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Mimesis

Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur

0617
2024
978-3-7720-5727-4
978-3-7720-8727-1
A. Francke Verlag 
Erich Auerbach
Matthias Bormuth
Olaf Müller
10.24053/9783772057274

Erich Auerbach (1892-1957) lehrte Romanische Philologie an der Universität Marburg, bevor er im nationalsozialistischen Deutschland seine Professur verlor und einem Ruf nach Istanbul folgte. Im türkischen Exil entstand - ohne eine europäische Forschungsbibliothek - sein Hauptwerk "Mimesis". Nach seinem Erscheinen 1946 wurde es zu einem internationalen Klassiker der Literaturgeschichte. Das Buch ebnete Auerbach den Weg in die Vereinigten Staaten, wo er noch ein Jahrzehnt in Princeton und Yale wirkte. "Mimesis" bietet eine Reihe souveräner Einzeldarstellungen, die bei Homer und der Bibel einsetzen und die Entwicklung der realistischen Literatur in der westlichen Welt seit der Antike umreißen. Auerbach erkundet im Horizont des Passionsmotivs stilkritisch das Verhältnis von Nachahmung und Wirklichkeit. Nach Dante, Montaigne und Cervantes erscheinen in "Mimesis" vor allem die französischen Realisten als Vorläufer der modernen Mimesis. Die "vielfältigen Bewusstseinsspiegelungen" von James Joyce, Marcel Proust und Virginia Woolf bilden auch das Selbstverständnis des Literaturhistorikers Erich Auerbach. Seine späte Antwort an seine Kritiker beschließt die Neuausgabe, der auch eine philologische Einleitung sowie ein ideengeschichtliches Nachwort beigegeben sind.

<?page no="0"?> Mimesis Erich Auerbach Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur <?page no="1"?> Mimesis <?page no="2"?> Prof. Dr. Matthias Bormuth ist Heisenberg-Professor für vergleichende Ideengeschichte am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg und leitet das Karl Jaspers-Haus. Prof. Dr. Olaf Müller ist Professor für französische und italienische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanische Philologie der Philipps-Universität Marburg. <?page no="3"?> Erich Auerbach Mimesis Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur 12. Auflage Herausgegeben und mit einer editorischen Notiz und ideenge‐ schichtlichen Überlegungen versehen von Matthias Bormuth und Olaf Müller <?page no="4"?> Geschrieben zwischen Mai 1942 und April 1945. Das XIV. Kapitel wurde später (1949) verfasst. 12. Auflage 2024 © 1946 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro‐ verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Heraus‐ geber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8727-1 (Print) ISBN 978-3-7720-5727-4 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0155-0 (ePub) Umschlagabbildung: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Sacrificio di Isacco (ca. 1603) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> „Had we but world enough and time ...“ Andrew Marvell <?page no="7"?> I 9 II 33 III 59 IV 85 V 103 VI 129 VII 149 VIII 179 IX 207 X 235 XI 265 XII 287 XIII 315 XIV 337 XV 363 Inhalt Die Narbe des Odysseus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortunata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verhaftung des Petrus Valvomeres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicharius und Chramnesindus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Auszug des höfischen Ritters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adam und Eva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Farinata und Cavalcante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frate Alberto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Madame du Chastel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt in Pantagruels Mund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L’humaine condition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der müde Prinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verzauberte Dulcinea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Scheinheilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> XVI 393 XVII 427 XVIII 445 XIX 485 XX 515 543 549 581 587 Das unterbrochene Abendessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musikus Miller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Hôtel de La Mole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Germinie Lacerteux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der braune Strumpf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Ideengeschichte von Mimesis: Überlegungen von Matthias Bormuth Zum Textstand von Mimesis: Editorische Notiz von Olaf Müller . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> I Die Narbe des Odysseus D I E Leser der Odyssee erinnern sich der wohlvorbereiteten und ergreifenden Szene im 19. Gesange, in der die alte Schaffnerin Eurykleia den heimgekehr‐ ten Odysseus, dessen Amme sie einst war, an einer Narbe am Schenkel wiedererkennt. Der Fremdling hat Penelopes Wohlwollen gewonnen; nach seinem Wunsch befiehlt sie der Schaffnerin, ihm die Füße zu waschen, wie dies in allen alten Geschichten als erste Pflicht der Gastlichkeit gegenüber dem müden Wanderer üblich ist; Eurykleia macht sich daran, das Wasser zu holen und kaltes mit warmem zu mischen, indes sie traurig von dem verschollenen Herren spricht, der wohl das gleiche Alter haben möge wie der Gast, der jetzt vielleicht auch, wie er, irgendwo als armer Fremdling umherirre - dabei bemerkt sie, wie erstaunlich ähnlich ihm der Gast sehe - indes Odysseus sich seiner Narbe erinnert und abseits ins Dunkle rückt, um die nun nicht mehr vermeidbare, ihm aber noch nicht erwünschte Wiedererkennung wenigstens vor Penelope zu verbergen. Kaum hat die Alte die Narbe ertastet, läßt sie in freudigem Schreck den Fuß ins Becken zurückfallen; das Wasser fließt über, sie will in Jubel ausbrechen; mit leisen Schmeichel- und Drohworten hält Odysseus sie zurück; sie faßt sich und unterdrückt ihre Bewegung. Penelope, deren Aufmerksamkeit zudem durch Athenes Vorsorge von dem Vorgang abgelenkt wurde, hat nichts gemerkt. Dies alles wird genau ausgeformt und mit Muße erzählt. In ausführlicher, fließender, direkter Rede geben die beiden Frauen ihre Gefühle kund; obgleich es Gefühle sind, ein wenig nur mit allgemeinster Betrachtung des Menschenschicksals vermischt, ist die syntaktische Verbindung zwischen ihren Teilen vollkommen klar; kein Umriß verschwimmt. Auch für wohlge‐ ordnete, jedes Gelenk zeigende, gleichmäßig beleuchtende Beschreibung der Geräte, Handreichungen und Gesten ist Raum und Zeit reichlich vorhanden; selbst in dem dramatischen Augenblick des Wiedererkennens wird nicht versäumt, dem Leser mitzuteilen, daß es die rechte Hand ist, mit der Odysseus die Alte an der Kehle faßt, um sie am Sprechen zu verhindern, indes er sie mit der anderen näher an sich heranzieht. Klar umschrieben, hell und gleichmäßig belichtet, stehen oder bewegen sich Menschen und Dinge innerhalb eines überschaubaren Raumes; und nicht minder klar, restlos ausgedrückt, auch im Affekt wohlgeordnet, sind die Gefühle und Gedanken. <?page no="10"?> Bei meiner Wiedergabe des Vorganges habe ich bisher den Inhalt einer ganzen Reihe von Versen verschwiegen, die ihn mitten unterbrechen. Es sind mehr als siebzig - während der Vorgang selbst je etwa vierzig vor und vierzig nach der Unterbrechung umfaßt. Die Unterbrechung, die gerade an der Stelle erfolgt, wo die Schaffnerin die Narbe erkennt, also im Augenblick der Krise, schildert die Entstehung der Narbe, einen Jagdunfall aus Odysseus’ Jugendzeit, bei einer Eberjagd, als er zu Besuch bei seinem Großvater Autolykos weilte. Dies gibt zunächst Anlaß, den Leser über Autolykos zu unterrichten, über seinen Wohnort, die genaue Art der Verwandtschaft, seinen Charakter, und, ebenso ausführlich wie entzückend, über sein Beneh‐ men nach der Geburt des Enkels; dann folgt der Besuch des zum Jüngling herangewachsenen Odysseus; die Begrüßung, das Gastmahl zum Empfang, Schlaf und Erwachen, der morgendliche Aufbruch zur Jagd, das Aufspüren des Tieres, der Kampf, die Verwundung Odysseus’ durch einen Hauer, das Verbinden der Wunde, die Genesung, die Rückkehr nach Ithaka, das besorgte Ausfragen der Eltern; alles wird erzählt, wiederum mit vollkommener, nichts im Dunkeln lassender Ausformung aller Dinge und aller sie verbindenden Glieder. Und dann erst kehrt der Erzähler in Penelopes Gemach zurück, und Eurykleia, die vor der Unterbrechung die Narbe erkannt hat, läßt erst jetzt, nach derselben, vor Schreck den hochgehobenen Fuß ins Becken zurückfallen. Der für einen modernen Leser naheliegende Gedanke, es sei hier auf Erhöhung der Spannung abgesehen, ist, wo nicht ganz falsch, so doch jedenfalls nicht entscheidend zur Erklärung des homerischen Verfahrens. Denn das Element der Spannung ist in den homerischen Gedichten nur sehr schwach; sie sind, in ihrem ganzen Stil, nicht darauf angelegt, den Leser oder Hörer in Atem zu halten. Dazu würde ja vor allem gehören, daß er durch das Mittel, welches ihn «spannen» soll, nicht «entspannt» wird - und gerade dies geschieht sehr oft; auch in dem hier vorliegenden Falle geschieht es. Die breit erzählte, liebliche und subtil geformte Jagdgeschichte mit all ihrem eleganten Behagen, mit dem Reichtum ihrer idyllischen Bilder legt es darauf an, den Hörer ganz für sich zu gewinnen olange er sie hört - ihn vergessen zu lassen, was eben vorher bei der Fußwaschung geschah. Zu einem Einschub, der retardierend die Spannung erhöht, gehört, daß er nicht die Gegenwart ganz ausfüllt, daß er nicht die Krise, auf deren Lösung mit Spannung gewartet werden soll, dem Bewußtsein entfremdet und so auch die «gespannte» Stimmung zerstört; die Krise und die Spannung müssen erhalten, müssen im Hintergrund bewußt bleiben. Allein Homer, und darauf 10 I Die Narbe des Odysseus <?page no="11"?> werden wir noch zurückzukommen haben, kennt keinen Hintergrund. Was er erzählt, ist jeweils allein Gegenwart, und füllt Schauplatz und Bewußtsein ganz aus. So ist es auch hier. Wenn die junge Eurykleia (V. 401 ff.) dem Großvater Autolykos den neugeborenen Odysseus nach dem Festmahl auf die Knie setzt, ist die alte, die wenige Verse zuvor den Fuß des Wanderers betastet hat, ganz vom Schauplatz und ganz aus dem Bewußtsein verschwunden. Goethe und Schiller, die Ende April 1797 zwar nicht über die hier in Rede stehende Episode, sondern über das «Retardierende» in den homerischen Gedichten überhaupt korrespondierten, setzen es geradezu in Gegensatz zum Spannenden - dieser letztere Ausdruck wird zwar nicht gebraucht, aber deutlich gemeint, wenn das retardierende Verfahren als eigentlich episches in Gegensatz zum tragischen gesetzt wird (Briefe vom 19., 21. und 22. April). Das Retardierende, das «Vor- und Zurückgehen» durch Einschübe scheint auch mir in den homerischen Gedichten im Gegensatz zu stehen zu dem gespannten Streben nach einem Ziel, und zweifellos hat Schiller für Homer recht, wenn er meint, er schildere «uns bloß das ruhige Dasein und Wirken der Dinge nach ihren Naturen»; sein Zweck liege «schon in jedem Punkt seiner Bewegung». Allein beide, Schiller wie Goethe, erheben das homerische Verfahren zu einem Gesetz für die epische Dichtung überhaupt, und die oben zitierten Worte Schillers sollen für den epischen Dichter überhaupt gelten, im Gegensatz zum tragischen. Jedoch gibt es, in alter wie in neuer Zeit, bedeutende epische Werke, die durchaus nicht retardierend in diesem Sinne, sondern durchaus spannend geschrieben sind, die uns durch‐ aus «unsere Gemütsfreiheit rauben», was Schiller allein dem tragischen Dichter zugestehen will. Und außerdem scheint es mir unbeweisbar und nicht wahrscheinlich, daß bei dem gedachten Verfahren der homerischen Gedichte ästhetische Erwägungen oder auch nur ein ästhetisches Gefühl der von Goethe und Schiller angenommenen Art führend gewesen sei. Die Wirkung ist freilich ganz genau die, welche sie beschreiben, und hieraus leitet sich auch tatsächlich der Begriff vom Epischen, den sie selbst und auch sonst alle von der klassischen Antike entscheidend beeinflußten Schriftsteller besitzen. Aber die Ursache der Erscheinung des Retardierens scheint mir in etwas anderem zu liegen, nämlich in dem Bedürfnis des homerischen Stils, nichts von dem, was überhaupt erwähnt wird, halb im Dunkel und unausgeformt zu lassen. Der Exkurs über die Entstehung der Narbe unterscheidet sich nicht grundsätzlich von den vielen Stellen, wo eine neu eingeführte Person, oder sonst ein neu erscheinendes Ding oder I Die Narbe des Odysseus 11 <?page no="12"?> Gerät sogleich, und wäre es mitten im drängendsten Kampfgewühl, nach Art und Herkunft beschrieben wird; oder wo von einem Gott, der erscheint, berichtet wird, wo er sich zuletzt aufgehalten, was er dort getrieben hat und auf welchem Wege er angekommen ist; ja selbst die Epitheta scheinen mir letzten Endes auf das gleiche Bedürfnis nach sinnlicher Ausformung der Erscheinungen zurückführbar zu sein. Hier ist es die Narbe, welche im Zuge der Handlung hervortritt; und es ist, für das homerische Gefühl, nicht erträglich, sie nur einfach aus einem unaufgehellten Dunkel der Vergangen‐ heit hervortauchen zu sehen; sie muß hell ans Licht, und mit ihr ein Stück Jugendlandschaft des Helden - nicht anders als in der Ilias, wenn das erste Schiff schon brennt und die Myrmidonen endlich sich anschicken zu Hilfe zu eilen, noch Zeit genug sich findet nicht nur für den herrlichen Vergleich mit den Wölfen, nicht nur für die Ordnung der Myrmidonenscharen, sondern auch noch für genaue Darstellung der Herkunft einiger Unterführer (Il. 16, 155 ff.). Freilich muß die damit erzielte ästhetische Wirkung sehr bald bemerkt und dann auch gesucht worden sein; allein das Ursprünglichere dürfte doch wohl in dem Grundimpuls des homerischen Stils liegen: die Erscheinungen ausgeformt, in allen Teilen tastbar und sichtbar, in ihren räumlichen und zeitlichen Verhältnissen genau bestimmt zu vergegenwär‐ tigen. Es verhält sich nicht anders mit den inneren Vorgängen: auch von ihnen darf nichts verborgen und unausgesprochen bleiben. Ohne Rest, auch im Affekt wohldisponiert, geben die Menschen Homers ihr Inneres in der Rede kund; was sie nicht zu anderen sagen, das sprechen sie im eigenen Herzen, so daß es der Leser erfährt. Es geschieht viel Schreckliches in den homerischen Gedichten, doch niemals geschieht es stumm; Polyphem spricht mit Odysseus; dieser spricht mit den Freiern, wenn er beginnt sie zu töten; ausführlich sprechen Hektor und Achill, vor dem Kampf und nachher; und keine Rede ist so angst- oder zornerfüllt, daß in ihr die Instrumente der sprachlich-logischen Gliederung fehlten oder in Unordnung geraten wären. Dies letztere gilt natürlich nicht nur von den Reden, sondern von der Darstellung überhaupt. Die einzelnen Erscheinungsglieder werden überall auf das klarste miteinander in Beziehung gesetzt; eine große Anzahl von Konjunktionen, Adverbien, Partikeln und anderen syntaktischen Werkzeu‐ gen, alle in ihrer Bedeutung klar umschrieben und fein abgestuft, grenzen die Personen, Dinge und Ereignisteile gegeneinander ab, und bringen sie zugleich miteinander in ununterbrochene, mühelos fließende Verbindung; wie die einzelnen Erscheinungen selbst, so treten auch ihre Verhältnisse, die zeitlichen, örtlichen, kausalen, finalen, konsekutiven, vergleichenden, 12 I Die Narbe des Odysseus <?page no="13"?> konzessiven, antithetischen und bedingenden Verschränkungen in vollen‐ deter Bildung ans Licht; so daß ein ununterbrochenes, rhythmisch bewegtes Vorüberziehen der Erscheinungen stattfindet, und sich nirgends eine Frag‐ ment gebliebene oder nur halb beleuchtete Form, nirgends eine Lücke, ein Auseinanderklaffen, ein Blick in unerforschte Tiefen zeigt. Und dies Vorüberziehen der Erscheinungen geschieht im Vordergrund, das heißt stets in voller örtlicher und zeitlicher Gegenwart. Man sollte denken, daß die vielen Einschübe, das viele Vor- und Zurückgehen, eine Art Zeit- und Ortsperspektive schaffen müßten; allein der homerische Stil gibt diesen Eindruck niemals. Die Art, wie der perspektivische Eindruck vermieden wird, läßt sich genau in dem Verfahren der Einführung der Einschübe beobachten, einer syntaktischen Bildung, die jedem Homerleser geläufig ist; sie wird auch in unserer Stelle angewendet, ist aber ebenso bei viel kürzeren Einschüben zu finden. An das Wort «Narbe» (V. 393) schließt sich zunächst ein Relativsatz (die ihm einst ein Wildschwein …), welcher sich zu einer umfangreichen syntaktischen Klammer ausweitet; in diese schiebt sich unvermutet ein Hauptsatz (V. 396: ein Gott selbst gab ihm …), der sich aus der syntaktischen Unterordnung leise herauswindet, bis mit Vers 399 ein auch syntaktisch völlig freies Schalten der neuen Inhalte, eine neue Gegenwart beginnt, welche allein herrscht, bis mit Vers 467 (diese betastete jetzt die Alte …) auf das vorher Abgebrochene zurückgegriffen wird. Bei so langen Einschüben wie dem hier vorliegenden wäre freilich eine syntaktische Einordnung ohnehin kaum durchführbar gewesen; um so leichter wäre ein perspektivisches Einordnen in die Haupthandlung durch eine darauf zielende Disposition der Inhalte; wenn man nämlich die ganze Narbenerzählung als Erinnerung des Odysseus vortrüge, wie sie in diesem Augenblick in seinem Bewußtsein erwacht; das wäre ganz leicht gewesen, es hätte lediglich die Narbengeschichte zwei Verse früher, bei der ersten Erwähnung des Wortes «Narbe», eingesetzt werden müssen, wo schon die Motive «Odysseus» und «Erinnerung» dafür bereitstehen. Aber solch subjektivistisch-perspektivisches Verfahren, welches Vordergrund und Hin‐ tergrund schafft, so daß die Gegenwart sich nach der Vergangenheitstiefe öffnet, ist dem homerischen Stil völlig fremd; er kennt nur Vordergrund, nur gleichmäßig beleuchtete, gleichmäßig objektive Gegenwart; und so setzt der Exkurs erst zwei Verse später ein, als Eurykleia die Narbe entdeckt hat - nun ist die Möglichkeit perspektivischer Einordnung nicht mehr gegeben, und die Geschichte von der Narbe wird selbständige und volle Gegenwart. I Die Narbe des Odysseus 13 <?page no="14"?> Die Eigentümlichkeit des homerischen Stils wird noch deutlicher, wenn man einen ebenfalls antiken, ebenfalls epischen Text aus einer anderen Formenwelt ihm gegenüberstellt. Ich versuche es mit dem Opfer Isaaks, einer einheitlich von dem sogenannten Elohisten redigierten Erzählung. Luther übersetzt den Anfang folgendermaßen: Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham, und sprach ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich! - Schon dieser Anfang läßt uns stutzen, wenn wir von Homer kommen. Wo befinden sich die beiden Unterredner? Das wird nicht gesagt. Wohl aber weiß der Leser, daß sie sich nicht jederzeit am gleichen irdischen Ort befinden, daß der eine derselben, Gott, von irgendwo ankommen, aus irgendwelchen Höhen oder Tiefen ins Irdische hineinbrechen muß, um zu Abraham zu sprechen. Woher kommt er, von woher wendet er sich an Abraham? Davon wird nichts gesagt. Er kommt nicht, wie Zeus oder Poseidon, von den Äthiopen, wo er sich am Opfermahl erfreut hat. Es wird auch nichts von der Ursache gesagt, die ihn bewogen hat, Abraham so schrecklich zu versuchen. Er hat sie nicht, wie Zeus, mit anderen Göttern auf der Ratsversammlung in geordneter Rede besprochen; auch was er im eigenen Herzen erwog wird uns nicht mitgeteilt; unvermutet und rätselhaft fährt er aus unbekannten Höhen oder Tiefen in die Szene hinein und ruft: Abraham! Man wird nun sogleich sagen, daß sich dies aus der besonderen Gottesvorstellung der Juden erklärt, die von der der Griechen so ganz verschieden war. Das ist richtig, aber kein Einwand. Denn wie erklärt sich die Gottesvorstellung der Juden? Schon ihr einstiger Wüstengott war nicht festgelegt nach Gestalt und Aufenthalt, und war einsam; seine Gestaltlosigkeit, Ortlosigkeit und Einsamkeit hat sich im Kampf mit den ver‐ gleichsweise weit anschaulicheren Göttern der vorderasiatischen Umwelt schließlich nicht nur behauptet, sondern sogar noch schärfer herausgebildet. Die Gottesvorstellung der Juden ist nicht sowohl Ursache als vielmehr Symptom ihrer Auffassungs- und Darstellungsweise. Das wird noch klarer, wenn wir uns jetzt zu dem anderen Gesprächspartner, zu Abraham wenden. Wo befindet er sich? Das wissen wir nicht. Er sagt zwar: Hier bin ich - aber das hebräische Wort bedeutet nur etwa: «siehe mich», oder, wie Gunkel übersetzt: «ich höre» und will jedenfalls nicht den wirklichen Ort bedeuten, an dem Abraham steht, sondern seinen moralischen Ort im Verhältnis zu Gott, der ihn gerufen hat: ich bin hier deines Gebots gewärtig. Wo er sich aber praktisch aufhält, ob zu Beerseba oder anderswo, ob im Haus oder unter freiem Himmel, das wird nicht mitgeteilt; es interessiert den Erzähler nicht, der Leser erfährt es nicht, und auch die Beschäftigung, der er sich 14 I Die Narbe des Odysseus <?page no="15"?> gerade hingab, als Gott ihn rief, bleibt im Dunklen. Man denke, um des Unterschieds inne zu werden, etwa an Hermes’ Besuch bei Kalypso, wo Auftrag, Reise, Ankunft und Empfang des Besuchers, Lage und Beschäfti‐ gung der Besuchten in vielen Versen ausgebreitet werden; und selbst da, wo Götter plötzlich für kurze Zeit erscheinen, sei es um einem ihrer Lieblinge zu helfen, sei es, um einen ihnen verhaßten Sterblichen zu täuschen oder zu verderben, da wird stets ihre Gestalt, meist auch die Art ihrer Ankunft und ihres Verschwindens genau angegeben. Hier aber erscheint Gott gestaltlos (und doch «erscheint» er), von irgendwoher, nur seine Stimme vernehmen wir, und diese ruft nichts als den Namen: ohne Adjektiv, ohne beschreibende Umtastung der angeredeten Person, wie sie zu jeder homerischen Anrede gehört; und von Abraham wird auch sonst nichts sinnfällig gemacht als die Worte, die er Gott entgegensetzt: Hinne-ni, hier siehe mich - womit freilich eine überaus eindringliche Geste suggeriert wird, die Gehorsam und Bereitschaft ausdrückt - deren Ausmalung aber dem Leser überlassen bleibt. Von beiden Unterrednern wird also nichts sinnfällig als die kurzen, abgerissenen, durch nichts vorbereiteten und hart aufeinanderstoßenden Worte; allenfalls die Vorstellung einer Geste der Hingabe; alles übrige bleibt im Dunklen. Und dazu kommt noch, daß die beiden Unterredner nicht auf dem gleichen Grunde stehen: denkt man sich Abraham im Vordergrunde, wo etwa seine niedergeworfene oder kniende oder mit ausgebreiteten Armen sich neigende oder nach oben aufschauende Gestalt vorstellbar wäre, so ist doch Gott nicht dort: Abrahams Worte und Gesten richten sich nach dem Innern des Bildes oder in die Höhe, nach einem unbestimmten, dunklen, auf jeden Fall nicht vordergründigen Ort, von dem die Stimme zu ihm dringt. Nach diesem Beginn gibt Gott seinen Befehl, und es beginnt die Erzählung selbst; ein jeder kennt sie; ohne jede Einschaltung, in wenigen Hauptsätzen, deren syntaktische Verbindung miteinander äußerst arm ist, rollt sie ab. Undenkbar wäre es hier, ein Gerät, das gebraucht wird, eine Landschaft, die man durchquert, die Knechte oder den Esel, die den Zug begleiten, zu beschreiben, etwa die Gelegenheit, bei der sie erworben wurden, ihre Herkunft, ihr Material, ihr Aussehen oder ihre Brauchbarkeit rühmend zu schildern; nicht einmal ein Adjektiv ertragen sie; es sind Knechte, Esel, Holz und Messer, weiter nichts, ohne Epitheton; sie haben dem von Gott befohlenen Zweck zu dienen; was sie sonst sind, waren oder sein werden bleibt im Dunkel. Es wird ein Weg zurückgelegt, denn Gott hat den Ort angegeben, an dem das Opfer sich vollziehen soll; aber von dem Weg wird nichts gesagt, als daß er drei Tage dauerte, und auch dies in einer I Die Narbe des Odysseus 15 <?page no="16"?> rätselvollen Weise: Abraham mit seinem Zuge machte sich «des Morgens früh» auf und ging hin zu dem Ort, von dem ihm Gott gesprochen hatte; am dritten Tage hob er seine Augen auf, und sah die Stätte von ferne. Dies Augenaufheben ist die einzige Geste, ja überhaupt das einzige, was von der Reise berichtet wird, und obgleich sie wohl darin ihre Begründung findet, daß der Ort hoch liegt, so erhöht sie doch durch ihre Einzigkeit den Eindruck der Leere des Reiseweges; es ist, als ob auf der Reise Abraham vorher nicht nach rechts und nach links geschaut, alle Lebensäußerungen bei sich und seinen Reisegefährten unterdrückt habe, ausgenommen nur das Schreiten ihrer Füße. So ist die Reise wie ein schweigendes Schreiten durchs Unbestimmte und Vorläufige, ein Atemanhalten, ein Vorgang, der keine Gegenwart hat und zwischen dem Vergangenen und dem Bevorstehenden eingelagert ist wie eine unausgefüllte Dauer, die aber doch gemessen ist: drei Tage! Solche drei Tage rufen die symbolische Ausdeutung, die sie später gefunden haben, geradezu herbei. Begonnen haben sie «des Morgens früh». Aber zu welcher Zeit am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah das Ziel? Darüber steht nichts im Text. Offenbar nicht «des Abends spät», denn es blieb, wie es scheint, noch Zeit für den Weg auf den Berg und die Opferhandlung. Also ist «des Morgens früh» nicht um der Zeitabgrenzung willen gesetzt, sondern um der moralischen Bedeutung willen; es soll das Unverzügliche, Pünktliche und Genaue im Gehorsam des so schwer getroffenen Abraham ausdrücken. Bitter ist ihm die Morgenfrühe, in der er seinen Esel gürtet, seine Knechte und seinen Sohn Isaak ruft und sich aufmacht; aber er gehorcht, er schreitet bis zum dritten Tage, an diesem hebt er die Augen auf und sieht die Stätte. Von wo er kommt, das wissen wir nicht, aber das Ziel ist genau angegeben: Jeruel im Lande Moria. Was für ein Ort damit gemeint war, steht nicht fest, zumal «Moria» vielleicht später für ein anderes Wort hineinkorrigiert worden ist - aber jedenfalls war er angegeben, und jedenfalls handelte es sich um eine Kultstätte, der durch die Verknüpfung mit dem Abrahamsopfer eine besondere Weihe verliehen werden sollte. Ebenso wenig wie «des Morgens früh» einer zeitli‐ chen Grenzsetzung dient, ebensowenig dient «Jeruel im Lande Moria» einer örtlichen; ist ja doch in beiden Fällen die Gegengrenze nicht angegeben, denn ebensowenig wie die Tageszeit des Augenaufhebens kennen wir den Ort, von dem Abraham auszog - Jeruel ist bedeutend nicht sowohl als Ziel einer irdischen Reise, in seinem geographischen Verhältnis zu anderen Orten, als durch seine besondere Auserwählung, durch sein Verhältnis zu 16 I Die Narbe des Odysseus <?page no="17"?> Gott, der es zum Schauplatz dieser Handlung bestimmte, und darum muß es genannt werden. In der Erzählung selbst erscheint eine dritte Hauptperson: Isaak. Während Gott und Abraham, Knechte, Esel und Gerät einfach beim Namen genannt werden, ohne Erwähnung einer Eigenschaft oder sonstigen Bezeichnung, erhält Isaak einmal eine Apposition; Gott sagt: Nimm Isaak, deinen einzi‐ gen Sohn, den du lieb hast. Dies aber ist keine Bezeichnung Isaaks, wie er überhaupt ist, auch außerhalb der Beziehung zu seinem Vater, und außerhalb dieser Erzählung; es ist keine beschreibende Ablenkung und Unterbrechung, denn es ist keine Isaak umgrenzende, auf seine sonstige Existenz hinweisende Charakterisierung; er mag schön oder häßlich, klug oder dumm, groß oder klein, gefällig oder abstoßend sein - das wird hier nicht gesagt. Nur dasjenige, was jetzt und hier, innerhalb der Handlung von ihm bekannt sein muß, wird beleuchtet - damit hervortrete, wie schrecklich die Versuchung Abrahams ist, und daß Gott sich dessen wohl bewußt ist. Man sieht an diesem Gegenbeispiel, welche Bedeutung die beschreibenden Adjektive und Abschweifungen der homerischen Gedichte haben; mit ihrem Hinweis auf die sonstige, von der gegenwärtigen Lage nicht voll ergriffene, gleichsam absolute Existenz des Beschriebenen verhindern sie die einseitige Konzentration des Lesers auf eine gegenwärtige Krise; sie verhindern, selbst im schrecklichsten Ereignis, das Aufkommen einer drückenden Spannung. Hier aber, beim Abrahamsopfer, ist die drückende Spannung da; was Schiller dem tragischen Dichter vorbehalten wollte - uns unsere Gemütsfreiheit zu rauben, unsere inneren Kräfte (Schiller sagt «unsere Tätigkeit») nach einer einzigen Seite zu richten und zu konzentrieren -, das wird in dieser biblischen Geschichte, die man doch wohl episch nennen muß, geleistet. Denselben Gegensatz finden wir, wenn wir die Verwendung der direkten Rede vergleichen. Auch in der biblischen Erzählung wird gesprochen; doch dient die Rede nicht wie beim Homer der ausgeformten Kundgabe des innerlich Gemeinten, sondern geradezu im Gegenteil: dem Hinweis auf ein Gemeintes, welches unausgesprochen bleibt. Gott gibt seinen Befehl in direkter Rede, doch er verschweigt sein Motiv und seine Absicht; Abraham, als er den Befehl empfängt, verstummt, und handelt, wie ihm befohlen ist. Das Gespräch zwischen Abraham und Isaak auf dem Weg zur Opferstätte ist nur eine Unterbrechung des schweren Schweigens, wodurch dieses noch lastender wird. Die beiden, Isaak mit dem Holz, und Abraham mit Feuergerät und Messer, «gingen miteinander». Zögernd wagt sich Isaak hervor mit der Frage nach dem Schaf, und Abraham gibt die Antwort, die man kennt. Dann I Die Narbe des Odysseus 17 <?page no="18"?> wiederholt der Text: «Und gingen die beiden miteinander.» Alles bleibt unausgesprochen. Nicht leicht also lassen sich größere Stilgegensätze vorstellen als zwi‐ schen diesen beiden, gleichermaßen antiken und epischen Texten. Auf der einen Seite ausgeformte, gleichmäßig belichtete, ort- und zeitbestimmte, lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen; aus‐ gesprochene Gedanken und Gefühle; mußevoll und spannungsarm sich vollziehende Ereignisse. Auf der anderen Seite wird nur dasjenige an den Erscheinungen herausgearbeitet, was für das Ziel der Handlung wichtig ist, der Rest bleibt im Dunkel; die entscheidenden Höhepunkte der Handlung werden allein betont, das Dazwischenliegende ist wesenlos; Ort und Zeit sind unbestimmt und deutungsbedürftig; die Gedanken und Gefühle bleiben unausgesprochen, sie werden nur aus dem Schweigen und fragmentarischen Reden suggeriert; das Ganze, in höchster und ununterbrochener Spannung auf das Ziel gerichtet, und insofern viel einheitlicher, bleibt rätselvoll und hintergründig. Auf dieses letztere Wort will ich noch näher eingehen, damit es nicht mißverstanden wird. Ich nannte oben den homerischen Stil vordergründig, weil er trotz vielen Vor- und Zurückspringens doch stets das jeweils Erzählte als alleinige Gegenwart unvermischt und ohne Perspektive wirken läßt. Die Betrachtung des elohistischen Textes lehrt uns, daß das Wort sich noch weiter und tiefer anwenden läßt. Es zeigt sich, daß sogar die einzelne Person «hintergründig» dargestellt sein kann: Gott ist es immer in der Bibel, denn er ist nicht in seiner Gegenwart umgreifbar wie Zeus; es erscheint immer nur «etwas» von ihm, er reicht immer in die Tiefe. Aber selbst die Menschen der biblischen Erzählungen sind «hintergründiger» als die homerischen; sie haben mehr Zeiten-, Schicksals- und Bewußtseinstiefe; sie sind, obgleich fast immer in einem sie ganz in Anspruch nehmenden Ereignis befangen, ihm doch nicht so ganz gegenwärtig hingegeben, daß sie sich nicht dessen, was früher und anderswo mit ihnen geschah, dauernd bewußt blieben; ihre Gedanken und Empfindungen sind vielschichtiger und verwickelter. Abrahams Handlungsweise erklärt sich nicht nur aus dem, was ihm augenblicklich geschieht, auch nicht nur aus seinem Charakter (wie die Achills aus seiner Kühnheit und seinem Stolz, die Odysseus’ aus seiner Gewandtheit und klugen Berechnung), sondern aus seiner früheren Geschichte; er erinnert sich, es ist ihm dauernd bewußt, was Gott ihm verheißen und was er an ihm schon erfüllt hat - sein Inneres ist tief erregt zwischen verzweifelnder Empörung und hoffender Erwartung; sein schwei‐ gender Gehorsam ist vielschichtig und hintergründig - in so problematische 18 I Die Narbe des Odysseus <?page no="19"?> innere Lagen können die homerischen Gestalten, deren Schicksal eindeutig festgelegt ist, und die jeden Tag erwachen, als wäre es ihr erster, gar nicht geraten; ihre Affekte sind zwar heftig, aber einfach, und brechen sofort hervor. Wie hintergründig sind dagegen Charaktere wie Saul oder David, wie verwickelt und geschichtet solche menschlichen Verhältnisse wie die zwischen David und Absalom, zwischen David und Joab! Undenkbar wäre bei Homer eine solche «Hintergründigkeit» der psychologischen Lage, wie sie in der Geschichte vom Tode Absaloms und ihrem Nachspiel (2. Sam. 18 und 19, vom sog. Jahwisten) mehr angedeutet als ausgesprochen wird. Hier handelt es sich nicht nur um seelische Vorgänge hintergründigen oder sogar abgründigen Charakters, sondern auch um einen rein örtlichen Hintergrund. Denn David ist abwesend von dem Schlachtfeld; aber die Aus‐ strahlung seines Willens und seiner Empfindungen sind dauernd wirksam, sie wirken selbst auf den widerstrebenden und rücksichtslos handelnden Joab; in der großartigen Szene mit den beiden Boten wird das örtlich wie seelisch Hintergründige vollkommen zum Ausdruck gebracht, ohne daß doch das letztere ausgesprochen wird. Dagegen halte man etwa, wie Achill, der Patroklos erst auf Kundschaft und dann in den Kampf sendet, fast jede Gegenwart verliert, solange er nicht körperlich gegenwärtig ist. Aber das Wichtigste ist das Vielschichtige innerhalb des einzelnen Menschen; dies ist bei Homer kaum anzutreffen, höchstens in der Form des bewußten Zweifels zwischen zwei möglichen Handlungsweisen; im übrigen zeigt sich bei ihm die Vielfalt des seelischen Lebens nur im Nacheinander, im Sichablösen der Affekte; indes es den jüdischen Schriftstellern gelingt, die gleichzeitig übereinander gelagerten Schichten des Bewußtseins und den Konflikt derselben zum Ausdruck zu bringen. Die homerischen Gedichte, deren sinnliche, sprachliche und vor allem syntaktische Kultur so viel höher ausgebildet erscheint, sind doch in ihrem Bild vom Menschen vergleichsweise einfach; und sie sind es auch in ihrem Verhältnis zu der Wirklichkeit des Lebens, welches sie schildern, überhaupt. Die Freude am sinnlichen Dasein ist ihnen alles, und es uns gegenwärtig zu machen ihr höchstes Streben. Zwischen Kämpfen und Leidenschaften, Abenteuern und Gefahren zeigen sie uns Jagden und Gastmähler, Paläste und Hirtenwohnungen, Wettspiele und Waschtage - damit wir die Helden auch recht eigentlich in ihrem Lebensgehaben betrachten und betrachtend uns freuen können, wie sie ihre würzige, in Sitte, Landschaft und tägliches Bedürfnis schön eingebettete Gegenwart genießen. Und so bezaubern sie uns und schmeicheln sich bei uns ein, so daß wir in der Wirklichkeit ihres I Die Narbe des Odysseus 19 <?page no="20"?> Lebens mitleben - es ist, solange wir diese Gedichte hören oder lesen, ganz gleichgültig, ob wir wissen, daß alles nur Sage, daß alles «erlogen» ist. Der Vorwurf, den man oft erhoben hat, Homer sei ein Lügner, nimmt seiner Wirkung nichts; er hat es nicht nötig, auf die geschichtliche Wahrheit seiner Erzählung zu pochen, seine Wirklichkeit ist stark genug; er umgarnt uns, er spinnt uns in sie ein, und das ist ihm genug. In dieser «wirklichen», für sich selbst bestehenden Welt, in die wir hineingezaubert werden, ist auch nichts weiter enthalten als sie selbst; die homerischen Gedichte verbergen nichts, in ihnen ist keine Lehre und kein geheimer zweiter Sinn. Man kann Homer analysieren, wie wir es hier versucht haben, aber man kann ihn nicht deuten. Spätere, auf das Allegorische gerichtete Strömungen haben ihre Deutungskünste auch an ihm versucht, aber das hat zu nichts geführt. Er widersteht solcher Behandlung; die Deutungen sind gezwungen und seltsam, und sie kristallisieren sich nicht zu einer einheitlichen Lehre. Die allgemeinen Betrachtungen, die sich gelegentlich finden - in unserer Episode zum Beispiel der Vers 360: denn im Unglück altern die Menschen schnell - verraten ein ruhiges Hinnehmen der Gegebenheiten des mensch‐ lichen Daseins, nicht aber das Bedürfnis, darüber zu grübeln, noch weniger einen leidenschaftlichen Impuls, sei es, sich dagegen aufzulehnen, sei es, sich ihnen in ekstatischer Hingabe zu unterwerfen. Das alles ist ganz anders in den biblischen Geschichten. Der sinnliche Zauber ist nicht ihre Absicht, und wenn sie trotzdem auch im Sinnlichen sehr lebensvoll wirken, so geschieht dies, weil die ethischen, religiösen, innerli‐ chen Vorgänge, auf die allein sie es absehen, sich im sinnlichen Material des Lebens konkretisieren. Die religiöse Absicht bedingt aber einen absoluten Anspruch auf geschichtliche Wahrheit. Die Geschichte von Abraham und Isaak ist nicht besser bezeugt als die von Odysseus, Penelope und Eurykleia; beides ist Sage. Allein, der biblische Erzähler, der Elohist, mußte an die ob‐ jektive Wahrheit der Erzählung vom Abrahamsopfer glauben - das Bestehen der heiligen Ordnungen des Lebens beruhte auf der Wahrheit dieser und ähnlicher Geschichten. Er mußte mit Leidenschaft an sie glauben - oder aber er mußte, wie manche aufklärerische Interpreten annahmen oder vielleicht auch noch annehmen, ein bewußter Lügner sein, kein harmloser Lügner wie Homer, der log, um zu gefallen, sondern ein zielbewußter politischer Lügner, der im Interesse eines Herrschaftsanspruchs log. Mir scheint die aufklärerische Ansicht psychologisch absurd, aber selbst wenn wir auch sie in Betracht ziehen, so bleibt doch sein Verhältnis zur Wahrheit seiner Ge‐ schichte ein weit leidenschaftlicheres, eindeutiger bestimmtes als dasjenige 20 I Die Narbe des Odysseus <?page no="21"?> Homers. Er mußte genau das schreiben, was sein Glaube an die Wahrheit der Überlieferung, oder, vom aufklärerischen Standpunkt, sein Interesse an der Wahrheit derselben von ihm forderte - in jedem Fall waren seiner freien, erfindenden oder ausmalenden Phantasie enge Schranken gesetzt; seine Tätigkeit mußte sich darauf beschränken, die fromme Überlieferung wirksam zu redigieren. Was er hervorbrachte, zielte also zunächst nicht auf «Wirklichkeit» - wenn ihm auch diese gelang, so war dies doch nur Mittel, nicht Zweck -, sondern auf Wahrheit. Wehe dem, der nicht an sie glaubte! Man kann sehr wohl historisch-kritische Bedenken gegen den Trojanischen Krieg und gegen Odysseus’ Irrfahrten hegen und doch beim Lesen Homers diejenige Wirkung empfinden, die er beabsichtigte; wer an Abrahams Opfer nicht glaubt, kann von der Erzählung nicht den Gebrauch machen, für den sie geschrieben wurde. Ja, man muß noch weiter gehen. Der Wahrheitsanspruch der Bibel ist nicht nur weit dringender als der Homers, er ist auch tyrannisch; er schließt alle anderen Ansprüche aus. Die Welt der Geschichten der Heiligen Schrift begnügt sich nicht mit dem Anspruch, eine geschichtlich wahre Wirklichkeit zu sein - sie behauptet, die einzige wahre, die zur Alleinherrschaft bestimmte Welt zu sein. Alle anderen Schauplätze, Abläufe und Ordnungen haben keine Berechtigung, von ihr unabhängig aufzutreten, und es ist verheißen, daß sie alle, die Geschichte aller Menschen überhaupt, sich in ihren Rahmen einordnen und sich ihr unterordnen werden. Die Geschichten der Heiligen Schrift werben nicht, wie die Homers, um unsere Gunst, sie schmeicheln uns nicht, um uns zu gefallen und zu bezaubern - sie wollen uns unterwerfen, und wenn wir es verweigern, so sind wir Rebellen. Man möge nicht einwenden, daß dies zu weit gehe, daß nicht die Geschichte, sondern die religiöse Lehre den Herrschaftsanspruch erhebe; denn die Geschichten sind eben nicht, wie die Homers, bloß erzählte «Wirklichkeit». In ihnen inkarniert sich Lehre und Verheißung, unscheidbar sind diese letzteren in sie hineingeschmolzen; eben darum sind sie hintergründig und dunkel, sie enthalten zweiten, verborge‐ nen Sinn. In der Isaakgeschichte ist es nicht allein das Eingreifen Gottes am Anfang und am Schluß, sondern auch dazwischen sowohl das Tatsächliche wie das Psychologische, welches dunkel, nur angerührt, hintergründig ist; und darum verlangt es nach grübelnder Vertiefung und Ausdeutung, es ruft sie herbei. Daß Gott auch den Frömmsten aufs schrecklichste versucht, daß unbedingter Gehorsam die einzige Haltung vor ihm ist, daß seine Verheißung aber unverrückbar feststeht, mag auch sein Ratschluß noch so sehr dazu angetan sein, Zweifel und Verzweiflung zu erregen - das I Die Narbe des Odysseus 21 <?page no="22"?> sind wohl die wichtigsten in der Isaakgeschichte enthaltenen Lehren - aber durch sie wird der Text so schwer, so inhaltsbeladen, er enthält in sich noch so viel Andeutung über Gottes Wesen und über die Haltung des Frommen, daß der Gläubige veranlaßt wird, sich immer aufs neue in ihn zu versenken und in allen Einzelheiten die Erleuchtung zu suchen, die in ihnen verborgen sein mag. Und da ja in der Tat so vieles daran dunkel und unausgeführt ist, und da er weiß, daß Gott ein verborgener Gott ist, so findet sein deutendes Bestreben immer neue Nahrung. Die Lehre und das Streben nach Erleuchtung sind unlösbar mit der Sinnlichkeit der Erzählung verbunden - diese ist mehr als bloße «Wirklichkeit» - freilich auch ständig in Gefahr, die eigne Wirklichkeit zu verlieren, wie es alsbald geschah, als die Deutung so überwucherte, daß sich das Wirkliche zersetzte. Ist so der biblische Erzählungstext aus seinem eigenen Inhalt heraus deutungsbedürftig, so treibt ihn sein Herrschaftsanspruch noch viel weiter auf diesem Weg. Er will uns ja nicht nur für einige Stunden unsere eigene Wirklichkeit vergessen lassen wie Homer, sondern er will sie sich unterwer‐ fen; wir sollen unser eigenes Leben in seine Welt einfügen, uns als Glieder seines weltgeschichtlichen Aufbaus fühlen. Dies wird immer schwerer, je weiter unsere Lebenswelt sich von der der biblischen Schriften entfernt, und wenn diese trotzdem ihren Herrschaftsanspruch aufrecht erhält, so ist es unabweislich, daß sie selbst sich, durch ausdeutende Umformung, anpassen muß; das ist lange vergleichsweise leicht gewesen; noch im europäischen Mittelalter war es möglich, das biblische Geschehen als alltägliche Vorgänge der damaligen Gegenwart darzustellen, wozu die Methode des Deutens die Grundlage lieferte. Wird dies aber durch allzustarke Veränderung der Lebenswelt und durch Erwachen des kritischen Bewußtseins untunlich, so gerät der Herrschaftsanspruch in Gefahr; die Methode des Deutens wird verachtet und aufgegeben, die biblischen Geschichten werden zu alten Sagen, und die von ihnen losgelöste Lehre wird zu einem körperlosen Gebilde, das entweder gar nicht mehr ins Sinnlich-Lebendige dringt oder aber ins Persönlich-Schwärmerische sich verflüchtigt. Infolge des Herrschaftsanspruchs erstreckte sich die Methode der Deu‐ tung auch auf andere Überlieferungen als die jüdische. Die homerischen Gedichte geben einen bestimmten, örtlich und zeitlich begrenzten Ereignis‐ zusammenhang; vor, neben und nach demselben sind andere, von ihm unabhängige Ereigniszusammenhänge ohne Konflikt und Schwierigkeit denkbar. Das Alte Testament hingegen gibt Weltgeschichte; sie beginnt mit dem Beginn der Zeit, mit der Weltschöpfung, und will enden mit der Endzeit, 22 I Die Narbe des Odysseus <?page no="23"?> der Erfüllung der Verheißung, mit der die Welt ihr Ende finden soll. Alles andere, was noch in der Welt geschieht, kann nur vorgestellt werden als Glied dieses Zusammenhangs; alles, was davon bekannt wird oder gar in die Geschichte der Juden eingreift, muß in ihn eingebaut werden, als Bestandteil des göttlichen Planes; und da auch dies nur durch Ausdeutung des neu einströmenden Materials möglich wird, so erstreckt sich das Deutungsbe‐ dürfnis auch auf außerhalb des ursprünglich Jüdisch-Israelitischen liegende Wirklichkeitsbereiche, etwa auf die assyrische, babylonische, persische, römische Geschichte; das Deuten in einem bestimmten Sinne wird zu einer allgemeinen Methode der Wirklichkeitsauffassung; die jeweils neu in den Gesichtskreis tretende fremde Welt, die sich meist so, wie sie sich unmittelbar bietet, als ganz unbrauchbar für die Verwendung innerhalb des jüdisch-religiösen Rahmens erweist, muß so gedeutet werden, daß sie sich in diesen einfügt. Aber fast immer wirkt dies auch auf den Rahmen zurück, der der Erweiterung und Modifizierung bedarf; die eindrucksvollste Deutungs‐ arbeit dieser Art geschah in den ersten Jahrhunderten des Christentums, infolge der Heidenmission, durch Paulus und die Kirchenväter; sie deuteten die gesamte jüdische Überlieferung um in eine Reihe von vorbeugenden Figuren des Erscheinens Christi, und wiesen dem Römischen Reich seinen Platz an innerhalb des göttlichen Heilsplanes. Während also einerseits die Wirklichkeit des Alten Testaments als volle Wahrheit mit dem Anspruch auf Alleinherrschaft auftritt, zwingt sie eben dieser Anspruch zu einer ständigen deutenden Veränderung des eigenen Inhalts; dieser lebt Jahrtausende lang in unausgesetzter, bewegter Entwicklung in dem Leben der Menschen in Europa. Der weltgeschichtliche Anspruch und das ständig bohrende, ständig in Konflikten sich auseinandersetzende Verhältnis zu einem einzigen, verbor‐ genen und doch erscheinenden Gott, welcher verheißend und fordernd die Weltgeschichte lenkt, verleiht den Erzählungen des Alten Testaments eine ganz andere Perspektive als sie Homer besitzen kann. Das Alte Testament ist in seiner Komposition unvergleichlich weniger einheitlich als die homerischen Gedichte, es ist viel auffälliger zusammengestückt - aber die einzelnen Stücke gehören alle in einen weltgeschichtlichen und weltgeschichtsdeutenden Zusammenhang. Mögen sich auch einzelne, nicht ohne weiteres sich einfügende Elemente erhalten haben, sie werden doch von der Deutung ergriffen; und so fühlt der Leser jeden Augenblick die religiös-weltgeschichtliche Perspektive, die den einzelnen Erzählungen ihren Gesamtsinn und ihr Gesamtziel gibt. So viel vereinzelter, horizontal I Die Narbe des Odysseus 23 <?page no="24"?> unverbundener die Erzählungen und Erzählungsgruppen nebeneinander‐ stehen als die der Ilias und Odyssee, so viel stärker ist ihre gemeinsame vertikale Bindung, die sie alle unter einem Zeichen zusammenhält, und die Homer gänzlich fehlt. In jeder einzelnen der großen Gestalten des Alten Testaments, von Adam bis zu den Propheten, ist ein Moment der gedachten vertikalen Verbindung verkörpert. Gott hat sich diese Personen für den Zweck der Verkörperung seines Wesens und Willens auserwählt und geformt - doch fallen Auserwählung und Formung nicht zusammen; denn die letztere vollzieht sich allmählich, in geschichtlicher Weise, während des irdischen Lebens des von der Auserwählung Betroffenen. Wie dies vor sich geht, welch erschreckende Prüfungen solche Formung verhängt, sieht man an unserer Geschichte vom Abrahamsopfer. Daher rührt es, daß die großen Figuren des Alten Testaments so viel entwicklungsvoller, von der eigenen Lebensgeschichte beladener und individuell ausgeprägter sind als die homerischen Helden. Achill und Odysseus sind durch viele schön geformte Worte aufs herrlichste beschrieben, Epitheta haften an ihnen, ihre Affekte offenbaren sich restlos in ihren Reden und Gesten - aber sie haben keine Entwicklung und das Lebensgeschichtliche an ihnen ist eindeutig festgelegt. Die homerischen Helden sind so wenig in ihrem Wer‐ den und Gewordensein vorgestellt, daß sie zumeist - Nestor, Agamemnon, Achill - in einem von vornherein festliegenden Lebensalter erscheinen. Selbst Odysseus, der durch den langen Zeitablauf und die vielen darin stattgehabten Ereignisse so viel Anlaß für lebensgeschichtliche Entwicklung bietet, zeigt fast nichts davon. Telemach freilich ist inzwischen erwachsen geworden, wie jedes Kind zum Jüngling wird, und idyllisch wird auch, in dem Exkurs über die Narbe, von Odysseus’ Kindheit und erster Jünglingszeit erzählt. Aber schon Penelope hat sich in zwanzig Jahren kaum verändert; bei Odysseus selbst wird das rein körperliche Altern verschleiert durch das häufige Eingreifen Athenes, die ihn alt oder jung erscheinen läßt, wie es jeweils die Lage erfordert. Über das Körperliche hinaus ist vollends nichts auch nur angedeutet, und im Grunde ist Odysseus bei der Heimkehr ganz derselbe, der, zwei Jahrzehnte vorher, Ithaka verließ. Aber welch ein Weg, welch ein Schicksal liegt zwischen dem Jakob, der sich den Erstgeburtssegen erschlich, und dem Alten, dessen Lieblingssohn ein wildes Tier zerrissen hat - zwischen David dem Harfenspieler, den der Liebeshaß seines Herrn verfolgt, und dem alten, von leidenschaftlichen Intrigen umgebenen König, den Abisag von Sunem auf seinem Lager wärmt, ohne daß er sie erkennt! Der alte Mensch, bei dem wir wissen, wie er so geworden ist wie er wurde, 24 I Die Narbe des Odysseus <?page no="25"?> ist stärker einprägsam, stärker eigentümlich als der junge; denn nur im Laufe eines schicksalsreichen Lebens differenzieren sich die Menschen zu voller Eigentlichkeit; und dies Personengeschichtliche bietet das Alte Tes‐ tament als Formung der durch Gott zu exemplarischer Rolle Auserwählten. Schwer von ihrem Gewordensein, zuweilen bis zur Verwitterung gealtert, zeigen sie eine individuelle Ausprägung, die den homerischen Helden ganz fremd ist. Diesen kann die Zeit nur rein äußerlich etwas anhaben, und auch das wird sowenig wie möglich zur Anschauung gebracht; wogegen die alttestamentlichen Gestalten ständig unter dem harten Zugriff Gottes stehen, der sie nicht nur einmal geschaffen und auserwählt hat, sondern dauernd an ihnen weiterbildet, sie biegt und knetet und, ohne doch sie im Wesen zu zerstören, aus ihnen Formen hervorholt, die ihre Jugend kaum vorausahnen ließ. Der Einwand, daß das Lebensgeschichtliche des Alten Testaments vielfach durch Zusammenwachsen verschiedener Sagenperso‐ nen entstanden ist, trifft uns nicht; denn dies Zusammenwachsen gehört mit zur Entstehung des Textes. Und wieviel weiter als bei den homerischen Helden ist der Pendelausschlag ihres Schicksals! Denn sie sind die Träger des göttlichen Willens, und doch sind sie fehlbar, dem Unglück und der Erniedrigung unterworfen - und mitten im Unglück und in der Erniedrigung offenbart sich durch ihr Tun und Reden die Erhabenheit Gottes. Kaum einer von ihnen, der nicht, wie Adam, der tiefsten Erniedrigung verfällt - und kaum einer, der nicht des persönlichen Umgangs und der persönlichen Inspiration Gottes gewürdigt wird. Erniedrigung und Erhöhung gehen viel tiefer und höher als bei Homer, und sie gehören grundsätzlich zusammen. Der arme Bettler Odysseus ist nur verkleidet, aber Adam ist wirklich ganz verstoßen, Jakob wirklich ein Flüchtling, Joseph wirklich in der Grube und dann ein käuflicher Sklave. Aber ihre Größe, aus Erniedrigung em‐ porgestiegen, ist nahe am Übermenschlichen und ein Abbild der Größe Gottes. Man empfindet gewiß, wie die Weite des Pendelausschlags mit der Intensität des Personengeschichtlichen zusammenhängt - gerade die äußersten Zustände, in denen wir über jedes Maß verlassen und verzweifelt, oder über jedes Maß glücklich und erhoben sind, verleihen uns, wenn wir sie überstehen, eine persönliche Ausprägung, welche man als Ergebnis eines reichen Gewordenseins, einer reichen Entwicklung erkennt. Und dies Entwicklungsmäßige gibt den alttestamentlichen Erzählungen sehr häufig, fast überall, einen geschichtlichen Charakter, selbst da, wo es sich um rein sagenhafte Überlieferung handelt. I Die Narbe des Odysseus 25 <?page no="26"?> Homer bleibt mit seinem ganzen Stoff im Sagenhaften, indes der Stoff des Alten Testaments, je weiter die Erzählung fortschreitet, sich immer mehr dem Geschichtlichen nähert; in den Daviderzählungen überwiegt schon der geschichtliche Bericht. Auch dort ist noch viel Sagenhaftes enthalten, wie zum Beispiel die David-Goliath-Erzählungen; allein vieles, ja das Wesentlichste besteht doch aus Dingen, die die Berichtenden aus eigenem Miterleben oder aus unmittelbaren Zeugnissen kennen. Nun ist der Unterschied zwischen Sage und Geschichte für einen etwas erfahrenen Leser in den meisten Fällen leicht zu entdecken. So schwer es ist, und so sorgfältiger historisch-philologischer Ausbildung es bedarf, um innerhalb eines geschichtlichen Berichts das Wahre vom Gefälschten oder einseitig Beleuchteten zu unterscheiden, so leicht ist es im allgemeinen, Sage und Geschichte überhaupt auseinanderzuhalten. Ihre Struktur ist verschieden. Selbst da, wo sich die Sage nicht sogleich durch Elemente des Wunderbaren, durch Wiederholung bekannter Motive, durch Vernachlässigung örtlicher und zeitlicher Bedingungen oder Ähnliches sofort verrät, ist sie doch meist an ihrem Aufbau schnell zu erkennen. Sie verläuft übermäßig glatt. Alles Querlaufende, aller Reibungswiderstand, alles Sonstige, Sekundäre, welches in die Hauptereignisse und Hauptmotive hineinspielt, alles Unentschiedene, Gebrochene und Schwankende, welches den klaren Gang der Handlung und die einfache Richtung der handelnden Personen verwirrt, ist ausgewaschen. Die Geschichte, welche wir miterleben oder aus Zeugnissen Miterlebender erfahren, verläuft sehr viel uneinheitlicher, widerspruchsvoller und wirrer; erst wenn sie in einem bestimmten Bezirk Ergebnisse gezeitigt hat, vermö‐ gen wir sie mit deren Hilfe einigermaßen zu ordnen, und wie oft wird uns die Ordnung, die wir so gewonnen zu haben glauben, wieder zweifelhaft, wie oft fragen wir uns, ob die vorliegenden Ergebnisse uns nicht zu einer allzu ein‐ fachen Anordnung des ursprünglich Geschehenen verleitet haben! Die Sage ordnet den Stoff in eindeutiger und entschiedener Weise, sie schneidet ihn aus dem sonstigen Weltzusammenhang heraus, so daß dieser nicht verwir‐ rend eingreifen kann, und sie kennt nur eindeutig festgelegte, von wenigen, einfachen Motiven bestimmte Menschen, die in der Ungebrochenheit ihres Fühlens und Handelns nicht beeinträchtigt werden. In der Märtyrersage etwa stehen hartnäckige fanatische Verfolgte einem ebenso hartnäckigen fanatischen Verfolger gegenüber; eine so komplizierte, das heißt wirklich geschichtliche Lage, wie die, in der sich der «Verfolger» Plinius in seinem berühmten Brief über die Christen an Trajan befindet, ist für keine Sage zu brauchen. Und das ist noch ein vergleichsweise einfacher Fall. Man denke 26 I Die Narbe des Odysseus <?page no="27"?> an die Geschichte, welcher wir selbst beiwohnen; wer etwa das Verhalten der einzelnen Menschen und Menschengruppen beim Aufkommen des Na‐ tionalsozialismus in Deutschland, oder das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten vor und während des gegenwärtigen (1942) Krieges erwägt, der wird fühlen, wie schwer darstellbar geschichtliche Gegenstände überhaupt, und wie unbrauchbar sie für die Sage sind; das Geschichtliche enthält eine Fülle widersprechender Motive in jedem Einzelnen, ein Schwanken und zweideutiges Tasten bei den Gruppen; nur selten kommt (wie jetzt durch den Krieg) eine allenfalls eindeutige, vergleichsweise einfach beschreibbare Lage zustande, und auch diese ist unterirdisch vielfach abgestuft, ja sogar fast dauernd in ihrer Eindeutigkeit gefährdet; und bei allen Beteiligten sind die Motive so vielschichtig, daß die Schlagworte der Propaganda nur durch roheste Vereinfachung zustande kommen - was zur Folge hat, daß Freund und Feind vielfach die gleichen verwenden können. Geschichte zu schreiben ist so schwierig, daß die meisten Geschichtsschreiber genötigt sind, Konzessionen an die Sagentechnik zu machen. Es ist klar, daß ein guter Teil der Samuelbücher Geschichte enthält und nicht Sage. In der Empörung Absaloms etwa oder in den Szenen aus Davids letzten Lebenstagen ist das Widerspruchsvolle, sich Kreuzende der Motive bei den Einzelnen und des Gesamtspiels so konkret geworden, daß an dem echt Geschichtlichen des Berichts nicht gezweifelt werden kann. Wie weit die Vorgänge etwa dabei parteiisch entstellt sein mögen, ist eine andere Frage, die uns hier nicht beschäftigt; jedenfalls beginnt hier der Übergang aus dem Sagenhaften in den geschichtlichen Bericht, und es setzt dieser letztere ein, der in den homerischen Gedichten gänzlich fehlt. Nun sind die Personen, die die geschichtlichen Teile der Samuelbücher verfaß‐ ten, vielfach dieselben, die auch die älteren Sagen redigierten; ohnehin trieb sie die ihnen eigentümliche religiöse Auffassung vom Menschen in der Geschichte, die wir oben zu beschreiben versuchten, keineswegs zur sagenhaften Vereinfachung des Geschehens; und so ist es nur natürlich, daß vielfach auch in den sagenhaften Stücken des Alten Testaments sich geschichtliche Struktur zeigt; selbstverständlich nicht in dem Sinne, daß die Überlieferung in wissenschaftlich-kritischer Weise auf Glaubwürdigkeit geprüft wurde; sondern lediglich in der Art, daß die Tendenz zur glättenden Harmonisierung des Geschehens, zur Vereinfachung der Motive und zur statischen, Konflikt, Schwankung und Entwicklung vermeidenden Festle‐ gung der Charaktere, wie sie der sagenhaften Struktur eigentümlich sind, in der alttestamentlichen Sagenwelt nicht herrschend ist. Abraham, Jakob oder I Die Narbe des Odysseus 27 <?page no="28"?> gar Moses wirken konkreter, näher und geschichtlicher als die Gestalten der homerischen Welt, nicht etwa, weil sie sinnlich besser beschrieben wären - das Gegenteil ist der Fall -, sondern weil die wirre, widerspruchsvolle, hemmungsreiche Mannigfaltigkeit des inneren und äußeren Geschehens, die die echte Geschichte zeigt, in ihrer Darstellung nicht ausgewaschen, sondern noch deutlich erhalten ist; das liegt zunächst an der jüdischen Auffassung vom Menschen, wohl aber auch daran, daß die Redaktoren nicht Sagendichter, sondern Geschichtsschreiber waren, deren Vorstellung von der Struktur des menschlichen Lebens am Geschichtlichen geschult war. Es wird dabei auch sehr deutlich, wie infolge der Einheitlichkeit des religiös-vertikalen Aufbaus eine bewußte Scheidung der literarischen Gattungen gar nicht entstehen konnte. Sie gehören alle in die gleiche Gesamtordnung; was nicht, zumindest durch Deutung, in diese eingefügt werden konnte, hatte überhaupt keinen Platz. Hier interessiert uns vor allem, wie in den Daviderzählungen das Sagenhafte unvermerkt, erst späte‐ rer wissenschaftlicher Kritik erkennbar, ins Geschichtliche übergeht; und wie, schon im Sagenhaften, das Problem der Ordnung und Deutung des menschlichen Geschehens leidenschaftlich ergriffen wird, ein Problem, welches später den Rahmen der Geschichtsschreibung sprengt und in der Prophetie sie völlig überwuchert; so ragt das Alte Testament, insofern es sich mit dem menschlichen Geschehen beschäftigt, durch alle drei Bezirke: Sage, Geschichtsbericht und deutende Geschichtstheologie. Mit dem eben Auseinandergesetzten hängt zusammen, daß auch in bezug auf den Kreis der handelnden Personen und ihre politische Bewegung der griechische Text beschränkter und statischer erscheint. In dem Erkennungs‐ vorgang, von dem wir ausgingen, tritt, außer Odysseus und Penelope, die Schaffnerin Eurykleia auf, eine Sklavin, die der Vater des Odysseus, Laertes, einst gekauft hat. Sie hat, ebenso wie der Sauhirt Eumaios, ihr Leben im Dienst der Laertiadischen Familie verbracht; sie ist, ebenso wie Eumaios, eng mit deren Schicksal verbunden, liebt sie und teilt ihre Interessen und Gefühle. Aber ein eigenes Leben, eigene Gefühle besitzt sie nicht; sie hat nur die ihrer Herren. Auch Eumaios, obgleich er sich noch erinnert, freigeboren, ja aus edlem Hause zu sein (er ist als Kind geraubt worden) hat nicht nur praktisch, sondern auch in seinen Empfindungen, kein eigenes Leben mehr, er ist ganz an das seiner Herren gebunden. Diese beiden Personen sind aber die einzigen, die uns Homer lebendig macht, welche nicht zur Herrenschicht gehören. Dabei wird man sich bewußt, daß sich das Leben in den homerischen Gedichten nur in der Herrenschicht abspielt - was etwa 28 I Die Narbe des Odysseus <?page no="29"?> sonst noch lebt, hat nur dienend Teil daran. Die Herrenschicht ist noch so stark patriarchalisch, und noch so sehr selbst vertraut mit den alltäglichen Tätigkeiten des wirtschaftlichen Lebens, daß man das Ständische an ihr zuweilen vergißt. Allein sie ist doch unverkennbar eine Art Feudalaristo‐ kratie, deren Männer ihr Leben zwischen Kampf, Jagd, Marktberatung und Gelage teilen, indes die Frauen im Haus die Mägde beaufsichtigen. Als soziales Gebilde ist diese Welt völlig unbewegt; die Kämpfe spielen sich nur zwischen verschiedenen Gruppen von Herrenschichten ab; von unten her dringt nichts. Selbst wenn man die Vorgänge im zweiten Gesang der Ilias, die mit der Thersitesepisode enden, als eine Volksbewegung ansieht - ich zweifle, ob man das im soziologischen Sinne tun kann, denn es handelt sich um ratsfähige Krieger, also um Leute, die selbst, wenn auch geringere, Mitglieder der Herrenschicht sind - so zeigen sie doch nur die Unselbstän‐ digkeit und die Unfähigkeit zu eigener Initiative bei dem versammelten Volk. In den Vätergeschichten des Alten Testaments herrscht ebenfalls die patriarchalische Verfassung, aber da es sich um einzelne, nomadische oder halbnomadische Stammeshäupter handelt, wirkt das soziale Bild viel weniger stabil; man fühlt die Klassenbildung nicht. Sobald vollends das Volk auftritt, das heißt seit dem Auszug aus Ägypten, ist es ständig in seiner Bewegung spürbar, oft unruhig brodelnd, und greift sowohl als Ganzes, wie in einzelnen Gruppen, wie in einzelnen sich herausstellenden Personen häufig in die Ereignisse ein; die Ursprünge der Prophetie scheinen in der unbändigen politisch-religiösen Spontaneität des Volkes zu liegen. Man gewinnt den Eindruck, daß die Tiefenbewegung des Volkes in Israel-Juda ganz anderer Art und viel elementarer gewesen sein muß als selbst in den späteren antiken Demokratien. Mit der tieferen Geschichtlichkeit und der tieferen sozialen Bewegtheit der alttestamentlichen Texte hängt schließlich noch ein letzter bedeutender Unterschied zusammen: daß sich nämlich aus ihnen ein anderer Begriff vom hohen Stil und vom Erhabenen gewinnen läßt als aus Homer. Dieser scheut sich zwar durchaus nicht, das Alltäglich-Realistische in das Erha‐ ben-Tragische hineinspielen zu lassen, eine solche Scheu ist seinem Stil fremd und mit ihm unvereinbar; man sieht es in unserer Episode von der Narbe, wie die friedlich ausgemalte häusliche Szene der Fußwaschung in die große, bedeutende, erhabene Handlung der Heimkehr eingewoben ist. Von jener Stiltrennungsregel, welche sich später fast allgemein durchsetzte, daß nämlich realistische Ausmalung des Alltäglichen unvereinbar sei mit dem Erhabenen und nur im Komischen ihren Platz habe, allenfalls, sorgfältig I Die Narbe des Odysseus 29 <?page no="30"?> stilisiert, im Idyllischen - von jener Stiltrennungsregel ist er noch weit entfernt. Und doch steht er ihr näher als das Alte Testament. Denn die großen und erhabenen Vorgänge vollziehen sich in den homerischen Gedichten viel ausschließlicher und unverkennbarer zwischen den Angehörigen einer Herrenschicht; diese sind weit intakter in ihrer heldenhaften Erhabenheit als die alttestamentlichen Gestalten, die in ihrer Würde weit tiefer fallen können - man denke etwa an Adam, an Noah, an David, an Hiob -; und schließlich bleibt der häusliche Realismus, die Darstellung des alltäglichen Lebens, bei Homer stets im Idyllisch-Friedlichen - während schon von Anfang an in den Erzählungen des Alten Testaments das Erhabene, Tragische und Problema‐ tische sich gerade im Häuslichen und Alltäglichen gestaltet: Vorgänge wie die zwischen Kain und Abel, zwischen Noah und seinen Söhnen, zwischen Abraham, Sara und Hagar, zwischen Rebekka, Jakob und Esau und so fort, sind im homerischen Stil nicht vorstellbar. Das ergibt sich schon aus der so ganz verschiedenen Art der Konfliktsbildung. In den alttestamentlichen Erzählungen wird die Ruhe des täglichen Fortgangs im Hause, auf dem Felde und bei den Herden ständig unterwühlt durch die Eifersucht um die Erwählung und die Segensverheißung, und es entstehen Verwicklungen, die den homerischen Helden ganz unfaßbar wären. Bei diesen bedarf es eines handfesten, deutlich ausdrückbaren Grundes, damit Konflikt und Feindschaft entstehen, und sie wirken sich in freien Kämpfen aus; während bei jenen die ständig schwelende Eifersucht und die Verknüpfung des Wirt‐ schaftlichen mit dem Geistlichen, des Vatersegens mit dem Gottessegen zu einer Durchtränkung des alltäglichen Lebens mit Konfliktsstoff und häufig zu einer Vergiftung desselben führen. Die erhabene Wirkung Gottes greift hier so tief in das Alltägliche ein, daß die beiden Bezirke des Erhabenen und des Alltäglichen nicht nur tatsächlich ungetrennt, sondern grundsätzlich untrennbar sind. Wir haben die beiden Texte, und im Anschluß daran die beiden Stilarten, die sie verkörpern, miteinander verglichen, um einen Ausgangspunkt für Versuche über die literarische Darstellung des Wirklichen in der europäi‐ schen Kultur zu gewinnen. Die beiden Stile stellen in ihrer Gegensätzlichkeit Grundtypen dar: auf der einen Seite ausformende Beschreibung, gleichmä‐ ßige Beleuchtung, lückenlose Verbindung, freie Aussprache, Vordergründ‐ lichkeit, Eindeutigkeit, Beschränkung im Geschichtlich-Entwickelnden und im Menschlich-Problematischen; auf der anderen Hervorarbeitung eini‐ ger, Verdunkelung anderer Teile, Abgerissenheit, suggestive Wirkung des Unausgesprochenen, Hintergründlichkeit, Vieldeutigkeit und Deutungsbe‐ 30 I Die Narbe des Odysseus <?page no="31"?> dürftigkeit, weltgeschichtlicher Anspruch, Ausbildung der Vorstellung vom geschichtlich Werdenden und Vertiefung des Problematischen. Der homerische Realismus ist zwar nicht mit dem klassisch-antiken überhaupt gleichzusetzen; denn die Stiltrennung, welche sich erst später ausbildete, gestattete im Rahmen des Erhabenen keine so mußevoll ausfor‐ mende Beschreibung alltäglicher Vorgänge; in der Tragödie zumal war kein Raum dafür; ferner traf die griechische Bildung sehr bald auf die Phänomene des geschichtlichen Werdens und der Vielschichtigkeit menschlicher Pro‐ blematik, und setzte sich auf ihre Weise damit auseinander; im römischen Realismus schließlich treten neue eigentümliche Auffassungsweisen hinzu. Wir werden auf die späteren Veränderungen der antiken Wirklichkeitsdar‐ stellung eingehen, wo die Gelegenheit es fordert; im ganzen blieben, trotz ihrer, die Grundtendenzen des homerischen Stils, die wir herauszuarbeiten versuchten, bis in die Spätantike wirksam und bestimmend. Da wir die beiden Stile, den homerischen und den alttestamentlichen, als Ausgangspunkte benutzen, so haben wir sie als fertige genommen, wie sie in den Texten sich bieten; wir haben von allem abgesehen, was sich auf ihre Ursprünge bezieht und haben also die Frage, ob ihre Eigentümlichkeiten ihnen ursprünglich zugehören, oder ob sie ganz oder teilweise auf fremde Einwirkungen zurückzuführen sind, und auf welche, ganz beiseite gelassen. Im Rahmen unserer Absicht ist die Berücksichtigung dieser Frage nicht erforderlich; denn so, wie sie sich schon in früher Zeit fertig ausbildeten, haben die beiden Stile ihre konstitutive Wirkung auf die europäische Wirklichkeitsdarstellung ausgeübt. I Die Narbe des Odysseus 31 <?page no="33"?> II Fortunata Non potui amplius quicquam gustare, sed conversus ad eum, ut quam plurima exciperem, longe accersere fabulas coepi sciscitarique, quae esset mulier illa, quae huc atque illuc discurreret. Uxor, inquit, Trimalchionis, Fortunata appellatur, quae nummos modio metitur. Et modo, modo quid fuit? Ignoscet mihi genius tuus, noluisses de manu illius panem accipere. Nunc, nec quid nec quare, in caelum abiit et Trimalchionis topanta est. Ad summam, mero meridie si dixerit illi tenebras esse, credet. Ipse nescit quid habeat, adeo saplutus est; sed haec lupatria providet omnia et ubi non putes. Est sicca, sobria, bonorum consiliorum, est tamen malae linguae, pica pulvinaris. Quem amat, amat; quem non amat, non amat. Ipse Trimalchio fundos habet qua milvi volant, nummorum nummos. Argentum in ostiarii illius cella plus iacet quam quisquam in fortunis habet. Familia vero babae babae, non mehercules puto decumam partem esse quae dominum suum noverit. Ad summam, quemvis ex istis babaecalis in rutae folium coniciet. Nec est quod putes illum quicquam emere. Omnia domi nascuntur: lana, credrae, piper, lacte gallinaceum si quaesieris, invenies. Ad summam, parum illi bona lana nascebatur; arietes a Tarento emit, et eos culavit in gregem … Vides tot culcitras: nulla non aut cochyliatum aut coccineum tomentum habet. Tanta est animi beatitudo. Reliquos autem collibertos eius cave contemnas; valde succossi sunt. Vides illum qui in imo imus recumbit; hodie sua octingenta possidet. De nihilo crevit. Modo solebat collo suo ligna portare. Sed quomodo dicunt - ego nihil scio, sed audivi - quom Incuboni pilleum rapuisset, thesaurum invenit. Ego nemini invideo, si quid deus dedit. Est tamen subalapo et non vult sibi male. ltaque proxime casam hoc titulo proscripsit: C. Pompeius Diogenes ex Calendis Iuliis cenaculum locat; ipse enim domum emit. Quid ille qui libertini loco iacet, quam bene se habuit! Non impropero illi. Sestertium suum vidit decies, sed male vacillavit. Non puto illum capillos liberos habere-… D I E S E R Absatz stammt aus dem Roman des Petronius, von dem nur eine Episode, das Gastmahl bei dem reichen Freigelassenen Trimalchio, vollstän‐ dig erhalten ist. Das hier Abgedruckte ist Kapitel 37 und ein Teil von 38. Der Erzähler, Encolpius, erkundigt sich während des Mahles bei seinem Tischnachbarn, wer denn die Frau sei, die durch den Saal hin und her laufe, und erhält Antwort, die ich im folgenden, möglichst stilgerecht, deutsch wiederzugeben versuche: <?page no="34"?> Das ist Fortunata, Trimalchios Frau, die das Geld mit dem Scheffel mißt. Und früher, was glauben Sie wohl, was die gewesen ist? Nehmen Sie es mir nicht übel, Sie hätten aus ihrer Hand kein Stück Brot genommen. Aber jetzt ist sie mir nichts dir nichts ins Paradies abgeschwommen, und ist dem Trimalchio sein ein und alles. Also ich sage Ihnen, wenn die ihm am hellen Mittag sagt, es ist dunkel, er glaubt es. Der weiß gar nicht, wieviel er hat, so steinreich ist er; aber sie, das Luder, paßt auf, auch wo man es gar nicht vermuten sollte. Sie trinkt nicht, ist sparsam, und weiß immer Rat; dabei aber ein Schandmaul, eine richtige Elster. Wen sie mag, den mag sie, und wen sie nicht mag, den mag sie nicht. Der Trimalchio hat Grundstücke, so weit die Falken fliegen, unzählige Millionen. Im Keller von seinem Portier liegt mehr Geld als andere Leute überhaupt im Vermögen haben. Und das Sklavenpersonal! Ich glaube nicht, daß auch nur der zehnte Teil davon je seinen Herren zu sehen kriegt. Also ich sage Ihnen, neben dem kann jeder von den Maulaffen hier einpacken. Und glauben Sie nicht, daß der irgendwas zu kaufen braucht; alles ist eigene Produktion: Wolle, Wachs, Pfeffer - und wenn Sie Hühnermilch haben wollten, sie wäre da. Also ich sage Ihnen, er hatte nicht genug eigene Produktion an guter Wolle; da hat er sich Widder aus Tarent gekauft, und sie in seine Herde gesteißt … Sie sehen, wieviel Kissen hier herumliegen; da ist keines dabei, das nicht mit Purpur- oder mit Scharlachwolle gefüllt wäre: da können Sie sehen, was für ein glücklicher Mann das ist. Auch seine Mitfreigelassenen sind nicht zu verachten. Die haben ihr Schäfchen im Trocknen. Sehen Sie den letzten da hinten? Der hat heute seine Achtmalhunderttausend. Er hat mit nichts angefangen. Es ist noch gar nicht lange her, da schleppte er Holz. Aber wie die Leute erzählen - ich weiß es nur vom Hörensagen - er hat einem Heinzelmännchen die Kappe stiebitzt, und dann hat er einen Schatz gefunden. Na, ich bin nicht neidisch, wenn Gott es einem gibt. - Er ist übrigens erst eben freigelassen und hat noch große Rosinen im Kopf (? ). Neulich hat er in einer Anzeige seine Wohnung zum Vermieten angeboten: «C. Pompeius Diogenes vermietet zum 1. Juli seine Wohnung; er hat sich nämlich ein Haus (vielleicht auch: eine elegante Wohnung) gekauft.» Und der da auf dem Platz des Freigelassenen, wie gut ist es dem früher gegangen! Ich will nichts Böses von ihm sagen, er hat mal eine Million gehabt, aber dann ist es schief gegangen, und jetzt gehören ihm, glaube ich, nicht mal mehr die Haare auf seinem Kopf-… Die Antwort, die in der gleichen Art noch eine Weile fortgeht, ist also recht ausführlich geworden. Nicht nur die Frau, nach der sich Encolpius erkundigt hat, sondern auch der Gastgeber und mehrere Gäste werden behandelt, und überdies schildert der Sprecher auch sich selbst - seine 34 II Fortunata <?page no="35"?> Sprache und die Bewertungsmaßstäbe, die er anlegt, geben einen deutlichen Begriff von seiner Persönlichkeit. Die Sprache ist der ordinäre, etwas breiige Jargon eines ungebildeten städtischen Geschäftsmanns, voll von Klischees (nummos modio metitur, ignoscet mihi genius tuus, noluisses de manu illius panem accipere, in caelum abiit, topanta est, ad summam - man müßte beinah alles abschreiben) - und sie wird vorgetragen mit jenem sanguinischen Akzent, der lebhafte, aber triviale Affekte ausdrückt: Staunen, Bewunderung, Beteuerung, Achselzucken, Wichtigtuerei - kurz, in ihrer sprachlichen Form verraten die tam dulces fabulae, wie sie gleich darauf genannt werden, unverkennbar das, was sie sind, nämlich ordinärer Klatsch, obgleich ein guter Teil ihres Inhalts wahr sein mag; und sie verraten zugleich, wer der Mann ist, der sie ausspricht, nämlich jemand, der vollkommen in das Milieu hineinpaßt, das er schildert. Dafür zeugen auch seine Bewertungsmaßstäbe. Denn ganz selbstverständlich liegt all seinen Worten die Überzeugung zugrunde, daß Reichtum das höchste Gut ist, je mehr desto besser (tanta est animi beatitudo), daß die Güter des Lebens nichts sind als Überfluß an Waren bester Qualität und gemeinster Genuß derselben, und daß jeder Mensch ganz selbstverständlich in diesem Sinne nach seinem materiellen Vorteil handelt. Und bei alledem ist er selbst wohl nur ein kleiner oder mittlerer Mann, der die ganz Reichen ehrlich bewundert. So schildert der Gute nicht nur Fortunata, Trimalchio und ihre Tischgenossen, sondern zugleich, ohne es zu wissen, sich selbst. Er hat zwar, wie wir sehen, einen etwas einseitigen Standpunkt, spricht auch mehr gefühlsmäßig und in Assoziationen als logisch, aber er spricht ausführlich und sozusagen plastisch - er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, und sagt alles, was zur Sache gehört. Er läßt nichts im Dunkel, er schwatzt sich aus, wie bei Homer ergießt sich helles, gleichmäßiges Licht über die Menschen und Gegenstände, die er behandelt; er hat, wie Homer, Muße genug zur Ausformung; was er sagt, ist eindeutig, und es bleibt nichts Hintergründig-Verborgenes ungesagt. Freilich bestehen auch bedeutende Unterschiede gegen die Art Homers. Zunächst ist die Ausformung ganz subjektiv; denn was uns vorgeführt wird, ist nicht etwa der Kreis Trimalchios als objektive Wirklichkeit, sondern als subjektives Bild, so wie es sich im Kopf jenes redenden Tischnachbarn, der aber auch selbst zu dem Kreise gehört, darstellt. Petronius sagt nicht: dies ist so - sondern er läßt einen Ich, der weder mit ihm, noch auch nur mit dem fingierten Erzähler Encolpius identisch ist, den Scheinwerfer seines Blicks auf die Tischgesellschaft werfen - ein höchst kunstvolles, perspektivisches II Fortunata 35 <?page no="36"?> Verfahren, eine Art doppelte Spiegelung, die in der erhaltenen antiken Literatur, ich wage nicht zu sagen einzig, aber doch jedenfalls sehr selten ist. Die äußere Form dieses perspektivischen Verfahrens ist zwar keineswegs neu, denn selbstverständlich sprechen überall in der antiken Literatur die Personen über ihre Erlebnisse und Eindrücke. Aber das ist entweder, wie in den Erzählungen des Odysseus bei den Phäaken oder des Äneas bei Dido, nur eine Form der Exposition und durchaus objektiv behandelt - oder aber es handelt sich um die Stellungnahme einer Person gegenüber Menschen oder Ereignissen, von denen sie, im Rahmen einer Handlung, gerade betroffen wird, und wo also das Subjektive unvermeidlich und auch ganz kunstlos natürlich ist. Hier aber handelt es sich um schärfsten Subjektivismus, der noch durch die Individualsprache hervorgehoben wird, einerseits - und um eine objektive Absicht andererseits, denn die Absicht zielt auf objektive Schilderung der Tischgesellschaft, den Sprecher eingeschlossen, vermittels des subjektivistischen Verfahrens. Das Verfahren führt zu einer sinnlicheren und konkreteren Lebensillusion - indem der Tischnachbar die Tischgesellschaft schildert, zu der er, innerlich und äußerlich, selbst gehört, wird der Blickpunkt ins Bild hinein versetzt, dieses gewinnt Tiefe, und von einem seiner Orte selbst scheint das Licht auszugehen, von welchem es beleuchtet wird. Nicht anders arbeiten moderne Schriftsteller, etwa Proust, nur viel konsequenter auch innerhalb des Tragischen und Problematischen, wovon wir alsbald sprechen werden. Das Verfahren Petrons ist also im höchsten Maße kunstvoll, und, wenn er keine Vorgänger gehabt hat, genial - die Tischgesellschaft wird mit ihren eigenen Maßstäben gemessen, diese Maßstäbe richten sich durch ihr bloßes Lautwerden, zudem wird das Pöbel‐ hafte dieser Neureichen schon durch die Tatsache, daß an ihrem eigenen Tisch so von ihnen gesprochen wird, aufs schärfste beleuchtet. Es finden sich wohl Ansätze zu ähnlicher Technik auch sonst in der satirischen Literatur der Antike - ein ähnlich durchdachtes und durchgeführtes Beispiel kenne ich aber sonst nicht. Ein anderer bedeutender Unterschied gegenüber dem homerischen Vor‐ gehen besteht in folgendem. Dem Tischnachbarn ist es bei seiner Schil‐ derung besonders wichtig, zu betonen, was all diese Leute einst waren, im Gegensatz zu dem, was sie jetzt sind. Et modo, modo quid fuit, so sagt er bei Fortunata; de nihilo crevit, und quam bene se habuit, bei den beiden Tischgenossen. Auch Homer liebt es, wie wir früher bemerkten, die Abkunft, Geburt und Vorgeschichte seiner Personen einzuschalten. Aber seine Angaben sind ganz anderer Art. Sie führen uns nicht ins 36 II Fortunata <?page no="37"?> Werdende und sich Wandelnde, im Gegenteil, sie führen uns zu einem festen Anhaltspunkt. Der mythologisch-genealogisch geschulte griechische Hörer soll Abstammung und Familie der in Rede stehenden Person erkennen, er soll sie in dieser Weise einordnen, genau wie man in der modernen Zeit in einem geschlossenen aristokratischen oder altbürgerlichen Kreis einen neu Erschienenen durch Angaben über seine väterliche und mütterliche Familie bestimmt. Dadurch soll weniger der Eindruck der geschichtlichen Wandlung als vielmehr die Illusion eines unwandelbaren Festbegründets‐ eins der gesellschaftlichen Verfassung hervorgerufen werden, neben der der Wechsel der Personen und ihrer persönlichen Schicksale vergleichsweise unbeträchtlich erscheint. Unser Tischnachbar aber (und darin fühlt er, wie in allem, was er sagt, genau wie seinesgleichen) hat wirklich das geschichtlich sich Wandelnde, den Glückswechsel im Sinn. Ihm ist die Welt in ständiger Bewegung begriffen, nichts ist sicher, vor allem aber Wohlstand und gesellschaftliche Stellung sind äußerst unbeständig. Sein geschichtlicher Sinn ist einseitig, denn es dreht sich nur ums Geldhaben, aber er ist echt. (Auch die andern Tischgenossen kommen immer wieder auf die Unbeständigkeit des Lebens zu sprechen.) Das Hinundherfluten des Besitzes ist das, was ihn am Dasein interessiert, und was ihn gelehrt hat, ihn und seinesgleichen, aller Stabilität zu mißtrauen. Eben war man noch Sklave, Lastträger, Lustknabe - eben konnte man noch verprügelt, verkauft, verschickt werden - mit einem Male ist man als reicher Großgrundbesitzer und Spekulant im tollsten Luxus - und morgen konnte es wieder aus damit sein. Selbstverständlich fragt er: et modo, modo quid fuit? Das ist nicht, oder nicht nur, Neid und Mißgunst, was aus ihm spricht - er ist im Grunde wohl ganz gutmütig -, sondern sein wahres und tiefstes Interesse. Nun ist es bekannt, daß der Glückswechsel in der antiken Literatur überhaupt einen sehr bedeutenden Platz hat und auch die philosophische Ethik sich vielfach auf ihm aufbaut. Aber, seltsam genug, er vermittelt anderswo nur selten den Eindruck geschichtlichen Lebens. Er erscheint entweder in der Tragödie, als ein einmaliges ungeheures Schicksal, oder in der Komödie, als Ergebnis eines ganz außerordentlichen Zusammentreffens besonderer Umstände; ob es sich um König Ödipus handelt, den der längst vorausgesagte Fluch getroffen und ins entsetzlichste Elend gestoßen hat, oder um das arme Mädchen oder den Sklaven, die sich als die einst geraubten oder nach einem Schiffbruch ver‐ mißten Kinder eines reichen Mannes entpuppen, so daß sie sogleich die von ihnen erwünschte Ehe eingehen können, in beiden Fällen geschieht etwas Außerordentliches, besonders Präpariertes, was aus dem gewohnten Lauf II Fortunata 37 <?page no="38"?> der Dinge herausfällt und was nur einen oder wenige trifft, indes die übrige Welt in Unbewegtheit zu verharren und bei dem außerordentlichen Ereignis gleichsam zuzuschauen scheint. In der literarisch nachahmenden Kunst der Antike hat der Glückswechsel fast immer die Form eines von außen in einen bestimmten Bezirk hineinbrechenden, nicht den eines sich aus der inneren Bewegung der geschichtlichen Welt sich ergebenden Schicksals - während freilich die populär-philosophische Sentenzenliteratur den Glückswechsel bei jedermann und in jeder Lage im Auge hat, aber dies nur in theoretischer Form vorträgt. Die sentenziösen Betrachtungen über den Wechsel des irdischen Geschicks finden sich auch im Gastmahl des Trimalchio sehr häufig, und andererseits geistert in der Incubusanspielung des Tischnach‐ bars noch etwas von der Neigung fort, den Glückswechsel besonderen Eingriffen von außen zuschreiben zu wollen. Aber vorherrschend ist in dem Werk des Petronius doch die höchst praktisch-irdische, und also durchaus innergeschichtliche Anschauung der Schicksalswendungen - höchst prak‐ tisch-irdisch berichtet Trimalchio die Entstehung seines Vermögens, und auch sonst findet sich Ähnliches; vor allem aber ist es das Serienhafte, was hier den Eindruck des Innergeschichtlichen vermittelt. Nicht einer oder wenige werden von einem einmaligen außerordentlichen Schicksal betroffen, während die übrige Welt in Ruhe verharrt; sondern es sind allein in der Rede des Tischnachbarn vier Personen, die alle in dem gleichen Wasser schwimmen, alle der gleichen Art wechselvoller Glücksjägerei obliegen, wobei sie zwar alle ein ähnliches, aber doch jeder ein verschiedenes und bei aller Bewegtheit höchst gewöhnliches, ja ordinäres Schicksal haben - und hinter den vier beschriebenen Personen sieht man die ganze Tafelrunde, bei der man vermuten kann, daß jedes ihrer Mitglieder ein ähnliches und ähnlich beschreibbares Leben führt - und dahinter wiederum stellt sich die Phantasie eine ganze Welt von ähnlichen Existenzen vor, so daß ein überaus lebhaftes, wirtschaftlich-geschichtliches Bild entsteht, ein von innen ständig bewegtes Auf und Ab der nach Reichtum und dummem Lebensgenuß haschenden Glücksjäger. Es ist leicht zu verstehen, daß eine Gesellschaft von Geschäftsmännern niedrigster Abkunft sich ganz besonders für diese Darstellungsweise, für diesen Blick auf die Dinge eignet - in ihr spiegelt sich am klarsten das Auf und Ab des Geschehens, ohne daß irgend etwas Festes ihm die Waage hielte; denn sie besitzen weder innerlich eine Überlieferung noch äußerlich einen Halt; sie sind nichts ohne Geld. Es gibt in diesem Sinne in der antiken Literatur kaum ein Stück, das so stark wie dieses innere Geschichtsbewegung zeigte. 38 II Fortunata <?page no="39"?> Und hier kommen wir zu einem dritten, wohl dem wichtigsten Unter‐ schied gegenüber dem homerischen Stil und zu der wohl bedeutendsten Eigentümlichkeit des petronischen Gastmahls: es kommt der modernen Vorstellung von realistischer Darstellungsweise näher als was uns sonst aus der Antike erhalten ist; und zwar nicht etwa in erster Linie wegen der ge‐ meinen Niedrigkeit des Stoffes, sondern vor allem wegen der genauen, ganz unschematischen Festlegung des gesellschaftlichen Milieus. Die Leute, die bei Trimalchio sich versammeln, sind süditalische freigelassene Parvenus des ersten Jahrhunderts; sie haben deren Anschauungen und sprechen fast ohne literarische Stilisierung deren Sprache. Das findet man sonst kaum. Die Komödie gibt das gesellschaftliche Milieu in viel allgemeinerer und mehr schematischer, örtlich und zeitlich unbestimmterer Weise; sie zeigt kaum Ansätze zur Individualsprache der Personen; in der Satire ist wohl manches in die gleiche Richtung Weisendes erhalten, doch ist die Darstellung nicht so breit angelegt, sondern eher moralistisch und auf die Kritik irgendeiner be‐ stimmten lasterhaften oder lächerlichen Eigenschaft abgestellt; der Roman schließlich, fabula milesiaca, zu welcher Gattung ja das Werk Petrons wohl auch gehörte, ist in den uns sonst erhaltenen Werken und Fragmenten so stark mit zauberhaften, abenteuerlichen, mythologischen und so unmäßig mit erotischen Dingen angefüllt, daß er unmöglich als eine Nachahmung des damals alltäglichen Daseins angesprochen werden kann - von der unrealistischen, rhetorischen Stilisierung der Sprache ganz zu schweigen. Am nächsten kommt der breiten, wirklich alltäglichen Darstellung manches aus der alexandrinischen Literatur; etwa die beiden Frauen beim Adonisfest, von Theokrit, oder der Prozeß des Bordellwirts, von Herodas. Aber auch diese beiden Stücke - Versdichtungen - sind in bezug auf die Realistik, den soziologischen Unterbau, spielerischer und auch stärker sprachlich stilisiert als Petronius. Dieser setzt, wie ein moderner Realist, seinen künstlerischen Ehrgeiz daran, ein beliebiges, alltägliches, zeitgenössisches Milieu mit sei‐ nem gesellschaftlichen Unterbau ohne Stilisierung nachzuahmen und die Personen ihren Jargon sprechen zu lassen. Damit hat er die äußerste Grenze erreicht, bis zu der der antike Realismus vorgedrungen ist; ob er der erste und einzige war, der derartiges unternahm - wie weit etwa der römische Mimus ihm vorgearbeitet hat - kann hier außer Betracht bleiben. Wenn nun Petronius die äußerste Grenze zeigt, bis zu der der antike Realismus vorgedrungen ist - so läßt sich an seinem Werk auch erkennen, was dieser Realismus nicht geben konnte oder mochte. Das Gastmahl ist ein Werk rein komischen Charakters. Die darin auftretenden Personen im II Fortunata 39 <?page no="40"?