf Klafter hoch herunter, ohne mich, was einem Wunder gleicht, außer einigen Hautabschiebungen und Quetschungen, sonst irgend bedeutend zu beschädigen. Beim Falle und während desselben stellte ich die ruhigsten Betrachtungen an. Ich ließ den Aktenbündel los und dachte oder sagte vielmehr schon im Falle zu mir selbst: Nun, das kann gut werden! Darauf erinnerte ich mich der Höhe, die ich hinangestiegen, und die ich daher auch wieder herabfallen mußte. Währenddes fiel ich immer. Endlich nahm ich mir vor, mich ja doch so zu halten, daß ich auf die Füße zu stehen käme. Ich machte daher während des Herabsturzes, ohne daß ich begreife, wie es möglich ist, die Bewegung eines der springt und kam in dieser Stellung auch wirklich mit einer heftigen Erschütterung zusammengekauert auf die Fußballen zu stehen. Ich konnte verloren sein, und faßte auch nicht, wodurch mir’s erspart wurde! Tagebucheintrag vom 7. April 1832 Zitate wie dieses sind optisch deutlich hervorgehoben; sie werden im Museum zu „Objekten“, die im Grillparzer-Kapitel mit dem sie umgebenden Raum in Beziehung stehen. (Das Bekenntnis zum Raum und davon ausgehend zur Inte‐ gration szenografischer und multimedialer Elemente war eine der wichtigsten Prämissen bei der Umsetzung des Museums.) Wenn der Beamte und Dichter sich über die ihm unterstellten Archivare beklagt, wenn er fürchtet, vor lauter Amt seine Begabung zur Poesie und Dramatik zu verlieren, dann wird den 26 Bernhard Fetz <?page no="27"?> 10 Grillparzer, Franz: Ansuchen um Urlaub, 3. Juni 1826. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv / Finanz- und Hofkammerarchiv, Finanzarchiv Präsidi‐ alakten. 11 Grillparzer, Selbstbiographie (= Anm. 6), 177 f. Besucher: innen mit Blick auf die Arbeitsumgebung des Archivdirektors anderes oder mehr deutlich als bei der Buch-Lektüre. Die erwartbaren Objekte, Handschriften und auch Zeichnungen Grillparzers, illustrieren nochmals die Spannung zwischen dem Beamten und dem Dichter. Zu sehen ist etwa das Urlaubsgesuch, das Grillparzer stellt, als er 1826 beab‐ sichtigt, eine Deutschland-Reise zu unternehmen und bei dieser Gelegenheit neben deutschen Geistesgrößen wie Tieck oder Hegel auch Goethe in Weimar zu besuchen. Am 3. Juni 1826 bittet der damalige Hofkonzipist untertänigst um Urlaub: Der Unterzeichnete wagt es zu bitten, den im verfloßenen Herbste zu einer Reise nach Paris erhaltenen 8wochentlichen Urlaub, an dessen Benützung ihn damals die vorgerückte Jahreszeit hinderte, gegenwärtig zu einer Reise nach Dresden, Weimar und Berlin benützen zu dürfen. 10 Der Urlaub wird gewährt und es kommt schließlich zur erhofften und mit Nervosität erwarteten Zusammenkunft mit Goethe: Als es aber zu Tische gieng und der Mann, der mir die Verkörperung der deutschen Poesie, der mir in der Entfernung und dem unermeßlichen Abstande beinahe zu einer mythischen Person geworden war, meine Hand ergriff um mich in’s Speisezimmer zu führen, da kam einmal wieder der Knabe in mir zum Vorschein, und ich brach in Thränen aus. 11 Der Dramatiker Grillparzer ist in der Handschrift der „Libussa“ präsent. Das zwischen 1825 und 1848 entstandene Stück reicht in die „älteste Geschichte Böhmens“ zurück und endet mit der Gründung der Stadt Prag. Mit ihr vollzieht sich der Wandel von einem naturhaften Urzustand friedlichen Zusammenlebens zu einer städtischen Kultur. Libussas große Schlussrede ist eine Vision, die den Gang der Menschheitsgeschichte voraussagt. Am Ende steht die Zweckrationa‐ lität eines männlich dominierten Zeitalters. Auch die Wahl dieses Stückes und dieses großen Monologes aus dem umfangreichen Nachlass Grillparzers möchte dazu anregen, den Klassiker weiter zu denken. Dem emphatischen Anspruch auf lebendige Wahrheit über den Tod hinaus, wie sie der scharfsinnige Publizist und Schriftsteller Ferdinand Kürnberger in einem Nachruf auf Franz Grillparzer vertritt, steht die Auratisierung von Archiv-Ob‐ 27 Was tun mit dem Klassiker? <?page no="28"?> 12 Kürnberger, Ferdinand (1967). Feuilletons. Ausgewählt und eingeleitet von Karl Riha. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 109-113, hier 110. 13 Informationen zum Literaturmuseum und den Sonderausstellungen siehe: https: / / www. onb.ac.at/ museen/ literaturmuseum. Das Begleitbuch zur Dauerausstellung bietet in 101 kurzen Kapiteln eine Auswahl der ausgestellten Objekte und zeigt sie in ganz unter‐ schiedlichen Kontexten: Fetz, Bernhard (2015). Das Literaturmuseum. 101 Objekte und Geschichten. Salzburg und Wien: Jung und Jung. jekten gegenüber; was als Vitrinenschatz konserviert wird, dem scheint der Stachel literarischer Widerständigkeit gezogen. Die literarische Überlieferung verkommt zum Schatzkästchen, was Kürnberger voraussah: „Ein schönes Wort: literarische Schätze, für: Blitz, Donner, Hagel, Teufel und Teufelsschwanz! […] Und das ist die Lebensmaske Grillparzers: ausgesandt als ein flammendes Gewitter, um die Luft Österreichs zu reinigen, zieht er über Österreich hin als ein naßgraues Wölkchen, am Rande mit etwas Abendpurpur umsäumt. Und das Wölkchen geht unter! “ 12 Die „Schätze“ in den Bibliotheken, Archiven und Museen sind zwiespältige Geschenke an die Nachwelt: Sie können Blitz und Donner aussenden, und sie können im milden Sonnenschein zu Museumsstücken einer Repräsenta‐ tions-Kultur werden. Im Klassiker Grillparzer steckt der Zweifler, der selbst‐ ironische Biograph seiner selbst, der mit Sprachwitz ausgestattete Analytiker von Machtverhältnissen. Seine Gegenwärtigkeit steckt in den Texten; es ist nicht leicht, dies zu vermitteln. Gäbe es ein Motto, das der Ausstellung im Literaturmuseums vorangestellt werden könnte, dann würde es ungefähr wie folgt lauten: Die Lust an der Literatur soll sich ihre eigenen Wege suchen. Diese Wege führen alle vom Schauen und Hören zum Lesen und Nachdenken - und wieder zurück. 13 Literatur Dusini, Arno (2017). Zensur und Diskretion. Zu Franz Grillparzers Selbstbiographie. In: Dusini, Arno / Kaufmann, Kira / Reinstadler, Felix (Hrsg.) Franz Grillparzer: Selbstbio‐ graphie. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 223-242 (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. von Bernhard Fetz). Fetz, Bernhard (2021). Der Dichter mit der Kettensäge. Thomas Bernhards zerfetzte Arbeitshose. In: Kaukoreit, Volker / Gausterer, Tanja / Inguglia-Höfle, Arnhilt / Atze, Marcel (Hrsg.) Pässe, Reisekoffer und andere „Asservate“. Archivalische Erinnerungen ans Leben. Wien: Praesens Verlag, 242-246. (= Sichtungen. Archiv. Bibliothek. Litera‐ turwissenschaft. 18./ 19. Jahrgang). 28 Bernhard Fetz <?page no="29"?> Fetz, Bernhard (2015). Das Literaturmuseum. 101 Objekte und Geschichten. Salzburg und Wien: Jung und Jung. Grillparzer Franz (2017). Selbstbiographie. Hg. von Dusini, Arno / Kaufmann, Kira / Reins‐ tadler, Felix. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 223-242 (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. von Bernhard Fetz). Grillparzer, Franz: Ansuchen um Urlaub, 3. Juni 1826. Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv / Finanz- und Hofkammerarchiv, Finanzarchiv Präsi‐ dialakten. Kürnberger, Ferdinand (1967). Feuilletons. Ausgewählt und eingeleitet von Karl Riha. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 109-113. Strigl, Daniela (2016). „Und die Größe ist gefährlich“. Über den schwierigen Umgang mit einem Klassiker. In: Fetz, Bernhard / Hansel, Michael / Schweiger, Hannes (Hrsg.) Franz Grillparzer. Ein Klassiker für die Gegenwart. Wien: Zsolnay Verlag, 9-23. 29 Was tun mit dem Klassiker? <?page no="31"?> „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ - Geschichte als Groteske in Büchners Dantons Tod und Grillparzers Bruderzwist in Habsburg Birthe Hoffmann Ausgehend von einer Aufdeckung überraschender Affinitäten zwischen Büchners Dantons Tod und der ebenfalls deutlich postidealistischen Ge‐ schichtsdramatik Grillparzers, wird in Ein Bruderzwist in Habsburg Grillpar‐ zers Reflexion geschichtlicher Prozesse nach der Französischen Revolution angesichts des gespaltenen, unkoordinierten Charakters des metaphysisch heimatlosen Subjekts herausgearbeitet. In Grillparzers nüchterner Analyse der Dialektik von Ordnung und Chaos wird die Autonomie der Dramenfi‐ guren aufgelöst zugunsten einer polyphonen, transpersonalen Reflexion von Fragen der Identität, Recht, Wahrheit, Erkenntnis und persönlicher Verant‐ wortung angesichts einer allumfassenden Krise. Die widersprüchliche und offene Dramenstruktur erlaubt dem Zuschauer somit keinerlei Fixpunkte, und statt als tragisches Sinnangebot des individuellen Opfers an eine ideale Ordnung, erscheint der geopferte und vom Vater verneinte Menschensohn Don Cäsar lediglich als Stellvertreter künftigen Massentötens im Namen der Ordnung - ein Scheitern der Humanität, das nur noch mit einer grotesken Mischung aus Grauen und Lachen in die Zukunft blicken lässt. Die Französische Revolution ist das Paradigma der Dialektik der Aufklärung, der Idee der Machbarkeit von Geschichte im Namen der Emanzipation, die sich vom Menschen als handelndes Subjekt verselbständigt und in totalitären Terror um‐ schlägt. Sie markiert eine Schwelle in einem Modernisierungsprozess, der alle Aspekte des individuellen und gesellschaftlichen Lebens umfasst, und löst somit nicht nur eine Krise monarchischer und republikanischer Gesellschaftskonzepte aus, sondern fügt sich zu den Erschütterungen erkenntnistheoretischer und metaphysischer Art, bei denen „Immanuel Kant, der große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf “, <?page no="32"?> 1 Heine, Heinrich (1979). Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann und Campe 8 / I, 82. 2 Vgl. Schneider Helmut J. (2011). Genealogie und Menschheitsfamilie. Dramaturgie der Humanität von Lessing bis Büchner. Berlin: Berlin University Press. 3 Schneider: Helmut J. (2006). Tragödie und Guillotine. ‚Dantons Tod‘: Büchners Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper. In: Dörr, Volker V. / Schneider, Helmut J. (Hrsg.) Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Biele‐ feld: Aisthesis, 127-156, hier 127. Auch in Schneider 2011, Seite 376-408 abgedruckt. wie Heinrich Heine 1834 bemerkte. 1 Diese Krise koinzidiert außerdem mit dem dialektischen Umschlag der Anthropologie der Aufklärung, die nun der ‚dunklen‘ Seite des Menschen zunehmend Platz einräumen muss. Indem aber Autonomie, Freiheit und Selbsterkenntnis des Individuums in Frage gestellt wird, wird auch das handlungsmächtige, mit sich selbst identische Subjekt als Voraussetzung des klassischen Tragödienkonzepts, wie es seit Lessing in Deutschland entwickelt worden war, zunehmend fragwürdig. Die ästhetischen Konsequenzen dieser Krise wurde in den Geschichtstragödien Goethes und Schillers, deren idealistische Sinnangebote dem bürgerlichen Publikum des 19. Jahrhunderts die zunehmende Erfahrung von Kontingenz überbrücken halfen, erst ansatzweise gezogen. 2 Dieser Beitrag soll zeigen, dass Grillparzer - wie sein Zeitgenosse Büchner - im Hinblick auf Personengestal‐ tung, Sprache und Dramaturgie eine deutlich postidealistische Dramenästhetik entwickelt hat. Zwischen dem revolutionären Büchner und dem konservativen Grillparzer können überraschende Affinitäten beobachtet werden in Bezug auf die dramaturgische Umsetzung ihrer Reflexionen über die Dialektik von Chaos und Ordnung, Freiheit und Ohnmacht des Individuums in politischen Krisen, in denen auch Begriffe wie Recht, Wahrheit, Ethik und individuelle Verantwortung zum Problem werden. Wie Helmut J. Schneider dargelegt hat, hat Büchner in Dantons Tod (1835) - in direkter Anspielung auf Goethes Egmont - den ästhetischen Bruch mit der klassischen Tragödie der Goethezeit vollzogen, die „den tragischen Tod als Opfer an eine ideale Ordnung in geschichtsphilosophischer Perspektive (Familie, Menschheit, Gesellschaft, Nation)“ 3 verstand. Dass der König in der modernen, demokratischen Tötungsmaschine seinen Kopf verliert, ist auch ideengeschichtlich ein Schnitt, der nicht mehr rückgängig zu machen ist: Der König des Ancien Régime hatte dem Staat eine lebendige und überdauernde Gestalt gegeben; weit mehr als bloß eine politische Herrschaftsform nach Art der ihr folgenden, repräsentierte das Königtum - selbst in seiner durch das aufgeklärte Jahrhundert geschmälerten Geltung - eine kosmische Ordnung, in der der Mensch 32 Birthe Hoffmann <?page no="33"?> 4 Ebd., S. 132. 5 Ebd. 6 Die folgende Interpretation des Stückes baut teilweise auf die ausführliche Interpre‐ tation in Hoffmann, Birthe (1999). Opfer der Humanität. Zur Anthropologie Franz Grillparzers, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag, 139-200. 7 Vgl. die ausführliche Diskussion der Bruderzwist-Forschung bis 1997 in Hoffmann (1999: 139-144). sich wiedererkennen und aufgehoben fühlen konnte. Dieser mythischen Ordnung stellte die Republik in einem gewalttätigen Schnitt die rationale Herrschaft des Gesetzes und der anonymen Institution entgegen. Sie setzte den Einzelnen in die Freiheit zur autonomen Selbstentfaltung - die politische Bedingung für das ‚moderne Individuum‘ - doch entzog sie ihm andererseits die Repräsentanz in einem übergeord‐ neten gesellschaftlichen Gefüge. Umgekehrt verlor das staatlich-politische Handeln seine konkrete - personale Gestalt. 4 Büchner habe „dem Königsmord der Revolution den Todesstoß gegen die klas‐ sische Dramaturgie hinzugefügt“, […] jenen „Darstellungsmodus historischen Geschehens, das in handlungsmächtigen und repräsentativen Individuen ver‐ körpert und für die Zuschauer zum Leben gebracht wird.“ 5 Im Folgenden sollen zunächst die wichtigsten Konsequenzen dieses Schnitts für die Dramenstruktur und Personengestaltung in Dantons Tod dargelegt werden, um anschließend die ungleichzeitige Modernität von Ein Bruderzwist in Habsburg deutlicher herausstellen zu können. 6 Somit soll gezeigt werden, wie das um 1848 vollendete, 1872 posthum uraufgeführte Stück Grillparzers aus rezeptionsästhetischer Sicht Herausforderungen darstellt, die die Rezeption des Stückes bis ins späte 20. Jahr‐ hundert erschwert haben 7 und es an manchen Stellen in die Nähe des absurden Theaters nach 1945 rücken. Der Status als Klassiker, der Büchners Dantons Tod erst im 20. Jahrhundert zuteilwurde, sollte im Falle Grillparzers entsprechend revidiert werden: Nicht im Sinne des identitätsstiftenden Klassikerkults des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, der in unterschiedlichen politischen Konstellationen und geschichtlichen Kontexten immer wieder zur Stabilisie‐ rung nationaler Identität(en) eingesetzt wurde, sondern als Klassiker gemessen an der Fähigkeit des Werks, dank seiner Komplexität und Gestaltungskraft immer wieder neue Perspektiven für die Gegenwart zu eröffnen. Dantons Tod als Metatheater der Geschichte Wie Grillparzers Bruderzwist schildert Dantons Tod einen politischen Ausnah‐ mezustand, in dem es „im strengen Sinne des Wortes keinen Souverän“ gibt, 33 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="34"?> 8 Müller, Harro (2015). Dantons Tod: Eine Relektüre. In: Fortmann, Patrick B. / Helfer, Martha B. (Hrsg.). Commitment and Compassion, Essays on Georg Büchner (=Amster‐ damer Beiträge zur neueren Germanistik 81), Amsterdam: Rodopi, 47-63, hier 55. 9 Wie Eva Geulen in Anlehnung an Marc Shell bemerkt hat, kann sich auch der christliche Universalismus, nach dem alle Menschen Brüder sind, in sein Gegenteil umkehren: „Da dieser Universalismus aber keine anderen, vermittelnden Unterscheidungen zulässt zwischen Brüdern und solchen Anderen, die zwar Menschen, aber nicht Brüder sind, springt der intendierte Universalismus stets in einen Partikularismus um: Alle Menschen sind Brüder heißt dann, nur meine Brüder sind Menschen. Etwas drastischer formuliert: Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein.“ Geulen, Eva (2006). Das Geheimnis der Mischung: Grillparzers ‚Jüdin von Toledo‘. In: Dörr, Volker V. / Schneider, Helmut J. (Hrsg.). Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Bielefeld: Aisthesis, 157-173, hier 167. wie es Harro Müller in einer neueren Studie formuliert. 8 Das Drama behandelt einen Höhepunkt des jakobinischen Terrors und der Säuberungen unter den Revolutionären, zwischen der Hinrichtung des radikalen Atheisten Héberts am 24. März 1794 und der Hinrichtung Dantons am 5. April. Während der hungernde Volkskörper weiterhin nur mit Köpfen gesättigt werden kann, entzündet sich ein neuer Konflikt unter den Revolutionären um die Frage, wie sich die Revolution zur Republik weiterentwickeln soll. Der Wunsch der Dantonisten, durch Begnadigungen und eine Verfassung eine rechtsstaat‐ liche Ordnung zum Schutz des Individuums zu etablieren, kollidiert mit den Anhängern des Terrorregimes Robespierres, das keinen Pluralismus verträgt. Denn die Zivilreligion der Jakobiner sakralisiert die soziale Vernunft, die im abstrakten Sinne alle gleichmacht - wer sich aber von ihrem Allgemeinwillen verselbständigt, wird zum Vertreter des Bösen, das vernichtet werden muss. „In einer Republik sind nur Republikaner Bürger; Royalisten und Fremde sind Feinde“, wie es in einer der vielen rhetorischen Phrasen Robespierres heißt; im „Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei“ sind Begriffe dehnbar und können je nach Zweck in neuen Bedeutungen eingesetzt werden - Gleichheit bedeutet nun Gleichschaltung, Brüderlichkeit gilt nur solange sie nicht durch die Freund / Feind-Dichotomie aufgehoben wird. 9 Mit der rationalen Logik des Entweder/ Oder, die auch die der Guillotine ist, stilisiert Robespierre nun die Revolution als einen Kampf der „Tugend“ gegen das „Laster“, um die Dantonisten zu treffen, deren hedonistische Lebensweise er als aristokratischen Verrat am hungernden Volk und den Tugenden der Republik darstellt. Büchner macht aber in diesem Stück die pragmatische Funktion der Sprache als Machtmittel in einer Weise sichtbar, die sie allmählich von den dargestellten Figuren löst und die aufgestellten Dichotomien dekonstruiert. Dies geschieht zunächst durch Danton, der schon von Anfang an die Situation wie ein bereits Gestorbener betrachtet und von Erinnerungen und Reflexionen 34 Birthe Hoffmann <?page no="35"?> 10 Büchner, Georg (1988). Dantons Tod. In: Werke und Briefe, München: dtv, 90. 11 Vgl. die Forschungsübersicht in Fortmann, Patrick (2013). Autopsie von Revolution und Restauration. Georg Büchner und die politische Imagination (= Rombach Wissen‐ schaften - Reihe Litterae 47). Freiburg i.Br. / Berlin / Wien: Rombach, 166. 12 Büchner (1988: 69). 13 Ebd. über das Dilemma politischen Handelns geplagt ist. Auf jede Aufforderung zum Handeln reagiert er mit einem Sprung zu einem anderen Reflexionsniveau, das die Handlungsebene entfremdet. Als Camille am Anfang des 2. Aktes an Danton mit „Rasch, Danton, wir haben keine Zeit zu verlieren! “ appelliert, antwortet er, indem er sich ankleidet: Aber die Zeit verliert uns. Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann morgens wieder herauszukriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und dass Millionen schon so gemacht haben, und dass Millionen es wieder so machen werden, und dass wir obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so dass alles doppelt geschieht - das ist sehr traurig. 10 Wie aus dieser und vielen ähnlichen Aussagen Dantons zu verstehen ist, hat für ihn jedes Handeln seinen Sinn verloren, nicht nur angesichts des endlosen willkürlichen Tötens und der Gewissheit, dass er bald sterben wird, sondern auch aus einer Metaperspektive, der jede Handlung als eine Wiederholung bestimmter Handlungsmuster erscheint. Die Spaltung, die Danton auf dieser Reflexionsebene erfährt, entspricht der im Drama allgegenwärtigen und in der Forschung immer wieder beobachteten Theatermetaphorik 11 , die die Autonomie des Individuums in Frage stellt, in der Politik wie im privaten Bereich. Ein Aspekt dieser Spaltungsthematik ist das Problem der Undurchschaubarkeit des Menschen - weder kennt er sich selbst bzw. ist er mit sich selbst identisch, noch kann er mit Sicherheit das Gesicht des Mitmenschen von seiner Maske unterscheiden. Schon in der ersten Szene des Dramas wird dies zum Thema: Eine Dame am Spieltisch beobachtend, die „ihrem Mann immer das cœur und anderen Leuten das carreau“ 12 hinhält, spricht Danton zu seiner Frau Julie über die Einsamkeit, die aus dieser Undurchschaubarkeit des Anderen resultiert: „Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ 13 Als eine von vielen Parallelszenen, in denen mehrere Gesprächsfäden und Stillagen gleichzeitig nebeneinander ablaufen oder in knapper Folge einander abwechseln - hier existenzieller Ernst und Frivolität des Spiels, unterbrochen von der politischen Rhetorik der Dantonisten und die verfremdende Antwort 35 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="36"?> 14 Ebd., 86. 15 Auch Robespierre erfährt die innere Spaltung: „Ich weiß nicht, was in mir das andere belügt“. (Ebd., 87) Dantons - zeigt schon die erste Szene auch dramaturgisch die Verwandtschaft mit Grillparzer, der ebenfalls durch die Gleichzeitigkeit von kontrastierenden Abläufen im Vordergrund und Hintergrund und das Nebeneinander äußerst heterogener oder einander widersprechender Handlungen eine extrem offene Textstruktur erzeugt, deren Sinnperspektiven in hohem Masse vom Rezipienten selbst formuliert werden müssen. Aufgrund der unidealistischen Anthropologie des unkoordinierten Menschen bei Büchner und Grillparzer kann die angebo‐ tene Sinnperspektive, wenn sie möglichst viele Textperspektiven integrieren soll, nur eine widersprüchliche, ambivalente sein und muss die Selbstdarstellung der Figuren transzendieren. In Dantons Tod bestimmt die dramatische, kausal-finale Handlungsdynamik von Spiel und Gegenspiel in relativ geringem Grad die Struktur des Dramas, vielmehr scheint sie durch eine additive Struktur von Tableaus ersetzt zu sein, in der jede Szene eine Variation und Vertiefung der Reflexion über die gleiche Grundsituation darstellt. Auf dieser Ebene geht es vor allem um innere Konflikte, die über die persönlichen Kontroversen und Schicksale hinausgehen: Sie betreffen die Möglichkeiten und das Dilemma geschichtlichen Handelns, die individuelle Verantwortung in der Dynamik geschichtlicher Prozesse, die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge und den Sinn menschlichen Leidens. Durch die Abfolge von Szenen werden eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen Danton und Robespierre sichtbar, die ihre Gegnerschaft überlagert. Diese De‐ konstruktion, die auf der Ebene des impliziten Lesers durch diesen Parallelismus im Gegensatz erfolgt, wird schon in der privaten Begegnung von Danton und Robespierre im 1. Akt explizit von Danton eingeleitet, als er Robespierres Unterscheidung von Tugend und Laster in Frage stellt: Es gibt nur Epicuräer, und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß, d. h. er tut, was ihm wohltut. 14 Während Danton im Laufe dieses Gesprächs von der Unerschütterlichkeit Robespierres und der Irreversibilität des tödlichen Konflikts überzeugt wird, zeigt das Drama die Verwandtschaft mit Danton, sobald Robespierre allein ist: Beide sind sie einsam, von ihrem Gewissen geplagt 15 , d. h. von Handlungen, die ihnen das Muss der Revolution aufgezwungen hat, und beide verbinden sie die Revolution mit der unerfüllbaren Sehnsucht des Menschen nach Erlösung. 36 Birthe Hoffmann <?page no="37"?> 16 Ebd., 90. 17 Ebd., 91. 18 Ebd. 19 Ebd., 100. 20 Ebd., 99. Allein bekennt Robespierre sich in I, 6. zum Bild eines verkehrten Messias, mit dem ihn Camille Desmoulins denunziert hat: Jawohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. […] Er hatte die Wollust des Schmerzes, und ich habe die Qual des Henkers. […] Wahrlich, der Menschensohn wird in uns allen gekreuzigt, wir ringen alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es erlöst keiner den andern mit seinen Wunden.“ 16 Eine ähnliche Einsicht drückt Danton in der folgenden Szene aus, als er beklagt: „[…] es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür - aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen? Geht, wir sind elende Alchymisten. 17 Die Sekundierung solcher Formulierungen durch den Freund Camille - „ein starkes Echo“ 18 - trägt ebenfalls zum transpersonalen Charakter der Sprache in diesem Stück bei. Die Figuren - zumindest die nuancierten unter ihnen - sind somit keine Repräsentanten bestimmter ideologischer Positionen, sondern können durch die Sprache, der sie sich oft als Zitat oder Maske bedienen, in diese Positionen hinein- und herausgehen, um im nächsten Augenblick wie mit einer Stimme an einer gemeinsamen Reflexion teilzunehmen. Der Prozess der Geschichte als Welttheater wird aber vor allem von Danton reflektiert, der in der Vorstellung von den Akteuren der Revolution als „Puppen […], von unbekannten Gewalten am Draht gezogen“ 19 vor seinem geplagten Gewissen zu fliehen versucht. Unter den Rollen, die es auf der Bühne der Geschichte gibt, ist aus seiner Sicht die des Opfers vorzuziehen: „Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muss ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt.“ 20 Die Reflexionen Dantons und Robespierres über die Frage individueller Verantwortung, die sie trotz der Spaltung in Rolle und Spieler nicht loswerden, befinden sich in der Mitte zwischen zwei Extremen im Drama: Auf der einen Seite steht die Rhetorik St. Justs in seiner großen Rede vor dem Nationalkonvent in II , 7, die die Bewegungen des „Weltgeistes“ aus der abstrakten Höhe der Ideen als eine Naturkraft stilisiert, in dessen Strom Millionen von Menschen untergehen müssen auf dem langsamen Weg zum Fortschritt der Menschheit. In der kalten Logik der - im Gegensatz zu Danton und Robespierre - ganz flachen Figur St. Justs, die wie eine unheimliche Verkörperung hegelscher 37 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="38"?> 21 Ebd. 132 22 Schneider (2006: 152). 23 Ebd. 24 Nach Schneider (2011) sind allerdings schon bei Lessing, verstärkt jedoch bei Heinrich von Kleist, Ansätze zu „reflexiv gebrochenen Re-Inszenierungen“ tradierter Tragödi‐ enmuster zu beobachten, vgl. S. 30 f. Dialektik wirkt, wird das Individuum austauschbar und verdinglicht als eines von unzähligen Leibern, die als Mittel zum Zweck geopfert werden müssen. Am anderen Ende des Spektrums möglicher Antworten auf dieses Problem stehen die Frauen Dantons und Camilles, Julie und Lucile, die sich angesichts der Hinrichtung ihrer Männer freiwillig aufopfern. Lucile, halb wahnsinnig, formuliert dabei den absoluten Gegensatz zur Rechtfertigung der Opfer der Geschichte durch St. Just: Sterben - Sterben -! Es darf ja alles leben, alles, die kleine Mücke da, der Vogel. Warum denn er nicht? Der Strom des Lebens müsste stocken, wenn nur der eine Tropfen verschüttet würde. Die Erde müsste eine Wunde bekommen von dem Streich. 21 Wie Schneider gezeigt hat, ist die Selbstaufopferung Luciles durch den Ausruf „Es lebe der König“ am Ende des Stücks ein intertextueller Kommentar zu Goethes Egmont und somit ein Gegenstück zur Selbsttötung Klärchens, denn: […] wie Egmont verkörpert auch Klärchen selbst das Volk - wenn nicht das reale und gegenwärtige, so das ideale und zukünftige. Daher können die Liebenden im Tod triumphieren, einem Tod, den Klärchen als Opfer für den Geliebten und Egmont zuletzt als Opfer für die Freiheit begreift. 22 Die Selbstaufopferungen der Frauen in Dantons Tod stellen als die einzigen auto‐ nomen Handlungen im Drama den Gegensatz zur Darstellung des Menschen als Marionette dar, unterstützen aber mit ihrem im idealistischen Sinne sinnlosen Tod den „Einspruch gegen die Idealisierung des Todes in der klassischen Geschichtstragödie und deren der einzelnen - stets körperlichen - Existenz übergestülpten Bedeutungskonstruktion“. 23 Auch in Büchners Umfunktionalisierung der barocken Metapher des Welt‐ theaters wird die Abkehr von der Geschichtstragödie der Goethezeit deutlich. Wenn das Leben und die Geschichte als Theater dargestellt wird und Geschichts‐ dramatik sich dadurch zum Metatheater entwickelt, gelingt jene Verschmelzung von fiktivem Charakter und Idee nicht mehr, auf die die idealistische Tragödie abzielt, da der ‚Charakter‘ schon mehrfach in sich gespalten ist in Rolle und undurchschaubares, nicht-identisches Selbst. 24 Der emphatische Opfertod der Tragödie ist durch das nicht enden wollende Sterben ersetzt, dem kein Sinn 38 Birthe Hoffmann <?page no="39"?> 25 Vgl. Müller (2015: 50). 26 Büchner (1988: 129). 27 Ebd., 130. 28 Ebd., 110. 29 Zum Verhältnis von Tragödie und Komödie in der Dramenästhetik Büchners und zum Verhältnis des Erhabenen zum Lächerlichen bei Heine, Büchner und Marx, Karl, vgl. Fortmann (2013: 127 ff.). 30 Ebd., 95. mehr verliehen werden kann. Robespierre und Danton werden ihr Schicksal teilen - vor der Guillotine sind alle gleich -, denn während Danton auf seine Hinrichtung wartet, sind schon neue Kräfte am Werk, die Robespierre aus dem Weg räumen wollen, und hinter ihnen lauert im Horizont der (für den Zuschauer historischen) Zukunft das Massenschlachten Napoleons 25 . Wie noch zu zeigen ist, wird im Bruderzwist in Habsburg parallel dazu ebenfalls Spiel und Gegenspiel von zwei Gegnern durch eine Vielzahl von Kontrahenten ersetzt - in beiden Fällen übernimmt eine neue Gruppierung die Macht der Zukunft und das Chaos wird durch Menschenopfer nicht gebannt, sondern beschleunigt. In Dantons Tod wird St. Justs zynische Darstellung vom Sinn der Menschen‐ opfer in der großen Skala des modernen Massentötens ab dem 3. Akt von den Stimmen der Sterbenden übertönt, die in der Conciergerie mit metaphysischen Fragen und der nackten Todesangst ringen. Als sie kurz vor ihrer Hinrichtung ( IV , 5) ihr Klagelied und ihre unbeantworteten Fragen nach dem Sinn des Leidens wie der Chor in der antiken Tragödie erheben, erhebt sich nicht eine mit ihrem Tode siegende Idee, sondern allenfalls das Problem des Nihilismus. Dantons Tod lässt die christliche und idealistische Verbrämung der Tragödie hinter sich zurück, um im Rückgriff auf die Anfänge in der Antike eine Tragödie der Moderne zu schaffen. In einer Welt, die „das Chaos“ 26 ist, mischt sich das Tragische mit dem Lachen zu einer grotesken Fratze. Wie sich die Dantonisten angesichts des Todes das Lachen der antiken Götter über das Leiden der Menschen vorstellen, hat das Lachen in diesem Stück von Anfang an das Thema des sinnlosen Leidens begleitet. Für Danton - ein Halbgott der Revolution am „ausglühenden Olymp“ 27 , dessen „Wohnung bald im Nichts“ und dessen „Name im Pantheon der Geschichte“ 28 ist - hat alles einen tragikomischen Zug bekommen 29 : Ich begreife nicht, warum die Leute nicht auf der Gasse stehenbleiben und einander ins Gesicht lachen. Ich meine, sie müssten zu den Fenstern und zu den Gräbern heraus lachen, und der Himmel müsse bersten, und die Erde müsse sich wälzen vor Lachen. 30 39 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="40"?> 31 So wird bei der Erwähnung des Lukretia-Stoffes in I, 2. (S. 73) an Lessings Emilia Galotti erinnert, und in II, 6. mit „Der Freiheit eine Gasse“ (S. 100) Schillers Wilhelm Tell parodierend zitiert. 32 Vgl. II, 2., S. 72 f. 33 Für eine ausführliche Argumentation, vgl. Hoffmann, Birthe (2002). König Ottokar und kein Ende. Zur Anthropologie Franz Grillparzers. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesell‐ schaft, 3. Folge, Bd. 20, 188-220. 34 Vgl. Das Gedicht Napoleon: „Denn, seit du fort, fließt nun nicht mehr das Blut, / In dem vor dir schon alle Felder rannen? […] / Ward Tyrannei entfernt mit dem Tyrannen? / Ist auf der freien Erde, seit du fort, / Nun wieder frei Gedanke, Meinung, Wort? “, Komische Elemente liefert auch der Theatersouffleur Simon, der durch Zitate das Pathos des idealistischen Dramas 31 und der jakobinischen ‚Römer‘ par‐ odiert. 32 Das Lachen kann bekanntlich als Ventil des Unbehagens funktionieren, wenn Grenzen des Angemessenen oder Fassbaren überschritten werden. Durch die Vermischung mit Elementen der Komödie wird das Tragische somit nicht gemildert, sondern verfremdend zum Absurden oder Grotesken gesteigert - ein Effekt, der in Grillparzers Ein Bruderzwist in Habsburg noch deutlicher wird. Die Dialektik von Ordnung und Chaos in Ein Bruderzwist in Habsburg Schon mit König Ottokars Glück und Ende hatte Grillparzer einen Stoff aus der Geschichte der Habsburger bearbeitet, um die Folgen der Französischen Revolution und Fragen der Legitimität der Macht zu reflektieren. Durch die offensichtlichen Ähnlichkeiten des böhmischen König Ottokars mit Napoleon und die zwiespältigen, teilweise anachronistischen Züge Rudolf von Habsburgs vermochte Grillparzer den scheinbar patriotischen Stoff der Gründung der Hausmacht der Habsburger für eine höchst zweideutige Deutungsperspektive transparent zu machen. Denn aus dem Untergang Napoleons ging das ‚System Metternich‘ hervor, und durch den allmählichen Rollenwechsel und Paralle‐ lismus im Gegensatz zwischen Ottokar und Rudolf wird sichtbar, dass der am Anfang wie eine Heiligenfigur sich christlich-demütig gebärdende Rudolf allmählich die Rolle des Tyrannen in neuer, tückisch PR -gerechter Aufmachung übernimmt, während Ottokar als Sündenbock getötet wird. 33 So funktioniert das Opfer im Zentrum der Gründungszeremonie nur oberflächlich als Va‐ nitas-Motiv, mit dem Rudolf seine Nachkommen vor der „Versuchung“ (V. 2969) warnt - der tote Menschensohn, der gegen Ende eine humanistische Kritik der Gewalt formuliert, und nun in den Armen seines Kanzlers den Topos der Pietá darstellt, erinnert zugleich an die Gewalt, Ausgrenzung und Menschenopfer, auf die auch diese neue Ordnung baut. 34 So kann auch Rudolfs Verhüllung der Leiche 40 Birthe Hoffmann <?page no="41"?> Grillparzer, Franz (1960-1965). Sämtliche Werke, Hrsg. Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. München: Hanser, I, 145. 35 Rudolf II im Bruderzwist, V. 1221. mit dem Kaisermantel (V. 2957 ff.) als eine Bestätigung dieses Sachverhalts gesehen werden, hinter der pietätvollen Geste der Würdigung. In dem um mehr als 25 Jahre später, nach 1848 fertiggestellten Trauerspiel Ein Bruderzwist in Habsburg ist Grillparzers Blick auf die Dynamik der Geschichte radikalisiert worden. Auch hier wird die ideologische Legitimierung des Herr‐ schaftskonzepts der Habsburger - „nicht ich, nur Gott“ 35 - als paternalistische Maske sichtbar, hinter der das harte Gesicht der Gewalt zum Vorschein kommt. In diesem Stück wird aber besonders deutlich, wie genau jene Seite dieses Herrschaftskonzepts, die von der Kaiserrolle als dessen akzidentieller Aspekt ausgeblendet werden sollte, sich auf verhängnisvolle Weise durchsetzt: das Ich. Die Spaltung zwischen Rolle und Spieler bleibt bei Grillparzer zwar erhalten im Prozess der Geschichte, der sich wie ein wildes Pferd von seinem Reiter nicht zügeln lässt, aber die Dynamik geht eindeutig von dem unkoordinierten Wesen des Menschen aus. Die fehlende Autonomie des Subjekts, das weder eigene Impulse noch das intersubjektive Geschehen zu steuern vermag, befreit es somit keineswegs von der persönlichen Verantwortung. Um dies zu erblicken, muss man sich allerdings von der Rhetorik und dem Selbstbild der Figuren befreien - dies gilt nicht zuletzt für Rudolf II , der bald als Stellvertreter Gottes, bald als „schwacher, unbegabter Mann“ (V. 351) argumentiert, um sich bei seiner Machtausübung zu entlasten. Grillparzer hat Begebenheiten im Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Drei‐ ßigjährigen Krieges zu einer explosiven Mischung verdichtet: Das Drama präsentiert eine Krise in der Geschichte des Habsburgischen Reiches, das von innen durch die Glaubensspaltung bedroht ist und von außen durch den Krieg mit den Türken. Es ist aber auch eine Krise der Herrschaft, wie im 1. Akt demonstriert wird: Rudolf hat sich im Inneren der kaiserlichen Burg in Prag vor der Welt eingesperrt, während Depeschen aus aller Welt sich auf seinem Schreibtisch häufen und Verwandte des Kaisers - sein illegitimer Sohn Don Cäsar, sein Bruder Matthias mit Bischof Klesel und die Neffen Ferdinand und Leopold der Reihe nach mit dringenden Angelegenheiten an sein Ohr und Herz zu gelangen versuchen. So wird offenbar, dass es in der prekären Lage des Reiches de facto keinen Souverän gibt, nicht nur, weil Rudolf sich einbildet, durch absolutes und abstraktes Sein, durch quietistische Weltabgewandtheit und Handlungsabstinenz die zentrifugalen Kräfte des Reiches in Bann halten zu können, sondern auch weil er als Inhaber der Macht eine extreme psychische 41 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="42"?> 36 Vgl. Jakob über die „Gnaden“ des verstorbenen Vaters: „[…] denn seine Meinung war gut, und ich hoffe ihn einst wiederzufinden, wo wir nach unseren Absichten gerichtet werden und nicht nach unseren Werken.“ Grillparzer, Franz (1960-1965). Der arme Spielmann. In: Sämtliche Werke, Hrsg. von Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. München: Hanser, III, 71. Labilität aufweist, die allein schon seine selbst erteilte Rolle als stabilisierende Mitte in Frage stellt. Auch sprachlich bewegt sich Rudolf allein in diesem Akt von einem Extrem zum anderen, von sprachlosen Gesten und einem kindisch-pathologisch an‐ mutenden, affektbetonten Sprachminimalismus zum rhetorisch strukturierten, poetischen Monolog. Was die Sprache des Dramas betrifft, mag Grillparzer, noch den fünffüßigen Jamben der Goethezeit gehorchend, im Ton dem Idealismus nä‐ herstehen als Büchner. Dafür übertrifft er aber Büchner in der psychologischen Komplexität und Widersprüchlichkeit seiner Figurenkonzeption, am eindrucks‐ vollsten in der Figur Rudolfs, ein Verwandter des armen Spielmanns Jakob. Wie für Jakob fällt für Rudolf Theorie und Praxis auseinander, auch er grenzt sich von der Welt ab, um eine Verbindung mit dem Absoluten herzustellen, scheitert dafür aber mit seinen Handlungen auf der horizontalen Ebene der Realität. Weniger liebenswürdig, weil mit kaiserlicher Macht und Härte ausgestattet, die bei der Ausübung umso verheerendere Wirkungen haben kann, darf Rudolf aber bei dem Leser ebenso wenig wie Jakob darauf hoffen, nur nach seinen „Absichten“ beurteilt zu werden, und nicht auch nach seinen „Werken“. 36 Welche Auffassung soll sich denn der Leser oder Zuschauer schon nach dem 1. Akt von Kaiser Rudolf bilden, nachdem er auf unvermittelte Weise abwechselnd als Kunstliebhaber, als Misanthrop, als paranoischer, unberechenbarer, sich wie ein Kind benehmender alter Mann erscheint, als jemand, der in einer imaginären Welt lebt und wenige Augenblicke danach über die politische Lage durchaus im Bilde ist, als Vater von alttestamentlicher Härte und als liebender Onkel, als potentieller Mörder und als Humanist? Lukrezia / Lukretia - zwischen libidinösen und revolutionären Energien Als Zuschauer werden wir vor den Widerspruch gestellt, dass die Figur Rudolfs, die uns die Gesetze willkürlichen Waltens anschaulich vorführt, zugleich jene Instanz ist, die das „Recht“ verbürgen soll. Über eben dieses Recht herrscht von Anfang an Unsicherheit, was zunächst durch die Don-Cäsar-Handlung exponiert wird, mit der das Drama ansetzt. Das Dilemma Don Cäsars besteht aus zwei miteinander verbundenen Problemen: Sein Freund, Feldmarschall 42 Birthe Hoffmann <?page no="43"?> 37 In I, 2 zieht der Theatersouffleur Simon den antiken Stoff im Streit mit seinem Weib über die Prostitution seiner Tochter in spielerisch-theatralischer Weise hervor, was auch auf dem höheren Niveau der metadramatischen Reflexion des Dramas den Bezug zu Lessing (als Kontrast) ermöglicht: „Ha, Lukretia! Ein Messer, gebt mir ein Messer, Römer! Ha, Appius Claudius! “ (S. 73). Wie ein anonymer Bürger vorschlägt, soll das Messer nicht gegen die ‚entehrte‘ Tochter gerichtet werden, sondern gegen die „Leute, die das Fleisch unserer Weiber und Töchter“ kaufen, in casu die Dantonisten, die in den Augen der hungernden Bürger die hedonistische Lebensweise der ermordeten Aristokraten übernommen haben. Rußworm, der den Nebenbuhler Don Cäsars, Belgijoso, im Streit erschlagen hat, ist verhaftet worden, nach der Auffassung Don Cäsars „ohne Fug und Recht“, wogegen sich die Gerichtsperson auf „Recht und Urteil wie’s der Richter sprach“ beruft (V. 4 f.). Lukrezia, die im schwarzen Trauerkleid mit ihrem Vater auftritt, hat in den Augen Don Cäsars die Annäherungen Belgijosos erwidert und wird der Heuchelei bezichtigt. Ohne aber auf diese Anklage einzugehen, wendet sich ihr Vater, der Bürger Prokop, zur Gerichtsperson: „Ist es gestattet Herr, auf offner Straße / Ehrbare Mädchen zu beschimpfen also? “ (V. 54 f.) Man wird aber im Text vergeblich nach einem festen Anhaltspunkt suchen, nach dem entschieden werden könnte, ob Lukrezia ein ehrbares Mädchen oder eine Heuchlerin, ob hier Recht oder Unrecht geschehen ist. Mit dem römischen Lukretia-Stoff, auf den hier - wie in Dantons Tod - ange‐ spielt wird, wird nicht nur das Thema der Heuchelei eröffnet, wie in der ersten Szene bei Büchner, sondern auch das Thema der Revolution und der sozialen Spannungen zwischen Adligen und Bürgern, das in Ein Bruderzwist in Habsburg sich wie ein roter Faden zieht und den Bezug zur Gegenwart Grillparzers herstellt. Die Energie der Auflehnung gegen die willkürliche Machtausübung der Aristokratie, die das Bürgertum in Lessings Emilia Galotti auf zugespitzte Weise im Akt des Selbstmords nach innen kehrt, ist bei Bücher in revolutionäre Energie umgewandelt, die jedoch vor den revolutionären Bürgern selbst keinen Halt macht. 37 Bei Grillparzer wird der Lukretia-Stoff in einer Art Umkehrung thematisiert: War bei Lessing die Integrität der Bürgerstocher Emilia schon von ihr selbst in Frage gestellt, und ihr Selbstmord - durch die Hand ihres Vaters - damit begründet, dass sie sich ihre Verführbarkeit eingesteht und daher für ihre Handlungen nicht mehr verbürgen kann, treibt bei Grillparzer die opake Selbstgerechtigkeit Lukrezias Don Cäsar zur Wahnsinnstat - an Lukrezia und an sich selbst. Als der von seiner Haft entflohene Don Cäsar Lukrezia am Anfang des 4. Aufzugs aufsucht, während ihr Vater in der Stadt zur Wehr der Prager Bürger gegen das von Rudolf genehmigte Passauer Heer ruft, geht es ihm nicht um Verführung, sondern um die 43 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="44"?> […] einzge Leidenschaft der Wunsch: zu wissen. Lasst mich erkennen Euch, nur deshalb kam ich; Zu wissen was Ihr seid, nicht was Ihr scheint. Denn wie’s nur eine Tugend gibt: die Wahrheit, Gibt’s auch ein Laster nur: die Heuchelei. (V. 1914 ff.) Als Lukrezia in das Seitengemach flüchtet, in dem sich das von einer Kerze be‐ schienene Bild Belgijosos befindet, schießt er seine Pistole nicht gegen Lukrezia, sondern „in der Richtung der offenen Türe ab“, gleichsam als könne er damit als letzten Ausweg den erfahrenen Riss überbrücken, der in der Zweiteilung des Raumes symbolisiert ist. Indem er im starken Affekt Lukrezia tötet, wird aber der Riss nur noch verstärkt. Die Spaltung, die er durch die Heuchelei erfährt, ist vom Anfang des Stückes eng mit seiner Beziehung zum Vater verknüpft. In diesem Stück äußert sich die Spaltung nicht nur in den inneren Widersprüchen des Subjekts und in der Unlesbarkeit des Anderen, die in Dantons Tod mit dem Masken-Motiv verbunden war - die Verkennung des Anderen ist hier ebenso sehr den Projektionen des Betrachters geschuldet. Lukrezia und Don Cäsar sehen in einander längst nicht mehr das Individuum, sondern den Repräsentanten des Bösen. Lukrezias Reak‐ tion, als sie Don Cäsar erblickt, „O Gott, so schaut das Unglück! “, beantwortet er mit: „Erschreckt nicht, holde Maid! Ich bin es selbst; / Und bins auch nicht.“ (V. 1882 ff.). Wie das Folgende zeigt, sieht auch er Lukrezia nicht so sehr als eine Frau, die er liebt, sondern als Vertreterin der Einsichten, die ihn bedrücken und die mit seiner Situation als Bastard, der von seinem Vater verleugnet wird, zusammenhängen. Aus seiner Darstellung der Anzeige Belgijosos geht hervor, daß der Verlust der Vaterliebe dem Verlust Lukrezias vorausging: Im wilden Toben war er mein Genoß. Doch ging er hin und zeigt’ es heimlich an Und brachte mich um meines Vaters Liebe. […] Zu gleicher Zeit betrat er euer Haus.“ (V. 1945 ff.) Nachdem sich Don Cäsars Bild von Lukrezias „Reinheit, Unschuld, Tugend“ (V. 1925) in Schein verwandelt hat, versucht er zunächst den Riss zu schließen, indem er ihr ein Geständnis ihrer Liebe zum toten Belgijoso abfordert. Lukrezia kommentiert dies mit Worten, die ein allgemeines Problem im Drama formu‐ lieren: „Wie ohne Grund ihr mich zu hoch gestellt, / So stellt ihr mich zu tief nun ohne Grund.“ (V. 1936 f.). Denn ebenso unerklärlich scheint die Abkehr Rudolfs von Don Cäsar im 1. Akt (nachdem er ihn mit den Worten Klesels V. 174 „sehr geliebt“ hat), und die im Folgenden demonstrierte Übertragung seiner Liebe auf 44 Birthe Hoffmann <?page no="45"?> 38 Vgl. V. 1112 ff. 39 Vgl. Rudolf V. 1729: „Versucher fort! Ob hundertmal mein Sohn“. 40 „Und Ihr verschließt die Pforte mir, das Herz? / […] Stoßt nicht zurück das Herz, die Kindestreue/ […] Die Türe wird bewegt - sie öffnet sich - Mein Vater! “ (V. 1735 ff.). Leopold. Rudolf beginnt im 1. Akt erst nach dem Auftritt Don Cäsars sich mit der Außenwelt zu befassen, und bricht das Schweigen mit einem jähen Ausdruck seines Zorns auf die Bitte Don Cäsars, Rußworm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: „Er stirbt! - Und du mit ihm, Wagst ferner dus ein Wort für ihn zu sprechen. - Entarteter! Ich kenne deine Wege. Du schwärmst zu Nacht mit ausgelaßnen Leuten, Stellst nach den Kindern ehrbar stiller Bürger, Hältst dich zu Meutern, Lutheranern.“ (V. 270 ff.) An allem, was er hier Don Cäsar vorwirft, macht sich aber auch er selbst oder aber machen sich Personen, deren Handlungen er billigt, irgendwann schuldig. So ist der nächste Vertraute Rudolfs, sein Freund Julius von Braunschweig, ein Lutheraner; das nächtlich ausgelassene Schwärmen wird auch dem Neffen Leopold nachgesagt, doch in seinem Falle nimmt Rudolf dies als Beweis dafür, daß er „ein Mensch“ ist (V. 515). Als Leopold im 2. Akt Lukrezia vor Don Cäsar rettet, macht er ihr zugleich ohne ihre Billigung den Hof. 38 Man darf außerdem vermuten, daß die Mutter Don Cäsars ebenfalls ein „Kind ehrbar stiller Bürger“ war, dem Rudolf seinerzeit nachgestellt hat. Rudolf belegt aber die Identität Don Cäsars als die seines Sohnes mit einem Tabu, dessen Verletzung mit „ewige[m] Gefängnis, / Entfernt vom Strahl des gottgegebnen Lichts“ (V. 295 f.) bestraft werden soll. Diese Drohung ist Ausdruck einer Verkoppelung von väterlicher bzw. kaiserlicher und göttlicher Macht, die Rudolf immer wieder herstellt. Etwas Ähnliches macht sich in seinem Blick auf Don Cäsar bemerkbar. Denn wie er sich selbst mit Gott verbindet, so sieht er in Don Cäsar plötzlich ein Teufelsgesicht: „Und also steht er da, hohnlachend, trotzend, / Wie einst der Teufel vor des Menschen Sohn.“ (V. 298 f.). Don Cäsar muss es ertragen, dass der dämonisierende Blick seines leiblichen Vaters ihn zum „frechen Sohn der Zeit“ stilisiert, ein Symbol der geschichtlichen Dynamik, die er als Kaiser zugegebenermaßen nicht beherrscht, während er den Neffen Leopold adoptiert, der sich als der wahre Versucher entpuppt 39 . Indem dieser in der Peripetie des Dramas dem psychisch destabilisierten Rudolf mit dem Argument der Liebe 40 die schriftliche Genehmigung zur Einsetzung des Passauer Heeres zum Schutz Rudolfs abringt, übernimmt Rudolf aber in der 45 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="46"?> 41 So bewahrheitet sich die früher formulierte Einsicht Rudolfs in das Dilemma des Handelns: „Dazu noch das Bewußtsein, daß im Handeln, / Ob so nun oder so, der Zündstoff liegt, Der diese Mine donnernd sprengt gen Himmel. / Ihr habt gehandelt, wohl! Das Tor geht auf / Und eine grasse Zeit hält ihren Einzug.“ (V. 1448 ff.). Wie es Julius von Braunschweig in der letzten Replik des 3. Aktes formuliert, ist die Richtung aber nun umgekehrt. Beim Versuch Leopold zurückzuhalten, der mit seiner Unterschrift wie mit einer erschwindelten Beute davonläuft, bleibt ihm dessen dunkler Mantel in der Hand zurück, den Leopold abstreift, damit Erwägungen und Reue ihm nicht in die Quere kommen. Den Mantel fallen lassend, enthüllt Julius aber auch die dem Zuschauer schon vorgeführte Mitschuld Rudolfs, wenn er sagt: „Die Hülle liegt am Boden. Das Verhüllte / Geht offen in die Welt als Untergang“ (V. 1830 f.). 42 Vgl. auch Rudolf V. 1666 ff.: „Und ist das Tor dem Unheil nun geöffnet, / Ist Mord und Brand geschleudert in die Welt, / Dann denkt einst spät, wenn längst ich modre: / Wir waren auch dabei und haben es gewollt.“ Logik der Handlung die Vaterschaft jener zentrifugalen Kräfte der Zeit, die er stellvertretend in Don Cäsar bändigen wollte. 41 Dieser Zusammenhang wird im Drama auch bildlich durch das Motiv des Pferdes reflektiert. Von Leopold heißt es im 1. Akt: „Im Schloßhof tummelt er das türksche Roß, / Das ihr gekauft und das Don Cäsar schulte.“ (V. 509 f.) Im 4. Akt taucht das Motiv in übertragener Bedeutung auf, das eingetretene (und von Leopold beschleunigte) Chaos reflektierend. Hier tritt Graf Thurn als der neue, vorläufige Herrscher im Hradschin auf, der Rudolf unter Aufsicht gestellt und den Zugang zu Rudolfs Laboratorium zugemauert hat. Auf den Einwand Graf Schlicks, dass die Maßnahmen gegen Rudolf doch weiter gingen, „als die Absicht war“, antwortet Thurn: Die Absicht, Freund, ist ein vorsichtger Reiter Auf einem Renner feurig, der die Tat, Den spornt er an zu hastigem Vollzug. Hat er das Ziel erreicht, zieht er die Zügel Und meint, nun wärs genug. Allein das Tier, Von seiner edlen Art dahingerissen Und von dem Wurf des Laufes und der Kraft, Es stürmt noch fort durch Feld und Busch und Korn, Bis endlich das Gebiß die Glut besiegt. Da kehrt man denn zurück. SCHLICK. Wenns dann noch möglich. (V. 2211 ff.) Damit sind menschliche Absichten und Taten keineswegs als ohne Bedeutung für geschichtliche Ereignisse dargestellt, denn, wie Thurn abschließend be‐ merkt: „All, was geschehn, das hast du auch gewollt“ (V. 2222) 42 - aber sie stehen nur am Anfang eines irreversiblen Prozesses. Ganz parallel dazu taucht das 46 Birthe Hoffmann <?page no="47"?> 43 Büchner (1988: 99). 44 Vgl. z. B. V. 425 ff. 45 Für eine ausführliche Darstellung dieses Zusammenhangs, der bis ins kleinste Detail vieler Aussagen, Bilder und Handlungselemente zum Ausdruck kommt, vgl. Hoffmann (1999: 145-200). Motiv des zügellosen Pferdes im Alptraum Dantons auf, der von der Ohnmacht dem Weltgeschehen gegenüber handelt: „Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein wildes Ross gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt‘ ich in ihren Mähnen und presst’ ich ihre Rippen, das Haupt abwärts gewandt, die Haare flatternd über dem Abgrund; so ward ich geschleift.“ 43 „Aus eignem Schoß ringt los sich der Barbar“ - Die Inversion der Humanität In der Metaphorik des Pferdes wird implizit Rudolfs Verschiebung bzw. Projek‐ tion unlösbarer Probleme auf seinen Sohn deutlich, den er zum Sündenbock einer nicht mehr beherrschbaren Entwicklung machen will: „Der freche Sohn der Zeit. - Die Zeit ist schlimm, / Die solche Kinder nährt, und braucht des Zügels. / Der Lenker findet sich, wohl auch der Zaum.“ (V. 1345 ff.). Die Logik des Bildbereichs weiterführend, könnte man daraus folgern, dass Rudolf auch in Bezug auf die Probleme der Zeit die Vaterschaft besitzt. Diese Vaterschaft wird aber sowohl der Zeit als auch seinem Sohn gegenüber verleugnet, so wie er sich weigert, die Rolle des „Meisters“ 44 auf sich zu nehmen, weil sich lieber er als „Schüler“ der Weisheit des Alls versteht. Aber der Versuch, den Sohn als Gegner zu entäußern und ihn als die Verkörperung des Bösen zu dämonisieren, wird auch durch eine Reihe anderer Strategien im Text dekonstruiert, die den Parallelismus im Gegensatz zwischen den beiden etablieren und somit eine supplementäre Logik der gegenseitigen Abhängigkeit aufdecken. 45 Überhaupt dient die Don-Cäsar-Handlung als Vehikel der Dekonstruktion des von Rudolf präsentierten Herrscherkonzepts. Der von Grillparzer erfundene illegitime Sohn ist sozusagen in die Welt gebracht, um die Legitimität der paternalistischen Machtausübung in Frage zu stellen und um die Schwächen in Rudolfs Idee eines Staates aufzuzeigen, der auf der ewigen Ordnung der Natur beruht. Zu dieser gehört die sich durch Generationen reproduzierende Ordnung der Familie, die „heilgen Bande, / Die unbewusst, zugleich mit der Geburt, / Erweislos, weil sie selber der Erweis.“ (V. 1617 ff.) Rudolf entfaltet seine im Naturrecht begründete, absolutistische Staatsideo‐ logie in langen Monologen, die immer wieder die Aufmerksamkeit der Inter‐ preten auf sich gezogen haben und oft als das konservative Vermächtnis 47 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="48"?> Grillparzers gelesen wurden, die aber schon als Selbst- und Weltauslegungen keiner stringenten Logik folgt. Vor Erzherzog Ferdinand im 1. Akt spricht er von Don Cäsar als „Schüler“ einer Zeit, dem „Achtung für der Väter Sitte“ (V. 328) verloren gegangen ist, bzw. als einem von den „Keime[n] […] der Verkehrtheit“ angesteckten, die „ihm geliehn so wildverworrne Welt.“ (V. 343 f.) Der in seiner Denkweise ganz anders geartete Ferdinand greift diese Metapher mit der Aufforderung auf: „Die Zeit bedarf des Arztes und ihr seids“, worauf Rudolf sofort diese einfache Gegenüberstellung unterläuft: „Ein wackrer Arzt, der selber Heilung braucht! “ (V. 356 f.) Für Ferdinand besteht, ja muss eine Übereinstimmung bestehen zwischen Gesinnung, Wort und Handlung, sowie zwischen Status, Autorität und Macht. Diese Einheit wird aber sowohl durch Rudolf als auch vom Drama als Ganzem in Frage gestellt. Nur aber durch das Extreme seines Charakters unterscheidet sich Rudolf von den übrigen Figuren, die wie er zusammengesetzt und unkoordiniert sind und in mancher Hinsicht ebenso blind sein können, wie sie in anderer Hinsicht weit- und klarsichtig sind. Es gilt somit für alle zentralen Figuren, dass ihre Aussagen manchmal auf die tatsächliche Lage im Drama zutreffen und daher Anspruch auf allgemeine Geltung erheben können, manchmal aber auch in ihrer Subjektivität isoliert dastehen. So drückt Rudolf eine Wahrheit des Dramas aus, wenn er Ferdinand gegenüber den Unterschied im Lauf der Sterne vom Lauf der Menschenwelt erklärt: „Dort oben wohnt die Ordnung, dort ihr Haus, / Hier unten eitle Willkür und Verwirrung“. (V. 428 f.) Diese Einsicht entspricht dem unheilvollen Mangel an Rationalität und Durchsichtigkeit im Stück, der nicht zuletzt an Rudolf selbst exponiert wird. Andererseits erscheint Konsequenz und Logik, wenn sie in den Säuberungsmaßnahmen des Religionsfanatikers Ferdinands - der St. Just der Gegenreformation - auftritt, als ein Schreckgespenst der Zukunft. Rudolfs Einwand Ferdinand gegenüber, dass der „vielverschlungene Knoten der Verwir‐ rung“ nicht mit einem Streich gelöst werden kann, und sein Erschrecken über die unmenschliche Vertreibung von zwanzigtausend Protestanten „an einem Tag“, mit dem Ferdinand in der Steiermark, in Krain und Kärnten „ausgetilgt den Keim der Ketzerei“ (V. 476 f.), zeigt Rudolf als den Humanisten, der sich v. a. in der Optik des Fernen, Visionären und Allgemeinen um das Ganze bemüht - mit einem Blick der Inklusion. Das Tragische besteht aber in diesem Stück darin, dass die Idee des Humanen und gesellschaftlich Guten in eine inhumane Barbarei umschlägt - wie in Dantons Tod. Rudolfs Aufopferung seines Sohns entbehrt dabei den tragischen Sinn, den das Opfer in der klassischen Tragödie 48 Birthe Hoffmann <?page no="49"?> 46 Vgl. Geulen (2006: 160) über den Mord der Jüdin in Die Jüdin aus Toledo: „Der Mord an der Jüdin bleibt rechtlich und dramaturgisch schlechterdings ungeklärt, eine Art Supplement, dessen einziger Zweck die Herbeiführung der großen Versöhnungsszene zu sein scheint, bei der sich die Figuren in selbstbezichtigenden Schuldzuschreibungen förmlich überbieten.“ der Goethezeit innehatte. 46 Der Tod Don Cäsars hat mit dem ausbrechenden politischen Chaos nichts zu tun, das natürlich durch sein Opfer auch nicht gebannt wird. Im Zusammenhang des Stücks wird Don Cäsar in einem der Perspektive Rudolfs ganz entgegengesetzten Sinne zu einem Stellvertreter der vielen Menschen, die im Namen der Ordnung umgebracht werden. Wie in Dantons Tod wird der tragische Konflikt nicht durch den Tod Don Cäsars oder Rudolfs beendet, sondern eher beschleunigt bzw. mündet im Bewusstsein des historisch versierten Zuschauers in einen furchtbaren, langjährigen Krieg. Im Vordergrund von Grillparzers komplexer dramatischer Reflexion ge‐ schichtlicher Erfahrungen im Hinblick auf eine bedrängte Gegenwart und die Alpträume der Zukunft steht aber die Auseinandersetzung mit dem Absolu‐ tismus à la Habsburg angesichts der Forderungen nach Demokratie und Bürger‐ rechten in der Folge der Französischen Revolution. Die allbekannte Ambivalenz Grillparzers in dieser Frage stimmt mit der offenen Struktur dieses Dramas und der polyphonen und zugleich transpersonalen Reflexion überein, vor allem aber mit der Tatsache, dass das Habsburgische System durch die extrem heterogene Figur Rudolfs sowohl von innen, durch die vielen Selbstwidersprüche, als auch von außen, durch die Forderungen von schriftlichen Verträgen zur Sicherung individueller Rechte und des kollektiven Friedens, in Frage gestellt wird. Die Indignation Rudolfs über die Forderung der böhmischen Stände nach einer verträglichen Sicherung jener „Freiheit der Meinung und der Glaubensübung“ (V. 1530), die er ihnen de facto zugebilligt hat, setzt die „Schrift“, die „toten Züge einer toten Hand“ dem „lebendig warmen Wort“ gegenüber, das „von dem Mund der Liebe fortgepflanzt, / Empfangen wird vom liebedurst’gen Ohr“ (V. 1653 ff.). Dass die Böhmen aber von Rudolf auf diese Weise „der Neigung Pfänder“ fordern, wird angesichts der Entwicklung der Ereignisse nur allzu verständlich. Der Jurist Grillparzer zeigt sich hier, wenn nicht als ideologischer Bannerträger ihrer Forderungen, dann doch indirekt als ihr Anwalt, indem er das „erweislose“ ‚Gesetz‘ Rudolfs, das sich der Logik und der Überprüfung durch eine Erwägung von Sachverhalten entzieht, eine Art Selbstmord begehen lässt. Die duldsame Vaterliebe des Kaisers, die jeden Augenblick in ihr Gegenteil umschlagen kann, erweist sich als Alternative zum positiven Recht ungeeignet. „Zieht nicht vor das Gericht die heilgen Bande“ lautete die Warnung Rudolfs (V. 1617) - eben das tut das Drama aber, indem es die allzu menschlichen Schwächen analysiert, 49 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="50"?> die die Rollen in der Familie und im politischen Feld durcheinanderbringen. Rudolfs privater, jeder rechtlichen Begründung entbehrender Racheakt an seinem illegitimen Sohn - seinem supplementären Stellvertreter - dient dabei dazu, den ‚Selbstmord‘ der Theorien Rudolfs durch seine Inversion in einen rachsüchtigen Barbaren anschaulich vorzuführen. Im 3. Akt hatte Rudolf seine Theorie einer humanen Ordnung mit dem Bild der Familie vorgeführt, die im Gegensatz zu Ferdinands Idee der Reinheit des Glaubens und des Staates auf Liebe baut, die aber mit Ambivalenz einhergeht: Du ehrst den Vater - aber er ist hart; Du liebst die Mutter - die beschränkt und schwach, Der Bruder ist der nächste dir der Menschen, Wie sehr entfernt in Worten und in Tat; Und wenn das Herz dich zu dem Weibe zieht, So fragst du nicht ob sie der Frauen Beste, Das Mal auf ihrem Hals wird dir zum Reiz, Ein Fehler ihrer Zunge scheint Musik, Und das: ich weiß nicht was, das dich entzückt, Ist ein: ich weiß nicht was für alle andern; Du liebst, du hoffst, du glaubst. Ist doch der Glaube Nur das Gefühl der Eintracht mit dir selbst, Das Zeugnis, daß du Mensch nach beiden Seiten: Als einzeln schwach, und stark als Teil des All. Daß deine Väter glaubten, was du selbst, Und deine Kinder künftig treten gleiche Pfade Das ist die Brücke, die aus Menschenherzen Den unerforschten Abgrund überbaut, Von dem kein Senkblei noch erforscht die Tiefe. O Prüfe nicht die Stützen, beßre nicht! Dein Menschenwerk zerstört den geistgen Halt Und deine Enkel lachen einst der Trümmer In denen deine Weisheit modernd liegt. (V. 1621 ff.) Isoliert betrachtet klingt dies wie eine konservative Utopie des friedlichen Zusammenlebens im heterogenen Vielvölkerreich der Habsburger Monarchie, in der Zusammengehörigkeit, Liebe und Respekt durch nichts Bestimmtes legitimiert und daher nicht theoretisierbar sind, in dem es aber zugleich Raum für entgegengesetzte Gefühle und Eigenschaften gibt. In seinen Monologen ist diese gekoppelt mit einer Theorie des Rechts, mit erkenntnistheoretischen und metaphysischen Aspekten, kurz: sie gehen aufs Ganze. Don Cäsar ist der ein‐ 50 Birthe Hoffmann <?page no="51"?> zige, der gedanklich einen vergleichbaren Anspruch und ähnliche Spannweite aufweist - schon die Länge und die poetischen Qualitäten seines Monologes Lukrezia gegenüber (V. 1882 ff.) machen ihn mit denen Rudolfs vergleichbar. Bei genauerem Hinsehen sind aber alle Elemente seiner Rede in Relation zu Rudolf zu verstehen, als Parallelität, Gegensatz oder Konsequenz. Im Gegensatz zu Rudolfs göttlicher Ganzheitsperspektive, aus der scheinbar die Perspektive des Ichs verschwunden ist, ist der Monolog Don Cäsars der Versuch, die Situation aus der Perspektive des suchenden, verzweifelten Ichs darzustellen: Was ist es auch: ein Weib? Halb Spiel, halb Tücke, Ein Etwas, das ein Etwas und ein Nichts, Je demnach ich mirs denke, ich, nur ich. Und Recht und Unrecht, Wesen, Wirklichkeit, Das ganze Spiel der buntbewegten Welt, Liegt eingehüllt in des Gehirnes Räumen, Das sie erzeugt und aufhebt, wie es will. Ich plagte mich mit wirren Glaubenszweifeln, Ich pochte forschend an des Fremden Tür, Gelesen hab ich und gehört, verglichen, Und fand sie beide haltlos, beide leer. Vertilgt die Bilder solchen Schattenspiels, Blieb nur das Licht zurück, des Gauklers Lampe, Das sie als Wesen an die Wände malt, Als einzge Leidenschaft der Wunsch: zu wissen. (V. 1900 ff.) In der Metaphorik von Licht und Dunkelheit wird deutlich, dass das Problem der Liebe auf alle Seinsbereiche ausgedehnt worden ist und somit Identität, Recht, Wahrheit und Erkenntnis umfasst - wie in den Monologen Rudolfs. Während aber für Rudolf im Dunklen die Sterne aufleuchten als Zeichen jener Ordnung, von der die Menschen abgefallen sind, ist Wissen und Glaube für Don Cäsar nicht mehr erreichbar, sondern löst sich im Nichts auf. Das Licht rührt in seinen Bildern vom Bewusstsein, von der Lebensenergie und Leidenschaft des Menschen her, die er nunmehr als „den letzten Schimmer dieses Daseins“ erfährt, der „noch ins Dunkel strahlt, das Leben heißt“ (V. 1887 f.) - „Der Schatten nur des Wesens, das ich war.“ (V. 1886). Durch die Anspielung auf Platons Höhlengleichnis reflektieren diese Bilder, dass Don Cäsar auf seiner Suche nach dem Licht nicht zur Idee des Guten vorgedrungen ist, wie Rudolf es sich einbildet, sondern desillusioniert in die Schattenhöhle der menschlichen Existenz zurückgekehrt ist, wo er nun von den anderen als störend aufgefasst wird. Wie sich die Gefangenen in Dantons Tod vor dem Sterben angesichts der 51 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="52"?> leeren Transzendenz das Lachen der Götter vorstellen, sieht Don Cäsar, oft genug selbst als Teufel an die Wand gemalt, nun noch „des Gauklers Lampe / Das sie [die Bilder] als Wesen an die Wände malt“. Wem Gott zum Gaukler wird, erscheint die Welt als kontingent, wenn nicht absurd. Als das Stück voranschreitet, wird aber der Kontrast zwischen der erhabenen Pose Rudolfs und seiner Ohnmacht und willkürlichen Handlungen auch für den Zuschauer zum Problem, wie der arme Spielmann Jakob, der wie eine Kippfigur zugleich erhaben und lächerlich erscheint - denn wie soll man aus diesem Sowohl-als-auch einen Sinn bilden, an dem man sich erbauen könnte oder eine erhebende Katharsis durchleben? Rudolf als Kippfigur, die man mit der Selbstcharakteristik Don Cäsars als „Ein Zerrbild zwischen Niedrigkeit und Größe“ (V. 1893) beschreiben könnte, nähert sich eher dem Eindruck des Grotesken: Zu krass ist bei Rudolf der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen der hellen und der dunklen Seite, als dass sein Fall im 4. Akt als tragisch gelten könnte. Hinzu kommt, dass Rudolf kaum mehr als eine selbständige Figur zu be‐ trachten ist, sondern in Don Cäsar seine Schattenseite besitzt. Zeigte sich dieser am Anfang des 4. Aktes in der Lukrezia-Szene als ein Gefangener des Nihilismus, ist er wenig später ein Gefangener seines Vaters, was sowohl konkret als auch symbolisch zu verstehen ist. In dieser Szene (V. 2225 ff.) bleibt er im Verborgenen unsichtbar, während sein Schicksal im Gespräch zwischen Julius und Rudolf entschieden wird. Don Cäsars Funktion als supplementärer Stellvertreter ent‐ sprechend, stirbt er in einer zweideutigen Weise, die zugleich als Mord und Selbstmord gesehen werden kann. Denn dieser stirbt einerseits, weil er den Verband der Ärzte, die ihm seine Ader zur Heilung seines Wahnsinns geöffnet hatten, eigenhändig abreißt, einen Richter fordernd, andererseits, weil Rudolf ihm - als Richtspruch - einen Arzt verweigert, und dabei den Quasiselbstmord in einen Quasimord verkehrt. Rudolf, nun in der Tat selbst in Haft, ist wieder zu dem im 1. Akt vorgeführten Zustand von Wortkargheit, gepaart mit psychischer Labilität und starken Affekten zurückgekehrt und spielt nun zugleich den Arzt, der wie Ferdinand durch Töten heilen will, und den Richter, während sein Freund Julius zugleich als Übersetzer seiner Gedanken und als Anwalt Don Cäsars auftritt. Der Ruf des verzweifelten und lebensmüden Don Cäsars „nach einem Richter, um Gericht“ (V. 2171) ist Ausdruck seines Wunsches nach einer Art Objektivierung und verbindlicher Anerkennung, was ihn mit dem politischen Strang der Handlung verbindet, wo die böhmischen Stände und Bischof Klesel auf schriftlichen Verträgen bestehen. Vergebens plädiert Julius für das objektivierbare, weltliche Recht Don Cäsars: Von einem Augenblick hängt ab sein Leben, 52 Birthe Hoffmann <?page no="53"?> 47 Vgl. Rumpf zu Rudolf, V. 2113 ff.: „Beliebts Euch nun, den Tieren nachzusehen, / Die in den Käfigen der Füttrung harren? / Der Löwe nimmt die Nahrung nur von Euch, / Die Wärter sagen, daß gesenkten Haupts / Er leise stöhnt, wie einer der betrübt.“ Und nicht sein Leben nur, sein Ruf, sein Wert. […] Daß nicht wie ein verzehrend, reißend Tier, Daß wie ein Mensch er aus dem Leben scheide, Wenn nicht gereinigt, doch entschuldigt mindstens. Ihm werde Spruch und Recht. (V. 2178 ff.) Indem aber Rudolf den Schlüssel zum Turm Don Cäsars in den Brunnen wirft, bevor ihm dies gewährt werden kann, stürzt auch Rudolf und sein großes The‐ oriegebäude in die Tiefe und zerstört jene „Brücke, die aus Menschenherzen / Den unerforschten Abgrund überbaut, / Von dem kein Senkblei noch erforscht die Tiefe.“ (V. 1637 ff.). Die Raumgestaltung verdeutlicht, wie Rudolfs Urteil schließlich ihn selbst im Kern trifft und die ‚heil’gen Bande‘ zwischen Menschen zerreißt, die in seiner eigenen Theorie die Menschheit vor der Zerstörung von Innen, vor dem kollektiven Selbstmord schützt. Auch durch die Parallelität mit den leidenden Tieren im Käfig, die nur von Rudolf gefüttert werden wollen 47 , wird auf subtile Weise der Rechtsbegriff Rudolfs kommentiert, mit dem er im 3. Akt (V. 1257 ff.) zugleich den Menschen ex negativo bestimmt hatte. Denn das einzige Recht, das er Don Cäsar zugesteht, ist das Recht zu hungern und zu leiden, und indem er ihn wie „verzehrend, reißend Tier“ sterben lässt, dementiert er auch seine eigene Menschlichkeit. Damit zeigt er auch das Problematische an seiner Doppelrolle auf, denn entgegen seinem Motto „Nicht ich, nur Gott“ demonstriert diese Szene den Kurzschluss zwischen der Rolle und dem allzu menschlichen Rolleninhaber, deutlich in der Geste des Hinabwerfens: „Er ist gerichtet / Von mir, von seinem Kaiser, seinem - (mit zitternder, von Weinen erstickter Stimme) Herrn! “ (V. 2186 f.) Grotesk ist diese Szene durch die dem Leser zugemuteten Kontraste, die nur noch Unbehagen und eine besondere Art von Grauen erwecken können. Hatte Rudolf vorhin gewarnt, dass jeder Versuch, die gottgegebene Ordnung durch „Menschenwerk“ zu bessern in Zukunft ausgelacht werden würde („Und deine Enkel lachen einst der Trümmer / In denen deine Weisheit modernd liegt“), gibt es beim Zusammenbruch der Weisheit Rudolfs nichts zu lachen, im Gegenteil - das Unpassende, Sinnlose verstärkt nur das Tragische an der Veranlagung des Menschen, der das Böse übt, wenn er auch das Gute will, und dessen Abgründe offenbar unermesslich sind. 53 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="54"?> Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht Parallel mit der Lukrezia / Don Cäsar-Handlung und diese immer wieder durch‐ kreuzend wird im politischen Handlungsstrang die kollektive Krise auf die gleiche polyphone, transpersonale Weise reflektiert. Die Bezüge zur Situation um 1848 und die mit der Französischen Revolution aufgeworfenen Fragen sind hier überall gegenwärtig, so auch im kaiserlichen Lager im 2. Akt, wo es nicht nur um die Frage geht, wer im Notstand des Reiches die Führung übernehmen soll, sondern um die Infragestellung aller Hierarchien. Die Verletzung der familiären Hierarchie unter den Habsburgern durch die Wahl Matthias’ zum neuen Staatsoberhaupt ist nicht der einzige ‚Bruderzwist‘ in diesem Stück und wird in diesem Akt beinahe durch das Thema der sozialen Spannungen in den Hintergrund gedrängt. Die Soldaten wagen es, gegen den Befehl ihres Hauptmanns zu argumentieren, weil in diesem Chaos alle Koordinaten sinn‐ vollen Handelns fehlen. Was im Standesdenken nur als Insubordination gesehen werden kann, ist aus der Perspektive der Soldaten eine Frage der Vernunft und der besseren Argumente angesichts der konkreten Probleme: „Hauptmann: ’So meisterst du, ein Knecht, den Heeresfürsten? ‘/ / Fahnenträger: ’Ob zehnmal Herr und zwanzigmale Knecht, / Wenn einer irrt, hat doch der andre recht.‘“ (V. 533 ff.). Auch der Versuch des Hauptmanns, den Protestanten die Schuld für die bedrängte Lage zu geben, wird schlicht als Lüge abgewiesen und mit dem Schlagwort der Brüderlichkeit ersetzt, die im Lager die konfessionellen Unterschiede verwischt. In diesem Akt wird aber deutlich, dass die Begriffe Bruder und Brüderlichkeit immer durch die Exklusion anderer definiert sind. Im Lager sind alle Brüder - gegen die Türken, geraten aber schnell in einen Streit, wenn es zum Teilen der Beute kommt - in diesem Falle einer Türkin. Und jenseits der Brüderlichkeit im Lager gehören die Lagerbrüder weiterhin unterschiedlichen und potentiell verfeindeten sozialen und konfessionellen Gruppierungen an. Die Beziehung unter den Brüdern vom Geschlecht der Habsburger, Leopold und Ferdinand, sowie Rudolf, Matthias und Max schwankt zwischen Solidarität, Abscheu und Verrat. Diese Zwiespältigkeit der Brüderlich‐ keit mag den Umstand erklären, dass sowohl Ferdinand und Leopold als auch die Lagerbrüder einander mit der Doppelbezeichnung „Freund und Bruder“ bezeichnen (V. 624 und 1135), die Einigkeit in der Ambivalenz versichernd. In dieser Weise macht Grillparzer die Dynamik von kollektiven Identitäten und politischen Verbänden zum Thema und Problem, statt diese einfach als Spieler im geschichtlichen Konflikt vorauszusetzen. In Bezug auf die Situation um 1848 und weit darüber hinaus hat Grillparzer Rudolf in der Tat ein wahres Wort in 54 Birthe Hoffmann <?page no="55"?> 48 Vgl. Reeve, William C. (1995). The Federfuchser / Penpusher from Lessing to Grillparzer: A Study Focused on Grillparzer’s Ein Bruderzwist in Habsburg. Carleton University Press. 49 Diese Problematik war nicht nur in der Zeit Galileis und Keplers brisant, sondern auch in der Habsburger Monarchie, wo das Konkordat von 1855 der Kirche Aufsicht über Bildungs- und Kulturpolitik sicherte. Erst 1868 konnte Grillparzer mit seiner Stimme dazu beitragen, dass diese bei einer Abstimmung im Herrenhaus mit einer knappen Mehrheit beendet wurde. den Mund gelegt, wenn er im 3. Akt vor den Sprechern der böhmischen Stände sich über den Begriff des ‚Volkes‘ empört: „Das Volk! Das sind die vielen leeren Nullen, / Die gern sich beisetzt, wer sich fühlt als Zahl, / Doch wegstreicht, kommts zum Teilen in der Rechnung.“ (V. 1536 ff.). Einer der wichtigsten Akteure im politischen Konflikt und eine interessante Figur im Hinblick auf die Gegenwart Grillparzers ist der intelligente Empor‐ kömmling Klesel, der sich vom Bäckerssohn zum Bischof von Wien und unentbehrlichen Kanzler Matthias’ hochgearbeitet hat. Als juristisch versierter ‚Federpfuscher‘, der mit der Feder kämpft und den demütigenden Hochmut und die Inkompetenz des oberen Standes ertragen muss, hat Grillparzer gute Voraus‐ setzungen gehabt, diese Figur mit hoher Komplexität zu gestalten. 48 Scheinbar seinem Herrn Matthias mit großer Liebe dienend und zugleich mit einem starken persönlichen Ehrgeiz ausgestattet, bleibt Klesel eine opake Figur, die auch stets eine Maske tragen muss, um sich durchzusetzen. Er zeigt sich aber in diesem Spiel durch Klugheit, Nüchternheit und Improvisationstalent den Habsburgern weit überlegen und bekommt zunächst, was er haben wollte: den Frieden mit den Türken und eine Vollmacht für Matthias, der sich allerdings seinerseits für diese Macht zu schwach fühlt. Als Fürsprecher der vertraglichen Schlichtung von politischen und konfessionellen Konflikten ist Klesel der ideologische Gegner von sowohl Rudolf als auch Ferdinand und wird von beiden sehr gefürchtet. Im 5. Akt ebnet Ferdinand daher seiner eigenen blutigen Nachfolgerschaft den Weg, indem er Klesel in Abwesenheit Matthias’ verhaften und entführen lässt. Dies gibt aber Klesel die Gelegenheit, im heftigen Wortduell noch einmal seine Haltung Ferdinand gegenüber deutlich zu machen, darunter sein Plädoyer für eine prinzipielle Trennung von Wissen und Glauben (V. 2492 ff.). 49 Klesel, der seine Verhaftung als soziale Demütigung empfindet, wünscht sich einen Rächer herbei, der sich „dienend […] zum Herrn aufgedrungen“ haben wird, und dieser wird dann auch prompt als „Herr Oberst Wallenstein“ gemeldet. Wie die Zitate des Souffleurs Simon und die Selbstaufopferung Julies in Dantons Tod die Abkehr von der klassischen Geschichtstragödie reflektieren, ist es schwer, in diesem fast saloppen Auftritt Wallensteins am Ende des Trauerspiels nicht einen Kommentar Grillparzers zur Geschichtsdramatik Schillers zu sehen. 55 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="56"?> 50 Vgl. auch Politzer, Heinz (1967). Grillparzers Bruderzwist - Ein Vater-Sohn-Konflikt in Habsburg. In: Schwarz, Egon / Hannum, Hunter G. / Lohner, Edgar (Hrsg.) Festschrift für Bernhard Blume. Göttingen, 173-194, hier 176. 51 Vgl. Friedrich Dürrenmatts Bemerkung in Theaterprobleme: „Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch. […] Die heutige Welt, wie sie uns erscheint, läßt sich dagegen schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen.“ In: Dürrenmatt (1966). Theater-Schriften und Reden. Zürich: Arche Verlag 119 f. Diese Figur und der mit ihr verbundene historische Stoff, denen Schiller mit gehörigem Pathos eine ganze Trilogie widmete, wird bei Grillparzer mit Elementen der Komödie eingesetzt, die mit einem unheimlichen Verfremdungs‐ effekt tradierte Gattungsnormen verletzt. 50 So wird z. B. im Munde Wallensteins der Prager Fenstersturz, der immer als das Fanal des dreißigjährigen Krieges galt, zum Witz: Der Mathes Thurn ließ eben, als ich abging, Nach einer alten Landessitte, sagt er, Sie aus den Fenstern werfen am Hradschin, Im vollen Landtag und im besten Sprechen. Doch sind sie unverletzt, seid unbesorgt. Sie haben noch gar höflich sich entschuldigt, Weil nach dem Rang sie nicht zu liegen kamen, Zuoberst, weil zuletzt, der Sekretär. Betrachtet Böhmen drum als feindlich Land. WALLENSTEIN. Nun, um so besser denn! (V. 2721 ff.). Die Bemerkung Wallensteins: „Der Krieg ist gut, und währt’ er dreißig Jahr“, die Heinz Politzer als an der Grenze zum Geschmacklosen eingestuft hat, wird am Ende im Chor wieder zum Besten gegeben: FERDINAND. Es geht in Krieg, seid froh, Herr Wallenstein. WALLENSTEIN. Ich bins. MEHRERE. Wir auch, und währt es dreißig Jahr. - Ja wärens dreißig - Dreißig! - Um so besser. indem sie Wallenstein die Hand schütteln, alle ab (V. 2895 ff.). 51 Wallenstein erscheint hier als der Herr der Zukunft, der auch die Hierarchien der Herrschaft herausfordern wird - aber wie das Publikum weiß, ist auch dieser Weltmetzger schon dem gewaltsamen Tode geweiht. Die schnelle Abfolge der 56 Birthe Hoffmann <?page no="57"?> 52 Marx, Karl (1971). Das kommunistische Manifest. In: Werke. Schriften in sechs Bänden. Hrsg. v. Lieber, Hans-Joachim / Furth, Peter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell‐ schaft, II, 821. 53 Dürrenmatt (1966: 122): „Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwor‐ tung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. […] Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. […] Doch ist das Tragische immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist.“ Machthaber, die sinnlose Reihe und das schiere Ausmaß der Menschenopfer, das Fehlen eines gemeinsamen - idealen oder objektiven - Bodens der vielen streitenden Meinungen außer der brutalen Realität der Macht und des Todes, das unkoordinierte, dezentrierte Wesen des Menschen - wie Dantons Tod zeugt auch Ein Bruderzwist in Habsburg von einer Ernüchterung der Anthropologie und eine Anpassung der Rolle der Kunst an die Bedingungen der Moderne, die ihrer Zeit weit voraus ist. In seiner Zeitdiagnose ist Grillparzer, obwohl vom Materialismus weiter entfernt als Büchner, mit seinem pessimistischen Humanismus auf der Höhe seines Zeitgenossen Karl Marx, dessen Diagnose - „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht“ 52 - er offensichtlich teilte, wenn auch nicht die damit verbundene Utopie. Büchners und Grillparzers dramatische Reflexionen über diese Situation bringen sie mit ihrer verfremdenden Mischung aus tragischen Konflikten, Slapstick und einem bösen Lachen in die Nähe der Ästhetik des Absurden und des Grotesken, die nach 1945 im europäischen Theater Konjunktur hatte. Aber im Gegensatz zu Dürrenmatt, der bereit war, die Frage der individuellen Schuld durch den Begriff der Kollektivschuld zu ersetzen, 53 wird trotz dem Einblick in die unbeherrschbare Dynamik der Geschichte eine solche kollektive Absolution von der persönlichen Verantwortung weder bei Büchner noch bei Grillparzer erteilt. Im Gegensatz zu Rudolf, der am Ende des 4. Akts sich selbst und seinem Haus verzeiht - „Sollt ich euch strenger richten als mich selbst? / Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel.“ (V. 2284 f.) - bekommt die verzweifelte Geste Matthias’, die von Militärmusik und Vivatrufen in der Ferne begleitet wird, das letzte Wort. Im Moment seiner Ernennung zum Kaiser kniet er, von inneren Bildern geplagt, „wiederholt die Brust schlagend: Mea culpa, mea culpa, / Mea maxima culpa“. Literatur Büchner, Georg (1988). Dantons Tod. In: Werke und Briefe. Hrsg. v. Pörnbacher, Karl / Schaub, Gerhard / Simm, Hans-Joachim / Ziegler, Edda. München: dtv. 57 „Wir haben’s gut gemeint, doch kam es übel“ <?page no="58"?> Dürrenmatt, Friedrich (1966). Theater-Schriften und Reden. Zürich: Arche. Fortmann, Patrick (2013). Autopsie von Revolution und Restauration. Georg Büchner und die politische Imagination (=Rombach Wissenschaften - Reihe Litterae 47). Freiburg i.Br. / Berlin / Wien: Rombach. Geulen, Eva (2006). Das Geheimnis der Mischung: Grillparzers ‚Jüdin von Toledo‘. In: Dörr, Volker V. / Schneider, Helmut J. (Hrsg.) Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Bielefeld: Aisthesis, 157-173. Grillparzer, Franz (1960-1965). Sämtliche Werke. Hrsg. v. Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. München: Hanser I-IV. Heine, Heinrich (1979). Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Hrsg. v. Windfuhr, Manfred. Hamburg: Hoffmann und Campe, 8 / I. Hoffmann, Birthe (1999). Opfer der Humanität. Zur Anthropologie Franz Grillparzers. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Hoffmann, Birthe (2002). König Ottokar und kein Ende. Zur Anthropologie Franz Grillparzers. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge, Band 20, 188-220. Lessing, Gotthold Ephraim (1996). Emilia Galotti. In: Werke. Hrsg. v. Göpfert, Herbert Georg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, II. Marx, Karl (1971). Das kommunistische Manifest. In: Werke. Schriften in sechs Bänden. Hrsg. v. Lieber, Hans-Joachim / Furth, Peter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge‐ sellschaft, II. Müller, Harro (2015). Dantons Tod: Eine Relektüre. In: Fortmann; Patrick B. / Helfer, Martha B. (Hrsg.) Commitment and Compassion. Essays on Georg Büchner, (= Ams‐ terdamer Beiträge zur neueren Germanistik 81). Amsterdam: Rodopi, 47-63. Politzer, Heinz (1967). Grillparzers Bruderzwist - Ein Vater-Sohn-Konflikt in Habsburg. In: Schwarz, Egon / Hannum, Hunter G./ Lohner, Edgar (Hrsg.) Festschrift für Bern‐ hard Blume. Göttingen: Vandenhoeck, 173-194. Reeve, William C. (1995). The Federfuchser / Penpusher from Lessing to Grillparzer: A Study Focused on Grillparzer’s „Ein Bruderzwist in Habsburg“. Carleton University Press. Schneider, Helmut J. (2011). Genealogie und Menschheitsfamilie. Dramaturgie der Hu‐ manität von Lessing bis Büchner. Berlin: Berlin University Press. Schneider, Helmut J. (2006). Tragödie und Guillotine. ‚Dantons Tod‘: Büchners Schnitt durch den klassischen Bühnenkörper. In: Dörr, Volker V. / Schneider, Helmut J. (Hrsg.) Die deutsche Tragödie. Neue Lektüren einer Gattung im europäischen Kontext. Bielefeld: Aisthesis, 127-156. 58 Birthe Hoffmann <?page no="59"?> 1 Grillparzer, Franz (1960-1965). Sämtliche Werke. Hrsg. Frank, Peter / Pörnbacher, Karl (eds.). München: Hanser I-IV, IV 837. Cited hereafter as SW. Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir Imke Meyer Bekanntermaßen verstand Grillparzer sich in erster Linie als Dramatiker und war dem Verfassen von Prosatexten abgeneigt. Gerade dieser Umstand aber mag dazu beigetragen haben, dass Grillparzer in der ersten seiner beiden Novellen, Das Kloster bei Sendomir (1827), sich unbefangen aus dem vorhandenen Reservoir generischer und schauerromantischer Konventionen bedient, um ein epistemologisch instabiles Terrain zu erkunden, auf dem letzten Endes weder eine haptische noch eine visuelle Wahrnehmung ver‐ lässliche Erkenntnisse über die Einrichtung der Welt liefern können. Das prosaische Sujet eines Ehebruchs wird episch inszeniert, und der dramatische Höhepunkt der Binnenerzählung vermittelt zugleich Einsichten in die Unaus‐ lotbarkeit von sinnlicher Wahrnehmung und in die Männlichkeitskonstrukte der homosozial-patriarchalen Schauplätze des Textes, die am Ende zu ihrem Erhalt ein Frauenopfer fordern. Franz Grillparzer considered himself first and foremost a playwright and viewed his two narrative texts, Das Kloster bei Sendomir (1827) and Der arme Spielmann (1848), quite literally as prosaic in comparison to his dramatic output. In 1847, Grillparzer responded to publisher Gustav Heckenast’s plea to follow up the publication of Der arme Spielmann with another novella for Heckenast’s almanac Iris by pointing out that „Erzählungen überhaupt nicht mein Fach sind.” 1 In 1837, Grillparzer had noted: „Die Novelle ist das Herabneigen der Poesie zur Prosa, der Roman das Hinaufstreben der Prosa zur Poesie“ ( SW 3: 291). In 1822, the same year in which he first composed an outline of the Sendomir sujet in his diary ( SW 3: 207-208), Grillparzer remarked: <?page no="60"?> 2 A helpful discussion of the genesis, publication, reception, and biographical context of Das Kloster bei Sendomir is provided by Karl Pörnbacher in his afterword for the Reclam edition of the text. Pörnbacher, Karl (1967). Nachwort. In: Grillparzer, Franz. Das Kloster bei Sendomir. Stuttgart: Reclam, 50-62. It should be noted that Pörnbacher’s afterword, like many other essays on Sendomir, cites a 1942 article by Wolfgang Baumgart. In his article, Baumgart points to several possible sources for Grillparzer’s text, among them the Grimm Brothers’ Altdeutsche Wälder and the legend of Walter of Aquitaine. Ernst Seibert has highlighted the need for a critical revaluation of Baumgart’s work, though. Seibert acknowledges Baumgart’s contribution to Quellenforschung but discusses critically the impact Nazi ideology clearly had on Baumgart’s construction of a Stoffgeschichte context for Grillparzer’s novella. See Baumgart, Wolfgang (1942). Grillparzers Kloster bei Sendomir. ZfdP 67, 162-176. Seibert in addition points to other likely sources for Grillparzer’s text, among them Johann Michael Armbruster’s 1791 anthology Das rothe Blat [sic] and in particular one novella contained therein, namely Eifersucht und Rache, a text in turn based on a French source. Other possible sources (discussed by both Seibert and Pörnbacher) include Schiller’s Demetrius sujet and Don Carlos. See Seibert, Ernst (1992). Zur Quellenlage von Grillparzers Novelle Das Kloster bei Sendomir. Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 96, 73-89. 3 In her reading of Grillparzer’s text, Gertrud Rösch highlights in particular the impact the publication context of the almanac likely had on the novella, stating that „[d]ie vom Medium ausgehenden Erwartungen vereinnahmen die Novelle für den familial-patri‐ archalischen Diskurs der Epoche.“ See Rösch, Gertrud (1999). Labyrinthische Diskurse: Erzählstrategien in Grillparzers Almanach-Novelle ‚Das Kloster bei Sendomir‘. In: Lasatowicz, Maria Katarzyna (Ed.) Assimilation - Abgrenzung - Austausch: Interkul‐ turalität in Sprache und Literatur. Frankfurt am Main: Peter Lang, 243-256, here: 245. Poesie und Prosa sind von einander unterschieden wie Essen und Trinken. Man muß vom Wein nicht fordern, daß er auch den Hunger stillen soll, und wer, um das zu erreichen, ekelhaft Brot in seinen Wein brockt, mag das Schweinefutter selbst ausfressen. (SW 3: 289) When Joseph Schreyvogel prompted Grillparzer to turn his original Sendomir sketch into a piece suitable for publication in the 1828 volume of Schreyvogel’s yearbook Aglaja, 2 the context and audience expectations linked to such an almanac certainly called for a narrative text. 3 While Grillparzer would continue to fret for decades that „[e]s ärgert mich, wenn ein guter Dramatiker in Prosa schreibt,“ he could at least steer clear of a potentially „ekelhaft“ pollution of the poetic language of drama with prose in a situation that forced his hand to write within generic parameters that were a priori prosaic. It may well be that Grillparzer’s entry into the prosaic realm relieved him of any concerns about generic purity. Sendomir introduces its readers to a spellbinding admixture of narrative and dramatic dialogue; a mash-up of a love story and a crime-and-detection case; a Gothic family plot of betrayal and 60 Imke Meyer <?page no="61"?> 4 Dagmar C. G. Lorenz likewise describes Sendomir as a „Prosa-Melodrama.“ See Lorenz, Dagmar C. G. (2010). Die Faszination mit dem Osten: Polen bei Grillparzer, Heine und Freytag. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 23, 8-22; here: 14. 5 The history of the novella genre does, of course, link it to drama. On this point, see, for instance, Füllmann, Rolf (2020). Franz Grillparzer’s Kloster bei Sendomir: Dokument einer österreichischen Romantik? In: Arnold, Antje / Pape, Walter / Wichard, Norbert (Eds.). Einsamkeit und Pilgerschaft: Figurationen und Inszenierungen in der Romantik. Berlin: De Gruyter, 113-126, here: 120-121. Füllmann reminds us that the ongoing reverberation of Aristotle’s Poetics, from the birth of the novella genre in the Renaissance going forward, meant that the novella, as a „lesser“ epic genre, sought to orient itself towards the drama. Henry Remak comments on the proximity of novella and drama: „Der Inhalt der Novelle ist dramatisch. […] Die Form der Darstellung dieses Dramatischen ist aber episch.“ Remak, Henry H. H. (1996). Structural Elements of the German Novella from Goethe to Thomas Mann. New York: Peter Lang, 221. Florian Fuchs observes that „[f]orm is the crucial feature that marks the novella,“ while at the same time the novella has a „tendency to latch onto other genres,“ an „affiliative impulse.“ Fuchs, Florian (2019). Novella. New Literary History 50: 3, 399-403; here: 399-400. Arguably, Grillparzer’s Sendomir, while it retains certain „crucial feature[s]“ of form that mark it as a novella, exhibits such a multitude of generic registers that it strains against the very limits of the form that contains it. murder; a melodrama of guilt and atonement; 4 and a story of failed redemption. The contested terrain of the generically hybrid text that is Das Kloster bei Sendomir may well reflect Grillparzer’s conflicted relationship to prose fiction. 5 It may, in fact, not be an accident that Grillparzer chooses a prose text to mobilize multiple genres and motifs to stage a crisis of epistemology that in the end remains unresolved. Grillparzer’s text, I contend, presents us with scenes of a struggle between the epistemological primacy of touch on the one hand and vision on the other. This struggle is neither resolved in the text, nor can it even be contained by the novella’s frame narrative - rather, as I will show, the epistemological battle between touch and vision repeatedly bursts through this frame, only to enter a terrain that itself bears the scars of this struggle. Uncertain Times The text’s fractured form finds its correspondence in its unstable temporality. As the title implies, the narrative is set in a monastery near the Polish town of Sandomierz. In the novella’s frame narrative, two knights, „Boten des deutschen Kaisers“ ( SW 3: 119), are en route to the court of Johann Sobiesky, the Polish king who supported Leopold I, ruler of the Holy Roman Empire from 1658 until 1705, in his conflict with the Turks. Sobiesky was instrumental in beating back the Turkish troops in the famous 1683 Kahlenberg battle, which ended the last siege 61 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="62"?> 6 For an excellent reading of Sendomir in light of Habsburg and Polish history, see Arens, Katherine (2007). The Fourfold Way to Internationalism: Grillparzer’s Non-National Historical Legacy. In: Henn, Marianne / Ruthner, Clemens / Whitinger, Raleigh (Eds.) Aneignungen, Entfremdungen: The Austrian Playwright Franz Grillparzer (1791-1872). New York: Peter Lang, 21-48. 7 Classen, Constance (2012). The Deepest Sense: A Cultural History of Touch. Ur‐ bana / Chicago / Springfield: University of Illinois Press, xii. of Vienna. We can thus assume that the text’s frame narrative is set roughly around 1683, the time of Sobieski’s alliance with Leopold I. 6 When the knights take up lodgings for the night at the monastery, the monk who later relates to them the framed narrative about the monastery’s origins states „‚Drei Jahre steht dies Kloster. Dreißig Jahre! ‘“ ( SW 3: 121) The monk’s uncertainty about the monastery’s age is all the more odd as we find out at the end of the narrative that it is he who founded the monastery. The events within the Binnenerzählung take up anywhere between three and five years. If we now want to know when these events took place, we need to count back from the approximate time the frame narrative takes place - 1683. But how many years? Three to five years, plus either three or thirty years, depending on when the monastery was actually built? The events the monk relates in the framed narrative could have then taken place as far back as the end of the Thirty Years’ War, around 1648, or roughly thirty years later. The temporal instability created by the text’s simultaneously underdeter‐ mined and overcoded time references, taken together with the historical horizon within which the text was written, gesture both towards the dawn and towards the dusk of the Enlightenment: towards the Frühaufklärung, in the wake of the end of the Thirty Years’ War, the Peace of Westphalia, and the death of Descartes in 1650; and towards the Spätaufklärung, in the wake of the French Revolution, the death of Austria’s enlightened absolutist ruler Joseph II , Napoleon’s rise and fall, the end of the Holy Roman Empire, the new world order established at the Congress of Vienna, and the rise of Metternich’s repressive regime. It is roughly within this time frame that the struggle between the epistemological dominance of touch on the one hand and sight on the other plays out on the field of Western philosophy and science; and it is the crisis that results from this struggle that is, I maintain, of central import in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir. Certainties Unsettled As the Enlightenment dawned, an epistemology in which knowledge could be gained through touch was increasingly marginalized and associated with the Middle Ages, now supposedly „an age when people groped about blindly.” 7 62 Imke Meyer <?page no="63"?> 8 Foucault, Michel (1994). The Birth of the Clinic: An Archaeology of Medical Perception. New York: Vintage, 65. 9 Foucault (1994: xiii). 10 Foucault (1994: xii). 11 On both the central status and the shifting understanding of light and vision in Enligh‐ tenment epistemology, see also Cassirer, Ernst (2009). Psychology and Epistemology. In. id. The Philosophy of the Enlightenment. Trans. Koelln, Fritz C. A. / Pettegrove, James P. With a foreword by Peter Gay. Princeton and Oxford: Princeton UP, 93-133. The „Dark Ages“ were to be vanquished by a culture of light - as Foucault reminds us, one of the „great mythical experiences on which the philosophy of the eighteenth century had wished to base its beginning“ was the topos of „the man born blind restored to light.” 8 The roots of this topos go back, of course, to Descartes. Foucault elaborates: For Descartes and Malebranche, to see was to perceive (even in the most concrete types of experience, such as Descartes’s practice of anatomy, or Malebranche’s microscopic observations); but, without stripping perception of its sensitive body, it was a matter of rendering it transparent for the exercise of the mind: light, anterior to every gaze, was the element of ideality - the unassignable place of origin where things were adequate to their essence - and the form by which things reached it through the geometry of bodies; according to them, the act of seeing, having attained perfection, was absorbed back into the unbending, unending figure of light. 9 As Foucault points out, though, a concept of perception through sight that takes place in a light both anterior and exterior to the observer is replaced already towards the end of the 18 th century by a concept that locates the power to see truth no longer in the light that previously surrounded objects of perception but rather in the gaze of the observer: At the end of the eighteenth century, however, seeing consists in leaving to experience its greatest corporal opacity; the solidity, the obscurity, the density of things closed in upon themselves, have powers of truth that they owe not to light, but to the slowness of the gaze that passes over them, around them, and gradually into them, bringing them nothing more than its own light. The residence of truth in the dark centre of things is linked, paradoxically, to this sovereign power of the empirical gaze that turns their darkness into light. 10 If we read the rise of an epistemology of sight with Foucault, we must remind ourselves that such an epistemology is neither homogenous in itself, nor did it remain stable over time. 11 Moreover, the distance associated with an epistemology of sight did not simply replace the proximity associated with 63 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="64"?> 12 Classen (2012: 159). A famous illustration of the coexistence of epistemologies of touch and vision - and indeed of the struggle over the primacy of particular epistemo‐ logies - is of course Diderot’s 1749 Letter on the Blind for the Use of Those Who Can See, composed at a moment in time when epistemologies of sight were ascendant and when new medical techniques first made cataract surgeries possible. At the conclusion of the letter, Diderot wonders whether all of our senses in the end aren’t „false witnesses,“ and infamously, his assertion that ultimately, we „know almost nothing at all“ and remain ignorant landed him in prison. See Diderot, Denis (1977). Letter on the Blind. Trans. In: Morgan, Michael J. Molyneux’s Question: Vision, Touch, and the Philosophy of Perception. Cambridge: Cambridge UP, 31-58, here: 58. Two years later, in his Letter on the Deaf and Dumb, for the Use of Those Who Hear and Speak, Diderot writes that „of all the senses, the eye is the most superficial […] [and] touch the most profound and the most philosophical“ (quoted in Classen 160). For a discussion of Diderot’s Letter on the Blind in the force field of epistemological debates on vision and touch, see, for instance, Paterson, Mark (2016). The Testimonies of Blind Men: Diderot’s Lettre. In: id. Seeing with the Hands: Blindness, Vision, and Touch after Descartes. Edinburgh: Edinburgh UP, 109-137. an epistemology of touch. Rather, as Constance Classen reminds us, cultural practices associated with touch and sight coexisted far into the 19 th century: There can be no straightforward narrative of a decline in the cultural importance of touch accompanied by a corresponding rise in the cultural importance of sight. The sensory patterns of history are too complex. Older tactile practices long coexisted with the new emphasis on more disembodied modes of social interaction and religious practice. 12 The European Enlightenment’s fraught terrain, marked by differing and shifting ways of finding and ascertaining truth, finds its Austrian manifestation in Grillparzer’s Vienna. Günter Schnitzler examines the tensions that prevail in Metternich’s Austria between the legacy of Joseph II . and Baroque Catholicism, between late-Enlightenment liberalism and conservatism: Alle […] aufklärerischen und liberalen Tendenzen gehen […] eine im Grunde „un‐ mögliche“ Verbindung mit dem geistigen und kulturellen Erbe der Donaumonarchie ein: die barock-katholische Welt bleibt in der Spätaufklarung Österreichs ebenso an‐ wesend wie die Innerlichkeit und auch der Irrationalismus, der das direkte Eingreifen unbeherrschbarer Mächte möglich scheinen läßt; so werden noch die Wunder durch die Kirche nicht als Glaubensangelegenheiten, sondern auch in der Theorie und der Beweisbarkeit anerkannt. Das Barock-Gegenreformatorische erhält sich in gleicher Weise wie die religiöse und kulturelle Überlieferung bis hin zur habsburgnahen 64 Imke Meyer <?page no="65"?> 13 Schnitzler, Günter (1994). Grillparzer und die Spätaufklärung. In: Neumann, Ger‐ hard / Schnitzler, Günter (Eds.) Franz Grillparzer: Historie und Gegenwärtigkeit. Frei‐ burg im Breisgau: Rombach, 179-201, here: 183. 14 On this point, see, for instance, Alewyn, Richard (1974). Grillparzer und die Restaura‐ tion. In: id. Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt am Main: Insel, 281-298. 15 Schnitzler (1994: 186). 16 The unstable topography invoked by Grillparzer’s text is, of course, reminiscent of the crisis of „boundary maintenance“ (Gailus 2006: 740) that, as Andreas Gailus reminds us, is the very issue that sets in motion the text that inaugurates the modern German-language novella, namely Goethe’s Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, when the frame narrative’s characters flee across the Rhine as Napoleon’s troops advance eastward. See Gailus, Andreas (2006). Form and Chance: The German Novella. In: Moretti, Franco (Ed.) The Novel: Forms and Themes. Princeton: Princeton UP, 739-776, here: 739-753. spanischen Welt, und zugleich rezipieren die Spätaufklärer der Grillparzer-Zeit die Texte von Leibniz, Wolff und vor allem von Kant. 13 Grillparzer, an outspoken critic of Metternich 14 and of the stifling effects his bureaucratic absolutism and censorship had on Austrian intellectual life, and an avid reader of Voltaire, Montesquieu, Diderot, and particularly Kant, nevertheless saw limits to the benefits enlightened reason could bestow upon humankind. Günter Schnitzler outlines Grillparzer’s skepticism towards the Enlightenment: Grillparzer [erhob] fortwährend […] Vorwürfe vornehmlich gegen eine Aufklärung, deren Rationalismus zudem mit einem Erkenntnis- und Zukunftsoptimismus gepaart ist. Der skeptisch-desillusionistischen Haltung des österreichischen Spätaufklärers steht dies doch recht fern: Grillparzer hegte im Bereich der Ethik erhebliche Zweifel an einer beständigen Entwicklung zum „besseren Menschen“, wie es vor allem in rationalistischen Systemen propagiert wurde; aber auch in der Erkenntnistheorie zweifelte er - trotz der intensiven Kantstudien - an einer angemessenen, theoretisch fundierten Möglichkeit, Erfahrungswirklichkeiten zu fassen […]. 15 Just as Grillparzer was critical of narratives of progress and felt dubious about the possibility of epistemological certainty, Das Kloster bei Sendomir reflects a world in which stability, insight, and human perfectibility are unobtainable. Set in 17 th -century Poland, a country that in the 18 th century would suffer three partitions at the hands of the Habsburg Empire, Prussia, and Russia, and in the city of Sandomierz, which, in Grillparzer’s lifetime, was ruled alternately by Austria and Russia, Grillparzer embeds his story in a topography whose stability, as Grillparzer’s readers know, exists on borrowed time 16 and whose state will soon, beyond the frame of the story, be as fractured and torn as Vienna’s 65 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="66"?> 17 In his reading of the subtitle and the „Wahrheitskriterium,“ Rolf Füllmann references Eckermann’s Gespräche mit Goethe (which, of course, appeared eight years after the publication of Sendomir) and Goethe’s famous remarks on the „sich ereignete unerhörte Begebenheit; “ Füllmann identifies an assonance to Schiller’s Verbrecher aus verlorener Ehre. See Füllmann 2020: 117-118. On the novella genre and the matter of „Begebenheiten,“ see, for instance, Weing, Siegfried (1994). The German Novella: Two Centuries of Criticism. Columbia, SC: Camden House, here: 18-36. intellectual landscape in Metternich’s Austria. It is, then, on this fraught terrain that we encounter Grillparzer’s protagonist, an emotionally unstable monk who relates the story of the monastery’s origins and who turns out to be identical to the hero of the framed narrative he presents, the Graf Starschensky. Framing Uncertainty The epistemological uncertainty that marks Grillparzer’s text announces itself already in its subtitle: „Nach einer als wahr überlieferten Begebenheit.“ The formulation sidesteps a more direct statement - such as „Nach einer wahren Begebenheit” - an element typical of the novella genre, of course. Instead, the phrasing makes plain that the title’s implied narrator is not willing or able to vouch for the truth value of the text’s events. Rather, the responsibility for the truth - or lack thereof - of the events is delegated to the anonymous forces of Überlieferung. 17 The subtitle gives way to a narrative that we will soon identify as the novella’s frame. A broad vision of the Sendomir province’s landscape narrows into a close-up description of „zwei Reiter“ approaching the eponymous monastery: Die Kleidung der späten Gäste bezeichnete die Fremden. Breitgedrückte, befiederte Hüte, das Elenkoller vom dunklen Brustharnisch gedrückt, die straffanliegenden Unterkleider und hohen Stulpenstiefel erlaubten nicht, [die Reiter] für eingeborne Polen zu halten. Und so war es auch. Als Boten des deutschen Kaisers zogen sie, selbst Deutsche, an den Hof des kriegerischen Johann Sobiesky, und, vom Abend überrascht, suchten sie Nachtlager in dem vor ihnen liegenden Kloster. (SW 3: 119 [my italics]) Here, the representation of textiles in particular evokes affect through an emphasis on their haptic qualities. The narrative reflects on the nexus of vision, touch, and the textual construction of meaning. Having been prompted by Schreyvogel to turn his Sendomir sketch into a prose story, Grillparzer seems to probe the notion of Stoff in all of its senses - sujet, matter, substance, textile. Though the Bezeichnung the visual appearance of the textiles accomplishes in the passage above is one of exclusion and circumscription, the text here 66 Imke Meyer <?page no="67"?> 18 August Obermayer reads the narrator’s tendency to withhold his knowledge from the reader as part of a dialectic of concealment and revelation. See Obermayer, August (1992). Franz Grillparzer: Das Kloster bei Sendomir. In: Obermayer, August (Ed.). „Was nützt der Glaube ohne Werke: Studien zu Franz Grillparzer anläßlich seines 200. Geburtstages. Dunedin, New Zealand: University of Otago, 206-218, esp. 213-218; also Obermayer, August (2001). Die Bedeutung des Rahmens in Grillparzers Novellen ‚Das Kloster bei Sendomir‘ und ‚Der arme Spielmann‘. In: Mehigan, Tim / Sauder, Gerhard (Eds.) Roman und Ästhetik im 19. Jahrhundert: Festschrift für Christian Grawe zum 65. Geburtstag. Sankt Ingbert: Röhrig, 45-61, here: 52-56. On concealment in the novella, also see Allen, Richard (1975). The Fine Art of Concealment in Grillparzer’s ‚Das Kloster bei Sendomir‘. Michigan German Studies 1, 181-187. For alternative readings of the text’s complex narrative situation, see especially Himmel, Hellmuth (1976). Grillparzers Novelle ‚Das Kloster bei Sendomir‘: Struktur und Erzählsituation. Grillparzer-Forum Forchtenstein: Vorträge, Forschungen, Berichte, 42-68, here: 56-64; and Leitgeb, Christoph (1994). „Grillparzers ‚Kloster bei Sendomir‘ und Musils ‚Tonka‘: Ein Sprachstilvergleich.“ Sprachkunst 25.2 347-371, esp. 347-351; further Nölle, Volker (2001). Beichten und ihre ‚Bruchstellen‘ in Erzählungen von Grillparzer, Keller und Joseph Roth. ZfdP 120, 34-53, here: 43-47. nevertheless invites the reader to imagine a tactile relationship with the characters in the text: terms like „gedrückt“ and „straffanliegend“ suggest intimacy as the textiles literally touch and press against the bodies of the characters. The visual assessment of the characters we are allowed to perform, along with the invitation to slip into their skin and imagine the feel of their clothes on their bodies, ultimately yields only negative insights, though: the „Reiter“ must be Fremde; and their appearance excludes the possibility that they could be „eingeborne Polen.“ Further insight can only be granted by a narrator who we thought was sharing all of his knowledge all along, but who instead apparently toyed with us and now asserts his omniscience belatedly with the pronouncement „Und so war es auch.” 18 The epistemological uncertainty that pervades the narrative frame is evident as the two imperial messengers approach the monastery to ask for shelter for the night. A „Pförtner“ invites them in, but he states that the abbot will not be able to welcome them as evening prayers are already in progress. The narrator continues: Die Angabe des etwas mißtrauisch blickenden Mannes ward durch den eintönigen Zusammenklang halb sprechend, halb singend erhobener Stimmen bekräftigt, die, aus dämpfender Ferne durch die hallenden Gewölbe sich hinwindend, den Chorgesang einer geistlichen Gemeine deutlich genug bezeichneten. (SW 3: 119 [my emphases]) It is the gatekeeper whose gaze is described as „mißtrauisch,“ but his attitude of mistrust curiously seems to be transferred both to the „Fremden“ themselves and to us as readers. The gatekeeper’s „Angabe” - possibly just a neutral 67 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="68"?> 19 Arens (2007: 36). 20 On this point, see also Rösch (1999: 247). Dagmar Lorenz argues that the monastery’s pseudo-Gothic style „weist auf das Überholte der katholischen Bauwerke - bei dem antiklerikalen Grillparzer ein keineswegs unerwarteter Seitenhieb auf die Machtstruk‐ turen des Wiener Hofes“ (Lorenz (2010: 13)). statement - morphs under his mistrustful gaze into a mere claim that needs to be „bekräftigt.“ This Bekräftigung, though, is in turn weakened by the paradoxical auditory sensation of an „eintönige[r] Zusammenklang“ of voices that are „halb sprechend, halb singend” - hovering, as it were, between the realms of the prosaic and the poetic. To make matters worse, the voices are perceived only in a muffled manner, „aus dämpfender Ferne,“ and distorted through „hallende Gewölbe.“ All of these qualifiers result in a signification that is merely „deutlich genug,“ but not necessarily beyond doubt. The narrator seems to imply here that we as readers may have to settle for a truth value that is just about good enough - “deutlich genug” - and that ultimate knowledge, whether sought with touch, vision, or even hearing, remains obscured in a world in which our sensual perception is imperfect. The passage quoted above can also point us to another one of Grillparzer’s po‐ etological observations: „Der wesentliche Unterschied der Novelle vom Drama besteht darin, daß die Novelle eine gedachte Möglichkeit, das Drama aber eine gedachte Wirklichkeit ist.“ ( SW 3: 292) As Katherine Arens puts it in her gloss on Grillparzer’s statement, the novella genre, then, „has probability rather than realism on its side.” 19 In a literary space in which realism is not the coin of the realm, we have to settle for the possible and the probable - that which is „deutlich genug.“ From the „deutlich genug“ signification in the acoustic realm, the messengers now move into an architectural space that aims to signify through „absicht‐ liche […] Genauigkeit“: Die beiden Fremden traten in das angewiesene Gemach, welches, obgleich, wie das ganze Kloster, offenbar erst seit kurzem erbaut, doch altertümliche Spitzformen mit absichtlicher Genauigkeit nachahmte. (SW 3: 119 [my italics]) Paradoxically, the „absichtliche Genauigkeit“ of the stylistic imitation both conceals and reveals the artificiality and inauthenticity of the monastery’s architecture. Additionally, the faux-Gothic style points us back towards the Middle Ages and simultaneously forward, beyond the text’s diegetic era of the 17 th century’s Ottoman wars, and towards the time of Grillparzer’s writing of the text and Romanticism’s Gothic revival. 20 Beyond the fact that here we once again encounter an unstable temporality, the pseudo-Gothic monastery is, of 68 Imke Meyer <?page no="69"?> 21 When Grillparzer worked on Das Kloster bei Sendomir, the figure of the monk who is not what he appears to be had of course already been established as a staple character in Gothic fiction and had also found its way into German literature. Matthew Gregory Lewis’ Gothic bodice ripper The Monk, published in England in 1796 and itself influenced by Ann Radcliffe’s The Mysteries of Udolpho (1794), helped inspire E. T. A. Hoffmann’s novel Die Elixiere des Teufels (1815). In 1930 already, Mario Praz traced these and other genealogies of Gothic fiction and motifs in his monumental study on Gothic literature, La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica. For the relevant passages in the German translation, see Praz, Mario (1963). Liebe, Tod und Teufel: Die schwarze Romantik. München: Carl Hanser. On Praz, Lewis, and Hoffmann, see also Alt, Peter-André (2009). Der Teufel als Held: Schwarze Romantik und Heroisierung des Bösen. Merkur 63: 9-10, 880-887. Füllmann explicitly identifies Sendomir as a „schauerromantisches Nachtstück“ (Füllmann 123), and he likens Grill‐ parzer’s description of the monk to Hoffmann’s representation of Coppelius in Der Sandmann (1816). Füllmann likewise links the monastery’s architecture to standard Gothic backdrops and draws comparisons between Sendomir and Hoffmann’s Das Majorat (1817). Himmel also identifies a kinship between Hoffmann’s Nachtstücke and Grillparzer’s Sendomir (see Himmel 43). Numerous critics have pointed to the kinship between Grillparzer’s 1817 Gothic play Die Ahnfrau and Sendomir; see, for instance, Allen (1975: 187); Obermayer (2001: 207); also Füllmann (2001: 115-116), with reference to Brigitte Prutti’s classification of Die Ahnfrau as an example of Schauerromantik. See Prutti, Brigitte (2013). Grillparzers Welttheater: Modernität und Tradition. Bielefeld: Aisthesis, 21-22. course, a trope that signals to us that we are about to enter Schauerromantik terrain. Gothic Intimacies True to Schauerromantik conventions, the text soon introduces us to „eine seltsame Menschengestalt“ wrapped in „ein abgetragenes, an mehreren Stellen geflicktes Mönchskleid, das sonderbar genug gegen den derben, gedrungenen Körperbau abstach“ ( SW 3: 120). 21 The prolonged touch between body and clothing captured in the term „abgetragen“ draws us into a degree of intimacy with the monk from which we instinctively recoil. We experience relief from this discomfort through the distancing effect produced by the visual Abstechen of the robe from the „derben, gedrungenen Körperbau.“ The detailed description of the monk’s appearance ends with a passage focused on his gaze: Das Auge, klösterlich gesenkt, hob sich nur selten; wenn es aber aufging, traf es wie ein Wetterschlag, so grauenhaft funkelten die schwarzen Sterne aus den aschfahlen Wangen, und man fühlte sich erleichtert, wenn die breiten Lider sie wieder bedeckten. (SW 3: 120) 69 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="70"?> The unsettling intensity of the monk’s gaze shields it from legibility, and the onlookers feel themselves repelled and distanced, much like observers of an eerie night sky, as they encounter the „schwarzen Sterne.“ At the same time, the emancipation from touch and thus from proximity to and physical intimacy with strangers that a modern epistemology of sight seemed to guarantee is also negated here. Rather, the distance of the gaze is replaced with a disquieting reintroduction of proximity via an eye that seems to touch those it encounters: „Die dunklen Augen des Mönchs hoben sich bei dieser Rede [des einen Fremden] und hafteten mit einer Art grimmigen Ausdruckes auf dem Sprechenden“ ( SW 3: 121 [my italics]). The unsettling combination of vision and figurative touch, of distance and proximity in the monk’s gaze is accompanied by a touch that is out of proportion to the environment to which it relates. When the Fremden suggest that a „gottgeliebter Mann“ must have built the monastery, the monk responds with a „schmetterndes Hohngelächter,“ and „[d]ie Stuhllehne, auf die er sich gestützt hatte, brach krachend zusammen“ ( SW 3: 121-122). Here, touch once again conveys affect, but rather because touch turns destructive, revealing the force of barely contained rage. The breaking of the chair, a structure used to support the human frame, also foreshadows the instability of the narrative scaffolding, i. e., of the frame that will support the monk’s story. It bears mention that the communicative situation that prompts the monk’s telling of his story is not altogether typical of the way in which Binnenerzäh‐ lungen within novellas are usually set up in the frame. Whereas it frequently is the desire of the characters in the frame to be distracted from their present situation that prompts the narration of the framed narrative, in the case of Grillparzer’s novella, the Fremden actually are perfectly content to talk amongst themselves. They are engrossed „im eifrigen Gespräch; vielleicht vom Zweck ihrer Reise, offenbar von Wichtigem“ ( SW 3: 120). They are not at all eager to be transported away from their usual business or from the attention they pay to each other by a tale presented to them by another party. Rather, they resist going along with the reader’s generic expectation that they will welcome the company of another person who might be expected to distract them with a story, and it is rather „ungern“ that the Fremden „unterbrechen […]“ their conversation ( SW 3: 120) as the monk enters unbidden to light a fire the visitors insist they don’t need. The monk, we might say, forces his way into the discursive space to open up the possibility of the telling of what will turn out to be his confessional tale. The dual impulse of aggression and servility that marks the monk’s entry into the text will continue to characterize his behavior throughout the novella. The monk finally begins to relate the story of the monastery’s founding, and as mentioned above, only at the closing of the narrative frame at the end of 70 Imke Meyer <?page no="71"?> 22 See, for instance, Himmel (1976: 55 and 57-58); see also Himmel’s analysis of the ego‐ centrism inherent in the monk’s / Starschensky’s narrative and in his deeds (47 and 66) and his „Selbstherrlichkeit“ (48) - tendencies he links directly to Starschensky’s killing of Elga. See also Nölle, who terms the monk’s „Beichte“ of his murder of Elga „eine verkappte Ich-Erzählung“ (Nölle 2001: 38); Nölle likewise highlights what might be au‐ tobiographical elements (47-48). Already in 1944, Wolfgang Paulsen had understood the Sendomir novella as a text that contained elements of an autobiographical „Beichte“ of Grillparzer’s complex relationships with women in the 1820s. Paulsen, Wolfgang (1944). Grillparzers Erzählkunst. Germanic Review 19, 59-68, here: 66. Konrad Schaum offered an autobiographical reading of the novella in 2001. Schaum, Konrad (2001). Schuld und Sühne in Grillparzers Erzählung ‚Das Kloster bei Sendomir‘. In: id. Grillparzer-Studien. Bern: Peter Lang, 291-310. An alternative reading of the impact of biographical facts both on Sendomir and on Das goldene Vließ is offered by Politzer, Heinz (1972). Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Vienna / Munich / Zurich: Verlag Fritz Molden, 147. In her examination of Grillparzer’s explicitly autobiographical writing, Brigitte Prutti reminds us that Foucault interprets autobiographical writing as a secular form of confession that produces in the first place the very interiority it claims to express. See Prutti, Brigitte. Unglück und Zerstreuung: Autobiographisches Schreiben bei Franz Grillparzer. Bielefeld: Aisthesis, 2016, 67. 23 See also Nölle, who observes that the monk’s / Starschensky’s confession to the Fremden „das satanische Tun nicht eingesteht und folglich nicht verarbeitet, sondern es ‚nur‘ wiederholt“ (Nölle 2001: 49). 24 In his by now seminal discussion of the novella’s form and history from Goethe to Kafka, Andreas Gailus identifies the novella as a „genre of crisis“ (Gailus 2006: 740). Certainly, Grillparzer’s novella can also be described in these terms. the novella will it be revealed that Starschensky, the framed story’s protagonist, is not only the monastery’s founder, but also in fact the monk. As numerous scholars of Grillparzer’s text have observed, the fact that the monk chooses not to relate a first-person narrative but rather reports about himself in the third person affords him heightened interpretive powers over the story’s characters, in particular over Elga, his / Starschensky’s love interest and, later, his wife. 22 The assumption of absolute interpretive power over Elga repeats on a symbolic level the monk’s / Starschensky’s bloody murder of Elga, whom Starschensky had suspected of adultery. 23 The murder represents both the climax of the monk’s / Starschensky’s story, and the culmination of the epistemological crisis at the heart of Grillparzer’s text. Framing and Transgression The severity of this epistemological crisis is mirrored not just in the events recounted in the monk’s story and in its murderous climax, but also in the uncontainable nature of this crisis. It is not only the case that the frame for the monk’s story is itself shot through with markers of this crisis. 24 What is 71 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="72"?> 25 Fuchs characterizes the novella genre as a form that has an „ability to transgress its own limits“ (Fuchs 2019: 402). In the case of Grillparzer’s text, this statement would also aptly describe the relationship between the frame and the framed narrative. 26 The impossibility of a synthesis or of any kind of Aufhebung of the epistemological crisis seems implicitly anti-Hegelian. On Grillparzer’s critical stance towards Hegel, see, for instance, Günter Schnitzler (1994: esp. 188-191). See also Arens 2007: 22; also Arens, Katherine (2015). Vienna’s Dreams of Europe: Culture and Identity Beyond the Nation-State. New York / London / Oxford / New Delhi / Sydney: Bloomsbury, 72-73. 27 See Remak 1996: 222-223. 28 Simmel, Georg (2017). Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Ed. By Kramme; Rüdiger / Rammstedt, Angela / Rammstedt, Otthein. Frankfurt am Main: Suhrkamp, I, 101-108, here: 101. 29 Lorenz points out that the characterization of Starschensky prior to his first encounter with Elga can in fact already be understood as „mönchisch” - a state Starschensky gives up because of Elga. Lorenz (1986: 58). more, this frame cannot hold the framed story in 25 - the monk’s story cannot be sublated, and the frame repeatedly cracks. 26 What Henry Remak has identified as „die klassische Funktion des Rahmens“ in the novella, namely to stabilize „[das] Einmalig-Unerhörte […] der berichteten Begebenheit“ and to keep in check „[das] Sprengende […] des Inhalts“ of the narrative, 27 is precisely the kind of work that the frame in Grillparzer’s text refuses to do. Georg Simmel, in his 1902 essay on the aesthetic function of the frame in painting, observed that the „Grenzen“ of a work of art mark „jene[n] unbedingetn Abschluß, der die Gleichgültigkeit und Abwehr nach außen und den vereinheitlichenden Zusammenschluß [die Einheit aus Einzelheiten im Kunstwerk] nach innen in einem Akte ausübt.“ Simmel goes on to ascribe to the frame that is added to the work of art a function that both symbolizes and enhances its existing boundary: Was der Rahmen dem Kunstwerk leistet, ist, daß er diese Doppelfunktion seiner Grenze symbolisiert und verstärkt. Er schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird. 28 The possibility of aesthetic distance is what Grillparzer’s monk denies both to the two travelers listening to him and to us as readers. Early on in the framed narrative, the monk characterizes Starschensky (i.e., himself) as someone who enjoys „ein über alles gehendes Behagen am Besitz seiner selbst“ and as an individual for whom „Abwesenheit von Unlust“ is „Lust“ ( SW 3: 123). 29 The monk / Starschensky then interrupts the narrative and turns to his listeners: „Habt Ihr noch Wein übrig? Gebt mir einen Becher! Der Graf [Starschensky] war so schlimm nicht.“ ( SW 3: 123) A short time later, immediately after he describes the looks of Elga, his future wife, the monk / Starschensky turns to his listeners, 72 Imke Meyer <?page no="73"?> 30 Obermayer reads the monk’s remark as an attempt to move away from an „ungemäßen Schwärmerei“, Obermayer (1992: 216). 31 Simmel (2017: 102). 32 Simmel (2017: 103). 33 „Aller Unfrieden geht davon aus,“ the monk / Starschensky states (SW 3: 122). The monk aims to draw here a dichotomy between city and rural life, identifying the city with „Unfrieden,“ rural life with peace. As the narrative progresses, this dichotomy gets increasingly undermined, as it is in fact Starschensky’s unbalanced behavior both in the city and in a rural setting that brings about the narrative’s central crisis. On the city-countryside dichotomy, see Leitgeb 354-359. See also Wojno-Owczarska, Ewa (2012). Das Schicksal der Familie Starschensky in der Novelle Das Kloster bei Sendomir von Franz Grillparzer, im Drama Elga von Gerhart Hauptmann und in der gleichnamigen Oper von Rudolf Weishappel. In: Kolago, Lech / Godlewicz-Adamiec, who, as he had ascertained earlier, have no relations with women, and references his sexual excitement: „Nicht wahr, davon wißt Ihr nichts, Malteser? Ja, ja, bei dem alten Mönch rappelts einmal wieder! Laßt uns noch eins trinken! “ ( SW 3: 124) Here, the cracks in the boundary that was supposed to separate the framed narrative from the frame narrative force both the intra-diegetic listeners and the extra-diegetic readers into an uncomfortable intimacy with an inebriated and sexually titillated monk. 30 The dialectic of „Distanz und Einheit, Antithese gegen uns und Synthese in sich” 31 that Georg Simmel believes is guaranteed by the aesthetic distance a frame can provide between an artwork and its beholder is impossible to achieve in Grillparzer’s text. „[ J]ene inselhafte Stellung, deren das Kunstwerk der Außenwelt gegenüber bedarf “ can only be maintained by an intact frame: Deshalb darf der Rahmen nirgends durch seine Konfiguration eine Lücke oder Brücke bieten, an der sozusagen die Welt hinein könnte oder an der es in die Welt hinaus könnte. 32 Grillparzer’s text, through its cracked frame, undercuts any possibility of aesthetic distance between listener and storyteller, between reader and narrator; and a resolution, containment, and dialectical sublation of the epistemological crisis at the text’s heart is foreclosed. Gender and Knowledge: You Can Look, But Can You Touch? Early on in the framed narrative, the monk / Starschensky establishes a gendered view of the world. In his first encounter with Elga, Starschensky gets to listen, glimpse, and touch before he gets to look. On a trip to Warsaw - a city he has already identified to his listeners as the root of all evil 33 - he is addressed during 73 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="74"?> Joanna (Eds.) Deutsch-polnische Beziehungen in Kultur und Literatur. Warszawa: Inst. Germanistyki Uniw. Warszawskiego, 71-83; here: 81. 34 On this latter point, see also Arens (2007: 36-37). a dark night by an at first disembodied „weibliche Stimme“ that „zitternd and schluchzend“ asks him for help. Starschensky can barely discern her, but „Hals und Arme schimmerten weiß durch die Nacht.“ He follows her to a modest abode and then finds himself alone with her „auf dem dunklen Flur,“ where „[e]ine warme, weiche Hand ergreift die seinige“ ( SW 3: 123). The „weibliche Stimme“ is now augmented with body parts - a white neck, white arms. The imagery hovers uncomfortably in the vicinity of necrophilic fetishism and eerily foreshadows both Starschensky’s murder of Elga and the erotic memories of her in which he continues to indulge after her death. He then pivots his story, though, and makes Elga come to life in the recollection of the touch of her „warme, weiche Hand.“ At this point in the framed narrative, Starschensky / the monk again breaks through the frame, interrupting the flow of his story to engage with his listeners. After this retardation of his increasingly erotically charged narrative, he continues: Ein bis dahin unbekanntes Gefühl ergriff den Grafen bei der Berührung der warmen Hand. Sie erzählen ein morgenländisches Märchen von einem, dem plötzlich die Gabe verliehen ward, die Sprache der Vögel und andern Naturwesen zu verstehen, und der nun, im Schatten liegend am Bachesrand, mit freudigem Erstaunen rings um sich überall Wort und Sinn vernahm, wo er vorher nur Geräusch gehört und Laute. So erging es dem Grafen. Eine neue Welt stand vor ihm auf, und bebend folgte er seiner Führerin, die eine kleine Türe öffnete, und mit ihm in ein niederes, schwacherleuchtetes Zimmer trat. (SW 3: 124 [my italics]) Here, the touch of a woman’s hand produces an affect which in turn touches („ergriff “) Starschensky. The circuitous mediatedness of this description of Ergriffenheit is heightened by the interpolation of a reference to yet another nar‐ rative, a „morgenländisches Märchen.“ The exoticism inherent in the adjective „morgenländisch“ foreshadows the exoticized perception of the warm hand’s owner, whose appearance will be revealed in the first „Strahl des Lichtes“ ( SW 3: 124) that will soon penetrate the „niederes, schwacherleuchtetes Zimmer.“ For now, the light-filled natural world of the „morgenländisches Märchen“ and the „neue Welt“ that opens up to Starschensky stand in odd contrast to the scene’s actual claustrophobic and dimly lit setting. 34 The fact that the touch of Elga’s hand conjures in Starschensky / the monk associations to a fairy tale about the ability to understand the language of ani‐ 74 Imke Meyer <?page no="75"?> 35 Classen (2012: 75). 36 For a detailed reading of the probable historical context referenced here in Grillparzer’s text, see Arens (2007) in toto. 37 Lorenz (1986: 58). mals is no accident. Constance Classen links „the gendered nature of perception“ to „the scriptural account of the Fall“ and the hierarchy of the senses: Touch, taste and smell were generally held to be the lower senses and thus were readily linked to the lower sex - women. Similar associations were made between touch, taste, and smell and the lower classes, the lower (non-European) races, and […] the lower species. […] [Women’s] association with the senses of touch, taste, and smell reinforced the cultural link between femininity and the body, for these senses were closely tied to intimate bodily experience. The distance senses of sight and hearing, by contrast, were associated with the perception of the external, masculine world. 35 We might read the association of the orientalist world of the fairy tale with the touch of a woman’s hand as the lure of a feminine world that, under the veneer of the peaceful image of nature and exotic animals, is not open and enlightened, but beastly and base, narrow and dark like the room Starschensky enters with Elga. The idea that the codes of this feminine world are actually meaningful, that they have „Wort und Sinn,“ is literally a fairy tale. The reality is that a world associated with racial others and women has nothing to offer but „Geräusch“ und „Laute.“ The touch of a woman’s hand opens the door merely to carnal knowledge. Creation and Procreation: Generating Doubt As the framed narrative proceeds, it becomes ever more clear that there is no way to separate an epistemology of touch and its associations with nature, femini‐ nity, and physical intimacy from an epistemology of sight and its associations with culture, masculinity, and distance. For one, after Starschensky’s sensuous side is awakened by the touch of the girl’s hand, he finally gets to look at her face and her entire body, and he concludes that she is „schön in jedem Betracht.“ She has curly black hair, light blue eyes, and „üppig aufgeworfene[…], beinahe zu hochrote[…] Lippen“ ( SW 3: 124). Now that he has had a look, Starschensky would clearly like to touch again. Elga pleads for help for her father, a nobleman who has fallen into poverty when his properties were seized as a result of the anti-patriotic political activities in which his two sons engaged. 36 The sons, along with their co-conspirators, are banished. Elga’s appeal to Starschensky’s „ritterliche[n] Instinkt” 37 is successful. Starschensky uses his wealth and his influence to restore Elga and her father to a decent living situation and is able 75 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="76"?> 38 This constellation almost seems to anticipate the situation of Fräulein Else in Schnitz‐ ler’s eponymous novella. Interestingly, Richard Lawson proposes to read Elga as a prototype of literary representations of the süßes Mädel. While I don’t think Grillpar‐ zer’s representation of Elga ultimately bears out this comparison, Lawson reads the text against the grain, thus highlighting the possibility that Starschensky might not interpret Elga’s actions correctly and that the child she will bear is in fact Starschensky’s. In the end, though, Lawson pivots to an anti-feminist reading and ascribes an inherent moral weakness to Elga. See Lawson, Richard H. (1968). The Starost’s Daughter: Elga in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir. Journal of the International Arthur Schnitzler Research Association 1: 3, 31-37. 39 Lorenz proposes a very similar reading of the marriage between Starschensky and Elga (Lorenz 1986, 58-59). Lorenz characterizes Starschensky’s marriage to Elga as an „Erwerb der Frau“ that, after the successful conclusion of the transaction, results in an end to Starschensky’s generosity and a move back to his countryside properties (59). On the contrast between Elga as a victim of her family and Starschensky’s feeling that he is Elga’s victim, as well as on an unspoken and unspeakable kinship between Starschensky and Oginsky, see Muschg, Adolf (1990). ‚Das Kloster bei Sendomir‘ als Nō-Spiel. Eine Art Geburtstagsbrief für G. K. In: Buhr, Gerhard / Kittler, Friedrich A. / Turk, Horst (Eds.) Das Subjekt der Dichtung: Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg: Königshausen & Neumann, 595-605, here: 602-603. On the fact that Starschensky can take advantage of Elga because of her financial dependence, see also Zsigmond, Anikó (1994). Psychologie und Irrwege des verletzten Stolzes. Das Motiv des Ehebruchs und der Rache im ‚Kloster bei Sendomir‘ von Franz Grillparzer und in der ‚Elga‘ von Gerhart Hauptmann. In: Kerekes; Gábor (Ed.) Grillparzer einst und heute. Szombathely, 51-57, here: 56. On Elga’s dependence, see also Wojno-Owczarska (2012: 80). to help lift the banishment of Elga’s brothers. They soon return home, along with an „entfernter Verwandter des Hauses,“ Oginsky ( SW 3: 125). Starschensky continues to support Elga and her family - not without an ulterior motive, as he has fallen for Elga. In the monk’s / Starschensky’s telling, it is clear that Elga’s father would welcome a marriage between his daughter and Starschensky, as such a bond would secure the family’s financial future. In essence, Elga is traded for money: 38 to save his and his sons’ financial and political future, a father barters away his daughter to a wealthy older man. 39 Elga’s perspective on all of these matters must remain obscured - not only is the narrative told from Starschensky’s point of view, but when we learn of her murder later on, we understand, of course, that her voice has been silenced for good. In the monk’s / Starschensky’s resentment-tinged telling, he mortgages his properties to pay for his wife’s family’s cost of living, to support the expensive habits of her brothers, and to finance Elga’s taste for fancy clothing, jewelry, and festivities in the city. Finally alerted to the growing precarity of his own financial circumstances, Starschensky proposes to his wife a move back to his family properties in the countryside, a move to which Elga readily agrees, not 76 Imke Meyer <?page no="77"?> 40 Here, one feels reminded, of course, of Goethe’s Wahlverwandschaften (1809). Leitgeb provides an examination of some of the assonances between Goethe’s text and Sendomir and discusses Grillparzer’s critique of Goethe’s use of the symbolic function of images. See Leitgeb (1994: 360-362 and 367). Grillparzer termed the Wahlverwandtschaften „ein unendliches Meisterstück,“ but lamented: „Was in diesen Wahlverwandtschaften am meisten stört, ist gleich von vornherein die widerliche Wichtigkeit die den Parkanlagen, kleinlichen Baulichkeiten und dergleichen Zeug, fast parallel mit der Haupthandlung, gegeben wird.“ Grillparzer believed the „abgeschmackten Parkgeschichten“ stood in the way of a more detailed development of characters and particular narrative strands (SW 3: 772-773). least because she is pregnant. An „engelschönes, kleines Mädchen“ ( SW 3: 129) is born, and life seems reasonably good for a while. Of the daughter, we hear: Kaum konnte aber auch etwas Reizenderes gedacht werden, als das kleine, rasch sich entwickelnde Mädchen. In allen schon angekündigten Formen der Mutter Abbild, schien sich die schaffende Natur bei dem holden Köpfchen in einem seltsamen Spiele gefallen zu haben. Wenn Elga bei der Schwärze ihrer Haare und Brauen durch ein hellblaues Auge auf eine eigene Art reizend ansprach, so war bei dem Kinde diese Verkehrung des Gewöhnlichen nachgeahmt, aber wieder verkehrt; denn goldene Locken ringelten sich um das zierliche Häuptchen, und unter langen blonden Wimpern barg sich, wie ein Räuber vor der Sonne, das große schwarzrollende Auge. Der Graf scherzte oft über diese, wie er es nannte, auf den Kopf gestellte Ähnlichkeit, und Elga drückte dann das Kind inniger an sich und ihre Lippen hafteten auf den gleichgeschwellten, strahlenden von gleichem Rot. (SW 3: 130 [my italics]) The identity of Starschensky and the monk has not yet been revealed to the intra-diegetic listeners, nor would a first-time reader of the text have knowledge of it; but we do learn in the frame narrative, of course, that the monk has eyes like „schwarze Sterne,“ and that his hair is „stark gekräuselt“ and was „vormals augenscheinlich rabenschwarz“ ( SW 3: 120). At least where the child’s eyes are concerned, the „Ähnlichkeit“ of her appearance seems „auf den Kopf gestellt“ only vis-à-vis her mother, but not vis-à-vis her father. 40 As the narrator-monk relates his story in hindsight, though, he chooses to disregard this detail. Instead, he opts to describe the child as the fruit of a seduction legible in the red lips that visually copy her seductive mother with her „üppig aufgeworfenen“ and „beinahe zu hochroten Lippen.“ The story he tells is tinged already with his belief that his wife was an adulteress, and that he is not the father of a girl he formerly considered his daughter. Starschensky’s belief that his wife has betrayed him forms gradually, over a period of time during which his Hausverwalter repeatedly mentions a shadowy figure he claims to have seen sneaking around at night. Different suspicions are 77 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="78"?> 41 Lorenz, too, stresses the fact that „die Welt des Textes frauenlos ist“ (Lorenz 1986: 58). cast upon this figure - he might be a political co-conspirator of Elga’s untrust‐ worthy brothers, or he might be an illicit lover of Elga’s maid. Starschensky resists believing this latter story, but having no proof to the contrary, he has no choice but to acquiesce for the time being. The monk notes: Der Graf bestrebte sich nicht bloß, über die Vorgänge […] nichts zu denken, er dachte wirklich nichts. Denn wenn der verfolgte Strauß sein Haupt verbirgt und wähnt, sein Nichtsehen der Gefahr sei zugleich ein Nichtdasein derselben, so tut der Mensch nicht anders. Unwillkürlich schließt er sein Auge vor einem hereinbrechenden Unvermeidlichen, und jedes Herz hat seine Geheimnisse, die es absichtlich verbirgt vor sich selbst. (SW 3: 135) Here, vision is posited implicitly as a source of insight that would be able to confirm that an anxiety does not hover without reason, that a feeling harbored inside one’s heart is based on truth. However, the text also makes clear that the claim of the reliability of an epistemology of sight is entirely fabricated: in his homosocial world, 41 Starschensky chooses to believe the stories of his Hausverwalter and to discount the stories of Elga and her maid; and in his role as monk narrating in hindsight, once again ensconced in an entirely homosocial world, Starschensky’s story is presented from an angle that allows for the justification of the murder of Elga. It would be just as plausible to believe Elga, to believe her maid, and to stop inventing answers to problems that don’t necessarily exist. Instead, the monk / Starschensky chooses to elevate a vague affect, an anxiety, to the level of truth by arguing that a gaze from an eye open to reality could have confirmed this anxiety’s validity. The Secret Within As it is Starschensky in his role as narrating monk who is constructing the story, it is no surprise that he soon gets his opportunity to see for himself - to confirm the truth of a fear that has touched his heart. Starschensky happens upon his daughter, who is playing with jewelry from a box she has pulled from Elga’s table. Starschensky picks up the jewelry and proceeds to put it back in the box: Der Deckel des Schmuckkästchens, augenscheinlich ein doppelter, war durch den Sturz vom Tische aus den Fugen gewichen, und da der Graf versuchte, ihn, mit dem Finger drückend, wieder zurückzupressen, fiel der innere Teil der doppelten Verkleidung auf den Boden und zeigte in dem rückgebliebenen hohlen Raume ein Porträt, das, schwach 78 Imke Meyer <?page no="79"?> 42 Foucault, Michel (1980). Introduction. In: Barbin, Herculine. Being the Recently Dis‐ covered Memoirs of a Nineteenth-Century French Hermaphrodite. Trans. Richard McDougall. New York: Pantheon, vii-xvii, here: x-xi. eingefügt, leicht von der Stelle wich und das nun der Graf hielt in der zitternden Hand. (SW 3: 136 [my italics]) Here, a moment that „augenscheinlich“ seems to offer itself up for visual confir‐ mation of an already assumed truth is, in keeping with the text’s representation of radical epistemological uncertainty, shot through with elements of touch. It is in fact Starschensky’s fiddling with the box, the touch of his hand, that „zeigt,“ in a hollow three-dimensional space, a two-dimensional object that one would assume would be examined first and foremost visually, but that is instead held in Starschensky’s „zitternde[r] Hand.“ Here, the revelation that the jewelry box’s lid is „augenscheinlich ein doppelter“ is followed by the revelation of a „hohler Raum“ which in turn reveals a portrait. However, these successive moments of revelation do not lead to insight - rather, the paragraph ends with the image of an uncertain touch, a moment of truth suspended, the portrait removed from its hidden frame in the box and re-placed in the unstable frame of Starschensky’s shaky hand. At this central moment in the narrative, the text points us also to a meta-textual dimension to remind us that the frames of narratives as well as the frames of images at a fundamental level help determine how we make meaning. The following paragraph opens with a description of the portrait: „Es war das Bild eines Mannes in polnischer Nationaltracht.“ Then we read: „Das Gefühl einer entsetzlichen Ähnlichkeit überfiel den Grafen wie ein Gewappneter“ ( SW 3: 136). Here, any kind of rational assessment of the portrait is foreclosed by a „Gefühl“ for which Starschensky consideres himself a „Gewappneter,“ but which finally now can attach itself to something supposedly concrete, namely an „entsetzliche[…] Ähnlichkeit.“ Here, the „verkehrt[e]“ „Verkehrung des Gewöhnlichen,“ the „auf den Kopf gestellte Ähnlichkeit“ Starschensky had observed between his wife and his daughter seemingly finds its correlate: the man in the portrait has black eyes and blonde hair. As Starschensky repeatedly compares the portrait to his daughter, he finally remembers the „entfernter Verwandter,“ Oginsky. As if to convert the assumed similarity between the portrait and Oginsky into a complete identity, and as though a piercing scream could create truth, Starschensky yells out Oginsky’s name. As Foucault reminds us, it is „in the area of sex“ that we look for „the most secret and profound truths about the individual,“ and „[a]t the bottom of sex, there is truth.” 42 This is the truth Starschensky is looking for in Elga, and because he is looking for it, he will find it. The portrait becomes the missing piece of the puzzle that is Elga. 79 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="80"?> For the time being, „[e]r befestigte den Deckel [des Schmuckkästchens] an seine Stelle, schloß das Kästchen, das Bild hatte er in seinen Busen gesteckt; so floh er, wie ein Mörder“ ( SW 3: 136). The revelation of the secret truth about Elga is itself concealed here. Elga’s secret becomes Starschensky’s secret; and the visual assessment of the portrait gives way to touch again, to a gesture laden with affect: keeping the portrait, keeping a secret close to one’s heart. While it had seemed that Starschensky believed he had uncovered the secret truth about Elga, we are told that on the following day Starschensky tries to reveal the very same secret yet again: Gegen Abend kam [Starschensky] ins Zimmer der Wärterin und verlangte nach dem Kinde. Das nahm er bei der Hand und führte es in den Garten, der einsam gelegenen Mooshütte zu. Dort fand ihn nach einer Stunde der suchende Hausverwalter, in eine Ruhebank zurückgelehnt. Das Kind stand zwischen seinen Knieen, er selbst hielt ein Bild in der Hand, abwechselnd auf dieses, dann auf die Kleine blickend, wie einer, der vergleicht, meinte der alte Mann. (SW 3: 136) The narrative mediation - the monk reporting in the third person on Star‐ schensky, who is really himself - actually is twice removed, as the monk reports on himself via the Hausverwalter, a second-degree observer whose perspective is of course folded back into that of the narrating monk. Here, we have the narrative image of a search for truth that itself involves a painted image, touch, and vision. What we see, though, is a different truth, namely the truth that Starschensky is intent on finding a secret that will condemn Elga, not any kind of truth that would absolve her: rather than include his own image, his own reflection in his process of comparison, Starschensky short-circuits the quest for truth and searches for „Ähnlichkeit“ only between the child and the portrait, not between the child and himself. Staging Revelation Whatever the result of the comparison, it apparently is merely „deutlich genug,“ as Starschensky feels prompted to continue his search for the truth in Warsaw, the place of origin of „[a]ller Unfrieden.“ There, he learns - “zu spät! “ ( SW 3: 136) - that Elga had in fact been involved with Oginsky in the past and that her family pushed her to distance herself from this poor relation and to marry the well-off Starschensky instead. Starschensky believes these stories about Elga, in spite of the fact that their source is apparently one of Elga’s brothers, whom Starschensky bribed for information. The brother supposedly also reveals the whereabouts of Oginsky. When we learn that Starschensky, 80 Imke Meyer <?page no="81"?> 43 Leitgeb highlights the „künstlich gewalttätige[s] Licht“ of the „Blendlaterne“ (Leitgeb 1994: 353). upon his return to his estate, smuggles „[e]ine verhüllte Gestalt“ ( SW 3: 137) into an old watchtower on his property, we of course assume this „Gestalt“ is Oginsky. When word of the presence of a mysterious person in the tower reaches Elga, she accuses Starschensky of hiding a lover there and demands „die Enthüllung des Geheimnisses jener Warte“ ( SW 3: 139): Elga, too, assumes that her husband’s deepest secret must be a sexual one. Rather than reveal his secret to Elga right away, Starschensky retards the process. True to the narrative conventions of Schauerromantik, Starschensky waits until midnight and then shows up in his wife’s room with a „Blendlaterne“ ( SW 3: 140). 43 As Starschensky insists that the secret of the watchtower cannot be revealed during the day, Elga finally agrees to get out of bed and to follow Starschensky to the tower. As the child wakes up and starts to cry, she has to be taken along. Elga covers herself in a „Schlafpelz“ ( SW 3: 140) to protect herself against the cold as she ventures outside with Starschensky. The image of the woman in the fur is overcoded: is she one of the animals from the „mor‐ genländisches Märchen“ associated with carnal knowledge? Is she a lamb being led to slaughter? Is she a wolf in sheep’s clothing? Meanwhile, Starschensky and Elga, who is carrying the child, have arrived at the watchtower, where Starschensky theatrically declaims: „Du bist nun im Begriffe, das verborgenste Geheimnis deines Gatten zu erforschen! “ ( SW 3: 140-141) Like a box with a „doppelte[…] Verkleidung“ and a secret compartment, Starschensky seems to harbor layers of secrets, some more verborgen than others. Starschensky’s dramatic speechifying ends with the performative demand that Elga swear, upon the head of her child, that she has never betrayed Starschensky. When Elga finally does so, Starschensky screams „Halt! […] es ist genug. Tritt ein und sieh! “ ( SW 3: 141) Here, truth is once again associated with vision: seeing is believing, or so Starschensky implies. As it turns out, Elga cannot simply enter and see. Rather, what follows is an elaborate sequence of pseudo-revelations whose only effect is to retard the moment of any substantive revelation: Der Graf schloß auf. Sie stiegen eine schmale Wendeltreppe hinan, die zu einer gleichfalls verschlossenen Türe führte. Der Graf öffnete auch diese, und nun traten sie in ein geräumiges Gemach, dessen innerer Teil durch einen dunklen Vorhang abgeschlossen war. (SW 3: 141) 81 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="82"?> 44 Lorenz describes the scene as an „Inszenierung“ of a „sadistisch-melodramatischen Stückes“ (Lorenz 1986, 60). Füllmann comments on the cinematic quality of the scene (Füllmann 126). Nölle notes that the monk in his narrative „reinszeniert“ (Nölle 2001: 46) the „Psychoterror“ (Nölle 44) to which he subjected Elga. 45 This scene, like others in the text, seems to echo Kleist, in particular „Das Bettelweib von Locarno.