> Einzelnen sowie die Verbindungen des Ganzen sind bewußt und einheitlich im niedrigsten Stil gehalten, sowohl im sprachlichen Ausdruck wie in der Behandlung; und damit ist notwendig verbunden, daß alles Problematische, was, sei es psychologisch, sei es soziologisch, an ernsthafte oder gar tragi‐ sche Verwicklungen erinnert, fernbleiben muß - es würde den Stil durch allzuschweres Gewicht zerstören. Denken wir hier einen Augenblick an die realistischen Autoren des 19. Jahrhunderts, an Balzac oder Flaubert, an Tolstoj oder Dostojewski. Der alte Grandet (Eugénie Grandet) oder Fedor Pawlowitsch Karamasoff sind keine bloßen Karikaturen wie Trimalchio, sondern fürchterliche Wirklichkeit, sehr ernst zu nehmen, in tragische Verwicklungen verwoben, ja sogar selbst tragisch, obgleich sie doch auch grotesk sind. In der modernen Literatur kann jede Person, gleichviel welchen Charakters und welcher sozialen Stellung, jedes Ereignis, gleichviel ob sagenhaft, hochpolitisch oder beschränkt häuslich, durch die nachahmende Kunst ernsthaft, problematisch und tragisch gefaßt werden, und wird es zumeist. Das aber ist in der Antike ganz ausgeschlossen. Es gibt zwar in der Hirten- und Liebespoesie einige Zwischenformen, aber im ganzen gilt die Stiltrennungsregel, die wir schon im ersten Kapitel dieser Untersuchung berührten: alles gemein Realistische, alles Alltägliche darf nur komisch, ohne problematische Vertiefung vorgeführt werden. Das setzt aber dem Realismus enge Grenzen; und wenn man das Wort Realismus etwas schärfer faßt, so muß man sagen: jedes literarische Ernstnehmen der alltäglichen Berufe und Stände - Kaufleute, Handwerker, Bauern, Sklaven - der all‐ täglichen Schauplätze - Haus, Werkstatt, Laden, Feld - der alltäglichen Lebensgewohnheiten - Ehe, Kinder, Arbeit, Ernährung - kurzum des Volkes und seines Lebens fiel fort. Damit hängt dann auch zusammen, daß in der antiken Realistik die den jeweils dargestellten Verhältnissen zugrundelie‐ genden gesellschaftlichen Kräfte nicht deutlich gemacht werden; das könnte ja nur im Rahmen des Ernsthaft-Problematischen geschehen; da aber die Personen den Bezirk des Komischen nicht verlassen, ist ihr Verhältnis zur Allgemeinheit entweder geschickte Anpassung oder grotesk-tadelnswerte Absonderung; das realistisch dargestellte Individuum hat im letzteren Fall der Gesellschaft gegenüber stets unrecht, und diese erscheint als gegebene, in ihrer Entstehung und Auswirkung nicht erklärungsbedürftige, im Hinter‐ grund des jeweiligen Ereignisses unveränderlich ruhende Institution. Auch das ist in neuerer Zeit sehr anders geworden. Für die antike realistische Literatur existiert die Gesellschaft nicht als geschichtliches Problem, son‐ dern allenfalls als moralistisches, und überdies bezieht sich der Moralismus 40 II Fortunata <?page no="41"?> mehr auf die Individuen als auf die Gesellschaft. Die Kritik der Laster und Auswüchse, mögen auch noch so viel Personen als lasterhaft und lächerlich dargestellt werden, stellt das Problem individualistisch, so daß die Kritik der Gesellschaft nie zu einer Aufdeckung der sie bewegenden Kräfte führt. Es ist daher auch hinter dem ganzen Getriebe, das Petronius uns vorführt, nichts spürbar, was uns die Dinge aus ihrem ökonomisch-politischen Zusammen‐ hang begreiflich machte, und die geschichtliche Bewegung, von der wir oben sprachen, ist nur eine Bewegung der Oberfläche. Natürlich meinen wir nicht, daß Petronius in sein Gastmahl eine volkswirtschaftliche Studie hätte einflechten sollen. Er hätte nicht einmal so weit zu gehen brauchen wie Balzac, der in seinem eben schon erwähnten Roman Eugénie Grandet die Entstehung von Grandets Vermögen in einer Weise beschreibt, daß die gesamte französische Geschichte von der Revolution bis zur Restauration in ihr sich widerspiegelt. Eine ganz unsystematische, aber ständige und be‐ wußte Verbindung mit Zeitereignissen und Zeitverhältnissen hätte genügt. Die modernen Petrone knüpften die Schilderung von Schiebern etwa an die Inflation nach dem ersten Weltkrieg oder an sonstige bekannte Krisen‐ zeiten; schon Thackeray, obgleich noch eher moralistisch als eigentlich historisch entwickelnd, bindet seinen großen Roman an den Hintergrund der napoleonischen und nachnapoleonischen Epoche - bei Petron findet sich nichts davon. Wenn etwa von den Lebensmittelpreisen (44), von sonstigen städtischen Verhältnissen (44, 45 und passim), von der Lebens- und Vermö‐ gensgeschichte der Tischgenossen (außer unserer Stelle besonders 57 und 75 f.) die Rede ist, so fehlt jede Anspielung auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine bestimmte politisch-wirtschaftliche Lage. Zwar handelt es sich deutlich um eine süditalienische Stadt in der ersten Kaiserzeit, wir stellen das leicht fest, der moderne Wirtschaftshistoriker kann die Angaben als Material verwerten, und die Zeitgenossen erkannten das selbstverständ‐ lich ebenfalls, sogar vermutlich noch genauer als wir - aber Petronius legt auf die zeitgeschichtliche Seite seines Werkes keinen Wert. Hätte er es getan, hätte er die einzelnen Verhältnisse und Ereignisse mit bestimmten politisch-ökonomischen Lagen der ersten Kaiserzeit verknüpft, so wäre vor dem Auge des Lesers ein geschichtlicher Hintergrund entstanden, den die Erinnerung ergänzt hätte - es hätte sich eine geschichtliche Tiefe ergeben, neben der der Perspektivismus Petrons, von dem wir oben sprachen, als bloße Oberfläche erscheint, und dann hätte man wirklich, und nicht nur vergleichsweise, von geschichtlicher Bewegung sprechen können. Aber das hätte den Stil gesprengt, in dem sich Petronius zu halten gedachte, II Fortunata 41 <?page no="42"?> und wäre nicht möglich gewesen ohne eine Vorstellung, die ihm nicht zugänglich war, der Vorstellung nämlich von geschichtlichen «Kräften». So wie es ist, bleibt die Bewegung, trotz aller Lebhaftigkeit, nur im Bilde selbst, dahinter bewegt sich nichts, die Welt steht still. Es ist zwar deutlich ein Zeitgemälde, aber die Zeit gibt sich, als hätte sie immer unverändert so bestanden, wie jetzt und hier, mit Herren, die den Sklaven, die ihnen geschlechtlich zu Willen sind, große Teile ihres Vermögens hinterlassen, mit riesigen Verdiensten, die man im Handel machen kann, und so fort - die Zeitbedingtheit oder Geschichtlichkeit all dieser Umstände interessiert als solche weder Petronius noch seinen antiken Leser, erst wir konstatieren sie und moderne Wirtschaftshistoriker ziehen daraus ihre Schlüsse. Hier aber stoßen wir unausweichlich auf eine grundsätzliche und sehr schwierige Frage. Wenn die antike Literatur das alltägliche Leben nicht ernsthaft, nicht problematisch und nicht in seinem geschichtlichen Hinter‐ grund, sondern nur im niederen Stil, komisch oder allenfalls idyllisch, geschichtslos und statisch darzustellen vermochte, so liegt darin nicht nur eine Grenze ihres Realismus, sondern auch, und vor allem, eine Grenze ihres Geschichtsbewußtseins. Denn gerade in den geistigen und ökonomischen Verhältnissen des alltäglichen Lebens offenbaren sich die Kräfte, die den geschichtlichen Bewegungen zugrunde liegen; diese letzteren, seien sie kriegerisch oder diplomatisch oder auf die innere Verfassung des Staates bezüglich, sind nur das Ergebnis oder letzte Resultat von Veränderungen der alltäglichen Tiefe. Betrachten wir in diesem Zusammenhang einen Text aus der antiken Geschichtsschreibung; und zwar wähle ich einen zeitlich dem Gastmahl nicht allzu fernstehenden Text, der selbst eine revolutionäre Tiefenbewe‐ gung darstellt, den Anfang des Aufstands der germanischen Legionen nach Augustus’ Tode in Tacitus’ Annalen, Kap. 16 und folgende des ersten Buches. Er lautet folgendermaßen: Hic rerum urbanarum status erat, cum Pannonicas legiones seditio incessit, nullis novis causis, nisi quod mutatus princeps licentiam turbarum et ex civili bello spem praemiorum ostendebat. Castris aestivis tres simul legiones habebantur, praesidente Iunio Blaeso, qui fine Augusti et initiis Tiberii auditis ob iustitium aut gaudium intermiserat solita munia. Eo principio lascivire miles, discordare, pessimi cuiusque sermonibus praebere aures, denique luxum et otium cupere, disciplinam et laborem aspernari. Erat in castris Percennius quidam, dux olim theatralium operarum, dein gregarius miles, procax lingua et miscere coetus 42 II Fortunata <?page no="43"?> 1 So lagen die Dinge in Rom, als bei den pannonischen Legionen eine Meuterei ausbrach, nicht aus irgendwelchen neuen Ursachen, sondern weil der Thronwechsel Gelegenheit zum Aufstand und ein möglicher Bürgerkrieg Hoffnung auf Gewinn zu versprechen schien. Dort lagen im gleichen Sommerquartier drei Legionen, deren Kommandant, Junius Blaesus, auf die Nachricht vom Tode des Augustus und der Übernahme des Prinzipats durch Tiberius wegen der Trauer- und Festtage den gewöhnlichen Arbeits‐ dienst hatte unterbrechen lassen. Dadurch kam die Truppe aus der Ordnung und dem Gehorsam; sie fing an, aufsässigen Reden Gehör zu schenken, ein bequemes und müßiges Leben zu wünschen, sich gegen Disziplin und Arbeit aufzulehnen. Es befand sich im Lager ein gewisser Percennius, der früher Chef einer Theaterclaque gewesen war, jetzt gemeiner Soldat; er besaß ein freches Mundwerk und aus seinem früheren Beruf ein gewisses Geschick, Versammlungen zu lenken. Dieser begann die unerfahrenen Leute, die sich über die Lage des Soldatenberufs nach dem Tode des Augustus Sorgen machten, allmählich in nächtlichen Zusammenkünften aufzuhetzen, oder auch gegen Abend, wenn die Verständigeren sich schon verlaufen hatten, die Übelsten um sich zu versammeln. Zuletzt, als sich schon eine Anzahl weiterer Agen‐ ten des Aufstandes gefunden hatten, berief er wie ein Oberkommandierender eine Versammlung und richtete an die Soldaten folgende Fragen: warum sie einer geringen histrionali studio doctus. Is imperitos animos et, quaenam post Augustum mili‐ tiae condicio, ambigentes impellere paulatim nocturnis conloquiis aut flexo in vesperam die et dilapsis melioribus deterrimum quemque congregare. Postremo promptis iam et aliis seditionis ministris, velut contionabundus interrogabat, cur paucis centurionibus, paucioribus tribunis in modum servorum oboedirent. Quando ausuros exposcere remedia, nisi novum et adhuc nutantem principem precibus vel armis adirent? Satis per tot annos ignavia peccatum, quod tricena aut quadragena stipendia senes et plerique truncato ex vulneribus corpore tolerent. Ne dimissis quidem finem esse militiae, sed aput vexillum tendentes alio vocabulo eosdem labores perferre. Ac si quis tot casus vita superaverit, trahi adhuc diversas in terras, ubi per nomen agrorum uligines paludum vel inculta montium accipiant. Enimvero militiam ipsam gravem, infructuosam: denis in diem assibus animam et corpus aestimari: hinc vestem arma tentoria, hinc saevitiam centurionum et vacationes munerum redimi. At Hercule verbera et vulnera, duram hiemem, exercitas aestates, bellum atrox aut sterilem pacem sempiterna. Nec aliud leva‐ mentum, quam si certis sub legibus militia iniretur: ut singulos denarios mererent, sextus decumus stipendii annus finem adferret; ne ultra sub vexillis tenerentur, set isdem in castris praemium pecunia solveretur. An praetorias cohortes, quae binos denarios acceperint, quae post sedecim annos penatibus suis reddantur, plus periculorum suscipere? Non obtrectari a se urbanas excubias; sibi tamen aput horridas gentes e contuberniis hostem aspici. - Adstrepebat vulgus, diversis incitamentis, hi verberum notas, illi canitiem, plurimi detrita tegmina et nudum corpus exprobrantes-… 1 II Fortunata 43 <?page no="44"?> Zahl von Centurionen und einer noch geringeren von Tribunen gehorchten wie Sklaven? wann sie wohl wagen würden, eine Verbesserung ihrer Lage durchzusetzen, wenn sie nicht jetzt auf den neuen und in seiner Stellung noch unsicheren Princeps durch Forderungen und bewaffnete Drohung einen Druck ausüben wollten? Viel zu lange habe man es aus Feigheit geduldet, daß man dreißig oder vierzig Jahre, bis ins Greisenalter, und meist noch mit einem durch Wunden verstümmelten Körper, Dienst machen müsse. Selbst nach der Entlassung sei es mit dem Dienst nicht zu Ende, sondern sie kämen dann zur Reserve und müßten unter einem andern Namen die gleiche Arbeit leisten. Und selbst wenn einer so viel Mühsal überstände, so würde er schließlich in entlegene Länder verschickt, wo man ihm Sümpfe oder unbebautes Bergland als Acker anwiese. Auch der Dienst selbst sei drückend und zu schlecht bezahlt: auf täglich zehn Aß werde Seele und Körper geschätzt; davon habe man noch Kleidung, Waffen, Zelte zu bezahlen, und Bestechungsgelder zu leisten, um sich vor den Schikanen der Centurionen zu schützen und Arbeitsferien zu erlangen. Dabei gebe es in ewigem Wechsel Schläge und Wunden, harte Winter und mühselige Sommer, grausamen Krieg und fruchtlosen Frieden. Und es gebe keine andere Abhilfe als feste Bedingungen für den Militärdienst: der Tagessold müsse einen Denar betragen, die Dienstzeit auf sechzehn Jahre beschränkt werden: sie dürften darüber hinaus nicht mehr bei der Reserve gehalten werden, sondern im Lager selbst sei die Versorgung bar zu zahlen. Ob die praetorianischen Kohorten, denen man zwei Denare Sold zugebilligt habe und die nach sechzehn Jahren vom Dienst freikämen, etwa mehr Gefahren zu bestehen hätten? Es läge ihm natürlich ganz fern, die gewaltige Bedeutung des Postenstehens in Rom verkleinern zu wollen; immerhin lebe er unter wilden Völkern und könne von seinem Quartier den Feind sehen. Die Menge zollte lärmend Beifall; jedem fielen seine Beschwerden ein; dieser wies auf die Spuren von Rutenhieben, jener auf sein graues Haar, die meisten auf ihre zerschlissene Kleidung und ihren nackten Körper-… Es scheint zunächst, als sei in diesem Text eine Bewegung tieferer Schichten mit genauer Darstellung der praktisch-alltäglichen Motive, der wirtschaft‐ lichen Hintergründe und der wirklichen Vorgänge bei ihrem Ausbruch in höchst ernsthafter Weise zum Ausdruck gekommen. Die Klagen der Soldaten, wie sie in Percennius’ Rede auseinandergesetzt werden - zu langer und zu harter Dienst, unzureichender Lohn, schlechte Versorgung für das Alter, Korruption, Neid auf die besser gestellten hauptstädtischen Truppen - werden mit einer Lebhaftigkeit und Plastik vorgetragen, wie sie selbst bei einem modernen Historiker selten sein dürften - Tacitus ist ein großer Künstler, dem die Dinge unter den Händen eindringlich und lebendig werden. Der gedachte moderne Historiker wäre viel theoretischer (und möglicherweise papierener) vorgegangen; er hätte bei dieser Gelegen‐ heit nicht Percennius sprechen lassen, sondern eine sachlich-objektive, dokumentierte Untersuchung der Besoldungs- und Versorgungsverhältnisse gegeben, beziehungsweise auf eine solche, die anderswo in seinem oder in dem Werk eines Fachgenossen sich findet, verwiesen; er hätte im Anschluß 44 II Fortunata <?page no="45"?> daran die Berechtigung der Forderungen diskutiert, einen Rückblick auf die frühere und einen Ausblick auf die spätere Politik der Regierung auf diesem Gebiet gegeben und so fort. Das alles tut Tacitus nicht, und der heutige Althistoriker ist genötigt, den Stoff, den ihm die antiken Geschichtsschreiber bieten, ganz umzuordnen, ihn durch Inschriften, Bodenfunde und allerhand sonstige mittelbare Zeugnisse zu ergänzen, um seine Betrachtungsweise in Anwendung bringen zu können. Tacitus bringt die Klagen und Forderungen der Soldaten, die ein Licht auf ihre sachlich-alltägliche Lage werfen, nur als Äußerung des Rädelsführers Percennius; er findet es nicht nötig, sie zu diskutieren, zu fragen, ob und wie weit sie berechtigt waren; zu erklären, wie die Lage der römischen Soldaten sich etwa seit der Republik verändert hatte, und ähnliches; das alles scheint ihm nicht behandelnswert, und offenbar konnte er darauf rechnen, daß auch seine Leser etwas der Art nicht vermissen würden. Mehr noch. Er hat die sachlichen Angaben über die Ursachen des Aufstandes, die er als Rede eines Rädelsführers gibt und später nicht mehr diskutiert, schon im voraus entwertet, indem er gleich zu Anfang seinerseits die wahre Ursache des Aufstands in rein moralistischer Weise gibt: nullis novis causis, nisi quod mutatus princeps licentiam turbarum et ex civili bello spem praemiorum ostendebat. Man kann es nicht abschätziger sagen. Seiner Ansicht nach ist das Ganze nur pöbelhafte Anmaßung und Mangel an Disziplin; schuld ist die Unterbrechung des gewohnten Dienstes (sie gehen müßig, darum schreien sie, sagt Pharao von den Juden); man muß sich hüten, aus dem Wort novis etwa eine Anerkennung der Berechtigung alter Klagen herauslesen zu wollen; nichts liegt Tacitus ferner; immer wieder betont er, daß es nur die übelsten Burschen sind, die sich zuerst zur Aufsässigkeit bereit finden; für den Führer Percennius, den gewesenen Theaterclaquenchef mit seinem histrionale studium, der tut, als wäre er General (velut contionabundus), hat er die tiefste Verachtung. Es zeigt sich also, daß Tacitus’ große Lebhaftigkeit im Vortrag der soldatischen Klagen und Forderungen durchaus nicht auf dem Verständ‐ nis für diese Forderungen beruht. Das könnte man natürlich aus seiner besonderen, konservativ-aristokratischen Gesinnung erklären; eine revol‐ tierende Legion ist für ihn nichts als ein gesetzloser Haufen, ein gemeiner Soldat als Rebellenführer entzieht sich überhaupt jeder staatsrechtlichen Einordnung, zumal ja selbst in den revolutionären Zeiten der römischen Geschichte die radikalsten Empörer ihre Ziele nur durch Einordnung in die Beamtenlaufbahn verfolgen konnten; zudem dürfte ihm die wachsende Macht der Truppen, die schon in den Bürgerkriegen bedrohlich geworden II Fortunata 45 <?page no="46"?> war, und die späterhin die ganze Struktur des Staates zerstörte, mit Besorgnis erfüllt haben. Aber diese Erklärung genügt nicht. Denn er hat ja nicht nur kein Verständnis, sondern überhaupt kein sachliches Interesse für die Forderungen; er polemisiert nicht sachlich gegen sie, er nimmt sich gar nicht die Mühe, zu beweisen, sie seien unberechtigt, sondern einige rein moralische Erwägungen (licentia, spes praemiorum, pessimus quisque, inexperti animi) genügen, um sie von vornherein zu entkräften. Hätte es nun zu seiner Zeit andere, gegnerische Gesinnungen gegeben, die die Handlungen der Menschen stärker sozial- und entwicklungsgeschichtlich angesehen hätten, so wäre er genötigt gewesen, auf deren Problemstel‐ lungen einzugehen - so wie in der jüngst vergangenen Epoche unserer Zeit auch der konservativste Politiker genötigt war, auf die politischen Problemstellungen seiner sozialistischen Gegner Rücksicht zu nehmen, sie zumindest polemisch zu behandeln, was oft ein sehr genaues Eingehen auf sie erforderte. Tacitus hat das nicht nötig, denn es konnte solche Gegner nicht geben; eine tiefengeschichtliche, die Entwicklung der sozialen und ebenso auch die der geistigen Bewegungen methodisch behandelnde Forschung gibt es in der Antike nicht. Das ist oft von modernen Forschern beiläufig bemerkt worden; so schreibt Norden in seiner Antiken Kunstprosa (II, 647): «… wir müssen bedenken, daß eine Darstellung der allgemeinen, die Welt bewegenden Ideen von der antiken Geschichtsschreibung überhaupt nie erreicht, ja nicht einmal angestrebt worden ist» - und Rostovtzeff in seinem Werk über Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich (deutsche Ausgabe I, 78): «Die Historiker interessierten sich nicht für das Wirtschaftsleben des Reiches.» Diese beiden, zufällig herausgegriffenen Äußerungen scheinen auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun zu haben, aber was sie aussagen, geht auf dieselbe Eigentümlichkeit der antiken Geschehensanschauung zurück: sie sieht nicht Kräfte, sondern Laster und Tugenden, Erfolge und Irrtümer; ihre Fragestellung ist weder im Geistigen noch im Materiellen entwicklungsgeschichtlich, sondern moralistisch. Dies aber hängt aufs genaueste mit der allgemeinen Anschauung zusammen, die sich in der Stiltrennung zwischen dem Tragisch-Problematischen und dem Realismus offenbart; beides beruht auf einer aristokratischen Scheu vor dem in der Tiefe sich vollziehenden Werden, welches sowohl als niedrig wie als gesetzlos-orgiastisch empfunden wird. Doch müssen wir, durch die Grenzen unseres Themas und unserer Kenntnis beschränkt, uns mit einigen geistes‐ wissenschaftlichen Bemerkungen begnügen, die hier für unsere Absicht wichtig sind. Die moralistische und zudem meist streng chronologische Art 46 II Fortunata <?page no="47"?> der Geschichtsschreibung, die mit unveränderlichen Ordnungskategorien arbeitet, kann synthetisch-dynamische Begriffsbildungen, wie wir sie heute gebrauchen, nicht hervorbringen. Begriffe wie «Industriekapitalismus», oder «Plantagenwirtschaft», welche Synthesen von Sachmerkmalen, aber auch auf bestimmte Epochen besonders anwendbar sind, und andererseits auch solche wie Renaissance, Aufklärung, Romantik, die zunächst Epochen bedeuten, aber doch auch Sachsynthesen und zuweilen auch auf andere als die ursprünglich bezeichnete Epoche anwendbar sind, formen die Er‐ scheinungen in ihrer Bewegung; ihre Merkmale werden in ihrem zuerst vereinzelten, alsdann in immer dichterer Streuung sich zusammenballenden Auftreten, schließlich in ihrem Abebben, Sich-wandeln und Verschwinden verfolgt, und es ist für all diese Begriffsbildungen wesentlich, daß in ihnen ihr Werden und Sich-wandeln, daß also in ihnen eine Entwicklungsvorstel‐ lung schon mitgedacht ist. Dagegen sind die moralistischen oder selbst die politischen Begriffsbildungen (Aristokratie, Demokratie usf.) der Antike festgelegte apriorische Modellvorstellungen, und von Vico bis zu Rostovtzeff sind alle modernen Forscher bemüht, dieselben aufzulösen, auf die prakti‐ sche, für unser Denken faßbare Gestalt zu gelangen, die sich jeweils dahinter verbirgt, und die wir nur durch Aufspüren und Neuordnen der Merkmale zu gewinnen vermögen. Auf der Seite des Rostovtzeffschen Werkes, die ich zur Kontrolle des obigen Zitats aufgeschlagen habe, lautet der erste Satz: «Indes‐ sen erhebt sich die Frage, wie wir das Vorhandensein einer verhältnismäßig großen Zahl von Proletariern in Italien zu erklären haben.» Ein solcher Satz, eine solche Fragestellung, wäre bei einem antiken Autor unvorstellbar. Sie greift hinter die Bewegungen des Vordergrundes und sucht die für sie wichtigen Veränderungen in entwicklungsgeschichtlichen Vorgängen, die kein antiker Autor bemerkt oder gar in einen systematischen Zusam‐ menhang gebracht hat. Schlagen wir dagegen Thukydides auf, so finden wir, neben dem fortlaufenden Bericht über die Vordergrundsereignisse, nur Erwägungen statisch-apriorisch-moralistischen Inhalts, etwa über den menschlichen Charakter, oder das Schicksal, welche zwar jeweils auf eine bestimmte Lage angewandt werden, aber doch in sich absolut gelten. Kehren wir zu unserem Tacitustext zurück. Wenn er sich für die Forde‐ rungen der Soldaten überhaupt nicht interessierte und gar nicht die Absicht hatte, sich sachlich mit ihnen auseinanderzusetzen, warum bringt er sie in der Rede von Percennius so lebendig zum Ausdruck? Das hat rein ästhetische Gründe. Zum Stil der großen Geschichtsschreibung gehören die großen Reden, die meist fingiert sind; sie dienen der anschaulichen II Fortunata 47 <?page no="48"?> Dramatisierung (illustratio) des Vorgangs, zuweilen auch der Darlegung großer politischer und moralischer Gedanken: in jedem Fall sollen sie die rhetorischen Glanzstücke der Darstellung sein. Ein Sicheinfühlen in die Gedanken des als redend Vorgestellten, auch ein gewisser Realismus ist ihnen gestattet, doch im Wesen sind sie Erzeugnisse einer bestimmten Stiltradition, die auf den Rhetorenschulen gepflegt wurde; Reden zu ver‐ fassen, die dieser oder jener bei dieser oder jener großen historischen Gelegenheit gehalten habe, war eine beliebte Übung. Tacitus ist ein Meister, und seine Reden sind nicht bloßer Prunk, sondern wirklich erfüllt von dem Charakter und der Lage des Menschen, der als redend fingiert wird; aber auch sie sind vor allem Rhetorik. Percennius redet nicht seine eigene Sprache, sondern taciteisch, das heißt aufs äußerste zusammengedrängt, vorzüglich disponiert und hochpathetisch. Ohne Zweifel zittert in seinen Worten, die übrigens indirekt gefaßt sind, die wirkliche Erregung der rebellischen Soldaten und ihres Führers; allein selbst wenn wir annehmen, daß Percennius ein begabter Volksredner war, so kurz, scharf, geordnet geht es in keiner revolutionären Propagandarede zu, und von Soldatenslang ist nichts zu spüren (einen populären Spitznamen, Cedo alteram, erwähnt Tacitus im Kap. 23). Das gleiche gilt von den Worten des Soldaten Vibulenus in Kap. 22, die schon im nächsten Kapitel als Lüge entwertet werden; sie sind überaus ergreifend, aber doch im allerhöchsten Maße rhetorisch stilisiert; mag auch, wie J. B. Hofmann in seinem Buch über die lateinische Umgangssprache (Heidelberg 1926, §-63) bemerkt, die hier viel verwendete Anapher (quis fratri meo vitam, quis fratrem mihi reddit) volkstümlich viel gebraucht worden sein, so handelt es sich doch auch hier um eine rhetorische Bewegung des hohen Stils und nicht um Soldatensprache. Und dies ist das zweite unterscheidende Merkmal der antiken Geschichtsschreibung: sie ist rhetorisch. Moralismus und Rhetorik verleihen ihr einen hohen Grad von Ordnung, von Klarheit und von dramatischer Wirksamkeit; bei den Römern kommt dazu der große, einheitlich gefaßte Überblick über einen weiten Schauplatz, auf welchem sich die politischen und militärischen Vorgänge abspielen; zu diesen Eigenschaften gesellt sich, bei den großen Autoren, eine realistische, auf Erfahrung beruhende, nüchterne und doch nie kleinliche Kenntnis des menschlichen Herzens; zuweilen finden sich sogar Ansätze zu einer personengeschichtlichen Erklärung der Charaktere, wie in der Charakteristik Catilinas durch Sallust, und vor allem in der des Tiberius bei Tacitus. Aber hier ist die Grenze. Moralismus und Rhetorik sind unvereinbar mit der Erfassung der Wirklichkeit als Entwicklung von 48 II Fortunata <?page no="49"?> Kräften; die antike Historiographie gibt uns weder Volksgeschichte noch Wirtschaftsgeschichte noch Geistesgeschichte, und nur mittelbar lassen sich diese aus den überlieferten Tatsachen gewinnen. Und so ungeheuer verschieden die beiden hier betrachteten Texte, die Rede des Tischnachbarn bei Petronius und der pannonische Soldatenaufstand bei Tacitus, auch sind, sie offenbaren beide die Grenzen des antiken Realismus und damit auch die des antiken Geschichtsbewußtseins. Man wird nun vermuten, daß ich, um ein Gegenbeispiel zu finden, in welchem diese Grenzen weiter gesteckt sind, zu einem modernen Text greifen müßte. Allein auch hier stehen mir die mit Petronius und Tacitus annähernd zeitgenössischen Texte der jüdisch-christlichen Literatur zur Verfügung. Ich wähle die Geschichte von der Verleugnung des Petrus, und zwar folge ich der Fassung bei Marcus; die Unterschiede bei den Synoptikern sind übrigens nur unbedeutend. Petrus ist nach der Verhaftung Jesu - man hat nur diesen verhaftet und seine Umgebung flüchten lassen - in weitem Abstand den Jesus fortführenden Bewaffneten nachgefolgt und hat sich bis in den Hof des hohepriesterlichen Palastes gewagt, wo er, als wäre er ein unbeteiligter Neugieriger, mit den Knechten am Feuer steht. Damit hat er mehr Mut gezeigt als die übrigen; denn da er zur nächsten Umgebung des Verhafteten gehörte, war die Gefahr, daß man ihn erkannte, sehr groß; und tatsächlich, wie er am Feuer steht, sagt ihm eine Magd auf den Kopf zu, er habe zu der Gruppe Jesu gehört. Er leugnet und versucht unauffällig aus dem Bereich des Feuers zu verschwinden; wahrscheinlich aber hat die Magd dies beobachtet, sie folgt ihm in den Vorhof und wiederholt ihre Beschuldigung, so daß die Umstehenden es hören; er leugnet abermals, doch nun ist man auch auf seinen galiläischen Dialekt aufmerksam geworden, und die Lage beginnt für ihn überaus gefährlich zu werden. Wie er aus ihr entrann, ist nicht erzählt; es ist nicht wahrscheinlich, daß man seiner dritten Beteuerung mehr Glauben schenkte als den früheren; vielleicht wurde die Aufmerksamkeit der Umgebung durch irgendeinen Umstand abgelenkt; vielleicht auch bestand der Befehl, die Anhänger des Verhafteten, soweit sie keinen Widerstand leisteten, unbeachtet zu lassen, so daß man sich mit der Vertreibung des Verdächtigen begnügte. Auf den ersten Blick erkennt man, daß von der Stiltrennungsregel keine Rede sein kann. Die nach Schauplatz und handelnden Personen - man beachte insbesondere ihren niedrigen sozialen Rang - durchaus realistische Szene ist von tiefster Problematik und Tragik. Petrus ist nicht eine nur II Fortunata 49 <?page no="50"?> zur «illustratio» dienende Staffagefigur wie die Soldaten Vibulenus und Percennius, die als bloße Lumpen und Schwindler hingestellt werden, son‐ dern im höchsten und tiefsten, im tragischsten Sinne ein Bild des Menschen. Selbstverständlich besteht bei dieser Mischung der Stilbezirke durchaus keine Kunstabsicht, aber sie ist im Charakter der jüdisch-christlichen Schrif‐ ten von Anfang an begründet, wurde durch die Inkarnation Gottes in einen Menschen niedrigsten gesellschaftlichen Ranges, seinen Wandel auf Erden zwischen niedrig alltäglichen Menschen und Verhältnissen, und seine nach irdischen Begriffen schmachvolle Passion noch augenfälliger und greller herausgestellt, und hat selbstverständlich, bei der großen Verbreitung und Wirkung, die diese Schriften in der späteren Zeit fanden, die Vorstellung vom Tragischen und Erhabenen aufs entscheidendste beeinflußt. Petrus, auf dessen eigenen Bericht die Erzählung zurückgehen dürfte, war ein Fischer aus Galiläa, einfachster Herkunft und einfachster Bildung; die übrigen Personen des nächtlichen Auftritts im Hof des Hohepriesterhauses sind Mägde und Kriegsknechte. Aus der beliebigen Alltäglichkeit seines Lebens wird Petrus zu der ungeheuersten Rolle aufgerufen; hier ist sein Auftreten, wie überhaupt alles, was mit der Verhaftung Jesu zusammenhängt, im weltgeschichtlichen Zusammenhang des Römischen Reichs noch nicht mehr als ein provinzieller Zwischenfall, ein lokales Ereignis ohne jede Bedeutung, von dem niemand außer den Nächstbeteiligten Notiz nimmt; allein wie gewaltig ist es schon, im Verhältnis zu dem Leben, das ein Fischer vom See Genezareth normalerweise führte, und welch ungeheurer Pendelaus‐ schlag (dieses selbe Wort hat Harnack einmal gebraucht, als er von der Verleugnungsszene sprach) vollzieht sich in ihm! Er hat Heimat und Beruf verlassen, er ist seinem Meister nach Jerusalem gefolgt, er als erster hat ihn als Messias erkannt; als die Katastrophe hereinbrach, ist er mutiger gewesen als die anderen, er hat nicht nur zu denen gehört, die Widerstand zu leisten versuchten, sondern auch noch als das Wunder, das er gewiß erwartete, aus‐ blieb, hat er einen Ansatz dazu gemacht, Jesus auch diesmal nachzufolgen. Allein es ist nur ein Ansatz, ein halbes, furchtsames Nachfolgen, vielleicht veranlaßt von der wirren Hoffnung, das Wunder, durch das der Messias seine Feinde niederschmettern würde, könne sich noch jetzt ereignen. Und da sein Nachfolgen nur ein halbes, schon zweifelndes Unternehmen ist, ängstlich und heimlich, so fällt er tiefer als alle andern, die wenigstens nicht in die Lage kamen, Jesus ausdrücklich zu verleugnen; ihm geschieht, weil er tiefer glaubte, aber doch nicht tief genug, das Ärgste, was einem eben noch begeistert Gläubigen geschehen kann; er zittert um sein armes Leben. Und 50 II Fortunata <?page no="51"?> es ist durchaus glaublich, daß eben aus dieser schrecklichen Selbsterfahrung sich ein neues Ausschlagen des Pendels ergab - diesmal nach der anderen Seite, und noch weit stärker: aus der Verzweiflung und der Reue über sein verzweifeltes Versagen entstand die Bereitschaft für die Visionen, die zur Konstituierung des Christentums entscheidend beitrugen; erst aus dieser Erfahrung eröffnet sich Petrus der Sinn des Erscheinens und der Passion Christi. Eine tragische Figur solcher Herkunft, ein Held von solcher Schwäche, der aber eben aus seiner Schwäche die höchste Kraft gewinnt, ein solches Hin- und Herschlagen des Pendels ist unvereinbar mit dem erhabenen Stil der klassisch-antiken Literatur. Aber auch Art und Schauplatz des Konflikts stehen völlig außerhalb des Rahmens der klassischen Antike. Es handelt sich, äußerlich gesehen, um eine Polizeiaktion und ihre Folgen - sie spielt sich ganz und gar zwischen alltäglichen Personen aus dem Volk ab - etwas der Art ließ sich antik höchstens als Posse oder Komödie denken. Warum aber ist es dies nicht, warum erregt es die ernsteste und bedeutendste Teilnahme? Weil es etwas darstellt, was weder die antike Dichtung noch die antike Geschichtsschreibung je dargestellt hat: die Entstehung einer geistigen Bewegung in der Tiefe des alltäglichen Volkes, mitten aus dem zeitgenössischen alltäglichen Geschehen heraus, das damit eine Bedeutung gewinnt, die ihm innerhalb der antiken Literatur niemals zukam. Es erwacht vor unseren Augen «ein neues Herz und ein neuer Geist». Was hier gesagt wird, bezieht sich nicht nur auf die Verleugnung des Petrus, sondern auf alle Vorgänge, die in den Schriften des Neuen Testaments erzählt werden; es handelt sich in ihnen immer um dieselbe Frage, immer um denselben Konflikt, der ja grundsätzlich an jeden Menschen herantritt, und somit ein offener und unendlicher ist - die Welt der Menschen im ganzen gerät durch ihn in Bewegung; indes die Verstrickungen durch Schicksal und Leidenschaft, die die griechisch-römische Antike kennt, unmittelbar immer nur den Einzelnen, den Betroffenen angehen; nur aus dem allgemeinsten Bezug, nämlich weil auch wir Menschen sind, also dem Schicksal und den Leidenschaften unterworfen, empfinden wir «Furcht und Mitleid». Petrus aber und die anderen Personen aus den neutestamentlichen Schriften stehen mitten in einer allgemeinen Bewegung der Tiefe, die vorläufig noch fast ganz auf diese beschränkt ist, und erst ganz allmählich (in der Apostelgeschichte zeigen sich schon die Anfänge davon) in den geschichtlichen Vordergrund dringt - die aber schon jetzt, gleich von Anfang an, eine offene, unmittelbar jedermann betreffende zu sein beansprucht, und die alle nur persönlichen II Fortunata 51 <?page no="52"?> Konflikte in sich aufsaugt. Es erscheint hier eine Welt, die einerseits durchaus wirklich, alltäglich, nach Ort, Zeit, Umständen erkennbar ist; andererseits in ihren Grundfesten bewegt, vor unseren Augen sich wandelnd und erneuernd. Dies mitten im Alltäglichen sich abspielende Zeitgeschehen ist für die Verfasser der neutestamentlichen Schriften revolutionäres Welt‐ geschehen und wird es späterhin auch für jedermann. Es wird als Bewegung, als geschichtlich wirkende Kraft daran deutlich, daß immer wieder an beliebigen Personen die Wirkung von Jesu Lehre, Person und Schicksal beschrieben wird. Während noch nicht ganz faßbar und ausdrückbar ist, auf was die Bewegung eigentlich zielt (ist sie doch ihrem Wesen nach nicht leicht begrenzbar und erklärbar), wird an zahlreichen Beispielen schon ihr treibendes Wirken, ihr Hin- und Herfluten im Volk geschildert, was rein als Gegenstand so ausführlich zu behandeln einem griechischen oder römi‐ schen Schriftsteller nie in den Sinn gekommen wäre. Ein solcher beschreibt eine Volksbewegung nur als Verhalten zu einem bestimmten praktischen Ereigniszusammenhang, wie etwa Thukydides das der Athener zu dem Plan einer Expedition nach Sizilien; es wird dabei im ganzen als billigend, ablehnend, schwankend, etwa auch als tumultuarisch bezeichnet, so wie es der Beschauer gleichsam von oben sieht, aber nie könnte es vorkommen, daß Reaktionen so mannigfacher Art und bei so vielen Personen aus dem Volk zu einem Hauptgegenstand der Darstellung werden. Dasjenige, was die Evangelien und die Apostelgeschichte auf weiten Strecken ihres Inhalts beschreiben, was sich sehr oft auch in den Paulusbriefen spiegelt, ist ganz unverkennbar das Entstehen einer Tiefenbewegung, das Sichentfalten ge‐ schichtlicher Kräfte. Daß dabei beliebige Personen in großer Zahl auftreten, ist sehr wesentlich; denn nur an vielen beliebigen Personen können solche geschichtlichen Kräfte in ihrer hin- und herflutenden Wirksamkeit lebendig gemacht werden; als beliebig werden dabei solche Personen bezeichnet, die, aus allen möglichen Ständen, Berufen und Lebenslagen stammend, ihren Platz in der Darstellung nur dem Umstand verdanken, daß sie gleichsam zufällig von der geschichtlichen Bewegung getroffen werden und nun genötigt sind, sich in irgendeiner Weise dazu zu verhalten. Dabei fällt die antike Stilkonvention von selbst fort, denn das Verhalten der jeweils betroffenen Person kann unmöglich anders dargestellt werden als mit dem höchsten Ernst; der beliebige Fischer oder Zöllner oder reiche Jüngling, die beliebige Samariterin oder Ehebrecherin wird aus ihrer alltäglich-beliebigen Lebenslage unmittelbar vor die Erscheinung Jesu gestellt, und wie sich die Person in diesem Augenblick verhält, ist notwendig tiefer Ernst und 52 II Fortunata <?page no="53"?> sehr oft tragisch. Die antike Stilregel, in der das realistisch Nachahmende, die Beschreibung der beliebigen Alltäglichkeit nicht anders als komisch (oder allenfalls idyllisch) sein konnte, ist also unvereinbar mit der Darstel‐ lung geschichtlicher Kräfte, sobald diese versucht, die Dinge konkret zu gestalten; denn dann ist sie gezwungen, in die alltäglich-beliebigen Tiefen des Volkslebens hineinzusteigen, und muß das, was sie dort vorfindet, ernst nehmen - und umgekehrt kann die Stilregel nur da bestehen, wo man auf das Konkretmachen geschichtlicher Kräfte verzichtet, oder gar nicht das Bedürfnis danach empfindet. Das Bewußtmachen geschichtlicher Kräfte in den evangelischen Schriften ist freilich, wie sich von selbst versteht, durchaus «unwissenschaftlich»; es verharrt im Konkreten und geht nicht dazu über, die Erfahrungen systematisch in Begriffsbildungen zu ordnen; aber es bilden sich doch schon ganz spontan Ordnungsbegriffe sowohl für Epochen wie für innere Zustände, die weit bewegter, in sich dynamischer sind als die Kategorien der griechisch-römischen Geschichts‐ schreibung; so zum Beispiel die Einteilung der Zeiten; in die des Gesetzes oder der Sünde, und die der Gnade, des Glaubens und der Gerechtigkeit; die Begriffe «Liebe», «Kraft», «Geist» und ähnliche; und es ist sogar in die abstrakten und statischen Begriffe, wie etwa den der Wahrheit oder den der Gerechtigkeit, eine dialektische Bewegung gekommen ( Joh. 14,6; Röm. 3,21ff.), die sie völlig erneuert; damit hängt zusammen alles das, was von der inneren Erneuerung und Wandlung handelt, wobei die Worte Sünde, Tod, Gerechtigkeit und so fort nicht mehr bloß Handlung, Ereignis, Eigenschaft ausdrücken, sondern Stadien einer innergeschichtlichen Wandlung. Freilich darf man dabei nicht vergessen, daß der Weg dieser Wandlung aus der Geschichte heraus, in die Endzeit oder die Jederzeitlichkeit führt, also nach oben, und nicht, wie die entwicklungsgeschichtlichen Begriffsbildungen der Wissenschaft, im Horizontal-Geschichtlichen verbleibt; das ist ein ent‐ scheidender Unterschied; und doch, welcher Art die Bewegung auch sei, die die evangelischen Schriften in die Geschehensbetrachtung eingeführt haben, das Wesentliche ist doch dieses: daß überhaupt die bei den antiken Betrachtern ruhenden Tiefenschichten in Bewegung gerieten. In dieser Betrachtungsweise können weder Moralismus noch Rhetorik im klassischen Sinne einen Platz finden. Ein Vorgang wie die Verleugnung des Petrus entzieht sich schon durch den gewaltigen Pendelausschlag im Herzen desselben Menschen einer mit ruhenden Kategorien arbeitenden Beurteilung, und für eine Gesinnung, die die Rechtfertigung nicht in den Werken, sondern im Glauben sucht, hat die Moralistik ihre führende Stellung II Fortunata 53 <?page no="54"?> verloren. Und es steht mit der Rhetorik ebenso. Selbstverständlich sind die neutestamentlichen Schriften im höchsten Grade wirksam geschrieben; die Tradition der Propheten und der Psalmen wirkt in ihnen, und bei einigen, die von mehr oder weniger hellenistisch gebildeten Verfassern stammen, läßt sich auch die Verwendung griechischer Redefiguren nachweisen. Aber der Geist der Rhetorik, der die Gegenstände nach Arten, genera, einteilte und jedem Gegenstand seine Stilform gleichsam als das ihm seinem Wesen nach zukommende Gewand überwarf, konnte schon deshalb sie nicht be‐ herrschen, weil sich der Gegenstand in keine der bekannten Arten einordnen ließ. Eine Szene wie die Verleugnung des Petrus paßt in kein antikes genus; zu ernst für die Komödie, zu alltäglich-zeitgenössisch für die Tragödie, po‐ litisch viel zu unbedeutend für die Geschichtsschreibung - und sie hat eine Form von Unmittelbarkeit bekommen, die es in der antiken Literatur nicht gibt. Das möge man an einem Symptom ermessen, das vielleicht auf den ersten Blick unbedeutend scheint: an der Verwendung der direkten Rede. Die Magd sagt: Du warst ja auch einer von denen um Jesus von Nazareth! Er ant‐ wortet: Ich weiß von nichts und verstehe nicht, was du meinst. Dann sagt die Magd es zu den Umstehenden: das ist auch einer von der Gesellschaft. Und auf sein erneutes Leugnen mischen sich die Umstehenden ein: ja natürlich bist du einer von denen; du sprichst ja ganz galiläisch! - Ich glaube nicht, daß es in einem antiken Historiker eine Stelle gibt, wo die direkte Rede in dieser Art zu einem kurzen, direkten Zwiegespräch verwendet würde. Gespräche zwischen wenigen sind dort überhaupt selten, allenfalls erscheinen sie in der biographisch-anekdotischen Geschichtsschreibung, und da handelt es sich fast immer um berühmte pointierte Antworten, deren Wert nicht im Realistisch-Konkreten, sondern im Rhetorisch-Moralischen liegt, was man später, in der italienischen Novellistik des 13. Jahrhunderts, ein bel parlare nannte: wie dies etwa in den berühmten Anekdoten von Krösus und Solon der Fall ist. Im allgemeinen aber beschränkt sich die direkte Rede bei den antiken Geschichtsschreibern auf große zusammenhängende Ansprachen, die einer im Senat, an das Volk, an die Soldaten richtet - man erinnere sich an das oben über die Rede des Percennius Gesagte. Hier aber ist das Dramati‐ sche des Augenblicks, wo man sich Auge in Auge gegenübersteht, mit einer Unmittelbarkeit herausgekommen, neben der sich selbst das Zwiegespräch der antiken Tragödie (Stichomythie! ) sehr stilisiert ausnimmt - Komödie, Satire und Verwandtes darf man zum Vergleich nicht heranziehen, und selbst dort wird man wohl suchen müssen, um etwas ähnlich Unmittelbares zu finden. Aber in den Evangelien findet man manches Zwiegespräch Auge 54 II Fortunata <?page no="55"?> in Auge. Ich hoffe, daß dies Symptom, die Verwendung der direkten Rede zu lebendigem Gespräch, das Verhältnis der evangelischen Schriften zur antiken Rhetorik für unseren Zweck ausreichend charakterisiert, so daß ich auf das Problem im ganzen, das sehr oft behandelt worden ist (ich verweise auf das schon erwähnte Buch Nordens über die Antike Kunstprosa), nicht weiter einzugehen brauche. Letzten Endes beruhen die Stilunterschiede zwischen den antiken und den ersten christlichen Schriften darauf, daß sie von einem anderen Blickpunkt und für andere Menschen geschrieben wurden. So verschieden sie auch sonst sind, Petronius und Tacitus haben denselben Blickpunkt, nämlich von oben. Tacitus schreibt aus einer Überschau über die Fülle der Ereignisse und Geschäfte, er ordnet und beurteilt sie als ein Mann höchsten Standes und höchster Bildung: daß er dabei nicht ins Trockene, Unanschauliche verfällt, liegt nicht nur an seinem Genie, sondern an der unvergleichlichen Kultur des Sinnlich-Anschaulichen in der Antike überhaupt - aber die Welt von seinesgleichen, für die er schrieb, verlangte das Sinnlich-Anschauliche in den Grenzen des durch lange Tradition festgelegten Geschmacks - wobei sich übrigens bei ihm schon Anzeichen einer Wandlung dieses Geschmacks finden, in der Richtung einer Herausarbeitung des düster Grausigen, worauf wir noch zurückzukommen haben. Auch Petronius sieht die Welt, die er malt, von oben: sein Buch ist ein Erzeugnis höchster Kultur, und er erwartet Leser, die auf einer solchen Höhe gesellschaftlicher und literarischer Bildung stehen, daß ihnen alle Nuancen der gesellschaftlichen Verstöße, der sprachlichen und geschmacklichen Niedrigkeit sofort und selbstverständlich einleuchten. So gemein und so grotesk der Gegenstand ist, die Darstellung hat doch nichts von der groben Komik der Volksposse; Szenen, wie die Rede des Tischnachbars oder der Streit zwischen Trimalchio und Fortunata zeigen zwar niedrigstes und gemeinstes Denken, doch mit einem solchen Raffinement sich kreuzender Motive, mit so viel soziologi‐ schen und psychologischen Voraussetzungen, wie es kein Volkspublikum ertrüge. Und der niedere Stil der Sprache ist nicht etwa für das Lachen einer großen Menge bestimmt, sondern eine elegante Würze für den Ge‐ schmack einer die Dinge gelassen und genießend von oben betrachtenden gesellschaftlich-literarischen Elite; zu vergleichen etwa mit dem Geschwätz des Hotelmanagers Aimé und ähnlicher Personen in Prousts Roman von der verlorenen Zeit, obzwar solche Vergleiche mit modernen realistischen Wer‐ ken nie ganz stimmen, weil in diesen doch weit mehr ernsthafte Problematik enthalten ist. Also auch Petronius schreibt von oben, und für die Schicht II Fortunata 55 <?page no="56"?> der Hochgebildeten - eine Schicht, die freilich in der ersten Kaiserzeit recht breit gewesen sein mag, die aber später zusammenschmolz. Hingegen ist die Erzählung von der Verleugnung Petri und überhaupt fast das ganze neutestamentliche Werk mitten aus den werdenden Dingen heraus und unmittelbar für jedermann geschrieben; es gibt hier weder rational ordnende Überschau noch Kunstabsicht. Das Sinnlich-Anschauliche, welches hier erscheint, ist nicht bewußte Nachahmung, ist deshalb auch selten vollstän‐ dig ausgeführt; es erscheint, weil es an den zu berichtenden Ereignissen haftet, sich in den Gesten und Worten der innerlich bewegten Menschen offenbart, ohne daß die geringste Mühe an die Aufgabe seiner Ausformung verwendet würde. Selbst der so absichtlich gedrängt zusammenfassende Tacitus beschreibt Menschen äußerlich und innerlich, er malt Situationen aus - dem Verfasser des Markusevangeliums fehlt jeder Blickpunkt für eine sachliche, objektive Darstellung etwa des Charakters Petri. Er steckt mitten drin im bedeutenden Ereignis, nur das im Zusammenhang mit dem Erscheinen und Wirken Christi Bedeutende beachtet und verkündet er, so daß er im vorliegenden Fall nicht einmal daran denkt, uns mitzuteilen, wie die Sache auslief, das heißt, wie Petrus davonkam. Tacitus und Petronius wollen uns, der eine geschichtliche Vorgänge, der andere eine bestimmte Gesellschaftsschicht sinnlich anschaulich machen, und zwar in den Grenzen einer bestimmten ästhetischen Tradition; der Verfasser des Markusevan‐ geliums hat weder diese Absicht, noch kennt er eine solche Tradition, und gleichsam ohne sein Zutun, rein aus der inneren Bewegung des von ihm Berichteten, wird dies Berichtete zur Anschauung. Und der Bericht wendet sich an jedermann; jedermann ist aufgefordert, ja genötigt, sich für oder gegen den Bericht zu entscheiden; schon die bloße Nichtbeachtung ist eine Stellungnahme. Zwar standen seiner Wirksamkeit zunächst noch praktische Hindernisse entgegen; zunächst eignete sich die Verkündigung, nach ihrer sprachlichen Form und nach ihren besonderen Glaubens- und Lebensvoraussetzungen, nur für Juden. Doch die Ablehnung, die sie bei den führenden Kreisen in Jerusalem und bei der Mehrzahl des Volkes erfuhr, trieb die Bewegung in das gewaltige Unternehmen der Heidenmission, die bezeichnenderweise von einem Diasporajuden, dem Apostel Paulus, begon‐ nen wurde. Dadurch aber wurde eine Anpassung der Verkündigung an die Voraussetzungen eines viel weiteren Kreises von Adressaten, eine Loslösung von den besonderen Voraussetzungen des Judentums erforderlich, und sie geschah mit der schon durch die jüdische Tradition gegebenen, diesmal aber unvergleichlich kühner angewandten Methode der umdeutenden In‐ 56 II Fortunata <?page no="57"?> terpretation; das Alte Testament wurde als Volksgeschichte und Gesetz der Juden entwertet, und verwandelte sich in eine Reihe von «Figuren», das heißt Vorverkündigungen und Vorandeutungen des Erscheinens Jesu und der damit zusammenhängenden Ereignisse. Wir haben hiervon schon in unserem ersten Kapitel kurz gesprochen. Der gesamte Inhalt der heiligen Schriften wurde in einen Deutungszusammenhang gestellt, der oft das erzählte Geschehen sehr weit von seiner sinnlichen Grundlage entfernte, indem der Leser oder Hörer genötigt wurde, seine Aufmerksamkeit von dem sinnlichen Vorgang ab- und der Bedeutung zuzuwenden. Es war also die Gefahr gegeben, daß die Anschaulichkeit der Vorgänge unter dem dichten Netz der Bedeutungen erstarrte und erstarb. Hierzu ein Beispiel für viele. Es ist ein sinnlich anschaulicher Vorgang, wenn Gott aus der Rippe des schlafenden Adam das erste Weib, Eva, schuf; ebenso auch, wenn ein Soldat dem toten Jesus am Kreuz die Lanze in die Seite stieß, so daß Blut und Wasser herausfloß. Wenn man aber diese beiden Vorgänge deutend in Beziehung miteinander bringt, indem man lehrt: der Schlaf Adams ist eine Figur des Todesschlafs Christi; so wie aus der Seitenwunde Adams die Urmutter der Menschen nach dem Fleisch, Eva, geboren wurde, so aus Christi Seitenwunde die Mutter der Lebenden nach dem Geist, die Kirche - Blut und Wasser sind Sakramentssymbole -, so verflüchtigt sich der sinnliche Vorgang, überwältigt von der figuralen Bedeutung; was der Hörer oder Leser, und sogar in der bildenden Kunst der Beschauer, in sich aufnimmt, ist als sinnlicher Eindruck nur schwach, und all sein Interesse wird auf den Bedeutungszusammenhang gelenkt. Demgegenüber sind die griechisch-römischen realistischen Darstellungen zwar nicht so ernsthaft und problematisch, und weit begrenzter in ihrer Auffassung geschichtlicher Bewegung; aber sie sind gesichert in ihrem sinnlichen Bestande; sie kennen den Kampf zwischen sinnlicher Erscheinung und Bedeutung nicht, der die frühchristliche, ja überhaupt die christliche Wirklichkeitsansicht erfüllt. II Fortunata 57 <?page no="59"?> III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres A MMIANU S Marcellinus, ein hoher Offizier und Geschichtsschreiber des vierten nachchristlichen Jahrhunderts, der in den uns erhaltenen Teilen seines Werkes die Ereignisse zwischen 350 und 380 berichtet, erzählt im 7. Kapitel des 15. Buches einen Tumult des Pöbels in Rom. Der Text lautet: Dum has exitiorum communium clades suscitat turba feralis, urbem aeternam Leontius regens, multa spectati judicis documenta praebebat, in audiendo celer, in disceptando justissimus, natura benevolus, licet autoritatis causa servandae acer quibusdam videbatur, et inclinatior ad amandum. Prima igitur causa seditionis in eum concitandae vilissima fuit et levis. Philocomum enim aurigam rapi praeceptum, secuta plebs omnis velut defensura proprium pignus, terribili impetu praefectum incessebat ut timidum: sed ille stabilis et erectus immissis adparito‐ ribus, correptos aliquot vexatosque tormentis, nec strepente ullo nec obsistente, insulari poena multavit. Diebusque paucis secutis, cum itidem plebs excita calore quo consuevit, vini causando inopiam, ad Septemzodium convenisset, celebrem locum, ubi operis ambitiosi Nymphaeum Marcus condidit imperator, illuc de industria pergens praefectus, ab omni toga adparitioneque rogabatur enixius ne in multitudinem se arrogantem immitteret et minacem, ex commotione pristina saevientem: difficilisque ad pavorem recte tetendit, adeo ut eum obsequentium pars desereret, licet in periculum festinantem abruptum. Insidens itaque vehi‐ culo, cum speciosa fiducia contuebatur acribus oculis tumultuantium undique cuneorum veluti serpentium vultus: perpessusque multa dici probrosa, agnitum quemdam inter alios eminentem, vasti corporis rutilique capilli, interrogavit an ipse esset Petrus Valvomeres, ut audierat, cognomento; eumque, cum esse sono respondisset objurgatorio, ut seditiosorum antesignanum olim sibi compertum, reclamantibus multis, post terga manibus vinctis suspendi praecepit. Quo viso sublimi tribuliumque adjumentum nequicquam implorante, vulgus omne paulo ante confertum per varia urbis membra diffusum ita evanuit, ut turbarum acerrimus concitor tamquam in judiciali secreto exaratis lateribus ad Picenum ejiceretur; ubi postea ausus eripere virginis non obscurae pudorem, Patruini consularis sententia supplicio est capitali addictus. Ich will eine Übersetzung geben, die den seltsam barocken Stil des Originals nachzuahmen versucht: <?page no="60"?> «Indes die Schar der Aasgeier diese Katastrophen allgemeinen Verderbens her‐ aufbeschwört, zeigte Leontius, Gouverneur der Ewigen Stadt, viele Eigenschaften eines bewährten Richters, im Verhör schnell, im Urteil sehr gerecht, von Natur wohlwollend, schien er gleich manchen scharf in der Wahrung seiner Autorität, und allzu geneigt zu sinnlicher Liebe. Die erste Ursache zu einem gegen ihn ausbrechenden Aufruhr war nun sehr unbedeutend und albern. Dem Philocomus nämlich, einem auf seinen Befehl verhafteten Wettfahrer, folgte der ganze Pöbel, als gelte es, den teuersten Schatz zu verteidigen und drang mit wildem Tumult auf den Präfekten, um ihn einzuschüchtern; doch er, unerschüttert und hochge‐ reckt, befahl der Polizei einzugreifen, ließ einige verhaften und auspeitschen, und bestrafte sie, indes niemand zu murren noch zu widerstehen wagte, mit Deportation. Als wenige Tage darauf der Pöbel, aufs neue zu gewohnter Hitze erregt, die Weinknappheit zum Anlaß nehmend, beim Septemzodium zusammen‐ strömte, einem belebten Platz, wo der Kaiser Marcus das prunkvolle Bauwerk des Nymphaeums errichtet hatte; da wurde der Präfekt, sogleich gerade dahin aufbrechend, von dem gesamten Beamten- und Offizierspersonal inständigst gebeten, er möge sich nicht in die freche Menge hineinwagen, die drohende, noch vom letzten Tumult her wütende; nicht leicht zur Furcht zu bewegen, ging er geradezu seinen Weg, so daß ein Teil des Gefolges ihn im Stich ließ, obgleich er sich in dringende Gefahr stürzte. Auf seinem Wagen nun sitzend, betrachtete er mit imponierender Sicherheit, funkelnden Auges die schlangengleichen Blicke der von allen Seiten tobenden Haufen; viele Schimpfreden hörte er ruhig an; dann fragte er einen, den er erkannte, der mit mächtigem Wuchs und rotem Haar über die anderen hervorragte, ob er nicht Petrus sei, mit Beinamen Valvomeres, wie er gehört hatte: und als jener unverschämten Tones antwortete, er sei es, befahl er ihn als einen ihm längst bekannten Rädelsführer der Aufständischen, während viele laut schreiend protestierten, mit auf den Rücken gebundenen Händen zur Prügelstrafe hochzuhängen. Als man ihn sah, hochgehoben, vergeblich die Hilfe der Spießgesellen erflehend, da verzog sich die eben noch dichtgedrängte Menge durch die verschiedenen Adern der Stadt, in dem Grade, daß dem wildesten Aufwiegler der Massen wie in einem geschlossenen Vollzugsraum die Flanken aufgepflügt wurden, worauf man ihn ins Picenische Gebiet verbrachte; dort wurde er später, da er einer nicht geringem Hause entstammenden Jungfrau die Scham zu rauben gewagt hatte, nach dem Urteil des Konsulars Patruinus hingerichtet.» Manches von dem, was wir im vorhergehenden Kapitel über die taciteische Beschreibung des Soldatenaufstands sagten, gilt auch von diesem Stück; 60 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="61"?> es zeigt sich sogar hier viel krasser. Noch weit weniger als Tacitus denkt Ammian daran, die Ursachen des Aufstands und die Lage der römischen Bevölkerung ernsthaft und sachlich-problematisch darzustellen. Dumme Unverschämtheit ist es allein, so scheint ihm, die den römischen Pöbel zu Unruhen treibt. Selbst wenn er damit recht hat - und das ist sehr wohl möglich, da diese seit Jahrhunderten von allen Regierungen verdorbene und zum Nichtstun erzogene großstädtische Masse in der Tat nicht viel getaugt haben kann - so hätte doch ein moderner Historiker die Frage, wie es denn zu einem solchen Zustand der Pöbelverderbnis gekommen sei, als Problem erörtert oder doch wenigstens gestreift. Aber das interessiert Ammian überhaupt nicht, und er geht in dieser Haltung weit über Tacitus hinaus. Für diesen besteht doch immerhin ein rationales, verständliches Gebilde von Forderungen, die die Soldaten vorbringen, und zu denen die Befehlshaber und Behörden Stellung nehmen; es wird darüber verhandelt, und es besteht ein sachliches, ja sogar ein menschliches Verhältnis zwischen beiden Parteien; man sieht das etwa an der Ansprache des Blaesus am Ende des 18. Kapitels oder der Szene bei der Abreise Agrippinas im Kapitel 41. So unbeständig und abergläubisch Tacitus die Soldaten auch schildert, es ist keinen Augenblick zweifelhaft, daß es Menschen sind, denen Gesittung und Ehrgefühl nicht fremd ist. In der Szene Ammians hingegen gibt es über‐ haupt keine sachlich-rationale, geschweige eine auf gegenseitiger Achtung beruhende menschliche Beziehung zwischen Behörde und Aufständischen: das Verhältnis ist nur sinnlich, magisch und gewaltsam. Auf der einen Seite eine reine Zusammenballung der Leiber, albern und unverschämt, wie ein Haufen verwahrloster Halbwüchsiger; auf der anderen suggestive Autorität, Unerschrockenheit, Zupacken, Prügel. Und sobald der Pöbel sieht, daß man einen von ihnen so behandelt, wie es alle zu verdienen scheinen, wird er kleinlaut und verschwindet. Ammian gibt ebensowenig wie Tacitus irgendwelche Auskunft über das Leben dieses Volkes - noch weniger, da ja etwas der Rede des Percennius Entsprechendes fehlt; nichts ist hier gegeben, was uns ein inneres Verhältnis erschließen könnte. Er läßt das Volk nicht sprechen (nur einen Spitznamen erwähnt er, Valvomeres, so wie Tacitus Cedo alteram), sondern kleidet das Ganze in den düsteren Prunk seiner Rhetorik, die so unvolksmäßig ist wie möglich. Trotzdem ist der Vorgang so geformt, daß er einen sehr stark sinnlichen Eindruck hinterläßt, ja vielleicht sogar auf manche Leser unangenehm sinnlich wirkt. Ammian hat ihn ganz auf Gesten abgestellt: das Gegeneinander der zusammengeballten Masse und des sie suggestiv beherrschenden Präfekten. Das Sinnlich-Gestenhafte III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 61 <?page no="62"?> wird von Anfang an vorbereitet - durch die Wahl der Worte und Bilder, auf die wir noch zurückkommen - und erreicht seinen Höhepunkt mit der Szene am Septemzodium, dem Gegenüber des mit funkelnden Augen in seinem Wagen sitzenden, einem Tierbändiger vergleichbaren Leontius und der «schlangengleich» anzischenden Masse, die dann so schnell sich verflüchtigt. Ein Tumult, ein Einzelner, der ihn mit den Augen zu zähmen sucht, dann mitten hineingreift - ein paar scharfe Worte, der mächtige, hochgehobene Körper eines Rädelsführers, schließlich Peitschenschläge: dann ist Ruhe, und als Abschluß bekommt man noch eine Vergewaltigung mit nachfolgender Hinrichtung aufgetischt. Ein Vergleich mit Tacitus zeigt, wie viel schwächer sowohl das Mensch‐ liche wie das Sachlich-Rationale geworden ist, und wie viel stärker das Magische und das Sinnliche. Etwas Drückend-Schweres, eine Verfinsterung der Lebensatmosphäre zeigt sich schon seit dem Ende des ersten Jahrhun‐ derts der Kaiserzeit, bei Seneca ist es unverkennbar, und über das Düstere der taciteischen Geschichtsschreibung ist oft gesprochen worden. Hier bei Ammian aber ist es zu einer magischen und sinnlichen Entmenschlichung gekommen; daß die sinnliche Evidenz der Vorgänge von solcher Erstarrung des Menschlichen Nutzen zieht, ist überaus merkwürdig. Vielleicht könnte man beanstanden, daß ich der taciteischen Szene einen Pöbelaufstand, nicht eine Soldatenrevolte gegenübergestellt habe. Allein die wohl einzig dafür in Frage kommende Stelle, die Soldatenerhebung zu Beginn des 20. Buches, die zur Proklamation Julians als Augustus führt, ist mir sehr verdächtig; dort scheint es sich gar nicht um eine spontane Bewegung der Soldaten zu handeln, sondern um eine absichtlich provozierte, die Instinkte der Truppe geschickt ausnützernde Massendemonstration, wie wir sie aus der neuesten Geschichte allzu gut kennen. Eine solche Stelle war für meinen Zweck nicht zu brauchen, und so mußte ich den römischen Volksaufstand wählen. Aber die Merkmale seines Stils, die wir auf den ersten Blick darin gefunden haben, lassen sich überall bei Ammian nachweisen; überall tritt das Empfindend-Menschliche und das Rationale zurück, und überall das magisch und düster Sinnliche, starr Bild- und Gestenhafte hervor. Gewiß ist der taciteische Tiberius düster genug, aber er bewahrt doch noch viel von innerer Menschlichkeit und Würde. Bei Ammian ist allein das Magische, Groteske und dabei Schaurig-Pathetische übrig geblieben, und man erstaunt, welch ein Genie in dieser Richtung ein sachlich tätiger, ernsthafter hoher Offizier entwickelt; wie stark muß die Atmosphäre gewesen sein, wenn sie bei Menschen dieses Ranges und dieser Lebensführung (er hat offenbar 62 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="63"?> einen großen Teil seines Lebens in harten und strapazenreichen Feldzügen zugebracht) solche Talente zur Entfaltung bringt! Man lese etwa die Todes‐ reise des Gallus (14, 11), oder die Fahrt der Leiche Julians (21, 16), oder die Proklamation Prokops zum Kaiser (26, 6): «Wie ein Halbverwester, dem Grabe Entstiegener, stand er da, ohne Mantel (den kaiserlichen hatte man nicht finden können), die Tunika mit Gold bestickt wie ein Palastdiener, von der Scham abwärts bekleidet wie ein Schuljunge …; in der rechten Hand hielt er eine Lanze, in der linken schwenkte er ein Stück Purpurtuch … man hätte glauben können, es sei plötzlich eine Figur aus dem Gemälde eines Theatervorhangs oder eine groteske Komödienrolle leibhaftig gewor‐ den … er versprach in knechtischer Schmeichelei den Drahtziehern seiner Erhebung Riesenreichtümer und Ämter … Als er auf die Rednertribüne gestiegen war, und alle, vor Staunen erstarrt, finster schwiegen, glaubte er, wie er vorher gefürchtet hatte, seine letzte Stunde sei gekommen; er zitterte so, daß er lange nicht sprechen konnte; endlich begann er mit stockender Stimme, wie ein Sterbender einige Worte vorzubringen: daß er, nach seiner Abstammung, auf den Kaiserthron Anspruch habe …» Wieder ist es das Gesten- und Bildhafte, welches hervortritt. Aus Ammians Werk läßt sich eine ganze Sammlung schaurig-grotesker, überaus sinnlich-bild‐ hafter Porträts zusammenstellen: Kaiser Konstantinus, der nie den Kopf wendet, nie sich schnaubt oder ausspeit, tamquam figmentum hominis (16,10 und 21,16); Julian, der große Alamannensieger, mit dem Ziegenbart, der sich immer den Kopf kratzt, seine zu enge Brust herausstreckt, damit sie breiter erscheine, und für seine kleine Gestalt viel zu lange Schritte macht (17, 11 und 21,14); der vergnügt blickende Jovian, dessen Körperumfang so ungeheuerlich ist (vasta proceritate et ardua), daß man Mühe hat, bei seiner unerwarteten Wahl zum Kaiser, während eines Feldzuges, kaiserliche Kleidungsstücke für ihn zu finden, und der sehr bald nach seiner Wahl, mit 33 Jahren, auf unaufgeklärte Weise stirbt (25,10); der finstere, melancholische, immer zu Boden blickende Verschwörer Prokop, der, aus vornehmster Familie stammend, unschuldig verdächtigt, sich lange zwischen der Hefe des Volkes verbirgt, und, wie viele andere Personen Ammians, nur deshalb sich zum Kaiser zu machen versucht, weil er keinen anderen Weg sieht sein Leben zu retten, was ihm freilich auch auf diese Art nicht gelingt (26,6- 9); der Geheimschreiber, spätere kaiserliche Kanzleivorsteher Leo, «ein pannonischer Leichenfledderer und Räuber, ein Blutsäufer, dessen tierisches Maul von Grausamkeit trieft (efflantem ferino rictu crudelitatem)» (28,1); der Wahrsager oder «Mathematiker» Heliodor, ein Berufsdenunziant, der III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 63 <?page no="64"?> ungeheuer Karriere gemacht hat: er ist nun ein Feinschmecker, reichlich mit Geld für seine Dirnen versehen; er trägt seine finstere Miene durch die Stadt spazieren, wo jedermann ihn fürchtet; er besucht eifrig und öffentlich die Freudenhäuser - ist er doch Vorsteher des kaiserlichen Schlafgemachs, cubiculariis officiis praepositus - und verkündet, daß die Verfügungen des geliebten Landesvaters noch vielen zum Verderben gereichen werden; die greuliche Ironie dieser Worte erinnert ein wenig an den «Tiberiolus meus», Tacitus, Ann. 6,5, ist aber noch viel abscheulicher; als Heliodor dann plötzlich stirbt, wird der ganze Hof·genötigt, an seiner feierlichen Beerdigung teilzunehmen, barhaupt, barfuß, und mit gefälteten Händen (29,2); Kaiser Valentinian, ein bedeutender und gut aussehender Fürst, freilich schiefen und finsteren Blickes; in düsterer Laune befiehlt er, einem Reitknecht die rechte Hand abzuschlagen, weil er ihm beim Besteigen eines scheu gewordenen Pferdes ungeschickt geholfen hat (30,9); Kaiser Valens, der Gotenkämpfer, schwarz, mit einem von weißer Haut bedeckten Auge, etwas hervorstehendem Bauch und krummbeinig (31,14). Man könnte diese Liste von Porträts noch lange fortsetzen, sie auch durch Ereignisse und Sittenschilderungen nicht minder grotesk-schauriger Art ergänzen; und der Hintergrund von alldem ist dieser: daß all die Menschen, von denen die Rede ist, ständig zwischen Blutrausch und Todesangst leben. Grotesk und sadistisch, gespenstisch und abergläubisch, machtgierig und dabei unausgesetzt das Zähneklappern verbergend, so sieht die Welt der führenden Schicht bei Ammian aus. Sein seltsamer Humor wäre noch erwähnenswert - man lese etwa die Schilderung der Vornehmen, die aus Hochmut den üblichen Begrüßungskuß verweigern, osculanda capita in modum taurorum minacium obiiquantes (welche Geste! ), adulatoribus offerunt genua suavianda vel manus, id illis sufficere ad beate vivendum existimantes: et abundare omni cultu humanitatis peregrinum putantes, cuius forte etiam gratia sunt obligati, interrogatum quibus thermis utatur aut aquis, aut ad quam successerit domum (28,4) - oder seine Bemerkung über die Dogmenkämpfe in der christlichen Kirche: Haufen von Geistlichen reisten ständig hin und her zu den sogenannten Synoden, und während jeder versucht, dem anderen seine Deutung des Glaubens aufzuzwingen, errei‐ chen sie nichts als völlige Erschöpfung und Lahmlegung der Verkehrsmittel (21, 16). In diesem Humor ist immer etwas Bitteres, Groteskes, sehr oft etwas Grotesk-Schauriges und Unmenschlich-Krampfiges enthalten. Die Welt Ammians ist finster: Aberglaube, Blutrausch, Übermüdung, Todesangst, grimmige und auf eine magische Weise starre Gesten erfüllen sie; und 64 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="65"?> als Gegengewicht zeigt sich nichts als die gleichfalls finstere, pathetische Entschlossenheit zur Erfüllung einer immer schwieriger, immer hoffnungs‐ loser werdenden Aufgabe: das von außen bedrohte, von innen zerfallende Reich zu schützen. Diese Entschlossenheit verleiht den Stärksten unter den handelnden Personen eine starre, krampfhafte, keiner Entspannung Raum lassende Übermenschlichkeit, wie sie sich etwa in Julians moriar stando ausdrückt: ut imperatorem decet, ego solus confecto tantorum munerum cursu moriar stando, contempturus animam, quam mihi febricula eripiet una (24,17). Ammian, so viel hoffen wir gezeigt zu haben, besitzt eine sehr starke sinnliche Ausdruckskraft; wäre sein Latein nicht so schwer verständlich und so unübersetzbar, er wäre vielleicht einer der wirksamsten Schriftsteller der antiken Literatur. Doch ist sein Verfahren keineswegs nachahmend in dem Sinne, daß er etwa die Menschen vor unseren Augen und Ohren aus ihren eigenen Voraussetzungen aufbaute, sie gleichsam aus ihrem Wesen heraus denken, fühlen, handeln und reden ließe; er läßt sie überhaupt nicht in ihrer eigenen natürlichen Sprache reden; sondern er gehört durchaus in die Tradition der von oben her betrachtenden, moralisch urteilenden antiken Historiker hohen Stils, die die Kunstmittel der realistischen Nachahmung niemals absichtlich und bewußt anwenden, weil sie sie als niederen, komi‐ schen Stil verschmähen; die wie es scheint speziell spätrömisch besonders bevorzugte Ausprägung dieser Tradition, schon in Sallust, besonders aber in Tacitus verkörpert, sehr stark stoisch in ihrem Stimmungsgehalt liebt es besonders düstere Gegenstände zu wählen, die ein hohes Maß von Sitten‐ verderbnis zeigen, und diese alsdann gegen ein ihr vorschwebendes Ideal ursprünglicher Einfachheit, Reinheit und Tugend grell abstechen zu lassen. In diesen Rahmen wünscht Ammian augenscheinlich sich einzufügen, wie sich aus vielen Stellen seines Werkes ergibt, in denen er Taten und Worte früherer Zeiten als moralisches Gegenbild anführt. Aber es ist von Anfang an in dieser Tradition zu spüren, und ist bei Ammian unverkennbar geworden, daß der Stoff mehr und mehr über die stilistische Absicht Herr wird, und den nach zurückhaltender Vornehmheit strebenden Stil zwingt, sich dem Inhalt anzupassen, so daß sich Wortwahl und Syntax, von der düsteren Realistik des Inhalts und dem unrealistisch-vornehmen Stilwillen in widerspruchs‐ voller Weise bedrängt, zu verändern und unharmonisch, überlastet und grell zu werden beginnen; die Wortwahl wird manieriert, und die Sätze beginnen gleichsam sich zu verzerren und zu krümmen; das Gleichmaß der Eleganz wird gestört, die vornehme Zurückhaltung wird zu einem düsteren Prunk, III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 65 <?page no="66"?> und gleichsam wider seinen Willen gibt der Ausdruck mehr Sinnlichkeit her als ursprünglich mit der gravitas vereinbar gewesen wäre, indes die gravitas selbst sich doch keineswegs verliert, sondern ganz im Gegenteil steigert; der hohe Stil wird hochpathetisch-grausig und ausmalend sinnlich. Die ersten Spuren davon finden sich schon bei Sallust; einen bedeutenden Einfluß in dieser Richtung übte der zwar nicht in die Historikertradition gehörige, aber wohl allgemein sehr wirksame Seneca; auch Lucan ist hier zu nennen. Bei Tacitus ist das Schwere, Finstere des Geschichtsstils, welches von der Finsternis der berichteten Ereignisse genährt wird, schon dermaßen geladen mit sinnlicher Anschauung, wie sie das Entsetzliche suggestiv hervorzwingt, daß sie sehr häufig hervorbricht; freilich schnell wieder eingefangen von der vornehmen und scharfen Kürze des Stils, der solchen Ausbrüchen nicht zu wuchern gestattet (ein Beispiel von vielen: die Hinrichtung der Kinder Sejans, Ann. V, 9). Bei Ammian überwuchert das Sinnlich-Anschauliche, und hat sich in den hohen Stil hinein Bahn gebrochen, nicht indem es ihn volksmäßig oder komödienhaft vulgarisiert, sondern indem es ihn ins Maßlose übersteigert: die Sprache beginnt mit funkelnden Worten und prunkhaften Satzverzer‐ rungen die verzerrte und blutig-gespenstische Wirklichkeit zu malen. An Stelle der vornehmen, ruhigen, das Sinnliche nur kurz mitteilenden oder sogar nur moralisch andeutenden Worte treten gestenhaft ausmalende: so in der Schilderung der römischen Unruhen an Stelle von einem moralischen Ausdruck für Unerschütterlichkeit: stabilis, erectus, cum speciosa fiducia intuebatur acribus oculis; an Stelle von «iter non intermisit»: recte tetendit; für «Auspeitschen» das zugleich prunkhaft umschreibende und sinnliche latera exarare; ähnlich wirkt pudorem eripere; und wo Tacitus etwa sagt accusatorum maior in dies et infestior vis grassabatur (Ann. 4, 66), da heißt es hier: dum has exitiorum communium clades suscitat turba feralis. Alle diese (und sehr viele ähnliche) Beispiele zeigen, daß die Manier, der sogenannte Schwulst, nicht nur der Neigung zum Ungewöhnlichen entspringt, sondern zugleich, ja vor allem der sinnlichen Evidenz dient. Man wird gezwungen sich den Vorgang auszumalen. Dazu kommen die vielen Vergleiche von Menschen mit Tieren (Schlange und Stier sind besonders beliebt), oder von Vorgängen des Lebens mit solchen des Theaters oder der Totenwelt. Überall ist die Wortwahl gesucht, aber ganz im Gegensatz zu der klassischen Übung, die das Gewählte und Gesuchte in vornehm-allgemeiner Umschreibung des Sinnlichen fand und die Ausmalung desselben nur dem Dichter gestattete (der sich aber dem wirklich-gegenwärtigen Leben fernzuhalten hatte, wenn 66 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="67"?> er den niederen Stil der Satire oder Komödie vermeiden wollte) - ganz im Gegensatz dazu dient jetzt das Gesuchte im hohen Stil der Geschichtsschrei‐ bung der Ausmalung gegenwärtig geschehender Dinge; dies Ausmalende ist jedoch nicht eigentlich nachahmend, sondern es bleibt immer der mora‐ listisch urteilende Geschichtsschreiber, welcher im hohen Stil spricht und die Niederungen des nachahmenden Realismus vermeidet; nur verwendet er ständig die grellsten Farben. - Bei der Syntax Ammians ist das gleiche fest‐ zustellen wie bei seiner Wortwahl; wenn hier auch manches dem Bedürfnis nach rhythmischem Satzschluß und dem stark Gräzisierenden seines Stils zuzuschreiben sein mag (Norden, Antike Kunstprosa, 646 ff.), so bleibt doch genug übrig, was sich nur in unserem Sinne zureichend interpretieren läßt. In seiner Stellung der Substantiva, insbesondere des Nominativsubjekts, in seiner weitausladenden Verwendung von Adjektiven und Partizipien als Apposition, und in seiner Neigung die aufgehäuften Appositionen gegeneinander durch die Wortstellung abzugrenzen zeigt sich Ammians Bemühung überall monumentale, auffallende und zumeist gestenhafte An‐ schauung zu suggerieren. Man beobachte die Herausarbeitung der Subjekte turba feralis, Leontius regens, ille, Marcus imperator, praefectus, acerrimus concitor; der Objekte urbem aeternam, Philocomum aurigam, multitudinem, vultus, agnitum quendam, eumque; die Fülle von Appositionen - Jespersen würde sagen «Extrapositionen» - und appositionsähnlichen Formen, jede möglichst selbständig herausgestellt: zu Leontius gehört regens, ferner celer, justissimus, benevolus, dann in besonderer syntaktischer Einkleidung acer, und nochmals herausgehoben inclinatior ad amandum; zu causa gehört, mit kunstvoller Differenzierung, vilissima und levis; zu plebs, gleichermaßen differenziert, secuta und defensura proprium pignus; zu ille gehört stabilis und erectus; zu multitudinem zuerst arrogantem, und alsdann, dagegen und untereinander abgehoben minacem und saevientem; dann folgt, auf den Präfekten bezüglich, das «pergens» fortsetzend, scharf hervorgehoben, difficilis ad pavorem, insidens vehiculo, perpessus; an agnitum quendam schließen sich eminentem, vasti corporis, rutili capilli, später sublimi, implorante; und der Name selbst, Petrus Valvomeres, ist als Apposition gebracht und extrem betont. Auch andere ausmalende Satzglieder werden hervorgehoben, etwa ut timidum, nec strepente ullo nec obsistente, operis ambitiosi, enixius und so fort; und der Eindruck verstärkt sich, wenn man etwas größere Wortgruppen betrachtet. Urbem aeternam Leontius regens, von einem Appositionsschweif gefolgt, ist absichtlich monumental, ebenso Marcus condidit imperator; dramatisch und monumental, als Bild und Geste, III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 67 <?page no="68"?> ist der Satzanfang insidens itaque vehiculo; völlig malend ist die Vorweg‐ nahme von contuebatur acribus oculis vor dem prunkvoll bewegten und rauschenden Objekt tumultuantium undique cuneorum veluti serpentium vultus; ebenso das sich nach dem farblosen agnitum quendam ausbreitende inter alios eminentem, vasti corporis, rutilique capilli. Einen Satz wie diesen: Quo viso sublimi tribuliumque adiumentum nequidquam implorante - dessen Besonderheit in der Überlastung mit Appositionen besteht, denn zu dem quo viso steht die mehrgliedrige und im zweiten Glied überladene Apposition in einem ganz unklassischen Verhältnis - hätte wohl Tacitus noch kaum geschrieben; aber wie anschaulich ist er! Man sieht den Petrus zappeln und hört ihn brüllen. Für ein klassisches Empfinden ist der Stil sowohl in der Wortwahl wie in der Satzbildung zugleich übertrieben raffiniert und übertrieben sinnlich; er wirkt sehr stark, aber er wirkt verzerrt. Er wirkt ebenso verzerrt wie die Wirklichkeit, die er darstellt. Die Welt Ammians ist sehr oft wie ein Zerr‐ spiegel der gewohnten menschlichen Umgebung, in der wir uns bewegen, sie ist sehr oft wie ein böser Traum. Sie ist dies nicht einfach deshalb, weil darin schreckliche Dinge geschehen, wie Verrat, Mord, Folter, heimtückische Nachstellung und Denunziation; solche Dinge geschehen fast immer und überall, und die Epochen etwas erträglicheren Lebens sind nicht allzu häufig. Das Bedrückende an der Welt Ammians ist vielmehr das Fehlen eines Gegengewichts; denn so wahr es ist, daß Menschen zu allem Schrecklichen fähig sind, so wahr ist es auch, daß das Schreckliche ständig Gegenkräfte erzeugt, und daß sich in den meisten Epochen entsetzlichen Geschehens auch die großen Lebenskräfte der Seele offenbaren: Liebe und Aufopferung, bekennendes Heldentum und bohrendes Forschen nach den Möglichkeiten eines reineren Daseins. Davon findet sich nichts bei Ammian. Grell nur im Sinnlichen, trotz des starren Pathos resigniert und gleichsam gelähmt, zeigt seine Geschichtsschreibung nirgends etwas Erlösendes, nirgends etwas in eine bessere Zukunft Weisendes, nirgends eine Gestalt oder Handlung, die ein freierer, menschlicherer Wind kühlend umwehte. Das fängt schon bei Tacitus an, wenngleich längst nicht in demselben Maße; und die Ursache hiervon liegt wohl in der hoffnungslos defensiven Lage, in welche die antike Kultur mehr und mehr hineingeriet; nicht mehr fähig, aus sich selbst neue Hoffnung und neues Leben zu gebären, mußte sie sich auf Maßnahmen beschränken, die bestenfalls den Verfall aufhalten, das Bestehende erhalten konnten; und auch diese Maßnahmen wurden immer greisenhafter, und ihre Durchführung immer schwieriger. Das ist bekannt, und ich brauche nicht 68 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="69"?> weiter darauf einzugehen; hinzufügen möchte ich nur noch, daß auch das Christentum, dem Ammian nicht unfreundlich gegenüberzustehen scheint, für ihn jedenfalls nichts bedeutet, was den Zustand finsterer Zukunftslosig‐ keit durchbräche. Es ist deutlich, daß Ammians Darstellungsweise etwas zur vollen Entfal‐ tung bringt, was sich seit Seneca und Tacitus ankündigt, nämlich einen hochpathetischen Stil, in welchen das grauenhafte Sinnliche sich Bahn gebrochen hat: einen finsteren, hochpathetischen Realismus, der der klas‐ sischen Antike ganz fremd ist. Die Mischung von rhetorischen Künsten raffiniertester Art und grellem, stark verzerrtem Realismus kann man schon weit früher, und in weit niedrigeren Stillagen studieren: bei Apuleius etwa, von dessen Stil Norden in der schon mehrfach erwähnten «Antiken Kunst‐ prosa» eine glänzende Analyse gibt. Die Stillage eines milesischen Romans ist selbstverständlich eine ganz andere als die eines Geschichtswerkes, aber trotz aller spielerischen, verbuhlten und oft albernen Leichtfertigkeit zeigen die Metamorphosen nicht nur eine ähnliche Mischung von Rhetorik und Realismus, sondern auch - und darauf hat Norden nicht hingewie‐ sen - die gleiche Neigung zur gespenstisch-grauenhaften Verzerrung der Wirklichkeit. Ich meine damit nicht nur die Fülle der Verwandlungs- und Gespenstergeschichten, die sich alle auf der Grenze des Grauenhaften und des Grotesken bewegen, sondern auch noch manches andere, so etwa die Art der Erotik; bei äußerster Betonung der Begierde, die mit allen Würzen rhetorisch-realistischer Kunst auch beim Leser wachgerufen werden soll, fehlt das Seelische und Menschlich-Vertrauliche vollkommen, und etwas Gespenstisch-Sadistisches mischt sich ständig ein; die Begierde ist mit Angst und Grauen gemischt; freilich ist auch viel Albernheit dabei. Und das geht durch den ganzen Roman: Angst, Begierde und Albernheit erfüllen ihn. Wäre das Gefühl der Albernheit des Ganzen, wenigstens bei einem heutigen Leser, nicht so stark, so wäre man versucht, an gewisse moderne Schriftsteller, etwa an Kafka, zu denken, deren Welt durch ihre grauenhafte Verzerrung an überaus konsequenten Irrsinn erinnert. Ich will das, was ich meine, durch eine sehr unscheinbare Stelle aus den Metamorphosen verdeutlichen. Sie steht am Ende des ersten Buches (1,24), und berichtet von einem Markteinkauf, den der Erzähler Lucius in einer fremden (thessa‐ lischen) Stadt unternimmt. Sie lautet folgendermaßen: … rebus meis in cubiculo conditis, pergens ipse ad balneas, ut prius aliquid nobis cibatui prospicerem, forum cuppedinis peto; inque eo piscatum opiparem III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 69 <?page no="70"?> 2 Ich räume meine Sachen im Schlafzimmer ein, will in die Badeanstalt und gehe vorher auf den Lebensmittelmarkt, um mir etwas zum Essen zu besorgen; dort sehe ich vorzügliche Fische ausliegen, frage nach dem Preis und handle ihn von hundert Denaren auf zwanzig herunter. Wie ich gerade von dort weggehe, läuft mir Pythias über den Weg, mein Mitschüler im attischen Athen. Sobald er mich nach einigem Zögern erkennt, kommt er liebevoll auf mich zu, umarmt und küßt mich freundlich und ruft: «Lucius, wie lange ist es her, seit ich dich gesehen habe! Ich glaube, seit wir von unserem Lehrer Clytius fort sind! Aber wie kommst denn du hierher? » «Das sollst du morgen erfahren», antwortete ich, «aber was ist denn das? Ich muß dir ja gratulieren, ich sehe Gerichtsdiener und Ruten, und dich selbst in Amt und Würden! » «Ich verwalte die Marktpolizei», sagt er, «ich bin Ädil; und wenn du etwas einkaufen willst, bin ich dir gern behilflich.» Ich lehnte ab, denn ich hatte ja schon genügend Fisch für mein Abendessen besorgt. Aber Pythias sah mein Körbchen, schüttelte die Fische, um sie besser zu sehen und sagte: «Und wieviel hast du für das Zeug bezahlt? » «Mit Mühe», antwortete ich, «habe ich den Fischer bewogen, zwanzig Denare anzunehmen.» Darauf faßt er mich bei der Hand und zieht mich wieder auf den Markt zurück: «Und von expositum video. Et percontato pretio, quod centum nummis indicaret, asperna‐ tus viginti denariis praestinavi. Inde me commodum egredientem continuatur Pythias, condiscipulus apud Athenas Atticas meus; qui me post aliquantum temporis amanter agnitum invadit, amplexusque et comiter deosculatus, Mi Luci, ait, sat pol diu est quod intervisimus te, at hercules exinde cum a Clytio magistro digressi sumus. Quae autem tibi causa peregrinationis huius? Crastino die scies, inquam. Sed quid istud? Voti gaudeo. Nam et lixas et virgas et habitum prorsus magistratui congruentem in te video. Annonam curamus, ait, et aedilem gerimus; et si quid obsonare cupis, utique commodabimus. Abnuebam, quippe qui iam cenae affatim piscatum prospexeramus. Sed enim Pythias, visa sportula succussisque in aspectum planiorem piscibus: At has quisquilias quanti parasti? Vix, inquam, piscatori extorsimus accipere viginti denarios. Quo audito statim arrepta dextra postliminio me in forum cuppedinis reducens: Et a quo, inquit, istorum nugamenta haec comparasti? Demonstro seniculum; in angulo sedebat. Quem confestim pro aedilitatis imperio voce asperrima increpans: Iam iam, inquit, nec amicis quidem nostris vel omnino ullis hospitibus parcitis, qui tam magnis pretiis pisces frivolos indicatis et florem Thessalicae regionis ad instar solitudinis et scopuli edulium caritate deducitis! Sed non impune. Iam enim faxo scias, quemadmodum sub meo imperio mali debeant coerceri. Et profusa in medium sportula iubet officialem suum insuper pisces inscendere ac pedibus suis totos obterere. Qua contentus morum severitudine meus Pythias, ac mihi ut abirem suadens: Sufficit mihi, o Luci, inquit, seniculi tanta haec contumelia. His actis consternatus ac prorsus obstupidus ad balneas me refero, prudentis condiscipuli valido consilio et nummis simul privatus et cena-… 2 70 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="71"?> welchem dieser Händler», fragte er, «hast du den Kram gekauft? » Ich zeige auf einen kleinen Alten, der in einer Ecke saß. Sofort beginnt er auf Grund seiner ädilischen Befugnis mit scharfer Stimme ihn herunterzumachen: «Jetzt geht ihr schon so weit», sagte er, «daß ihr nicht einmal meine Freunde und überhaupt fremde Gäste anständig behandelt; so billige Fische für solch einen Preis zu verkaufen! Ihr macht durch die hohen Lebensmittelpreise diese blühendste Stadt Thessaliens zu einer Steinwüste, die niemand besuchen will! Aber das soll nicht ungestraft bleiben. Ich werde dir schon zeigen, wie unter meiner Verwaltung die Gauner bestraft werden! » Darauf schüttet er den Inhalt des Körbchens aus und befiehlt einem seiner Unterbeamten auf die Fische zu treten und sie mit den Füßen vollständig zu zertrampeln. Befriedigt von seiner Strenge rät mir Pythias alsdann, fortzugehen, indem er sagte: «Lieber Lucius, das ist eine große Schande, die ich dem Alten angetan habe; dabei lasse ich es bewenden.» Verblüfft und geradezu bestürzt von diesen Vorgängen, begebe ich mich ins Bad; durch die energische Maßnahme meines klugen Studiengenossen war ich zugleich um mein Geld und um mein Abendessen gekommen-… Es gab und gibt zweifellos Leser, die über diese Geschichte einfach lachen und sie für eine Farce halten, für einen bloßen Spaß. Aber das scheint mir nicht ausreichend. Das Benehmen des eben wiedergefundenen Freundes, von dem sonst nichts weiter gesagt wird, ist entweder absichtlich boshaft (aber dafür fehlt jede Begründung), oder irrsinnig - aber es wird nirgends bemerkt, daß er geistesgestört sei. Der Eindruck einer halb albernen, halb gespenstischen Verzerrung der gewöhnlichen und durchschnittlichen Le‐ bensvorgänge ist unabweisbar. Der Freund hat sich über das unverhoffte Wiedersehen gefreut, er hat seine Dienste angeboten, ja aufgedrängt: und ohne sich im mindesten um die Folgen seiner Handlungsweise zu kümmern, beraubt er Lucius seines Abendessens und seines Geldes; von einer Bestra‐ fung des Verkäufers, der ja sein Geld behält, kann gar nicht die Rede sein; und wenn ich recht verstehe, rät Pythias dem Lucius deshalb zum Verlassen des Marktes, weil ihm die Händler nach diesem Auftritt nichts mehr verkaufen oder gar sich sonst an ihm rächen werden. Das Ganze ist bei aller Albernheit raffiniert ausgeklügelt, um Lucius zu übertölpeln und ihm einen bösen Streich zu spielen - aber aus welchem Grunde, zu welchem Zweck? Ist es Albernheit, ist es Bosheit, ist es Irrsinn? Die Albernheit hindert den Leser nicht sich betroffen und beunruhigt zu fühlen. Und welch eine sonderbar peinliche, schmutzige und ein wenig sadistische Vorstellung, die Fische, die von Amts wegen auf dem Pflaster des Marktplatzes zertreten werden! Der Einbruch des grell ausmalenden Realismus in den hohen Stil, den wir bei Ammian trafen, und der die klassische Trennung der Stile allmählich unterhöhlt, macht sich auch bei den christlichen Autoren geltend; in der jüdisch-christlichen Tradition gab es, wie wir früher gezeigt haben, eine III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 71 <?page no="72"?> Trennung von hohem Stil und Realismus überhaupt nicht, und andererseits wurde der Einfluß der antiken Rhetorik auf die Kirchenväter - der sehr stark war, wie man weiß, um so stärker als viele der Kirchenväter hochgebildete, philosophisch und rhetorisch geschulte Männer waren - erst zu einer Zeit wirksam, wo der eben erwähnte Unterhöhlungsprozeß schon weit fortge‐ schritten war, nicht nur in bezug auf die Stiltrennung, sondern überhaupt in der Bewahrung von Maß und Harmonie des Ausdrucks. Auch bei den Kirchenvätern findet sich daher nicht selten die Mischung von rhetorischem Prunk und greller Ausmalung der Wirklichkeit; besonders Hieronymus leistet darin das Äußerste. Seine Horaz und Juvenal weit übertrumpfenden satirischen Zerrbilder sind sehr stark malend; noch mehr sind es gewisse Stellen, wo er, bis in die kleinsten Einzelheiten und ohne sich irgendwelche Zurückhaltung des Anstands aufzuerlegen, asketische Ratschläge gibt, die sich auf Essen und Trinken, Pflege oder vielmehr Vernachlässigung des Körpers und Keuschheit beziehen. Bis zu welch äußerster Anschaulichkeit des Grausigen im Prunkstil er sich versteigen kann, zeigt eine Stelle aus seinen Briefen (66,5; Patrologia lat. 22,641), die vielleicht die wirksamste, aber keineswegs die einzige ihrer Art ist. Eine Frau aus vornehmem Hause, Paulina, ist gestorben, und der überlebende Gatte, Pammachius, hat sich entschlossen, sein Gut den Armen zu überlassen und selbst Mönch zu werden. In der preisenden und mahnenden Epistel, die Hieronymus aus diesem Anlaß schreibt, lautet ein Absatz folgendermaßen: Ardentes gemmae, quibus ante collum et facies ornabantur, egentium ventres saturant. Vestes sericae, et aurum in fila lentescens, in mollia lanarum vestimenta mutata sunt, quibus repellatur frigus, non quibus nudetur ambitio. Deliciarum quondam suppelectilem virtus insumit. Ille caecus extendens manum, et saepe ubi nemo est clamitans, heres Paulinae, coheres Pammachii est. Illum truncum pedibus, et toto corpore se trahentem, tenerae puellae sustentant manus. Fores quae prius salutantium turbas vomebant, nunc a miseris obsidentur. Alius tumenti aqualiculo mortem parturit; alius elinguis et mutus, et ne hoc quidem habens unde roget, magis rogat dum rogare non potest. Ilic debilitatus a parvo non sibi mendicat stipem; ille putrefactus morbo regio supravivit cadaveri suo. - Non mihi si linguae centum sint, oraque centum, - Omnia poenarum percurrere nomina possim. (Aen. VI, 625, 627) Hoc exercitu comitatus incedit, in his Christum confovet, horum sordibus deal‐ batur. Munerarius pauperum et egentium candidatus sic festinat ad coelum. Ceteri 72 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="73"?> 3 Die strahlenden Edelsteine, die einst Hals und Gesicht schmückten, sättigen nun die Bäuche der Darbenden. Die seidenen Gewänder und die eingewebten Goldfäden sind in weiche Wollkleider verwandelt, um vor der Kälte zu schützen, nicht um die Prunksucht aufzudecken. Was einst das Geräte des Luxus war, das übernimmt nun die Tugend. Jener Blinde, der die Hand ausstreckt und oft ruft wo niemand ist, wird zum Erben der Paulina, zum Miterben des Pammachius. Jenen an den Füßen Verstümmelten, der sich mit seinem ganzen Körper vorwärts schleppt, stützen die Hände eines zarten Mädchens. Die Tore, die sonst die Scharen aufwartender Besucher ausspieen, werden nun von den Armen belagert. Der eine, mit geschwollenem Leib, geht schwanger mit seinem Tode: ein anderer, ohne Zunge und stumm, der nicht einmal etwas hat, womit er flehen könnte, fleht um so eindringlicher, weil er nicht flehen kann. Dieser hier, von Kindheit an verkümmert, braucht seine Spende nicht mehr zu erbetteln (? ); jener, von Krankheit (Gelbsucht? ) schon verfault, überlebt seine eigene Leiche. «Und wenn ich hundert Zungen hätte und hundert Münder, ich könnte nicht alle Namen der Martern aufzählen.» Von dieser Schar begleitet, schreitet er vorwärts, in ihnen pflegt er Christus, in ihrem Schmutz wird er weiß gewaschen: so eilt der Kassenführer der Armen, der candidatus (zugleich etwa «liebender Bewerber» und «mit weißer Toga Bekleideter») der Darbenden zum Himmel. Andere Gatten streuen auf die Gräber ihrer Frauen Veilchen, Rosen, Lilien und Purpurblumen, und sie trösten den Schmerz ihrer Brust mit diesen Darbietungen; unser Pammachius beträufelt die heilige Asche und die verehrungswürdigen Gebeine mit dem Balsam der Barmherzigkeit … mariti super tumulos conjugum spargunt violas, rosas, lilia, floresque purpureos, et dolorem pectoris his officiis consolantur. Pammachius noster sanctam favillam ossaque veneranda eleemosynae balsamis rigat-… 3 Die Kranken- und Bettlerprozession beruht selbstverständlich sowohl in ihrem Inhalt wie in ihrer Gesinnung auf der Bibel; das Buch Hiob, die Krankenheilungen und die Ethik aufopfernder Demut im Neuen Testament bilden die Grundlage zu solcher Ausbreitung körperlicher Abscheulichkei‐ ten. Schon in sehr früher Zeit gilt die Aufopferung für abstoßende Kranke (spirans cadaver, sagt Hieronymus an einer anderen Stelle) und insbesondere der körperliche Kontakt mit ihnen bei der Pflege als eines der wichtigsten Merkmale, an denen christliche Demut und Streben nach Heiligkeit sich erweisen. Aber es ist deutlich, daß zu der grellen Wirkung unseres Textes auch die rhetorischen Künste der Spätantike ihr Teil beigetragen haben - ich möchte glauben, den Hauptteil. Die prunkhafte Malerei dieser Rhetorik zeigt sich gleich zu Anfang in den Ausdrücken des Gegensatzes zwischen höchstem Luxus und jammervollster Armut, wo in der Wortwahl mit den äußersten Stilpolen geprunkt wird: ardentes gemmae gegen egentium ventres! Es zeigt sich ferner in dem Antithesenspiel der Worte und Begriffe (lanarum vestimenta quibus repellatur frigus gegen die vestes sericae usw. quibus nudetur ambitio - ubi nemo est clamitans - ne hoc quidem habens III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 73 <?page no="74"?> unde roget etc. - supravivit cadaveri suo - sordibus dealbatur - und so fort), in der Vorliebe für prunkende Adjektiva und Bilder, in dem patheti‐ schen Gebrauch der Anapher (hoc, his, horum). Zwar unterscheidet sich Hieronymus von seinem Zeitgenossen Ammian dadurch, daß die Flammen seines Prunks, ardentes gemmae, von Liebesglut und Begeisterung genährt werden - der lyrische Schwung der letzten Sätze mit dem gen Himmel eilig aufsteigenden und die Asche der Geliebten mit dem Balsam der Barmherzigkeit beträufelnden Pammachius ist herrlich, doppelt wirksam nach der Krankenprozession, und die Blumen, die nicht gestreut, aber aufgezählt werden, duften mit. Es ist ein herrliches Stück, ein Entzücken für Liebhaber dessen, was man später Barock nennt, und Ammians weit mehr starre und innerlich gefrorene Pracht hat dem nichts an die Steite zu stellen. Aber auch Hieronymus’ Hoffnung, die ihn so ergreifend ins Lyrische aufsteigen läßt, bezieht sich ganz und gar nicht auf diese Welt; seine ganz ausdrücklich auf das asketisch-jungfräuliche Ideal gerichtete Propaganda ist zeugungsfeindlich und geht auf die Vernichtung des Irdischen; nur mühsam und teilweise läßt er sich von dem schon damals einsetzenden Widerstand zu halben Konzessionen bewegen. Auch seine Flamme ist düster, und der Gegensatz zwischen dem malenden Prunk der Rede und dem finster selbstmörderischen Ethos, das Eintauchen in das Gräßliche, Lebensverzer‐ rende und Lebensfeindliche ist auch bei ihm oft nahezu unerträglich. Nicht zum letzten Mal begegnet bei ihm asketisch-weltmordende Gesinnung in überreich malendem Stil; das bleibt eine christliche Tradition; doch wirkt es bei ihm um so düsterer, weil die weltlich-frohen Gegenstimmen, die im späteren Barock überall, selbst in der tiefsten ekstatischen Frömmigkeit, noch mitklingen, bei ihm ganz fehlen; die finstere, verzweifelte Defensive der untergehenden Antike vermochte solche Stimmen, wie es scheint, nicht mehr hervorzubringen. Allein es gibt selbst bei den Kirchenvätern Texte, die ein ganz anderes, weit mehr dramatisch kämpfendes Verhältnis zur Wirklichkeit ihrer Zeit verraten - und zugleich auch eine ganz andere, weit weniger barocke, weit mehr von der klassischen Überlieferung beeinflußte Ausdrucksform. Der folgende Text, an dem ich dies erweisen will, ist das achte Kapitel des sechsten Buches von Augustins Confessionen; die Person, von der gesprochen wird, ist Augustins Jugendfreund und Schüler Alypius; die angeredete Person (tu) ist Gott. Non sane relinquens incantatam sibi a parentibus terrenam viam, Romam praecesserat, ut ius disceret; et ibi gladiatorii spectaculi hiatu incredibili et 74 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="75"?> 4 Er verließ freilich nicht die ihm von seinen Eltern gepriesene weltliche Laufbahn und war nach Rom gegangen, um Rechtswissenschaft zu studieren. Und dort wurde er in einem unglaublichen Maße und auf eine unglaubliche Art und Weise von der Leidens‐ chaft für die Gladiatorenspiele ergriffen. Während er nämlich noch alles Derartige mißbilligte und verabscheute, traf er einmal zufällig einige vom Mahl zurückkehrende Freunde und Studiengenossen, die ihn trotz seines Widerspruchs und seines Sträubens mit kameradschaftlicher Gewalt ins Amphitheater schleppten, gerade in den Tagen, wo dort die grausamen und unheilvollen Spiele stattfinden. Er aber sagte zu ihnen: «Wenn ihr auch meinen Körper dorthin schleppt und zu verweilen zwingt, könnt ihr vielleicht meinen Geist und meine Augen auf die Spiele lenken? Ich werde als ein Abwesender da sein und auf diese Art meine Überlegenheit über euch und über jene Schaustellung beweisen.» Auf diese Worte ließen sie erst recht nicht ab ihn mitzuziehen; vielleicht gerade weil sie Lust hatten, auszuprobieren, ob er das wohl schaffen würde. Am Ort selbst, wo sie schließlich ankamen und Platz fanden, raste die Menschenmenge in einem incredibiliter abreptus est. Cum enim aversaretur et detestaretur talia, quidam eius amici et condiscipuli, cum forte de prandio redeuntibus per viam obvius esset, recusantem vehementer et resistentem familiari violentia duxerunt in amphitheatrum, crudelium et funestorum ludorum diebus, haec dicentem: si corpus meum in illum locum trahitis, et ibi constituitis, numquid et animum et oculos meos in illa spectacula potestis intendere? Adero itaque absens, ac sic et vos et illa superabo. Quibus auditis illi nihilo segnius eum adduxerunt secum, idipsum forte explorare cupientes, utrum posset efficere. Quo ubi ventum est, et sedibus, quibus potuerunt, locati sunt, fervebant omnia imanissimis voluptatibus. Ille autem clausis foribus oculorum interdixit animo, ne in tanta mala procederet, atque utinam et aures obturavisset. Nam quodam pugnae casu, cum clamor ingens totius populi vehementer eum pulsasset, curiositate victus et quasi paratus quicquid illud esset etiam visu contemnere et vincere, aperuit oculos; et percussus est graviore vulnere in anima, quam ille in corpore, quem cernere concupivit, ceciditque miserabilius, quam ille quo cadente factus est clamor: qui per eius aures intravit, et reseravit eius lumina, ut esset, qua feriretur et deiiceretur, audax adhuc potius quam fortis animus; et eo infirmior, quod de se etiam praesumpserat quod debuit tibi. Ut enim vidit illum sanguinem, immanitatem simul ebibit, et non se avertit, sed fixit adspectum, et hauriebat furias, et nesciebat; et delectabatur scelere certaminis, et cruenta voluptate inebriabatur. Et non erat iam ille qui venerat, sed unus de turba ad quam venerat, et verus eorum socius a quibus adductus erat. Quid plura? Spectavit, clamavit, exarsit, abstulit inde secum insaniam qua stimularetur redire: non tantum cum illis a quibus prius abstractus est, sed etiam prae illis, et alios trahens. Et inde tamen manu validissima et misericordissima eruisti eum tu, et docuisti eum non sui habere, sed tui fiduciam; sed longe postea. 4 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 75 <?page no="76"?> Taumel gräßlichen Entzückens. Alypius schloß das Tor seiner Augen und verbot seinem Geiste, sich mit so üblen Dingen abzugeben; hätte er doch auch seine Ohren verstopft! Denn bei einer Wendung des Kampfes traf ihn gewaltig das rasende Gebrüll der Menge; ihn packte die Neugier, und in der Überzeugung, er sei fähig, auch das Schlimmste mit dem Blick zu besiegen und zu verachten, öffnete er die Augen; und da wurde seine Seele von einer schlimmeren Wunde durchbohrt als der Leib dessen, den er zu sehen wünschte, und er fiel jammervoller als jener, bei dessen Fall das Geschrei entstanden war: dies Geschrei drang durch seine Ohren ein und öffnete seine Augen um den Weg zu finden seinen damals noch mehr tollkühnen als starken Geist zu verwunden und umzuwerfen; der war um so schwächer, als er sich selbst zugetraut hatte, was er nur von dem Vertrauen auf dich erwarten durfte. Denn als er das Blut sah, trank er zugleich das Gift des Bestialischen; und er wandte sich nicht ab, sondern heftete seinen Blick auf das Schauspiel; er sog das Gräßliche in sich, und ohne es zu wissen, begann er an dem verbrecherischen Kampf Vergnügen zu finden, und wurde von blutiger Wollust trunken. Und schon war er nicht mehr derselbe, der dorthin gekommen war, sondern einer aus der Menge, zu der er gekommen war, und wirklich ein Genosse derer, die ihn dorthin gebracht hatten. Was soll ich noch sagen? Er schaute zu, er schrie, er geriet in wilde Erregung, er nahm von dort mit sich den wahnsinnigen Drang wieder zurückzukehren, nicht nur mit den anderen, die ihn verschleppt hatten, sondern noch ihnen voraus und andere nach sich ziehend. Aber du zogst ihn mit deiner starken und barmherzigen Hand dort heraus, und lehrtest ihn nicht auf sich, sondern auf dich zu vertrauen. Doch das geschah erst viel später. Auch hier sind die Kräfte der Zeit wirksam: Sadismus, Blutrausch, und das Überwiegen des Magisch-Sinnlichen über das Rationale und Ethische. Aber es wird gekämpft, der Feind wird erkannt, und die Gegenkräfte der Seele werden mobilisiert ihm zu begegnen. Der Feind zeigt sich hier in der großen Massensuggestion des Blutrauschs, der alle Sinne zugleich angreift; wenn die Verteidigung ihm den Eingang der Augen versperrt, bahnt er sich durch die Ohren seinen Weg und erzwingt damit auch das Öffnen der Augen. Noch immer verläßt sich die Verteidigung auf ihr innerstes Zentrum, auf die Kraft ihrer inneren Entschlossenheit, auf ihren bewußten Willen zur Ablehnung. Aber dies innerste Bewußtsein hält keinen Augenblick stand; es schlägt sofort um, und die bis dahin durch mühsame Willensanspannung zurückgedämmten Kräfte, die bisher der Verteidigung dienten, gehen zum Feinde über. Man wolle sich Rechenschaft ablegen, was das bedeutet. Gegen die pöbelhafte Vermassung, gegen irrationale und maßlose Begierde, gegen den Zauber der magischen Kräfte besaß die aufgeklärte klassische Kultur die Waffe der individualistischen, aristokratischen, maßvollen und rationalen Selbstbeherrschung; die verschiedenen ethischen Lehrsysteme waren darin einig, daß ein wohlgebildeter, seiner selbst bewußter Mensch durch eigene Kraft fähig sei, sich vom Unmaß abzuwenden, und daß es gegen 76 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="77"?> seinen Willen keinen Einlaß bei ihm finden könne. Auch die manichäische Lehre, der Alypius damals schon nahestand, vertraut auf die Erkenntnis des Guten und des Bösen. Darum läßt er sich ohne allzu große Besorgnis familiari violentia in das Amphitheater schleppen; er verläßt sich auf seine geschlossenen Augen und auf seinen entschlossenen Willen. Aber sein in‐ dividualistisches, stolzes Selbstbewußtsein wird im Nu überrannt; und es ist nicht nur ein beliebiger Alypius, dessen Stolz, ja dessen innerstes Wesen hier niedergeschmettert wird, sondern die gesamte rational-individualistische Kultur der klassischen Antike: Plato und Aristoteles, die Stoa und Epikur. Die heiße Begier hat sie weggefegt, in einem einzigen gewaltigen Sturm: et non erat iam ille qui venerat, sed unus de turba ad quam venerat. Der vornehm sich selbst vertrauende, individuell wählende, das Unmaß verabscheuende Einzelne ist einer aus der Masse geworden, und nicht allein dieses: dieselben Kräfte, die ihm ermöglichten, länger und entschlossener als andere sich von der Massensuggestion fernzuhalten, dieselbe Energie, die ihn bisher zu einem eigenen, stolzen Leben befähigte, diese selben Kräfte stellt er nun der Masse und ihrem triebhaften Wesen zur Verfügung; er wird nicht nur verführt, er wird zum Verführer; das, was er bisher verabscheute, liebt er nun; nicht nur mit den anderen rast er, sondern vor allen anderen: non tantum cum illis, sed prae illis, et alios trahens. Wie es bei einem jungen Menschen von großer, leidenschaftlicher Lebenskraft nur zu natürlich ist, gibt er nicht etwa langsam ein wenig nach, sondern stürzt sich in die extreme Gegenposition; der Umschlag ist ein vollkommener; und solch ein Umschlag von einem Äußersten zum Entgegengesetzten ist zugleich sehr christlich; so wie Petrus in der Szene der Verleumdung (und umgekehrt wie Paulus auf dem Weg nach Damaskus), fällt er um so tiefer, je höher er vorher stand - und wie Petrus, wird er sich wieder erheben. Denn seine Niederlage ist keine endgültige; wenn ihn Gott gelehrt haben wird, auf ihn zu vertrauen und nicht auf sich selbst - und auf dem Weg zu dieser Lehre ist gerade seine Niederlage der erste Schritt - dann wird er triumphieren. Dem Christentum stehen im Kampf gegen die magische Trunkenheit andere Waffen zu Gebot als die der rational-individuellen antiken Hochbildung: Ist es doch selbst eine Bewegung aus der Tiefe, sowohl aus der Tiefe der Vielen als auch aus der Tiefe des unmittelbaren Gefühls; es vermag den Feind mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen. Seine Magie ist nicht minder Magie als der Blutrausch, und sie ist stärker, weil sie geordneter, menschlicher und hoffnungsreicher ist. III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 77 <?page no="78"?> Ein solcher Text, so viel er auch von den finstern Zügen der Zeitwirklich‐ keit verrät, zeigt einen ganz anderen Charakter als Ammian und auch als die angeführte Hieronymusstelle. Was ihn auf den ersten Blick von den anderen Texten unterscheidet, ist die Wärme des dramatisch-menschlichen Kampfs; Alypius lebt und kämpft; neben ihm sind nicht nur die Personen Ammians, sondern auch der Pammachius in dem Hieronymustext starre Schemen, deren Inneres sich nicht öffnet. Dies ist das Entscheidende, was Augustin völlig aus dem Stil seiner Zeit, so weit ich ihn kenne, heraushebt: er fühlt und gibt unmittelbar menschliches Leben, welches vor unseren Augen lebt. Die rhetorischen Stilmittel, die er durchaus nicht verschmäht, weder in diesem Text noch sonst, scheinen mir im ganzen der älteren klassischen, ciceronianischen Art näher zu stehen als was wir bei Ammian und bei Hieronymus gefunden haben; das äußerst dramatische «spectavit, clamavit, exarsit, abstulit inde etc.» erinnert an die Figur aus der zweiten catilinarischen Rede «abiit, excessit, evasit, erupit», der es übrigens durch das wirklich Inhaltsvolle der Steigerung und den anschließenden Übergang ins Sachliche weit überlegen ist - und auch sonst gibt es, zumal im zwei‐ ten Teil des Textes, eine ganze Anzahl von Wortfiguren, Antithesen und Satzparallelismen. Das Rhetorische wirkt klassischer als bei Ammian oder Hieronymus; aber es ist doch auch deutlich und auf den ersten Blick zu erkennen, daß es sich nicht um einen klassischen Text handelt; im Ton ist etwas eindringlich Treibendes, menschlich Dramatisches, und in der Form ein Vorwiegen der Parataxe, was beides, sowohl jedes für sich als auch im Zu‐ sammenwirken, ganz unklassisch erscheint. Wenn man etwa den Satz nam quodam pugnae casu etc. betrachtet, der eine ganze Anzahl hypotaktisch eingefügter Glieder enthält, so ergibt sich, daß er in einer zugleich dramati‐ schen und parataktischen Bewegung gipfelt: aperuit oculos, et percussus est etc.- und man fühlt sich, wenn man dem Eindruck nachzuspüren sucht, an gewisse biblische Stellen erinnert, die sich in der Vulgata folgendermaßen spiegeln: Dixitque Deus: fiat lux, et facta est lux; oder: ad te clamaverunt, et salvi facti sunt; in te speraverunt, et non sunt confusi (Ps. 22,6); oder: Flavit spiritus tuus, et operuit eos mare (Exod. 15,10); oder: aperuit Dominus os asinae, et locuta est (Num. 22,28); wo überall anstelle der kausalen oder mindestens temporalen Hypotaxe, die man im klassischen Latein erwarten würde (sei es durch cum oder postquam, sei es durch absoluten Ablativ oder eine Partizipialkonstruktion) die Parataxe mit et getreten ist; was durchaus nicht etwa den Zusammenhang der beiden Vorgänge abschwächt, sondern im Gegenteil diesen Zusammenhang emphatisch herausarbeitet; 78 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="79"?> genau wie es im Deutschen dramatisch wirksamer ist zu sagen: er öffnete seine Augen, und da traf ihn … als zu formulieren: als er seine Augen öffnete, oder: beim Öffnen seiner Augen traf ihn … Diese Beobachtung an dem Satzgipfel aperuit oculos, et percussus est ist nur ein Symptom eines viel allgemeineren Tatbestandes: Augustin verwendet wohl den klassischen Periodenstil und seine Redefiguren (ganz bewußt, wie sich aus seinen Ausführungen im vierten Buch der Schrift De doctrina christiana ergibt), aber er läßt sich nicht von ihm beherrschen; das Treibende, Eindringliche seines Wesens schließt ein Sicheinfügen in das vergleichsweise kühle, vernünftige, die Dinge von oben anordnende Vorgehen des klassischen und speziell des römischen Stils aus; wie oft er, zumal wo es sich um dramatische Entwicklung handelt, ein Satzglied neben das andere setzt, läßt sich in unserem Text überall beobachten: Trahitis, et ibi constituitis; adero ac superabo; interdixit, atque utinam obturavisset (eine auch sonst nicht seltene, doch hier sehr eigentümlich augustinische Bewegung); aperuit, et percussus est, ceciditque; intravit et reseravit; ebibit, et non se avertit, sed fixit, et nesciebat, et delectabatur, et inebriabatur, et non erat iam ille. Das wäre im klassischen Stil unmöglich, es ist zweifellos biblische Parataxe, wie auch der Inhalt selbst, nämlich die dramatische Vergegenwärtigung eines inneren Vorgangs, eines inneren Umschlags, ganz ausgesprochen christlich ist. Et non erat iam ille qui venerat, sed unus de turba ad quam venerat: das ist ein Satz, der, sowohl in der Form wie im Inhalt, klassisch antik nicht vorstellbar wäre; das ist christlich, und ganz speziell augustinisch, denn niemand hat das Phänomen des Widerstreits und des Zusammen der inneren Kräfte, den Wechsel ihrer antithetischen und synthetischen Beziehung und Wirkung mit leidenschaftlicherer Untersuchung verfolgt als er; keineswegs nur in einem praktischen Fall wie hier, sondern auch bei rein theoretischen Problemen, die unter seinen Händen zum Drama werden; dafür zeugt am eindringlichsten seine Schrift über die Trinität, und wenn man an einem weiteren kleinen, aber charakteristischen Beispiel erproben will, wie problematisch und doch zugleich wie deutlich ihm Werden und Entwicklung ist, so lese man die ersten Sätze von Conf. I, 8, wo vom Über‐ gang aus der Kindheit ins Knabenalter die Rede ist; eine solche Stelle wäre vor Augustin undenkbar. Die Parataxe dient Augustin zum Ausdruck des Treibend-Dramatischen, wobei es sich zumeist um innere Vorgänge handelt; dagegen fehlt fast vollkommen das, worauf es Ammian und andere Autoren der Zeit, sogar christliche, absehen, nämlich das sinnliche Ausmalen des äußeren Geschehens, zumal des Magischen, Krankhaften und Grausigen. In III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 79 <?page no="80"?> unserem Text, der Anlaß genug zur Ausmalung böte, wird es mit ein paar kräftigen, aber ganz allgemeinen Worten abgetan. Trotzdem ist auch hier der innere, tragische und problematische Vorgang in die konkrete zeitgenössische Wirklichkeit eingebaut; es ist zu Ende mit der Trennung der Stilbezirke. Auch bei den heidnischen Autoren schlich sich, wie wir sahen, die Ausmalung der Wirklichkeit in den hohen Stil ein, und in einer weit reineren (erst durch die Begegnung mit dem spätantiken Prunkstil zuweilen verzerrten) Form drang die Stilmischung aus der jüdisch-christlichen Überlieferung in das Schrifttum der Kirchenvä‐ ter. Der eigentliche Mittelpunkt der christlichen Lehre, Inkarnation und Passion, war, wie wir schon oben (S. 49ff.) angedeutet haben, mit dem Stiltrennungsprinzip ganz unvereinbar. Christus war nicht als ein Held und König, sondern als ein Mensch niedrigster sozialer Stufe erschienen; seine ersten Schüler waren Fischer und Handwerker, er bewegte sich zwischen der alltäglichen Umwelt des kleinen Volks in Palästina, sprach mit Zöllnern und Dirnen, mit Armen und Kranken und Kindern; und jede seiner Handlungen und Worte war nichtsdestoweniger von höchster und tiefster Würde, bedeutender als alles, was je sonst geschah; der Stil, in dem es erzählt wurde, besaß gar keine oder doch nur eine sehr geringe Redekultur im antiken Sinne, es war «sermo piscatorius», und trotzdem überaus ergreifend und wirksamer als das höchste rhetorisch-tragische Kunstwerk; und das Ergreifendste an jenen Erzählungen war die Passion. Daß der König der Könige wie ein gemeiner Verbrecher verhöhnt, bespien, gepeitscht und ans Kreuz geschlagen wurde - diese Erzählung vernichtet, sobald sie das Bewußtsein der Menschen beherrschte, die Ästhetik der Stiltrennung vollkommen; sie erzeugt einen neuen hohen Stil, der das Alltägliche keineswegs verschmäht, und der das sinnlich Realistische, ja das Häßliche, Unwürdige, körperlich Niedrige in sich aufnimmt; oder, wenn man es lieber umgekehrt ausdrücken will, es entsteht ein neuer «sermo humilis», ein niederer Stil, wie er eigentlich nur für Komödie und Satire anwendbar wäre, dafür aber nun weit über seinen ursprünglichen Bereich ins Tiefste und Höchste, ins Erhabene und Ewige übergreift. Ich bin auf diese Zusammenhänge schon früher eingegangen und habe dabei einmal (Sacrae Scripturae sermo humilis, Neuphil. Mitteil., Helsinki, 1941, 57) auf die besondere Rolle Augustins hingewiesen; ihm, der ebenso in der klassisch-rhetorischen wie in der jüdisch-christlichen Welt zu Hause war, ist vielleicht als erstem das Problem des Stilgegensatzes beider Welten bewußt geworden; er hat es auf eine sehr eindringliche Weise in der Schrift De 80 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="81"?> doctrina christiana (4,18) formuliert, und zwar aus Anlaß des Bechers mit kaltem Wasser bei Matth. 10,42. Die christliche Stilmischung tritt in dieser frühen Epoche deshalb nicht so sehr in Erscheinung (für das Mittelalter ist sie viel deutlicher zu beob‐ achten), weil die Kirchenväter nur selten Gelegenheit nehmen sich mit der gegenwärtigen Wirklichkeit praktisch nachahmend zu beschäftigen. Sie sind nicht Dichter und nicht Romanschreiber und auch im allgemeinen nicht Gegenwartshistoriker; theologische, besonders apologetische und polemi‐ sche Tätigkeit füllt sie aus und erfüllt auch ihre Schriften; Stellen, wie die hier zitierten aus Hieronymus und Augustin, die gegenwärtige Wirklichkeit schildern, sind nicht sehr häufig. Um so häufiger findet sich bei ihnen die wirklichkeitsdeutende Tätigkeit - Ausdeutung vor allem der Heiligen Schrift, aber auch der großen Geschichtszusammenhänge, insbesondere der römischen Geschichte, um diese mit der jüdisch-christlichen Geschichtsan‐ sicht in Übereinstimmung zu bringen. Dabei wird fast durchgehend die fi‐ gurale Methode verwendet, von der hier schon mehrfach gesprochen wurde (S. 22f. und 56f.), und über deren Bedeutung und Einfluß ich an anderer Stelle (Figura, Arch. Roman., 22, 436) einige Klarheit zu gewinnen versucht habe. Die Figuraldeutung «stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Ge‐ schehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere dagegen das eine einschließt oder erfüllt. Beide Pole der Figur sind zeitlich getrennt, liegen aber beide, als wirkliche Vorgänge oder Gestalten, innerhalb der Zeit; sie sind beide in dem fließenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist, und nur das Verständnis, der intellectus spiritualis, ihres Zusammenhangs ist ein geistiger Akt.» Praktisch handelt es sich zunächst fast immer um Interpretation des Alten Testaments, dessen einzelne Episoden als Figuren oder Realprophezeiungen der Ereignisse des Neuen gedeutet werden; ein Beispiel findet sich oben S. 51f., und eine große Anzahl von kommentierten Beispielen in dem erwähnten Aufsatz. Diese Art der Deutung bringt, wie man leicht einsieht, ein ganz neues und fremdes Element in die antike Geschichtsbetrachtung. Wenn zum Beispiel ein Vorgang wie das Opfer Isaacs interpretiert wird als Präfiguration des Opfers Christi, so daß also in dem ersteren das letztere gleichsam angekündigt und versprochen wird, und das letztere das erstere «erfüllt» - figuram implere ist der Ausdruck dafür -, so wird ein Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen hergestellt, die weder zeitlich noch kausal verbunden sind - ein Zusammenhang, der auf vernünftige Weise in dem horizontalen Ablauf, wenn man dies Wort für eine III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 81 <?page no="82"?> zeitliche Ausdehnung gestattet, gar nicht herzustellen ist. Herzustellen ist er lediglich, indem man beide Ereignisse vertikal mit der göttlichen Vorsehung verbindet, die allein auf diese Art Geschichte planen und allein den Schlüssel zu ihrem Verständnis liefern kann. Die zeitlich-horizontale und kausale Verbindung der Ereignisse wird gelöst, das Jetzt und Hier ist nicht mehr Glied eines irdischen Ablaufs, sondern es ist zugleich ein schon immer Gewesenes und ein sich in Zukunft Erfüllendes; und eigentlich, vor Gottes Auge, ist es ein Ewiges, Jederzeitliches, im fragmentarischen Erdgeschehen schon Vollendetes. Diese Geschichtskonzeption ist von einer großartigen Einheitlichkeit, aber sie war dem klassisch-antiken Wesen völlig fremd, sie zerstörte es bis in die Struktur seiner Sprache hinein, zumindest seiner Literatursprache, die mit ihren klugen, fein abgestuften Konjunktionen, mit ihren reichen syntaktischen Ordnungsinstrumenten, mit dem sorgfältig aus‐ gearbeiteten System der Zeitbestimmungen, ganz überflüssig wurde, wenn es auf irdische Ort-, Zeit- und Kausalbeziehungen gar nicht mehr ankam; wenn ein vertikaler Zusammenhang, von allem Geschehen nach oben auf‐ steigend, in Gott konvergierend, allein bedeutend wurde. Notwendig mußte, wo beide Betrachtungsweisen zusammentrafen, Konflikt und Versuch eines Ausgleichs entstehen: zwischen sorgfältig die Glieder des Geschehens un‐ tereinander verbindender, Zeit- und Kausalfolge einhaltender, im Bezirk des irdischen Vordergrundes verbleibender Darstellung auf der einen - und abgerissen-sprunghafter, überall eine Deutung von oben erfragender auf der anderen Seite. Je gebildeter im antiken Sinne, je tiefer in der antiken Kultur die christlichen Schriftsteller der Väterzeit waren, desto mehr mußten sie das Bedürfnis empfinden, den Gehalt des Christentums in eine Form zu gießen, die nicht nur eine bloße Übersetzung, sondern eine Anpassung an die eigene Auffassungs- und Ausdrucksüberlieferung war. Auch hier bietet sich Augustin als Beispiel; große Teile seiner Civitas Dei, besonders die Bücher 15 bis 18, wo vom Fortschritt (procursus) des Gottesstaats auf Erden die Rede ist, zeigen die ständige Bemühung die figural-vertikale Deutung durch die Darstellung innergeschichtlich aufeinander folgender Abläufe zu ergänzen. Man wolle als Beispiel ein beliebiges Kapitel lesen, wo er eine biblische Erzählung kommentiert, etwa 16,12; dort ist von dem Geschlecht Tharas, des Vaters Abrahams, die Rede, also von Gen. 11,26, was Augustin durch andere Bibelstellen, zum Beispiel Jos. 24,2 ergänzt. Der Gegenstand des Kapitels ist jüdisch-christlich, und auch die Deutung ist es; das Ganze steht unter dem Zeichen der civitas Dei, die, seit Adam präfiguriert, jetzt durch Christus erfüllt ist; es wird die Epoche Thara-Abraham als ein Glied 82 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="83"?> des göttlichen Heilsplans, als eine der Stationen der figuralen Folge von vorläufig-fragmentarischen, ankündigenden Vorbildungen der civitas Dei gedeutet, und sie wird in diesem Sinne mit der weit zurückliegenden Epoche Noahs verglichen. Aber innerhalb dieses Rahmens zeigt sich die ständige Bemühung, die Lücken der biblischen Darstellung auszufüllen, sie durch andere Bibelstellen und eigene Erwägungen zu ergänzen, einen fließenden Zusammenhang der Ereignisse herzustellen und überhaupt die an sich irrationale Interpretation bis an die äußerste Grenze vernunfteinleuchtend zu gestalten; fast alles, was er zu dem biblischen Bericht hinzufügt, dient dazu, die geschichtliche Lage rational zu klären und die Figuraldeutung mit der Vorstellung der ununterbrochenen geschichtlichen Ablaufsfolge in Einklang zu bringen. Das Antikisch-Klassische, welches hier einfließt, zeigt sich auch in der Sprache, ja darin vor allem: es sind Perioden, die zwar eilig gebaut und nicht sehr kunstvoll wirken (Übermaß an Relativanknüpfungen), aber doch mit ihrer reichen Ausbildung der verbindenden Partikel, mit genau abgestuften temporalen, vergleichenden und einräumenden Hypo‐ taxen, mit Partizipialkonstruktionen im schärfsten Gegensatz stehen zu dem angeführten Bibelzitat mit seiner Parataxe und seinem Mangel an Verbindungsgliedern. Dieser Gegensatz zwischen Text und Bibelzitaten läßt sich sehr häufig bei den Kirchenvätern und fast überall bei Augustin feststellen; denn die lateinische Übersetzung der Bibel hatte den paratak‐ tischen Charakter des Originals bewahrt. Man erkennt an einer solchen Stelle aus der Civitas Dei sehr deutlich das Ringen, das, sprachlich und sachlich, zwischen den beiden Welten stattfand, und das wohl auch zu einer weitreichenden Rationalisierung und syntaktischen Durchgliederung der jüdisch-christlichen Überlieferung hätte führen können; allein dazu kam es nicht. Die antike Gesinnung war schon allzu brüchig; das wichtigste und einflußreichste Schriftwerk, die Bibelübersetzung, war darauf angewiesen den parataktischen Stil des Originals nachzuahmen und kam damit den Tendenzen der Volkssprache entgegen, indes die Literatursprache verfiel; und schließlich erfolgte der Einbruch der Germanen, die, bei allem scheuen Respekt vor der antiken Bildung, gerade das Rationale und syntaktisch Feinmaschige derselben aufzunehmen nicht imstande waren. So blieb die figurale Geschehensdeutung uneingeschränkt siegreich; aber sie bot doch keinen vollen Ersatz für die verlorene Einsicht in den rationalen, fließenden, irdischen Zusammenhang der Dinge, denn sie konnte nicht auf jedes beliebige Ereignis ohne weiteres angewandt werden, obgleich natür‐ lich Versuche, alles, was geschah, unmittelbar von oben zu interpretieren, III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres 83 <?page no="84"?> nicht fehlten. Diese Versuche mußten sich an der Vielfalt der Ereignisse und an der Unerkennbarkeit des göttlichen Ratschlusses erschöpfen, und so blieben weite Bezirke des Geschehens ohne jedes Prinzip, nach welchem man sie hätte einordnen und verstehen können - insbesondere als das Römische Reich, welches als Staatsgedanke wenigstens der politischen Geschehensauffassung eine Richtung gegeben hatte, zusammengebrochen war. Übrig blieb das Mitansehen, Erdulden oder Ausnutzen des jeweils praktisch Geschehenden; es war Rohmaterial, das in der rohesten Form entgegengenommen wurde. Es hat lange gedauert, bis die im Christentum enthaltenen Keime (Stilmischung, Tiefensicht in das Werdende), unterstützt von der Sinnlichkeit noch unzermürbter Völker, ihre Kraft entfalten konn‐ ten. 84 III Die Verhaftung des Petrus Valvomeres <?page no="85"?> IV Sicharius und Chramnesindus D I E folgende Erzählung steht in Gregor von Tours’ Frankengeschichte, VII, 47 und IX, 19. Gravia tunc inter Toronicos cives bella civilia surrexerunt. Nam Sicharius, Johan‐ nis quondam filius, dum ad natalis dominici solemnia apud Montalomagensem vicum cum Austrighysilo reliquosque pagensis celebraret, presbiter loci misit puerum ad aliquorum hominum invitacionem, ut ad domum eius bibendi gracia venire deberint. Veniente vero puero, unus ex his qui invitabantur, extracto gladio, eum ferire non metuit. Qui statim cecidit et mortuos est. Quod cum Sicharius audisset, qui amicitias cum presbitero retinebat, quod scilicet puer eius fuerit interfectus, arrepta arma ad eclesiam petit, Austrighyselum opperiens. Ille autem hec audiens, adprehenso armorum aparatu, contra eum diregit. Mixtisque omnibus, cum se pars utraque conliderit, Sicharius inter clericos ereptus ad villam suam effugit, relictis in domo presbiteri cum argento et vestimentis quatuor pueris sauciatis. Quo fugiente, Austrighiselus iterum inruens, interfectis pueris aurum argentumque cum reliquis rebus abstulit. Dehinc cum in iudicio civium convenis‐ sent, et preceptum esset ut Austrighiselus, qui homicida erat et, interfectis pueris, res sine audienciam diripuerat, censura legali condempnaretur. Inito placito, paucis infra diebus Sicharius audiens quod res, quas Austrighiselus deripuerat, cum Aunone et filio adque eius fratre Eberulfo retinerentur, postposito placito, coniunctus Audino, mota sedicione, cum armatis viris inruit super eos nocte, elisumque hospicium, in quo dormiebant, patrem cum fratre et filio interemit, resque eorum cum pecoribus, interfectisque servis, abduxit. Quod nos audientes, vehimenter ex hoc molesti, adiuncto iudice, legacionem ad eos mittemus, ut in nostra presencia venientes. accepta racione, cum pace discederent, ne iurgium in amplius pulularet. Quibus venientibus coniunctisque civibus, ego aio: «Nolite, o viri, in sceleribus proficere, ne malum longius extendatur. Perdedimus enim eclesie filius; metuemus nunc, ne et alius in hac intencione careamus. Estote, queso, pacifici; et qui malum gessit, stante caritate, conponat, ut sitis filii pacifici, qui digni sitis regno Dei, ipso Domino tribuente, percipere. Sie enim ipse ait: Beati pacifici, quoniam filii Dei vocabuntur. Ecce enim, etsi illi, qui noxe subditur, minor est facultas, argento eclesie redemitur; interim anima viri non pereat.» Et hec dicens, optuli argentum eclesie; sed pars Chramnesindi, qui mortem patris fratresque et patrui requerebat, accepere noluit. His discedentibus, Sicharius iter, ut ad regem ambularet, preparat, et ob hoc Pectavum ad uxorem cernendam <?page no="86"?> proficiscitur. Cumque servum, ut exerceret opera, commoneret elevatamque virgam ictibus verberaret, ille, extracto baltei gladio, dominum sauciare non metuit. Quo in terram ruente, currentes amici adprehensum servum crudeliter cesum, truncatis manibus et pedibus, patibolo damnaverunt. Interim sonus in Toronicum exiit, Sicharium fuisse defunctum. Cum autem hec Chramnesindus audisset, commonitis parentibus et amicis, ad domum eius properat. Quibus spoliatis, interemptis nonnullis servorum, domus omnes tam Sicharii quam reliquorum, qui participes huius ville erant, incendio concremavit, abducens secum pecora vel quecumque movere potuit. Tunc partes a iudice ad civitatem deducte, causas proprias prolocuntur; inventumque est a iudicibus, ut, qui nollens accepere prius conposicionem domus incendiis tradedit, medietatem precii, quod ei fuerat iudicatum, amitteret - et hoc contra legis actum, ut tantum pacifici redderentur - alia vero medietatem conposiciones Sicharius reddered. Tunc datum ab ecclesia argentum, que iudicaverunt accepta securitate conposuit, datis sibi partes invicem sacramentis, ut nullo umquam tempore contra alteram pars alia musitaret. Et sic altercacio terminum fecit. (IX, 19) Bellum vero illud, quod inter cives Toronicus superius diximus termina‐ tum, in rediviva rursum insania surgit. Nam Sicharius, cum post interfectionem parentum Cramsindi magnam cum eo amiciciam patravissed, et in tantum se caritate mutua diligerent, ut plerumque simul cibum caperent, ac in uno pariter stratu recumberent, quandam die cenam sub nocturno tempore preparat Chram‐ sindus, invitans Sicharium ad epulum suum. Quo veniente, resident pariter ad convivium. Cumque Sicharius crapulatus a vino multa iactaret in Cramsindo, ad extremum dixisse fertur: «Magnas mihi debes referre grates, o dulcissime frater, eo quod interficerem parentes tuos, de quibus accepta composicione, aurum argentumque superabundat in domum tuam, et nudus essis et egens, nisi hec te causa paululum roborassit.» Hec ille audiens, amare suscepit animo dicta Sichari, dixitque in corde suo: «Nisi ulciscar interitum parentum meorum, amitteri nomen viri debeo et mulier infirma vocare.» Et statim extinctis luminaribus, caput Sichari seca dividit. Qui parvolam in ipso vitae terminum vocem emittens, cecidit et mortuus est. Pueri vero, qui cum eo venerant, dilabuntur. Cramsindus exanimum 86 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="87"?> 5 Schwere heimische Kämpfe erhoben sich damals zwischen Bewohnern des Gebietes von Tours. Sichar nämlich, weiland Johannes’ Sohn, feierte das Fest der Geburt des Herrn mit Austregisil und den anderen Gaugenossen in dem Dorfe Manthelan, und der Priester des Ortes sandte einen Knecht aus, um einige Leute einzuladen, daß sie in sein Haus kämen, bei ihm zu zechen. Da aber der Knecht kam, zog einer von denen, die eingeladen wurden, sein Schwert und vermaß sich auf ihn einzuhauen, und alsobald sank der Knecht hin und starb. Als dies Sichar, der mit dem Priester in Freundschaft lebte, hörte, daß nämlich ein Knecht desselben ermordet worden sei, nahm er seine Waffen, ging in die Kirche und erwartete Austregisil. Dieser aber rüstete sich, da er solches vernahm, auch mit seinen Waffen und ging ihm entgegen. Und da sie alle ins Gemenge gerieten, und ein Teil wie der andere zu Schaden kam, stahl sich Sichar unbemerkt unter dem Schutz der Geistlichkeit fort und entfloh auf seinen Hof, ließ aber sein Silber, seine Kleider und vier seiner Knechte, die verwundet waren, im Hause des Priesters zurück. Nach seiner Flucht brach Austregisil in dieses Haus ein, tötete die Knechte und nahm das Gold, Silber und die übrigen Sachen Sichars mit sich. Danach. als sie im Gericht der Bürger erschienen, wurde entschieden, daß Austregisil wegen Totschlages zu der gesetzlichen Buße zu verurteilen sei, und weil er, nachdem er die Knechte getötet, die Sachen an sich gebracht hatte ohne ein Urteil abzuwarten. Sichar hatte sich auf diese Abmachungen eingelassen, hörte aber nach einigen Tagen, daß die Sachen, welche Austregisil ihm entwendet hatte, bei Auno, bei seinem Sohne und seinem Bruder Eberulf aufbewahrt wären. und. ohne die Abmachung zu beachten, tat er sich mit dem Audin zusammen, brach den Frieden und überfiel sie mit Bewaffneten bei Nacht. Er erbrach das Haus, wo sie schliefen, tötete Vater, Bruder und Sohn, erschlug die Knechte und nahm alle ihre Sachen und Herden mit sich fort. Da wir dies hörten, wurden wir sehr betrübt, verbanden uns mit dem Richter des Ortes und schickten Botschaft an sie, sie möchten vor uns erscheinen, ihre Sache austragen und in Frieden auseinandergehen, damit der Hader nicht noch weiter um sich greife. Als sie aber kamen, und die Bürger beieinander waren, redete ich sie also an: «Lasset ab, ihr Männer, von weiteren Freveln. daß dies Übel nicht noch mehr um sich fresse. Wir haben schon Söhne der Kirche in diesem Streite verloren und besorgen, daß wir noch andere einbüßen. Verhaltet euch also, ich bitte euch, friedfertig, und wer Unrecht getan hat, büße es, um der Liebe willen, daß ihr Kinder des Friedens seid, würdig durch die Gnade des Herrn Gottes Reich zu empfangen. Denn er spricht: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Und sehet, wenn er, welcher die Schuld trägt, zu arm sein sollte, die Buße zu zahlen, so soll er mit dem Geld der Kirche ausgelöst werden, nur daß seine Seele nicht verlorengehe.» corpus nudatum vestibus adpendit in sepis stipite, ascensisque aequitibus eius, ad regem petiit-… 5 Man wird beim Lesen wohl zunächst den Eindruck haben, daß hier eine an sich höchst verworrene Geschichte sehr unklar erzählt wird. Auch wer sich durch die Unordnung der Rechtschreibung und der Flexionsendungen nicht verblüffen läßt, wird einige Mühe haben, sich den Tatbestand genau klarzu‐ machen. «Damals brachen zwischen den Einwohnern von Tours schwere innere Unruhen aus. Denn …» Nun sollte die Ursache der Unruhen folgen, aber es folgt zunächst, von dem nam abhängig, ein Stück der Vorgeschichte, IV Sicharius und Chramnesindus 87 <?page no="88"?> So bot ich ihnen das Geld der Kirche an. Die Partei des Chramnesind aber, welche den Tod seines Vaters, seines Bruders und seines Oheims rächen wollte, weigerte sich, die Buße anzunehmen. Also gingen sie fort, und Sichar schickte sich zu einer Reise an, um zum König zu ziehen. Er begab sich deshalb in das Gebiet von Poitiers, um dort sein Weib zu besuchen. Und als er dort einen Knecht antrieb, seine Arbeit zu tun, den Stock erhob und ihn schlug, zog dieser das Schwert, das er am Gürtel hängen hatte, und ließ es sich beikommen, seinen Herrn zu verwunden. Da Sichar zu Boden stürzte, liefen seine Freunde herbei, ergriffen den Knecht, richteten ihn fürchterlich zu, schnitten ihm Hände und Füße ab und überlieferten ihn dem Galgen. Inzwischen verbreitete sich das Gerücht zu Tours, Sichar sei umgekommen, und als dies Chramnesind vernahm, entbot er seine Verwandten und Gefolgsleute und stürmte nach Sichars Hause. Nachdem er es ausgeplündert und mehrere Knechte getötet hatte, steckte er alle Häuser, sowohl die des Sichar als die der anderen. die am Hofe Anteil hatten, in Brand und nahm die Herden und alles, was fortzubringen war, mit sich. Darauf wurden die Parteien vom Richter nach der Stadt vorgefordert. Sie vertraten hier ihre Sache, und die Richter fanden das Urteil, daß der, welcher früher die Buße nicht habe annehmen wollen und Feuer in den Häusern angelegt habe, die Hälfte des Wergelds, das ihm früher zuerkannt war, verlieren sollte - dies war eigentlich gegen die Gesetze und geschah nur, um sie zu beruhigen - die andere Hälfte der Buße aber Sichar erlegen sollte. Darauf gab die Kirche das Geld her, die Buße wurde nach dem Urteilsspruch gezahlt, die Parteien versöhnten sich und schwuren sich gegenseitig, daß kein Teil mehr zu irgendeiner Zeit sich gegen den andern erheben wollte. So nahm der Hader ein Ende. Der Kampf zwischen den Einwohnern von Tours, von dessen Beendigung wir oben erzählt haben, erhob sich wiederum mit erneuter Wut. Sichar hatte nämlich mit Chram‐ nesind, obwohl er ihm seine Verwandten erschlagen, innige Freundschaft geschlossen, und sie liebten einander so herzlich, daß sie oftmals zusammen ihr Mahl verzehrten und auf einem Lager beisammen schliefen. Als daher einst Chramnesind ein Nachtmahl anstellte, lud er Sichar zu diesem Gelage ein. Sichar kam, und sie saßen zusammen bei Tische. Sichar erlaubte sich aber, vom Wein erhitzt, gegen Chramnesind viele herausfordernde Reden und brach zuletzt, wie man erzählt, in fahrende Worte aus: «Großen Dank, mein herzliebster Bruder, habe ich von dir dafür verdient, daß ich dir deine Verwandten erschlagen habe; denn du hast das Wergeld für sie empfangen, und nun ist in deinem Hause Gold und Silber in Fülle; arm und dürftig würdest du jetzt leben, hätte dies dich nicht etwas zu Kräften gebracht.» Dies hörte jener, die Worte erfüllten ihm den Sinn mit Bitterkeit, und er sprach in seinem Herzen: «Wenn ich den Tod meiner daß nämlich in einem Dorf, wo viele Leute zu einer Weihnachtsfeier versammelt waren, der Dorfgeistliche einen Knecht aussandte, um einige von den Versammelten zu einem Trinkgelage einzuladen. Das ist doch aber nicht die Ursache der Unruhen. Es erinnert an die Erzählungsweise, der man häufig in der gesprochenen Sprache begegnet, besonders bei ungebildeten oder hastigen oder nachlässigen Sprechern, etwa an folgenden Typus: «Ich bin gestern später aus dem Büro gekommen. Denn Direktor Schulze war beim Chef, und da haben sie über die Angelegenheit X gesprochen. Und wie es beinah fünf war, kommt der Chef und sagt: Ach Herr Müller, könnten 88 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="89"?> Verwandten nicht räche, so bin ich nicht wert, ferner ein Mann zu heißen; ein feiges Weib muß man mich nennen.» Sofort löschte er die Lichter aus und spaltete jenem mit seiner Klinge den Kopf. Sichar stieß im letzten Augenblick noch einen schwachen Schrei aus, dann sank er nieder und starb. Die Diener aber, die mit ihm gekommen waren, entflohen. Chramnesind riß darauf dem Leichnam die Kleider ab und hing ihn so an den Pfahl einer Zaunhecke, dann bestieg er sein Pferd und eilte zum Könige … (Diese Übersetzung ist dem neunten Bande der «Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit», 2. Ausgabe, 1913, entnommen. Sie bemüht sich, den Vorgang verständlich zu machen, nicht aber eine Vorstellung von Gregors Schreibweise zu vermitteln.) Sie nicht noch schnell die Aufstellung machen, damit wir Herrn Schulze das ganze Material gleich mitgeben können usw.» Ebensowenig wie die Einladung des Geistlichen gibt die Anwesenheit Schulzes beim Chef die unmittelbare Ursache für den Ausbruch der Unruhen beziehungsweise für die Verspätung Müllers, sondern nur den ersten Teil eines mehrgliedrigen Tatbestandes, den der Erzähler syntaktisch zusammenzufassen nicht im‐ stande ist: er hat die Absicht, nun die Ursache des im ersten Hauptsatz vorweggenommenen Resultats zu geben, wird aber von der Menge der dazu erforderlichen Angaben in Verwirrung gebracht: weder hat er die Energie, sie in einer einzigen Periode, mit Hilfe eines Systems von Nebensätzen, zu organisieren, noch die Voraussicht, sich in Erkenntnis dessen mit einem ordnenden Einleitungssatz (etwa: «das kam so») aus der Schwierigkeit zu befreien. So wie es dasteht, ist das nam unscharf und unberechtigt, genau wie in dem ganz ähnlich konzipierten späteren Satz: nam Sicharius cum post interfectionem etc., denn auch dort wird von dem nam nicht die Ursache des neuen Ausbruchs der Unruhen eingeleitet, sondern nur das erste Stück eines vielteiligen Tatbestandes: und in beiden Fällen wird der Eindruck der Unordnung noch erheblich verstärkt durch den Subjektwechsel - in beiden Fällen fängt der Satz mit Sicharius als Subjekt an, den Gregor offenbar beide Male als Hauptperson im Sinne hat, und in beiden Fällen ist er genötigt, nac träglich das Subjekt desjenigen Teilbestandes einzuschieben, den allein er in einem einzigen Satz unterzubringen fähig ist, so daß die Sätze grammatische Ungeheuer werden. Nun haben zwar die Kommentatoren (Bonnet, auch Löfsted in seinem Kommentar zur Peregrinatio Aetheriae) uns belehrt, daß nam im Vulgärlatein, wie so viele der einst so klaren und scharfen Verbindungspartikel des Lateinischen, seine ursprüngliche Ausdruckskraft eingebüßt hat; daß es gar nicht mehr kausal ist, sondern nur noch eine farblose Weiterführung oder Überleitung anzeigt. Aber so verhält es sich an unseren beiden Gregorstellen durchaus noch nicht. Im IV Sicharius und Chramnesindus 89 <?page no="90"?> Gegenteil, Gregor empfindet die kausale Bedeutung noch, er wendet sie an, nur in verworrener und unscharfer Weise. Man kann vielleicht an solchen Beispielen erkennen, wie nam durch viele so laxe Anwendungen allmählich als Kausalpartikel erschlaffte - hier ist der Erschlaffungsprozeß noch im Gange, noch nicht vollendet. Bemerkenswert ist es, daß solche Vorgänge, die in der gesprochenen Sprache wohl jederzeit stattfinden, hier in die Schriftsprache eines Mannes wie Gregor von Tours eindringen, der aus vornehmer Familie stammt und innerhalb seiner Zeit und seines Landes eine bedeutende Erscheinung ist. Gehen wir weiter. Der die Einladung überbringende Knecht wird «von einem der Eingeladenen» totgeschlagen: warum? Das wird nicht gesagt. Daß der Totschläger Austrighiselus oder einer aus seiner Gruppe gewesen sein muß, kann man nur aus dem Folgenden erschließen, da ja Sicharius sich an ihm für die Tat rächen will; gesagt wird es nicht; und auch das unvermit‐ telte Einführen der verschiedenen Gebäude, in denen die Kampfhandlungen sich abspielen - die Kirche, das Haus des Geistlichen - und die Worte «inter clericos ereptus» geben nur eine sehr verworrene Vorstellung von den Ereignissen; man vermißt erklärende Zwischenglieder. Dafür erscheint anderes übermäßig ausführlich. Warum sagt Gregor nicht einfach: einer von den Eingeladenen tötete den Knecht? Er sagt: … extracto gladio, eum ferire non metuit. Qui statim cecidit et mortuus est - so ausführlich behandelt er diesen, doch nur im Ergebnis wichtigen Zwischenfall, dessen Motiv er uns verschweigt; das wäre doch wohl wichtiger gewesen, als zu erwähnen, daß der Knecht hinfiel, bevor er starb! Im nächsten Satz fürchtet er, der Leser könne den Zusammenhang schon verloren haben, denn er hält es für nötig, hinzuzufügen «quod scilicet puer eius fuerit interfectus» - das kann doch nur ein Leser von sehr geringer Fassungskraft schon vergessen haben! Dagegen mutet er mit dem «Austrighiselum opperiens» demselben Leser ziemlich viel Kombinationsgabe zu, denn er hat unterlassen, uns mitzuteilen, daß Austrighiselus irgendwie mit dem Totschlag in Verbindung steht - ja überhaupt, daß sich die ganze Festgesellschaft nicht an einem Orte zusammen aufhält, wie man eigentlich annehmen müßte. In derselben Art geht es fort. Der Satz, der von dem ersten Gerichtsverfahren handelt (dehinc cum in iudicio …), enthält überhaupt kein regierendes Verbum; der folgende ist ein Monstrum durch seine übereinandergeschichteten, grammatisch völlig systemlosen Partizipialgebilde: inito placito, postposito placito, coni‐ unctus Audino, mota sedicione, elisumque hospicium; Übersetzung und geschichtlich-juristische Interpretation beider Sätze sind äußerst schwierig 90 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="91"?> (wie überhaupt der ganze juristische Vorgang Anlaß zu einer einst viel be‐ sprochenen Kontroverse zwischen Gabriel Monod und Fustel de Coulanges, Revue historique XXXI, 1886 und Revue des questions historiques XLI, 1887, gegeben hat); das liegt nicht nur an der Vieldeutigkeit des Wortes placitum, sondern auch an der Unübersichtlichkeit der Sprachstruktur im ganzen; und diese wiederum verrät, daß Gregor die Ereignisse selbst nicht übersichtlich zu ordnen vermag. Austrighiselus verschwindet, ohne daß man erfährt, was aus ihm ge‐ worden ist; neue Personen werden überraschend eingeführt, und nur ge‐ legentlich und unvollständig hören wir, wie sie mit den Ereignissen in Verbindung stehen; die Rede, die Gregor zur Besänftigung der Gemüter hält, ist wiederum nur bei einiger Kombinationsgabe verständlich, denn wer ist illi, qui noxe subditur, und wer der vir, dessen Seele nicht umkommen soll? Dafür ist die im Zusammenhang des Ganzen nebensächliche Geschichte von Sicharius’ Reise nach Poitiers und seiner Verwundung durch einen Knecht - deren Interesse für das Ganze der Handlung doch nur darin besteht, daß sich auf Grund ihrer das falsche Gerücht von seinem Tode verbreitete - mit einer Menge von Einzelheiten geschildert. Beim zweiten Gerichts- oder Ausgleichsverfahren muß man sich wieder recht anstrengen, um sich klar‐ zumachen, um welche Partei und um welches Geld es sich jeweils handelt. Und in dem ganzen ersten (aus dem siebenten Buch stammenden) Stück kommen zwar sehr viele, oft sehr ungeschickte Satzunterordnungen vor - das Bemühen periodisch zu schreiben ist unverkennbar - aber überhaupt keine klaren kausalen oder konzessiven Konjunktionen, mit Ausnahme des quoniam in dem Bibelzitat, und des etsi, dessen Bedeutung mir nicht ganz klar ist; es ist aber wohl eher konditional (= si) als kausal oder konzessiv. Der zweite Teil (der aus dem neunten Buch stammt) bietet nicht ganz denselben Eindruck, da er sich sehr bald auf eine einzige Szene konzentriert, bei der es weniger auf Ordnung als auf Sinnfälligkeit ankommt. Doch auch hier ist der die Exposition gebende Satz «Nam Sicharius», von dem wir schon oben gesprochen haben, ein monströses Gebilde. Selbstverständlich hätte ein klassischer Autor den Vorgang viel klarer geordnet - vorausgesetzt daß er ihn überhaupt dargestellt hätte. Sobald man sich nämlich die Frage vorlegt, wie Cäsar oder Livius oder Tacitus oder selbst Ammian diese Geschichte erzählt hätten, wird einem sogleich und zunächst sehr deutlich: sie hätten sie überhaupt nicht erzählt. Für sie und ihr Publikum hätte solch eine Geschichte nicht das mindeste Interesse gehabt. Wer sind Austrighiselus, Sicharius und Chramnesindus? Nicht IV Sicharius und Chramnesindus 91 <?page no="92"?> einmal Stammesfürsten sind sie, und ihre blutigen Raufereien hätten in der Blütezeit des Imperiums dem leitenden Beamten der Provinz wohl nicht einmal Anlaß zu einem Sonderbericht nach Rom gegeben. Bei dieser Erwägung wird klar, wie klein Gregors Horizont ist, wie wenig Übersicht über ein großes zusammenhängendes Ganzes er besitzt, wie wenig er in der Lage war, seinen Stoff nach den einst gültigen Gesichtspunkten zu ordnen. Das Imperium existiert nicht mehr; Gregor sitzt nicht mehr an einer Stelle, wo alle Nachrichten aus dem orbis terrarum zusammenfließen, ausgewählt und vorgeordnet nach ihrer Bedeutung für das Reich; weder verfügt er über die Nachrichtenquellen, die man einst besaß, noch über die Gesinnung, in der die Nachrichten redigiert wurden. Er übersieht kaum Gallien; ein großer Teil seines Werkes, der wertvollste ohne Zweifel, besteht aus dem, was er selbst in seiner Diözese erlebt hat, oder was ihm aus den benachbarten Gegenden berichtet wurde; sein Material beschränkt sich im wesentlichen auf das, was ihm selbst anschaulich geworden ist. Einen politischen Gesichtspunkt im alten Sinne besitzt er nicht, und wenn sich bei ihm überhaupt von einem solchen sprechen läßt, so wäre es das Interesse der Kirche; aber auch das übersieht er nur auf einem beschränkten Gebiet; das Ganze der Kirche erfaßt er auch gedanklich nicht so, daß es einprägsam aus seinem Werke hervorleuchtete; es bleibt alles lokal beschränkt, sowohl materiell wie gedanklich. Dagegen hat er, irrt Gegensatz zu seinen antiken Vorgängern, die oft nach mittelbaren und durchrationalisierten Berichten arbeiteten, das meiste, was er in der Frankengeschichte erzählt, selbst mitangesehen oder aus unmittelbarer mündlicher Berichterstattung der Miterlebenden geschöpft; das kommt seinem natürlichen Instinkt entgegen; denn ihn interessiert unmittelbar, was die Menschen tun, sie werden ihm interessant, wie sie sich um ihn herum bewegen, ohne Rücksicht auf das Politische in einem weiteren Zusammenhang; auch das Politische, so weit es vorkommt, hat er ausgesprochen menschlich-anekdotisch behandelt; so bekommt sein Werk einen Charakter, der dem persönlicher Memoiren weit näher steht als das irgendeines römischen Historikers - wie verschieden der Fall Cäsars liegt, braucht wohl nicht ausgeführt zu werden. Ein früherer antiker Autor hätte also diese Geschichte überhaupt nicht behandelt; wäre sie zum Verständnis irgendeines größeren politischen Zusammenhangs unentbehrlich, so hätte er sie in drei Zeilen abgetan. Wo eine Reihe von Gewalthandlungen selbst politisch bedeutsam werden - man denke etwa an Jugurtha und seine Vettern bei Sallust -, da wird vorher, aufs genaueste durchrationalisiert und rhetorisch aufgehöht, das System 92 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="93"?> der politischen Motive ausgebreitet; szenische Einzelheiten ohne politisches Interesse werden höchstens gelegentlich kurz angedeutet, wie dies etwa der Fall ist in den Worten occultans sese tugurio muliebris ancillae bei der Ermordung Hiempsals ( Jugurtha 12). Gregor aber bemüht sich, zuweilen ungeschickt und weitschweifig, oft aber sehr wirkungsvoll, die Vorgänge anschaulich zu machen. «… der Geistliche des Ortes sandte einen Knecht, um gewisse Leute einzuladen, sie sollten zum Trinken in sein Haus kommen. Wie nun der Knecht ankam, zog einer der Eingeladenen sein Schwert und scheute sich nicht, ihn zu verwunden. Der fiel gleich um und war tot.» Das ist, wenn auch auf eine sehr einfache Art, anschauliche Erzählung; weder daß der Knecht ankam, noch daß er umfiel, wäre sonst der Erwähnung würdig. Ebenso ist es mit dem Racheangriff auf Austrighiselus; er ist zwar nicht sehr klar in den topographischen Angaben, aber man fühlt wiederum die Bemühung, alle aufeinanderfolgenden Stadien des Vorgangs anschaulich zu machen; und dasselbe gilt bei der für den Fortgang der Handlung ganz un‐ bedeutenden Auseinandersetzung zwischen Sicharius und seinem Knecht. Das eigentümlichste und schlagendste Beispiel für Gregors Bemühung um Anschaulichkeit ist aber in unserem Text der Mord an Sicharius. Wie die bei‐ den, deren einer noch vor gar nicht langer Zeit die nächsten Verwandten des anderen umgebracht hatte, sich so herzlich miteinander anfreundeten, und so unzertrennlich wurden, daß sie sogar miteinander aßen und schliefen, wie wieder einmal Chramnesindus den Sicharius zum Mahle einlud, wie dabei der betrunkene Sicharius durch seine wüsten Reden den anderen aufreizt, sich für alles auf einmal zu rächen, und schließlich der Mord selbst - das alles ist von einer Anschaulichkeit und einer Bemühung um unmittelbare Nach‐ ahmung des Vorgefallenen, wie sie die römische Geschichtsschreibung nie erstrebt hat (auch Ammians ausmalender Prunkstil ist nicht nachahmend), und wie man sie in der gesamten antiken Literatur ernsten Inhalts kaum finden dürfte; es ist überdies psychologisch großartig, eine höchst packende Szene zwischen zwei Menschen, und ganz erfüllt mit der seltsamen Luft der Merovingerepoche: das unverhüllt Gewaltsame, Plötzliche, was jede Erinnerung an die Vergangenheit löscht und jede Berechnung der Zukunft ausschließt, und andererseits die geringste Wirksamkeit der christlichen Moral, die, in der primitivsten Form vorgetragen, den rohen Gemütern doch nicht eingeht - dies alles tritt scharf in der Szene hervor. Die naheliegende Vermutung, daß Chramnesindus den Sicharius bewußt in eine Falle gelockt hat - daß die Freundschaft von seiner Seite nur erheuchelt war, um den Feind in Sicherheit zu wiegen - zieht Gregor gar nicht in Erwägung, und IV Sicharius und Chramnesindus 93 <?page no="94"?> er wird wohl recht haben, denn er kannte die Leute, zwischen denen er lebte; auch lesen wir überall in seinem Werk von ähnlich besinnungslosen Taten. Es scheint wirklich so, daß die beiden sich ganz ehrlich so nah befreundeten, daß ihrem nur dem Augenblick lebenden Bewußtsein es gar nicht aufdämmerte, wie unnatürlich und gefährlich solch eine Freundschaft sei; daß dann ein paar taktlose, trunkene Worte plötzlich die Erinnerung wieder an die Oberfläche trieben, den vergessenen Haß wieder auflodern ließen, und daß also der Mord der Entschluß eines Augenblicks war; was um so wahrscheinlicher ist, als Chramnesindus, wie aus dem Folgenden hervorgeht, sich durch seine Tat in eine schlimme Lage brachte, denn Sicharius hatte eine mächtige Beschützerin in der Königin Fredegunde; hätte Chramnesindus sich Zeit zur Besinnung gelassen, so hätte er wohl anders gehandelt. Gregor erzählt das alles ohne jeden eigenen Kommentar, rein dramatisch, indem er das Tempus wechselt und ins Präsens fällt, sobald er dem entscheidenden Ereignis näherkommt; und dann gibt er direkte Rede, sowohl für das Schwadronieren des betrunkenen Sicharius als auch für den inneren Vorgang in Chramnesindus. Beide direkten Reden sind rein unmittelbare Nachahmung des wirklich Gesprochenen beziehungsweise Gefühlten, ohne jede rhetorische Reaktion; die Worte des Sicharius klingen, als wären sie aus der Vulgärsprache, in der sie gesprochen wurden («wie man sagt», dixisse fertur), in das ungeschickte Latein Gregors rückübersetzt; deutsch kann man es sich ungefähr folgenderart rekonstruieren: «Eigentlich mußt du mir sehr dankbar sein, Brüderchen, daß ich deine Verwandten umgebracht habe; durch die Entschädigung, die du eingesteckt hast, bist du ein wohlhabender Mann geworden, du hättest jetzt nichts zu beißen und zu brechen, wenn dich diese Affäre nicht einigermaßen gesund gemacht hätte.» Und sehr eindringlich, bei aller Unbehilflichkeit, wird die Reaktion des Chramnesindus in einem inneren Monolog dargestellt: «Ich wäre nicht wert, ein Mann zu heißen, man müßte mich ein hilfloses Weib nennen, wenn ich nicht den Untergang meiner Verwandten räche» - und sofort wird das Licht ausgelöscht, Sicharius wird umgebracht, auch sein Todesröcheln wird nicht vergessen, und auch hier heißt es cecidit et mortuus est; den fallenden Körper läßt sich Gregor nicht entgehen. Eine Szene also, die ein antiker Historiker nie der Darstellung für würdig gehalten hätte, erzählt Gregor aufs anschaulichste; und wahrscheinlich hat ihn gerade die Anschaulichkeit zur Darstellung gereizt. Wenn man etwa die Geschichte von der Flucht des Geisels Attalus liest (3, 15; sie hat Grillparzer den Stoff für «Weh dem der lügt» geliefert), so trifft man auf die 94 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="95"?> Szene, wo sich die Flüchtlinge vor den berittenen Verfolgern hinter einem Brombeergesträuch verstecken; und gerade vor diesem halten die Reiter: dixitque unus, dum equi urinam proiecerint … Welcher antike Autor hätte ein solches Detail gegeben! Man sieht, wie Gregor, um den Dingen Atem zu verleihen, ganz spontan, aus dem Bedürfnis seiner eigenen Einbildungskraft heraus, solche Dinge erfindet - er war ja nicht dabei! Was er erzählt, das bemüht er sich sichtbar, tastbar, mit allen Sinnen erfaßbar zu machen. Dazu dient ihm auch das eigentümlichste Merkmal seines Stils, die vielen kurzen direkten Reden, deren er sich bedient, wo immer er einen Anlaß dazu findet - er macht auf diese Art, wo er kann, aus jeder Erzählung eine Szene. Über die Rolle der direkten Rede in der antiken Historiographie haben wir schon bei früheren Gelegenheiten (S. 47f. und 53f.) gesprochen: sie wird dort fast nur für große Ansprachen rhetorischen Charakters verwendet; das Gefühlsmäßige und Dramatische an ihnen ist rein rhetorisch; sie ordnen und beherrschen die Tatbestände, aber sie konkretisieren sie nicht. Gregor dagegen gibt Zwiegespräche und ähnliche kurze Äußerungen der Handeln‐ den, die in einem Augenblick hervorbrechen und den Augenblick zur Szene machen. Die lange Reihe von Szenen, in denen erin seinem holprigen, ihn manchmal behindernden Latein, das so gern literarisch sein möchte, und aus dem doch immer wieder die konkrete Kraft der Vulgärsprache hervorzubrechen scheint, einen oder zwei Menschen sprechen läßt, kann ich hier nicht aufzählen. Einige Beispiele (eines liefert ja schon die eben besprochene Mordszene) will ich wenigstens erwähnen: in der Attalusge‐ schichte das Gespräch zwischen dem Koch und seinem Herrn (rogo ut facias mihi prandium quod admirentur et dicant quia in domu regia melius non aspeximus, III 15; dort auch die nächtliche Unterhaltung zwischen dem Koch und dem Schwiegersohn); in dem Kampf um die Bischofswürde in Clermont, die Drohungen des Presbiters Cato gegen den Archidiakon Cautinus (Ego te removebo, ego te humiliabo, ego tibi multas neces impendi praecipiam, IV, 7); die Auseinandersetzung zwischen König Chilperich und Gregor über die Trinität (Zorn und Hohn des Königs in seinen Antworten, zum Beispiel manifestum est mihi in hac causa Hilarium Eusebiumque validos inimicos habere, oder sapientioribus a te hoc pandam qui mihi consentiant, V, 44); Fredegundis am Krankenbett desBischofs Praetextatus, mit der ganzen vorhergehenden und nachfolgenden Szene (VIII, 31); die Antwort des Bischofs Bertramnus von Bordeaux in der Angelegenheit seiner Schwester (requirat nunc eam revocetque quo voluerit, me obvium non habebit, IX, 33); die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Prinzessin IV Sicharius und Chramnesindus 95 <?page no="96"?> Rigundis und ihrer Mutter (IX, 34); Guntchram Boso und der Bischof von Trier(IX, 10); und ganz besonders packend, der Untergang des Mundericus, wo am Schluß, wenn Mundericus an der Hand des Verräters Aregyselus aus dem Tor seiner Burg tritt, der Augenblick der Spannung vor dem Mord durch ein paar Worte direkter Rede ganz scharf und szenenhaft herausgehoben wird: Quid adspicitis tarn intenti, populi? An numquid non vidistis prius Mundericum? (III, 14) In all diesen Gesprächen und Ausrufen sind kurze, spontane, zwischen‐ menschliche Vorgänge auf das konkreteste dramatisiert: Auge in Auge, Rede gegen Rede stehen sich die Handelnden atmend gegenüber, ein in der antiken Geschichtsschreibung kaum anzutreffendes Verfahren - selbst der Dialog des klassischen Theaters ist stärker rational und rhetorisch geformt. Wohl aber findet sich das spontane kurze Zwiegespräch in den biblischen Schriften - man vergleiche, was wir oben Seite 54 darüber gesagt haben. Ohne Zweifel sind Rhythmus und Atmosphäre der Bibel, zumal der Evangelien, Gregor jederzeit gegenwärtig, und für seinen Stil mitbestim‐ mend. Und sie entbinden Kräfte, die ohnehin in Gregor und seiner Epoche bereitstehen. Denn es ist überall die vulgäre gesprochene Sprache, die zwar längst noch nicht schreibbar ist, aber doch dauernd in Gregors Bewußtsein mitklingt, unverkennbar durchzufühlen. Das Schriftlatein Gregors ist nicht nur grammatisch und syntaktisch verfallen, es wird auch in seinem Werk zu einem Gebrauche verwendet, für den es ursprünglich, oder doch wenigstens in seiner Blütezeit, wenig geeignet schien, nämlich konkrete Wirklichkeit nachzuahmen. Denn das Schriftlatein der Blütezeit, zumal die Prosa, ist eine fast übermäßig ordnende Sprache, in der das Stofflich-Sinnliche der Tatbe‐ stände mehr von oben übersehen und angeordnet als in seiner stofflichen Sinnlichkeit anschaulich gemacht wird. Neben der rhetorischen Tradition spielt hierbei auch der juristisch-administrative Geist des Römertums mit: es herrscht in der römischen Prosa der Blütezeit (selbst in den Briefen Ciceros, in diesen zuweilen sogar sehr stark; man lese etwa den berühmten Rechtfertigungsbrief an P. Lentulus Spinther, ad fam. I, 9, besonders etwa § 21) die Neigung vor, das Tatsächliche nur einfach zu berichten, ja wenn möglich es nur mit ganz allgemeinen Worten anzudeuten, nur darauf anzu‐ spielen, Distanz von ihm zu bewahren - dagegen alle Schärfe und Kraft der Sprache in das Syntaktisch-Verbindende zu legen: so daß der Stil gleichsam einen strategischen Charakter gewinnt, mit überaus klaren Gelenken, indes der zwischen ihnen liegende Stoff des Geschehens zwar beherrscht, aber nicht eigentlich sinnlich erschlossen wird. Die Werkzeuge der syntaktischen 96 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="97"?> Verbindung gelangen auf diese Weise zu äußerster Schärfe, Genauigkeit und Vielfalt; es handelt sich dabei nicht nur um Konjunktionen und andere Unterordnungsmittel, sondern auch der Gebrauch der Tempora, die Wort‐ stellung, die Antithese und vieles andere Rhetorische muß dem gleichen Zweck dienen: dem der genauen, scharfen, dabei elastischen und nüancen‐ reichen Anordnung. Dieser Reichtum an Gelenken und Anordnungsinstru‐ menten ermöglicht eine sehr große Vielfalt subjektiver Darstellung, eine erstaunliche Wendigkeit des Räsonnements über die Tatbestände, und eine lange Zeit nicht wieder in diesem Maße erreichte Freiheit, einiges aus den Tatbeständen zu unterschlagen und anderes, Zweifelhaftes anzudeuten, ohne es verantwortlich auszusprechen. Mit Gregors Sprache hingegen liegt es so, daß sie die Tatbestände nur sehr unvollkommen zu ordnen vermag; einen Ereigniszusammenhang, der nicht sehr einfach ist, vermag er nicht übersichtlich darzustellen. Seine Sprache ordnet schlecht oder überhaupt nicht. Aber sie lebt in dem Konkreten der Ereignisse, sie spricht mit und in den Menschen, die sich darin bewegen, und kann (während das Urteil, das Gregor gelegentlich über sie fällt, meist nur summarisch und ohne Feinheit ist, etwa IX, 19, gegen Ende, über Sicharius) doch aufs vielfältigste ihre Lust, ihren Schmerz, ihren Hohn und Zorn, und was sonst für Leidenschaften in ihnen toben, zu kräftigem Ausdruck bringen. Wieviel unmittelbarer sein sinnliches Mitleben ist als das eines antiken Autors, mag ein Vergleich mit dem realistischsten von ihnen, mit Petron, lehren. Dieser ahmt die Sprache seiner reichgewordenen Freigelassenen nach, er läßt sie ihren verdorbenen und widrigen Jargon sprechen, weit bewußter und genauer nachahmend als Gregor; aber es ist klar, daß er diesen Stil als ein Kunstmittel handhabt, und daß er einen Bericht oder ein geschichtliches Werk ganz anders schreiben würde. Er ist ein gebildeter und großer Herr, der seinesgleichen mit allem Raffinement eine Posse vorführt; was er macht, ist bewußte komische Kunst, und er kann auf viele andere Arten schreiben, wenn er will. Gregor hat aber gar nichts anderes zur Verfügung als sein grammatisch verworrenes, syntaktisch armes und auf diese Weise fast schülerhaft gewordenes Latein; er hat keine Register, die er ziehen, und auch kein Publikum, auf das er mit einer ungewohnten Würze, einer neuen Stilvariante wirken könnte. Aber er hat die konkreten Ereignisse, die um ihn herum geschehen, die sich vor ihm abwickeln oder ihm «brühwarm» berichtet werden, und zwar in einer Sprechsprache, von der wir uns zwar keine ganz genaue Vorstellung machen können, die ihm aber augenscheinlich als Urstoff seines Berichts dauernd in den Ohren klingt, während er sich bemüht, sie in sein halbliterarisches IV Sicharius und Chramnesindus 97 <?page no="98"?> Latein rückzuübersetzen. Was er erzählt, ist seine eigene, seine einzige Welt; er hat keine andere, und er lebt in ihr. Auch die Struktur der Ereignisse, die er zu berichten hat, kommt seinem Stil entgegen. Es sind alles, im Vergleich zu dem, was frühere römische Historiker zu berichten hatten, Lokalereignisse, und sie spielen sich ab innerhalb einer Schicht von Menschen, deren leidenschaftlich-sinnliche Triebe sehr heftig und deren rationale Erwägungen sehr roh und wenig ausgebildet waren. Wir erfahren aus Gregors Werk zwar nur sehr undeutlich den Zusammenhang der politischen Vorgänge, aber wir riechen gleichsam die Luft des ersten Jahrhunderts der Frankenherrschaft in Gallien. Es herrscht eine fürchterliche Verrohung; nicht nur, daß Gewalt überall im einzelnen Bezirk hervorbricht, daß also die Regierungen nicht die Macht haben, sie allein anzuwenden - sondern auch List und Politik haben jede Form verloren, sie sind ganz primitiv und plump geworden. Die Verhüllung und Umschreibung im zwischenmenschlichen Verkehr, wie sie zu jeder Hochkultur gehören, nämlich Höflichkeit, rhetorische Verkleidung, indi‐ rektes Verfahren, Regeln des äußeren Anstands und juristische Formalien selbst im Verfolg eines politischen oder geschäftlichen Raubes und so fort verkümmern oder werden da, wo sich noch Trümmer erhalten, zur plumpen Fratze. Dabei aber werden die Begierden jeder verhüllenden Form beraubt, sie treten nackt und unmittelbar zum Greifen hervor; dies rohe Leben wird sinnlich und bietet sich dem, der es darstellen will, ungeordnet, schwer zu ordnen, aber greifbar, würzig, atmend. Gregor ist ein Bischof, also einer von denen, deren Aufgabe es war, christliche Gesittung aufzubauen: eine ganz praktisch sorgende Tätigkeit, in der die Seelsorge sich in jedem Augenblick mit politischen und wirtschaftlichen Fragen verquickte. In der vorangegangenen Periode hatte das Hauptgewicht der kirchlichen Tätigkeit noch der Festlegung des Dogmas gegolten, wobei Geist und Scharfsinn sich in oft übermäßiger Weise entfaltet hatten; im sechsten Jahrhundert wendet sie sich, zumindest im Westen, ganz dem Praktischen und Organisatorischen zu. Von dieser Wendung gibt unser Gregor ein lebendiges Beispiel. Auf rhetorische Bildung erhebt er keinen Anspruch, für die Streitfragen des Dogmas hat er kein Interesse; es steht ihm fest, wie es die Konzilien beschlossen haben. Aber für all das, was das Volk beeindrucken kann - Heiligenlegenden, Reliquien und Wunder für die Phantasie, Schutz gegen Gewalttat und Bedrückung, einfache und mit Versprechen des künftigen Lohns gewürzte Morallehren - ist Raum in seinem Herzen. Die Menschen, zwischen denen er lebte, verstanden vom Dogma nichts und hatten von 98 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="99"?> den Mysterien des Glaubens nur eine sehr rohe Vorstellung. Sie hatten Begierden und materielle Interessen, gemildert durch Furcht voreinander und Furcht vor überirdischen Kräften. Gregor scheint ganz der Mann für diese Verhältnisse gewesen zu sein. Er war wenig über dreißig Jahre alt, als er Bischof von Tours wurde; wenn man vom Schriftsteller auf den Menschen schließen darf, muß er Mut und Temperament besessen haben, und gewiß hat ihn nicht leicht irgend etwas, was er sah, aus der Fassung gebracht. Er ist eines der ersten Beispiele jenes praktisch-aktiven Wirklichkeitssinnes in der Kirche, der aus der christlichen Lehre etwas innerhalb des irdischen Lebens Funktionierendes gemacht hat, und den man vielfach in der katholischen Kirche bewundern kann. Gregor ist nichts Menschliches fremd, in jede Tiefe leuchtet er hinein, er nennt die Dinge bei ihrem Namen, und bewahrt doch seine Würde und einige Salbung im Ton; auch verschmäht er es durchaus nicht, weltliche Mittel neben geistlichen anzuwenden. Er weiß, daß die Kirche reich und mächtig sein muß, wenn sie in dieser Welt auf die Dauer etwas Moralisches erreichen will, und daß man die, deren Herz man auf die Dauer gewinnen will, auch durch praktische Interessen an sich binden muß, überdies wurde die Kirche ja auf vielerlei Art, durch das Almosenwesen, bei der Schlichtung von Streitigkeiten, durch die Verwaltung ihres sich mächtig entwickelnden Grundbesitzes und durch viele politische Verstrickungen in das praktisch Wirkende hineingetrieben. Realistisch in einem höheren, weniger praktischen Sinne war das Chris‐ tentum von Anfang an gewesen; wir haben oben davon gesprochen, wie das Leben Jesu zwischen dem niederen Volk und seine zugleich erhabene und schmachvolle Passion die antike Vorstellung vom Tragisch-Erhabenen erschütterte. Aber der kirchliche Realismus, wie er bei Gregor von Tours vielleicht zum ersten Male literarisch in Erscheinung tritt, ist darüber hinaus mitten im Praktischen selbst praktisch tätig, gespeist von der alltäglichen Erfahrung, unj handfest. Gregor hat von Berufs wegen mit all den Leuten und Verhältnissen zu tun, von denen er berichtet, von Berufs wegen inter‐ essiert ihn das einzelne des Moralischen, es ist ihm das gegenwärtige Feld seiner Tätigkeit. Aus seiner Tätigkeit erwächst ihm seine Beobachtung und seine Lust, sie aufzuzeichnen, und sein sicher sehr persönliches Talent zum Konkreten ist ihm ganz natürlich aus seinem Amt erwachsen. Ganz selbstverständlich kann bei ihm von einer ästhetischen Trennung der Bezirke des Erhaben-Tragischen und des Alltäglich-Realistischen nicht die Rede sein; wer praktisch, als Kirchenmann, mit Menschen zu tun hat, kann diese Bezirke nicht trennen; das menschlich Tragische begegnet ihm jeden IV Sicharius und Chramnesindus 99 <?page no="100"?> Tag im gemischten, urausgewählten Material des Lebens. Freilich führt den Bischof Gregor sein Talent und sein Temperament weit über das bloß Seelsorgerische und kirchlich Praktische hinaus; er wird halb unbewußt zum formenden, das Lebendige greifenden Schriftsteller. Das hätte nicht jeder Geistliche werden können; doch wohl nur ein Geistlicher konnte es in dieser Zeit werden. Darin unterscheidet sich die Christianisierung von der ursprünglichen Romanisierung, daß ihre Agenten nicht bloß von oben die Verwaltung ordnen und das übrige der Entwicklung überlassen, sondern, daß sie verpflichtet sind, sich um das einzelne der alltäglichen Vorfälle zu kümmern; sie wendet sich unmittelbar an den einzelnen und an das einzelne. Es scheint übrigens, daß Gregor sich der Bedeutung und sogar der Eigenart seiner Schriftstellerei bewußt war. Denn obgleich er sich oft entschuldigt, daß er als literarisch unzureichend gebildeter Mann zu schreiben wagt (das ist übrigens eine herkömmliche rhetorische Formel), so fügt er doch das eine Mal (lX, 31) die feierlich beschwörende Bitte hinzu, es möge niemand der Späteren etwas an seinem Text ändern: ut numquam libros hos aboleri faciatis aut rescribi, quasi quaedam eligentes et quaedam praetermittentes, sed ita omnia vobiscum integra inlibataque permaneant sicut a nobis relicta sunt; und noch deutlicher wird es in den folgenden Zeilen, die auf die Schulrhetorik anspielen und deren weitere Entwicklung im mittelalterlichen Latein gleichsam vorauszuahnen scheinen: «wenn du, Priester Gottes, wer du auch seiest (so redet er die Späteren an), noch so gebildet bist - wobei er alle Wissenschaften und literarischen Kenntnisse aufzählt - so daß dir mein Stil bäurisch vorkommt (ut tibi stilus noster sit rusticus) - selbst dann, ich beschwöre dich, zerstöre nicht, was ich geschrieben habe.» Heutzutage, wo vielen Gregor, selbst als Stilist, wertvoller scheint als selbst ein großer Teil der elegantesten Humanisten, liest man solch eine Apostrophe nicht ohne Bewegung. Ein anderes Mal läßt er im Traum seine Mutter, die ihn zum Schreiben mahnt, auf seine Bedenken, ihm fehle die literarische Kultur, folgendermaßen antworten: Et nescis, quia nobiscum propter intelligentiam populorum magis, sicut tu loqui potens es, habetur praeclarum? Und darum geht er mutig an seine Arbeit, um den Durst des Volkes zu stillen: sed quid timeo rusticitatem meam, cum dominus Redemptor et deus noster ad dist‐ ruendam mundanae sapientiae vanitatem non oratores sed piscatores, nec philosophos sed rusticos praelegit? Diese ganze Stelle, mit der Erscheinung der Mutter im Traum, ist zwar nicht aus der Frankengeschichte, sondern aus der Vorrede zum Martinusleben und bezieht sich unmittelbar auf die Wundertaten dieses Heiligen; aber man kann sie ohne Bedenken auf alles, 100 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="101"?> was Gregor geschrieben hat, beziehen: er schreibt überall für das allgemeine, unmittelbare, sinnlich-konkrete Verständnis, wie es seinem Talent, seinem Temperament, seinem Amt entspricht: sicut tu loqui potens es. Sein Stil ist ganz und gar verschieden von dem der spätantiken Autoren, selbst der christlichen - eine vollkommene Wandlung ist eingetreten seit der Epoche Ammians und Augustins. Freilich ist es, wie man oft festgestellt hat, eine Entartung, ein Verfall der Bildung und der sprachlichen Ordnung; aber es ist doch nicht nur dieses allein. Es ist ein Neuerwachen des unmittelbar Sinnlichen. Der Stil wie die Formung des Inhalts war in der Spätantike krampfhaft geworden; das Übermaß der rhetorischen Mittel und die Düs‐ terkeit der Atmosphäre, die sich über die Ereignisse gebreitet hatte, geben den spätantiken Autoren, von Tacitus und Seneca bis zu Ammian, etwas Mühsames, Gewaltsames, überanstrengtes; bei Gregor ist der Krampf gelöst. Er hat viel Abscheuliches zu erzählen; Verrat, Gewalttat, Totschlag sind ganz alltägliche Vorkommnisse; aber die einfache und praktische Lebhaftigkeit, mit der er sie erzählt, läßt doch nicht die schwere Dumpfheit aufkommen, die wir bei den spätrömischen Autoren finden, und der sich auch die christlichen Autoren kaum zu entziehen vermögen. Wenn Gregor schreibt, ist die Katastrophe geschehen, das Reich ist gestürzt, die Organisation zusammengebrochen, die antike Bildung zerstört - aber die Spannung ist gelöst, und freier, unmittelbarer, von keiner unlösbaren Aufgabe mehr bedrängt, von keinen unerfüllbaren Ansprüchen mehr gepeinigt, steht sein Gemüt der lebendigen Wirklichkeit gegenüber, bereit, sie lebendig zu fassen und praktisch in ihr zu wirken. Man wolle noch einmal einen Blick auf den Satz werfen, mit dem Ammian die im vorigen Kapitel besprochene Erzählung beginnt: Dum has exitiorum communium dades etc. Ein solcher Satz beherrscht übersichtlich eine vielteilige Wirklichkeitslage, und gibt dazu noch eine genaue Verbindung zwischen dem Voraufgegangenen und dem Folgenden. Aber wie mühsam, wie krampfhaft ist er! Ist es nicht eine Erholung, danach Gregors Anfang zu lesen: Gravia tunc inter Toro‐ nicos bella civilia surrexerunt …? Freilich ist das tunc nur eine lockere und unscharfe Verbindung, und der ganze Ausdruck ist roh, denn «bella civilia» ist gewiß nicht das genaue Wort für die unordentlichen Prügeleien, Räubereien und Totschläge, um die es sich handelt. Aber die Dinge bieten sich Gregor unmittelbar, er braucht sie nicht mehr in den Panzer des erhabenen Stils zu zwingen, und sie selbst wachsen oder wuchern frei, nicht mehr eingeschnürt in den Apparat der diokletianisch-konstantinischen Reform, die nur ein Zwang und nicht mehr eine Neubelebung war. Das IV Sicharius und Chramnesindus 101 <?page no="102"?> Wirklich-Sinnliche, welches bei Ammian, beschwert von den Fesseln der hierarchischen Zwangsherrschaft und der Periodensprache, nur gespens‐ tisch und metaphorisch hervorbricht, kann bei Gregor sich frei entfalten. Ein Rest von Zwang liegt freilich in seinem Ehrgeiz, doch noch literarisches Latein schreiben zu wollen; die Vulgärsprache ist noch kein literarisch brauchbares Werkzeug, sie genügt offenbar auch den bescheidensten lite‐ rarischen Ausdrucksansprüchen noch nicht. Aber sie ist doch schon als gesprochene, das alltäglich Wirkliche ergreifende Sprache vorhanden, und als solche bei Gregor durchzufühlen. Sein Stil zeigt uns eine erste frühe Spur des neuerwachenden sinnlichen Zugriffs auf die geschehenden Dinge, und diese Spur ist uns um so wertvoller, als aus seiner Epoche, ja aus der ganzen zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends, so wenig für unsere Untersuchung brauchbare Texte erhalten sind. 102 IV Sicharius und Chramnesindus <?page no="103"?> V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres LVIII 737 Tresvait la noit e apert la clere albe-… - - Par mi cel host (sonent menut cil graisle). - - Li emperere mult fierement chevalchet. - 740 «Seignurs barons», dist li emperere Carles, - - «Veez les porz e les destreiz passages: - - Kar me jugez ki ert en la rereguarde.» - - Guenes respunt: «Rollant, cist miens fillastre: - - N’avez baron de si grant vasselage.» - 745 Quant l’or li reis, fierement le reguardet, - - Si li ad dit: «Vos estes vifs diables. - - El cors vos est entree mortel rage. - - E ki serat devant mei en l’ansguarde? » - - Guenes respunt: «Oger de Denemarche: - 750 N’avez barun ki mielz de lui la facet.» - - - LIX - Li quens Rollant, quant il s’oït juger, - - Dunc ad parled a lei de chevaler: - - «Sire parastre, mult vos dei aveir cher: - - La rereguarde avez sur mei jugiet! - 755 N’i perdrat Carles, li reis ki France tient, - - Men escientre palefreid ne destrer, - - Ne mul ne mule que deiet chevalcher, - - Ne n’i perdrat ne runcin ne sumer - - Que as espees ne seit einz eslegiet.» - 760 Guenes respunt: «Veir dites, jol sai bien.» - - - LX - Quant ot Rollant qu’il ert en la rereguarde, - - Ireement parlat a sun parastre: - - «Ahi! culvert, malvais hom de put aire, - - Quias le guant me caïst en la place, - 765 Cume fist a tei le bastun devant Carle? » - - - LXI - «Dreiz emperere», dist Rollant le barun, <?page no="104"?> 6 Die Nacht vergeht, der klare Morgen erscheint … Der Kaiser sitzt stolz zu Pferde. Ihr Herrn Barone, sagt der Kaiser Karl, seht die Gebirgspässe und die engen Straßen: wählt mir einen für die Nachhut! Ganelon antwortet: Roland, meinen Stiefsohn! Ihr habt keinen Baron von gleicher Tapferkeit. Als der König dies hört, sieht er ihn drohend an und hat zu ihm gesagt: Ihr seid der Teufel selbst; wilde Wut ist in euch eingedrungen! und wer soll vor mir bei der Vorhut sein? Ganelon antwortet: Ogier von Dänemark! Ihr habt keinen Baron, der sie besser führen könnte. Der Graf Roland, als er sich wählen hört, da hat er gesprochen wie es einem Ritter ziemt: Herr Stiefvater, ich bin euch großen Dank schuldig: ihr habt mich für die Nachhut vorgeschlagen! Karl der König, der das Frankenreich besitzt. wird, so viel an mir liegt, nichts dabei verlieren: weder Zelter noch Schlachtroß noch Maultier, das er reiten soll, noch Lastpferd oder Saumtier, ohne daß zuvor mit dem Schwerte darum gekämpft würde! Ganelon antwortet: Ihr sprecht die Wahrheit, ich weiß es wohl. Als Roland hört, daß er zur Nachhut kommen soll, da sprach er zornig zu seinem Stiefvater: Ha, du Schuft, du elender Bastard, du hast wohl geglaubt, mir würde der Handschuh zu Boden fallen, wie dir der Stab, als du vor Karl standest? Gerechter Kaiser, sprach Roland der Baron, gebt mir den Bogen, den ihr in der Hand haltet! Ich denke, man wird mir nicht vorwerfen können, daß er mir hinfiel, wie Ganelon der Stab aus seiner Rechten fiel! Der Kaiser hielt sein Haupt gesenkt, er strich sich den Bart und drehte an seinem Schnurrbart; er kann die Tränen nicht zurückhalten. Danach ist Naimes gekommen; es gab keinen besseren Ritter als ihn am Hofe; er sagte zum König: Ihr habt es wohl gehört; der Graf Roland ist sehr erzürnt: die Nachhut ist ihm bestimmt worden; kein anderer Baron könnte mehr für ihn eintreten; gebt ihm den Bogen. den ihr gespannt habt; und findet sehr gute Hilfe für ihn! Der König gibt ihm den Bogen, und Roland hat ihn entgegengenommen. «Dunez mei l’arc que vos tenez el poign. - - Men escientre nel me reproverunt - - Que il me chedet cum fist a Guenelun - 770 De sa main destre, quant reçut le bastun.» - - Li empereres en tint sun chef enbrunc, - - Si duist sa barbe e detoerst sun gernun, - - Ne poet muer que des oilz ne plurt. - - - LXII - Anpres ico i est Neimes venud, - 775 Meillor vassal n’out en la curt de lui, - - E dist al rei: «Ben l’avez entendut; - - Li quens Rollant, il est mult irascut. - - La rereguarde est jugee sur lui: - - N’avez baron ki jamais la remut. - 780 Dunez li l’arc que vos avez tendut, - - Si li truvez ki trés bien li aiut! » - - Li reis li dunet e Rollant l’a recut. 