“ Kleistian elements in the text have repeatedly been discussed. See, for instance, Paulsen 59-60 or, most recently, Füllmann on Kleist and the text’s novella form (Füllmann 2020: 122). Heinz Rölleke has sketched out the circuitous ways in which Das Bettelweib von Locarno likely found its way to Grillparzer: originally published by Kleist in October 1810 in the Berlinische Zeitung, Jacob and Wilhelm Grimm as well as their younger brother Ferdinand became acquainted with the text. Ferdinand Grimm likely encountered it again when he worked at Georg Andreas Reimer’s Realschulbuchhandlung, which had published Kleist’s Erzählungen in two volumes in 1811. When Ferdinand pseudonymously published his collection Volkssagen und Mährchen der Deutschen und Ausländer in 1820, he included Kleist’s text in its 1811 version. Shortly thereafter, Adolf Bäuerle, a Viennese writer and editor who published the well-subscribed Wiener Theaterzeitung encountered Grimm’s collection and, in 1822, republished Das Bettelweib von Locarno without any mention of an author with the subtitle Eine Sage. Grillparzer then would have read the text in the Wiener Theaterzeitung, and the fact that he would have had no knowledge that Kleist was its author would explain why Grillparzer proceeded to produce a sketch, possibly for a novella or drama, entitled Das Bettelweib von Locarno. Plan. Rölleke speculates that Grillparzer never engaged with the plan again because he likely then learned that the text’s author was indeed Kleist. See Rölleke, Heinz (2014). Das Bettelweib von Locarno: Sein Weg von Kleist zu Grillparzer. Wirkendes Wort 64: 2, 169-172. The inner sanctum that is the watchtower houses another inner sanctum which itself contains an „innerer Teil“ that is shielded from view by a curtain. The curtain seems to suggest a stage setting, 44 and indeed, props are now placed on the scene: a table, two chairs, two candles. Finally, the table’s drawer reveals „ein Heft Papiere“ ( SW 3: 141), and the writing contained therein is in turn revealed by the light of the candles: Starschensky reads out a supposed confession by Oginsky whose central claim is that he was intimate with Elga both prior to and during her marriage to Starschensky. When Elga denies the truth of this claim, Starschensky dramatically rips aside the curtain at the back of the room to reveal Oginsky himself, „auf Stroh liegend, mit Ketten an die Wand gefesselt“ ( SW 3: 141). 45 The only supposed truth that can be revealed in this literal and figurative setup, of course, is the truth that Starschensky has constructed, namely the secret of Elga’s sexual betrayal. If Oginsky is chained to a wall, does he have the choice not to confess a transgression of which his emotionally apparently unstable captor accuses him? Oginsky’s coerced confession may or may not be true. What is true, though, is that Elga’s supposed secret has indeed become „das verborgenste Geheimnis [ihres] Gatten“: he has assumed an absolute interpretive power over her behavior, her thoughts, her secrets. 82 Imke Meyer <?page no="83"?> 46 On Starschensky’s sadistic behavior, see also Nölle (2001: 45-46). The unreliability of knowledge is highlighted further through its increasing interchangeability with belief. When Oginsky is unchained and asked to engage in a duel with Starschensky, he manages to jump out a window and flee. Starschensky’s wrath is now focused on his wife, who asks whether he truly believes Oginsky’s slander of her character. „Ich glaube dem, was ich weiß,“ Starschensky replies, „und dem Stempel der Ähnlichkeit in den Zügen des Kindes. Du mußt sterben, […], und zwar hier auf der Stelle! “ ( SW 3: 142) Starschensky believes what he knows, but as we have seen, what he knows is exclusively based on what he believes; and „ein Stempel der Ähnlichkeit“ is not proof of anything, especially not if this „Ähnlichkeit“ has been constructed under the exclusion of the possibility that Starschensky himself might be the father of the child. The fragile circular logic that undergirds Starschensky’s knowledge is now supposed to be fortified through a human sacrifice, and specifically through the sacrifice of the person who continues to question Starschensky’s supposed knowledge: Elga must die. As Elga pleads for her life, Starschensky seemingly reconsiders: Der Brandfleck meiner Ehre, sprach der Graf, ist dies Kind. Wenn seine Augen der Tod schließt, wer weiß, ob mein Grimm sich nicht legt. Wir sind allein, niemand sieht uns, Nacht und Dunkel verhüllen die Tat. Geh hin und töte das Kind! (SW 3: 142-143) Vision again figures prominently in this passage. If vision is linked to truth, then we might expect Starschensky to lament that he is forced to see the child, and that having to see the child is unbearable as it is a constant reminder of the supposed truth of Elga’s unfaithfulness. This expectation is reversed, however: Starschensky references not what he has to see, but rather the eyes of the child. The open eyes of the child now become the locus of the unbearable, and relief might come only if their gaze is extinguished forever by death. The extinction of the child’s gaze, Starschensky suggests, could itself happen under the cover of night: „niemand sieht uns” - a phrase that even suggests a complicity between Starschensky and Elga. Starschensky projects onto the child the possibility that she knows - that she might know that behind his wrath hides his knowledge that he is not without guilt, and that his guilt is displayed not least in his sadistic behavior. 46 And whoever has knowledge has eaten forbidden fruit in the first place - a lost innocence is projected onto the child’s knowing eyes, but the forbidden fruit, the hidden sexual truth, was plucked by Starschensky himself from a secret compartment in a jewelry box. 83 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="84"?> 47 All quotations from the bible are taken from Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (1985). Mit Apokryphen. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. 48 On Abraham’s status as father to Isaac and son to the Übervater that is god, see Silke-Maria Weineck’s brilliant reading of the Binding of Isaac: Weineck, Silke-Maria (2014). ‚I Must Do What I’ve Been Told‘: Abraham and the Conditions of Unconditional Paternity. In: id. The Tragedy of Fatherhood: King Laius and the Politics of Paternity in the West. New York / London / New Delhi / Sydney: Bloomsbury, 58-74, here: 60-61. 49 Fritz Breithaupt has argued that „the novella can be seen as operating in the service of a self, a construct under pressure to excuse itself and to limit its responsibility,“ and he terms „the Romantic novella […] the genre of general excuseability.“ Breithaupt, Fritz (2010). Machines of Turning Actions into Reactions: The German Novella and the Event. European Romantic Review 21: 5, 601-614, here: 601 and 611. Birthe Hoffmann has analyzed Grillparzer’s sustained critique of „die im Zentrum humanistischer Kultur stehende Opferlogik,“ a critique that insistently points to the fact that „jede Ordnung auf (Menschen-)Opfer und Ausgrenzungen baut.“ The complex engagement with notions Sacrifice and Victimhood Embedded in the passage above is another intertextual allusion to Genesis, namely to the Binding of Isaac. The Luther translation reads as follows: Und [Gott] sprach [zu Abraham]: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. (Genesis 22: 2 [my italics]) 47 Starschensky’s command to Elga - “Geh hin und töte das Kind! ” - makes little sense where the particular phrasing of „geh hin“ is concerned. No „Hingehen“ is necessary, as the child has been right there all along. If we read Starschensky’s command alongside god’s command to Abraham, however, we become fully aware of the enormous hubris that inheres in Starschensky’s actions. He believes he has been cheated out of biological fatherhood, so he turns himself into a kind of Übervater, 48 a god who will decide upon the life or death of others, commanding his wife in biblical language to kill her child. The Genesis god’s „geh hin und opfere ihn“ becomes „geh hin und töte es.“ „Töte es“ is not the same as „opfere ihn,“ and thus Grillparzer’s text prompts us to look for the victim elsewhere in Starschensky’s speech. We find, of course, that Starschensky supposes himself to be the victim: the child is not only a neuter „es,“ not worthy of the true sacrifice the death of a male child would represent; rather, the girl is „[d]er Brandfleck [s]einer Ehre.“ In the novella, Isaac, god’s would-be „Brandopfer,“ has - profanely and prosaically - turned into a „Brandfleck“ that has merely tarnished Starschensky’s honor, but that morphs in the context of his biblical allusions into a brand, a Brandmal and Schandfleck, a stigma that restores his innocence as it turns him into a martyr. 49 Starschensky’s performative and 84 Imke Meyer <?page no="85"?> of sacrifice and victimhood in Sendomir, a text in which the male protagonist both victimizes and sacrifices a woman to restore a damaged masculinity necessary to help maintain a patriarchally and homosocially organized community, certainly contributes to the critique Hoffmann identifies. Hoffmann, Birthe (2000). Opfer der Humanität: Ideologiekritik und Diskursanalyse bei Franz Grillparzer. In: Bäckström, Kurt et al (Eds.) Österreichische Sprache, Literatur und Gesellschaft. Münster: Nodus, 131-138, here: 138. 50 The word „getäuscht,“ of course, helps Starschensky / the monk narrator construct Elga’s adultery as truth. 51 Weineck (2014: 61). 52 Whereas Abraham, en route to the sacrificial mount, tells his son that „Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer“ (Genesis 22: 8), the animal that actually gets slaughtered in Isaac’s stead is a „Widder“ (Genesis 22: 13). Of course, the Schlafpelz Elga is wearing also points to the Golden Fleece of the winged ram, and to the Medea figure, who is likewise echoed in Elga’s willingness to kill her child in her overcoded confrontation with Starschensky. The assonances to the Medea sujet have been repeatedly mentioned in the secondary literature. Heinz Politzer, who discusses Das Kloster bei Sendomir in an expansive footnote, writes: „Abgesehen davon, daß es hier die Mutter ist, die den Ehebruch begangen hat, stellt diese Szene den psychologischen Kontrapunkt zu der mythischen Tat Medeas dar. Wo Medea den Kindermord als das größere Opfer dem Selbstmord vorzieht, versucht Elga, den Preis ihres Lebens mit dem ihrer Tochter zu bezahlen. Der Monumentalgestalt aus der griechischen Sage steht eine Edelhure gegenüber“ (Politzer 1972, 147). While Politzer succinctly sums up the essence of the Medea assonances here, a contrast between Medea and Elga as sharp as the one Politzer postulates can only be drawn if we deem Starschensky / the monk a reasonably reliable narrator - something he very likely isn’t. At any rate, rather than prostituting logical acrobatics allow him to occupy two positions simultaneously: that of god-like and commanding Übervater and that of god’s martyred son. To his mind, Elga not only didn’t bear him a son - Starschensky had seen himself „in seinen Wünschen nach einem männlichen Stammhalter fortwährend getäuscht“ ( SW 3: 130). 50 Rather, Elga even deprives him of the lesser pleasure of fatherhood of a daughter. As Silke-Maria Weineck reminds us in her reflection on Auerbach’s commentary on the akedah, „it is the threat to fatherhood that is at stake [in the story of the Binding of Isaac], not the loss of a child.” 51 In Grillparzer’s text, Starschensky presumes his fatherhood has been taken from him already; but by turning himself into an Übervater who can sit in judgment over Elga, and by assuming simultaneously the role of this Übervater’s martyred son, he can restore his fatherhood on the level of the symbolic. If we stay a bit longer with Genesis 22 as an intertext to the scenes in the watchtower, we find that Elga, still wrapped in her Schlafpelz, is dressed to be killed, much like the „Schaf “ that will be chosen „zum Brandopfer“ (Genesis 22: 7 and 8) in Isaac’s stead after Abraham is released from the command to kill his son. 52 When she is confronted with the command to kill her daughter, Elga is 85 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="86"?> herself to gain access to wealth, Elga rather is prostituted by her father and brothers and seems not to be given much of a choice in the matter. horrified and refuses. When Starschensky threatens again to kill her unless she kills her daughter, Elga allows herself to be pushed to a point where she is about to kill the child: [Sie] hatte […] das Kind wiederholt an ihre Brust gedrückt; mit weggewandtem Auge ergriff sie eine große Nadel, die ihren Pelz zusammenhielt; das Werkzeug blinkt, der bewaffnete Arm - Halt! schrie plötzlich Starschensky. Dahin wollt ich dich haben! Sehen, ob noch eine Regung in dir, die wert des Tages. Aber es ist schwarz und Nacht. Dein Kind soll nicht sterben, aber, Schändliche, du! und damit stieß er ihr den Säbel in die Seite, daß das Blut in Strömen emporsprang, und sie hinfiel über das unverletzte Kind. (SW 3: 143) As Abraham, commanded by god, „reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete“ (Genesis 22: 10), so does Elga grab „eine große Nadel“ to kill her daughter; and as god saves Isaac, so does Starschensky save Elga’s child. But ultimately, while Starschensky can play god, Elga cannot be the equivalent of Abraham, not least because she is a woman. Abraham is rewarded for his obedience to god’s command with the status of Stammvater. Elga is punished for her obedience to Starschensky’s command with the loss of her life. God’s temptation of Abraham was designed to reveal his absolute faith. Starschensky’s temptation of Elga was designed to reveal her absolute depravity. This is so not least because in Starschensky’s version of the truth, it is Elga who prevented him from enjoying the status of Stammvater, and who took away forever his belief in the certainty of his paternity. Elga, in Starschenky’s mind a predatory female dressed in sheep’s clothing and not a lamb to be lead to slaughter, must be killed, not least because she herself refuses to see the truth of her own depravity in the moment that Starschensky deems it most visible: „mit weggewandtem Auge ergriff sie eine große Nadel,“ whereas Starschensky visually takes in what he considers the whole truth: „das Werkzeug blinkt, der bewaffnete Arm.“ The moment of truth, however, is shrouded in „schwarz und Nacht.“ There is no light, no insight. Instead, the text invites us to imagine the gruesome murder scene on the level of the tactile and the haptic: the saber brutally rammed into Elga’s body, the sticky blood that must be covering the sheep’s skin she is wearing, the child both buried under and curiously protected by her dying body. The truth of death cannot be seen, it can only be felt. 86 Imke Meyer <?page no="87"?> 53 In contrast, Seibert reads the framed narrative’s ending as an indication that Grillparzer rushed the conclusion of the writing process, not least because more specific historical references give way to a more fairy tale-like description of the king (Seibert 1992: 86). I believe, though, that this dénouement to the monk’s story is meant to point us to the quasi-mythic immutability of the norms of homosociality. Lorenz highlights the fact that „der Mörder und Brandstifter Starschensky erfährt eine partielle Rehabilitierung“ (Lorenz 1986: 60). Framing Masculinities The framed narrative’s dénouement presents us with the restoration of a homosocial equilibrium. In a Kleistian scene, the locals watch as Starschensky’s entire castle is engulfed by flames and burns to the ground, leaving the locals to find „menschliches Gebein“ ( SW 3: 143). The child survives, and Starschensky, unseen by anyone, drops her off, along with some money, at a charburner woman’s house. Starschensky then travels back to the supposed origin of all his suffering, the city of Warsaw, where he is given an audience with the king, who, „sichtbar erschüttert“ by the touching tale of a fellow man’s suffering, grants Starschensky, „als letzten [sic] seines Stammes, die freie Verfügung über seine Lehengüter“ ( SW 3: 144). 53 Thus absolved by yet another father figure, namely „der Fürst“ and Landesvater, Starschensky sets about to use the proceeds from the sale of his estate to finance the founding and building of the homosocial world of the monastery. In the setting of the monastery, the loss of the status of fatherhood cannot be erased, but the sting of this loss can at least be blunted as Starschensky becomes a brother among brothers: when the two knights, early on in the frame narrative, address the monk as „ehrwürdiger Vater,“ the monk corrects them, albeit „unwillig,“ to emphasize that he is a „Bruder“ ( SW 3: 121). The text’s pivotal revelation is presented both to the monk’s listeners and to us as we return to the frame narrative, and this revelation - namely the fact that the monk and Starschensky are one and the same person - forces us to reconsider the reliability and truth value of the entire framed narrative. The moment the monastery’s abbot calls Starschensky by name as he enters the room „in hochaufgerichteter Stellung, das Kreuz seiner Würde funkelnd auf der Brust“ ( SW 3: 144) is the moment that Starschenky’s / the monk narrator’s credibility gets crushed. Ironically, just like Starschensky’s performance of power was intended to crush Elga, it is now another performance of authority that in turn crushes him: the abbot’s „hochaufgerichtete[…] Stellung,“ his „funkelnd“ vestments seemingly emitting their own light of truth, and his stentorian pronouncement, directed at Starschensky, that „[d]ie Stunde deiner Buße ist gekommen“ ( SW 3: 145) combine to induce an utter obsequiousness in 87 Touching Matters: Unstable Epistemologies in Grillparzer’s Kloster bei Sendomir <?page no="88"?> 54 The emasculated Starschensky appears here like an example of the „postheroische Männlichkeit“ Brigitte Prutti analyzes with regard to Grillparzer’s and Charles Seals‐ field’s critique of the repressive Metternich regime. Prutti, Brigitte (2006). Höflingsbrust und Kaiserschenkel: Postheroische Männlichkeit und Restaurationskritik bei Sealsfield und Grillparzer. Sprachkunst 37: 1, 1-27. Starschensky, who literally begins to crouch in front of the abbot. His animal-like behavior echoes both the image of the chained Oginsky on his bed of straw in the watchtower and, importantly, it puts us in mind of the fact that through the mediation of the „morgenländisches Märchen,“ touch had been associated with femininity and nature, the terrain of beasts. In the presence of the abbot, a father figure aligned with god, Starschensky appears emasculated and feminized, 54 crouching masochistically in front of the „hochaufgerichteter“ abbot, whose phallic Gestalt is underscored by the gleaming „Kreuz seiner Würde“ and whose loudly announced demand of „Buße“ may be designed to get at Starschensky’s deepest secrets and desires yet: Da wimmerte der Mönch und zusammengekrümmt, wie ein verwundetes Tier, in weiten Kreisen, dem Hunde gleich, der die Strafe fürchtet, schob er sich der Türe zu, die der Abt, zurücktretend, ihm freiließ. Dort angelangt, schoß er wie ein Pfeil hinaus, der Abt, hinter ihm, schloß die Türe. (SW 3: 145) On the face of it, we get an image here of a character who is haunted by his deeds, who cannot find peace, and whose entire being has been contorted both by the torture of guilt and - as evidenced by the framed narrative - the inability to acknowledge that his gruesome actions were wrong. But if the text’s repeated enactments of crises of epistemology have taught us anything, then it is not to trust the look of things. Just as we learned that Starschensky scripted, staged and performed a drama designed to entrap Elga in a truth of his own making, we now cannot but doubt the sincerity of his performance vis-à-vis the abbot. His behavior strikes us as a grotesquely exaggerated display of contrition, and if there is any truth that may be revealed in Starschensky’s over-performance of submission, it may be that of his authoritarian personality structure. Coda Touching us through the affects mobilized by the tropes and narrative conven‐ tions of Schauerromantik, Grillparzer’s text sets out to make us see that our belief in the possibility of epistemological certainty is misplaced. The prosaic realm of „gedachte Möglichkeit[en]“ that makes up the novella allows for a series of experimental confrontations between different epistemic approaches to the 88 Imke Meyer <?page no="89"?> narrated world that in the end do not result in a synthesis of insights. There is no access to be had to enlightenment and truth, no redemption, only a curtain drawn away to stage a revelation both profane and opaque, that of the sorry sight of our chained animal nature in a dimly lit dungeon. The truth may be out there, but in the end, our senses cannot access it, no matter how many secret compartments we may find and open. At most, we can touch our heart and keep close to it an image our eyes cannot read, secure only in the knowledge that our secrets are safe even from ourselves. Bibliography Alewyn, Richard (1974). Grillparzer und die Restauration. In: id. Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt am Main: Insel, 281-298. Allen, Richard (1975). The Fine Art of Concealment in Grillparzer’s ‚Das Kloster bei Sendomir‘. Michigan German Studies 1, 181-187. Alt, Peter-André (2009). Der Teufel als Held: Schwarze Romantik und Heroisierung des Bösen. Merkur 63: 9-10, 880-887. Arens, Katherine (2007). The Fourfold Way to Internationalism: Grillparzer’s Non-Na‐ tional Historical Legacy. In: Henn, Marianne / Ruthner, Clemens / Whitinger, Raleigh (Eds.) Aneignungen, Entfremdungen: The Austrian Playwright Franz Grillparzer (1791-1872). New York: Peter Lang, 21-48. Arens, Katherine (2015). Vienna’s Dreams of Europe: Culture and Identity Beyond the Nation-State. 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Dabei geht es nicht um die Feststellung im Werk nachwirkender biographischer Erlebnisse, sondern um die Erhellung der in der Trilogie systematisch verdunkelten, von der Forschung aber häufig zu rasch entschiedenen und tragödientheoretisch zentralen Frage, welche Figur wie und unter welchen Umständen stirbt. Er [d. i. der Schauspieler Ludwig Devrient, E. G.] gab den Franz Moor im Theater an der Wien und ich befand mich in einer der ersten Seitenlogen. Er und alle Andern gaben mir bei meinem höchst schwachen Gesichte nur ziemlich nebelhafte Bilder. Da, bei der Szene wo der Vater ohnmächtig hinsinkt und der Sohn, weil er ihn tod glaubt, das Gesicht mit teuflischer Freude emporhebt, fuhr ich zurück, weil ich glaubte Devrient springe in die Loge hinein, so bis ins Einzelne sah ich plötzlich jeden seiner Züge, und die Deutlichkeit des Sehens verkehrte sich in das Gefühl der Annäherung. […] Das hat in mir die Vermutung hervorgebracht, daß meine Kurzsichtigkeit nicht von einer Beschaffenheit der Linse, sondern von einer Schwäche des Augennervs herrühre, die sich durch Aufregung und Zuströmen des Blutes für Momente verliert. 1 <?page no="94"?> 2 Vgl. Prutti, Brigitte (2016). Unglück und Zerstreuung: Autobiographisches Schreiben bei Franz Grillparzer. Bielefeld: Aisthesis, 80. 3 Musil, Robert (1976). Tagebücher. Hrsg. Frise, Adolf. 2 Bände. Bd. 1, Heft 11. Reinbek: Rowohlt, 141. 4 Reichensperger, Richard (2000). Die doppelte Geschichte: Franz Grillparzers Selbstbio‐ graphie. In: Ders. / Leitgeb, Christoph. Grillparzer und Musil. Studien zu einer Sprach‐ stilgeschichte österreichischer Literatur. Hrsg. Weiss, Walter. Heidelberg: C. Winter, 78-123. 5 Prutti (2016: 39). I Zu den von Grillparzer kultivierten Abneigungen gehörte auch die Arbeit an Autobiographischem. 2 Als er der Bitte der Akademie um eine „Selbstbiographie“ endlich nachkam, ließ er in derselben wissen, dass er „von jeher ein Feind der Öffentlichkeit [war]“ ( SB 115). Der Text erreichte seinen Adressaten denn auch nicht, blieb als Fragment in der Schublade und kam, wie die Tagebücher, erst mit dem Nachlass ans Licht. Das Vorläufige des Textes bezeugen gelegentliche Verweise auf den Zeitpunkt der Niederschrift, besonders charakteristisch am Anfang: Die Akademie fordert mich (nunmehr zum drittenmale) auf ihr meine Lebensum‐ stände zum Behufe ihres Almanachs mitzuteilen. Ich will es versuchen, nur fürchte ich, wenn sich das Interesse daran einstellen sollte, zu weitläufig zu werden. Man kann ja aber später auch abkürzen. (SB 63) Ähnliche Einschübe markieren Abweichungen von der Chronologie der Ereig‐ nisse bei der Niederschrift (vgl. SB 80, 89, 113, 123, 179) oder protokollieren Gedächtnislücken und Datierungsschwierigkeiten (vgl. SB 108, 197 f.). Derglei‐ chen weist den Text als Chronik aus, und seit Robert Musils Bemerkung zum „vornehme[n] Chronistenstil“ der Selbstbiographie ist das Konsens in der For‐ schung. 3 Auf die literarischen Qualitäten dieser Chronik mit ihrer „doppelte[n] Geschichte“ der Zeit und des Selbst ist seit Richard Reichensperger immer wieder hingewiesen worden. 4 Zur Rhythmik des Textes und des in ihm erzählten Lebens gehören einer‐ seits die Wechselfälle der sich einstellenden oder ausbleibenden Inspiration. Andererseits skandieren es die zahlreichen körperlichen Übel, angeborene wie die Sehschwäche, eine „von Natur schwache Gesundheit“ ( SB 134) sowie eine „hypochondrische[…] Anlage“ ( SB 163), aber auch Krankheiten wie die schlimme in Maria Stip während Grillparzers Zeit als Hofmeister (vgl. SB 110 ff.). Zu den Krankheiten treten die Kränkungen und Zurücksetzungen des „geübte[n] Selbstquäler[s]“ und „Unglücksaspirant[en]“. 5 Die Hintergründe 94 Eva Geulen <?page no="95"?> 6 Vgl. auch Decurtins, Florin (1933). Grillparzer in psychopathologischer Beleuchtung. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 148, 620-654. 7 Dazu topisch Politzer (1990). Franz Grillparzer oder Das abgründige Biedermeier. Mit einem Vorwort von Reinhard Urbach. Wien / Darmstadt: Paul Zsolnay. 8 Vgl. Lorenz, Dagmar (1986). Franz Grillparzer. Dichter des sozialen Konflikts. Wien / Köln / Graz: Böhlau. seiner mentalen Disposition hat Grillparzer gleichsam fachmännisch auf den Punkt gebracht: Mißtrauen in mich selbst, wenn ich bedachte was sein sollte und damit abwechselnder Hochmut wenn man mich herabsetzen oder vergleichen wollte. Das ist aber der im Leben schädlichste Stolz, der nicht aus eigener Wertschätzung, sondern aus fremder Geringschätzung hervorgeht. (SB 89) 6 Über- und Unterschätzung objektivieren sich in einer Serie kurioser Anekdoten ungewollten Ruhms einerseits (vgl. u. a. SB 87 ff.) und (auch durch Zensur) verhinderter Resonanz andererseits (vgl. u. a. SB 174). Dabei kippen tragisch an‐ mutende Verkettungen von Umständen oft in groteske Zufälle und umgekehrt. Diese von den dramatischen Werken her vertraute Überblendung von ans Groteske grenzender Komik und unheimlicher Abgründigkeit 7 charakterisiert insbesondere die immer wieder gelobte und oft interpretierte Schilderung des Elternhauses am Anfang. Der Vater hatte die stattliche Wohnung schildbürger‐ gleich unbesehen auf Handschlag gekauft, um dann feststellen zu müssen, dass seine Fenster nicht wie erwartet auf die Straße, sondern eine Sackgasse hinausgingen und kaum Licht einfiel. Die „schauerlichen Räume“ ( SB 66) werden von den Kindern apotropäisch mit „mit Räubern, Zigeunern oder wohl gar Geistern“ bevölkert. Bleibendes „Grauen“ im Labyrinth erregt jedoch die am Ende eines langen Ganges in einem „abgesonderte[n] Zimmer“ wohnende Köchin, die in Folge eines Fehltritts mit dem auch Schreibersdienste leistenden Bedienten verheiratet war, welche Beide dort eine Art abgesonderten Haushalt bildeten. Sie hatten ein Kind und zu dessen Wartung ein halberwachsenes Mädchen, als Magd der Magd. (Ebd.) Diese in die bürgerliche Klassen-Sphäre hereinragende Welt des abgesonderten Zimmers, dessen Zutritt den Kindern verboten war, ist das Epizentrum des Grauens: „[U]nd wenn manchmal das schmutzige Mädchen mit dem unsaubern Kinde, wenn auch nur im Durchgange erschien, so kamen sie uns vor wie Bewohner eines fremden Weltteils“ (ebd.). Und das waren sie in dieser Welt wohl auch. 8 Die in der Dramatik eher abgeblendete oder allenfalls entstellt 95 Sich am Tod versehen <?page no="96"?> 9 Nur Kamillo, der mittlere der Brüder, wird später (SB 98) mit Namen genannt. erscheinende soziale Wirklichkeit tritt hier einmal unverstellt hervor. Von der sozialen Absonderung führt aber auch ein ebenfalls erotisch tingierter Weg in die andere Welt der Literatur, in der sich der junge Grillparzer früh einrichtet und seinerseits absondert. Eine Bedienstete war es - ein „Stubenmädchen meiner Mutter“ ( SB 70) -, die ihn anhand des Opernlibrettos der Zauberflöte von Schikaneder in diese Welt entführt: Auf dem Schoße des Mädchens sitzend las ich mit ihr abwechselnd die wunderlichen Dinge, von denen wir Beide nicht zweifelten, daß es das Höchste sei zu dem sich der menschliche Geist aufschwingen könne. (Ebd.) Ein anderes Beispiel für Grillparzers Technik, zwischen Grauen und Groteske gleichsam einen Spalt zu lassen, durch den ‚Wirkliches‘ in die Darstellung ein‐ tritt, stellt die Schilderung seiner Brüder dar, 9 insbesondere des „bildschöne[n]“ jüngsten. Dessen Übertritte versuchte die Mutter dadurch zu bestrafen, dass sie ihm befahl, an einem „‚Strumpfband‘ zu stricken“, was er bald „wie ein Mädchen“ beherrschte ( SB 64), ihn beim späteren Theater-Spielen für „die Weiberrollen“ ( SB 73) prädestinierte und zu Sonderbarkeiten führte. So hatte dieser Bruder sich drei Ecken des Zimmers mit gedachten und auch benannten Frauen bevölkert, denen er wechselweise Besuche abstattete. Mein Vater Abends im Zimmer auf und niedergehend, versuchte ihm auch für die vierte Ecke eine vierte Frau aufzudringen, die aber, da der vorgeschlagene Name den Spott gar zu deutlich an sich trug, der Knabe durchaus nicht akzeptierte. (SB 64) Auf den ersten Blick dient diese Anekdote der Charakterisierung des gefühllosen Vaters, dem die Aufmerksamkeit der Forschung überwiegend gilt. Aber die Lücke, die mit dem Verschweigen der Eigennamen entsteht, sowohl des jüngsten Bruders wie des vom Vater für die imaginäre vierte Frau vorgeschlagenen, lenkt die Aufmerksamkeit auf ungesagt Bleibendes - auch wenn man nicht weiß, dass sich Franz Grillparzers jüngster Bruder Adolf 1817 in der Donau ertränkte und diese Episode der Selbstbiographie folglich eine Art Deckerinnerung an dessen sich früh schwierig gestaltende Existenz darstellt; und auch, wenn man nicht weiß, dass der zeitlebens unverheiratete Grillparzer mit Katharina Fröhlich und ihren Schwestern seinerseits drei Frauen in seinem häuslichen Umfeld in der Spiegelgasse hatte, in der die Selbstbiographie niedergeschrieben wurde. Besonders befremdend ist die Schilderung der Todesumstände von Grillpar‐ zers Mutter im Januar 1819. Auch hier spielt das Dienst-Personal, insbesondere 96 Eva Geulen <?page no="97"?> 10 Busch, Wilhelm (1875). Abenteuer eines Junggesellen: Ein frohes Ereignis. In: Ders. (1969). Wilhelm Busch-Album. Humoristischer Hausschatz mit 1700 farbigen Bildern, koloriert von Josef Jungwirth, Berlin / Darmstadt / Wien: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 204-206, hier 204. 11 Ebd. eine „Magd, die […] eigens zur Pflege der Kranken aufgenommen worden war“, ( SB 137) eine Rolle. Letztere sucht den sich in einem vom Krankenbett der schon länger nicht mehr gesunden Mutter entfernten Zimmer aufhaltenden Autor auf und bittet ihn, „hinüber zu kommen, da die gnädige Frau durchaus nicht ins Bette zurückgehen wolle“ (ebd.). Er eilt ins Zimmer seiner Mutter und fand diese halb angekleidet an der Wand zu Häupten ihres Bettes stehend. Ich beschwor sie sich keiner Verkältung auszusetzen und sich wieder niederzulegen, erhielt aber keine Antwort. Ich faßte sie an um allenfalls ihrer Schwäche nachzuhelfen, da, bei dem Scheine des von der Magd gehaltenen Lichtes, sehe ich ihre Züge starr und leblos. Ich hielt meine Mutter tod in meinen Armen. (Ebd.) In der Hoffnung, dass sie vielleicht noch zu retten sei, sucht Grillparzer einen Arzt auf. Zurückgekehrt stand die Tote „noch immer neben ihrem Bette“, denn „die dummen Weibsbilder“ hatten sich nicht getraut, sie anzufassen (ebd.). - Nicht die Schilderung des dunklen Eltern-Hauses, nicht die Geschichte mit dem Bruder und seinen Frauen, und auch nicht der bewegende Bericht über Grillparzers Besuch bei Goethe, sondern nur diese Beschreibung der aufrecht im Tode stehenden Mutter ist mir nach der ersten Lektüre im Gedächtnis geblieben. Sie konnte und musste es wohl, weil sie sich mit einer ganz anderen Leseerfahrung verbunden hatte, in der sich nicht, wie in der Selbstbiographie, das Unheimlich-Schaurige vor das Groteske schob, sondern umgekehrt das Groteske einen bleibenden Schauder des Unheimlichen hinterlassen hatte. Wie viele Autobiographien belehrt einen auch Grillparzers darüber, dass man sich seine frühen Leseeindrücke nicht aussuchen kann und vielleicht gerade dieser Umstand ihnen ihre beharrliche Intensität verleiht. Zu meinen gehört die mit „Ein frohes Ereignis“ überschriebene Episode von Wilhelm Buschs Abenteuer eines Junggesellen (1875). Wie alle Episoden beginnt auch diese damit, dass der Junggeselle Knopp den jüngsten Schauplatz verlässt: „Knopp verfügt sich weiter fort / Bis an einen andern Ort. / Da wohnt einer, den er kannte, / Der sich Sauerbrot benannte“. 10 Dieser hat sich einen Punsch gebraut, um das Ableben seiner Frau zu feiern, deren Sarg im Nebenzimmer bei Kerzenschein zu sehen ist: „Heute stört sie uns nicht mehr, / Also, Alter, setz dich her,/ / Nimm das Glas und stoße an, / Werde niemals Ehemann“. 11 Knopp und Sauerbrot sprechen dem Punsch zu: „Es schwellen die Herzen, / Es blinkt der Stern. / Gehabte 97 Sich am Tod versehen <?page no="98"?> 12 Ebd., 205-206. 13 Frank, Peter / Pörnbacher, Karl (1965). Anmerkungen zu den Selbstbiographien. In: Grillparzer, Franz. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Hrsg. Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. Bd. 4: Selbstbiographien, Autobiographische Notizen, Erinnerungen, Tagebücher, Briefe, Zeugnisse und Gespräche in Auswahl. München: Hanser, 989-1006, hier 997. Schmerzen, / Die hab ich gern./ / Knarr! - Da öffnet sich die Tür. / Wehe! Wer tritt da herfür! ? / / Madam Sauerbrot, die schein- / Tot gewesen, tritt herein. / Starr vor Schreck wird Sauerbrot,/ / Und nun ist er selber tot. -“ 12 Die in Buschs Zeichnung wie Lazarus in Totenkleidung, hochgereckt, grell beleuchtet und überlebensgroß fast das ganze Bild einnehmende Madame Sauerbrot, ihr bei diesem Anblick instantan zu verzackter Todesstarre entstellter Gatte und die schein-lebendig zu Häupten ihres Bettes aufrechtstehende tote Grillparzer-Mutter gehören seither für mich zusammen. Um so mehr fiel die fast vollkommene Abwesenheit der Todesumstände der Mutter in der Forschungsliteratur zur Selbstbiographie ins Auge. Obwohl die Schilderung dieses Sterbens, seiner Umstände und Nachwir‐ kungen dort immerhin fast drei Seiten in Anspruch nimmt, vom zeitlebens unverheirateten Autor im Übrigen auch ganz unbefangen und direkt mit grundsätzlichen Überlegungen zur eigenen Ehetauglichkeit verknüpft werden, weil er mit der Mutter nach dem Tod des Vaters 1809 tatsächlich in eheähnlichen Verhältnissen gelebt hatte (vgl. SB 138), wird dieses Ereignis in den zahlreichen Deutungen der Selbstbiographie meistens gar nicht erwähnt. Vielleicht erklärt sich das Desinteresse durch den mir vordem nicht bekannten Umstand, dass unter Experten seit langem als ausgemacht gilt, dass Grillparzers Mutter mit 51 Jahren einem Wahnsinn zum Opfer gefallen sei und sich mit 52 Jahren, etwas über ein Jahr nach dem Suizid ihres jüngsten Kindes, erhängt habe. Der Kommentar zur Selbstbiographie in der Ausgabe von Frank und Pörnbacher teilt mit, dass Grillparzer diese Umstände in seiner Darstellung „rücksichtsvoll verschleiert“ 13 habe. In der Tat heißt es in der Selbstbiographie: „Wahrscheinlich war ihr während der Nacht der Gedanke wiedergekommen in die Kirche zur Kommunion zu gehen.“ ( SB 137) Es ging auf Ostern zu, und auf ärztliches Anraten war von einem Gang in die Kirche oder häuslicher Kommunion abgesehen worden (vgl. SB 136 f.): Während sie sich ankleiden wollte traf sie ein Schlagfluß, wobei ihr Rücken gegen die Mauer lehnte, während ihre Knie sich gegen den vor ihr stehenden Nachttisch stemmten, so daß sie aufrecht im Tode dastand. (SB 137) 98 Eva Geulen <?page no="99"?> 14 Frank / Pörnbacher (1965: 997). Unter Verweis auf Sauers „Grillparzers Gespräche und die Charakteristiken seiner Persönlichkeit durch die Zeitgenossen“ (Wien: Verlag des Literarischen Vereins in Wien 1905) geben Frank/ Pörnbacher das offizielle Todespro‐ tokoll wieder (vgl. ebd., 897). (Dank an dieser Stelle an Brigitte Prutti für ihre Amtshilfe in der Zeit geschlossener Bibliotheken.) 15 Laube, Heinrich (1909). Franz Grillparzers Lebensgeschichte. In: Ders. Heinrich Laubes Gesammelte Werke in 50 Bänden, unter Mitwirkung von Albert Hänel. Hrsg. Houben, Heinrich Hubert, Bd. 35. Leipzig: Max Hesses Verlag, 46. 16 Kuh, Emil (1872). Zwei Dichter Oesterreichs: Franz Grillparzer - Adalbert Stifter. Pest: Verlag von Gustav Heckenast, 44 f. 17 Ebd., 45. 18 Frankl, Ludwig August (1884). Zur Biographie Franz Grillparzers. 2. verm. Auflage. Wien: A. Hartleben, 20. 19 Sauer, August (1905). Grillparzers Gespräche (Anm. 14). Zweite Abteilung, Gespräche und Charakteristiken (1791-1831), 95. Frank und Pörnbacher führen einen Obduktionsbericht mit Erhängen als To‐ desursache an. 14 Die frühesten Biographen wie Laube lassen die Sache offen: Die allgemeine Meinung in Wien war und ist heute noch, daß sie sich im Irrsinn erhängt habe. Grillparzer gibt einen Schlagfluß an als Ursache des Todes. Es bleibt dahingestellt, ob er aus Zartgefühl die peinliche Thatsache verschwiegen oder ob er recht hat neben der allgemeinen Meinung. 15 Emil Kuh macht aus der Geschichte eine dramatische Szene: Wirren Geistes lag sie auf dem Krankenlager, und Niemand war im Zimmer als ihr Franz, welcher schmerzvoll zu ihr hinüber sah. Da erkennt er an ihren Bewegungen, dass sie aufstehen will, er eilt hin und unterstützt sie. Sie steigt aus dem Bette, gelehnt auf seine Arme, und erstarrt plötzlich unter heftigem Zittern, sie ist todt. Als man auf sein Rufen herbeikommt, findet man in den Armen des Sohnes die Leiche der Mutter. 16 Wie in der Selbstbiographie macht die Inversion der Pieta den Schluss. Allerdings fügt Kuh hinzu: „Gutunterrichtete sagen, dass die Unglückliche in ihrem Wahn‐ sinne Hand an sich selbst gelegt habe.“ 17 Dann hätte sich die Mutter irgendwann vorher erhängt oder halb erhängt, denn in Grillparzers Anwesenheit hätte sie kaum Hand an sich legen können. Ludwig August Frankl zufolge „lehnt“ sie auch nicht an seinem Arm, sondern an den auch andernorts erwähnten Bettpfosten, die in der Selbstbiographie zu „Häupten“ werden: „Sie stand als Leiche an die Pfosten ihres Bettes gelehnt. Sie hatte sich erhängt.“ 18 Sauer führt auch Schreyvogels Tagebuch an, der für den Tod einen „Anfall von Melancholie“ 19 verantwortlich macht, und zitiert den Berliner Gesellschafter vom 13. März: „[M]an fand sie am Morgen, stehend, mit geöffneten Augen, 99 Sich am Tod versehen <?page no="100"?> 20 Ebd. 21 Eine Ausnahme bildet Arno Dusini im Nachwort seiner Ausgabe (vgl. Grillparzer, Franz (2017). Selbstbiographie. Hrsg. Dusini, Arno / Kaufmann, Kira / Reinstadler, Felix. Salzburg/ Wien: Jung und Jung. (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. Fetz, Bernhard), 236-238.) Dort werden die fraglichen Passagen neben die zum Besuch in Weimar gestellt und unter dem Stichwort von Grillparzers „Diskretion“ verhandelt. Ihre Besonderheit wird anerkannt, aber nicht gedeutet. 22 Die Zäsur verschattet andere mit ihr chronologisch eng zusammenhängende Ereignisse, deren Auswirkungen Grillparzer direkt zu spüren bekam: das Wartburgfest von 1817, Metternichs Durchsetzung der Karlsbader Beschlüsse, die dann eine Verschärfung der Zensur zur Folge hatten, und den Aachener Kongress. in ihrem Zimmer todt.“ 20 Unabhängig davon, wie es nun wirklich geschehen ist, deutet die durchgängige Betonung des aufrechten Stehens im Tod an, dass die Totenstarre bereits eingesetzt haben musste, als man die Leiche fand. Man darf folglich vermuten, dass Grillparzers Mutter allein starb und ihr Tod frühestens sechs Stunden danach, unter Umständen auch noch sehr viel später, überhaupt entdeckt wurde. Die Verstörung des Sohnes hat mit diesem Umstand und entsprechenden Schuldgefühlen vielleicht mehr zu tun als der ‚rücksichtsvoll verschleierte‘ Suizid und erklärt wohl auch die Ausfälle gegen das abergläubische Dienstpersonal (vgl. SB 137). II Aber es erklärt noch nicht die ostentative Vernachlässigung dieses Ereignisses in der Forschungsliteratur zur Selbstbiographie. 21 Den Selbstmord des Bruders hat Grillparzer dort einfach unterschlagen, aber den der Mutter kann man kaum übersehen. Als Bericht über Erlebtes wird man jene Passagen ebenso wenig lesen dürfen wie die Selbstbiographie insgesamt. Aber in deren Erzähl-Drama‐ turgie bildet dieses Ereignis eine Peripetie. Mit ihm zerfällt der Text in zwei Hälften, deren erste vor allem das familiäre Umfeld und den Wiener Kontext zum Gegenstand hat, während in der zweiten die Reisen in den Vordergrund treten, beginnend mit dem Rat des Arztes, Wien nach den erfahrenen Erschütterungen umgehend in Richtung Süden zu verlassen (vgl. SB 138). Noch im März bricht Grillparzer, dank einer jener wundersamen Fügungen oder Zufälle, die es im Guten wie im Bösen in der Selbstbiographie immer wieder gibt, nach Rom auf. 22 Diese Zäsur wird von Grillparzer auch werkgenetisch markiert. Der Tod der Mutter hatte die Arbeit am Goldenen Vließ in zwei separate Phasen mit längerer Unterbrechung dazwischen getrennt. Erst als Grillparzer sich an das gemeinsame Klavierspiel mit der Mutter erinnert, habe er, heißt es in der Selbst‐ biographie, in die damals abgebrochenen Arbeits- und Denkzusammenhänge 100 Eva Geulen <?page no="101"?> 23 Grillparzer, Franz (1821). [Vorrede zu dem Dramatischen Gedicht „Das Goldene Vließ“] [Zweite Hälfte November 1821]. In: Ders. (1925). Sämtliche Werke (Anm. 1), Bd. I.14: Prosaschriften 2: Aufsätze über Literatur, Musik und Theater. Musikalien, 37-39, hier 37. 24 Grillparzer, Franz. [Entwurf zur Vorrede]. In: Ders. (1925). Sämtliche Werke (Anm. 1), Bd. I.22: Apparat zu den dramatischen Plänen und Bruchstücken und zu den Pro‐ saschriften seit 1816 (1944), 134. Das Editions-Schicksal dieser Entwürfe ist etwas kompliziert. (Dank an dieser Stelle an Florentine Emmelot für ihre Recherchen): Die Ausgabe „Franz Grillparzer’s „Sämtliche Werke“. Mit einer biographischen Einleitung von Wilhelm Waetzoldt“ (20 Bände, Berlin: Weichert 1904) bringt drei dieser Vorreden. Aber ihre Anordnung unterscheidet sich von der von August Sauer, die einen dieser Entwürfe als Teil des Bandes I.14 (Anm. 23) bringt, drei weitere enthält der Apparat zu diesem Band (= Bd. 1.22). Helmut Bachmaiers „Werke in sechs Bänden. Text und Kommentar“ (Frankfurt a. M.: Dt. Klassiker-Verlag 1986 f.) enthält im Apparat zu Band 2 (= Dramen 1817-1828) nur Einzelzitate aus den Vorreden, darunter auch den zitierten Satz über ‚den ersten Akt der Argonauten und den letzten der Medea‘ (ebd. S. 824). Zitiert wird im Folgenden die Ausgabe von Sauer, obwohl mir die Anordnung bei Waetzoldt plausibel scheint. 25 Ebd. zurückgefunden (vgl. SB 155). Die während eines Aufenthaltes in Bad Gastein begonnene Trilogie - „Nie habe ich an etwas mit so viel Lust gearbeitet“ ( SB 136) - konnte erst 1821 abgeschlossen werden. In einer von insgesamt vier erhaltenen, aber ungedruckt gebliebenen Vor‐ reden zum Druck des Dramas wird die Unterbrechung der Arbeit präzise auf die Fertigstellung des ersten Aktes des zweiten Teils der Argonauten datiert: Ich habe zwischen dem ersten Akte der Argonauten und dem letzten der Medea die Verluste und Erfahrungen eines halben Lebens gemacht; Unglücksfälle, Reisen, schmerzliche Enttäuschungen liegen dazwischen. 23 In einem anderen Entwurf für eine Vorrede wird Grillparzer konkreter: „Der Tod einer geliebten Mutter [Anm. d. Hrsg.: gestr. dav. a RI Angehörigen], der mich noch vor Vollendung der ersten Hälfte meiner Arbeit davon abzog“, 24 wird als erster Grund für die Verzögerung angeführt, die Formel vom „halben Leben“ wiederholt sich, wird aber signifikant abgeändert und auf die Hauptfigur übertragen: „die Verluste und Erfahrungen eines halben Lebens liegen zwischen dem ersten Auftreten der Medea im Gastfreund und ihrem letzten in den Argo‐ nauten“. 25 Hier muss ein Versehen des Autors vorliegen, denn ihren „letzten“ Auftritt hat Medea nicht am Ende des zweiten Teils, also den Argonauten, sondern am Ende des dritten Teils der Trilogie. Die letzte Szene der Argonauten gilt dagegen dem Suizid von Medeas Bruder Absyrtus kurz vor der Abfahrt der Argonauten von Kolchis mit Vlies, Medea und ihrer Amme Cora an Bord. Nicht bereit, sich als Geisel für sicheres Geleit der Argonauten herzugeben, springt 101 Sich am Tod versehen <?page no="102"?> 26 Grillparzer, Franz (1822). Das goldene Vließ (= Ders. (1913). Sämtliche Werke, im Auftrage der Stadt Wien hrsg. v. August Sauer und Reinhold Backmann, Bd. I.2) Wien: Schroll, 159. Im Folgenden wird Das goldene Vließ unter der Angabe der Sigle GV und der Seitenanzahl im Fließtext zitiert. 27 Es ist freilich weder das erste noch das letzte Mal, dass sie diese Möglichkeit erwägt oder ins Spiel bringt. Vgl. auch die Höhlenszene zu Beginn des vierten Aufzugs (GV 136-146), in deren Verlauf Medea mit Selbstmord droht (GV 139). Absyrtus ins Meer: „Ich komme Vater! / Frei bis zum Tod! Im Tode räche mich! “ 26 Und Medeas letzte Worte in diesem Akt lauten: „Mein Bruder! Nimm mich mit! “ (Ebd.) Aber: „Sie wird zurückgehalten und sinkt nieder.“ (Regieanweisung ebd.) Daran schließt sich der heftige Wortwechsel zwischen Jason und Medeas Vater Aietes an, die sich gegenseitig bezichtigen, Absyrtus’ Mörder zu sein, bis Jason das Vlies hervorholt - „Du Phryxis’ Mörder, Mörder deines Sohns! “ ( GV 160) - und Aietes zusammenbricht. Nimmt man Grillparzers Hinweis auf Medeas ‚letzten‘ Auftritt ernst, dann geht die eine ‚Hälfte‘ ihres Lebens also nicht mit der Entscheidung für Jason zu Ende, sondern mit deren schwachem Widerruf und ihrem verhinderten Suizid. 27 Die erste Lebenshälfte Medeas war geprägt vom Konflikt zwischen kolchischen Familienbanden und Pflichten gegenüber den fremden Gastfreunden, sowohl Phryxis, der als Schutzsuchender erschien, auch wenn er unter Umständen als Kolonisator kam, wie Jason, der definitiv als Rächer und Abenteurer kommt, aber gütliche Einigung über die Rückgabe des Vlieses zunächst zu suchen scheint. Die zweite Hälfte von Medeas Leben beginnt dann im ersten Akt des dritten Teils mit der Vergrabung des Haupt-Requisits und anderen Zauberuten‐ silien in Korinth. Was diese Lebens-Hälften verbindet, ist nicht die Liebe, weder die zu Jason noch die zur eigenen Familie, sondern die Treue: „Allein soll Keines sterben, / Ein Haus, Ein Leib und Ein Verderben! “ ( GV 226) gilt für Medea über die Hälften ihres Lebens hinweg, auch wenn die Häuser, Leiber und das Verderben wechseln. Die Liebe blieb für sie und Jason vom Anfang bis zum Ende ein Fremdkörper in ihrer Existenz als Einzelne und als Paar. Das beglaubigt Medea noch in ihrem wirklich letzten Auftritt, der den am Ende der Argonauten erwogenen Selbstmord um der Treue willen und im Namen der ersten Hälfte ihres Lebens aussetzt: „Ein Dolchstoß wäre Labsal […] / Medea soll nicht durch Medeen sterben, / Mein frühres Leben, eines bessern Richters / Macht es mich würdig, als Medea ist.“ ( GV 300) 102 Eva Geulen <?page no="103"?> 28 Wie schwierig das ist, bezeugt in einer ähnlichen Situation Peter Szondis letzte und nicht beendete Untersuchung über Celans winterlichen Berlin-Besuch und das Gedicht „Du liegst im großen Gelausche“. Vgl. Szondi, Peter (1978). Eden. In: Ders. Schriften II, Hrsg. Bollack, Jean u. a., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 390-442. 29 Auch gattungstheoretisch liegen Autobiographie und Drama nicht so weit auseinander, wie man zunächst meinen sollte. Vgl. Fleig, Anne (2019). Autobiography and Drama. In: Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.). Handbook of Autobiography / Autofiction, Berlin: De Gruyter, 497-502. III Unter diesen Umständen ist die Versuchung groß - und durch Grillparzers Kurzschluss eigener, in der Selbstbiographie krass geschilderter Erfahrungen mit denen seiner fiktiven Figuren im Stück vielleicht auch lizensiert - direkte Linien zwischen der Selbstbiographie und der Medea-Trilogie im Zeichen von Sterben, Tod und unterlassener Hilfestellung zu ziehen und die beiden Texte dann, so oder anders, zueinander zu verhalten und zu beziehen. 28 Das verbietet jedoch schon die Einsicht in den literarischen Charakter beider Texte. 29 Gleichwohl fällt von Grillparzers ‚Versehen‘ in der ungedruckten Vorrede Licht auf das Dunkel, in das er die Todesarten einer ganzen Reihe weiterer Figuren der Trilogie gehüllt hat. Diese Spur kann man hermeneutisch gesehen erst einmal gefahrlos verfolgen, also die Frage nach Beziehungen oder Einflussverhältnissen zwischen Literatur und Leben umgehend. Den Ertrag der im Einzelnen und in der Fülle vielleicht doch ganz interessanten Befunde kann man vorab so zusammenfassen: ‚Keines soll alleine sterben‘ könnte ein ungeschriebener Satz der Selbstbiographie sein, in dem sich Grillparzers Konflikte und Schuldgefühle rund um den Tod der Mutter zu einem dramatischen Knoten schürzen. Im Medea-Drama heißt „Keines soll alleine sterben“, dass Tod und Sterben nie‐ mals die Angelegenheit einer Einzelperson sind, nicht des Mörders oder des Selbstmörders, nicht des Kranken oder Getöteten, nicht der Täter oder Opfer. Tragödienfiguren sterben freilich nie allein oder nebenan, selbst wenn sie räumlich abgesondert oder gar nicht auf der Bühne sind. Immer ist ihr Tod überdeterminiert. Das Besondere an Grillparzers Medea-Trilogie ist jedoch, dass er diesen Grundsatz der Gattung so weit getrieben hat, dass die Tode und Todesarten nicht nur keinen dramatischen Knoten mehr schürzen, sondern, gegenläufig, zu einer Entdramatisierung führen. Man kann diesen Effekt und die damit einhergehende Verkomplizierung von Schuld- und Rachefragen als eine Abwendung von älteren Vorlagen betrachten. Man könnte vielleicht sogar von einer ‚realistischen‘ Wendung dieses Dramas sprechen. Aber weil nicht auszu‐ schließen ist, dass Grillparzer diese Entdramatisierung aus Gründen gesucht hat, über die anhand der Selbstbiographie nur zu spekulieren ist, mithin ein anderes 103 Sich am Tod versehen <?page no="104"?> 30 Vgl. Gerhard Neumanns Formel von der „Geburt des Mythos aus der Gründungsszene von Kultur“, die Grillparzer mit den beiden einleitenden Dramen seiner Trilogie anstrebe, in Neumann, Gerhard (1997). Das Goldene Vließ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer. In: Flashar, Hellmut (Hrsg.) Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart: Teubner, 258-86, hier 266. 31 Zum Fluch vgl. Frauke Berndt, die allerdings etwas vorschnell Medeas Schuld und den väterlichen Fluch verantwortlich fürs dramatische Geschehen macht: Berndt, Frauke (2021). Fluch! : Franz Grillparzers Medea-Trilogie. Würzburg: Königshausen & Neumann. Drama hinter oder zwischen den Texten sich vollzieht, hat die Dokumentation der Spurensuche unter eingeschränktem Blickwinkel hier Vorrang vor der Aus‐ wertung. Es geht darum, eine Schicht von Grillparzers Drama zu erschließen, die sich ihrer funktionalen Ausdeutung entzieht. Die Tode (insbesondere der der Pelias-Figur) bleiben ein erratischer Überschuss. Nur unter psychoanaly‐ tischen Auspizien kann er vom Drama auf die Lebensumstände des Autors und seine Selbstbiographie zurückbezogen werden. Aber auch einer von der Selbstbiographie absehenden dramen-immanenten Interpretation und etwaigen literarhistorischen Konsequenzen sind enge Grenzen gesteckt, eben weil Grill‐ parzer selbst die beiden Texte in Zusammenhang gebracht hat. Der Deutung bleibt folglich nur ein schmaler Grat zwischen zwei Unausdeutbarkeiten. Während der Mord an Phryxis durch Aietes im Gastfreund auf offener Bühne geschieht - und es ist diese Tat, mit der das in der Eröffnungsszene noch physisch doppelt anwesende Vlies, als Panier auf Phryxis’ Speer und auf den Schultern der Peronto-Statue, seine mythischen Qualitäten als „das“ goldene Vlies erst gewinnt 30 -, sind in den Suizid Absyrtus’ sowohl Jason wie Medea und vor allem Aietes auf verworren mehrdeutige Weise involviert. An entspre‐ chenden Schuldgefühlen Medeas kann jedenfalls kein Zweifel sein („Am Vater hab’ ich schlimm, am Bruder schlimm getan! “ ( GV 252)) obwohl, anders als bei Seneca, in dessen Stück Medea ihren Bruder tatsächlich tötet, bei Grillparzer von keiner Figur mit Gewissheit gesagt werden kann, dass sie einen Mord begangen hätte. Gerade dadurch, dass immer mehr als eine Person mittelbar involviert ist, wird die Frage nach der jeweiligen Schuld in der Schwebe gehalten. Noch diffuser als der Tod des Absyrtus sind die Todesumstände seines und Medeas in Kolchis zurück gebliebenen Vaters. Kreon gegenüber stellt Jason sie umwegig dar: „Ihr alter Vater, / Ihr fluchend, mir und unsern künft’gen Tagen, grub / Mit blut’gen Nägeln sich sein eignes Grab / Und starb, so heißt es, gen sich selber wütend.“ ( GV 197) 31 Die Amme Cora unterstützt diese Version eines Selbstmords, verschiebt die Tat mit Hilfe einer Penthesilea-Reminiszenz jedoch ins Heroische: „Daß er den Schmerz anfassend wie ein Schwert, / Gen 104 Eva Geulen <?page no="105"?> sich selber wütend, den Tod sich gab.“ ( GV 235) Die wildesten Spekulationen ranken sich jedoch um das Sterben einer Figur, die überhaupt nicht auftritt und deren Tod in die Zeit nach dem Ende der Argonauten, aber vor Beginn der Spielzeit des dritten Teils fällt. Jasons Oheim Pelias, der möglicherweise Jasons Vater getötet und ihn jedenfalls nach Kolchis geschickt hat, Phryxis zu rächen und das Vlies zurückzuholen, stirbt unmittelbar nach Jasons Ankunft mit Medea in Griechenland. Details und Umstände kommen bloß bruchstückhaft und widersprüchlich zur Sprache. Erstes erfährt man durch Jasons ausgemachte Widersacherin Cora. Im Gespräch mit Medea im ersten Akt erinnert sie diese an ihre Prophezeiung, den väterlichen Fluch, und rekapituliert die widrigen Umstände von Jasons Rückkehr in seine Heimatstadt: Auch den Gemahl, der Kolcherfürstin Gatten, Sie hassen ihn um dein-, und seinetwillen. Der Oheim schloss die Tür ihm seines Hauses, Die eigne Vaterstadt hat ihn verbannt, Als jener Oheim starb, man weiß nicht wie […] (GV 172) Wenig später, während Jason und Medea Kreons Entscheidung ihrer Asylbitte erwarten, erklärt Jason Pelias’ Tod für einen göttlichen Racheakt, der fälschlich Medea und ihm zugeschrieben worden sei: Du weißt ja doch, daß alle Welt uns flieht Daß selbst des falschen Pelias, meines Oheims, Tod, Des Frevlers, den ein Gott im Grimm erwürgte, Daß mir das Volk ihn Schuld gibt, deinem Gatten, Dem Heimgekehrten aus dem Zauberlande? (GV 177) Aber seine unmittelbar im Anschluss gestellte Frage „Riefst alte Freund’ aus Kolchis? “ ( GV 178) zeigt schon hier seine Bereitschaft, Medea der Tat oder mindestens der Mithilfe zu verdächtigen. Kreon gegenüber macht Jason dann aber weder sie noch einen Gott verantwortlich, sondern behauptet: „Seine Kinder, / Sein eigen Blut hob gegen ihn die Hand.“ ( GV 187) So war es bei Seneca, aber Grillparzer spielt das nur ein, um es als eine Möglichkeit unter anderen undeutlich verschwimmen zu lassen. Weiter berichtet Jason, dass er sich dem von Pelias ergangenen Befehl, „mein Weib von mir zu senden“ ( GV 198), verweigert habe und trotz des Bannspruchs in seiner Vaterstadt geblieben sei. An dem Tag, an dem er Jolkos mit Medea und ihren Kindern hätte verlassen sollen, „wird der König plötzlich krank“ (ebd.). ‚Sieg und Rache‘ scheinen damit auf Jasons Seite, denn Pelias stirbt noch in derselben Nacht, nachdem Jason die Bitte der Töchter um zauberischen Beistand Medeas für 105 Sich am Tod versehen <?page no="106"?> ihren erkrankten Vater abgeschlagen hatte (vgl. GV 199). Nur über im Volk kursierende Gerüchte weiß Jason einige Details, vor allem, dass Pelias das ihm gebrachte Vlies an seinem Hausaltar installiert habe: „Oft schrie er auf: sein Bruder schau ihn an, / Mein Vater, den er tückisch einst getötet / Beim Wortstreit ob des Argonautenzugs […]“ ( GV 199) Dieser Tod löst die weitergehenden Anschuldigungen aus, die Kreon unter Zugzwang setzen und die Ereignisse in Korinth beschleunigen, bis Kreon Jason mit Kreusa verheiratet und Medea des Landes verweist. Plot-technisch gesehen kann Grillparzer auf die Pelias-Figur nicht verzichten, aber das Ausmalen verschiedener Sterbe-Umstände wäre durchaus verzichtbar gewesen. Mit dieser Obsession ragt etwas in das Drama hinein, das es nicht zu integrieren vermag. Die vom Herold angekündigte Verbannung auf höchster Ebene beruft sich auf Medeas, Jason noch unbekannte, gegen seinen Willen unternommene und of‐ fenbar erfolgreiche Intervention beim kranken König Pelias. Die von Medea bei dieser Gelegenheit vermeintlich ausgesprochenen „[g]eheimisvolle[n] Worte“ ( GV 224) haben wohl weniger Wirkung hinterlassen als die von ihr angeord‐ neten Aderlässe: „Er atmet leichter als man ihn verband / Und froh sind schon die Töchter der Genesung. / Da ging Medea fort, von dannen wie sie sagte, / Und auch die Töchter gehn, da jener schlief.“ (Ebd.) Aber dann Mit Eins ertönt Geschrei aus seiner Kammer, […] Der Alte lag am Boden, wild verzerrt, Gesprungen die Verbande seiner Adern, In schwarzen Güssen strömend hin sein Blut. Am Altar lag er, wo das Vließ gehangen, Und das war fort. Die aber ward gesehen, Den goldnen Schmuck um ihre Schultern tragend […] (ebd.). Bevor Medea ihre Version berichten kann, erinnert sie Jason an seinen geheimen Mordwunsch: Wie du zu mir in meine Kammer tratst Und mit den Augen so in meine schauend, - Als säh’ ein Vorsatz, scheu in dir verborgen, Nach seines Gleichen aus in meiner Brust - Wie du da sagest: Daß zu mir sie kämen Um Heilung für des argen Vaters Krankheit, Ich wollt ihm einen Labetrank bereiten […]! (GV 228) 106 Eva Geulen <?page no="107"?> 32 Vgl. auch Medeas Bemerkung im Schlussmonolog: „Die ich getan, wo du nur unter‐ lassen“ (GV 300). Später antwortet Jason: „Nicht der Gedanke wird bestraft, die Tat! “ ( GV 250) 32 Das vom Herold grässlich ausgemalte Sterben quittiert Medea mit einem „Mich schaudert, denk‘ ich an des alten Mannes Wut“ ( GV 224). Nachdem sich Jason und Medea wechselseitig bezichtigt haben, schildert sie die Todesumstände noch einmal aus ihrer Perspektive: Da hör’ ich schreien; hingewendet Seh’ ich den Mann vom Lager springen Heulend, bäumend sich umwindend. Kommst du Bruder, schreit er, Rache zu nehmen, Rache an mir! Noch einmal sollst du sterben, noch einmal! Und springt hin und faßt nach mir, In deren Hand das Vließ. Ich erbebte und schrie auf Zu den Göttern, die ich kenne. Das Vließ hielt ich mir vor als Schild. Da zuckt Wahnsinns Grinsen durch seine Züge, Heulend faßt er die Bande seiner Adern, Sie brechen, in Güssen strömt hin sein Blut, Und als ich um mich schaue, entsetzt, erstarrt, Liegt der König zu meinen Füßen Im eignen Blut gebadet, Kalt und tot. (GV 250) Jenseits der Bühnenwirklichkeit werden verschiedene Todesvarianten also in den wechselnden Aussagen der Figuren so ‚durchgespielt‘, dass am Ende nicht zu entscheiden ist, ob Pelias als Opfer bösen Zaubers starb, sei es Medeas, sei es der magischen Kräfte des Vlieses, als Mordopfer seiner Kinder, oder ob er, im Wahn den getöteten Bruder zu sehen, wie Aietes ‚gen sich selber wütend‘ sich die Verbände abreißt. Zu rechtfertigen ist die Obsession des Stücks mit diesen Variationen allenfalls mit Blick auf den Status des titelgebenden Requisits, das in Pelias’ Zimmer so an einem Altar hängt wie vormals in Delphi: „sinnliches Zeichen“ jeweiliger Begierden und Perspektiven, das sich Medea als Schutzschild vorhält. Dass sich das Problem der Todesarten mit Pelias von der dramaturgischen Logik tendenziell emanzipiert hat oder sich in ihr jedenfalls nicht erschöpft, 107 Sich am Tod versehen <?page no="108"?> 33 Vgl. Vogel, Juliane (2002). Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der „großen Szene“ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts. Freiburg i. Brsg.: Rombach, 187. 34 Ebd., 188. 35 Vgl. Geulen, Eva (2006). Das Geheimnis der Mischung: Grillparzers Jüdin von Toledo. In: Dörr, Volker / Schneider, Helmut J. (Hrsg.) Die deutsche Tragödie. Bielefeld: Aisthesis, 157-173. bezeugen auch die Widersprüche rund um Medeas Mord an den eigenen Kindern. Am Ende des vierten Aktes stürzt zunächst Cora „aus dem Säulen‐ gange heraus und fällt in der Mitte des Theaters auf die Kniee“, sodann tritt Medea „aus dem Säulengange, in der Linken einen Dolch, mit der rechten, hocherhobenen Hand Stillschweigen gebietend“ ( GV 290), worauf der Vorhang fällt. Unmittelbar im Anschluss, am Anfang des fünften Aktes, berichtet Cora als einzige Augenzeugin der Tat: „Ich hab‘ gesehn mit diesen meinen Augen / Die Kinder liegen tot in ihrem Blut, / Erwürgt von der, die sie gebar, / Von der, die ich erzog, Medea, / Seitdem dünkt Scherz mir jedes andre Greu’l! “ ( GV 291 f.) Erwürgen und Erdolchen sind zwei sehr verschiedene Tötungs-Akte mit verschiedenen Registern. Medeas quasi-priesterlicher Heroinen-Auftritt ist im Dramentext zu nahe an Coras wüster Aussage, um bloß ein Versehen zu sein. Man könnte argumentieren, dass Cora so schockiert ist, dass sie die Tötung als barbarischen Meuchelakt klassifiziert - womit dann die Assimilation dieser Figur mit ausgeprägt kolchischer Identifikation an die Griechen vollzogen und Medea auch von dieser Gefährtin verlassen worden wäre. Aus Medeas Sicht ist die Tat dagegen Teil jener allerdings bloß noch zeremoniellen Restauration als Kolcherin, die mit dem Ausgraben der Zauberutensilien begann 33 : „Am Ende wird die Furie zur Priesterin, das barocke Übermaß des Rachezorns beruhigt sich im gemessenen, zeremoniösen Moment.“ 34 Und damit bricht auch die dua‐ listische Theaterordnung von Licht und Dunkel, Recht und Rache zusammen. Darüber wölbt sich aber zum Schluss, ähnlich wie in der Jüdin von Toledo 35 , die Mahnung zu Buße und Duldung. Als Jason zu Beginn der letzten Szene den Landmann um Wasser bittet, rafft er sich kraftlos noch einmal zur Selbststilisierung auf: „Ich bin der Jason! / des Wunder-Vließes Held! Ein Fürst! Ein König! / Der Argonauten Führer Jason, ich! “ ( GV 297) Als der Landmann ihn als Kreusas Mörder abweist, fleht er selbst um ein Sterben, zu dem er trotz seines Schwertes nicht mehr in der Lage ist: „Dich ruf ‘ ich: Tod, führ’ mich zu meinen Kindern! “ ( GV 298) Medea hinter dem Felsen erblickend, greift er zum Schwert, ist aber des Mordes so wenig fähig wie des Selbstmords und sinkt so nieder wie Medea damals in Kolchis: „Gebrochen! - Hin! “ (Ebd.) Die so eröffnete Schlussszene ist der Restauration in mehr als einem Sinne weniger gewidmet als geweiht: Medea und das Vlies 108 Eva Geulen <?page no="109"?> kehren nach Delphi in das Heiligtum des dunklen Gottes zurück. Mit Jason wiederholt Medea ihre erste Begegnung mit umgekehrter Rollen-Besetzung. Das Vlies um ihre Schultern tragend, tritt sie in der letzten Szene so „hinter einem Felsenstück hervor“ (ebd.), wie Jason ihr in den Argonauten hinter einer Götterstatue erschienen war, was auch schon ein Sich-Versehen an Göttern und Menschen war. Und das „Leb‘ wohl! “ ( GV 301), mit dem die priesterliche Medea Jason entlässt, ist die Zurücknahme von Iphigenies und Thoas’ ‚Lebewohl‘ bei Goethe. Das leitet, so hat die Forschung auch wiederholt argumentiert, Grillparzers Abkehr von josephinischen Aufklärungsidealen ein: „Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.“ (Ebd.) Medeas Dulde-und-Trage-Predigt nimmt ihren Ausgang bei Jasons Über‐ schätzung des Lebens: Dir scheint der Tod das Schlimmste; Ich kenne noch viel Ärgres: elend sein. Hättst du das Leben höher nicht geachtet Als es zu achten ist, uns wär’ nun anders. Drum tragen wir! Den Kindern ist’s erspart! (GV 299) Zunächst ist rätselhaft, wieso Jason das (bloße) Leben höher geachtet haben soll, als es verdient, denn in den Argonauten tritt er als todesmutiger Abenteurer auf, der wiederholt und nicht zuletzt in der Höhlenszene sein Leben bedenkenlos aufs Spiel setzt. Medea kann sich deshalb nur auf den veränderten und gebro‐ chenen Jason aus dem oft als „Ehedrama“ bezeichneten dritten Teil der Trilogie beziehen, der um Besitz, Behaglichkeit und der Legitimität seiner Kinder willen bereit ist seine Frau zu verstoßen. Medea erinnert ihn an sein jetzt verlorenes Selbst: Mit blindem Frevel griffst du nach den Losen, Ob ich dir zurief gleich: du greiffst den Tod. So habe denn was trotzend du gewollt: Den Tod. Ich aber scheide jetzt von Dir; Auf immerdar. (GV 299 f.) Aber der Tod ist eigentlich „[e]in kummervolles Dasein“ ( GV 300), denn Jason, der sagt: „Könnt‘ ich sterben! “ ( GV 301), kann eben das nicht mehr. Als Hohe‐ priesterin entlässt Medea sich und ihren Mann in ein Niemandsland jenseits der Alternative tot oder lebendig. Es könnte auch der Grund sein, aus dem dieses Drama, in dem sich Schuld vor Rache schiebt, aufgestiegen ist. Das Anliegen war aber nicht der Nachweis, dass Grillparzers Verstörung über den Tod und die Todesumstände seiner Mutter Eingang in die Medea-Trilogie fand. Es ging nur 109 Sich am Tod versehen <?page no="110"?> darum, in den Blick zu rücken, was übersehenes Sich-Versehen sichtbar machen kann, auch wenn es als Ereignis so kontingent bleibt wie meine Überblendung der Episode aus der Selbstbiographie mit Wilhelm Buschs Scheintoter. Literatur Primärliteratur Busch, Wilhelm (1875). Abenteuer eines Junggesellen. In: Ders. (1969). Wilhelm Busch-Album. Humoristischer Hausschatz mit 1700 farbigen Bildern, koloriert von Josef Jungwirth, Berlin / Darmstadt / Wien: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 204-206, hier 204. Grillparzer, Franz (1909-1948). Sämtliche Werke, im Auftrage der Stadt Wien hrsg. v. August Sauer und Reinhold Backmann. Wien: Schroll. Grillparzer, Franz (2017). Selbstbiographie. Hrsg. Dusini, Arno / Kaufmann, Kira / Reins‐ tadler, Felix. Salzburg/ Wien: Jung und Jung. (= Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek. Hrsg. Fetz, Bernhard). Musil, Robert (1976). Tagebücher. Hrsg. Frise, Adolf. 2 Bände. Reinbek: Rowohlt. Sekundärliteratur Berndt, Frauke (2021). Fluch! : Franz Grillparzers Medea-Trilogie. Würzburg: Königs‐ hausen & Neumann. Decurtins, Florin (1933). Grillparzer in psychopathologischer Beleuchtung. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 148, 620-654. Dusini, Arno (1998). Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard. Innsbruck / Wien: Studien-Verlag. Fleig, Anne (2019). Autobiography and Drama. In: Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.) Handbook of Autobiography / Autofiction. Berlin: DeGruyter. Frank, Peter / Pörnbacher, Karl (1965). Anmerkungen. In: Grillparzer, Franz. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Hrsg. Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. Bd. 4: Selbstbiographien, Autobiographische Notizen, Erinnerungen, Tagebü‐ cher, Briefe, Zeugnisse und Gespräche in Auswahl. München: Hanser, 989-1006. Frankl, Ludwig August (1884). Zur Biographie Franz Grillparzers. 2. verm. Auflage. Wien: A. Hartleben. Geulen, Eva (2006). Das Geheimnis der Mischung: Grillparzers Jüdin von Toledo. In: Dörr, Volker / Schneider, Helmut J. (Hrsg.) Die deutsche Tragödie. Bielefeld: Aisthesis, 157-173. Kuh, Emil (1872). Zwei Dichter Oesterreichs: Franz Grillparzer - Adalbert Stifter. Pest: Verlag von Gustav Heckenast. 110 Eva Geulen <?page no="111"?> Laube, Heinrich (1909). Franz Grillparzers Lebensgeschichte. In: Ders. Heinrich Laubes Gesammelte Werke in 50 Bänden, unter Mitwirkung von Albert Hänel. Hrsg. von Houben, Heinrich Hubert, Bd. 35. Leipzig: Max Hesses Verlag. Lorenz, Dagmar (1986). Franz Grillparzer. 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Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs Gilles Darras Ziel dieser Untersuchung ist es, die struktur- und sinnstiftende Funktion dieses Leitmotivs in Grillparzers bühnenwirksamer und psychologisch tief‐ greifender Adaption des Medea-Stoffes herauszuarbeiten. Mit diesem bis zum Verwirrspiel geführten Wechselspiel von Licht und Schatten kommt das komplexe Spannungsverhältnis zwischen Eros, Thanatos und Xenos als Katalysator eines innermenschlichen, zwischenmenschlichen und zwischen‐ kulturellen Konfliktes zum Vorschein. Nicht zuletzt dank dieser im ganzen dramatischen Gedicht durchgestalteten verbalen und non-verbalen Identifi‐ kation der Medea mit der Polarität von Tag und Nacht schafft es Grillparzer, der faszinierenden Ambivalenz und Modernität dieser aufgeklärten Königin der Nacht oder dunklen Schwester der Iphigenie Rechnung zu tragen. „O Kolchis! O du meiner Väter Land! Sie nennen dunkel dich, mir scheinst du hell! “ 1 So lautet Medeas schmerzlicher Ausruf bei ihrer ersten Begegnung mit der griechisch-königlichen Familie, die nur Augen für den wiedergefundenen Helden hat und die fremde Kolcherin von vornherein ausgrenzt, indem sie - nämlich durch die Bezeichnung ihrer eigenen Kinder als „heimatloser Waisen“ (M, V. 345) - ihre Identität als Mutter verneint. Die Vereinigung eines Griechen mit einer Barbarin ist nun einmal eine strikte Unmöglichkeit, ein Verstoß gegen die guten und schönen Sitten, als deren idealtypische Verkörperung sich die hellenische Kultur begreift. <?page no="114"?> 2 Zitiert von Helmut Bachmaier in: Grillparzer (1986: II, 808). 3 Um die Formel aufzugreifen, womit Heine 1828 eine literarische Epoche bezeichnete - welcher das Postulat einer durch die Kunst vermittelten Einheit der Welt zugrundelag - deren Ende aber (vier Jahre vor Goethes Tod) er heraufziehen sah: „Die Welt […] ist mitten entzweigerissen […] Jede Nachahmung ihrer Ganzheit ist eine Lüge.“ Heine, Heinrich (1982). Werke in vier Bänden. Hrsg. Häntzschel, Günter. München / Wien: Carl Hanser Verlag, Bd. II, 405-406. 4 Zu diesem Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Barbarei, das besonders in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den Fokus der Vließ-Forschung gerückt ist, siehe u. a. Bub, Tillmann (2004). Barbarei und Zivilisation in Grillparzers Trilogie „Das goldene Vließ“. Sprachkunst 35, 1-22. Albrecht, Tim (2015). Trusting Barbarians? Franz Grillparzers Goldenes Vließ and the Challenge to the Mythography of Empire. In: Die Erscheinung der Medea im Familienkreis der Korinther oder eher gesagt ihre sofortige Identifikation mit dem Schreckbild, das ihr im Volksglauben anhaftet („ein grässlich Weib, giftmischend, vatermörderisch“ (M, V. 330) löst bei Kreusa und Kreon quasi reflexartig eine heftige Abwehrreaktion aus, wobei diese ablehnende Haltung durch die ethnisch-rassistischen Vorurteile, welche mit der Fremden verbunden sind, verstärkt wird, in blinder Verkennung ihrer Identitäten als Gattin, Mutter und - überhaupt - als Mensch. Zwar lässt sich Kreusa durch Medeas Tränen rühren, die ihr die Augen über die „Wilde“ zum Teil doch öffnen und ihr sie als leidenden Menschen enthüllen, so dass sie sie dann unter ihre Fittiche nimmt, wohl in der Absicht aber, sie durch ihre Führung zu „bilden“. Immerhin vermag diese nachträgliche Geste der Anteilnahme - welche ja selbst nicht frei von Ambivalenz ist - über die Brutalität einer Zurückweisung nicht hinwegzutäuschen, die einem grund‐ sätzlichen Manichäismus in der Selbst- und Fremdwahrnehmung entspringt. Kreusas Entgegenkommen ist aber sowieso nichts mehr als ein kurzer und vergänglicher Lichtblick, der sich vom durchgängig finsteren Grundton des dramatischen Gedichtes umso mehr abhebt, in dem der Wechsel zwischen Tag und Nacht, Hell und Dunkel als integratives dialektisches Leitmotiv fungiert. Anhand dieses Motivs eben kann die besondere Perspektive untersucht werden, in die Grillparzer, als Sohn der Aufklärung, der mit einer soliden klassischen Bildung ausgestattet war, den von ihm adaptierten Mythos rückt. Dabei betrachtet er letzteren mit dem kritischen Blick eines Menschen seiner Zeit, der in einem berühmten Epigramm aus dem Jahr 1848 die tragische Regression der modernen Kultur denunzieren wird: „Der Weg der neueren Bildung geht / von Humanität / durch Nationalität / zur Bestialität.“ 2 Gerade diese rückschrittliche Entwicklung wird aber schon 1820 - also noch mitten in der Goethezeit, bzw. „Kunstperiode“ 3 - im Medea-Drama auf anschauliche Weise exemplifiziert. 4 114 Gilles Darras <?page no="115"?> Boletsi, Maria / Moser, Christian (Hrsg.) Barbarism revisited. New Perspectives on an Old Concept. Leiden-Boston: Brill-Rodopi, 203-219. 5 Zur symbolischen Funktion des Raumes in der Trilogie siehe Fülleborn, Ulrich (1976). Zu Grillparzers „Goldenem Vließ“. Der Sinn der Raum- und Zeitgestaltung. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 12, 39-59. Dramaturgie von Licht und Schatten: Zur bühnengerechten Symbolik eines raumzeitlichen Wechselspiels Die symbolische Bedeutung von Tag und Nacht bestimmt den zeitlich-räumli‐ chen Rahmen des dramatischen Triptychons. So verläuft die Handlung des Prologs (Der Gastfreund), die wohlgemerkt beim „Tagesanbruch“ einsetzt ( GF , S. 209), vor dem Hintergrund einer Naturlandschaft, mit der die Jägerin Medea in Symbiose lebt, und diese Morgendämmerung scheint auf den Zustand einer heilen, unberührten Welt hinzudeuten, die Ordnung atmet und einen harmoni‐ schen Eindruck vermittelt, einer Welt, in der buchstäblich ‚in den Tag hinein‘ gelebt wird, in einer gleichsam zeitlosen Gegenwart, sozusagen am Rande der Geschichte (im weitesten Sinne). 5 Dieses Leben wird von tradierten Riten, Götterkult und sorglosen Spielen strukturiert, denen sich die Jungfrau Medea mit ihren Gefährtinnen hingibt: „Die Sonne steigt. Hinaus! Hinaus! / Und die am schnellsten rennt und die am leichtsten springt / Sei Königin des Tages“ ( GF , V. 40 ff.) ruft die Königstochter, die nichts mehr liebt, als ihre Freiheit im Schoß einer ungezähmten Natur - welche ihr genaues Ebenbild ist - immer wieder auszuleben. Der erste Schatten, der in dieses quasi idyllische Eingangsbild fällt, wo wohlgemerkt nur Frauen auftauchen, der erste Bruch in dieser anfänglichen Einheit, wird von einem Mann verursacht, genauer gesagt durch den Verrat, den Perittas Liebe zu einem Schäfer in den Augen Medeas bedeutet, betrachtet sie diese Liebe doch als verachtenswerte Selbstaufgabe der Peritta, mit der sie sich de facto selbst aus der gleichsam amazonenhaften Jungfrauengemeinschaft ausschließt. Eben dieser Selbstentfremdung aber, die Medea Peritta vorwirft und vor der sie sich dank ihrer Willenskraft gefeit wähnt, wird sie auch später selbst zum Opfer fallen - und zwar durch eine tragisch-ironische List des Schicksals, die allerdings schon in den beiden Eingangsversen des Prologs und damit der ganzen Trilogie implizit anklang („Jungfrauen: Das Opfer blutet! […] Medea: Das deutet Gutes“ GF , V. 1 f.). Auf diese Zurückweisung der Peritta - die die Ausgrenzung der Medea in Korinth vorwegnimmt - folgt in rascher Abfolge der Auftritt eines Mannes, des Boten nämlich, der die Nachricht von der gefahrvollen Griechenlandung überbringt, gleich darauf derjenige des Aietes, welcher Medea in seinen Kampf 115 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="116"?