6 104 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="105"?> D I E abgedruckten Verse sind aus der Oxforder Handschrift des Rolands‐ liedes; sie berichten von der Wahl Rolands zu einem gefährlichen Amt, nämlich zum Befehlshaber der Nachhut des fränkischen Heeres, das nach dem Feldzug in Spanien auf dem Rückmarsch durch die Pyrenäen begriffen ist. Die Wahl geschieht auf den Vorschlag von Rolands Stiefvater Gane‐ lon; sie entspricht in ihrem Verlauf einem früheren Vorgang, der Wahl Ganelons zum Gesandten Kaiser Karls bei dem Sarazenenkönig Marsilius auf Vorschlag Rolands (Vers 274 ff.). Beiden Vorgängen liegt zugrunde eine alte, auf Vermögensstreitigkeiten beruhende (V. 3758) Feindschaft zwischen den beiden Baronen: sie suchen sich gegenseitig zu verderben. Die Gesandtschaft an Marsilius war, das wußte man aus früheren Erfahrungen, höchst lebensgefährlich; ihr Verlauf zeigt, daß sie auch Ganelon das Leben gekostet hätte, hätte er nicht dem Sarazenenkönig den verräterischen Handel angeboten, der zugleich auch seinem eigenen Haß und Rachedurst Befriedigung verschaffen soll: er verspricht dem König, ihm die Nachhut des fränkischen Heeres mit Roland und seinen nächsten Freunden, den zwölf Pairs, die er (mit Recht) als die Kriegspartei am fränkischen Hof darstellt, in die Hände zu liefern. Nun ist er mit den unaufrichtigen Friedens- und Unterwerfungsangeboten des Marsilius ins fränkische Lager zurückgekehrt, die Heimkehr des Heeres nach Frankreich wird angetreten, und Ganelon muß, um den mit Marsilius verabredeten Plan zu verwirklichen, noch dafür sorgen, daß Roland zur Nachhut kommt. Dies geschieht in den oben abgedruckten Versen. Der Vorgang ist in fünf Strophen (Laissen) erzählt. Die erste enthält den Vorschlag Ganelons und Karls unmittelbare Reaktion; die zweite, dritte und vierte beschäftigt sich mit der Haltung Rolands gegenüber dem Vorschlag; die fünfte bringt das Eingreifen Naimes und die endgültige Betrauung Rolands durch den Kaiser. Die erste Laisse zeigt zunächst eine Einleitung von drei Versen, drei parataktisch nebeneinandergestellten Hauptsätzen, die den morgendlichen Aufbruch des Heeres schildern (es ist vorher von der letzten Nacht und einem Traum des Kaisers die Rede gewesen). Alsdann folgt die Szene des Vorschlags, die als zweimaliger Wechsel von Rede und Gegenrede gefaßt ist: Aufforderung zur Wahl, Antwort mit dem Vor‐ schlag, Gegenfrage und Gegenantwort; beide Redepaare sind mit äußerster, stereotyper Einfachheit gerahmt (dist, respunt, dit, respunt); sie werden nach dem ersten Paar unterbrochen durch den Vers 745, den einzigen, der eine kurze temporale Hypotaxe enthält; alles übrige ist in Hauptsätzen gegeben, die wie Blöcke nebeneinander und gegeneinander stehen, und V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 105 <?page no="106"?> deren parataktische Unabhängigkeit noch durch die jedesmalige Nennung des sprechenden Subjekts hervorgehoben wird (besonders deutlich 740 li emperere Carles, obgleich dieser auch Subjekt des vorhergehenden Satzes ist). Betrachten wir nun die einzelnen Reden. Die Aufforderung Karls enthält einen kausalen Gedankengang: da wir durch schwieriges Gelände ziehen müssen, so wählt mir …; aber der hochgemuten Haltung des Kaisers entsprechend, mult fierement, ist er parataktisch in zwei Hauptsätzen gegeben, einem hinweisenden (hier seht das schwierige Gelände) und einem befehlenden. Als Antwort erfolgt, wie ein hingeworfener Fehdehandschuh, Ganelons Vorschlag, wiederum parataktisch, in drei Gliedern: zuerst der Name, sodann die von triumphierender Rache erfüllte Erwähnung der Verwandtschaft (cist miens fillastre, in Erinnerung an das entsprechende mis parastre, V. 277 und 287, ço set hom ben que jo sui tis parastres), schließlich die gewiß grimmig-ironisch intonierte, formelhaft lobende Begründung. Hierauf folgt die kurze dramatische Pause mit Karls finsterem Blick. Seine ebenfalls rein parataktisch geordnete Gegenäußerung beginnt mit heftigen Worten, welche zeigen, daß er Ganelons Plan durchschaut, aber auch, daß er, wie Naimes nachher bestätigt, kein wirksames Mittel zur Verfügung hat, den Vorschlag zurückzuweisen; vielleicht kann die Frage, mit der er schließt, als eine Art Gegenangriffsversuch gedeutet werden: ich brauche Roland für die Vorhut! Wenn diese Deutung richtig ist, so schlägt jedenfalls Ganelon den Gegenangriff sofort zurück, und die seiner ersten Rede genau gleiche Struktur der zweiten betont das Schneidende seines Auftretens; offenbar befindet er sich in einer sehr starken Position und ist seines Sieges vollkommen sicher. Es geht in dieser Laisse, auch syntaktisch, hart auf hart. Zu der Schärfe und Bestimmtheit des Ausdrucks steht in einem gewissen Gegensatz die Tatsache, daß manches in der Szene nicht sehr klar ist. Man kann doch kaum annehmen, daß der Kaiser an den Vorschlag eines einzigen seiner Barone fest gebunden ist; tatsächlich wird in anderen, ähnlichen Fällen (zum Beispiel vorher bei der Wahl Ganelons, V. 278/ 9 und 321/ 2, vgl. auch V. 243) die Zustimmung des Heeres ausdrücklich erwähnt. Man mag vermuten, daß sie auch hier erfolgt, ohne daß es gesagt wird, oder daß der Kaiser weiß, daß an ihr nicht zu zweifeln ist; aber selbst wenn dem so ist, wenn also unsere Fassung etwas von der Überlieferung verschleiert, nämlich daß Roland unter den Franken auch Feinde hat, die ihm einen gefährlichen Auftrag und eine Entfernung aus der Umgebung des Kaisers wünschen, etwa aus Furcht, es möchte durch seinen Einfluß der Entschluß zum Abbruch des Krieges noch rückgängig gemacht werden - selbst dann 106 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="107"?> bleibt es rätselhaft, daß der Kaiser, ohne für eine ihm genehme Lösung Vorsorge getroffen zu haben, sich durch seine Aufforderung zur Wahl in eine Lage begibt, aus der er keinen Ausweg weiß; er muß doch die Strömungen in seiner Umgebung kennen, und er ist überdies durch einen Traum gewarnt. Damit ist ein zweites Rätsel berührt: wie weit durchschaut er Ganelon, wie weit weiß er voraus, was geschehen wird? Man kann doch nicht annehmen, daß er über Ganelons Plan genau unterrichtet ist; ist er es aber nicht, so scheint seine Reaktion auf den Vorschlag (vos estes vifs diables usw.) übertrieben. Die ganze Stellung des Kaisers ist undeutlich, und er ist bei aller zuweilen hervortretenden autoritativen Bestimmtheit gleichsam traumhaft gelähmt. Die bedeutende, symbolische, einem Gottesfürsten ähnliche Stellung, die ihn als Haupt der gesamten Christenheit und als Vorbild ritterlicher Vollendung erscheinen läßt, steht im seltsamsten Gegensatz zu seiner Machtlosigkeit; obgleich er zögert und sogar Tränen vergießt, obgleich er das kommende Unglück in einem nicht genau bestimmbaren Grade vorausahnt, kann er es nicht verhindern; er ist von seinen Baronen abhängig, und unter ihnen findet sich keiner, der etwas an der Lage ändern könnte (oder wollte? das hängt von der Interpretation des Verses 779 ab); ebenso wie er später, bei dem Prozeß Ganelons, den Tod seines Neffen Roland ungerächt lassen müßte, wenn nicht schließlich ein einziger Ritter sich fände, der bereit ist, für seine Sache einzutreten. Man kann für all das einige Erklärungen anführen; so zum Beispiel die schwache Stellung der Zentralgewalt im lehensrechtlichen Gesellschaftsaufbau, wie sie sich zwar kaum zur Zeit Karls des Großen, wohl aber später, zur Zeit der Entstehung des Rolandsliedes, vielfach herausgebildet hatte; daneben halb religiöse, halb sagenhafte Vorstellungen, wie sie sich denn auch bei manchen Königsgestalten des höfischen Romans finden, Vorstellungen, die mit der Erscheinung des großen Kaisers zugleich leidende, märtyrerhafte, traumhaft gelähmte Züge verbinden. Bestimmt ist auch Christusparallele (12 Jünger, Judas, Vorauswissen und Nichtverhindern) wirksam. Das Gedicht selbst gibt jedenfalls keinerlei Analysen oder Erklärungen für das Rätselhafte dieses und anderer Vorgänge; wir müssen sie erst herantragen, und sie sind der ästhetischen Aufnahme eher schädlich. Der Dichter erklärt nichts; und doch wird das tatsächlich sich Vollziehende mit einer parataktischen Schärfe ausgesprochen, welche ausdrückt, es müsse alles so geschehen wie es geschieht, es könne gar nicht anders sein, und es bedürfe keiner erklärenden Verbindungsglieder. Dies bezieht sich, wie man weiß, nicht nur auf die Ereignisse, sondern auch auf die Anschauungen und V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 107 <?page no="108"?> Grundsätze, auf welchen das Handeln der Personen beruht. Der ritterliche Kampfeswille, der Ehrbegriff, die gegenseitige waffenbrüderliche Treue, die Sippengemeinschaft, das christliche Dogma, die Verteilung von Recht und Unrecht zwischen Gläubigen und Ungläubigen sind wohl die wichtigsten dieser Anschauungen; es sind wenige; sie geben ein enges Bild, in der nur eine einzige Gesellschaftsschicht erscheint, und auch diese in einer sehr vereinfachten Form; sie werden begründungslos gesetzt, als reine Thesis: so ist es. Keinerlei Begründung, keinerlei erklärende Ausführung ist erforder‐ lich, wenn etwa der Satz ausgesprochen wird: paien unt tort et chrestiens unt dreit (V. 1015) obgleich augenscheinlich das Leben der heidnischen Ritter, die Verschiedenheit der Gottesnamen ausgenommen, kaum verschieden ist von dem der Christen; sie werden zwar häufig, zum Teil in phantastischer und symbolischer Art, als verworfen und abschreckend hingestellt, doch sind auch sie Ritter, und die soziale Struktur scheint bei ihnen genau die gleiche zu sein wie bei den Christen; dieser Parallelismus geht bis in die Einzelheiten und trägt dazu bei, die Enge des dargestellten Lebensraumes noch augenfälliger zu machen. Das Christentum der Christen ist ein rein gesetztes; es erschöpft sich in dem Bekenntnis und den dazu gehörigen liturgischen Formeln; es ist überdies auf eine extreme Weise in den Dienst des ritterlichen Kampfeswillens und der politischen Expansion gestellt. Als Buße wird den betenden, vor dem Kampf die Absolution empfangenden Franken aufgegeben, kräftig dreinzuschlagen; wer in solchem Kampf fällt, ist ein Märtyrer und hat sichere Anwartschaft auf einen Platz im Paradies; Bekehrungen mit Gewalt, wobei die Widerstrebenden getötet werden, sind ein gottgefälliges Werk. Diese Gesinnung, die als eine christliche erstaunlich wirkt, und als christliche vorher nicht existierte, hat hier im Rolandslied nicht, wie in Spanien, ihre Begründung in einer gegebenen geschichtlichen Lage; es wird ihr auch sonst keine Begründung gegeben; sondern es ist wie es ist, als ein parataktisches Gebilde von sehr einfachen, dabei doch oft in sich widerspruchsvollen, äußerst engräumigen Setzungen. Gehen wir nun zum zweiten Teil des Vorgangs über, der Reaktion Rolands. Mit ihr beschäftigen sich drei Laissen; in den beiden ersten spricht er zu Ganelon, in der dritten zum Kaiser. Seine Reden enthalten drei Motive, in verschiedener Stärke, und auf verschiedene Weise ineinander verschränkt; ein ungeheuer auftrumpfendes, wildes Selbstbewußtsein, sodann Haß gegen Ganelon, und schließlich, weit schwächer, Ergebenheit und Dienstbereit‐ schaft gegenüber dem Kaiser. Die beiden ersten Motive verschränken sich in der Art, daß zunächst das erste mit Macht hervortritt, aber auch schon 108 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="109"?> hier mit dem zweiten, und auch mit dem dritten durchtränkt ist. Roland liebt Gefahr und sucht sie auf, man kann ihn nicht erschrecken; überdies legt er großen Wert auf sein Prestige; er will Ganelon auch nicht einen Augenblick des Triumphes gönnen; und so legt er es zunächst darauf an, vor aller Augen mit Nachdruck zu zeigen, daß er durchaus nicht, wie Ganelon in der entsprechenden Lage (V. 332ff.) die Fassung verloren hat; daher der Dank an Ganelon, der bei der allen Umstehenden bekannten Feindschaft zwischen beiden nur ironisch und höhnisch wirken kann; daher auch das Aufzählen der verschiedenen Reit- und Lasttiere, von denen er auch nicht ein einziges kampflos preisgeben wird - ein mächtiges, demonstratives und auch erfolgreiches Auftrumpfen seiner selbstbewußten Tapferkeit, das auch Ganelon zur Anerkennung zwingt, einer Anerkennung, die freilich auch wohl hinterhältig ist - rechnet er doch gerade auf Rolands tollkühnes Selbstvertrauen, um ihn zu verderben! Aber Ganelons Augenblickstriumph ist jedenfalls zerstört; denn nachdem Roland seine Haltung zur Genüge kundgegeben hat, kann er seinem verachtungsvollen Haß freien Lauf lassen, und dieser nimmt nun die Form eines höhnischen Triumphs von seiner Seite an: siehst du, du Lump, ich habe mich nicht so benommen wie du seinerzeit - und noch wenn er vor Karl steht, um den Bogen entgegenzunehmen, mischt sich in den Ausdruck seiner Dienstbereitschaft - der so gefaßt ist, daß er Ungeduld verrät - noch einmal der höhnisch triumphierende Vergleich zwischen seiner Haltung und der Ganelons. Diese ganze Szene - Rolands selbstbewußte Demonstration gefolgt von dem langanhaltenden, wiederholten, triumphierenden Hohn- und Haßausbruch - ist über drei Laissen verteilt, und da die beiden ersten sich an Ganelon wenden, mit ganz ähnlichen Eingangsformeln, unterschieden nur durch die adverbialen Bestimmungen, das eine Mal a lei de chevaler, das andere Mal ireement - da sie ferner bei flüchtiger und rein rationaler Betrachtung inhaltlich nicht zusammenstimmen, indem die erste freundlich, die zweite erzürnt zu sein scheint - so haben manche Herausgeber und Kritiker an der Echtheit des Textes gezweifelt, und eine der beiden Laissen, meist die zweite, gestrichen. Daß dies nicht richtig sein kann, hat schon Bédier in seinem Kommentar (Paris, Piazza, 1927, Seite 151) gezeigt, und dies ist, wie aus der eben gegebenen Analyse hervorgeht, auch meine Meinung: die zweite Laisse hat die erste zur Voraussetzung; die in der ersten Laisse gezeigte Haltung, die in scharfem Gegensatz steht zur Haltung Ganelons bei jenem früheren Vorgang, gibt die Begründung für den Haßtriumph der zweiten. Ich möchte dies Ergebnis auch noch durch eine andere, stilistische Erwägung V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 109 <?page no="110"?> stützen. Das hier vorliegende mehrmalige Wiederaufnehmen der gleichen Situation in aufeinanderfolgenden Laissen, in der Art, daß man zunächst zweifeln kann, ob es sich um einen neuen Vorgang oder um eine ergänzende Darstellung des ersten handelt, ist sehr häufig im Rolandslied (und auch sonst in den Chansons de geste); es ergeben sich dabei auch an anderen Stellen, wie an der hier besprochenen, überraschende Wendungen bei den Wiederaufnahmen. In der 40., 41. und 42. Laisse gibt Ganelon auf die dreimal fast gleichlautend wiederholte Frage des Königs Marsilius (wann Karl, der doch schon so alt ist, endlich kriegsmüde werden wird) drei Antworten, deren erste die späteren nicht vorausahnen läßt: in der ersten spricht er nur zum Lobe Karls, und erst in der zweiten und dritten nennt er Roland und seine Genossen als Kriegstreiber, womit die Wendung zum Verrat beginnt; und erst in der darauffolgenden, der 43. Laisse, wird er ganz deutlich, wobei auch von Karl durchaus nicht mehr in freundlichem Ton gesprochen wird. Schon vorher ist die Haltung Ganelons bei Marsilius einer rein rationalen Analyse nicht verständlich; er benimmt sich zunächst so feindlich und hochfahrend, als wolle er den König mit Gewalt reizen, und als sei von Verhandlung und Verrat keine Rede. In anderen Fällen (Laissen 5 und 6; 79 bis 81; 83 bis 86; 129 und 130; 133 bis 135; 137 bis 139; 146 und 147; usw.) ist zwar kein eigentlicher Widerspruch zwischen den Inhalten der einzelnen Laissen festzustellen, allein auch da wird häufig vom gleichen Ausgangspunkt in verschiedener Richtung oder verschieden weit vorgesto‐ ßen. Wenn in der 80. Laisse Olivier auf eine Anhöhe gestiegen ist und das anrückende Sarazenenheer sieht, ruft er Roland heran und spricht mit ihm über Ganelons Verrat: in der 81., die ebenfalls mit der Besteigung der Anhöhe beginnt, ist von Roland nicht die Rede, sondern Olivier steigt so schnell als möglich hinab, um den Franken Bericht zu geben. In den Laissen 83 bis 85, in denen Olivier Roland dreimal bittet, ins Horn zu stoßen und dreimal die gleiche abweisende Antwort erhält, ist die Absicht der Wiederholung ein Intensivieren des Vorgangs; wie überhaupt im Rolandslied sowohl das Dringend-Intensive wie auch das Mehrfach-Gleichzeitige von Vorgängen durch Wiederholen und Addieren vieler, oft kunstvoll variierter Einzelvor‐ gänge dargestellt wird; dahin gehören auch die Serien von auftretenden Rittern und von Kampfesszenen. Die Laissen 129 bis 131, in denen nun Roland seinerseits vorschlägt, ins Horn zu stoßen (vorbereitet schon durch 128, und überaus kunstvoll im Ausdruck von Rolands reuiger Verlegenheit), entsprechen der früheren Szene, nur sind die Rollen vertauscht; jetzt ist es Olivier, der dreimal abweisend antwortet. Von seinen drei Antworten, die 110 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="111"?> mit großer psychologischer Einsicht aufgebaut sind, enthält die erste ein verstockt-ironisches Wiederholen von Rolands früheren Gegenargumenten, plötzlich umgebogen zu einem spontanen Ausbruch der Teilnahme (oder der Bewunderung) beim Anblick von Rolands blutbedeckten Armen; noch die zweite beginnt mit Ironie, und endet mit einem Zornesausbruch; erst die dritte formuliert seine Vorwürfe und seinen Schmerz in geordneter Weise. In den drei Laissen vom Hornruf, 133 bis 135, wo es sich vermutlich um drei‐ maligen Hornruf handelt, ist die Wirkung des Hornes auf die Franken jedes mal auf verschiedene Weise entwickelt; die drei Wirkungen geben zwar auch im Ganzen eine Entwicklung, nämlich vom ersten Stutzen bis zur vollen Erkenntnis der Lage (welche Ganelon zu verhindern sucht), doch ist diese Entwicklung nicht gleichförmig vorwärtsschreitend, sondern stoßweise, mit Vor- und Rückstößen, wie Zeugung oder Geburt. Die variierende Wieder‐ holung des gleichen Themas ist eine Technik, die aus der mittellateinischen Poetik stammt, und diese wiederum entnimmt sie der antiken Rhetorik; darauf haben zuletzt besonders Faral und E. R. Curtius hingewiesen; aber damit ist die Form und Stilwirkung der «Regressionen» im Rolandslied weder erklärt noch auch nur beschrieben. Offenbar sind sowohl die Serien gleichartiger Vorgänge wie auch die Wiederaufnahmen Phänomene, deren Charakter dem der Parataxe in der Satzform nahesteht. Ob nun anstelle einer Massendarstellung die immer neu anhebende Aufzählung ähnlich gestalte‐ ter und verlaufender Einzelszenen tritt; oder ob anstelle einer intensiven Handlung das mehrfache, immer wieder vom Ausgangspunkt anhebende Wiederholen der gleichen Handlung gegeben wird; oder ob schließlich anstelle eines vielgliedrig sich entwickelnden Vorgangs ein mehrfaches Zurückgehen zum Ausgangspunkt mit jeweilig daran sich anschließender Ausführung verschiedener Glieder oder Motive erfolgt: immer handelt es sich um ein Vermeiden der rational gegliederten Zusammenfassung und ein Bevorzugen des stockenden, stoßweisen, nebeneinandersetzenden, vor- und zurückgehenden Verfahrens, wobei die kausalen, modalen, ja sogar die temporalen Beziehungen verschwimmen. (Schon in der ersten Laisse des Gedichts greift der letzte Vers, nes poet guarder que mals ne l’i ateignet, zeitlich weit voraus.) Immer wieder wird Anlauf genommen, jede einzelne Wiederaufnahme ist in sich geschlossen und unabhängig, die nächste tritt neben sie, und es bleibt oft in der Schwebe, wie sie zusammenhängen. Auch dies ist eine Form des epischen Retardierens im Goethe-Schillerschen Sinne (s. oben S. 7f.), aber nicht durch Einschübe und Episoden, sondern durch Vor- und Zurückgehen innerhalb der Haupthandlung selbst. Das Verfahren V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 111 <?page no="112"?> 7 Wenn der König Marsilius euch dies sagen läßt, daß er mit gefalteten Händen dein Lehnsmann werden will und ganz Spanien als euer Lehen besitzen, sodann auch den Glauben, den wir halten, annehmen: wer euch das anrät, daß wir diesen Vorschlag verwerfen, den kümmert es nicht, Herr, welchen Tod wir sterben. Vgl. Kudrun 242. ist sehr ausgesprochen episch, ja sogar vortragsepisch, indem der etwa während des Vortrags hinzutretende Hörer sogleich einen geschlossenen Eindruck empfängt; es ist zugleich eine Aufteilung des Geschehens in lauter kleine, starre, mit stereotypen Wendungen gegeneinander befestigte Parzellen. Die drei Reden Rolands sind nicht so kurz wie die des Kaisers und Ganelons in der ersten Laisse, aber auch sie geben kein periodisches Fließen; der lange Satz der Laisse 59 ist nur ein mehrfach abgesetztes Aufzählen; in allen drei Laissen sind die Nebensätze von einfachster Art und in hohem Maße selbständig; ein eigentlicher Redefluß entsteht nicht. Der Rhythmus des Rolandsliedes ist niemals fließend wie der des antiken Epos; jede Zeile hebt von neuem an, jede Strophe stößt von neuem vor. Außer der vorwiegenden Parataxe trägt zu dieser Wirkung bei die meist holprige, ungrammatische Fügung, wenn irgendwo doch einmal etwas verwickeltere Hypotaxen versucht werden; ferner auch die Strophenbildung mit den Assonanzen, die jede Zeile als selbständiges Gebilde und die ganze Strophe als ein Bündel selbständiger Glieder erscheinen lassen, gleich als wären Stäbe oder Speere von gleicher Länge und mit ähnlich geformter Spitze zusammengebündelt. Man betrachte etwa die Rede Ganelons zugunsten der Annahme des Friedensangebotes von Marsilius (V. 220 ff.), die einen langen Satz enthält: - 222 Quant ço vos mandet li reis Marsiliun - - Qu’il devendrat jointes ses mains tis hum - - E tute Espaigne tendrat par vostre dun, - 225 Puis recevrat la lei que nus tenum, - - Ki ço vos lodet que cest plait degetuns. - - Ne li chalt, sire, de quel mort nus muriuns. 7 Der Hauptsatz (ne li chalt …) steht am Ende; aber der Anfang der Periode nimmt keine Rücksicht auf die Art seiner Fügung, so daß, nach der Ent‐ faltung des Inhalts der Botschaft Marsilius’, die Konstruktion gewechselt werden muß: der Quant-Satz mit den von ihm abhängigen Inhaltsanzeigen (que: … e … puis …), der selbst schon auf halbem Wege seine Struktur vergißt (puis recevrat … fängt schon an, sich aus der Umklammerung durch 112 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="113"?> 8 Dies sagt der König: Ich höre Rolands Horn! Nie würde er es blasen, stünde er nicht im Kampf! que loszulösen) bleibt Anakoluth, und es beginnt mit dem emphatisch vorweggenommenen Ki-Satz eine neue Fügung; zu dieser nur äußerlich hypotaktischen, in Wahrheit ganz parataktischen Struktur kommt nun noch die Sinnesgliederung nach den einzelnen Zeilen, die harten Einschnitte der u-Assonanz, und die nicht ganz so starken, aber gewiß fühlbaren Zäsuren der Versmitte, die auch überall Sinneskommata ausprägen: von Redefluß und Periodik ist in diesem Stil nichts zu spüren. Er ist von bewunderungswür‐ diger Einheitlichkeit, indem nämlich die Haltung der Personen durch den engen Rahmen festgelegter Ordnungen, in denen sie sich bewegen, so streng begrenzt und gefügt ist, daß ihre Gedanken, Gefühle und Leidenschaften in solchen Versen Platz finden; ausführliches, verbindendes Raisonnement, wie es die homerischen Helden lieben, kennen sie nicht, und ebensowenig gibt es bei ihnen frei ausströmende, treibende und drängende Ausdrucksbewe‐ gungen. Man hat schon öfter die Worte Kaiser Karls, wenn er den Hornruf hört (V. 1768/ 9) - - Ce dist li reis: «Jo oi le corn Rollant! - - Unc nel sunast se ne fust cumbatant» 8 mit den entsprechenden Versen aus Vignys Gedicht Le Cor - Malheur! C’est mon neveu! malheur! car si Roland - Appelle à son secours, ce doit être en mourant verglichen, was in dieser Hinsicht sehr lehrreich ist. Aber es bedarf keines romantischen Gegenbeispiels, auch antike und spätere europäische Texte aus vorromantischen Epochen tun den gleichen Dienst. Man betrachte das Todesgebet Rolands (V. 2384 ff.) oder das ganz ähnlich geformte Gebet des Kaisers vor der Schlacht gegen Baligant (V. 3100 ff.); sie beruhen auf liturgischen Vorbildern und zeigen infolgedessen vergleichsweise langen Atem in der Satzbildung. Das Gebet Rolands lautet: - 2384 «Veire Paterne, ki unkes ne mentis, - - - Seint Lazaron de mort resurrexis - - - - - E Daniel des leons guaresis, - - - - Guaris de mei l’anme de tuz perilz - - V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 113 <?page no="114"?> 9 Wahrer Vater, der niemals log, der den heiligen Lazarus vom Tode auferweckte, der Daniel vor den Löwen rettete, rette meine Seele vor allen Gefahren, der Sünden wegen, die ich in meinem Leben beging. 10 Wahrer Vater, hilf mir heute, an diesem Tage, du, der Jonas wahrhaftig von dem Walfisch gerettet hast, der ihn in seinem Bauch hatte, der den Könie von Ninive schontest und Daniel bewahrtest vor der schrecklichen Marter in der Löwengrube. in der er sich befand. und die drei Männer im Feuerofen: deine Liebe sei mir heut zum Beistand! Durch deine Gnade, wenn es dir gefällt, gewähre mir, daß ich meinen Neffen Roland rächen möge! 11 Mächtige Athene. Stadtschirmerin, erhabene Göttin, lenke doch Diomedes’ Lanze, und laß ihn selbst kopfüber stürzen vor den skäischen Toren! Pur les pecchez que en ma vie fis! » 9 und dasjenige Karls - 3100 «Veire Paterne, hoi cest jor me defend, - - Ki guaresis Jonas tut veirement - - De la baleine ki en sun cors l’aveit, - - E esparignas le rei de Niniven - - E Daniel del merveillus turment - - - - 3105 Enz en la fosse des leons o fut enz, - - Les .III. enfanz tuten un fou ardant! - - La tue amurs me seit hoi en present! - - Par ta mercit, se te plaist, me cunsent - - Que mun nevold poisse venger Rollant! » 10 Es liegt in der formelhaften Festlegung der Erlösungsfiguren (welche sich, wie die mystische Literatur zeigt, auch in ganz anders bewegter Weise verwenden lassen) und in der fast schwingungslosen, immer wieder neu einsetzenden Art der apostrophierenden Bitte zwar ein starkes Pathos, aber auch die engumgrenzte Sicherheit eines raumarmen, eindeutig bestimmten Bildes von Gott, Welt und Schicksal. Hält man dagegen ein beliebiges Gebet aus der Ilias - ich wähle Z. 305ff. - πότνι’ ’ Αϑηναίη ἐρυσίπτολι, δῖα ϑεάων, - ἆξον δὴ ἔγχος Διομήδεος ἠδὲ ϰαὶ αὐτὸν - πρηνέα δὸς πεσέειν Σϰαιῶν προπάροιϑε πυλάων 11 mit seiner stürmisch sich aufbäumenden Bittbewegung (ἠδὲ ϰαὶ αὐτὸν πρηνέα δὸς πεσέειν), so erfährt man, wieviel freier strömende, stärker treibende und flehende Bewegungen im Homer möglich sind, und daß seine 114 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="115"?> 12 In wen soll ich mein Vertrauen setzen, wenn Ysolt mich nicht mehr ihrer Liebe würdigt, wenn Ysolt mich so sehr verachtet, daß sie sich meiner jetzt nicht mehr erinnert? Welt, obwohl sie gewiß umgrenzt ist, längst nicht so starre Fügung zeigt. Natürlich kommt es bei diesem Beispiel nicht auf das Überschreiten des Versendes an, welches ja in der antiken Metrik überhaupt häufig ist, son‐ dern auf die langgeschwungene, nuancenreiche Satzbewegung. Diese kann sich auch in gereimten Versgebilden zeigen, in denen kein Enjambement vorfällt, sowohl bei kurzen wie bei langen Versen, und sie zeigt sich auch schon im Altfranzösischen sehr bald, schon im 12. Jahrhundert, nämlich in dem achtsilbigen gereimten Vers des höfischen Romans oder der kürzeren Verserzählung. Wenn man den Achtsilber eines alten Heldenepos, des Frag‐ ments von Gormund et Isembard, das wie eine Reihe von einzelnen, scharf taktierten Fanfarenstößen klingt («criant l’enseigne al rei baron, / la Loovis, le fiz Charlun»), mit den fließenden, zuweilen schwatzhaften, zuweilen lyrischen Achtsilbern des höfischen Romans vergleicht, so wird man des Unterschiedes zwischen starrer und fließend-verbindender Fügung schnell innewerden. Und alsbald ist im höfischen Stil auch schon weitgeschwungene rhetorische Bewegung da. Aus der Folie Tristan (nach Bartsch, Chrestoma‐ thie de l’ancien Français, 12 e ed., pièce 24) stammen die Verse - 31 en ki me purreie fier, - - quant Ysolt ne me deingne amer, - - quant Ysolt a si vil me tient - - k’ore de mei ne li suvient? 12 Das ist eine drängend-schmerzliche Bewegung in der Form einer rhetori‐ schen Frage mit zwei von ihr abhängigen, parallel gebauten Nebensätzen, deren zweiter sich breiter entfaltet, das Ganze in steigendem Rhythmus; im Grundriß ganz ähnlich, nur viel einfacher, wie die berühmten Verse aus Racines Bérénice (fünfte Szene des vierten Aktes): - Dans un mois, dans un an, comment souffrirons-nous - Seigneur, que tant de mers me séparent de vous: Que le jour recommence et que le jour finisse, Sans que jamais Titus puisse voir Bérénice, Sans que, de tout le jour, je puisse voir Titus? Beenden wir kurz die Analyse unseres Textes. Am Ende der Laisse 61 kann sich der Kaiser immer noch nicht entschließen, Roland, der vor ihm steht, V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 115 <?page no="116"?> den Bogen zu übergeben und ihm damit endgültig den Auftrag zu erteilen; er neigt das Haupt, er faßt an seinen Bart, und er weint. Die Einmischung Naimes’, die die Szene beendet, ist wiederum ganz parataktisch gebaut; die modalen Beziehungen, die in seinen Worten liegen, werden grammatisch nicht ausgedrückt; der Satz würde sonst so lauten: «Du hast ja gehört, wie erzürnt Roland ist, weil man ihn zur Nachhut bestimmt hat; aber da es keinen Baron gibt, der für ihn eintreten könnte (oder: wollte? ), so gib ihm den Bogen, aber sorge wenigstens dafür, daß er genügend gute Hilfskräfte hat.» Und auch der schöne Schlußvers ist parataktisch. Die parataktische Fügung ist in den antiken Sprachen niederen Stils, sie ist mehr gesprochenen als geschriebenen, mehr komisch-realistischen als erhabenen Charakters. Aber hier ist sie hohen Stils; es ist eine neue Form desselben, die nicht auf Periodik und Redefiguren, sondern auf der Wucht nebeneinandergesetzter selbständiger Sprachblöcke beruht. Ein hoher Stil aus parataktischen Gliedern ist an sich in Europa nichts Neues, schon der biblische Stil hat diesen Charakter (vgl. unser erstes Kapitel). Man erinnere sich der Diskussion über die Erhabenheit des Satzes Genesis 1,3 (dixitque Deus: fiat lux, et facta est lux), die im Anschluß an die Schrift περὶ ὕψους im 17. Jahrhundert zwischen Boileau und Huet geführt wurde. Das Erhabene jenes Satzes aus der Genesis liegt nicht im großartig Rollenden der Periodisierung und im Schmuck reichlicher Redefiguren, sondern in der eindrucksvollen Kürze, die im Gegensatz steht zu dem gewaltigen Inhalt, und die eben dadurch etwas Dunkles, den Hörer mit Schauern der Ehrfurcht Erfüllendes hat. Gerade das Fortlassen der Kausalverbindung, der bloße Bericht des sich Vollziehenden, der anstelle des Verbindens und Verstehens ein staunendes Beschauen setzt, welches nicht einmal wagt, verstehen zu wollen, gibt dem Satz seine Größe. Aber der Fall liegt bei der Chanson de geste ganz anders. Ihr Gegenstand ist nicht das ungeheure Rätsel der Schöpfung und des Schöpfers, nicht das Verhältnis des Geschöpfes Mensch zu beiden. Der Gegenstand des Rolandsliedes ist eng, und für seine Menschen ist nichts Grundsätzliches fraglich. Alle Ordnungen des Lebens, und auch die Ordnung des Jenseitigen, sind eindeutig, unverrückbar, formelhaft festgelegt. Sie sind zwar der rationalen Einsicht nicht ohne weiteres zugänglich, aber das ist eine Feststellung, die erst wir treffen; das Gedicht und seine zeitgenössischen Hörer bekümmert das nicht, sie leben in sicherem Vertrauen innerhalb der starr gefügten, engräumigen Setzung, in der die Pflichten des Lebens, ihre Verteilung nach Ständen (vgl. die Arbeitsteilung zwischen Rittern und Mönchen, V. 1877 ff.), das Wesen 116 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="117"?> der überirdischen Kräfte und das Verhältnis der Menschen zu ihnen in einfachster Weise geregelt sind. Im Innern dieses Rahmens gibt es Reichtum und Zartheit des Gefühls, und auch eine gewisse Buntheit der äußeren Erscheinungen; aber der Rahmen ist so eng und starr, daß Problematik oder gar Tragik kaum entstehen können; es gibt keine Konflikte, die den Namen des Tragischen verdienen. Auch die uns erhaltenen altgermanischen epischen Texte zeigen para‐ taktische Fügung; auch in ihnen herrscht die kriegerische Adelsethik mit ihrer strengen Festlegung von Ehre, Sitte und Kampf als Gottesgericht. Und doch entsteht ein ganz anderer Eindruck. Die Sprachblöcke sind lockerer aneinandergelehnt, der Raum um die Geschehnisse und der Himmel über ihnen sind unvergleichlich weiter, das Schicksal ist rätselvoller und die soziale Struktur längst nicht so fest gefügt. Schon daß die berühmtesten germanischen Heldenepen, vom Hildebrandslied bis zu den Nibelungen, ihre geschichtliche Atmosphäre aus der wilden und weiträumigen Völker‐ wanderungszeit holen, nicht aus dem schon fest strukturierten Aufbau des Hochfeudalismus, gibt ihnen mehr Weite und Freiheit; auf galloroma‐ nisches Gebiet sind die germanischen Stoffe der Völkerwanderungszeit nicht gedrungen, oder haben doch nicht Wurzel schlagen können; und das Christentum ist für das germanische Heldenepos fast bedeutungslos. Die freien, unmittelbaren, noch in keine gesetzte Form gebrachten Kräfte sind stärker, und die menschlichen Wurzeln, so scheint mir wenigstens, sind tiefer. Von den germanischen Dichtungen des heldenepischen Kreises kann man nicht sagen, wie vom Rolandslied, daß ihnen das Problematische und Tragische fehle: Hildebrand ist unmittelbarer menschlich und tragisch als Roland, und wieviel tiefer sind die Konflikte in der Nibelungensage begründet als der Haß zwischen Roland und Ganelon! Wohl aber findet sich die gleiche Enge und Festlegung des Lebensraumes, wenn wir einen romanischen religiösen Text aus der Frühzeit heranziehen. Wir haben davon mehrere, die dem Rolandslied zeitlich vorausgehen. Der bedeutendste ist das Alexiuslied, eine Heiligenlegende, die im elften Jahr‐ hundert eine uns in mehreren Handschriften überlieferte altfranzösische Gestalt gewann. Alexius ist nach der Legende der spätgeborene einzige Sohn eines vornehmen römischen Hauses; er wird sorgfältig erzogen, tritt in kaiserlichen Dienst und soll sich auf den Wunsch seines Vaters mit einer Jungfrau gleichen Standes verheiraten; zwar fügt er sich, doch verläßt er in der Hochzeitsnacht seine Braut, ohne sie berührt zu haben und lebt siebzehn Jahre als armer Bettler in der Fremde (in Edessa im nordöstlichen V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 117 <?page no="118"?> Syrien, heute das türkische Urfa), um nur Gott zu dienen; dann wird er, als er seinen Aufenthalt verläßt, um sich der Verehrung als Heiliger zu entziehen, von einem Sturm nach Rom zurückverschlagen, wo er weitere siebzehn Jahre wiederum als unerkannter und verachteter Bettler unter den Treppenstufen des väterlichen Hauses lebt, unerschüttert von dem Schmerz seiner Eltern und seiner Braut, die er oft klagen hört, ohne sich ihnen zu erkennen zu geben. Erst nach seinem Tode wird er auf wunderbare Weise erkannt und von nun an als Heiliger verehrt. Wie man sieht, ist die aus diesem Text sprechende Gesinnung völlig anders als die des Rolandsliedes; aber er zeigt die gleiche parataktische und geschlossene Ausdrucksform, die gleiche starre Verengung und unbezweifelbare Setzung aller Ordnungen. Es steht alles fest, weiß und schwarz, gut und böse, und bedarf keiner Erforschung oder Begründung mehr; es gibt wohl Versuchung, aber keine Problematik. Auf der einen Seite steht der Dienst Gottes, der von der Welt fort und zur ewigen Seligkeit - auf der anderen das natürliche Leben in der Welt, das «zu großer Trauer» führt. Das Bewußtsein kennt keine anderen Lagen, und die äußere Wirklichkeit, all das viele Sonstige, was die Welt bietet, und in welches das erzählte Geschehen doch irgendwie eingebettet werden muß, wird so sehr reduziert, daß nichts davon übrig bleibt als ein wesenloser Hintergrund für das Leben des Heiligen; um ihn herum stehen, seine Taten mit ihren Gesten begleitend, Vater, Mutter und Braut; noch vager und schattenhafter zeichnen einige andere für die Handlung erforderliche Personen sich ab; der Rest ist völlig schematisch, sowohl vom soziologischen wie vom geographischen Standpunkt; dies ist um so auffallender, als der Schauplatz doch die ganze weite Vielfalt des Römischen Reiches zu umspannen scheint; von Ost und West ist nichts übrig geblieben als Kirchen, Stimmen vom Himmel, betendes Volknichts als die überall gleiche Umgebung eines Heiligenlebens; ebenso, oder vielmehr noch weit ausgeprägter als im Rolandslied, wo auch überall, bei den Heiden wie bei den Christen, die gleiche soziale, nämlich die feudale Struktur und das gleiche Ethos herrscht. Die Welt ist ganz klein und eng geworden, und in ihr geht es, ganz starr und unverrückbar, um eine einzige, schon im voraus beantwortete Frage, auf die der Mensch nur die richtige Antwort zu geben braucht; er weiß, auf welchem Wege er zu gehen hat, oder vielmehr es ist nur ein Weg offen, andere gibt es gar nicht; er weiß auch, daß ihm ein Kreuzweg begegnen wird; er weiß schließlich, daß er dann rechts zu gehen hat, obgleich der Versucher ihn nach links verlocken wird. Alles Übrige, Sonstige, die unendliche Weite der äußeren und inneren Welt mit ihrer Unzahl von 118 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="119"?> Möglichkeiten, Bildern und Schichten ist versunken. Dies ist, ohne Zweifel, nicht germanisch; es ist, wie mir scheint, auch nicht christlich, wenigstens ist es nicht die notwendige und ursprüngliche Form des Christlichen; dieses, aus sehr vielfältigen Voraussetzungen erwachsen, mit sehr vielfälti‐ gen Wirklichkeiten sich auseinandersetzend, hat sich vorher wie nachher unvergleichlich elastischer, reicher und vielschichtiger erwiesen. Diese Enge kann überhaupt kaum etwas Ursprüngliches sein; dazu enthält sie viel zu viele, sehr verschiedene, ererbte Elemente; es ist keine Enge, sondern eine Verengung. Es ist der Erstarrungs- und Reduktionsprozeß der Spätantike, der schon in unseren vorhergehenden Abschnitten in Erscheinung getreten ist. Freilich hat innerhalb desselben die simplistisch reduzierte Form, die das Christentum im Zusammenprall mit teils ermüdeten, teils barbarischen Völkern annahm, eine bedeutende Rolle gespielt. Im altfranzösischen Alexiuslied lautet die Szene der Hochzeitsnacht (Strophe 11-15, Text nach Bartschs Chrestomathie, 12 e éd.), die einer der Höhepunkte des Gedichts ist, folgendermaßen: - 11 Quant li jorz passet ed il fut anoitiet, - - ço dist li pedre: «filz, quer t’en va colchier, - - avuec ta spouse, al comant Deu del ciel.» - - ne volst li enfes son pedre corrocier, - - vait en la chambre o sa gentil moillier. - - - - 12 Com vit le lit, esguardat la pulcele, - - donc li remembret de son seignour celeste - - que plus ad chier que tote rien terrestre; - - «e! Deus», dist il, «si forz pechiez m’apresset! - - s’or ne m’en fui, molt criem que ne t’en perde.» - - - - 13 Quant en la chambre furent tuit soul remes, - - danz Alexis la prist ad apeler: - - la mortel vide li prist molt a blasmer, - - de la celeste li mostrat veritet; - - mais lui ert tart qued il s’en fust tornez. - - - - 14 «Oz mei, pulcele, celui tien ad espous - - Qui nos redemst de son sanc precious. - - en icest siecle nen at parfite amour: - - la vide est fraile, n’i at durable onour; - - ceste ledece revert a grant tristour.» V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 119 <?page no="120"?> 13 Als der Tag vorbei und es Nacht geworden war, sprach der Vater: Sohn, nun geh dich legen mit deiner Angetrauten, nach dem Befehl Gottes im Himmel! Der Jüngling wollte seinen Vater nicht erzürnen; er geht in das Zimmer zu seiner edlen Gattin. Als er das Bett erblickt, sah er die Jungfrau; da erinnert er sich seines himmlischen Herrn, den er mehr liebt als irgendein irdisches Ding. O Gott, sagte er, wie sehr bedrängt mich Sünde! Wenn ich jetzt nicht fliehe, fürchte ich sehr, daß ich dich darüber verliere. Als sie ganz allein im Zimmer zurückgeblieben waren, begann Herr Alexis sie anzure‐ den; er begann ihr das irdische Leben sehr zu verdammen, über das himmlische zeigte er ihr die Wahrheit; schon sehnte er sich, von dort wegzukommen. Höre mich, Jungfrau, nimm den zum Gatten, der uns erlöste mit seinem kostbaren Blut! In dieser Welt gibt es keine vollkommene Liebe; das Leben ist hinfällig, es gibt in ihm keine dauernde Ehre; diese Freude schlägt um in große Trauer! Als er ihr seine Meinung ganz erklärt hat, da übergibt er ihr die Gürtelschnalle seines Schwertes, und einen Ring, durch den er sich ihr angetraut hatte; dann ging er fort aus dem Hause seines Vaters: mitten in der Nacht flieht er aus dem Lande. 15 Quant sa raison li at tote mostrede, - - donc li comandet les renges de sa spede, - - ed un anel dont il l’out esposede. - - donc en ist fors de la chambre son pedre; - - en mie nuit s’en fuit de la contrede. 13 So verschieden die Gesinnung beider Gedichte auch ist, die Stilähnlichkeit mit dem Rolandslied ist sehr auffallend. Das Parataktische geht, hier wie dort, weit über die bloße Technik des Satzbaus hinaus: es ist das gleiche Im‐ merneuanheben, das gleiche stoßweise Vor- und Zurückgehen, die gleiche Selbständigkeit der einzelnen Vorgänge und Vorgangsteile. Die Strophe 13 nimmt die Lage zu Beginn der Strophe 12 wieder auf, führt die Handlung aber anders und weiter fort; die Strophe 14 gibt das in 13 Geäußerte (was aber dort im letzten Vers schon überschritten war) in direkter Rede und konkreter aufs neue. Statt also zu konstruieren: «Als sie allein im Zimmer waren, erinnerte er sich …, und sagte: höre …», wird hier folgendermaßen angeordnet: 1. «Als er im Zimmer war, erinnerte er sich …» 2. «Als sie im Zimmer waren, sagte er, daß …» (indirekte Rede). 3. «Höre, (sagte er,) …» Jede der Strophen gibt ein vollständiges, in sich abgeschlossenes Bild; der Eindruck des einheitlichen, fortschreitenden, die Glieder im Zuge nach vorwärts verbindenden Vorgangs ist weit schwächer als der des Ne‐ beneinanders dreier sehr ähnlicher, gegeneinander abgegrenzter Bilder. Man kann diesen Eindruck verallgemeinern das Alexiuslied ist eine Reihe von in sich geschlossenen, miteinander locker verbundenen Vorgängen, eine Serie von gegeneinander stark unabhängigen Bildern aus einem Heiligenleben, 120 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="121"?> deren jedes eine ausdrucksvolle und dabei einfache Geste enthält. Der Vater, der Alexius befiehlt, in die Kammer zu seiner Braut zu gehn; Alexius vor dem Bett, zu seiner Braut sprechend; Alexius in Edessa, seine Habe an die Armen verteilend; Alexius als Bettler; die ausgesandten Diener, die ihn nicht erkennen und ihm eine Gabe reichen; die Klage der Mutter; das Gespräch zwischen Mutter und Braut; und so fort; es ist ein Bilderzyklus; jeder dieser Vorgänge enthält eine bestimmende Geste, bei nur lockerem zeitlichem und kausalem Zusammenhang mit den anderen, nachfolgenden und vorhergehenden; viele von ihnen (die Klage der Mutter zum Beispiel) werden noch in mehrere ähnliche, jedes für sich selbständige Bilder zerlegt; jedes Bild ist gleichsam für sich selbständig gerahmt; es ist jedes in der Weise für sich, daß in ihm nichts Neues oder Unerwartetes geschieht, und daß in ihm keine treibende Kraft das nächste verlangt; und in den Zwischenräumen ist Leere, keine dunkle und tiefe, in der vieles geschieht und sich vorbereitet, in der man den Atem anhält vor schauernder Erwartung, wie zuweilen im biblischen Stil, mit seinen Pausen, über die gegrübelt wird - sondern eine flache, blasse, wesenlose Dauer, zuweilen nur ein Augenblick, zuweilen siebzehn Jahre, zuweilen ganz unbestimmbar. Das Geschehen ist somit auf‐ gelöst in eine Reihe von Bildern; es ist gleichsam parzelliert. Im Rolandslied ist das Ganze gedrängter, der Zusammenhang schärfer, das einzelne Bild in sich zuweilen bewegter; aber die Technik der Darstellung - und dies bedeutet mehr als ein bloß technisches Verfahren, es schließt in sich die Strukturvorstellung, die Dichter und Hörer an das Geschehen herantragen - ist doch noch ganz die gleiche: es ist ein Aufreihen von selbständigen Bildern. Die Zwischenräume sind im Rolandslied zuweilen nicht so leer und flach, es schiebt sich etwa die Landschaft ein, man sieht oder hört die Heere durch Täler und Bergschluchten reiten - aber die Vorgänge werden doch einer an den anderen gereiht, so daß jeweils ganz in sich geschlossene, für sich selbst bestehende Szenen sich bilden. Die Zahl der handelnden Personen ist auch im Rolandslied sehr klein, alle übrigen treten, wenn auch weit bunter als im Alexius, doch nur serienhaft auf; die Handelnden in den einzelnen Szenen sind festgelegt, sehr selten tritt ein neuer hinzu, und wo es geschieht (Naimes oder Turpin in ausgleichend-abschließender Funktion), da wird ein scharfer Einschnitt gemacht. Das wechselvoll Verschlungene und Abenteuerreiche zwischen einer großen Zahl von handelnden Perso‐ nen, was sonst im Epischen so häufig ist, fehlt hier vollkommen. Um so stärker ist das gestenhaft Einprägsame, im Alexiuswie im Rolandslied. Das Bedürfnis nach Verbindung und Entwicklung ist schwach, selbst innerhalb V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 121 <?page no="122"?> der einzelnen Szene ist die Entwicklung, wenn überhaupt eine solche statt‐ findet, mühsam und stockend, aber die Gesten des szenischen Augenblicks sind von schärfster, bildhafter Eindringlichkeit. Auf diese Eindringlichkeit der Gesten und Haltungen zielt augenscheinlich die Darstellung, wenn sie das Geschehen in lauter Bildparzellen aufteilt. Der szenische Augenblick mit seinen Gesten erhält so viel Wucht, daß er wie ein moralisches Modell wirkt; die verschiedenen Stadien der Geschichte des Helden oder des Verräters oder des Heiligen werden dermaßen in Gesten konkretisiert, daß die Bilderszenen in ihrer Wirkung dem Charakter von Symbolen oder Figuren ganz nahe kommen, auch da, wo sich keinerlei symbolische oder figurale Bedeutung nachweisen läßt. Sehr oft läßt sich eine solche nachweisen im Rolandslied bei der Gestalt Karls des Großen, bei der Schilderung mancher Eigentümlich‐ keiten der heidnischen Ritter, und selbstverständlich in den Gebetstexten; und für das Alexiuslied läuft die vorzügliche Interpretation von E. R. Curtius (Zeitschr. f. roman. Philologie 56, 113 ff., besonders Seite 122, 124) ganz auf das Figurale der Erfüllung im Jenseits hinaus; diese figurale Überlieferung hat nicht wenig dazu beigetragen, den horizontalen, geschichtsmäßigen Zusammenhang der Geschehnisse zu entwerten und die Erstarrung aller Ordnungen zu fördern. So zeigen die Gebete, die wir oben wiedergegeben haben, die völlige Erstarrung der Erlösungsfiguren; das Parzellieren der Ereignisse des Alten Testaments, die einzeln, außer ihrem geschichtlichen Zusammenhang, figural gedeutet werden, ist formelhaft geworden; die Figuren werden, wie auf den spätantiken Sarkophagen, parataktisch neben‐ einandergesetzt; sie haben keine Wirklichkeit mehr, sondern nur noch Bedeutung. Gegenüber dem irdischen Geschehen herrscht eine ähnliche Neigung: es aus seinem horizontalen Zusammenhang herauszulösen, die einzelnen Stücke zu isolieren, sie in einen starren Rahmen zu spannen, sie darin gestenhaft eindringlich zu machen, daß sie exemplarisch, modellhaft, bedeutend erscheinen, und alles «sonstige» im Wesenlosen zu lassen. Daß dabei nur ein sehr kleiner, überaus enger, von der Formelhaftigkeit der Ordnungen umschnürter Teil des Wirklichen zur Anschauung kommen kann, ist einleuchtend. Aber er kommt zur Anschauung, und darin zeigt sich, daß der Höhepunkt des Erstarrungsprozesses schon überschritten ist; gerade in den isolierten Bildern finden sich die Keime der Belebung. Der lateinische Text, der dem französischen Alexiuslied als Quelle gedient haben dürfte - man findet ihn in den Acta Sanctorum vom 17. Juli, wir geben ihn nach einem Abdruck in Förster-Koschwitz’ Altfranzösischem Übungsbuch, 6. Aufl., 1921, Seite 299ff. - ist vielleicht gar nicht so sehr viel 122 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="123"?> 14 Als es Abend geworden war. sagte Eufemian zu seinem Sohn: Sohn, geh in das Schlafgemach und besuche deine Gattin. Als er aber eintrat, begann der edle und von der Weisheit Christi erfüllte Jüngling seine Gattin zu unterweisen und ihr viele heilige Lehren zu erläutern; dann übergab er ihr seinen goldenen Ring und die Gürtelschnalle seines Schwertes, eingewickelt in ein purpurnes Tuch und sprach zu ihr: Nimm dies und bewahre es auf, solange es dem Herrn g efällt, und der Herr sei zwischen uns. Darauf nahm er etwas von seinem Vermögen und begab sich zum Meere-… älter als der französische, da die aus Syrien stammende Legende sich erst ziemlich spät im Westen nachweisen läßt; aber er zeigt die Form der spät‐ antiken Heiligenlegende noch weit reiner. In ihm wird die Hochzeitsnacht in einer Weise dargestellt, die von der altfranzösischen Fassung in sehr charakteristischer Weise abweicht: Vespere autem facto dixit Euphemianus filio suo: «Intra, fili, in cubiculum et visita sponsam tuam.» Ut autem intravit, coepit nobilissimus juvenis et in Christo sapientissimus instruere sponsam suam et plura ei sacramenta disserere, deide tradidit ei annulum suum aureum et rendam, id est caput baltei, quo cingebatur, involuta in prandeo et purpureo sudario, dixitque ei: «Suscipe haec et conserva, usque dum Domino placuerit, et Dominus sit inter nos.» Post haec accepit de substantia sua et discessit ad mare-… 14 Wie man sieht, ist auch der lateinische Text fast völlig parataktisch; aber er nutzt die Möglichkeiten der Parataxe nicht aus, er kennt sie noch nicht. Er hat das Ganze völlig gleichmäßig eingeebnet und abgeflacht: ganz ohne Auf und Ab, ohne Tonbewegung, «monoton» wird erzählt, so daß nicht nur der Rahmen, sondern das Bild selbst unbewegt bleibt; es ist starr und ohne Kraft. Der innere Kampf, den die Versuchung bei Alexius auslöst, für den die altfranzösische Fassung den einfachsten und schönsten Ausdruck gefunden hat, wird nicht erwähnt; es scheint gar keine Versuchung vorzuliegen; und die große Bewegung der direkten Rede an die Braut (Oz mei, pulcele …), eine der stärksten Bewegungen des altfranzösischen Gedichts, in der sich Alexius zu seiner vollen Höhe erhebt und die der erste Ausbruch seines wahren Wesens ist, hat ganz augenscheinlich erst der französische Dichter aus den blassen lateinischen Worten seiner Vorlage geschaffen. Auch die Flucht selbst wird erst im französischen Text dramatisch. Die lateinische Fassung ist viel glatter und gleichmäßiger vorwärtsschreitend; aber die menschliche Bewegung ist ganz schwach, kaum angedeutet, als habe man es mit einem Geist, nicht mit einem Lebenden zu tun. Der Eindruck bleibt der gleiche, wenn man weiter liest; eine eigentlich menschliche Formung gibt erst der V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 123 <?page no="124"?> vulgärsprachliche Text; er erfindet, um die wichtigsten Punkte zu nennen, die Klage der Mutter in dem verlassenen Zimmer und später den inneren Kampf des Heiligen, als er nach Rom zurückverschlagen wird. In ihm zögert Alexius, bevor er die allerschwerste Prüfung auf sich nimmt, das Leben als unbekannter Bettler im väterlichen Hause, mit dem täglichen Anblick seiner nächsten Angehörigen, die um ihn trauern; er wünschte, dieser Kelch ginge an ihm vorüber; und doch nimmt er es auf sich. Die lateinische Fassung kennt kein Zögern und keinen Kampf, ebensowenig wie in der Brautnacht; Alexius geht in das Haus seines Vaters, weil er keinem anderen zur Last fallen will. Erst die volkssprachliche Dichtung, so scheint es aus dieser Gegenüber‐ stellung hervorzugehen, ließ die einzelnen Bilder hervortreten, so daß die Personen menschliche Rundung und Leben gewannen; ein Leben, das freilich beschränkt ist durch die Starre und Enge der Ordnungen, welche unverrückbar fortbestehen; das auch leicht wieder abgebrochen wird durch den Mangel an weiterschwingender Bewegung; das aber gerade durch den Widerstreit, welchen der Rahmen der festen Ordnungen bietet, an Wirksamkeit und Gewalt gewinnt. Erst die volkssprachlichen Dichter sahen den lebenden Menschen und fanden die Form, in welcher die Parataxe dichterische Kraft besitzt; an Stelle des dünnen, fortsickernden, monotonen Aneinanderreihens erscheint nun die stoßweise, vor- und zurückgreifende, überall energische Ansätze schaffende Laissenform, welche ein neuer hoher Stil ist; wenn das Leben, welches sich in ihren Werken greifen läßt, eng begrenzt und ohne Vielfalt ist, so ist es doch ein volles, menschlich bewegtes und starkes Leben, eine Erlösung von dem blassen und grifflosen Stil der spätantiken Legende. Die volkssprachlichen Dichter verstanden es auch, die direkte Rede als Ton und Geste auszuwerten. Von der Anrede des Alexius an seine Braut und der Klage der Mutter haben wir schon gesprochen; man kann dazu auch noch etwa die Worte anführen, mit denen der nach Rom zurückgekehrte Heilige seinen Vater um Herberge und Nahrung anspricht; sie haben in der französischen Fassung eine konkrete und unmittelbare Gewalt, die dem lateinischen Text ganz unerreichbar wäre. Die französische Fassung lautet: - - Eufemiens, bels sire, riches om, - - quer me herberge por Deu en ta maison; - - soz ton degret me fai un grabaton - - empor ton fil dont tu as tel dolour; 124 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="125"?> 15 Eufemian, edler Herr, du reicher Mann, beherberge mich um Gottes Lohn in deinem Hause; unter deiner Treppe mach mir ein Siechenlager, wegen deines Sohnes, um den du soviel Leid trägst; ich bin sehr krank, ernähre mich um der Liebe zu ihm willen-… 16 Knecht Gottes, schau mich an und tu an mir Barmherzigkeit, denn ich bin arm und fremd, und befiehl, daß man mich in deinem Hause aufnimmt, damit ich mich von den Brosamen deines Tisches nähre, und Gott segne deine Jahre und erbarme sich dessen, den du in der Fremde hast-… toz sui enfers, sim pais por soue amour-… 15 und die lateinische: Serve Dei, respice in me et fac mecum misericordiam, quia pauper sum et peregrinus, et jube me suscipi in domo tua, ut pascar de micis mensae tuae et Deus benedicat annos tuos et ei quem habes in peregre misereatur. 16 Wir deuteten schon an, daß es ein Irrtum wäre, wollte man die Erstarrung und Verengung, die sich in der spätantiken Legende zeigt und aus der sich die vulgärsprachlichen Texte nur langsam befreien, einfach dem Christentum in Rechnung setzen. In unseren früheren Abschnitten haben wir nachzu‐ weisen versucht, daß die ursprüngliche Wirkung der jüdisch-christlichen Gestaltung des Geschehens alles andere war als Erstarrung und Verengung; die Verborgenheit Gottes und zuletzt seine Parusie, die Inkarnation in ein beliebig-alltägliches Leben, hatte, so versuchten wir zu zeigen, eine dynamische Bewegung der Lebensanschauung, einen Pendelausschlag im Moralischen und im Soziologischen hervorgerufen, die weit über das Maß klassisch-antiker Werdens- und Lebensnachahmung hinausgingen. Noch die Kirchenväter, zumal Augustin, sind uns durchaus nicht als schematische, starr einen vorgezeichneten Weg verfolgende Gestalten überliefert, und Augustins Jugendfreund Alypius, dessen innere Erschütterung bei den Gladiatorenkämpfen wir oben besprochen haben, ist eine überaus leben‐ dige Erscheinung, welche kämpft, unterliegt und sich wieder erhebt. Die starre, enge und unproblematische Schematisierung ist dem christlichen Wirklichkeitsbewußtsein ursprünglich sehr fremd. Freilich hat die figurale Interpretation des Geschehens, die bei der Entstehung und Ausbreitung des Christentums immer stärkeren Einfluß gewann, die den Geschehnissen ihren Wirklichkeitsgehalt auslaugte und ihnen nur noch Bedeutungsgehalt ließ, sehr viel teil an der Erstarrung. Sie mußte, als das Dogma festgelegt war, als die Aufgaben der Kirche immer mehr organisatorische wurden, als es sich darum handelte, völlig unvorbereitete, den Voraussetzungen des Christentums ganz fremde Völker zu gewinnen, zu einem simplistischen V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 125 <?page no="126"?> und starren Schema werden. Aber das Problem der Erstarrung im ganzen reicht weiter, es ist gebunden an den Reduktionsprozeß der antiken Kultur; nicht das Christentum erzeugte die Erstarrung, sondern es wurde von ihr miterfaßt. Beim Zusammenbruch des weströmischen Reiches und des in ihm lebenden Ordnungsgedankens, der selbst schon seit langem manche Züge greisenhafter Erstarrung zeigte, zerfiel auch der innere Zusammenhang des orbis terrarum, und eine neue Welt konnte sich erst wieder aus kleinen Parzellen aufbauen; wobei überall das staatlich wie menschlich noch roh geformte Wesen der neu auftretenden Völker zusammenprallte mit den sich noch erhaltenden römischen Institutionen und den großen, selbst in Verfall und Erstarrung ein ungeheures Prestige bewahrenden Resten der antiken Kultur; ein Zusammenprall von ganz jung und uralt, wodurch zunächst auch das ganz Junge gelähmt wurde, bis es sich mit jenem überkommenen auseinandergesetzt, es mit seinem Leben erfüllt und neu zum Blühen gebracht hatte. Der Erstarrungsprozeß war offenbar am schwächsten in den Ländern, in denen die spätantike Kultur niemals dominiert hatte, den innergermanischen; er war weit stärker in den romanischen, wo wirklich ein Zusammenprall stattfand, und es ist vielleicht nicht zufällig, daß Frank‐ reich, welches unter diesen Ländern den stärksten germanischen Einschlag enthielt, sich am frühesten von ihm zu befreien begann. Der erste hohe Stil des europäischen Mittelalters scheint mir in dem Augenblick zu entstehen, in dem der einzelne Vorgang sich mit Leben erfüllt; er ist deshalb so reich an einzelnen, überaus wirksamen Szenen, in denen nur wenig Menschen einander gegenüberstehen, in denen Gesten und Reden eines kurzen Vorgangs scharf hervortreten; die Personen, eng aneinander und gegeneinander stehend, ohne viel Raum zur Bewegung, stehen doch jeder für sich, vom anderen abgesetzt; das von ihnen Gesagte wird nie zum Gespräch, sondern bleibt ein feierliches Kundgeben, in der jede Anrede, je‐ der Satz, ja jedes Wort einen Wert für sich hat, aspiratorisch und emphatisch, ohne jede Geschmeidigkeit und ohne lässiges Fließen. Dieser Stil ist, der Wirklichkeit des Lebens gegenüber, nicht fähig und auch nicht willens, ins Breite oder ins Tiefe zu gehen; er ist zeitlich, örtlich, ständisch beschränkt; er vereinfacht bildhaft und idealisierend Ereignisse der Vergangenheit; das Gefühl, das er beim Hörer hervorrufen will, ist Staunen und Bewunderung für eine ferne Welt, deren Instinkte und Ideale zwar gewiß auch noch die seinen sind, die aber in einer Reinheit, Ungebrochenheit und Freiheit gegenüber den Reibungswiderständen des Lebens sich ausfalten, wie sie seiner praktischen Existenz unerreichbar sind. Menschliche Bewegungen, 126 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="127"?> große, modellhaft ragende Gestalten treten wirksam hervor; sein eigenes Leben ist darin nicht enthalten. Zwar ist gerade im Ton des Rolandsliedes sehr viel Gegenwart; es setzt nicht ein mit einer Ankündigung, die die Ereignisse weit abrückt («vorzeiten geschah es, von alten Geschehnissen will ich erzählen»), sondern mit einem kräftig unmittelbaren Ton, als ob König Karl, unser großer Kaiser, beinah noch ein Lebender wäre; die naive Übertragung der drei Jahrhunderte zurückliegenden Ereignisse in die Gesin‐ nung der hochfeudalen Gesellschaft der beginnenden Kreuzzugsepoche, das Nutzbarmachen des Gegenstandes für kirchliche und feudale Propaganda gibt dem Gedicht etwas Gegenwärtig-Lebendiges; ja sogar schon etwas wie ein keimendes Nationalgefühl ist in ihm spürbar; und auch in allerhand einzelnem scheint Gegenwart zu leben; wenn man, um ein unscheinbares Beispiel herauszugreifen, den Vers liest, mit dem Roland den bevorstehenden Angriff der fränkischen Ritter zu ordnen sucht (1165): - - Seignurs barons, suef, le pas tenant! so klingt in ihm eine gegenwärtige Szene zeitgenössischer Kampfübung feudaler Kavallerie auf. Aber das sind aufblitzende Einzelheiten; die stän‐ dige Beschränkung, die Idealisierung und Vereinfachung, der Schimmer märchenhafter Verschleierung überwiegen. Der Stil des französischen Heldenliedes ist also ein hoher Stil, in dem die Strukturvorstellung des Geschehens noch sehr starr ist und der nur einen durch zeitliche Ferne, perspektivische Vereinfachung und ständische Beschränkung sehr eingeengten Teil des gegenständlichen Lebens zur Dar‐ stellung bringt. Es ist nichts Neues, sondern nur eine andere Formulierung des schon mehrfach Gesagten, wenn wir hinzufügen, daß ihm die Tren‐ nung der Bezirke des heldenhaft Erhabenen und des alltäglich Praktischen völlig selbstverständlich ist; andere Schichten als die hochfeudale treten überhaupt nicht auf, die wirtschaftlichen Grundlagen des Lebens werden nie erwähnt; das ist viel weiter getrieben als in der germanischen oder mittelhochdeutschen Heldendichtung und bietet auch einen sehr auffallen‐ den Unterschied gegenüber der nur wenig später auftretenden spanischen Heldenepik. Dennoch war die Chanson de geste, zumal das Rolandslied, offenbar volkstümlich; diese Dichtung handelt zwar ausschließlich von den Taten der feudalen Oberschicht, aber sie wendet sich ohne Zweifel auch an das Volk. Das ist offenbar so zu erklären, daß trotz der bedeutenden materiellen und rechtlichen Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Schichten der Laienbevölkerung bestanden, es doch noch keine grundsätz‐ V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres 127 <?page no="128"?> liche Verschiedenheit in ihrem Bildungsstand gab; ja mehr als das, daß auch die Idealvorstellungen noch einheitlich waren, oder zum mindesten, daß andere irdische Idealvorstellungen als ritterlich-heldenhafte noch nicht Wort und Gestalt gewinnen konnten. Von der Kraft und Wirksamkeit der Chanson de geste in allen Schichten zeugt die Tatsache, daß die Geistlichkeit, die vorher der vulgärsprachlichen Profandichtung nicht wohlwollend ge‐ genübergestanden hatte, die Heldenepik seit dem Ende des 11. Jahrhunderts für ihre Absichten nutzbar zu machen suchte; die Jahrhunderte lange Lebensdauer der Stoffe, die immer neu bearbeitet wurden und bald zu Jahrmarktsvolksgut absanken, beweist ihre nachhaltige Beliebtheit gerade in den niederen Schichten der Bevölkerung. Für die Hörer des 11., 12. und 13. Jahrhunderts war das Heldenepos Geschichte; in ihm lebte die geschichtliche Überlieferung der Vorzeit; eine andere, den Hörern zugäng‐ liche gab es nicht. Erst gegen 1200 entstehen die ersten vulgärsprachlichen Chroniken, die aber nicht Vergangenheit, sondern selbsterlebte Gegenwart erzählen, wobei sie übrigens noch sehr vom epischen Stil beeinflußt sind. Das Heldenepos ist auch in der Tat wenigstens insofern Geschichte, als es an wirkliche geschichtliche Verhältnisse erinnert, wenn es sie auch entstellt und vereinfacht, und als seine Gestalten stets eine geschichtlich-politische Funktion erfüllen. Dies geschichtlich-politische Wesen gibt der höfische Roman auf und steht infolgedessen zur gegenständlich-wirklichen Welt in einem völlig anderen Verhältnis. 128 V Rolands Ernennung zum Führer der Nachhut des fränkischen Heeres <?page no="129"?> VI Der Auszug des höfischen Ritters I M Anfang von Chrétien de Troyes’ Yvain, eines höfischen Romans aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, erzählt einer der Ritter vom Hofe des Königs Artus ein Abenteuer, das ihm zugestoßen ist. Seine Erzählung beginnt folgendermaßen: - 175 Il avint, pres a de set anz - - Que je seus come païsanz - - Aloie querant avantures, - - Armez de totes armeüres - - Si come chevaliers doit estre, - 180 Et trovai un chemin a destre Parmi une forest espesse. - - Mout i ot voie felenesse, - - De ronces et d’espines plainne; - - A quelqu’enui, a quelque painne - 185 Ting cele voie et cel santier. - - A bien pres tot le ior antier - - m’an alai chevauchant einsi - - Tant que de la forest issi, - - Et ce fu an Broceliande. - 190 De la forest an une lande - - Antrai et vi une bretesche - - A demie liue galesche; - - Si tant i ot, plus n’i ot pas. - - Celle part ving plus que le pas - 195 Et vi le baille et le fossé - - Tot anviron parfont et le, - - Et sor le pont an piez estoit - - Cil cui la forteresce estoit, - - Sor son poing un ostor mué. - 200 Ne l’oi mie bien salué, - - Quant il me vint a l'estrier prandre, - - Si me comanda a desçandre. - - Je desçandi; il n’i ot el. - - Que mestier avoie d’ostel: - 205 Et il me dist tot maintenant - - Plus de çant foiz an un tenant, - - Que beneoite fust la voie, <?page no="130"?> Par ou leanz venuz estoie. - - A tant an la cort an antrames, - 210 Le pont et la porte passames. - - Anmi la cort au vavassor, - - Cui Des doint et ioie et enor - - Tant come il fist moi cele nuit, - - Pandoit une table; je cuit - 215 Qu’il n’i avoit ne fer ne fust - - Ne rien qui de cuivre ne fust. - - Sur cele table d’un martel, - - Qui panduz iere a un postel, - - Feri li vavassors trois cos. - 220 Cil qui amont ierent anclos - - Oïrent la voiz et le son, - - S’issirent fors de la meison - - Et vindrent an la cort aval. - - Li un seisirent mon cheval, - 225 Que li buens vavassors tenoit. - - Et je vis que vers moi venoit - - Une pucele bele et jante. - - An li esgarder mis m’antante: - - Ele fu longue et gresle et droite. - 230 De moi desarmer fu adroite; - - Qu’ele le fist et bien et bel. - - Puis m’afubla un cort mantel, - - Ver d’escarlate peonace, - - Et tuit nos guerpirent la place, - 235 Que avuec moi ne avuec li - - Ne remest nus, ce m’abeli; - - Que plus n’i queroie veoir. - - Et ele me mena seoir - - El plus bel praelet del monde - 240 Clos de bas mur a la reonde. - - La la trovai si afeitiee, - - Si bien parlant et anseigniee, - - De tel sanblant et de tel estre, - - Que mout m’i delitoit a estre, - 245 Ne ja mes por nul estovoir - - Ne m’an queïsse removoir. - - Mes tant me fist la nuit de guerre - - Li vavassors, qu’il me vint querre. 130 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="131"?> 17 Es geschah vor bald sieben Jahren, daß ich, allein wie ein Bauer, auf die Suche nach Abenteuern ging, bewaffnet mit allen Waffen, wie ein Ritter es sein soll; und ich fand einen Weg zur Rechten durch einen dichten Wald. Der Weg war ganz abscheulich, voll von Gestrüpp und Dornen; trotz aller Anstrengung und Mühe hielt ich mich an diesen Weg und diesen Pfad. Fast den ganzen Tag ritt ich so fort, bis daß ich aus dem Walde hinauskam, und zwar war das in Broceliande. Aus dem Wald gelangte ich auf eine Heide und sah einen Turm auf eine halbe walisische Meile Entfernung; mehr war es jedenfalls nicht. Ich ritt geschwind in dieser Richtung und sah rund herum Wall und Graben tief und breit; und auf der Brücke stand der, dem die Burg gehörte, auf der Faust einen gemauserten Jagdfalken. Ich hatte ihn noch gar nicht recht begrüßt, als er schon kam, meinen Steigbügel zu ergreifen und mich aufforderte, abzusteigen. Ich stieg ab; etwas anderes war nicht zu tun, denn ich brauchte Unterkunft; und er sagte mir sogleich, Quant de soper fu tans et ore. - 250 N’i poi plus feire de demore, - - Si fis lues son comandemant. - - Del soper vos dirai briemant, - - Qu’il fu del tot a ma devise, - - Des que devant moi fu assise - 255 La pucele qui s’i assist. - - Apres soper itant me dist - - Li vavassors, qu’il ne savoit - - Le terme, puis que il avoit - - Herbergié chevalier errant, - 260 Qui avanture alast querant, - - S’an avoit il maint herbergié. - - Apres ce me pria que gié - - Par son ostel m’an revenisse - - An guerredon, se je poïsse. - 265 Et je li dis: «Volantiers, sire! » - - Que honte fust de l’escondire. - - Petit por mon oste feïsse, - - Se cest don li escondeïsse, - - Mout fu bien la nuit ostelez, - 270 Et mes chevaus fu anselez - - Lues que l’an pot le jor veoir; - - Car j’an oi mout proiié le soir; - - Si fu bien feite ma proiiere - - Mon buen oste et sa fille chiere - 275 Au saint Esperit comandai, - - A trestoz congié demandai, - - Si m’an alai lues que ie poi-… 17 VI Der Auszug des höfischen Ritters 131 <?page no="132"?> mehr als hundert Mal in einem Zuge, daß der Weg gesegnet sein möge, auf dem ich dort hingekommen sei. Inzwischen traten wir in den Hof ein, schritten über die Brücke und durch das Tor. Mitten im Hof des Ritters (dem Gott Freude und Ehre geben möge, so wie er sie mir jene Nacht antat) hing eine Platte; ich glaube, es war nichts daran Eisen oder Holz, sondern sie war ganz aus Kupfer. Auf diese Platte tat der Ritter drei Schläge mit einem Hammer, der an einem Pfosten hing. Die oben im Hause hörten Schall und Ton, kamen heraus und in den Hof hinunter. Einige ergriffen mein Pferd, das der gute Ritter hielt, und ich sah, daß ein schönes und liebliches Mädchen sich mir näherte. Ich betrachtete sie genau; sie war groß und schlank und gerade. Sie verstand sich wohl darauf, mich zu entwaffnen, sie tat es richtig und schön. Dann hing sie mir einen kurzen, mit Scharlachstoff besetzten Mantel um, und alle anderen zogen sich zurück; nur ich und sie blieben zurück, das machte mir viel Freude, denn ich wollte gar niemand anderen sehen. Und sie führte mich auf die schönste kleine Wiese, die man sich vorstellen kann, um dort zu sitzen, rund von einer niedrigen Mauer umschlossen. Dort fand ich sie so liebenswürdig, so angenehm redend und so fein gebildet, von solchem Anschein und solchem Wesen, daß es mich sehr entzückte, dort zu sein, und daß ich um keinen Preis mich hätte entfernen wollen. Aber der Einbruch der Dunkelheit war meinen Wünschen entgegen; der Ritter kam mich holen, als es Zeit zum Abendessen war. Ich konnte nicht länger verweilen und folgte sogleich seiner Einladung. Vom Abendessen will ich euch kurz berichten, daß es ganz nach meinem Geschmack war, denn vor mir saß die Jungfrau, die am Tisch Platz genommen hatte. Nach dem Essen sagte mir der Ritter, daß er sich nicht mehr erinnern könne, seit wie langer Zeit er Abenteuer suchende Ritter beherberge; manch einen davon habe er beherbergt. Danach bat er mich, zum Lohn wieder über sein Schloß zurückzukommen, wenn es mir möglich wäre. Und ich sagte ihm: Gern, Herr. Denn es wäre eine Schande gewesen, es ihm abzuschlagen; wenig hätte ich für meinen Wirt getan, wenn ich dies Geschenk ihm abgeschlagen hätte. Die Nacht war ich sehr gut untergebracht, und mein Pferd war gesattelt, sobald man die Sonne aufgehen sah; denn darum hatte ich am Abend dringend gebeten, und meine Bitte wurde genau erfüllt. Ich empfahl meinen guten Wirt und seine liebe Tochter dem Heiligen Geist, nahm von allen Abschied und brach auf, sobald ich konnte-… Im weiteren Verlauf seiner Erzählung berichtet der Ritter - er heißt Calo‐ grenant -, wie er einer Herde von Stieren begegnet und durch deren Hirten, einen grotesk häßlichen und riesenhaften «vilain», Kunde erhält von einer nicht weit entfernten Zauberquelle: sie fließt unter einem herrlichen Baum, an ihr hängt ein goldenes Becken, und wenn man mit diesem Becken ihr Wasser auf eine daneben befindliche smaragdene Platte gießt, entsteht im Walde ungeheurer Sturm und Gewitter, woraus noch niemand heil entkom‐ men ist. Calogrenant versucht das Abenteuer, er übersteht das Gewitter und genießt mit Freude die darauf einsetzende, durch den Gesang vieler Vögel belebte Aufheiterung; allein ein Ritter erscheint, wirft ihm den durch den Sturm auf seinem Eigentum angerichteten Schaden vor und besiegt ihn, so daß er zu Fuß und ohne Waffen zu seinem Gastfreund zurückkehren muß. Dort wird er wiederum sehr gut aufgenommen und man bestätigt ihm, er 132 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="133"?> sei der erste, der aus jenem Abenteuer heil entkommen sei. Calogrenants Erzählung macht großen Eindruck auf die Ritter an Artus’ Hof; der König beschließt selbst mit großem Gefolge zu der Zauberquelle zu ziehen; doch einer der Ritter, Calogrenants Vetter Yvain, kommt ihm zuvor, besiegt und tötet den Ritter der Quelle und gewinnt auf eine teils wunderbare, teils aber auch sehr natürliche Weise die Liebe seiner Witwe. Obgleich nur etwa siebzig Jahre zwischen diesem und dem vorhergehen‐ den Text liegen, und obgleich es sich auch hier um ein episches Werk der feudalen Epoche handelt, so zeigt doch der erste Blick eine völlig veränderte Stilbewegung. Es wird flüssig, leicht und fast behaglich erzählt; die Erzählung schreitet zwar ohne Hast, aber doch beständig vorwärts; ihre einzelnen Glieder sind lückenlos miteinander verbunden. Zwar gibt es auch hier keine straff organisierten Perioden, es geht locker und ohne genaue Planung von einem Glied des Vorgangs zum nächsten; auch sind die Konjunktionen noch nicht sehr scharf in ihrer Bedeutung festgelegt, insbesondere que hat allzu viele Funktionen zu erfüllen, so daß manche kausale Verzahnungen (etwa V. 231, 235 oder 237) etwas unbestimmt wirken. Aber das fortschreitende Weitererzählen wird davon nicht beeinträchtigt, im Gegenteil, die Lockerheit des Gefüges gibt einen sehr natürlichen Erzähler‐ stil, und der Reim, sehr frei und unabhängig vom Sinngefüge, darf niemals scharf unterbrechen; er gibt dem Dichter gelegentlich Anlaß zu Füllversen oder umständlichen Umschreibungen (etwa Vers 193 oder 211-216), die sich mühelos in seinen Stil einfügen und den Eindruck naiver, frischer, behaglicher Breite noch erhöhen. Wieviel biegsamer und bewegungsfreier diese Sprache ist als die der Chanson de geste, wieviel behender sie die zwar noch sehr naiven, aber doch schon recht wechselvoll spielenden Bewegungen der Erzählung ausschwatzen kann, das läßt sich fast an jedem Satz beobachten; nehmen wir als Beispiel die Verse 241-246: La la trovai si afeitiee, si bien parlant et anseigniee, de tel sanblant et de tel estre, que mout m’i delitoit a estre, ne ja mes por nul estovoir ne m’an queïsse removoir; der Satz, an den vorhergehenden durch la angeknüpft, zeigt eine Konseku‐ tivperiode; ihr ansteigender Teil ist dreimal gestuft, die dritte Stufe enthält eine antithetisch geformte Zusammenfassung (sanblant-estre), welche eine hohe und bereits selbstverständlich gewordene analytische Bildung in der Beurteilung von Personen verrät; der fallende Teil ist zweigliedrig, wobei sich die Glieder sorgfältig gegeneinander absetzen: das erste, den Tatbestand des Entzückens ausdrückend, im Indikativ, das zweite, hypothetisch, im Konjunktiv - so raffinierte Gebilde, mitten in einer Erzählung mühelos VI Der Auszug des höfischen Ritters 133 <?page no="134"?> und fließend eingeschaltet, dürften sich in einer Vulgärsprache vor dem höfischen Roman kaum nachweisen lassen; ich benutze den Anlaß, um zu bemerken, daß bei der allmählichen Entstehung einer hypotaktisch reicheren und periodisierenden Fügung die Konsekutivverbindung bis zu Dante führend gewesen zu sein scheint (auch der Seite 107 aus der Folie Tristan angeführte Satz gipfelt in einer Konsekutivbewegung). Während andere modale Verbindungen noch wenig entwickelt waren, blühte diese auf und gewann eigentümliche Ausdrucksfunktionen, die später wieder verloren gingen; darüber gibt es neuerdings eine interessante Arbeit von A.-G. Hatcher (Revue des Etudes Indo-européennes II, 30). Calogrenant erzählt der Tafelrunde des Königs, er sei vor sieben Jahren ausgeritten, allein, auf der Suche nach Abenteuern, bewaffnet, wie es einem Ritter geziemt, und da fand er einen Weg zur Rechten, quer durch einen dichten Wald. Hier stutzen wir. Zur Rechten? Das ist eine seltsame Ortsbe‐ zeichnung, wenn sie, wie es hier der Fall ist, absolut verwendet wird. Sie kann, in einer irdischen Topographie, nur bei relativer Verwendung einen Sinn haben. Folglich hat sie hier einen moralischen Sinn; offenbar handelt es sich um «den rechten Weg», den Calogrenant fand; und das wird sogleich bestätigt, denn der Weg ist mühsam, wie rechte Wege es zu sein pflegen, er führt den ganzen Tag durch einen dichten Wald voll Dornen und Gestrüpp, und am Abend führt er zum rechten Ziel: einer Burg, wo Calogrenant mit Freude aufgenommen wird, als sei er ein längst erwarteter Gast. Erst am Abend, als er aus dem Wald heraustritt, scheint er zu entdecken, wo er sich befindet: auf einer Heide in Broceliande nämlich. Broceliande in Aremorika, auf dem Festland, ist ein in der bretonischen Sage berühmtes Feenland, mit Zauberquelle und Märchenwald. Wie Calogrenant, der doch vermutlich aus der britannischen Insel, von König Artus’ Hof aufgebrochen ist, aufs Festland der Bretagne gelangt ist, wird nicht angegeben; von Überquerung des Meeres hören wir nichts, ebensowenig wie später (Vers 760 ff.) bei Yvain, der seinerseits ganz zweifelsohne von Carduel in Wales aufbricht, dessen Reise zu dem «rechten Weg» in Broceliande jedoch ganz unbestimmt und märchenhaft beschrieben wird. Kaum hat Calogrenant entdeckt, wo er ist, so sieht er auch schon die gastliche Burg; auf ihrer Brücke steht der Burgherr, den Jagdfalken auf der Hand, und empfängt ihn mit einer Freude, die über den Ausdruck gastlicher Bereitschaft weit hinausgeht, und die uns noch einmal bestätigt, daß es sich oben um einen «rechten Weg» gehandelt hat: et il me dist tot maintenant plus de çant fois an un tenant, que beneoite fust la voie, par ou leanz venuz estoie. Die weitere Aufnahme vollzieht sich 134 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="135"?> nach ritterlichem Zeremoniell, dessen zierliche Formen längst festgelegt zu sein scheinen: der Wirt ruft durch drei Schläge auf die Kupferplatte sein Gesinde zusammen, man führt das Pferd des Angekommenen fort; es erscheint eine schöne Jungfrau, die Tochter des Burgherrn; ihre Aufgabe ist es, den Gast von seiner Rüstung zu befreien, ihm an deren Stelle einen bequemen und eleganten Mantel umzuhängen, und ihm alsdann, allein mit ihm in einem schönen Garten, durch ihre Gesellschaft auf erfreuliche Weise die Zeit zu vertreiben, bis die Abendmahlzeit bereitet ist. Nach derselben erzählt der Burgherr seinem Gast, daß er schon seit sehr langer Zeit fahrende Ritter beherberge, die auf der Suche nach Abenteuern umherziehen; er ladet ihn dringend ein, auf der Rückkehr wiederum seine Burg zu besuchen; er sagt ihm aber seltsamerweise nichts von dem Quellenabenteuer, obgleich er es kennt, und obgleich er weiß, daß die Gefahren, die seinen Gast dort erwarten, aller Wahrscheinlichkeit nach die in Aussicht genommene Rückkehr verhindern werden. Das scheint aber ganz in der Ordnung zu sein; wenigstens beeinträchtigt es in keiner Weise das Lob, das Calogrenant, und ebenso später Yvain, der Gastfreundschaft und ritterlichen Tugend ihres Wirtes zollen. Calogrenant also reitet des Morgens fort und erfährt erst von dem waldschrathaften vilain etwas von der Zauberquelle; der vilain weiß zwar nicht was avanture ist - denn er ist ja kein Ritter - aber er kennt die Wundereigenschaften der Quelle und hält mit seiner Kenntnis nicht zurück. Ganz augenscheinlich befinden wir uns mitten im Zaubermärchen. Der rechte Weg durch den dornigen Wald, das wie aus dem Boden gewach‐ sene Schloß, die Art des Empfanges, das schöne Fräulein, das seltsame Schweigen des Burgherrn, der Waldschrat, die Zauberquelle - das alles ist Märchenluft. Nicht minder märchenhaft als die örtlichen Angaben sind auch die zeitlichen. Sieben Jahre hat Calogrenant von seinem Abenteuer geschwiegen. Sieben ist eine Märchenzahl, und ein wenig Sagenatmosphäre geben die sieben Jahre auch dem Anfang des Rolandsliedes, wo sie ebenfalls in Erscheinung treten: sieben Jahre, set anz tuz pleins, hat Kaiser Karl in Spanien verbracht. Allein im Rolandslied sind es wirklich «volle» Jahre; sie sind tuz pleins, denn sie haben dem Kaiser dazu gedient, das ganze Land bis zum Meere zu unterwerfen, all seine Burgen und Städte zu erobern mit Ausnahme von Saragossa - in den sieben Jahren zwischen Calogrenants Abenteuer an der Quelle und seiner Erzählung scheint nichts geschehen zu sein, wenigstens erfahren wir nichts davon; als Yvain sich anschickt, dasselbe Abenteuer zu bestehen, findet er noch alles so vor, wie es Calogrenant geschildert hat, den Burgherrn und das Burgfräulein, die VI Der Auszug des höfischen Ritters 135 <?page no="136"?> Stiere mit ihrem riesenhaften, greulich häßlichen Hirten, die Zauberquelle und den Ritter, der sie verteidigt; nichts hat sich verändert, die sieben Jahre sind spurlos vorübergegangen, alles ist wie es war, ganz wie es im Märchen zu geschehen pflegt. Es ist eine märchenhaft verzauberte Landschaft, wir sind vom Geheimnis umwittert, es raunt und flüstert um uns herum. All die vielen Schlösser und Burgen, Kämpfe und Abenteuer der höfischen Romane, insbesondere der bretonischen, sind Märchenland, denn sie erscheinen vor uns jedesmal wie aus dem Boden gewachsen; ihr geographisches Verhältnis zur bekannten Erde, ihre soziologischen und wirtschaftlichen Grundlagen bleiben unaufgeklärt; selbst ihre moralische oder symbolische Bedeutung ist nur selten mit einiger Sicherheit zu ermitteln. Hat das Abenteuer an der Zauberquelle irgendeinen verborgenen Sinn? Es gehört offenbar zu denen, die die Ritter vom Artushof zu bestehen haben, doch eine morali‐ sche Begründung der Rechtmäßigkeit des Kampfes gegen den Ritter der Zauberquelle wird nirgends gegeben. In anderen Episoden der höfischen Romane lassen sich zuweilen symbolische, mythologische, religiöse Motive erkennen; so die Unterweltsfahrt im Lanzelot, das Motiv der Befreiung und Erlösung überhaupt an sehr vielen Stellen, und vor allem das Thema der christlichen Gnade in der Graalssage - allein fast niemals lassen sich die Bedeutungen scharf festlegen, wenigstens noch nicht in den eigentlich höfischen Romanen. Das Geheimnisvolle, aus dem Boden Gewachsene, seine Wurzeln Verbergende, keiner rationalen Erklärung zugängliche hat der höfische Roman der bretonischen Volkssage entnommen, die er rezipiert und der Ausbildung des ritterlichen Ideals dienstbar gemacht hat; die matière de Bretagne erwies sich offenbar als das geeignetste Medium zur Entfaltung dieses Ideals - geeigneter noch als die etwa gleichzeitig in Aufnahme kommenden, aber bald wieder zurücktretenden antiken Stoffe. Die Selbstdarstellung des feudalen Rittertums in seinen Lebensformen und Idealvorstellungen ist die eigentliche Absicht des höfischen Romans; auch die äußeren Lebensformen werden mit Muße dargestellt, und bei solchen Gelegenheiten verläßt die Darstellung die Nebelferne des Märchens, um durchaus gegenwärtige Bilder zeitgenössischer Sitte zu geben. Andere Episoden des höfischen Romans geben solche Bilder noch weit bunter und ausführlicher als unsere Stelle, allein auch aus ihr läßt sich das Wesentliche ihres Wirklichkeitscharakters beobachten. Der Burgherr mit dem Jagdfal‐ ken, das durch die Schläge auf die Kupferplatte herbeigerufene Gesinde, das schöne Burgfräulein, welches ihm die Rüstung abnimmt, ihm ein bequemes Gewand anlegt und ihn bis zur Stunde des Abendessens aufs lieblichste 136 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="137"?> unterhält - alles das sind zierliche Bilder einer festgelegten Sitte, eines Rituals beinahe, welches die höfische Gesellschaft in der Umrahmung eines wohlausgebildeten Lebensstiles zeigt. Die Umrahmung ist ebenso fest und isolierend, ebenso abgesetzt gegen Lebensformen anderer Schichten wie die der Chansons de geste, allein sie ist weit hochgezüchteter und weit elegan‐ ter; die Frauen spielen darin eine bedeutende Rolle, das vornehme Behagen des geselligen Lebens einer Kulturschicht hat sich entwickelt. Und zwar hat es einen Charakter angenommen, der lange eines der eigentümlichsten Merkmale des französischen Geschmacks bleiben wird: den des Zierlichen, fast ein wenig allzu Gedrechselten. Die Szene mit dem Schloßfräulein - wie sie erscheint, wie er sie anschaut, die Entwaffnung, die Unterhaltung auf der Wiese - obgleich es sich hier nur um ein wenig ausgebildetes Beispiel handelt, gibt zur Genüge den Eindruck der lieblich-zierlichen, klaren und lächelnden, frischen und elegant-naiven Koketterie, in welcher gerade Chrétien ein Meister ist. Stilbilder dieser Art finden sich im Französischen schon sehr früh - in den chansons de toile, und selbst einmal im Rolandslied, in der Laisse über Margariz von Sevilla (V. 955 ff.); aber erst die höfische Kultur hat sie ausgebildet, und insbesondere Chrétiens großer Charme beruht zum guten Teil auf seiner Gabe, diesen Ton auf das mannigfaltigste zu entwickeln. In seinem vollen Glanz erscheint dieser Stil da, wo es sich um wirkliches Liebesspiel handelt; zwischen den Szenen dieses Spiels gibt es alsdann ein antithetisches Raisonnement über das Gefühl, scheinbar naiv, doch von höchst kunstvoller Lieblichkeit; das berühmteste Beispiel findet sich zu Anfang des Cligès, wo die erwachende Liebe zwischen Alixandre und Soredamors, mit der anfänglichen Scheu des gegenseitigen Versteckens und dem schließlichen Aufbrechen des Gefühls, in einer Reihe von bezau‐ bernden Szenen und analysierenden Selbstgesprächen dargestellt wird. Das Zierliche und Liebliche dieses Stils, dessen Reiz die Frische und dessen Gefahr das Kleinliche, albern Kokette und Kalte ist, findet sich in solcher Reinheit in der antiken Dichtung kaum, es ist eine Schöpfung des franzö‐ sischen Mittelalters; übrigens ist der Stil keineswegs auf Liebesepisoden beschränkt. Das ganze Bild des Lebensmäßigen der feudalen Gesellschaft ist, bei Chrétien sowohl wie beim späteren Abenteuerroman und der kürzeren Verserzählung, auf den gleichen Ton gestimmt, im 12. und auch noch im 13. Jahrhundert. In zierlichen, lieblichen, überaus fein gepinselten und wasserhellen Versen führt sich die ritterliche Gesellschaft vor, Tausende von kleinen Szenen und Bildern schildern uns ihre Gewohnheiten, ihre Anschauungen und den Ton ihres gesellschaftlichen Verkehrs. Sehr viel VI Der Auszug des höfischen Ritters 137 <?page no="138"?> Glanz, realistische Würze, psychologische Feinheit und auch viel Humor stecken in diesen Bildern; es ist eine sehr viel reichere, abwechslungsvollere, gefülltere Welt als die der Chansons de geste, obgleich auch sie nur die Welt eines einzigen Standes ist. Zuweilen scheint Chrétien sogar diese ständische Beschränkung zu durchbrechen, wie in dem Arbeitssaal der dreihundert Jungfrauen im Chastel de Pesme Avanture (Yvain 5107 ff.) oder in der Darstellung jener reichen Stadt, deren Bürgerschaft (quemune) das Schloß, in dem sich Gauvain befindet, zu stürmen sucht (Perceval 5710 ff.) - aber solche Episoden sind doch nur ein bunter Schauplatz für das ritterliche Leben. Die höfische Realistik gibt ein sehr reiches und würziges Lebensbild eines einzigen Standes; einer Schicht, die sich von anderen Schichten der Mitlebenden absondert, sie gelegentlich als bunte, meist als komische oder groteske Staffage auftreten läßt; so daß die ständische Trennung zwischen dem Bedeutenden, Bedeutungsvollen und Hohen einerseits und dem Nied‐ rig-Grotesk-Komischen andererseits inhaltlich ganz streng aufrechterhalten bleibt; zum ersteren Bezirk hat nur die feudale Schicht Zutritt. Von einer eigentlichen Stiltrennung kann man allerdings insofern nicht sprechen, als der höfische Roman einen «hohen Stil», das heißt einen Gradunterschied in der Höhenlage der Ausdrucksform nicht kennt; der behagliche, behende und elastische gereimte Achtsilber paßt sich jedem Gegenstand und jeder Höhenlage des Gefühls oder des Gedankens mühelos an; hat er ja auch sonst für die verschiedensten Zwecke dienen können, für Schwänke so gut wie für Heiligenlegenden; wo er sehr ernste oder schreckliche Dinge behandelt, hat er, zumindest für unser Gefühl, sehr leicht etwas rührend Naives, Kindliches, und in der Tat liegt in der sinnlichen Frische, die ein doch schon so reich differenziertes Leben mit einer noch so jungen, kaum von Theorie belasteten, noch nicht aus der dialektalen Vielfalt losgelösten Literatursprache zu beherrschen sucht, ein kindlicher Mut. Das Problem der Höhenlagen des Stils wird den Vulgärsprachen erst viel später, erst seit Dante bewußt. Eine noch stärkere Beschränkung als die ständische ergibt sich für den Realismus des höfischen Romans aus seiner Märchenatmosphäre; sie bringt es mit sich, daß all die bunten und lebendigen Bilder zeitgenössischer Wirk‐ lichkeit wie aus dem Boden gewachsen erscheinen, aus dem Märchenboden nämlich, so daß sie, wie wir schon sagten, jeder wirklich-politischen Grund‐ lage entbehren; die geographischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Verhältnisse, auf denen sie beruhen, werden niemals aufgeklärt; sie wachsen unvermittelt aus Märchen und Abenteuer; der so verblüffend realistische 138 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="139"?> Arbeitssaal im Yvain, den ich eben erwähnte, in dem sogar von Arbeits‐ bedingungen und Geldlohn die Rede ist, ist nicht etwa durch konkrete wirtschaftliche Verhältnisse zustande gekommen, sondern dadurch, daß der junge König der Jungfraueninsel, der zwei bösartigen, koboldhaften Brüdern in die Hände gefallen war, sich durch das Versprechen, jährlich dreißig seiner Jungfrauen zur Zwangsarbeit abzuliefern, von ihnen losgekauft hat. Die Märchenatmosphäre ist die eigentliche Lebensluft des höfischen Romans, der ja nicht nur die äußeren Lebensformen, sondern auch, und vor allem, die Idealvorstellungen der feudalen Gesellschaft des ausgehenden 12. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen will. Damit kommen wir zum Kern seines Wesens, insofern dieses für die Geschichte der literarischen Erfassung des Wirklichen bedeutend wurde. Calogrenant reitet aus ohne Auftrag und ohne Amt; er sucht Abenteuer, das heißt gefährliche Begegnungen, an denen er sich erproben kann. So etwas gibt es in der Chanson de geste nicht. Die Ritter, die dort reiten, haben ein Amt und stehen in einem politisch-geschichtlichen Zusammenhang; es ist zwar dieser Zusammenhang sagenhaft vereinfacht und entstellt, aber er ist doch insofern erhalten, als die Personen, die sich handelnd bewegen, eine Funktion in der wirklichen Welt haben, nämlich etwa Karls Reich gegen die Ungläubigen zu verteidigen, die Ungläubigen zu unterwerfen und zu bekehren, und ähnliches. Solchen politisch-geschichtlichen Zwecken dient das Ethos des feudalen Standes, eben das Kriegerethos, zu dem sich die Ritter bekennen. Calogrenant hingegen hat keinerlei politisch-geschichtliche Auf‐ gabe, ebensowenig wie irgendein anderer Ritter vom Artushof; das feudale Ethos dient keiner politischen Funktion und überhaupt keiner praktischen Wirklichkeit mehr; es ist absolut geworden. Es hat keinen anderen Zweck mehr als die Selbstverwirklichung. Dadurch verändert es sich vollkommen. Sogar das Wort, welches sich dafür im Rolandslied am häufigsten und in all‐ gemeinster Bedeutung findet - vasselage - scheint allmählich aus der Mode zu kommen; Chrétien verwendet es im Erec noch dreimal, im Cligès und im Lancelot findet man es an je einer Stelle, und später überhaupt nicht mehr. Das neue Wort, das er bevorzugt, ist corteisie, ein Wort, dessen bedeutende und lange Geschichte für die ständisch-menschliche Idealvorstellung in Eu‐ ropa die vollständigste Interpretation liefert. Im Rolandslied findet sich dies Wort noch nicht; nur das Adjektiv curteis erscheint dreimal, davon zweimal für Olivier in der Verbindung li proz e li curteis; augenscheinlich ist corteisie erst in der höfischen Kultur, die ja daher ihren Namen trägt, zu seiner synthetischen Bedeutung gekommen. Die in ihm ausgedrückten, gegenüber VI Der Auszug des höfischen Ritters 139 <?page no="140"?> der Chanson de geste sehr stark veränderten und sublimierten Inhalte - Verfeinerung der Kampfesregeln, höfische Verkehrssitte, Frauendienst - zielen alle nach einem persönlichen und absoluten Ideal; absolut sowohl in bezug auf ideale Vollendung als auch in bezug auf irdisch-praktische Zwecklosigkeit. Das Persönliche der höfischen Tugenden ist nicht einfach naturgegeben, auch nicht einfach durch Geburt erworben, in der Art, daß die durch die Geburt innerhalb des Standes gegebene praktische Lage bestimmte praktische Anforderungen stellte, in denen sich jene Tugenden normalerweise spontan entwickelten; sondern es bedarf nunmehr, außer der Geburt, auch noch der Erziehung, um sie einzupflanzen, und der ständigen, freiwillig und unablässig zu erneuernden Erprobung, um sie zu bewähren. Das Mittel der Erprobung und Bewährung ist das Abenteuer, aventure, eine überaus eigentümliche und seltsame Form des Geschehens, welche die höfische Kultur ausbildete. Wohl gibt es lange vorher die phantasiereiche Ausmalung der Wunder und Gefahren, die denjenigen erwarten, der über die Grenzen der bekannten Welt in ferne, unerforschte Gegenden verschlagen wird - und nicht minder phantasiereiche Vorstellungen und Erzählungen von den geheimnisvollen Gefahren, die selbst innerhalb der geographisch bekannten Welt durch das Wirken von Göttern, Geistern, Dämonen und anderen zauberkundigen Gewalten den Menschen bedrohen; es gibt auch längst vor der höfischen Kultur den furchtlosen Helden, der durch Kraft, Tugend, List und göttliche Hilfe solche Gefahren überwindet und andere daraus erlöst. Aber daß ein ganzer Stand, der in voller zeitgenössischer Blüte steht, das Bestehen solcher Gefahren als seinen eigentlichen und in der Idealvorstellung ausschließlichen Beruf ansieht - daß die verschiedensten Sagenüberlieferungen, vor allem die bretonische, aber auch andere, von ihm rezipiert werden, um eine eigens dafür präparierte ritterliche Wunder‐ welt zu schaffen, in der die phantastischen Begegnungen und Gefahren gleichsam am laufenden Bande dem Ritter entgegentreten - diese Gesche‐ hensanordnung ist eine Neuschöpfung des höfischen Romans. Obgleich nun die gefahrvollen Begegnungen, aventures genannt, durchaus keine erfahrungsmäßige Grundlage besitzen, obgleich sie in kein bestehendes oder praktisch vorstellbares politisches System einzuordnen sind, obgleich sie meist ohne rationalen Zusammenhang, serienweise, in langen Reihen hintereinander auftreten, so darf man doch sich nicht von der modernen Bedeutung des Wortes Abenteuer dazu verleiten lassen, sie als rein «zufäl‐ lige» anzusehen: das Lockere, Periphere, Ordnungslose, oder, wie Simmel einmal sagte, außerhalb des eigentlichen Sinnes der Existenz Stehende, 140 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="141"?> was man gegenwärtig mit dem Wort Abenteuer verbindet, ist im höfischen Roman eben nicht gemeint; vielmehr ist die Erprobung durch das Abenteuer der eigentliche Sinn der ritterlichen Idealexistenz. Daß sich das Eigentlichste des ritterlichen Menschen am Abenteuer erweist, hat für die Lais der Marie de France vor einigen Jahren E. Eberwein (Zur Deutung mittelalterlicher Existenz, Bonn und Köln 1933, Seite 27ff.) zu zeigen versucht; es läßt sich auch am höfischen Roman nachweisen. Calogrenant sucht den rechten Weg und findet ihn, wie wir oben festgestellt haben; es ist der rechte Weg zum Abenteuer, und schon dies Suchen und Finden des rechten Weges offenbart ihn als einen der Auserwählten, als einen der echten Ritter von Artus’ Tafelrunde; als ein echter und des Abenteuers würdiger Ritter wird er von seinem Gastfreund, der selbst ein Ritter ist, mit Freude und mit Segenswünschen über den gefundenen rechten Weg aufgenommen. Beide, Wirt und Gast, gehören zu einer ordenshaften Gemeinschaft, in die man durch eine Erwählungszeremonie aufgenommen wird, und deren Mitglieder zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet sind; es scheint der eigentliche Beruf des Wirtes, der einzige Sinn seines Wohnsitzes an dieser Stelle zu sein, den abenteuersuchenden Rittern ritterliche Gastfreundschaft zu gewähren. Aber die Hilfe, die er dem Gast bietet, ist geheimnisvoll durch sein Schweigen über das, was Calogrenant bevorsteht; offenbar gehört das Geheimnis zu seinen ritterlichen Pflichten, ganz im Gegensatz zu dem vilain, der nichts verschweigt, was er weiß; und das, was er weiß, sind die materiellen Um‐ stände des Abenteuers; was aber «Abenteuer» ist, das weiß er nicht, denn ritterliche Gesittung ist ihm fremd. Calogrenant ist also ein echter Ritter, ein Auserwählter; aber es gibt viele Grade der Auserwählung; nicht er ist fähig, das Abenteuer zu bestehen, sondern erst Yvain. Die Grade der Auserwählung und die besondere Erwählung für ein besonderes Abenteuer werden im Lancelot und im Perceval zuweilen noch deutlicher und stärker betont als im Yvain, doch erkennbar ist das Motiv überall, wo höfische Dichtung auftritt. Damit rückt die Reihe der Abenteuer in den Rang einer schicksals‐ bestimmten, stufenweisen Bewährung eines Auserwähltseins; sie wird auf diese Weise zur Grundlage einer Lehre von persönlicher Vollendung durch eine vom Schicksal aufgegebene Entwicklung, einer Lehre, die später die ständischen Schranken der höfischen Kultur durchbrach. Freilich darf man nicht vergessen, daß gleichzeitig mit der höfischen Kultur eine andere Bewegung die Phänomene der stufenweisen Bewährung eines Erwähltseins, und auch die Liebestheorie mit weit größerer Strenge und Klarheit zum VI Der Auszug des höfischen Ritters 141 <?page no="142"?> Ausdruck brachte, nämlich die viktorinische und zisterziensische Mystik. Sie war nicht ständisch gebunden und bedurfte des Abenteuers nicht. Die Welt der ritterlichen Bewährung ist eine Welt der Abenteuer; sie enthält nicht nur eine fast ununterbrochene Reihe von Abenteuern, sie enthält auch vor allem nichts anderes als das, was zum Abenteuer gehört; nichts, was nicht Schauplatz oder Vorbereitung eines solchen wäre, wird in ihr angetroffen; es ist eine eigens für die Bewährung des Ritters geschaffene und präparierte Welt. Die Szene des Aufbruchs von Calogrenant zeigt das mit voller Deutlichkeit; er reitet den ganzen Tag, und trifft nichts an als das zu seiner Aufnahme bereite Schloß; von allen praktischen Bedingun‐ gen und Umständen, die die Existenz eines solchen Schlosses in völliger Einsamkeit möglich und mit der gewöhnlichen Erfahrung vereinbar machen könnten, wird nichts gesagt. Eine solche Idealisierung führt weit fort von der Nachahmung des Wirklichen; im höfischen Roman ist das Funktionelle, geschichtlich Wirkliche des Standes verschwiegen, und es läßt sich aus dieser Dichtung zwar eine Fülle von kulturgeschichtlichen Einzelheiten über Verkehrssitte und überhaupt über äußere Lebensform, aber keine vertiefte Anschauung von der Zeitwirklichkeit auch nur des Ritterstandes gewinnen; wo sie die Wirklichkeit schildert, da schildert sie nur die bunte Oberfläche, und wo sie nicht oberflächlich ist, da hat sie andere Gegenstände und andere Absichten als die Zeitwirklichkeit. Dennoch enthält sie eine Standesethik, die als solche in der wirklichen irdischen Welt Geltung beanspruchte und sie auch gewann. Denn sie besitzt einen großen Zauber, der, wenn ich recht sehe, vor allem auf zwei Eigenschaften beruht, die sie auszeichnen; sie ist absolut, über aller irdischen Kontingenz schwebend, und sie gibt dem, der ihr unterworfen ist, das Gefühl einer Gemeinschaft von Auserwählten anzuge‐ hören - einem von der Masse der Menschen abgegrenzten Solidaritätskreis (dieser Ausdruck stammt von dem Orientalisten Hellmut Ritter). Die feudale Ethik, die ideale Vorstellung des vollkommenen Ritters hat sich daher eine sehr große und sehr langlebige Wirkung erworben; die mit ihm verwach‐ senen Vorstellungen von Tapferkeit, Ehre, Treue, gegenseitiger Achtung, edler Sitte und Frauendienst bezauberten noch Menschen gänzlich verän‐ derter Kulturperioden; später emporgekommene Schichten städtischer und bürgerlicher Herkunft übernahmen dies Ideal, obwohl es nicht nur ständisch und exklusiv, sondern auch völlig wirklichkeitsleer ist; sobald es über die bloße Verkehrssitte hinausgreift und mit den praktischen Geschäften der Welt zu tun bekommt, wird es unzureichend und bedarf einer Ergänzung, die zu ihm selbst oft in höchst ärgerlichem Gegensatz steht; aber gerade weil es 142 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="143"?> so wirklichkeitsfern ist, ließ es sich, als Ideal, jeder beliebigen Lage anpassen, mindestens solange es überhaupt herrschende Stände gab. So hat das ritter‐ liche Ideal alle Katastrophen, die den Feudalismus im Lauf der Jahrhunderte trafen, überlebt. Es überlebte selbst den Don Quijote des Cervantes, der das Problem in der vollendetsten Weise interpretierte. Der erste Auszug Don Quijotes, mit der abendlichen Ankunft in der Schenke, die er für eine Burg hält, ist eine vollkommene Parodie des Auszugs von Calogrenant - und zwar dadurch, daß Don Quijote nicht auf eine besonders für die ritterliche Bewährung präparierte, sondern auf eine beliebig alltägliche, wirkliche Welt stößt. Durch die genaue Beschreibung der Lebensumstände seines Helden hat es Cervantes gleich zu Anfang seines Werkes deutlich gemacht, wo die Wurzel von Don Quijotes Verwirrung liegt: er ist das Opfer einer sozialen Schichtung, in der er zu einem Stande ohne Funktion gehört; er gehört zu diesem Stande, er kann sich aus ihm nicht befreien, aber er hat, als bloßer Standesangehöriger, ohne Reichtum und ohne hohe Verbindungen, keinerlei Tätigkeit oder Aufgabe; er fühlt sein Leben sinnlos verrinnen, als wäre er ein Gelähmter. Nur auf einen Menschen wie er, der kaum anders lebt als ein Bauer, aber Bildung besitzt und nicht arbeiten kann noch darf wie ein solcher, konnten die Ritterromane eine so verwirrende Wirkung ausüben; sein Auszug ist die Flucht aus einem unerträglichen, viel zu lange ertragenen Zustand; er will sich die seinem Stande angemessene Funktion erzwingen. Selbstverständlich ist die Lage, dreieinhalb Jahrhunderte früher und in Frankreich eine ganz andere; das feudale Rittertum hat noch entscheidende Bedeutung im Militärwesen, die Entwicklung des städtischen Bürgertums und die des zentralistisch organisierenden Absolutismus stehen noch in ihren ersten Anfängen. Aber wäre Calogrenant wirklich so ausgezogen, wie er es schildert, so wären ihm schon damals ganz andere Dinge begegnet als diejenigen, die er berichtet; im zweiten oder im dritten Kreuzzug, in der Welt Heinrichs II., Ludwigs VII. oder Philippe-Augustes ging es ganz anders zu als im höfischen Roman; dieser ist nicht dichterisch gestaltete Wirklichkeit, sondern ein Ausweichen ins Märchen. Gleich zu Beginn, in der vollen Blüte ihrer Kultur, gab sich diese herrschende Schicht ein Ethos und ein Ideal, das ihre wirkliche Funktion verdeckte, und schildert ihre eigene Existenz außergeschichtlich, zweckfrei, als absolutes ästhetisches Gebilde. Gewiß liegt in der quellenden Einbildungskraft und dem spontan aus der Wirklichkeit ins Absolute hochstoßenden Schwung dieses großen Jahrhunderts eine Erklärung für ein so seltsames Phänomen. Aber sie ist zu allgemein, um ausreichend zu sein, zumal die höfische Epik ja nicht VI Der Auszug des höfischen Ritters 143 <?page no="144"?> nur Abenteuer und absolute Idealisierung, sondern auch zierliche Sitte und prunkhaftes Zeremoniell zeigt. Die Vermutung liegt nahe, daß die lange Funktionskrise des feudalen Standes schon damals fühlbar wurde - schon zu der Zeit der Blüte höfischer Dichtung. Chrétien de Troyes, der erst in der Champagne lebte, wo gerade zu seiner Zeit die Handelsmessen führende europäische Bedeutung gewannen, und später in Flandern, dessen Bürgertum, früher als anderswo nördlich der Alpen, zu wirtschaftlicher und politischer Bedeutung gelangte, mochte schon spüren, daß der feudale Stand nicht mehr die einzige herrschende Schicht war. Die weite und langdauernde Ausstrahlung des höfisch-ritterlichen Ro‐ mans hat auf den literarischen Realismus einen bedeutenden, und zwar einen einschränkenden Einfluß geübt, noch bevor die antike Lehre von den verschiedenen Höhenlagen des Stils in der gleichen einschränkenden Rich‐ tung wirksam wurde; schließlich vereinigten sich beide in der Vorstellung vom hohen Stil, die sich während der Renaissance allmählich ausbildete. Darauf werden wir in einem späteren Abschnitt zurückzukommen haben. Hier sollen nur noch diejenigen, der vollen Erfassung der gegebenen Wirk‐ lichkeit hinderlichen Einflüsse zur Sprache kommen, die für das ritterliche Ideal charakteristisch sind. Es handelt sich dabei, wie schon früher erwähnt wurde, noch nicht um Stilistisches im engeren Sinne; einen hohen Stil der dichterischen Sprache hat das höfische Epos noch nicht geschaffen, im Gegenteil, es hat die Elemente des Erhabenen, welche in der parataktischen Form des Heldenepos lagen, nicht ausgenutzt; sein Stil ist eher behaglich erzählend als erhaben, er ist für jeden Inhalt verwendbar. Die erst später einsetzenden Tendenzen einer sprachlichen Stiltrennung gehen ganz und gar auf den antiken, nicht auf den höfisch-ritterlichen Einfluß zurück. Um so stärker sind die inhaltlichen Einschränkungen. Sie sind ständischer Art; nur ritterlich-höfische Menschen sind des Aben‐ teuers würdig, nur ihnen also kann Ernstes und Bedeutendes widerfahren; wer nicht zu diesem Stande gehört, kann nur als Staffage, und zwar meist in komischer, grotesker oder verächtlicher Rolle auftreten; weder in der Antike noch im älteren Heldenepos des Mittelalters tritt diese Lage so auffällig in Erscheinung wie hier, wo es sich um bewußte Abschließung und Hochzucht innerhalb einer ständischen Solidaritätsgemeinschaft handelt. Nun haben sich zwar in der Folgezeit sehr bald Tendenzen gezeigt, die die Solidaritätsgemeinschaft nicht auf die Abkunft, sondern auf das Persönliche, auf edle Art und Sitte gründen wollten; ein Ansatz dazu liegt schon in den bedeutendsten Werken der höfischen Epik selbst, die ein sehr verinnerlichtes 144 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="145"?> und auf die persönliche Erwählung und Formung gegründetes Bild vom rit‐ terlichen Menschen geben. Später, als Kulturschichten städtischer Abkunft, besonders in Italien, das höfische Ideal übernahmen und umbildeten, wurde die Vorstellung vom edlen Wesen immer stärker eine persönliche, und sie wurde als solche sogar vielfach dem nur auf die Abkunft gegründeten Adels‐ begriff polemisch gegenübergestellt. Aber sie wurde dadurch nicht weniger exklusiv; sie behielt immer den Charakter einer Schicht der Auserwähl‐ ten, zuweilen geradezu den eines Geheimbundes; ständische, mystische, politische, gesellschaftliche, erzieherische Motive verschränkten sich dabei auf die mannigfachste Weise. Vor allem aber brachte die Verinnerlichung keineswegs eine Annäherung an die irdische Wirklichkeit mit sich, im Gegenteil; daß die Berührungen mit der Weltwirklichkeit immer fiktiver und immer zweckfreier wurden, war zum Teil gerade durch die Verinnerlichung des ritterlichen Ideals bedingt. Dies Fiktive und Zweckfreie, welches, wie wir ausreichend gezeigt zu haben hoffen, von Anfang an im höfischen Ideal liegt, bestimmt sein Verhältnis zur Wirklichkeit; es ergibt sich aus der höfischen Kultur die in Europa lange Zeit überaus wirksame Vorstellung, daß das Edle, Große und Bedeutende in der gemeinen Wirklichkeit nichts zu suchen habe - eine weit pathetischere und die Gemüter weit stärker mitreißende Gesinnung als die antiken Formen der Abwendung vom Wirklichen, wie sie etwa die stoische Ethik bietet. Freilich gibt es eine antike Form der Abwen‐ dung vom Wirklichen, die weit hinreißender ist, der Platonismus nämlich; man hat mehrfach versucht, platonische Strömungen als mitwirkend bei der Bildung des höfischen Ideals nachzuweisen; und in der Folgezeit haben sich höfisches Ideal und Platonismus ausgezeichnet ergänzt - der Cortegiano des Grafen Castiglione ist hierfür wohl das berühmteste Beispiel. Aber die besondere Form der Abwendung vom Wirklichen, die die höfische Kultur schuf, mit dem Aufbau einer Scheinwelt der ständischen oder ständisch-per‐ sönlichen Erprobung und Bewährung, ist doch ganz und gar, trotz des über ihr liegenden platonischen Schimmers, ein eigentümliches, und zwar ein mittelalterliches Gebilde. Mit all dem hängt eng zusammen die besondere Auswahl von Gegenstän‐ den, die die höfische Epik trifft, eine Auswahl, die auf die europäische Dichtung lange Zeit bestimmenden Einfluß übte. Es sind ihrer nur zwei, die eines Ritters würdig erachtet werden: Waffentaten und Liebe. Ariost, der aus dieser Scheinwelt eine Welt des heiteren Scheines aufbaute, hat es in seinen ersten Versen vollkommen ausgedrückt: VI Der Auszug des höfischen Ritters 145 <?page no="146"?> Le donne, i cavalier, l’arme, gli amori, - - Le cortesie, l’audaci imprese io canto-… Anderes als Waffentaten und Liebe kann in der höfischen Welt gar nicht geschehen, und auch diese beiden sind von einer besonderen Art - sie sind nicht Ereignisse oder Empfindungen, welche etwa auch zeitweise fortbleiben können, sondem sie sind mit der Person des vollkommenen Ritters dauernd verbunden, sie gehören zu seiner Definition, so daß er keinen Augenblick ohne Waffenabenteuer und keinen Augenblick ohne Liebesverstrickung sein kann - würde er es, so verlöre er sich selbst und wäre kein Ritter mehr. Wieder ist es die heitere Wendung oder die Parodie, Ariost oder Cervantes, die diese fiktive Lebensform am deutlichsten interpretieren. Über die Waffentaten habe ich nichts mehr hinzuzufügen - der Leser wird verstehen, daß ich, nach Ariosts Vorbild, dieses Wort wähle, nicht Krieg, denn es handelt sich um kreuz und quer vollbrachte, in keinen politisch-zweckhaften Zusammenhang gehörige Taten. Über die höfische Liebe, die eines der meistbehandelten Themen der Literaturgeschichte des Mittelalters ist, brauche ich ebenfalls nur das zu sagen, was für meine Absicht erforderlich ist. Es ist zunächst zu erinnern, daß die sozusagen klassische Form, an die man sogleich denkt, wenn man von höfischer Liebe spricht - die Geliebte als Herrin, um deren Gunst der Ritter durch kühne Taten und vollkommene, ja sklavische Ergebenheit wirbt - keineswegs die einzige oder auch nur die vorwiegende Form der Liebe ist, welche in der Blütezeit der höfischen Epik auftritt. Man denke nur an Tristan und Iseut, an Erec und Enide, an Alixandre und Soredamors, an Perceval und Blancheflor, an Aucassin und Nicolette - keines dieser unter den berühm‐ testen Liebespaaren herausgegriffenen Beispiele paßt ganz in das bekannte Schema, und einige davon passen gar nicht. Tatsächlich zeigt die höfische Epik zunächst eine Fülle von ganz verschiedenen, überaus konkreten und wirklichkeitsdurchtränkten Liebesgeschichten; sie lassen den Leser das Fiktive der Welt, in der sie sich abspielen, zuweilen völlig vergessen. Das platonisierende Schema der unerreichbaren, vergeblich umworbenen, aus der Ferne den Helden inspirierenden Herrin, das aus der provenzalischen Lyrik stammt und sich im italienischen Neuen Stil vollendete, ist in der höfischen Epik zunächst nicht herrschend. Auch die Beschreibungen des verliebten Zustands, die Gespräche der Liebenden, die Schilderung ihrer Schönheit und was sonst zur Umrahmung der Liebesepisoden gehört, zeigt zwar, besonders bei Chrétien, viel zierlich-sinnliche Kunst, aber noch kaum 146 VI Der Auszug des höfischen Ritters <?page no="147"?> hyperbolische Galanterie; diese bedarf einer ganz anderen Höhenlage des Stils, als sie die höfische Epik bietet. Das Fiktive und Unwirkliche der Liebesgeschichten liegt noch kaum in ihnen selbst; es liegt vielmehr in ihrer Funktion innerhalb des Gesamtaufbaus der Gedichte. Schon im höfischen Roman ist die Liebe sehr oft der unmittelbare Anlaß zu den Heldentaten; dies lag, bei dem völligen Mangel einer praktischen Motivierung des Handelns durch einen politisch-geschichtlichen Zusammenhang, sehr nahe; die Liebe, als wesentlicher und obligater Bestandteil der ritterlichen Vollkommenheit, wirkt als Ersatz für andere, hier fehlende Motivierungsmöglichkeiten. Damit ist die fiktive Geschehensanordnung, in welcher die bedeutendsten Taten hauptsächlich um der Gunst einer Dame willen geschehen, bereits in ihren Grundlinien gegeben; zugleich auch die für die europäische Dichtung so bedeutsam gewordene Rangerhöhung der Liebe als poetischer Gegenstand. Die antike Dichtung erkannte ihr zumeist nur mittlere Würde zu; weder in der Tragödie noch im großen Epos ist sie als Gegenstand herrschend. Ihre zentrale Stellung in der höfischen Kultur wurde für den allmählich sich formenden hohen Stil der europäischen Vulgärsprachen vorbildlich; die Liebe wurde ein Gegenstand hohen Stils (wie es Dante in der Schrift de Vulgari Eloquentia II 2 bestätigt) und war oft der bedeutendste Gegenstand desselben. Damit ging Hand in Hand ein Sublimierungsprozeß der Liebe, der zur Mystik oder zur Galanterie führt; und in beiden Fällen führt er weit fort von der konkreten Wirklichkeit der Welt. Zu der Sublimierung der Liebe haben die Provenzalen und der italienische Neue Stil entscheidender beigetragen als die höfische Epik; doch auch diese hat bedeutenden Anteil an der Rangerhöhung der Liebe, indem sie sie in das Ständisch-Heldenhafte einführte und es mit ihm verschmolz. So bleibt als Ergebnis unserer Interpretation und der sich an sie schlie‐ ßenden Erwägungen, daß die höfische Kultur der Entwicklung einer litera‐ rischen Kunst, die die Wirklichkeit in ihrer vollen Breite und Tiefe erfaßte, entschieden ungünstig war; doch es lebten noch andere Kräfte im 12. und 13. Jahrhundert, die einer solchen Entwicklung Nahrung zu geben vermochten. VI Der Auszug des höfischen Ritters 147 <?page no="149"?> VII Adam und Eva …-Adam vero veniet ad Evam, moleste ferens quod cum ea locutus sit Diabolus, et dicet ei: - - Di moi, muiller, que te querroit - - Li mal Satan? que te voleit? 280 E V A : Il me parla de nostre honor. - A D AM : Ne creire ja le traïtor! - - II est traïtre, bien le sai. - E V A : Et tu coment? - A D A M : Car l’esaiai! - E V A : De co que chalt me del veer? - - Il te fera changer saver. - A D A M : Nel fera pas, car nel crerai - - De nule rien tant que l’asai. - - Nel laisser mais venir sor toi - - Car il est mult de pute foi. - - II volt traïr ja son seignor, 290 - E soi poser al des halzor. - - Tel paltonier qui ço ad fait - - Ne voil vers vus ait nul retrait. Tunc serpens artificiose compositus ascendet juxta stipitem arboris vetite. Cui Eva propius adhibebit aurem, quasi ipsius ascultans consilium. Dehinc accipiet Eva pomum, porriget Ade. Ipse vero nondum eum accipiet, et Eva dicet ei: - - Manjue, Adam, ne sez que est; - - Pernum ço bien que nus est prest. - A D A M : Est il tant bon? - E V A : Tu le saveras; - - Nel poez saver sin gusteras. - A D A M : J’en duit! - E V A : Fai le! - A D A M : Nen frai pas. - E V A : Del demorer fai tu que las. - A D A M : Et jo le prendrai. - E V A : Manjue, ten! 300 - Par ço saveras e mal e bien. - - Jo en manjerai premirement. <?page no="150"?> 18 Adam soll dann zu Eva kommen, ärgerlich darüber, daß der Teufel mit ihr gesprochen hat, und soll ihr sagen: Sag mir Frau, was suchte denn der böse Satan bei dir? Was wollte er von dir? E V A : Er sprach mir von unserem Vorteil. A D A M : Glaub doch dem Verräter nicht! Er ist ein Verräter, ich weiß das wohl. E V A : Woher denn? A D A M : Ich habe es erprobt! E V A : Warum soll mich denn das hindern, ihn zu sehn? Dir wird er auch schon noch ein anderes Wissen beibringen. A D A M : Das wird ihm nicht gelingen, denn ich werde ihm nichts ungeprüft glauben. Laß ihn nicht mehr an dich herankommen, denn er ist ein ganz gemeiner Kerl. Er wollte seinen Herrn verraten und sich selbst auf Gottes Höhe stellen. Ich will nicht, daß solch ein Schuft irgend etwas mit dir zu schaffen hat! Hier soll eine geschickt verfertigte Schlange den Stamm des Baums entlang hochkrie‐ chen. Eva soll ihr Ohr der Schlange nähern, als ob sie ihrem Rat zuhörte: dann soll sie den Apfel nehmen und ihn Adam reichen. Der aber soll ihn zuerst noch nicht nehmen wollen, und Eva soll zu ihm sagen: Iß, Adam, du weißt nicht, was das ist! Nehmen wir dies Gut, das für uns bereit ist! A D A M : Ist es so gut? E V A : Du wirst es bald erfahren! Du kannst es nicht erfahren ohne zu kosten. A D A M : Ich fürchte mich da vor! E V A : Tu es doch endlich! A D A M : E jo aprés. - E V A : Seurement. Tunc commedet Eva partem pomi, et dicet Ade: - - Gusté en ai. Deus! quele savor! - - Unc ne tastai d’itel dolçor, - - D’itel savor est ceste pome! - A D A M : De quel? - E V A : D’itel nen gusta home. - - Or sunt mes oil tant cler veant, - - Jo semble Deu le tuit puissant. - - Quanque fu, quanque doit estre 310 - Sai jo trestut, bien en sui maistre. - - Manjue, Adam, ne faz demore; - - Tu le prendras en mult bon’ore. Tunc accipiet Adam pomum de manu Eve, dicens: - - Jo t’en crerrai, tu es ma per. - E V A : Manjue, nen poez doter. Tunc commedat Adam partem pomi-… 18 150 VII Adam und Eva <?page no="151"?> A D A M : Nein, das tu ich nicht! E V A : Was ist das für ein feiges Zögern! A D A M : Also gut, ich werde ihn nehmen. E V A : Iß, nimm! Dadurch wirst du Gut und Böse erkennen. Ich werde zuerst essen. A D A M : Und ich nach dir. E V A : Gewiß. Hier soll Eva ein Stück Apfel essen und zu Adam sagen: Ich habe davon gekostet. Gott, welch ein Geschmack! Nie habe ich etwas so Süßes gegessen. Solch einen Geschmack hat dieser Apfel! A D A M : Was für einen denn? E V A : Solch einen hat noch nie ein Mensch gekostet. Jetzt sind meine Augen so hellsichtig geworden, ich komme mir vor wie der allmächtige Gott. Alles was war, und alles was geschehen soll, weiß ich ganz, und bin dessen Herr. Iß, Adam, zögere nicht, das ist gerade der richtige Augenblick! Hier soll Adam den Apfel aus der Hand Evas nehmen. und dazu sagen: Ich will dir glauben, du bist meinesgleichen. E V A : Iß, hab keine Angst! Hier soll Adam ein Stück Apfel essen-… D I E S Gespräch stammt aus dem Mystère d’Adam, einem Weihnachtsspiel aus dem Ende des 12. Jahrhunderts, das sich in einem einzigen Manuskript erhalten hat; aus den frühesten Zeiten des liturgischen oder aus der Liturgie erwachsenen Dramas ist uns nur sehr wenig übriggeblieben, und von diesem wenigen ist das Mystère d’Adam eines der ältesten vulgärsprachlichen Stücke. Der Sündenfall, der darin den breitesten Raum einnimmt (nachher wird noch der Mord Abels und die Prozession der Christi Erscheinen ankündigenden Propheten dargestellt), beginnt mit einem vergeblichen Versuch des Teufels, Adam zu verführen; der Teufel macht sich hierauf an Eva, wobei er mehr Glück hat; er läuft alsdann fort, in die Hölle, wobei ihn Adam gerade noch erblickt; nach seinem Verschwinden beginnt die oben abgedruckte Szene. Eine solche Szene als Gespräch gibt es in der Genesis nicht, ebensowenig wie einen vorausgegangenen Versuch des Teufels, Adam zu verführen; als Gespräch bringt die Genesis nur den Vorgang zwischen Eva und der Schlange, die nach sehr alter Überlieferung mit dem Teufel identisch ist (vgl. Apoc. 12,9); die Fortsetzung ist rein berichtend: vidit igitur mulier quod bonum esset lignum ad vescendum, et pulchrum oculis, aspectuque delectabile; et tulit de fructu illius, et comedit; deditque viro suo, qui comedit. Aus diesen letzten Worten ist unsere Szene entstanden. Sie zerfällt in zwei Teile, einen ersten, der ein Gespräch zwischen Adam und Eva über die Wünschbarkeit eines Verkehrs mit dem Teufel enthält, wobei der Apfel noch nicht erwähnt wird, und einen zweiten, in welchem VII Adam und Eva 151 <?page no="152"?> Eva den Apfel vom Baum bricht und Adam verführt, davon zu essen. Getrennt sind beide Teile durch das Eingreifen der Schlange, des serpens artificiose compositus, die Eva etwas ins Ohr sagt; was es ist, das wird nicht ausgesprochen, aber wir können es uns denken, denn unmittelbar darauf greift Eva nach dem Apfel, bietet ihn dem abwehrenden Adam und sagt, was dann ihr immer wiederholtes Hauptmotiv wird: Manjue, Adam! Sie bricht also die erste Unterhaltung über den Verkehr mit dem Teufel unerledigt ab, sie antwortet auf Adams letzte Rede nicht mehr, sondern schafft eine ganz neue Lage, eine vollendete Tatsache, die auf Adam um so überraschender wirken muß, als bisher zwischen ihm und Eva vom Apfel noch nicht die Rede war. Offenbar geschieht das auf den Rat der Schlange, und dies erklärt auch das Eingreifen derselben gerade in diesem Augenblick: denn Eva für sich und ihren Plan überhaupt zu gewinnen wäre jetzt nicht mehr nötig; das war schon in der vorhergegangenen Szene zwischen Eva und dem Teufel geschehen, die mit Evas Entschluß, vom Apfel zu essen und Adam davon zu geben, geendet hatte; das Eingreifen der Schlange mitten in das Gespräch zwischen Adam und Eva kann nur dem Zweck dienen, Eva eine in diesem Augenblick erforderliche Verhaltungsmaßregel zu geben: nämlich das vom Standpunkt des Teufels nutzlose und gefährliche Gespräch abzubrechen und sogleich zur Tat überzugehen. Nutzlos und gefährlich aber ist das Gespräch für den Teufel und seinen Plan, weil es augenscheinlich nicht dazu führt, Adam zu überzeugen, und sogar die Gefahr besteht, daß Eva selbst wieder schwankend werden könnte. Betrachten wir nun den ersten Teil der Szene, das Gespräch über die Wünschbarkeit eines Verkehrs mit dem Teufel. Adam stellt seine Frau zur Rede wie ein französischer Bauer oder Bürgersmann es getan haben mag, der heimkommend etwas sieht, was ihm nicht gefällt: seine Frau im Gespräch mit einem Kerl, mit dem er schon üble Erfahrungen gemacht hat, und mit dem er nichts zu schaffen haben will. Frau, muiller, sagt er zu ihr, was wollte denn der von dir? was hat er denn mit dir zu tun? Eva gibt ihm eine Antwort, die auf ihn Eindruck machen soll: «Er hat von unserem Interesse, unserem Vorteil gesprochen! » (denn «Interesse, Vorteil» dürfte hier der Sinn von honor sein; das Wort hat schon in der Chanson de geste eine stark materielle Bedeutung). «Glaub ihm ja nicht, sagt Adam energisch, er ist ein Verräter, ich weiß darüber genau Bescheid.» Eva weiß freilich auch genau Bescheid, aber es ist ihr nicht zum Bewußtsein gekommen, daß so etwas Verrat ist; ein moralisches Bewußtsein wie Adam hat sie nicht, sondern eine naive, kindlich mutige, spielerisch sündige Neugier. Adams klare Einordnung und 152 VII Adam und Eva <?page no="153"?> Beurteilung des Teufels und seiner Anschläge bringt sie in Verlegenheit, und sie hilft sich durch eine unaufrichtige, frech-verlegene Frage, wie sie tausendmal in ähnlicher Lage von kindlichen, sprunghaften, instinktgebun‐ denen Menschen gegeben worden ist: «Woher weißt du denn das? » Die Frage nützt ihr nichts, Adam weiß zu genau, wie sehr er recht hat: «Aus eigenster Erfahrung weiß ich das! » Diese Worte kann nicht, wie kürzlich von einem Textkritiker angenommen wurde (wir kommen noch darauf zurück), Eva sprechen; denn nur Adam hat die gedachte Erfahrung bewußt gemacht, sein Ton klingt in der energischen Replik; Eva hingegen hat das Gespräch mit dem Teufel durchaus nicht als Erfahrung seiner Verräterei gedeutet, ihre spielerische Neugier hat das moralische Problem nicht erfaßt; sie hat es auch jetzt nicht begriffen, denn sie will es nicht begreifen; sie ist schon längst entschlossen, es einmal mit der anderen Seite, mit dem Teufel, zu versuchen. Aber sie fühlt, daß sie Adam nicht ernsthaft widersprechen kann, wenn er sagt, daß der Teufel ein Verräter ist; sie setzt also den Weg, den sie mit der Frage «Woher weißt du denn das? » eingeschlagen hatte, nicht fort, sondern wagt sich nun, halb frech, halb ängstlich, ein wenig mit ihren wirklichen Gedanken hervor: «Warum soll mich denn das hindern, ihn zu sehen? Dich wird er auch schon noch auf andere Gedanken bringen! » (changer saver bezieht sich auf das bien le sai, das Wissen um des Teufels Verräterei, das nur Adam besitzt). Damit ist sie aber ganz an den Unrechten gekommen, denn nun wird Adam ernsthaft böse: «Das wird ihm nicht gelingen, denn ich werde ihm niemals ein Wort glauben! » Und mit der Autorität eines Mannes, der sich als Herr in seinem Hause und sachlich völlig im Recht fühlt, seinen Standpunkt klar begründend, verbietet er Eva den Verkehr mit dem Teufel («mit einem Lumpen, der so etwas getan hat, darfst du keinen Umgang haben»); eingedenk der Rolle, die ihm Gott der Frau gegenüber zugewiesen hat: Tu la governe par raison (V. 21). Hier nun findet der Teufel, daß seine Sache schief geht, und greift ein. Ich habe diese Stelle ausführlich besprochen, weil der Text der Hand‐ schrift, was die Verteilung der Worte auf die beiden Unterredner betrifft, ein wenig in Unordnung geraten ist; und weil S. Etienne (Romania 1922, p. 592-595) eine Lesart für die Verse 280-287 vorgeschlagen hat, der auch die Ausgabe von Chamard (Paris 1925) gefolgt ist, und die mir nicht einleuchtet. Sie sieht folgendermaßen aus: VII Adam und Eva 153 <?page no="154"?> 280 A D A M : Ne creire ja le traitor! - - - II est traitre. - - E V A : Bien le sai. - - A D A M : E tu coment? - - E V A : Car l’asaiai. - - - De ço que chalt me del veer? - - A D A M : Il te ferra changer saver. - - E V A : Nel fera pas, car nel crerai - - - De nule rien tant que l’asai. - - A D A M : Nel laisser mais-… Mir scheint das unmöglich; der so verschiedene Ton beider Personen wird völlig durcheinandergemischt; weder kann Eva sagen: bien le sai, noch Adam sich erkundigen, woher sie denn das wisse, noch Eva sich auf ihre Erfahrung berufen; und, die energische Antwort Adams: «Das wird dem Teufel nie gelingen» aus dem Gespräch herauszumerzen, indem man sie als beruhigende Versicherung Evas auf Adams Befürchtungen deutet, scheint mir vollends abwegig. Als Begründung seiner Auffassung führt Etienne an, die Antwort Evas: De ço que chalt me del veer auf ein von Adam ausgesprochenes «ich weiß es aus eigener Erfahrung» (wie es die früheren Herausgeber, und auch ich, verstanden haben), sei «d’une maladresse inconcevable»; sie gebe ja dadurch dem Adam zu, daß sie mit dem Teufel im Bunde sei; ayant ainsi convaincu Adam de sa complicité avec le tentateur elle réussirait dès la scène suivante à le persuader d’accepter d’elle ce qu’il avait refusé de son compère! Das sei ganz unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich sei auch, daß Eva ausspricht: Satan wird dich schon noch auf andere Gedanken bringen - denn Satan n’intervient plus! Eva sei es doch, die Adam verführe! Etienne versteht daher Eva als eine höchst geschickte, diplomatische Person, deren Bestreben es ist, Adam zu beruhigen und ihn den Verführer Satan, gegen den er nun einmal ein Vorurteil hat, vergessen zu lassen; oder ihm doch wenigstens zu verstehen zu geben, daß sie sich nicht blind auf Satan verläßt, sondern erst abwarten will, ob sich seine Versprechungen auch bewähren. Ganz abgesehen davon, daß solche Äußerungen kaum geeignet sind, Adam zu beruhigen - ganz abgesehen auch davon, daß der Umstand, daß Satan nicht mehr auftritt, nicht das mindeste besagt gegen eine Bemerkung Evas, er werde Adam schon noch auf andere Gedanken bringen - ganz abgesehen von diesen kleinen Schönheitsfehlern zeigt Etiennes Auffassung, 154 VII Adam und Eva <?page no="155"?> daß er die Bedeutung des Eingreifens der Schlange und die ungeheure Erschütterung Adams durch die Befolgung ihres Rates (nämlich den Apfel vom Baum zu brechen) nicht verstanden hat - obgleich sie den Schlüssel zu der ganzen Szene liefern. Warum greift die Schlange ein? Weil sie fühlt, so kommt ihre Sache nicht weiter. Eva ist in der Tat ungeschickt, sehr ungeschickt, wenn auch diese Ungeschicklichkeit durchaus nicht unbegreiflich ist; denn ohne besondere Hilfe des Teufels ist sie ein zwar neugierig-sündiges, aber schwaches, von ihrem Manne lenkbares, ihm weit unterlegenes Wesen - so wie Gott sie aus der Rippe des Mannes geschaffen hat; ausdrücklich hat er Adam befohlen, sie zu lenken, und Eva, ihm zu dienen und zu gehorchen. Eva ist ihm gegenüber ängstlich, unterwürfig, befangen; sie fühlt, daß sie gegen seinen klaren, vernünftigen männlichen Willen nicht aufkommen kann. Erst durch die Schlange wird das anders; sie stellt die von Gott eingerichtete Ordnung auf den Kopf, macht die Frau zum Herrn des Mannes und führt so beide ins Verderben. Sie bringt dies fertig, indem sie Eva rät, das theoretische Gespräch nicht weiterzuführen und Adam vor eine vollendete, ihm ganz unerwartete Tatsache zu stellen. Schon früher, als der Teufel mit Eva sprach, hatte er ihr die Verhaltungsmaßregel gegeben: primes le pren, Adam le done! Diese Maßregel ruft ihr die Schlange jetzt ins Gedächtnis. Adam darf nicht da angegriffen werden, wo er stark, sondern da, wo er schwach ist. Er ist ein braver Mann, ein französischer Bürger oder Bauer. Im normalen Gang des Lebens ist er zuverlässig und seiner selbst sicher; er weiß, was er zu tun und zu lassen hat, Gott hat ihm das klar befohlen, und seine Anständigkeit beruht auf dieser Sicherheit, die ihn vor unabsehbaren Verwicklungen bewahrt. Er weiß auch, daß er seine Frau in der Hand hat; er hat keine Angst vor ihren gelegentlichen Launen, die ihm kindlich und nicht gefährlich scheinen. Mit einemmal geschieht etwas Unerhörtes, was sein ganzes Lebenssystem erschüttert. Die Frau, die eben noch so kindisch unbedacht, so vernunftlos und sprunghaft geschwatzt hatte, die er eben noch mit ein paar ernsthaften Worten, auf die es keine Antwort gibt, zurechtgewiesen hat, offenbart mit einemmale einen ganz eigenen, von dem seinen völlig unabhängigen Willen; offenbart ihn in einer Handlung, die ihm als etwas Ungeheuerliches erscheint; sie bricht den Apfel vom Baum, als sei es die leichteste, selbst‐ verständlichste Handlung von der Welt, und dringt auf ihn ein mit ihrem viermal wiederholten: manjue, Adam! Das abwehrende Entsetzen, welches die lateinische Regiebemerkung in den Worten «Ipse autem nondum eum accipiet» ausdrückt, kann gar nicht stark genug vorgestellt werden. Aber VII Adam und Eva 155 <?page no="156"?> es ist nicht mehr die ruhige Sicherheit von früher; die Erschütterung ist zu stark für ihn; die Rollen sind getauscht; Eva ist Herrin der Lage. Die wenigen, abgebrochenen Worte, die er noch spricht, zeigen ihn völlig verstört; er taumelt zwischen Angst und Verlangen - nicht eigentlich Verlangen nach dem Apfel, sondern nach Selbstbewährung: soll er als Mann sich vor etwas fürchten, was die Frau fertiggebracht hat! Und als er schließlich seine Angst überwindet und den Apfel nimmt, da tut er es mit einer überaus rührenden Bewegung: was seine Frau tut, das will er auch tun, ihr will er vertrauen: jo t’en crerrai, tu es ma per; perniciose misericors, wie es Bernhard von Clairvaux einmal ausgedrückt hat (PL 183,460). Man sieht hier, wie verkehrt Etienne (siehe vorige Seite) formuliert, wenn er sich wundert, daß die mit dem Teufel im Bunde stehende Eva es fertigbringt, Adam zu verführen, obgleich es dem Teufel selbst nicht geglückt ist - nur ihr konnte das gelingen (mit Hilfe des Teufels), denn nur sie ist auf eine so eigentliche Art mit ihm verbunden, daß ihre Handlungen spontan Wirkung in ihm erzeugen und ihn erschüttern; sie ist sa per, der Teufel nicht - ganz abgesehen davon, daß zu der Verführung die vollendete Tatsache der abgebrochenen, dem Adam dargebotenen Frucht gehört; und diese Tatsache durfte nur durch einen Menschen, nicht durch den Teufel geschehen. Während nun in diesem zweiten Teil der Szene Adam verstört und aus der Fassung gebracht scheint, ist Eva, wie man in der Sportsprache sagt, in großer Form; der Teufel hat sie gelehrt, auf welche Art sie ihren Mann beherrschen kann, worin sie ihm über ist: in der Bedenkenlosigkeit des Handelns, in dem Mangel eines eigenen moralischen Sinnes, so daß sie mit der Tollkühnheit des Unmündigen die gesetzten Grenzen überschreitet, sobald sie der Mann nicht mehr in seiner Gewalt, en sa discipline hält (V. 36). So steht sie da, verführerisch, den Apfel in der Hand, und spielt mit dem verwirrten, aus seiner Bahn gerissenen Adam; drängend, versprechend, seine Furcht verspottend, zieht sie ihn immer weiter, und zuletzt hat sie noch eine geniale Idee: sie wird zuerst essen! Sie tut es auch wirklich, und wie sie alsdann, den Geschmack und die Wirkung der Frucht begeistert rühmend, sich nochmals an ihn wendet: manjue, Adam - da kann er nicht mehr zurück; er nimmt den Apfel mit den rührenden Worten, die wir oben zitiert haben; wieder sagt sie, zum letzten Male: iß doch, hab keine Angst - und dann ist es geschehen. Der Vorgang, der uns hier dramatisch dargestellt wird, ist der Ausgangs‐ punkt des christlichen Erlösungsdramas, also für den Dichter und seine Hörer ein Gegenstand höchster Bedeutung und höchster Erhabenheit. Allein der Zweck der Darstellung ist volkstümlich: der uralte, erhabene Vorgang 156 VII Adam und Eva <?page no="157"?> soll gegenwärtig sein, er soll zu einem gegenwärtigen, jederzeit möglichen, jedem Hörer vorstellbaren und vertrauten Geschehen werden; er soll tief in das Leben und Fühlen eines beliebigen französischen Zeitgenossen hineinwachsen. Adam spricht und handelt nicht anders als es irgendein Hörer aus dem eigenen Hause oder dem des Nachbarn gewohnt ist; nicht anders konnte es in irgendeinem bürgerlichen Haus, oder auf irgendeinem bäuerlichen Hofe zugehen, wenn irgendein beschränkt redlicher Mann von seiner eitlen und ehrgeizigen, durch die Versprechungen eines Schwindlers verführten Frau zu einer törichten und verhängnisvollen Handlung verleitet wurde. Das Gespräch zwischen Adam und Eva, dies erste weltgeschichtliche Gespräch zwischen Mann und Frau, wird zu einem Vorgang einfachster, alltäglicher Wirklichkeit; es wird, so erhaben es ist, zu einem Vorgang einfachen, niederen Stils. In der antiken Theorie hieß der hohe, erhabene Sprachstil sermo gravis oder sublimis; der niedere sermo remissus oder humilis; beide mußten streng getrennt bleiben. Im Christlichen dagegen ist von vornhinein beides verschmolzen, insbesondere in der Inkarnation und Passion Christi, in denen sowohl sublimitas wie humilitas, und beide im Übermaße, verwirklicht und vereinigt sind. Das ist ein sehr altes, christliches Motiv (siehe oben Seite 73f.), und es erwacht in der theologischen und insbesondere mystischen Literatur des 12. Jahrhunderts zu neuem Leben; bei Bernhard von Clairvaux oder bei den Viktorinern ist es sehr häufig anzutreffen, wobei humilitas und sublimitas sowohl mit Beziehung auf Christus als auch absolut häufig in antithetischem Gegenspiel auftreten. Humilitas virtutum magistra, singularis filia summi regis (so sagt Bernhard Epist. CDLXIX, 2, PL 182,674), a summo coelo cum coelorum domino descendens … Sola est humilitas quae virtutes beatificat et perennat, quae vim facit regno coelorum, quae dominum majestatis humiliavit usque ad mortem, mortem autem crucis. Verbum enim Dei in sublimi constitutum ut ad nos descenderet, prior humilitas invitavit. Auch in seinen Predigten erscheint der Gegensatz humilitas-sublimitas immer wieder: sowohl für die Inkarnation Jesu, wenn er zu Lukas 3,23 («und ward gehalten für einen Sohn Josephs») ausruft: O humilitas virtus Christi! o humilitatis sublimitas! quantum confundis superbiam nostrae vanitatis! (In epiph. Domini sermo, 1,7; PL 183,146) - als auch für die Passion und für die Erscheinung Christi im ganzen, als Gegenstand der Nachahmung: Propterea, dilectissimi, perseverate in disciplina quam suscepistis, ut per humilitatem ad sublimitatem ascendatis, quia haec est via et non est alia praeter ipsam. VII Adam und Eva 157 <?page no="158"?> Qui aliter vadit, cadit potius quam ascendit, quia sola est humilitas quae exaltat, sola quae ducit ad vitam. Christus enim, cum per naturam divinitatis non haberet quo cresceret vel ascenderet, quia ultra deum nihil est, per descensum quomodo cresceret invenit, veniens incarnari, pati, mori, ne moreremur in aeternum … (In ascens. Dom. 2,6; PL 183,304). Die schönste, und für den Stil der Mystik Bernhards am meisten charakteristische Stelle dieser Art dürfte die folgende, aus dem Kommentar zum Hohenlied sein: O humilitas, o sublimitas! Et tabernaculum Cedar, et sanctuarium Dei; et terrenum habitaculum, et coeleste palatium; et domus lutea, et aula regia; et corpus mortis, et templum lucis; et despectio denique superbis, et sponsa Christi. Nigra est, sed formosa, filiae Jerusalem: quam etsi labor et dolor longi exilii decolorat, species tamen coelestis exornat, exornant pelles Salomonis. Si horretis nigram, miremini et formosam; si despicitis humilem, sublimem suspicite. Hoc ipsum quam cautum, quam plenum consilii, plenum discretionis et congruentiae est, quod in sponsa dejectio ista, et ista celsitudo secundum tempus quidem eo moderamine sibi pariter contemperantur, ut inter mundi huius varietates et sublimitas erigat humilem, ne deficiat in adversis; et sublimem humilitas reprimat, ne evanescat in prosperis? Pulchre omnino ambae res, cum ad invicem contrariae sint, sponsae tamen pariter cooperantur in bonum, subserviunt in salutem. Diese bedeutenden Stellen handeln von der Sache selbst, nicht von ihrer literarischen Darstellung; sublimitas und humilitas sind hier überall ethisch-theologische, nicht ästhetisch-stilistische Kategorien; doch auch in diesem letzteren Sinne, im stilistischen, ist die antithetische Verschmel‐ zung beider als Eigentümlichkeit der heiligen Schrift schon zur Zeit der Kirchenväter hervorgehoben worden, besonders von Augustin (siehe oben Seite 73f.). Ausgegangen wurde dabei von dem Schriftwort, daß Gott es den Weisen und Klugen verborgen und den Unmündigen offenbart hat (Mt. 11,25; Luc. 10,25), sowie von der Tatsache, daß Christus zu seinen ersten Jüngern nicht Männer von Rang und Bildung, sondern Fischer und Zöllner und ähnlich geringes Volk berufen hat (vgl. auch 1. Kor. 1,26ff.); und aktuell wurde die stilistische Frage, als bei der Ausbreitung des Christentums die heiligen Schriften und überhaupt die christliche Literatur der ästhetischen Kritik seitens der hochgebildeten Heiden begegneten; welche sich darüber entsetzten, daß Schriften, die nach ihrem Urteil in einer unmöglichen, ungebildeten Sprache und ohne jede Kenntnis der Stilkategorien geschrie‐ ben waren, die höchste Wahrheit enthalten sollten. Diese Kritik hat nicht geringen Erfolg gehabt, insofern die Kirchenväter sich meist weit mehr als 158 VII Adam und Eva <?page no="159"?> die ältesten christlichen Schriften um Angleichung an die antike Stilüber‐ lieferung bemühten; sie hat aber zugleich ihre Augen geöffnet für die wahre und eigentümliche Größe der Heiligen Schrift: daß diese nämlich eine ganz neue Art des Erhabenen geschaffen habe, in welcher das Alltägliche und Niedrige nicht ausgeschlossen, sondern mitenthalten sei, so daß in ihrem Stil, wie in ihrem Inhalt, eine unmittelbare Verbindung vom Niedrigsten zum Höchsten verwirklicht werde. Verknüpft wurde hiermit ein anderer Gedankengang, der sich auf das schwer Deutbare, Verborgene vieler Stellen der heiligen Schrift bezog: während sie einerseits ganz einfach spricht, wie für Kinder, enthält sie andererseits Rätsel und Geheimnisse, die sich nur wenigen erschließen; aber auch diese sind nicht in einem stolzen, gebildeten Stil geschrieben, so daß sich etwa ihr Verständnis nur den Hochgebildeten und durch ihr Wissen hochmütig Gewordenen offenbart, sondern allen, die demütig und gläubig sind. Augustin, der seinen eigenen Aufstieg zum Verständnis der Heiligen Schrift in den Confessionen (besonders III,5 und VI,5) beschrieben hat, drückt dies in einem Brief an Volusianus (CXXXVII,18) folgendermaßen aus: ea vero quae (sacra scriptura) in mysteriis occultat, nec ipsa eloquio superbo erigit, quo non audeat accedere mens tardiuscula et inerudita quasi pauper ad divitem; sed invitat omnes humili sermone, quos non solum manifesta pascat, sed etiam secreta exerceat veritate, hoc in promptis quod in reconditis habens; oder in dem ersten Kapitel de Trinitate: sacra scriptura parvulis congruens nullius generis rerum verba vitavit (eine deutliche Anspielung auf die antike Stiltrennung), ex quibus quasi gradatim ad divina atque sublimia noster intellectus velut nutritus assurgeret. Unter den vielen ähnlichen, das Thema vielfältig variierenden Stellen Augustins will ich noch eine erwähnen, weil sie die Art des den demütig Einfachen zugänglichen Verständnisses beschreibt; sie stammt aus den Enarrationes in Psalmos und bezieht sich auf die Worte suscipiens mansuetos Dominus im 146. Psalm: Conticescant humanae voces, requiescant humanae cogitatio‐ nes; ad incomprehensibilia non se extendant quasi comprehensuri, sed tam‐ quam participaturi - worin sich das konkret-sinnliche Mitbesitzen und das Mystische auf das schönste vereinigen, natürlich mit polemischer Absicht gegen das «hochmütig» intellektuelle Verstehenwollen. Petrus Lombardus, der Sentenzenmeister, schreibt die Stelle in seinem Psalmenkommentar, etwa Mitte des 12. Jahrhunderts, fast wörtlich aus; und die vollkommene Wendung zur Mystik findet sich bei Bernhard, der das Verständnis ganz auf die Meditation des Lebens und der Passion Christi gründet: Beati qui noverunt gustu felicis experientiae, quam dulciter, quam mirabiliter in VII Adam und Eva 159 <?page no="160"?> oratione et meditatione scripturas dignetur Dominus revelare (in feria II Paschatis sermo, 20). Es handelt sich um mehrere Gedanken, die, vielfältig miteinander zusam‐ menhängend, in diesen Stellen zum Ausdruck kommen: daß die Heilige Schrift denen entgegenkommt, die einfachen und gläubigen Herzens sind; daß es eines solchen bedarf, um «teilzuhaben» an ihr, denn Teilhaben, nicht rein rationales Verständnis ist das, was sie geben will; daß das Verborgene und Dunkle, was sie enthält, ebenfalls nicht in einem «hohen Stil» (eloquio superbo) verfaßt ist, sondern in einfachen Worten, so daß ein jeder quasi gradatim vom Einfachsten zum Göttlichen und Erhabenen aufsteigen kann - oder, wie Augustin es in den Confessionen ausdrückt, daß man sie lesen müsse wie ein Kind: verum tamen illa erat, quae cresceret cum parvulis. Und der Gedanke, daß sie sich in all diesem von den großen Profanschriftstellern des Altertums unterscheide, ist ebenfalls das ganze Mittelalter hindurch lebendig geblieben; noch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kommentiert Benvenuto von lmola den Dantevers, in dem von Beatrices Ausdrucksweise die Rede ist (lnf. 2,56: e comminciommi a dir soave e piana) mit den Worten: et bene dicit, quia sermo divinus est suavis et planus, non altus et superbus sicut sermo Virgilii et poetarum - obgleich doch Beatrice als Verkünderin der göttlichen Weisheit sehr viel Dunkles und Schwieriges zu sagen hat. Das mittelalterliche christliche Theater steht vollkommen in dieser Tra‐ dition: als lebendige Darstellung des biblischen Geschehens, wie es, von vornherein mit dramatischen Elementen, in der Liturgie enthalten war, breitet es einladend die Hände aus, um die Ungebildeten und Einfachen aufzunehmen und sie vom Konkreten, Alltäglichen zum Verborgenen und Wahren zu führen - nicht anders als die große Plastik der mittelalterlichen Kirchen, die, nach E. Mâles bekannter Theorie, sogar von den Mysterien, das heißt vom religiösen Drama, entscheidende Anregungen empfangen haben soll. Über die Absicht des liturgischen oder im weiteren Sinne christlichen Theaters besitzen wir Zeugnisse schon aus sehr früher Zeit; im 10. Jahrhun‐ dert beschreibt St. Ethelwold, Bischof von Winchester, eine dramatische Osterzeremonie, wie sie bei einigen Geistlichen «ad fidem indocti vulgi ac neofitorum corroborandam» im Gebrauch sei, und empfiehlt sie zur Nachahmung (zitiert nach E. K. Chambers, The mediaeval stage, II, 308); und im 12. Jahrhundert sagt es Suger von Saint-Denis tiefer und allgemeiner in dem häufig zitierten Vers: Mens hebes ad verum per materialia surgit. 160 VII Adam und Eva <?page no="161"?> Kehren wir nun zu unserem Text, der Szene zwischen Adam und Eva zurück. Sie wendet sich humili sermone an die Einfachen und geistig Armen, sie bettet das erhabene Geschehen in ihr tägliches Leben ein, so daß es ihnen spontan gegenwärtig wird; allein sie vergißt nicht, daß es ein erhabener Gegenstand ist, sie führt von der einfachsten Wirklichkeit unmittelbar zur höchsten, verborgenen und göttlichen Wahrheit. Das Mystère d’Adam wird eingeleitet durch die liturgische Bibellesung aus der Genesis, mit Lektor und respondierendem Chor; alsdann folgen die dramatisierten Geschehnisse des Sündenfalls, wobei Gott selbst auftritt; sie werden fortgeführt bis zu dem Mord an Abel; das Ganze schließt mit der Prozession der alttestamentlichen Propheten, welche Christi Erscheinen ankündigen. Die Szenen, in denen all‐ täglich-zeitgenössisches Leben hervortritt (die schönsten sind die zwischen dem Teufel und Eva, und die unsrige, zwei Stücke von beispielhafter Rein‐ heit, den vollendetsten plastischen Werken in Chartres, Paris, Reims oder Amiens ebenbürtig), sind also eingefaßt in einen biblisch-weltgeschichtli‐ chen Rahmen, der Geist dieses Rahmens durchdringt sie; und der Geist des sie umgebenden Rahmens ist der der figuralen Geschehensdeutung. Das besagt, daß jedes Geschehen in all seiner alltäglichen Wirklichkeit zugleich Glied ist in einem weltgeschichtlichen Zusammenhang, wobei alle Glieder aufeinander Bezug haben, und somit auch als jederzeitlich oder überzeitlich aufzufassen sind. Beginnen wir mit Gott selbst, der nach der Schöpfung der Welt und des Menschen auftritt, um Adam und Eva ins Paradies einzuführen und ihnen seinen Willen kundzutun. Er wird figura genannt; man kann dies Wort einfach auf den Geistlichen deuten, der diese Gestalt darzustellen (zu «figurieren») hatte, und den man sich scheute «Deus» zu nennen wie man die anderen Darsteller einfach Adam, Eva und so fort nannte; man kann es aber mit größerer Wahrscheinlichkeit auch wirklich figural erklären; denn obgleich Gott im wirklichen Geschehen des Adamsspiels nur die Rolle des Gesetzgebers und des die Übertretung strafenden Richters hat, so ist doch in ihm schon der erlösende Heiland figural gegenwärtig; die Regiebemerkung, die sein Erscheinen mitteilt, lautet folgendermaßen: Tunc veniet Salvator indutus dalmatica, et statuantur choram eo Adam et Eva … Et stent ambo coram Figura … Gott wird also zunächst Salvator genannt, dann erst Figura; so daß man wohl berechtigt sein dürfte, zu ergänzen: figura salvatoris. Diese überzeitlich figurale Auffassung wird später wieder aufgenommen; wenn Adam von dem Apfel gegessen hat, überfällt ihn sogleich die tiefste Reue; er bricht in verzweiflungsvolle Selbstanklagen aus, die sich zuletzt auch gegen Eva richten, und die folgendermaßen schließen: VII Adam und Eva 161 <?page no="162"?> 19 Durch deinen Rat bin ich ins Unglück gekommen, von großer Höhe in die Tiefe gefallen. Aus ihr kann mich kein sterblicher Mensch ziehen, wenn es nicht Gott in seiner Erhabenheit selbst ist. Ach, was sage ich? Warum habe ich ihn genannt? Wird er mir denn helfen? Ich habe ihn erzürnt, Es wird mir niemand helfen als der Sohn, der aus Maria hervorgehen wird. Von niemand kann ich Schutz erhalten, da wir ja an Gott keinen Glauben hatten. Möge nun alles nach Gottes Willen geschehen; es gibt keinen anderen Rat, als zu sterben. 375 Par ton conseil sui mis a mal, - - De grant haltesce sui mis a val. - - N’en serrai trait por home né, - - Si Deu nen est de majesté. - - Que di jo, las? por auoi le nomai? 380- Il me aidera? Corocé l’ai. - - Ne me ferat ja nul aïe, - - For le filz que istra de Marie. - - Ne sai de nus prendre conroi, - - Quant a Deu ne portames foi. 385- Or en soit tot a Deu plaisir! - - N’i ad conseil que de! morir. 19 Aus diesem Text, zumal aus den Worten for le filz que istra de Marie wird deutlich, daß Adam schon die ganze christliche Weltgeschichte voraus weiß, oder doch zumindest das Erscheinen Christi, die Erlösung von der Erbsünde, die er eben begangen hat; schon in der vollen Verzweiflung weiß er von der einst sich erfüllenden Gnade; diese ist, obgleich Zukunft, und sogar ein bestimmter, geschichtlich festlegbarer Teil derselben, doch auch schon jederzeit mitgewußte Gegenwart; gibt es doch in Gott keinen Unterschied der Zeiten, da alles für ihn zugleich Gegenwart ist, so daß er, wie Augustin es einmal ausdrückt, nicht Vorauswissen, sondern einfach Wissen besitzt. Man muß sich also sehr hüten in solchen Zeitüberschreitungen, wo die Zukunft schon in die Gegenwart hineinzuragen scheint, nur etwas wie mittelalterliche Naivität sehen zu wollen; zwar ist das nicht falsch, denn in der Tat geben sie eine stark vereinfachende, dem einfachen Verständnis angepaßte Zusammenschau - aber die Zusammenschau ist doch zugleich Ausdruck einer höchst eigentümlichen, hohen und verborgenen Wahrheit, eben des figuralen Aufbaus der Weltgeschichte. Ein jedes Stück des mit‐ telalterlichen, aus der Liturgie erwachsenen dramatischen Spieles ist Teil eines, und zwar stets desselben, Zusammenhangs: eines einzigen großen Dramas, dessen Beginn Weltschöpfung und Sündenfall, dessen Höhepunkt 162 VII Adam und Eva <?page no="163"?> Inkarnation und Passion, dessen noch ausstehendes und erwartetes Ende Christi Wiederkunft und Jüngstes Gericht sind. Die Strecken zwischen den Handlungspolen werden ausgefüllt teils durch Figuration, teils durch Nachahmung Christi; vor dessen Erscheinen sind es die Gestalten und Ereignisse des Alten Testaments, der Zeit des Gesetzes, in denen die Ankunft des Heilands in figürlicher Weise sich ankündigt; dies ist der Sinn der Prophetenprozession; nach seiner Inkarnation und Passion sind es die Heiligen, die ihm nachzuleben bemüht sind, und die Christenheit überhaupt, Christi versprochene Braut, die die Wiederkunft des Bräutigams erwartet. In diesem großen Drama sind alle Ereignisse des Weltgeschehens grundsätzlich mitenthalten, und alle Höhen- und Tiefenlagen menschlichen Verhaltens sowie alle Höhen- und Tiefenlagen seines stilistischen Ausdrucks haben darin ihre moralisch wie ästhetisch wohlbegründete Daseinsberechtigung; so daß kein Grund für eine Trennung des Erhabenen vom Niedrig-Alltägli‐ chen besteht, welche ja in Christi Leben und Leiden selbst schon unlösbar verbunden vorliegen; und auch kein Grund besteht für eine Bemühung um Einheit des Ortes, der Zeit oder der Handlung, denn es gibt nur einen Ort: die Welt; nur eine Zeit: das Jetzt, welches von Anbeginn jederzeitlich ist; und eine einzige Handlung: Fall und Erlösung des Menschen. Es wird freilich nicht jedesmal der ganze weltgeschichtliche Ablauf dargestellt; in der frühen Zeit gibt es nur Teilstücke, meist Oster- oder Weihnachtsspiele, wie sie aus der Liturgie erwachsen waren; allein mitgedacht und figürlich ausgedrückt ist stets das Ganze; seit dem 14. Jahrhundert erscheint der gesamte Zyklus in den Mysterien. Das Alltäglich-Realistische ist also ein wesentliches Element der mittel‐ alterlich-christlichen Kunst und besonders des christlichen dramatischen Spiels; ganz im Gegensatz zu der feudalen Dichtung des höfischen Romans, der aus der Wirklichkeit der ständischen Lage heraus in die Sage und ins Abenteuer führt, geschieht hier eine umgekehrte Bewegung, aus der fernen Legende und ihrer figürlichen Ausdeutung in die alltäglich-zeitgenössische Wirklichkeit hinein. In unserem Text hält sich das Realistische noch in dem Rahmen der Aktualisierung häuslicher Vorgänge, eines Gesprächs zwischen der Frau und dem schmeichelnden Verführer, und eines zweiten zwischen Mann und Frau; es gibt noch keine grob-realistischen oder possenhaften Ele‐ mente; allenfalls mag das Umherlaufen der Höllengeister («interea Demones discurrant per plateas, gestum facientes competentem») Anlaß zu einigen groben Späßen gegeben haben; aber später wird das anders, der Realismus gröberen Kornes beginnt zu wuchern und es entstehen Formen der Stilmi‐ VII Adam und Eva 163 <?page no="164"?> schung, des unvermittelten Nebeneinanders von Passion und roher Posse, die uns seltsam und ungehörig erscheinen. Wann das eigentlich begonnen hat, ist nicht klar festzustellen, wahrscheinlich schon weit früher als die uns erhaltenen dramatischen Texte erkennen lassen; denn Klagen über die Verrohung der liturgischen Spiele (nicht zu verwechseln mit Verdammun‐ gen derselben überhaupt; das ist ein anderes, in unserem Zusammenhang nicht zu behandelndes Problem) finden sich schon im 12. Jahrhundert, bei Herrad von Landsberg zum Beispiel (zitiert in Chambers’ Buch über das mittelalterliche Theater, II 98, Anm. 2). Es ist recht wahrscheinlich, daß schon in dieser Zeit allerhand davon sich geltend machte, denn es ist überhaupt die Zeit des wiedererwachenden volkstümlichen Realismus; die unterliterarisch fortlebende Tradition des antiken Mimus und das bewußte, stärker kritische und griffigere Beobachten des Lebens, das offenbar seit dem 12. Jahrhundert auch in den niederen Schichten einsetzte, führte damals zu einer Blüte des Volksschwanks, dessen Geist sich bald auch ins religiöse Drama Eingang verschafft haben mag; war doch das Publikum das gleiche; auch die niedere Geistlichkeit scheint vielfach den Geschmack des Volkes in dieser Hinsicht geteilt zu haben. Aus der erhaltenen christlich-dramatischen Literatur geht jedenfalls hervor, daß das realistische und besonders das groteske und possenhafte Element immer stärker sich geltend machte, daß es im 15. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte und damit der vom humanis‐ tischen Geschmack und der strengeren Gesinnung der Reformation (schon seit Wiclef) ausgehenden Gegenbewegung, die die christlichen Mysterien als geschmacklos und ungehörig empfand, genügend Argumente für ihre, zuletzt erfolgreichen Angriffe bot. Vom Volksschwank wollen wir hier nicht sprechen, da sein Realismus in den Grenzen des nur Komischen und Problemlosen bleibt; aber wir wollen einige Szenen der Mysterien aufzählen, die Anlaß zu einer besonders auffälligen realistischen Entwicklung geliefert haben. Es beginnt mit der Geburt im Stall von Bethlehem, wo nicht nur Ochs und Esel, sondern zuweilen auch Hebammen und Gevatterinnen (nebst den dazugehörigen Gesprächen) auftreten, wo es zuweilen auch höchst drastische Vorgänge zwischen Joseph und den Mägden gibt; auch die Verkündigung an die Hirten, die Ankunft der heiligen drei Könige, der Kindermord, werden realistisch ausgeschmückt; noch auffälliger und für den späteren Geschmack ungehöriger sind die drastischen Szenen in Verbindung mit der Passion: die rohen und zuweilen possenhaften Gespräche der Soldaten während der Dornenkrönung, der Geißelung, der Kreuztragung und schließlich bei der 164 VII Adam und Eva <?page no="165"?> Kreuzigung selbst (das Würfeln um die Kleider, die Longinusszene usf.); unter den mit der Auferstehung zusammenhängenden Vorgängen ist es besonders der Besuch der drei Marien beim Krämer (unguentarius), um Salben für den Leib Christi zu kaufen, die zu einer Marktszene, und der Wettlauf der Jünger zum Grabe (nach Joh. 20,3.4), der zu einem großen Jux wird. Die Darstellung der Magdalena in der Blüte ihrer Sünden ist zuweilen ausführlich und genau, und in der Prozession der Propheten finden sich auch einige Gestalten, die zu groteskem Auftritt Gelegenheit bieten (Bileam mit dem Esel! ). Die Aufzählung ist ganz unvollständig; es gibt Unterhaltungen von Handwerkern, die (etwa beim Turmbau zu Babel) über ihre Arbeit und über die schlechten Zeiten reden. Es gibt laute und derbe Szenen im Wirtshaus, es gibt possenhafte Späße und Zoten im Überfluß. Das alles führt schließlich zu Mißbrauch und Unordnung; es ist auch richtig, daß die bunte Welt des zeitgenössischen Lebens einen immer breiteren Raum einnimmt; und doch ist es mißverständlich, wenn man von einer fortschreitenden Verweltlichung des christlichen Passionsdramas spricht, wie es gewöhnlich geschieht. Denn die «Welt» ist von Anfang an und grundsätzlich in diesem Drama einbeschlossen, und auf das Mehr oder Weniger kommt es grundsätz‐ lich nicht an; eine wirkliche Verweltlichung tritt erst ein, wenn der Rahmen zerstört wird, wenn die weltliche Handlung selbständig wird; das heißt, wenn menschliche Handlungen außerhalb der von Sündenfall, Passion und Jüngstem Gericht bestimmten christlichen Weltgeschichte in ernster Weise dargestellt werden; wenn es andere Auffassungs- und Darstellungsmöglich‐ keiten menschlichen Geschehens gibt neben dieser, welche den Anspruch erhebt, die einzig wahre und gültige zu sein. Auch das für unser Gefühl anachronistische Übertragen der Ereignisse in eine zeitgenössische Umwelt und in zeitgenössische Lebensverhältnisse ist durchaus in der Ordnung. Auch das ist im Adamsspiel nur insofern angedeutet, als Adam und Eva sprechen wie einfache Leute aus dem Frankreich des 12. Jahrhunderts («tel paltonier qui ço ad fait»); anderswo und später ist das viel auffälliger. In einem ebenfalls nur in einer einzigen Handschrift erhaltenen Fragment eines französischen Osterspiels aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts (ich benutze den Text in Förster-Koschwitz, Altfranzösisches Übungsbuch, 6. Auflage, 1921, Seiten 214 f.), in dem es sich um die Szenen mit Joseph von Arimathia und mit dem blinden, vom Blut Christi geheilten Longinus handelt, werden die Kriegsknechte des Pilatus chivalers genannt oder mit vaissal angeredet, und der ganze Verkehrston zwischen den Personen, etwa zwischen Pilatus und Joseph, oder zwischen Joseph und Nicodemus ist VII Adam und Eva 165 <?page no="166"?> auf eine ganz unverkennbare und rührende Weise der Verkehrston der Umwelt des französischen 13. Jahrhunderts; dabei kommt die figürliche Jederzeitlichkeit der Ereignisse dem Zweck einer Einbettung derselben in das vertraute alltägliche Leben des Volkes aufs schönste entgegen. Ganz bescheidene und naive Ansätze zur Stiltrennung finden sich freilich auch; sie ergeben sich schon im ältesten liturgischen Spiel, ja schon in der für die Entstehung desselben oft herangezogenen Sequenz Victimae paschali, wenn nach den mehr dogmatischen Eingangsversen fast unvermittelt der Dialog einsetzt: Dic nobis Maria …; etwas Entsprechendes liegt in dem Wechsel zwischen Latein und Altfranzösisch in einigen Stücken aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts, etwa dem Sponsus (Romania 22, 177 ff.); unser Adamsspiel gibt einige besonders feierliche Stellen in vierzeiligen durchge‐ reimten Strophen von Zehnsilbern, die gewichtiger klingen als der sonst verwandte, paarweise gereimte Achtsilber; aus weit späterer Zeit, aus dem Mistère du vieil Testament, stammen einige Stellen, die Ferdinand Brunot in seiner Histoire de la langue française, I 526 ff. zitiert, in denen Gott und die Engel ein stark latinisierendes Französisch sprechen, einige Handwerker und Spitzbuben dagegen, insbesondere aber auch Bileam im Gespräch mit seinem Esel, sich in einer recht würzigen Alltagssprache ausdrücken. Dies alles aber steht viel zu nahe beieinander, um wirklich als Stiltrennung zu wirken, im Gegenteil, es trägt dazu bei, die beiden Sphären ganz dicht aneinanderzurücken. Das stilmischende Dichtaneinander beider Sphären beschränkt sich nicht auf die christliche dramatische Literatur, es findet sich überall in der christlichen Literatur des Mittelalters (in manchen Ländern, besonders in Spanien, auch noch später), sobald sie für einen größeren Kreis bestimmt ist. Besonders deutlich müßte sich das in der volkstümlichen Predigt zeigen, von der wir aber etwas reichlichere Beispiele erst aus sehr später Zeit zur Verfügung haben; in ihnen zeigt sich das Nebeneinander von figürlicher Schriftverwendung und drastischem Realismus in einer auf den späteren Geschmack grotesk wirkenden Weise. Man kann dazu den sehr lehrreichen Aufsatz von E. Gilson über la Technique du sermon médiéval (in der Sammlung seiner Aufsätze «Les idées et les lettres», Paris 1932, Seiten 93 ff.) einsehen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts erscheint in Italien eine Gestalt, in der sich die hier in Rede stehende Mischung von sublimitas und humilitas, von ekstatischer, erhabener Gottverbundenheit und demütig-konkreter Alltäglichkeit auf beispielhafte Weise verkörpert, wobei sich Handlung und Ausdruck, Inhalt und Form nicht mehr trennen lassen; das ist Franz 166 VII Adam und Eva <?page no="167"?> von Assisi. Der Kern seines Wesens und die Wucht seines Auftretens beruht auf dem Willen zur radikalen und praktischen Nachahmung Christi; diese hatte in Europa, seit es keine Märtyrer des Glaubens mehr gab, eine vorwiegend mystisch-kontemplative Form angenommen; er gab ihr eine Wendung zum Praktischen, Alltäglichen, Öffentlichen und Volkstümlichen. So sehr er selbst ein sich hingebender, kontemplativer Mystiker war, so entscheidend war für ihn und seine Gefährten das Leben zwischen dem Volk, unter den Geringsten, als die Geringsten und Verachtetsten von allen: sint minores et subditi omnibus. Er war nicht Theologe, und seine Bildung, obgleich durchaus nicht gering und durch seine dichterische Kraft geadelt, war eine volkstümliche, unmittelbar und sinnlich zugängliche; seine Demut war durchaus nicht der Art, daß sie ein öffentliches Auftreten oder sogar ein öffentliches Schauspiel fürchtete. Er trieb seinen inneren Impuls in die äußere Erscheinung, sein Wesen und sein Erleben wurde zum öffentlichen Ereignis, und von dem Tage, an dem er dem scheltenden Vater vor den Augen des Bischofs und der ganzen Stadt Assisi seine Kleider zurückgab, um sich von allem Irdischen loszusagen, bis zu jenem, an dem er sich, sterbend, nackt auf die nackte Erde legen ließ (ut hora illa extrema, in qua poterat adhuc hostis irasci, nudus luctaretur cum nudo, sagt Thomas von Celano, Legenda secunda, 214), war alles, was er tat, eine Szene; und seine Szenen waren von solcher Gewalt, daß er alle Menschen, die es sahen oder auch nur davon hörten, mit sich fortriß. Auch der große Heilige des 12. Jahrhunderts, Bernhard von Clairvaux, war ein Menschenfischer, und seine Beredsamkeit war hinreißend; auch er war ein Gegner der menschlichen Vernunftweisheit, der sapientia secundum carnem; und doch, wieviel aristokratischer, wieviel gelehrt rhetorischer ist seine Ausdrucksform! Ich will das an einem Beispiel zeigen, und wähle dazu zwei Briefe verwandten Inhalts. In dem Brief 322 (PL 182, 527/ 8) beglückwünscht Bernhard einen jungen Adligen, der die Welt freiwillig verlassen hat und in ein Kloster gegangen ist; er preist seine Weisheit, die vom Himmel ist, er dankt Gott, der sie ihm verliehen hat, er ermutigt ihn und stärkt ihn gegen künftige Versuchung durch den Hinweis auf Christi Hilfe: … Si tentationis sentis aculeos, exaltatum in ligno serpentem aeneum intuere (Num. 21,8; Ioan. 3,14); et suge non tam vulnera quam ubera Crucifixi. Ipse tibi erit in matrem, et tu eris ei in filium; nec pariter Crucifixum laedere aliquatenus poterunt clavi, quin per manus eius et pedes ad tuos usque perveniant. Sed inimici hominis domestici eius (Mich. 7,6). Ipsi sunt qui non te diligunt, sed gaudium VII Adam und Eva 167 <?page no="168"?> 20 Wenn du die Stacheln der Versuchung fühlst, so richte deinen Blick auf die ans Kreuz erhöhte eherne Schlange; und nähre dich von den Wunden oder vielmehr Brüsten des Gekreuzigten. Er selbst wird dir zur Mutter werden, und du ihm zum Sohn; und die Nägel können den Gekreuzigten nicht anders verwunden als daß sie durch seine Hände und Füße bis zu den deinen gelangen. Doch die Feinde des Menschen sind seine Hausgenossen. Sie sind es die nicht dich lieben, sondern ihre eigene Freude, die von dir kommt. Sonst würden sie den Worten unseres Jünglings Gehör schenken: «Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr euch freuen, denn ich gehe zum Vater.» Wenn quer über die Schwelle (so spricht der heilige Hieronymus) sich dein Vater geworfen hat, wenn die Mutter mit entblößtem Busen dir die Brüste zeigt, an denen sie dich genährt hat, wenn dein kleiner Neffe an deinem Halse hängt, so tritt mit den Füßen über deinen Vater, tritt mit den Füßen über deine Mutter, und eile mit trockenen Augen zur Fahne des Kreuzes. Das ist die höchste Barmherzigkeit, in solchem Falle um Christi willen grausam zu sein. Laß dich nicht von den Tränen der Narren rühren, die darüber weinen, daß du aus einem Sohn der Hölle ein Sohn Gottes geworden bist. Ach, was haben diese Elenden für eine unsinnige Leidenschaft! Was ist das für eine grausame Liebe, was für eine unbillige Zuneigung! Böse Geschwätze verderben gute Sitten. Darum vermeide soviel du kannst, mein Sohn, die Gespräche mit deinen Wirten, denn während sie die Ohren anfüllen, machen sie den Geist leer. Lerne zu Gott zu beten, lerne dein Herz mit den Händen zu suum ex te. Alioquin audiant ex puero nostro: si diligeretis me, gauderetis utique, quia vado ad patrem (Ioan. 14, 28). «Si prostratus», ait beatus Hieronymus, «jaceat in limine pater, si nudato sinu, quibus te lactavit, ubera mater ostendat, si parvulus a colle pendeat nepos, per calcatum transi patrem, per calcatam transi matrem, et siccis oculis ad vexillum crucis evola. Summum pietatis est genus, in hac parte pro Christo esse crudelem.» Phreneticorum lacrymis ne movearis, qui te plangunt de gehennae filio factum filium Dei. Heu! Quaenam miseris tam dira cupido (Verg. Aen. 6,721)? Quis tam crudelis amor, quae tam iniqua dilectio? Corrumpunt bonos mores colloquia mala (1 Cor. 15,33). Propterea, quantum poteris, fili, confabulationem hospitum declinato, quae, dum aures implent, evacuant mentem. Disce orare Deum, disce levare cor cum manibus: disce oculos supplices in caelum erigere, et Patri misericordiarum miserabilem faciem repraesentare in omni necessitate tua. Impium est sentire de Deo, quod continere possit super te viscera sua, et avertere aurem a singultu tuo vel clamore. De caetero spiritualium patrum consiliis haud secus quam majestatis divinae praeceptis acquiescendum in omnibus esse memento. Hoc fac, et vives; hoc fac, et veniet super te benedictio, ut pro singulis quae reliquisti centuplum recipias, etiam in praesenti vita. Nec vero credas spiritui suadenti nimis id festinatum, et in maturiorem aetatem differendum fuisse. Ei potius crede qui dixit: Bonurn est homini, cum portaverit iugum ab adolescentia sua. Sedebit solitarius, levavit enim se supra se (Thren. 3,27/ 8). Bene vale, studeto perseverantiae, quae sola coronatur. 20 168 VII Adam und Eva <?page no="169"?> erheben, lerne deine Augen flehend auf den Himmel zu richten und in jeder Not, die dich befällt, dem Vater der Barmherzigkeit dein erbärmliches Antlitz darzustellen. Es ist unfromm, von Gott zu, glauben, er könne sein Herz vor dir verschließen und sein Ohr abwenden von deinem Seufzen und Schreien. Im übrigen denke daran, in allen Dingen den Ratschlägen deiner geistlichen Väter zu gehorchen, nicht anders, als den Vorschriften der göttlichen Majestät. Dies tu und du wirst leben; dies tu und über dich wird der Segen kommen, so daß du für jedes Ding, das du verlassen hast, hundertfältig empfangen wirst, sogar schon in diesem Leben. Und glaube nicht dem Geist, der dir rät, dies sei übereilt, und du hättest es auf ein reiferes Lebensalter verschieben sollen. Glaube vielmehr dem der gesagt hat: es ist ein köstlich Ding einem Mann, daß er das Joch in seiner Jugend trage; er wird einsam sein, denn er wird sich über sich selbst erheben. Lebe recht wohl, strebe nach Beständigkeit, die allein gekrönt wird. Das ist gewiß ein lebendiger und hinreißender Text, und einige seiner Gedanken und Formulierungen - etwa der von den Verwandten, die nicht dich lieben, sondern gaudium suum ex te, oder die Zusicherung, daß die hundertfältige Belohnung schon in diesem Leben sich einstellen wird - sind, wenn ich nicht irre, ganz eigentümlich bernhardinisch. Aber wie bewußt ist das Ganze komponiert, wie vieler Voraussetzungen bedarf es zu seinem Verständnis, wieviel rhetorische Formen enthält es! Man muß zwar in Rechnung stellen, daß die figürlichen Anspielungen auf Schriftstellen (die eherne Schlange als Christusfigur, das Blut aus Christi Wunden als nährende Milch, die Teilnahme an der Kreuzesqual, an den Nägeln, die Christi Hände und Füße durchbohren, als ekstatischer Liebestrost in der unio passionalis) im zisterziensischen Kreise sogleich verstanden wurden; diese Deutungs- und Denkweise muß selbst im Volk sich eingewurzelt haben, denn alle Predigten sind voll davon. Aber die Fülle der Schriftworte, ihre Verkettung, das Hieronymus- und das Vergilzitat, geben diesem persönlichen Brief doch ein überaus literarisches Aussehen; und in der Verwendung von rhetorischen Fragen, von Antithesen und Anaphern steht Bernhard nicht hinter Hieronymus zurück; im Gegenteil, er überbietet ihn noch, indem er die rhetorischen Figuren des Originals schärfer herausarbeitet (vgl. CSEL vol. 54, p. 46-47, und hier oben S. 72ff.). Ich will die auffälligsten Antithesen und Anaphern aufzählen. Von Antithesen findet sich: non tam vulnera quam ubera; ipse tibi in matrem, tu ei in filium; seine und deine Hände und Füße; non te, sed gaudium suum ex te; aus der Hieronymusstelle pietas-crudelis; dann filius gehennae, filius Dei; crudelis amor, iniqua dilectio; dum aures implent, evacuant mentem. Von Anaphern: sie beginnen mit der in ihrer Art herrlichen Hieronymusstelle: si prostratus, si nudato, si parvulus - per calcatum, per calcatam, et siccis oculis …, und dann kommt Bernhard selbst: VII Adam und Eva 169 <?page no="170"?> quis tam crudelis amor, quae …; disce orare, disce levare, disce erigere, hoc fac et vives, hoc fac et veniet. Dazu kommen dann noch Wortspiele wie patri misericordiarum miserabilem faciem repraesentare. Und nun hören wir Franz von Assisi. Es gibt nur zwei persönliche Briefe, die mit einiger Sicherheit ihm zugeschrieben werden können; einen «ad quendam ministrum» aus dem Jahre 1223, den anderen an seinen Lieblings‐ jünger aus den letzten Jahren, Bruder Leo (Pecorella) aus Assisi; beide stammen also aus seiner letzten Lebenszeit, denn Franz starb 1225. Ich wähle den ersteren, in dem von einem Konflikt innerhalb des Ordens über die Behandlung der Brüder, die eine Todsünde begangen hatten, die Rede ist; und zwar drucke ich nur den ersten, allgemeineren Teil des Briefes ab (nach den Analekten zur Geschichte des Franciscus von Assisi, herausgegeben von H. Boehmer, Tübingen und Leipzig 1904, Seite-28): Fratri N. ministro. Dominus te benedicat. Dico tibi sicut possum de facto anime tue, quod ea, que te impediunt amare Dominum Deum, et quicumque tibi impedimentum fecerint sive fratres sive alii, etiamsi te verberarent, omnia debes habere pro gratia. Et ita velis et non aliud. Et hoc sit tibi per veram obedientiam Domini Dei et meam, quia firmiter scio, quod illa est vera obedientia. Et dilige eos, qui ista faciunt tibi, et non velis aliud de eis, nisi quantum Dominus dederit tibi. Et in hoc dilige eos et non velis quod (pro te? nur in einer der sechs erhaltenen Hss.) sint meliores christiani. Et istud sit tibi plus quam heremitorium. Et in hoc volo cognoscere, si diligis Deum et me servum suum et tuum, si feceris istud, scilicet quod non sit aliquis frater in mundo, qui peccaverit, quantumcumque potuerit peccare, quod, postquam viderit occulos tuos, unquam recedat sine misericordia tua, si querit misericordiam, et si non quereret misericordiam, tu queras ab eo si 170 VII Adam und Eva <?page no="171"?> 21 An einen unbekannten Minister (des Ordens). Gott segne dich. Ich spreche zu dir so gut ich kann über deine Seele: alles was dich hindern will, Gott den Herrn zu lieben, und wer immer dir Hindernisse in den Weg legt, Brüder oder andere, und wenn sie selbst dich schlagen, das sollst du alles als eine Gnade betrachten. Und wolle es so und nicht anders. Und das gelte dir als der wahre Gehorsam gegen Gott den Herrn und mich, denn ich weiß gewiß, daß dies der wahre Gehorsam ist. Und liebe die, die dir solches tun, und wolle nichts anderes von ihnen außer was Gott dir gewähren mag. Und liebe sie um dessen willen, und wolle nicht, daß sie bessere Christen seien. Und dies gelte dir mehr als das Eremitorium. Und daran will ich erkennen, ob du den Herrn liebst und mich, seinen und deinen Knecht, daß du dies tust, nämlich, daß es keinen Bruder auf der Welt geben soll, der gesündigt hat, soviel er nur sündigen konnte, und der, wenn er dein Angesicht gesehen hat, je von dir ginge ohne Erbarmen gefunden zu haben, wenn er Erbarmen sucht, und wenn er keines sucht, daß du bei ihm versuchst, ob er Erbarmen wünscht. Und wenn er nachher tausendmal vor deinem Angesicht erschiene, so liebe ihn mehr als du mich jetzt liebst, damit du ihn zum Herrn ziehst. und habe immer Erbarmen mit solchen-… vult misericordiam. Et, si millies postea appareret coram occulis tuis, dilige eum plus quam me ad hoc, ut trahas eum ad Dominum, et semper miserearis talibus … 21 In diesem Stück gibt es weder Schriftausdeutung noch Redefiguren; der Satzbau ist hastig, ungeschickt und ohne berechnende Einteilung des Ganzen; alle Sätze beginnen mit et. Aber der Mensch, der diese hastigen Zeilen schrieb, ist augenscheinlich so hingerissen von seinem Gegenstand, derselbe erfüllt ihn so vollkommen, und das Bedürfnis, sich mitzuteilen und verstanden zu werden ist so überwältigend, daß die Parataxe zu einer Waffe der Beredsamkeit wird; wie die immer neu sich bildenden gewaltigen Wellen einer starken Brandung schlagen die Et-Sätze aus dem Herzen des Heiligen gegen das des Adressaten, wie es gleich zu Anfang mit sicut possum und de facto anime tue ausgedrückt ist. Denn das sicut possum drückt zugleich mit Demut (so gut ich kann) auch vollkommene Hingabe aller Kräfte aus, und de facto anime tue besagt, daß es in der sachlichen Frage zugleich um das Seelenheil dessen geht, der sie zu entscheiden hat; und daß es eine Sache «zwischen mir und dir» ist, hat Franciscus während des ganzen Briefes keinen Augenblick vergessen; er weiß, der andere liebt und bewundert ihn, und er nutzt diese Liebe jeden Augenblick aus, um ihn auf den rechten Weg zu ziehen (ut trahat eum ad Dominum): et in hoc volo cognoscere si diligis Deum et me servum suum et tuum, so beschwört er ihn; er befiehlt ihm, den rückfälligen Sünder, auch wenn er tausendmal wieder vor seinen Augen erscheint, mehr zu lieben «als du mich selbst in diesem Augenblick liebst». Der Inhalt des Briefes ist eine bis zu dem äußersten Grenzfall hochgetriebene Lehre, dem Übel nicht auszuweichen und ihm sich VII Adam und Eva 171 <?page no="172"?