> 6 „[…] eine Prophetin bin ich immerfort gewesen […] Nachts hab‘ ich nicht geschlafen, hab’ mein Lager mir auf den Turm gemacht […] alles hab‘ ich sehen müssen wie der Wächter auf dem Turm, und Tag ist Nacht, und Nacht ist wieder Tag geworden. In: Hofmannsthal, Hugo von (1997). Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. Bohnen‐ kamp, Klaus E./ Mayer, Mathias. Frankfurt am Main: S. Fischer, Bd. VII / 5, 103-104. gegen die Fremden einspannt, und schließlich taucht Phryxus auf, wobei er schon einige Momente später ermordet wird. Im Zeichen der Gewalt also bricht die Geschichte in die Bühne einer in sich ruhenden Welt ein, die sich bisher vor ihr sicher glaubte, sehr schnell spitzen sich die Spannungen zu und in sehr kurzer Zeit - Handlungs- und Aufführungsdauer decken sich hier auffallend - gelingt es Grillparzer, die gnadenlose Verkettung der Geschehnisse ellipsenfrei darzustellen, mit denen der unaufhaltsame tragische Prozess, der von Medea selbst als Ausbruch des göttlichen Fluches schmerzlich empfunden wird, ausgelöst wird. Tagesanbruch und Beginn des Dramas fallen also zusammen, wobei der Tag - um König Alphons’ unfreiwillig prophetische Aussage am Anfang der Jüdin von Toledo aufzugreifen - einen unheilschwangeren „Riss“ aufweist (Werke, Bd. III , V. 217). Tatsächlich scheint sich der Himmel über dem idyllischen Ort schnell zu verfinstern, der binnen kurzem zum befremdenden und beängstigenden Schauplatz eines fluchbehafteten Verbrechens geworden ist. Davon zeugen in eindrucksvoller Weise die düsteren Visionen der Medea-Kassandra, die - indem sie den Rachegöttinnen ihre Stimme zu leihen scheint - auf das chaotische Finale einer Tragödie im Werden weit- und hellblickend vorausweist: „Sie kommen, sie nahen / Sie umschlingen mich, / Mich, dich, uns alle“ ( GF , V. 515 ff.). Regiemäßig würde sich hier, im Zusammenhang mit Medeas ominöser Schlussreplik, eine Verdunkelung der Bühne geradezu anbieten, womit ein nahtloser Übergang zum dunklen Landschafts- und Stimmungsbild geschaffen würde, das die Bühnenanweisung gleich am Anfang des folgenden Argo‐ nauten-Teiles suggeriert: „Wilde Gegend mit Felsen und Bäumen […] Finstere Nacht“ ( AR , S. 231). Der Rahmen ist wohl derselbe geblieben, allein die kenn‐ zeichnend genug veränderte Zeitangabe versinnbildlicht den Schandfleck, der sich - aufgrund der frevelhaften Ermordung des Fremden am Ende des Prologs - dem Schauplatz unauslöslich eingebrannt hat. Medea, die um den ermordeten „götterbeschützten“ Gastfreund trauert ( AR , V. 98) und die Freveltat - anders als Vater und Bruder - weder vergessen kann noch will, lebt zurückgezogen in einem Turm, darin der hofmannsthalschen Elektra nicht unähnlich, die - im Gegensatz zu ihrer verdrängungswilligen Mutter und Schwester - die obsessive Erinnerung an den getöteten Vater wachhält. 6 Dieser Turm der Medea, der gleichsam die sichtbare Konkretisierung 116 Gilles Darras <?page no="117"?> 7 „Halte dir immer gegenwärtig, dass das Stück eigentlich nichts ist als eine Ausführung des Satzes: Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären. Dieser Satz ist so wichtig als irgendeiner in der Welt. Das Vließ ist nur ein sinnliches Zeichen dieses Satzes und […] begleitet sinnbildlich die Begebenheiten ohne sie zu bewirken. Grillparzer, Werke, Bd. II, 782. 8 Eine symbolisch und dramaturgisch gesehen zentrale Rolle wird dieses Licht bekannt‐ lich im späteren Hero-und-Leander-Drama Des Meeres und der Liebe Wellen spielen. bzw. Extension ihres Inneren darstellt, bietet ihr eine Art Asyl- und Exilstätte, wo sie sich - so meint sie - dem Lauf einer unheilschwangeren Geschichte und einer verdorbenen Welt entziehen kann, die Männer durch ihre Taten aus ihren Fugen geraten ließen. Allerdings ist dieser Turm, der wohlgemerkt „halb verfallen“ ist ( AR , S. 231) und auch einen Riss hat, von vornherein ein brüchiges und fragiles Bollwerk. Er ist also alles andere als eine gegen Angriffe von außen fest geschützte Burg: Jason wird nämlich über das Meer durch einen symbolträchtigen „Spalt im alternden Gemäuer“ in Medeas Refugium eindringen ( AR , V. 357), womit die spätere sexuelle Defloration - die in der zweiten Begegnungsszene auch noch durch die Wunde am Arm versinnbildlicht wird - hier ein erstes Mal raumsymbolisch antizipiert wird. Aber auch gegen Angriffe von innen ist dieser Turm schlecht gewappnet: denn durch die bevorstehende Begegnung mit dem doppelt Fremden (als Mann und Grieche) wird Medea die befremdende und bald entfremdende Übermacht des Eros auch an sich selbst brutal erfahren. Zwar leuchtet in dieser Dunkelheit und aus der Turmhöhe ein freilich „schwaches Licht“ ( AR , S. 231), das immerhin als Zeichen eines menschlichen Verstandes zu deuten ist innerhalb einer Welt, die „der Fluch der bösen Tat“ - mit dieser schillerschen Formel bezeichnete Grillparzer den Urmord als Triebfeder seiner Tragödie 7 - in die tiefste Finsternis zu tauchen schien. Auch hält Medea bei ihrer ersten Erscheinung wohlgemerkt eine Fackel in der Hand, aber wie das flimmernde Licht im Turm 8 ist es nur ein blasser Schimmer innerhalb des „Nachtstückes“, das Die Argonauten sind. Tatsächlich spielt die Dramenhand‐ lung an überwiegend dunklen Schauplätzen, so im „düsteren Gewölbe“ des Turmes, wo Medea ihr Heiligtum hat ( AR , S. 244) und wo die erste Begegnung mit Jason stattfindet, dann in der „waldigten Gegend“ ( AR , S. 273), wo die zwei Protagonisten erneut aufeinandertreffen, wo dann aber Aietes seine Tochter verflucht und Jason unmittelbar darauf Medea zwingt, ihn zur unheilvollen Vließ-Stätte zu führen. Der letzte Aufzug beginnt - in spiegelbildlicher Entsprechung zum ersten - in der Dunkelheit eines diesmal geschlossenen Raumes (der Höhle), wobei das dadurch erzeugte Gefühl einer drückenden Enge durch das baldige Auftauchen 117 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="118"?> 9 Zur sexuellen Symbolik dieser Szene, siehe: Politzer, Heinz (1972). Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Wien-München-Zürich: Fritz Molden, 125-150, insbesondere: 139. 10 Grillparzer, Werke, Bd. II, 813. einer zweiten kleineren Höhle innerhalb der ersten gesteigert wird. Mit dieser bühnenwirksamen Mise en abyme des Schauplatzes gelingt dem Autor die anschauliche Fokussierung des obskuren Objektes einer Begierde, von der das Vließ - so Grillparzer - eben nichts als ein „Sinnbild“ ist. Wie im ersten Aufzug - womit der Symmetrie-Effekt verstärkt wird - schimmert zwar ein schwaches Licht an diesem finsteren Ort („eine innere schmälere Höhle, seltsam beleuchtet“ AR , S. 293), diesmal aber geht der verführerisch-gefährliche Lichtschein aus dem begehrten Schatz selbst hervor, der übrigens - mit unübersehbarem Bezug zur Genesis (I. Mose 3) - am schlangenbewachten Baum der Versuchung befestigt ist („An ihm hängt, hellglänzend, das goldene Vließ.“ Ebd.) Nicht plastischer und (sinn)bildlicher als durch diese effektvolle Kontrastierung von Licht und Dunkel - womit der Szene eine schaurig-fantastische, ja, phantasmagorische Atmosphäre verliehen wird - könnte die Zwielichtigkeit des Gegenstandes als Katalysator des Todes- und Lusttriebes eben zum Vorschein kommen. Tatsächlich wird dem Zuschauer hier das Corpus Delicti als Kern der ganzen Dramenproblematik szenisch und symbolisch vor Augen geführt und nicht von ungefähr liegt diese Szene, die im doppelten Zeichen von Eros und Thanatos steht, 9 dramenökonomisch gesehen genau in der Mitte der Trilogie. Grillparzers ausgeprägtes Gespür für das Spannungsverhältnis zwischen beiden Grund‐ trieben kommt hier in dieser Schlüsselszene zum Ausdruck, wo es dank eines besonderen Einsatzes von Bühnenbild, Körpersprache und verbaler Sprache eine Versinnlichung und Versinnbildlichung erfährt - womit der Autor seinem Credo, „das Drama“ - also auch das innere - sei „eine Gegenwart“, gerecht wird. 10 Mit Jasons Eindringen in die Höhle (das als erneuter Gewaltakt gegen Medea in einer Reihe steht mit dem Einbruch in den Turm, die Verwundung am Arm und das Abreißen des Schleiers) offenbart sich auch deren Inneres mit Baum, Schlange und Vließ. Schlagartig wirkt sich die erzwungene Öffnung auf den Geisteszustand der zwei Protagonisten aus, deren Verstörung sich bis zur wahnsinnsnahen Identitätsverwirrung, bzw. Entfremdung steigert. Dies macht sich vor allem - auf der Höhe der Krise - bei Medeas momentaner Selbstidentifikation mit der tödlichen Schlange (also mit dem fluchbehafteten Vließ) bemerkbar: 118 Gilles Darras <?page no="119"?> 11 Hervorhebung vom Verfasser [G. D.] Jason fährt aufschreiend zurück und kommt wieder in den Vorgrund. MEDEA (wild lachend) […] Bebst vor der Schlange? Schlange! […] Und geh und stirb! JASON Haltet aus meine Sinne, haltet aus! Was bebst du Herz? Was ist’s mehr als sterben? MEDEA Sterben? Sterben? Es gilt den Tod! Geh hin mein süßer Bräutigam, Wie züngelt deine Braut! 11 […] JASON Mein Geist geht unter in des deinen Wogen! […] MEDEA Dunkel hülle die Nacht Unser Tun und uns! […] Er spricht nicht, ist tot. - tot. (Sie sinkt an der Türe nieder.) Liegst du mein Bräutigam? Laß Raum, Raum für die Braut! (AR, V. 1541-1576) In diesem hochgespannten Klima des Schreckens feiern beide Protagonisten im Voraus ihre (Blut)Hochzeit, die die kommenden Desaster ankündigt. Zwar ver‐ lassen beide scheinbar unversehrt diesen locus terribilis, der neben der antiken und christlichen Tradition (Sündenfallmotiv) auch noch an den germanischen Mythos von Siegfried in der Drachenhöhle anknüpft. Das Licht der Vernunft scheint die Umnachtung vom Platz verdrängt zu haben: „Eine Falltüre öffnet sich am Boden. Medea steigt herauf./ Medea: Hier ist der Tag.“ ( AR , V. 1656). Nichtsdestotrotz hinterlässt dieser spektakuläre Abstieg in die Unterwelt - der sich offenkundig auch wie eine Versenkung in die dunklen Tiefen der Psyche lesen lässt - sichtbare Spuren. Erneut scheint dieser Vließraub (der dritte nach demjenigen von Phryxus und Aietes) sich an seinem Urheber zu rächen und so 119 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="120"?> begegnet uns plötzlich ein quasi schizophrener, sich selbst entfremdeter Jason, wovon die sinnentstellende und -entleerte Dissoziation der zwei Silben seines Namens symptomatisch zeugt: „Milo: […] Du bist es Jason! Du ! / Jason: Jason! - Wo? - Ja so! Ja, ja! “ ( AR , V. 1658). Auffallend ist die Parallele zwischen Jasons Haltung hier - nach der verhäng‐ nisvollen Szene in der Brutstätte des Verderbens - und Medeas Reaktion am Anfang des zweiten Aktes, und zwar nach dem für sie unheilschwangeren Einbruch des Griechen in ihr Refugium. Auch wenn die Zeitangabe die Rückkehr des Lichtes signalisiert („Halle, wie am Ende des vorigen Aufzuges. Es ist Tag.“ ( AR , S. 249), steht dieser Tag doch im deutlichen Widerspruch zur geistigen Verwirrung bzw. Umnachtung der durch die Begegnung mit dem äußeren und inneren Fremden heftig erschütterten Jungfrau. Signifikanterweise steht diese Begegnung im kontradiktorischen Doppelzeichen einer eruptiven erotischen Begierde und eines gleichzeitig aufkeimenden Todeswunsches, welche Medea einer schmerzlichen Zerreißprobe aussetzen. Einen Augenblick lang scheint die Heldin geistesabwesend, ganz besessen von der Erinnerung an das nächtliche unheimliche Erlebnis, das sie urplötzlich ihrem bisherigen Selbst und ihrer heimlich-heimatlichen Welt gleichsam ent‐ rissen hat. Diesen traumatisierenden Einbzw. Ausbruch des Eros verdrängt sie zunächst wider besseres Wissen, und da ihr der Gedanke, ein Mann habe sich in ihr Heiligtum stehlen können, schier unerträglich ist, rechtfertigt sie sich vor Gora und vor allem vor sich selbst mit dem Hinweis, nur ein Gott - und zwar der kolchische Todesgott wohlgemerkt - habe sie besuchen können: Aber’s war ein Himmlischer, des bin ich gewiß. […] Da fühlt’ ich’s am Sinken des Muts, an meiner Vernichtung, Daß ihn kein sterbliches Weib gebar […] Bezeichnet hat er sein dunkles Opfer, Bezeichnet mit dem ladenden Kuß Und Medea wird sterben, hinuntergehn […] An diesem Bangen […] An dieser Grabessehnsucht fühl’ ich es, Daß mir nicht fern das Ende der Tage! (AR, V. 560-579) Der hellsichtigen Amme aber entgeht der trügerische Charakter dieser Fehl‐ deutung nicht und sie nennt das Kind beim rechten Namen bzw. rückt den Sachverhalt ins rechte Licht: „Was hat deinen Sinn so sehr umwölkt, / Dass 120 Gilles Darras <?page no="121"?> 12 Durch dieses Vertrauen auf die göttlich-heilige Bedeutung des Vergrabungsritus ist Medea - bei allen Unterschieden - einer anderen Frauenfigur aus der antiken My‐ thologie nicht unähnlich, die sich der grausamen Staatsräson (in beiden Dramen nämlich von einem Kreon verkörpert! ) widersetzt und ihr den höheren Anspruch auf Menschlichkeit (in der Bruderbzw. Kinderliebe) entgegensetzt: Antigone. du trüb schaust, was klar und deutlich? “ ( AR , V. 580 f.) Nichtsdestotrotz ist diese Selbstverblendung der Medea nur partiell, denn als durchaus hellsehend erweist sich ja - mit Blick auf den letzten Teil der Trilogie und die kommende Katastrophe - der vorausschauende Hinweis auf die eigene Vernichtung. Dieser Schlussteil beginnt zwar im Dunklen, genauer gesagt im Morgen‐ grauen, also in dem Moment wo die Nacht dem Tag weicht („Früher Morgen noch vor Tagesanbruch. Dunkel“ M, S. 307). Bedeutend ist diese Präzision insofern, als die noch herrschende Dunkelheit einerseits an die finstere Grundstimmung des vorigen Teiles unmittelbar anknüpft, während das Symbol der aufkommenden Morgenröte andererseits die Möglichkeit eines Neauanfangs suggeriert, und zwar in engem Zusammenhang mit der feierlichen Behauptung Medeas, eine neue Ära solle eben jetzt beginnen: „Die Zeit der Nacht, der Zauber ist vorbei / Und was geschieht, ob Schlimmes oder Gutes, / Es muss geschehen am offnen Strahl des Lichtes.“ (M, V. 4 ff.). Wort und Tat vereinend vergräbt Medea dann auch ihre Attribute als Priesterin und Zauberin sowie das Goldene Vließ, dessen Schaft sie entzweibricht, womit sie die bösartige Macht zu brechen vermeint, die dem berüchtigten Objekt innewohnt, bevor sie es der Erde anvertraut bzw. es zur letzten Ruhe bettet, damit die Welt und sie wieder zur Ruhe kommen: „so brech ich dich und senke dich hinab / In Schoß der Nacht, dem dräuend du ent‐ stiegen.“ (M, V. 20 f.). 12 Somit - und zwar allein durch die zugleich magische und performative Macht des Wortes - meint Medea mit der Vergangenheit Tabula rasa zu machen, das Geschehene ungeschehen zu machen, und das heißt hier - mit klarem Rückbezug auf die unheilvolle Höhlenszene aus den Argonauten - das Vließ an seine ursprüngliche Stätte in der Unterwelt zurückzubringen. Gora aber, die der Szene beiwohnt und sich jeglicher Verdrängung des Geschehenen verweigert, und gleich darauf Jason, führen ihr die Vergeblichkeit dieses Aktes unmissverständlich vor Augen: „Grab ein, grab ein die Zeichen deiner Tat, / Die Tat begräbst du nicht“ (M, V. 109 f.), entgegnet ihr die Amme. Und in der Tat: sehr bald soll Medea jegliche Illusion genommen werden, und bekanntlich wird die Wiederkehr des Verdrängten - im konkreten wie im symbolischen Sinn - am Ende des vorletzten Aufzuges über die Bühne gehen, dieses Aufzuges nämlich, in dem die Entwicklung des Mordgedankens bis zu seiner Konkretisierung mit quasi klinischer Präzision nachgezeichnet wird. Erwartungsgemäß vollzieht sich dann auch der dreifache Mord (an 121 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="122"?> beiden Kindern und an Kreusa) beim Einbruch einer Dunkelheit, die, in der Bühnenangabe angegeben, auch von Medea selbst am Anfang ihres langen retrospektiven Monologes erwähnt wird („Es ist nach und nach finster geworden. Medea: Die Nacht bricht ein […]“ M, V. 2065). Der Schlussakt der Medea, der mit einer durch die Verbrennung des könig‐ lichen Hauses verwüsteten Landschaft öffnet, fängt - gleich wie zu Beginn des Stückes - in der „Morgendämmerung“ an (M, S. 383), aber auch gleich der Morgendämmerung am Anfang des Prologes - also der ganzen Trilogie. Diese symmetrische Übereinstimmung der Tageszeiten vermittelt den Eindruck, als ob der in streng klassischer Manier exakt vierundzwanzig Stunden dauernde Schlussteil des dramatischen Gedichtes das Gesamtwerk in einer reduzierten und konzentrierten Form reproduzieren würde. Diese strukturierende Symmetrie (das Goldene Vließ beginnt und endet im Morgengrauen) legt eine Rückkehr zum Ursprung nahe, nicht zuletzt aufgrund des letzten Schauplatzwechsels in Medea, welcher mit der bisher geltenden Ortseinheit im Schlussteil auffällig bricht, insofern als ein zertrümmerter zivi‐ lisierter Raum (der Palast zu Korinth) durch eine wilde Naturlandschaft ersetzt wird - dieselbe wie am Anfang nämlich: „Wilde einsame Gegend von Wald und Fels umschlossen“ (M, S. 387). Diese Verwandlung des Schauplatzes lässt also - signifikanterweise - die Landschaft vom „barbarischen“ Kolchis mitten im griechischen Korinth erstehen, so dass beide Länder sich auf einmal zum Verwechseln ähnlich scheinen. Diese Rückkehr zur Eingangslandschaft am Ende der Trilogie kann als Hinweis auf einen Rückfall ins Chaos nach dem Desaster gedeutet werden, wobei dieses Desaster das Scheitern eines Ideals bedeutet: das einer möglichen Verständigung zwischen Kolchis und Korinth, Barbarentum und Hellenentum. In dieser Hinsicht klingt die düstere Prophetie, die von Medea in den letzten Versen des Stückes gesprochen wird („Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht“ M, V. 2369), wie ein schmerzlicher Abgesang auf diese transnationale und -kulturelle Utopie, und als solcher steht er im krassen Widerspruch zu den zukunftsfrohen - und damit tragisch-ironischen - Worten des Bauern zu Beginn der Szene („Wie schön der Morgen aufsteigt. Güt’ge Götter! / Nach all den Stürmen dieser finstern Nacht / Hebt eure Sonne sich in neuer Schönheit.“ M, V. 2282 ff.), Medeas Worte zeigen es aber: dieses sinnbildliche und -stiftende dialektische Wechselspiel zwischen Hell und Dunkel - das sich durch das ganze Werk hindurchzieht und dessen Dramaturgie maßgeblich bestimmt - endet am Ende doch mit dem Sieg des Leitmotivs der Nacht. 122 Gilles Darras <?page no="123"?> 13 Hervorhebung vom Verfasser [G. D.] 14 Kleist, Heinrich von (2008). Sämtliche Werke und Briefe. München: Hanser, 406. Siehe dazu: Becker, Karina (2008). Autonomie und Humanität. Grenzen der Aufklärung in Goethes „Iphigenie“, Kleists „Penthesilea“ und Grillparzers „Medea“. Frankfurt am Medea in Kolchis: Nachtgespenst und Lichtgestalt - Die Hauptfigur als Verkörperung einer strukturstiftenden und sinngebenden Polarität Dieses prägnante Motiv ist auch mit der mythischen Identität der Hauptfigur aufs engste verbunden, welche mütterlicherseits mit dem Mond (Hekate) und väterlicherseits mit der Sonne (Helios) verwandt ist. Diese von ihr verkörperte Polarität entspricht eben auch jener apollinisch-dionysischen Dualität, die dem Gastfreund Phryxus von vorn herein bei ihr aufgefallen war: Doch wer ist dieses blühend holde Wesen, Das, wie der goldne Saum der Wetterwolke Sich schmiegt an deine krieg’rische Gestalt? Die roten Lippen und der Wange Licht Sie scheinen Huld und Liebe zu verheißen, Streng widersprochen von dem finstern Aug, Das blitzend wie ein drohender Komet Hervorstrahlt aus der Locken schwarzem Dunkel. Halb Charis steht sie da und halb Mänade, Entflammt von ihres Gottes heil’ger Glut. Wer bist du, holdes Mädchen? (GF, V. 241-251) 13 Durch die reichliche Schöpfung aus dem lexikalischen Feld des Hell-Dunkels eben kommt die Verwunderung des Griechen angesichts dieses paradoxen und buchstäblich befremdenden Erscheinungsbildes zum Ausdruck. Kennzeichnend ist diese zwischen Schaudern und Ergriffenheit oszillierende Reaktion des irritierten Hellenen aber auch insofern, als ihr eine zentrale Problematik zugrun‐ deliegt, nämlich das (Nicht)-Erkennen-Können bzw. (Nicht)-Erkennen-Wollen des Anderen - denn letztendlich kommt ja alles darauf an - mit seinen tragischen Implikationen. An Heinrich von Kleist - dem diese Fragestellung am Herzen lag - konnte sich Grillparzer dafür ein Beispiel nehmen, und diese Aussage Phryxus’ („Halb Charis steht sie und da halb Mänade“ GF . Ebd.), mit der die faszinierende Ambivalenz, bzw. Hybridität der Figur am deutlichsten bezeichnet wird, weist ja eine frappierende Ähnlichkeit mit der widersprüchli‐ chen Definition der Amazone Penthesilea durch den Griechen Achill auf: „Dies wunderbare Weib, / Halb Furie, halb Grazie, sie liebt mich“. 14 Auch Jason wird 123 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="124"?> Main: Peter Lang. Siehe auch: Winkler, Markus (2009): Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen: Niemeyer. Vgl. auch: Darras, Gilles (2012). Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht. Heinrich von Kleist et Franz Grillparzer. Le drame du monde moderne ou la tragédie de l’impossible unité. Études Germaniques 67: 1, 103-117. Zur Problematik der Erkennung bei Kleist siehe: Wiggins, Ellwood (2019). Odysseys of recognition. Performing intersubjectivity in Homer, Aristotle, Shakespeare, Goethe and Kleist. Lewisburg: Bucknell University Press, 218-242. 15 Siehe in dieser Hinsicht die grausige Vision der kolchischen Landschaft durch die Argonauten, die - das verrät eben die Hyperbolik der Sprache - den Eindruck vermittelt, als würden die in ihren Vorurteilen festsitzenden verblendeten Griechen damit eigentlich nur eingelernte Klischees auf die gegenwärtige Realität projizieren. So zum Beispiel Milo: „Doch hier / In dieses Landes feuchter Nebelluft/ […] Sieht kaum die Sonne durch der dichten Nebel / Und rauhen Wipfel schaurigen Versteck […] hier seh‘ ich fast Gespenster / Und jeder dürre Stamm scheint mir ein Riese / Und jedes Licht ein Feuermann. ’s ist seltsam. / Was unbedenklich sonst, erscheint hier schreckhaft / Und was sonst greulich wieder hier gemein.“ AR, V. 315-331. diese Ambivalenz der Fremden auffallen, wie es seine spontane Reaktion, als er ihr zum ersten Mal in der Dunkelheit des Turmes gegenübersteht, ausdrücklich bezeugt: „Wer bist du, doppeldeutiges Geschöpf ? “ ( AR , V. 438). Er kann ja definitiv nicht klug werden aus dem enigmatischen Widerspruch zwischen der Dunkelheit nächtlicher Geisterbeschwörungen, bei denen er die Jungfrau ertappt hat, und dem Glanz einer äußeren Schönheit, welche - in seinen an der Lehre der Kalokagathia geschulten griechischen Augen - mit der inneren notwendig zusammenhängen müsste: „[…] blicke mir ins Antlitz, / Daß ich die dunklen Rätsel deines Handelns / Erläutert seh‘ in deinem klaren Blick“ AR , V. 457 ff.). Diese seltsame Mischung aus Hell und Dunkel, die beiden Griechen in der Gestalt der Fremden auffällt, irritiert sie umso mehr, als sie, vor allem die von Jason bemerkte Klarheit des Blickes, den Vorstellungen widerspricht, die sie sich, ihren Vorurteilen gegenüber den Barbaren gemäß, vom schwarzen Kolchis machen. 15 Wobei - und daran liegt eben der Grund des tragischen Konflikts - die Kolcher selbst (Aietes, Gora) den Hellenen in ihrer prinzipiell essentialistischen und negativen Wahrnehmung des Fremden in nichts nachstehen. Diese Klarheit des Blickes, die Jason an Medea erkennt, die aber in sein fremdenfeindliches Denkschema nicht passen will, geht einher mit einer Klarbzw. Hellsicht, welche Medea, trotz allem und allen, vor allem gegen die Ver‐ blendung der in ihren manichäischen Vorstellungen festhängenden Anderen, immer wieder zu behaupten versucht. Dennoch: am Anfang der Argonauten hat die Tochter von König Aietes, diesem Nachfahren Helios’, der durch sein Verbrechen aber den tragischen Prozess ausgelöst hat, das Licht des Tages 124 Gilles Darras <?page no="125"?> 16 Aufschlussreich ist erneut ein Vergleich mit der Erscheinung der hofmannsthalschen Atriden-Heldin, bei der die rote Farbe - dort sehr explizit mit dem Blut-Symbol in Verbindung gebracht - auch vorkommt: „Aus dem Hause tritt Elektra. Sie ist allein mit den Flecken roten Lichtes, die aus den Zweigen des Feigenbaumes schräg über den Boden und auf die Mauern fallen, wie Blutflecke.“ Hofmannsthal (1997: 66). geflohen und sich in den Schoß einer mütterlichen Nacht zurückgezogen, unter deren beschworener Obhut sie lebt: Des Nachts aber geht sie gespenstisch hervor Und wandelt umher und klagt und weint. […] Komm herab du Wandlerin der Nacht, Du Spät-Wachende bei der einsamen Lampe! (AR, V. 10-11, 61-62) Bestätigt wird dieser Eindruck von ihrer äußeren Erscheinung (sie trägt ein rotes Kleid und einen schwarzen Schleier) - Trauer kleidet Medea wie Elektra ebenfalls 16 . Jedoch scheint dieses nächtliche Aussehen im Kontrast zu stehen mit der Fackel, die sie trägt und deren Licht - erwartungsgemäß - dem vergessenswilligen mörderischen Vater unerträglich ist: „Lösch deine Fackel, sie blendet mir das Aug! “ ( AR , V. 85), worauf Medeas bitter-schmerzliche Antwort das Chaos, in das seine Freveltat die Welt gestürzt hat, implizit beklagt: „Das Licht ist verlöscht, es ist Nacht, o Herr! “ ( AR , V. 86). Das innere Licht der Wahrheit dagegen, das Medea seit der traumatisierenden Ermordung des Gastfreundes aufgegangen ist („Als sie geschehen war die Tat, / Da war mein Auge geöffnet“ AR , V. 119-121) brennt in ihr fort und ist - ebenso wie diese Nacht, in der sie zu Hause ist und als deren quasi sinnbildliche Verkörperung sie erscheint - zum zweiten Hauptmerkmal ihrer zwischen Hell und Dunkel schwankenden, komplexen Identität geworden. Diese Offenbarung, die ihr durch den Tod von Phryxus zuteil wurde, führte sie einerseits zur Einsicht in die Unumkehrbarkeit der bösen Tat („du wähnst dich frei und du bist gefangen, / Kein Mensch, kein Gott löset die Bande / Mit denen die Tat sich selbst umstrickt“, erklärt sie ihrem blinden Vater AR , V. 130 ff.). Sie ließ sie andererseits aber die Notwendigkeit der individuellen Verantwortung erkennen, womit eine unüberhörbare Kritik an dem väterlichen Versuch verbunden ist, sich auf die Natur oder die Götter herauszureden, statt sich der eigenen Schuld zu stellen: Betracht’ im Bach die irren Wandelsterne, […] Die Zeichen die die Tat dir selber aufgedrückt, 125 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="126"?> 17 Grillparzer (1986: III, V. 1181 ff.) Des Gottes Stimme in dem eignen Busen, Sie werden dir Orakel geben, Viel sicherer als meine arme Kunst, Aus dem was ist und war, auf das was werden wird. (AR, V. 152-158) Diese angemahnte Erkenntnis der individuellen Verantwortung - als Prüfstein einer mündigen und aufgeklärten Persönlichkeit - geht einher mit einem Glauben an die Macht des Willens, den Medea regelmäßig bekennt, und zwar schon im Prolog gegenüber Peritta („Was ich tu‘ das will ich“ GF , V. 66) und den sie hier erneut - gegen die sie umschattenden Visionen ankämpfend - proklamiert: „Aber der Wille kann viel - und ich will / […] Medea will“ ( AR , V. 247). Auch nach der schockartigen Begegnung mit dem Fremden im Turm, die sie in höchste Verwirrung stürzt und zur Verkennung der Realität führt (wo die traumatisierende Ermordung des Gastfreundes ihr vielmehr die Augen geöffnet hatte), bemüht sich die nicht-wahrhaben-wollende Medea weiterhin ihren Willen autosuggestiv zu behaupten („so ist es, so muss es sein, / Heimdar war es, der stille Gott“ AR , V. 603 f.), hofft sie doch damit der Wirklichkeit einer fremdartigen Begierde, die sie in sich selbst aufkeimen fühlt, ihr Gesetz und ihren Glauben entgegenzusetzen. Nicht anders wird die Priesterin Hero aus Des Meeres und der Liebe Wellen die innere Entwurzelung bezeichnen, die der Ausbruch des Eros in ihr verursacht: „Was ist es, das den Menschen so umnachtet, / Und ihn entfremdet sich, dem eigenen Selbst / Und fremdem dienstbar macht? “ 17 Als sie dann aber die Evidenz ihrer Neigung einsehen muss, gesteht sie sie auch gegenüber ihrem Vater, und zwar im Namen einer wiedergefundenen Hellsicht - „Klar muss es sein um Medea, klar! “ ( AR , V. 1010), wobei diese Hellsicht in einer ausführlichen Selbstanalyse zum Vorschein kommt, die es ihr eigentlich erlauben soll, jenen dunklen und blinden Trieb, dem sie sich unterworfen fühlt, durch die (Gegen)macht des Logos zu fassen und - so meint sie wohl - damit zu bändigen: Es gibt ein Etwas in des Menschen Wesen, Das, unabhängig von des Eigners Willen, Anzieht und abstößt mit blinder Gewalt; Wie vom Blitz zum Metall, vom Magnet zum Eisen, […] Da ist nicht Reiz, nicht Anmut, nicht Tugend, nicht Recht Was knüpft und losknüpft die zaub’rischen Fäden. (AR, V. 1012-1019) 126 Gilles Darras <?page no="127"?> 18 Vgl. Helmut Bachmaiers Untersuchung dieses Motivs in: Grillparzer (1986: I, 618-634). Diesen Angriff des unheimlichen Triebes, welcher sich ja auch keinem be‐ kannten Begriff unterordnen lässt und, wenn überhaupt, nur ex negativo bestimmen lässt, meint Medea durch die heilig beschworene Abwehrkraft des Willens zu erwidern: „Doch steht’s nicht bei dir die Neigung zu rufen / Der Neigung zu folgen steht bei dir, / Da beginnt des Wollens sonniges Reich / Und ich will nicht / (mit aufgehobener Hand) Medea will nicht! “ ( AR , V. 1024 ff.). Nicht von ungefähr veranschaulicht Grillparzer diese proklamierte Macht des Verstandes durch ein doppeltes Sinnbild: eine Sonnenmetapher und eine territoriale bzw. geopolitische Metapher. Tatsächlich zeigt er dadurch, wie sehr die sexuelle und kulturelle Problematik mit dem Fragenkomplex von Identität und Alterität eng verbunden ist. In Medeas Augen verkörpert Jason nämlich den doppelt Fremden, und gleichzeitig nimmt sie die eigene Begierde wie einen zugleich anziehenden und abschreckenden inneren Fremdkörper wahr. Dem Begriff der Grenze kommt in diesem Diskurs der Medea eine besondere Bedeutung zu, 18 versucht sie ja auch damit nichts anderes, als den Geschlechts‐ trieb, den sie gleichsam wie ein Alien in sich wachsen fühlt, buchstäblich zu de-finieren, das heißt innerhalb der Grenzen der bloßen begrifflichen Bestim‐ mung festzuhalten und damit - wie das einst schlangenbehütete Vließ - zu (ver)bannen. Alles andere als scharf ist jedoch die Trennlinie zwischen den Territorien, zwischen Hell und Dunkel. Denn: ist das Licht in Verbindung mit dem heim‐ lich-heimatlichen Logos durchaus positiv konnotiert, so wandelt es sich aber urplötzlich - sobald es mit der drohenden Destruktivität eines fremdartigen Eros assoziiert wird - in ein verzehrendes Feuer: „Als ich ihn sah […] Gingen sprühende Funken über mich aus / Und flammend loderte auf mein Innres.“ ( AR , V. 1028-1032). Dieses Feuermotiv - womit Medea die zerstörerische Macht der sexuellen Begierde empfindet und ausdrückt - wird bekanntlich am Ende der Trilogie erst recht zur tragischen Wirklichkeit, und zwar in den sehr konkreten Flammen, denen Kreusa zum Opfer fallen wird und die dann unmittelbar auf den ganzen Palast übergreifen. Kennzeichnenderweise aber tauchte das Bild schon am Anfang des dramatischen Gedichtes auf, und zwar im prophetischen Gesicht der Medea nach der Ermordung des Gastfreundes („Schlangen die Haare, / Flammen die Blicke“ GF , V. 502 f.). Zwar lässt Medea nichts unversucht, um den Fluch abzuwenden, der mit dieser aufkeimenden Leidenschaft unlöslich verbunden ist, zunächst auf nega‐ tive Weise, indem sie ihren Vater auffordert, den ihre Identität und Integrität drohenden Fremdkörper aus der Welt zu schaffen („Wenn ich ihn sehe drehen 127 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="128"?> 19 Grillparzer (1986: II, 798). sich die Sinne […] Und ich bin nicht mehr die ich bin. […] töt’ ihn, Vater, / Den Toten will ich schaun […] Den Lebenden nicht.“ AR , V. 1041-1047), dann aber - nach der entscheidenden zweiten Begegnung mit Jason - auf positivem und konstruktivem Weg, dem der Versöhnung zwischen Griechen und Kolchern. Durch diese radikal-menschliche Geste glaubt sie, der goetheschen Iphigenie nicht unähnlich, den Circulus vitiosus der Untat doch noch brechen zu können, und aufschlussreich ist dabei erneut ihre Wortwahl: Aber laß uns klar sein, Vater, klar! In schwarzen Wirbeln dreht sich’s um mich Aber ich will hindurch, empor aus Dunkel und Nacht. Noch läßt sich’s wenden, ab sich wenden. (AR, V. 1344 ff.) Ausgerechnet die Zauberin und Nachtkönigin Medea fleht ihren Vater an, den Bann zu brechen („Löse den Zauber“ AR , V. 1350), dessen katastrophale Auswirkungen sie ahnt. Sie bittet Aietes nämlich um Aufnahme und Adoption des Fremden Jason und geht in ihrem utopischen Vorhaben soweit, ihm die Ein‐ setzung des Schwiegersohnes in spe als gleichberechtigten und (binationalen? ) Mitregierenden nahezulegen - bzw. zuzumuten („An deiner Seite herrsch er in Kolchis, / Dir befreundet, dein Sohn“ AR , V. 1353 f.). Aietes’ negative Antwort, der eine radikal-manichäische Weltanschauung zugrunde liegt („Mein Sohn? Mein Feind.“ Ebd.), erteilt jeglicher Aussicht auf eine (Völker)verständigung, die eine Überwindung der zwischenmenschlichen und innermenschlichen Grenzen voraussetzen würde, eine schroffe Absage. Der in seinen national-ethnischen Vorurteilen festsitzende Aietes ist - anders als seine aufgeklärte Tochter - weder willig noch fähig, über seinen eigenen Schatten zu springen. Genauso wie Medea hier ihren Glauben an die Möglichkeit einer Aufhebung des kulturellen Antagonismus bekundet - der Grillparzer zufolge eigentlich „die Grundlage der Tragik im Stück ausmacht“ 19 - schien Jason in der wenig früher stattfindenden zweiten Begegnungsszene, sei es auch nur für einen kurzen Moment, dem Ideal einer Transzendierung der Gegensätze - als Grundlage für einen wahrhaftigen zwischenmenschlichen und interkulturellen Austausch - aufgeschlossen zu sein: Medea, Jason; Jason und Medea O schöner Einklang! Dünket dir’s nicht auch? […] Wenn ich so vor dir steh’ und dich betrachte, Beschleicht mich ein fast wunderbar Gefühl. 128 Gilles Darras <?page no="129"?> Als hätt’ des Lebens Grenz‘ ich überschritten […] Wie eine Heimat fast dünkt mir dies fremde Land, […] Ich selber bin mir Gegenstand geworden, Ein andrer denkt in mir, ein andrer handelt. […] Ein einz’ges ist mir licht und das bist du, Ja du Medea, scheint’s auch noch so fremd. Ich ein Hellene, du Barbarenbluts, […] (AR, V. 1169-1204) Die Selbstentfremdung als Folge der Erschütterung, die die erotische Begegnung mit der Fremden bewirkt hat, wird hier - auffallend genug - von Jason in keinem negativen Licht gesehen, sondern vielmehr als paradoxe (Grenz)Erfahrung bzw. grenzenüberschreitende Erfahrung einer Ich-Dezentrierung und Ich-Verwand‐ lung dank des Anderen wahrgenommen. Symbolisch bedeutend ist in dieser Hinsicht die im chiastisch gebauten Eingangsvers („Medea, Jason; Jason und Medea“) auftauchende Verbindungskonjunktion, welche sich kennzeichnender‐ weise sowohl von Aietes’ asyndetisch-negativer Aussage unterscheidet („Mein Sohn? Mein Feind“, AR , V. 1354), als auch von der fragmentarischen Formulie‐ rung („Jason! - Wo? - Ja so! “ AR , V. 1658), die die krankhafte Ich-Dissoziation des Helden nach der unseligen Episode in der Vließ-Höhle signalisieren wird. Dieser utopische Augenblick - währenddessen die Versöhnung zumindest sprachlich realisierbar erscheint - bietet aber nichts als einen vergänglichen Hoffnungsschimmer und Orientierungspunkt, der sich hier - ausnahmsweise - in der Lichtgestalt des Anderen verkörpert: „Ein einz’ges ist mir licht und das bist du“ ( AR , V. 1202). Als Jason im dritten Teil der Trilogie König Kreon von seinem Abenteuer in Kolchis berichtet, reaktiviert er dieses Bild des befreienden und heilsamen Lichtes zur Bezeichnung seiner Wahrnehmung der Medea („sie glich dem Sonnenstrahl, / Der durch den Spalt in einen Kerker fällt“ M, V. 454 f.), wobei die zwei folgenden Verse („Ist sie hier dunkel, dort erschien sie licht / Im Abstich ihrer dunklen Umgebung.“ M, 456 f.) die Tragweite dieses Bekenntnisses sofort relativieren und die grundsätzliche Fragilität der Gefühle Jasons zu der Fremden verraten. Eigentlich weist dieser „Kerker“, mit dem der selbstbewusste Grieche das „Barbarenland“ Kolchis pauschal vergleicht (und verurteilt), vielmehr auf den eigenen inneren Kerker hin, in dem seine kurzsichtige und festgefahrene Wahrnehmung des Fremden ihn gefangen hält. Davon zeugt nämlich die Schnelligkeit, mit der er - nach dieser kurzen Sequenz im Zeichen der Öffnung 129 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="130"?> 20 Dieser als emanzipatorischer und zivilisatorischer Akt verkleidete selbstherrliche Ko‐ lonialismus und Phallokratismus in einem wird auch bei Friedrich Hebbel thematisiert bzw. problematisiert, beispielsweise im Verhältnis zwischen der Inderin Rhodope und dem Griechen Kandaules (Gyges und sein Ring 1855) oder in der Beziehung zwischen der Isenländerin Brunhilde und dem Burgunden Gunther (Die Nibelungen 1861) - jeweils ebenfalls mit tragischen Folgen. Zu dieser Problematik bei Grillparzer siehe Rogowski, Christian (2006). Erstickte Schreie. Geschlechterdifferenz und koloniales Denken in Grillparzers Medea-Trilogie Das Goldene Vließ. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 21, 32-50. und der Harmonie - zu seinen tiefsitzenden misogynen und fremdenfeindlichen Reflexen wieder findet, als Medea sich zunächst weigert, ihm zu folgen: „Er‐ kenne deinen Meister, deinen Herrn! “ herrscht er sie an ( AR , V. 1229). Dabei wird diese unverhohlene kolonialistische Reaktion bald darauf erneut zum Ausdruck kommen, als Jason, in selbstherrlicher Rede und herrischer Geste, Medeas Schleier brutal entfernt („Aietes’ Kind ist Jasons Weib geworden, […] Hier, Griechen, eine Griechin! […] Er reißt ihr den Schleier ab.“ AR , V. 1400-1406). 20 Diese durch die performative Gewalt der Sprache herbeigeführte „Zwangs‐ naturalisierung“ nimmt sich wie ein Akt der Vergewaltigung aus, durch den Medea ihrer Intimität und Identität beraubt wird: zwischen „Aietes Kind“ und „Jasons Weib“ ist definitiv kein Platz für Medea als Name, als Mensch und als Subjekt. Vielmehr gilt sie den mit Blindheit geschlagenen Männern, Aietes und Jason, die sie in dieser Szene buchstäblich an sich zu reissen versuchen, als ein reines Streitobjekt - wie das Vließ es nun einmal ist. Das Lichtmotiv kehrt - signifikant genug - in Medeas Rede wieder, als sie im dritten Teil der Trilogie gegenüber Jason die Erinnerung an ihre Begegnung in Kolchis nostalgisch-elegisch bemüht. Aufschlussreich ist dabei die Parallele zu Jasons Darstellung dieser Begegnung gegenüber Kreon: „Wie war dein Herz so offen und so klar / Das meine trüber und in sich verschlossener / Doch du drangst durch mit deinem milden Licht / Und hell erglänzte meiner Sinne Dunkel.“ M, V. 1479 ff.). Ob Jasons Herz aber tatsächlich „so offen und so klar“ war, wie Medea es hier rückblickend darstellt, mag man angesichts seines brutalen und selbstsüchtigen Verhaltens in Kolchis mit gutem Grund bezweifeln, zumal Medea selbst - gegenüber Kreusa - die Destruktivität seines Verhaltens in grellen Farben darstellt: Und mit demselben Blick warf er den Brand In der Unsel’gen Busen, die ihn floh, Bis, lang verhehlt, die Flamme stieg empor 130 Gilles Darras <?page no="131"?> 21 Dass Medea - hier im Zustand des Opfers - dieses Motiv des destruktiven Feuers ausgerechnet gegenüber Kreusa verwendet, welche am Ende selbst ein Raub der von ihrer Rivalin eben angezettelten Flammen werden wird, entbehrt nicht einer gewissen tragischen Ironie. Und Ruh und Glück und Frieden prasselnd sanken Von Rauchesqualm und Feuersglut umhüllt. (M, V. 619 ff.) 21 Zu bedenken ist aber dabei, dass es Medea in dieser handlungsretardierenden Szene darum geht, alles aufzubieten, um Jason umzustimmen und damit das tragische Verhängnis doch noch abzuwenden. Zweifelsohne lässt sich auch der gewiss verklärende Blick, mit dem Medea die Anfänge ihrer Beziehung zu Jason in ihrer Heimat betrachtet, auf den starken Kontrast zur düsteren Gegenwart und zu ihrer trostlosen Lage zurückführen. Wie dem auch sei: die im dialektischen Hell-Dunkel-Sinnbild veranschaulichte Relativität und Ambivalenz, die ihre Wahrnehmung der Begegnung charakterisiert, kommt somit zum Ausdruck. Ambivalent ist sie nicht zuletzt deswegen, weil diese existentielle Grunderfahrung des Fremden, die sie kennzeichnenderweise hier positiv als fruchtbare Erleuchtung - und nicht (nur / mehr) als destruktives Feuer wohlgemerkt - definiert („hell erglänzte meiner Sinne Dunkel“ M, V. 1482), sie gleichzeitig auch aus sich herausriss und über sich selbst hinauswachsen ließ. Medea in Korinth: Schattendasein und paradoxe Wiedergeburt einer aufgeklärten Königin der Nacht Stand zu Beginn des zweiten Teiles die nachtdunkle Medea einem taghellen Jason entgegen, so kehrt sich das Verhältnis am Anfang des Schlussteils radikal um. Die integrationswillige Medea, die durch ihre ersehnte Anpassung an die griechische Kultur ein Mittel zur Wiederherstellung ihrer Integrität sieht, benutzt das ihr von der Heimat her gewohnte Licht-Motiv wieder, oder genauer gesagt weiter, gilt ihr doch dieses Festhalten am vertrauten und heimlichen Sinnbild der eigenen Willenskraft als Gewähr für Beständigkeit und Kontinuität nach all den Irrungen und Wirrungen, denen sie, die Entwurzelte, ausgesetzt wurde. Durch die postulierte Allmacht des Logos wird die Rückkehr zu einer Ord‐ nung im Zeichen der Transparenz, der Vernunft und der Harmonie formelhaft beschworen, wobei die Wortwahl - und es ist wohl kein Zufall - der von Goethes Iphigenie nachempfunden scheint, jener Dramenheldin der Aufklärung und der ihr - sowohl wie der griechischen Antike - verpflichteten Weimarer Klassik: „Und was geschieht, ob Schlimmes oder Gutes, / Es muß geschehen am offnen 131 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="132"?> 22 Unüberhörbar ist der Anklang an die Eingangsverse von Goethes humanistischer Ode An das Göttliche: „Edel sei der Mensch, / Hilfreich und gut! “ In: Goethe, Johann Wolfgang (1998). Werke (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden). Hrsg. Trunz, Erich. München: Beck, Bd. I, 147. Strahl des Lichts. […] Klar sei der Mensch und einig mit der Welt! “ (M, V. 5-6, 120). 22 Jason hingegen hat nichts mehr vom tatkräftigen und lebenshungrigen Abenteurer des vorigen Teils. Seine eigene Erfahrung des Fremden, die er in Kolchis vorübergehend noch als positives und bereicherndes Erlebnis emp‐ finden konnte, enthüllt sich ihm - nach seiner Heimkehr in Griechenland („im frischen Born der hellen Kinderzeit“ M, V. 851) - nun jetzt als qualvolle Entfrem‐ dung, welche auch noch durch die unerträgliche Diskrepanz zwischen seinem finsteren melancholischen Gemütszustand und der himmelblauen Klarheit des hellenischen Bodens („[…] wo das Leben / Im hellen Sonnenglanz heiter spielt“ AR , V. 1237 f.) spürbar verschärft wird. Wo Medea die glücksverheißende Symbolik der Morgendämmerung feiert („der Tag bricht an - mit ihm ein neues Leben“ M, V. 137), strebt Jason umgekehrt danach, das Tageslicht zu fliehen. Als Medea sich besorgt erklärt, weil er in der Nacht ruhe- und rastlos umherirrt, verwendet sie ebendie Wörter, die ihr Bruder am Anfang der Argonauten zur Bezeichnung ihres eigenen Zustandes benutzte („du schliefst nicht heute Nacht, du gingst hinaus / Und walltest einsam durch die Finsternis.“ M, V. 160 f.). Aufschlussreich ist dabei das Bild, das Jason in seiner Antwort verwendet („Ich lieb‘ die Nacht, der Tag verletzt mein Auge“ M, V. 162), und zwar insofern, als es sowohl auf die Haltung der in ihrem dunklen Turm zurückgezogen lebenden Medea am Anfang des Kolchis-Teils zurückverweist, als auch (durch die Anspielung auf das schmerzliche Tageslicht eben) auf Aietes’ Reaktion, als seine Tochter ihm ihre Fackel entgegenhielt, die seine Schuld sinnbildlich ans Licht brachte („Lösch deine Fackel, sie blendet mir das Aug’! “ AR , V. 85). Diese scheinbar paradoxe Analogie zwischen beiden verfeindeten männli‐ chen Figuren weist eigentlich auf die Verwandtschaft hin, die das Objekt des Fluches (das geraubte Vließ) zwischen den Akteuren des Dramas schafft. Aufschlussreich ist dabei, dass das Leitmotiv der Nacht - genauso wie der unheilvolle Gegenstand eben - von Hand zu Hand bzw. Mund zu Mund geht, womit die tragische Verstrickung der Protagonisten bildlich und sinnbildlich verdeutlicht wird. Jason - und darin liegt vielleicht der tiefere Sinn seiner gleichsam nachtwand‐ lerischen Erscheinung unterm heiteren und taghellen Himmel Griechenlands - scheint eigentlich noch die Spuren dieses unseligen Abstiegs in die Vließhöhle 132 Gilles Darras <?page no="133"?> 23 Zur Beziehung zwischen Tragik und Entfremdung siehe: Neumann, Gerhard (1997). „Das Goldene Vlieβ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer.“ In: Flashar, Hellmut (Hrsg.). Tragödie und Transformation. Stuttgart / Leipzig: B. G. Teubner, 258-286. 24 Goethe (1998: III, 107). Zum Motiv der Zerrissenheit bei Grillparzer und im Kontext des postromantischen Weltschmerzes siehe: Seeba, Hinrich C. (1991). Grillparzer und die Selbstentfremdung des Zerrissenen im 19. Jahrhundert. In: Bachmaier, Helmut (Hrsg.). Franz Grillparzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 201-220. Vgl. auch: Schneilin, Gérard (1992). Le type du „ Zerrissener “ des drames de jeunesse jusqu’à Ein Bruderzwist in Habsburg. Études Germaniques 47: 2, 245-263. am Ende der Argonauten zu tragen, der ihn vorübergehend in einen Zustand der Geistesverwirrung, bzw. Selbstentfremdung versetzt hatte. Zurück in der Heimat, wo er zu einem Fremden im eigenen Land geworden ist, drängt sich ihm die traumatisierende Erinnerung an das Vergangene ständig und qualvoll auf, wobei die Gegenwart Medeas ihm das geschehene Übel einer Neurose gleich immer wieder ins Gedächtnis zurückruft („So oft ich ihr seitdem ins Auge blicke, / Schaut mir die Schlange blinkend draus entgegen“ M, V. 473 f.). Als Fremder daheim, der gleichzeitig auch sich selbst fremd ist, weist Jason die Symptome einer doppelten Identitätskrise auf: Zerspreng’ dein Haus und mach’ dir brechend Luft! Da liegen sie, die Türme von Korinth, […] Dieselben, von derselben Sonn’ erleuchtet, Nur ich ein andrer, ich in mir verwandelt. O Götter! warum war so schön mein Morgen, Wenn ihr den Abend mir so schwarz bestimmt. O wär’ es Nacht! (M, V. 203-211) 23 Auf diese schmerzliche Bitte Jasons, dem, wie Aietes einst, das Licht der Wahrheit auf einmal unerträglich ist, wird Medeas nüchterne und hellsichtige Aussage am Schluss des Dramas echoartig antworten: „Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht“ (M, V. 2369). Dieses Urteil klingt wie die grausame und tragisch-ironische Erfüllung der Wünsche eines gestürzten Helden, der die Bühne des Schlussteils genauso verlässt, wie er sie betreten hat: öffentlich geächtet - innerlich zerrissen, und auf den die Worte Fausts („Bin ich der Flüchtling nicht? Der Unbehauste? / Der Unmensch ohne Zweck und Ruh? “) 24 sich treffend beziehen ließen. Immer wieder fordert dieser selbstquälerischen Nachtgedanken verhaftete Melancholiker („Ich bin nur Jasons Schatten, nicht er selbst“ M, V. 1342), Medea dazu auf, ihm sein früheres Ich zurückzugeben, dessen „Raub“ er ihr mit 133 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="134"?> 25 Am besonders kunstvoll gestalteten Verwirrspiel mit den Pronomen (ihn - mir - mich) lässt sich Medeas Leiden an der eigenen Entfremdung deutlich ablesen. 26 Winckelmann, Johann Joachim (1755). Gedanken über die Nachahmung der griechi‐ schen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Leipzig. In: Sämtliche Werke, Neu‐ druck der Ausgabe. Hrsg. Zeller, Otto. Osnabrück, 1825, Bd. I, 34. zunehmender Aggressivität vorwirft. Davon zeugt der auf dem Höhepunkt der Identitätskrise stattfindende brutale Wortwechsel zwischen beiden Figuren: „Jason […]: Gib Jason mir zurücke, Frevlerin! / Medea: Zurück willst du den Jason? - Hier! - Hier nimm ihn! / Allein wer gibt Medeen mir, wer mich? “ (M, V. 1054 ff.). In dieser zwanghaften Suche nach der verlorenen Identität - worin er Medea ja auch ähnelt 25 - wird er nicht zuletzt durch die Gegenwart der Jugendfreundin Kreusa bestärkt, die in ihm die Sehnsucht nach dem kindlich-paradiesischen Stand der eingebüßten Unschuld hervorruft, wohingegen Medea ihm das Trauma der „bösen Tat“ und das Stigma der eigenen Schuld verkörpert. In der antagonistischen Kreusa-Figur findet Jason ein Ideal an Reinheit, Beständigkeit, Gleichgewicht und Einheit, lauter Kennzeichen der „schönen Seele“, die den Kunsttheoretikern der philhellenen und aufgeklärten Klassik bekanntlich am Herzen lag. So scheint die berühmte Formel Winckelmanns zur Charakterisierung der griechisch-antiken Ästhetik („Edle Einfalt und stille Größe“) 26 der Lichtgestalt der Jugendliebe Jasons wie auf den Leib geschnitten, deren Ethos eben darin besteht „ein einfach Herz und einen stillen Sinn“ zu besitzen (M, V. 829). Auch für die ausgegrenzte und entwurzelte Medea stellt Kreusa ein Gegenmo‐ dell dar, erblickt sie doch in ihr die Verkörperung einer scheinbar zeitenthobenen Harmonie, deren glänzende Erscheinungsform sie die eigene Zerrissenheit umso empfindlicher spüren lässt. Signifikant sind in dieser Hinsicht die Wörter, mit denen sie ihre Faszination gegenüber dieser lebenden Ikone ausdrückt, wobei die antike Gestalt der schönen Seele mit dem christlichen Marienbild in Medeas Vision miteinander zu verschmelzen scheint: Du Gute, Milde, schön an Leib und Seele, Das Herz wie deine Kleider hell und rein. Gleich einer weißen Taube schwebest du, Die Flügel breitend, über dieses Leben […] Senk’ einen Strahl von deiner Himmelsklarheit In diese wunde, schmerzzerrissne Brust. (M, V. 674-681) 134 Gilles Darras <?page no="135"?> Die „ästhetische Erziehung“ - oder vielmehr Umerziehung - die Kreusa der „Barbarin“ zu geben versucht, indem sie ihr das Spiel mit der Leier (Apollons Instrument! ) beibringen will, erweist sich aber als ein regelrechtes Fiasko, was in der Zerstörung der Leier eben zum Ausdruck kommt. Diese Zerstörung des Kunstobjekts veranschaulicht auf spektakuläre Weise, und zwar weit über den zwischenmenschlichen Bruch hinaus, das Scheitern einer inter- oder transkul‐ turellen Utopie, die in den beiden hybriden Kindern ihre Frucht hätte finden können. An der Hybris aber ist der Hybriditätstraum nun einmal zerschellt und die fatale Mechanik lässt sich - spätestens ab hier - definitiv nicht mehr aufhalten. Kreusas prophetischer Schreckensruf („Tot! “ M, V. 924), dem Medeas trium‐ phierender Schrei unmittelbar folgt („Wer? Ich lebe! Lebe! “ M, V. 925) kündigt auf eine extrem verdichtete Form (beide Ausrufe erfolgen fast zeitgleich) die grundsätzlich düstere Ton- und Klangfarbe der letzten drei Akte an. Medea, die hier durch ihren körpersprachlich untermalten Wutausbruch („Sie steht da hoch emporgehoben vor sich hinstarrend.“ Ebd.) erst recht in die lange Reihe ihrer literarischen Vorgängerinnen (Euripides, Seneca, Corneille, Klinger, Hofmann / Cherubini) einrückt, lebt durch diesen Befreiungsschlag wieder, aber aus dieser gleichsam auferstandenen Kolcherin wird bald - Kreusas Ruf sagt es voraus - ein Todesengel herauswachsen. Nicht zuletzt in dieser ungeheuren Paradoxie offenbart sich das zutiefst Tragische an der Hauptfigur, die die Katastrophe seit Anfang an hellsichtig und hellsehend vorausgeahnt hat, sie dann nach Kräften und bis zur Selbstleugnung bzw. Selbstaufgabe zu verhindern versuchte und schließlich doch noch zur Vollstreckerin des befürchteten Fluches werden musste. Indem Medea sich durch diese brutale Geste ihre ursprüngliche Identität wieder aneignet, legt sie ihre griechische Ersatz-Identität auch mit dem Kleid ab, die ihr jetzt erst recht wie eine aufgezwungene Verkleidung, bzw. Verneinung ihrer selbst vorkommt. Genauso wie sie die Leier zerstört hat, zerreißt sie den Mantel, den Kreusa ihr geschenkt hat, wobei dieselbe Frau, die ihr soeben noch im verklärten Licht wie ein Engel erschien („Das Herz wie deine Kleider hell und rein“ M, V. 675), ihr nun plötzlich wie ein Inbegriff des Bösen gilt („Du auch hier? Weiße silberhelle Schlange? “ M, V. 1115). Hell glänzte bekanntlich das Vließ in der Höhle und war von einer Schlange behütet. Die klare Wortwahl, aus der Medeas Unbewusstes spricht, verrät unmissverständlich also die Wiederkehr des Verdrängten. Aufschlussreich ist die Identifikation der Kreusa mit der symbolträchtigen Schlange insofern auch, als Medea in der Höhlenszene der Argonauten - und zwar auf dem Höhepunkt des schizoiden Anfalls - sich selbst und Jason als solche bezeichnet. Ebenfalls taucht die bisher verdrängte Vision des Bösen nicht 135 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="136"?> 27 Schiller, Friedrich (2004). Sämtliche Werke in 5 Bänden. Hrsg. Alt, Peter-André (u. A). München: Hanser, Bd. I, 484. von ungefähr in dem genauen Augenblick wieder auf, wo der Handlungsverlauf eine entscheidende Wendung hin zum Tragischen nimmt. Schließlich kommt das am Anfang des Stückes von einer integrationswilligen Medea verbannte Nacht-Motiv zu Beginn des dritten Aufzuges auf einmal wieder und zwar immer häufiger zum Vorschein, um die Entstehung des Rache- und Mordtriebes im Geist der Protagonistin zu versinnbildlichen, wobei die Amme - als Mäeutikerin einer besonderen Art - diesen Trieben zum Durchbruch verhilft bzw. sie zutage fördert. Die Schaubühne wird hier eindeutig zur inneren Bühne, wobei die hier ganz in die Intimsphäre der Figur verlegte dramatische Spannung aus dem heftigen Widerstreit der Gedanken - zwischen triebhaften Vernichtungsfan‐ tasien und moralischen Abwehrmechanismen - besteht. Schillers Diktum aus der Räuber-Vorrede, die „dramatische Methode“ sei ein bevorzugtes klinisch-fo‐ rensisches Mittel, die „Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“, 27 scheint sich hier am Beispiel dieser psychologischen Höhlenfor‐ schung mehr denn je zu bewähren: Ich gebe mir Müh’, nichts zu wollen, zu denken. Ob dem schweigenden Abgrund Brüte die Nacht. […] […] Erst meine Kinder will ich haben, Das andre deckt die Nacht. - Was glaubst du? wenn er daherzög’ In feierlichem Brautgeleit Mit ihr, die ich hasse, Und vom Giebel des Hauses entgegen Flög’ ihm Medea zerschmettert, zerschellt. […] Oder an Brautgemachs Schwelle Läge sie tot in ihrem Blut, Bei ihr die Kinder, Jasons Kinder, tot. […] Still! Still! Hinab, wo du herkamst, Gedanke, Hinab in Schweigen, hinunter in Nacht! Sie verhüllt sich (M, V. 1189-1241) 136 Gilles Darras <?page no="137"?> 28 In Hebbels Judith (1839) beschreibt die zwischen Anziehung und Abstoßung gegenüber dem Fremden Holofernes schwankende Titelfigur ihre inneren Abgründe mit Bildern, die sie in unmittelbare Nähe zu der grillparzerschen Medea rücken: „[ich] schaudere vor meiner eigenen Brust; sie kommt mir vor wie eine Höhle, in die die Sonne hineinscheint, und die dennoch in heimlichen Winkeln das schlimmste Gewürm beherbergt.“ In: Hebbel, Friedrich (1978). Werke in zwei Bänden. Hrsg. Pörnbacher, Karl. München: Hanser, Bd. I, 119. Am Anfang des vorletzten Aufzugs - des Katastrophen-Aufzugs - begegnet uns Medea - deren Kinder sich von ihr soeben abgewandt haben, im Zustand der höchsten geistigen und physischen Niedergeschlagenheit (sie „liegt hingestreckt auf die Stufen“ M, V. 1715), und die in derselben Bühnenangabe erwähnte „Abenddämmerung“ (ebd.) begleitet signifikanterweise die Entwicklung des Mordtriebes, die Medea - hellsichtig bis zum Letzten - mit kontradiktorischen Gefühlen registriert. Unübersehbar ist jedoch, dass die Zwangsvorstellung immer drängender wird und die Fantasie immer lauter nach Verwirklichung ruft: Hätt’ ich sie hier, ihr Dasein in meiner Hand, […] Und ein Druck vermöchte zu vernichten All was sie sind und waren, was sie werden sein, - Sieh her! - Jetzt wären sie nicht mehr! […] Entsetzliches gestaltet sich in mir, Ich schaudre - doch ich freu‘ mich auch darob. - […] Da lagen sie die Beiden - und die Braut - Blutend, tot. - Er daneben rauft sein Haar. Entsetzlich, gräßlich! (M, V. 1779-1783, 1851-1857) 28 Den unaufhaltsamen Aufstieg des (kinder)mörderischen Triebes in den Ab‐ gründen der eigenen Psyche registriert Medea mit einem zutiefst ambivalenten Gefühl. Auch wenn sie es noch im dritten Aufzug vermochte, das Unheimliche zu verdrängen („Hinab, wo du herkamst, Gedanke, / Hinab in Schweigen, hinunter in Nacht! “ M, V. 1240 f.), so wehrt sie sich im vierten Aufzug - nachdem die Kinder sich von ihr abgewandt haben und sie nun „besiegt, vernichtet, zertreten“ allein steht (M, V. 1710) - eben nicht länger gegen den fremden Trieb und sie 137 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="138"?> 29 Diese Dialektik der Befruchtung und Zerstörung im Zusammenhang mit dem Hass-Liebe-Motiv kommt auch im Diskurs der hofmannsthalschen Elektra zum Aus‐ druck. So erklärt diese ihrem Bruder, sie sei - obwohl Jungfrau und kinderlos - von dem Hass gleichsam vergewaltigt und geschwängert worden: „so wie unter Räuber / bin ich gefallen, die mir auch das letzte / Gewand vom Leibe rissen! Ohne Brautnacht / bin ich nicht, wie die Jungfrau’n sind, die Qualen / von einer, die gebärt, hab‘ ich gespürt / und habe nichts zur Welt gebracht, und eine / Prophetin bin ich immerfort gewesen / Und habe nichts hervorgeholt aus mir / und meinem Leib wie Flüche und Verzweiflung.“ Hofmannsthal (1997: VII / 5, 103-104). 30 Grillparzer, Franz (2014). Selbstbiographie. Berlin: Johannes G. Hoof, 100. 31 „Zum Pathetischerhabenen werden also zwei Hauptbedingungen erfordert. Erstlich eine lebhafte Vorstellung des Leidens […] Zweitens eine Vorstellung des Widerstandes gegen das Leiden […] Nur durch das erste wird der Gegenstand pathetisch. Nur durch das zweite wird das Pathetische erhaben. Aus diesem Grundsatz fließen die beiden Fundamentalgesetze aller tragischen Kunst. Diese sind erstlich: Darstellung der leidenden Natur; zweitens: Darstellung der moralischen Selbständigkeit im Leiden.“ In: Schiller (2004: V, 512). empfängt jetzt im weitesten (auch mutterschaftlichen) Sinne des Wortes dieses „Alien“ - gleich einem Mordtrieb geboren aus dem Hass. 29 Nicht von ungefähr folgt auf diese verbale Objektivierung der Zerstörungs‐ fantasie die Ausgrabung des todbringenden Objektes, des Vließes nämlich, das Medea am Anfang des Stückes in die Erde - „in Schoß der Nacht“ (M, V. 21) - hinabgesenkt hatte: Freilegung des vergrabenen Corpus Delicti und Freisetzung des verdrängten Todestriebes werden somit auf bühnenwirksame und symbolkräftige Weise aufeinander abgestimmt. Mit ihren ehemaligen Attributen (Schleier und Stab) eignet sich Medea ihre Herkunftsidentität wieder äußerlich an, und die Königstochter erhält damit ihre fürstliche Würde zurück, der sie zwar dem Titel, wohl aber nie dem Geist nach, entsagt hatte. Von seiner Heldin entwirft Grillparzer - dem es ja darum geht, zu zeigen, „wie sie zu der für eine neuere Anschauungsweise abscheulichen Katastrophe geführt wird“ 30 - ein dementsprechend subtiles psychologisches Porträt, dessen Facettenreichtum sie nicht nur über die anderen Figuren des Dramas hinaus-, sondern auch von manchen traditionellen Darstellungen der Kindermörderin als wütender und rachelustiger Furie deutlich abhebt. Besonders auffallend ist dies in der Schlussszene der Trilogie, wo einem laut und blind klagenden, aus dem Selbstmitleid nicht herauskommenden Jason, die sogenannte barbarische Medea ein Beispiel an schmerzlicher aber stoischer Hell- und Weitsicht bietet. Davon zeugt ihre letzte Tirade, an deren Anfang ein - um mit dem Ästhetiker Schiller zu sprechen - gleichzeitig pathetisch-erhabenes Bild auftaucht, 31 nämlich das einer aufgewühlten Seele, welche, einem Schiffbrü‐ 138 Gilles Darras <?page no="139"?> 32 „Wär‘ dir mein Busen nicht auch jetzt verschlossen / Wie er dir immer war, du sähst den Schmerz / Der endlos wallend wie ein brandend Meer / Die einzeln Trümmer meines Leids verschlingt / Und sie, verhüllt im Greuel der Verwüstung, / Mit sich wälzt in das Unermeßliche.“ (M, V. 2318-2323). 33 So Lessing, der im Laokoon die Haltung des Barbaren und des Griechen gegenüber dem Leiden auseinanderhält und als Prüfstein für die wahre Humanität des Hellenen dar‐ stellt: „Nicht so der Grieche! Er fühlte und furchte sich, er äußerte seinen Schmerz und seinen Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Weg nach Ehre, und von der Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten. Was bei dem Barbaren aus Wildheit und Verhärtung entsprang, das wirkten bei ihm Grundsätze.“ Lessing, Gotthold Ephraim (1967). Werke. Hrsg. Wölfel, Kurt. Frankfurt am Main: Insel Verlag, Bd. III, 12. 34 Grillparzer (1986: II, 778). chigen gleich, dem Ansturm einer tobenden See ausgesetzt ist, 32 die gleichzeitig aber mitten in der Qual („in all den Schmerzen, die uns jetzt umnachten“ M, V. 2339) stets ihre Klarsicht beibehält, ja, durch sie ihre Geistesfreiheit und Seelengröße erst recht behauptet. Eben durch diese Vereinbarung der Seelengröße und der Schmerzensäuße‐ rung zeichnet sich aber dieser authentische und natürliche Heroismus aus, der für Winckelmann, Lessing und nicht zuletzt Schiller in Kunst und Kultur des antiken Griechenlandes ihren vollkommensten Ausdruck fand. 33 So stellt sich die Frage, ob Medeas Akkulturation wirklich gescheitert ist, oder ob sie nicht vielmehr - so paradox dies angesichts des tragischen Ausgangs klingen mag - aus der Kolcherin die wahre Trägerin und eigentliche Bewahrerin eines antiken humanistischen Ideals gemacht hätte, das im Stück von der blinden Fremdenfeindlichkeit der griechischen Männer, Kreon und Jason, verraten ist? Immerhin scheint die Art und Weise, wie Grillparzer Medeas Haltung in der Schlussszene charakterisiert - insbesondere ihren Vergleich mit dem Chor der griechischen Tragödie - diese Hypothese zu bekräftigen: „Da kommt Medea, das Vließ wie einen Mantel um ihre Schultern hängend und spricht mit ihm, etwa wie ein abgeschiedener Geist über das Ereignis reden könnte, etwa wie der Chor bei den alten; den ungeheuren Schmerz im Busen tragend, aber besonnen. Sie trägt das Vließ nach Delphi.“ 34 Ausgerechnet der „Barbarin“ Medea kommt in der grillparzerschen Version des Mythos also die Aufgabe zu, die Ordnung der Welt wiederherzustellen, und zwar durch die Rückführung des Vließes nach Delphi, an dieses Heiligtum der griechischen Kultur schlechthin - Apollos Tempel - aus dem wohlgemerkt ein Grieche (Phryxus) es einst mit verheerenden Folgen geraubt hatte. Während der sich seinem Leiden rest- und fassungslos hingebende, ichbezogene Jason über die Schranken des Hier und Jetzt nicht hinauszublicken vermag, scheint Medea sich durch Besonnenheit und Selbstüberwindung, vor allem durch ihre 139 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="140"?> 35 Auch die griechische Atriden-Enkelin erleidet wohlgemerkt das Schicksal einer Ent‐ wurzelten und weiss um den elementaren Wert der Gastfreundschaft. Auffallend ist in dieser Hinsicht auch die Ähnlichkeit der Medea mit dem barbarischen taurischen König Thoas, der am Schluss bekanntlich die Griechen auf edle und humane Weise gehen lässt, also sich zu einer wahrlich erhabenen Geste durchringt. Damit gibt er einer Vernunft Gehör, an der die Griechen, allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz, es in ihren Handlungen oft fehlen lassen, wie Thoas es zunächst Iphigenie und dann Orest unmissverständlich erklärt: „Du glaubst es höre / Der rohe Scythe, der Barbar, die Stimme / Der Wahrheit und der Menschlichkeit die Atreus / Der Grieche nicht vernahm.“ […] „Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge / Den fernen Schätzen der Barbaren zu, / Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern.“ Goethe (1998: V, 60 und 65). Nicht zuletzt der explizite Hinweis auf Jason, Medea und das Goldene Vließ ist in unserer Perspektive besonders aufschlussreich. 36 Schiller (2004: V, 591). synoptische Einsicht in das Vergangene, das Gegenwärtige und das Kommende, zu einer höheren Dimension erheben zu können. Dabei steht diese Haltung der Medea am Ende der Tragödie in Übereinstim‐ mung mit ihrem - sowohl in Kolchis als auch in Korinth - transgressiven Plädoyer für einen transnationalen Dialog, weiß sie doch um die Relativität dieser Grenzen, an denen die anderen Figuren sich mit fanatisch-blindem Eifer festklammern („o du meiner Väter Land! / Sie nennen dunkel dich, mir scheinst du hell“ M, 384 f.). Wo die anderen einer radikal ethnozentrischen Weltanschauung anhängen und sich hinter einer essentialistischen Auffassung der kulturellen Identität verschanzen, welche die Negation des Fremden impli‐ ziert, glaubt sie an die Universalität und Absolutheit der Werte - allen voran die Gastfreundschaft - die die Menschlichkeit begründen. Nicht zuletzt deshalb darf man zum Schluss die vielleicht provokante These aufstellen, ob die grillparzersche Medea nicht doch als tragische Schwester der goetheschen Iphigenie 35 und, bei allen Paradoxien und Ambivalenzen ihrer Gestalt, als natürliche Tochter einer Aufklärung betrachtet werden kann, deren Grundsätze sie - und zwar noch ehe sie mit dem „zivilisierten“ Griechenland überhaupt in Berührung kommt - beherzigt. Vielmehr wird sie in ihrem denkbar schlecht genannten „Gastland“ mit der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit brutal konfrontiert bzw. muss an ihrem Leib die ernüchternde Erfahrung machen, dass Kultur und Moral sehr wohl auseinanderfallen können. Das aber wusste schon ein Friedrich Schiller, der in seinen kulturkritischen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen monierte: „Das Zeitalter ist aufgeklärt […] Woran, liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind? “ 36 Eine Antwort liefert Grillparzers bahnbrechende Bearbeitung des Medea-My‐ thos, wobei die hier gezogene kulturkritische Bilanz später noch im (zeitgleich 140 Gilles Darras <?page no="141"?> 37 Siehe Anm. 2. 38 Grillparzer (1986: III, 424). mit dem eingangs zitierten Epigramm) 37 entstandenen Drama Ein Bruderzwist in Habsburg einen Nachklang findet, und zwar in der desillusionierten Diagnose, die Kaiser Rudolf angesichts des selbstverschuldeten und hausgemachten Kon‐ fliktes ungeheuren Ausmaßes, der sich als Dreißigjähriger Krieg abzeichnet, aufstellt: „[…] nicht Szythen und Chazaren, / Die einst den Glanz getilgt der alten Welt, / Bedrohen unsre Zeit, nicht fremde Völker: / Aus eignem Schoß ringt los sich der Barbar.“ 38 Literatur Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang (1998). Werke (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden). Hrsg. Trunz, Erich. München: Beck. Grillparzer, Franz (1986). Werke in sechs Bänden. Hrsg. Bachmaier, Helmut. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag. Grillparzer, Franz (2014). Selbstbiographie. Berlin: Johannes G. Hoof. Hebbel, Friedrich (1978). Werke in zwei Bänden. Hrsg. Pörnbacher, Karl. München: Hanser. Heine, Heinrich (1982). Werke in vier Bänden. Hrsg. Häntzschel, Günter. Mün‐ chen / Wien: Carl Hanser Verlag. Hofmannsthal, Hugo von (1997). Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. Bohnen‐ kamp, Klaus E. / Mayer, Mathias. Frankfurt am Main: S. Fischer. Kleist, Heinrich von (2008). Sämtliche Werke und Briefe. München: Hanser. Lessing, Gotthold Ephraim (1967). Werke. Hrsg. Wölfel, Kurt. Frankfurt am Main: Insel Verlag. Schiller, Friedrich (2004). Sämtliche Werke in 5 Bänden. Hrsg. Alt, Peter-André (u. A). München: Hanser. Winckelmann, Johann Joachim (1755). Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Leipzig. In: Sämtliche Werke, Neudruck der Ausgabe. Hrsg. Zeller, Otto. Osnabrück, 1825, Bd. I, 34. Sekundärliteratur Albrecht, Tim (2015). Trusting Barbarians? Franz Grillparzers „Goldenes Vlieβ“ and the Challenge to the Mythography of Empire. In: Boletsi, Maria / Moser, Christian (Hrsg.) Barbarism revisited. New Perspectives of an Old Concept. Leiden-Boston: Brill-Rodopi. 141 Hell und Dunkel in Grillparzers Goldenem Vließ: Schattierungen eines schillernden Motivs <?page no="142"?> Becker, Karina (2008). Autonomie und Humanität. Grenzen der Aufklärung in Goethes „Iphigenie“, Kleists „Penthesilea“ und Grillparzers „Medea“. Frankfurt am Main: Peter Lang. Bub, Tillmann (2004). Barbarei und Zivilisation in Grillparzers Trilogie „Das Goldene Vlieβ“. Sprachkunst 35. Darras, Gilles (2012). „Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht“. Heinrich von Kleist et Franz Grillparzer. Le drame du monde moderne ou la tragédie de l’impossible unité. Etudes Germaniques 67 / 1. Fülleborn, Ulrich (1976). Zu Grillparzers „Goldenem Vlieβ“. Der Sinn der Raum- und Zeitgestaltung. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 12. Neumann, Gerhard (1997). „Das Goldene Vlieβ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grill‐ parzer.“ In: Flashar, Hellmut (Hrsg.) Tragödie und Transformation. Stuttgart / Leipzig: B. G. Teubner. Politzer, Heinz (1972). Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Wien-Mün‐ chen-Zürich: Fritz Molden. Rogowski, Christian (2006). Erstickte Schreie. Geschlechterdifferenz und koloniales Denken in Grillparzers Medea-Trilogie „Das Goldene Vlieβ“. Jahrbuch der Grill‐ parzer-Gesellschaft 21. Schneilin, Gérard (1992). Le type du ‚Zerrissener‘ des drames de jeunesse jusqu’ à „Ein Bruderzwist in Habsburg“. Etudes Germaniques 47 / 2. Seeba, Hinrich C. (1991). Grillparzer und die Selbstentfremdung des Zerrissenen im 19. Jahrhundert. In: Bachmaier, Helmut (Hrsg.) Franz Grillparzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wiggins, Ellwood (2019). Odysseys of recognition. Performing intersubjectivity in Homer, Aristotle, Shakespeare and Kleist. Lewisburg: Bucknell University Press. Winkler, Markus (2009). Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen: Niemeyer. 142 Gilles Darras <?page no="143"?> 1 Gemeint sei damit auch hier jene ‚Sattelzeit‘ (Koselleck) zwischen den Jahren 1750 und 1850 als soziokultureller Umbruch hin zur Moderne, s. Bay, Hansjörg / Merten, Kai (Hrsg.) (2006). Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750-1850. Würzburg: Königshausen & Neumann; Kaufmann, Sebastian (2020). Ästhetik des ‚Wilden‘. Zur Verschränkung von Ethno-An‐ thropologie und ästhetischer Theorie 1750-1850. Mit einem Ausblick auf die Debatte über ‚primitive‘ Kunst um 1900. Basel: Schwabe Verlag. Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘: Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ als Kritik an Essentialismus und Ethnozentrismus Fabiola Valeri Mit seiner 1821 uraufgeführten Dramentrilogie Das goldene Vließ schreibt sich Franz Grillparzer in die wirkmächtige Traditionslinie des Medea-Mythos ein, die maßgeblich von Euripides’ und Senecas Bearbeitungen der Argonau‐ tensage geprägt ist. Bei Grillparzers Adaption hingegen handelt es sich um kein göttlich determiniertes Ehe- oder Rachedrama mehr. Vielmehr sind interkulturelle Konflikte für den katastrophalen Ausgang verantwortlich, die nicht zuletzt Alteritätsdiskurse um 1800 reproduzieren. Der vorliegende Beitrag vertritt die These, dass in der Trilogie strukturell eine Kritik an solcherart konflikttreibenden essentialistischen und ethnozentrischen kultu‐ rellen Denk- und Wahrnehmungsmustern der dramatis personae angelegt ist. Dieser bisher unzureichend beachteten kritisch-engagierten Dimension soll im Rahmen einer der interkulturellen Literaturwissenschaft verpflichteten Analyse nachgegangen werden. Dabei wird insbesondere nach den genuin dramatischen Mitteln gefragt, mittels derer Dichotomien von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ als fehlgeleitet dekonstruiert bzw. unterlaufen werden. Das Interesse am kulturell Anderen, an der Begegnung mit dem außereuropäi‐ schen Fremden hat um 1800 Konjunktur. 1 Als Nachfahren von Kolumbus und den großen Entdeckungen und Eroberungen des Atlantiks geht es den Kapi‐ <?page no="144"?> 2 Zu Darstellungsformen kultureller Differenz in der europäischen Geistesge‐ schichte, unter besonderer Berücksichtigung der Entdeckungszeitalter, s. Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2006). Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen: Wallstein; Fink-Eitel, Hinrich (1994). Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg: Junius Verlag; Bitterli, Urs (1991). Die ‚Wilden‘ und die ‚Zivilisierten‘. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begeg‐ nung. 2., durchges. u. erw. Aufl. München: C. H. Beck sowie Kohl, Karl-Heinz (1986). Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 3 Vgl. Koehn, Elisabeth Johanna et al. (Hrsg.) (2011). Andersheit um 1800. Figuren - Theorien - Darstellungsformen. München: Wilhelm Fink; Böhm, Alexandra / Sproll, Monika (Hrsg.) (2008). Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann. 4 In seiner Selbstbiographie schreibt Grillparzer, dass er die Idee zur Bearbeitung des Medea-Stoffes bei einem Kuraufenthalt hatte, als ihm Benjamin Hederichs Gründliches tänen des sogenannten Zweiten Entdeckungszeitalters (1763-1783) in ihren Weltumseglungen allerdings nicht mehr primär um Landnahme. Bei Cooks oder Bougainvilles Erkundungen des südpazifischen Raums gilt es insbesondere, den Wissensdurst der Aufklärung über die koloniale Welt, ihre Kulturen und Bewohner zu stillen. Nachrichten und Reiseberichte, wie Louis-Antoine de Bougainvilles Voyage autour du monde (1771 / 72) oder Georg Forsters Reise um die Welt (1778 / 80), werden im Europa um 1800 sehnsüchtig erwartet und breit rezipiert. 2 Als Quelle neuer völkerkundlicher Erkenntnisse tragen sie zur Herausbildung der modernen Wissenschaften der Ethnologie, Geographie oder Botanik bei. Um Lavater, der in seinen Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775-78) die Spezifik ‚wilder‘ Völker zu erörtern sucht, setzen sich ebenfalls namhafte Philosophen mit dem Fremden auseinander. Auch ästhetisch und literarisch erweisen sich die zeitgenössischen Überlegungen zur Alterität als äußerst produktiv: Bei Lessing, Kotzebue, Goethe, Lenz oder Kleist bevölkert nunmehr eine Vielzahl ‚fremder Figuren‘ 3 die deutschsprachige Bühne: von Nathan der Weise (1779) über Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774) bis hin zur Penthesilea (1808). Mit der Haitianischen Unabhängigkeit von 1804 und anderen antikolonialistischen Bewegungen beginnt jedoch die Selbstbeschreibung Eu‐ ropas als überlegene abendländische Zivilisation zu bröckeln. Innereuropäisch sieht man im Vormärz mit der Geburt des modernen Nationalismus und den in‐ nereuropäischen Konkurrenzkämpfen gleichermaßen einer Zeit der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche entgegen. In diese Diskurslandschaft tritt nun Franz Grillparzer mit seiner erstmals 1821 am Wiener Burgtheater uraufgeführten Bearbeitung des Medea-Stoffes 4 , 144 Fabiola Valeri <?page no="145"?> mythologisches Lexikon in die Hände fiel. Daneben rezipierte er die Argonautika des Apollonios von Rhodos und die Medea-Dramen Euripides’ und Senecas nachweislich, s. Grillparzer, Franz (1965). Selbstbiographien - Autobiographische Notizen - Erinne‐ rungen - Tagebücher - Briefe, Zeugnisse und Gespräche in Auswahl. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. IV. Hrsg. Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. München: Hanser, 87 f. Einen stoffgeschichtlichen Überblick bietet Kenkel, Konrad (1979). Medea-Dramen. Entmythisierung und Remythisierung. Euripides, Klinger, Grill‐ parzer, Jahnn, Anouilh. Bonn: Bouvier; zu Euripides’ Medea s. Blondell, Ruby (1999). Introduction. In: Blondell, Ruby et al. (Hrsg.) Women on the Edge. Four Plays by Euripides. London: Routledge, 147-216. 