> nicht zu widersetzen; eine Beschwörung, nicht etwa die Welt zu verlassen, sondern sich mitten in ihre Qual zu mischen und das Böse leidenschaftlich zu leiden; ja er soll es sich nicht anders wünschen: et ita velis et non aliud. Franz geht dabei bis zu einem moraltheologisch schon beinah bedenklichen Extrem, wenn er schreibt: et in hoc dilige eos et non velis quod sint meliores Christiani - denn darf man, der eigenen Prüfung durch Leiden zuliebe, den Wunsch, der Nächste möchte ein besserer Christ sein, unterdrücken? Nur in der Unterwerfung unter das Böse kann nach seiner Überzeugung sich die Kraft der Liebe und des Gehorsams erweisen: quia firmiter scio quod illa est vera obedientia. Das ist mehr als die einsame Meditation fern von der Welt: et istud sit tibi plus quam heremitorium. Das Extreme dieser Auffassung drückt sich auch sprachlich aus: in den vielen Demonstrativen, welche den Sinn haben: gerade dies und nichts anderes; oder in den mit quicumque, etiamsi, quantumcumque, et si millies eingeleiteten Bewegungen, die alle bedeuten: ja selbst wenn-… Die ganz unliterarische, der gesprochenen Sprache nah verwandte Un‐ mittelbarkeit des Ausdrucks unterstützt also einen sehr radikalen Inhalt. Zwar ist dieser nicht neu, denn von Anfang an ist das In-der-Welt-Leiden und Sich-dem-Bösen-Unterwerfen eines der christlichen Hauptmotive; aber die Akzente werden neu gesetzt; das Leiden und Sich-Unterwerfen ist nicht mehr ein pathetisches Märtyrertum, sondern ein unablässiges Sich-Demüti‐ gen im alltäglichen Lauf der Dinge. Während Bernhard die Weltgeschäfte als ein großer Politiker der Kirche betrieb und sich von ihnen in die Einsamkeit der Kontemplation zurückzog, sieht Franz in den Weltgeschäften den eigent‐ lichen Schauplatz der Nachahmung; wobei freilich die Weltgeschäfte nicht die großen politischen Vorgänge sind, in denen Bernhard eine leitende Rolle spielte, sondern das alltägliche Getriebe zwischen beliebigen Personen, sei es innerhalb eines Ordens, sei es mitten zwischen dem Volk; die ganze Struktur der Bettelorden, und insbesondere die der franziskanischen Gründung, trieb die Brüder in die alltägliche Öffentlichkeit, unter das Volk, und wenn auch gewiß die einsame Meditation ihre große religiöse Bedeutung weder bei Franz von Assisi noch bei seinen Nachfolgern verlor, so konnte sie doch nicht dem Orden seinen ganz ausgesprochen populären Charakter rauben. Das öffentliche Auftreten des Heiligen hat nun, wie wir schon oben sagten, stets etwas sehr Eindringliches, Sinnfälliges, ja Szenenhaftes; die Anekdoten, die davon berichten, sind sehr zahlreich, und es finden sich darunter solche, die auf ein späteres Empfinden nahezu grotesk oder sogar possenhaft wirken; so wenn berichtet wird, daß er bei dem Weihnachtsfest 172 VII Adam und Eva <?page no="173"?> im Stall von Greccio, mit Ochs und Esel, dem praesepium, singend und predigend in der Aussprache des Wortes Bethlehem das Blöken eines Lammes nachahmte; oder daß er nach einer Krankheit, in der er gepflegtere Nahrung zu sich genommen hatte, bei seiner Rückkehr nach Assisi einem Bruder befahl, ihn wie einen Verbrecher am Strick durch die Stadt zu führen und dabei laut zu rufen: hier seht den Vielfraß, der sich ohne euer Wissen mit Hühnerfleisch vollgestopft hat! Aber solche Auftritte wirkten zu ihrer Zeit und an ihrem Ort nicht possenhaft; das Auffällige, Übertriebene und Grelle erschien nicht anstößig, sondern als sinnfällige, beispielhafte Bekundung eines heiligen Lebens, unmittelbar einleuchtend, jedem verständlich und jeden zu vergleichender Selbstprüfung und zum Miterleben auffordernd. Neben so auffälligen und ins Breite wirkenden Szenen gibt es andere Anekdoten, die von großer Zartheit und Liebenswürdigkeit zeugen, und die eine bedeutende, rein instinktive psychologische Begabung verraten; Franciscus weiß in entscheidenden Augenblicken stets, was im Herzen des anderen vorgeht, und sein Eingreifen trifft darum stets die entscheidende Stelle; es bewegt und erschüttert. Überall ist es die überraschende, sinnfällige Unmittelbarkeit seines Wesens, die so stark, so beispielhaft und so unvergeß‐ lich wirkt. Ich will hier noch eine Anekdote anführen, die sein Auftreten (bei einem vergleichsweise unbedeutenden und alltäglichen Anlaß) vorzüglich charakterisiert; sie stammt aus der «Legenda secunda» von Thomas de Celano (S. Francisci Assisiensis vita et miracula … auctore Fr. Thoma de Celano-… recensuit P. Eduardus Alenconiensis. Romae 1906, p.-217/ 8). Factum est quodam die Paschae, ut fratres in eremo Graecii mensam accuratius solito albis et vitreis praepararent. Descendens autem pater de cella venit ad mensam, conspicit alto sitam vaneque ornatam; sed ridenti mensae nequaquam arridet. Furtim et pedetentim retrahit gressum, capellum cuiusdam pauperis qui tunc aderat capiti suo imponit, et baculum gestans egreditur foras. Exspectat foris ad ostium donec incipiant fratres; siquidem soliti erant non exspectare ipsum, quando non veniret ad signum. Illis incipientibus manducare, clamat verus pauper ad ostium: Amore domini Dei, facite, inquit, eleemosynam isti peregrino pauperi et infirmo. Respondent fratres: Intra huc, homo, illius amore quem invocasti. Repente igitur ingreditur, et sese comedentibus offert. Sed quantum VII Adam und Eva 173 <?page no="174"?> 22 Es geschah an einem Ostertage, daß die Brüder in der Einsiedelei bei Greccio den Tisch feiner als sonst mit Tischtüchern und Gläsern deckten. Als der Vater aus der Zelle zu Tisch herunterkommt, sieht er die Tafel in ihrem eitlen Schmuck prangen; aber ihm gefällt der gefällige Tisch keineswegs. Heimlich und leise entfernt er sich, tut den Hut eines Armen, der gerade dort war, auf den Kopf, nimmt den Stab in die Hand und geht aus dem Hause. Draußen wartet er vor der Tür, bis die Brüder anfangen; denn sie waren daran gewöhnt, nicht auf ihn zu warten, wenn er auf den Ruf zum Essen nicht kam. Als sie nun anfangen zu speisen, ruft der wahre Arme vor der Tür: «Um der Liebe Gottes willen, gebt mir armem und krankem Pilger ein Almosen! » Die Brüder antworten: «Tritt ein, Mensch, um der Liebe dessen willen, den du angerufen hast! » Schnell geht er hinein und tritt vor die Essenden. Welch eine Verblüffung ergriff die Bewohner vor diesem Fremden! Auf sein Verlangen wird ihm eine Schüssel gereicht, er allein setzt sich auf den Fußboden und stellt den Teller in die Asche: «Jetzt», sagt er, «sitze ich da wie ein Minoritenbruder-…» stuporem credis peregrinum civibus intulisse? Datur petenti scutella, et solo solus recumbens discum ponit in cinere. Modo sedeo, ait, ut frater Minor-… 22 Der Anlaß, wie gesagt, ist unbedeutend, aber welch ein genialer szenischer Einfall ist es, Hut und Stab eines Armen zu nehmen und bei den Bettlern betteln zu gehen! Man kann sich die Verblüffung und Beschämung der Brüder gut vorstellen, wenn er sich mit dem Teller in die Asche setzt und sagt: jetzt sitze ich wie ein Minoritenbruder-… Die Lebens- und Ausdrucksform des Heiligen hat sich auf den Orden übertragen und eine ganz eigentümliche Atmosphäre geschaffen; er wurde, im guten wie im schlechten Sinne, ungeheuer volkstümlich. Das Übermaß drastischer Ausdruckskraft machte die Brüder zu Schöpfern und alsbald auch zum Gegenstand szenenhafter, witziger, sehr oft grober und obszöner Anekdoten; der gröbere Realismus des späteren Mittelalters knüpft sich vielfach an das Wirken und Auftreten der Franziskaner; ihr Einfluß in dieser Richtung läßt sich bis in die Renaissance verfolgen; auch dies ist vor einigen Jahren durch einen Aufsatz von Etienne Gilson sehr deutlich gemacht worden (Rabelais franciscain, in dem schon erwähnten Bande Les idées et les lettres, p. 197ff.); wir werden darauf noch zurückzukommen haben. Auf der anderen Seite hat die franziskanische Ausdruckskraft zu einer noch mehr unmittelbaren und heißeren Darstellung menschlicher Vorgänge geführt; sie macht sich in der volkstümlichen religiösen Dichtung geltend, die im Lauf des 13. Jahrhunderts unter dem Einfluß der franziskanischen und anderer volkstümlich ekstatischer Bewegungen besonders die Szene der Passion (Maria am Kreuz) als lebendig-dramatischen und menschlichen Vorgang gestaltet. Das berühmteste, in vielen Anthologien abgedruckte Stück stammt 174 VII Adam und Eva <?page no="175"?> 23 B O T E : Herrin des Paradieses, dein Sohn ist gefangen, Jesus Christus der glückselige. Eile herbei, Herrin, und sieh, wie die Leute ihn mißhandeln; ich glaube, sie bringen ihn um, dermaßen haben sie ihn gegeißelt. - J U N G F R A U : Wie könnte es geschehen (denn nie tat Unrecht Christus meine Hoffnung), daß man ihn gefangen genommen hat? - von Jacopone da Todi, einem sehr ausdrucksvollen Mystiker und Dichter aus der unmittelbar vordanteschen Zeit (geb. 1230), der in seinem späteren Leben dem franziskanischen Orden, und zwar dem radikalen Flügel, den Spiritualen angehörte. Das Passionsgedicht hat Dialogform, es sprechen ein Bote, die Jungfrau Maria, die «Menge» und zuletzt auch Christus selbst. Ich gebe den Anfang des Textes nach der Crestomazia italiana dei primi secoli von E. Monaci (Città di Castello 1912, p.-479): - N U N Z I O : Donna del paradiso, - - lo tuo figliolo è priso / Jesu Christo beato. - - Accurre, donna e vide / che la gente l’allide, - - credo che llo s’occide / tanto l’on flagellato. - V E R G I N E : Como essere purria, / che non fe mai follia - - Christo la spene mia, / hom l’avesse pilgliato? - N U N Z I O : Madonna, ell’è traduto, / Juda sì l’à venduto, - - Trenta dinar n’à ’uto, / facto n’à gran mercato. - V E R G I N E : Succurri, Magdalena; / jonta m’è adosso pena; - - Christo figlio se mena / como m’è annuntiato. - N U N Z I O : Succurri, donna, ajuta, / ch’al tuo figlio se sputa - - e la gente llo muta, / onlo dato a Pilato. - V E R G I N E : O Pilato, non fare / l figlio mio tormentare; - - ch’io te posso mostrare / como a torto è accusato. - T U R B A : Crucifì, crucifige / homo che si fa rege - - secondo nostra lege / contradice al senato. - V E R G I N E : Prego che m’entennate, / nel mio dolor pensate, - - forsa mo ve mutate / da quel ch’ete parlato. - N U N Z I O : Tragon fuor li ladroni, / che sian sui compagnoni. - T U R B A : De spine si coroni. / ché rege s’è chiamato! - V E R G I N E : O filglio, filglio, filglio! / filglio, amoroso gilglio, - - filglio, chi dà consilglio / al cor mio angustiato? - - O filglio, occhi jocundi, / filglio, co non respundi? - - filglio, perché t’ascundi / dal pecto o se’ lactato? - N U N Z I O : Madonna, ecco la croce / ehe la gente l’aduce, - - ove la vera luce / dej’ essere levato-… 23 VII Adam und Eva 175 <?page no="176"?> B O T E : Herrin, er ward verraten, Judas hat ihn verkauft, dreißig Denare hat er dafür bekommen, einen großen Handel hat er daraus gemacht. - J U N G F R A U : Hilf mir, Magdalena, Unheil ist über mich gekommen, Christus mein Sohn wird davongeführt, wie man mir gemeldet hat. - B O T E : Hilf, Herrin, steh uns bei, denn sie speien auf deinen Sohn und die Leute bringen ihn fort, sie haben ihn Pilatus übergeben. - J U N G F R A U : O Pilatus, tu das nicht, foltere meinen Sohn nicht, denn ich kann dir zeigen, wie sehr zu Unrecht er angeklagt ist. - M E N G E : Kreuzige, kreuzige den Mann, der sich zum König macht: nach unserem Gesetz empört er sich gegen den Senat. - J U N G F R A U : Bitte hört mich an, denkt an meinen Schmerz: vielleicht ändert ihr bald die Meinung, die ihr ausgesprochen habt. - B O T E : Sie bringen die Räuber heraus, die seine Gefährten sein sollen. - M E N G E : Krönt ihn mit Dornen, der sich König genannt hat! - J U N G F R A U : O Sohn, Sohn, Sohn, Sohn, liebliche Lilie, Sohn, wer wird meinem angstvollen Herzen Rat geben? O Sohn, freudevolle Augen, Sohn, warum antwortest du nicht? Sohn, warum verbirgst du dich vor der Brust, an der du genährt wurdest? - B O T E : Herrin, hier ist das Kreuz, die Leute bringen es, an dem das wahre Licht erhöht werden soll-… Der Text gibt, nicht anders als der eingangs besprochene altfranzösische, eine vollkommene Einbettung des erhabenen und heiligen Vorgangs in die zugleich zeitgenössisch-italienische und jederzeitliche Wirklichkeit; das Volkstümliche daran zeigt sich zunächst im Sprachlichen, womit ich nicht nur die dialektalen Formen, sondern auch das im soziologischen Sinne Populäre des Ausdrucks (etwa jonta m’è adosso pena im Munde der Heiligen Jungfrau) meine; es zeigt sich ferner in der freien Ausgestaltung des biblischen Vorgangs, die Maria eine weit größere und aktivere Rolle zuweist als selbst das Johannesevangelium, so daß Gelegenheit zu dramatischer Entfaltung ihrer Angst, ihres Schmerzes und ihrer Klage gewonnen wird, damit hängt eng zusammen das nahe Aneinanderrücken der Szenen und Personen, so daß Maria sich unmittelbar an Pilatus wenden kann, und noch im selben Bilde das Kreuz hineingetragen wird; Magdalena, die um Hilfe angerufen wird, und Johannes, dem Christus im weiteren Verlauf seine Mutter anvertraut, erscheinen mit Maria verbunden wie eine Gruppe von Freunden und Nachbarn; das Volkstümliche zeigt sich schließlich auch in dem unlogisch Anachronistischen der Auffassung, wovon wir oben, bei der altfranzösischen Darstellung des Sündenfalls, schon ausführlich gesprochen haben: einerseits ist Maria eine angstvolle und hilflos klagende Mutter, die keine Rettung weiß und sich aufs Bitten verlegt, andererseits wird sie vom Boten donna del paradiso genannt, und es ist ihr alles schon vorausgesagt worden. 176 VII Adam und Eva <?page no="177"?> In all diesen, die Einbettung in die volkstümliche Alltäglichkeit betreffen‐ den Dingen sind die beiden etwa um ein Jahrhundert auseinanderliegenden Texte nah verwandt; allein es ist augenscheinlich, daß sie auch einen bedeutenden und grundsätzlichen Stilunterschied zeigen. Das Gedicht Jaco‐ pones besitzt kaum noch etwas von der bezaubernden, klaren Frische des Adamsspieles; dafür ist es heißer, unmittelbarer, tragischer. Das liegt nicht an der Verschiedenheit des Gegenstandes, an dem Umstand, daß Jacopones Thema die Klage einer Mutter ist; oder vielmehr, es ist nicht zufällig, daß die italienische religiöse Volkspoesie des 13. Jahrhunderts ihre schönsten Werke in der Gestaltung dieser Szene hervorbrachte. Das freie Ausströmen und sogar dramatische Aufschreien des Schmerzes, der Angst und des Flehens, wie es sich bei Jacopone in den gehäuften Vokativen, Imperativen und drängenden Fragen Raum schafft, dürfte, wenn ich nicht irre, im 13. Jahrhundert noch kaum in einer anderen europäischen Vulgärsprache möglich sein. Es verrät eine szenische Freiheit von Hemmungen, ein süßes und heißes Sich-dem-Gefühl-Überlassen, eine Loslösung von aller Scheu im öffentlichen Ausdruck, neben welchen sich die früheren und auch die meisten gleichzeitigen Werke des Mittelalters noch linkisch und behindert ausnehmen; ja selbst das Provenzalische, das fast von Anfang an, seit Guil‐ hem de Peitieu, eine große Freiheit des Ausdrucks besitzt, tritt neben einem solchen Stück zurück, schon weil es keine so großen tragischen Themen kennt. Es wäre vielleicht unvorsichtig, zu behaupten, daß das Italienische diese dramatische Ausdrucksfreiheit dem heiligen Franz verdankt, denn zweifellos war sie im Charakter des Volkes angelegt; aber so viel kann man sagen, daß er, der auch ein großer Dichter und ein instinktiv meisterhafter Schauspieler seines Wesens war, die dramatischen Kräfte des italienischen Gefühls und der italienischen Sprache als erster wachrief. VII Adam und Eva 177 <?page no="179"?> VIII Farinata und Cavalcante - - «O Tosco che per la città del foco - - vivo ten vai così parlando onesto, - 24 piacciati di restare in questo loco. - - - La tua loquela ti fa manifesto - - di quella nobil patria natio - 27 a la qual forse fui troppo molesto.» - - - Subitamente questo suono uscio - - d’una de l’arche; però m’accostai, - 30 temendo, un poco più al duca mio. - - - Ed el mi disse: «Volgiti: che fai? - - Vedi là Farinata che s’è dritto: - 33 da la cintola in su tutto ’l vedrai.» - - - I’ avea già il mio viso nel suo fitto; - - ed el s’ergea col petto e con la fronte - 36 com’avesse l’inferno in gran dispitto. - - - E l’animose man del duca e pronte - - mi pinser tra le sepulture a lui, - 39 dicendo: «Le parole tue sien eonte». - - - Com’io al piè de la sua tomba fui, - - guardommi un poco, e poi, auasi sdegnoso, - 42 mi dimandò: «Chi fur li maggior tui? » - - - Io ch’era d’ubidir disideroso, - - non gliel eelai, ma tutto gliel’apersi; - 45 ond’ei levò le ciglia un poco in soso. - - - Poi disse: «Fieramente furo avversi - - a me e a miei primi e a mia parte, - 48 si che per due fiate li dispersi.» - - - «S’ei fur caeeiati, ei tornar d’ogni parte» <?page no="180"?> 24 «O Tusker, der durch die Stadt des Feuers noch lebend gehst und so schöne Rede führst. gefalle es dir an diesem Orte zu verweilen. Deine Redeweise zeigt, daß du aus jener edlen rispuosi lui «l’una e l’altra fiata; - 51 ma i vostri non appreser ben quell’arte.» - - - Allor surse a la vista scoperchiata - - un’ ombra lungo questa infino al mento: - 54 credo ehe s’era in ginoechie levata. - - - Dintorno mi guardò, come talento - - avesse di veder s’altri era meco: - 57 e poi che il sospecciar fu tutto spento - - - piangendo disse: «Se per questo cieco - - carcere vai per altezza d’ingegno, - 60 mio figlio ov’è? Perchè non è ei teco? » - - - E io a lui: «Da me stesso non vegno: - - colui ch’attende là, per qui mi mena, - 63 Forse cui Guido vestro ebbe a disdegno.» - - - Le sue parole e ’l modo de la pena - - m’avean di costui già letto il nome; - 66 però fu la risposta così piena. - - - Di subito drizzato gridò: «Come - - dicesti? elli ebbe? non viv’elli ancora? - 69 non fiere li occhi suoi il dolce lome? » - - - Quando s’aceor se d’alcuna dimora - - ch’io facea dinanzi a la risposta - 72 supin ricadde, e più non parve fora. - - - Ma quell’altro magnanimo a cui posta - - restato m’era, non mutò aspetto, - 75 nè mosse collo, nè piegò sua costa; - - - E, «Se». continuando al primo detto, - - «egli han quell’arte», disse, «mal appresa, - 78 ciò mi tormenta più che questo letto-… 24 180 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="181"?> Vaterstadt gebürtig bist, der ich vielleicht allzu beschwerlich gefallen bin.» Plötzlich drangen diese Laute aus einem der Särge; darum drängte ich mich, aus Furcht, ein wenig näher an meinen Führer. Und er sagte: mir: «Dreh dich doch um! Was hast du denn? Da ist Farinata, der sich aufgerichtet hat; vom Gürtel aufwarts kannst du ihn ganz sehen.» Ich hatte schon meinen Blick in den seinen gesenkt; und er reckte sich hoch, mit Brust und Stirn, als ob er die Hölle aufs tiefste verachtete. Und die energischen und raschen Hände des Führers stießen mich zwischen den Gräbern zu ihm, indes er sagte: «Deine Worte seien kurz.» Als ich am Fuß seines Sarges war, sah er mich ein wenig an und fragte dann, etwas abschätzig: «Wer waren deine Vorfahren? » Ich war bereit, zu gehorchen, verschwieg ihm nichts, sondern enthüllte ihm alles; da zog er die Brauen ein wenig in die Höhe und sagte: «Erbitterte Gegner waren sie mir, meinen Vorfahren und meiner Partei; so daß ich sie zweimal in die Verbannung trieb.» «Wenn sie vertrieben wurden, so kehrten sie doch wieder zurück», antwortete ich ihm. «das eine wie das andere Mal, aber diese Kunst haben die Eurigen nicht gut gelernt.» Da stieg, an ihm entlang, ihm bis zum Kinne reichend, ein anderer Schatten empor; ich glaube, er hatte sich auf die Knie erhoben; blickte um mich herum, als ob er wünschte zu sehen, ob noch jemand anders mit mir sei; doch als er merkte, daß seine Vermutung ihn getrogen hatte, sprach er weinend: «Wenn du, dank der Kraft deines Geistes, durch diesen blinden Kerker gehst, wo ist mein Sohn? Warum ist er nicht mit dir? » Und ich zu ihm: «Nicht aus eigener Kraft komme ich; der dort hinten wartet, führt mich hier hindurch; vielleicht daß euer Guido ihn verachtete.» Seine Worte und die Art der Strafe hatten mir schon seinen Namen enthüllt; daher war meine Antwort so erschöpfend. Jäh auffahrend schrie er: «Was hast du gesagt? Verachtete? Lebt er nicht mehr? Trifft seine Augen nicht mehr das süße Licht? » Als er merkte, daß ich ein wenig zögerte zu antworten, fiel er zurück und kam nicht mehr nach oben. Aber jene andere gewaltige Seele, um derentwillen ich stehen geblieben war, wechselte nicht den Ausdruck, bewegte den Hals nicht und wandte nicht die Hüfte; und «Wenn», seine erste Rede fortsetzend, «sie diese Kunst», sagte er, «nicht gut gelernt haben, so quält mich das mehr als dieses Bett-…» Z U B E GINN dieses Vorgangs, der aus dem zehnten Gesang der Hölle stammt, gehen Vergil und Dante auf einem schmalen Weg zwischen brennenden, offenstehenden Särgen. Sie sind im Gespräch; Vergil erklärt, daß in den Gräbern Ketzer und Gottlose liegen und verspricht Dante Erfüllung seines nur halb ausgesprochenen Wunsches, mit einem der Insassen in Verbindung zu treten. Dante ist gerade dabei zu antworten, als von unten, aus einem der Särge, mit den dumpfen Lauten von O Tosco beginnend, eine Stimme heraufdringt, so daß er erschreckt zurückfährt. Einer der Verdammten hat sich in seinem Sarge hoch aufgerichtet und spricht die Vorübergehenden an; Vergil nennt seinen Namen, es ist Farinata degli Uberti, ein ghibellinischer Parteiführer und Feldhauptmann aus Florenz, der kurz vor Dantes Geburt starb. Dante tritt an das Fußende seines Sarges, und es beginnt ein Gespräch, das jedoch nach wenigen Zeilen (V. 52) ebenso unvermittelt unterbrochen wird wie vorher das Gespräch zwischen Dante und Vergil: und zwar VIII Farinata und Cavalcante 181 <?page no="182"?> durch das Dazwischenfahren eines anderen Sargbewohners, den Dante an seiner Lage und seinen Worten sogleich erkennt: der Unterbrechende ist Cavalcante de’ Cavalcanti, Vater seines Jugendfreundes, des Dichters Guido Cavalcanti. Die nun zwischen Cavalcante und Dante sich abspielende Szene ist nur kurz (21 Zeilen); sobald sie durch das Zurücksinken Cavalcantes ihr Ende gefunden hat, setzt Farinata das unterbrochene Gespräch fort. Im engen Raum von etwa siebzig Versen vollzieht sich also ein dreimaliger Geschehenswechsel; es sind vier Auftritte, alle voll Wucht und Inhalt, die eng aneinanderstoßen; keiner von ihnen hat lediglich vorbereitenden Inhalt, nicht einmal der erste, das vergleichsweise ruhige Gespräch zwischen Dante und Vergil, das wir hier nicht mitabgedruckt haben; es wird darin zwar dem Leser und auch Dante der neue Schauplatz, der sich vor ihnen auftut, der des sechsten Höllenkreises, einführend vorgestellt, aber es enthält auch einen eigenen, für sich bestehenden psychologischen Vorgang zwischen den beiden Unterrednern. Zu der theoretischen Ruhe und seelischen Zartheit dieses Vorspiels steht in schärfstem Gegensatz der überaus dramatische zweite Auftritt, eingeleitet durch die plötzlich erklingende Stimme und das jähe Erscheinen des im Sarge hochaufgerichteten Körpers, durch Dantes Erschrecken und Vergils ermutigende Worte und Gesten. In ihm entwickelt sich, ebenso hoch und jäh wie sein Körper, die gleichsam überlebensgroß moralische Gestalt Farinatas, die Tod und Höllenqual nicht haben antasten können; er ist noch derselbe, als der er lebte. Es sind die toskanischen Laute aus Dantes Munde, die ihn bewogen haben, sich aufzurichten und mit stolzer, gemessener Höflichkeit den Vorübergehenden anzuhalten; als sich dieser ihm nähert, fragt er ihn zunächst nach seiner Herkunft, um sich zu vergewissern, mit wem er es zu tun hat, ob mit einem Mann von bedeutender Familie, ob mit Freund oder Feind; und als er hört, Dante sei der Sproß eines gelfischen Geschlechts, äußert er mit strenger Befriedigung, daß er diese ihm feindliche Partei zweimal aus der Stadt vertrieben habe; noch ist das Schicksal der Stadt Florenz und der ghibellinischen Partei sein einziger Gedanke. Dantes Antwort, das Vertreiben der Gelfen habe den Ghibellinen auf die Dauer nichts genützt, und es seien schließlich sie die Verbannten geblieben, wird unterbrochen durch das Emportauchen Cavalcantes, der Dantes Worte gehört und ihn erkannt hat; sein spähendes Haupt wird sichtbar, zu einem weit kleineren Körper gehörig als dem Farinatas; er sucht seinen Sohn in Dantes Begleitung, und als er ihn nicht erblickt, bricht er in angstvolle Fragen aus; aus denen sich ergibt, daß auch er noch den gleichen Charakter und die gleichen Leidenschaften besitzt wie einst 182 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="183"?> im Leben, freilich ganz andere als Farinata: Liebe zum irdischen Leben, Glaube an die freie Größe des menschlichen Geistes, und vor allem Liebe und Bewunderung für seinen Sohn Guido. Erregt, fast flehend, und damit sich scharf abhebend von der gewichtigen und selbstbeherrschten Größe Farinatas, stellt er seine drängenden Fragen, und als er (zu Unrecht) glaubt, aus Dantes Worten schließen zu müssen, sein Sohn sei nicht mehr am Leben, bricht er zusammen; worauf, ungerührt und ohne den Zwischenfall zu be‐ achten, Farinata auf Dantes letzte an ihn gerichtete Äußerung eine Antwort gibt, die sein Wesen vollkommen kennzeichnet: wenn, wie du sagst, es den verbannten Ghibellinen nicht gelungen ist, in die Stadt zurückzukehren, so ist dies für mich eine größere Qual als das Bett in dem ich liege. Es ist hier mehr zusammengedrängt als in irgendeiner der Stellen, die wir bisher in diesem Buche behandelt haben, und es ist nicht nur mehr, nicht nur gewichtiger und dramatischer auf so engem Raum, sondern es ist auch in sich viel mannigfaltiger; es handelt sich nicht um die Erzählung eines Vorgangs, sondern um drei verschiedene, deren zweiter, die Farinataszene, durch den dritten unterbrochen und in zwei Teile gespalten wird. Es besteht also keine Handlungseinheit im gewöhnlichen Sinne; es ist auch nicht wie in der in unserem ersten Kapitel besprochenen Homerszene, wo die Erwähnung der Narbe des Odysseus zu einer langen, ausführlichen, weit wegführenden Zwischenerzählung Anlaß gibt, sondern schnell hintereinan‐ der und abrupt wechselt der Gegenstand; die Worte Farinatas unterbrechen subitamente das Gespräch zwischen Vergil und Dante, das Allor surse des Verses 52 reißt ohne Verbindung den Farinata-Auftritt auseinander, und mit ma quell’altro magnanimo wird er ebenso unvermittelt wieder aufgenom‐ men. Die Einheit des Ganzen beruht auf dem Schauplatz, der physisch-mo‐ ralischen Landschaft des Höllenkreises der Ketzer und Ungläubigen; und das schnelle Wechseln in sich selbständiger, miteinander als einzelne Szenen unverbundener Vorgänge beruht auf der Gesamtstruktur der Komödie; sie zeigt die Wanderung eines Einzelnen mit seinem Führer durch eine Welt, deren Insassen an ihrem angewiesenen Orte verweilen. Trotz dieses schnel‐ len Wechsels der Auftritte kann jedoch von einer parataktischen Fügung des Sprachstiles nicht die Rede sein; in sich zeigt jede Szene großen Reichtum syntaktischer Verbindungsmittel, und wo die Szenen, wie hier, scharf und unverbunden gegeneinandergestellt sind, da werden für die Gegenüber‐ stellung mannigfaltige und kunstvolle Ausdrucksformen verwendet, die eher als Umschaltungen denn als Parataxen zu werten sind; die Auftritte werden nicht steif und auf gleicher Tonart nebeneinander aufgereiht - VIII Farinata und Cavalcante 183 <?page no="184"?> man denke an die lateinische Alexiuslegende (Seite 132f.) und selbst an das Rolandslied -, sondern in geformter Eigentümlichkeit des jeweiligen Tones heben sie sich aus der Tiefe und stehen zueinander im Gegenspiel. Um dies deutlicher erscheinen zu lassen, wollen wir die Stellen, an denen die Szene wechselt, etwas näher ins Auge fassen. Farinata unterbricht die im Gespräch Vorübergehenden mit den Worten: O Tosco, che per la città del foco vivo ten vai … Das ist ein Anruf, ein von o eingeleiteter Vokativ, gefolgt von einem im Verhältnis zum Anrufrecht schweren und inhaltsvollen Relativsatz, dem dann erst der gleichfalls durch gewichtige, reservierte Höflichkeit beladene Wunschsatz folgt; es heißt nicht: Tusker, bleib stehn; sondern: o Tusker, der du …, möge es dir gefallen, an diesem Orte zu verweilen. Die Wendung «o du der du», im Deutschen ein wenig komisch wegen der d-Alliteration, ist überaus feierlich und stammt aus dem hohen Stil des antiken Epos; Dante hat ihren Klang im Ohr wie ihm so vieles aus Vergil oder Lucan oder Statius im Ohr geblieben ist; ich glaube nicht, daß sie schon vor ihm in einer mittelalterlichen Vulgärsprache verwendet worden ist. Aber er verwendet sie auf seine Weise: überaus stark beschwörend, wie in der Antike höchstens als Gebetsform, und im Relativsatz so gedrängt im Inhalt, wie nur er es vermag; Farinatas Empfindung und Lage gegenüber dem Vorbeigehenden ist durch die drei Bestimmungen per la città del foco ten vai, vivo, cosi parlando onesto auf eine so dynamische Weise zusammengegriffen, daß der Meister Vergil, hätte er wirklich diese Worte gehört, wohl heftiger erschrocken wäre als Dante im Gedicht; seine an einen Vokativ geknüpften Relativsätze sind zwar vollkommen schön und harmonisch, aber längst nicht so scharf zusammengefaßt und packend (etwa Aeneis I,436: o fortunati quibus iam moenia surgunt! oder, noch interessanter durch die rhetorisch sich ausbrei‐ tende Fülle, II,638: vos o quibus integer aevi / sanguis, ait, solidaeque suo stant robore vires, / vos agitate fugam). Man wolle auch beachten, wie die Antithese «durch die Stadt des Feuers» und «lebend» ausschließlich, aber um so wirksamer, durch die Stellung des Wortes «vivo» zum Ausdruck kommt. Nach dieser dreizeiligen Anrede folgt die Terzine, in der sich Farinata als Landsmann zu erkennen gibt, und dann erst, als er aufgehört hat zu sprechen, der Satz: plötzlich stieg diese Stimme usw., ein Satz, den man sonst eher als Einleitung eines überraschenden Ereignisses erwarten würde, der aber hier, nach dem Vorhergegangenen, als vergleichsweise ruhig, als Erklärung des Geschehenden wirkt und von einem Rezitator mit schwächerer Stimme zu lesen wäre. Von einer gleichmäßig parataktischen Anreihung der Farinataszene an die Unterhaltung der beiden Wanderer 184 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="185"?> kann also nicht die Rede sein; einerseits ist sie, was man nicht vergessen darf, schon während der Unterhaltung von Vergil leise angekündigt worden (Vers 16-18), und andererseits ist sie ein so starkes, gewaltsames, übermächtiges Einbrechen eines anderen Bezirkes, im örtlichen, im moralischen, im psy‐ chologischen und im ästhetischen Sinne, daß sie zum Vorhergehenden nicht in der Verknüpfung des bloßen Nacheinander, sondern in der lebendigen Beziehung des Gegenspieles, des jähen Ausbruchs von etwas schon leise Geahntem steht; die Ereignisse sind nicht, wie wir bei Gelegenheit des Rolandsliedes und der Alexiuslegende sagten, in kleine Parzellen aufgeteilt, sondern leben, auch im Gegensatz und gerade durch ihn, miteinander. - Der zweite Szenenwechsel geschieht durch die Worte: Allor surse … des Verses 52; er erscheint einfacher und weniger bemerkenswert als der erste; denn was kann natürlicher sein als ein plötzlich eintretendes Ereignis mit den Worten: da geschah es … einzuführen? Aber wenn man sich die Frage stellt, wo eine ähnliche Sprachbewegung, die eine im Gang befindliche Handlung so scharf und dramatisch mit einem «da» unterbricht, in den mittelalterlichen Vulgärsprachen vor Dante anzutreffen wäre, so wird man wohl lange suchen müssen; ich weiß keine. Allora zu Beginn des Satzes findet sich zwar recht häufig im vordanteschen Italienisch, etwa in den Erzählungen des Novellino, aber in sehr viel schwächerer Bedeutung; so scharf greifende Einschnitte liegen nicht im Stil und nicht im Zeitbewußtsein des Erzählens vor Dante, auch nicht in dem der französischen Epik, wo sich in einem ähnlichen, aber weit schwächeren Sinne ez vos oder atant ez vos findet (etwa Roland 413 und öfter); wieviel umständlicher und steifer selbst ganz hochdramatische Wendungen des Geschehens dargestellt wurden, kann man etwa bei Villehardouin sehen, der das Eingreifen des uralten und blinden Dogen von Venedig beim Sturm auf Konstantinopel, als er seinen vor der Landung zögernden Leuten bei Todesstrafe befiehlt, ihn mit der Marcusfahne als ersten ans Land zu setzen, einleitet mit den Worten: or porrez oir estrange proece - gerade als wenn Dante statt des allora geschrieben hätte: da geschah etwas Wunderbares. Das ez vos des Altfranzösischen bringt uns auf die richtige Spur, wenn wir den lateinischen Ausdruck für dieses jäh unterbrechende, plötzliche «da …» suchen; es ist nämlich nicht tum oder tunc, eher schon in manchen Fällen sed oder iam; aber die eigentliche Entsprechung, die volle Kraft besitzt, ist ecce oder noch besser et ecce; es findet sich aber weniger im hohen Stil, als bei Plautus, in den Cicerobriefen, bei Apuleius und so fort, und vor allem in der Vulgata; wenn Abraham das Messer ergreift, um seinen Sohn Isaac zu opfern, da heißt VIII Farinata und Cavalcante 185 <?page no="186"?> es: et ecce Angelus Domini de caelo clamavit, dicens: Abraham, Abraham. Mir scheint es, daß diese scharf unterbrechende Sprachbewegung zu hart ist, um dem hohen Stil des klassischen Lateins zu entstammen; dem hohen Stil des Biblischen dagegen entspricht sie vollkommen; überdies verwendet Dante das biblische et ecce wörtlich bei einer anderen Gelegenheit, wo eine Lage plötzlich, wenn auch nicht ganz so dramatisch durch ein Ereignis unterbrochen wird (Purg. 21,7: ed ecco, sì come ne scrive Luca … ci apparve …, nach Lucas 24,13 et ecce duo ex illis …). Ich will dennoch nicht mit Sicherheit behaupten, daß Dante die sprachliche Bewegung des jäh unterbrechenden «da» in den hohen Stil einführte, und daß ihm diese Bewegung durch die Bibel ins Ohr drang; aber soviel dürfte doch deutlich sein, daß das dramatisch packende «da» zur Zeit als er schrieb keineswegs so selbstverständlich und jedermann zur Hand war wie heute; und daß er es radikaler verwandte als irgendwer sonst im Mittelalter vor ihm. Dabei ist auch noch Bedeutung und Klang des surse zu berücksichtigen, das Dante auch noch an einer anderen Stelle mit größter klanglicher Wirkung für ein plötzliches Sichhochrichten verwendet (Purg. 6,72/ 73 e l’ombra tutta in se romita / surse vêr lui …). Das allor surse des Verses 52 hat also kaum weniger Gewicht als die Worte Farinatas, die die erste Unterbrechung herbeiführen; dies allor gehört zu denjenigen parataktischen Formen, die die durch sie verbundenen Glieder zueinander in ein dynamisches Verhältnis setzen; das Gespräch mit Farinata wird unterbrochen, Cavalcante vermag nach den letzten Worten, die er gehört hat, sein Ende nicht abzuwarten, seine Selbstbeherrschung verläßt ihn; sein Auftreten mit den spähenden Gesten, den weinenden Worten und der voreiligen Verzweiflung im Zurücksinken bildet einen grellen Gegensatz zu dem ruhigen Gewicht Farinatas, der mit dem dritten Wechsel (V.-73ff.) wieder zu Worte kommt. Der dritte Wechsel, ma quell’altro magnanimo etc., ist weit weniger dramatisch als die ersten; er ist ruhig, stolz und gewichtig; Farinata allein beherrscht die Szene. Aber der Gegensatz zum Vorhergegangenen wird dadurch um so stärker; Dante nennt ihn magnanimo, mit einem aristotelischen Terminus, der ihm aus Thomas von Aquin oder noch wahrscheinlicher aus Brunetto Latini lebendig gewor‐ den sein mochte, und mit dem er an einer früheren Stelle Vergil bezeichnet; ohne Zweifel in bewußtem Gegensatz zu Cavalcante (costui); und die drei gleichgebauten Satzkola, die Farinatas Unbewegtheit ausdrücken (non mutò aspetto, nè mosse collo, nè piegò sua costa), sollen nicht nur Farinata für sich schildern, sondern seine Haltung in Gegensatz bringen zu der Cavalcantes; dies klingt auch für den Hörer aus den gleichmäßig gebauten Sätzen, da er 186 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="187"?> noch die ungleichmäßigen und klagend ansteigenden Fragen des anderen im Bewußtsein hat (für die Formung dieser Fragen, V. 58-60 und 67-69 hat Dante wohl das Auftreten Andromaches Aen. III,310, also die Klagen einer Frau, zum Vorbild gehabt). So abrupt die Vorgänge also einander ablösen, von einer parataktischen Stilfügung kann nicht die Rede sein; die lebendigste Bewegung schwingt ununterbrochen durch das Ganze; Dante verfügt über Stilmittel von einem Reichtum, wie sie keine europäische Vulgärsprache vor ihm kannte; und er verwendet sie nicht bloß einzeln, sondern setzt sie in ununterbrochenes Verhältnis miteinander. Die ermutigende Rede Vergils 31-33 enthält nur Hauptsätze, ohne jede äußere Verbindung durch Konjunktionen: einen kurzen Imperativ, eine kurze Frage, noch einen Imperativ mit Objekt und relativischer Erklärung und einen futurischen, dem Sinne nach auffordern‐ den Satz mit adverbialer Bestimmung. Aber die schnelle Aufeinanderfolge, die scharfe Fassung der einzelnen Teile und ihr Abgestimmtsein aufeinander schaffen den vollkommenen Schwung einer lebhaft gesprochenen Rede: Dreh dich doch um! was fällt dir ein und so fort. Daneben gibt es gedank‐ liche Gliederungen von subtilster Art; neben der gewöhnlichen kausalen (però) erscheint das zwischen temporalem Wert schwebende onde und das hypothetisch kausale, nach der Ansicht einiger alter Kommentatoren höflich abschwächende forse che; es gibt die verschiedensten temporalen, komparativen, abgestuft hypothetischen Verbindungen, unterstützt von der größten Elastizität im Einsatz der Verbformen und in der Verwendung der Wortstellung. Man beachte etwa, mit welcher Leichtigkeit Dante die Szene des Erscheinens Cavalcantes syntaktisch in der Hand behält, so daß sie in einem Zuge durch drei Terzinen bis zum Ende seiner ersten Rede (V. 60) läuft. Die Einheit des Gebildes beruht auf den drei Verbpfeilern surse, guardò, disse; auf den ersten stützen sich das Subjekt, die adverbialen Bestimmungen und auch noch die erklärende Klammer credo che; auf das guardò die beiden ersten Zeilen der zweiten Terzine mit dem «als ob»-Satz, während die dritte Zeile schon auf das disse und die direkte Rede Cavalcantes zustrebt, in welcher die ganze, stark beginnende, dann abschwellende und von Vers 57 an wieder ansteigende Bewegung gipfelt. Sollten sich Leser dieser Untersuchung finden, denen das mittelalterliche Schrifttum in den Vulgärsprachen weniger geläufig ist, so werden sie sich vielleicht wundern, daß ich hier Satzstrukturen hervorhebe und als etwas Außerordentliches rühme, die heut jeder einigermaßen begabte Schriftsteller, ja sogar viele Briefschreiber von einiger Sprachkultur mühelos verwenden. Aber wenn VIII Farinata und Cavalcante 187 <?page no="188"?> man von den Früheren ausgeht, so ist Dantes Sprache nahezu ein unbegreif‐ liches Wunder. Gegenüber all den Früheren, unter denen doch große Dichter waren, besitzt sein Ausdruck so unvergleichlich mehr Reichtum, Gegenwart, Kraft und Biegsamkeit, er kennt und verwendet so unvergleichlich mehr Formen, er faßt die verschiedensten Erscheinungen und Inhalte mit so unvergleichlich sichererem und festerem Griff, daß man zu der Überzeugung gelangt, dieser Mensch habe die Welt durch seine Sprache neu entdeckt. Sehr oft läßt sich nachweisen oder vermuten, woher er diese oder jene Ausdrucksform geschöpft hat; allein der Quellen sind so viele, er hört und verwendet sie auf eine so genaue, ursprüngliche und doch so eigentümliche Weise, daß solches Nachweisen oder Vermuten die Bewunderung für die Macht seines sprachlichen Genies nur noch erhöht. In einem Text wie dem unseren kann man überall hingreifen, man wird überall Erstaunliches, in den Vulgärliteraturen bis dahin Unvorstellbares finden. Nehmen wir etwas so Unscheinbares wie den Satz: da me stesso non vegno; kann man sich eine so kurze und vollständige Fassung eines solchen Gedankens, kann man sich überhaupt ein so scharfes Gedankengebilde und ein da in diesem Sinne in der Dichtung eines früheren vulgärsprachlichen Autors vorstellen? Dante verwendet da in diesem Sinne noch mehrfach (Purg. 1,52 da me non venni; ferner Purg. 19,143 buona da sè und Par. 2,58 ma dimmi quel che tu da te ne pensi). Die Bedeutung «aus eigener Kraft», «aus eigenem Antrieb», «von sich aus» dürfte sich aus der Bedeutung «von … her» entwickelt haben; Guido Cavalcanti schreibt in der Canzone Donna mi prega: (Amore) non è vertute ma da quella vene. Man kann natürlich nicht behaupten, daß Dante die neue Sinneswendung geschaffen hat, denn selbst wenn sich in den älteren Texten keine einzige Stelle dieser Art finden sollte, so könnte sie doch verloren sein, und selbst wenn ähnliches nie vor ihm geschrieben wurde, so könnte es doch in der Umgangssprache gelebt haben; und so ist es auch, wie eine karikierende Stelle bei Liutprand von Cremona zeigt. Aber sicher ist, daß Dante, als er diese kurze Wendung schuf oder aufnahm, ihr eine vorher nicht vorstellbare Schlagkraft und Tiefe verlieh; wozu an unserer Stelle der doppelte Gegensatz (einerseits zu per altezza d’ingegno, andererseits zu colui ch’attende là, beides rhetorische Umschreibungen, die eine hochmütig, die andere respektvoll den Namen vermeidend) bedeutend beiträgt. Das da me stesso stammt vielleicht aus der Umgangssprache, und auch sonst zeigt es sich, daß Dante umgangssprachliche Wendungen durchaus nicht verschmäht. Das Volgiti! che fai? , noch dazu in Vergils Munde, und 188 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="189"?> nach der feierlichen Formung von Farinatas Anruf, wirkt ganz stark als spontane, unstilisierte Rede, wie sie jeden Augenblick im Umgang der alltäglich Redenden auftritt; nicht viel anders ist es mit der harten und jeden umschreibenden Schmuckes baren Frage chi fur li maggior tui, oder mit Cavalcantes Come dicesti? egli ebbe? etc. Wenn man den Gesang weiter liest, so trifft man, gegen Ende, auf die Stelle, wo Vergil fragt: perchè sei tu si smarrito? V. 125). All diese Stellen wären, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang löst, in jeder gewöhnlichen Unterhaltung niederer Stillage denkbar. Daneben stehen Formungen von höchstem Pathos, auch sprachlich durchaus erhaben im antiken Sinne; die Stilabsicht im ganzen geht ohne Zweifel auf das Erhabene, man fühlt es auch dann, wenn man es nicht aus Dantes ausdrücklichen Äußerungen wüßte, unmittelbar aus jeder Zeile des Gedichtes, wäre sie auch noch so umgangssprachlich - die Schwere, gravitas, von Dantes Ton ist so unausgesetzt durchgehalten, daß man keinen Augenblick im Zweifel sein kann, in welcher Höhenlage des Stils man sich befindet. Ohne Zweifel auch sind es die antiken Dichter gewesen, die Dante das Vorbild des hohen Stils gaben, ihm als erstem; er sagt es an vielen Stellen selbst, in der Komödie und in der Schrift De vulgari eloquentia, wieviel er ihnen für den hohen Stil der Vulgärsprache verdankt; er sagt es sogar wohl auch an unserer Stelle, denn der vielumstrittene Vers, vielleicht habe Guido Cavalcanti Vergil verachtet, birgt unter vielen Bedeutungen auch diese; fast alle alten Kommentatoren haben ihn im ästhetischen Sinne verstanden. Aber zugleich ist es unleugbar, daß sich Dantes Begriff vom Erhabenen ganz wesentlich von dem seiner antiken Vorbilder unterscheidet, im Gegenständlichen nicht minder als in der sprachlichen Formung. Die Gegenstände, die die Komödie vorführt, sind in einer nach antikischem Maß ungeheuerlichen Weise aus Erhabenem und Niedrigem gemischt: es befinden sich unter ihnen Personen der kaum vergangenen, ja noch der zeitgenössischen Geschichte, dabei, trotz Par. 17,136-38, sehr beliebige und unberühmte; sie werden sehr häufig in ihrer vollen, niedrig-realistischen Lebenssphäre rückhaltlos dargestellt, und überhaupt kennt Dante, wie jeder Leser weiß, keine Schranken in der genauen und unumschriebenen Nachahmung des Alltäglichen, des Grotesken und des Widrigen; Dinge, die an sich durchaus nicht als erhaben im antikischen Sinne gelten können, werden es erst durch die Art, wie er sie einordnet und formt. Von der sprachlichen Mischung seines Stiles ist schon die Rede gewesen; man denke etwa noch an den Vers: «laß sie nur sich kratzen wo es sie juckt» an einer der feierlichsten Stellen des Paradiso (17,129), um sich des ganzen Abstandes VIII Farinata und Cavalcante 189 <?page no="190"?> etwa von Vergil bewußt zu werden. Vielen bedeutenden Kritikern, ja ganzen Zeitaltern klassizistischen Geschmackes ist es bei dieser allzu harten Ge‐ genwartsnähe im Erhabenen, bei Dantes «widerwärtiger, oft abscheulicher Großheit» (dies sind Worte Goethes aus den Annalen von 1821) nicht wohl gewesen, und das ist sehr verständlich. Denn nirgends wird das Widerei‐ nander der beiden Traditionen, der antik stiltrennenden und der christlich stilmischenden, so deutlich wie in diesem mächtigen Temperament, dem beide, auch die antike, der er zustrebt, ohne die andere aufgeben zu können, wieder bewußt werden; nirgends kommt die Stilmischung so nahe an den Stilbruch. Als Stilbruch empfanden die Gebildeten in der Spätantike auch die biblischen Schriften; genau so mußten die späteren Humanisten das Werk ihres größten Vorgängers empfinden, dessen, der zuerst wieder die antiken Dichter um ihrer Kunst willen las und ihren Ton in sich aufnahm, dessen, der als erster den Gedanken des Volgare illustre, der großen Dichtung in der Muttersprache faßte und verwirklichte; und zwar gerade, weil er dies alles tat. Den früheren stilmischenden Dichtungen des Mittelalters, dem christlichen Theater etwa, war die Stilmischung um seiner Naivität willen zu verzeihen; es schien keinen Anspruch auf hohe dichterische Würde zu erheben, es war durch seinen volkstümlichen Zweck und Charakter gerechtfertigt oder doch wenigstens entschuldigt; es trat gar nicht in den Bezirk dessen, was zu beachten und ernsthaft zu beurteilen war. Hier aber konnte von Naivität oder mangelndem Anspruch nicht die Rede sein: viele ausdrückliche Worte Dantes, all die Berufungen auf das vergilische Vorbild, die Anrufungen der Musen, Apolls, Gottes, das aus vielen Stellen hervorleuchtende, spannungsreiche und dramatische Verhältnis zu dem eigenen Werk, und mehr als das alles der Ton jeder einzelnen Zeile des Werkes selbst zeugen von dem höchsten Anspruch. Es ist nicht erstaunlich, daß die ungeheure Tatsache dieses Werkes vielen späteren Humanisten und humanistisch Erzogenen unerfreulich war. Dante selbst zeigt in seinen theoretischen Äußerungen eine gewisse Unsicherheit in der Frage der stilistischen Einordnung der Komödie. In der Schrift De vulgari eloquentia, in der es sich um Kanzonendichtung handelt, und auf die die Komödie noch keinen Schatten geworfen zu haben scheint, stellt Dante an den hohen und tragischen Stil ganz andere Anforderungen als die, die er später in der Komödie erfüllt: viel enger in bezug auf die Auswahl des Gegenstandes, viel puristischer und auf Stiltrennung angeleg‐ ter für die Form- und Wortwahl. Er stand damals unter dem Eindruck der übermäßig kunstvollen und nur für einen auserlesenen Kreis Eingeweihter 190 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="191"?> bestimmten Dichtung der späteren Provenzalen und des italienischen Neuen Stils, und er verband damit die antike Stiltrennungslehre, wie sie bei den mittelalterlichen Theoretikern der rhetorischen Kunst fortgeisterte. Ganz freigemacht hat er sich von diesen Anschauungen niemals; sonst hätte er sein großes Gedicht nicht Komödie genannt, in deutlichem Gegensatz zu der Bezeichnung von Vergils Aeneis als alta tragedia (lnf. 20,113); er scheint also für sein großes Gedicht nicht die Würde des hohen tragischen Stiles in Anspruch zu nehmen; und dazu kommt noch die Begründung, die er im zehnten Abschnitt des Briefes an Cangrande für den Namen Komödie gibt. Tragödie und Komödie unterscheiden sich, so sagt er dort, einmal durch den Gang der Handlung, der in der Tragödie von ruhigem und edlem Anfang zu schrecklichem Ende führe, in der Komödie umgekehrt von bitterem Anfang zu glücklichem Ende; sodann, und das ist für uns das Wichtigere, durch den Stil, den modus loquendi: elate et sublime tragedia; comedia vero remisse et humiliter; und darum müsse sein Gedicht Komödie genannt werden, ei‐ nerseits wegen des schlimmen Anfangs und glücklichen Endes, andererseits wegen des modus loquendi: remissus est modus et humilis, quia locutio vulgaris in qua et muliercule communicant. Man muß zunächst glauben, dies beziehe sich auf den Gebrauch der italienischen Sprache; dann wäre also der Stil einfach deshalb ein niederer, weil die Komödie italienisch geschrieben ist und nicht lateinisch; aber eine solche Äußerung wäre Dante, der die edle Würde der Vulgärsprache seit dem eloquentia-Buche verteidigt hat, der selbst in seinen Kanzonen den hohen Stil der Vulgärsprache begründete, und der zur Zeit des Briefes an Cangrande die Komödie bereits vollendet hatte, kaum zuzutrauen, und darum haben verschiedene moderne Forscher locutio nicht als Sprache, sondern als Ausdrucksweise verstanden, so daß also Dante habe sagen wollen, die Ausdrucksweise des Werkes sei nicht die des erhabenen Italienisch; des vulgare illustre, cardinale, aulicum et curiale, um seine eigenen Worte (De vulg el. 1,17) zu gebrauchen, sondern die der beliebig-alltäglichen Volkssprache. In jedem Fall aber nimmt er auch hier nicht hohen tragischen Stil für sein Werk in Anspruch, sondern höchstens einen mittleren, und auch dies bringt er nur undeutlich zum Ausdruck, indem er nämlich die Stelle aus Horazens Ars poetica (93 ff.) zitiert, in der gesagt wird, daß die Komödie zuweilen auch tragische Töne verwendet und umgekehrt. Im ganzen erklärt er sein Werk für niederen Stiles; nachdem er kurz zuvor von seiner Vielsinnigkeit gesprochen hat - was doch gar nicht zum niederen Stil paßt -, und obwohl er den Teil, den er gleichzeitig mit dem Brief Cangrande widmet, das Paradies, mehrfach als cantica sublimis, und VIII Farinata und Cavalcante 191 <?page no="192"?> seine materia als admirabilis bezeichnet. In der Komödie selbst besteht die Unsicherheit fort, doch hier überwiegt das Bewußtsein, daß Gegenstand und Form höchste dichterische Würde beanspruchen dürfen. Wir haben schon oben alles aufgezählt, was für sein volles Bewußtsein ihres stilistischen We‐ sens und Ranges spricht. Aber obwohl er Vergil zum Führer wählt, obwohl er Apoll und die Musen anruft, so vermeidet er doch jede Bezeichnung seines Gedichts als eines im antiken Sinne erhabenen; um seine eigentümliche Erhabenheit auszudrücken, formt er ein besonderes Wort: il poema sacro, al quale ha posto mano e cielo e terra (Par. 25,2/ 3). Es fällt schwer zu glauben, daß er, nachdem er dieses Wort gefunden und die Komödie vollendet hatte, sich noch so schulmäßig über ihr Wesen geäußert haben soll wie an der eben besprochenen Stelle des Briefes an Cangrande, an dessen Echtheit man ja vielfach gezweifelt hat; allein das Ansehen der damals noch durch pedantische Systematisierung verdunkelten antiken Überlieferung und die Neigung zu festen, für unser Urteil absurd theoretischen Einstellungen, wa‐ ren so groß, daß es gleichwohl wahrscheinlich ist. Die zeitgenössischen oder vielmehr unmittelbar nachfolgenden Kommentatoren haben sich ebenfalls in rein schulmäßigem Sinne zu der Stilfrage geäußert, wobei es freilich einige Ausnahmen gibt; Boccaccio zum Beispiel, dessen geistvolle und von schon echter, humanistischer Kenntnis der Antike zeugende Ausführungen doch nicht befriedigen, da sie dem Problem aus dem Wege gehen; und vor allem der äußerst lebendige Benvenuto da Imola, der, nachdem er die klassische Dreiteilung der Stile erklärt hat (den hohen tragischen, den mittleren polemisch-satirischen, den niederen komischen), folgendermaßen fortfährt: Modo est hic attente notandum quod sicut in isto libro est omnis pars philosophiae («jede Art von Philosophie»), ut dictum est, ita est omnis pars poetriae. Unde si quis velit subtiliter investigare, hic est tragoedia, satyra et comoedia. Tragoedia quidem, quia describit gesta pontificum, principum, regum, baronum, et aliorum magnatum et nobilium, sicut patet in toto libro. Satyra, it est reprehensoria; reprehendit enim mirabiliter et audacter omnia genera viciorum, nec parcit dignitati, potestati vel nobilitati alicuius. Ideo convenientius posset intitulari satyra (vielleicht schwingt hier der Gedanke an das Sirventes mit) quam tragoedia vel comoedia. Potest etiam dici quod sit comoedia, nam secundum Isidorum comoedia incipit a tristibus et terminatur ad laeta. Et ita liber iste incipit a tristi materia, scilicet ab Inferno, et terminatur ad laetam, scilicet ad Paradisum, sive ad divinam essentiam. Sed dices forsan, lector: cur vis mihi baptizare librum de novo, 192 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="193"?> cum autor nominaverit ipsum Comoediam? Dico quod autor voluit vocare librum Cornoediam a stylo infimo et vulgari, quia de rei veritate est humilis respectu litteralis (sic), quamvis in genere suo sit sublimis et excellens … (Benvenuti de Rambaldis de Imola Comentum super D. A. Comoediam … curante Jacobo Philippo Lacaita. Tomus Primus, Florentiae 1887, p.-19). Benvenutos Temperament bahnt sich einen geraden Weg durch das Dickicht der Schultheorie: dies Buch enthält jede Art von Dichtung, so wie es jede Art von Wissen enthält; sein Autor hat es Komödie genannt, weil sein Stil ein niederer und volkssprachlicher ist; aber es gehört dennoch, auf seine besondere Weise, zur erhabenen Dichtungsart. Schon durch die Fülle der behandelten Gegenstände stellt sich das Pro‐ blem des hohen Stils für die Komödie auf eine ganz neue Art. Für die Provenzalen und die Dichter des Neuen Stils war die hohe Minne das einzige große Thema; wenn Dante im Eloquentia-Buche deren drei aufzählt (salus, venus, virtus, das heißt Waffentaten, Liebe und Tugend), so sind doch die beiden anderen in fast allen großen Kanzonen dem der Liebe untergeordnet oder in eine Liebesallegorie eingekleidet. Noch in der Komödie ist dieser Rahmen durch die Gestalt und Wirksamkeit Beatricens gewahrt; allein der Rahmen umspannt ein ungeheures Gebiet. Die Komödie ist, unter anderem, ein enzyklopädisches Lehrgedicht, in dem die physikalisch-kosmologische, die ethische und die geschichtlich-politische Weltordnung insgesamt vor‐ gestellt wird; sie ist ferner ein wirklichkeitsnachahmendes Kunstwerk, in der alle denkbaren Bezirke des Wirklichen auftreten: Vergangenheit und Gegenwart, erhabene Größe und verächtliche Gemeinheit, Geschichte und Sage, Tragik und Komik, Mensch und Landschaft; sie ist schließlich die Ent‐ wicklungs- und Heilsgeschichte eines einzelnen Menschen, Dantes, und als solche eine Figuration der Heilsgeschichte der Menschheit überhaupt. In ihr erscheinen Gestalten der antiken Mythologie, zuweilen, aber nicht immer, phantastisch dämonisiert; allegorische Personifikationen und symbolische Tiere spätantiker und mittelalterlicher Herkunft; Engel, Heilige und Selige als Träger einer Bedeutung, aus der Welt des Christentums; es erscheinen Apollo, Lucifer und Christus, Fortuna und die Frau Armut, Medusa als Emblem der tieferen Höllenkreise und Cato von Utica als Wächter des Purgatorio. Doch nichts von all dem ist im Rahmen einer Bemühung um hohen Stil so neu und so problematisch wie der unmittelbare Griff auf die gegenwärtige, nicht nach ästhetischen Maßstäben ausgewählte und vorgeordnete Wirklichkeit des Lebens, und durch ihn entstehen ja auch all VIII Farinata und Cavalcante 193 <?page no="194"?> die unmittelbaren, im hohen Stil ungewohnten sprachlichen Formen, an deren Härte der klassizistische Geschmack Anstoß nahm. Und all dieser Realismus bewegt sich nicht innerhalb einer einzigen Handlung, sondern eine Fülle von Handlungen, in verschiedenster Höhenlage des Tones, lösen einander ab. Dennoch ist die Einheit des Gedichts überzeugend. Sie beruht auf dem Gesamtgegenstand, dem status animarum post mortem; dieser muß, als Gottes endgültiges Urteil, eine vollendet geordnete Einheit sein, sowohl als theoretisches System wie als praktische Wirklichkeit und also auch als ästhetisches Gebilde; er muß die Einheit der göttlichen Ordnung sogar in einer reineren und aktuelleren Form darstellen als die irdische Welt oder etwas in ihr Stattfindendes, da das Jenseits, wenn auch bis zum Jüngsten Gericht noch unvollendet, doch längst nicht in dem Maße wie die irdische Welt Entwicklung, Potenz und Vorläufigkeit zeigt, sondern den erfüllten Akt des göttlichen Planes. Die einheitliche Ordnung des Jenseits, so wie Dante sie uns vorstellt, ist am unmittelbarsten greifbar als moralisches System, in der Verteilung der Seelen auf die drei Reiche und ihre Unterabteilungen: das System folgt im ganzen der aristotelisch-thomistischen Ethik; es verteilt die Sünder im Inferno zunächst nach dem Maß ihres bösen Willens, und innerhalb dieser Einteilung nach der Schwere ihrer Taten; die Büßenden des Purgatorio, nach den bösen Trieben, von denen sie sich reinigen müssen; und die Seligen des Paradiso nach dem Maß der Gottesschau, dessen sie teilhaftig sind. In dies moralische System sind jedoch andere, physikalisch-kosmologische und historisch-politische Ordnungssysteme hi‐ neingewebt. Die Lage von Hölle, Läuterungsberg und Himmelsgewölben gibt mit dem moralischen zugleich ein physikalisches Weltbild; die See‐ lenlehre, die der moralischen Ordnung zugrunde liegt, ist zugleich auch eine physiologische und psychologische Anthropologie, und noch auf viele andere Weise ist die moralische Ordnung grundsätzlich mit der physischen verbunden. Ebenso steht es mit der historisch-politischen Ordnung; die Gemeinschaft der Seligen in der weißen Rose des Empireo ist zugleich auch das Ziel der Heilsgeschichte, nach welchem sich alle historisch-politischen Theorien ausrichten, und nach dem alle historisch-politischen Ereignisse zu beurteilen sind; dies kommt während des Gedichtes ständig zum Ausdruck, zuweilen ganz ausführlich (etwa in den symbolischen Vorgängen auf dem Gipfel des Purgatorio, im irdischen Paradies); so daß, jederzeit gegenwärtig und jederzeit nachweisbar, die drei Systeme der Ordnung, das moralische, 194 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="195"?> das physische und das historisch-politische, als ein einziges Gebilde erschei‐ nen. Um nun praktisch zu erfassen, wie sich die Einheit der jenseitigen Ordnung als Einheit des hohen Stils auswirkt, kehren wir zu unserem Text zurück. Farinatas und Cavalcantes irdisches Leben ist zu Ende; der Wechsel ihres Geschickes hat aufgehört; sie befinden sich in einem end‐ gültigen und wechsellosen Zustand, in welchem nur noch eine einzige Veränderung stattfinden wird, nämlich die Rückgewinnung ihrer Leiber bei der Wiederauferstehung des Jüngsten Gerichts. So wie sie hier angetroffen werden, sind sie also vom Leibe getrennte Seelen, denen Dante jedoch eine Art Schattenleib gibt, so daß sie erkennbar erscheinen, sich ausdrücken und leiden können (dazu Purg. 3,31ff.). Zum irdischen Leben stehen sie nur noch in dem Verhältnis der Erinnerung; darüber hinaus haben sie, wie Dante gerade in unserem Gesang auseinandersetzt, gewisse über das irdische Maß hinausreichende Kenntnisse von Vergangenheit und Zukunft; sie sehen. wie Weitsichtige, die auf Erden geschehenden, in etwas entfernter Vergangenheit oder Zukunft liegenden Ereignisse mit Deutlichkeit, können also die Zukunft voraussagen, während sie für die irdische Gegenwart blind sind; das ist der Grund von Dantes Stutzen bei Cavalcantes Frage, ob sein Sohn noch lebt; er wundert sich über Cavalcantes Unkenntnis, um so mehr, als ihm schon vorher andere Seelen Zukünftiges prophezeit haben. Ihr eigenes irdisches Leben besitzen sie also in der Erinnerung vollständig, obgleich es aufgehört hat; und obgleich sie sich in einer Lage befinden, die nicht nur praktisch (sie liegen in brennenden Särgen), sondern auch grundsätzlich, durch ihre ortzeitliche Wechsellosigkeit, von jeder denkbaren irdischen Lage verschieden ist, wirken sie nicht tot, was sie doch sind, sondern lebendig. Hier kommen wir auf das Erstaunliche, ja Paradoxe dessen, was man den Realismus Dantes nennt. Nachahmung der Wirklichkeit ist Nachahmung der sinnlichen Erfahrung des irdischen Lebens, zu dessen wesentlichsten Merkmalen doch seine Geschichtlichkeit, sein Sich-Verändern und Sich-Entwickeln zu gehören scheint; mag man dem nachahmenden Dichter noch so viel Freiheit in der Gestaltung einräumen, diese Eigenschaft, die ihr Wesen selbst ist, darf er der Wirklichkeit nicht nehmen. Dantes Bewohner der drei Reiche aber befinden sich in einem wechsellosen Dasein (dies Wort braucht Hegel auf einer der schönsten Seiten, die je über Dante geschrieben wurden, in den Vorlesungen über die Ästhetik), und dennoch senkt Dante «die lebendige Welt menschlichen Handelns und Leidens, und näher der individuellen Taten und Schicksale in VIII Farinata und Cavalcante 195 <?page no="196"?> dies wechsellose Dasein hinein». Wir fragen uns, an Hand unseres Textes, wie dies zustande kommt. Das Dasein der beiden Sargbewohner und der Schauplatz, an dem es seinen Ort hat, sind zwar endgültig und ewig, aber sie sind nicht geschichtslos. In die Hölle sind Aeneas und Paulus, und auch Christus hinabgestiegen; in ihr gehen Vergil und Dante; in ihr sind Landschaften, und in den Landschaften bewegen sich höllische Geister; Vorgänge, Geschehnisse, sogar Verwandlungen vollziehen sich vor unseren Augen. Die Seelen der Verdammten, in ihrem Schattenleib, haben an ihrem ewigen Ort Erscheinung, Freiheit zu Wort und Geste, zu einiger Bewegung, und somit, innerhalb der Wechsellosigkeit, Freiheit zu einigem Wechsel; wir haben die irdische Welt verlassen, wir sind an einem ewigen Ort, und dennoch treffen wir an ihm konkrete Erscheinung und konkretes Geschehen. Dies ist verschieden von dem, was auf Erden erscheint und geschieht, und doch steht es augenscheinlich damit in notwendiger und fest bestimmter Beziehung. Die Wirklichkeit der Erscheinungen Farinatas und Cavalcantes wird wahrgenommen in der Lage, in der sie sich befinden, und in ihren Äußerungen. In ihrer Lage als Bewohner der brennenden Särge drückt sich das Urteil aus, das Gott über die ganze Kategorie von Sündern, zu der sie gehören, über die Ketzer und Ungläubigen gefällt hat; in ihren Äußerungen aber erscheint ihr persönliches Wesen in voller Kraft. Das ist gerade für Farinata und Cavalcante besonders deutlich, da sie Sünder der gleichen Kategorie sind und sich in der gleichen Lage befinden; sie sind, als Individuen verschiedenen Charakters, verschiedenen Schicksals im einstigen Leben, und verschiedener Neigungen auf das energischste gegeneinander abgesetzt. Ihr ewiges, wechselloses Schicksal ist das gleiche; doch nur in dem Sinne, daß sie die gleiche Strafe zu erleiden haben, nur im objektiven Sinne; denn sie nehmen sie ganz verschieden auf; Farinata schenkt seiner Lage nicht die mindeste Aufmerksamkeit, Cavalcante klagt in dem blinden Kerker um das schöne Licht; und beide zeigen in voller Ausbildung, durch Gesten und Worte, ein jedem von ihnen eigentümliches Wesen, das kein anderes sein kann und auch kein anderes ist als das, welches sie einst in ihrem irdischen Leben besaßen. Mehr als das: dadurch, daß das irdische Leben angehalten ist, so daß an ihm nichts mehr sich entwickeln und ändern läßt, während die Leidenschaften und Neigungen, die es bewegten, doch fortdauern, ohne sich handelnd zu entladen, entsteht gleichsam eine ungeheure Aufspeicherung derselben; eine sehr gesteigerte, für die Ewigkeit in ungeheuren Maßen festgelegte Gestalt des jeweils eigenen Wesens wird sichtbar, wie sie in dieser Reinheit und Ausprägung 196 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="197"?> in keinem Augenblick des einstigen irdischen Lebens anzutreffen gewesen wäre. Es ist kein Zweifel, daß auch dies zu dem Urteil gehört, das Gott über sie gefällt hat; er hat die Seelen nicht nur nach Kategorien geordnet und sie danach auf die Bezirke der drei Reiche verteilt, sondern er hat jeder von ihnen eine besondere ewige Lage zugedacht, indem er die jeweilige individuelle Form nicht zerstörte, sondern im Gegenteil sie im ewigen Urteil festlegte, ja sie erst durch dieses völlig vollendete und den Blick auf sie freigab. Farinata ist mitten in der Hölle größer, mächtiger und edler als je, denn nie in seinem irdischen Leben hatte er solche Gelegenheit, die Kraft seines Herzens zu erweisen; und wenn seine Gedanken und Wünsche noch unverändert um Florenz und die Ghibellinen, um die Verdienste und Fehler seiner einstigen Wirksamkeit kreisen, so gehört diese Fortdauer seines irdischen Wesens in ihrer Größe und ihrer hoffnungslosen Vergeblichkeit ohne Zweifel zu dem Urteil, welches Gott über ihn verhängt hat. Dieselbe hoffnungslose Vergeblichkeit in der Fortdauer des irdischen Wesens zeigt Cavalcante; wohl niemals während seines Lebens hat er seinen Glauben an den Geist des Menschen, seine Liebe zum süßen Licht und zu seinem Sohn Guido so stark empfunden und so packend zum Ausdruck gebracht wie jetzt, wo dies alles umsonst ist. Es ist dabei auch daran zu denken, daß für die Seelen der toten Dantes Wanderung für alle Ewigkeit die einzige und letzte Gelegenheit ist, zu einem Lebenden zu sprechen; ein Umstand, der viele zu intensivstem Ausdruck treibt, und der in die Wechsellosigkeit ihres ewigen Geschickes einen Augenblick dramatischer Geschichtlichkeit einführt. Zu der besonderen Lage der Höllenbewohner gehört schließlich auch noch der auf besondere Art eingeschränkte und erweiterte Bezirk ihres Wissens; sie haben die Anschauung Gottes, die allen Wesen auf Erden, im Purgatorio und im Paradiese in verschiedener Gradabstufung zuteil geworden ist, verloren, und damit jede Hoffnung; sie kennen Vergangenheit und Zukunft des irdischen Verlaufs, und damit die Vergeblichkeit ihrer ihnen ohne Ausmündung in die göttliche Gemeinschaft erhaltenen persönlichen Form; und sie haben leidenschaftliches Interesse an dem gegenwärtigen Stand der Dinge auf Erden, der ihnen verborgen ist. (Sehr eindrucksvoll in dieser Hinsicht ist neben Cavalcante und manchen anderen der mühsam durch die Flammenspitze seines Hauptes redende Guido da Montefeltro im 27. Gesange, dessen lange, flehende, mit Erinnerung und Klage durchtränkte Beschwörung, Vergil möge einhalten und ihm Rede stehen, gipfelt in den Worten des Verses 28: dimmi se i Romagnuoli han pace o guerra! ) VIII Farinata und Cavalcante 197 <?page no="198"?> Dante hat also die irdische Geschichtlichkeit in sein Jenseits mit hinü‐ bergenommen; seine Toten sind zwar der irdischen Gegenwart und ihrem Wechsel entzogen, aber Erinnerung und intensivste Teilnahme daran be‐ wegt sie noch so sehr, daß die jenseitige Landschaft ganz erfüllt davon ist; es ist dies nicht ganz so stark auf dem Läuterungsberg und im Paradies, weil dort der Blick nicht wie in der Hölle nur rückwärts auf das irdische Leben gerichtet ist, sondern vorwärts und aufwärts, so daß er, je höher wir steigen, desto deutlicher die irdische Existenz zusammensieht mit ihrem göttlichen Ziel; aber erhalten ist die irdische Existenz stets, denn überall ist sie die Grundlage des göttlichen Urteils und damit der ewigen Lage, in der die Seele sich befindet; und überall ist diese Lage nicht nur ein Eingeordnetsein in eine bestimmte Gruppe von Büßenden oder Seligen, sondern eine bewußte Ausprägung des einstmals irdischen Wesens und des besonderen Ortes, der ihm im göttlichen Ordnungsplan zukommt; eben in der vollkommenen Aktualisierung des einstmals irdischen Charakters an seinem ihm endgültig zukommenden Ort besteht das göttliche Urteil. Und überall haben die Seelen der Toten Freiheit genug, ihr jeweils eigenes und besonderes Wesen kundzugeben; manchmal freilich nur mit Mühe, denn manchmal erschwert ihnen ihre Strafe oder ihre Buße oder selbst der Lichtglanz ihrer Seligkeit das Erscheinen und die Äußerung; aber um so wirksamer bricht diese gleichwohl, das Hindernis überwindend, hervor. Diese Gedanken finden sich auf der Seite Hegels, die ich oben erwähnte, und ich habe sie zur Grundlage einer Untersuchung über Dantes Realis‐ mus gemacht, die ich vor 15 Jahren veröffentlichte (Dante als Dichter der irdischen Welt, 1929). Ich habe mich inzwischen gefragt, auf welcher Anschauung von der Struktur des Geschehens, auf welcher Geschichtsan‐ schauung also, dieser in die wechsellose Ewigkeit projizierte Realismus Dantes beruht; ich habe dabei zugleich etwas Schärferes über die Grundlage von Dantes hohem Stil zu erfahren gehofft, denn sein hoher Stil besteht ja gerade in der Einordnung des charakteristisch Individuellen, zuweilen Grausigen, Häßlichen, Grotesken und Alltäglichen, in die jede irdische Erhabenheit übersteigende Würde des göttlichen Urteils. Augenscheinlich ist seine Auffassung vom Geschehen nicht identisch mit der in der heutigen Welt allgemein verbreiteten; und zwar sieht er es nicht lediglich als irdische Entwicklung, als System von Vorgängen auf Erden, sondern in ständigem Zusammenhang mit einem göttlichen Geschehensplan, auf dessen Ziel das irdische Geschehen ständig sich hinbewegt. Dies ist nicht nur so zu verstehen, daß die menschliche Gesellschaft im ganzen in fortschreitender 198 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="199"?> Bewegung sich dem Weltende und der Vollendung des Gottesreiches nähert, wobei also alles Geschehen horizontal in die Zukunft ausgerichtet wäre, sondern auch im Sinne einer jederzeitlichen, von aller fortschreitenden Bewegung unabhängigen Verbindung eines jeden irdischen Ereignisses und einer jeden irdischen Erscheinung mit dem göttlichen Plan; es ist also jede irdische Erscheinung, durch eine Fülle vertikaler Verbindungen, unmittelbar auf den Heilsplan der Vorsehung bezogen. Denn die gesamte Schöpfung ist eine ständige Vervielfältigung und Ausstrahlung der göttlichen Liebes‐ bewegung (non è se non splendor di quella idea che partorisce amando il nostro Sire, Par. 13,53/ 4), und diese Liebesbewegung ist zeitlos und wirkt in allen Erscheinungen jederzeitlich. Das Ziel der Heilsgeschichte, die weiße Rose im Empyreum, die Gemeinschaft der Auserwählten in dem nicht mehr verschleierten Anblick Gottes, ist nicht nur eine sichere Hoffnung für die Zukunft, sondern sie ist von jeher schon in Gott vollendet und für die Menschen vorfiguriert so wie Christus in Adam; ohne Zeit oder jederzeit geschieht im Paradies der Triumph Christi und die Krönung Mariae, und jederzeit geht die Seele, deren Liebe nicht auf ein falsches Ziel gelenkt ist, zu ihrem Geliebten, Christus, der sich ihr durch sein Blut verlobte. Es finden sich in der Komödie mehrere irdische Erscheinungen, deren Bezug auf den göttlichen Heilsplan auch theoretisch genau ausgeführt ist; darunter ist die politisch-historisch wichtigste und zugleich die in diesem Zusammenhang für einen modernen Betrachter erstaunlichste, die römi‐ sche Weltmonarchie; sie ist, nach Dantes Auffassung, die konkret-irdische Vorankündigung des Gottesreiches. Schon Aeneas’ Unterweltsfahrt wird verstattet im Hinblick auf Roms weltlichen und geistlichen Sieg (lnf. 2,13ff.); Rom ist von Anbeginn zur Weltherrschaft bestimmt; Christus erscheint, wenn die Zeit erfüllt ist, wenn nämlich die bewohnte Welt in Frieden in Augustus’ Händen liegt; Brutus und Cassius, die Cäsarmörder, büßen neben Judas im Rachen Lucifers; der dritte Cäsar Tiberius ist als legitimer Richter des Menschen Christus der ausführende Rächer der Ursünde; Titus ist der legitime Vollstrecker der Rache an den Juden; der römische Adler ist der Vogel Gottes, und das Paradies wird einmal genannt quella Roma onde Cristo è Romano (vgl. Par. 6; Purg. 21,82ff.; Inf. 34,61ff.; Purg. 32,102; usw., auch viele Stellen der Monarchia); und überdies ist Vergils Rolle im Gedicht nur aus dieser Voraussetzung zu verstehen. Das erinnert an die Figur vom irdischen und vom himmlischen Jerusalem, und ist überhaupt ganz figural gedacht; so wie in der jüdisch-christlichen, von Paulus und den Kirchenvätern gegenüber dem Alten Testament konsequent durchgeführten VIII Farinata und Cavalcante 199 <?page no="200"?> Interpretationsmethode Adam eine Figur Christi, Eva eine Figur der Kirche ist, so wie überhaupt eine jede Erscheinung und ein jedes Ereignis des Alten Testaments aufgefaßt wird als eine Figur, die durch die Erscheinungen und Ereignisse der Inkarnation Christi erst voll verwirklicht, oder wie der gebräuchliche Ausdruck lautet, erfüllt wird, so erscheint hier das römische Weltkaisertum als irdische Figur der himmlischen Erfüllung im Reich Gottes. In meinem schon früher (Seite 81) erwähnten Aufsatz über Figura habe ich nun, wie ich hoffe, überzeugend nachgewiesen, daß die Komödie überhaupt auf figurale Anschauung sich gründet; ich habe an drei ihrer bedeutendsten Gestalten, an Cato von Utica, Vergil und Beatrice zu zeigen versucht, daß ihre Erscheinung im Jenseits eine Erfüllung ihrer irdischen Erscheinung, diese dagegen eine Figur der jenseitigen ist; und ich habe hervorgehoben, daß die figurale Struktur ihren beiden Polen, der Figur wie der Erfüllung, den konkreten, geschichtlichen Wirklichkeitscharakter beläßt, ungleich darin den symbolischen oder allegorischen Formen; so daß sich Figur und Erfüllung zwar gegenseitig «bedeuten», daß aber ihr Bedeutungsge‐ halt keineswegs ihre Wirklichkeit ausschließt; ein figürlich zu deutendes Ereignis bewahrt seinen wörtlichen, historischen Sinn, es wird nicht zum bloßen Zeichen, es bleibt Ereignis; schon die Kirchenväter, besonders Ter‐ tullian, Hieronymus und Augustin, haben den figuralen Realismus, das heißt die grundsätzliche Aufrechterhaltung des geschichtlichen Wirklich‐ keitscharakters der Figuren, gegen spiritualistisch-allegorische Strömungen siegreich verteidigt. Solche Strömungen, die den Wirklichkeitscharakter des Geschehens gleichsam aushöhlen und in ihm nur noch außergeschichtliches Zeichen und Bedeutung sehen, sind aus der Spätantike auch ins Mittelalter hinübergeflossen; der mittelalterliche Symbolismus und Allegorismus ist, wie man weiß, zuweilen überaus abstrakt, und auch in der Komödie finden sich viele Spuren davon. Aber das weitaus Überwiegende im christlichen Leben des hohen Mittelalters ist der figurale Realismus, den man in den Predigten, den Hymnen, in der bildenden Kunst und im Mysterienspiel (vgl. das vorhergehende Kapitel) in voller Blüte antrifft; und er ist es auch, der Dantes Anschauung beherrscht. Das Jenseits ist, wie wir oben einmal sagten, der erfüllte Akt des göttlichen Planes; im Verhältnis zu ihm sind die irdischen Erscheinungen im ganzen figural, potentiell und erfüllungsbedürftig; dies gilt auch von den einzelnen Seelen der Toten; erst hier, im Jenseits, gewinnen sie die Erfüllung, die wahre Wirklichkeit ihrer Gestalt; ihr Auftreten auf Erden war nur die Figur dieser Erfüllung; und in der Erfüllung selbst finden sie Strafe, Buße oder Lohn. Die Vorstellung der Vorläufigkeit und jenseitigen 200 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="201"?> Ergänzungsbedürftigkeit der menschlichen Gestalt auf Erden entspricht auch der thomistischen Anthropologie, wenn es vollkommen zutrifft, was E. Gilson einmal von dieser schreibt; une sorte de marge nous tient quelque peu en deçà de notre propre définition; aucun de nous ne réalise plénièrement l’essence humaine ni même la notion complète de sa propre individualité (Le thomisme, 3ᵉ ed., Paris 1927, p. 300). Gerade dieses: la notion complète de leur propre individualité gewinnen die Seelen in Dantes Jenseits durch das göttliche Urteil, und zwar, was sowohl der Figuralanschauung wie dem aristotelisch-thomischen Formbegriff entspricht, als aktuale Wirklichkeit. Das Verhältnis der erfüllten Figur, in welchem die Toten Dantes zu der eigenen irdischen Vergangenheit stehen, läßt sich in denjenigen Fällen am leichtesten nachweisen, in welchen sich nicht nur Charakter und Wesen, sondern auch eine schon in der irdischen Figur erkennbare Bedeutung erfüllt: so etwa im Falle Catos von Utica, der seine Rolle als Hüter der irdisch-politischen Freiheit, die nur figural war, am Fuße des Purgatorio als Hüter der ewigen Freiheit der Auserwählten erfüllt (Purg. 1,71ff.: libertà va cercando, dazu Archiv. Roman. XXII, 478-81); hier löst die Figuraldeutung das Rätsel von Catos Auftreten an einem Platz, wo man erstaunt ist, einen Heiden zu finden. Solch ein Nachweis läßt sich nur selten liefern; allein es läßt sich aus den Fällen, in denen er erbracht werden kann, die grundsätzliche Vorstellung Dantes vom Individuum im Diesseits und im Jenseits erkennen. Charakter und Funktion des Menschen haben ihren bestimmten Ort im göttlichen Ordnungsgedanken, wie er auf Erden figuriert und im Jenseits erfüllt wird. Figur und Erfüllung haben beide, wie wir sagten, das Wesen von wirk‐ lich-geschichtlichen Erscheinungen und Ereignissen; die Erfüllung hat es in noch höherem und intensiverem Grade, denn sie ist gegenüber der Figur forma perfectior. Hieraus erklärt sich die überwältigende Realistik des Danteschen Jenseits. Wenn wir sagen: «hieraus erklärt sich», so vergessen wir natürlich nicht das Genie des Dichters, das solche Gestaltungen hervor‐ zubringen vermochte; um es mit den Worten der alten Kommentatoren zu sagen, die (nach Boethius) zwischen causa efficiens, materialis, formalis und finalis des Gedichts unterschieden: causa efficiens in hoc opere, velut in domo facienda aedificator, est Dantes Allegherii de Florentia, gloriosus theologus, philosophus et poeta (Pietro Alighieri, ähnlich auch Jacopo della Lana); aber die besondere Art, in der sein realistisches Genie Gestalt gewann, erklären wir aus der figuralen Anschauung; sie gestattet es zu verstehen, daß das Jenseits ewig ist und doch Erscheinung, wechsellos-jederzeitlich VIII Farinata und Cavalcante 201 <?page no="202"?> und doch erfüllt von Geschichte. Sie gestattet auch, sich zu verdeutlichen, wie diese Jenseitsrealistik sich von jeder rein irdischen unterscheidet. Im Jenseits ist der Mensch nicht mehr in irgendeiner irdischen Handlung oder Verstrickung befangen, wie in jeder rein irdischen Nachahmung menschli‐ cher Geschehnisse; befangen ist er vielmehr in einer ewigen Lage, die die Summe und Resultante aller seiner Handlungen ist, und die ihm zugleich offenbart, was das Entscheidende in seinem Leben und Wesen war; wodurch seine Erinnerung auf einen zwar für die Höllenbewohner unerfreulichen und fruchtlosen, aber überall auf den richtigen, das Entscheidende seines Lebens enthüllenden Weg geführt wird. In solcher Lage bieten sich die Toten dem lebenden Dante; die Spannung der noch unenthüllten Zukunft, die für jede irdische Lage und ihre künstlerische Nachahmung, besonders für die dramatische, ernste, problematische, wesentlich ist, hat aufgehört; Dante allein kann in der Komödie solche Spannung empfinden. Die vielen ausgespielten Dramen vereinigen sich alle zu einem einzigen großen Spiel, in dem es um ihn selbst und um die Menschheit geht; sie alle sind nur Beispiele, exempla, für Gewinn oder Verlust der ewigen Seligkeit. Aber die Leidenschaften, Qualen und Freuden sind erhalten geblieben, sie finden Ausdruck in Lage, Geste und Wort der Toten; vor Dante werden all die Dramen noch einmal gespielt, ungeheuer konzentriert, manchmal in weni‐ gen Zeilen wie das der Pia de’ Tolomei (Purg. 5,130), und in ihnen entfaltet sich, scheinbar verstreut und zerstückelt, und doch überall innerhalb eines Planes, die florentinische, die italienische und die Weltgeschichte. Spannung und Entwicklung, die Merkmale des irdischen Geschehens, haben aufgehört, und dennoch schlagen die Wellen der Geschichte bis ins Jenseits; teils als Erinnerung an irdische Vergangenheit, teils als Teilnahme an irdischer Gegenwart, teils als Sorge um irdische Zukunft; überall als figural im Zeitlos-Ewigen erhaltene Zeitlichkeit. Jeder Tote empfindet seine Lage im Jenseits als den noch fortspielenden, jederzeitlichen letzten Akt seines irdischen Dramas. Dante sagt zu Vergil im ersten Gesang des Gedichts: du allein bist es, dem ich den schönen Stil verdanke, der mir Ruhm gebracht hat. Das ist gewiß richtig, und zwar noch weit mehr für die Komödie als für die früheren Werke und für die Kanzonen. Das Motiv der Unterweltfahrt, eine sehr große Zahl von Einzelmotiven, viele sprachliche Bewegungen verdankt er Vergil; sogar die Wandlung seiner Stilanschauung gegenüber dem Traktat De vulgari eloquentia, die ihn vom nur Lyrisch-Philosophischen zum großen Epos, und·damit zur großen Darstellung menschlichen Geschehens führte, kann 202 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="203"?> sich nur auf Grund der antiken Vorbilder und insbesondere Vergils vollzogen haben. Er besaß als erster von denen, die wir kennen, unmittelbaren Zugang zu dem Dichter Vergil; an ihm, weit mehr als an der mittelalterlichen Theorie, bildet sich sein Stilgefühl und seine Vorstellung vom Erhabenen; durch ihn vermochte er den noch zu engen Rahmen der provenzalischen und zeitgenössisch-italienischen «suprema constructio» zu sprengen. Aber indem er an das hohe Werk ging, das unter dem Zeichen Vergils steht, war es doch die andere, gegenwärtigere, lebendigere Tradition, die ihn überwältigte: sein hohes Gedicht wurde stilmischend und figural; und zwar stilmischend auf Grund der Figuralanschauung; es wurde eine Komödie, und es wurde, auch als stilistisches Gebilde, christlich. Nach allem, was wir im Laufe dieser Interpretationen darüber gesagt haben, bedarf es keiner erneuten Erklärung, daß und warum die stilmischende Erfassung des gesamten irdischen Geschehens, ohne ästhetische Beschränkung im Gegenstand oder im Ausdruck, als erhaben figurales Gebilde, christlichen Geistes und christlichen Ursprungs ist. Dazu gehört auch die Einheit des ganzen Gedichts, die eine Fülle von Stoffen und Handlungen in einen einzigen, Himmel und Erde vereinenden, universalen Zusammenhang stellt: il poema sacro, al quale ha posto mano e cielo e terra. Und wiederum andererseits war er der erste, der die eigentümlich antike gravitas des hohen Stils fühlte und verwirklichte, ja sie noch übersteigerte. Er kann sagen was er will, es mag noch so niedrig, grotesk, gräßlich oder höhnisch sein: es bleibt im hohen Ton; niemals könnte der Realismus der Komödie, wie der des christlichen Theaters, ins Possenhafte fallen und zur volkstümlichen Belustigung dienen. Dantes Höhe des Tones ist in früheren mittelalterlichen epischen Werken undenkbar, und sie ist, wie sich an vielen Beispielen nachweisen läßt, an antiken Vorbildern geschult (ein schönes Beispiel, seine Beschwörungsformel mit se aus der klassischen Wendung mit sic, worüber zuletzt G. Bonfante in den Publications of the Mod. Lang. Assoc., LVII, 930). Die vordantesche Dichtung in den Volkssprachen, zumal die christliche, ist in der Stilfrage trotz des Einflusses der Schulrhetorik, auf die man in letzter Zeit so häufig hingewiesen hat, im ganzen recht naiv; Dante aber, obgleich er sein Material aus der lebendigsten Volkssprache, zuweilen selbst aus der niedrigsten, nimmt, ist die Naivität abhanden gekommen; er zwingt jede Wendung in die Schwere seines Tones, und wenn er die göttliche Weltordnung besingt, so stellt er in den Dienst dieser Aufgabe Periodenfü‐ gungen und Instrumente der Satzverbindung, die riesige Gedankenmassen und Ereigniszusammenhänge beherrschen; seit der Antike hat es Ähnliches VIII Farinata und Cavalcante 203 <?page no="204"?> in der Dichtung nicht gegeben (ein Beispiel für viele Inf. 2,13-36). Ist Dantes Stil noch ein sermo remissus et humilis, wie er selbst es sagt, und wie es der christliche Stil auch im Erhabenen sein soll? Man könnte die Frage vielleicht bejahen; auch die Kirchenväter haben die bewußte Kunst der Rede nicht verschmäht, selbst Augustin nicht; entscheidend ist, welcher Sache und welcher Gesinnung die Kunstmittel dienen. In unserem Abschnitt sind es zwei Verdammte, die im hohen Stil einge‐ führt werden, und deren irdisches Wesen in voller Wirklichkeit an ihrem jenseitigen Ort erhalten ist. Farinata ist groß und stolz wie je, und Cavalcante liebt das Licht der Welt und seinen Sohn Guido nicht minder, ja in der Verzweiflung heißer noch als einst auf Erden. So hat es Gott gewollt, und so fügt es sich in den figuralen Realismus der christlichen Tradition. Allein nie zuvor ist dieser so weit getrieben worden; nie ist so viel Kunst und Aus‐ druckskraft verwendet worden, selbst in der Antike kaum, um die irdische Form der menschlichen Gestalt bis zu einer fast schmerzhaft eindringlichen Anschauung zu bringen. Gerade die christliche Unzerstörbarkeit des ganzen Menschen gestattete ihm dies; und gerade dadurch, daß er es mit solcher Gewalt und mit so viel Wirklichkeit ausführte, brach er der Neigung des irdischen Wesens zur Autonomie Bahn; er schuf mitten im Jenseits eine Welt der irdischen Gestalten und Leidenschaften, die in ihrer Wirkung aus dem Rahmen heraustritt und selbständig wird; die Figur übertrifft die Erfüllung, oder noch eigentlicher: die Erfüllung dient dazu, die Figur noch wirkungsvoller hervortreten zu lassen. Man muß Farinata bewundern, und mit Cavalcante weinen; was uns eigentlich bewegt, ist nicht, daß Gott sie verdammt hat, sondern, daß der eine ungebrochen ist, und daß der andere so schneidend um seinen Sohn und um das süße Licht klagt; die schreckliche Lage ihrer Verdammnis dient gleichsam nur als Mittel, die Wirkung dieser ganz irdischen Bewegungen zu steigern. Das Problem ist, wie mir scheint, jedoch zu eng gefaßt, wenn man es, wie dies häufig geschehen ist, nur auf Dantes Bewunderung oder Mitgefühl für einige Höllenbewohner abstellt; das Wesentliche, was wir meinen, ist nicht auf die Hölle und andererseits nicht auf Dantes Sympathie oder Bewunderung beschränkt; überall gibt es Beispiele, in denen die Wirkung der irdischen Gestalt und des irdischen Schicksals die der ewigen Lage übertrifft oder sie sich dienstbar gemacht hat. Gewiß sind die edlen Verdammten wie Francesca von Rimini, Farinata, Bru‐ netto Latini oder Pier della Vigna gute Beispiele auch für meinen Gedanken; aber man setzt, scheint mir, den Akzent falsch, wenn man sie allein heran‐ zieht, denn für eine Heilslehre, die das ewige Schicksal von Gnade und Reue 204 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="205"?> abhängig macht, sind solche Gestalten in der Hölle ebenso unumgänglich wie die tugendhaften Heiden im Limbo. Sowie man aber fragt, warum Dante das Tragische solcher Gestalten als erster so stark gefühlt und in all seiner überwältigenden Kraft zum Ausdruck gebracht hat, so erweitert sich der Kreis der Betrachtung sogleich; denn Dante hat alles Irdische, dessen er habhaft wurde, mit der gleichen Kraft behandelt. Cavalcante ist nicht groß, und Personen wie den Schlemmer Ciacco oder den wutverzerrten Filippo Argenti behandelt er, sei es mit mitleidiger Verachtung, sei es mit Abscheu; das hindert nicht, daß auch in diesen Fällen das Bild der irdischen Leidenschaften in ihrer jenseitigen ganz individuellen Erfüllung das der kollektiven Strafe weitaus übertrifft, und diese sehr oft nur der Wirkung jener dient. Das gilt selbst für die Erwählten in Purgatorio und Paradies. Der eine Kanzone Dantes singende Casella, und seine Zuhörer (Purg. 2), der seinen Tod und das Schicksal seines Leibes erzählende Buonconte (Purg. 5), der vor seinem Meister Vergil niederkniende Statius (Purg. 21), der so bezaubernd seine Zuneigung zu Dante bekundende junge Ungarnkönig Karl Martell von Anjou (Par. 8), Dantes stolzer, altväterischer, von Florentiner Stadtgeschichte erfüllter Ahnherr Cacciaguida (Par. 15-17), ja selbst noch der Apostel Petrus (Par. 27), und wie viele andere noch entfalten vor uns eine Welt irdisch-geschichtlichen Lebens, irdischer Taten, Bestrebungen, Gefühle und Leidenschaften, wie der irdische Schauplatz selbst sie kaum in solcher Fülle und Kraft bieten könnte. Gewiß sind sie alle fest eingefügt in die göttliche Ordnung, gewiß hat ein großer, christlicher Dichter das Recht, das irdische Menschentum im Jenseits, die Figur in der Erfüllung zu erhalten und nach seinen Kräften zu vollenden. Aber Dantes große Kunst treibt es so weit, daß die Wirkung ins Irdische umschlägt, und in der Erfüllung die Figur den Hörenden allzusehr ergreift; das Jenseits wird zum Theater des Menschen und seiner Leidenschaften. Man denke an frühere figurale Kunst, an die Mysterien, an die kirchliche Plastik, die sich gar nicht oder doch nur ganz zaghaft über das von der biblischen Geschichte unmittelbar Gegebene herauswagten; die Wirklichkeit und Individuum nur für die Belebung biblischen Geschehens nachzuahmen begannen; und halte daneben Dante, der die ganze geschichtliche Welt, und innerhalb derselben grundsätzlich jeden Menschen, der ihm in den Wurf kommt, in dem figuralen Rahmen le‐ bendig werden läßt! Das ist zwar nur die Forderung der jüdisch-christlichen Geschehensdeutung von Anfang an; sie beansprucht universale Geltung; aber die Fülle des in die Deutung eingebauten Lebens ist so reich und stark, daß seine Erscheinungen auch unabhängig von aller Deutung sich ihren VIII Farinata und Cavalcante 205 <?page no="206"?