5 Grillparzer, Franz (1986). Das goldene Vließ. Dramatisches Gedicht in drei Abteilungen. In: Franz Grillparzer. Werke in sechs Bänden. Bd. II: Dramen 1817-1828. Hrsg. Bach‐ maier, Helmut. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 205-390; im Folgenden zitiert unter Angabe der Sigle für den entsprechenden Teil der Trilogie sowie der Verszahl. Bei direkten Zitaten erfolgt der Verweis im laufenden Text. 6 Grillparzer erbat sich in einem Brief an die Wiener Hoftheaterdirektion, die drei Teile, die „sich wechselseitig bedingen und erklären“, an aufeinanderfolgenden Theaterab‐ enden zu inszenieren (vgl. Grillparzer 1965: 760.). Die Aufführungsrealität sah jedoch oftmals anders aus, s. Haider-Pregler, Hilde (1991). Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ. Dramaturgie und Rezeption. In: Bachmaier, Helmut (Hrsg.) Franz Grillparzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 273-320; genauso wie die interpretatorische Praxis, die sich oftmals nur auf Teile der Trilogie beschränkt, vgl. etwa Bub, Tillmann (2004). Barbarei und Zivilisation in Grillparzers Trilogie ‚Das Goldene Vließ‘. Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 35: 1, 1-22 u. Böschenstein, Renate (1994). Medea - Der Roman der entflohenen Tochter. In: Hillenaar, Henk / Schönau, Walter (Hrsg.) Fathers and Mothers in Literature. Amsterdam / Atlanta: Rodopi, 7-28. 7 Kann Medea etwa bei Euripides noch mittels eines gottgesandten Drachenwagens ent‐ kommen, so ist dieser Deus ex machina bei Grillparzer aufgekündigt. Die Transzendenz greift nicht mehr aktiv in den Dramenverlauf ein, sondern erfüllt lediglich die Funktion eines Projektionsraums menschlich-profaner Begierden oder wird psychologisiert. Darauf hat u. a. hingewiesen: Detken, Anke (2018). Medea und die dunklen Götter. Formen der Antike in Grillparzers Das goldene Vließ. In: Krippner, Friederike et al. (Hrsg.) Die andere Antike. Altertumsfigurationen auf der Bühne des 19. Jahrhunderts. München: Wilhelm Fink, 123-140. der Dramentrilogie Das goldene Vließ. 5 Während die vorangegangenen Stücke in der Nachfolge von Euripides oder Seneca lediglich das tragische Ende der Ehe von Medea und Jason als Rachedrama mit göttlich determiniertem Ausgang inszenieren, entscheidet sich Grillparzer dezidiert für eine Dramatisierung des gesamten Mythos. 6 In dieser weiten Perspektive entwirft der Tragödiendichter eine Trilogie mit offener Raum- und Zeitstruktur, die nunmehr als säkularer 7 , interkultureller Parteienkonflikt zwischen Griechen und Kolchern um das Vließ als Wertobjekt aufgebaut ist. Auf diese Weise entsteht viel Raum für Szenarien der Kulturbegegnung und Fremdwahrnehmung, anhand derer Grillparzer im Gewand des antiken Mythos nicht zuletzt ebenjene Wahrnehmungs- und Denkmuster des Fremden um 1800 auf die Bühne bringt. 145 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="146"?> 8 Aus wissenschaftlicher Sicht problematisch ist nicht nur der ahistorische und stark essentialistische Kulturbegriff Huntingtons, sondern auch seine vereinfachende, dicho‐ tome Weltsicht. Einen kritischen Kommentar bietet Riesebrodt, Martin (2002). Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“. München: C. H. Beck, 15-33. 9 So begreift Samuel P. Huntington die seiner Auffassung nach klar abgrenzbaren Kul‐ turen holistisch und homogenisierend als Totalität, versehen mit gemeinsamer Sprache, Religion und Denkweise sowie geteilten Sitten, s. Ders. (2002). The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster, 42 f. 10 Huntington (2002: 183). 11 Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2004). Einleitung. In: Dies. (Hrsg.) Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Basel / Tübingen: A. Francke, 7-64, die für eine Öffnung der Literaturwissenschaft für kulturwissenschaftliche Fragestellungen plädiert. Die kulturellen Aushandlungsprozesse zwischen Griechen und Kolchern scheinen dabei prima facie weniger interkulturelle Verständigung abzubilden als vielmehr ein Szenario vorwegzunehmen, das der Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington jüngst auf die kontroverse 8 Formel vom ‚Kampf der Kulturen‘ gebracht hat. Huntington sieht die Welt nach dem Ende des noch ideologisch motivierten Kalten Krieges im Wesentlichen in sieben homogene und einander feindlich gesinnte Kulturkreise unterteilt 9 , wobei die Demarkati‐ onslinien vorrangig zwischen dem ‚Westen‘ und den von anderen religiösen Überzeugungen dominierten Kulturkreisen verlaufen - programmatisch auf die Minimalformel „the West against the rest“ 10 hin enggeführt. Eine solche binäre Weltsicht, die nunmehr in Form von Alteritätsdiskursen um 1800 zwischen ‚eigen‘ und ‚fremd‘ scheidet, weist die Figurenperspektive von Grillparzers griechischen und kolchischen dramatis personae auf, wie zu zeigen sein wird. Anders hingegen als dies Huntington theoretisieren wird, identifiziert Grillparzers Trilogie dahingehende Fremdwahrnehmungsformen der Figuren klar als problematisch und allererst konflikttreibend. In der Struktur des Stücks, so die These, ist damit eine Kritik an essentialistischen und eth‐ nozentrischen kulturellen Denk- und Wahrnehmungsmustern angelegt. Diese werden mittels genuin dramatischer Mittel dekonstruiert, sodass implizit für ein alternatives Szenario des hybriden Kulturkontakts geworben wird. Im Zuge dessen erfährt die Medea-Figur eine Aufwertung, wird doch der katastrophale Ausgang nun durch einen Teufelskreis aus Gewalt und Gegengewalt zwischen den Kulturen erklärbar. Insofern scheint es angezeigt, die Trilogie im Folgenden einmal konsequent mit den Instrumentarien der interkulturellen Literaturwissenschaft zu lesen, die sich in den 1980er Jahren im Zuge des cultural turn 11 unter der Federführung Alois Wierlachers aus dem Fachbereich Deutsch als Fremdsprache konstituierte. 146 Fabiola Valeri <?page no="147"?> 12 Wierlacher, Alois (1987). Einführung. In: Ders. (Hrsg.) Perspektiven und Verfahren in‐ terkultureller Germanistik. Akten des I. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik. München: Iudicium, 13-17, hier: 15. Die Gründung der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik 1982 stellt sicherlich einen Meilenstein der Fachgeschichte dar. Vgl. ausführlich Ders. (2003). Interkulturelle Germanistik. Zu ihrer Geschichte und Theorie. Mit einer Forschungsbibliographie. In: Ders. / Bogner, Andrea (Hrsg.) Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart: J. B. Metzler, 1-45. 13 Vgl. etwa das Theoriedesign des Standardwerks von Hofmann, Michael / Patrut, Iulia-Karin (2015). Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Darmstadt: WBG. 14 So etwa der primäre Ansatz von Chiellino, Carmine (2007). Interkulturalität und Literaturwissenschaft. In: Dies. (Hrsg.) Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler, 387-398. 15 Vgl. Gutjahr, Ortrud (2002). Alterität und Interkulturalität (NDL). In: Benthien, Claudia / Velten, Hans Rudolf (Hrsg.) Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einfüh‐ rung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 345-369; Mecklenburg, Norbert (2009). Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle Litera‐ turwissenschaft. 2., unver. Aufl. München: Iudicium, 11-38. 16 Vgl. Hofmann / Patrut (2015: 7 f.). 17 So etwa bei Singer, Gesa (2010). Fremdheit und Beziehung. Zur psychologischen Gestaltung von Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ unter dem Aspekt der Kommu‐ nikation. Estudios Filológicos Alemanes 20, 181-192 u. Rogowski, Christian (2006). Zunächst ihrem Selbstverständnis nach als „Philologie der Kulturenverständi‐ gung“ 12 konzeptualisiert, öffnete sie sich alsbald für postkoloniale Fragestel‐ lungen und nahm neben einer Hermeneutik des Fremdverstehens theoretische Ansätze der Dekonstruktion und der Gender-Forschung in sich auf. 13 Entgegen der häufig anzutreffenden gegenwartszentrierten Perspektive auf ‚Migrations‐ literatur‘ 14 lässt sich mit Gutjahr und Mecklenburg der Gegenstand der inter‐ kulturellen Literaturwissenschaft auch jenseits von Lebens-, Produktions- und Rezeptionskontexten bestimmter Autorengruppen fassen, nämlich als immer schon dagewesenes interkulturelles Potential von Literatur. Dieses kann sich so‐ wohl formal in hybriden Gattungsadaptionen oder sprachlicher Vielstimmigkeit manifestieren als auch thematisch, in Form der Inszenierung von Kulturbegeg‐ nung und der ästhetischen Reflexion über Alteritätskonstruktionen 15 . Konzepte der Interkulturalität veranschlagen dabei einen dynamisch-hybriden Kulturbe‐ griff, der auf Homogenisierungs- und Abgrenzungstendenzen verzichtet und den Aspekt der Aushandlung in den Mittelpunkt rückt. 16 Vor diesem methodischen Referenzrahmen eröffnet sich eine neue Perspek‐ tive auf die Dramentrilogie des in der bundesdeutschen Germanistik zu Un‐ recht oftmals marginalisierten ‚Ahnherrn‘ der österreichischen Literatur und biedermeierlichen Epigonen. Die Forschung hat Das goldene Vließ bisher v. a. mit Blick auf Geschlechterkonflikte 17 , hinsichtlich motivischer und psychologi‐ 147 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="148"?> Erstickte Schreie. Geschlechtliche Differenz und koloniales Denken in Grillparzers Medea-Trilogie Das goldene Vließ. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 21: 3, 32-50. 18 Dunham, T. C. (1960). Symbolism in Grillparzer’s Das Goldene Vließ. PMLA 75: 1, 75-82. Den Grundstein gelegt für eine tiefenpsychologische Lesart hat Politzer, Heinz (1972). Franz Grillparzer oder Das abgründige Biedermeier. Wien: Fritz Molden, 125-150; eine psychoanalytische Lektüre unternimmt bspw. Böschenstein (1994). 19 Vgl. Becker, Karina (2008). Autonomie und Humanität. Grenzen der Aufklärung in Goethes Iphigenie, Kleists Penthesilea und Grillparzers Medea. Frankfurt am Main: Peter Lang sowie Neumann, Gerhard (1997). Das goldene Vließ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer. In: Flashar, Hellmut (Hrsg.) Tragödie: Idee und Transformation. Leipzig / Stuttgart: B. G. Teubner, 258-286. 20 Einschlägig sind: Lacheny, Marc et al. (Hrsg.) (2016). Modernité du mythe et violence de l’altérité. La Toison d’or de Franz Grillparzer. Rouen: PURH; Winkler, Markus (2009). Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen: Niemeyer; Bub (2004) sowie Charue-Ferrucci, Jeanine (1997). La notion de barbarie dans la trilogie de Grillparzer La Toison d’Or (Das Goldene Vließ). In: Labaye, Pierre (Hrsg.) L’Allemagne des Lumières à la Modernité. Mélanges offerts à Jean-Louis Bandet. Rennes: Presses Universitaires de Rennes, 133-143. 21 Diesen Begriff der postkolonialen Theorie hat maßgeblich die Komparatistin Mary Louise Pratt geprägt, vgl. Dies (2008). Imperial Eyes. Travel Writing and Transcul‐ turation. 2. Aufl. London: Routledge, 1-12. Pratt versteht unter contact zone einen interkulturellen, hierarchisch strukturierten Aushandlungsraum, „where disparate cultures meet, clash and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination - such as colonialism and slavery, or their aftermaths“ (ebd.: 7). scher Aufschlüsselungen 18 sowie geschichtsphilosophisch als moderne Tragödie der Selbstentfremdung 19 gelesen. Erst in jüngster Zeit rückt der Aspekt des Kulturkontakts vermehrt in den Fokus, meist jedoch im Sinne scheiternder Interkulturalität. 20 In drei Argumentationsschritten soll es in diesem Beitrag zunächst darum gehen, das Selbstverständnis von Kultur bei den griechischen und kolchischen Figuren genauer in den Blick zu bekommen und zu erkunden, wie dieses die Wahrnehmung und Verhandlung mit dem Anderen in den contact zones 21 Kolchis und Korinth prägt. In einem zweiten Schritt soll nach dramenstruktu‐ rellen Strategien gefragt werden, mittels derer dichotome Setzungen von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ werkimmanent dekonstruiert bzw. kritisch unterlaufen werden. Abschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern das essentialistische Denken der Figuren die Katastrophe katalysiert, sowie das Potential von Mitt‐ lerfiguren für alternative Kulturkontaktszenarien diskutiert. 148 Fabiola Valeri <?page no="149"?> 22 Gutjahr (2002: 354). 23 Grundlegend für die interkulturelle Fremdheitsforschung ist neben den Arbeiten Wierlachers und Gutjahrs nicht zuletzt Waldenfels, Bernhard (2016). Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Surhkamp, insbes. 145-156. 24 Vgl. Gutjahr (2002: 360 f.) sowie Schäffter, Ortfried (1991). Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit. In: Ders. (Hrsg.) Das Fremde. Erfahrungs‐ möglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: VS Verlag für Sozial‐ wissenschaften, 11-42, der das Fremde um eine fünfte Dimension des Unheimlichen ergänzt. 25 Vgl. Arg. 1310; Med. 1765. 26 Vgl. Gutjahr (2002: 352 f.). Kulturelle Denk- und Wahrnehmungsformen des Fremden Prämisse jeglicher Alteritätsforschung ist zunächst der Befund, dass Fremd‐ heit keine objektive, physikalisch messbare Eigenschaft von Objekten oder Individuen darstellt, sondern dass es sich um einen „Relations- oder Unterschei‐ dungsbegriff zum Eigenen“ 22 handelt. Die Kategorisierung ‚eigen‘ vs. ‚fremd‘ ist folglich eine subjektiv konstruierte, gleichzeitig jedoch als anthropologische Konstante individualpsychologisch von essentieller Bedeutung, konstituieren sich Identitäten doch erst in Abgrenzung vom kulturell Anderen. 23 Etymologisch ist Fremdheit gemäß althochdeutsch fran basal kodiert als das räumlich ent‐ fernte Auswärtige und somit als das noch (oder gar existentiell) Unbekannte. 24 Beides ist für die Analyse von Grillparzers Dramentrilogie von Relevanz: So wird von den kolchischen ebenso wie von den griechischen dramatis personae im Exil die Ferne zu ihrem (überseeischen) Heimatland moniert 25 und Jason verleiht dem Gefühl des Unbekanntseins auf der Insel Kolchis als transzendent-kosmologi‐ sche Fremdheit geradezu hyperbolisch Ausdruck: „Als hätt’ des Lebens Gränz’ ich überschritten / Und stünd’ auf einem unbekannten Stern, / Wo anders die Gesetze alles Seins und Handelns“ (Arg. 1180-1182). Alterität manifestiert sich erst dann als interkulturelle Problemkonstella‐ tion, wenn damit stereotype Wertungs- und Abgrenzungsmechanismen einher‐ gehen, die eine essentialistisch-ethnozentrische Signatur aufweisen. Problema‐ tisch ist daran v. a., dass Kulturen - definiert als volksbzw. staatsgebundenes Repertoire an Traditionen, Sprache, Religion, Sitten und Werten - mit festen Charakteristika versehen werden, die für jedes Mitglied homogenisierend an‐ genommen und anhand derer unüberwindliche Trennlinien zu anderen, als minderwertig deklassierten Kulturen gezogen werden. 26 Im Goldenen Vließ legt sowohl die Figurenperspektive der griechischen als auch der kolchischen Autoritäten beredtes Zeugnis ab für dergestalt pro‐ 149 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="150"?> 27 Die lange Zeit vornehmlich biographisch orientierte Winckelmann-Forschung wurde 2017 gewinnbringend durch das von Disselkamp, Martin u. Testa, Fausto herausgege‐ bene Winckelmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung (Stuttgart) erweitert, welches das Gesamtwerk des Altertumskenners und seine Rezeption an der Schnittstelle der Disziplinen in den Blick nimmt. 28 Vgl. Winckelmann, Johann Joachim (2016). Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, 1. Aufl. 1755, 2. Aufl. 1756. In: Winckelmann, Johann Joachim. Schriften und Nachlaß. Bd. IX,1: Dresdner Schriften. Text und Kommentar. Hrsg. Kunze, Max / Borbein, Adolf Heinrich. Mainz am Rhein: Philipp von Zabern, 51-78, hier: 51-66; Zitat: ebd.: 67. blematische und konflikterzeugende Denk- und Wahrnehmungsmuster im Umgang mit dem Anderen. In der diskursiven Ausgestaltung dieser Eigen- und Fremdbilder erweisen sich die Griechen und Kolcher aus Grillparzers Adaption eines antiken Mythos mitunter als Zeitgenossen des ausklingenden 18. Jahrhunderts: Der Dramatiker lässt seine griechischen Figuren, um die es zunächst gehen soll, zum einen zeitgenössische Topoi aus der kolonialen Begegnung mit den überseeischen Fremden auf die Kolcher projizieren, wie sie etwa Reiseberichte des Zweiten Entdeckungszeitalters tradieren. Zum an‐ deren reproduziert die griechische Figurenperspektive den ethnozentrischen Winckelmann’schen Griechenlanddiskurs. Johann Joachim Winckelmanns wirkmächtige kunsthistorische Schriften zur Antike, allen voran sein Hauptwerk Geschichte der Kunst des Alterthums (1764), beeinflussen neben der Archäologie ebenfalls Literatur und Ästhetik um 1800. So ließ ihn seine normative These von der nachahmenswerten Vorbildlichkeit griechischer Kunstproduktion nicht zuletzt zum geistigen Ahnherrn der Wei‐ marer Klassik werden. 27 Bemerkenswert mit Blick auf den Untersuchungskon‐ text dieses Beitrags ist v. a., dass Winckelmann seine Ästhetik auf der Basis von ethno-anthropologischen und kulturtheoretischen Überlegungen errichtet: Der Kunst des antiken Griechenland sei deshalb der Vorzug zu geben, da sie vom idealschönen Menschentypus der Griechen geschaffen worden sei und handle, die an Leibeskraft, Moralität und Bildung alle anderen Völker überstrahlen würden. Mit ihrem ruhigen, gemäßigten Wesen stünden die antiken Griechen zudem dem göttlichen Urbild nahe und hätten entsprechend eine Kunst, die sich auf die Formel „edle Einfalt und stille Grösse“ bringen ließe, geschaffen. 28 Diese allumfassende Überlegenheit verdanke sich insbesondere dem gemäßigten Klima Griechenlands, seiner geographischen Zentralstellung: Die Natur, nach dem sie stuffenweis durch Kälte und Hitze gegangen, hat sich in Griechenland, wo eine zwischen Winter und Sommer abgewogene Witterung ist, wie in ihrem Mittelpuncte gesetzt, und je mehr sie sich demselben nähert, desto heiterer 150 Fabiola Valeri <?page no="151"?> 29 Winckelmann, Johann Joachim (2002). Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auflage Dresden 1764. Zweite Auflage Wien 1776. Winckelmann, Johann Joachim. Schriften und Nachlaß. Bd. IV,1. Hrsg. Borbein, Adolf Heinrich. Mainz am Rhein: Philipp von Zabern, 212; Hervorh. F. V. 30 Winckelmann steht dabei in einer langen Theorietradition von Hippokrates über Dubos bis zu Herder, der in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785) ebenso nach der Rolle des Klimas bei der Herausbildung der Nationalcharaktere fragen wird. S. hierzu Disselkamp, Martin (2017). Griechenland als Kulturentwurf. In: Ders. / Testa, Fausto (Hrsg.) Winckelmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler, 105-112. 31 Den Begriff übernehme ich von Sebastian Kaufmann (2020: 125-153), der ebenjenen ethno-anthropologischen Aspekten in der kunsthistorischen Hauptschrift Winckel‐ manns nachgeht; s. ebenso umfassend Disselkamp (2017). 32 Vgl. Winckelmann (2002: 244-248); Zitat: ebd.: 244. und fröhlicher wird sie, und desto allgemeiner ist ihr Wirken in geistreichen witzigen Bildungen, und in entschiedenen und vielversprechenden Zügen. 29 Darin nimmt Winckelmann klimatheoretische 30 Überlegungen zum Zusammen‐ hang von Geographie, Temperatur und Bodenbeschaffenheit auf der einen und körperlicher Erscheinung sowie charakterlichen Eigenarten eines Volkes auf der anderen Seite auf, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Insofern ist Winckelmanns idealisierende ‚Ethno-Ästhetik‘ 31 fraglos eurobzw. hellenozentrisch und überdies essentialistisch: Eindeutig lässt sich laut Win‐ ckelmann zwischen autarken Griechen und Nichtgriechen unterscheiden, die als „entlegene[ ] Völker“ nicht nur klimatische Extrem- und geographische Randzonen bewohnen würden, sondern auch in ihrer tierähnlichen Physis anthropologisch, ästhetisch und rhetorisch unterlegen seien. 32 Dieses Griechenlandbild Winckelmann’scher Provenienz findet sich nun in der Figurenperspektive von Grillparzers Griechen evoziert und klar funktio‐ nalisiert als Ausweis der Überlegenheit Korinths vor Kolchis. Der „Griechen gottbetretnen Erde“ (Med. 992) ist Heimat unbezwingbarer Heroen „reinen Bluts“ ( GF 264) und ferner ein Modell an Sittlichkeit und Moralität, wie Jason gegenüber Medea rühmt: Wärst du in Griechenland, da wo das Leben Im hellen Sonnenglanze heiter spielt, Wo jedes Auge lächelt wie der Himmel, Wo jedes Wort ein Freundesgruß, der Blick Ein wahrer Bote wahren Fühlens ist, Kein Hass als gegen Trug und Arglist (Arg. 1237-1242; Hervorh. F.V.). 151 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="152"?> 33 Dies stellt freilich durchaus eine Umwertung von Winckelmanns Formel ‚edler Einfalt und stiller Größe‘ dar, die sich als genuin maskuline, erhaben-stoizistische ‚Ästhetik des Schmerzes‘ präsentiert, vgl. hierzu Richter, Simon (1992). Winckelmann: Laocoon and the Eunuch. In: Ders. Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain. Winckelmann, Lessing, Herder, Moritz, Goethe. Detroit: Wayne State University Press, 38-61. Zu Kreusa als Verkörperung eines biedermeierlichen Weiblichkeitsideals s. Anm. 64. 34 Vgl. exemplarisch die Darstellung der Tahitianer im Reisebericht von Bougainville, Louis-Antoine de (1980). Reise um die Welt welche mit der Fregatte La Boudeuse und dem Fleutschiff L’Etoile in den Jahren 1766, 1767, 1768 und 1769 gemacht worden. Hrsg. Popp, Klaus-Georg. 3. Aufl. Berlin: Rütten und Leoning, insbes. 199-203 sowie dazu: Bitterli (1991: 367-381). 35 Einen Überblick über die Naturzustandstheorien von der Antike bis in die Neuzeit bietet Hofmann, Hasso (1984). Art. Naturzustand. In: Ritter, Joachim et al. (Hrsg.) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. VI. Basel, 653-658. Die fortgesponnenen Synästhesien und Anaphern zeitigen das Bild Griechen‐ lands als eines allumfassenden Refugiums des kollektiven Glücks, in dem anstelle der den Kolchern zugeschriebenen Verstellung die Tugenden der Freundlichkeit und Wahrheit hochgehalten würden. Zurückgeführt wird dies nicht zuletzt auf die klimatische Begünstigung Griechenlands ‚im hellen Son‐ nenglanze‘, die mit verwandten Isotopien um Heiter- und Freundlichkeit auf Winckelmanns klimatheoretische Begründungsversuche Bezug nimmt. Diese intertextuelle Verweisstruktur wird schließlich augenfällig, indem Grillparzer die korinthische Königstochter eine biedermeierlich anmutende Modifikation der zur Chiffre von Winckelmanns Denken avancierten Minimalformel zitieren lässt: Kreusa erklärt „Ein einfach Herz und einen stillen Sinn“ (Med. 829) zu ihrem Humanitätsideal des Entsagens und Bescheidens. 33 In ihren Wahrnehmungsformen fremder Völker überblendet die griechische Figurenperspektive ferner Winckelmann’sche Thesen mit zeitgenössischen Topoi der überseeischen Begegnung zwischen Europäern und Nichteuropäern. Die Bewohner ferner Weltregionen werden noch um 1800 meist gemäß einem schon seit dem Ersten Entdeckungszeitalter fortgeschriebenen Stereotyp als ‚Wilde‘ betrachtet. Diese ‚Wilden‘ würden bar jeglicher Gesellschaftsordnung ein vermeintlich animalisches Dasein fristen, sich roh gebärden und seien intellektuell unterlegen. 34 In der Logik des europäischen Fortschritts- und Zivilisationsnarrativs des 18. und 19. Jahrhunderts verkörpern die überseeischen Fremden somit eine menschheitsgeschichtlich längst überwundene Stufe, den fortschrittslosen Naturzustand im Kindesalter der Menschheit 35 - wie dies noch Schiller in seiner Jenaer Antrittsrede Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789) ins Bild setzt: 152 Fabiola Valeri <?page no="153"?> 36 Schiller, Friedrich (2000). Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalge‐ schichte? Eine akademische Antrittsrede. In: Schiller, Friedrich. Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. VI: Historische Schriften und Erzählungen I. Hrsg. Dann, Otto. Frank‐ furt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 411-431, hier: 416 f. 37 Vgl. Bougainville (1980: 206 f.). Zu diesen Gender-Aspekten der Kolonialisierung vgl. Küchler Williams, Christiane (2006). Südsee, Sex und Frauen im Diskurs des 18. Jahr‐ hunderts. In: Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hrsg.) Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Göttingen: Wallstein, 302-325. 38 S. etwa Arg. 1330, 1277; Med. 1307. 39 Jason zu Medea: „Kehr’ wieder zu den Deinigen zurück, / Zu ihren Menschenopfern, Todesmahlen, / In deine Wildnis, Wilde kehr’ zurück.“ (Arg. 1275-1277) 40 Vgl. GF 230, 335-365. Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhal‐ tendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannichfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herum stehen, und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist. […] Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! 36 Insbesondere in der weiblichen Spielart der ‚sinnlichen Exotin‘ wohnt dem Fremden neben dem ‚Wilden‘ und Bedrohlichen jedoch stets auch eine un‐ terschwellige Faszinationskraft inne. So imaginieren etwa die Reiseberichte Forsters oder Bougainvilles in ihrer Südseebegeisterung indigene Frauen nicht nur als körperlich anmutig, sondern ebenso als sexuell freizügig. 37 Grillparzers Griechen adressieren ihr überseeisches Gegenüber als eben‐ solche ‚Wilde‘ 38 und weisen den Kolchern darin diskursiv eine Position der mora‐ lischen und kulturellen Unterlegenheit zu. So beklagen die griechischen Figuren frappierend häufig den angeblich niederen Instinkten folgenden „wilde[n] Sinn“ (Med. 1386) der „schwachsinnige[n] Barbar[en]“ (Arg. 859). Die Argonauten diffamieren die Kolcher gar als gänzlich entmenschlichte „wilde[ ] Tiere“ (Arg. 1650), die in einem jegliches Recht verhöhnenden „gottverlaßne[n] Land“ (Arg. 313) Menschenopferung praktizierten. 39 Auch kulturell abgefallen seien die Kolcher, lässt Grillparzer den Griechen Phryxus doch topische Naturzustands‐ diskurse referieren: Kolchis als ein Land, wo „Sicherheit und einfach stille Ruh / Mit Kindesblicken mir entgegen lächeln“ ( GF 205 f.). Die Insel wird von den griechischen Figuren somit stets als vorzivilisatorisch-rückständiger Naturraum mit „unwirtbaren Klippen“ (Arg. 280) und ungeschliffener Sprache und Sitten durchdekliniert. 40 Weiterhin führt die griechische Figurenperspektive klimatheoretische Thesen an, indem simplifizierend Merkmale des wilden Naturraums Kolchis auf 153 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="154"?> 41 Vgl. Lorenz, Dagmar C. G. (1986). Grillparzer, Dichter des sozialen Konflikts. Wien: Böhlau, 68. Herodot beschreibt die Kolcher als dunkelhäutige Ägypter - eine Verbin‐ dung, die Hanns Henny Jahnn in seiner Medea-Tragödie mit dunkelhäutiger Titelheldin 1926 aktualisieren wird, mit Konsequenzen für die Aufführungspraxis von Grillparzers Dramentrilogie, s. Haider-Pregler (1991: bes. 294 f.). 42 Vgl. GF 240-251 u. Arg. 1104: „J A S O N : Ein herrlich Weib mit ihren dunkeln Augen! “ Milo ruft aus: [I]ch sorge, man erdrückt uns, / Die Seltenheit zu sehn! “ (Arg. 1651 f.) Medea soll in Korinth zur Schau gestellt werden wie etwa aus ihrer Heimat überführte Ureinwohner im Zweiten Entdeckungszeitalter; s. das Beispiel Aoturus im Reisebericht von Bougainville (1980: 210-214). 43 Vgl. Arg. 682-685, 775, 1079, 1390. 44 Winkler (2009: 20-68, hier: 20) hat die historische Semantik des Barbaren-Begriffs umfassend aufgearbeitet, der v. a. im griechischen Drama seine negative Konnotation gewinnt. So wird Medea erst bei Euripides von der Göttin zur ‚Barbarin‘ (s. ebd.: 26 f.). Zur Synonymie der Begriffe ‚Wilde‘, ‚Barbaren‘ und der Winckelmann’schen Rede von ‚entlegenen Völkern‘ um 1800 s. ebd.: 58-60. dessen Bewohner projiziert werden. Kreon, der König von Korinth, beschreibt Medea genealogisch als „Bild des dunkeln Landes, das sie zeugte“ (Med. 1308). Dafür, dass darin zugleich eine zeitgenössische rassistische Diskriminierung der Fürstentochter intendiert ist, da Kolchis mit dem ‚dunklen Kontinent‘ Afrika gleichzusetzen sei, wie Dagmar Lorenz vorschlägt 41 , gibt es dramenimmanent keine konkreten Hinweise. Genau genommen zeugt der Blick der Griechen auf Medea immer ebenfalls von jener grotesk anmutenden Kippfigur aus Bedrohung und Faszination, die insbesondere mit dem weiblichen Fremden assoziiert wurde. Phryxus und Jason stilisieren Medea etwa zum exotisierten Schönheitsobjekt; der Argonaut Milo erklärt sie zur raren Attraktion für die Sensationslust der zuhause wartenden Griechen. 42 Bei den griechischen Figuren lässt sich leitmotivisch und synonym zum Terminus ‚Wilder‘ überdies die Bezeichnung ‚Barbar‘ für die Kolcher nach‐ weisen. 43 In der Antike ursprünglich eine wertneutrale Bezeichnung für alle nichtgriechischen Völker in geographischer und sprachbezogener Bedeutungs‐ dimension - bárbaros als griechisches Onomatopoetikum für unverständliche Laute -, bekommt der Begriff spätestens ab dem 5. Jahrhundert im Zuge des Konflikts der Griechen mit den Persern eine zunehmend negative Bedeu‐ tung. Als „antithetisch-‚asymmetrische‘ […] Figur der Affirmation kultureller Überlegenheit“ 44 lässt sich mit Markus Winkler die Tradierung der Helenen-Bar‐ baren-Antithese über die Reiseberichte des Ersten Entdeckungszeitalters bis in die idealistische Geschichtsphilosophie der Aufklärung nachzeichnen. In diesem pejorativen Sinne, wie ihn Anfang des 19. Jahrhunderts das Deutsche Wörterbuch 154 Fabiola Valeri <?page no="155"?> 45 Vgl. Grimm, Jacob u. Wilhelm (2009). Art. Barbar. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. IV. Zweite Lieferung. Hrsg. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften u. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Stuttgart, Sp. 184-185. 46 Fink-Eitel (1994) spricht mit Bezug auf Montaignes Briefroman treffend von einer „projektive[n] Ethnologie der eigenen Kultur“ (ebd.: 118), die „eher an den kritischen Vergleichen mit der eigenen Kultur interessiert [ist] als an einer unparteiischen Darstellung der fremden“ (ebd.: 128). 47 S. GF 78-100; Arg. 17 f. oder Med. 215-220. Die Synonymie der Begriffe eruiert auch Charue-Ferrucci (1997: 135). 48 Vgl. GF 67-70. 49 Vgl. GF 71-75; Arg. 884 f. Kaufmann (2020: 24-39) weist diese Ambivalenz im euro‐ päischen Diskurs über den überseeischen Fremden um 1800 nach. Dessen Leben im Naturzustand wurde nicht nur als rückständig-primitiv stigmatisiert, sondern konnte zugleich als Sehnsuchtstraum einer vermeintlich ursprünglicheren und moralisch besseren Daseinsform imaginiert werden. Letzteres greift den Topos des ‚edlen Wilden‘ auf, den Rousseaus Discours sur l’inégalité (1754) unter Rekurs auf antike Vorstellungen des ‚goldenen Zeitalters‘ maßgeblich prägte und der sich in Bougainvilles Figur des Südseeinsulaners prototypisch verkörpert findet. Vgl. hierzu Fink-Eitel (1994); Kohl (1986) sowie Fludernik, Monika et al. (Hrsg.) (2002). Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg: Ergon. Damit ist der naturnah lebende ‚edle Wilde‘ dis‐ kursgeschichtlich „ein Phantasma des europäischen Denkens, das ein eigenes Wunsch- oder Idealbild auf die außereuropäischen ‚Fremden‘ überträgt“ (Kaufmann 2020: 29). In der Gebrüder Grimm kennt, verwenden ihn Grillparzers griechische Figuren als weiteres Synonym für ‚roh‘, ‚ungebildet‘, ‚grausam‘. 45 Vergleichbare Eigen- und Fremdbilder zeigen Grillparzers Kolcher. Diese sind folglich nicht mehr, wie noch etwa modellhaft Montaignes Perser in den Lettres persanes (1721) oder Diderots Tahitianer im Supplément au Voyage de Bougainville (1796), als Kontrastfolie entworfen, die den Europäern im Sinne einer Gesellschaftskritik einen Spiegel vorhalten. 46 Ganz im Gegenteil: Auch die kolchischen Figuren bedienen sich im Goldenen Vließ eines kulturellen Überlegenheitstopos, der analog auf dem essentialistischen Ausschluss jegliches Anderen fußt. So ist das kolchische Äquivalent der Herabsetzung die Bezeich‐ nung ‚Fremder‘ bzw. ‚Fremdling‘ für den griechischen Widerpart, welchen sie gleichsam als amoralisch und feige abwerten. 47 Die von den Griechen gepriesenen zivilisatorischen Errungenschaften werden vonseiten der Kolcher als verwerflicher Abfall von der Natur gewertet und in Metaphern der Enge, Unreinheit und intellektuellen Abstumpfung gegossen. 48 Höherwertig ist in einer kolchischen Figurenperspektive hingegen die eigene naturnahe, freie und unverdorbene Lebensweise in einer Umgebung der vegetativen Fülle und der Fertilität des Bodens, worin nunmehr die ‚positiven‘ Semantiken des Naturzustandsmodells um 1800 reproduziert werden. 49 Der Kolcherkönig Aietes 155 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="156"?> Grillparzers Stück hingegen sind es jedoch nicht die europäischen Griechen, sondern die überseeischen Kolcher, die sich derartige Attribute selbst zuschreiben. 50 Vgl. GF 113-120; Arg. 20-35. 51 Vgl. Schäffter (1991: bes. 19-22). und sein Sohn Absyrtus stützen die Überhöhung ihres Volkes neben dessen militärischer Stärke, Klugheit und magischer Begabung 50 bezeichnenderweise auf antithetische, der Klimatheorie entlehnte Argumentationsmuster. Diese funktionalisieren sie programmatisch gegen die einfallenden Griechen und ihr ‚dunkles Land‘ um. Kolchis wird hingegen als nunmehr heller Naturraum zum neuen vorbildhaften ‚Abendland‘ der untergehenden Sonne erhoben: Laß sie nur kommen, wir wollen sie jagen Eilends heim in ihr dunkles Land, Wo keine Wälder sind und keine Berge, Wo kein Mond strahlt, keine Sonne leuchtet Die täglich, hat sie sich müde gewandelt, Zur Ruhe geht in unserem Meer. (Arg. 24-29) Legt man abschließend die von Ortfried Schäffter systematisierten Modi des Fremderlebens 51 an die Dramen an, wird umso evidenter, dass griechische und kolchische Figuren alles Fremde nicht als komplementär oder als Vervollkomm‐ nungsmöglichkeit begreifen und diesem mit Offenheit begegnen. Das Andere ist lediglich klar abzugrenzendes, gefährliches Gegenbild zum ethnozentrisch überhöhten und essentialistisch verstandenen Eigenen, wie dies Aietes in Bezug auf den ankommenden Griechen Phryxus paradigmatisch formuliert: „‚S sind Fremde, sind Feinde, / Kommen zu verwüsten unser Land.“ ( GF 101-103). Diesen stigmatisierenden Blick der Figuren auf den jeweils kulturellen Anderen markiert Grillparzers Dramentrilogie als ideologisches Substrat dafür, dass auf der Handlungsebene der wiederholte Kulturkontakt zwischen Griechen und Kolchern - gleich einer selbsterfüllenden Prophezeiung - von kriegerischen Codes geprägt ist. Das erste Aufeinandertreffen von Grillparzers Griechen mit den Kolchern weist dabei weitere Analogien zum diskursiven Kontext des Stücks auf, und zwar mit Blick auf den first contact zwischen den Konquis‐ tadoren der Entdeckungszeitalter und den überseeischen Indigenen. Dieser zeugte von einer kolonialistischen Verhaltensmatrix, in der ein ethnozentrisch begründeter, kultureller Vormachtanspruch mit dem offensiven Drang nach militärischer Eroberung zusammengedacht wird. Entsprechend kampfesbereit 156 Fabiola Valeri <?page no="157"?> 52 Für diese Definition des Kolonialismus s. Waldenfels (2016: 149-161). Jene Politik der Stärke westlicher Kolonisatoren, die auf die „rücksichtlose Betonung der machtpoliti‐ schen und geistigen Superiorität“ setzt, stellt Bitterli (1991: 85) heraus. Grillparzers Griechen wird zwar in der Forschung durchaus eine kolonialistische Haltung attestiert, meist jedoch ohne dies genauer auszuführen: s. etwa Werner, Hans-Georg (1993). Verteufelt human. Über den Zusammenhang zwischen Goethes „Iphigenie“ und Grill‐ parzers „Goldenem Vließ“. In: Ders. Literarische Strategien. Studien zur deutschen Literatur 1760 bis 1840. Stuttgart: J. B. Metzler, 229-242, hier: 237-239. 53 Bub (2004: 13); ähnlich Winkler (2009: 185), der die Symbolik jedoch etwas zu weit treibt, indem er die Geste als Koloniegründung ausdeutet. 54 Vgl. Columbus, Christoph (1981). Schiffstagebuch. Übers. v. Erb, Roland. Frankfurt am Main: Röderberg-Verlag, 22 f. 55 Vgl. GF 235-268. Phryxus eine rein „friedliche[ ] Absicht“ (Rogowski 2006: 38) zuzu‐ schreiben und ihn zum unschuldigen Opfer einer kolchischen Bestialität zu stilisieren, wird somit der komplexen Machart der Dramentrilogie nicht gerecht. 56 Perittas Ausschluss durch Medea in Kolchis nimmt Medeas Ausgrenzung in Korinth vorweg; die Tötung des Jagdwilds zu Beginn präfiguriert die finalen Morde. Zudem wiederholen sich Ankunfts- und Ausschlussszenen in Kolchis und Korinth. und einschüchternd traten die Seefahrer gemäß den zeitgenössischen Reisebe‐ richten indigenen Völkern entgegen. 52 Im Goldenen Vließ ist die Ankunft der Griechen auf der Insel Kolchis laut Regieanweisung ebenso atmosphärisch mit „kriegerische[r] Musik“ ( GF 153 u. 200) zu untermalen, wobei das Waffenarsenal das bedrohliche Tableau kom‐ plettiert. Obwohl ihr Anführer Phryxus sich als gottesehrerbietiger Fremder und Gastfreund sprachlich inszeniert, ist seine allererste Handlung doch unver‐ kennbar eine für koloniale Kontexte symptomatische: Er pfropft das an einer Lanze befestigte Vließ vor dem Altar des Gottes Peronto auf, was Tillmann Bub schlüssig als „symbolischen Akt der Landnahme“ 53 deutet. Die Parallelen zum Zeremoniell der Inbesitznahme künftiger Überseekolonien mittels eines königlichen Banners im Ersten Entdeckungszeitalter, bspw. im Schiffstagebuch des Christoph Kolumbus nachzulesen, 54 sind in der Tat frappant: angefangen bei der fahnenartigen Konstruktion über die Bezeichnung ‚Panier‘ bis hin zu dem gewaltsamen Versenken desselben mittels der Semantik des starken Verbs ‚stoßen‘. 55 Dank des Kompositionsprinzips von Grillparzers Stück, das wesentlich auf Präfigurationen und der Wiederholung analoger Situationen fußt 56 , werden weitere Sollbruchstellen zwischen Phryxus’ Selbstdarstellung und seiner tat‐ sächlichen kolonialistischen Attitude offenbar. So findet sich im dritten Teil der Dramentrilogie eine analoge Szene, in der Jason als Fremder um Schutz und Aufnahme in Korinth bittet; seine Kinder halten entsprechend den Ritualen des Gastrechts grüne Bittzweige in Händen. Jasons Gestus des demütigen Bittens erscheint insofern authentisch, als seine Rhetorik durch Unterwerfungsgesten 157 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="158"?> 57 Vgl. Med. 141-151, 276-340. Vertragscharakter und Rituale der Gastfreundschaft in der Antike erörtert Tang, Chenxi (2012). Die Tragödie der Zivilisation. Völkerrecht und Äs‐ thetik des Tragischen im 19. Jahrhundert. In: Frank, Gustav / Podewski, Madleen (Hrsg.) Wissenskulturen des Vormärz. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 87-136, hier: 115-120. 58 Vgl. GF 200-205. 59 Vgl. GF 253-259 u. Phryxus: „Jetzt tret’ ich leicht erst in dein gastlich Haus! “ (GF 240; Hervorh. F. V.) in der Gegenüberstellung mit den Worten des Boten über Jason: „Es harre Jemand außen, / Ihm wohlbekannt und gastbefreundet zwar, / Doch der nicht eher trete bei ihm ein, […] / Bis er ihm Fried’ gelobt und Sicherheit.“ (Med. 142-146; Hervorh. F. V.) 60 Vgl. Bitterli (1991: 81-85). 61 S. GF 155-161, 200-205, 419-430. beglaubigt wird und er eingangs einen Boten aussandte, um die Erlaubnis zu erhalten, in die Stadt des Königssitzes einzutreten. 57 Bei Phryxus’ Anlanden in Kolchis führen hingegen keine Kinder als Inkarnationen der Unschuld die Bittzweige mit sich, sondern kampfbereite Krieger. 58 Neben der indizierten Be‐ waffnung wird sein vermeintlich demütiges Bitten um Aufnahme von einem im‐ perativischen Kommunikationsmodus unterwandert. Sein regelrechter Befehl an Aietes: „Nimm auf mich und die Meinen in dein Land, / Wo nicht so fass’ ich selber Sitz und Stätte“ ( GF 330 f.) gewinnt drohende Konnotation. Sinnfällig wird Phryxus’ Eroberungsgestus in der paradoxen Verbalphrase des ‚Schutz Verlangens‘ und einem nunmehr unaufgeforderten, aktiven Eintreten in die Hütte von Aietes. 59 In Grillparzers Kulturkontaktszenario sind die Kolcher jedoch keine neu‐ gierig-freigiebigen Indigenen 60 und wehrlosen Opfer westlicher Kolonisatoren - hier enden somit unverkennbar die Parallelen zur Kolonialgeschichte. Vielmehr partizipieren sie am Teufelskreis von kulturellem Dominanzstreben und Gewalt: Der erste Appell des Kolcherkönigs Aietes nach Erhalt der Nachricht über die ankommenden Griechen ist entsprechend ein Ruf zu den Waffen. In der Folge eskaliert die Situation zunehmend, indem Aietes die Griechen um deren Schätze willen zu betäuben sucht und schließlich die Szene in einer Isotopie aus Gewalt und Kampf versinkt, dabei ihren Kulminationspunkt in der Tötung des Griechen Phryxus findet. 61 Jason, der zweite in der contact zone Kolchis ankommende Grieche, knüpft an diese kriegerischen Codes der Entdecker und Eroberer an, deren Credo eingangs von seinen Argonauten formuliert wird: Durchsegelt ist ein unbekanntes Meer, Das zürnend Untergang dem ersten Schiffer drohte, Zu neuen Völkern und zu neuen Ländern Tat sich der Weg […] (Arg. 692-695). 158 Fabiola Valeri <?page no="159"?> 62 Vgl. Arg. 427-450 u. Med. 427-457. Er ist ferner bereits beim ersten Betreten der Insel mental „[a]uf Kampf und Streit gestellt“ (Arg. 1188). Die militärischen Scharmützel mit den Kolchern im Streit um die Rückgewinnung des goldenen Vließes ziehen näherhin eine metaphorische Verselbständigung der Gewalt nach sich, insbesondere da Jason sich anschickt, die kolchische Fürstentochter für sich zu gewinnen. Kampf wird so zum existentiellen modus vivendi: „Legt’ ich den Frieden ab und atme Krieg“ (Arg. 1298). Als Medea nach erfolgreicher Brautwerbung ihrem Geliebten Jason, modern gesprochen, als Migrantin ins griechische Korinth folgt, tut sich eine zweite contact zone auf, die ersterer - wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen - an Gewalt in nichts nachsteht. Nun ist Medea die ausgegrenzte Fremde, deren marginale Stellung sich bereits bei ihrer Ankunft raumsemantisch abzeichnet, spielt diese doch signifikanterweise „[v]or den Mauern von Korinth“ (Med. 1), wo sie in einem Zelt eine nomadenhafte Existenz fristet. Die Gewalt des Kulturkontakts wird lediglich formvollendeter camoufliert, indem der erhöht stehende Griechenkönig Kreon sein Entsetzen über Jasons Ehe mit der ‚Bar‐ barin‘ in rhetorische Fragen und Ausrufe überführt. Die kulturellen Ausgren‐ zungsmechanismen sind psychischer Faktur. Sie gründen sich nunmehr nicht auf handgreifliche Gewalt, sondern auf rhetorische Verachtung und soziale Deklassierung, wie Medea in Superlativen rhetorisch vor Augen führt: „Und eine scheue Wilde bin ich ihnen, / Die Unterste, die Letzte aller Menschen, / Die ich die Erste war in meiner Heimat.“ (Med. 403-405) Um ihren Status als Fremde abzulegen, bleibt Medea nur der verzweifelte Versuch einer Assimilierung an die griechische ‚Kulturnation‘, ihre Sitten und Gebräuche. Jason, der in Korinth seine Liebe zur Kolcherin Medea eiligst als situationsbedingte Verblendung 62 relativiert, referiert gleich zu Beginn jenes vorgestellte dichotomische Programm von ‚eigen‘ und ‚fremd‘, Zivilisation und Bestialität, als Antithese: „In Kolchis sind wir nicht, in Griechenland, / Nicht unter Ungeheuern, unter Menschen! “ (Med. 182 f.) Diese von Medea als Notwendigkeit akzeptierte Hellenisierung findet ihren Niederschlag in ihrem Kleidungs- und Sprachstil sowie ihrem Verhalten: Auf Drängen ihres Gatten legt sie ihren Schleier ab und ist alsdann „griechisch gekleidet“ (Med. 584), spricht wie die griechischen Würdenträger in formvollen‐ deten Blankversen und begräbt ihre mit dem Stigma des Dämonischen belegten Zauberutensilien. Ihre Amme Gora, die pars pro toto das kulturelle Erbe von Kolchis verkörpert, ist sie ebenso bereit von sich zu stoßen wie ihre alten 159 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="160"?> 63 Vgl. Med. 1-14, 179-199. Heike Bartel fragt nach der Rolle von Kleidung als soziokultu‐ rellem Marker in Medeas Transformationsprozess, s. Dies. (2010). Dressing the ‚Other‘, Dressing the ‚Self ‘: Clothing in the Medea Dramas of Euripides and Franz Grillparzer. In: Dies. / Simon, Anne (Hrsg.) Unbinding Medea. Interdisciplinary Approaches to a Classical Myth from Antiquity to the 21 st Century. London: Legenda, 161-175. 64 Die Forschung charakterisiert Kreusa dahingehend als Kontrastfigur, die im Gegen‐ satz zur Kolcherin Medea das biedermeierliche Frauenbild verkörpere, s. ausführlich Scheichl, Sigurd Paul (2016). Kreusa: Darstellung und Funktion der Figur. In: Lacheny, Marc et al. (Hrsg.), 105-122. 65 Vgl. Med. 899-924, 1125-1130. Ähnlich argumentiert Detken (2018: 131 f.). 66 Gutjahr, Ortrud (1997). Iphigenie - Penthesilea - Medea. Zur Klassizität weiblicher Mythen bei Goethe, Kleist und Grillparzer. In: Henn, Marianne / Hufeisen, Britta (Hrsg.) Frauen: MitSprechen, MitSchreiben. Beiträge zur literatur- und sprachwissenschaftli‐ chen Frauenforschung. Stuttgart: Heinz, 223-243, hier: 231. Überzeugungen. 63 Indikator für das Ausmaß dieser Assimilation ist nicht zuletzt Medeas Bemühen, das Harfenspiel zu erlernen, das hier metonymisch für das griechische häuslich-musische Weiblichkeitsideal 64 einsteht: Die Stärke, die mein Stolz von Jugend war, Sie hat im Kampfe sich als schwach bewiesen: O lehre mich, was stark die Schwäche macht. Sie setzt sich auf den Schemmel zu Kreusas Füßen. Zu deinen Füßen will ich her mich flüchten Und will dir klagen, was sie mir getan; Will lernen, was ich lassen soll und tun. Wie eine Magd will ich dir dienend folgen (Med. 685-691). Die adlige Medea zeigt sich gegenüber der griechischen Königstochter Kreusa zum völligen Statusverzicht bereit, welcher sich von einem Schüler-Lehrer-Ver‐ hältnis zu einer in Feudalkategorien eingefassten gestischen Unterwerfung potenziert. Letztlich schlägt aber auch diese Hyperassimilation Medeas fehl - eine gewaltsame Erkenntnis, die sich im Zerbrechen der Harfe als Emblem der griechischen Kultur und im Zerreißen ihrer griechischen Kleidung symbol‐ trächtig entlädt. 65 Die kritische Dimension der Trilogie Die Forschung hat es häufig bei der Beschreibung dieser sich gegenseitig ausschließenden kulturellen Denk- und Handlungsmuster der griechischen und kolchischen Figuren bewenden lassen und die Trilogie als unausweich‐ liche „Tragödie der Interkulturalität“ 66 letztlich resignativ gelesen: als Aufweis 160 Fabiola Valeri <?page no="161"?> 67 Vgl. Neumann (1997: 275); Fülleborn, Ulrich (1976). Zu Grillparzers ‚Goldenem Vließ‘. Der Sinn der Raum- und Zeitgestaltung. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 12: 3, 39-59, hier: 48 f. Werner (1993) attestiert dem Stück, „nicht mehr de[n] Ansporn zu humanem Handeln“ (ebd.: 240) in sich zu tragen. 68 Dies formuliert Winkler (2009: 222 f.) pointiert: „Medea sucht sich […] ihre eigene kulturelle Fremdheit auszutreiben, wird dann aber von den Griechen wieder zur Repräsentantin des kulturell Fremden, das es auszutreiben gilt, gemacht.“ 69 Wimmer, Katja (2000). Médée à Delphes. La fin de la trilogie La Toison d’or de Franz Grillparzer. Cahiers d’Études germaniques 39: 2, 119-127, hier: 120; ähnlich kulturkritisch die Deutung von Münster, Reinhold (2005). El drama de Franz Grillparzer Das goldene Vließ (El vellocino de oro). El mito en el mundo moderno. In: De Martino, Francesco / Morenilla, Carmen (Hrsg.) Entre la creación y la recreación. La recepción del teatro greco-latino en la tradición occidental. Bari, 431-456, hier: 441 f. Differenzierter ist die Analyse Bubs (2004: 20-22). einer generalisierbaren Unüberwindbarkeit kultureller Differenzen. 67 Dabei ist Medeas Eingliederung in die griechische Gesellschaft doch einzig und allein deshalb a priori zum Scheitern verurteilt, weil die in den Figurenperspektiven virulente Vorstellung von Kulturen als einander abstoßende Entitäten jegliche Form der kulturellen Transgressivität per se negiert. 68 Dieser Befund bietet einen ersten Zugang zum bisher unzureichend beachteten kritischen Potential des Stücks: Die in der Figurenperspektive nachgewiesenen Dichotomien von ‚eigen‘ und ‚fremd‘, Kultur- und Naturvolk, Zivilisation und Barbarei, Menschen und Wilde als Aufnahme von Alteritätsdiskursen um 1800 werden vom Dra‐ matiker nämlich nicht nur in ihren fatalen Funktionsmechanismen auf der Handlungsebene vorgeführt, sondern auch in der Anlage des Stücks zunehmend unterlaufen bzw. dekonstruiert. Auf diese Weise lanciert Grillparzers Trilogie mittels genuin dramatischer Mittel eine alles andere als resignative Kritik an erstens einer ethnozentrischen Absolutsetzung der eigenen Kultur und zweitens an essentialistischen Überzeugungen trennscharf abgrenzbarer Kulturen. Neben dieser Demontage fehlgeleiteter kultureller Zuschreibungsmuster werden drit‐ tens Machtstrukturen der mit ihnen verbundenen Praktiken offengelegt und problematisiert. Dabei gilt es zu betonen, dass griechische und kolchische dramatis personae gleichermaßen schuldig werden, das Goldene Vließ somit über eine rein kulturpessimistische „critique de l’évolution et du progrès“ 69 hinausreicht, die die Kolcher in ihrem Selbstverständnis als Naturvolk entlasten, gar idealisieren würde. Zunächst wird der ethnozentrische Blick der Figuren auf den jeweiligen kulturell Anderen strukturell als genau das ausgewiesen, als was ihn die eingangs zitierte Fremdheitsforschung theoretisch gefasst hat: als hochgradig arbiträr, konstruiert und subjektiv eingefärbt. Ein Verfahren ist dabei jenes der einander widersprechenden figuralen (Eigen-)Kommentare, die die Paradoxien 161 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="162"?> 70 Vgl. Arg. 689; Med. 498. Ich komme hier mit der Deutung von Wimmer (2000: 124 f.) überein, wohingegen Charue-Ferrucci (1997: 134) u. Dunham (1960: 79 f.) die Hell-Dunkel-Dialektik als faktisch gegeben und nicht als figurale Konstruktion ein‐ ordnen. 71 Vgl. Med. 384 f.: „O Kolchis! o du meiner Väter Land! / Sie nennen dunkel dich, mir scheinst du hell! “ 72 Man stelle z. B. den Beginn von GF u. Arg. nebeneinander. 73 Vgl. GF 97-153; Arg. 1-228. 74 Der vergleichende Blick auf Grillparzers und Goethes Drama erfreut sich daher einiger Beliebtheit, vgl. z. B. Werner (1993). Grillparzers Medea wird in der Forschung zwar mitunter treffend als „Anti-Iphigenie“ (Politzer 1972: 141) charakterisiert und die völlig neuartige Bearbeitung antiker Stoffe betont, ohne dies jedoch im Detail aufzuzeigen; erste Hinweise bei Lanz, Friederike Raphaela (2009). „Weil eine Fremd’ ich bin, aus fernem Land …“ - Fremdheit und Fremde im dramatischen Werk Franz Grillparzers und Friedrich Hebbels. Univ. Dissertation. Mainz, 112 f. von kulturellen Zuschreibungen offenbaren. Dies lässt sich insbesondere an‐ hand der von griechischen und kolchischen Akteuren gleichermaßen bemühten klimatheoretischen Begründungszusammenhänge verdeutlichen, welche im Sinne einer Hell-Dunkel-Dichotomie die Strahlkraft der jeweils eigenen Kultur sichtbar machen sollen. 70 Indem die Medea-Figur die Heimat erst angesichts ihrer Ausgrenzungserfahrung in Korinth in warmen Farben malt 71 , werden derartige Argumentationsmuster nicht nur als subjekt-, sondern ebenfalls als situationsbezogene Projektionen entlarvt. Des Weiteren wird die Figurenper‐ spektive durch die Regieanweisung relativiert, die hier jegliches Wertegefälle ausräumt, sind doch in Griechenland und Kolchis gleichermaßen viele Nacht‐ szenen verortet. 72 Ferner zeigt Grillparzers Trilogie kritisch, dass weder Griechen noch Kolcher ihrem Anspruch auf physische Überlegenheit gerecht werden. Der Kolcher‐ könig bedarf etwa im weiteren Handlungsverlauf wiederholt der Hilfe seiner magisch begabten Tochter gegen die anlandenden Griechen. 73 Noch radikaler gestaltet sich die Dekonstruktion des griechischen Heroentums qua relativie‐ rendem Nebentext und gewandelter figuraler Selbsteinschätzung. Damit einher geht folglich ein abweichender Umgang des Stücks mit den zeitgenössischen Winckelmann’schen Griechenlanddiskursen, wie sie affirmativ für Goethes Iphigenie noch charakteristisch sind. Grillparzer hingegen ließ seine Figuren Winckelmann’sche Thesen nur reproduzieren, um sie als Dramatiker nun als Segment einer problematischen ethnozentrischen Diskurslandschaft um 1800 radikal zu dekonstruieren. 74 So wird etwa der Heldenmut Jasons, der gemäß Grillparzers Vorarbeiten geradezu als Inbegriff des idealschönen griechischen 162 Fabiola Valeri <?page no="163"?> 75 S. Arg. 340-365 u. Grillparzer, Franz (1931). Apparat zur Ahnfrau, zur Sappho und zum Goldenen Vließ. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Abt. 1. Bd. XVII. Hrsg. August Sauer. Fortgeführt v. Reinhold Backmann. Wien: Anton Schroll & Co., 284: „Jason ein glänzender Held. […] Erinnere dich immer der griechischen Heroenstatuen und denk’ dir ihn nackt blos den Helm auf dem Kopfe und das Schwert in der Hand.“ 76 Zanucchi, Mario (2017). Alterität und Heroismus in Franz Grillparzers Trilogie Das Goldene Vließ und in Euripides’ Medeia. In: Aurnhammer, Achim / Korte, Barbara (Hrsg.) Fremde Helden auf europäischen Bühnen (1600-1900). Würzburg: Ergon, 233-249. 77 Vgl. Arg. 1475-1600; Med. 790-816, 2285-2305. 78 Vgl. GF 96-380. Eine Gastfreundschaft kommt ebenfalls nicht zwischen Aietes und Jason zustande. Letzterer gewinnt das Vließ zurück, wobei in den Verwicklungen Medeas Vater und Bruder zu Tode kommen. In Korinth bricht wiederum Kreon an Medea das Gastrecht; sie wird nach dem Wiedererhalt des Vließes zur Mörderin. Schließlich verwehrt der griechische Landmann Jason Aufnahme. 79 Vgl. Arg. 1728-1773; Med. 936-1103, 1509 f. Helden im Sinne Winckelmanns die Bühne betreten solle 75 , zunehmend einer Demontage unterworfen. Wie Mario Zanucchi in seiner Studie überzeugend gezeigt hat 76 , betont die Regieanweisung, dass er im Kampf mit dem kolchischen Wächterdrachen „schreckhaft“ (Arg. 1659) und „ängstlich“ (Arg. 1581) agiert und der Hilfe Medeas bedarf, um an das Vließ zu gelangen. In Korinth ist es um seinen Heldenruhm letztlich ganz geschehen: Jason selbst stellt retrospektiv den einstigen gefeierten Auszug mit den Argonauten seiner von Ablehnung begleiteten Rückkehr kontrastiv gegenüber. Seine antiheroische Demaskierung kulminiert in der Zurückweisung durch einen einfachen Landmann, der den vertriebenen Jason am Ende des Dramas gebrochen und niedergesunken auf der Bühne zurücklässt. 77 Einem moralischen Humanitätsideal entsprechen zudem weder die griechi‐ schen noch die kolchischen Figuren, wie ein Blick auf die Plotstruktur der Trilogie und die indirekte Charakterisierung der Figuren durch ihre Handlungen verdeutlicht. So lässt sich die Dramentrilogie im Ringen um das Vließ als Tragödie der wiederholt gescheiterten Gastfreundschaft lesen, angefangen bei Phryxus’ Eindringen in Kolchis und Aietes’ Ermordung desselben aus materieller Gier nach dem Vließ. In der Folge zeigt jeder erneute Besitzwechsel des Vließes einen weiteren Frevel und Bruch des Gastrechts an. 78 Umgekehrt motivieren niedere Beweggründe die griechischen Akteure zur Verbannung Medeas. In Grillparzers Mythosadaption wird die Kolcherin gerade nicht direkt schuldig am Tod ihres Vaters oder Bruders; ebenso lassen sich angesichts konkurrierender figuraler Schilderungen des Tathergangs berechtigte Zweifel an der ihr unterstellten Schuld am Tod von Jasons Onkel anmelden. 79 Vielmehr verleiten dynastisch-genealogische Ambitionen Kreon und Jason dazu, die 163 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="164"?> 80 So wird eine Hochzeit Jasons mit der Königstochter Kreusa möglich, die dessen Status wiederherstellt und Kreon einen Erben schenken soll (vgl. Med. 1523-1537). Daneben ist Furcht das leitende Motiv für die Ausgrenzung der Kolcherin, konstatiert doch Kreon paradigmatisch: „Die Künste, die sie weiß, sie schrecken mich“ (Med. 555). 81 Die Griechen drücken sich meist in rhetorisch komplexen Blankversen aus, wohingegen in Kolchis in der Regel freirhythmisch in kurzen Ausrufen bis hin zu Ellipsen des finiten Verbes kommuniziert wird, s. etwa GF 96-100. Diesen stilistischen Besonderheiten geht Dirk Weissmann nach: Ders. (2016). „Gleichsam als verschiedene Sprachen …“ Identité culturelle et différence des idiomes dans La Toison d’or. In: Lacheny, Marc et al. (Hrsg.), 181-204. 82 Deutungen, die Grillparzers Griechen als „überlegen […], sowohl in technologischer als auch in moralischer Hinsicht“ (Rogowski 2006: 42) lesen und so Bruchsignale des Dramas verkennen, sei hier widersprochen; dahingehend ebenfalls problematisch: Bandet, Jean-Louis (1992). Mythologie et Ehedrama dans Das goldene Vließ. Études germaniques 47: 2, 191-200, hier: 197. Kaum überzeugen kann auch Rudolf Stiefels Simplifizierung von ‚Trieb‘ alias Kolchis vs. ‚Vernunft‘ alias Griechenland, vgl. Ders. (1959). Grillparzers „Goldenes Vließ“. Ein dichterisches Bekenntnis. Bern: Francke, 23. 83 Welsch überarbeitete und ergänzte sein erstmals 1992 publiziertes Transkulturalitäts‐ konzept mehrfach, zuletzt erschien: Welsch, Wolfgang (2020). Transkulturalität: Rea‐ vorschnelle Verurteilung Medeas wegen Mordes durch die Amphiktyonen als günstige Gelegenheit zu instrumentalisieren, um sie als Verkörperung eines beunruhigenden, magisch begabten Anderen aus Korinth zu verbannen. 80 Arglistige Willkür, rohes Machtstreben und wilde Brutalität, die Grillparzers Griechen als Kennformel des Barbarischen begreifen und die Kolcher wiederum den angeblich zivilisationskorrumpierten Griechen zuschreiben, sind somit in beiden Völkern gleichermaßen problematisch beheimatet. Vorhandene kulturelle Differenzen, bspw. hinsichtlich Kommunikationsma‐ ximen 81 , Kleidungsweise oder magischem Wissen, sollten nicht, wie der Drama‐ tiker ebengerade Winckelmann ankreidet, in Kriterien der Wertung überführt werden. 82 Im Goldenen Vließ sind sie unverkennbar als gleichwertiges Nebenein‐ ander inszeniert - eine Deutungsleitlinie des Stücks, welcher der als Korrektiv fungierenden Medea-Figur in den Mund gelegt wird: Auf Tränke, Heil bereitend oder Tod Versteh’ ich mich und weiß noch manches andre, Allein ein Ungeheuer bin ich nicht (Med. 335-337). Blickt man auf Personal, Figurenkonstellation und Setting der Trilogie als Abbild der jeweiligen Gesellschaft, so wird schnell ersichtlich, dass beide Völker keinesfalls homogene, klar abgrenzbare Einzelkulturen repräsentieren. Sowohl die griechische als auch die kolchische Gemeinschaft spiegelt längst das wider, was prominent der Philosoph Wolfgang Welsch unter dem Begriff der Transkulturalität 83 analytisch fasst. Analog zum eingangs vorgestellten 164 Fabiola Valeri <?page no="165"?> lität und Aufgabe. In: Giessen, Hans W. / Rink, Christian (Hrsg.) Migration, Diversität und kulturelle Identitäten. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Stuttgart: J. B. Metzler, 3-18. Sein Konzept wurde disziplinübergreifend rezipiert. Kritik erfuhr es v. a. in Bezug auf die Ausblendung von Machtfragen und hinsichtlich seines gegebene (soziale und ökonomische) Differenzen einebnenden Kulturbegriffs, der letztlich doch immer traditionelle Vorstellungen abgrenzbarer Kulturen mittransportiere. Das von Welsch für überwunden erklärte Kugelmodell der Nationalkulturen beruhe zudem auf einer verkürzten Herder-Lektüre. Vgl. hierzu Blumentrath, Hendrik et al. (2007). Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film. Münster: Aschendorff Verlag, bes. 15-18. 84 Während Welsch (2020) sein Transkulturalitätskonzept stark von Multi- und Inter‐ kulturalität abgrenzt, die seiner Ansicht nach „noch immer am alten Kugelmodell fest[halten]“ (ebd.: 12), hat die Forschung hinsichtlich des hybriden Kulturbegriffs große Schnittmengen aufgezeigt. Vgl. Bonner, Withold (2020). „Wir passten in keine Schablone …“: Zur Transkulturalität interkultureller Literaturwissenschaft und umge‐ kehrt. In: Giessen, Hans W. / Rink, Christian (Hrsg.) Migration, Diversität und kulturelle Identitäten. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Stuttgart: J. B. Metzler, 19-33. S. auch das vergleichbare Theoriedesign der jeweiligen Einführungen Blumen‐ trath et al. (2007); Hofmann / Patrut (2015). Welsch (2020) selbst gesteht zu, dass der Unterschied zwischen Trans- und Interkulturalität in der neusten terminologischen Prägung „allenfalls noch ein gradueller, kein essenzieller mehr“ (ebd.: 13) sei. 85 Welsch (2020: 7). 86 Vgl. Welsch (2020: 14 f.). hybriden interkulturellen Kulturbegriff 84 verwirft Welsch ein essentialistisches Verständnis von Einzelkulturen als einander abstoßende Kugeln. Vielmehr seien Völker sowohl auf der gesellschaftlichen Makroebene als auch auf der individuellen Mikroebene durch „neuartige[ ] Durchdringungen und Verflech‐ tungen der Kulturen“ 85 miteinander verbunden, somit zunehmend hybrid und sowohl vertikal als horizontal binnendifferenziert. Transkulturalität ist für Welsch dabei durchaus ein historisch gewachsenes Phänomen, wenngleich die transkulturellen Vernetzungen in modernen, globalen Gesellschaften ein bisher ungekanntes Ausmaß erreicht haben. 86 In Grillparzers Goldenem Vließ zeigt bereits ein Vergleich der Personen‐ verzeichnisse der Dramenteile, dass Griechen und Kolcher eine Vielzahl an transkulturellen Gemeinsamkeiten aufweisen. Entgegen der von den Figuren aufgerufenen Dichotomien ruht sowohl das griechische als auch das kolchische Gemeinwesen auf einer Gesellschaftsordnung. Beide Völker sind makrostruk‐ turell als Monarchie angelegt, die sich um ein Herrschergeschlecht aus Vater und Tochter konstituiert: Aietes und Medea auf der einen, Kreon und Kreusa auf der anderen Seite. Die topische personale Gleichsetzung von Vater und König bezeugt mithin die patriarchalische Geschlechterordnung beider Gesell‐ schaften: Medeas Beziehung zu ihrem Vater Aietes ist dabei klar als Macht- und Abhängigkeitsverhältnis ausgestaltet, wie nicht zuletzt Aietes’ imperativi‐ 165 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="166"?> 87 Vgl. GF 1-269; Arg. 68-228; Med. 276-384. 88 Da der erste und der zweite Teil der Trilogie in Kolchis zusammengenommen einen Fünfakter ergeben, ebenso wie der dritte, in Griechenland spielende Trilogieteil, wird in der Forschung zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei der Trilogie in der formalen Anlage vielmehr um ein Doppeldrama handelt (Zanucchi 2017: 234 f.). 89 Vgl. Detken (2018: bes. 134-139). 90 Vgl. GF 201-333; Med. 1861-1872, 2354-2359. 91 Vgl. GF 371-403. sche Kommunikationsweise um die finiten Verben ‚wollen‘, ‚entscheiden‘ und ‚sollen‘ ersichtlich werden lässt. „Ich will’s, du sollst! “ ( GF 96), so die Kurzformel von Aietes’ Erziehung. Obschon Kreusas Verhältnis zu ihrem Vater ungleich harmonischer wirkt, ist sie dennoch Kreons Entscheidungsautorität zubzw. untergeordnet, erscheint bei ihrem ersten Auftritt in dessen Gefolge und muss als ‚beschützenswertes Kind‘ die königliche Erlaubnis für ihre Handlungen erbeten. 87 Diese parallele Konzeption der Trilogie verstärkt sich, stellt man in Rechnung, dass jeweils fünf Akte in Kolchis und Griechenland spielen, was nicht zuletzt die Vergleichbarkeit und Gleichwertigkeit beider Kulturen vor Augen führt. 88 Gemein ist Grillpar‐ zers Griechen und Kolchern in Form des Gastrechts zudem ein Werte- und Verhaltenskodex, der prinzipiell in beiden Kulturen bindende Geltung besitzt, wenngleich deren Vertreter sich wiederholt entschließen, diesen zu missachten. Wie Detken in ihrer Studie nachweist 89 , sind Kolcher und Griechen des Wei‐ teren über ihre Götterwelten verbunden, die sich in den Vorstellungsgehalten ähneln und zur Überblendung und Verkehrung einladen. So erkennt der Grieche Phryxus in der kolchischen Statue „eines nackten, bärtigen Mannes“ ( GF 1) ebenjenen Gott, der Herakles gleicht und der ihn in seinem Traum im griechi‐ schen Delphi-Tempel nach Kolchis mit dem Vließ aussandte. Der Kolcherkönig Aietes hingegen verehrt dieselbe Statue als Darstellung seines Gottes Peronto. Analoge Mehrdeutigkeiten generiert Medeas Gang zum Orakel nach Delphi, das der Stofftradition gemäß dem griechischen Gott Apollo geweiht ist. Medea spricht hingegen gleichsam vom Sitz des „dunkeln Gott[es]“ (Med. 2356), den sie zuvor mit ihrer Heimat Kolchis assoziierte. 90 Ferner ist das Vließ Artefakt beider Götterwelten und in dieser Funktion zugleich Teil der Gründungserzählung der Kolcher als ihr heiligstes Kulturgut 91 sowie jener der Griechen, wie Jason ausführt: Das Köstlichste von Phryxus’ Gütern aber Es war ein köstliches, geheimnisvolles Vließ, Das er entkleidete in Delphis hoher Stadt Das Bildnis eines unbekannten Gottes 166 Fabiola Valeri <?page no="167"?> 92 Vgl. Stiefel (1959: 90). 93 Winckelmann (2002: 8; Hervorh. F. V.). 94 Das antike Amazonenbild erfährt nicht zuletzt in beiden Entdeckungszeitaltern in Form der südamerikanischen Kriegerinnen eine Aktualisierung, bleibt jedoch ambivalent: Ob ihres männlichen Kampfesmutes bewundert, sagte man den Amazonen gleichsam nach, sie würden ihren männlichen Nachwuchs töten, vgl. Wagner-Hasel, Beate (2002). Amazonen zwischen Barbaren- und Heroentum. Zur Bedeutung eines politischen Mythos in der Antike. In: Fludernik, Monika et al. (Hrsg.), 251-280. 95 Grillparzers Medea-Adaption teilt mit Kleists Penthesilea (1808) nicht nur das Ama‐ zonen-Motiv, sondern auch die Kritik an der Bearbeitung griechischer Stoffe im Sinne des Winckelmann’schen Klassizismus. Diesen mitunter poetologisch höchst interessanten Bezügen scheint bisher noch nicht systematisch nachgegangen worden zu sein. Becker (2008: 138-146) vergleicht beide Dramen unter den thematischen Aspekten aufklärerischer Autonomie und Humanität. Das dort seit grauen Jahren aufgestellt, Man sagt, von den Urvätern unsers Landes, Die fernher kommend, und von Oben stammend, Das Land betraten und der Menschheit Samen Weitbreitend in die leere Wildnis streuten, Und Hellas’ Väter wurden, unsre Ahnen. (Arg. 828-837; Hervorh. F. V.) Ob, wie Stiefel argumentiert, damit gar von einer gemeinsamen Herkunft beider Völker auszugehen ist 92 , die ‚fernher kommenden Urväter‘ sozusagen als Kolcher zu lesen sind, bleibt im Stück offen. Fest steht, dass der Dramatiker Grillparzer hier demonstrativ Grenzen zwischen ‚eigen‘ und ‚fremd‘ strukturell verwischen lässt. Auf eine autonome, ‚reine‘ Genealogie unter Ausschluss jegliches Fremden blicken weder Griechen noch Kolcher zurück. Damit ist ein weiteres Postulat des Winckelmann’schen Griechenlanddiskurses, demgemäß die Griechen „von keinem andern Volke den ersten Saamen zu ihrer Kunst geholet, sondern die ersten Erfinder scheinen können“ 93 , dramaturgisch - unter semantischer Verkehrung der Samen-Metaphorik - radikal dekonstruiert. Neben diesen transgressiven kulturellen Verbindungslinien ist zudem weder die griechische noch die kolchische Gesellschaft im Goldenem Vließ in sich ho‐ mogen konzipiert. So nimmt Grillparzer in der kolchischen Figurenkonstellation eine bedeutsame Binnendifferenzierung vor, indem er Medea im Eingangsta‐ bleau als topische Amazone 94 mit Pfeil und Bogen inszeniert - mit motivischen Parallelen zum Penthesilea-Mythos. 95 In dieser Enklave des Matriarchats in einer ansonsten patriarchalisch organisierten kolchischen Gesellschaft steht Medea einer exklusiven Gemeinschaft aus ‚Jungfrauen‘ vor, die sich dem Gebot der Keuschheit unterwerfen. Hochgehalten werden zusätzlich zu Autonomie und 167 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="168"?> 96 Vgl. GF, 1-92. Peritta wird daher infolge ihrer Liebesbeziehung zu einem Landmann von Medea verbannt (ebd.). S. hierzu Zanucchi (2017: 237 f.). 97 Vgl. den ersten Aufzug des dritten Teils vs. Med., 2282-2375. Jason befindet sich zwar vor den Toren Korinths, aber noch im griechischen Herrschaftsbereich Kreons, den der Landmann als seinen König anerkennt (ebd.: 2298). 98 Vgl. Pratt (2008: 84-106). Bezeichnenderweise enden selbst jene romantisierten kolo‐ nialen Liebesgeschichten mit dem frühen Tod der indigenen Frauen (s. ebd.: 93-95). Selbstbestimmung traditionell männlich konnotierte kriegerische Tugenden. 96 Auch die griechische Gesellschaft ist von Grillparzer unverkennbar heterogen angelegt und bildet ein weiteres dramenstrukturelles Korrektiv zur Figurenper‐ spektive. Das urbane Setting Korinths als Herrschersitz wird im letzten Akt ergänzt durch eine antithetisch zu diesem gestaltete Naturlandschaft, in der Jason dem griechischen Landmann begegnet. 97 Dessen einfache Lebensweise und naturnaher Lebensraum verweisen intratextuell - mittels Syntax und Signifikanten der Regieanweisung - auf die Landschaft Kolchis’ und zeigen so die tatsächliche vertikale Binnendifferenziertheit und Hybridität Griechenlands auf: Wilde, einsame Gegend von Wald und Felsen umschlossen, mit einer Hütte. Der Landmann auftretend. (Med. V) Kolchis. Wilde Gegend mit Felsen und Bäumen, im Hintergrunde das Meer. […] Links an den Szenen des Mittelgrundes der Eingang eines Hauses mit Stufen und rohen Säulen. (GF I) Insofern ist ebenso die letzte Antithese der Figurenperspektive, jene von Grie‐ chenland als urbanem Kulturvolk gegenüber Kolchis als Naturvolk, demontiert. Neben den ethnozentrisch-essentialistischen Denk- und Wahrnehmungs‐ mustern der Figuren werden zugehörige kulturelle Praktiken dramenstrukturell hinterfragt. Weitere kritische Bezüge zwischen Grillparzers Dramentrilogie und ihrem diskursiven Kontext ergeben sich hinsichtlich der Machtpraktiken der Entdeckungszeitalter, im Besonderen bei der Darstellung eines zur ‚verführeri‐ schen Exotin‘ stilisierten Weiblichen. Im Europa um 1800 erfreuen sich, wie Pratt in ihrer Studie zur Reiseliteratur aufzeigt, entsprechende Liebesgeschichten zwischen europäischen Kolonisatoren und indigenen Frauen großer Beliebt‐ heit - etwa die in immer neuen Versionen erzählte um Inkle und Yariko. Diese romantisieren und camouflieren jedoch das realhistorische Machtgebaren der Europäer, die oft in Form von Zwangsprostitution vielmehr gewaltsam ergriffen denn entgegennahmen, was sich ihnen frei darbot. 98 Bei Grillparzer wird nun diese Diskrepanz zwischen imaginiertem Rollen-Ich und Intention, zivilisatorischem Schein und wahrer kolonialer Gewaltnatur 168 Fabiola Valeri <?page no="169"?> 99 Vgl. Arg. 1155-1160. Eine ausführliche Verortung dieser Semantiken als Machtdiskurs unternimmt Spörk, Ingrid (1992). Gesten der Herrschaft - Zeichen der Macht. Zur Annektierung des Anderen bei Grillparzer. Études Germaniques 47: 2, 215-234, hier: 219-221. 100 Vgl. Arg. 1093-1109. 101 „Auf Kampf gestellt rang ich mit ihr und wie / Ein Abenteurer trieb ich meine Liebe.“ (Med. 466 f.) kritisch entlarvt, und zwar mittels der Motiv- und Zeichensprache der dramatis personae. Exemplarisch ersichtlich wird dies anhand der Annäherungspraktiken des Griechen Jason an die überseeische Fremde Medea. Die von Jason beschwo‐ rene innige Verbindung zweier Liebender wird zunächst durch seine Gestik unterminiert, die in Form der Regieanweisungen eine Geschichte der Gewalt auserzählt: Indem Jason in seiner Brautwerbung Medea wie eine Trophäe in den Himmel reckt, „sie zurückhaltend“ (Arg. 1221), „heftig schüttelnd“ (Arg. 1162), markiert er eine griechische und insbesondere männliche Vormachtstel‐ lung. 99 Überdies verkehren sich Versatzstücke topischer Liebesdiskurse, wie die Metaphorik der Liebe als Glut, in ihrer hyperbolischen Zuspitzung in Kriegsmetaphern der Zerstörung und Fatalität: Und mit demselben Blick warf er [sc. Jason] den Brand In der Unsel’gen Busen, die ihn floh, Bis, lang verhehlt, die Flamme stieg empor Und Ruh und Glück und Frieden prasselnd sanken Von Rauchesqualm und Feuersglut umhüllt. (Med. 619-623) Jasons Motiv für seine Beziehung zu Medea wird im Stück somit zunehmend als moralisch fragwürdig demaskiert, kann er sich doch auf Nachfrage des Argonauten Milo nicht einmal zu einem eindeutigen Liebesbekenntnis durch‐ ringen. 100 Medea symbolisiert für Jason in erster Linie eine Eroberung, deren Reiz durch ihr anfängliches Abwehrverhalten noch gesteigert wird. Entlarvende Selbstaussagen wie seine Stilisierung zum Abenteurer 101 nehmen bereits in Jasons Lieblingslied aus der Kindheit ihren Anfang: Daß den Männern Ich obsiege Und den zierlichen Mädchen auch. (Med. 607-610) Die Parallelführung von Kampf und Liebe in der rhetorischen Figur des Zeugmas entbirgt letztlich unverkennbar die zum Topos gewordene koloniale 169 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="170"?> 102 Zurückzuverfolgen ist diese Analogie von Frauenkörper und Land bis zur Anschauung der Mutter Erde, die vom Landmann für sich beansprucht und kultiviert wird, s. Küchler Williams (2006: 304-307). 103 Fragen der sprachlichen Repräsentation einer rein geschlechtlich verstandenen Fremd‐ heit in einer patriarchalischen Gesellschaft diskutieren Singer (2010: 181-184) und Ellis, Alicia E. (2012). Die Verwandlung von Bedeutung in Franz Grillparzers Medea. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 24: 3, 7-25. 104 Vgl. Med. 696-699: „Vergessend, daß mein Vater Kolchis’ König / […] Doch das vergißt sich nicht.“ 105 Vgl. Med. 1-40, 1953. Eroberungsallegorie von Frau und Kontinent. 102 Grillparzers Das goldene Vließ verhandelt hier also durchaus Geschlechterkonflikte im Kontext patriarchaler Machtstrukturen, diese sind aber - anders als bspw. von Gesa Singer vorge‐ schlagen 103 - immer auch an die Konflikte eines kolonialistischen Kulturkon‐ takts rückgekoppelt. Verzweifelte Assimilationspraktiken als Antwort auf ein essentialistisches Kulturverständnis, so führt die Dramentrilogie wiederum anhand der contact zone Korinth kritisch vor, sind ein ebenso ins Leere laufender Irrweg eines gleichsam auf Dominanz und Herrschaft basierenden Kulturkontakts: Ein all‐ umfassendes Vergessen der ursprünglichen Kultur ist schlicht unmöglich 104 und daher nur um den Preis des gewaltsamen Selbstverlustes zu haben. Im Zuge des Versenkens ihrer Kiste mit Zauberinstrumenten vergräbt Medea einen Teil ihrer selbst, wie die Metaphernsprache ihrer Selbstaussage vor Augen führt: In Analogie zu einem Beerdigungszeremoniell beschreibt Medea, wie die Kiste von ihr und dem Sklaven „eingesargt“ (Med. 1880) getragen, vorsichtig in die Grube als letzte ‚Ruhestätte‘ hinabgelassen und schließlich ehrerbietungsvoll mit Erde bedeckt wird. Erst nach Rückerhalt ihrer Zauberkiste betrachtet sie ihre Identität als vollständig wiederhergestellt. 105 Medea als tragisches Opfer im ‚Kampf der Kulturen‘ - und die Alternativszenarien Damit sind, zurück auf der Handlungsebene, alle Zeichen auf die finale Ka‐ tastrophe der Trilogie gestellt: Von Kreon aus Korinth verbannt und von Jason als Ehefrau verstoßen, greift Medea zum Äußersten: dem Mord an den gemeinsamen Kindern sowie an Jasons zukünftiger Frau Kreusa. Um nun in einem letzten Analyseschritt das Psychogramm von Grillparzers Kindsmörderin zu dechiffrieren, lohnt der Blick auf die ihre Tat grundierende Losung: „Man hat mich bös genannt, ich war es nicht: / Allein ich fühle, daß man’s werden kann.“ (Med. 1849 f.) Trägt man dieser Selbstaussage Medeas Rechnung, so wird 170 Fabiola Valeri <?page no="171"?