> Platz in der Seele des Hörers erobern. Wer Cavalcantes Aufschrei hört: non fiere li occhi suoi il dolce lome? - oder wer den schönen, sanften, und auf eine so bezaubernde Art frauenhaften Vers liest, den Pia de’ Tolomei sagt, bevor sie Dante bittet, auf Erden ihrer zu gedenken (e riposato de la lunga via, Purg. 5,131) - dessen innere Bewegung gilt den Menschen und nicht unmittelbar der göttlichen Ordnung, in der sie ihre Erfüllung gefunden haben; ihre ewige Lage in der göttlichen Ordnung wird nur bewußt als ein Schauplatz, dessen Unwiderruflichkeit die Wirkung ihres in all seiner Kraft erhaltenen Menschentums noch steigert. Es kommt zu einer alles andere überwältigenden, unmittelbaren Erfahrung des Lebens, zu einer ebenso mannigfaltig sich ausbreitenden wie tief bis an die Wurzeln des Gefühls greifenden Erfassung des Menschen, einer Erleuchtung seiner Bewegungen und Leidenschaften, die ohne jede Hemmung zur heißen Teilnahme an ihnen, ja zur Bewunderung ihrer Vielfalt und ihrer Größe führt. Und in dieser unmittelbaren und bewundernden Teilnahme am Menschen wendet sich die in der göttlichen Ordnung gegründete Unzerstörbarkeit des ganzen, geschichtlichen und individuellen Menschen gegen die göttliche Ordnung; sie macht sie sich dienstbar und verdunkelt sie; das Bild des Menschen tritt vor das Bild Gottes. Dantes Werk verwirklichte das christlich-figurale Wesen des Menschen und zerstörte es in der Verwirklichung selbst; der gewaltige Rahmen zerbrach durch die Übermacht der Bilder, die er umspannte. Die gro‐ ben Unordnungen, zu denen der possenhafte Realismus der Mysterienspiele im späteren Mittelalter führte, sind dem Bestand einer figural-christlichen Geschehensauffassung längst nicht so gefährlich wie der hohe Stil eines solchen Dichters, in dem die Menschen sich selbst sehen und erkennen; in dieser Erfüllung wird die Figur selbständig, so daß es noch in der Hölle große Seelen gibt und im Purgatorio einige Seelen über der Süße eines Gedichts, eines Menschenwerks den Weg zur Reinigung einige Augenblicke vergessen. Und es setzt sich, infolge der besonderen Bedingungen der Selbsterfüllung im Jenseits, die menschliche Gestalt noch stärker, konkreter und eigentümlicher durch als etwa in der antiken Dichtung. Denn zu der Selbsterfüllung, die das ganze vergangene Leben sowohl objektiv als auch in der Erinnerung einbegreift, gehört eine individualgeschichtliche Entwicklung, eine jeweils eigene Werdensgeschichte, deren Resultat uns zwar als ein fertiges vorliegt, deren Stadien aber in vielen Fällen ausführlich dargestellt werden; niemals bleibt sie uns ganz verborgen; wir erfahren, weit genauer als antike Dichtung es darzustellen vermochte, im zeitlosen Sein das innergeschichtliche Werden. 206 VIII Farinata und Cavalcante <?page no="207"?> IX Frate Alberto I N einer berühmten Novelle des Decamerone (4,2) erzählt Boccaccio von einem Manne aus Imola, der in seiner Heimatstadt sich durch lasterhaftes Leben und Betrügereien unmöglich machte, so daß er vorzog, sie zu verlas‐ sen. Er begab sich nach Venedig, wurde dort Franziskanermönch und sogar Priester, nannte sich Frate Alberto und verstand sich durch augenfällige Bußübungen und fromme Gesten und Predigten so in Szene zu setzen, daß er für einen gottgefälligen und vertrauenswürdigen Menschen galt. Eines Tages nun erzählt er einem seiner Beichtkinder, einer besonders dummen und aufgeblasenen Person, der Frau eines auf Reisen abwesenden Kaufmanns, der Engel Gabriel sei in ihre Schönheit verliebt und wünsche sie nachts zu besuchen; er besucht sie selbst als Engel Gabriel und vergnügt sich mit ihr. Das geht so eine Weile, aber nimmt zuletzt ein böses Ende, und zwar auf folgende Weise: Pure avenne un giorno che, essendo madonna Lisetta con una sua comare, et insieme di bellezze quistionando, per porre la sua innanzi ad ogni altra, si come colei che poco sale aveva in zucca, disse: Se voi sapeste a cui la mia bellezza piace, in verità voi tacereste dell’altre. La comare vaga d’udire, si come colei che ben la conoscea, disse: Madonna, voi potreste dir vero, ma tuttavia non sappiendo chi questo si sia, altri non si rivolgerebbe così di leggiero. Allora la donna, che piccola levatura avea, disse: Comare, egli non si vuol dire, ma l’intendimento mio è l’agnolo Gabriello, il quale più che sè m’ama, si come la più bella donna, per quello che egli mi dica, che sia nel mondo o in maremma. La comare allora ebbe voglia di ridere, ma pur si tenne per farla più avanti parlare, e disse: In fè di Dio, madonna, se l’agnolo Gabriello è vostro intendimento, e dicevi questo, egli dee ben esser cosi; ma io non credeva che gli agnoli facesson queste cose. Disse la donna: Comare, voi siete errata; per le piaghe di Dio egli il fa meglio ehe mio marido; e dicemi che egli si fa anche colassù; ma perciocchè io gli paio più bella che niuna che ne sia in cielo, s’è egli innamorato di me, e viensene a star meco ben spesso: mo vedi vu? La comare partita da madonna Lisetta, le parve mille anni che ella fosse in parte ove ella potesse queste cose ridire: e ragunatasi ad una festa con una gran brigata di donne, loro ordinatamente raccontò la novella. Queste donne il dissero a’ mariti et ad altre donne: e quelle a quell’altre, e cosi in meno di due dì ne fu tutta ripiena Vinegia. Ma tra gli altri, a’ quali questa cosa venne agli orecchi, furono i cognati di lei, li quali, senza alcuna cosa dirle, si <?page no="208"?> 25 Nun geschah es eines Tages, daß Madonna Lisetta, als sie mit einer Gevatterin zusammen war und sie miteinander über Schönheit stritten, in der Absicht, die eigene vor jeder anderen herauszustreichen, als die dumme Trine, die sie war, folgendes, sagte: Wenn Ihr wüßtet, wem meine Schönheit gefällt, Ihr würdet bestimmt von allen anderen ganz still sein. Da wurde die Gevatterin neugierig, und da sie sie gut kannte, sagte sie: Madonna. das mag ja vielleicht wahr sein, aber wenn man nicht weiß, wer das ist, so kann man seine Meinung so leicht nicht ändern. Da sagte die Frau in ihrer Dummheit: Gevatterin, ich sollte es ja nicht sagen, aber mein Liebster ist der Engel Gabriel, der mich mehr liebt als sich selbst, weil ich, wie er mir sagt, die schönste Frau auf Gottes Erdboden bin. Die Gevatterin bekam große Lust zu lachen, hielt sich aber zurück, um noch mehr aus ihr herauszuholen, und sagte: Bei Gott, Madonna, wenn der Engel Gabriel euer Liebster ist und euch das sagt, dann muß es wohl wahr sein: aber ich hätte nie geglaubt, daß die Engel auch solche Sachen treiben. Da sagte die Frau: Gevatterin, da seid Ihr aber sehr im Irrtum; bei den Wundmalen Christi, er macht es besser als mein Mann; und er sagt, daß sie es da oben auch machen; aber weil er mich für schöner hält als irgendeine im Himmel, darum hat er sich in mich verliebt und kommt sehr oft mich besuchen. Na, was sagt ihr nun? Die Gevatterin war kaum von Madonna Lisetta weggekommen, als es ihr schon eine Ewigkeit schien, bis sie an einen Ort gelangte, wo sie diese Geschichte weitererzählen konnte; und als sie bei einem Fest mit einer Gesellschaft von Frauen zusammentraf, erzählte sie ihnen die Neuigkeit haarklein. Die Frauen erzählten es ihren Männern und anderen Frauen, und diese wiederum anderen, so daß in weniger als zwei Tagen ganz Venedig voll davon war. Aber unter denen, denen es zu Ohren kam, waren auch die Schwäger Lisettas, und diese faßten, ohne ihr etwas zu sagen, den Entschluß, den Engel aufzustöbern und zu sehen, ob er fliegen könne; und darum legten sie sich mehrere Nächte auf die Lauer. Nun geschah es, daß auch dem Bruder Alberto etwas posero in cuore di trovare questo agnolo, e di sapere se egli sapesse volare; e più notti stettero in posta. Avvenne che di questo fatto alcuna novelluzza ne venne a frate Alberto agli orecchi, il quale, per riprender la donna, una notte andatovi, appena spogliato s’era, che i cognati di lei, che veduto l’avean venire, furono all’uscio della sua camera per aprirlo. Il che frate Alberto sentendo, e avvisato ciò che era, levatosi, non avendo altro rifugio, aperse una finestra, la qual sopra il maggior canal rispondea, e quindi si gittò nell’aqua. Il fondo v’era grande, et egli sapeva ben notare, si che male alcun non si fece: e notato dall’altra parte del canale, in una casa, che aperta v’era, prestamente se n’entrò, pregando un buono uomo, ehe dentro v’era, che per l’amor di Dio gli scampasse la vita, sue favole dicendo, perchè quivi a quella ora et ignudo fosse. II buono uomo mosso a pietà. convenendogli andare a far sue bisogne, nel suo letto il mise, e dissegli che quivi infino alla sua tornata si stesse; e dentro serratolo, andò a fare i fatti suoi. I cognati della donna entrati nella camera trovarono che l’agnolo Gabriello, quivi avendo lasciate l’ali, se n’era volato: di che quasi scornati, grandissima villania dissero alla donna, e lei ultimamente sconsolata lasciarono stare, et a casa lor tornarsi con gli arnesi dell’agnolo. 25 208 IX Frate Alberto <?page no="209"?> von diesem Gerede zu Ohren kam, und deswegen ging er eines Nachts zu der Frau, um sie auszuschelten. Kaum hatte er sich aber ausgezogen, als ihre Schwäger, die ihn hatten kommen sehn, auch schon an der Tür des Zimmers waren, um sie zu öffnen. Als Bruder Alberto das merkte, wußte er sofort, was los war, sprang auf, öffnete, da er keine andere Möglichkeit hatte zu entkommen, ein Fenster, das auf den Großen Kanal hinausging, und warf sich ins Wasser. Es war an dieser Stelle tief, und er konnte gut schwimmen, so daß er sich keinen Schaden tat; er schwamm auf die andere Seite des Kanals, ging schnell in ein Haus, das dort offen stand, und bat einen Mann, den er darin traf, er möge ihm um Gottes willen das Leben retten, indem er ein Märchen erfand, wieso er zu dieser Stunde und nackt hier sei. Der brave Mann bekam Mitleid, und da er gerade in seinen eigenen Angelegenheiten fortgehen mußte, so legte er ihn in sein Bett und sagte ihm, er solle bis zu seiner Rückkehr dort bleiben; dann schloß er ihn ein und ging seinen Geschäften nach. Als die Schwäger der Frau in das Zimmer eingedrungen waren, fanden sie, daß der Engel Gabriel fortgeflogen war ohne seine Flügel mitzunehmen; sie fühlten sich daher um ihre Beute geprellt, sagten der Frau die ärgsten Grobheiten, ließen sie schließlich in einem jammervollen Zustand zurück und gingen mit der Ausstattung des Engels nach Hause. (Teilweise nach der Übersetzung A. Wesselskis.) Die Geschichte endet, wie gesagt, sehr böse für Frate Alberto; sein Wirt erfährt auf dem Rialto, was sich nachts in Madonna Lisettas Hause begeben hat, und errät, wen er beherbergt; er erpreßt von Frate Alberto eine große Geldsumme und verrät ihn dann doch, und zwar auf eine so abscheuliche Weise, daß der Bruder zum Mittelpunkt einer öffentlichen Szene wird, von deren moralischen und praktischen Folgen er sich nicht wieder erholt. Man fühlt fast Mitleid mit ihm, insbesondere wenn man bedenkt, mit wieviel Fröhlichkeit und Billigung Boccaccio andere erotische Streiche von Geistli‐ chen erzählt, die nicht besser sind als dieser (etwa 3,4 die Geschichte des Mönchs Don Felice, der den Ehemann seiner Geliebten zu einer lächerlichen Bußübung beredet, so daß er nachts außen bleibt, oder 3,8 die von einem Abt, der den Ehemann der seinigen für einige Zeit ins Purgatorio befördert und dort auch noch büßen läßt). Der Ausschnitt, den ich abgedruckt habe, bringt die Krisis der Novelle; er besteht aus dem Gespräch der Madonna Lisetta mit ihrer Gevatterin und den Folgen dieses Gespräches: Verbreitung des sonderbaren Gerüchts in der Stadt, Entschluß der Verwandten, denen es auch zu Ohren gekommen ist, den Engel abzufangen, und nächtliche Szene, in der sich der Bruder durch den kühnen Sprung in den Kanal aus der Gefahr des Augenblicks rettet. Das Gespräch zwischen den beiden Frauen ist eine psychologisch wie stilistisch vorzüglich geformte, sehr lebendige Alltagsszene; sowohl die Gevatterin, die mit heimtückischer Höflichkeit, ihr Lachen verbeißend, einige Zweifel äußert, um Lisetta immer mehr ins Schwatzen zu bringen, IX Frate Alberto 209 <?page no="210"?> als auch diese selbst, die sich durch Prahlsucht noch über die Grenzen ihrer angeborenen Dummheit hinaus verlocken läßt, wirken durchaus echt und natürlich. Dennoch sind die Stilmittel, die Boccaccio verwendet, keineswegs rein volkstümlich; seine an antiken Vorbildern und mittelalterlichen rheto‐ rischen Vorschriften geschulte Prosa läßt all ihre Künste spielen: Zusam‐ menfassung vieler Tatbestände zur Periode, Wechsel und Überschneidung der Wortstellung im Dienst der Hervorhebung des Wichtigen, des schnelle‐ ren oder langsameren Tempos im Fortgang, der rhythmisch-melodischen Wirkung. Schon der Einleitungssatz ist eine reiche Periode, und die beiden Gerundien essendo und quistionando, das eine zu Anfang und das andere am Schluß, mit dem behaglichen Raum dazwischen, sind ebenso wohlberechnet wie die syntaktische Hervorhebung von la sua als Schluß der ersten von zwei rhythmisch ganz ähnlich gebauten Klauseln, deren zweite mit ogni altra schließt. Wenn es dann zum Reden kommt, da beginnt die gute Lisetta vor lauter Selbstbegeisterung beinahe zu singen; se voi sapeste a cui la mia bellezza piace … Noch schöner ist ihre zweite Rede, mit den vielen kurzen, beinah gleichsilbigen Satzteilen, in denen der sogenannte cursus velox vorherrscht; der schönste von ihnen: ma l’intendiménto mío / e l’ágnolo Gabriéllo klingt als Echo in der Antwort der Gevatterin wieder: se l’agnolo Gabriéllo / è vóstro intendiménto. In dieser zweiten Rede treten zuerst Vulgarismen auf: intendimento, wohl eher sozialen als lokalen Kolorits, dürfte in dieser Bedeutung (etwa desiderium, im Libro de buen amor «en‐ tendedera», deutsch «Schatz») kaum der vornehmen Sprache angehören, ebensowenig wie die (ebenfalls eine schöne Klausel liefernde) Redensart nel mondo o in maremma. Je mehr sie sich ereifert, desto häufiger werden die volkstümlichen und nun sogar dialektalen Formen: das venezianische marido in dem bezaubernden Satz, der den Preis der erotischen Leistungen des Engels Gabriel mit der Beschwörungsfonnel per le piaghe di Dio bekräftigt, und der ebenfalls venezianische Schlußeffekt mo vedi vu, dessen ordinäres Auftrumpfen um so komischer wirkt, als sie eben noch wieder süß gesungen hat: … ma perciocchè io gli paio più bella che niuna che ne sia in cielo, s’è egli innamorato di me … Die beiden folgenden Perioden fassen die Verbreitung des Gerüchts in der Stadt in zwei Etappen zusammen; die erste führt von la comare bis zu der brigata di donne, die zweite von queste donne zu Vinegia; oder, wenn man will, die erste von partita bis raccontò, die zweite von dissero bis zu fu tutta ripiena; beide sind in sich bewegt: die erste durch die Ungeduld der Gevatterin, ihre Geschichte loszu‐ werden, eine Ungeduld, deren Drängen und endliches Zurruhekommen in 210 IX Frate Alberto <?page no="211"?> einer entsprechenden Bewegung der Verben (partita … le parve mille anni che ella fosse … dove potesse … e ragunatasi … ordinatamente raccontò) vorzüglich herauskommt; die zweite durch die gestaffelte, parataktisch ausgedrückte Ausdehnung des Verbreitungsfeldes. Von nun an wird die Erzählung schneller und dramatischer. Schon der nächste Satz reicht von dem Augenblick, wo das Gerücht den Verwandten zu Ohren dringt, bis zu ihrem nächtlichen Auflauern, obgleich auch noch einige teils sachliche, teils psychologisch ausmalende Einzelheiten in ihm zur Sprache kommen; er scheint aber noch vergleichsweise leer und ruhig neben den beiden darauffolgenden, die die ganze nächtliche Szene im Hause Lisettas, bis zu Frate Albertos kühnem Sprung, in zwei Perioden, die aber zusammen nur eine einzige Bewegung sind, ablaufen lassen. Dies geschieht durch Schachtelung hypotaktischer Formen, wobei die von Boccaccio überhaupt sehr viel verwendeten Partizipialkonstruktionen die Hauptrolle spielen. Der erste Satz beginnt noch ruhig mit seinem Hauptverbum avenne und dem dazu gehörigen Subjektsatz che … venne …; aber in dem daran sich anschlie‐ ßenden Relativsatz il quale, also einem Nebensatz zweiten Grades, bricht die Katastrophe los: … andatovi, appena spogliato s’era, che i cognati … furono all’uscio. Und nun folgt ein Sturm von sich jagenden Verbformen: sentendo, e avvisato, levatosi, non avendo, aperse, e si gittò. Das wirkt, schon durch die Kürze der sich drängenden Satzabschnitte, überaus schnell und dramatisch sich überstürzend; es wirkt eben dadurch, trotz des gelehrt antikischen Ursprungs der verwendeten Stilformen, durchaus nicht schriftsprachlich, sondern bleibt im Ton der Erzählung, um so mehr als die Stellung der Verben, und damit die Länge und das Tempo der zwischen ihnen liegenden ruhigeren Satzstrecken, auf eine kunstvoll spontane Weise ständig wechseln: sentendo und avvisato liegen dicht beieinander, ebenso levatosi und non avendo, sehr bald folgt aperse, aber erst nach dem auf das Fenster bezüglichen Relativsatz erscheint das abschließende si gittò. Es ist mir übrigens nicht recht deutlich, warum Boccaccio den Frate etwas von den umlaufenden Gerüchten gehört haben läßt; ein so gewitzter Bursche wie er würde sich doch wohl kaum in diese Gefahr begeben, bloß um Lisetta Vorwürfe zu machen, wenn er etwas von der Gefahr ahnte; viel natürlicher wäre es, so scheint mir, wenn er nichts ahnte; für seine schnelle und kühne Flucht ist eine besondere Begründung durch einen schon vorher gefaßten Verdacht nicht erforderlich. Oder hatte Boccaccio einen anderen Grund für diese Bemerkung? Ich sehe keinen. - Während der Bruder den Kanal durchschwimmt, wird die Erzählung einen Augenblick ruhiger, entspannter, langsamer; es treten Hauptverben IX Frate Alberto 211 <?page no="212"?> im beschreibenden Imperfekt in parataktischer Ordnung auf; aber kaum ist er drüben auf der anderen Seite angelangt, so geht das hastige Getriebe der Verben wieder an, besonders bei seinem Eintritt in das fremde Haus: prestamente se n’entrò, pregando … ehe per l’amor di Dio gli scampasse la vita, sue favole dicendo, perchè … fosse. Auch die zwischen den Verben liegenden Strecken sind kurz oder drängend; überaus konzentriert und eilig ist quivi a quella ora e ignudo. Dann ebbt es ab; die folgenden Sätze sind zwar noch sehr vollgefüllt mit tatsächlichen Angaben und somit auch mit Partizipialhypotaxen, aber doch beherrscht von allmählich gleichmäßiger fortschreitenden, durch «und» verbundenen Hauptsätzen: mise, et dissegli, e andò; recht dramatisch noch entrati … trovarono che … se n’era volato; allmählich sich entspannend in der parataktischen Folge dissero, e ultima‐ mente lasciarono stare, e tornarsi. Von solchen Künsten ist in den älteren Erzählungen nichts zu finden. Nehmen wir zunächst ein beliebiges Beispiel aus den altfranzösischen Versschwänken, die zum großen Teil etwa ein Jahrhundert vor Boccaccio entstanden sind. Ich wähle ein Stück aus dem fablel Du prestre qui ot mere a force (aus der Berliner Handschrift Hamilton 257, nach dem Text von G. Rohlfs, Sechs altfranzösische Fablels, Halle 1925, Seite 12). Es ist dort von einem Priester die Rede, der eine sehr bösartige, häßliche und geizige Mutter hat, die er von seinem Hause fernhält, während er seine Geliebte sehr verwöhnt, insbesondere mit Kleidungsstücken. Die zänkische Alte beklagt sich darüber, worauf er antwortet: - - «Tesiez», dist il, «vos estes sote: - 25 De quoi me menez vos dangier, - - Se du pein avez a mengier, - - De mon potage et de mes pois; - - Encor est ce desor mon pois. - - Car vos rn’avez dit mainte honte.» - 30 La vieille dit: «Rien ne vos rnonte - - Que ie vodre j’ore en avant - - Que vos me teigniez par covent - - A grant honor com vostre rnere.» - - Li prestre a dit: «Par seint pere, - 35 James du rnien ne mengera, - - Or face au pi qu’ele porra - - Ou au mieus tant com il li loist! » - - «Si ferai, mes que bien vos poist», 212 IX Frate Alberto <?page no="213"?> Fet cele, «car ie m’en irai - 40 A l’evesque et li conterai - - Vostre errement et vostre vie, - - Com vostre meschine est servie. - - A mengier a ases et robes, - - Et moi volez pestre de lobes; - 45 De vostre avoir n’ai bien ne part.» - - A cest mot la vieille s’en part - - Tote dolente et tot irèe. - - Droit a l’evesque en est allée. - - A li s’en vient et si se claime - 50 De son fiuz qui noient ne l’aime, - - Ne plus que il feroit un chien, - - Ne li veut il fere nul bien. - - «De tot en tot tient sa meschine - - Qu’il eime plus que sa cosine; - 55 Cele a des robes a plenté.» - - Quant la vieille ot tot conté - - A l’evesque ce que li pot, - - Il li respon t a un seul mot, - - A tant ne li vot plus respondre, - 60 Que il fera son fiz semondre, - - Qu’il vieigne a court le jour nommé. - - La vieille l’en a encliné, - - Si s’en part sanz autre response. - - Et l’evesque fist sa semonse - 65 A son fil que il vieigne a court; - - Il le voudra tenir si court, - - S’il ne fet reson a sa mere. - - Je criem trop que il le compere. - - Quant le termes et le jor vint, - 70 Que li evesques ses plet tint, - - Mout i ot clers et autres genz, - - Des proverres plus de deus cens. - - La vieille ne s’est pas tue, - - Droit a l’evesque en est venue IX Frate Alberto 213 <?page no="214"?> 26 Seid still, sagte er, Ihr habt ja den Verstand verloren! Worüber beklagt Ihr Euch eigentlich, wo Ihr doch Brot zu essen habt, und von meiner Suppe und von meinen Erbsen? Und das tue ich auch schon sehr ungern, denn Ihr führt immer böse Reden gegen mich. - Das nützt Euch alles nichts, sagt die Alte; ich will, daß Ihr von nun an Euch verpflichtet, mich als Eure Mutter recht in Ehren zu halten. - Der Pfarrer sagte: Beim heiligen Vater, die kriegt aber nichts mehr von dem Meinigen zu essen; soll sie nur das Schlimmste tun, was sie vermag, oder auch das Beste, wie es ihr beliebt. - Ja das werde ich auch tun. sagt die Alte, so daß Ihr es bereuen sollt: denn ich werde zum Bischof gehen und ihm erzählen, was Ihr für ein liederliches Leben führt, wie gut es Eure Geliebte hat; die hat zu essen und Kleider genug, und mich wollt Ihr mit Redensarten abspeisen; ich habe nicht den geringsten Teil an Eurem Wohlstand. - Mit diesen Worten läuft die Alte davon, ganz verärgert und wütend. Sie ist geradewegs zum Bischof gegangen; zu ihm kommt sie und beklagt sich über ihren Sohn, der sie lieblos behandelt, gerade wie einen Hund, und ihr nichts Gutes antun will: ihm geht seine Geliebte über alles, die liebt er mehr als seine Verwandten, die hat Kleider in Hülle und Fülle. - Als die Alte dem Bischof alles erzählt hat, so viel sie nur konnte, da antwortet er ihr nur ein kurzes Wort (mehr wollte er ihr zunächst nicht antworten), daß er ihren Sohn vorladen werde, er solle an einem bestimmten Tage vor seinem Gerichte erscheinen. Die Alte hat sich dankend verbeugt, und geht davon ohne weitere Antwort. Und der Bischof sandte seine Vorladung an ihren Sohn, er solle an seinen Hof kommen; er wird ihm die Zügel schon fest anziehen, wenn er seiner Mutter nicht ihr Recht werden läßt; ich fürchte sehr, er wird es teuer bezahlen. Als nun der bestimmte Tag kam, an dem der Bischof sein Gericht hielt, da gab es dort viele Geistliche und andere Leute, und mehr als zweihundert Pfarrer. Die Alte hat nicht geschwiegen, sie ist gerade zum Bischof gegangen und erzählt ihm nochmals ihr Anliegen. Der Bischof sagt, sie solle sich nicht entfernen, denn gleich, wenn ihr Sohn kommen wird, solle sie wissen, daß er ihn suspendieren wird und ihm seine ganze Pfründe entziehen-… 75 Si li reconte sa besoigne. - - L’evesque dit qu’el ne s’esloigne, - - Car tantost com ses fiz vendra, - - Sache bien qu’il le soupendra - - Et toudra tot son benefice-… 26 Das Wort soupendra versteht die Alte falsch; sie glaubt, ihr Sohn soll gehängt werden. Sie bereut nun, ihn verklagt zu haben, und in ihrer Angst bezeichnet sie den ersten besten eintretenden Priester als ihren Sohn. Diesen Ahnungslosen fährt der Bischof dermaßen scharf an, daß er gar nicht recht zu Worte kommt; er befiehlt ihm, seine alte Mutter sofort mit sich zu nehmen und fortan anständig, wie es sich gehört, zu behandeln; wehe, wenn ihm noch einmal Klagen kommen! Der verdutzte Mann nimmt die Alte mit sich aufs Pferd und begegnet auf dem Heimweg dem wirklichen Sohn der Alten, dem er sein Abenteuer erzählt, während die Alte ihrem Sohn Zeichen macht, er solle sich nicht verraten. Der andere schließt seine Erzählung mit der 214 IX Frate Alberto <?page no="215"?> Beteuerung, er wolle dem, der ihn von der unerwünschten Belastung befreit, gern vierzig livres geben. Gut, sagt der Sohn, das Geschäft ist gemacht; gebt mir das Geld, ich nehme euch die Alte ab. Und so geschieht es. Auch hier beginnt das abgedruckte Stück der Erzählung mit einem realistischen Gespräch, einer Alltagsszene, dem Zank zwischen Mutter und Sohn, und auch hier enthält das Gespräch eine sehr lebendige Steigerung: so wie dort die Gevatterin durch ihre heimtückisch liebenswürdigen Ein‐ wendungen Lisetta immer mehr ins Schwatzen bringt, bis ihr Geheimnis heraus ist, so bringt hier die Alte ihren Sohn durch zänkische Reden so auf, bis dieser in Wut gerät und ihr nun auch seine Unterstützung durch Lebensmittel zu entziehen droht, worauf die Mutter, ebenfalls in heller Wut, zum Bischof läuft. Obgleich die Mundart des Stückes nicht leicht zu bestimmen ist (Rohlfs hält die der Ile-de-France für wahrscheinlich), so ist doch der Ton des Gesprächs weit unstilisierter volkstümlich als bei Boccaccio; es ist einheitlich so, wie das Volk, zu dem auch die niedere Geistlichkeit gehört, zu sprechen pflegt: durchgehend parataktisch, mit lebhaften Fragen und Ausrufen, voll von populären Wendungen und überaus geradezu. Auch der Ton des Erzählers selbst ist nicht wesentlich verschieden von dem seiner Personen; auch er erzählt in demselben einfachen und lebhaft-sinnlichen Ton, mit den bescheidensten Mitteln und den alltäglichs‐ ten Worten die Lage ausmalend. Die einzige Stilisierung, die er vornimmt, ist die Versform, der paarweis gereimte Achtsilber, der ganz einfache und kurze Satzkonstruktionen begünstigt und noch nichts ahnt von der rhythmischen Mannigfaltigkeit späterer erzählender Versarten, wie der Ariosts oder Lafontaines. Die Ordnung der auf das Gespräch folgenden Erzählung wird auf diese Art ganz kunstlos, wenn sie auch durch ihre Frische erfreulich ist; im parataktischen Nacheinander, ohne Schürzung und Entwirrung, ohne jede Zusammenfassung des Nebensächlichen, ohne jeden Wechsel des Tempos läuft oder stolpert die Geschichte weiter; um die Pointe mit soupendre anzubringen, muß die Szene der Alten vor dem Bischof wiederholt werden, und der Bischof selbst muß dreimal Stellung nehmen. Kein Zweifel, daß dadurch und überhaupt durch die vielen Einzelheiten und Füllverse, die zur Übeiwindung von Reimschwierigkeiten eingeschaltet werden, die Erzählung eine angenehm behagliche Breite gewinnt; aber ihre Komposition ist roh, und ihr Charakter ist rein volkstümlich, in dem Sinne, daß der Erzähler selbst zu dem Volk gehört, von dem er spricht, und auch natürlich zu dem, für das er spricht; sein eigener Gesichtskreis ist, sozial und moralisch, nicht größer als der seiner Personen und als IX Frate Alberto 215 <?page no="216"?> der der Zuhörer, die er mit seiner Geschichte zum Lachen bringen will; Erzähler, Erzählung und Zuhörer gehören derselben Welt an, der des kleinen, ungebildeten, ästhetisch und moralisch anspruchslosen Volkes. Damit hängt auch die zwar lebhafte und anschauliche, aber vergleichsweise rohe und unabgetönte Charakterisierung der Personen und ihrer Handlungsweise zusammen: es sind volkstümliche Typen wie sie jeder damals kannte, ein weltlichen Genüssen aller Art zugänglicher, bäurische Priester und eine zänkische Alte; die Nebenpersonen sind gar nicht als besondere Wesen gezeichnet, sondern nur ihr Verhalten, wie es sich aus der Situation ergibt. Von Frate Alberto hingegen wird die Vorgeschichte erzählt, aus der die ganz eigentümliche Art seiner bösartigen und witzigen Schlauheit sich erklärt; Madonna Lisettas Beschränktheit und ihr dummes Auftrumpfen auf ihre weiblichen Reize sind in dieser Mischung einzig in ihrer Art. Nicht anders ist es mit den Nebenpersonen; die Gevatterin oder der buono uomo, zu dem Frate Alberto sich rettet, besitzen ein zwar nur flüchtig angedeutetes, aber doch deutlich erkennbares eigenes Leben und Wesen; ja selbst von der Art und Stimmung der Verwandten Madonna Lisettas wird uns etwas ganz scharf Charakterisierendes verraten in dem grimmigen Witz si posero in cuore di trovare questo agnolo e di sapere se egli sapesse volare; die letzten Worte nähern sich der Form, die man neuerdings erlebte Rede nennt. Zu all dem kommt noch, daß der Schauplatz des ganzen Ereignisses viel schärfer bestimmt ist als in dem fablel; dies kann überall in französischen bäurischen Bezirken spielen, und seine dialektale Eigentümlichkeit, selbst wenn sie sich genauer bestimmen ließe, wäre ganz zufällig und ohne Bedeutung; Boccac‐ cios Erzählung ist ausgesprochen venezianisch. Dabei erinnert man sich, daß das französische fablel ganz allgemein an ein bestimmtes Milieu von Bauern und kleinen Bürgersleuten gebunden ist, dessen lokale Verschiedenheiten, soweit überhaupt solche bemerkbar sind, lediglich durch den Zufall des Entstehungsortes des betreffenden Stückes bedingt sind; bei Boccaccio aber haben wir es mit einem Autor zu tun, der neben diesem venezianischen Schauplatz noch viele andere Schauplätze für seine Schwänke gewählt hat: etwa Neapel in der Novelle von Andreuccio da Perugia (2, 5), Palermo in der von Sabaetto (8,10), Florenz und seine Umgebung in einer langen Reihe von Schwänken; und was von den Schauplätzen gilt, das gilt ebenso vom gesellschaftlichen Milieu: Boccaccio übersieht und schildert auf das Konkreteste alle Gesellschaftsschichten, Berufe und Stände seiner Zeit. Der Abstand zwischen der Kunst des fablels und der Boccaccios zeigt sich durchaus nicht nur im Stilistischen: Charakterisierung der Personen, lokaler 216 IX Frate Alberto <?page no="217"?> 27 Einer ging zu seinem Priester zur Beichte und sagte ihm unter anderem: Ich habe eine Schwägerin, und mein Bruder ist auf Reisen; und wenn ich nach Hause komme, da ist sie so zutraulich und setzt sich auf meinen Schoß. Was soll ich da machen? Der Priester antwortete: Das sollte die mal mit mir probieren, da würde sie schon sehen, was ihr passiert! und sozialer Schauplatz sind zugleich viel schärfer individualisiert und viel weiträumiger; der bewußte Kunstverstand eines Mannes, der über seinen Gegenständen steht und nur in dem Maße, als es ihm selbst gefällt, sich in sie hineinversenkt, formt die Erzählungsgebilde nach seinem Willen. Was die italienischen Erzählungen betrifft, die aus der Zeit vor Boccaccio bekannt sind, so haben sie eher den Charakter von moralischen oder witzigen An‐ ekdoten; für die eigentümliche Darstellung der Personen oder Schauplätze sind sowohl ihre sprachlichen Mittel wie der Kreis ihrer Anschauungen und Vorstellungen zu beschränkt. Sie haben vielfach eine gewisse spröde Eleganz des Ausdrucks, stehen aber an sinnlicher Schlagkraft weit hinter den fablels zurück. Hier ein Beispiel: Uno s’andò a confessare al prete suo, ed intra l’altre cose disse: Io ho una mia cognata, e’l mio fratello è lontano: e quando io ritorno a casa, per grande domistichezza, ella mi si pone a sedere in grembo. Come debbo fare? Rispose il prete: A me il facesse ella, ch’io la ne pagherei bene! 27 (Aus dem Novellino, ed. Letterio di Francia, Torino 1930. Novella 87, p.-146.) In diesem kleinen Stück kommt es lediglich auf die komisch doppeldeutige Antwort des Priesters an, alles übrige ist nur Vorbereitung und wird in etwas dünner Parataxe, ohne jede sinnliche Vergegenwärtigung, geradlinig berichtet; sehr viele Geschichten des Novellino sind ähnlich kurze Anek‐ doten, die einen witzigen Ausspruch zum Gegenstand haben; einer der Nebentitel des Buches lautet dementsprechend Libro di Novelle e di bel parlar gentile. Es enthält auch längere Stücke; diese sind zumeist keine Schwänke, sondern moralisch-didaktische Erzählungen; der Stil ist aber überall der gleiche: dünn parataktisch, die Vorgänge wie an einem Faden aufreihend, ohne sinnliche Breite und ohne Lebensraum der Personen. Der unleugbare Kunstverstand des Novellino bemüht sich hauptsächlich um kurze und deutliche Formulierung der Hauptdaten des jeweils erzählten Ereignisses; er folgt darin dem Beispiel der mittelalterlichen Sammlungen von moralischen Beispielen in lateinischer Sprache, der exempla, und er übertrifft sie durch Ordnung, Eleganz und Frische des Ausdrucks; um sinnliche Vergegenwärtigung bemüht er sich kaum, aber es ist klar, daß IX Frate Alberto 217 <?page no="218"?> 28 Als er eines Tages im Winter in Florenz spazieren ging, geschah es, daß er auf dem glatt gefrorenen Boden lang hinschlug. Als die Florentiner, die große Spaßvögel sind, das sahen, fingen sie an zu lachen, und einer fragte den Frater, ob man ihm nicht etwas unterlegen solle? Der Frater antwortete ihm, ja, nämlich die Frau des Fragenden. Als sie das hörten, nahmen es die Florentiner nicht übel, sondern priesen den Bruder und sagten: Bravo, der paßt zu uns! - Manche behaupten, das Wort stamme von einem anderen Florentiner, namens Frater Paul Tausendfliegen vom Minoritenorden. diese Beschränkung bei ihm und seinen italienischen Zeitgenossen bedingt ist durch die sprachliche und geistige Lage, in der sie sich befanden. Das italienische Vulgare war noch zu arm und ungelenk, der Horizont der Anschauungen und Urteile war noch zu eng und unfrei, um ein lockeres Schalten mit den Tatbeständen und ein sinnliches Gestalten mannigfaltiger Phänomene zu ermöglichen; die gesamte sinnliche Gestaltungskraft kon‐ zentriert sich auf eine Pointe, wie in unserem Beispiel auf die Antwort des Priesters. Wenn man aus einem einzigen Fall, dem des lateinisch schreibenden Chronisten Fra Salimbene de Adam, eines Franziskaners und überaus begabten Schriftstellers, einen Schluß ziehen darf, so scheint am Ende des 13. Jahrhunderts das Lateinische, sobald man es wie Salimbene kräftig mit italienischen Vulgarismen durchsetzte, weit mehr sinnliche Kraft hergegeben zu haben als das geschriebene Italienisch. Salimbenes Chronik ist voll von Anekdoten, eine derselben, die von anderen und von mir selbst mehrfach zitiert worden ist, will ich hierher setzen. Sie handelt von einem Franziskaner namens Detesalve und erzählt von ihm folgendes: Cum autem quadam die tempore yemali per civitatem Florentie ambularet, contigit, ut ex lapsu glatiei totaliter caderet. Videntes hoc Florentini, qui trufatores maximi sunt, ridere ceperunt. Quorum unus quesivit a fratre qui ceciderat, utrum plus vellet habere sub se? Cui frater respondit quod sic, scilicet interrogantis uxorem. Audientes hoc Florentini non habuerunt malum exemplum, sed com‐ mendaverunt fratrem dicentes: Benedicatur ipse, quia de nostris est! - Aliqui dixerunt quod alius Florentinus fuit, qui dixit hoc verbum, qui vocabatur frater Paulus Millemusce ex ordine Minorum. 28 (Chronica, ad annum 1233; Ausgabe der Monumenta Germaniae historica, Scriptores XXXII, p.-79.) Auch hier handelt es sich um eine witzige Antwort, um ein bel parlare; aber es ist zugleich eine wirkliche Szene; eine Winterlandschaft, der ausgeglittene Mönch, der daliegt, die Florentiner, die um ihn herumstehen und ihre Witze machen. Die Charakterisierung der Personen ist viel lebhafter, und neben der Hauptpointe (interrogantis uxorem) finden sich noch andere Witzworte 218 IX Frate Alberto <?page no="219"?> und Vulgarismen (utrum plus vellet habere sub se; benedicatur ipse quia de nostris est; frater Paulus Mille-musce; vorher schon trufatores), die wegen ihres durchscheinenden lateinischen Gewandes doppelt komisch und würzig anmuten. Sinnliche Anschauung und Freiheit des Ausdrucks sind hier weit entwickelter als im Novellino. Aber was man auch aus der früheren Zeit heranziehen mag, die bäu‐ risch-rohe, sinnliche Breite der Fabliaux, oder die dünne, sinnlich arme Eleganz des Novellino, oder den lebhaften, anschauungsreichen Witz Salim‐ benes, so läßt sich doch nichts davon mit Boccaccio vergleichen; bei ihm erst wird die Welt der sinnlichen Erscheinungen im Ganzen beherrscht, nach einer bewußten Kunstgesinnung geordnet und von der Sprache ergriffen. Erst sein Decamerone fixiert zum erstenmal seit der Antike eine bestimmte Höhenlage des Stils, in welcher die Erzählung von wirklichen Vorkommnis‐ sen des gegenwärtigen Lebens zu einer gebildeten Unterhaltung werden kann; sie dient nicht mehr als moralisches Exemplum, sie dient auch nicht mehr der anspruchslosen Lachlust des Volkes, sondern der Erheiterung eines Kreises von vornehmen und wohlgebildeten jungen Menschen, Herren und Damen, die sich am sinnlichen Spiel des Lebens ergötzen, die feines Gefühl, Geschmack und Urteil besitzen; diese Absicht seines Erzählens zu bekunden hat er den Rahmen geschaffen. Die Stillage des Decameron erinnert sehr stark an das entsprechende antike genus, an den antiken Liebesroman, die fabula milesiaca. Das ist nicht verwunderlich, da die Einstellung des Schriftstellers zu seinem Gegenstand, und die Publikumsschicht, für die das Werk bestimmt ist, sich in beiden Epochen ziemlich genau entsprechen, und da auch für Boccaccio der Begriff der schriftstellerischen Kunst sich mit dem der Rhetorik verband. Ganz wie in den antiken Romanen beruht Boccaccios Sprachkunst auf einer rhetorischen Formung der Prosa, ganz wie bei ihnen ist der Stil zuweilen an der Grenze des Poetischen; auch er gibt zuweilen dem Gespräch die Form einer wohlgesetzten Rede; und das Gesamtbild eines «mittleren» oder gemischten Stils, der Realistik und Erotik mit eleganter Sprachformung verbindet, ist ganz ähnlich. Doch während der antike Roman eine Spätform ist, die sich in Sprachen verkörpert, die lange vorher ihr Bestes gegeben haben, findet Boccaccios Stilwille eine noch kaum geborene, fast noch ungeformte Literatursprache vor; die rhetorische Überlieferung, in der mittelalterlichen Praxis zu einem fast gespenstisch greisenhaften Mechanismus erstarrt, gerade eben in der Dantezeit von den ersten Übersetzern antiker Autoren noch schüchtern und spröde am italienischen Volgare erprobt, wird in seinen Händen zu einem Wunder‐ IX Frate Alberto 219 <?page no="220"?> werkzeug, welches die italienische Kunstprosa, die erste literarische Prosa des nachantiken Europa, mit einem Schlage entstehen läßt. Sie ist in dem Jahrzehnt entstanden, das zwischen seinen ersten Jugendwerken und dem Decamerone liegt. Boccaccios Anlage ist auf spontane Art sinnlich, zu lieblich fließender, von Sinnlichkeit durchtränkter und eleganter Formung geneigt; er ist von vornherein nicht für den hohen, sondern für den mittleren Stil geschaffen; und die Gesellschaft des Hofes der Anjou in Neapel, wo mehr als im übrigen Italien die spielerisch eleganten Spätformen der nordfranzösisch ritterlichen Kultur Geltung hatten, und wo er seine Jugend verlebte, hat seiner Anlage reiche Nahrung gegeben. Seine ersten Werke sind Bearbeitungen von französischen, abenteuerlich-ritterlichen Liebesromanen des späthöfischen Stils, und in ihrer Art ist, so scheint mir, etwas Französisches zu fühlen: das breiter Zuständliche seiner Schilderungen, das naive Raffinement und die zarten Abtönungen des Liebesspieles, das spätfeudal Mondäne seiner gesellschaftlichen Schilderungen, das Maliziöse seines Witzes; doch je reifer er wird, desto stärker wird daneben das Bürgerliche, Humanistische und vor allem die Beherrschung des kräftig Volkstümlichen. Jedenfalls dient die Neigung zu rhetorischer Überhöhung, die auch für ihn eine Gefahr bedeutete, in seinen Jugendwerken ausschließlich der Darstellung sinnlicher Liebe, und ihr dient auch das Übermaß an mythologischer Gelehrsamkeit und der konventionelle Allegorismus, die in einigen der Jugendwerke sich geltend machen; damit bleibt er, auch wenn er zuweilen darüber hinaus‐ strebt (Teseida), in den Grenzen des mittleren Stiles, der, das Idyllische und das Realistische vereinend, zur Darstellung der sinnlichen Liebe bestimmt ist. Mittleren, idyllischen Stiles ist auch das letzte, weitaus schönste seiner Jugendwerke, das Ninfale fiesolano; und mittleren Stiles ist das große Buch der hundert Novellen. Für die Bestimmung der Stillage ist es nicht von Bedeutung, welche von den Jugendwerken ganz oder teilweise in Versen, und welche in Prosa geschrieben sind; überall ist die Atmosphäre die gleiche. Innerhalb der mittleren Stillage sind freilich die Abtönungen des Decame‐ rone sehr mannigfaltig, und die Grenzen sind weit gesteckt; doch selbst wo sich die Erzählungen dem Tragischen nähern, bleiben Ton und Atmosphäre im Gefühllvoll-Sinnlichen, und vermeiden das Erhabene und Schwere; und auch wo sie noch weit mehr als in unserem Beispiel Motive der groben Farce verwerten, bleiben Sprachform und Darbietung insofern vornehm, als stets unverkennbar Erzähler und Zuhörer weit über dem Gegenstand stehen, und an ihm, von oben her kritisch betrachtend, sich auf leichte und 220 IX Frate Alberto <?page no="221"?> elegante Weise ergötzen. Gerade an den mehr volkstümlich-realistischen und sogar grob farcenhaften Gegenständen ist die Eigentümlichkeit des mittleren eleganten Stiles am besten zu erkennen; denn aus der Formung solcher Erzählungen läßt sich entnehmen, daß es eine Schicht gibt, die, selbst über den niederen Bezirken des alltäglichen Lebens stehend, an ihrer lebendigen Darstellung Freude hat, und zwar eine Freude, die auf das individuell Menschliche und Sinnliche ausgeht, nicht auf den ständischen Typus; all die Calandrinos, Cipollas und Pietros, die Peronellas, Caterinas und Belcolores sind ebenso wie Frate Alberto und Lisetta ganz anders lebendig individualisierte Menschen als der villain oder die Hirtin, die gelegentlich in der höfischen Poesie Zutritt hatten; sie sind sogar noch weit lebendiger, und in ihrer eigentümlichen Form genauer als die Figuren der volkstümlichen Farce, wie wir das oben gesehen haben; obgleich doch das Publikum, dem sie gefallen sollen, ganz anderen Standes ist als sie. Es gibt offenbar zur Zeit Boccaccios eine Schicht, die, selbst hohen Standes, freilich nicht feudal, sondern der städtischen Aristokratie angehörig, an der bunten Wirklichkeit des Lebens, wo auch immer sie erscheint, ein gebildetes Vergnügen empfindet. Es ist zwar insofern die Trennung der Bezirke gewahrt, als die grob realistischen Stücke meist in sozial niederen Schichten, die gefühlvoll sich dem Tragischen nähernden meist in höheren spielen; allein auch das wird nicht streng eingehalten, da das Bürgerliche und das sentimental Idyllische leicht Grenzfälle ergeben; auch sonst ist in dieser Hinsicht die Mischung häufig (z.-B. die Novelle von Griselda, 10,10). Die gesellschaftlichen Voraussetzungen zur Entstehung eines im antiken Sinne mittleren Stiles waren in Italien seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhun‐ derts gegeben; es war in den Städten eine gehobene Schicht von patrizischen Bürgern aufgekommen, deren Gesittung zwar noch vielfach an die Formen und Vorstellungen der feudal-höfischen Kultur anknüpfte, die ihr aber bald, infolge der ganz verschiedenen gesellschaftlichen Struktur und unter dem Einfluß frühhumanistischer Strömungen, ein neues, weniger ständisches, stärker persönliches und realistisches Gepräge gaben. Die innere und die äußere Anschauung erweiterte sich, sie warf die Fesseln der ständischen Beschränkung ab, sie brach sogar ein in das vorher den geistlichen Fachleu‐ ten reservierte Gebiet des Wissens und gab ihm allmählich die angenehme, freundliche, dem gesellschaftlichen Verkehr dienende Form der Bildung. Die eben noch so spröde und ungelenke Sprache wurde biegsam, reich, abgetönt und blühend und erwies sich den Bedürfnissen des gewählten und von eleganter Sinnlichkeit erfüllten gesellschaftlichen Lebens gefällig; die IX Frate Alberto 221 <?page no="222"?> gesellschaftliche Literatur gewann, was sie bis dahin nicht besessen hatte: wirkliche gegenwärtige Welt. Ohne Zweifel steht nun dieser Gewinn in genauer Verbindung mit dem weit bedeutenderen, auf einer höheren Stil‐ ebene erworbenen Weltgewinn, den eine Generation vorher Dante gemacht hatte; und diese Verbindung wollen wir jetzt zu analysieren versuchen. Dazu kehren wir zu unserem Text zurück. Das augenfällig Eigentümlichste an ihm, wenn man ihn älteren Erzählun‐ gen gegenüberstellt, ist die Sicherheit, mit der er vielteilige Tatbestände in der Anschauung und der syntaktischen Gliederung beherrscht, und die Geschmeidigkeit, mit der er Tonlage und Tempo der Erzählung der inneren und äußeren Bewegung des Geschehens anpaßt; wir haben das oben im einzelnen zu zeigen versucht. Das Gespräch der beiden Frauen, die Verbreitung des Gerüchts in der Stadt und die dramatische nächtliche Szene im Hause Lisettas sind zu einem klar übersehbaren Zusammenhang gestaltet, in dem jeder Teil seine selbständige, reiche und frei schwingende Eigenbewegung hat. Daß Dante dieselbe Fähigkeit der Beherrschung einer noch so vielteiligen und verschieden getönten Wirklichkeit besitzt, wie kein anderer uns bekannter Schriftsteller des Mittelalters auch nur entfernt in dem gleichen Maße, das habe ich im vorhergehenden Kapitel an dem Beispiel der Ereignisse zu Beginn des 10. Gesanges der Hölle genau zu zeigen versucht. Der Zusammenschluß des Ganzen, der Wechsel des Tones und des rhythmischen Schwunges etwa zwischen dem Anfangsgespräch und dem Erscheinen Farinatas, oder beim Emportauchen Cavalcantes und in seinen Reden, das souveräne Verfügen über die syntaktischen Werkzeuge der Sprache ist dort so genau es mir möglich war analysiert worden. Dantes Beherrschung der Erscheinungen wirkt weit ungeschmeidiger, aber auch weit bedeutender als die gleiche Fähigkeit Boccaccios; schon der schwere Takt der Terzinen mit ihrem strengen Reimgefüge erlaubt ihm nicht eine so freie und leichte Bewegung wie sie sich Boccaccio gestattet, und er würde sie überdies verachtet haben. Aber es ist unverkennbar, daß Dantes Werk den Blick auf die allgemeine und vielfältige Welt der menschlichen Wirklichkeit zum ersten Male geöffnet hat. Zum erstenmal seit der Antike zeigt sie sich frei und allseitig, ohne ständische Beschränkung, ohne Einengung des Gesichtsfeldes, in einer Anschauung, die sich unbehindert überallhin wendet, einem Geiste, der alle Erscheinungen lebendig ordnet, und einer Sprache, die sowohl der Sinnlichkeit der Erscheinungen wie ihrem vielfältig geordneten Ineinandergreifen Genüge tut. Ohne die Komödie hätte der Decamerone nie geschrieben werden können. Das leuchtet ein, und es ist 222 IX Frate Alberto <?page no="223"?> 29 Inzwischen war es heller Tag geworden, und der gute Mann hörte auf dem Rialto erzählen, wie der Engel Gabriel heut nacht zu Madonna Lisetta gekommen sei, um mit ihr zu schlafen, und wie er, von ihren Verwandten entdeckt, sich aus Furcht in den Kanal geworfen habe: und daß man nicht wisse, was aus ihm geworden sei. auch deutlich, daß die reiche Welt Dantes bei Boccaccio in eine tiefere Stil‐ lage transponiert ist; letzteres wird besonders anschaulich, wenn man zwei ähnliche Bewegungen vergleicht, wie in unserem Text den Satz Lisettas: Comare, egli non si vuol dire, ma l’intendimento mio è l’agnolo Gabriello, mit lnf. 18, 52, wo Venedico Caccianimico sagt: Mal volentier lo dico; / ma sforzami la tua chiara favella, / Che mi fa sovvenir del mondo antico. Es sind selbstverständlich nicht Beobachtungsgabe und Ausdruckskraft, die Boccaccio Dante verdankt; diese Eigenschaften besaß er von sich aus, und zwar in einer ganz anderen Weise als Dante; sein Interesse richtet sich auf Erscheinungen und Gefühle, die Dante zu behandeln verschmäht haben würde. Was er Dante verdankt, ist die Möglichkeit von seinem Talent einen so freien Gebrauch zu machen; den Standort zu gewinnen, von dem aus die ganze gegenwärtige Welt der Erscheinungen übersehen, in all ihrer Vielfältigkeit ergriffen und von einer biegsamen und ausdrucksreichen Sprache wiedergegeben werden kann. Durch die Kraft Dantes, die es ver‐ mochte, all den verschiedenen menschlichen Erscheinungen seines Werkes, Farinata und Brunetto, Pia de’ Tolomei und Sordello, Franz von Assisi und Cacciaguida gerecht zu Werden, sie aus ihren eigenen Bedingungen erstehen und in ihrer eigenen Sprache reden zu lassen, wurde es möglich, daß Boccaccio das gleiche gelang für Andreuccio und Frate Cipolla oder seinen Diener, für Ciappelletto und den Bäcker Cisti, für Madonna Lisetta und Griselda. Zu dieser Kraft der synthetischen Welt-Anschauung gehört auch ein zwar festes, aber trotzdem elastisch-perspektivisches kritisches Bewußtsein, welches ohne abstrakte Moralisierung den Erscheinungen ihren eigentümlichen, genau abgetönten moralischen Wert zuteilt, ja ihn aus ihnen selbst hervorleuchten läßt. Boccaccio fährt in unserer Erzählung, als die Schwäger con gli amesi del agnolo nach Hause zurückgekehrt sind, folgendermaßen fort: In questo mezzo, fattosi il dì chiaro, essendo il buono uomo in sul Rialto, udì dire come l’agnolo Gabriello era la notte andato a giacere con Madonna Lisetta, e da cognati trovatovi, s’era per paura gittato nel canale, nè si sapeva ehe divenuto se ne fosse 29 . Der Ton scheinbaren Ernstes, der nicht einmal ausspricht, daß sich die Venezianer auf dem Rialto totlachen, insinuiert, ohne ein moralisches oder ästhetisches oder sonstwie IX Frate Alberto 223 <?page no="224"?> kritisches Wort laut werden zu lassen, mit voller Deutlichkeit die Wertung des Ereignisses und die Stimmung der Venezianer; hätte Boccaccio statt dessen gesagt, wie hinterlistig Frate Alberto, wie dumm und leichtgläubig Madonna Lisetta gehandelt habe, wie lächerlich und absurd das Ganze sei, und wie sehr die Venezianer auf dem Rialto darüber sich amüsieren, so wäre dies Vorgehen nicht nur viel schwerfälliger gewesen, sondern es hätte die moralische Atmosphäre, die mit noch so vielen Adjektiven nicht zu erschöpfen ist, längst nicht mit der gleichen Schlagkraft verdeutlicht. Das Stilmittel, das Boccaccio verwendet, ist in der Antike sehr hoch geschätzt worden und wurde damals schon «Ironie» genannt; eine solche mittelbare, indirekt insinuierende Redeform hat zur Voraussetzung ein komplexes und vielfältiges System von Wertungsmöglichkeiten und auch ein perspek‐ tivisches Bewußtsein, welches mit dem Ereignis zugleich seine Wirkung insinuiert; daneben wirkt Salimbene, der in seine oben zitierte Anekdote den Satz: videntes hoc Florentini, qui trufatores maximi sunt, ridere coeperunt einschaltet, noch sehr naiv. Die hier bei Boccaccio vorliegende Tönung, die der maliziösen Ironie, ist ihm eigentümlich; sie findet sich nicht in der Komödie; Dante ist nicht maliziös. Aber die Weite des Ausblicks, die Schärfe in der Wiedergabe einer genau bestimmten, komplexen Wertung durch indirekt insinuierende Mittel, das perspektivische Bewußtsein in der Zusammenfassung von Ereignis und Wirkung hat er geschaffen. Er sagt uns nicht, wer Cavalcante ist, was er fühlt und wie das alles zu beurteilen sei; er läßt ihn emportauchen und sprechen und fügt nur hinzu: le sue parole e il modo de la pena m’avean di costui già letto il nome. Noch lange bevor wir etwas Einzelnes erfahren, fixiert er die moralische Tönung der Brunetto-Episode (Inf. 15): - Così adocchiato da cotal famiglia - - fui conosciuto da un che mi prese - - per lo lembo e gridò: Qual maraviglia! - E io, ciuando ’1 suo braccio a me distese, - - ficcai li occhi per lo cotto aspetto, - - sì che ’l viso abbrucciato non difese - la conoscenza sua al mio intelletto: - - e chinando la mia a la sua faccia - - rispuosi: Siete voi qui, ser Brunetto? 224 IX Frate Alberto <?page no="225"?> 30 Also angeäugt von dieser Gesellschaft, ward ich erkannt von einem, der mich beim Saum faßte und rief: «Welch ein Wunder! » Und ich, als er den Arm nach mir aus‐ streckte, drang mit den Augen durch die glutzerfressene Erscheinung, bis daß die Verbrennung des Antlitzes meinem Geist nicht mehr verwehrte, es wiederzuerkennen: und mein Gesicht zu dem seinen neigend, antwortete ich: «Seid ihr hier, Herr·Bru‐ netto? » Und jener: «O mein Sohn-…» 31 «Oh, wenn du wieder in die Welt zurückgekehrt bist und ausgeruht hast von dem langen Wege» (so folgte der dritte Geist dem zweiten), «erinnere dich meiner; ich bin Pia-…» 32 Er hatte eine alte Mutter, die eine gräßliche Person und sehr habsüchtig war; bucklig war sie, schwarz und garstig, allem Guten abgeneigt: niemand mochte sie leiden; sogar E quellì; O figliuol mio-… 30 Ohne ein Wort des Kommentars gibt er uns die ganze Pia de’ Tolomei in ihren eigenen Worten (Purg. 5, vgl. oben Seite-193): - Deh, quando tu sarai tornato al mondo - - e riposato de la lunga via - - (seguitò il terzo spirito al secondo), - ricorditi di me che son la Pia-… 31 Und aus der Fülle von Beispielen, in denen Dante die Wirkung von Erschei‐ nungen, oder auch die Erscheinungen aus ihrer Wirkung illustriert, wähle ich den berühmten Vergleich mit den Schafen, die aus der Umzäunung herausdrängen, mit dem er die langsame Lösung des Staunens der Gruppe im Vorpurgatorio beim Anblick Vergils und Dantes beschreibt (Purg. 3). Gegenüber solchen mit genauester Anschauung des Individuellen und mit den vielfältigsten und subtilsten Mitteln der Sprache vorgehenden Charak‐ terisierungsmethoden wirkt alles Frühere eng und grob und auch ohne rechte Ordnung, sobald es den Erscheinungen nahe zu kommen sucht; man denke etwa an die Verse, mit denen der Dichter des oben zitierten Fablels die alte Mutter seines Priesters beschreibt: - Qui avoit une vieille mere - Mout felonnesse et mout avere; - Bochue estoit, noire et hideuse - Et de touz biens contralieuse. - Tout li mont l’avoit contre cuer, - Li prestres meisme a nul fuer - Ne vosist pour sa desreson - Qu’el entrast ja en sa meson; - Trop ert parlant et de pute ere-… 32 IX Frate Alberto 225 <?page no="226"?> der Pfarrer wollte, wegen ihrer Verrücktheit, unter keinen Umständen zulassen, daß sie in sein Haus kam; sie war allzu geschwätzig und widerwärtig … 33 Meine Schwester, ich weiß nicht, war sie mehr schön oder mehr gut … Das ist keineswegs unanschaulich, und der Übergang von der allgemeinen Charakteristik zur Wirkung auf die Umwelt, sodann die «ja sogar»-Steige‐ rung zum Verhalten des Sohnes zeigt eine natürliche und lebendige Folge; aber es ist alles aufs gröbste und roheste gesagt, ohne jede persönliche und genaue Erfassung; die Adjektive, die doch die Hauptarbeit der Charakteri‐ sierung zu leisten haben, scheinen wahllos in die Verse hineingestreut zu sein, wie es Silbenzahl und Reim erlaubten, moralische und körperliche Eigenschaften bunt durcheinander. Selbstverständlich ist die ganze Charak‐ terisierung direkt gegeben. Freilich verschmäht Dante das unmittelbare Charakterisieren durch Adjektive keineswegs, zuweilen durch Adjektive allgemeinsten Inhalts; das sieht aber dann etwa so aus: - La mia sorella che tra bella e buona - non so qual fosse più-… 33 (Purg. 24, 13/ 4) Ebensowenig verschmäht Boccaccio die unmittelbare Methode des Charak‐ terisierens. In unserem Text finden sich gleich zu Anfang zwei populäre Redensarten zur direkten Veranschaulichung der Dummheit Madonna Li‐ settas: che poco sale avea in zucca und che piccola levatura avea. Liest man den Anfang der Novelle, so findet sich noch eine ganze Sammlung ähnlicher Art und gleicher Absicht: una giovane donna bamba e sciocca; sentiva dello scemo; donna mestola; donna zucca al vento, la quale era anzi che no un poco dolce di sale; madonna baderla; donna poco fila. Diese kleine Kollektion ist wie ein lustiges Spiel, das Boccaccio mit seiner Kenntnis volkstümlicher Scherzausdrücke treibt, und dient vielleicht auch dazu, die lebhafte Laune der Erzählerin Pampinea zu schildern, die mit dieser Novelle die durch die vorhergehende Geschichte bis zu Tränen gerührte Gesellschaft wieder erheitern will. Jedenfalls liebt Boccaccio solch ein Spiel mit mannigfaltigen Redewendungen, die der energischen und erfindungs‐ reichen Sprachkraft des Volkes entstammen; man denke etwa an die Art, wie in der 10. Novelle des 6. Tages der Diener von Frate Cipolla, Guccio, charakterisiert wird, teils direkt, teils durch seinen Herrn; ein Musterbeispiel der Boccaccio eigentümlichen Mischung von Volkstümlichkeit und subtiler Malice, ausklingend in einer der schönsten und weitgespanntesten Perioden, die Boccaccio geschrieben hat (ma Guccio Imbratta il quale era etc.), in der 226 IX Frate Alberto <?page no="227"?> 34 Ich gestehe es, ich bin gewichtig und bin es oft in meinem Leben gewesen; und deshalb, wenn ich mit solchen spreche, die mich nicht gewogen haben, so versichere ich, daß ich nicht schwer bin, sondern so leicht, daß ich wie Kork auf dem Wasser schwimme; und wenn ich bedenke, daß die Predigten, die die Mönche halten, um den Menschen wegen ihrer Sünden ins Gewissen zu reden, heutzutage meist voll sind von Witzeleien, Possen und Schnurren, da meine ich, daß solche Sachen gut am Platze sind in meinen Novellen, die ja geschrieben sind, um den Weibern die Grillen zu vertreiben. die Stillage von der bezauberndsten lyrischen Bewegung (più vago di stare in cucina che sopra i verdi rami l’usignolo) über die in krassesten Realismus (grassa e grossa e piccola e mal fatta e con un paio di poppe che parevan due ceston da letame etc.) bis zu einem Anklang an das pathetisch Gräßliche (non altramenti che si gitta l’avoltoio alla carogna) wechselt, zu einem Ganzen gefügt von der überall durchscheinenden Malice des Schriftstellers. Ohne Dante wäre ein solcher Reichtum an Tönungen und Perspektiven kaum möglich gewesen. Aber von der figural-christlichen Anschauungsart, die Dantes Nachahmung der irdisch-menschlichen Welt erfüllte, und die ihr Kraft und Tiefe gegeben hatte, ist in Boccaccios Buch nichts mehr zu spüren. Seine Gestalten leben auf der Erde und nur auf der Erde; er sieht die Fülle der Erscheinungen unmittelbar als reiche Welt der irdischen Formen. Dazu war er berechtigt, da er ja kein großes, schweres, erhabenes Werk schreiben wollte; mit sehr viel mehr Berechtigung als Dante nennt er den Stil seines Buches «umilissimo e rimesso» (Einleitung zum vierten Tage), denn er schreibt wirklich zur Unterhaltung der Ungelehrten, zum Trost und zur Erheiterung der nobilissime donne, die nicht nach Athen oder Rom oder Bologna gehen, um zu studieren. Mit sehr viel Witz und Anmut verteidigt er sich in seinem Schlußwort gegen die, welche sagen, es stehe einem gewichtigen und ernsten Manne (ad un uom pesato e grave) schlecht an, ein Buch mit soviel Späßen und Possen zu schreiben: Io confesso d’essere pesato, e molte volte de’ miei dì esser stato; e percio, parlando a quelle che pesato non m’hanno, affermo che io non son grave, anzi son io si lieve che io sto a galla nell’acqua: e considerato che le prediche fatte da’ frati, per rimorder delle lor colpe gli uomini, il piu oggi piene di motti e di ciance e di scede si veggono, estimai che quegli medesimi non stesser male nelle mie novelle, scritte per cacciar la malinconia delle femmine. 34 Boccaccio hat wohl recht mit dieser kleinen Malice gegen die Prediger (sie steht übrigens fast mit den gleichen Worten, aber in ganz anderer Tonhöhe, bei Dante, Par. 29,115); aber er vergißt oder ist sich nicht bewußt, daß IX Frate Alberto 227 <?page no="228"?> die vulgäre und naive Possenhaftigkeit der Predigten eine freilich schon etwas verdorbene und anrüchig gewordene Form des christlich-figuralen Realismus ist (s. oben S. 163-166); davon ist bei ihm nicht die Rede; und gerade das, was von seinem Standpunkt ihn rechtfertigt («wenn sogar die Prediger Possen und Witze machen, warum soll ich das nicht in einem der Unterhaltung dienenden Buche tun»), gerade das läßt sein Unternehmen, vom christlich-mittelalterlichen Standpunkt, bedenklich erscheinen; was die Predigt, im Zeichen der christlichen Figuralität, sehr wohl tun darf (Übertreibungen können anstößig werden, aber das grundsätzliche Recht ist unbestreitbar), das darf ein profaner Autor nicht tun; um so weniger, als sein Werk doch letzten Endes nicht ganz so leichten Gewichts ist, wie er sagt; es ist eben doch nicht so naiv und ohne grundsätzliche Gesinnung wie die Volksschwänke. Wäre es das, so könnte man es, vom christlich-mittel‐ alterlichen Standpunkt, als eine läßliche Unordnung ansehen, wie sie das Triebleben und das Unterhaltungsbedürfnis der Menschen hervorbringt, als ein Zeichen ihrer Unvollkommenheit und Schwäche; aber so verhält es sich nicht mit dem Decamerone. Boccaccios Buch ist mittleren Stils, und es hat, bei aller Leichtigkeit und Anmut, eine ganz bestimmte, und zwar durchaus keine christliche Gesinnung. Dabei denke ich nicht so sehr an die Verspottung des Aberglaubens und der Reliquien, auch nicht an solche blasphemischen Späße wie etwa der Ausdruck la resurrezion della carne für die geschlechtliche Erregung beim Manne (3,10); solche Dinge gehören zum mittelalterlichen Schwankrepertoire und brauchen nicht notwendig grundsätzliche Bedeutung zu haben, obgleich sie natürlich, sobald erst einmal eine antichristliche oder antikirchliche Bewegung sich gebildet hatte, große propagandistische Wirksamkeit gewannen; Rabelais zum Beispiel verwendet sie unverkennbar als Waffe (ein ähnlich blasphemischer Witz findet sich bei ihm am Ende des 60. Kapitels von Gargantua, wo Worte aus dem 24. Psalm, ad te levavi, in einer entsprechenden Bedeutung verwendet werden, woraus aber doch auch wieder das Traditionelle und Repertoire‐ mäßige dieser Art von Späßen hervorgeht; vgl. z. B. auch tiers livre, 31, gegen Ende). Das eigentlich Wichtige in der Gesinnung des Decamerone, was der mittelalterlich-christlichen Ethik unbedingt zuwiderläuft, ist die zwar meist in leichtem Ton vorgetragene, aber doch ihrer selbst sehr sichere Liebes- und Naturlehre. Es liegt in der Entstehungsgeschichte und im Wesen des Christentums begründet, daß die moderne Auflehnung gegen seine Lehren und Lebensformen ihre praktische Kraft und ihre propagandistische Wirksamkeit mit viel Erfolg auf dem Gebiet der Geschlechtsmoral erproben 228 IX Frate Alberto <?page no="229"?> konnte; hier wurde der Konflikt zwischen weltlichem Lebenswillen und christlicher Lebensduldung akut, sobald der erstere zum Bewußtsein seiner selbst gelangte. Naturlehren, die das geschlechtliche Triebleben priesen und seine Freiheit forderten, hatten schon in Verbindung mit der theologi‐ schen Krise in Paris, in den siebziger Jahren des 13. Jahrhunderts, eine bedeutende Rolle gespielt; sie haben auch vulgärsprachlich, im zweiten Teil des Rosenromans von Jean de Meun, literarischen Ausdruck gefunden. Boccaccio hat damit unmittelbar nichts zu tun; er kümmert sich nicht um diese viele Jahrzehnte zurückliegenden theologischen Kontroversen; er ist kein halbscholastischer Schulmeister wie Jean de Meun. Seine Liebesmoral ist eine Umbildung der hohen Minne, in der Stilhöhe um einige Stufen tiefer gestimmt und rein auf das Sinnlich-Wirkliche gerichtet; es geht nun unbezweifelbar um die irdische Liebe. Es liegt noch ein Schimmer von dem Zauber der hohen Minne auf einigen der Novellen, in denen Boccaccio seine Gesinnung am deutlichsten zum Ausdruck bringt; so zeigt die Geschichte von Cimone (5,1), wo, wie schon im Ameto, das zentrale Thema von der Erziehung durch Liebe behandelt wird, deutlich ihre Abkunft von der höfischen Epik. Die Lehre, daß die Liebe die Mutter aller Tugenden und aller edlen Art ist, daß sie Mut, Selbstbewußtsein, Aufopferungsfähigkeit verleiht, daß sie Intelligenz und Gesittung bildet, ist ein Erbteil der höfischen Kultur und des Neuen Stils; hier aber wird sie als praktische Moral gegeben, für alle Stände gültig, und die Geliebte ist nicht mehr die unnahbare Herrin oder eine Inkarnation des göttlichen Gedankens, sondern der Gegenstand des geschlechtlichen Verlangens. Selbst im einzelnen bildet sich, freilich nicht ganz konsequent, eine Art Liebesmoral; etwa der Art,·daß gegen den Dritten, etwa gegen den Eifersüchtigen oder die Eltern, oder sonstige liebesfeindliche Mächte jede List und jeder Betrug erlaubt ist, nicht aber zwischen den Liebenden; wenn Frate Alberto sich so wenig der Sympathie Boccaccios erfreut, so darum, weil er ein Heuchler ist, und weil er die Liebe Madonna Lisettas nicht ehrlich gewonnen, sondern heimtückisch erschlichen hat. Es entwickelt sich im Decamerone eine bestimmte ethische, auf dem Recht zur Liebe beruhende, durchaus praktisch-irdische Moral, die ihrem Wesen nach widerchristlich ist. Sie wird mit viel Anmut und ohne energischen Anspruch auf Lehrgeltung vorgetragen; das Buch verläßt nur selten die Stilhöhe der leichten Unterhaltung; zuweilen aber doch, wenn nämlich Boccaccio sich gegen Angriffe verteidigt. Dies geschieht in der Einleitung zum vierten Tage, wo er, an die Frauen sich wendend, folgendes schreibt: IX Frate Alberto 229 <?page no="230"?> 35 Und wenn ich bis jetzt mit all meiner Kraft mich bemüht habe, euch zu gefallen, so will ich es in Zukunft mehr als je tun: denn ich erkenne, daß man vernünftigerweise nichts anderes darüber sagen kann, als daß ich und alle, die euch lieben, der Natur gemäß handeln. Wenn man ihren Gesetzen, nämlich denen der Natur. widerstreben wollte, brauchte es allzu große Kräfte, und meist würde man sie auch noch vergeblich, zu großem Schaden des Widerstrebenden, aufbieten. Ich gestehe, daß ich solche Kräfte nicht besitze, und sie für diesen Zweck auch nicht zu besitzen wünsche: besäße ich sie, so würde ich sie lieber einem anderen leihen als sie für mich selbst in Anwendung bringen. Darum mögen die Nörgler schweigen, und wenn sie sich nicht erwärmen können, gefroren weiterleben; sie mögen bei ihren Freuden, oder vielmehr verdorbenen Gelüsten, verharren, und mich bei der meinen, für das kurze Leben, das uns ergönnt ist, ungeschoren lassen. E, se mai con tutta la mia forza a dovervi in cosa alcuna compiacere mi disposi, ora più che mai mi vi disporrò: perciocchè io conosco che altra cosa dir non potrà alcun con ragione, se non che gli altri et io, che vi amiamo, naturalmente operiamo. Alle cui leggi, cioè della natura, voler contrastare, troppe gran forze bisognano, e spesse volte non solamente in vano, ma con grandissimo danno del faticante s’adoperano. Le quali forze io confesso che io non l’ho nè d’averle disidero in questo: e se io l’avessi, più tosto ad altrui le presterei, che io per me l’adoperassi. Per che tacciansi i morditori, e, se essi riscaldar non si possono, assiderati si vivano; e ne’ lor diletti, anzi appetiti corrotti standosi, me nel mio, questa brieve vita, che posta n’è, lascino stare. 35 Das ist, glaube ich, eine der schärfsten und energischsten Stellen, die Boc‐ caccio zur Verteidigung seiner Liebesmoral geschrieben hat. Die Meinung, die er zum Ausdruck bringen will, ist nicht mißzuverstehen; unverkennbar ist aber auch, daß sie kein Gewicht hat. Mit ein paar Worten über die Unwiderstehlichkeit der Natur und einigen bösartigen Anspielungen auf persönliche Laster seiner Gegner ist ein solcher Kampf nicht ernsthaft zu führen, und das wollte Boccaccio auch gar nicht. Man tut ihm Unrecht und legt einen falschen Maßstab an, wenn man die Lebensordnung, die aus seinem Werk spricht, an der Dantes oder an den späteren Werken der voll entwickelten Renaissance mißt. Die figurale Einheit der irdischen Welt ist in dem Augenblick zerbrochen, wo sie, bei Dante, volle Beherrschung der irdischen Wirklichkeit gewonnen hatte; die Beherrschung der Wirklichkeit in ihrer sinnlichen Vielfalt blieb errungen, aber die Ordnung, in die sie gefaßt war, ist nun verloren, und es trat zunächst nichts an ihre Stelle. Das soll, wie schon gesagt, keine Kritik an Boccaccio sein, aber es muß doch als geschichtliche Tatsache, die über seine Person hinausgreift, festge‐ halten werden: der frühe Humanismus besitzt, der Wirklichkeit des Lebens 230 IX Frate Alberto <?page no="231"?> gegenüber, keine konstruktiv ethische Kraft; er senkt die Realistik wieder in die mittlere, unproblematische und untragische Stillage, die ihr in der klassischen Antike als äußerste Grenze nach oben zugeordnet·war, und setzt, genau wie dort auch, als ihr Hauptthema, ja fast als einziges, die Erotik. Allerdings liegt in dieser jetzt, wovon in einer antiken Kultur nicht die Rede sein konnte, ein äußerst entwicklungsfähiger Keim von Problem und Konflikt, ein praktischer Ansatzpunkt für die sich vorbereitende Bewegung gegen die mittelalterlich-christliche Kultur; aber zunächst, und allein für sich, ist auch jetzt die Erotik noch nicht stark genug, um die Wirklichkeit problematisch oder gar tragisch zu gestalten. Boccaccio verzichtet, sobald er die gesamte vielfältige Wirklichkeit des gegenwärtigen Lebens darstellen will, auf Einheit des Ganzen: er schreibt ein Novellenbuch, in dem vieles ne‐ beneinander steht, zusammengehalten nur durch den gemeinsamen Zweck der gebildeten Unterhaltung. Politische, gesellschaftliche, geschichtliche Probleme, die Dantes Figuralismus vollkommen durchdrang und in die alltäglichste Wirklichkeit einschmolz, fallen ganz fort; wie es mit der metaphysischen und mit der erotischen Problematik steht, welchen Grad von Stilhöhe und menschlicher Vertiefung sie in Boccaccios Werk erreichen, das läßt sich durch Gegenüberstellungen mit Dante leicht feststellen. Es finden sich in der Hölle mehrere Stellen, an denen verdammte Seelen Gott herausfordern, verspotten oder verfluchen; so zum Beispiel die bedeu‐ tende Szene im 14. Gesang, in der Capaneus, einer der Sieben gegen Theben, mitten im Feuerregen Gott herausfordert und dabei ausruft: Qual io fui vivo, tal son morto - oder die höhnische Geste des eben von der greulichen Verwandlung durch den Schlangenbiß wiederauferstandenen Kirchenräu‐ bers Vanni Fucci im 25. Gesang. In beiden Fällen handelt es sich um eine bewußte Auflehnung, wie sie der Geschichte, dem Charakter, der Lage der beiden Verdammten angemessen ist; bei Capaneo ist es der unbesiegte Trotz der prometheischen Empörung, das gottesfeindliche Übermenschentum; bei Vanni Fucci eine durch Verzweiflung ins Maßlose gesteigerte Bosheit. Boccaccios erste Novelle (1,1) erzählt die Geschichte des lasterhaften und betrügerischen Notars Ser Ciappelletto, der in der Fremde, im Haus zweier florentinischer Wucherer, tödlich erkrankt; seine Gastfreunde, die sein böses Leben kennen, befürchten für sich selbst schlimme Folgen, falls er in ihrem Hause ohne Beichte und ohne Absolution stirbt; daß diese ihm verweigert wird, wenn er wahrheitsgemäß beichtet, halten sie für sicher. Um nun seine Gastfreunde aus dieser Verlegenheit zu befreien, betrügt der todkranke alte Mann einen naiven Beichtvater mit einer erlogenen, IX Frate Alberto 231 <?page no="232"?> lächerlich überfrommen Beichte, in der er sich selbst als jungfräulichen, fast sündenlosen und dennoch von übertriebenen Skrupeln geplagten Tu‐ gendbold darstellt; er erreicht auf diese Weise nicht nur die Absolution, sondern wird nach seinem Tode, auf die Aussage des Beichtvaters, wie ein Heiliger verehrt. Die Verhöhnung der Beichte angesichts des Todes, die, wie man denken sollte, ohne grundsätzlich widerchristliche Gesinnung dessen, der sie begeht und ohne grundsätzliche Stellungnahme des Schriftstellers zu dem Problem, sei sie nun christlich verdammend oder widerchristlich billigend, kaum darstellbar ist, dient hier lediglich zur Herausarbeitung von zwei farcenhaft komischen Auftritten: der grotesken Beichte und der feierlichen Beerdigung des vermeintlichen Heiligen. Das Problem wird kaum gestellt. Ser Ciappelletto entschließt sich ganz leichtfertig zu seiner Handlungsweise, nur um mit einem letzten, seiner Vergangenheit würdigen, schlauen Trick seine Wirte von der drohenden Gefahr zu befreien; er gibt dazu eine Begründung, die in ihrer dummen Leichtfertigkeit zeigt, daß er nie über sich selbst und Gott ernsthaft nachgedacht hat («ich habe Gott während meines Lebens schon so viel beleidigt, daß es auf etwas mehr oder weniger, angesichts des Todes, nicht mehr ankommt»), und ebenso leichtfertig, nur den Augenblick bedenkend, sind die beiden Florentiner Eigentümer des Hauses, die die Beichte belauschen und dabei zwar zueinander sagen: was ist das für ein Mensch, der, alt und krank und dem Tode nahe und unmittelbar gewärtig, vor Gottes Gericht zu treten, noch immer nicht von seinen üblen Streichen läßt, und ebenso sterben will, wie er gelebt hat - aber alsdann, da sie sehen, daß der Zweck, nämlich ein kirchliches Begräbnis, erreicht ist, sich nicht weiter darum kümmern. Nun ist es zwar durchaus wahr und der Erfahrung entsprechend, daß sehr viele Menschen die schwerwiegendsten Handlungen ohne eine den Handlungen entsprechende volle Überzeugung, einfach aus der Lage des Augenblicks, dem Gefälle ihrer Gewohnheiten, einem flüchtigen Impuls begehen; aber wenigstens vom Schriftsteller, der etwas dieser Art berichtet, erwartet man eine ordnende Entscheidung. Boccaccio läßt auch tatsächlich den Erzähler Panfilo am Schluß mit einigen Worten Stellung nehmen; allein diese Worte sind lahm, unentschieden und ohne Gewicht; weder atheistisch noch in der entschiedenen Weise christlich, wie es der Gegenstand fordert; es ist unleugbar, daß Boccaccio das ungeheuerliche Abenteuer nur wegen der komischen Wirkung der beiden oben erwähnten Szenen erzählt hat und jede ernsthafte Einordnung oder Stellungnahme vermeidet. 232 IX Frate Alberto <?page no="233"?> In der Geschichte Francescas von Rimini hatte Dante, seiner Art und dem Stand seiner Entwicklung gemäß, das Große und Wirkliche gegeben; es ist, zum erstenmal im Mittelalter, keine aventure, kein Zaubermärchen, frei von der lieblich-spitzen Koketterie und dem ständischen Liebeszeremoniell der höfischen Kultur, auch nicht unerkennbar hinter dem Schleier der geheimen Bedeutung verborgen wie im Neuen Stil; sondern eine wirklich gegenwärtige Handlung, höchsten Tones, ebenso unmittelbar wirklich als Erinnerung an ein irdisches Geschick wie als Begegnung im Jenseits. In den Liebesgeschichten, die Boccaccio tragisch oder edel gestalten will (sie finden sich meist unter den Novellen des vierten Tages), überwiegt das Abenteuerliche und das Sentimentale; wobei das Abenteuer nun nicht mehr, wie in der höfischen Epik der Blütezeit, die in die ständische Idealvorstellung verschmolzene, innerlich notwendige Erprobung von Auserwählten ist (vgl. oben Seite 139-142), sondern tatsächlich nur das Zufällige, fortdauernd Un‐ erwartete des schnellen und heftigen Ereigniswechsels. Das Herausarbeiten des zufälligen Abenteuers läßt sich selbst bei vergleichsweise ereignisarmen Novellen zeigen, wie der ersten des vierten Tages, von Guiscardo und Ghismonda. Dante hat es verschmäht die Umstände zu erwähnen, unter denen Francesca und Paolo von dem Gatten entdeckt wurden; er verschmäht bei solchem Gegenstand jede ausgefeilte Zufälligkeit, und die Szene, die er schildert, die der gemeinsamen Lektüre des Buches, ist die alltäglichste von der Welt, interessant nur durch das, was sie auslöst. Boccaccio verwendet einen guten Teil seines Textes auf das kompliziert abenteuerliche Verfahren, welches die Liebenden anwenden müssen, um ungestört beieinander zu sein, und auf das zufällige Zusammentreffen von Umständen, das zu ihrer Entde‐ ckung durch den Vater Tancredi führt. Es sind Abenteuer wie im höfischen Roman, etwa wie die Liebesgeschichte zwischen Cligès und Fenice in dem Roman Chrétien de Troyes’; aber die Märchenluft der höfischen Epik ist verflogen, und die Ethik der ritterlichen Erprobung ist zu einer allgemeinen Natur- und Liebesmoral geworden, die sich überaus sentimental äußert. Das Sentimentale seinerseits, oft an sinnliche Gegenstände gebunden (das Herz des Geliebten, der Falke), was an Märchenmotive erinnert, wird in der Mehrzahl der Fälle mit einem Überfluß an Rhetorik ausgestattet; man denke etwa an die lange Verteidigungsrede Ghismondas. All diese Novellen haben keine entschiedene Stileinheit; sie sind zu abenteuerlich und zu märchenhaft, um wirklich, zu entzaubert und zu rhetorisch, um märchenhaft, und viel zu sentimental, um tragisch zu sein. Die auf das IX Frate Alberto 233 <?page no="234"?> Tragische abzielenden Novellen sind weder im Wirklichen noch im Gefühl unmittelbar; sie sind allenfalls das, was man rührend nennt. Gerade an den Stellen, wo Boccaccio versucht ins Problematische oder Tragische zu dringen, wird das Unklare und Unsichere seiner frühhumanis‐ tischen Gesinnung erkennbar. Seine Realistik, frei, reich und meisterhaft in der Beherrschung der Erscheinungen, vollkommen natürlich in den Grenzen des mittleren Stils, wird flau und oberflächlich, sobald Problematik oder Tragik gestreift werden. In Dantes Komödie hatte die christliche Figural‐ deutung den menschlich-tragischen Realismus verwirklicht, und war dabei selbst zerstört worden; doch auch der tragische Realismus ging sogleich wieder verloren; die Weltlichkeit von Männern wie Boccaccio war noch zu unsicher und haltlos, um eine Grundlage zu bieten, welche, wie jene Deutung, die Welt im ganzen als wirkliche zu ordnen, zu interpretieren und darzustellen gestattete. 234 IX Frate Alberto <?page no="235"?> X Madame du Chastel A NTOIN E D E LA S AL E , ein aus der Provence stammender Ritter des spätfeu‐ dalen Typus, Soldat, Hofbeamter, Prinzenerzieher, Sachverständiger für Heraldik und Turnierwesen, wurde gegen 1390 geboren und starb nach 1461. Er stand den größten Teil seines Lebens im Dienste der Anjou, die bis gegen 1440 um ihr Königreich Neapel kämpften, zugleich aber auch in Frankreich großen Besitz hatten; er verließ sie 1448, um die Söhne des Grafen von Saint-Pol, Louis de Luxembourg, zu erziehen; Louis de Luxembourg spielte eine bedeutende Rolle in den wechselvollen Beziehungen zwischen den französischen Königen und den Herzögen von Burgund. Antoine de la Sale hat in seiner Jugend eine portugiesische Expedition nach Nordafrika mitge‐ macht, er war oft mit den Anjou in Italien, er kannte die Höfe von Frankreich und Burgund. Wie es scheint, begann er seine schriftstellerische Tätigkeit mit Kompendien für seine prinzlichen Zöglinge; vielleicht entdeckte er dabei Talent und Neigung zum Erzählen. Sein bekanntestes Werk ist ein Liebes- und Erziehungsroman, l’Hystoyre et plaisante Cronique du Petit Jehan de Saintré, wohl das lebendigste literarische Dokument des französischen Spätfeudalismus. Eine Zeitlang hat man ihm auch anderes zugeschrieben, die Quinze Joyes de Mariage und die Cent Nouvelles Nouvelles, obgleich beide Werke nichts von dem sehr eigentümlichen, sehr deutlich faßbaren Wesen La Sales besitzen; neuerdings scheint die Mehrzahl der Forscher (seit W. Söderhjelms Buch über die französische Novelle im 15. Jahrhundert, Paris 1910) davon abgekommen zu sein. Er war schon etwa 70 Jahre alt, als er eine Trostschrift für eine Dame verfaßte, die ihr erstes Kind verloren hatte. Diese Schrift, le Réconfort de Madame du Fresne, ist von J. Nève in seinem Buch über Antoine de la Sale (Paris et Bruxelles, 1903, Seiten 101-155) veröffentlicht worden. Sie beginnt mit einer sehr herzlich gehaltenen Einleitung, die außer from‐ men Mahnungen Zitate aus der Bibel, aus Seneca und aus Bernhard von Clairvaux auch noch das Märchen vom Totenhemd und den Preis eines zeitgenössischen, kurz zuvor verstorbenen Heiligen enthält; dann folgen zwei Erzählungen von tapferen Müttern. Von den Erzählungen ist die erste die weitaus bedeutendere. Sie berichtet, übrigens mit vielen Irrtümern und Verwechslungen, eine Episode aus dem Hundertjährigen Krieg. <?page no="236"?> Die Engländer, unter dem schwarzen Prinzen, belagern die Festung Brest, und der darin kommandierende Seigneur du Chastel sieht sich schließlich gezwungen, ein Abkommen zu schließen des Inhalts, er werde die Festung dem Prinzen zu einem bestimmten Termin übergeben, wenn er bis dahin keine Hilfe erhalte; als Geisel gibt er seinen dreizehnjährigen einzigen Sohn; unter diesen Bedingungen gewährt der Prinz Waffenstillstand. Am vierten Tage vor dem Termin gelangt ein Schiff mit Lebensmitteln in den Hafen; es herrscht große Freude, und der Kommandant schickt einen Herold zum Prinzen, mit der Aufforderung, ihm den Geisel zurückzugeben, da Hilfe gekommen sei, indem er zugleich, nach ritterlicher Sitte, ihn bittet, sich nach Wunsch von den angekommenen Vorräten zu bedienen. Der Prinz, voll Ärger, daß ihm die langersehnte, schon sicher geglaubte Beute entgeht, erkennt die Ankunft von Lebensmitteln nicht als Hilfe im Sinne des Vertrages an und verlangt Übergabe der Festung zum bestimmten Termin; sonst sei der Geisel verfallen. Sehr eindringlich, ein wenig umständlich, mit genauer Wiedergabe des zeremoniellen Auftretens der die verschiedenen Botschaften überbringenden Herolde, werden die einzelnen Etappen des Vorgangs erzählt: wie der Prinz zunächst eine abweisende, aber noch nicht ganz klare Antwort sendet; wie der Herr du Chastel, Böses ahnend, seine Verwandten und Freunde zur Beratung versammelt, die zuerst nur schweigend einan der ansehen; keiner will als erster sprechen; keiner will recht glaubeir, daß es der Prinz ernst meint; keiner will einen Rat geben, wenn es doch der Fall sein sollte: Touteffoiz, conclurent que rendre la place, sans entier deshonneur, à loyalement conseillier, n’en veoient point la fachon. Alsdann wird erzählt, wie in der Nacht die Frau des Kommandanten ihm seinen Kummer anmerkt und schließlich die Wahrheit von ihm erfährt; wie sie darauf einen Ohnmachtsanfall erleidet; wie am Tage vor dem Übergabetermin die Herolde des Prinzen mit der unzweideutigen Forderung auf Erfüllung des Vertrages erscheinen; wie sie mit Zeremoniell und Höflichkeit, die zu dem feindseligen Inhalt der gewechselten Worte im Gegensatz steht, empfangen und entlassen werden; wie der Herr du Chastel seinen Verwandten und Freunden ein heiteres und entschlossenes Gesicht zeigt; wie er aber in der Nacht, allein mit seiner Frau, im Bett, die Fassung verliert und sich völlig der Verzweiflung überläßt. Hier ist der Höhepunkt der Erzählung: Madame, qui de l’autre lez son très grand dueil faisoit, voyant perdre de son seigneur l’onneur ou son très bel et gracieux filz, que au dist de chascun, de l’aaije 236 X Madame du Chastel <?page no="237"?> de XIII ans ne s’en trouvoit ung tel, doubta que son seigneur n’en preist la mort. Lors en son cuer se appensa et en soy meismes dist: Helasse moy dollente! se il se muert, or as-tu bien tout perdu. Et en ce penssement elle l’appella. Mais il riens n’entendit. Alors elle, en s’escriant, lui dist: «Ha! Monseigneur, pour Dieu, aiez pitié de moy, vostre povre femme, qui sans nul service reprouchier, vous ay sy loyalment amé, servy et honnouré, vous à jointes mains priant que ne veuillez pas vous, nostre filz et moy perdre a ung seul cop ainssy.» Et quant le sire entend de Madame son parlér, á chief de pièce luy respondit: «Helasse, m’amye, et que est cecy? Où est le cuer qui plus ne amast la mort que vivre ainssi où je me voy en ce très dur party? » Alors, Madame, comme très saige et prudente, pour le resconfforter, tout-à-cop changa son cruel dueil en très vertueulx parler et lui dist: «Monseigneur, je ne diz pas que vous ne ayez raison, mais puisque ainssi est le voulloir de Dieu, il vuelt et commande que de tous les malvaiz partis le mains pire en soit prins.» Alors, le seigneur lui dist: «Doncques, m’amye, conseilliez moy de tous deux le mains pire à vostre advis.» - «A! Monseigneur, dist-elle, il y a bien grant choiz. Mais de ceste chose, à jointes mains vous supplie, pardonnez moy, car telles choses doivent partir des nobles cuers des vertueulx hommes et non pas des femelins cuers des femmes qui, par l’ordonnance de Dieu, sommes à vous, hommes, subgettes, especialement les espouseez et qui sont meres des enffants, ainssi que je vous suis et à nostre filz. Sy vous supplie, Monseigneur, que de ce la congnoissance ne s'estende point à moy.» - «Ha, m’amye, dist-il, amour et devoir vuellent que de tous mes principaulx affaires, comme ung cuer selon Dieu en deux corps, vous en doye deppartir, ainssi que j’ay touiours fait, pour les biens que j’ay trouvez en vous. Car vous dictes qu’il y a bien choiz. Vous estes la mere et je suis vostre mary. Pourquoy vous prie à peu de parolles que le choiz m’en declairiez.» Alors, la très desconffortee dame, pour obeir luy dit: «Monseigneur, puisque tant voullez que le chois vous en die» - alors renfforca la prudence de son cuer par la très grande amour que elle à lui avoit, et lui dist: «Monseigneur, quoy que je dye, il me soit pardonné; des deux consaulx que je vous vueil donner, Dieux avant, Nostre Dame et monseigneur saint Michiel, que soient en ma pensee et en mon parler. Dont le premier est que vous laissiez tous vos dueilz, vos desplaisirs et vos penssers, et ainssy feray-je. Et les remettons tous ès mains de nostre vray Dieu, qui fait tout pour le mieulx. Le Ilme et derrain est que vous, Monseigneur, et chascun homme et femme vivant, savez que, selon droit de nature et experience des yeulx, est chose plus apparante aue les enffans sont filz ou filles de leurs meres qui en leurs flans les ont portez et enffantez que ne sont de leurs maris, ne de ceulx à qui ont les donne. Laquelle chose, Monseigneur, je dis pour ce que ainssi nostre filz est plus apparant mon X Madame du Chastel 237 <?page no="238"?> vray filz qu’il n’est le vostre, nonobstant que vous en soyez le vray pere naturel. Et de ce j’en appelle nostre vray Dieu à tesmoing au très espouventable jour du jugement. Et car pour ce il est mon vray filz, qui moult chier m’a cousté à porter l’espasse de IX mois en mes flans, dont en ay receu maintes dures angoisses et par mains jours, et puis comme morte à l’enffanter, lequel j’ay sy chierement nourry, amé et tenu chier jusques au jour et heure que il fut livré. Touttefoiz ores, pour toujours mais, je l’abandonne ès mains de Dieu et vueil que jamais il ne me soit plus riens, ainssi que se jamaiz je ne le avoye veu, ains liberalement de cuer et franchement, sans force, contrainte, ne viollence aucune, vous donne, cede et transporte toute la naturelle amour, l’affection et le droit que mere puelt et doit avoir à son seul et très amé filz. Et de ce j’en appelle à tesmoing le trestout vray et puissant Dieu, qui le nous a presté le espasse de XIII ans, pour la tincion et garde de vostre seul honneur, à tous jours mais perdu se aultrement est. Vous ne avez que ung honneur lequel après Dieu, sur femme, sur enffans et sur toutes choses devez plus amer. Et sy ne avez que ung seul filz. Or advisez duquel vous avez la plus grande perte. Et vrayement, Monseigneur, il y a grant choiz. Nous sommes assez en aaige pour en avoir, se à Dieu plaist; mais vostre honneur une foiz perdu, lasse, jamais plus ne le recouvrerez. Et quant mon conseil vous tendrez, les gens diront de vous, mort ou vif que soiez: C’est le preudomme et très loyal chevallier. Et pour ce, Monseigneur, sy très humblement que je scay, vous supplie, fetes comme moy, et en lui plus ne penssés que se ne l’euissiez jamaiz eu; ains vous resconffortez, et remerciez Dieu de tout, qui le vous a donné pour votre honneur rachetter.» Et quant le cappitaine oist Madame si haultement parler, avec un contemplatif souspir, remercia Jhesus-Crist, le très hault et puissant Dieu, quant du cuer de une femeline et piteuse creature partoient sy haultes et sy vertueuses parolles comme celles que Madame disoit, ayant ainssy du tout abandonné la grant amour de son seul et très aimé filz, et tout pour l’amour de lui. Lors en briefves parolles luy dist: «M’amye, tant que l’amour de mon cuer se puelt estendre, plus que oncques mais vous remercie du très hault et piteux don que m’avez maintenant fait. J’ay ores oy la guette du jour corner, et ja soit que ne dormissions à nuit, sy me fault-il lever; et vous aucum peu reposerez.» - «Reposer, dist-elle, hellas, Monseigneur, je n’ay 238 X Madame du Chastel <?page no="239"?