> 106 So versuchte Medea etwa, ihren Vater zur Herausgabe des Vließes an Jason zu bewegen oder Jason diplomatisch an das kolchische Königshaus in Form einer Hochzeit zu binden (vgl. Arg. 1349-1354). Laut Kenkel nimmt Medea entsprechend „eine Art Mittlerstelle oder wenigstens Mittelstellung“ (1979: 73) zwischen den Kulturen ein. Kritisch einzuwenden ist jedoch, dass sie den in Kolchis ankommenden Griechen nicht mit Interesse, sondern mit Indifferenz begegnet und sich in naiver Selbstbezogenheit weiter der Jagd widmen will - bereit, die störenden Fremden notfalls mit Speeren auszuschalten. Schließlich wird sie mit ihren Tränken zum Werkzeug von Aietes’ Mordplänen (vgl. GF 77-240). sie nicht aus blinder ira einer betrogenen Ehefrau zur Mörderin, wie bei Seneca oder Euripides, sondern insbesondere durch die negativen Erfahrungen des xenophoben Kulturkontakts zwischen Griechen und Kolchern: Dessen Funkti‐ onsmechanismen legt der Plot von Grillparzers Dramentrilogie kritisch offen, beginnend mit dem in kolonialer Pose an Kolchis Küsten anlandenden Griechen Phryxus, der vom kolchischen König ebenso feindlich empfangen, getötet und beraubt wird und damit letztlich Jasons Argonautenzug provoziert. Jasons für die Vließsuche instrumentalisierte interkulturelle Beziehung zu Medea führt wiederum zum Zerwürfnis mit ihrem in essentialistischen Kulturkatego‐ rien verharrenden Vater und lässt Medea in der gleichsam ethnozentrischen Denkmustern folgenden griechischen Gesellschaft zur Fremden und Außensei‐ terin werden. Gerade dieser doppelte liminale Status Medeas als vom Vater verdammte Kolcherin und in Griechenland dämonisierte Fremde - darauf weist nicht zuletzt die mehrdimensionale Referentialität des ‚Man‘ ihrer oben zitierten Replik hin - ist ein mitzureflektierender Katalysator der Mordtat. In tragischer Ironie machen also erst die allseits virulenten gewaltsamen Ausgrenzungs- und ethnozentrischen Abwertungsmechanismen die zuvor auf friedliche, alternative Kulturkontakt-Lösungen 106 gesinnte Medea zu dem, was griechische Autoritäten ihr von Beginn an stereotyp zuschreiben: einer zu barbarischer Grausamkeit fähigen Mörderin. Dass für diesen Prozess Vertreter beider Völker verantwortlich zeichnen, zeigt die Anlage des Stücks neben der skizzierten Makroperspektive ebenfalls auf der Mikroebene der handlungslogischen Verstrickungen im Umfeld der Morde: Medea will nach der Verbannung durch Kreon und Jason zunächst friedlich fortziehen, wenn man ihr die Kinder herausgäbe, wird aber von ihrer kolchischen Dienerin Gora in ihren Rachegedanken implizit bestärkt - ausge‐ rechnet durch ein wiederum griechisches Narrativ in Form des Althea-Mythos. Als sich das versprochene eine Kind der strengen Mutter verweigert und bei Kreusa bleiben will, beschließt Medea die Ermordung ihrer griechischen Rivalin. Zu dieser Tat besitzt sie allerdings erst durch die rückgewonnenen Zauberin‐ strumente die nötige Macht, welche bezeichnenderweise der Griechenkönig 171 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="172"?> 107 S. Med. 1155-1331, 1607-2030. 108 In Abweichung von der Mythostradition sind die Kinder nicht Instrument von Medeas Rache an Kreusa, sondern ihr Objekt. Vgl. Kenkel (1979: 76-81). 109 Dunham (1960: 81). 110 Werner (1993: 238); vergleichbare Urteile bei Neumann (1997: 76) u. Winkler (2009: 235). 111 „Der soziale und psychologische Motivationsapparat entschärft somit die Tat.“ (Schmierer, Britta [2005]. Motivation in Medeatragödien der Antike und der Neuzeit. Würzburg: Königshausen & Neumann, 131) Kreon aus Gier nach dem Vließ ausgraben lässt und damit das Schicksal seiner Tochter Kreusa besiegelt. 107 Der darauffolgende dreifache Mord ist vielschichtig motiviert aus Hass, verletztem Stolz und Rachsucht gegen Jason als Prototyp einer diskriminierenden griechischen Gesellschaft, aber ebenso aus paradox anmutender Liebe für die ansonsten schutzlos in Korinth als Fremde zurück‐ bleibenden Kinder. 108 Medeas Morde vereinfachend als „final surrender to the demonic side of her nature“ 109 gemäß Dunham zu lesen, wird der Tiefenstruktur der Tragödie folglich nicht gerecht. Vielmehr ist Werner zuzustimmen, der Medea bei aller fortbestehenden Grausamkeit der Morde als zumindest teilweise exkulpiert betrachtet, wird sie doch „in Griechenland nicht nur zur Wilden gestempelt, sondern auch im moralischen Sinne zur Wilden gemacht“. 110 Medea ist dialek‐ tisch somit zugleich Täterin und tragisches Opfer eines Kampfes der Kulturen, wie dies die bildgewaltige Anklage gegen Kreon und Jason nahelegt: Habt ihr es nicht umstellt mit Jägernetzen Des schändlichen Verrats, das edle Wild, Bis ohne Ausweg, in Verzweiflungswut Es, überspringend euer Garn, die Krone, Des hohen Hauptes königlichen Schmuck Mißbraucht zum Werkzeug ungewohnten Mords. Ringt nur die Hände, ringt sie ob euch selbst! (Med. 2245-2251) Wenngleich die Figurenperspektive Goras selbstredend nicht absolut gesetzt werden sollte, so macht die Amme in dieser der Jagd entlehnten Allegorie doch aufmerksam auf Kausalzusammenhänge der Mordtat: Die Umzingelung Medeas durch die ihr an Macht überlegenen und sie um ihren Status betrügenden griechischen ‚Jäger‘ gehen Medeas Tat voraus. Das Vergiften der Krone als Mordwaffe gegen Kreusa wird so eben auch als verzweifelte, extreme Tat eines wie ein Jagdwild in die Enge getriebenen Menschen psychologisch nachvollzieh- und deutbar. 111 172 Fabiola Valeri <?page no="173"?> 112 Dadurch, dass Kreusa ihre Verbindung zu dem ihr einst versprochenen Jason nicht entschieden genug kappt, wird sie ‚schuldlos schuldig‘ zu Medeas Rivalin: Sie schwelgt z. B. mit Jason in Erinnerungen und suggeriert, dass ihre Interessen noch dieselben seien (vgl. Med. 753 f., 833-845). Die Forschung ist sich in der Bewertung der Kreusa-Figur uneins, was auch damit zusammenhängen mag, dass Kreusa lediglich mit wenigen Repliken in Erscheinung tritt. Grillparzer (1931) hält zu Kreusa in seinen Vorarbeiten fest: „Fast überirdisch rein. Leidenschaftslos. Ihre Neigung zu Jason, macht kaum das Zünglein an der Richtwaage ihres Betragens schwanken.“ (Ebd.: 294) Der Figur somit „Berechnung“ (Kenkel 1979: 76) anstelle von kindlicher Naivität zu unterstellen, führt zu weit. Scheichl (2016) charakterisiert sie zuletzt treffend als „liebenswürdig-harmlos[ ], aber eben auch oberflächlich[…]“ (ebd.: 122). 113 Vgl. Med. 386 f. 114 S. Med. 703 u. zuvor 368 f.: „näher tretend: Beleidigt hab’ ich dich. Ich weiß. Verzeih! “ (Sie hatte Medeas Kinder unter Ausschluss der Fremden als Waisen bezeichnet, s. Med. 345 f.) 115 Vgl. Med. 583-720. Indem Medea in Kreusa nur noch die griechische Rivalin um Ehemann und Kinder sehen kann 112 , tötet sie unter Fortführung der tragischen Ironie just jene Figur, über die punktuell Ansätze einer alternativ-positiven Form des Kulturkontakts zur Darstellung gebracht werden. Diese gründen sich v. a. auf einer Abkehr von einem monologischen Sprechen über das Fremde, das Stereotype lediglich perpetuierend festschreibt, hin zu einem Sprechen mit diesem, einem persönlichen Kontakt. Anfangs noch in kulturell vorgeprägten Perzeptionsmustern eines barbarischen Kolchis mit Medea als „gräßlich Weib, giftmischend, vatermörd’risch“ (Med. 330) verhaftet, entscheidet sich Kreusa dann aber auf die zurückbleibende Medea zuzugehen und so aus dem griechi‐ schen Kollektiv herauszutreten. Auf diese zunächst aus Mitleid 113 geborene phy‐ sische Annäherung Kreusas an die Fremde folgt eine kognitive, ein Erkennen des individuellen Schicksals Medeas, das eine Revision der griechischen Stereotype nach sich zieht: „Sie ist nicht wild. Sieh Vater her, sie weint.“ (Med. 399) Kreusa wird so zu einer positiven Kontrastfigur des Kulturkontakts, die sich für ihr anfänglich ablehnendes Verhalten entschuldigt und Medea letztlich als Freundin bezeichnet. 114 Im weiteren Verlauf des Stücks erwirkt sie das anfängliche Bleiberecht Medeas in Korinth und ist bemüht, zwischen den Eheleuten Jason und Medea zu vermitteln. 115 Analog zu Medeas Korrektivfunktion für den Kul‐ turkontakt in Kolchis reflektiert einzig Kreusa den herabwürdigenden Umgang der Griechen mit dem Fremden kritisch: „Ich sinne nur, ob recht ist, was wir tun; / Denn tun wir recht, wer könnte dann uns schaden? “ (Med. 1152 f.) Medea erhebt sie infolgedessen zur Verkörperung von Tugend, Moral und Sittlichkeit, in einer in Lichtmetaphorik gefassten physiognomischen Engführung von äußerer Schönheit und innerer Reinheit: 173 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="174"?> 116 Vgl. Arg. 1688-1755. Du Gute, Milde, schön an Leib und Seele, Das Herz wie deine Kleider hell und rein. Gleich einer weißen Taube schwebest du, Die Flügel breitend, über dieses Leben Und netzest keine Feder an dem Schlamm, In dem wir ab uns kämpfend mühsam weben. (Med. 674-679) Mittels des Taubenvergleichs wird die Königstochter zum Symbol eines kultu‐ relle Grenzen überwindenden, völkerumspannenden Friedens, das aber in der Weltferne des Ideals - dem Fliegen weit über der Erde - für die griechischen und kolchischen Akteure in den interkulturellen Morastgebieten eine unerreichbare Utopie darstellt und durch Medeas Mord schließlich wird. In der Figurenlogik von Grillparzers Kolchern und Griechen ist so kein gegenläufiger, friedlicher Kulturkontakt zwischen den Völkern möglich, der auf Dauer gestellt wäre. Was Grillparzers Goldenes Vließ somit ebenso den Rezipientinnen und Rezipienten schuldig bleibt, ist die explizite Realisierung eines gelingenden interkulturellen Gegenmodells auf der Handlungsebene. Dies steht nicht zuletzt damit in Zusammenhang, dass die als Korrektiv eingeführten Figuren Medea und Kreusa letztlich das allseits virulente essentialistische Kulturverständnis nicht überwinden, sondern im Falle der zur Täterin wer‐ denden Kolcherin die Gewaltspirale des Kulturkontakts sogar weiterdrehen. Zwar korrigiert Kreusa ihre Bewertung des Fremden; auch ihre Figur lässt der Dramatiker die aufgezeigte transkulturelle Verfasstheit der Kulturen jedoch nicht begreifen. Das Griechische und das Kolchische sind so ebenfalls in der Figurenperspektive Kreusas abgeschlossene ‚Kulturkreise‘, deren Überwindung nur in der vollständigen Assimilation an das jeweils Andere - metonymisch im Erlernen des Harfenspiels - versucht werden kann. Ein prozesshaft-hybrides Kulturverständnis, das Raum für Alterität und Transgressivität ließe und eine anders geartete Dynamik kultureller Aushand‐ lungsprozesse in Gang setzen könnte, weisen somit weder Grillparzers Griechen noch Kolcher auf. Von den Figuren wird das ‚Dazwischen‘ der kulturellen Grenzüberschreitung ausschließlich negativ konnotiert. So wird Medea ja ge‐ rade in ihrer interkulturellen Beziehung zu Jason für den kolchischen Vater zum Stein des Anstoßes, ist physisch und psychisch hin- und hergerissen zwischen familiärer Zugehörigkeit und Neigung. 116 Ganz ähnlich verbalisiert Jason seine Erfahrungen des Kulturkontakts zur Kolcherin, der ihm nicht nur gesellschaftliche Ächtung, sondern ebenso einen prekären Zustand der Selbstentfremdung eingebracht habe: 174 Fabiola Valeri <?page no="175"?> 117 Vgl. etwa Neumann (1997: 267-269): als Fremdheit per se der Geschlechter, der Kulturen und des Selbst. Für Becker (2008: 65-82) zeichnet der moderne Konflikt zwischen den Ansprüchen von Individuum und Gesellschaft für den Selbstverlust verantwortlich. 118 Auch Medea wird aufgrund ihrer Ehe mit dem Griechen Jason von ihrer kolchischen Amme als kulturell „entfremdet“ (Med. 1766) bewertet. Medea bemüht wiederum dieselbe Wendung für ihre Kinder, die ihr die Griechin Kreusa vorziehen (s. Med. 2138 f.). 119 Bhabha entwickelt seinen poststrukturalistisch und psychoanalytisch informierten Begriff der kulturellen Differenz und des hybriden dritten Raums v. a. in Bhabha, Homi K. (2004). The Location of Culture. 2. Aufl. London / New York: Routledge. 120 Diese (inter-)kulturelle Verfasstheit des Konflikts ist in jedem Fall zentral. Der vorlie‐ gende Aufsatz wendet sich damit gegen Deutungen, die Grillparzers Goldenes Vließ lediglich als ein ins Mythologische erhöhtes Ehedrama, gar als bürgerliches Trauerspiel vor antikem Dekor (etwa Bandet 1992: 192 f.) verstanden wissen wollen. Wie eine Heimat fast dünkt mir dies fremde Land, […] Und wieder, ist das Fremde mir bekannt, So wird dafür mir, was bekannt, ein Fremdes. Ich selber bin mir Gegenstand geworden, Ein andrer denkt in mir, ein andrer handelt. Oft sinn’ ich meinen eigenen Worten nach, Wie eines Dritten, was damit gemeint (Arg. 1190-1199). Entgegen der dominant geschichtsphilosophischen Lesart der Forschung 117 ist Jasons Gefühl der Selbstentfremdung hier gerade kein abstraktes Signum der Moderne, sondern mit den Problemlagen eines Kulturkontakts im essen‐ tialistischen Koordinatensystem der Figurenperspektiven verschaltet. 118 Der einleitende Chiasmus versinnbildlicht diesen Nexus aus Fremdbegegnung und progressiver Selbstentfremdung, spricht doch Jason symptomatisch von sich als Beobachtungssubjekt und -objekt in der dritten Person. Dieser transitäre Zustand des ‚Dritten‘ führt im Denken der Figur jedoch nicht zu einer Trans‐ zendierung kultureller Grenzlinien, etwa im Sinne der von Homi K. Bhabha ent‐ wickelten postkolonialen Denkfigur des ‚dritten Raums‘ 119 , sondern mündet in ihre Festschreibung, ein verzweifeltes Festklammern am Eigenen. Sowohl Jason als auch Medea wünschen sich, die Zeit umkehren und in die arkadisch verklärte „goldne[ ] Jugendzeit“ (Med. 206) der Heimat zurückkehren zu können - ein im dramatischen Gefüge klar als fehlgeleitete Illusion markierter Irrealis. Damit, so ließe sich als Analyseergebnis konstatieren, sind die Konfliktherde in Grillparzers Goldenem Vließ unverkennbar kultureller Natur und darin für eine der interkulturellen Literaturwissenschaft verpflichtete Lektüre besonders anschlussfähig. 120 Die Anlage des Stücks zeigt deutlich, dass sich Huntingtons ‚Kampf der Kulturen‘ auf der Handlungsebene nur deshalb avant la lettre 175 Vom Ehedrama zum ‚Kampf der Kulturen‘ <?page no="176"?> 121 Lanz (2009) wendet in ihrer Studie teils Methoden der Alteritätsforschung an, arbeitet jedoch ein rein resignativ verstandenes „Scheitern der Interkulturalität“ (ebd.: 9) heraus. (Geschichts-)Pessimistische Deutungen überwiegen bis heute wie jene von Ellis (2012), die von Grillparzers Trilogie als „einem gequälten Werk, frei von jeglichem normativen moralischen Imperativ“ (ebd.: 23) spricht. Winkler (2012) formuliert vor‐ sichtig: „Grillparzers Trilogie hingegen fordert […] zur Reflexion über die Herkunft des Barbarenbegriffs und über die Implikationen seiner ethnozentrischen Anwendung auf “ (ebd.: 169). 122 Vgl. Schmierer (2005: 131) vs. Dunhams (1960: 7) oder Wimmers (2000: 166 f.) Lesart einer humanen Desillusionierung. erfüllen kann, weil sowohl Griechen als auch Kolcher in einem essentialis‐ tisch-ethnozentrischen Kulturverständnis verharren. Derartige Ausprägungen kultureller Hybris und ihre zugehörigen Praktiken sind synkretistisch aufge‐ laden mit Wahrnehmungs- und Denkmustern von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ um 1800, bspw. tradiert in Form von Reiseberichten der Entdeckungszeitalter oder Winckelmann’schen Griechenlanddiskursen. Grillparzers Dramentrilogie erschöpft sich damit allerdings keinesfalls in einem resignativen Konstatieren scheiternder Interkulturalität, sondern weist eine unverkennbar kritische Di‐ mension auf, die in der Forschungsdiskussion bisher unzureichend gewürdigt scheint. 121 So werden fehlgeleitete Eigen- und Fremdbilder dramenstrukturell mittels Relativierungen im Haupt- und Nebentext, einer transkulturellen Fi‐ gurenkonstellation und Schauplatzanlage oder entlarvenden Semantiken der Figurenrede und Zeichensprache dekonstruiert und die Mechanismen und fa‐ talen Konsequenzen eines xenophoben Kulturkontakts auf der Handlungsebene ausgefaltet. Damit scheint das Stück in Zeiten erstarkender Nationalismen ebensolcher ethnozentrisch-essentialistischer Signatur, nicht zuletzt im Vielvölkerstaat Ös‐ terreich, für ein anders geartetes Kulturkontaktszenario implizit einzutreten. Dieser Appell bleibt aber freilich vorwiegend ex negativo formuliert. Die expli‐ zite Realisierung eines positiven Kontaktmodells auf der Handlungsebene des inneren Kommunikationssystems will und kann das Stück nicht leisten. In Mittler- und Korrektivfiguren scheinen Alternativen hier nur punktuell auf oder müssen idealiter als Utopie formuliert bleiben. Dieser Entzug fertiger Lösungen ist aber gerade nicht gleichbedeutend mit kulturpessimistischer Resignation, sondern fordert vielmehr die Urteilskraft und Reflexion der Rezipientinnen und Rezipienten heraus. In diesem Sinne ließe sich vielleicht ebenso dem Schluss der Trilogie, der bisher in der Forschung meist irgendwo zwischen christlichem Büßerdrama und humaner Desillusionierung verortet wird 122 , eine andere Deutung abgewinnen. Medea verkündet nach den Morden gegenüber Jason, dass sie das Vließ an seinen Ursprungsort nach Delphi überstellen 176 Fabiola Valeri <?page no="177"?> 123 Lenks Inszenierung, die im Dezember 2015 Premiere feierte, wurde im Feuilleton durchaus kritisch besprochen; s. exemplarisch Tholl, Egbert (2015). Medea vor Europas Toren. In: Süddeutsche Zeitung. Abrufbar unter: https: / / www.sueddeutsche.de/ kultur / theater-medea-vor-europas-toren-1.2771809 (Stand: 15 / 12 / 2021). Dass Lenks Aktua‐ lisierung von einer gewissen Plakativität geprägt ist, lässt sich sicherlich nicht leugnen. und das Urteil des Orakels abwarten wolle: „Medea soll nicht durch Medeen sterben, / Mein frühres Leben, eines bessern Richters / Macht es mich würdig“ (Med. 2351-2353). Dieses abschließende Urteil über Medea wird allerdings dramenimmanent nicht mehr gesprochen, die Bewertung von Medeas Taten damit dem Publikum überlassen, von dessen Rezeption es letztlich abhängig ist, ob die kritische Tiefenstruktur des Kulturkontakts erkannt wird. In dieser mag vielleicht gerade das Aktualitätspotential der Trilogie für gesellschaftlich immer wieder neu aufgelegte Fragestellungen um Fremdheit, Migration und Integration bestehen, die im Zuge der ‚Flüchtlingskrise‘ eine neue Brisanz erfahren haben. Als eine solche Flüchtlingsparabel hat die Geschichte Medeas dann auch jüngst Anne Lenk im Münchner Residenztheater inszeniert: Unter dem symbolträchtigen Sternenkranz Europas und einem übergroßen schwarzen Willkommensbanner diskutieren nun schwarzgekleidete Schreibtischgötter über Medeas Einbürge‐ rung. 123 Literatur Primärliteratur Bougainville, Louis-Antoine de (1980). 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Alterität und Heroismus in Franz Grillparzers Trilogie Das Goldene Vließ und in Euripides’ Medeia. In: Aurnhammer, Achim / Korte, Barbara (Hrsg.) Fremde Helden auf europäischen Bühnen (1600-1900). Würzburg: Ergon, 233-249. 182 Fabiola Valeri <?page no="183"?> „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“: Grillparzers Ästhetik des Unverfügbaren im Kontext des Frührealismus Antonio Roselli Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf Franz Grillparzers Werk im Kon‐ text der ästhetischen und epistemologischen Krisenerfahrung im Frührea‐ lismus. Der Grund für diese Krisenerfahrung wird in der Unverfügbarkeit der Wirklichkeit gesehen - eine Krise, die allerdings nicht ausschließlich unter negativen Vorzeichen stattfindet. Vielmehr stellt sich die Frage, in‐ wiefern Grillparzer in der Unverfügbarkeit der Wirklichkeit die Öffnung neuer Erfahrungsräume sieht, die die Evidenz der Wirklichkeit jenseits ihrer rationalen Durchdringung erfahrbar werden lässt. Diese neuen Erfahrungs‐ räume werden durch die Poesie eröffnet, die selber einen Evidenzeffekt hervorbringen kann, der primär durch Sprachbilder, Metapher und Analogien vermittelt wird - rhetorische Verfahren, die wiederum eine „Körperlichkeit der Sprache“ erzeugen. Schwierige Epochenzuordnung Das Werk von Franz Grillparzer liegt quer zu den verschiedenen literarischen Epochen, die das 19. Jahrhundert prägen. Dies betrifft nicht nur die Erschei‐ nungsdaten der jeweiligen Texte, sondern auch ihren Entstehungszeitraum, der sich z. T. über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Man denke etwa an Libussa: Grillparzer begann 1826 / 27 an dem Stück zu schreiben, beendete es 1846 und <?page no="184"?> 1 Der erste Aufzug wurde allerdings bereits 1840 aufgeführt und 1841 veröffentlicht, vgl. zu den Angaben die Anmerkungen zur Libussa in Grillparzer, Franz (1961). Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Zweiter Band: Dramen II - Jugend‐ dramen - Dramatische Fragmente und Pläne. Hrsg. von Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. München: Hanser, 1253 f. (Anmerkungen der Herausgeber). Alle Werke von Grillparzer werden im Fließtext aus der Hanser-Ausgabe Grillparzer, Franz (1960-1965). Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 1-4. Hrsg. von Frank, Peter / Pörn‐ bacher, Karl. München: Hanser, wie folgt zitiert: (G Bandnummer Seitenzahl). Bei Tagebucheinträgen oder Notizen steht in der Fußnote zusätzlich noch die jeweilige Nummerierung und die Jahreszahl. 2 Vgl. Fülleborn, Ulrich (1995). Besitzen als besäße man nicht. Besitzdenken und seine Alternativen in der Literatur. Frankfurt am Main: Insel, bes. 180-209, ab jetzt im Fließtext mit (B Seitenzahl) wiedergegeben; Ritzer, Monika (2010). Trauerspiel versus Tragödie. Konstellationen des 19. Jahrhunderts im Drama Grillparzers und Hebbels. Hebbel-Jahrbuch 65, 7-36, ab jetzt im Fließtext mit (TT Seitenzahl) wiedergegeben. 3 Fülleborn, Ulrich (2000a). ›Erweislose‹ Wirklichkeit: Frührealismus und Biedermeier‐ zeit [1974]. In: Ders. Besitz und Sprache. Offene Strukturen und nicht-possessives Denken in der deutschen Literatur. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Blamberg, Günter / Engel, Manfred / Ritzer, Monika. München: Fink, 102-127, ab jetzt im Fließtext mit (EW Seitenzahl) wiedergegeben. fügte 1847 noch weitere Änderungen hinzu, bis es dann erst 1872 erschien und 1874 uraufgeführt wurde. 1 Auch wenn Epochenzuordnungen eine gewisse Orientierungshilfe bieten - man denke an die für Grillparzer lange Zeit gültigen Einordnung in die Bie‐ dermeierzeit -, stoßen sie im Falle Grillparzers auf eine Grenze, die seiner literarischen Produktion eigen ist und ihr einen anachronistischen Charakter verleiht: So etwa im Rückgriff auf den Barock oder die klassizistische Antike, die zugleich aber in einem Spannungsverhältnis zu spezifisch modernen Formen stehen, worauf nicht zuletzt Ulrich Fülleborn und Monika Ritzer verwiesen haben, wenn sie auf die Nähe Grillparzers zu ‚revolutionären‘ Autoren wie Christian Dietrich Grabbe, Georg Büchner oder Heinrich Heine hinweisen. 2 Diese Nähe macht aus Grillparzer noch keinen Vormärz-Autor, sie zeigt aber eine Sensibilität für eine gemeinsame Problemlage, ein Bewusstsein für eine tiefgreifende Krisenerfahrung, die im Kern das Verhältnis von Subjekt und Welt trifft - ein Verhältnis, dass die Frage nach der Wirklichkeit aufwirft und die Epistemologie und die Ästhetik nicht unberührt lässt. Der Vorschlag von Ulrich Fülleborn, in diesem Zusammenhang vom „Frührealismus“ 3 zu sprechen, bietet allerdings den Vorteil, dass es sich um einen offenen Epochenbegriff handelt, der letztlich von der Identifizierung einer gemeinsamen Problemlage ausgeht - die „‚erweislose‘ Wirklichkeit“ und die Krise des „nachidealistischen Subjekts“ ( TT 18) -, die Gemeinsamkeiten jenseits der Schranken enger Epochenbegriffe sehen lässt. Der Frührealismus ist, so Fülleborn, durch eine „Pluralität von 184 Antonio Roselli <?page no="185"?> 4 Die folgenden Überlegungen wurden bereits an anderer Stelle ausführlicher entwickelt und werden hier in einer reduzierten Form wiedergegeben und neu perspektiviert. Vgl. Roselli, Antonio (2019). „alles scheint mir jetzt möglich“. Zum Verhältnis von Handlung und Kontingenz bei Grabbe, Büchner, Hebbel und Grillparzer. Bielefeld: Aisthesis, sowie Roselli, Antonio (2019). „So dringt die Zeit, die wildverworrne, neue, / Durch hundert Wachen bis zu uns heran“. Zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz bei Grabbe und Grillparzer. In: Grabbe-Jahrbuch 38, 32-52. 5 Vgl. Makropoulos, Michael (1997). Modernität und Kontingenz. München: Fink, 30. 6 Vgl. Blumenberg, Hans (1969). Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Jauß, Hans Robert (Hrsg.) Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik I. 2., Stilen“ geprägt, die dazu führt, dass das „Nebeneinander romantischer und rea‐ listischer Stil- und Formelemente nicht als ein unsicheres Schwanken zwischen einem Nicht-mehr und Noch-nicht“ interpretiert werden muss, um den Blick stattdessen auf den eigenen „Gestaltungswillen“ der Autorinnen und Autoren zu richten, „der sich bewußt gegensätzlicher Mittel bedient“ ( EW 105), um die Frage nach der Darstellbarkeit der Wirklichkeit neu stellen zu können. Auf den folgenden Seiten werde ich mich dieser Krisenerfahrung ausgehend von Hans Blumenbergs und Ulrich Fülleborns Überlegungen zur Unverfügbar‐ keit der Wirklichkeit und Monika Ritzers Bestimmung des „nachidealistischen Subjekts“ annähern. Im Anschluss daran sollen einzelne Aspekte aus Grillpar‐ zers ‚Ästhetik‘ - sofern in Ermangelung einer Systematik von einer solchen gesprochen werden kann - herausgearbeitet werden, um dann am Ende kurz auf das Verhältnis von Ordnung und Chaos und die Möglichkeit einer Rettung durch die Poesie einzugehen. 4 Unverfügbare Wirklichkeit Es ist der Verdienst Hans Blumenbergs, eine „historische Typologie von […] Wirklichkeitskonzepte[n]“ 5 vorgenommen zu haben. Blumenbergs Projekt einer Phänomenologie der Geschichte deckt diejenigen Strukturen und impli‐ ziten Voraussetzungen auf, die eine strukturierende Wirkung auf dasjenige ausüben, was man als ‚Wirklichkeit‘ bezeichnet. Blumenberg rekonstruiert die Beziehung zwischen Dichtung, Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff, ausgehend von der Auseinandersetzung der „Dichtungstheorie“ mit dem seit der Antike immer wieder neu formulierten Vorwurf, dass die Dichter lügen. Durch den Vorwurf der „Lüge“ sah sich die Dichtung in ihren theoretischen Äußerungen immer wieder gezwungen, ihre Legitimität durch ihre Relation zur Wirklichkeit theoretisch zu fundieren. Dadurch erscheint sie als „systematischer Ort“ der Reflexion über den Wirklichkeitsbegriff der jeweiligen Epoche. 6 185 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="186"?> durchgesehene Auflage. München: Fink, 9-27, hier 9 f. Ab jetzt im Fließtext mit (WMR Seitenangabe) wiedergegeben. Für Blumenberg bekommen dabei die Veränderungen in der Zeitsemantik den Wert von Symptomen, anhand deren man den Wandel epochenspezifischer Wirklichkeitsbegriffe nachzeichnen kann. So unterscheidet er zwischen vier „historischen Gestalten“ des Wirklichkeitsbegriffs. Den ersten, für die Antike gültigen Wirklichkeitsbegriff bezeichnet Blumenberg als den der „Realität der momentanen Evidenz“ ( WMR 10, Hervorhebungen AR ). Die „momentane Evi‐ denz“ lässt - zeitlich gesehen - die Wirklichkeit im Rahmen des „gegenwärtigen Augenblicks“ ( WMR 12), also im Modus der Gegenwart, erscheinen. Der zweite Wirklichkeitsbegriff umfasst das Mittelalter und die Frühe Neuzeit und wird als „garantierte Realität“ ( WMR 11) bezeichnet. Das Verhältnis zur Wirklichkeit wird nicht mehr als unmittelbar gedacht, sie lässt sich erst durch den „Rückbezug auf die in der Einheit der Erschaffung der Welt und der Vernunft verbürgte Vermittlung, also auf einen immer schon vergangenen Grund“ ( WMR 12) begreifen, somit im Modus der Vergangenheit. Im Laufe des 17. Jahrhunderts etabliert sich der dritte Wirklichkeitsbegriff, der als „Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes“ ( WMR 12) bezeichnet wird. Lag bei den vorhergehenden Paradigmen das Gewicht auf der Gegenwart respektive der Vergangenheit, so bekommt nun die Zukunft eine tragende Rolle, denn die „Realisierung“ weist einen prozesshaften Charakter auf, der sich erst im Laufe der Zeit - also im Modus der Zukunft - vollzieht. Blumenberg bezeichnet daher die Realität als „Resultat einer Realisierung“ ( WMR 12), wobei diese in ihrer Eigenschaft als ein „in sich einstimmiger Kontext“ nach den Regeln der Konsistenz geformt wird. Durch die zeitliche Dimension der Zukunft wird diese Konsistenz aber immer auch bedroht, kann daher nie als absolut gesetzt werden, denn sie bleibt immer noch auf jede Zukunft angewiesen […], in der Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten. (WMR 13) Ähnlich argumentiert Reinhart Koselleck, wenn er die Erfahrung des Ausei‐ nanderklaffens von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ als eine Art Paradigmenwechsel in der Zeitwahrnehmung in der Sattelzeit (um 1750) an‐ siedelt: Durch die Beschleunigung wissenschaftlicher, politischer und sozialer Prozesse bildet sich ein „Erwartungshorizont“ heraus, der nicht mehr eine stabile Fortführung des bereits vorhandenen „Erfahrungsraums“ garantieren kann, sondern die auf vergangene Erfahrungen basierenden Projektionen kon‐ 186 Antonio Roselli <?page no="187"?> 7 Vgl. Koselleck, Reinhart (1989). „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ - zwei historische Kategorien. In: Ders. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 349-375. 8 Der dritte und der vierte Wirklichkeitsbegriff lösen sich demnach nicht einfach nur ab, sondern sind in einer bestimmten Phase gleichzeitig präsent. 9 In den Diskussionsprotokollen zu Blumenbergs Beitrag wird diese doppelte Unverfüg‐ barkeit deutlicher herausgearbeitet als bei Blumenberg selbst. Vgl. Jauß, Hans Robert (1969: 219-227, „Sechste Sitzung“). tinuierlich übersteigt. 7 Die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Wirklichkeit und ihre damit einhergehende Temporalisierung lassen bereits eine erste Form der Unverfügbarkeit erkennen, die aber noch nicht die radikale Form annehmen wird, die den ‚vierten‘ Wirklichkeitsbegriff prägt, da die Wirklichkeit - trotz der offenen Zukunft, die rückwirkend auch die Vergangenheit zu verändern vermag - weiterhin als eine „Realisierung“ verstanden wird, deren Sinn, auch wenn dieser sich wandelt, immer hermeneutisch erfasst werden kann. Der ‚vierte‘ Wirklichkeitsbegriff wird mit der Formel der „Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige“ ( WMR 14 f.) bezeichnet und kennzeichnet sich durch die logische Form des Paradoxes und durch eine Wirklichkeit, die jeder Inter‐ pretation Widerstand leistet, im Gegensatz zum ‚dritten‘ Wirklichkeitsbegriff, der auf Änderungen durch neue Konsistenzbildungen reagiert, so dass man ggf. eine neue Interpretation der Wirklichkeit erreichen kann, aber nie eine grundlegend nicht-interpretierbare Wirklichkeit. Er findet seinen besonderen Ausdruck zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei man seine Vorzeichen bereits im 18. Jahrhundert ansiedeln kann: 8 Wirklichkeit ist hier das ganz und gar Unverfügbare, was sich nicht als bloßes Material der Manipulation und damit der ständig umsteuerbaren Erscheinung unterwerfen läßt, was vielmehr in der Technisierung nur scheinbar und zeitweise in Dienst genommen worden ist, um sich dann in seiner überwältigenden Eigengesetzlichkeit und einer seine Erzeuger tyrannisierenden Mächtigkeit zu enthüllen als ein ‚factum brutum‘, von dem nachträglich nur noch behauptet, aber nicht mehr vorgestellt werden kann, daß es aus einem freien und konstruktiven Prozeß des Erdachtwerdens einmal hervorgegangen sein könnte. (WMR 14) Die daraus entstehende Unverfügbarkeit lässt sich wiederum auf zwei Ebenen ansiedeln: extern, in der Relation des Subjekts zur Welt; intern, in der Relation des Subjekts zu sich selbst. 9 In seinen Grillparzer-Lektüren richtet Fülleborn den Fokus ebenfalls auf das Moment der Unverfügbarkeit, das die historische Konfiguration der Wirklichkeit im 19. Jahrhundert zunehmend charakterisiert. Durch diese Unverfügbarkeit kommt der Wirklichkeit eine andere Qualität zu als beispielsweise noch in 187 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="188"?> 10 Fülleborn, Ulrich (2000b). Die Temporalität der Dramen Grillparzers [1992]. In: Ders. Besitz und Sprache. Offene Strukturen und nicht-possessives Denken in der deutschen Literatur. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Blamberg, Günter / Engel, Manfred / Ritzer, Monika. München: Fink, 169-183, hier 173. der Goethezeit: „So tritt jetzt die Schicksal- und Geschichtserfahrung an die Stelle des Naturerlebnisses, das in der Goethezeit vorherrschte.“ (B 181) Die Erfahrbarkeit der Wirklichkeit lässt sich nunmehr nicht mit ihrer Verfügbarkeit gleichsetzen. Vielmehr wird sie - „schmerzhaft“ - als etwas „Gegebenes“ (B 181) erfahren, dessen letzter Grund sich dem Menschen entzieht: Es handelt sich um eine Wirklichkeit, die nicht kausal erklärbar ist bzw. zu deren angemessener Wahrnehmung die kausale Erklärung nichts beiträgt, die sich vielmehr schicksalhaft oder geschichtlich ereignet und als factum brutum, als nicht bezweifel‐ bare Tatsache, zwischenmenschlich auswirkt. (B 181) Schicksalserfahrung und Geschichtserfahrung stellen demnach Modi der Un‐ verfügbarkeit dar, die sich beispielsweise in Formen des Ausgeliefertseins konkretisieren (vgl. B 181). In seiner Untersuchung der Temporalität in den Dramen Grillparzers skizziert Fülleborn darüber hinaus noch einen bemerkenswerten Ablösungsprozess: Wo anfangs noch öfter das Schicksal, dann in den Griechendramen die Götter und in den früheren Geschichtstragödien der christliche Gott als Subjekt der Ereignisse fungieren, ist es später hauptsächlich die Zeit selbst. 10 Am Ende dieses Prozesses stehen dann Ein Bruderzwist in Habsburg und Libussa, die beide im Konflikt zwischen der sakralen und der profanen Ordnung und im Sieg der profanen Ordnung eine Verselbständigung der Zeit sehen, die zum eigentlichen Motor der Handlungen wird. Diese progressive Ablösung geht mit einer Verabschiedung derjenigen Instanzen einher, die noch für die Möglichkeit einer Konsistenz der Wirklichkeit und somit für das Gelingen einer Hermeneutik der Wirklichkeit stehen: Der Gott oder die Götter als Garanten des ‚transzendentalen Signifikats‘ auf der einen Seite, die Vertreterinnen und Vertreter der sakralen Sphäre als privilegierte Leserinnen und Leser der Zeichen der Wirklichkeit auf der anderen Seite (Rudolf II ., Libussa und ihre Schwestern). Wo die Zeit zum Subjekt der Ereignisse wird, verschwinden beide sich gegenein‐ ander stützenden Instanzen - Rudolf II . und Libussa gehen angesichts der neuen Ordnung des Profanen unter und läuten damit den endgültigen Untergang der Sphäre des Sakralen ein. 188 Antonio Roselli <?page no="189"?> 11 Das „factum brutum“ wird im Sinne „isolierte[r], nackte[r] Realitätspartikel“ ver‐ standen (EW 106). 12 „Für die Begründung eines Realismus, der auf keinem Besitzverhältnis zur Wirklichkeit beruht, hat Grillparzer Wichtiges geleistet, und zwar ohne ideologischen Rückhalt in der einen oder anderen Richtung.“ Fülleborn (B 181.) 13 Den Ausgangspunkt für diese Überlegung liefert Grillparzers Gedicht „Entsagung“, das von Fülleborn im Sinne eines ‚programmatischen‘ Textes gelesen wird. Er führt seine Überlegungen dann intradiegetisch am Beispiel des Liebesverhältnisses in den Dramen Sappho, Die Ahnfrau und Das goldene Vließ aus (vgl. B 184-189). Vgl. dazu auch TT 20: „Es geht vielmehr um Selbstwahrnehmung und Selbstfindung durch Rücknahme des weltverflechtenden Bedürfens und Wollens, das für Grillparzer - im Gegensatz zur realistischen Anthropologie Hebbels - nicht zum eigentlichen der Individualität gehört […].“ 14 Frank, Gustav (1996). Romane als Journal: System- und Umweltreferenzen als Voraus‐ setzung der Entdifferenzierung und Ausdifferenzierung von „Literatur“ im Vormärz. In: Rosenberg, Rainer / Kopp, Detlev (Hrsg.) Journalliteratur im Vormärz. Bielefeld: Aisthesis, 15-47, hier 32. Es ist auffällig, dass Fülleborn und Blumenberg beide vom „factum brutum“ 11 sprechen, wenn es um eine „nicht verfügbare[] Wirklichkeit“ (B 180) geht, und darüber hinaus genau den Punkt, der im ‚dritten‘ Wirklichkeitsbegriff noch für eine, wenn auch nur provisorische Stabilität sorgt - die Konsistenz bzw. die Kausalität - als verloren gegangene Möglichkeit identifizieren. So wie in Blumenbergs ‚vierten‘ Wirklichkeitsbegriff die Wirklichkeit nicht mehr als etwas verstanden wird, was aus der schöpferischen Kraft des Menschen entsteht oder zumindest durch diese gelenkt und manipuliert werden kann, wird auch bei Fülleborn das Moment der Unverfügbarkeit verstanden: „Wirklichkeit ist das, was von sich aus wirkt.“ (B 181) Grillparzer ‚verarbeitet‘ diese Erfahrung der Faktizität ästhetisch. 12 Zentral ist hierbei das Verhältnis, in welchem „Kunst und Künstler […] zum Leben stehen“; ein Verhältnis, welches nicht als possessiv gedacht werden soll, auch weil ein possessives Verhältnis konstitutiv an der Unverfügbarkeit scheitern würde: „[D]as Kunstwerk geht hier nicht aus unmit‐ telbarem Erleben und Genießen hervor, sondern aus reflektierter Erfahrung, die Distanz und ‚Entsagung‘ […] erfordert.“ (B 181) 13 Nach Fülleborn wirkt diese Erfahrung der Unverfügbarkeit besonders stark im Zeitraum zwischen Romantik und Realismus, im Zuge der Verabschiedung vom „romantischen Subjektivismus“ und „von den großen spekulativen Ent‐ würfen der Goethezeit“, ohne aber - wie im Realismus - bereits zu einem Begriff der Wirklichkeit gelangt zu sein, der primär über die Naturwissenschaften vermittelt wird. (B 180) Diese Zwischenzeit, in der sich das Bewusstsein für eine ontologische Krise schärft, ist zugleich auf der Ebene der literarischen Produktion von einer „Suchbewegung des Experimentierens“ 14 gekennzeichnet, wie besonders in den Dramen von Grabbe und Büchner deutlich wird. 189 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="190"?> 15 Gamm, Gerhard (1994). Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 29. 16 Lukács, Georg (1994). Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1920]. München: dtv, 67. Postidealistisches Subjekt Die von Blumenberg beschriebenen Wandlungen im ‚dritten‘ und ‚vierten‘ Wirklichkeitsbegriff gehen mit einer gesteigerten Kontingenzerfahrung einher, die sich besonders nach 1800, nach dem geistesgeschichtlichen Primat des Deutschen Idealismus, verschärft, womit wiederum eine Verschärfung der aporetischen Struktur der Begründungslogik einhergeht, die das Verhältnis von Subjekt und Welt wie folgt charakterisiert: Die Annahme einer Pluralität der Weltbilder bringt weniger einen allgemeinen Wirklichkeitsschwund zu Bewußtsein; sie hebt vor allem auf eine ontologische Unbestimmtheit ab, die zeigt, daß eine kontingent gewordene Welt zuletzt keine andere Referenz mehr aufweist als die, durch die sie gesetzt worden ist. Wirklichkeit und Sinn werden nur mehr beglaubigt durch die, die sie schöpfen. [Hervorh. AR] 15 Die Beglaubigungslast, die auf dem Subjekt als Schöpfer liegt, verweist auf die zentrale Stellung von Handlung (als Akt der Schöpfung) und Geschichte (als deren Produkt und Entfaltungsraum). Die Folgen dieser Verlagerung lassen sich auf der Ebene des Subjektverständnisses weiterverfolgen: „Kontingente Welt und problematisches Individuum sind einander wechselseitig bedingende Wirklichkeiten.“ 16 Diese Problematisierung des Individuums steigert sich, wenn die Wirklichkeit als „factum brutum“ nur aus sich aus wirkt und somit jegliche schöpferische Einwirkung des Subjekts - und, damit einhergehend, jede her‐ meneutische Absicherung - letztlich als Projektion entlarvt wird. So versteht auch Grillparzer die Geschichte im Grunde als Fiktion, da sie, wie er 1822 im Tagebuch notiert, „das Unverständliche durch das Verständliche ersetzt“ und auf diese Weise Zweckmäßigkeit, Absicht und Ordnung in die „Begeben‐ heiten“ hineinprojiziert - unabhängig davon, ob die „ihm undurchdringlichen Begebenheiten“ solchen Zwecken und Absichten folgen. Geschichte erweist sich als „Werk des Menschen“, weil es der Mensch ist, der durch die Projektion überhaupt etwas wie eine Geschichte entstehen lässt. Die Ironie besteht darin, dass der Mensch nicht die Geschichte durch seine Taten macht, sondern durch eine (illegitime) narrative Konstruktion, die den Begebenheiten Gewalt antut, während der Dichtung dieses gewaltsame Moment nicht eigen ist, da sie den eigenen fiktionalen Charakter nicht ausblendet, sondern bei der Suche nach der 190 Antonio Roselli <?page no="191"?> 17 [Tgb. 1225, 1822]. 18 Verstanden ausgehend von Karlheinz Stierles Konzept der „negativen Anthropologie“, das eingeführt wurde, um den Wandel im Selbstverständnis des Menschen im 17. Jahr‐ hundert und dessen Auswirkungen auf die Literatur der Französischen Klassik zu beschreiben. Dabei wirkt dieses Konzept in doppelter Weise abgrenzend: Einerseits setzt sich die „negative“ Anthropologie des Siècle Classique von der „positiven“ Anthropo‐ logie eines Descartes ab, zugleich wird sie als Kontrastfolie verwendet, um die „positive“ Anthropologie der Aufklärung hervorzuheben. Neben dieser doppelten Abgrenzung besitzt die „Negativität“ zwei Bedeutungskomponenten: 1) die in Anlehnung an die negative Theologie verstandene Erfahrung, dass das Wesen des Menschen sich jeglicher positiven Beschreibbarkeit entzieht (es kann über den Menschen nur gesagt werden, was er nicht ist), und 2) das pessimistische Bild vom Menschen und seiner vermeint‐ lichen Tugendhaftigkeit. Vgl. Stierle, Karlheinz (1985). Negative Anthropologie und funktionaler Stil. In: Nies, Fritz (Hrsg.) Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei. München: Fink, 81-128; Geitner, Ursula (1992). Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: De Gruyter; Roselli, Antonio (2014). Negative Anthropologie. In: Bunke, Simon / Ders. (Hrsg.) Kleines Lexikon der Aufrichtigkeit im 18. Jahrhundert. Texte, Autoren, Begriffe. Hannover: Wehrhahn, 166-168. 19 [Tgb. 4405, 1827-1830]. „Verbindung und Begründung“ ihre Begebenheiten „selbst erfinden“ kann (G3 304) 17 - und auf diese Weise der unverfügbaren Wirklichkeit gerechter wird. Die nachidealistische Epoche ist demnach von einem generalisierten Selbst‐ verständlichkeitsverlust gekennzeichnet. Dies zeigt sich nicht nur im Brü‐ chig-werden der äußeren Legitimationsmodelle und Handlungsrahmen (im Sinne einer vertikalen Begründungsstruktur, die einen Rückgriff auf transzen‐ dente Begründungsmodelle für das eigene Handeln ermöglicht), sondern auch in der Destabilisierung innerer Bezugspunkte (im Sinne einer „negativen Anthro‐ pologie“ 18 ). Dieses latente Bewusstsein der eigenen Unverfügbarkeit wird von Monika Ritzer als „nach-“ oder „postidealistische[r] Persönlichkeitsbegriff[]“ beschrieben ( TT 16). In Grillparzers Tagebucheinträgen findet sie wiederholt Selbstbeobachtungen, die auf eine „Diagnose des nachidealistischen Persönlich‐ keitsproblems“ ( TT 16) verweisen, beispielsweise: „Wenn mir jemand vorwerfen wollte: du hast keine Gewalt über dich! so würde ich ihm antworten: Niemand hat mehr Gewalt über sich.“ (G4 438) 19 Die Erfahrung der eigenen Unverfüg‐ barkeit in einer zunehmend als fremd erscheinenden Welt charakterisiert die „Diagnose des postidealistischen Persönlichkeitsbegriffs“, „die Grillparzer bis in den Wortlaut hinein mit den Zeitgenossen Büchner oder Grabbe, Lenau, Platen und Droste teilt.“ ( TT 19) Ritzer liest diese Aussagen somit als Ausdruck eines zeittypischen Unbehagens: 191 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="192"?> 20 So der Titel eines Kapitels aus ihrer Studie, vgl. Lorenz, Dagmar C. G. (1986). Grillparzer. Dichter des sozialen Konflikts. Wien u. a.: Böhlau, 11-22. Vgl. auch Bachmaier, Helmut (1991). Grillparzer: Ordo und Geschichte [1988]. In: Ders. (Hrsg.) Franz Grillparzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 259-270, hier 266: „Grillparzers Dramen thematisieren Epochenschwellen und Zeitwenden, die ein Modell abgeben für die Beurteilung der Monarchie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Darin werden tradierte Staats- und Ge‐ schichtsauffassungen und moderne Bewußtseinsformen auf vielfältige Art ineinander verschlungen als Zeichen der Grenzlinie, die das Werk selbst im Epochenwechsel markiert.“ 21 Lorenz (1986: 12). 22 Lorenz (1986: 12). 23 Lorenz (1986: 13). Heterogenität und Kontingenz der Zustände heben den Begriff der Persönlichkeit auf: Schon die Fluktuation der ‚Ideen‘ sollte uns, so Hebbel, an der ‚Dauerhaftigkeit‘ unseres Wesens und mit ihm unserer Wertsetzung zweifeln lassen. (TT 23) Es handelt sich dabei um eine „Depotenzierung“ des Subjekts, die „eklatant der Vorstellung charakterlicher Identität und Selbstbestimmung widerspricht.“ ( TT 23) Die Frage nach dem eigenen Wesen und nach der Verortung des eigenen Selbst in einer zunehmend fremd werdenden Welt konnte, so die Diagnose Ritzers, mit den zur Verfügung stehenden kulturellen Mitteln nicht beantwortet werden, „[d]enn dafür böte nicht mehr die Transzendenz und noch nicht die Immanenz eine Begründung.“ ( TT 18) Die „Offenheit, die uns die Restau‐ rationszeit ‚modern‘ erscheinen läßt“, sei am Ende somit als „Zeichen eines kulturhistorischen Intermezzos“ ( TT 18) zu deuten. „Der Teufel hole alle Theorien.“ Dagmar C. G. Lorenz hat auf Grillparzer die treffende Formel „Dichter des Übergangs“ angewendet. 20 Für Lorenz wird Grillparzers Werk durch eine „Ambiguität“ geprägt, die dadurch herrührt, dass er „die disparaten Einflüsse und Entwicklungen seiner Zeit und Kultur literarisch [verarbeitet], ohne den Versuch zu unternehmen, die Gegensätze harmonisierend zu beseitigen.“ 21 Dabei „verraten“ besonders „Form und Sprache der Werke […] die Übergangsposi‐ tion“ 22 , da sich Grillparzer bereits früh von der Tradition der deutschen Klassik löste, besonders von deren „Universalitätsanspruch und -streben“ 23 , wodurch er eine stilistische Vielfalt entwickelte. Bachmaier fasst diese Eigenschaft von Grillparzers dramatischer Produktion wie folgt zusammen: 192 Antonio Roselli <?page no="193"?> 24 Bachmaier, Helmut (1986). Grillparzers Dramen. In: Grillparzer, Franz. Werke in sechs Bänden, Bd. 2. Dramen 1817-1828. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Frankfurt am Main: Klassiker Verlag, 601-658, hier 604. 25 Fülleborn (2000b: 179). 26 [Tgb. 1281, 1822]. Vgl. auch Seitter, Walter (1991). Unzeitgemäße Aufklärung. Franz Grillparzers Philosophie. Wien / Berlin: Turia+Kant, 11. 27 [Tgb. 1281, 1822]. 28 Vgl. dazu Fülleborn, Ulrich (1971). Offenes Geschehen in geschlossener Form. Grill‐ parzers Dramenkonzept. Mit einem Ausblick auf Raimund und Nestroy. In: Grimm, Reinhold (Hrsg.) Deutsche Dramen. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Bd. II. Frankfurt am Main: Athäneum, 293-322, hier 293. 29 [Tgb. 269, 1817] Das Profil seiner dramatischen Dichtung kann […] kaum auf griffige Formeln redu‐ ziert werden. Der durch ein Drama gesicherte Bestand an Formen wird durch das nächste revidiert, destruiert oder konterkariert. 24 Ähnlich pointiert hebt auch Fülleborn diesen Aspekt hervor, wenn er schreibt, daß bei Grillparzer kein unentschiedenes Schwanken zwischen den ihm überlieferten Denk- und Gestaltungsmöglichkeiten vorliegt, auch kein schwächlicher Synkretismus und schon gar nicht eine Synthese, die ohnehin unmöglich wäre, sondern Bewahrung und Annahme von Gegensätzlichem, das sich bei ihm wechselseitig fordert, obgleich es sich nach unserer herrschenden Logik nicht vereinbaren lässt. 25 Erwartungsgemäß operiert Grillparzer in seiner Zeitdiagnose ebenfalls mit Formulierungen, die Spannungen und Widersprüche hervorheben, statt diese zu glätten: „Ohne Tatkraft voll Tatendurst; voll Reiz zum Genuß ohne Sinn dafür; voll Gedanken ohne Wollen; das ist der Zustand eines solchen Menschen, einer solchen Zeit.“ (G3 684) 26 Dieser „Zustand“ mündet in einem „Tätigkeitstrieb ohne Wirkungskreis“ (G3 684), der von einem „Gefühl einer unbestimmten Sehn‐ sucht“ (G3 684) 27 begleitet wird. Die Hervorhebung der Widersprüche bekommt fast einen ‚programmatischen‘ Charakter, ohne aber in eine systematische Ästhetik zu münden. Grillparzer hat keine solche hinterlassen, obwohl sich unter seinen Aufzeichnungen mehrere, zum Teil auch widersprüchliche Notizen zu eigenen und fremden Dramen und zu den entsprechenden theoretischen Zusammenhängen befinden. 28 In einem Tagebucheintrag von 1817 findet diese Abneigung gegen ein „Theoretisieren über Poesie“ (zu der er das Drama zählt) eine drastische Zuspitzung: „Der Teufel hole alle Theorien.“ (G3 284) 29 Grillparzer steht insgesamt jedem Systemdenken kritisch gegenüber. Seine Idealismuskritik richtet sich gegen die Aporien, die beispielsweise die Be‐ gründungsproblematik in Fichtes Philosophie kennzeichnen. Prägnant fasst 193 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="194"?> 30 Bachmaier (1991: 263). 31 [1837] 32 Vgl. zu diesen Ausführungen Bachmaier (1991: 263). 33 Bachmaier (1991: 263); vgl. Kants Brief an Johann Heinrich Tieftrunk vom 5. 4. 1798 in Kant, Immanuel (1970). Briefe. Hrsg. u. eingel. von Jürgen Zehbe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 261 f. (Nr. 184). 34 Bezüglich Kant spricht Grillparzer von einer „Philosophie der Bescheidenheit, die das demütige ‚Ich weiß nicht‘ an die Spitze des Systems stellt“ (G4 222, [1850 / 51? ], vgl. dazu auch B 199). Grillparzer diese Aporien „im Bilde der sich selbst zermahlenden Mühle“ 30 zusammen: Die Grübelei aber ist eine in Gang gesetzte Mühle, die wenn einmal das Aufgeschüttete verarbeitet ist, immer fort geht, bis sie die Mühlsteine, die Vorrichtung, und so sich selbst zermahlen hat. (G3 811) 31 Während das „Denken […] zuletzt demütig vor den unauflöslichen Grundfakten stehen bleibt“, ohne dabei an ihnen - oder am eigenen Selbst, welches „eben auch ein unerklärliches Grundfaktum ist“ - zu zweifeln, macht die „Grübelei“ nicht davor Halt (vgl. G3 811). 32 Vielmehr verstrickt sich diese in „Spekulazionen“ (sic! ), die - so Bachmeier - „an Kants Einspruch gegen Fichte“ erinnern, „dessen Philosophie des absoluten Ich […] an eine Hand [gemahne], die nach sich selbst zieht.“ 33 Das von Fülleborn hervorgehobene nicht-possessive Verhältnis zum Leben und zur Wirklichkeit findet sich hier in der Demut wieder, mit der das Subjekt den „unauflöslichen Grundfakten“ und sich selbst als „unerklärliches Grundfaktum“ begegnen soll - jener doppelten Unverfügbarkeit, von der bereits die Rede war. 34 Das „Grundfaktum“ wird allerdings nicht ausschließlich als etwas Schreckliches wahrgenommen, sondern durchaus erst neutral im Sinne eines Gegebenen, das nicht weiter hinterfragt werden kann: als das, was ist, was angenommen werden soll, ohne sich dabei in der selbstreferentiellen Schleife idealistischer Reflexion zu verlieren. Grillparzers Kritik des Systemdenkens zeigt sich nicht nur an seinen Ausein‐ andersetzungen mit der deutschen idealistischen Philosophie, sondern auch auf einer allgemeinen Ebene. Zwischen 1820 und 1821 formuliert er in seinem Tagebuch den Grundsatz seiner Betrachtung von Kunst und Literatur: Ich nehme mir bei diesen Bemerkungen vor, ohne Rücksicht auf ein System, über jeden Gegenstand dasjenige niederzuschreiben, was mir aus seinem eigenen Wesen zu fließen scheint. Die dadurch entstehenden Widersprüche werden sich am Ende 194 Antonio Roselli <?page no="195"?> 35 [Tgb. 888, 1820 / 21] 36 Vgl. Schaum, Konrad (2001). Kritische Geschichtsbetrachtung und historische Tragödie. Zu Grillparzers Ein Bruderzwist in Habsburg. In: Ders. Grillparzer-Studien. Bern u. a.: Peter Lang, 273-290, hier 274. 37 „Das Vorteilhafte besteht - insofern sie sich innerhalb ihrer Grenzen hält - in der Beweisbarkeit ihrer Ansprüche; der Nachteil, eben in diesen Grenzen.“ (G3 217 [Tgb. 879, 1820 / 1821]) 38 [Tgb. 879, 1820 / 1821] entweder von selbst heben, oder, indem sie nicht wegzuschaffen sind, mir die Unmöglichkeit eines Systems beweisen. (G3 213) 35 Die Hingabe an den ästhetischen Gegenstand steht vor dessen Einordnung in ein System, wobei mit dem Begriff des ‚Systems‘ nicht nur ein in sich schlüssiges, widerspruchsfreies Ganzes verstanden wird, sondern auch ein Ordnungsgefüge, welches die Gegenstände vorab herbzw. zurichtet. Dieses ‚Präparieren‘ der Objekte - so Grillparzers Vorbehalt - verunmöglicht allerdings deren Erkennbarkeit. 36 Zugleich weist die zitierte Stelle zwei Eigenschaften auf, die für Grillparzers Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomenen prägend sind. Zum einen wird auf die Form der Auseinandersetzung verwiesen: Es handelt sich explizit um „Bemerkungen“, deren fragmentarischer Charakter im Vordergrund steht, wodurch sie formal bereits dem geschlossenen System entgegengesetzt werden. Zum anderen wird den „Widersprüchen“ ein eigenes ‚Existenzrecht‘ zugeschrieben - wodurch wiederum der antisystematische Zug seiner Auseinandersetzung mit ästhetischen Gegenständen hervorgehoben wird. In einen Tagebucheintrag von 1820 / 1821 unterscheidet Grillparzer zwischen einer „wissenschaftliche[n]“ und einer „beschauliche[n] oder kontemplative[n]“ Art, „die Welt zu betrachten“. Die wissenschaftliche Art der Weltbetrachtung ist eine, die ihre sinnlichen Grundlagen ausblendet und schnell der Hybris zu verfallen droht, sobald sie - und hier wird die zentrale Rolle Kants für Grillparzer deutlich 37 - ihre Grenzen überschreitet, was passiert, sobald sie sich der Frage nach dem Sinn stellt, nach dem „letzten Zusammenhang der Dinge, [der] unsichtbaren Kette, die die Sinnenwelt und das darüber befestigte mit einem Bande verknüpft“ (G3 217). 38 Der Bereich des Wissens „mit seiner strengen Beweisbarkeit“ hört an dieser Stelle auf, jegliche weitere Annäherung lässt sich nur im Modus der „Beschauung“ fortführen. Es handelt sich dabei um eine ästhetische Erkenntnisform, bei der der Gegenstand umleuchtet, erhellt und mit einer Lebendigkeit ins Bewußtsein aufgenommen wird, die beinahe keinen Unterschied zwischen dem Gegenstande und seiner Vorstellung erkennen lässt. (G3 218) 195 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="196"?> 39 Matt, Peter von (2007). Eros und Politik. Über Grillparzers Tragödie ›Libussa‹. In: Ders. Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München: Hanser, 203-212, hier 204. Diese ästhetische Erkenntnisform vollzieht sich im Medium der Poesie (während die wissenschaftliche Weltbetrachtung sich dem Medium der Prosa bedient), sie wertet die Sinnlichkeit auf, ohne den Verstand und die Vernunft auszuschließen, sondern diese „als Teil des Ganzen, ohne vorherrschende Gewalt“ (G3 218) miteinbezieht. Als spezifische Form der Erkenntnis, wird auch die Bewegung der Beschauung unter Verwendung der Lichtmetaphorik beschrieben, aber auf eine Weise, die - im Sinne Fülleborns - nicht-possessiv bzw. „arm“ ist: Besonders die Kombination des „Umleuchtens“ und „Erhellens“ weisen auf eine demütige Annäherung an den Gegenstand hin, der aus ver‐ schiedenen Perspektiven behutsam beleuchtet wird, bevor es in das Bewußtsein aufgenommen werden kann. Diese Aufnahme wiederum vollzieht sich nicht im Modus einer Inbesitznahme, da es sich nicht um eine Unterordnung des Ge‐ genstandes unter einen Begriff handelt (das, was Grillparzer das „Vorherrschen des Begriffs“ nennt, G3 219), sondern eine Aufnahme, bei der der Gegenstand ‚aufgenommen‘ wird, bis der Unterschied zwischen ihm und seiner Vorstellung verschwimmt. Während der Begriff die Evidenz des Gegenstandes als sich Gebendes im Augenblick seiner Inbesitznahme negiert, hebt die Beschauung trotz (oder gerade wegen) der Aufhebung des Unterschieds zwischen Gegenstand und Vorstellung die Evidenz des Gegenstandes nicht auf - mehr noch: In der Poesie erhält der Gegenstand eine eigene Realität. Die Unterscheidung zwischen rationaler Erkennbarkeit und Erfahrbarkeit, die Fülleborn unternimmt (vgl. EW 108), ist für die Frage nach der Evidenz zentral. Im Medium der Poesie (und der Kunst allgemein) wird eine Erfahrung der Evidenz der Wirklichkeit ermöglicht, während die rationale Erkennbarkeit und Berechenbarkeit der Wirklichkeit an ihrer Unverfügbarkeit scheitern. Die Realität wird „unmittelbar erfahren“, während „ihr Wirklichsein durch rationale Operationen nicht bewiesen werden kann und eines derartigen Beweises auch nicht bedarf.“ ( EW 108) Die eigene Realität, die die Wirklichkeit in der Poesie erhält, wird von Grillparzer im Sinne einer Materialisierung durch die spezifischen rhetorischen Mittel der Poesie verstanden. Die Sprache der Poesie abstrahiert nicht von der Wirklichkeit (was stattdessen in der Sprache der Prosa passiert), sondern kon‐ kretisiert sie. Auf den zentralen Stellenwert der körperlichen Dimension ver‐ weist Peter von Matt: Für Grillparzer galt die „sinnliche Erscheinung mehr […] als der Gedanke, das farbige Zeichen mehr als die Sentenz, die Gebärde mehr als das Wort“, 39 während die Initialzündung für seine künstlerische Tätigkeit keine 196 Antonio Roselli <?page no="197"?> 40 Matt (2007: 204). 41 [Tgb. 3208, 1837] 42 [Tgb. 1018, 1822] intellektuelle Krise - etwa wie die sogenannte „Kant-Krise“ bei Kleist - war, sondern ein „sinnliche[r] Schock“, den er beim Besuch von Mozarts Zauberflöte erfahren hat. 40 Die für das Verständnis von Grillparzers Ästhetik zentrale Rolle der Sinnlichkeit durchbricht allerdings die von Peter von Matt präsentierten Gegensätze, da in der Poesie auch das Wort sinnlich ist. Dieser zentrale Gedanke wird von Grillparzer in verschiedenen Tagebuchein‐ trägen thematisiert, die besonders die bildschöpfende Macht der Sprache als ihre spezifische Form der Konkretisierung hervorheben, wodurch in der Sprache die Evidenz der Wirklichkeit erfahrbar wird. Die Grundstruktur ist dabei eine chiastische: „Poesie ist die Verkörperung des Geistes, die Vergeistigung des Körpers, die Empfindung des Verstandes und das Denken des Gefühls.“ (G3 284) 41 Dieser Chiasmus von Körper und Geist macht die spezifische Wirkung der Poesie aus, die abhandenkommt, wenn sie Weltanschauungsdichtung sein will und sich einer philosophischen Idee unterordnet: Nicht die Ideen machen den eigentlichen Reiz der Poesie aus; der Philosoph hat deren vielleicht höhere: aber daß die kalte Denkbarkeit dieser Ideen in der Poesie eine Wirklichkeit erhält, das setzt uns in Entzücken. Die Körperlichkeit der Poesie macht sie zu dem was sie ist und wer sie, wie die Neuern, zu sehr vergeistigt, hebt sie auf. - Hierher gehört der Reiz des Bildes, der Metapher, der Vergleichung und warum z. B. eine Fabel mehr überzeugt, als der ihr zu Grunde liegende moralische Satz. (G3 286) 42 Da es sich um Sprache handelt, können der „Reiz des Bildes, der Metapher, der Vergleichung“ nicht ohne Metaphern, Bilder und Gleichnisse empfunden werden. Die „Körperlichkeit der Poesie“ ist ein solches Bild, das performativ die eigene Evidenz erzeugt, indem sie a) ein sprachliches Bild ist und b) dieses sprachliche Bild genau das leistet, wovon es spricht: Eine so starke Konkreti‐ sierung, wodurch die Evidenz uns fast als ein Gegenstand mit seiner körper‐ lichen Präsenz erscheint. Die Metapher der „Körperlichkeit“ erzeugt zudem eine Spannung, da ihre Verbindung mit der „Poesie“ auf Anhieb kontraintuitiv erscheint. Doch genau diese Störung durch den „uneigentlichen Ausdruck[]“, so Grillparzer in einer anderen Notiz, setzt unsere durch die konventionalisierten Metaphern abgestumpfte Vorstellungskraft wieder in Gang: „Das Bild und, weiter fortgesetzt, das Gleichnis nötigt uns aber aus dieser stumpfen Gewohn‐ heit heraus und die unentsprechende Bezeichnung wirkt stärker als die völlig 197 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="198"?> 43 [Tgb. 3984, 1848] 44 [Tgb. 3202, 1837] 45 „Mit der Poesie ist es wie mit den Religionen. Wenn beide einmal ihre Echtheit durch Wunder bewährt haben, muß man über die einzelnen Sätze keine Beweise mehr fordern, sondern an sie glauben.“ (G3 284 [Tgb. 1095, 1822]) 46 Fülleborn, Ulrich (2000c). Grillparzers Sprachen [1967]. In: Ders. Besitz und Sprache. Of‐ fene Strukturen und nicht-possessives Denken in der deutschen Literatur. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Blamberg, Günter / Engel, Manfred / Ritzer, Monika. München: Fink, 154-168, hier 163. Das Zitat im Zitat stammt aus Wittgensteins Tractatus logico-philo‐ sophicus, Satz 2.12. 47 [Tgb. 4023, 1849? ] Interessant ist an dieser Stelle Grillparzers Auffassung der Nach‐ ahmung der Natur, die kein „Abklatschen des Wirklichen“ sein soll, sondern beim Rezipienten „dasselbe Gefühl des Bestehens“ entstehen lassen soll, „wie bei Betrachtung der Natur. Das oben erwähnte: Es ist hat das echte Kunstwerk mit der Natur gemein.“ gemäße.“ (G3 287) 43 Eine Steigerung erfährt das Bild der „Körperlichkeit“ in einer weiteren Notiz: Das Symbolische der Poesie besteht darin, daß sie nicht die Wahrheit an die Spitze ihres Beginnens stellt, sondern, bildlich in allem, ein Bild der Wahrheit, eine Inkarna‐ tion derselben, die Art und Weise wie sich das Licht des Gesteins in dem halbdunkeln Medium des Gemüts färbt und bricht. (G3 287) 44 Im Sprachbild, in der Metapher verkörpert sich die Wahrheit - wobei dieser Prozess eine fast schon religiöse Dimension annimmt, wenn man die „Inkar‐ nation“ im Sinne der Menschwerdung Gottes versteht. Die Menschbzw. Fleischwerdung Gottes ist die absolute Evidenz, die erfahren wird, ohne durch die Ratio verstanden werden zu können: 45 Für Grillparzer gilt, daß die ›erweislose‹ Wirklichkeit nicht gestaltlos ist, sondern daß sich ihre innere Struktur, die nicht eigens ausgesprochen werden kann, in drama‐ tisch-theatralischen Szenen und sprachlichen Gleichnissen spiegeln läßt. Grillparzer erprobt ›Bilder‹ als ›Modelle der Wirklichkeit‹. 46 Ähnlich wie die Natur (und im Gegensatz zu den Wissenschaften), kann auch die Poesie sagen: „das ist, und wenn das Gemüt die Wahrheit empfunden hat, ist von einem Erweis oder Zweifel weiter nicht die Rede.“ (G3 283) 47 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ Diese antisystematische Zugangsweise lässt sich nicht nur auf die Auseinan‐ dersetzung mit Philosophie, Kunst und Literatur beziehen. Vielmehr wirkt sie ebenfalls auf verschiedenen Ebenen und unter Berücksichtigung anderer Gegenstände: mit Blick auf die soziale, historische, im weitesten Sinne kulturelle 198 Antonio Roselli <?page no="199"?> 48 Fülleborn (1971: 304). 49 Bachmaier (1986: 608). 50 Bachmaier (1986: 608 f.) 51 Bachmaier (1991: 264). Wirklichkeit und deren Repräsentation und Thematisierung im ästhetischen Gegenstand. Auf diese Weise schafft er Modelle, die den Zuschauer zwingen, das Ganze des Bühnengeschehens in dem glei‐ chen Sinn aufzunehmen, also immer zu den rationalen und ideellen Verbindungen das Ungreifbare, Unverfügbare der Wirklichkeit selbst hinzuzudenken. Läßt sich die […] Spontaneität, das „unbedingte“ Hervorgehen der Ereignisse aus einem unerkennbaren Grund, als die spezielle Zeitlichkeit der Geschehensebene ansehen, so ist das Bild der „Kluft“ das wichtigste Mittel, dem Publikum auch zu einer räumlichen Vorstellung jener fundamentalen Schicht zu verhelfen. 48 Dieser letztlich kontingenten Wirklichkeit wird der Ordo-Begriff entgegenge‐ setzt, der gemeinsam mit der Geschichte einen „prinzipiellen Dualismus“ bildet, „der sich bei Grillparzer der Vermittlung sperrt und die tragischen Situationen fundiert“: 49 Auf der einen Seite rangiert die Vorstellung eines überzeitlichen Ordo, der als ewig gültige Seinsordnung die Welt erhält […]; auf der anderen der Zeit-Raum der Geschichte, in dem das Subjekt in Handlungen seinen Begriff der Autonomie und Freiheit und damit sich selbst realisiert. 50 Dieser Raum der Geschichte ist allerdings nicht per se der Ort einer glückenden Realisierung der Autonomie und Freiheit, vielmehr läuft diese Selbstrealisierung stets die Gefahr, ohne metaphysische Rückkopplung schnell der Hybris zu verfallen und das Subjekt daran zugrunde gehen zu lassen. So benötigt etwa Primislaus, um seine politische Herrschaft zu stabilisieren, die Zukunftsvision von Libussa, die mit diesem letzten Akt als Vertreterin einer nunmehr abgelösten sakralen Ordnung sich selbst aufgibt. Ähnlich wie die Geschichte als Ort der Verwirklichung von Freiheit und Autonomie zugleich auch der Ort des Scheiterns an dieser Verwirklichung sein kann, ist die Evidenz des Seins - dessen Gegebenheit -, wie diejenige eines „transzendenten Ordo[s]“, nicht durchgängig gewährleistet. Es reicht ein Augenblick des Zweifelns, um diese prekäre Struktur der Gewissheit ins Wanken zu bringen: Der fundamentale Hiatus besteht für Grillparzer jedoch in der Unvermittelbarkeit von Ordometaphysik ontologischer, letztlich barockscholastischer Provenienz und Geschichtlichkeit moderner, selbstermächtigter Subjektivität. 51 199 „Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis“ <?page no="200"?> 52 Vgl. zur Unterscheidung von Macht und Gewalt im Kontext von Grillparzers Bruder‐ zwist Müller, Max (1994). Anmerkungen zum Verhältnis von Macht und Tragik bei Franz Grillparzer. In: Neumann, Gerhard / Schnitzler, Günter (Hrsg.). Franz Grillparzer. Historie und Gegenwärtigkeit. Freiburg im Breisgau: Rombach, 203-207. Diejenigen Figuren, die die Erfahrung der Evidenz des Seins machen, gehören meistens der mythischen bzw. sakralen Sphäre an (Medea, Rudolf II ., Libussa), während diejenigen, die sich in der Sphäre des Profanen bewegen - und so der Zeit unterliegen - einen gewaltsamen Umgang mit der Wirklichkeit pflegen. 52 Der Vorwurf der Gewaltsamkeit richtet sich dabei nicht nur an einen instrumentellen Umgang mit der Wirklichkeit (die Reduktion der Natur auf Ressourcen, die es auszubeuten gilt), sondern auch auf die philosophische Zurichtung des Gegebenen, dessen Unterordnung unter abstrakten Begriffen. Viele Dramen - man denke an Das goldene Vließ, Ein Bruderzwist in Habsburg oder Libussa - lenken den Blick auf die Übergänge von einem Ordnungsmodell zu einem anderen (von der sakralen zur profanen Ordnung, vom Mythos zum Logos, von der Barbarei zur Kultur). Das Neue geht dabei nicht aus Altem hervor, die Ablösung steht nicht im Zeichen einer Notwendigkeit, sondern vollzieht sich als Ereignis. Diese Übergänge sind immer auch Krisenmomente, die auf eine konstitutive Inkommensurabilität beider Ordnungen verweisen, da aus Sicht der sakralen Ordnung die profane Ordnung als Chaos erscheint, während umgekehrt die sakrale Ordnung als irrational empfunden wird. Das Vertrauen in die Macht der Evidenz erweist sich besonders in der Verhandlung der Krisenmomente in den späten Dramen als brüchig. So weist die folgende Bemerkung von Julius im Bruderzwist mehr die Züge einer Wunschvorstellung als die einer Feststellung auf: Die Welt, sie fühlt die Ordnung als Bedürfnis, Und braucht nur ihr entsetzlich Gegenteil In voller Blöße nackt vor sich zu sehn, Um schaudernd rückzukehren in die Bahn. (G2 423 f./ V. 2160-2163) Eine Rückkehr zur Ordnung erweist sich aber als unmöglich, sobald die Zeit zum eigentlichen Subjekt der Handlung wird. Eine schwache Form der Rettung liefert möglicherweise die Poesie, die die Möglichkeit der Evidenzerfahrung weiterhin offenlässt und das Subjekt an eine nicht-possessive, demütige Haltung gegenüber der Wirklichkeit erinnern kann. 200 Antonio Roselli <?page no="201"?> Literatur Primärliteratur Grillparzer, Franz (1960-1965). Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Be‐ richte. Bd. 1-4. Hrsg. von Frank, Peter / Pörnbacher, Karl. München: Hanser. Sekundärliteratur Bachmaier, Helmut (1986). Grillparzers Dramen. In: Grillparzer, Franz. Werke in sechs Bänden, Bd. 2. Dramen 1817-1828. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Frankfurt am Main: Klassiker Verlag, 601-658. Bachmaier, Helmut (1991). Grillparzer: Ordo und Geschichte [1988]. In: Ders. (Hrsg.) Franz Grillparzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 259-270. Blumenberg, Hans (1969). Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Jauß, Hans Robert (Hrsg.) Nachahmung und Illusion. Poetik und Hermeneutik I. 2., durch‐ gesehene Auflage. 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Um dem auffälligen Mangel an zuverlässigen französischen Übersetzungen Abhilfe zu schaffen, kamen Ende 2017 Grillparzers ‚antike Dramen‘ (Sappho, Das goldene Vließ und Des Meeres und der Liebe Wellen) in neuer Übersetzung heraus. Es besteht die Hoffnung, dass sich die Rezeptionssituation Grillparzers in Frankreich ändert, wenn sich auf Grund dieser Übersetzungen ein großes Theater oder ein namhafter Regisseur Grillparzers Stücken annimmt. Die Forschung kann dem Theater zweifellos interessante Impulse geben. Zu Beginn eines Aufsatzes über die französische Grillparzer-Forschung seit 1900 schrieb der namhafte französische Germanist Jean-Louis Bandet vor fast einem halben Jahrhundert (1972): Wer über die französische Grillparzer-Forschung bzw. über die Aufnahme seiner Werke in Frankreich berichten will, muß zunächst eines feststellen: mit dem Werk des österreichischen Dramatikers befassen sich fast nur die Fachspezialisten, die <?page no="204"?> 1 Bandet, Jean-Louis (1972). Die französische Grillparzer-Forschung seit 1900. In: Kinder‐ mann, Heinz (Hrsg.). Das Grillparzer-Bild des 20. Jahrhunderts. Festschrift der Öster‐ reichischen Akademie der Wissenschaften zum 100. Todestag von Franz Grillparzer. Wien: Böhlau, 133-147, hier 135. 2 Lacheny, Marc, Lajarrige, Jacques und Leroy du Cardonnoy, Éric (Hrsg.) (2016). Mo‐ dernité du mythe et violence de l’altérité. La Toison d’or de Franz Grillparzer. Rouen: PURH. Professoren der Germanistik und manchmal ihre Studenten. Das breitere Publikum aber, sogar das gebildete, kennt nicht einmal den Namen Franz Grillparzer. 1 Diese eher enge und zögerliche französische Rezeption lässt sich heute noch sowohl in der Literaturgeschichte als auch in den Übersetzungen und Auffüh‐ rungen von Grillparzers Dramen weiterverfolgen, aber einiges spricht trotzdem für eine Renaissance Grillparzers in der französischen Germanistik und Thea‐ terlandschaft. 2016 und 2017 stand Grillparzers Trilogie Das goldene Vließ nämlich auf dem Programm des französischen ‚Concours de l’agrégation d’allemand‘, d. h. der Staatsprüfung für Gymnasiallehrer, was Anlass war für verschiedene Tagungen und Veröffentlichungen, namentlich für die Publikation eines Sammelbands, der die Ergebnisse der Pariser Tagung im Januar 2016 dokumentiert: Modernité du mythe et violence de l’altérité: La Toison d’or de Franz Grillparzer (Modernität des Mythos und Gewalt der Alterität: Das goldene Vließ von Franz Grillparzer). 2 Diese Publikation zeugt von einem bemerkenswerten neuen Forschungsinteresse an Grillparzer in Frankreich, auf dessen Ursachen, Tendenzen und Zukunftsper‐ spektiven später eingegangen wird. Hier fällt ebenfalls nicht nur die enge Verbindung zwischen der Forschung und dem Programm der ‚Concours‘ ins Auge, sondern auch die Aktualität des Themas ‚Grillparzer und Frankreich‘ selbst. Die vorliegende Studie möchte die nicht gerade lineare französische Grill‐ parzer-Rezeption (Platz in der Literaturgeschichte und in der französischen Germanistik, Aufführungen, Übersetzungen) vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute nachzeichnen, wobei sich ganz bestimmte Fragen dazu aufdrängen: Warum scheitert bzw. fehlt eine bedeutende Rezeption in der französischen Öffentlichkeit? Wie lässt sich das neue französische Interesse an der Vließ-Tri‐ logie erklären (sowohl auf der Bühne als auch in der Forschung), das auch für die deutsche Forschungsliteratur und Aufführungspraxis gilt? Lassen sich - natürlich großteils spekulativ - bestimmte Zukunftsperspektiven (etwa das Potenzial für weitere Interpretationen) verzeichnen? Mit anderen Worten: Was kann eine solche Analyse für das Thema „Grillparzer heute“ ergeben und was kann heute bedeuten, Grillparzer im 21. Jahrhundert „von Frankreich aus“ zu 204 Marc Lacheny <?page no="205"?> 3 Demarche, Jean-Pierre (2006). Paris: Ellipses. 4 Ebd., 6. Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser. lesen? In diesen Punkten möchte der Beitrag keine fertigen Antworten geben, sondern eher - auch transnational - die Diskussion eröffnen. Grillparzer in der französischen Literaturgeschichte und Germanistik Für die meisten französischen Standardlexika- und wörterbücher gilt, dass Grillparzers Werk noch nicht intensiv berücksichtigt wird. Der französische Leser, der mehr über Grillparzer erfahren möchte, sieht sich beim Nachschlagen in den betreffenden Publikationen drei unterschiedlichen Sachlagen gegenüber. Erstens kann er auf das Problem stoßen, dass der Name Grillparzer nicht einmal genannt wird - auch wenn diese Situation eher die Ausnahme ist. Das wohl markanteste Beispiel bildet Jean-Pierre Demarches Guide de la littérature allemande des origines à nos jours (2006): 3 In diesem Buch, das 100 bemerkens‐ werte Werke der deutschsprachigen Literatur präsentiert, ist kein Werk von Grillparzer (aber auch keines von Raimund oder Nestroy) vertreten. Die Gründe für diese Abwesenheit werden im knappen Vorwort des Herausgebers kaum erklärt: „Wie jede Wahl ist die der vorgestellten Werke zwangsläufig willkürlich, ja sogar subjektiv. […] Wir sind uns dessen bewusst, dass viele andere Autoren, viele andere Werke in diesem Handbuch hätten stehen können.“ 4 Unter den österreichischen Autoren des 19. Jahrhunderts ist einzig und allein Adalbert Stifter (Der Nachsommmer, 1857) vertreten. Häufiger jedoch wird Grillparzer in den französischen Literatur- und Thea‐ terlexika schon erwähnt, aber oft knapp und mehr oder weniger oberflächlich, wobei öfters Meinungen der älteren Grillparzer-Forschung tradiert werden (etwa Grillparzer als der große ‚Klassiker‘ der österreichischen Literatur). Es ver‐ steht sich von selbst, dass - auf Grund der vor allem informativen Funktion der allgemeinen Literaturbzw. Theatergeschichten - die Darstellung des Autors sich auf nur einige Grundzüge beschränken muss, die nicht selten an Stereotyp und Klischee grenzen. Als Beispiel seien hier die Bemerkungen der bekannten französischen Germanistin Geneviève Bianquis (damals Professorin an der Universität Dijon) zitiert, die in ihrer Histoire de la littérature allemande (1936, 2. Aufl. 1958) aus Grillparzer den eigentlichen ‚Retter‘ der österreichischen Literatur macht: Grillparzer (1791-1872) repräsentiert die glänzende Wiedergeburt der österreichi‐ schen Literatur nach drei bzw. vier Jahrhunderten Schweigen oder Bedeutungslosig‐ 205 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="206"?> 5 Bianquis, Geneviève (1958). Histoire de la littérature allemande. Paris: Armand Colin, 111-114, hier 111. Diese Bemerkungen erinnern an die damaligen Klischees der österreichischen Rezeption, mit der wohl ein aufschlussreicher Vergleich angestellt werden könnte. 6 Bandet, Jean-Louis (1987). La littérature allemande. Paris: PUF, 78-80, hier 78. 7 Birbaumer, Ulf (2008). Franz Grillparzer. In: Corvin, Michel (Hrsg.). Dictionnaire encyclo‐ pédique du théâtre à travers le monde. Paris: Bordas,/ SEJER 648. 8 Hartje, Hans (2008). Histoire de la littérature allemande. Paris: Ellipses, 81. keit. Als Schüler von Schiller und Goethe, aber auch von Racine und den Alten, von Shakespeare und Calderon, trägt er in sich jene Blume der kosmopolitischen Bildung, die eine so typisch österreichische Qualität ist. Wiener durch seine Herkunft und durch sein ganzes Leben als düsterer und verbitterter Bürokrat weist sein Theater die nervöse Grazie der Wiener, ihre Melancholie, ihre abwechselnd üppige und zärtliche Phantasie auf. 5 In seinem Buch La littérature allemande (1987) bezeichnet der Stifter-Spezialist Jean-Louis Bandet Grillparzer ähnlich als „den großen Klassiker des österreichi‐ schen Theaters“ und fügt hinzu: „er ist der Erbe sowohl der barocken katholischen Tradition als auch des Volkstheaters, und er versucht mit Schiller und Goethe zu wetteifern“. 6 In einem Beitrag zum monumentalen Dictionnaire encyclopédique du théâtre à travers le monde (2008) bietet der österreichische Theaterforscher Ulf Bir‐ baumer eine Art Synthese dieser Urteile, indem auch er Grillparzers ‚Klassizität‘ hervorhebt: „Er ist der Vertreter eines klassischen Theaters im Sinne von Goethe.“ 7 Schließlich wird in der kurzen Histoire de la littérature allemande (2008) von Hans Hartje Grillparzers Name nur flüchtig genannt, gemeinsam mit sehr unterschied‐ lichen Autoren (Gotthelf, Mörike, Droste-Hülshoff, Stifter, Lenau, Raimund), die den „repli sur soi“ („Selbstbesinnung“) und die Abkapselung von der Welt statt des politischen Handelns bevorzugt hätten. 8 Die „zwei Jahrhunderte Bedeutungslosig‐ keit“ der österreichischen Literatur vor Grillparzers Auftreten, die Hartje hier zur Sprache bringt, ergänzen sozusagen die „drei bzw. vier Jahrhunderte Schweigen oder Bedeutungslosigkeit“, die G. Bianquis mehr als ein halbes Jahrhundert früher evoziert hatte. Interessanterweise findet eine solche Sichtweise einen Nachklang in Heinz Schlaffers Kurzer Geschichte der deutschen Literatur (2002), die die österreichische Literatur des 18. Jahrhunderts völlig ignoriert; außerdem würden die österreichischen Autoren mit ihren protestantischen Kollegen erst um 1900 wetteifern, d. h. erst zur Zeit der Wiener Moderne. Eine solche Marginalisierung der österreichischen Literatur gipfelt im folgenden pauschalen Urteil Schlaffers: „Vor Raimund und Grillparzer gibt es keine österreichischen, vor Valentin und Brecht keine bayerischen Dichter, die mehr als eine lokale Erscheinung gewesen 206 Marc Lacheny <?page no="207"?> 9 Schlaffer, Heinz (2002). Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München und Wien: Hanser, 135. In zahlreichen Geschichten der deutschen Literatur werden die (sprachlichen, politischen, etc.) Besonderheiten der österreichischen Literatur vor der Zeit der Wiener Moderne kaum wahrgenommen, wobei diese Besonderheiten oft im Adjektiv deutsch verschwinden. 10 Plard, Henri (1959). Franz Grillparzer (1791-1872). In: Mossé, Fernand (Hrsg.). Histoire de la littérature allemande. Paris: Aubier-Montaigne, 627-633, hier 628. 11 Ebd. 12 Vgl. Magris, Claudio (1963). Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna (deutsch 1966: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur). wären.“ 9 Lassen sich aus dieser literarhistorischen Missachtung bzw. Ignoranz Schlüsse ziehen? Bei Schlaffer äußert sich eine deutliche Herablassung gegenüber der ganzen österreichischen Literatur bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Wiener Moderne); im Fall der zitierten französischen Kritiker wird das Klischee von Grillparzer als ‚österreichischem Nationaldichter‘ betont und fortgesetzt. Auf der Grundlage ihrer knappen Aussagen ist aber nicht klar zu entscheiden, ob sie dabei andere literarische Präferenzen haben (Grillparzer wäre etwa nur der österreichische Epigone der Weimarer Klassik) oder ob die Oberflächlichkeit ihrer Urteile kein grundsätzliches Merkmal der literarhistorischen Darstellung wäre. Manchmal wird Grillparzers Werk ausführlicher dargestellt. Eines der we‐ nigen Beispiele dafür in meinem Korpus bilden die Seiten, die Henri Plard in der nach wie vor bedeutenden Histoire de la littérature allemande aus dem Jahre 1959 Grillparzer widmet. Zunächst betont er das vielfältige dramatische Erbe, in das sich Grillparzers Werk einschreibt: das Wiener Vorstadttheater, die deutsche Klassik (Goethe, Schiller), von der Grillparzer sich doch durch die Vitalität seines Theaters entferne („Sein Klassizismus ist frischer, weniger feierlich, lebendiger als der der Deutschen“ 10 ), die spanische Tradition (Calderón, Lope de Vega). Zuletzt sieht Plard in Grillparzer die Verkörperung des patriotischen österreichischen Dichters: er will sein Publikum […] zum Bewusstsein und zum Stolz der österreichischen Größe erheben - und wie einst Shakespeare die großen Momente der Chronik seines Vaterlands auf die Bühne bringen: Sein Theater ist also ebenso national wie volkstümlich. 11 Auch hier lassen sich interessante Bezüge zur österreichischen Nachkriegs‐ rezeption herstellen, die auch gerne den Schwerpunkt auf den ‚Patrioten‘ Grillparzer (König Ottokars Glück und Ende) lenkte, weil man sich bemühte, sich von allem Deutschen abzusetzen und eigenständige österreichische Traditionen zu konstruieren. 12 207 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="208"?> 13 Vgl. Lajarrige, Jacques (1999). Franz Grillparzer (1791-1872). In: Polet, Jean-Claude (Hrsg.). Patrimoine littéraire européen. Renaissances nationales et conscience uni‐ verselle (1832-1885). Brüssel: De Boeck, Bd. XI, 860-869; Lajarrige, Jacques (2006). Grillparzer, voyageur malgré lui. Austriaca 62, 85-111; Lajarrige, Jacques (2006-2007). Franz Grillparzer et le conflit des nationalités. Chroniques allemandes 11, 127-145; Lajarrige, Jacques (2011). Worin unterscheiden sich die österreichischen Dichter von den übrigen? Franz Grillparzer et l’historiographie littéraire en Autriche. Le texte et l’idée 25, 93-117. 14 Vgl. z. B. Leroy du Cardonnoy, Éric (2009). Le Musicien des rues de Franz Grillparzer: une rhétorique de l’échec. In: Lacheny, Marc und Laplénie, Jean-François (Hrsg.). „Au nom de Goethe! “ Hommage à Gerald Stieg. Paris: L’Harmattan, 225-234; Leroy du Cardonnoy, Éric (2010). Les traductions françaises de L’Aïeule de Franz Grillparzer au 19 ème siècle: une forme particulière du passage à l’acte. In: Schmiele, Corona (Hrsg.). Passages à l’acte: interprétation, traduction, (ré-)écriture. Paris: Éditions Indigo & Côté femmes, 86-97, und La trilogie de la Toison d’or de Franz Grillparzer: la tradition revisitée. In: Ebd., 132-148. Sucht man aber nach genaueren Angaben, scheint es notwendig, sich jetzt auf den Stellenwert zu konzentrieren, der Grillparzer von der französischen Germanistik von 1900 bis heute eingeräumt wird. Die neuesten wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Grillparzer in Frankreich, die sich durch ihre frappierende Vielfalt auszeichnen, lassen sich in zwei Kategorien gliedern: Entweder werden sie von französischen ‚Aust‐ riazisten‘ verfasst, die aus Grillparzer eine bedeutende Komponente ihrer jeweiligen Forschungsfelder gemacht haben (Marc Lacheny, Jacques Lajarrige, Éric Leroy du Cardonnoy), oder sie sind das Ergebnis ‚äußerer‘ Gründe (z. B. Programm des ‚Concours de l’agrégation d’allemand‘, 100. Todestag und 200. Geburtstag von Grillparzer). Was die neuesten Publikationen französischer Forscher angeht, so verfasste Jacques Lajarrige (Professor für Germanistik an der Universität Toulouse), der aktuelle Chefredakteur der Zeitschrift Austriaca, also ein zentraler Akteur der französisch-österreichischen Kulturbeziehungen, mehrere grundlegende Auf‐ sätze über Grillparzer, insbesondere über dessen Tagebücher, über Grillparzer und die Nationalitätenfrage, sowie über Grillparzer und die Literaturgeschichts‐ schreibung in Österreich. 13 Éric Leroy du Cardonnoy (Professor für Germanistik an der Universität Caen) widmete einen bedeutenden Teil seiner - leider noch unveröffentlichten - Habilitationsschrift (Sorbonne Universität, 2010) zu Literatur und Scheitern dem Werk Grillparzers, befasste sich außerdem mit den französischen Übersetzungen der Ahnfrau im 19. Jahrhundert und mit dem Goldenen Vließ. 14 Schließlich widmete Marc Lacheny (Professor für Germanistik an der Universität Lothringen - Metz) einen langen Teil seines Buchs Littérature „d’en haut“, littérature „d’en bas“? La dramaturgie canonique allemande et le 208 Marc Lacheny <?page no="209"?> 15 Lacheny, Marc (2016). Littérature „d’en haut“, littérature „d’en bas“? La dramaturgie canonique allemande et le théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy. Berlin: Frank & Timme, 188-219 und 326-331. 16 Ebd., 327. 17 Ebd., 326. 18 Ebd., 331. 19 Valentin, Jean-Marie (1992). Avant-propos: „correction d’image“. Études Germaniques 47 / 2, 111. théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy (Literatur „von oben“, Literatur „von unten“? Deutsche Klassik und Wiener Vorstadttheater von Stranitzky bis Nestroy) (2016) 15 dem Werk Grillparzers, das er als „ein Musterbeispiel für das Wechselspiel zwischen Theater ‚von oben‘ (Hoftheater) und Theater ‚von unten’ (Volkstheater)“ 16 versteht, als einen einzigartigen Versuch, „Wiener Vorstadttheater und Weimarer Klassik zusammenzufügen“ und als ein Beispiel für eine „teilweise[…] Verschmelzung“ 17 von beiden - insbesondere auf Grund der Bedeutung, die Grillparzer den spezifischen theatralen Elementen beimisst: dem Dramatischen und dem Theatralischen, dem stummen Spiel, der Mimik, der Gestik, der Theatralität, dem Visuellen und den Requisiten, wie dem Dolch, dem Vließ, dem Bild Rahels oder den Schmuckstücken von Libussa. In seinen Werken wie in seinen Reflexionen zum Drama hinterfrage Grillparzer „das Problem, die Grenzen und die Relevanz der Unterscheidung zwischen Bildungs- und Volkstheater“. 18 Diese weit gefächerten neuesten Publikationen französischer Forscher über Grillparzer eröffnen natürlich vielversprechende Zukunftsperspektiven. Was die kollektiven Unternehmungen (Tagungen und Veröffentlichungen) angeht, so gaben zunächst Roger Bauer, Jean-Louis Bandet und Alfred Doppler 1972 - anlässlich von Grillparzers 100. Todestag - ein Sonderheft der Zeitschrift Études Germaniques heraus, das z. B. Aufsätze zum dramatischen Aufbau und zur dramatischen Handlung bei Grillparzer (Marie-Antoinette Ibisch), zu Blanka von Kastilien ( Jean-Louis Bandet) oder zur Ahnfrau im Kontext des Schicksals‐ dramas (Roger Bauer) enthält. 1991, diesmal anlässlich von Grillparzers 200. Geburtstag, fand im Pariser Grand-Palais eine Tagung mit deutschen, österreichischen, französischen und englischen Grillparzer-Spezialisten statt, die zu einer „Korrektur des Grill‐ parzer-Bildes“ 19 beitragen wollte. In diesem thematisch sehr breit angelegten Sonderheft ist etwa vom Platz der Mythologie ( Jean-Louis Bandet), von den Be‐ ziehungen zwischen Kunst und Drama (Werner M. Bauer), von Konservatismus und Aufklärung ( Jean-Marie Valentin, Roger Bauer), vom Typ des Zerrissenen (Gérard Schneilin), von Realitätsbezug und Rezeption (W. Edgar Yates), von 209 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="210"?> 20 Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 3. Folge, Band 27 (2017-2018), 213-340. Beiträge von Jean Boutan, Jean-François Candoni, Nina Birkner, Gilles Darras, Albert Meier, Daniel Fulda und Gérard Laudin. Opfern (Walter Weiss), von Grillparzers Geschichtsbild (Helmut Bachmaier) oder von den Zeichen der Macht bei Grillparzer (Ingrid Spörk) die Rede. 25 Jahre später (2016 und 2017) stand die Trilogie Das goldene Vließ auf dem Programm der ‚Agrégation‘, d. h. der Staatsprüfung für das Lehramt an franzö‐ sischen Gymnasien. Aus der von Marc Lacheny, Jacques Lajarrige und Éric Leroy du Cardonnoy veranstalteten Tagung im Pariser Heinrich-Heine-Haus im Januar 2016 wurde ein 260-seitiges Buch mit dem Titel Modernité du mythe et violence de l’altérité. La Toison d’or de Franz Grillparzer (Modernität des Mythos und Gewalt der Alterität. Das goldene Vließ von Franz Grillparzer), das sich mit den unterschiedlichen Themen der Trilogie befasst: Wiener Theatergeschichte, historischem Kontext, Arbeit am Mythos, Dramaturgie und Struktur, Figuren, wiederkehrenden Themen und Symbolen. Michel Grimberg behandelt etwa am Beispiel Medeas den weiblichen Diskurs in Grillparzers Trilogie, Sigurd Paul Scheichl analysiert die Figur Kreusas und Fanny Platelle die dramaturgisch-sym‐ bolische Bedeutung der Gegenstände; Jacques Lajarrige setzt sich mit der Gewalt zwischen den Generationen mittels der Soziopoetik der Mythen auseinander; die Theaterpraxis (Katja Wimmer, Kerstin Hausbei) wird auch nicht vernachlässigt, und Éric Leroy du Cardonnoy und Dirk Weissmann arbeiten die Aktualität der Trilogie heraus. Außerdem fand am 21. und 22. April 2017 ein internationales Grillparzer-Symposion in der Maison de la Recherche in Paris statt, De La Toison d’or à L’Or du Rhin. Mythe, drame et histoire dans le théâtre allemand au XIX e siècle. Première partie : Franz Grillparzer (Vom Goldenen Vließ zum Rheingold. Mythos, Drama und Geschichte im deutschsprachigen Drama des 19. Jahrhunderts. Teil 1: Franz Grillparzer). Die Akten des von Gilles Darras und Gérard Laudin (Sorbonne) organisierten und geleiteten Symposions sind 2018 im Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft erschienen. 20 Bis jetzt hat sich Grillparzer in der französischen Öffentlichkeit aber noch nicht wirklich durchsetzen können, was zum Teil auf die ‚Vorgeschichte‘ der französischen Grillparzer-Forschung zurückzuführen ist, in der der Autor kul‐ turideologisch fast ausschließlich als ‚exemplarischer Österreicher‘ betrachtet wurde. Dabei wurden - im Gegensatz zur gerade evozierten jüngsten neuen Grillparzer-Rezeption - die Aktualität und die Fragestellungen seines Werkes (Alterität, scharfsinnige Analyse von Machtstrukturen, psychologisches Inter‐ esse, Geschlechterdifferenz(en), Darstellung von starken, schrecklichen, bemit‐ leidenswerten Frauengestalten, gebrochene poetische Sprache, facettenreiche Theatralik, usw.) weitgehend vernachlässigt. 210 Marc Lacheny <?page no="211"?> 21 Ehrhard, Auguste (1900). Le théâtre en Autriche. Franz Grillparzer. Paris: Société française d’imprimerie et de librairie. 22 Ebd., 1. 23 Tibal, André (1914). Études sur Grillparzer. Nancy: Annales de l’Est. Die ersten zwei Abhandlungen, die in Frankreich Grillparzers Werk gewidmet wurden, erschienen 1900 und 1914, also zu einer Zeit, da die französische Germanistik noch eine Vermittlerrolle zwischen der deutschsprachigen Kultur und dem französischen Publikum zu spielen hoffte. Grillparzer wurde die allererste akademische Monographie zur österreichi‐ schen Literatur in Frankreich überhaupt gewidmet. Deren Verfasser war Au‐ guste Ehrhard (1861-1933), ein französischer Germanist, der als Elsässer ein spürbares Misstrauen gegenüber der ‚gelehrten‘ Methode aus Deutschland an den Tag legte. Sein 1900 erschienenes Buch Le théâtre en Autriche. Franz Grillparzer (Das Theater in Österreich. Franz Grillparzer) 21 gliedert sich in zwei Teile, „L’homme et son temps“ - „L’œuvre dramatique“ („Der Autor und seine Zeit“ - „Das dramatische Werk“), eine Struktur, die die damals übliche Formulierung „Leben und Werk“ leicht erkennen lässt und sich in ein Pro‐ gramm positivistischer Natur einschreibt. Wie August Sauer, der Herausgeber der Sämtlichen Werke Grillparzers, konnte Ehrhard nicht umhin, Grillparzer immer wieder im Vergleich zu Goethe zu sehen, wobei er aus ersterem einen ‚besorgten‘, zutiefst traurigen und melancholischen Goethe machte: Grillparzer habe „nie das stille Glück“ gekannt, das Goethe „sowohl dem Gleichgewicht und dem Einklang seiner verschiedenen Fähigkeiten wie auch - das soll nicht übersehen werden - seiner Gleichgültigkeit den politischen Schicksalen seines Landes gegenüber“ verdankte. 22 Die deutsche Klassik galt immer noch als der nie wieder zu erreichende Höhepunkt aller Kunst. Aber andererseits war Grillparzer in Ehrhards Augen vor allem der Hauptvertreter einer spezifisch österreichischen literarischen Tradition: In seinem Schlusswort lobt Ehrhard den österreichischen Dramatiker, weil er eben die österreichische Literatur wieder auf den Gipfel des Ruhms gebracht habe. Der Dichter solle in diesem Kontext dem Nationalgenie seines Volkes dienen und sich von fremden Einflüssen fernhalten. Trotz gewisser methodologischen Unsicherheiten leistet Ehrhards Disserta‐ tion Pionierarbeit. Bald machte sie übrigens Schule, weil André Tibal - der zunächst in Nancy lehrte und dann als Professor für Germanistik an die Sorbonne berufen wurde - 1914 Grillparzer auch ein Buch widmete: Études sur Grillparzer (Grillparzer-Studien). 23 Methodologisch sind die drei Studien, die Tibal in seinem Buch veröffentlichte, aber ganz anderer Art als bei Ehrhard. Zu dieser Methode äußert sich der Verfasser in der Einleitung: die „vorzüglichen 211 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="212"?> 24 Ebd., 180. 25 Man denkt hier natürlich auch an Grillparzer als „Österreicher par excellence“, als exemplarische Leitfigur in den mentalitätsgeschichtlichen Entwürfen und Konstruk‐ tionen des habsburgischen Mythos (C. Magris) bei Hugo von Hofmannsthal (Preuße und Österreicher, 1917) und Joseph Roth (Grillparzer. Ein Portrait, 1937). In ihren bekannten Aufsätzen haben diese Autoren ein fast mythisch überhöhtes Bild des vergangenen Österreichs als heile Welt bzw. Ort der Geborgenheit beschworen, als dessen geistigen Proponenten sie eben Grillparzer sahen. Siehe Hofmannsthal, Hugo von. Notizen zu einem Grillparzervortrag (1904) und Roth, Joseph. Grillparzer (1937). In: Bachmaier, Helmut (Hrsg.) (1988). Franz Grillparzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 385-390 und 406-415. 26 Bauer, Roger (1965). La Réalité, royaume de Dieu. Études sur l’originalité du théâtre viennois dans la première moitié du XIX e siècle. München: Hueber, 393-475. Arbeiten“ seiner Vorgänger habe er bei anderer Gelegenheit benutzt, er habe sie aber wieder beiseitegelegt, sobald er begonnen habe, sein eigenes Buch zu schreiben. Impressionistischer als Tibal könnte man kaum verfahren: Es findet sich in seinem Buch keine Bibliographie, keine einzige Erwähnung der Sekundärliteratur. Es geht um drei Essays, die folgende Titel tragen: „Grillparzer und die Natur“, „Grillparzer und die Liebe“, „Grillparzer und die Rassen“. Eine solche Sichtweise ist wiederum ganz zeittypisch: Ähnliches könnte man auch über deutsche und österreichische Literaturabhandlungen aus dieser Zeit sagen. In Tibals Buch wird „Natur“ eindeutig als Gegensatz zur Kultur und lebensfernen Intellektualität verstanden. Tibal, der sich Grillparzers Kritik an der deutschen idealistischen Metaphysik zu eigen macht, schreibt der von Grillparzer inkarnierten Tradition (im Gegensatz zur Weimarer Klassik) ein zentrales Verdienst zu: die deutsche philosophische Intellektualität (Hegel) wahrgenommen und deren „Grübeleien“ angeprangert zu haben. Natur ist für Tibal alles, was das deutsche Denken des 19. Jahrhunderts, insbesondere Hegel, geopfert habe. 24 Dabei wird die Gleichung Grillparzer = Natur zur Gleichung Grillparzer = nichtdeutsch, was schließlich zur Behauptung führt, Grillparzer sei der typische Österreicher. Auch darauf fußt der Verfasser, um das Argument einer Verwandtschaft zwischen der österreichischen und der französischen Kultur (Rousseau) vorzubringen. Für Ehrhard und Tibal ist Grillparzer ein Mann des 18. Jahrhunderts, und beide betonen nachdrücklich den kulturellen und literarischen Unterschied zwischen Österreich und Deutschland. Hier kann man an die Wiener Publizistik nach Grillparzers Tod denken, in der Grillparzer auch vor allem als Repräsentant kultureller Differenz herhalten musste. 25 Erst in Roger Bauers umfangreichem Werk La Réalité, royaume de Dieu (Die Welt als Reich Gottes) 26 wird Grillparzer tatsächlich zum Gegenstand der philolo‐ gischen Forschung und nicht mehr von (mehr oder minder impressionistischen) 212 Marc Lacheny <?page no="213"?> 27 Ebd., 34. 28 Vgl. Lacheny, Marc (2014). Kraus en France. Du „patriote autrichien“ au critique des médias. Europe 1021, 125-149, hier 126-128. Essays. Als die für Persönlichkeit und Werk Grillparzers symptomatische österreichische Lebensform bezeichnet Bauer schon im Titel seiner viel zitierten theatergeschichtlichen Abhandlung die demütige Anerkennung der unvollkom‐ menen geschichtlichen Wirklichkeit als Schöpfung Gottes. Am Ende seiner Einleitung schreibt er zusammenfassend: „Vom Barock bis zum Biedermeier beruht die österreichische Literatur auf demselben Grundgedanken, dem einer gottgewollten Schöpfung und Weltordnung.“ 27 Laut Bauer, der sich in seinem Buch keinesfalls auf Grillparzer beschränkt, sei dieses Phänomen als zentrales Thema in der österreichischen Vormärzliteratur erkennbar. Für ihn bleibt Grillparzer der barocken Tradition eigentlich treu, wenngleich auch in einer säkularisierten Form. Dadurch erhält Bauers Werk eine ganz andere Dimension als das seiner ‚Vorgänger‘ innerhalb der französischen Germanistik: Das echt Grillparzer’sche Problem sei, wie der Verfasser am Ende seiner Beweisführung festhält, die Frage nach der Inkarnation des Logos, also ein an die Religion gren‐ zendes Problem. In einem solchen Kontext bekommen Geschichte und Staat eine zentrale Bedeutung: der Staat ist der Ort, in dem das Vollkommene der göttlichen Ordnung und das Unvollkommene des Menschlichen ineinander übergehen, und der Herrscher ist zugleich Mensch und Symbol der Weltordnung. Trotz ihrer methodologischen Unterschiede verfolgen Ehrhard, Tibal und Bauer ein ähnliches Ziel: die österreichische Literatur und Kultur (hier am Beispiel Grillparzers) in ihren Besonderheiten zu erfassen. Wie schon oben angedeutet, hatten diese Studien auch historisch-politische Gründe: Bauer war - wie Ehrhard - ein Elsässer, der ein Interesse daran hatte, das Österreichische gegenüber dem deutschen „Unwesen“ hervorzuheben. Wohl könnte man die Frage verfolgen, welchen ideologischen Zwecken solche Grillparzerdeutungen dienen könnten. Tatsache ist jedenfalls, dass die französische Germanistik von Ehrhard bis Bauer offenkundig die Tendenz zeigt, die österreichische Literatur von der ‚reichsdeutschen‘ zu unterscheiden. Ein durchaus ähnliches Phänomen lässt sich übrigens in der französischen Kraus-Rezeption zu Beginn des 20. Jahr‐ hunderts feststellen, wo die französischen Germanisten Charles Andler und Charles Schweitzer (Großvater von Jean-Paul Sartre), auch zwei Elsässer, den „österreichischen Patrioten“ Karl Kraus gegen den deutschen Imperialismus ausspielten. 28 Einige Jahre später (1979) legte Marie-Antoinette Ibisch an der Sorbonne ihre Dissertation über Grillparzers Dramaturgie vor: La Dramaturgie de F. Grill‐ parzer: une réflexion sur le théâtre, discontinuité et unité (F. Grillparzers Drama‐ 213 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="214"?> 29 Zu Aufführungen in Frankreich, vgl. auch Lacheny, Marc (2017-2018). Grillparzer in Frankreich. Zur Rezeption seiner Stücke auf den französischen Bühnen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 27, 182-196. 30 Benay, Jeanne (2002). Johann Nestroys / Jean Nestroys Werk als frankophone und deutsche Kulturwaffe im annektierten Lothringen (1871-1918). In: Rovagnati, Gabri‐ ella (Hrsg.). Johann Nepomuk Nestroy. Tradizione e trasgressione. Mailand: CUEM, 145-177, hier 153. 31 Ebd. turgie: Eine Reflexion über das Theater, Diskontinuität und Einheit). Da diese Dissertation nicht veröffentlicht wurde, hatte sie wenig Resonanz auf akademi‐ scher Ebene. Trotzdem bleibt sie bisher (abgesehen von A. Ehrhards Dissertation aus dem Jahre 1900) die einzige französische Dissertation, die ausschließlich Grillparzer gewidmet ist. Die zwei 2016 und 2017 in Paris veranstalteten Grillparzer-Tagungen zeugen aber von einem auffallenden Interesse der französischen Germanistik an seinem Werk und sogar von einer Grillparzer-Renaissance in der Forschung, die auch auf dem Theater und in der Übersetzung zu spüren sind. Grillparzer auf den französischen Bühnen Grillparzers Werke wurden bis jetzt nur selten in Frankreich aufgeführt. 29 Trotzdem konnte ermittelt werden, dass im 20. Jahrhundert zwei Stücke Grill‐ parzers auf Bühnen in Paris und am Pariser Stadtrand gespielt wurden: Medea bzw. Das goldene Vließ (mehrmals) und Ein Bruderzwist in Habsburg (einmal). Schon zuvor, nämlich bereits Ende des 19. Jahrhunderts, wurde Grillparzer auf einer anderen Bühne gezeigt: am Metzer Stadttheater (im annektierten Lothringen). Seit den Forschungsarbeiten von Jeanne Benay weiß man, dass Nestroy zwischen 1872 und 1912 „der erfolgreichste österreichische Autor am Metzer Stadttheater“ 30 war, und zwar trotz der damals harten Konkurrenz unter (bzw. mit) seinen Landsleuten, zu denen Nestroy, Schnitzler, Hofmannsthal oder Max Mell zählten. Während sich Nestroys Lumpacivagabundus aber als „ständiges Repertoirestück“ 31 am Metzer Stadttheater behaupten konnte, ver‐ dankte Grillparzer seine Rezeption in Metz ausschließlich Gastspielen und der Vermittlung von Stars wie Clara (Klara) Ziegler aus München, Marie Pospischil oder Rosa Poppe aus Berlin. In Le Messin vom 11. November 1891 (10. Jg., Nr. 262, 2) steht etwa folgender Passus: […] la représentation donnée hier soir par la célèbre tragédienne Mme Clara Ziegler a [obtenu] un grand succès. Le rôle de Médéa, dans la tragédie de ce nom, a été exécuté par cette excellente artiste avec une perfection rare […]. 214 Marc Lacheny <?page no="215"?> ([…] die gestrige Leistung der berühmten Tragödin Frau Clara Ziegler hatte viel Erfolg. Die Medea-Rolle, in der gleichnamigen Tragödie, ist von dieser ausgezeichneten Künstlerin mit selten gesehener Vollkommenheit gespielt worden […]). Solche Gastspiele und die Leistung von Stars aus dem Ausland sollten übrigens die spätere Rezeption Grillparzers auf den französischen Bühnen im 20. Jahr‐ hundert dauerhaft prägen. Nach diesen sehr spezifischen und in einen ganz besonderen politischen Kontext eingebetteten Aufführungen verschwand Grillparzer fast ein halbes Jahrhundert von den französischen Bühnen, bis Medea am 8. und 9. Juli 1955 im Rahmen des zweiten ‚Festival International d’Art Dramatique de la Ville de Paris‘ am Pariser Théâtre Sarah-Bernhardt (heute: Théâtre de la Ville am Place du Châtelet) aufgeführt wurde. Im Rahmen des Festivals bespielten zwanzig Theatertruppen aus zwanzig Ländern die Bühne des Théâtre Sarah-Bernhardt und des Théâtre Hébertot. Die zweieinhalbstündige Aufführung von Grillparzers Medea fand im Rahmen eines Auslandsgastspiels des Wiener Burgtheaters statt. Neben Medea wurden Schnitzlers Komtesse Mizzi und Liebelei gezeigt. Regie führte Adolf Rott (1905-1982), der damalige Direktor des Burgtheaters (1954-1959), der von Kritikern wie Friedrich Torberg oder Hans Weigel heftig befehdet wurde; für Bühnenbilder und Kostüme war Gottfried Neumann-Spallart (1915-1983), damals Professor für Bühnenbild an der Hochschule für Musik und darstel‐ lende Kunst in Wien, verantwortlich; die Musik stammte von Hans Totzauer (1909-1987), der 1946-1973 Komponist und erster Kapellmeister am Wiener Burgtheater war. Die Darsteller waren damalige Stars der Burg: die Medea spielte die große Tragödin Liselotte Schreiner, die u. a. auch als Grillparzers Sappho und als Königin Margarethe brillierte; die Kreusa gab Johanna Matz, die damals als die Verkörperung des ‚Wiener Mädels‘ galt; Auguste Pünkösdy spielte die Gora, der legendäre Heinz Moog den Kreon, Fred Liewehr den Jason; ferner waren Felix Steinbock der Herold und Horst Kepka der Landmann. Hier nun die wenigen Kritikerstimmen, die in der Presse ermittelt werden konnten: In Le Figaro Littéraire vom 16. 7. 1955 (S. 12) verwies der damals berühmte Theaterkritiker Jacques Lemarchand kurz auf „Le Burgtheater de Vienne au Festival de Paris“. In der 99. Ausgabe von Paris Théâtre (August 1955) widmete auch Michel Aubriant einige Zeilen Österreich, dabei vor allem Grillparzer. Moniert wird hier zunächst der, laut des Kritikers, wenig originelle Darstellungsstil des Burgtheaters: Man besucht die Vorstellungen des Burgtheaters weder um den Faustschlag der Avant‐ garde zu bekommen noch um die Regeln der Schauspielkunst auf den Kopf gestellt zu 215 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="216"?> 32 Aubriant, Michel (1955). Autriche. In: Paris Théâtre 99, 18. 33 Ebd. sehen, und man würde sich gewaltig irren, wenn man von dieser Truppe verlangen würde, einen zu überraschen. Von Joseph II. gegründet, stellt das Burgtheater vor allem eine Tradition des schönen Spiels, eine Höflichkeit der Bühne, eine raffinierte Konvention dar, die seit fast zwei Jahrhunderten die Wiener in ihren Bann ziehen. 32 In Aubriants kurzem Bericht über Medeas Vorstellungen werden dann sowohl die Qualität des Textes und der Inszenierung als auch die des Bühnenspiels von Liselotte Schreiner als Medea deutlich hervorgehoben und begrüßt: In einer bewusst zurückhaltenden Inszenierung brachte uns Medea eine doppelte Offenbarung: Einerseits die eines großen klassischen Textes, einer Tonfeinheit, einer Lyrik, einer psychologischen Wahrheit, die die meisten unter uns nur ahnen konnten, andererseits die einer echten Tragödin, Frau Liselotte Schreiner […]. 33 Hinzu kam noch in den fünfziger Jahren eine „Bearbeitung für den Rundfunk“ („adaptation radiophonique“) von Grillparzers einzigem Lustspiel Weh dem, der lügt! durch die Kritikerin und Kafka-Spezialistin Marthe Robert im Jahre 1956. Die zweite Aufführung eines Grillparzer’schen Stückes auf einer französischen Bühne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand aus einem ganz beson‐ deren Anlass statt. 1967 wurde ein kulturell wie symbolisch wichtiges wechselseitiges Gastspiel organisiert: Während die Comédie Française sich nach Österreich (Wien, Graz, Linz, Innsbruck, Bregenz) begab, wo sie vom 18. bis zum 29. Oktober ihre meist‐ gespielte Tragödie, Le Cid von Corneille, und eine ihrer lustigsten Komödien, Le Dindon von Feydeau, zeigte, reiste das Burgtheater nach Frankreich. Das Programmheft der Comédie kündigte an: „Offizielle Vorstellungen des Wiener Burgtheaters - 17. bis 21. Oktober 1967“. Fünf Tage lang gehörte also die Comédie Française den Österreichern. Stimmung und Publikum am Premierenabend beschrieb Felix Kreissler, der Pionier der Österreichforschung in Frankreich und spätere Gründer (1975) der Zeitschrift Austriaca, nicht ohne Ironie wie folgt: Das alte Haus am „Place du Théâtre Français“ war hell erleuchtet, am Prunkeingang erwartete ein doppeltes Spalier von Livrierten und „Gardes républicains“ in Galauni‐ form die offiziellen Gäste, und im Foyer drängte sich die festlich gekleidete Menge all jener, die im kulturellen Paris Rang und Namen haben, verstärkt diesmal durch eine stattliche Anzahl von Österreichern und Deutschen, die in Paris - vorübergehend oder 216 Marc Lacheny <?page no="217"?> 34 Kreissler, Felix (1969). Die „Burg“ an der Comédie Française. In: Langer, Friedrich (Hrsg.). Die Welttournee des Burgtheaters. Wien, Berlin: Koska, 75-79, hier 75. 35 Ebd., 76. bleibend - ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Es sollte eine Galavorstellung werden - und es wurde ein Ereignis! 34 Für dieses „Ereignis“ wurde folgendes Programm mit einer Reihe prominenter Burgschauspieler geboten: Am 17. und 18. Oktober Ein Bruderzwist in Habsburg von Grillparzer, am 19. und 20. Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler, den Abschluss bildete am 21. Oktober Johann Nestroys Einen Jux will er sich machen. Was Grillparzer angeht, so hob Kreissler ganz besonders die Qualität der Besetzung hervor: Attila Hörbiger (Rudolf), Erich Auer (Mathias), Achim Ben‐ ning (Ferdinand), Heinz Moog (Melchior Klesel), Heinz Woester ( Julius von Braunschweig), Hans Thimig (Wolf Rumpf): [Bald] setzte sich die Kunst der Schauspieler schließlich siegreich durch. Beweis: die einstimmige Einschätzung der Kritik und der Applaus des Publikums. Grillparzer - mit Attila Hörbiger, Heinz Moog, Hans Thimig und alle anderen Darsteller - glänzend. 35 Eine andere Stimme zeugt auch vom Erfolg von Grillparzers Bruderzwist an der Comédie Française. Wie Kreissler betonte André Ransan, der Rezensent von L’Aurore, in seiner Kritik vom 19. Oktober 1967 die ausgezeichnete Leistung des Burg-Ensembles, insbesondere Attila Hörbigers: Das Wiener Burgtheater, die ‚Comédie Française Österreichs‘, stattet uns einen Besuch ab und wird, wie könnte es anders sein, im Hause Molières empfangen. Es stellt sich uns mit einer Tragödie des größten österreichischen Dramatikers der Romantik, Franz Grillparzer, vor. […] Die Aufführung wird bei weitem durch Attila Hörbiger überragt, der mit königlichem Gestus einen unvergleichlichen Rudolf spielt. Kaiser und furchterregender Greis von überwältigendem Format, der es versteht, in der Gewalt milde, in der Pracht bescheiden, in der Lauterkeit listig zu sein, ohne jemals seine Natur zu verleugnen, die in wahrhafter Humanität wurzelt. Ein herrlicher Künstler! Außerdem umgibt ihn eine Reihe außerordentlicher Partner: Erich Auer, Heinz Woester, Achim Benning und Heinz Moog seien an Stelle a l l e r beteiligten Schauspieler genannt. In Les Nouvelles littéraires betont der französische Philosoph, Dramatiker und Kritiker Gabriel Marcel seinerseits - unerwartet - einen möglichen Einfluss der großen holländischen Maler (insbesondere Rembrandts) auf das Burgtheater: Was Kulissen und Kostüme angeht, so scheint mir, dass das Burgtheater sich erfolg‐ reich von den großen holländischen Malern hat inspirieren lassen - von Zeit zu Zeit 217 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="218"?> 36 Die Wahl vom Bruderzwist lag wohl auch z. T. an der Deutung des Dramas, die der 1966 verfilmten Burgtheater-Aufführung mit Attila Hörbiger ganz ähnlich, wenn nicht identisch sein dürfte - diese hat den Sinn des Stückes mit dem quietistischen Weltbild Rudolfs identifiziert, was natürlich dem Wirkungspotenzial dieses sehr komplexen Stückes eher abträglich gewesen ist. 37 Escandes, Maurice und Comédie Française (1967) (Hrsg.). Comédie Française. Les activités de la saison 1967-1968 (1er septembre-31 juillet). Paris: Bibliothèque de la Comédie Française (= Simul et singulis), hier 69. dachten wir an Rembrandt, an den Rembrandt der Nachtwache, und später an Frans Hals. Ein in jeder Hinsicht dem Werk treues Gleichgewicht wurde vom Regisseur verwirklicht, und die Leistung der Schauspieler ist sehr homogen. Manche Gegenstimmen gab es natürlich auch, die sich u. a. auf das Statische, Altmodische, ja Überholte sowohl an der Darstellung als auch an der Wahl selbst eben dieses Stückes von Grillparzer konzentrierten. Als Beispiel sei hier aus Peter Lotschaks Rezension in den Salzburger Nachrichten vom 24. 10. 1967 (S. 7) zitiert: Eröffnet wurde mit „Bruderzwist“, 36 mit konventionellem, statischem, schwerem Schauspielertheater. Gemäß dem oben Angeführten also wenig verwunderlich, daß viele Pariser höflich ihre Enttäuschung zu verbergen versuchten. Die etwas zu förm‐ lich und respektvoll gehaltenen Rezensionen spiegeln die Problematik dieses Abends wider. Besorgt fragte ein Kritiker, ob wohl an allen berühmten Häusern das Theater zu ersticken droht. Rudolfs Welt zerbricht nun einmal nicht vor pompöser Kulisse und die scharfe ironische Galanterie der Zeit Ludwig XIV. vermißt, gewiß unberechtigt, der Franzose. Die stille menschliche Tragödie blieb der Historie verhaftet. Man kämpfte mit Verständnisschwierigkeiten. Mit respektvoller und müder Anerkennung war niemand gedient. Ob wohl gerade dieser Grillparzer, repräsentativ für das „große“ österreichische Drama, gespielt werden mußte? Niemand kann abstreiten, daß es ein wichtiger Abend war, denn es war ein Sondierungsversuch in Bezug auf die Gunst des Publikums, da das französische TV erwägt, eine französische Version auf den Bildschirmen vorzustellen. Wie weit nun das bereits heftig diskutierte Projekt weitergeführt werden wird, bleibt eine Frage … Trotz dieser kritischen Stimme bestätigt schon ein schneller Blick ins Archiv der Comédie Française das Ausmaß des Erfolgs und gibt Auskunft über das finanzielle Gelingen der Vorstellungen des Burgtheaters an der Comédie: „Alle fünf Vorstellungen fanden so viel Beachtung, dass zahlreiche Leute keinen Platz finden konnten“. 37 Einen unbestreitbaren Beweis für diesen Erfolg bilden die Einnahmen, welche die verschiedenen Stücke an der Comédie Française erzielten: Grillparzer: 7709,50 Franc am ersten Abend und 11 977,50 Franc am 218 Marc Lacheny <?page no="219"?> 38 Vgl. Comédie Française: Salle Richelieu 1967. Registre journalier 1967 (Cote: R 680). Bibliothèque de la Comédie Française, 290-294 („Représentations officielles du Burg‐ theater de Vienne“). 39 Vgl. Dossier 134 W 55 (Médée), „Presse Médée“, Archives communales de Versailles. 40 Malric, François (25. 4. 1972). Une nouvelle Médée. Midi Libre. 41 Ebd. 42 Ebd. zweiten; Schnitzler: 12 512 Franc am ersten Abend und 13 374 Franc am zweiten; Nestroy: 13 552,50 Franc. 38 Dann wurde, anlässlich von Grillparzers 100. Todestag, wieder Medea am 11., 12. und 21. April 1972 am Théâtre Montansier in Versailles aufgeführt; Regie führte Marcelle Tassencourt (1914-2001), die französische Übersetzung und Bearbeitung besorgte Pierre Sabatier, die Bühnenbilder und Kostüme stammten von Marie-Ange. Die Rollen wurden mit namhaften Schauspielern der Comédie Française besetzt: Annie Ducaux (Medea), François Chaumette ( Jason), Jean Davy (Kreon), Maria Meriko (Gora) und Maryvonne Schiltz (Kreusa). Die Aufführungen wurden in unterschiedlichen Zeitungen meist lobend besprochen. 39 In La Croix vom 23.-24. 4. 1972 (S. 13) etwa wird das „gewaltige Talent all dieser Schauspieler“ hervorgehoben; in der Nummer 1212 (19. 4. 1972, S. 18) von Toutes les nouvelles de Versailles et de la région parisienne spricht Thierry Maulnier von einer „recht günstigen Aufnahme [des Stückes] durch die Pariser Kritik“. Insgesamt schwanken die untersuchten Rezensionen zwischen Begeisterung für die Leistung der Schauspieler und gewissen Vorbehalten gegenüber den Kostümen: Annie Ducaux als Medea wurde vor allem wegen ihres „kraftvollen und leidenschaftlichen Talents“ (Toutes les nouvelles de Versailles et de la région parisienne) gelobt, François Chaumettes Jason als „in jeder Hinsicht hervorra‐ gend“ 40 gewürdigt. Zu Annie Decaux’ Glanzleistung als Medea findet François Malric wohl die auffälligsten Worte: In all dem, was sie macht, herrschen eine Grazie, eine Eleganz, eine Präsenz, die nur ihr eigen sind, und sie findet in ihren Klagen als verratene Frau Töne, die das Herz durchbohren. 41 Ebenso wird auf Jean Davys (Kreon) „würdiges“ Spiel, Maria Merikos Deutung der Gora und Mayvonne Schiltz’ Anmut und Schönheit in der Rolle der Kreusa hingewiesen. Die „kluge Nüchternheit“ von Marcelle Tassencourts Regiearbeit hat François Malric ebenso gewürdigt wie die „leichten und vielsagenden Bühnenbilder“ von Marie-Ange. 42 219 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="220"?> 43 Hazard, Camille (19. 2. 2010). Un fauteuil pour l’Orchestre. Abrufbar unter : http: / / unfauteuilpourlorchestre.com/ la-toison-dor-de-franz-grillparzer-a-la-mc 93-festival-le-standard-ideal/ (Stand : 13 / 10 / 21). Hingegen wird in der Rezension in La Croix Marie-Ange für ihre Kostüme scharf kritisiert: So sei Jasons Kostüm schlicht und einfach „absurd“, auch manche Requisiten, z. B. Medeas Perücke, kommen nicht besser davon; schließ‐ lich wird die Besetzung einiger Nebenrollen (etwa der Kinderrollen) als „mittel‐ mäßig“ bezeichnet. Fast vierzig Jahre sollten vergehen, bis wieder ein Werk von Grillparzer auf einer französischen Bühne zu sehen war. Im Saal Oleg Efremov des MC 93 Bobigny wurde am 6. Oktober 2009 sowie am 18. und 19. Februar 2010 Das goldene Vließ auf Deutsch (mit französischen Über‐ titeln von Jörn Cambreleng) in der Inszenierung von Karin Beier vom Schauspiel Köln aufgeführt: Die Aufführungen von Medea zuvor und die Aufführung der ganzen Vließ-Trilogie jetzt zeigen, dass dieses Werk den zentralen Auffüh‐ rungs- und Forschungsschwerpunkt der französischen Grillparzer-Rezeption darstellt. Für die dreistündige Aufführung erhielt die Theaterregisseurin 2009 den Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ in der Kategorie „Regie Schauspiel“. Die Besetzung: Maria Schrader (Medea), Carlo Ljubek (Phryxos / Jason), Manfred Zapatka (Aietes / Kreon), Patrycia Ziolkowska (Absyrtos / Kreusa) sowie Jokubas Aust und Rosa Wilms-Posen (Medeas Kinder); Sue Schlotte begleitete das Bühnenspiel mit ihrem Cello. Einige Besprechungen konnten ausfindig gemacht werden, die über die Rezeption der Trilogie berichten. Exemplarisch wird hier auf die lobende Kritik von Camille Hazard 43 näher eingegangen, die Karin Beiers Inszenierung „unerbittlich und streng“ nennt. Der „Spielraum“ der Schauspieler, ein großes quadratisches weißes Podium mit Stühlen und Wasserflaschen an allen vier Ecken, erinnerte sie an einen Boxring und an einen Tierkäfig, aus dem keine Flucht möglich sei. Ferner wird auf die hohe Qualität des Bühnenspiels ver‐ wiesen, das zwischen Grauen und Posse geschwankt habe, wobei das antike Modell allmählich etwas Überzeitliches bekommen habe, was Medeas Erhebung zu einer mythischen Gestalt noch verstärkt habe. Die Kritik kommt zu dem Schluss: Das Spiel aller Schauspieler äußert sich mit Kraft, jede Bewegung ist gedacht, überlegt und empfunden, wobei wir uns mit den Figuren tief in die menschliche 220 Marc Lacheny <?page no="221"?> 44 In seiner kurzen Rezension lobte René Solis vor allem die Schlichtheit von Beiers Inszenierung. Vgl. Solis, René (29. 1. 2010). Risques de coupure sur le Standard idéal. Libération. Seele versenken können, in unsere Schwärze, in unseren Willen, gegen uns selbst zu kämpfen. 44 Die Inszenierung von Karin Beier hatte einen direkten Einfluss auf die Lesung, die Heinz Schwarzinger am 30. Januar 2017 im Pariser Goethe-Institut veran‐ staltete. Nach Nestroy und Raimund kam nun also erstmals Grillparzer bei den von Schwarzinger geleiteten „Tagen (bzw. Wochen) des österreichischen Theaters“ zu Wort. Vor etwa fünfzig Zuschauern wurden Auszüge aus Gilles Darras’ damals noch unveröffentlichter Übersetzung des Goldenen Vließes gelesen. In seiner Einführung erinnerte Schwarzinger an den großen Erfolg, den Grillparzers Trilogie in Beiers Inszenierung einige Jahre zuvor in Frankreich erzielt hatte. Auch in der Strukturierung des Abends ließ er sich deutlich von dieser Aufführung inspirieren: Während eine vollständige Aufführung der Trilogie etwa sechs Stunden gedauert hätte, beschränkte man sich bei der Pariser Veranstaltung auf eine eineinhalbstündige Lesung, bei der - wie schon bei Karin Beier - das bei Grillparzer stattfindende „Blutbad“ (Schwarzinger) durch eine „erträglichere“ Erzählung ersetzt wurde. Der erfahrene Schauspieler Dominique Boissel las die Rollen von Aietes und Kreon, sehr überzeugend war auch der junge Pierre-Benoist Varoclier (Phryxos / Absyrtos / Medeas Kinder), Delphine Chuillot gab eine recht glaubwürdige Kreusa und Arnaud Carbonnier war ein listiger Jason. Mit der Medea hatte Raphaëlle Gitlis keine leichte Aufgabe: Auch wenn sie imstande war, die innere Verwandlungsfähigkeit der Figur spürbar zu machen, gelang es ihr nicht wirklich, zugleich deren Tiefe und Widersprüche ans Licht zu bringen. Es ist natürlich schwer, die genauen Gründe zu erwägen, warum gerade die Vließ-Trilogie, und insbesondere Medea, unter den Dramen ein solches Interesse in Frankreich erweckt hat. Man kann aber feststellen, dass es sich im Moment auch um das meistgespielte Grillparzer-Stück auf deutschsprachigen Bühnen handelt. Diese Situation (sowohl in Frankreich als auch im deutschsprachigen Raum) ist wohl darauf zurückzuführen, dass in der Trilogie höchst aktuelle Themen angeschnitten werden: interkulturelle Konfliktkonstellation, Migrati‐ onsthema, Identität und Alterität - also Problemhorizonte und Fragen von brennender Aktualität. 221 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="222"?> 45 Vgl. Leroy du Cardonnoy (2010a: 93). 46 Ebd., 88. Grillparzer in französischer Übersetzung Schon im 19. Jahrhundert wurden Grillparzers Dramen Die Ahnfrau und Sappho ins Französische übersetzt. Dabei handelte es sich aber - dem Zeitgeschmack gemäß - mehr um ‚Imitationen‘ oder freie Nachdichtungen (‚Belles Infidèles‘) als um Übersetzungen im engeren Sinn. 45 Im 19. Jahrhundert gab es drei französische Übersetzungen der Ahnfrau: die erste, aus dem Jahre 1820, ist von einem „membre de la Société littéraire de Genève“ („Mitglied der literarischen Gesellschaft von Genf “); die zweite, 1835 in der Zeitschrift Théâtre allemand (Paris) erschienen, ist von Xavier Marmier; die dritte, von Alfred de Corval, erschien 1878 in Paris unter dem Titel Bandit! (Räuber! ). Wenn die ersten zwei Übersetzungen als relativ ‚werktreu‘ erscheinen, zeigt sich die dritte deutlich als eine ‚Belle Infidèle‘. Die erste Übersetzung ist nicht in Versen und versucht nicht das Reimschema zu rekonstruieren. Hinzu kommt, dass bestimmte ‚Austriazismen‘ ignoriert werden und mehrere offenkundige Fehler sich insbesondere am Ende der Übersetzung anhäufen (z. B. Versäumnisse, Grammatikfehler). 46 Trotz alledem bleibt die ‚schwarze‘ und ‚schauderhafte‘ Seite des Originals erhalten. Xavier Marmiers Übersetzung ist wie die soeben kommentierte nicht in Versen und berücksichtigt auch nicht die gereimten Stellen der Ahnfrau. Außerdem verschwinden viele Bühnenanweisungen in der Übersetzung und tauchen nur teilweise im gesprochenen Text wieder auf. Schließlich wird der letzte Akt beträchtlich komprimiert, um die Handlung in den Vordergrund zu rücken und den Platz der inneren Reflexionen und Konflikte der Figuren zu reduzieren. Die letzte Übersetzung der Ahnfrau im 19. Jahrhundert, durch Alfred de Corval, unterscheidet sich deutlich von den ersten zwei: im Gegensatz zu beiden anderen beruht Corvals Übertragung (Bandit! ) auf gereimten Versen, die der Handlung des Originals eine gewisse Feierlichkeit verleihen. Aber hier geht es nicht um eine Übersetzung im engeren Sinne des Wortes: Corval strebt eher nach einer „Imitation“ („une imitation au sens le plus large du terme“). Er will die Handlung des Stückes in der Wirklichkeit verankern, was zur Folge hat, dass die fantastische (durch die Figur der Ahnfrau verkörperte) Dimension der Handlung 222 Marc Lacheny <?page no="223"?> 47 Ebd., 92 f. Interessant ist, dass das romantische Schauerdrama solches Interesse erweckt, was wohl mit dem Geschmack der Zeit - auch in Frankreich - an diesem Genre verbunden ist. 48 Grillparzer, Franz (1929). Sapho (= Collection bilingue des classiques étrangers). Tra‐ duction et préface d’Auguste Ehrhard. Paris: Montaigne; Grillparzer, Franz (1931). König Ottokars Glück und Ende (= Collection bilingue des classiques étrangers). Traduction et préface d’Auguste Ehrhard. Paris: Montaigne. 49 Grillparzer, Franz (1942). Les Vagues de la mer et de l’amour (= Collection bilingue des classiques étrangers). Traduction et préface d’Hippolyte Loiseau. Paris: Aubier-Mon‐ taigne. 50 Denken kann man an die Nazis in Wien, die Grillparzer 1941 auch zu germanisieren suchten und zu diesem Zweck Die Ahnfrau verwendeten, aber hier geht es wohl eher um die herkömmliche Klassiker-Konstruktion mit deutscher Prägung. sofort verschwindet und die geheimnisvolle Seite des Dramas zu Gunsten einer rationalen Erklärung der Ereignisse ausfällt. 47 Wie oben schon erwähnt wurde Auguste Ehrhard in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum bedeutendsten Spezialisten für Grillparzer in Frankreich - einerseits durch seine evozierte Dissertation, andererseits durch seine Überset‐ zungen bei Aubier-Montaigne (Paris) von Sappho und König Ottokars Glück und Ende. 1929 erschien zuerst seine Übersetzung von Sappho, 1931 die von König Ottokars Glück und Ende. Vom Standpunkt der heutigen Übersetzungs‐ wissenschaft erscheinen diese (seit langem vergriffenen) Übersetzungen zwar als revisionsbedürftig, doch bleiben sie wegen ihrer gründlich dokumentierten Einleitungen immer noch aufschlussreich, auch um das damalige französische Grillparzer-Bild zu verstehen. 48 1942 übersetzte dann Hippolyte Loiseau (damals Professor für Germanistik an der Universität Toulouse) - auch für den Verlag Aubier-Montaigne - Des Meeres und der Liebe Wellen. 49 Dass die Übersetzung eben dieses Dramas von Grillparzer einem französischen Germanisten anvertraut wurde, der für die Weimarer Klassik Spezialist war, ist kein Zufall, denn Loiseau macht gerade aus Grillparzer, wie zahlreiche Literaturhistoriker der Zeit, den dritten ‚Klassiker‘ der deutschsprachigen Literatur. 50 Kein Wunder ist es dann, dass seine Überset‐ zung sich durch einen absoluten Klassizismus auszeichnet und das Theatralische an Grillparzers Stück eher in den Hintergrund tritt. Was Das goldene Vließ angeht, so wurde der dritte Teil der Trilogie, Medea, erstmals 1972 durch Pierre Sabatier (Genf: Perret-Gentil) übersetzt. Diese Über‐ setzung war eine ‚Bestellung‘ der Regisseurin Marcelle Tassencourt für ihre Inszenierung Medeas am Théâtre Montansier von Versailles im April 1972. Im September 2017 erschien schließlich im renommierten Pariser Verlag Les Belles Lettres (in der angesehenen Reihe „Bibliothèque allemande“) eine Buch‐ 223 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="224"?> 51 Eine deutschsprachige Fassung dieses Vorworts („Was ist es, das den Menschen so umnachtet und ihn entfremdet sich? “ Franz Grillparzers antike Dramen zwischen Weimarer Klassik und Wiener Moderne) ist im Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 3. Folge, Band 27 (2017-2018), 263-284, erschienen. 52 Die Auswahl dieser Dramen wird (33) einfach dadurch begründet, dass alle drei antike und mythologische Themen behandeln. ausgabe von Grillparzers „antiken Dramen“ Sappho (1818), Das goldene Vließ (1821) und Des Meeres und der Liebe Wellen (1831) in der Übersetzung von Gilles Darras. 2018 wurde G. Darras für diese Übersetzung mit dem prestige‐ trächtigen Prix Nerval-Goethe ausgezeichnet. Dieser Band besteht aus einer ziemlich langen Einleitung („L’adieu aux Lumières. Les drames antiques de Franz Grillparzer (1791-1872) entre classicisme weimarien et modernité vien‐ noise“, 9-28), 51 einer kurzen bio- und bibliographischen Notiz (29-34) und der Übersetzung der drei genannten Dramen in chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens. 52 Nach einer knappen Darstellung des historisch-politischen und kulturell-li‐ terarischen Kontexts (u. a. Vormärz, Ende der „Goethezeit“) geht die Einleitung auf die Entstehung, Quellen und Einflüsse sowie auf die jeweilige Thematik der einzelnen Dramen ein: Vereinbarkeit von Kunst und Leben, Problematik der Grenze(n) und deren Überschreitung(en) (vor allem im Goldenen Vließ), Verbindung von Eros und Thanatos, Frage nach der Identität, Alterität und Entfremdung des Subjekts. Am Beispiel der drei übersetzten Dramen wird Grillparzer als ein Bindeglied „zwischen Weimarer Klassik (Goethe und Schiller) und Wiener Moderne“ bzw. Literatur des Fin de Siècle (Hofmannsthal, Thomas Mann) präsentiert. Die Übersetzung selbst zeichnet sich durch ihre inhaltliche wie stilistische Treue aus. In seiner Übersetzung zeigt sich G. Darras besonders sensibel für Grillparzers charakteristischen Umgang mit den Kontrasten zwischen den Stilen, Sprachebenen und Versmaßen, die im französischen Text zum großen Teil erhalten bleiben. Das auffälligste Beispiel dafür: Der im Goldenen Vließ strukturierende Kontrast zwischen den freien Versen der Kolcher und den Jamben der Griechen wird in der Übersetzung durch die Abwechslung von Prosa und Alexandrinern rekonstruiert. Als weiteres Beispiel für den Erfolg der Übersetzung G. Darras’ (Wiedergabe der Bilder, Sprache der Leidenschaft) sei hier ebenfalls das Ende von Medea zitiert: 224 Marc Lacheny <?page no="225"?> 53 Grillparzer, Franz (2017). Drames antiques. Paris: Les Belles Lettres, 317 f. MEDEA. […] Erkennst das Zeichen du, um das du rangst? Das dir ein Ruhm war und ein Glück dir schien? Was ist der Erde Glück? - Ein Schatten! Was ist der Erde Ruhm? - Ein Traum! Du Armer! der von Schatten du geträumt! Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht. Ich scheide nun, leb’ wohl, mein Gatte! Die wir zum Unglück uns gefunden, Im Unglück scheiden wir. Leb’ wohl! JASON. Verwaist! Allein! O meine Kinder! MEDEA. Trage! JASON. Verloren! MEDEA. Dulde! JASON. Könnt’ ich sterben! MEDEA. Büße! Ich geh’ und niemals sieht dein Aug mich wieder! Indem sie sich zum Fortgehen wendet fällt der Vorhang. (V. 2364 ff.) MÉDÉE : […] Reconnais-tu l’insigne pour lequel tu luttas ? Cet insigne de gloire, de bonheur à tes yeux ? Qu’est-ce qu’un bonheur sur Terre ? - Une ombre ! Qu’est-ce qu’une gloire sur Terre ? - Un rêve ! Pauvre de toi ! Tes rêves n’étaient rien que des ombres ! Le rêve est terminé, mais la nuit se poursuit. Je te quitte à présent, adieu, mon époux ! C’est pour notre malheur que nous nous sommes trouvés, Et c’est dans le malheur que nous nous séparons, Adieu ! JASON : Orphelin ! Seul ! Ô mes enfants ! MÉDÉE : Assume ! JASON : Perdu ! MÉDÉE : Subis ! JASON : Je veux mourir ! MÉDÉE : Expie ! Je pars à tout jamais, tu ne me verras plus ! Tandis qu’elle s’apprête à partir, le rideau tombe. 53 225 Grillparzer von Frankreich aus betrachtet <?page no="226"?> 54 Vgl. Lacheny (2016a). 55 Vgl. Lacheny, Marc (2016b). Grillparzer et la France, Grillparzer en France: bibliographie. In: Lacheny / Lajarrige / Leroy du Cardonnoy (Hrsg.). Modernité du mythe et violence de l’altérité. La Toison d’or de Franz Grillparzer, 237-253. Insgesamt ist Gilles Darras eine zugleich sehr überzeugende, genaue, bildreiche und elegante Übersetzung gelungen, die sich sehr gut liest und sicherlich auch gut spielbar ist. Es handelt sich um die erste Übersetzung, die sowohl die ‚klassische‘ Form als auch die Komplexität der Haltungen und der Psychologie der Figuren, ihre inneren Konflikte und die Theatralität von Grillparzers ‚antiken Dramen‘ zu berücksichtigen vermag, in denen auch Spuren des Wiener Vorstadttheaters zu finden sind. 54 Außerdem schließt diese Übersetzung insofern eine Lücke, als bis dahin nur ältere, unvollständige (von der Trilogie wurde bis jetzt nur Medea ins Französische übersetzt) und schwer zugängliche franzö‐ sische Übersetzungen vorlagen. Aus der vorliegenden Untersuchung geht hervor, dass Grillparzer in der französischen Theaterlandschaft noch recht bescheiden vertreten ist. Anderer‐ seits ist in der Forschung eine auffällige Grillparzer-Renaissance festzustellen, die im Hinblick auf die Zukunft vielversprechend ist. Hinzu kommt, dass dieses Interesse der französischen Germanistik an Grillparzer längst nicht erschöpft ist: Als Beispiel bereitet Jacques Lajarrige für den Pariser Verlag Belin (Reihe „Voix Allemandes“) eine neue - eigentlich die allererste - französische Grillparzer-Monographie sowie eine Übersetzung der Reisetagebücher von Grillparzer vor. Die Zeitschrift Austriaca dürfte auch in naher Zukunft den „Nachwelten Grillparzers“ ein Sonderheft widmen. Auf Grund seiner geringen Präsenz in den französischen Literaturgeschichten und in französischer Übersetzung ist Grillparzer auf den französischen Bühnen bis heute leider noch zu wenig gespielt worden (und wenn, dann nur Medea und die meist in deutscher Sprache und in Inszenierungen deutscher bzw. österreichischer Regisseure: 1955, 1967, 2009-2010). Es bleibt zu hoffen, dass die meisterhafte Übersetzung der antiken Dramen von Gilles Darras zu einer intensiveren Beschäftigung mit Grillparzers Werk in Frankreich beiträgt und dass sich ein großes Theater oder ein namhafter Regisseur Grillparzers Stücken annimmt. 55 Zurück zum Anfang: Was kann heute „Grillparzer transnational“, hier „von Frankreich aus“, bedeuten? Dieser Essay hat zu zeigen versucht, was die inter‐ nationale Germanistik zur Grillparzer-Diskussion im 21. Jahrhundert beitragen und wie sie diese bereichern kann. Schon dadurch ist Grillparzer nicht mehr der staubige ‚Klassiker der österreichischen Literatur‘, sondern ein Autor, der trans‐ 226 Marc Lacheny <?page no="227"?> 56 Vgl. Prutti, Brigitte (2017-2018). Autorschaft und Interieur. Garp und wie er Grillparzer sah. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 27, 150-181. national, transkulturell und multiperspektivisch erfasst werden muss. Auch das zeugt von Grillparzers noch zu entdeckendem Potenzial und von der Aktualität eines Werkes, das auf so unterschiedliche Autoren des 20. Jahrhunderts wie Hofmannsthal, Musil, Roth, Kafka, Bernhard oder - transnational - John Irving einwirkte. 56 Literatur Übersetzungen von Grillparzers Dramen ins Französische Die Ahnfrau Grillparzer, Franz (1820). L’Aïeule. Tragédie en 5 actes, traduite par un membre de la Société littéraire de Genève. Genf: Marc Sestié fils. Grillparzer, Franz (1835). L’Aïeule. Traduction par Xavier Marmier. Tragédie en 5 actes, précédée d’une notice par Jules Lefèvre. In: Théâtre allemand, 2 e série, t. III, 27 e et 28 e livraisons. Paris: Delloy, Heidelhoff et Barba. Grillparzer, Franz (1878). Bandit. Traduction par Alfred de Corval. Drame en 5 actes et en vers. Paris: Sandoz et Fischbacher. Antike Dramen: Sappho (Sappho), La Toison d’or (Das goldene Vlieβ), Les Vagues de la mer et de l’amour (Des Meeres und der Liebe Wellen) Grillparzer, Franz (1929). Sapho (= Collection bilingue des classiques étrangers). Traduc‐ tion et préface d’Auguste Ehrhard. Paris: Aubier-Montaigne. Grillparzer, Franz (1942). Les Vagues de la mer et de l’amour (= Collection bilingue des classiques étrangers). Traduction et préface d’Hippolyte Loiseau. Paris: Aubier-Mon‐ taigne. Grillparzer, Franz (1972). Médée. Traduction de Pierre Sabatier. Genf: Perret-Gentil. Grillparzer, Franz (2017). Drames antiques (Sappho, La Toison d’or, Les Vagues de la mer et de l’amour) (= Bibliothèque allemande). Traduits, présentés et annotés par Gilles Darras. Paris: Les Belles Lettres. 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Mit jeder Neuinszenierung des Stoffes steigt die Notwendigkeit, bei der Betrachtung der Protagonistin neben ihren Taten auch die Kataly‐ satoren dieser zu analysieren. Grillparzer gelingt es, angelehnt an antike Vorbilder eine Figur zu schaffen, die psychopathologisch hochkomplex und widersprüchlich ist. Dieser Beitrag vergleicht die dramentextuelle Grundlage mit zwei besonders im Hinblick auf ihre Performance der Charakterentwick‐ lung Medeas eindrucksvollen Inszenierungen: Aribert Reimanns Oper Medea (Essen 2019) und Mateja Koležniks Medea-Schauspiel (Stuttgart 2019), und geht auf die Entwicklung und inszenatorische, multimediale Umsetzung der Medea zugeschriebenen Pathologien in divergenten dramaturgischen Schwerpunktsetzungen ein. Als eine der wohl berühmt-berüchtigtsten paganen Mythen findet der Medea-Mythos bis heute Einzug in Werke diverser Autorinnen und Autoren und wird mit unterschiedlichster Schwerpunktsetzung immer wieder neu kon‐ struiert. Diese fruchtbare Arbeit am Mythos im Sinne Hans Blumenbergs ergibt sich nicht allein aus der Figurenkonstellation des vor allem aus den antiken Tragödien Senecas und Euripides’ überlieferten Narrativs. Insbesondere die Verhandlung der actio Medeas und die damit einhergehende Evaluation von Schuld und Entschuldigung ihrer Gräueltaten auf der Grundlage menschlicher wie göttlicher Gerichtsbarkeit stehen hierbei im Vordergrund. Vielen Versionen des Mythos sind grundlegende Mytheme gemein, so bspw. die Vorgeschichte um Jasons Suche nach dem Goldenen Vlies in Kolchis, der Mord an Medeas Bruder <?page no="232"?> 1 Seneca: Medea. Lateinisch / Deutsch. Übers. und hrsg. von Bruno Häuptli (1993). Stuttgart: Reclam. V. 910. 2 Friedrich Maximilian Klingers Sturm und Drang-Drama Medea in Korinth erscheint mit dem Untertitel „Das Schicksal“ 1786; 1791 setzt der Autor in Medea auf dem Kaukasos gar an der prekären Ausgangslage seiner Hauptfigur erneut an. 3 Stephan, Inge (2004): „Meine Verbrechen sind Kinder der Liebe“ Versuche zur Rehabi‐ litierung einer Skandalfigur in den Medea-Dramen von Friedrich Maximilian Klinger. In: Dies. (Hrsg.) Inszenierte Weiblichkeit: Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln: Böhlau, 95-110. 99. 4 Vgl. bspw. Seneca: Medea, V. 300-379; Euripides: Medea. Übers. und hrsg. von Paul Dräger (1986). Stuttgart: Reclam. V. 1-48. Absyrtus, die Medea in Korinth entgegenschlagende Xenophobie, die Liaison Jasons mit Kreusa und die damit einhergehende Verbannung der Kolcherin durch Kreon, und schließlich, wahrscheinlich am ausschlaggebendsten, der Infantizid der Mutter an den Söhnen. Die Begeisterung von Autorinnen und Autoren, Inszenierenden und Rezipier‐ enden gleichermaßen entspringt aber nicht der Präsenz oder merklichen Absenz einzelner Handlungselemente, sondern der Komposition der dramatis personae zwischen und mit ihnen. Es ist heute nicht mehr der Mord an den Kindern, der Theaterbesuchende mitreißt, vielmehr rückt die seit dem 18. Jahrhundert zunehmend psychologisierte Darstellung der Täterin und Mutter eine gewisse Nachvollziehbarkeit der Tat(en) in den Vordergrund und eröffnet, ja bewegt so eine dezidiertere Auseinandersetzung mit dem antiken Dilemma über die reinen Taten hinaus. Wo Senecas Medea klar ausspricht „Medea nunc sum - crevit ingenium malis“ 1 - „Medea bin ich nun - am Bösen wuchs mein Geist“ - ist die Beurteilung der modernen wie zeitgenössischen Medea mit den Kategorien gut und böse oder schlecht so einfach allerdings nicht. Wie bspw. auch Friedrich Maximilian Klinger, dessen Medea 2 in ihrer Neuverarbeitung ein „wichtiges Verbindungsglied zwischen der vor- und nachklassischen Medea-Rezeption im deutschen Sprachraum“ 3 darstellt, bearbeitet Franz Grillparzer den Stoff auf eine einzigartige Art und Weise, indem er sich Freiheiten in der Ausgestaltung der antiken Vorlagen einräumt und diese einem modernen Dramenverständnis entsprechend umschreibt. Im Gegensatz zu früheren Versionen des Mythos bringt der Dramatiker so zum Beispiel die Vorgeschichte um die medeeische Dramenhandlung als gleichwertige und nicht minder symbolträchtige Schau‐ spiele zu Papier und auf die Bühne: Wo die antiken Vorlagen Euripides’ und Senecas den Weg des goldenen Vlieses sowie den Erbschaftskampf Jasons in dessen Heimat lediglich durch Botenberichte, Ammenerzählungen oder Chorlieder andeuten 4 , schreibt Grillparzer diese in den ersten beiden Teilen seiner Trilogie um eben jenes Goldene Vließ (1821) aus. Wie der Dramentext 232 Barbara Bollig <?page no="233"?> 5 Bruhn, Siglind (2016): Aribert Reimanns Vokalmusik. Waldkirch: Edition Gorz. 260. 6 Das Musiktheater stellt, ebenso wie Sprechtheater, Tanztheater und Figurentheater, eine der vier traditionellen Sparten des Theaters dar. Ihm zugeschrieben werden grundsätz‐ lich Opern, Operetten, Musicals und Singspiele - also Aufführungsformen, die (anders als das reine Sprechtheater) eine dramatische Handlung, die sich in gesprochenem Wort und der Bewegung der die dramatis personae verkörpernden Darstellenden ausdrückt, mit (komponierter) Musik verbinden. Entsprechend gilt es, beide Komponenten bei der analytischen Betrachtung gleichermaßen zu decodieren und zu gewichten. selbst trug auch dessen Uraufführung der Signifikanz des Gastfreundes und der Argonauten Rechnung: Sie erstreckte sich über zwei Abende, erst am zweiten Abend wurde dem Publikum die Medea - und damit der tragische Höhepunkt des Werkes - geboten. 5 Es sind eben jene Anklänge eines modernen Dramas und die Verquickung von klassischem Stoff mit zeitgenössischer Erkenntnis von Psychologie und Pathologisierung, die Grillparzers Medea von ihren Schwestern abheben und noch im 21. Jahrhundert zum Gegenstand diverser Dramaturg: innen und Komponisten macht - darunter auch Mateja Koležnik und Aribert Reimann, die mit Sprechtheater und Oper 6 respektive nicht nur unterschiedliche darstellerische Medien für ihre Medeen wählen, sondern in ihren äußerst individuellen Herangehensweisen an Grillparzers Vorlage die mythische Frau auch eindrücklich in die Gegenwart transponieren. Der Begriff des Pathologischen bezeichnet primär die organisch-anatomi‐ schen Veränderungen, die medizinisch bei Patienten und Patientinnen nachge‐ wiesen werden können. In Verbindung mit dem Psychologischen bzw. im Falle der Medea-Figur ist der Begriff eng verquickt mit der Annahme, dass sich der Mord an ihren Kindern auf extremen Hass, abnorme Kälte (im Gegensatz zur weiblich konnotierten Wärme) und überbordende Triebhaftigkeit bis hin zu blankem Wahnsinn zurückführen lässt. In diesem Falle werden Medeas Handlungen latent als Symptome einer psychischen Krankheit markiert und erlangen durch ihre Beobachtbarkeit denselben Stellenwert wie das anatomisch Beobachtbare. Im Rahmen dieses Artikels wird gezeigt, dass sich eben jener mit Medea verbundene Diskurs um weiblichen Wahn nicht nur auf der Ebene der Dramenhandlung, sondern explizit auch in aufführungssemiotischen As‐ pekten nachvollziehen lässt. Körperliche Symptomatik und die sie bedingenden Komponenten werden dem Publikum vorgeführt und manifestieren sich in Textur, Mobilität, Musik - nicht allein Medea und ihre Handlungen werden psychoanalytisch und im übertragenen Sinne pathologisch relevant, auch Auf‐ führungssemantiken werden zum Pathologium erhoben und manifestieren seit der Antike gewachsene Diskurse um eine medeeische Devianz ebenso wie die (post)moderne Kritik an selbigen. 233 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="234"?> 7 Stephan, Inge (2006): Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln: Böhlau. 169. Die folgenden Aufführungsanalysen sind jeweils auf die namensgebende Hauptfigur der dramatischen Handlung, Medea, hin ausgerichtet. Neben dia‐ chron-komparatistisch gelagerten inhaltlichen Analysen steht besonders die semiotisch vielschichtig angelegte Inszenierung der Pathologien der beiden Medeen im Vordergrund, die sich durch musikalische Ausgestaltung, emotives Sprechen, Kostüme, Mobilität (oder die Absenz einer solchen) im Bühnenraum, sowie die bühnenbildnerische Inszenatorik der Tragödienhandlung facetten‐ reich ausdrückt. Erst durch das Zusammenspiel dieser Komponenten werden die Ausmaße des sich abspielenden Dramas eindrucksvoll greifbar. Im Folgenden werden die beiden Inszenierungen besprochen und mit dem Ausgangstext Grillparzers in Verbindung gesetzt. Des Weiteren werden die hier verhandelten, modernen Nachleben der Medea ausgestellt und vor dem Hintergrund aktueller, auch pathologischer, Weiblichkeitsdiskurse näher beleuchtet. Dem Titel des Artikels entsprechend, wird so nicht nur die Bearbeitung der Medea nach Grill‐ parzers Vorlage, sondern auch die Anreicherung des Stoffes um zeitgenössische Diskurse post Grillparzer betrachtet. Trotz seines beachtlichen Oeuvres ist Das goldene Vließ bzw. dessen dritter Teil, Medea, heute das meistgespielte Drama Franz Grillparzers. Schon ein kurzer Blick in Rezensionen und Spielpläne zeigt, dass Medea auch im 21. Jahrhundert nicht an Faszination verloren hat und bisweilen ohne Unterbrechung auf deutschsprachigen Bühnen zu finden ist - so auch die des österreichischen Dramatikers. Die Inszenierung des Wiener Burgtheaters 2004 war gleich mehr‐ fach für den Nestroy-Theaterpreis nominiert und wurde 2016 neu aufgelegt; 2007 spielte das Vließ in Leipzig, 2018 in Innsbruck; Reimanns Medea nach Grillparzer wurde 2010 in Wien gezeigt, bevor sie über Berlin 2019 den Weg nach Essen fand; Koležniks Inszenierung gab es erstmals 2018 in Stuttgart. Gemeinsam mit zahlreichen Inszenierungen der Medea nach bzw. in Anlehnung an Euripides und vereinzelten Spartenproduktionen weniger populärer Medeen wie der Hans Henny Jahnns (2019 Köln) ist Grillparzers Medea prominent und beliebt. Dies mag einerseits einem allgemeinen „Medea-Boom“ besonders ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 7 und der Behandlung bis heute bzw. heute mehr denn je aktueller Themen wie Migration, Fremdenhass und Familienkrise geschuldet sein. Andererseits dürften jedoch insbesondere die in Grillparzers Werk vergleichsweise deutlich ausgearbeitete Menschlichkeit der Figuren und deren komplex angelegte Psychologie ausschlaggebend sein für eine kreative, zeitgenössische und bildwie musikgewaltige Inszenierungsentscheidung. 234 Barbara Bollig <?page no="235"?> 8 Eine Ausnahme des späten 18. Jahrhunderts bildet auch hier F. M. Klingers Medea in Korinth, die beobachtet, wie mit den Eumeniden auch die Geister des ermordeten Absyrtus und eines weiteren Bruders, der durch Vernachlässigung durch die trau‐ ernde Mutter Hekate als Säugling zu Tode gekommen ist, aus dem Erebos aufsteigen. Mit dem Mord an den eigenen Kindern Mermeros und Feretos wird die Blutschuld gesühnt, die Geister steigen in die Unterwelt zurück. Moderne Ausnahmen sind Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen, der durch seine Polyphonie multiple Perspek‐ tiven auf die Geschehnisse und durch Medeas extensive Reflexionen der Ereignisse hervorhebt, sowie Giwi Margwelaschwilis Roman Die Medea von Kolchis in Kolchos, in dem die Medeen von Euripides und Christa Wolf als unterschiedlich individuelle, aber singuläre Gestalten auftreten und ihre jeweiligen Stimmungen, Sorgen und ungerechten Verurteilungen diskutiert werden. Semiotik des Pathologischen Die beiden hier betrachteten Inszenierungen einer Medea nach Grillparzer weisen zwei in ihren Grundzügen divergierende Formen des Umgangs mit dem 200-jährigen Drama auf. Dies liegt einerseits an ihren unterschiedlichen Medialitäten - dass eine Oper stark durch musikalische und tonale Kodie‐ rungen geprägt und eine sprechtheatralische Inszenierung nicht oder nur in einem sehr geringen Maße, überrascht nicht -, andererseits aber auch an den verschiedenen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Inszenierungen. Rei‐ mann rahmt seine Oper mit symbolisch geladenen Auftritten eines beinahe als dramatis persona anmutenden Vlieses, transportiert Stimmungen, emotionale Aggravation und inhaltliche Parallelen ebenso wie Widersprüche in seiner Partitur und spielt mit tonalen Palindromen in einer Art, wie Grillparzer mit Paradoxien in seiner Wortwahl agiert. Koležnik legt den Fokus ihrer Inszenierung nicht auf das Vlies, sondern stellt in fast schauerlicher Manier die Psyche Medeas zur Schau. Dies geschieht in Form eines halb durchsichtigen Gebäudes, in welches außer ihr und den Kindern nur die Kindheitsverbündete Gora eindringen kann. Ein Milchglaskasten im Zentrum der Bühne und die sich in ihm bewegenden Schemen visualisieren, was in Grillparzers und anderen Versionen des Medea-Stoffes nur angedeutet 8 ist. Beiden Inszenierungen gemein ist jedoch, dass sie kritische Diskurse um Medea und ihre diskursive Rolle als Abbild einer „schlechten Mutter“ bzw. hysterischen Furie im jeweils begleitenden Programmheft anführen und somit in einem Nebentext der Aufführungen Grillparzers Dramentext um gesell‐ schaftspolitische Debatten des 21. Jahrhunderts anreichern. Hierzu wird jeweils ein Interview mit Elisabeth Bronfen zur Konstruiertheit der Mutterliebe und der Rollenerwartung an „die Mutter“ als Funktionsträgerin im Sinne Erving Goffmans zitiert, welches auf Lesarten der Medea einerseits als Irrsinnige oder 235 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="236"?> 9 Mit der Benennung eines psychoanalytischen Medea-Komplexes wird eine Patholo‐ gisierung übermäßiger Hassempfindungen und der Drang einzelner Mütter, ihre Kinder zu töten, vorgenommen (vgl. Marneros, Andreas (2018): Warum Ödipus keinen Ödipus-Komplex und Adonis keinen Schönheitswahn hatte - Psychoanalyse und die griechische Mythologie - eine Beziehungserklärung. Berlin, Heidelberg: Springer.); prä‐ dikativ wird Medea insbesondere in Berichterstattungen über sog. Familientragödien mit weiblicher Täterinnenschaft genutzt - die (aus welchen Gründen auch immer) mor‐ dende Mutter evoziert auch im Nachrichtendiskurs Medea, nicht aber die ebenfalls kin‐ dermordende Althea; die aus der Medea-Tragödie bekannten Mytheme wie verletzter Stolz, enttäuschte Liebe und die daraus resultierenden rächenden Bluttaten stellen Kriterien dar, die dem Krankheitsbild des Medea-Komplexes beigeordnet werden, die emotionale Vehemenz, mit der Medea / die betreffende Frau ihren Emotionen Ausdruck verleiht, ist auch in modernen Hysteriediskursen nachzuweisen. Wahnsinnige, andererseits aber auch schwer Hintergangene und Missbrauchte eingeht. Hiermit tragen die Programmhefte nicht nur dazu bei, Medea in ihrem heutigen Vorkommen außerhalb der Literatur- und Theaterwissenschaft als Symptom, Prädikat und Krankheitsbild 9 kritisch zu hinterfragen, sie ak‐ tualisieren damit auch weiter den antiken Stoff und machen ihn, in diesem und anderen Punkten, für zeitgenössische Rezipierende relevant nicht nur im Sinne eines ästhetischen Erlebnisses, sondern auch als Spiegel und Kommentar der Gesellschaft. Damit geht keine Moralisierung einher, ein didaktisches Moment wird Grillparzers Tragödie auch in modernen Inszenierungen nicht eingeschrieben; den Rezipierenden wird die Medea als literarische Figur in populärpsychologischen Diskursen aufgezeigt. Bronfens Kommentar zur Kon‐ struiertheit der „Mutter“ und der von ihr erwarteten grenzenlosen Liebe bringt darüber hinaus den Bruch mit einer selbstverständlich gewordenen Selbstauf‐ gabe und unbegründeten Resilienzerwartung mit sich, die vor allem seit den 236 Barbara Bollig <?page no="237"?> 10 Entgegen der anhaltenden Illusion, Mutterliebe sei in allen Mutter-Kind-Beziehungen bis zur Aufopferung der Mutter hin vorhanden, untersucht die Soziologin Orna Donath 2015 das Phänomen eines Bedauerns von Mutterschaft. Dieses Bedauern entstammt einem vehementen Hadern mit der Rolle der Mutter und den damit verbundenen gesellschaftlichen Erwartungen, Vorstellungen und Romantisierungen. (Vgl. Donath, Orna (2015): Regretting Motherhood: A Sociopolitical Analysis. In: SIGNS: Journal of Women in Culture and Society 40: 2. 343-367.) Feministische Kritik befasst sich insbe‐ sondere in Form einer Kritik an der Rolle der Frau als primär Mutter und erst sekundär Individuum mit den bestehenden bürgerlichen Rollenvorstellungen. Sie hinterfragt die scheinbare Unvereinbarkeit von Mütterlichkeit und facettenreichen Emotionen, die sich im medialen Gesellschaftsdiskurs durch Debatten um „Rabenmütter“ und, so ein Einbezug des Medea-Stoffes in die Populärpsychologie, Berichterstattung zu (undefiniert) „schlechter“ Mutterschaft als Vorstufe einer medeeischen Tragödie äußert. Vgl. hierzu Böschenstein, Renate (1995): „Medea und die Frage nach der Überzeitlichkeit der Mutterliebe.“ In: Cremerius, Johannes, et. al. (Hrsg.): Psychoanalyse und die Geschichtlichkeit von Texten. Würzburg: Königshausen & Neumann. 127-154) Zwar ist die Kolcherin auch eine Mutter, die ihre eigenen Kinder tötet, jedoch geschieht dies nicht aus Hass oder Vernachlässigung, sondern primär, um dem untreuen Jason zu Leibe zu rücken. Durch die Ausdramatisierung der Vorgeschichte um das goldene Vlies und die Argonautenfahrt ermöglicht es Grillparzer, seine Medea vor diesem detaillierten Hintergrund zu lesen. 11 Vgl. Aalto-Musiktheater Essen (2019b): Medea. Oper in vier Bildern von Aribert Reimann. Programmheft. 16-18; Schauspiel Stuttgart (2019b): Medea. Franz Grillparzer. Programmheft. 22 f. späten 2010er Jahren in feministischen Diskursen um „regretting motherhood“ 10 und Emanzipation vermehrt Einzug in gesamtgesellschaftliche Debatten hält. 11 Medea, vor allem aber die Medea Grillparzers stellt durch die Anlage zahlrei‐ cher psychologischer, gesellschaftspolitischer, aber auch ästhetisch-kunstvoller Themen und Auslegungsmöglichkeiten ein epochenübergreifend faszinierendes Werk dar. Sie hat, so Reimann, so viele Aspekte, die uns heute angehen. Erstens ist es die Sprache, die weit ins 20. Jahrhundert reicht und die damals überhaupt nicht richtig verstanden wurde. Die Figur der Medea, so wie sie Grillparzer zeigt, ist ja eine Frau, die von allen Seiten als Fremde nicht akzeptiert wird. […] Das fängt schon mit dem Kopftuch an, wenn Jason zu ihr sagt: Zieh dieses Kopftuch ab und kleide dich wie eine Griechin. […] Das mit dem Kopftuch erlebt man jeden Tag und dann gibt es noch einen Aspekt: das Vlies, ein Symbol der äußerlichen Macht. Medea bringt am Schluss dieses einst aus Delphi gestohlene Vlies wieder dorthin zurück. Unsere Welt ist voll von gestohlenen Gütern. Von den Nazis, den Russen, von allen gestohlen. Diese Güter sind alle noch irgendwo 237 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="238"?> 12 Schäfer, Burkhard (2010): „ich muss alles hundertmal durchlebt haben. Ehe ich es hinschreibe“: Burkhard Schäfer im Gespräch mit dem Komponisten Aribert Reimann. Neue Zeitschrift für Musik 171: 3, 10-13. 13. 13 Vgl. Neumann, Gerhard (1997): Das goldene Vließ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer. In: Flashar, Hellmut (Hrsg.) Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart, Leipzig: Teubner, 259-260. 259. im Umlauf. Es gibt ja kaum Dinge, die wieder da gelandet sind, wo sie eigentlich gestohlen wurden. 12 Wer sich mit Medea beschäftigt, egal, in welcher Version, tut dies nicht nur im Sinne einer Replik des Stoffes - es geht damit immer auch eine Aufführungs- und Stoffpolitik einher, die sich in den betrachteten Inszenierungen besonders um die Pathologie der tragischen Hauptfigur dreht. Freilich legt Reimann hier die Auseinandersetzung mit globalen Aspekten von Xenophobie und Heimatlosig‐ keit zugrunde, die in der Geschichte seiner Hauptfigur allegorisch inszeniert werden und deren Einfluss auf die mythische Frau den Rezipierenden audiovi‐ suell sichtbar gemacht werden. Koležniks Inszenierung hingegen impliziert jene universellen Unterdrückungsmuster, während sie deren Auswirkung auf die hier zeitgenössischer anmutende Medea in den Fokus ihrer Arbeit rückt. Ihr Inneres wird zum Schauplatz eines persönlichen, sich zuspitzenden Dramas, welches durch die Aufführung der eigentlichen Dramenhandlung angefeuert wird. Grillparzers Medea: Pathologische Manifestation & Neuerung eines klassischen Stoffes Mit seiner Arbeit am mythischen Stoff um die kolchische Zauberin, Königs‐ tochter und zumeist furios dargestellte Mutter Medea reiht sich Grillparzer ein in einen seit der Antike existierenden Diskurs um das mythologische Narrativ. Ein Faszinosum für die literarische Moderne des 19. Jahrhunderts stellen neben Medea als femme forte insbesondere der Entwurf Jasons als gezwungener Abenteurer und letztlich labiler Mann im privaten wie politischen Gefecht, der sich konsequent zuspitzende Kampf um Treue und Loyalität zwischen Familien, Eheleuten und Kulturen, sowie schließlich die Aushandlung der Unmöglichkeit des Überkommens von abgrundtiefen Differenzen verschiedener Interessengemeinschaften und Wahrnehmungsmuster dar. Indem er, anders als seine Referenztexte von Euripides und Seneca, Friedrich Wilhelm Gotters Medea-Drama sowie die italienische Oper Cherubinis 13 , die Argonautika und die sagenumwobene Provenienz des namensgebenden goldenen Vlieses als signifikant ausgearbeitete Teile einer Trilogie seiner Medea voranstellt, webt der 238 Barbara Bollig <?page no="239"?> 14 Neumann (1997: 259); vgl. auch Prutti, Brigitte (2012): Grillparzers Welttheater. Moder‐ nität und Tradition. Bielefeld: Aisthesis. 17. 15 DgV Medea, V. 1559 ff. 16 Neumann (1997: 262); vgl. auch Winkler, Markus (2009): Von Iphigenie zu Medea: Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen: Niemeyer. 17 Es sei darauf hingewiesen, dass Aietes’ Mord am Gastfreund Phryxus zur Erlangung des Vlieses mit der durch Peronto göttlich gebotenen Rache für Phryxus’ angebliche Gotteslästerung gerechtfertigt und somit einer menschlichen Gerichtbarkeit enthoben wird; nichtsdestotrotz ist der Raub des Vlieses als moralisch verwerflich markiert, da im Dramatiker zudem eine zeitgenössisch brennende Nationaldiskussion in sein Werk ein und stellt in seinem wenn auch traditionell in mythischer Vorzeit situierten Drama eine „zutiefst österreichische Frage“ 14 um kulturelle Vorreiter‐ schaft, Nationalität und die Formalität eines auch außenpolitisch wirksamen Bildes von Eintracht besonders im langen 19. Jahrhundert. Im Sinne einer Goethe’schen Betrachtung lässt Grillparzer seine Figuren in allen Unentschlossenheiten und Verfehlungen teuflisch menschlich erscheinen. Beispielhaft ist hier auch Medea zu nennen, die sich in ihrer Rolle als Priesterin und Königstochter von Kolchis zunächst ihrer Gruppe junger Frauen und der Familie verpflichtet fühlt, ihre bedingungslose Selbstverortung jedoch durch ethische Bedenken am Gastmord des Vaters gebrochen und schließlich mit dem Auftreten und der wachsenden Faszination für Jason ins Gegenteil verkehrt findet. Sie ist Herrin eines vor dem Hintergrund spezifischer Rollenerwartungen geformten Willens und Selbstverständnisses, das sich bis weit in das dritte Drama der Trilogie in Abhängigkeit von anderen (männlichen) Figuren entwi‐ ckelt, bevor zuletzt eine Emanzipation von bekannten hegemonialen Strukturen hin zu einer Eigenbezüglichkeit und ausgeprägten Subjektivität erkennbar wird. Exemplarisch lässt sich dieses Potenzial zum Wandel einer bestimmten Weltsicht an der Reflexion über die Unterstützung Jasons beim Raub des goldenen Vlieses nachvollziehen. 15 Schon die Trilogie in ihrer reinen Textform arbeitet mit polyvalenten Semi‐ otiken, die sie linguistisch und symbolisch gleichermaßen bedeutsam macht. Anders als den Vorgängerversionen ist dem dramatischen Terzett das schick‐ salsbehaftete goldene Vlies als eine greifbare Requisite, als Omnipräsenz in absentia und als roter Faden zur Entwicklung der jeweiligen Katastrophen der einzelnen Werkteile und schließlich, als krönender Abschluss der Trilogie, dem Medea-Drama selbst eingegeben. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, wenn Neumann in seiner Ausarbeitung die „Frage nach dem Drama Grillparzers als ‚Tragödie eines Zeichens‘“ 16 aufwirft. Das aus Delphi stammende, dem Gastfreund heimtückisch 17 geraubte, durch Jason mit Medeas Hilfe gewonnene, 239 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="240"?> Anschluss hieran die Erynnien aus dem Erebos heraufsteigen und als furios Gerechtig‐ keit für geschehene Missetat Fordernde zu Schicksalsfiguren und Manifestationen eines bereits von Medea erahnten Unrechts werden. In ähnlich eindrucksvoll-performativer Form lässt sich diese Dramatisierung einer Innerlichkeit und inneren Zerrissenheit u. a. in Friedrich Maximilian Klingers Medea in Korinth nachweisen, wenn die Furien im 5. Akt als so benannte Alecto, Maegera und Tisiphone den jeweiligen Taten ihrer Opfer entsprechend auf Kreon, Kreusa und Jason herniederfahren. (Vgl. Klinger, Friedrich Ma‐ ximilian (1786) Medea. In: Hartmann, Karl-Heinz / Profitlich, Ulrich / Schulte, Michael (Hrsg.) (2012) Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. VII. London: de Gruyter, 7-96. 69 ff.). 18 Wo Aietes es als Obolus für seine fragliche Gastfreundschaft erachtet, gereicht es Phryxus zur Insignie seines Hauses, gilt es für Jason als Prüfungsgewinn in der familiären Fehde um rechtmäßige Herrschaft, wird es für Medea zum Kultobjekt einer magischen Emanzipation im politischen Chaos und Kreon letztlich zum Symbol des Sieges über die kolchische Hexe. 19 DgV Medea, V. 1560-1570. 20 Neumann (1997: 274). von Kreon begehrte und schließlich durch Medea an seinen Ausgangsort rückgeführte Vlies stellt nicht nur ein Objekt männlicher Macht und Begierde dar, es ist gleichermaßen symbolisch eng geknüpft an ein Hauptmotiv der Dramen: die sich durch Völker, Nationen und Familien fressende Verfremdung voneinander 18 und deren für das Publikum sichtbare Performanz auf der Bühne. Das allseits vorhandene Bewusstsein um diese Semiotizität vertieft nicht nur den kulturellen Zwist, es treibt auch die Entfremdung des Paares Medea und Jason voran. 19 Die Klimax dieser Fremdwerdung gestaltet Grillparzer prominent im Kindermord, doch die Kinder fungieren hier nicht nur als Kollateralschäden und Opfer einer zerbrechenden Beziehung, sondern bekleiden eine ambige Position als Bindeglieder und Entfremdungsrichter der Eltern gleichermaßen. Im Streit um die Söhne sind Medea und Jason vereint und kommen bis zuletzt nicht voneinander los - doch die Ausmaße des sich entfaltenden Sorgerechtstreits werden erst in der linguistischen Ausgestaltung desselben deutlich und stellen Jasons manipulative Charakterzüge aus. Neumann beschreibt treffend: Indem Jason den Knaben freistellt [V. 1560-1570], daß eines der Kinder Medea bei der Trennung begleiten möge, das andere aber bei ihm zu bleiben habe, und diese Aufforderung mit dem Liebesargument koppelt, konfrontiert er die Knaben mit einer widersprüchlichen Handlungsaufforderung. […] Man hat dieses Muster inzwischen präzise sozialpsychologisch rekonstruiert und im Zeichen paradoxer Handlungsauf‐ forderungen genau beschrieben. 20 Das hier umschriebene psychopathologische Muster der moralischen Unent‐ scheidbarkeit wird zum Katalysator der grausamen actio Medeas gegen Jason. 240 Barbara Bollig <?page no="241"?> 21 Breitenbruch, Bernd (1965): Ethik und Ethos bei Grillparzer. Denkerische Bemühungen und dramatische Gestaltung. Berlin: de Gruyter. 80. 22 DgV Medea, V. 175 ff. 23 Breitenbruch (1965: 81). Mit ihm rückt auch Kreusa als neue Frau an der Seite des Kindsvaters in Medeas Aktionsradius, indem sie als Griechin einen kulturellen (auch: kultivierten) Gegenpart zur Barbarin darstellt und spielerisch-sanftmütig die Liebe der Knaben auf sich lenkt. Symptomatisch für die Trilogie und den tragischen Ausgang selbiger ist die Darstellung Jasons und mit ihm das katastrophale Scheitern eines zunächst heroisch markierten Abenteurers. Breitenbruchs Urteil, „[e]ine lichtlosere Figur ha[be] Grillparzer nie mehr geschaffen“ 21 , scheint zunächst harsch - und doch stellt besagte Lichtlosigkeit, die sich besonders in Illoyalität, Jähzorn und Egomanie äußert, einen dominanten Charakterzug des Argonauten dar. In seinen aktiven Beschimpfungen Medeas 22 weist Jason diese auf ihr Kolchertum zurück, zu dem sie aufgrund ihrer Aufgabe für ihn nicht zurückkehren kann. Über ihre kulturelle Zugehörigkeit und Identität als kolchische Prinzessin und Priesterin hinaus hat Jason Medea zudem Vater und Bruder gekostet und geht in Korinth dazu über, sie als Frau und Mutter zu diskreditieren, zu verleugnen und gewaltsam von sich zu weisen. Damit nimmt er ihr den einzigen Anhaltspunkt, den sie in der Fremde hat: seine Loyalität. Der Kulturkampf der Antike wird angereichert durch einen Kampf der Geschlechter, der Individuen sowie blutige Bestrebungen zur Aufrechterhaltung individueller Vorstellungen von Ehre. „Medea als Mensch ist so in einer Weise mißhandelt worden, daß ihre Rache nicht mehr als die der Kolcherin am Griechentum interpretiert werden muß“ 23 , ihre Taten stehen vielmehr für eine persönliche Rache und markieren das Aufbrechen der ihr angelegten Fesseln und die Rückgewinnung ihrer Selbst aus der fehlgeschlagenen Assimilation für einen schwachen, starren und letztlich ehrenlosen Mann. Dies markiert eine signifikante Entwicklung, der inszenatorisch gemeinhin viel Raum geschaffen wird, wie es auch in den im Folgenden betrachteten Inszenierungen auf unterschiedliche Art und Weisen der Fall ist. Herausragend in Grillparzers Medea-Drama ist zudem die Rolle der Amme Gora, die besonders in der Aufführung Mateja Koležniks hervorsticht. Wo in antiken Dramen, bspw. in Senecas Medea, eine namenlose Amme vorkommt, die, sofern sie überhaupt über den Nebentext hinaus zum Bühnengeschehen beiträgt, weniger eindeutig als gewichtige Präsenz in Medeas Entscheidungs‐ prozessen wahrgenommen wird, gestaltet Grillparzer die Figur als willensstark, zornig und empört über Medeas Bruch mit der Heimat Kolchis. Gora artikuliert 241 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="242"?> 24 DgV Medea, V. 42 ff., V. 1161 ff. 25 DgV Medea, V. 1273 ff. 26 DgV Medea, V. 2226. 27 DgV Medea, V. 2373 ff. 28 DgV Medea, V. 2354 ff. ihren Unmut über Jason, Korinth und Medeas Verrat an der eigenen Kultur stets direkt. 24 So gelingt es ihr, mitunter auch durch die stetigen Wiederholungen ihrer eigenen Unzufriedenheit und steigenden Verachtung ob des in ihren Augen rückgratlosen Verhaltens Medeas zugunsten Jasons, diese in Momenten von Zweifel und Schwäche mit ihren Worten zu treffen und so durch Anekdoten 25 die Möglichkeit des Infantizids als Schlag gegen den Vater anzulegen. Grillparzer schreibt Gora die Macht zu einem emotiven coup d’etat gegen die griechelnde Kolcherin ein. Obschon schließlich Medea die Kinder richtet und die Amme über die tatsächliche Bluttat Entsetzen äußert 26 , kann man Gora doch eine klare Agenda unterstellen, die einerseits als die einer Stimme der Vernunft oder eines Kolchis nachtrauernden, kulturellen Gedächtnisses erscheint, andererseits jedoch klar auch die egoistische Position verfolgt, in die Heimat zurückkehren zu wollen - eine Agenda, die Medeas Entscheidung zur Tat vehement und omnipräsent allein durch die Existenz Goras bestärkt. Gora fungiert in dieser Konstellation beinahe als Manifestation eines Teufels auf der Schulter der Zweiflerin und kann als Signifikat eines Gewissenszwistes gelesen werden, den Medea auch in den vorliegenden Inszenierungen nicht innerlich austrägt, sondern bis zur musisch wie raumsemantisch untermauerten Verzweiflung hin veräußert. Grillparzer fügt seiner Tragödie zuletzt die Dimension einer notwendigen Buße für begangene Taten und damit ein Element christlicher Ethik hinzu. Zu nennen ist hier Medeas Urteil über Jason, den sie mit der Trias „Trage! - Dulde! - Büße! “ 27 zu einem schmerzhaften Verweilen in den Trümmern seiner Existenz verdammt. Darüber hinaus richtet sie auch über sich selbst, indem sie sich nicht durch Suizid oder Übermenschlichkeit den Konsequenzen ihrer Taten enthebt, sondern ein letztes Mal ihr Schicksal in fremde Hände gibt. Mit der Restitution des geraubten Vlieses an seinen Ursprungsort in Delphi begibt sie sich als Individuum vor ein höheres Gericht, das über ihren Verbleib auf Erden in schmerzlicher Buße oder eine Todesstrafe entscheiden wird. Dies tut sie als neuerlich selbstbestimmte, aber zugleich gebrochene Frau, wie sich aus den Schlussszenen der Inszenierungen verschiedentlich ablesen lässt. 28 Die folgenden Aufführungsanalysen stellen die Unterteilungen der Insze‐ nierungen in zeitliche / inszenatorische Abschnitte, die Bühnenbilder sowie die Mobilität der Figuren im Bühnenraum aus. Für die Betrachtung der 242 Barbara Bollig <?page no="243"?> 29 Bruhn (2016: 7). 30 Bruhn (2016: 20). Medea-Figur ist insbesondere ihre - räumliche wie durch Figurenrede und Gesang ausgestellte - Beziehung zu den übrigen dramatis personae signifikant und wird in den ausgewählten Schlüsselszenen hervorgehoben. Des Weiteren wird auf die kostümbildnerische Betonung emotionaler Verfasstheit ebenso eingegangen wie auf das für Koležniks Medeas zum Fetischobjekt erhobene und bei Reimann zum lebendig anmutenden Nebendarsteller gewordene Vlies. In Koležniks Drameninszenierung kommt der Manifestation der medeeischen Psyche durch Bewegungs- und Lichtspiel eine besondere Bedeutung zu. In der Oper wird durch die musikalische Ausgestaltung eine weitere Bedeutungsebene etabliert, deren analytische Betrachtung unerlässlich ist; ebenfalls Einzug in die Analyse findet der Einsatz von Filmmedien, durch welche gleichermaßen narrative Analepsen und die ad hoc stattfindende Beweisführung zur Anklage Medeas visuell begleitet werden. Die Aufführungsanalysen folgen bewusst chronologisch dem Dramengeschehen; die inszenatorischen und konzeptions‐ ästhetischen Besonderheiten der Inszenierungen Kay Links in Essen und Mateja Koležniks in Stuttgart werden so hervorgehoben und durch die Parallelisierung der beiden Inszenierungsabläufe zu einem leichteren Vergleich der sich teilweise in der Ausgestaltung Medeas stark unterscheidenden Aufführungen zusammen‐ getragen. Aribert Reimann: Medea. Eine Oper in 4 Bildern. Aribert Reimann gilt als einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Kompo‐ nisten Deutschlands. Sein Oeuvre umfasst unter anderem acht Opern, drei Chorwerke und zwei Requiems sowie zahlreiche Instrumentalwerke. 29 Seine dritte Oper, Medea, wurde 2009 fertiggestellt und Anfang des Jahres 2010 an der Wiener Staatsoper uraufgeführt - sie besteht aus zwei Teilen und einem eigenen Libretto in insgesamt vier Bildern, die Textfassung schreibt Reimann auf der Grundlage des Dramentextes von Grillparzer. 30 Konkret ist die Oper unterteilt in Bild I: Vor den Mauern von Korinth, Zwischenspiel I, Bild II : Halle in Kreons Königsburg zu Korinth, Bild III : Vorhof von Kreons Burg, Zwischenspiel II , sowie Bild IV : Wilde einsame Gegend. Insbesondere seine Opern sollen sich, so der Komponist, durch die explizite musikalische Individualisierung ihrer Hauptfiguren und -stimmen auszeichnen - eine Ästhetik, die den Topoi der gewählten Stoffe und deren Signifikanz für die sie durchleidenden dramatis personae ausdrücklich zuträglich ist. Seine Opern „kreisen ausnahmslos um 243 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="244"?> 31 Bruhn (2016: 26). 32 Reimann, zitiert in Bruhn (2016: 26). 33 Bruhn (2016: 22). 34 Bruhn (2016: 261). schuldhafte oder schuldlose Verstrickung, um Täuschung und Verrat, Desillu‐ sion und Verblendung, Schmerz und Tod.“ 31 Er betont: „Ich kann keinen Stoff nehmen, der nicht irgendwie etwas mit unserer Zeit zu tun hat oder uns heute angeht. Es gibt so viele gleichnishafte Stoffe aus der Vergangenheit, die uns heute immer noch beschäftigen oder für die unsere Zeit erst so richtig wach geworden ist.“ 32 Ein Anspruch, dem die antike Tragödie der Medea leicht gerecht wird. Der folgenden Analyse liegt die Inszenierung der Oper von Kay Link am Aalto-Musiktheater Essen 2019 zugrunde. Reimanns Medea-Oper und ihre Inszenierung stellen mit ihrem Zusammen‐ spiel von visuellen, akustischen, dramentextuellen und diskursiven Zeichen ein polysemiotisch anspruchsvolles Werk für die Rezipierenden dar. Sie ist in ihrem Haupttext, der durch Übertitel während der Aufführung sichtbar ist, in seiner gekürzten Form beinahe deckungsgleich mit dem Drama Grillparzers. Gerade aber die musikalische und szenische Ausgestaltung des Dramentextes sowie dessen Framing mit anderen Medea-Texten durch das Programmheft verleihen dem Grillparzer’schen Stück eine neue Ausdruckskraft. Reimanns Kompositionen verfügen über eine „musikalische Sprache, die sich vereinfachend durch das charakterisieren lässt, was sie auslässt“: ein „Fehlen oder Ersatz des Erwartbaren“. 33 Obwohl sich der Komponist an den Regelhaftigkeiten der Zwölftontechnik orientiert und diese durch den Gebrauch freier Atonalitäten infrage stellt, setzt er nicht auf reine Wiederholungen und damit eine offensichtliche motivische Lenkung des Publikums hin zu einer Identifikation bzw. Wiedererkennung einer bestimmten Figur; stattdessen arbeitet er mit freien Varianten musikalischer Charakteristika, durch die für die aufmerksam Zuhörenden über bspw. die Verwendung gleicher Instrumente zur Wiedereinführung von Charakteren hinaus ein tonaler Wiedererkennungswert geschaffen wird. So lässt sich über seine Medea bemerken, dass bspw. [d]ie wenigen Instrumente der Schlagzeuggruppe […] charakterisierend eingesetzt [werden]: die Tamtams in Szenen, die auf Medeas geheime Kräfte anspielen, Tom-toms und Pauken in Zusammenhang mit dem ihr unterstellten Mord an Jasons Onkel, Celesta und Harfe zur Typisierung der Königstochter Kreusa als einer im Gegensatz zur Fremden sanften und gebildeten Griechin. 34 Instrumental wird hier eine Latenz geschaffen, welche die visuelle Präsenz der dramatis personae um eine charakterliche Bewertung ergänzt. Durch die 244 Barbara Bollig <?page no="245"?> 35 Vgl. Bruhn (2016: 262), Reimann, Aribert (2009): Medea. Oper in zwei Teilen. Textfas‐ sung vom Komponisten nach Franz Grillparzer (2007-2009). Partitur. Mainz: Schott. Takt 20 ff. (Hiernach: Medea OizT) 36 Bruhn (2016: 262). 37 Medea OizT, T. 1719 ff. Verwendung von hellen, fein distinguierten Harfenklängen für Kreusa (Liliana de Sousa) gegenüber dem Schlagwerk für all jenes Bühnengeschehen, welches mit Medea (Claudia Barainsky) und ihrer als ungeheuerlich empfundenen Macht in Verbindung steht, werden tradierte Assoziationen von musikalischer Klangfarbe mit charakterlicher Integrität der Figuren bemüht, die die Kolcherin gegenüber der Griechin rauer und dunkler, aber auch kraftvoller erscheinen lassen. Auch die situative (Ver-)Stimmung insbesondere der Zauberin, die oben bereits als Empfänglichkeit für Goras (Marie-Helen Joël) Anekdoten benannt wurde, wird musikalisch aufgegriffen. Der Beginn der Oper zeichnet sich durch Medeas symbolische Absage an ihre Zauberkräfte, Vergangenheit und damit auch ein signifikantes Stück ihres Selbst aus; während sie die Paraphernalien ihrer Zauberkraft vergräbt, spielt das Orchester eine ruhige, beständig die Tonleiter emporklingende Tonfolge 35 , der Entschluss, Klarsinn und den bei Grillparzer ausgebreiteten Willen zu Neubeginn und Assimilation einführt. In Momenten großer Erregung hingegen erklingen zwar Intervalle desselben No‐ tenbereichs, allerdings als „melodische Wechselnotenbildung [mit Sprüngen über bis zu eineinhalb Oktaven -], die wie bebendes Entsetzen wirkt“ 36 , wie etwa beim endlichen Ausgraben 37 der Machtobjekte und dem damit einhergehenden Rückgewinn der kolchischen Identität und entschlossenen Unabhängigkeit von den Unterdrückern. Melodische Variationen derselben Tonfolgen transponieren somit nonverbal die figurale Stimmung und Charakterentwicklung ebenso wie die sich ausbreitende innere Unruhe der Figur. Anders gestaltet Reimann die Figur der Kreusa aus. Neben Kreon (Rainer Maria Röhr) ist sie die einzige Figur, der ein sich wenig wandelndes Motiv zugeschrieben wird, welches sie mehr als Type denn als Figur erscheinen lässt. Palindromische Arpeggien, also Spielweisen, bei denen die in Akkorden enthaltene Noten nicht zeitgleich, sondern einzeln und nacheinander gespielt werden, fungieren als musikalische Marker ihrer Person und spiegeln in ihrem Klang die Lebenswelt der Prinzessin als klar strukturiert, im Zusammenspiel mit König Kreon vorgegeben und vergleichsweise introvertiert wieder. Kreusa klingt so wenig anreizend und im Vergleich zu den sie Umgebenden beinahe farblos-unauffällig, was wiederum die Grillparzer’sche Anlage der Frau als wenig eigenständiges Wesen, kindlich anmutende Gespielin der Knaben und Spielfigur im Abkommen Kreons und Jasons (Sebastian Noack) manifestiert. 245 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="246"?> 38 Dies bezieht sich nicht auf die dramatische Gesamthandlung, sondern explizit auf individuelle Interaktionen diverser Personenkonstellationen und damit auf die ein‐ zelnen Schicksale, die in der Tragödie entschieden werden, ohne dass diese explizite Ausführung im Bühnengeschehen fänden. 39 Bruhn (2016: 265). 40 Bruhn (2016: 265), Medea OizT, T. 60-66 und T. 219-225. Neben der genannten musikalischen Gestaltung der Figuren schlagen sich bemerkenswerte Entwicklungen zwischen einzelnen dramatis personae bzw. Knotenpunkte der sich entfaltenden Tragödie in orchestralen Binnenzitationen nieder. Diese markieren Stellen im Handlungsverlauf, an denen es zum Wende‐ punkt in der jeweiligen Personenkonstellation 38 kommt oder solche, an denen die Glaubwürdigkeit bzw. Weltsicht der einzelnen Figuren im Haupttext der Oper infrage gestellt wird. In beiden Fällen verketten diese intratextuellen, intramusischen Bezüge Momente der Inszenierung, die in einem kausalen Zusammenhang stehen und entsprechend zu lesen sind, als fortlaufende Hand‐ lungsstränge, die in ihrer Entwicklung ebenso Auskunft über Verortung und Verfasstheit der betreffenden Figuren geben, wie es die oben genannten Spiel‐ weisen tun. Als Beispiel für die erstgenannte Kategorie sind die Bemühung Medeas um Assimilation an Korinth und das tragische Scheitern jener zu nennen. Dieselben Akkorde erklingen während „Medeas Bemühen, dem Vorbild Kreusa nachzueifern“ 39 , explizit in der in Dramentext und Oper ausformulierten Szene des Erlernens eines Musikstückes aus Jasons Jugend, und „im Zusammen‐ hang mit Medeas Vertreibung, und zwar ausgerechnet, als sie fleht, die Kinder mitnehmen zu dürfen“ 40 . Sie markieren so nicht nur Scheitern aller Bemühungen um einen relativen Neuanfang im Bewusstsein der Gunst der Griechen, sondern auch einen Akt einerseits des aktiven Abstoßens eigener (kolchischer) Charak‐ teristika und andererseits des Abgestoßenwerdens von einer unerreichbaren Gruppe ohne Rücksicht auf die damit verbundenen emotiven und psychischen Auswirkungen. Erschwerend kommt hinzu, dass beide Akte um der Kinder Willen geschehen - entscheidender Unterschied ist hierbei die argumentative Fokussierung des Geschehens. Wo Medea für die Kinder, sich und Jason handelt, handelt Kreon in Jasons Namen gegen Medea mit der Argumentation, den Kindern in Korinth eine Zukunft gewähren zu können. Ein anderes Binnenzitat erweitert die Grillparzer’sche Dramenvorlage um eine spekulative Ebene, indem es im bekannten tragischen Gefüge die Glaub‐ würdigkeit Medeas infrage stellt und so den Keim einer Anzweiflung ihrer Person in Dramenfiguren und Rezipierenden gleichermaßen anlegt. Im zweiten Bild der Oper tritt in Form eines Herolds der Ankläger und Unheilsbote des Dramas auf und bringt Kreon, dem Hof und dem Paar Anklagen gegen Medea 246 Barbara Bollig <?page no="247"?> 41 Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Staatstheatern Stuttgart und dem Aalto-Mu‐ siktheater Essen für die freundliche Bereitstellung von Vorstellungsaufnahmen und Werbebildern der hier behandelten Inszenierungen. und Jason vor. Der Mord am Onkel soll gesühnt werden, die beiden werden, auch durch eine die Kulisse des Hofes einnehmende und alles überschattende Einblendung von stilisierten Fahndungsfotos, die Medeas Wahrnehmung als stetige Verbrecherin prominent ausstellen, visuell, dialogisch und raumkonstel‐ latorisch von ihrer Vergangenheit eingeholt. 41 Abb. 1: Anklage Jasons und Medeas. Foto: Forster, Theater und Philharmonie Essen GmbH Es folgt die bekannte Leugnung Jasons, hierin involviert zu sein, gefolgt von der alleinigen Anklage Medeas als Zauberin und Mörderin nicht nur des eigenen Bruders, sondern auch des unrechtmäßigen Königs. Die während des Vortrags der Anklage durch den Herold erklingende Tonfolge wird palindromisch um‐ gekehrt, wenn Medea sich als Antwort hierauf im dritten Bild zu verteidigen sucht. Bruhn stellt aus: Dieselben drei Instrumentalkonturen […] umrahmen […] ähnliche Gesangslinien 247 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="248"?> 42 Bruhn (2016: 264). Abb. 2: Palindromische Melodiefolgen des Herolds und Medeas während Anklage- und Verteidigungsgesangs. Reimann (2009), T. 934 f., T. 940 f. bezeichnenderweise in der Szene, in der Medea ihrem Mann von dem Schrei erzählt, den sie gehört, aber nicht verursacht hat, als sie vor der Abreise aus dem Haus des Onkels das Goldene Vlies wieder an sich nahm. 42 Dies ist dahingehend bemerkenswert, da es zahlreiche Fragen zur Glaubwür‐ digkeit Medeas während ihrer Verteidigung aber auch zur Berechtigung einer Anklage durch den Herold und seine Herren aufruft. Es ist hierbei hervorzu‐ heben, dass allein sie sich verteidigen muss: Jason ist von Kreon bereits in Schutz genommen und damit von allen Anklagen unantastbar gemacht worden. Das Palindrom kehrt die Heroldsmelodie um und deutet damit pragmatisch zunächst den Wechsel der sprechenden und anklagenden Personen an. Die Anklage des Herolds gegen Medea wandelt sich in die Verteidigung Medeas gegen den Herold und die damit einhergehende latente Anklage Jasons als illoyaler und egozentrischer Verbrecher, der nun, da er sich in Sicherheit befindet, jegliche Verantwortung von sich weist. Darüber hinaus ist nun zu hinterfragen, ob mit dem Palindrom festgelegt wird, dass Medeas Aussage zum mysteriösen Schrei denselben Wahrheitsgehalt hat wie die ursprüngliche Anklage. Würde Medea hier, metatextuell den antiken Vorlagen des Mythos entsprechend, eine weitere Bluttat zur Verunglimpfung ihrer Person angedichtet und wäre die Anklage damit unbegründet, wäre ihre Aussage zum Schrei und ihrer Unschuld diesbezüglich entweder wahr und die umgekehrte Melodiefolge markierte dies. Wäre die Anklage allerdings berechtigt, läge es nahe, den Schrei als erlogen anzusehen und nicht die Unterschiedlichkeit der Variation, sondern deren Ähnlichkeit zur Ausgangsmelodie zu betonen, die Medea nicht mehr als unschuldig Xenophobie Ausgesetzte hervorhöbe, sondern als verbrecherische Lügnerin. In diesem Falle markierte Reimanns Medea die bis heute anhaltende Verwen‐ dung des Prädikats Medea für die notorisch schlechte, furiose Frau und Mutter. Während der Liedtext der Oper kein eindeutiges Urteil zulässt, bietet das beglei‐ tende Programmhaft die Möglichkeit eines richtungweisenden Framings dieser 248 Barbara Bollig <?page no="249"?> 43 Aalto-Musiktheater Essen (2019b: 8). 44 Bruhn (2016: 268). Szene, aber auch der Figur Medea als solcher. Hier deuten Ovids Beschreibung Medeas als leidenschaftlich liebende, aufopferungsvolle Partnerin, die jedoch auch Grenzen ihrer Selbstaufgabe kennt, und dialogisch angeordnete Auszüge aus Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen, der Medea als zu Unrecht zumindest mit dem Kindermord in Verbindung gebrachte Verlassene beschreibt, auf eine Unschuld der Zauberin und eine zu harte Vorverurteilung zugunsten einer gesellschaftlichen Verdammung der persona non grata hin. 43 Die unterschiedli‐ chen anderen Bearbeitungen und Charakterisierungen Medeas nicht in Betracht ziehend, liegt das Festhalten der Oper am antiken mythologischen Potenzial der Figur dennoch nahe - wenn auch auf eine spielerische, wenig wertende Art, indem sie die für die Subjektwerdung der Frau gewichtigsten Episoden in Korinth musikalisch abhebt. Reimann übersetzt den Namen Medea in eine aus drei Tönen bestehende Notenfolge, in der die Initiale M zum in der Solmisation gebräuchlichen ‚mi‘ und damit dem Ton e wird, gefolgt von den weiteren Buchstaben des Namens: e, d, e, a. Das Thema wird in jedem der drei Hauptakte einmal für längere Zeit suspendiert: in Bild I während Goras Infragestellung der Assimilation, in Bild II im Kontext der allgemeinen Ablehnung Medeas, und in Bild III für die Dauer von Goras Aufforderung zum Widerstand, Kreons Bann und Medeas Racheplan. Den kurzen Epilog in Bild IV jedoch füllt das Medea-Thema fast ganz aus. 44 Das Medea-Motiv erklingt demnach immer in Abhängigkeit von anderen dra‐ matis personae und einschneidenden Ereignissen, bis zuletzt Medea unabhängig von allen sie Umgebenden ist. Im vierten und letzten Bild der Oper, wenn alle Morde geschehen und alle Fesseln gesprengt sind, findet, untermalt durch eben jene Klangfolge, die letzte Abrechnung mit dem zerstörten Jason und die schlussendliche Lossagung Medeas von Korinth statt. Sie ist allein und doch endlich vollständig sie selbst. Visuell unterstrichen wird die Neubemächtigung Medeas durch das Tragen des Vlieses. Sie hält es, wie bereits bei Grillparzer vorgegeben, einer Capa gleich um die Schultern gelegt, der goldene Stoff füllt einen Großteil des ansonsten leeren Bühnenraumes hinter ihr aus. Bislang dominierte eine mehrstöckige kubische, brutalistisch-moderne Kulisse des korinthischen Hofes den Raum, welche Medea und die Ihren mithilfe solider Mauern an den Rand der Bühne und damit in ein Schwellendasein verbannte. Nun ist dieser mit all seinen korinthischen Figuren verschwunden und es bleibt nichts als schreiende Leere. 249 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="250"?> 45 Aalto-Musiktheater Essen (2019a): Medea, Oper in vier Bildern von Aribert Reimann. Inszenierung Kay Link. Vorstellungsmitschnitt. Medea bewegt sich langsam auf einen im Vordergrund niedergeschlagenen Jason zu, als wolle sie ihn in der hinter ihr wallenden Flut aus Gold ertränken, doch sie bleibt distanziert. Die Fülle des Vlieses und die Absenz jeglicher Spur menschlichen Lebens auf der Bühne illustrieren eindrücklich die Dominanz des Objektes über die, die nach ihm verlangen. Es stellt somit ein tödliches Fetischobjekt dar und gereicht gleichermaßen zu einem Emanzipationssymbol und einer Bürde für Medea: Die erste Handlung der Oper zeigt die Zauberin in gleicher Pose, das Vlies hinter sich herlockend, kurz vor dem Vergraben der Zauberobjekte und der Lossagung von Vergangenheit und Identität; die letzte Szene kehrt ebendies um und macht das Vlies in Medeas Besitz zum wohl wichtigsten Rahmen der Oper. Abb. 3: Medea erstarkt mit Vlies. Foto: Forster, Theater und Philharmonie Essen GmbH In der hier betrachteten Inszenierung Kay Links wird ihm gar ein Eigenleben und beinahe der Status einer Dramenfigur eingeschrieben, wenn im Personen‐ register „Vliesgeister“ 45 gelistet werden, die den goldenen Stoff im Raum mobili‐ sieren und zu einem Spiegel der Stimmungen Medeas und ihrer Subjektwerdung werden lassen. Nach dem furiosen Feuermord an Kreusa, bei dem die Bühne zunächst in Flammen, dann in blutrotes Neonlicht getaucht ist, durchschreitet die Zauberin den Bühnenraum aufrecht mit erhobenem Haupt, entschlossen, machtvoll, unnahbar. Reimann und Link manifestieren so, was Neumann als Pathologium in der Tragödie eines Zeichens hervorhebt: 250 Barbara Bollig <?page no="251"?> 46 Neumann (1997: 272). 47 Medea OizT, T. 32 f. Das Paradox von lebensnotwendigem Erinnern und die Existenz allererst sicherndem Vergessen ist das Schicksalsmuster, das das Sein der Halbgöttin Medea mit dem Werden des modernen Menschen Medea verkoppelt. [… das] Zeichen einer modernen Tragik der Fremdheit und der Entfremdung. 46 Aber auch, so möchte man in Anbetracht des in Aussicht gestellten Endes einer Rückgabe des geraubten Schicksalsträgers und Medeas Beugung unter die Gerichtsbarkeit Delphis hinzufügen, der Rückkehr zu einem verwiesenen, aber nie gänzlich vergessenen Selbst. Diese Fluktuation von Macht und Selbstermächtigung schlägt sich neben instrumentalen Kombinationen auch in Superimpositionen ihrer Stimme über gemäßigte Singweisen der anderen Figuren, ihrer ästhetisch hervorstechenden Präsenz im Bühnenraum sowie einer überlebensgroßen Projektion ihrer ver‐ meintlichen Verbrechen vor den Augen des versammelten Korinths nieder. So hebt sich die von Kopf bis Fuß in Rottöne gekleidete Medea mit Be‐ treten der Bühne von den brutalistisch-grau gehaltenen Kulissen ab, sticht beinahe unangenehm hervor und beschließt, nach einleitenden Worten im mezzopiano beständig lauter werdend und im sforzato betonend, „es muss gescheh’n“ 47 (forte). Nach diesem energisch-ausdrucksstarken Entschluss tritt sie zunehmend gemäßigt auf; mit Ausnahme der oben genannten Anklage- und Streitsituationen und besonders im Duett mit Kreusa ist ihre Stimme zurückhaltender, auch ihr Kostüm wechselt in gedeckte, dunkle Farben, sodass sie äußerlich dem fremden Korinth angepasster erscheint. Das Scheitern dieser Anpassung ist unausweichlich und manifestiert sich abschließend visuell im Akt des sich die dunklen Kleider vom Leibe Reißens und der damit verbundenen Sichtbarwerdung des roten Kostüms unter der nunmehr abgestreiften Haut der gescheiterten kulturellen Mimikry. Die hiermit verbundene Neuermächtigung geht einher mit der Erkenntnis, dass alle Versuche, Jason an sich zu binden, nichtig waren, wenn auch der finale Entschluss zum Kindermord noch nicht gefasst ist. Kostümbildnerisch abgeschlossen ist die Rückkehr zur eigenen Macht mit dem Auftreten der Vliesgeister, die den goldenen Stoff um Medeas Schultern legen und ihn die Bühne ausfüllen lassen. Reimann schreibt seiner Medea jedoch nicht allein die unbändige Zauberkraft des Stoffes ein, wenn er sie fortissimo verkünden lässt, dass sie nun Jason und das zerstörte Korinth hinter sich lassen wird - dass sie nach Delphi gehen und das Phryxus geraubte Widderfell an seinen Ursprungsort zurücktragen will, ist piano gehalten und 251 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="252"?> 48 Medea OizT, T. 1880 ff. 49 Medea OizT, T. 1913 ff. „Du Armer, der von Schatten du geträumt.“ erscheint nicht nur dem Duettpartner Jason gegenüber wie ein in Trauer gefällter Entschluss. 48 Ebenso unausweichlich wie die ungewisse Zukunft Medeas nach dem Urteil des Orakels in Delphi ist die Erkenntnis, dass Jason zeitlebens einem Schatten von Ruhm und Ehre 49 nachgejagt ist, den auch Medea ihm nicht zu ergreifen helfen konnte. Die dubiosen Versuche, sich unrechtmäßig zu ermächtigen, werden dem Hofstaat wie auch dem Publikum durch den Herold in Form von Filmmaterial einer Überwachungskamera vorgeführt, welches Medea und Jason gemeinsam wie individuell mitternächtlich durch dunkle Flure hastend zeigt - untermalt durch die Anklage des Boten, die beiden haben den Oheim getötet. Die Anklage endet mit der metergroßen Projektion zweier in Grautönen gehaltener Fahndungsfotos, die, aus dem Plenum betrachtet, den beiden Angeklagten missmutig gegenüberstehen. Durch diese Juxtaposition von Vergangenheit und Gegenwart und das nur langsame Verblassen der Aufnahmen wird die Omnipräsenz der unehrlichen, durch Machtgier gezeichneten Geschichte Jasons und der willentlich involvierten Medea betont, die beide Unheil heischend auch in Korinth einholt - wenngleich Kreon Jason zu entschuldigen und Medea alleinverantwortlich zu machen weiß. Das von ihr aufgenommene Verbrecher‐ foto fängt die xenophobe Perspektive der griechischen Welt auf Medea ein und verstärkt ihren Entschluss zur blutigen Abkehr von den sie Hintergehenden und gibt Anstoß zur unsäglichen Tat. Dieser Moment der Bewusstwerdung ihrer ver‐ lorenen Liebesmühen und der geschwundenen Zukunftsperspektiven beginnt, was sich in Kindermord und fulminantem Schlussbild emotiv wie audiovisuell manifestiert: Die Herabwürdigung der stolzen, emanzipierten Königstochter und bisweilen aufopferungsvollen Gefährtin und Mutter auf den Stand einer verleumdeten Verbrecherin, deren Schuld angenommen, aber nicht eindeutig belegt ist - und das Wiederaufkeimen ihrer eigenen Kraft in der Rückbesinnung und Aufarbeitung auf eine zu sühnende Vergangenheit, wenngleich sich diese, in vlies-endes Gold und blutiges Rot gehüllt, auch durch eine anhaltende Zerrissenheit und den Verlust der Kinder auszeichnet. Die Oper endet mit der Abkehr Medeas vom bewegungslosen Jason und der stimmungsvollen Verdunklung des Goldmeeres bis hin zur gänzlichen Schwärze. 252 Barbara Bollig <?page no="253"?> 50 Vgl. „Koležnik, Mateja.“ (o. D.) Lexikon, Nachtkritik.de. Abrufbar unter: https: / / nachtkr itik.de/ index.php? option=com_seoglossary&view=glossary&catid=78&id=549&Itemid =67. (Stand: 24. 01. 2021). 51 Großkreutz, Verena (2018): Kalt gefließte Rache. In: Nachtkritik.de, 14. De‐ zember 2018. Abrufbar unter: https: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_con tent&view=article&id=16209: medea-mateja-koleznik-kocht-franz-grillparzers-fuenfa kter-am-staatstheater-stuttgart-auf-ein-sorgerechtsdrama-herunter&catid=38&Itemid =40 (Stand: 24. 01. 2021). Mateja Koležnik: Medea, von Franz Grillparzer Eine grundlegend andere, beinahe gedrängter erscheinende Art der Verarbei‐ tung des Grillparzer’schen Dramentextes bietet das Schauspiel Stuttgart mit der Medea-Inszenierung Mateja Koležniks in der Spielzeit 2018 / 19 an. Die slowenische Regisseurin, deren Arbeit sich durch einen Fokus auf anglophone Dramatiker des 20. Jahrhunderts sowie britische und deutsche Gegenwartsdra‐ matik auszeichnet, gab ihr Debüt an deutschen Bühnen 2012 mit einer Inszenie‐ rung von Gombrowicz‘ Yvonne, Prinzessin von Burgund am Theater Dresden. 50 Als Trägerin diverser Theaterpreise ist Koležnik eine etablierte Dramaturgin, wenngleich sich ihre Arbeit durch gemischte Kritiken auszeichnet. Die im Folgenden behandelte Medea-Inszenierung ist nicht ihr einziger Rückgriff auf antikes Tragödienmaterial, unter anderem zählt auch eine Inszenierung von König Ödipus am Residenztheater München 2015 zu ihrem Repertoire. Der folgenden Analyse liegt Koležniks Inszenierung ihrer Medea am Schauspiel Stuttgart in der Spielzeit 2018 / 2019 zugrunde. Koležniks Medea gehört mit einer Spielzeit von nur 75 Minuten ohne Pause zu den kürzeren Inszenierungen der Tragödie. Durch das Ausbleiben einer Un‐ terbrechung wird der tragische Inhalt des Stückes verdichtet und dem Publikum kein momentanes Ausbrechen aus der Düsternis, die Stoff, Bühnenbild und Charakteren entspringt, gestattet. Durch Zusammenstreichungen des Grillpar‐ zer’schen Originals werden insbesondere Informationen zur Vergangenheit einzelner Figuren gekürzt, dadurch wird ihnen jedoch explizit nicht „jegliche Chance genommen, sich zu entwickeln“ 51 , wie eine Kritik betont. Durch den Fokus auf die dramatische Gegenwart - die sich durch ein Zusammenspiel teils viktorianisch angehauchter, teils minimalistisch-moderner Kostüme und der bühnenbildnerischen Verwendung von Materialien, die durch Milchglas und Vollverfliesung eine Zeit seit den 1970er Jahren evozieren, nicht eindeutig datieren lässt - gelingt es der Regisseurin, das Beziehungsdrama zwischen Jason und Medea besonders auszustellen. Sie und ihre Nebendarstellenden entwickeln sich auch ohne ausladende Darstellung ihrer bisherigen Erlebnisse merklich und in einem Rahmen, der bspw. mit dem antiken Text des Euripides vergleichbar 253 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="254"?> 52 Großkreutz (2018). 53 Großkreutz (2018). 54 DgV, Medea V. 1750-1900. ist. Durch das Auftreten des Herolds ist die (mitunter gemeinhin bekannte, besonders aber durch das Programmheft zur Genüge ausgestellte) Verbindung zur Vorgeschichte Medeas als machtvolle Frau in der Mitte der Inszenierung gegeben. Durch die Anbandelungen Jasons mit Kreusa und die Zuwendung Kreons wird sprachlich ebenso wie dramaturgisch der Zerfall der prekären Beziehung zwischen dem Griechen und der Kolcherin finalisiert, die Interventionen Goras reißen Medea wiederholt zurück in die Realität aus ihren Versuchen der kulturellen Mimikry. Wenngleich sich die Entwicklung der Hauptfiguren Jason und Medea also weniger in Szene gesetzt findet, als es in anderen Inszenie‐ rungen des Stoffes der Fall ist, entwickeln sich die Figuren dennoch - in ihrer Zerrissenheit, der artikulierten Intensität ihrer Empfindungen und der anfangs zwar angedeuteten, mitnichten aber unausweichlichen Entwicklung der Kata‐ strophe des tragischen Stoffes. Wird der durch das Programmheft erweiterte Nebentext der Aufführung, in dem sich auch ein Langzitat aus Heiner Müllers Medeamaterial findet, in die Aufführungsanalyse (im Sinne einer Analyse des Bühnengeschehens sowie des Begleitmaterials, welches, wie der Titel verrät, die Inszenierung begleitet) einbezogen, werden gar neue Entwicklungshorizonte insbesondere Medeas eröffnet, die gerade im Zusammenhang mit Grillparzers Werk einen neuerlichen Fokus auf die Psychologie der Kolcherin legen. Großkreutz’ Mutmaßung, „[w]äre Koležniks Inszenierung konsequent, müsste sie im erweiterten Suizid Medeas enden. Grillparzers durchaus psycho‐ logisierendes Drama verkümmert so aber zur eindimensionalen Story“ 52 , ist harsch, verkennt sie doch einige Nuancen in Medeas Entwicklung, die sich po‐ lyvalent eben nicht nur im Schauspielerischen, Linguistischen äußern, sondern gerade in der Raumsemantik, im Bühnenbild, dem, so ebenda, „die magischen Theatermomente an diesem Abend [entspringen]“ 53 . Inwiefern Medea (Sylvana Krappatsch) zuletzt auch sich selbst hätte richten sollen, bleibt hier ungeklärt und wenig ersichtlich; zwar ist ihr Monolog der Selbsterkenntnis 54 stark gekürzt und kommt, gerahmt von leidenschaftslosem Zigarettenrauchen Medeas im Treppenaufgang, nebensächlich daher - die Idee zum Kindermord anstatt zum erweiterten Suizid wird jedoch, wie es auch in der Textgrundlage der Fall ist, von Gora ausgesprochen, Medea damit eingegeben, wiederholt angesprochen und schließlich nach vollbrachter Tat schockiert kommentiert. Besonders Gora (Marietta Meguid) in ihrer anhaltend vehementen Verteufelung Jasons und des Griechischen und in ihrer konsequenten energischen Abschätzigkeit gegenüber 254 Barbara Bollig <?page no="255"?> der unfreiwillig besuchten Fremde Korinths stellt, im positivsten Sinne, eine Konstante dar, an deren Standhaftigkeit sich die Entwicklung der weiteren Figuren, insbesondere aber Medeas, ermessen lassen. Im direkten Vergleich zu Reimanns Operninszenierung fällt - neben der offensichtlichen Absenz der orchestralen Musikalität im Sprechtheater - bei der Betrachtung von Koležniks Medea auf, dass das in der Oper so dominante, lebendige Vlies kaum eine Rolle spielt. Zwar sprechen die Figuren, wie bei Grillparzer angelegt, hierüber und ihm wird ein symbolischer Wert zugestanden, jedoch ist es nicht als taktiles Objekt vorhanden - und gereicht entsprechend nicht zur Manifestation eines Selbstfindungsprozesses oder der Spiegelung situativer Stimmungen. Medea transportiert wenig der ihr traditionell einge‐ schriebenen Furiosität; zwar ist sie auch in diesem Stück aktiv in einen Pro‐ zess der versuchten Anpassung an Kreusa (Katharina Hauter) und an Jasons (Benjamin Pauquet) Griechenland verstrickt, in ihren meist ruhig, beinahe nie‐ dergeschlagen-unterwürfig vorgetragenen Dialogen ist für die Rezipierenden allerdings wenig Willensstärke zu erkennen. Koležnik setzt auf eine Besonnen‐ heit und ihren Widersachern entgegengebrachte Fürsorge - anfangs für die gemeinsame Zukunft mit Jason, nach einer bald einsetzenden Realisierung, dass diese unerreichbar bleiben soll, letztlich im Sinne der Kinder - allein im Dialog mit Kreon (Klaus Rodewald) kommt es zu Agitation und einer unterschwelligen Wut Medeas, die sich in ihrer Gestik und einer unruhigen Verortung im Raum äußert, nicht aber durch spitze Worte zum Ausdruck kommt. Die Kolcherin verkörpert primär eine sich sorgende Mutter, die sanft mit ihren Söhnen umgeht und Konflikte mit Jason durch gedämpfte Stimmlagen in Abwesenheit der Kinder bespricht. Dieser hingegen steht seinem Reimann’schen Pendant in Rückgratlosigkeit in nichts nach, windet sich immer wieder aus den sich entwi‐ ckelnden Streitgesprächen und bringt, bis auf wenige Ausnahmen, möglichst viel Raum zwischen sich und Medea, zugunsten Kreusas und Kreons. Das Anwachsen von Medeas Zweifeln an Jasons Integrität ihr gegenüber schüren Kreon und Kreusa auf unterschiedliche Weise: Der König erwähnt nahezu zwanghaft in den meisten seiner Dialoge das Vlies und bedrängt Medea, ihm dieses zu überlassen - dessen Zauberkraft und Goldwert stellen das Gewebe der dialogischen Auseinandersetzung Kreons mit Medea dar - die latente Erhebung des Felles zu einem Fetischobjekt vollzieht sich primär in den Augen des Hofes, nicht aber der Kolcherin. Kreusa nimmt in der Stuttgarter Inszenierung keine größere Rolle ein, als sie bereits bei Grillparzer angelegt ist. Es ist hingegen die dominante und sich wiederholende Reminiszenz der gemeinsamen Jugend von Jason und Kreusa sowie sich häufende Anspielungen auf emotionale wie körperliche Nähe, die auch in Medeas Beisein erinnert werden, die Medea nach 255 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="256"?> missglückten Versuchen der Einpassung in Dialog- und Hofstruktur resignieren lassen. Die mit Abstand aggressivst-zürnende Figur des Schauspiels ist Gora, deren Wut und Ungläubigkeit angesichts der vergrabenen Zauberparaphernalien die Inszenierung eröffnen. Sie ist durchweg von Medeas Abkehr von ihr und Kolchis, besonders aber ihrer Verblendung bezüglich Jason, bis in die letzte Faser ihres Wesens angewidert. Suchte man auf Grundlage der medeeischen Charaktereigenschaften in tradierten Diskursen die Identität der Figuren zu bestimmen, müsste man Gora für Medea halten - diese selbst fällt vermehrt durch die Absenz emotiv aussagekräftiger Spielarten auf. Ihr Innerstes finden die Rezipierenden nicht in der Intonation und Gestik dialogischer Szenen manifestiert, sondern in der Kulisse der Inszenierung. Die Seitenwände des Bühnenraumes sind mit dunkelgrünen, beinahe schwarzen Kacheln bedeckt, die auf einen beengten, geschlossenen Raum schließen lassen. Zentral und damit die Plattform zur Entfaltung des tragischen Geschehens bildend, erhebt sich eine massive vierstöckige Treppe mit Plateaus zwischen den einzelnen Treppenläufen, die sich um einen eckigen, nach allen Seiten durch halb durch‐ sichtige Fenster abgetrennten Innenbereich windet, in dem sich wiederum Treppen bzw. Ebenen befinden. Auf den Außentreppen treten alle Figuren des Dramas auf, verändern, je nach Dominanz in der Szene, ihre Position und Höhe im Treppenhaus, und entziehen sich am oberen und unteren Ende desselben den Blicken des Publikums. Das obere Drittel dieser Treppe wird besonders von Medea, Gora und Jason eingenommen, wobei Kreusa mit der sich intensivierenden Beziehung insbesondere zu Medeas Kindern immer höher steigen kann. Kreon hingegen kommt nie über das zweite Plateau hinaus. Das Innere des halb durchsichtigen Kastens, der die gesamte Höhe der Treppen einnimmt, wird hingegen fast ausschließlich von Medea und den Kindern aktiv bespielt; nur einmal befindet sich auch Gora kurz im Inneren. Dieser Innenraum stellt allerdings nicht einfach eine weitere Kulisse dar, vielmehr fungiert er als Abbild von Medeas Innen- und Seelenleben sowie eine Mischung aus Erinnerungsvermögen, Gewissen und Schicksalsbewusstsein der Kolcherin. Das Innenleben Medeas wird hier nicht musikalisch hervorgehoben, sondern durch Kulisse und Mobilität der Figuren im Bühnenraum unterstrichen. In Momenten der Vergangenheitsbewältigung, des emotionalen Aufgewühlts‐ eins und im Rahmen der Bewusstwerdung Medeas, dass Korinth ihr keine Zu‐ kunft bieten kann und Jason sie längst aufgegeben hat, erscheinen zwei sche‐ menhafte Gestalten im Inneren des Kastens und steigen die dort installierten Treppen langsam, beinahe prozessionsartig auf und ab. Der erste Auftritt der Schemen findet statt, nachdem Jason Medea abwiegelt und dazu auffordert: „Du 256 Barbara Bollig <?page no="257"?> 55 Schauspiel Stuttgart (2019a): Medea. Franz Grillparzer. Inszenierung Mateja Koležnik. 00: 07: 13 ff. 56 Der Botenbericht über Pelias’ letzte Tage unterstützt die genannte Auslegung des milchglasigen Kastens als Medeas Inneres und die Schemen als in besonders aufwüh‐ lenden bzw. bedeutungstragenden Entscheidungsmomenten wiederkehrenden Gewis‐ sensbausteinen: Es wird berichtet, Pelias sei zuletzt von seinem von ihm ermordeten Bruder heimgesucht worden, was ihn in hamletesker Manier in den Wahnsinn und schließlich in den Todeswunsch getrieben habe, um dem ein Ende zu setzen. Bekann‐ termaßen richtet sich eine sich für Medea ähnlich entwickelnde Dynamik nicht gegen die Kolcherin selbst, sondern gegen ihre Verräter und die Kinder - ein Ende wird, nach Grillparzer, dem schicksalhaften Spiel in Delphi bereitet, wenn sie das Vlies dorthin zurückbringt. Dieses Ende bleibt in der Inszenierung Koležniks jedoch aus. Abb. 4: Medeas Innerstes wird von den Geistern ihrer Vergangenheit geplagt. Foto: Thomas Aurin, Schauspiel Stuttgart aber, mit den Kindern, bleib’ verborgen“ 55 , und sie, als diese sich abwendet, vor‐ wurfsvoll fragt „Was deutest du so falsch, was ich gesagt? “, ihre halblaute Ant‐ wort „Beweise mir, dass ich es falsch gehörte“ nicht mehr wahrnehmend. In diesem Moment der Zurückweisung wird die Kolcherin von den sich im be‐ leuchteten Inneren des Kastens die Treppenstufen rückwärts hinabsteigenden und sich von Medea entfernenden Schemen in den Bann gezogen, bleibt starr im Aufsteigen begriffen stehen und schaut den erwachsenen Figuren mit einem Ausdruck des betroffenen Entsetzens zu. Mit jeder Verleumdung durch Jason und der damit einhergehenden emotionalen Verletzung erscheinen die Figuren wieder, bewegen sich jedoch bei ihren weiteren Auftritten auf Medea zu. Es handelt sich bei den Schemen um Pelias 56 , den potenziell von Medea in Jasons Sinne ermordeten Jolkosen, und Absyrtus, ihren Bruder, den sie für Jason und 257 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="258"?> 57 Hier weicht Koležniks Inszenierung vom Grillparzer’schen Vorbild ab, indem es den genauen Hergang von Absyrtus’ Tod nicht durch den Boten berichten lässt. Während er sich im österreichischen Drama eigenständig ins Meer stürzt, um seiner Gefangen‐ nahme durch die Argonauten zu entgehen (DgV, Die Argonauten, V. 1739-1754), wird in der Stuttgarter Inszenierung allein von Medeas Schuld an Absyrtus’ Tod berichtet, nicht aber von efinem dezidierten Tathergang. 58 Schauspiel Stuttgart (2019a), 00: 34: 35 ff. 59 Schauspiel Stuttgart (2019a), 00: 35: 19 ff. mit dessen Hilfe tötete. 57 Zur Anklage des Herolds erscheinen die Schemen wieder - begleitet von einem Stimmungsumschwung zu einem Streit zwischen Medea und Jason, in welchem er sie eine Frevlerin nennt und sie noch vor Kreon aus Korinth verbannt. Bereits in diesem Auftritt wird angedeutet, was sich ma‐ nifestieren wird: als die Gestalten den Fuß der sichtbaren Innentreppen errei‐ chen, öffnet sich ein Fenster, aus dem sodann die beiden Knaben klettern. Sym‐ bolisch wird hier eine Verbindung zwischen dem Tod des Bruders und dem bevorstehenden Tod der Kinder hergestellt, die sich in Medea sogleich im kurz hierauf folgenden schicksalhaften Austausch mit Gora festsetzt. Die Kinder sollen in Korinth verbleiben, Medea die Stadt verlassen, nur Gora würde ihr bleiben. Diese, in einem Monolog Medea zur Vernunft rufend, listet, während sie sich im Kasteninneren befindet, auf, welches Schicksal Jasons vormals treue Gefährten ereilt hat. Ihr Bericht beinhaltet auch die Fälle des durch ein giftiges Seidenkleid in Todesqualen gebrochenen Herakles sowie denjenigen über die Kindsmörderin Althea. 58 Zwar verurteilt Medea Althea hiernach noch, passend zum räumlichen Distanzieren Goras vom Milchglaskasten und damit einem intimen Bereich ihrer Herrin, doch steht die vehement nachdrücklich vorgebrachte Aussage Medeas, „Erst meine Kinder will ich haben - den Rest ergibt die Nacht! “ 59 unheilschwanger im Raum, bis sie zuletzt, der Dramenvor‐ lage und der Tradition entsprechend, umgesetzt wird. Zuletzt wird das zugige Treppenhaus zu einem Schlachtraum: Selbst Gora ist entsetzt und spricht zu‐ rückhaltender, mit einem Male merklich emotionaler, verletzter als noch zuvor, nachdem eine gefestigte und in ihrer Tat gegen Jason überzeugte Medea den Tod der Söhne verkündet. Medeas Stimmung wandelt sich von einer unruhigen, resignierten hin zu einer zwar schmerzlich bedrückten, dennoch strahlt sie - insbesondere im direkten Vergleich mit Jason - ein Gefestigtsein und einen inneren Frieden aus. Der Grieche sackt, das Gesicht schmerzlich immer wieder in den Händen verbergend, auf dem Treppensturz zusammen, während die Kolcherin zwar zögerlich und leicht stolpernd, aber dennoch aufrechtstehend dem Abschluss des Stückes entgegenblickt. Nüchtern unterrichtet sie ihren voll‐ kommen aufgelösten, sich aber besonders selbst im Angesicht des bleibenden Nichts bemitleidenden Mann davon, dass alles nun ein Ende habe. Was Jason 258 Barbara Bollig <?page no="259"?> 60 Hillen, Meike (2003): Die Pathologie der Literatur. Zur wechselseitigen Beobachtung von Medizin und Literatur. Frankfurt a. M.: Peter Lang. 12. 61 Bollig, Barbara (2021): Jekyll-und-Hyde-Syndrom. In: Garderer, Rupert / Peeters, Wim (Hrsg.) Syndrome. Fiktionen und Pathologien. Hannover: Wehrhahn, 47-53. 153. Entlehnt aus der Radiologie geht das Konzept des Tracer Texts davon aus, dass es sich beim entsprechenden Narrativ um eine archetypische Beschreibung der menschlichen Kondition handelt, die unabhängig von Zeit und Kultur aufgrund seines beschreibenden bzw. unterhaltenden Wertes performativen Charakter hat; es wird, je nach Passung, mehr zuzusetzen scheint als der Verlust von Zukunft und Kindern ist Medeas Nüchternheit und Rationalität. Sie erkennt verbal an, dass der Kindermord, der auch hier hinterszenisch stattfindet, ein schwer greifender Schlag ist, unter dem auch sie zu leiden habe, gerade Jasons Leid ihr dies jedoch erleichtere. Sie wird gefasster in dieser Gewissheit. Parallel hierzu erscheinen zwei neue Schemen im Innenraum des Kastens, die die erwachsenen Gestalten, die Manifestationen der Schuldigkeit und ungesühnten Taten Medeas, ablösen. An ihrer statt steigen nun die beiden Kinder als verzerrte Figuren die Treppen des Inneren auf und ab. Durch das kurz hierauf folgende Ende der Inszenierung ohne Vlies, Fahrt nach Delphi oder eine anders geartete Zukunftsaussicht deutet Koležnik den Verbleib Medeas mit der Schuld des Kindermordes an. Sie trägt das selbst herbeigeführte Schicksal mit sich und in sich, ohne Aussicht auf Verbesserung. Medea nach Grillparzer Als eine der umstrittensten und vielseitigsten Figuren seit der Antike, der programmatisch Zugehörigkeit abgesprochen und übermenschliche Gewalt und Furiosität attestiert werden, aber auch schlicht aufgrund ihrer unfassbar menschlichen Fehlbarkeit in einem Netzwerk von kulturellen, gesellschaftlichen und geschlechterspezifischen Animositäten, erscheint Medea prädestiniert für die anhaltende künstlerisch-pathologische Betrachtung. Für die Psychopathologie liegen die Leistungen von Kunst und Literatur in einer anschaulichen Darstellung schizophrener Welten: was der Dichter leisten kann, ist eine Phänomenologie „die, was in der Psychiatrie bekannt ist, variiert, amplifiziert vervollständigt und hier und da erweitert“. 60 Ebenso ist eine Beeinflussung der Psychopathologie durch literarische Diskurse und deren populärpsychologische Rezeption denkbar. So steht Medea sinnbild‐ lich für die kindermordende Furie, die ohne Rücksicht auf Verluste agiert und mehr als tötende Mutter denn als ausweglos Hintergangene angesehen wird - der Stoff ist „zum Tracer Text bzw. Mythos für eine kulturkritische (medizinische) Wertediagnostik“ 61 der krankhaft wahnsinnigen Kindermörderin 259 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="260"?> immer wieder als Referenz / Strukturelement in gesellschaftliche Diskurse eingeführt und trägt in veränderter Form zur weiteren Auseinandersetzung mit dem in ihm Enthaltenen bei. geworden. Jegliches Movens missachtend werden ihr Raserei, Hysterie, Kalt‐ herzigkeit attestiert und Mütterlichkeit, teilweise bis heute, abgesprochen. Diese Zuschreibungen entwickeln sich zu Charakteristika, sie werden als Symptome angesehen (wovon bleibt hierbei unklar) und haben als geladene Begriffe die Macht, diejenigen, die mit ihnen bedacht werden, auch mit dem Medea-Diskurs in Verbindung zu bringen, von der Perpetuierung eines oppressiven antife‐ ministischen Hysteriediskurses und der Romantisierung der Mutterrolle als ausschließlich kindbezogen-warm-nährend einmal abgesehen. Es sind diese Zuschreibungen, die Medea auch in gegenwärtigen Diskursen um „regretting motherhood“ und frühkindliche Vernachlässigung als Pathologium manifes‐ tiert, ihr Name wird stellvertretend für eine Abfolge von psychologischen Symptomen als medizinischer Komplex geführt, bei dem sich Misstrauen und Hass gegenüber dem Gatten als Gewalt gegen die Kinder manifestieren. In all diesen Thematiken stellt Medea, besonders aber die Franz Grillparzers, eine Frau dar, die zu diskutieren und deren psychologische Verfasstheit auszu‐ handeln bisweilen ein faszinierendes wie menschliche Abgründe aufwerfendes Unterfangen ist. Durch die explizite Ausgestaltung ihrer Vorgeschichte und Offenlegung des viel erfragten „Warum? “ hinter ihren Taten und den Taten gegen sie engt Grillparzer auf den ersten Blick den Deutungsspielraum der Tra‐ gödie und ihrer Figuren ein. Zugleich gelingt es ihm jedoch eben hierdurch, das Publikum durch die detaillierte Rekurrenz auf eine innerdramatisch anerkannte Figurenhistorie zu zwingen, neben den Medea zugeschriebenen Gräueltaten auch das ihr Widerfahrene anzuerkennen, bevor es zu einer Verurteilung der Figur kommt. Diese obliegt textuell zwar dem Orakel in Delphi, doch liegt dessen Schuldspruch in einer Zukunft außerhalb des Textes - die Zuschauenden selbst werden individuell zu Richtenden über die Verfehlungen der Figuren, die in ihrer Unvollkommenheit allzu menschlich erscheinen. Grillparzer bemächtigt sein Publikum zum Schuldspruch, verlangt ihm allerdings ebenso die Verhandlung der präsentierten Fälle ab und hält ihm so einen Spiegel des eigenen Werte‐ systems vor. Besonders heute, in Zeiten von politischen Grabenkämpfen um Migration, Nationalismus, Frauenrechte und die Frage nach Schuld und Verant‐ wortung für verlorene Leben, stellt die österreichische Medea eine brandaktuelle Grundlage zur Kommentierung und modernen Inszenierung zivilisatorischer Konflikte dar, deren Verquickung mit zeitgenössischeren Textauszügen ihr dramaturgisches Potenzial noch erhöht. Doch auch für sich genommen stellen die Inszenierungen der Grillparzer’schen Medea ein nachdenklich stimmendes 260 Barbara Bollig <?page no="261"?> Programm dar, dessen Inhalt in mehr als 200 Jahren nicht an Aktualität verloren hat. Ebendies evozieren auch die Medeen Koležniks und Reimanns, die sich in ihrer Inszenierung des nachweislich gleichen Ausgangsmaterials, nämlich der Medea Grillparzers, signifikant unterscheiden und doch gleichermaßen das Potenzial bieten, sich kritisch mit medeeischen Diskursen um Weiblichkeit, Mutterschaft, aber auch Emanzipation und Heimatlosigkeit zu befassen. Hervor‐ zuheben ist hierbei, dass die Beihefte beider Inszenierungen Elisabeth Bronfen und ihre feministische Kritik an der Stereotypisierung Medeas als Sinnbild schlechter Mutterschaft und der zeitgenössischen Manifestation überholter Hysteriediskurse anführen und so ähnlich gelagerte Referenzrahmen etablieren, während die Aufführung und damit Sichtbarmachung von Medeas Innerstem semantisch unterschiedlicher kaum sein könnten. Koležniks sprechtheatralem Fokus auf die Figurenkonstellation im Treppenhaus rund um Medeas Milch‐ glaspsyche steht Reimanns tongewaltige Oper entgegen, deren dramaturgisch entscheidende Stellen Link multimedial untermauert. Wo Koležnik das goldene Vlies zum kurz referierten Beiwerk demontiert, steigt es bei Reimann / Link von einer Requisite zur spirituellen dramatis persona auf. Während Medea in Stuttgart ihre Kinder und Kreusa still im Off tötet, geht Kreusa in Essen überlebensgroß in Flammen auf. Während Gora Koležniks Medea dem Grill‐ parzer’schen Vorbild entsprechend zum omnipräsenten, nahezu antagonistisch schlechten Gewissen gereicht, spielt sie bei Link nur eine untergeordnete Rolle. Die Anzeichen und Auswüchse einer diskursiv bis heute evozierten grauenvollen, gesellschaftsunverträglichen Frau in der Figur der Medea ma‐ nifestieren sich vernehmlich auf allen Ebenen von Sprechtheater und Oper, wenngleich sie sich in Nuancen und der letztlichen Vehemenz insbesondere des Kindermordes unterscheiden. So vielfältig die betrachteten Inszenierungen und ihre Gewichtungen einzelner Symptome einer ‚medeeischen‘ Verfasstheit sind, so sehr spiegeln sie das intensive Interesse an Grillparzers Vließ-Triologie und seiner Medea 250 Jahre nach seinem Tod wider. Der Mythos und seine Ausgestaltung sind lebendiger denn je. Literatur Primärliteratur Aalto-Musiktheater Essen (2019a). Medea. Oper in vier Bildern von Aribert Reimann. Inszenierung Kay Link. Vorstellungsmitschnitt. Aalto-Musiktheater Essen (2019b). Medea. Oper in vier Bildern von Aribert Reimann. Programmheft. 261 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="262"?> Euripides (1986). Medea. Übers. und hrsg. von Paul Dräger. Stuttgart: Reclam. Grillparzer, Franz (1821). Das goldene Vließ. Der Gastfreund - Die Argonauten - Medea. Hrsg. Bachmaier, Helmut (1995). Stuttgart: Reclam. Reimann, Aribert (2009). Medea. Oper in zwei Teilen. Textfassung vom Komponisten nach Franz Grillparzer (2007-2009). Partitur. Mainz: Schott. Schauspiel Stuttgart (2019a). Medea. Franz Grillparzer. Inszenierung Mateja Koležnik. Vorstellungsmitschnitt. Schauspiel Stuttgart (2019b). Medea. Franz Grillparzer. Programmheft. Seneca (1993). Medea. Lateinisch / Deutsch. Übers. und hrsg. von Bruno Häuptli. Stutt‐ gart: Reclam. Sekundärliteratur Bollig, Barbara (2021). Jekyll-und-Hyde-Syndrom. In: Gaderer, Rupert / Peeters, Wim (Hrsg.) Syndrome. Fiktionen und Pathologien. Hannover: Wehrhahn Verlag, 147-153. Böschenstein, Renate (1995). Medea und die Frage nach der Überzeitlichkeit der Mutter‐ liebe. In: Cremerius, Johannes, et. al. (Hrsg.) Psychoanalyse und die Geschichtlichkeit von Texten. Würzburg: Königshausen & Neumann, 127-154. Breitenbruch, Bernd (1965). Ethik und Ethos bei Grillparzer. Denkerische Bemühungen und dramatische Gestaltung. Berlin: de Gruyter. Bruhn, Siglind (2016). Aribert Reimanns Vokalmusik. Waldkirch: Edition Gorz. Donath, Orna (2015). Regretting Motherhood: A Sociopolitical Analysis. In: SIGNS: Journal of Women in Culture and Society 40: 2, 343-367. Großkreutz, Verena (2018). Kalt gefließte Rache. In: Nachtkritik.de, 14. Dezember 2018. Abrufbar unter: https: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view= article&id=16209: medea-mateja-koleznik-kocht-franz-grillparzers-fuenfakter-am-sta atstheater-stuttgart-auf-ein-sorgerechtsdrama-herunter&catid=38&Itemid=40 (Stand: 24. 01. 2021). Hillen, Meike (2003). Die Pathologie der Literatur. Zur wechselseitigen Beobachtung von Medizin und Literatur. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Neumann, Gerhard (1997). Das goldene Vließ. Die Erneuerung der Tragödie durch Grillparzer. In: Flashar, Hellmut (Hrsg.) Tragödie. Idee und Transformation. Stuttgart, Leipzig: Teubner, 259-260. Schäfer, Burkhard / Reimann, Aribert (2010). „ich muss alles hundertmal durchlebt haben. Ehe ich es hinschreibe“: Burkhard Schäfer im Gespräch mit dem Komponisten Aribert Reimann. Neue Zeitschrift für Musik 171: 3, 10-13. Stephan, Inge (2004). „Meine Verbrechen sind Kinder der Liebe“ Versuche zur Rehabili‐ tierung einer Skandalfigur in den Medea-Dramen von Friedrich Maximilian Klinger. In: Dies. (Hrsg.) Inszenierte Weiblichkeit: Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln: Böhlau, 95-110. 262 Barbara Bollig <?page no="263"?> Stephan, Inge (2006). Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln: Böhlau. „Koležnik, Mateja.“ (o. D.) Lexikon, Nachtkritik.de. https: / / nachtkritik.de/ index.ph p? option=com_seoglossary&view=glossary&catid=78&id=549&Itemid=67. (Stand: 24. 01. 2021). 263 Medea nach Grillparzer: Zur Semiotik des Pathologischen <?page no="265"?> Die Autorinnen und Autoren Kurzbiographien Barbara Bollig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuger‐ manistik & Didaktik der Literatur der Ruhr-Universität Bochum. Sie arbeitet an einem Promotionsprojekt zu Mythostheorie und modernen Adaptionen des Medea-Mythos im 20./ 21. Jahrhundert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medea, Mythostheorie, Gender Studies, Postcolonial Studies, Gegenwartsliteratur, Abjektivität. Gilles Darras ist Dozent an der Sorbonne seit 2004. Publikationen zum Theater des 18. und 19. Jahrhunderts (Schiller, Grillparzer, Grabbe, Büchner, Kleist). Übersetzte Werke von Schiller (Fiesco, Wallenstein, sämtliche dramenästhetische Schriften) und Grillparzer (Sappho, Des Meeres und der Liebe Wellen, Das Goldene Vließ). Leitet eine deutsche Theatergruppe an der Sorbonne. Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs, des Literaturmuseums, der Sammlung für Plansprachen und des Esperantomuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und Dozent am Institut für Germanistik der Universität Wien. Er ist Literaturwissenschaftler, arbeitet als Ausstellungskurator und Literaturkritiker und ist Herausgeber der Reihe Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek ( Jung und Jung Verlag, 2012 ff.). Er ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Monographien, Sammelbände und Aufsätze vor allem zur Literatur- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eva Geulen ist seit 2015 Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung und Professorin für europäische Kultur- und Wissensge‐ schichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Publikationen zählen Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager (August Verlag 2016), Giorgio Agamben zur Einführung ( Junius 3. Auflage 2016), Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel (Suhrkamp 2002) und Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion bei Adalbert Stifter (Iudicium 1992). Eva Geulen ist Mitherausgeberin der Zeitschrift für deutsche Philologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Philosophie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. <?page no="266"?> Birthe Hoffmann ist Dozentin für deutschsprachige Literatur an der Universität Kopenhagen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts (Grillparzer, Stifter, Musil, Bernhard, Handke), Realismus (Fontane), Literatur und Kriegserfahrungen, Literatur und Phänomenologie. Marc Lacheny ist Professor für Germanistik an der Universität Lothringen. Seine Forschungsschwerpunkte sind österreichische Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Kulturtransfers zwischen Frankreich und Öster‐ reich im 19. und 20. Jahrhundert, Übersetzung und Übersetzungswissenschaft. Zu seinen Publikationen zählen die Monographien Karl Kraus lecteur de Johann Nes‐ troy (Paris: PSN 2008); Littérature „d’en haut“, littérature „d’en bas“? La dramaturgie canonique allemande et le théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy. Mit einer umfangreichen Zusammenfassung in deutscher Sprache (Berlin: Frank & Timme 2016). Zahlreiche Mitherausgeberschaften, u.a.: gem. mit Lajarrige, Jacques und Leroy du Cardonnoy, Éric (Hrsg.) Modernité du mythe et violence de l’altérité: La Toison d’or de Franz Grillparzer. Rouen: PURH (2016). Imke Meyer ist Professorin für Germanic Studies an der University of Illinois at Chicago; ihr obliegt die herausgeberische Betreuung der bei Bloomsbury Academic erscheinenden Buchreihe New Directions in German Studies. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Wiener Moderne; Visual Culture; Gender Studies; Film. Brigitte Prutti ist Professor of German am Department of German Studies, Uni‐ versity of Washington, in Seattle. Ihre Forschungsschwerpunkte sind moderne deutsche und österreichische Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Geschichte des Dramas, Gender Studien, zeitgenössische Literatur. Publikationen zu Lessing, Grillparzer, Stifter, Schnitzler, Haderlap, Bernhard, Mora u. a. Antonio Roselli arbeitet seit 2018 als wissenschaftlicher Koordinator für das Programm „Studieren ab 50“ an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Forschung und Publikationen u. a. zu Jean-Jacques Rousseau, Walter Benjamin, Ernesto de Martino, zur deutschsprachigen Literatur der Aufklärung, des Vor‐ märz und des Realismus. Zuletzt erschienen: Björn Bertrams / Antonio Roselli (Hrsg.) (2021). Selbstverlust und Welterfahrung. Erkundungen einer pathischen Moderne. Wien / Berlin: Turia + Kant. Fabiola Valeri arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und am Deutschen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Ihre Forschungsinteressen umfassen historisch die Literatur, insbesondere das Drama, ab 1800 und syste‐ 266 Die Autorinnen und Autoren <?page no="267"?> matisch Mythos- und Intertextualitätstheorien, Literatur und Wissen, interkul‐ turelle Literaturwissenschaft und postkoloniale Theorie. Adressen Barbara Bollig, M. A. / M. Ed. Ruhr-Universität Bochum Germanistisches Institut PF 49 Universitätsstraße 50 44780 Bochum barbara.bollig@rub.de http: / / staff.germanistik.rub.de/ barbara-bollig Dr. Gilles Darras Sorbonne Université Faculté des Lettres UFR d’études germaniques et nordiques 108 Bd. Malesherbes F-75017 Paris gilles.darras@sorbonne-universite.fr Univ. Doz. Dr. Bernhard Fetz Literaturarchiv und Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek Josefsplatz 1 1015 Wien bernhard.fetz@onb.ac.at Eva Geulen, Dr., Professor Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Schützenstraße 18 10117 Berlin Birthe Hoffmann, Ph.D., Associate Professor Københavns Universitet Institut für Anglistik, Germanistik und Romanistik Emil Holms Kanal 6 2300 København S hoffmann@hum.ku.dk https: / / engerom.ku.dk/ ansatte/ ? pure=da/ persons/ 85949 267 Die Autorinnen und Autoren <?page no="268"?> Marc Lacheny, Dr., Professor Université de Lorraine - Metz (Île du Saulcy, F-57045 METZ CEDEX 1) Professor für Germanistik an der Universität Lothringen - Metz, Vorstandsmitglied der Internationalen Nestroy-Gesellschaft (Wien) Marc.Lacheny@univ-lorraine.fr Imke Meyer, PhD, Professor Department of Germanic Studies 601 South Morgan Street, M / C 189 University of Illinois at Chicago Chicago, IL 60607, USA ixmeyer@uic.edu https: / / german.uic.edu/ profiles/ meyer-imke/ Brigitte Prutti, Dr., Professor Department of German Studies Denny Hall 341 University of Washington Seattle, WA 98195 triest@uw.edu Dr. Antonio Roselli Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Zentrum für Wissenschaftliche Weiterbildung Programm „Studieren ab 50“ Universitätsplatz 2 39106 Magdeburg antonio.roselli@ovgu.de Fabiola Valeri, M. A. Ludwig-Maximilians-Universität München Department I - Germanistik, Komparatistik, Nordistik, Deutsch als Fremdsprache Deutsche Philologie: Lehrstuhl Lüdemann Schellingstr. 3 RG 80799 München f.valeri@lmu.de 268 Die Autorinnen und Autoren <?page no="269"?> ISBN 978-3-7720-8726-4 Zum 150. Todesjahr Franz Grillparzers (1791-1872) stellt sich die Frage nach der kulturellen Lebendigkeit seines Œuvres im 21. Jahrhundert. Wer Grillparzer erst einmal unter die Haut bekommen hat - seinen Sinn für den Menschen in seiner paradoxen Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit zwischen Barbarei und Humanität, seine scharfsinnige Analyse von Machtstrukturen, von zwischenmenschlichen und interkulturellen Dynamiken, seine gebrochene poetische Sprache und facettenreiche Theatralik - muss sich immer wieder über seine relative Unbekanntheit wundern. Der Status eines österreichischen Klassikers und die Vereinnahmung für diverse identitätspolitische Zwecke scheinen sein Werk eher ins Abseits geführt zu haben statt in jene Zukunft, die ihn eigentlich erst einholen müsste. Eben dies versucht Franz Grillparzer - Neue Lektüren und Perspektiven mit einer Reihe von Aufsätzen, die die Perspektiven der internationalen Grillparzerforschung repräsentieren. Sie zielen auf die hermeneutische Provokation und transkulturelle Dimension seines Œuvres sowie auf wichtige Fragen der Dramenästhetik und der Rezeption.