> 36 Madame, die auf der anderen Seite sich ihrem großen Kummer hingab, während sie bedachte, daß nun entweder die Ehre ihres Gemahls oder ihr allerschönster und liebster Sohn verloren sei (von dem alle Welt sagte, daß seinesgleichen im Alter von dreizehn Jahren nirgends zu finden sei), fürchtete, ihr Gemahl könnte die Qual nicht überleben. Da bedachte sie sich in ihrem Herzen und sprach zu sich selbst: Ach ich Elende! wenn auch er stirbt, dann habe ich wahrhaftig alles verloren. Und aus diesen Gedanken rief sie ihn an. Aber er hörte nicht. Da erhob sie ihre Stimme und sagte zu ihm: «O Herr, um Gottes willen, habt Mitleid mit mir, eurem armen Weibe, die euch ohne Klage treu geliebt, gedient und geehrt hat: ich bitte euch mit gefalteten Händen, richtet nicht euch, unseren Sohn und mich mit einem Schlage zugrunde.» Und als der Herr die Rede Madames hört, da antwortete er ihr schließlich: «Ach, liebe Frau, was soll das alles? Welches Herz möchte nicht lieber sterben als in einer so traurigen Zwangslage wie der meinen leben? » Da hörte Madame, die sehr weise und klug war, sogleich auf zu klagen, um ihm eine Stütze zu sein, nahm ihren Mut zusammen und sprach: «Herr, ich sage nicht, daß ihr Unrecht habt, aber da es so Gottes Wille ist, verlangt und gebietet er, daß man von den Übeln das geringere wähle.» Da sagte der Herr zu ihr: «So ratet mir also, liebe Frau, welches von den beiden Übeln ihr für das geringere haltet.» - «Ach Herr, sagte sie, das ist eine schwere Wahl. Doch vor dieser Entscheidung, mit gefalteten Händen flehe ich euch an, befreit mich! Denn solche Entscheidungen müssen aus den edlen Herzen tapferer Männer entspringen und nicht aus den weiblichen Herzen der Frauen, die, nach Gottes Ratschluß, euch Männern untertan sind, besonders wenn sie Gattinnen sind und Mütter von Kindern, wie ich von euch und unserem Sohn. Darum flehe ich euch an, Herr, daß diese Entscheidung von mir fern bleibe! » - «Ach, liebe Frau», sagte er, «Liebe und Pflicht gebieten, da wir ja nach Gottes Gebot ein Herz in zwei Leibern sind, daß ich euch an all meinen wichtigen Geschäften teilhaben lasse, so wie ich es auch immer gehalten habe, um des Guten willen, das ich in euch gefunden habe. Ihr sagt eben, es gebe eine Wahl. Ihr seid die Mutter und ich bin euer Gatte. Darum bitte ich euch, sagt mir mit wenig Worten, was ihr wählen wollt.» Da sprach die unglückliche Frau, um ihm zu gehorchen: «Herr, wenn ihr also wollt, daß ich euch die Wahl sage -» und hier nahm sie alle Klugheit ihres Herzens zusammen, um der großen Liebe willen, die sie zu ihm hegte, und sagte ihm: «Herr, möge mir vergeben werden, was ich sage; und mögen bei den beiden Ratschlägen, die ich euch geben will, Gott vor allem, und unsere liebe Frau, und der heilige Michael in meinen Gedanken und meinen Worten sein. Der erste Rat ist, daß ihr eure Trauer, euren Kummer und eure Sorgen fahren laßt, und so will auch ich tun. Und legen wir alles in die Hände unseres cuer, œul, ne membre sur mon corps qui en soit d’accord. Mais je me leveray et yrons à messe tous deux remerchier Nostre Seigneur de tout.» 36 Nach dieser Szene zieht sich die Erzählung noch lange hin; noch einmal erscheinen die Herolde des Prinzen, um zur Übergabe aufzufordern und mit der Hinrichtung des Knaben zu drohen, und werden abgewiesen; alsdann beschließt der Kommandant einen Ausfall zu unternehmen, um einen gewaltsamen Versuch zur Rettung zu machen; dann springt die Erzählung ins feindliche Lager, wo der Prinz das Kind in Ketten zur Hinrichtung führen läßt, und den Herold des Herrn du Chastel (der ebenfalls Chastel heißt) X Madame du Chastel 239 <?page no="240"?> wahrhaftigen Gottes, der alles zum besten wendet. Der andere und letzte ist, daß ihr, Herr, wie alle Welt, wißt, daß nach natürlichem Recht und Erfahrung unserer Augen die Kinder weit offenkundiger Söhne und Töchter ihrer Mütter sind, die sie in ihrem Leibe getragen und geboren haben, als die ihrer Gatten noch anderer (? ), denen man sie schenkt. Und dies sage ich, Herr, weil auf diese Art unser Sohn weit offenbarer mein wahrer Sohn ist als der eure, ob ihr gleich sein wahrer natürlicher Vater seid. Und dafür rufe ich unseren wahren Gott zum Zeugen an am schrecklichen Tage des Gerichts. Und darum ist er mein wahrer Sohn, den ich mit vielen Schmerzen neun Monate in meinem Leibe getragen habe, indes ich viele Tage schwere Beängstigung litt, den zu gebären ich fast gestorben wäre, und den ich mit soviel Sorgfalt aufgezogen, geliebt und gehegt habe, bis zu dem Tag und der Stunde, zu der er ausgeliefert wurde. Aber jetzt, und von nun an für alle Zeit, übergebe ich ihn den Händen Gottes und will, daß er mir nie mehr etwas gelten soll, gleich als hätte ich ihn nie gesehen; und aus freiem Entschluß, ohne Zwang, Nötigung und Gewalt, trete ich euch ab, überlasse und schenke ich euch alle natürliche Liebe und Zuneigung und das Recht, das einer Mutter an ihrem einzigen sehr geliebten Sohn zustehen kann und soll. Dafür rufe ich zum Zeugen an den wahren und allmächtigen Gott, der ihn uns geliehen hat für den Zeitraum von dreizehn Jahren zur Erhaltung und Bewahrung eurer einzigen Ehre, die sonst für alle Zeit verloren wäre. Ihr habt nur eine Ehre, die ihr, nächst Gott, am meisten lieben sollt, mehr als Frau und Kinder und alle anderen Dinge. Freilich habt ihr auch nur einen einzigen Sohn; überlegt wohl, welcher Verlust für euch der größere ist. Und wahrhaftig, Herr, hier lohnt es wohl, eine Wahl zu treffen. Wir sind noch in dem Alter, um Kinder zu bekommen, wenn es Gott gefällt; aber wenn eure Ehre einmal verloren ist, ach, so könnt ihr sie nie wiedergewinnen. Und wenn ihr meinem Rat folgt, so werden die Leute, ob ihr lebt oder tot seid, von euch sprechen: das ist ein Ehrenmann und ein echter Ritter. Und darum, Herr, bitte ich euch in aller Demut, tut wie ich und hört auf, an ihn zu denken, gleich als hättet ihr ihn nie besessen; sondern schöpft Mut und dankt für alles Gott, der ihn euch gegeben hat, um eure Ehre zu retten.» Und als der Kommandant Madame mit so edlem Mut reden hörte, da dankte er mit einem frommen Seufzer Jesus Christus, dem hohen und mächtigen Gott, daß aus dem Herzen eines schwachen weiblichen Geschöpfs so hohe und tugendhafte Worte kamen wie die, welche Madame gesprochen hatte, die ganz und gar die Liebe zu ihrem einzigen sehr geliebten Sohn geopfert hatte, und all dies aus Liebe zu ihm. Dann sagte er ihr mit kurzen Worten: «Liebe Frau, mit aller Kraft der Liebe meines Herzens danke ich euch, mehr als je für irgend etwas. für das höchste und schmerzlichste Geschenk, das trotz seines Sträubens zwingt, sich dem Zuge anzuschließen; hierauf wird berichtet, wie in der Festung die Frau des Kommandanten ihn von dem Aus‐ fallsversuch zurückhält und ohnmächtig wird, während die Wachen schon die Rückkehr der feindlichen Abteilungen, die das Kind zur Hinrichtung geführt haben, beobachten, so daß es ohnehin für die geplante Aktion zu spät ist; wie der Kommandant seine Frau ins Bett bringen läßt und sie tröstet; wie der Herold Chastel in die Festung zurückkehrt und dem Kommandanten von dem Geschehenen berichtet, wo bei vieles wiederholt wird, was in etwas 240 X Madame du Chastel <?page no="241"?> ihr mir jetzt gemacht habt. Ich habe eben das Horn gehört; es ist Tag; und obwohl wir diese Nacht nicht geschlafen haben, so muß ich doch aufstehen; aber ihr könnt noch ein wenig ruhen.» - «Ruhen», sagte sie, «ach Herr, ich habe weder Herz noch Auge noch Glieder an meinem Körper, die das vermöchten. Aber ich werde aufstehen, und wir werden zusammen zur Messe gehn, um dem Herrn für alles zu danken.» anderer Form schon vorher gesagt war; doch will ich die Schilderung von dem Tode des Knaben, wie sie der Herold gibt, noch wörtlich hierhersetzen: Mais l’enffant qui, au resconffort des gardes, cuidoit que on le menast vers le chastel, quand il vist que vers le mont Reont alloient, lors s’esbahist plus que oncques mais. Lors tant se prist à plourer et desconfforter, disant à Thomas, le chief des gardes: «Ha! Thomas, mon amy, vous me menez morir, vous me menez morir; hellas! vous me menez morir! Thomas, vous me menez morir! hellas! monsieur mon pere, je vois morir! hellas! madame ma mere, je vois morir, je vois morir! hellas, hellas, hellas, je vois morir, morir, morir, morir! » Dont en criant et en plourant, regardant devant et derriere et entour lui, à vostre coste d’arme que je portoye, lasse my! et il me vist, et quant il me vist, à haute voix s’escria, tant qu’il peust. Et lors me dist: «Ha! Chastel, mon amy, je voiz morir! hellas! mon ami, je voiz morir! » Et quant je ainssi le oys crier, alors, comme mort, à terre je cheys. Et convint, par l’ordonnance, que je fusse emporté après luy, et là, à force de gens, tant soustenu que il eust prins fin. Et quant il fust sur le mont descendu, là fust un frere qui, par belles parolles esperant en la grâce de Dieu, peu à peu le eust confessé et donné l’absolucion de ses menus pechiez. Et car il ne povoit prendre la mort en gré, lui convint tenir le chief, les bras et les jambes lyez, tant se estoit jusques aux os des fers les jambes eschiees, ainsi que depuis tout me fut dit. Et quand ceste sy très cruelle justice fut faitte, et à chief de piece que je fus X Madame du Chastel 241 <?page no="242"?> 37 Aber das Kind, welches glaubte, man führe es vor die Festung (denn das hatten ihm die Wachen vorgeredet, um es zu trösten), sah nun, daß es zum Mont Réont ging und erschrak über die Maßen. Es fing nun an zu weinen und sich zu entsetzen und sprach zu Thomas, dem Führer seiner Wachen: «Ach, lieber Thomas, ihr führt mich zum Sterben; ach, ihr führt mich zum Sterben, Thomas, ihr führt mich zum Sterben! Ach, lieber Herr Vater, ich soll sterben! ach, liebe Frau Mutter, ich soll sterben, ich soll sterben! ach, ach, ach, ich soll sterben, sterben, sterben, sterben! » Und wie er so schrie und weinte und sich umsah, nach vorn, nach hinten, nach allen Seiten, da sah er auch mich Unseligen mit eurem Waffenrock, den ich trug, und als er mich sah, schrie er aus Leibeskräften und sprach zu mir: «O lieber Chastel, ich soll sterben! lieber Chastel, ich soll sterben! ach, Lieber, ich soll sterben! » Und als ich ihn so schreien hörte. da fiel ich zu Boden wie tot. Aber es war befohlen, daß ich hinter ihm her geschleppt würde, und so wurde ich von vielen Leuten so lange aufrecht gehalten, bis alles zu Ende war. Und auf dem Berge war ein Mönch, der ihm mit Worten der Hoffnung auf die Gnade Gottes Trost zusprach, ihm allmählich die Beichte abnahm und ihm die Absolution erteilte für seine kleinen Sünden. Und weil er so ganz und gar nicht sterben wollte, mußte man ihm den Kopf festhalten und die Arme und Beine binden, so daß die Beine bis zu den Knochen durchgescheuert waren, was man mir alles nachher erzählt hat. Und als dieser sehr grausame Richterspruch vollstreckt war, und ich zuletzt auch die Besinnung wiedererlangt hatte, da zog ich euren Waffenrock aus und legte ihn auf seine Leiche. 38 Edler Herr Gott, Ihr habt ihn mir bis zum heutigen Tage geliehen, nehmt seine Seele auf und verzeiht ihm, daß er sich gegen den Tod gesträubt hat, und verzeiht auch mir, daß ich, um recht zu handeln, ihn in diese Lage gebracht habe. Ach arme Mutter, was wirst du sagen, wenn du von dem kläglichen Tode deines lieben Sohnes erfahren wirst, obwohl du ihn mir zu Liebe ganz aufgegeben hattest, um meine Ehre zu retten. Ach edler Herr Gott, seid mit meinen Worten um sie dessen zu trösten. de pasmoison revenu, lors je despouillay vostre coste d’armes, et sur son corps la mis-… 37 Der Herold schließt seinen Bericht mit den bitteren Worten, die zwischen ihm und dem Prinzen gewechselt wurden, als er den Leichnam des Knaben erbat und erhielt. Nun wird geschildert, wie der Seigneur, als er alles gehört hat, ein Gebet spricht: Beaux sires Dieux, qui le me avez jusques à aujourd’uy presté, vueillez en avoir l’âme et lui pardonner de ce que il a la mort mal prinse en gré, et à moi aussi, quant pour bien faire l’ay mis en ce party. Hellasse! povre mere, que diras-tu quant tu saras la piteuse mort de ton chier filz, combien que pour moy tu le avoyes de tous poins abandonné pour acquittier mon honneur. Et, beau sires Dieux, soiez en ma bouche pour l’en resconforter.» 38 Dann folgt das feierliche Begräbnis, und die Szene, wie er der Frau, der er bis dahin das Geschehene verborgen hat, vor vielen Leuten, bei der Tafel, von dem Tode des Kindes Mitteilung macht; sie bleibt gefaßt. Einige Tage 242 X Madame du Chastel <?page no="243"?> 39 Geht zu eurem Herrn Herodes und sagt ihm euren großen Dank für euer linkes Auge, euer linkes Ohr und eure linke Hand, die ich euch lasse, weil er den toten und unschuldigen Leib meines Sohnes meinem Herold Chastel herausgegeben hat. später muß der Prinz die Belagerung aufheben; der Kommandant findet noch Gelegenheit zu einem erfolgreichen Überfall, wobei eine erhebliche Anzahl von Gefangenen gemacht werden. Von diesen läßt er die zwölf vornehmsten, die sich um hohe Summen loskaufen wollen, an einem hohen, weithin sichtbaren Galgen aufhängen; den übrigen wird das rechte Auge ausgestochen, das rechte Ohr und die rechte Hand abgehauen, worauf er sie zurückschickt: «Allez à vostre seigneur Herodes, et luy dittes de par vous grant mercis des autres yeulx, oreilles et poings senestres que je vous laisse, pour ce que il donna le corps mort et innocent de mon filz à Chastel mon herault.» 39 Der Text, den ich etwas ausführlicher dargestellt habe - teils weil in der Ausführlichkeit ein bedeutender Teil seines Wesens liegt, teils auch, weil er der Mehrzahl der Leser nicht so bequem zugänglich sein dürfte wie die bisher besprochenen - ist um mehr als ein Jahrhundert jünger als Boccaccios Decamerone; er wirkt aber unvergleichlich mittelalterlicher und unmoderner. Dieser Gesamteindruck ist beim Leser spontan und sehr stark; ich will versuchen, die einzelnen Elemente, die ihn hervorbringen, deutlich zu machen. Was die Form betrifft, so zeigen sowohl Satzbau wie Komposition des Ganzen nichts von der antikisch-humanistischen Biegsamkeit, Mannigfal‐ tigkeit, Klarheit und Ordnung. Die Sätze sind zwar nicht überwiegend parataktisch gebaut, aber die Hypotaxe ist oft ungeschickt, voll schwerfäl‐ liger Emphase und zuweilen in den verbindenden Gliedern unklar. Ein Satz wie der folgende aus der Rede der Frau: Et car pour ce il est mon vray filz, qui moult chier m’a cousté à porter l’espasse de IX mois en mes flans, dont en ay receu maintes dures angoisses et par maints jours, et puis comme morte à l’enffanter, lequel j’ay si chierement nourry, amé et tenu chier jusques au jour et heure que il fut livré - zeigt schon in der Kette der relativen Verknüpfungen einige Unklarheit der Zugehörig‐ keitsverhältnisse; die Worte et puis comme morte à l’enffanter fallen ganz aus der syntaktischen Ordnung; während doch das Ganze keineswegs als affektisch-ungeordnete Äußerung, sondern als sorgsam feierliche Rede gedacht ist. Das umständlich Feierliche, prunkhaft Zeremonielle dieses Stils X Madame du Chastel 243 <?page no="244"?> beruht zwar letzten Endes auch auf antiken rhetorischen Überlieferungen, aber doch ganz auf deren mittelalterlich-pedantischer Umbildung, nicht auf humanistischer Erneuerung ihres ursprünglichen Charakters. Dazu gehört auch das feierlich beschwörende Aufhäufen von synonymen oder beinah synonymen Ausdrücken wie nourry, amé et tenu chier, die auf Schritt und Tritt begegnen, so zum Beispiel gleich in einem der nächsten Sätze: liberalement de cuer et franchement, sans force, contrainte ne viollence aucune, vous donne, cede et transporte toute la naturelle amour, l’affection et le droit … Das erinnert an den Prunkstil der Rechts- und Staatsurkunden, wozu auch die vielen Beschwörungen bei Gott, der Jungfrau und den Heiligen vorzüglich passen. Wie in solchen feierlichen Urkunden wird das Eigentliche häufig durch eine Fülle von Formeln, Anreden, adverbialen Bestimmungen und zuweilen selbst von einer ganzen Parade vorbereitender Sätze eingeleitet, so daß es auftritt wie ein Fürst oder König, dem die Herolde, die Leibwachen, Hofchargen und Bannerträger voraufziehen. Das nächtli‐ che Gespräch liefert genug Beispiele dafür, sie finden sich fortwährend, wenn die Herolde ihre Botschaften überbringen, und obgleich das Verfahren in dem letzteren Falle sich aus dem Gegenstand notwendig ergibt, so ist es doch unmöglich zu übersehen, mit welcher Hingabe La Sale es auskostet, wo er nur Gelegenheit dazu findet. Wenn man liest: Monseigneur le cappitaine de ceste place, nous, comme officiers d’armes et personnes publicques, de par le prince de Galles, nostre très redoubté seigneur, ceste foiz pour toutes à vous nous mande, de par sa clemence de prince, vous signiffier, adviser et sommer …, so ist unverkennbar, daß selbst in einem Augenblick, wo er erschüttert und über die Grausamkeit des Prinzen tief empört ist, La Sale mit Entzücken diesen emphatischen, aber syntaktisch verworrenen ständischen Prunk niederschreibt. Damit ist es gesagt: seine Sprache ist ständisch; und alles Ständische ist unhumanistisch. Die feste ständische Ordnung des Lebens, in der alles seinen Platz und seine Form hat und bewahrt, spiegelt sich in der feierlichen, umständlichen, formelhaften, an Gesten und Beschwörungen überreichen Rhetorik. Jede Person hat eine Anrede, die ihr zukommt; Madame du Chastel nennt ihren Mann Monseigneur, er sagt zu ihr m’amye; jede Person macht die Geste, die ihrem Stand und den Umständen angemessen ist, wie nach einem ewigen, für immer festgelegten Modell (à jointes mains vous supplie); wenn der Prinz den Herold des Kommandanten zwingt, der Hinrichtung des Kindes beizuwohnen (die Szene wird zweimal berichtet), so klingt das folgendermaßen: … alors, en genoulx et mains jointes je me mis et lui dis: «A! très redouté prince, pour Dieu, souffrez 244 X Madame du Chastel <?page no="245"?> que la clarté de mes malheureux yeux ne portent pas à mon très dollent cuer la très piteuse nouvelle de la mort de l’innocent filz de mon maistre et seigneur; il souffist bien trop se ma langue, au rapport de mes oreilles, le fait à icelui monseigneur vrayement.» Lors dist le prince: «Vous yrez, veuilliez ou non.» Die Tradition, in der man hier steht, wird am deutlichsten fühlbar an besonders feierlichen Stellen, wo, wie wir eben sagten, das Eigentliche der Aussage von einem Festungsgürtel feierlich einleitender Formeln umgeben ist. An solchen Stellen wird deutlich, daß es sich um Bildungen der spätantiken Verfallzeit handelt, die seit dem frühen Mittelalter in den ständischen Kulturen aufgenommen und ausgebaut wurden; in den Vulgärsprachen reicht die Überlieferung von der wuchtigen und großartigen Rhetorik der Straßburger Eide bis zu den Präambeln der königlichen Erlasse (Louis par la grâce de Dieu usw.). Was den Aufbau der Erzählung betrifft, so kann man von einer bewußten Ordnung kaum sprechen; der Versuch chronologisch zu berichten führt zu viel Verwirrung und Wiederholung; und wenn man auch berücksichtigen mag, daß der Verfasser ein alter Mann war (es ist etwas von greisenhafter Umständlichkeit im Stil des Werkes), so ist das Parataktische und ein wenig Verworrene der Komposition doch auch schon in dem Roman vom kleinen Jehan de Saintré festzustellen, der einige Jahre früher geschrieben wurde; es ist Chronikstil, der nacheinander, häufig und ein wenig unvermittelt von einem Schauplatz zum andern springend, die Ereignisse aufzählt; die Naivität dieses Verfahrens wird noch hervorgehoben durch die Formel, mit der er jeden derartigen Wechsel einleitet: und nun hören wir auf von diesem Gegenstand zu erzählen, und wenden uns zu jenem. Die Mischung von schwerem Prunk der Sprache und aufzählender Naivität in der Komposition ergibt einen Eindruck von schleppend-gewich‐ tiger Einförmigkeit des Tempos, der nicht ohne Großartigkeit ist; es ist eine Art von hohem Stil; aber er ist ständisch, unhumanistisch, unklassisch, und durchaus mittelalterlich. Derselbe Eindruck von ständisch-mittelalterlicher Anschauung ergibt sich auch aus dem Inhaltlichen der Erzählung, und hier will ich besonders darauf hinweisen, wie auffallend es für einen modernen Leser ist, daß ein politisch-militärischer Vorgang, der in einem uns bekannten geschichtlichen Zusammenhang steht, lediglich als ständisches Problem gesehen wird. Nie wird davon gesprochen, welche sachliche Bedeutung die Festung hat, welche nachteiligen Folgen ihr Fall für die Sache Frankreichs und des Königs haben würde; sondern es handelt sich lediglich um die ritterliche Ehre des Herren du Chastel, um gegebenes Wort und seine Interpretation, um Vasal‐ X Madame du Chastel 245 <?page no="246"?> lentreue, Eid und persönliches Einstehen; der Kommandant bietet einmal sogar dem Prinzen ritterlichen Zweikampf an, um über die entstandene Dif‐ ferenz in der Auslegung des Vertrages zu entscheiden. Alles Sachliche wird von feierlich-ritterlichen Zeremonien überwuchert, was nicht hindert, daß eine rohe Grausamkeit herrscht, die noch keineswegs modern, zweckgebun‐ den und sozusagen rationalisiert, sondern noch ganz persönlich und affek‐ tisch ist. Die Hinrichtung des Kindes ist eine vollkommen sinnlose Barbarei, und eine ebenso sinnlose Barbarei ist die Rache des Kommandanten an mehr als hundert Unschuldigen, die gehängt oder verstümmelt werden - und die sonst, ohne das persönliche Rachebedürfnis des Kommandanten, gegen Lösegeld zurückgesandt worden wären. Das alles macht den Eindruck, als ob die politisch-militärische Kriegführung noch völlig unrationalisiert ist, als ob eine wirksame zentrale Leitung der Operationen überhaupt nicht besteht, so daß die Maßnahmen, die getroffen werden, in sehr hohem Maße von den persönlichen Verhältnissen, den Affekten und ritterlichen Ehrbegriffen der jeweils in einer Teilaktion sich gegenüberstehenden Kommandanten abhängen. Das ist wohl tatsächlich im Hundertjährigen Kriege noch so gewesen; noch weit später, selbst in den Epochen des vollausgebildeten Absolutismus, finden sich gerade im Kriegswesen, wo die Konventionen des ritterlichen Geistes sich ja am längsten bewahrt haben, noch deutliche Spuren der ganz persönlich-ritterlichen Beziehungen zwischen Freund und Feind. Immerhin beginnt gerade im 15. Jahrhundert, der Epoche La Sales, der Umschwung sich anzukündigen; die politischen und militärischen Methoden des Rittertums versagen, sein Ethos wird brüchig und seine Rolle wird allmählich rein dekorativ; La Sales Roman vom kleinen Jehan de Saintré legt, freilich ohne es zu beabsichtigen, beredtes Zeugnis ab für die paradehafte und parasitäre Sinnlosigkeit ritterlicher Waffentaten in dieser Epoche. Von dem sich vorbereitenden Umschwung aber will La Sale nichts wissen; er lebt eingehüllt in die ständische Atmosphäre, ihre Ehrbegriffe, ihre Zeremonien und ihren heraldischen Prunk; selbst seine Gelehrsamkeit, die in seinen übrigen Werken stärker hervortritt als im Réconfort, ist ein Mosaik von moralischen Zitaten, ihrem Geist nach spätscholastisch, und zwar eine ständische, der feudal-ritterlichen Erziehung dienende scholasti‐ sche Kompilation. Für La Sale ist also jene Bewegung, die die großen italienischen Schrift‐ steller des 14. Jahrhunderts zur Erfassung der gesamten zeitgenössischen Wirklichkeit führte, noch nicht wirksam geworden; seine Sprache und seine Kunst überhaupt sind ständisch, sein Horizont ist eng, obgleich er so viel 246 X Madame du Chastel <?page no="247"?> herumgekommen ist; er hat überall zwar viel Merkwürdiges, aber an allem, was er sah, nur das Höfische und das Ritterliche gesehen. In diesem Geist ist auch der Réconfort geschrieben; aber mitten in seinem hochfeudalen, schon ein wenig brüchigen Prunkstil findet sich, wie der oben gegebene Text zeigt, ein echt tragischer Vorgang von höchster Würde, der uns zwar ein wenig zeremoniell und umständlich, aber doch mit großer Wärme und Einfachheit des Herzens, so wie es ihm zukommt, berichtet wird. In der mittelalterlichen Literatur findet sich kaum ein zweites Beispiel eines so einfachen, so überaus wirklichen, so modellhaft tragischen Konflikts, und ich habe mich oft gewundert, daß das schöne Stück so wenig bekannt ist. Der Konflikt ist ganz unschematisch, er hat mit keinem der überlieferten Motive höfischer Dichtung etwas zu tun; und er betrifft eine Frau, aber nicht eine Geliebte, sondern eine Mutter; er ist nicht romantisch-rührend, wie die Geschichte von Griseldis, sondern ein praktisches, in seiner Wirklichkeit greifbares Ereignis. Der ritterlich-zeremonielle Hintergrund tut seiner ein‐ fachen Größe keinen Abbruch, denn man billigt einer Frau, zumal in dieser Zeit, ohne weiteres zu, daß sie sich in die ihr gegebenen Umstände einordnet; ja das Gebundene, Demütige, unter den Willen des Mannes gehorsam sich Beugende zeigt die reine Kraft und Freiheit ihres Wesens, welches sich in der Not erhebt, um so wirksamer. Der Konflikt betrifft im Grunde sie allein, denn obgleich er sich unentschlossen zeigt und klagt, so ist es doch nicht zweifelhaft, wie er sich entscheiden muß; von ihrer Haltung dagegen hängt es ab, ob und wie er diese Erschütterung übersteht; und mit einer sehr gut empfundenen, schnellen und klaren Anpassung an die Lage gewinnt sie ihre Selbstbeherrschung wieder durch die Überlegung: se il se muert, or as-tu bien tout perdu. Und sofort entschließt sie sich ihn aus der nutzlosen Selbstquälerei herauszulösen; ihm den Weg zu zeigen, den, wie sie weiß, er doch gehen muß, indem sie voraufgeht. Sobald es ihr gelungen ist, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gibt sie ihm zunächst das, wessen er am dringendsten bedürftig ist, nämlich Ordnung in seinen Gedanken, Bewußtsein der Aufgabe, die er zu lösen hat: es ist zwischen zwei Übeln zu entscheiden, er hat das geringere zu wählen. Als er, noch ratlos, fragt, welches denn das geringere sei, entzieht sie sich zunächst der Antwort: das sei nicht von einer schwachen Frau, das sei von männlicher Tugend und männlichem Mut zu entscheiden; wodurch sie ihn nötigt, ihr gleichsam zu befehlen, sie möge ihre Gedanken aussprechen, und ihn damit, wenn auch nur äußerlich, in die ihm gewohnte Lage des Führenden und Entscheidenden zurückversetzt; schon dadurch hat sie ihn aus dem haltlosen, seine Kraft X Madame du Chastel 247 <?page no="248"?> und sein Selbstbewußtsein untergrabenden Gejammer herausgeholt. Und dann gibt sie ihm das Beispiel, dem er zu folgen hat: die Kinder, so sagt sie, sind mehr Kinder der Mütter, die sie getragen, geboren und genährt haben, als Kinder der Väter; unser Sohn ist mehr mein Sohn als der eurige; und dennoch sage ich mich jetzt von meiner Liebe zu ihm los als hätte ich ihn nie gehabt; ich opfere meine Liebe zu ihm; denn wir können wohl andere Kinder bekommen, aber wenn eure Ehre verloren ist, so kann sie nie wiedergewonnen werden. Und wenn ihr meinem Rat folgt, so werden die Leute euch rühmen: c’est le preudomme et très loyal chevalier … Es ist schwer zu entscheiden, was an dieser Rede am höchsten zu rühmen ist; die Selbstverleugnung oder die Selbstbeherrschung, die Güte oder die Klarheit. Daß eine Frau in solchem Jammer sich nicht fallen läßt, sondern die wirklich gegebene Lage scharf erfaßt; daß sie einsieht, es könne von Übergabe der Festung keine Rede sein, das Kind sei also unter allen Umständen verloren, wenn der Prinz ernst machen will; daß sie dem Mann durch ihr Eingreifen die innere Haltung, durch ihr Beispiel den Mut zur Entscheidung, und durch den Hinweis auf den Ruhm, den er sich erwerben wird, sogar noch einigen Trost und gewiß ein stolzes Selbstbewußtsein, welches ihm sein ganzes Auftreten erleichtert, zu verleihen vermag; das alles zusammen ist von so einfacher Schönheit und Größe wie nur irgendein klassischer Text. Und sehr schön ist auch der Abschluß, wie er, ganz entspannt, beten und ihr danken kann, ja sogar sie auffordern, noch ein wenig zu ruhen: Reposer, dist-elle, hellas, Monseigneur, je n’ay cuer, œul, ne membre sur mon corps qui en soit d’accord-… Es zeigt sich, daß der spätfeudale Prunkstil solch eine echt tragische und echt wirkliche Szene zur Anschauung bringen kann; so oberflächlich er im Politischen und Militärischen auch sein mag, wo er die wirklichen Verhältnisse und Zusammenhänge nirgends mehr faßt: an einer ganz einfa‐ chen, unmittelbar menschlichen Handlung bewährt er sich. Das ist um so bemerkenswerter, als es sich in unserem Falle um einen sehr häuslich-all‐ täglichen Schauplatz handelt, um zwei Eheleute, die nachts, im Bett, über ihre Sorgen beraten; das wäre, nach klassisch-antiker Vorstellung, durchaus kein Ort für eine tragische Handlung hohen Stils. Das Tragische und Ernst‐ haft-Problematische zeigt sich hier mitten in dem alltäglichen Wesen einer Familie, und obgleich es sich um hochadlige, streng in feudalen Formen und Überlieferungen lebende Personen handelt, so ist doch die Lage, in welcher sie angetroffen werden, nämlich nachts, im Bett, nicht als Liebende, sondern als Eheleute, in großer Not klagend und einander zu helfen bemüht, von 248 X Madame du Chastel <?page no="249"?> der Art, daß sie weit eher bürgerlich oder vielmehr menschlich, kreatürlich wirkt als feudal. Trotz der feierlich-zeremoniellen Sprache geht es sehr einfach und sehr naiv zu; wenige, einfache Gedanken und Empfindungen treten miteinander oder gegeneinander auf; von Stiltrennung zwischen Tragik und alltäglicher Realistik ist nicht die Rede. In ihrer Blütezeit, im 12. Jahrhundert, hat uns die feudale Literatur nichts derart Wirkliches und Kreatürliches hinterlassen; Eheleute im Bett, das wäre höchstens im Volksschwank vorgekommen. Und was soll man erst zu der Darstellung des weinenden und schreienden Knaben sagen, der zum Tode geführt wird! Ich will sie nicht rühmen; weder für den Leser noch für den armen Vater, an den sich ja der Bericht des Herolds wendet, ist es erforderlich, die Einzelheiten des Vorgangs mit soviel sinnlicher Evidenz auszumalen. Um so auffallender ist es, welch ein Maß von hüllenloser kreatürlicher Realistik mitten in diesem heraldischen Prunkstil mit einem tragischen Vorgang vereinbar ist. Alles ist darauf angelegt, den Gegensatz zwischen der Unschuld des Kindes und dem gräßlichen Vollzug, zwischen seinem bis dahin wohlbehüteten Leben und der plötzlich auf es hineinbrechenden erbarmungslosen Wirklichkeit anschaulich zu machen: das Mitleid der Wachen, die mit dem Jungen sich schon während seiner kurzen Geiselhaft angefreundet haben, sein kindlich fassungsloses, zweimal auf den Hörer einströmendes Jammergeschrei, das, immer dieselben Worte wiederholend, sich an alle anwesenden und abwe‐ senden Beschützer anklammert, sein Sträuben gegen den Tod bis zum letzten Augenblick, trotz des tröstenden und die Beichte abnehmenden Mönchs, so daß von dem verzweifelten Sich-Anstemmen die gefesselten Füße bis auf die Knochen aufgescheuert sind; es wird dem Herren du Chastel und dem Leser nichts erspart. Was wir hier festgestellt haben, das Zusammenspiel von ritterlich-zere‐ moniellem Prunkstil und stark kreatürlicher, vor einer krassen Wirkung nicht zurückschreckender, ja augenscheinlich sie gern auskostender Realis‐ tik, ist nichts Neues. Seit der Romantik gehört diese Kombination zu der ge‐ läufigen Vorstellung vom Mittelalter; die exaktere Forschung hat festgestellt, daß es das Ende des Mittelalters, das 14. und vor allem das 15. Jahrhundert ist, während deren sie sich besonders herausbildet und sehr scharf charakteris‐ tisch hervortritt; seit mehr als zwanzig Jahren besitzen wir eine vorzügliche und weitverbreitete Untersuchung über diese Epoche, Huizingas Herbst des Mittelalters, in dem das Phänomen mehrfach, in verschiedenem Zusammen‐ hang analysiert wird. Das Gemeinsame, welches beide Elemente verbindet, ist das Schwere und Dunkle, im Tempo Schleppende und in der Farbe stark X Madame du Chastel 249 <?page no="250"?> Auftragende des sinnlichen Geschmacks jener Epoche; so daß sein Prunkstil häufig etwas allzu eindringlich Sinnliches, seine Realistik zuweilen etwas Formenschweres, zugleich unmittelbar Kreatürliches und Traditionsbelade‐ nes besitzt; manche realistischen Formen, wie der Totentanz, haben den Charakter einer Prozession oder eines Festzuges. Die Traditionsbeladenheit des ernsten, kreatürlichen Realismus dieser Epoche erklärt sich aus seinem Ursprung: er stammt aus der christlichen Figuralanschauung, und entlehnt aus dem Christlichen fast alle seine gedanklichen und künstlerischen Mo‐ tive. Die leidende Kreatur ist ihm gegenwärtig in der Passion Christi, deren Ausmalung immer krasser und deren sinnlich-mystische Suggestion immer stärker wird, oder in den Passionen der Märtyrer; die häusliche Intimität, das ernste Interieur («ernst» im Gegensatz zu dem Interieur der Farcen) erwächst ihm aus der Verkündigung und den anderen häuslichen Szenen, die aus der Heiligen Schrift zu gewinnen waren. Es hat im 15. Jahrhundert die Einbettung der Ereignisse der Heilsgeschichte in das gegenwärtige tägliche Leben des Volkes einen so hohen Grad erreicht, daß der religiöse Realismus Zeichen von Übersteigerung und von roher Verkommenheit bietet; wir haben das an einer früheren Stelle (Seite 163ff.) erwähnt, und es ist oft dargestellt worden, zum Beispiel sehr scharf und eingehend von Huizinga, so daß wir darauf nicht mehr einzugehen brauchen. Doch ist in unserem Zusammenhang für den Realismus des ausgehenden Mittelalters einiges andere hervorzuheben; und zwar zunächst, daß das Bild vom wirklich lebenden Menschen, welches die christliche Stilmischung geschaffen hatte, nämlich das kreatürliche, nun auch außerhalb der im engeren Sinne christlichen Sphäre auftaucht; wir treffen es in unserer Erzählung an, die einen feudal-militärischen Vorgang berichtet. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß die Darstellung wirklich-gegenwärtigen Lebens sich nun mit besonderer Liebe und großer Kunst dem Intimen, Häuslichen und Alltäglichen des Familienlebens zuwendet. Auch dies stammt, wie wir eben sagten, aus der christlichen Stilmischung, und in den Motiven, die mit der Geburt Mariae und derjenigen Christi zusammenhängen, sind die Mo‐ dellvorstellungen für eine solche Entwicklung gegeben. Übrigens bleibt der typologische Symbolismus in diesen «realistischen» Darstellungen noch lange wirksam. Die realistische Entwicklung wurde auch durch die Entstehung der großbürgerlichen Kultur befördert, die sich gegen Ende des Mittelalters, zumal in Nordfrankreich und Burgund, kräftig bemerkbar machte; sie war zwar ihrer selbst nicht ganz bewußt (es hat sehr lange gedauert, bis sich 250 X Madame du Chastel <?page no="251"?> eine den wirklichen Verhältnissen entsprechende Gliederung des «dritten Standes» in der Theorie herausbildete), sie blieb auch noch sehr lange in ihrer Haltung und ihrem Lebensstil, trotz ihres bedeutenden Wohlstandes und ihrer wachsenden Macht, eher kleinals großbürgerlich; aber sie lieferte Motive für die nachahmenden Künste, und zwar eben intim-häus‐ liche: sowohl als bildhaftes Interieur wie als Darstellung häuslicher und wirtschaftlicher Lagen und Probleme. Das Häusliche, Intime, Alltägliche des persönlichen Lebens greift zuweilen selbst in den Fällen durch, wo es sich um feudal-adlige oder sogar fürstliche Kreise handelt; auch dort werden weit häufiger, genauer und alltäglicher als früher intime Vorgänge dargestellt, wie dies in unserem Text und auch sehr oft bei den Chronisten (Froissart, Chastellain usw.) der Fall ist; so daß die Kunst und die Literatur, trotz ihrer Vorliebe für feudal-heraldisches Gepränge, im ganzen einen weit bürgerlicheren Charakter hat als im früheren Mittelalter. Schließlich muß noch etwas Drittes, für die Realistik des späten Mittelalters Wesentliches hervorgehoben werden, eben dasjenige, was mich veranlaßt hat, in diesem Kapitel den bisher nicht verwandten Ausdruck «kreatürlich» einzuführen. Es ist von Anfang an der christlichen Anthropologie eigentümlich, daß sie das dem Leiden und der Vergänglichkeit Unterworfene am Menschen stark heraushebt; das war durch die mit der Heilsgeschichte verknüpfte Modellvorstellung von Christi Passion zwingend gegeben. Doch war im 12. und 13. Jahrhundert damit noch keine so starke Entwertung und Entwürdigung des irdischen Lebens verbunden wie sie sich nunmehr geltend macht. In den früheren Jahrhunderten des Mittelalters war die Vorstellung noch sehr lebendig, daß die irdische Gesellschaft Wert und Ziel besitzt; sie hatte bestimmte Aufgaben zu erfüllen, sie hatte auf Erden eine bestimmte ideale Form zu verwirklichen, um die Menschen für das Gottesreich vorzubereiten; im Rahmen dieser Untersuchung bietet Dante ein Beispiel, an dem man erkennen kann, wie bedeutend, ethisch relevant, und für das ewige Heil entscheidend die irdisch planende und politische Tätigkeit der einzelnen Menschen und der Gesellschaft ihm und vielen seiner Zeitge‐ nossen erschien. Sei es nun, daß die gesellschaftlichen ldealvorstellungen jener früheren Jahrhunderte an Kraft und Ansehen verloren hatten, weil die Ereignisse ihnen so hartnäckig unrecht gaben, und daß sich neue Entwicklungen anbahnten, die sich in keiner Weise mit ihnen vereinigen ließen; sei es, daß die Menschen jene neuen, politischen und ökonomischen Lebensformen, die sich anbahnten, nicht zu interpretieren und einzuordnen vermochten; sei es auch, daß die populär-ekstatischen Strömungen, die X Madame du Chastel 251 <?page no="252"?> immer leidenschaftlich-realistischer werdende Passionsmystik, die immer mehr in Aberglaube und Fetischismus ausartende Frömmigkeit den Willen zu theoretischer Erfassung des praktischen irdischen Lebens lähmten: es macht sich jedenfalls in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters eine Ermüdung und Unfruchtbarkeit im konstruktiv-theoretischen Denken gel‐ tend, insbesondere insofern es die Ordnung des praktischen Lebens betrifft, so daß jene «kreatürliche» Seite der christlichen Anthropologie, sein Un‐ terworfensein dem Leiden und der Vergänglichkeit, kraß und ungemildert hervortritt. Das Eigentümliche dieses radikal kreatürlichen Bildes vom Menschen, das zum antik-humanistischen in besonders scharfem Gegensatz steht, liegt darin, daß es, bei sehr viel Respekt vor dem irdischen Standes‐ kleid, welches er trägt, gar keinen Respekt hat vor ihm selbst, sobald er es auszieht; unter diesem Kleid steckt nichts als das Fleisch, welches Alter und Krankheit schänden, Tod und Verwesung zerstören werden. Es ist, wenn man so will, eine radikale Theorie der Gleichheit aller Menschen, doch nicht im aktiv-politischen Sinne, sondern als unmittelbar einen jeden packende Entwertung seines Lebens: was er tut und treibt ist eitel; obgleich seine Instinkte ihn nötigen, zu handeln und sich ans irdische Leben zu klammern, hat es doch keinen Wert und keine Würde. Nicht im Verhältnis zueinander oder gar «vor dem Gesetz» sind alle Menschen gleich, im Gegenteil, Gott hat es so eingerichtet, daß sie im irdischen Leben ungleich seien; gleich sind sie vor dem Tode, vor dem kreatürlichen Verfall, vor Gott. Zwar wurden auch damals schon vereinzelt (in England sogar sehr energisch) politisch-wirtschaftliche Folgerungen aus dieser Gleichheitslehre gezogen, doch weitaus vorherrschend ist die Gesinnung, die aus der Kreatürlichkeit des Menschen nur die Vergeblichkeit und Eitelkeit aller irdischen Bemü‐ hungen herauslas. Für sehr viele Menschen in den Ländern nördlich der Alpen wirkt das Bewußtsein des notwendigen Verfalls ihrer selbst und all ihrer Werke lähmend auf die Gedankenbildung, die praktische Planung des irdischen Lebens zum Ziel hat; eine auf die Zukunft des Diesseits gerich‐ tete Tätigkeit scheint ihnen ohne Wert und Würde, ein bloßes Spiel der Instinkte und Leidenschaften; und ihr Verhältnis zur irdischen Wirklichkeit setzt sich zusammen aus Anerkennung ihrer bestehenden Gestalt als eines sinnlich ausdrucksvollen Theaters, und radikaler Enthüllung desselben als vergänglich und eitel, wobei der Gegensatz zwischen Leben und Tod, Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit, triumphierend-eitlem Prunken mit der irdischen Rolle und jammervoll-klagendem Sich-Wehren gegen die unerbittliche Zerstörung mit den äußersten Mitteln herausgearbeitet wird. 252 X Madame du Chastel <?page no="253"?> Grämlich oder leidenschaftlich klagend, fromm oder zynisch oder auch beides zugleich, werden diese einfachen Themen immer wieder variiert; oft mit packender Kraft; das mittlere alltägliche Leben, mit seinen sinnlichen Freuden, seinen Plagen, seinem Verfall durch Alter und Krankheit, seinem Ende ist selten so eindringlich dargestellt worden wie in dieser Epoche, und die Darstellungen haben einen Stilcharakter, der sich nicht nur, wie es selbstverständlich ist, vom antiken, sondern auch von dem der realistischen Kunst des früheren Mittelalters deutlich abhebt. Es gibt in dieser Epoche eine ganze Anzahl von literarischen Darstellun‐ gen eines nächtlichen Gesprächs zwischen Eheleuten. Von denen, die ich kenne, ist besonders charakteristisch die Szene aus der ersten der Quinze Joyes de Mariage, in welcher die Frau ein neues Kleid haben will. Ich zitiere sie nach der Ausgabe der Bibliothèque elzévirienne (seconde èd., Paris 1857, p.-9ss.): Lors regarde lieu et temps et heure de parler de la matière à son mary; et voulentiers elles devroient parler de leurs choses especialles là où leurs mariz sont plus subjets et doivent estre plus enclins pour octrier: c’est ou lit, ouquel le compagnon dont j’ay parlé veult atendre à ses délitz et plaisirs, et lui semble qu’il n’a aultre chouse à faire. Lors commence et dit ainsi la Dame: «Mon amy, lessez-moy, car je suis à grand mal-aise. - M’amie, dit-il, et de quoy? - Certes, fait-elle, je le doy bien estre, mais je ne vous en diray jà rien, car vous ne faites compte de chose que je vous dye. - M’amie, fait-il, dites-moy pour quoy vous me dites telles paroles? - Par Dieu. fait-elle, sire, il n’est jà mestier que je le vous dye: car c’est une chose, puis que je la vous auroye dite, vous n’en feriez compte, et il vous sembleroit que je le feisse pour autre chose. - Vrayement, fait-il, vous me le direz.» Lors elle dit: «Puis qu’il vous plest, je le vous diray: Mon amy, fait-elle, vous savez que je fuz l’autre jour à telle feste, où vous m’envoiastes, qui ne me plaisoit gueres; mais quand je fus là, je croy qu’il n’y avoit femme (tant fust-elle de petit estat) qui fust si mal abillée comme je estoye: combien que je ne le dy pas pour moy louer, mais, Dieu merci, je suis d’aussi bon lieu comme dame, damoiselle ou bourgeoise qui y fust; je m’en rapporte à ceulx qui scevent les lignes. Je ne le dy pas pour mon estat, car il ne m’en chaut comme je soye; mais je en ay honte pour l’amour de vous et de mes amis. - Avoy! dist-il, m’amie, quel estat avoientelles à ceste feste? - Par ma foy, fait-elle, il n’y avoit si petite de l’estat dont je suis qui n’eust robe d’écarlate, ou de Malignes, ou de fin vert, fourrée de bon gris ou de menu-ver, à grands manches, et chaperon à l’avenant, à grant cruche, avecques un tessu de soye rouge ou vert, traynant jusques à terre, X Madame du Chastel 253 <?page no="254"?> et tout fait à la nouvelle guise. Et avoie encor la robe de mes nopces, laquelle est bien usée et bien courte, pour ce que je suis creue depuis qu’elle fut faite; car je estoie encore jeune fille quand je vous fus donnée, et si suy desja si gastée, tant ay eu de peine, que je sembleroye bien estre mere de telle à qui je seroye bien fille. Et certes je avoye si grant honte quand je estoye entre elles, que je n’ousoie ne savoye faire contenance. Et encore me fit plus grand mal que la Dame de tel lieu, et la femme de tel, me disrent devant tous que c’estoit grand’honte que je n’estoye mielx abillée. Et par ma foy, elles n’ont garde de m’y trouver mès en pièce. - Avoy! m’amie, fait le proudomme, je vous diray: vous savez bien, m’amie, que nous avons assez affaire, et savez, m’amie, que quant nous entrames en nostre menage nous n’avions gueres de meubles, et nous a convenu achapter liz, couchez, chambres, et moult d'autres choses, et n’avons pas grant argent à present; et savez bien qu’il fault achapter deux beufs pour notre mestoier de tel lieu. Et encore chaist l’autre jour le pignon de nostre grange par faulte de couverture, qu’il faut reffaire la premiere chouse. Et si me fault aller à l’assise de tel lieu, pour le plait que j’ay de vostre terre mesme de tel lieu, dont je n’ay riens eu ou au moins bien petit, et m’y fault faire grand despence. - Haa! sire, je savoye bien que vous ne me sauriez aultre chose retraire que ma terre.» Lors elle se tourne de l’aultre part, et dit: «Pour Dieu, lessés moi ester, car je n’en parleray ja mais. - Quoy dea, dit le proudomme, vous vous courroucez sans cause. - Non fais, sire, fait-elle: car si vous n’en avez rien eu, ou peu, je n’en puis mais. Car vous savez bien que j’estoye parlée de marier à tel, ou à tel, et en plus de vingt aultres lieux, qui ne demendoyent seullement que mon corps; et savez bien que vous alliez et veniez si souvent que jene vouloie que vous: dont je fu bien mal de Monseigneur mon père, et suis encor, dont je me doy bien haïr; car je croy que je suy la plus maleurée femme qui fust oncques. Et je vous demande, sire, fait-elle, si les femmes de tel et de tel, qui me cuidèrent bien avoir, sont en tel estat comme je suy. Si ne sontelles pas du lieu dont je suy. Par Sainct Jehan, mieulx vallent les robes que elles lessent à leurs chamberieres que celles que je porte aux dimanches. Ne je ne scey que c’est à dire dont il meurt tant de bonnes gens, dont c’est grand dommage: à Dieu plaise que je ne vive gueres! Au moins fussés vous quite de moy, et n’eussés plus de desplesir de moy. - Par ma foy, fait-il, m’amie, ce n’est pas bien dit, car il n’est chose que je ne feisse pour vous; mais vous devez regarder à nostre fait: tournez vous vers moy, et je feray ce que vous vouldrez. - Pour Dieu, fait-elle, lessés moi ester, car, par ma foy, il ne m’en tient point. Pleust à Dieu qu’il ne vous en tenist jamès plus que il fait à moy; par ma foy vous ne me toucheriez jamès. - Non? fait-il. - Certes, fait-elle, non.» Lors, pour l’essaier bien, ce lui semble, il lui dit: «Si je estoie trespassé, vous seriez tantoust mariée à ung aultre. - Seroye! fait-elle: 254 X Madame du Chastel <?page no="255"?> 40 Da überlegt sie sich Ort und Zeit und Stunde, um mit ihrem Mann über die Sache zu sprechen; und sehr gern sprechen sie von ihren persönlichen Anliegen da, wo ihre Männer am schwächsten sind und am ehesten geneigt, ihnen nachzugeben: nämlich im Bett, wo der Gefährte, von dem ich gesprochen habe, sich seinen Freuden und Vergnügungen überlassen will und denkt, etwas anderes habe er jetzt nicht zu tun. Da beginnt denn die Dame und sagt: «Laßt mich doch, denn ich bin sehr bekümmert.» - «Ja aber warum denn? » sagt er. - «Ich habe schon meine Gründe», antwortet sie, «aber ich sage euch nichts davon, denn ihr kümmert euch ja niemals um das, was ich euch sage,» - «Frau», gibt er zurück, «sagt mir, warum ihr so zu mir sprecht.» - «Weiß Gott», sagt sie, «es hat keinen Sinn, daß ich es euch sage; denn ihr würdet euch doch nicht darum kümmern, wenn ich es euch sagte, und ihr würdet meine Absicht auch ganz mißverstehen.» - «Also nun im Ernst», antwortet er, «ihr werdet es mir sagen.» - Und dann fängt sie an: «Also wenn ihr durchaus wollt, so werde ich es euch sagen. Ihr wißt, daß ich neulich bei jenem Fest war, wo ihr mich hingeschickt habt; denn mir machte es wenig Spaß; aber als ich da war, da gab es, glaube ich, keine einzige Frau, und wäre sie noch so geringen Standes, die so schlecht angezogen war wie ich; ich sage es nicht, um mich zu loben, aber Gott sei Dank bin ich von ebenso gutem Herkommen wie irgendeine der adligen Damen oder Bürgersfrauen, die dort waren; ich berufe mich auf diejenigen, die mit den Stammbäumen Bescheid wissen. Ich sage es nicht um meinetwillen, denn es ist mir ganz gleich, wie ich angezogen bin; aber ich habe mich für euch und für meine Freunde geschämt.» - «So», sagt er, «und was trugen denn die Frauen auf dem Fest? » - «Ich versichere euch», antwortet sie, «es gab aus meinem Stande keine noch so unbedeutende Person, die nicht ein Kleid aus Scharlachstoff, oder aus Tuch von Mecheln, oder aus fin vert gehabt hätte, besetzt mit Grauwerk oder Buntpelz, mit großen Ärmeln, und den Hut dazu passend …, mit rotem oder grünem Seidenschleier bis zur Erde, und alles nach der neuesten Mode. Und ich hatte noch mein Hochzeitskleid an, das ganz abgetragen ist und viel zu kurz, weil ich gewachsen bin seit es gemacht wurde, denn ich war noch ein ganz junges Mädchen, als ich euch übergeben wurde, und dabei bin ich schon so mitgenommen von all der Mühe, die ich gehabt habe, daß ich aussehe wie die Mutter von mancher, deren Tochter ich sein könnte. Und wahrhaftig, ich habe mich so geschämt als ich da unter ihnen stand, daß ich ganz ängstlich wurde und nicht wußte, wie ich mich benehmen sollte. Und dann hat es mich noch schrecklich geärgert, daß die Baronin von Xdorf und Frau Y mir vor allen Leuten sagten, es sei eine Schande, daß ich nicht besser angezogen sei. Aber so viel ist sicher, die finden mich dort so bald nicht wieder» (? ). - «Ja, aber liebe Frau», ce seroit pour le plaisir que g’y ay eu! Par le sacrement Dieu, jamès bouche de homme ne toucheroit à la moye; et si je savoye que je deusse demourer après vous, je feroye chouse que je m’en iroye la premiere.» Et commence à plorer … 40 Dieser Text, der einige Jahrzehnte vor dem Réconfort geschrieben sein dürfte, ist augenscheinlich aus einem ganz anderen Bezirk des Geschehens, und darum auch in einer ganz anderen Stillage geschrieben als die Szene zwischen dem Herrn und der Frau du Chastel. In dieser handelt es sich um das Leben des einzigen Kindes, in den Quinze Joyes um ein neues Kleid; im Réconfort sind Mann und Frau in gutem Einvernehmen und in X Madame du Chastel 255 <?page no="256"?> sagt der Mann, «da muß ich doch dir etwas sagen: ihr wißt doch, liebe Frau, wir haben Sorgen genug, und ihr wißt auch, daß wir fast gar keine Möbel hatten, als wir unseren Hausstand begründeten, und daß wir Betten, Bettstellen, Zimmereinrichtungen (? ) und viele andere Sachen kaufen mußten, und so haben wir jetzt nicht viel Bargeld; und ihr wißt auch, daß wir zwei Ochsen kaufen müssen für unseren Pächter in X. Und dann ist neulich der Giebel von unserer Scheune heruntergefallen, weil die Abdachung nicht in Ordnung war, und das muß zuallererst repariert werden. Und dann muß ich zum Gericht in Y fahren, für den Prozeß, den ich gerade wegen eures Landguts in Z habe, das mir noch gar nichts eingebracht hat, oder doch nur sehr wenig, und das macht mir große Ausgaben.» - «Ha, Herr, das wußte ich doch, daß ihr mir mit nichts anderem kommen würdet als wieder einmal mit meinem Landgut.» Dann dreht sie sich nach der anderen Seite und sagt: «Laßt mich um Gottes willen nun bloß in Ruhe, ich werde nie wieder davon sprechen.» - «Na aber», sagt der Mann, «ihr ärgert euch ohne Grund.» - «Aber nein», sagt sie, «denn wenn das Gut euch nichts gebracht hat, so kann ich nichts dafür; ihr wißt doch, daß ich diesen oder jenen hätte heiraten können und noch zwanzig andere Partien machen, die alle nichts begehrten als meine Person; und ihr wißt auch, daß ihr so oft ins Haus gekommen seid. daß ich niemand haben wollte als euch: und darum habe ich mich mit meinem Herrn Vater überworfen, und bin immer noch nicht gut mit ihm, worüber ich mir schweren Vorwurf machen muß; ich glaube, ich bin die unglücklichste Frau, die je gelebt hat. Und ich frage euch, Herr, fährt sie fort, ob die Frau von diesem und von jenem, die mich haben wollten, in einem solchen Zustand leben wie ich. Und dabei sind sie nicht aus so gutem Hause wie ich. Bei Sankt Johann, die Kleider, die sie ihren Zofen schenken, sind besser als die, die ich sonntags trage. Und ich weiß nicht, warum so viel brave Leute sterben, um die es sehr schade ist; wenn es doch Gott gefiele, daß ich nicht mehr zu leben brauchte. Dann wäret ihr mich wenigstens los und hättet keinen Ärger mehr mit mir.» - «Meiner Treu», sagt er, «liebe Frau, das ist nicht recht, so zu reden, denn es gibt nichts, was ich nicht für euch täte; aber ihr müßt auch an unser Interesse denken. Aber nun dreht euch zu mir, und ich werde tun, was ihr wollt.» - «Ach Gott», sagt sie, «laßt mich nur in Ruhe, denn mir ist wahrhaftig gar nicht danach. Wollte Gott, daß euch ebenso wenig daran läge wie mir; wahrhaftig, dann würdet ihr mich niemals berühren.» - «Wirklich nicht? » sagt er. - «Ganz bestimmt nicht», sagt sie. - Dann sagt er, weil ihm scheint, er könne sie auf die Weise recht auf die Probe stellen: «Wenn ich tot wäre, so wäret ihr bald an einen anderen verheiratet.» - «Meint ihr», sagt sie; «das wäre wohl wegen des Vergnügens, das ich darin gefunden habe! Ich schwöre bei Gott, nie würde der Mund eines Mannes wirklicher Gemeinschaft, in den Quinze Joyes ist kein Vertrauen zwischen ihnen, sondern jeder folgt seinen eigenen Instinkten, indem er zugleich die des anderen beobachtet, nicht um sie zu verstehen und ihnen entge‐ genzukommen, sondern um sie für sich auszunützen; die Frau tut dies mit großem, wenn auch kindlich-törichtem Geschick, der Mann sehr viel roher und unbewußter; aber auch bei ihm fehlt das Gefühl, das zur echten Liebe gehört, nämlich das Gefühl für das, was dem anderen Freude machen kann; über die Art, wie er ihre Kleidersorgen aufnimmt, könnte sich auch eine weniger törichte Frau ärgern, mag er noch so sehr sachlich recht 256 X Madame du Chastel <?page no="257"?> wieder den meinen berühren; und wenn ich wüßte, daß ich euch überleben sollte, dann täte ich etwas, um als erste zu verschwinden.» Und dann fängt sie an zu weinen … haben. Schließlich ist in der Geschichte des Ehepaares du Chastel die Frau die Heldin; in den Quinze Joyes ist sie es auch, aber nicht durch die Größe und Reinheit ihres Herzens, sondern durch die Überlegenheit ihrer Tücke und ihrer Kraft in dem ewigen Kampf, als welcher die Ehe dargestellt wird. Dem entsprechend ist auch die Höhenlage des Stiles ganz verschieden: den Quinze Joyes fehlt jeder Anspruch auf gehobenen Ton; die Unterhaltung zwischen Mann und Frau will nichts anderes als den Ton des alltäglichen Gesprächs wiedergeben, und lediglich in den einführenden Worten findet sich etwas lehrhafter Moralismus, der jedoch, weit mehr als zumeist im mittelalterlichen Moralismus, von praktisch-psychologischer, konkreter Erfahrung genährt ist. Das Zeremonielle, prunkhaft Gehobene, welches den ständischen Charakter des Réconfort ausmacht, steht in einem deutlichen Gegensatz zu der unverhüllt mittleren, bürgerlichen Ausdrucks- und Umgangsweise des Gesprächs über das neue Kleid. Und dennoch zeigt eine historische Überlegung, daß hier zwei Stilarten einander näherrücken. Wir sagten schon oben, daß die feudale Literatur in ihrer Blütezeit nichts so Wirkliches und Häuslich-Intimes aufzuweisen hat wie die Szene zwischen Herrn und Frau du Chastel; ein tragisches Problem, dargestellt im nächtlichen Gespräch zwischen Mann und Frau, ist etwas so Unmittelbares, daß der altfränkisch-ständische Prunk der Sprache den Eindruck des Menschlichen und Kreatürlichen eher auf eine rührende Weise erhöht als abschwächt. Andererseits ist der Gegenstand, den unsere Szene aus den Quinze Joyes behandelt - eine Frau, die dem Mann nachts im Bett ein neues Kleid abschwatzt - eigentlich ein Schwankstoff; hier aber wird das Thema ernst genommen, und zwar nicht nur im Groben und All‐ gemeinen, als Illustration oder Exemplum, sondern in einer konkreten, die Abtönungen und Besonderheiten der materiellen und seelischen Lage genau wiedergebenden Darstellung. Denn obgleich der Verfasser sein Werk als eine Sammlung von Beispielen komponiert hat, so hat es doch nichts mit den früheren, ganz unrealistischen, lediglich lehrhaften Exemplasammlungen in der Art der Sieben weisen Meister oder der Disciplina Clericalis zu tun; dazu ist es viel zu konkret; und auch nichts mit den Schwänken; dazu ist es viel zu ernsthaft. Die kleine Schrift, deren Verfasser wir nicht kennen, ist ein sehr bedeutendes Dokument in der Vorgeschichte des modernen Realismus; sie gibt das alltägliche Leben, oder doch zumindest einen der X Madame du Chastel 257 <?page no="258"?> wichtigsten Bezirke desselben, Ehe und Familie, in all seiner wirklichen sinnlichen Gestalt, und sie nimmt diesen alltäglichen Gegenstand ernst, ja problematisch. Zwar ist es eine besondere Art von Ernst; schon vorher hatte die frauen- und ehefeindliche Tendenz des geistlichen Moralismus eine Art von realistischer Literatur hervorgebracht, die mit grämlich-mürri‐ scher Lehrhaftigkeit, ihre Darstellungen durch Allegorien und Beispiele ausschmückend, die Mühseligkeiten und Gefahren des Ehelebens, des Haushalts, der Kindererziehung usw. aufzählte; besonders eindringlich und zuweilen sehr konkret hatte diese Themen Eustache Deschamps behandelt, der zu Anfang des 15. Jahrhunderts gestorben war; aus dieser Tradition bezog der Verfasser der Quinze Joyes nicht nur fast alle einzelnen Motive seines Werkes, sondern auch die noch halb moralistische, satirische und eher grämliche als im tragischen Sinne ernste Einstellung zu seinem Gegenstand. Allein selbst Eustache Deschamps (man vergleiche etwa das 15., 17., 19., 38. oder 40. Stück seines Miroir de Mariage) hat es nicht zu einer wirklichen Szene zwischen Mann und Frau gebracht, in der das ineinandergreifende, die Tiefen des Bewußtseins bewegende Spiel zu zweien, welches eine Ehe ist, Gestalt gewonnen hätte; das Realistische bleibt bei ihm oberflächlich, etwa in der Art, die man im 19. Jahrhundert mit «Genreszene» bezeichnete. Die Motive des oben abgedruckten Stückes finden sich fast alle auch bei ihm. Auch dort will die Frau neue Kleider haben, auch dort beruft sie sich darauf, daß andere besser angezogen sind, obgleich sie nicht aus so gutem Hause stammen wie sie selbst. Aber das Ganze spielt sich nicht nachts ab, im Bett, nicht in Verbindung mit dem Spiel der geschlechtlichen Beziehungen, mit dem Motiv des Wiederverheiratens nach dem Tode des Mannes, mit all den Anspielungen auf das Zustandekommen der Ehe und auf das Gut, das sie ihm in die Ehe eingebracht hat und das bisher noch kaum Einkommen abgeworfen, dafür aber einen kostspieligen Prozeß verursacht hat. Deschamps zählt die Motive auf, zuweilen ganz lebendig, meist viel zu geschwätzig; der Verfasser der Quinze Joyes weiß was eine Ehe ist, er weiß es im Bösen und auch im Guten, denn in der Quatorziesme Joye (S. 116) steht der Satz: car ilz sont deux en une chose, et nature y a ouvré tant par la douceur de sa forse, que si l’un avoit mal, l’autre le sentiroit. Er läßt die Eheleute wirklich miteinander leben, er kombiniert die Motive so, daß das «deux en une chose» Gestalt gewinnt, und zwar meist im Bösen, als Möglichkeit sich aufs tiefste gegenseitig zu verletzen, als ewiger Kampf der Zusammengeschmiedeten, als Betrug und Verrat an der Gemeinschaft. Dadurch gewinnt sein Buch einen Charakter von Tragik; nicht einer sehr er‐ 258 X Madame du Chastel <?page no="259"?> habenen, und auch nicht durchgehends; dazu ist das Einzelne der Probleme zu eng und kleinlich, dazu ist vor allem der Charakter des Opfers, also des Mannes, zu unfrei; er hat weder Güte noch Würde, weder Humor noch Selbstbeherrschung; er ist nichts als ein geplagter Familienvater, und seine Liebe zu der Frau ist vollkommen egoistisch, ohne jedes Verständnis für ihr eigenes Wesen; er betrachtet sich selbst lediglich als ihr dauernd im Besitz gefährdeter Eigentümer. Wenn man also das Wort tragisch vermeiden will, so muß man doch anerkennen, daß hier die praktische Not des Menschen in seiner alltäglichen Lage einen literarischen Ausdruck gefunden hat, den es vordem nicht gab; und es besteht tatsächlich eine Annäherung zwischen der Höhenlage des Réconfort, der aus der feudalen Überlieferung geschrieben ist, und der der Quinze Joyes, die aus den Farcen und dem niederen klerikalen Moralismus ihre Motive schöpfen: es entsteht eine Stillage, in der der alltägliche Schauplatz des ablaufenden Lebens genauer und ernsthafter Darstellung gewürdigt wird, zuweilen nach oben bis an das Tragische reichend, zuweilen nach unten fast das Satirisch-Moralistische berührend, sehr viel eingehender als zuvor das Unmittelbare der menschlichen Existenz behandelnd, das Körperlich-Sinnliche, das Häusliche, den täglichen Genuß des Lebens, seinen Verfall und sein Ende; wobei auch vor grellen Wirkungen keine Scheu besteht. Die sinnliche Gegenwart, die dabei zur Erscheinung kommt, bewegt sich durchaus in den ständischen Formen der Zeit, offenbart sich aber doch überall als eine allgemeine, durch die gemeinsamen kreatürlichen Lebens‐ bedingungen («la condition de l’homme», wie man später sagen wird) alle Menschen verbindende Wirklichkeit. Schon seit dem 14. Jahrhundert findet man Beispiele für diese unmittelbarere, sinnlichere, genauere Realistik. Bei Eustache Deschamps sind sie zahlreich, und Froissart erzählt Episoden, wo es sich um Leben und Tod handelt, mit einer sinnlichen Ausführlichkeit, die nicht sehr verschieden ist von der Art, in der La Sale den Tod des jungen du Chastel berichtet. Wenn die sechs vornehmsten Bürger von Calais, nur mit Hemd und Hose bekleidet, einen Strick um den Hals, die Schlüssel der Stadt in den Händen, vor dem englischen König knien, der sie hinrichten lassen will, so hört man seine Zähne knirschen; die Königin, die sich ihm, um Gnade für die Gefangenen flehend, zu Füßen wirft, ist hochschwanger, und er gewährt ihr die Gnade, aus Angst, sie könne in ihrem Zustand sonst Schaden leiden, mit den Worten: «Ha! dame, j’aimasse trop mieux que vous fussiez autre part que ci! » (Chroniques I,321). Noch ausgeprägter in ihrer genauen Realistik sind die Episoden des dritten Buches, die von dem X Madame du Chastel 259 <?page no="260"?> Tode des jungen Gaston de Foix handeln, die Rilke bewunderte, und denen Huizinga (Herbst des Mittelalters, S. 404) «eine fast tragische Kraft» zu‐ erkennt: es wird dort eine Familientragödie an einem südfranzösischen Fürstenhof berichtet, in einer Reihe von überaus anschaulichen, klaren, in allen Einzelheiten ausgemalten Szenen; der grelle Vorgang zwischen Vater und Sohn gewinnt in den höfischen Sittenbildern (die beiden spielenden und sich raufenden Prinzen, der Fürst mit dem Windspiel beim Mahle u. a.) vollkommene Unmittelbarkeit. Während des 15. Jahrhunderts wird die Realistik noch sinnlicher, die Farben werden noch greller; doch bleibt die Darstellung immer in den Grenzen des mittelalterlich Ständischen und des Christlichen. Die äußerste Vollendung eines kreatürlichen Realismus, der ganz im Sinnlichen bleibt und bei allem Radikalismus des Gefühls und des Ausdrucks keinerlei Spur von gedanklich ordnender oder gar revolutionärer Kraft zeigt, ja überhaupt keinen Willen die irdische Welt anders zu gestalten als sie ist, bietet François Villon. Es handelt sich auch hier noch, das ist gerade bei Villon deutlich zu erken‐ nen, um die Auswirkungen der christlichen Stilmischung; ohne diese wäre die Art der Realistik, die wir als kreatürlich bezeichnet haben, nicht vor‐ stellbar. Aber sie hat sich schon von dem Dienst am christlich-universellen Ordnungsgedanken gelöst; sie dient überhaupt keinem Ordnungsgedanken mehr; sie ist selbständig, sie ist Selbstzweck geworden. Wir sind schon früher im Laufe dieser Untersuchung einem Ehepaar begegnet, Adam und Eva, im Adamsspiel. Dort diente die unmittelbare Nachahmung zeitgenös‐ sischer Wirklichkeit einer zeitlosen und universalen Absicht, nämlich der Veranschaulichung der Heilsgeschichte, und ging nicht darüber hinaus. Auch jetzt ist das Band zwischen hier und dort, zwischen irdischer Welt und ewigem Heil, keineswegs zerrissen; die «Kreatürlichkeit» schließt eine solche Bezugnahme auf die göttliche Ordnung notwendig ein, es wird ständig auf sie hingewiesen, und überdies ist ja gerade das 15. Jahrhundert die große Epoche der Passionsspiele, und steht unter dem Eindruck einer in kreatürlich-realistischen Bildern schwelgenden Mystik; allein der Akzent hat sich verschoben, er fällt weit stärker auf das irdische Leben, und dieses wird weit auffälliger, weit wirksamer gegen den irdischen Verfall und den irdischen Tod abgesetzt als gegen das ewige Heil. Die Veranschaulichung dient nun weit unmittelbarer den irdischen Vorgängen, sie bohrt sich ein in ihren sinnlichen Gehalt; sie sucht ihren Saft und ihre Würze, sie sucht Freude und Qual, die dem irdischen Leben selbst unmittelbar entströmen. Damit hat die realistische Kunst einen unbeschränkten Kreis von Stoffen, und sehr 260 X Madame du Chastel <?page no="261"?> viel subtilere Ausdrucksmöglichkeiten gewonnen. Aber ihre Entwicklung in dieser Epoche beschränkt sich auf das Sinnliche; es ist, während die alten Ordnungen sich langsam zersetzen, in der französisch-burgundischen Realistik kein Ansatz da für den Aufbau einer neuen; die Realistik ist arm an Gedanken, unfähig zu einer konstruktiven Gesinnung, sie hat auch nicht den Willen dazu; sie schöpft die Wirklichkeit des Bestehenden und im Bestehen selbst Vergehenden aus, sie schöpft sie aus bis auf den Grund, so daß die Sinne und das von ihnen erregte Gefühl das unmittelbare Leben zu kosten bekommen, und will nichts weiter. Ja selbst die Sinnlichkeit ist bei aller Intensität des Ausdrucks eng, ihr Horizont ist beschränkt; keiner der Schriftsteller dieses Kulturkreises übersieht und beherrscht die gesamte Weltwirklichkeit seiner Zeit so wie Dante oder selbst wie Boccaccio; jeder kennt nur seinen eigenen Bezirk, und der ist eng, selbst bei denen, die, wie Antoine de la Sale, in ihrem Leben weit herumgekommen sind. Es bedarf einer Gesinnung, eines aktiven Willens der Welt eine Form zu geben, damit die Fähigkeit, die Erscheinungen des Lebens zu verstehen und wiederzugeben, die Kraft gewinnt, den engsten Bezirk des eigenen Lebens zu überschreiten. Der Tod des kleinen du Chastel oder der des Prinzen Gaston de Foix bietet nichts als die sehr konkrete Erfahrung von Jugend, Verstrickung und qualvollem Tod; wenn es vorüber ist, bleibt dem Leser nichts als das sinnliche, gleichsam fleischliche Entsetzen vor dem Erlebnis der Vergänglichkeit; sonst bieten die Erzähler nichts; kein Urteil, das Gewicht hätte, keine Perspektive, keine Gesinnung; ja selbst ihre oft sehr eindringliche, auf das Unmittelbare und Eigentliche gerichtete Psychologie - man erinnere sich des Gesprächs zwischen Mann und Frau in den Quinze Joyes - ist weit mehr kreatürlich als individuell. Es ist augenscheinlich, daß sie der sinnlichen Erfahrung bedurften, die ihnen ihr Lebenskreis bot, und daß sie andererseits nicht darüber hinausstrebten, da jeder Lebenskreis genügend Material an kreatürlichem Schicksal liefert. Boccaccio war, zumal durch die Übersetzung von Laurent de Premierfait (1414) in Frankreich bekannt, und etwa gleichzeitig mit dem Réconfort entstand im burgundischen Kreis eine Sammlung von Erzählungen nach dem Muster des Decamerone, die Cent Nouvelles Nouvelles (Ausgabe von Th. Wright, Paris 1857/ 58). Aber die Eigentümlichkeit Boccaccios wird nicht nachgeahmt, ja wahrscheinlich nicht einmal erkannt. Die Cent Nouvelles sind eine Sammlung von kräftigen Geschichten, die in einer Herrenge‐ sellschaft aufgetischt werden, und diese Herren, obwohl höfischen und hochfeudalen, zum Teil fürstlichen Standes, fühlen sich durchaus behaglich X Madame du Chastel 261 <?page no="262"?> in der Atmosphäre des volkstümlichen Schwankstils; von dem elegant-hu‐ manistischen «mittleren Stil» Boccaccios, von seiner Liebeslehre, seinem Dienst an den Frauen, von der menschlichen, kritischen, ein weites Feld beherrschenden Perspektive des Decamerone, der Mannigfaltigkeit seiner Schauplätze und Lebensberichte ist nichts übriggeblieben; selbstverständ‐ lich ist auch die Sprache zwar würzig und ausdrucksvoll, aber frei von jeder humanistischen Durchformung und alles andere als dichterisch; die Prosa des etwa zwei Jahrzehnte vorher verstorbenen Alain Chartier ist weit eleganter und rhythmisch gepflegter. Es finden sich unter den Geschichten eine ganze Anzahl, die Motive behandeln, welche auch im Decamerone erscheinen; das Motiv vom Engel Gabriel findet sich (als 14. Novelle) in der Form, daß ein Eremit einer frommen Witwe mehrmals nächtlich, mit Hilfe eines ausgehöhlten Stockes, den er durch die Hauswand steckt, den göttlichen Befehl einbläst, sie möge ihre Tochter dem Eremiten zuführen; aus der Verbindung würde ein zur Papstwürde und zur Reform der Kirche ausersehenes Kind hervorgehen; Frau und Tochter folgen dem Befehl, der Eremit läßt sich seine Einwilligung mit Mühe abzwingen; aber als er sich eine Weile mit der Tochter vergnügt hat, wird sie schwanger und gebärt ein Mädchen! Die Novelle ist ganz grob komponiert (dreimaliger nächtlicher Befehl, dreimaliger Besuch beim Eremiten); die Charakterisierung von Frau, Tochter und Eremit, verglichen mit der von Frate Alberto und Madonna Lisetta, ist rein «kreatürlich», das heißt durchaus nicht unlebendig, vielmehr ganz echt, aber ohne jede Individualisierung; die ganze Geschichte ist als sinnliche Wiedergabe eines komischen Vorgangs wirkungsvoll, sie enthält viel volkstümlich-redensartlichen Humor (la vieille, de joye emprise, cuidant Dieu tenir par les piez), sie ist aber unvergleichlich roher, enger, in Gesin‐ nung und Formung tiefer gelagert als Boccaccio. Die Realistik der französisch-burgundischen Kultur des 15.-Jahrhunderts ist also eng und mittelalterlich; sie hat keinerlei neue, die irdische Welt gestaltende Gesinnung, und erkennt kaum, daß die mittelalterlichen Ord‐ nungen ihre konstruktive Kraft allmählich einbüßen; sie bemerkt kaum, wie bedeutende Veränderungen sich in der Struktur des Lebens vollziehen, und sie steht, an Weite des Horizonts, Kultur der Sprache und formender Kraft sehr zurück hinter dem, was die italienische spätmittelalterliche und frühhumanistische Blütezeit, schon ein Jahrhundert zuvor, durch Dante und Boccaccio geschaffen hatte. Allein es prägte sich in ihr eine Vertiefung des Sinnlich-Kreatürlichen aus, und dies christliche Erbe hat sie in die Renaissance hinübergerettet. In Italien empfanden Boccaccio und der Früh‐ 262 X Madame du Chastel <?page no="263"?> humanismus jenen kreatürlichen Ernst in der Erfahrung des Lebens nicht mehr; in Frankreich selbst, und überhaupt nördlich der Alpen, drohte jeder ernsten Realistik der Erstickungstod unter der Schlingpflanze der Allegorie; aber die spontane Kraft des Sinnlichen war stärker, und auf diese Art gelangte der mittelalterlich-kreatürliche Realismus ins 16. Jahrhundert; er gab der Renaissance ein starkes Gegengewicht gegen die stiltrennenden Kräfte, die aus der humanistischen Nachahmung der Antike erwuchsen. X Madame du Chastel 263 <?page no="265"?> XI Die Welt in Pantagruels Mund I M 32. Kapitel seines zweiten Buches (das aber als erstes geschrieben und veröffentlicht wurde) erzählt Rabelais, wie die Armee Pantagruels auf dem Feldzug gegen das Volk der Almyrodes (der «Salzigen») unterwegs von einem Regenguß überrascht wird; wie Pantagruel den Befehl gibt, sie sollten sich eng zusammenstellen, er sehe über den Wolken, es sei nur eine kurze Husche; er wolle ihnen inzwischen ein Obdach geben. Hierauf steckt er seine Zunge heraus (seulement à demi), und bedeckt sie wie eine Henne ihre Küchlein. Nur der Verfasser selbst (je, qui vous fais ces tant veritables contes), der sich schon vorher anderswo Deckung verschafft hatte und nun aus dieser hervorkommt, findet keinen Platz mehr unter dem Zungendach: Doncques, le mieulx que je peuz, montay par dessus, et cheminay bien deux lieues sus sa langue tant que entray dedans sa bouche. Mais, ô Dieux et Deesses, que veiz je là? Jupiter me confonde de sa fouldre trisulque si j’en mens. Je y cheminoys comme l’on faict en Sophie à Constantinoble, et y veiz de grans rochiers comme les mons des Dannoys, je croys que c’estoient ses dentz, et de grands prez, de grandes forestz, de fortes et grosses villes, non moins grandes que Lyon ou Poictiers. Le premier que y trouvay, ce fut un homme qui plantoit des choulx. Dont tout esbahy luy demanday: «Mon amy, que fais tu icy? - Je plante, dist-il, des choulx. - Et à quoy ny comment, dis-je? - Ha, Monsieur, dist-il, chascun ne peut avoir les couillons aussi pesant qu’un mortier, et ne pouvons estre tous riches. Je gaigne ainsi ma vie, et les porte vendre au marché en la cité qui est icy derriere. - Jesus, dis-je, il y a icy un nouveau monde? - Certes, dist-il, il n’est mie nouveau, mais l'on dist bien que hors d’icy y a une terre neufve où ilz ont et soleil et lune et tout plein de belles besoignes; mais cestuy cy est plus ancien. - Voire mais, dis-je, comment a nom ceste ville où tu portes vendre tes choulx? - Elle a, dist il, nom Aspharage, et sont christians, gens de bien, et vous feront grande chere.» Bref, je deliberay d’y aller. Or, en mon chemin, je trouvay un compaignon qui tendoit aux pigeons, auquel je demanday: «Mon amy, d’ont vous viennent ces pigeons icy? - Cyre, dist il, ils viennent de l’aultre monde.» Lors je pensay que, quand Pantagruel basloit, les pigeons à pleines volées entroyent dedans sa gorge, pensans que feust un colombier. Puis entray en la ville, laquelle je trouvay belle, bien forte et en bel air; mais à l’entrée les portiers me demanderent mon bulletin, de quoy je fuz fort esbahy, et leur demanday: «Messieurs, y a il icy dangier de peste? - O, Seigneur, dirent ilz, l’on se meurt icy auprès tant que le charriot court par les <?page no="266"?> rues. - Vray Dieu, dis je, et où? » A quoy me dirent que c’estoit en Laryngues et Pharyngues, qui sont deux grosses villes telles que Rouen et Nantes, riches et bien marchandes, et la cause de la peste a esté pour une puante et infecte exhalation qui est sortie des abysmes des puis n’a gueres, dont ilz sont mors plus de vingt et deux cens soixante mille et seize personnes despuis huict jours. Lors je pensé et calculé, et trouvé que c’estoit une puante halaine qui estoit venue de l’estomach de Pantagruel alors qu’il mangea tant d’aillade, comme nous avons dict dessus. De là partant, passay entre les rochiers, qui estoient ses dentz, et feis tant que je montay sus une, et là trouvay les plus beaux lieux du monde, beaux grands jeux de paulme, belles galeries, belles praries, force vignes et une infinité de cassines à la mode italicque, par les champs pleins de delices, et là demouray bien quatre moys, et ne feis oncques telle chere pour lors. Puis descendis par les dentz du derrière pour venir aux baulièvres; mais en passant je fuz destroussé des brigans par une grande forest que est vers la partie des aureilles. Puis trouvay une petite bourgade à la devallée, j’ay oublié son nom, où je feiz encore meilleure chere que jamais, et gaignay quelque peu d’argent pour vivre. Sçavez-vous comment? A dormir; car l’on loue les gens à journée pour dormir, et gaignent cinq et six solz par jour; mais ceulx qui ronflent bien fort gaignent bien sept solz et demy. Et contois aux senateurs comment on m’avoit destroussé par la valée, lesquelz me dirent que pour tout vray les gens de delà estoient mal vivans et brigans de nature, à quoy je cogneu que, ainsi comme nous avons les contrées de deçà et delà les montz, aussi ont ilz deçà et delà les dentz; mais il fait beaucoup meilleur deçà, et y a meilleur air. Là commençay penser qu’il est bien vray ce que l’on dit que la moytié du monde ne sçait comment l’autre vit, veu que nul avoit encores escrit de ce pais là, auquel sont plus de XXV royaulmes habitez, sans les desers et un gros bras de mer, mais j’en ay composé un grand livre intitulé l’Histoire des Gorgias, car ainsi les ay-je nommez parce qu’ilz demourent en la gorge de mon maistre Pantagruel. Finablement vouluz retourner, et passant par sa barbe, me gettay sus ses epaulles, et de là me devallé en terre et tumbé devant luy. Quand il me apperceut, il me demanda: «D’ont viens tu, Alcofrybas? - Je luy responds: De vostre gorge, Monsieur. - Et depuis quand y es tu, dist il? - Despuis, dis je, que vous alliez contre les Almyrodes. - Il y a, dist il, plus de six moys. Et de quoy vivois tu? Que beuvoys tu? - Je responds: Seigneur, de mesme vous, et des plus frians morceaulx qui passoient par vostre gorge j’en prenois le barraige. - Voire mais, dist il, où chioys tu? - En vostre gorge, Monsieur, dis-je. - Ha, ha, tu es gentil compaignon, dist il. Nous avons, avecques l’ayde de Dieu, conquesté tout 266 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="267"?> 41 Also stieg ich, so gut ich konnt an ihm hinan und wandert wohl zween Meilen weit auf seiner Zung hin, bis ich ihm endlich in den Mund kam. Aber, o ihr Götter und Göttinnen, was erblickt ich da! Jupiter erschlag mich gleich mit seinem dreyspitzigen Donnerkeil, wo ich auch nur ein Wörtlein lüge. Ich spaziert darinn umher, wie in Sanct Sophien zu Konstantinopel, und sah da mächtige Felsenblöck, groß wie die Berg in Dänemark: ich glaub, ’s sind seine Zähn gewesen: große Wiesen, dichte Wälder, auch feste, wohlverschanzte Städt, nicht kleiner denn Poictiers oder Lyon. Der Erst, den ich da antraf, war ein guter Gesell, der bauet’ Kraut auf seinem Acker; den befrug ich, schier ganz verwundert; Ey, mein Freund, was schaffst du hier? - Ich bau halt Kraut, antwortet’ er. - Ey wie dann so? und zu was End? - Hum, sprach er, Herr, nicht jedem wächst der Sack mörselsdick; wir können eben all nit reich seyn. Hiemit verdien ich mir mein Brot, und trags zu Markt in die Stadt selt hinten. - Jesus! sag ich, ist hie wohl gar eine neue Welt? - Ist weiter just nix neues dran, antwortet’ er; doch sprechens, da draußen wär auch eine Welt, und hätt auch Sonn und Mond, und alles vollauf zu leben drein; die hie ist aber doch älter. - Schon gut, mein Freund, sag ich zu ihm, und wie heißt die Stadt, da du dein Kraut zu Markt hinführest? - Aspharagus, Herr; recht wackre Leut, und lauter gute Christen drinn, die euch gar trefflich gastiren werden. - Kurz, ich ward schlüssig, hin zu gehen. Jetzt, wie ich nun so weiter zieh, treff ’ ich auf einen Buben am Weg, welcher den Tauben Netze stellet’. Den frag ich: Freund, von wannen kommen euch diese Tauben? - Herr, die kommen von der andern Welt, antwortet’ er. - Da dacht ich mir wie, wenn Pantagruel etwann jähnt’, die Tauben wohl zu ganzen Flügen, in Meinung, es wär ein Taubenschlag, ihm in das Maul ziehn möchten. Also ging ich dann vollends in die Stadt, die ich gar schön und fest befand; war auch ein guter Luft daselbst. Aber die Pförtner vor dem Thor wollten mir nach dem Laufpaß sehen. Darob ich sehr betroffen frug: Wie meine Herren, hats irgend hie wegen der Pest Gefahr? - Ach Gnädigster! versetzten sie, unweit von hie sterben euch die Leut, daß der Leichenwagen immerfort die Gassen entlang fährt. - Ey heiliger Gott, sprech ich, und wo dann? - Darauf sagten sie mir, es wäre in Laringen und Pharingen, welches zwey große und reiche Handelsstädte wie Rouen und wie Nantes sind: und wär der erste Ursprung der Pest ein fauler und giftiger Brodem gewesen, unlängst vom Abgrund aufgestiegen, daran über zweyundzwanzighundertsechzigtausend und sechzehn Köpf seit nun acht Tagen verblichen wären. Da überschlug, erwog und befand ich, daß dies aus des Pantagruel Magen ein stinkender Othem gewesen war, als er den vielen Knoblauch aß, wie oben ist ermeldet worden. Von dannen schlug ich mich ins Gebirg, welches seine Backzähn waren, und triebs so lang bis ich auf einen zu le pays des Dipsodes: je te donne la chatellenie de Salmigondin. - Grand mercy, dis je, Monsieur. Vous me faictes du bien plus que n’ay deservy envers vous.» 41 Das Motiv dieses lustigen Abenteuers hat Rabelais nicht selbst erfunden. In dem Volksbuch vom Riesen Gargantua (mir liegt der Abdruck eines Dresdner Exemplares in W. Weigands Ausgabe der Regisschen Rabelais‐ übersetzung vor, 3. Auflage Berlin 1923, Band 2, Seite 398ff., vgl. übrigens die Anmerkung 7 in der édition critique von Abel Lefranc, IV,330) wird erzählt, wie die 2943 Gewappneten, die Gargantua im Schlaf erwürgen sollen, in sein offenes Maul geraten, dessen Zähne sie für große Felsen XI Die Welt in Pantagruels Mund 267 <?page no="268"?> stehen kam: da fand ich euch die allerbesten Ort der Welt; viel schöne große Ballenspiel, schmucke Laubengäng, schöne Triften, Rebenhügel im Überfluß, und eine unzählbare Meng kleiner artiger Häuslein nach welscher Manier in den Auen belegen, und alles rings voll Fröhlichkeit. Daselbst verblieb ich wohl an die vier Monat, und hab mein Lebtag seit der Zeit nicht wieder so flott wie damals gelebt. Stieg dann an den hintersten Zähnen nach den unteren Lefzen hinunter; aber als ich durch einen tiefen Wald kam, unweit der Ohren, ward ich von Räubern ausgezogen. Fand dann im Grund einen kleinen Flecken (der Nam ist mir entfallen davon) wo ich noch flotter als jemals lebt, auch ein klein Zehrgeld mir verdienet: und wißt ihr wie? Mit Schlafen: denn dort dingt man die Leut zum Schlafen tagweis: verdienen den Tag ihre fünf, auch wohl sechs Sol damit: die aber recht laut schnarchen können, stehen sich bis sieben und achtehalben. Da erzählt ichs denen Ratsherrn wie ich im Thal wär geplündert worden; die sagten mirs dann für gewiß daß dies Volk dahinten in alle Weg ein bös Gesindel und von Natur erzräuberisch wär. Daraus ich mir dann abstrahirt: wie wir das Land bey uns zu Haus in vor und hintern Bergen theilen, so heißts dort: vor und hintern Zähnen; ist aber weit besser Leben vorn, und auch ein weit gesünderer Luft. Und dacht daneben auch wie wahr doch das Sprichwort sagt: die eine Welt-Hälft weiß weder Kix noch Kax von der andern. Masen noch keiner dies Land beschrieben, welches doch mehr denn fünfundzwanzig bewohnte Königreich in sich faßt, die Wüsten und ein breiter Meerstrich nicht mitgerechnet. Aber ich hab ein großes Buch darüber geschrieben, der Maulinger Geschicht betitult; denn also hab ichs zubenannt, weil sie im Maul meines Herrn und Meisters Pantagruel wohnen. Endlich wollt ich auch wieder heim; da stieg ich dann an seinem Bart hinab, und schwang mich ihm auf die Schultern, von wo ich weiter zu Tal abglitt und vor ihm platt auf die Erde hin fiel. Als er mich sahe, frug er mich: Ey, mein Alcofribas, woher kommst du? - Aus eurem Maul, Herr, antwort ich. - Und wie lang, sprach er, war’st du darinnen? - Seit ihr, sprach ich, den Feldzug in Halmyrodien thätet. - Das ist schon über sechs Monat her, sagt’ er: und wovon lebtest du, was trankest du? - Herr, sag ich, dasselbe da ihr von lebet, und von den leckeren Mundbißlein, die euch durch euern Schlund passierten, erhub ich mir den Transito. - Wohl, sprach er, doch wohin schissest du? - In euren Hals, Herr. - Ha, Ha, ha! du bist fürwahr ein artiger Knab. Wir han itzund mit Gottes Hülf das ganze Dipsodierland bezwungen; ich schenk dir die Burgvogtei Salmigundien. - Vergelts Gott, Herr! sprach ich zu ihm, ihr tut mir weit mehr Liebs und Guts als ich um euch verdienet hab. (Nach der Übersetzung von Gottlob Regis, hrsg. von W. Weigand, 3. Aufl., Berlin 1923: mit einigen Abänderungen.) halten, und wie sie später, als er nach dem Erwachen seinen Durst löscht, alle bis auf drei ertrinken; diese retten sich in einen hohlen Zahn. In einem hohlen Zahn gibt auch an einer späteren Stelle des Volksbuchs Gargantua fünfzig Gefangenen vorläufiges Quartier; sie finden dort sogar einen Saal für das Ballspiel, ein jeu de paume, zu ihrer Unterhaltung. (Den hohlen Zahn verwendet Rabelais an einer anderen Stelle, im 38. Kapitel des ersten Buches, wo Gargantua sechs Pilger mit einem Salatkopf verschluckt.) Außer dieser französischen Quelle erinnert er sich an unserer Stelle eines antiken Autors, den er sehr zu schätzen wußte, Lukians, der in seinen «Wahrhaftigen 268 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="269"?> Geschichten» (I,30ff.) von einem Meerungeheuer berichtet, das ein Schiff mit sämtlichen Insassen verschlingt; in seinem Rachen finden sie Wälder, Berge und Seen, es wohnen darin verschiedene halbtierische Völker, und auch zwei Menschen, Vater und Sohn, die durch Schiffbruch vor 27 Jahren dahin verschlagen wurden; auch sie bauen Kohl und haben dem Poseidon ein Heiligtum errichtet. Diese beiden Vorbilder hat Rabelais auf seine Weise verschmolzen, indem er in den Mund des Riesen aus dem Volksbuch, der trotz seiner ungeheuren Größe doch nicht ganz den Charakter eines Mundes verliert, das lukianische Landschafts- und Gesellschaftsbild einge‐ baut hat; ja er übertreibt dieses noch (25 Königreiche mit großen Städten, während es sich bei Lukian nur um etwas über tausend Fabelwesen handelt), ohne sich übrigens mit der Zusammenfügung beider Motive viel Mühe zu machen: zu den Größenverhältnissen, die ein so reich bevölkerter Mund voraussetzt, steht die Geschwindigkeit der Rückreise in keinem Verhältnis; noch weniger die Tatsache, daß der Riese ihn nach seiner Rückkehr bemerkt und anredet, und am allerwenigsten die Auskünfte über seine Ernährung und Verdauung während des Aufenthaltes im Innern des Mundes, die das ausgebildete Ackerbau- und Wirtschaftswesen, das er dort angetroffen hat, sei es vergessen haben sei es absichtlich verschwiegen; augenscheinlich dient die Unterhaltung mit dem Riesen, die die Szene abschließt, lediglich einer lustigen Charakterisierung des gemütlichen Pantagruel, der für das leibliche Wohl seiner Freunde, insbesondere für ihre Versorgung mit gutem Getränk, eifriges Interesse zeigt, und der das unerschrockene Bekenntnis über die Verdauung gutlaunig mit der Verleihung einer Schloßherrschaft belohnt - obgleich doch der brave Alcofrybas während des Krieges sich sozusagen einen Druckposten ausgesucht hatte. Die Art, wie der Beschenkte sich bedankt (das habe ich doch gar nicht verdient) ist in diesem Fall keine bloße Redensart, sondern entspricht durchaus den Umständen. Trotz der Erinnerung an literarische Vorbilder hat Rabelais die Welt im Munde ganz nach seiner eigenen Weise geformt. Nicht halbtierische Fabelwesen und einige wenige, dürftig sich den Umständen anpassende Menschen findet Akofrybas vor, sondern eine ausgebildete Gesellschaft und Wirtschaft, in der alles so zugeht wie bei ihm zu Hause in Frankreich. Er staunt zunächst, daß dort überhaupt Menschen leben; vor allem aber auch über die Tatsache, daß es nicht etwa ganz fremd und anders, sondern genau ebenso ist wie in seiner gewohnten Welt. Das fängt gleich mit der ersten Begegnung an; verblüffend ist für ihn nicht nur, daß er an diesem Ort einen Menschen findet (er hat ja schon vorher die Städte von weitem XI Die Welt in Pantagruels Mund 269 <?page no="270"?> gesehen), sondern daß der Mensch ganz ruhig Kohl pflanzt, als ob man in der Touraine wäre. Deshalb fragt er ihn «tout esbahy»: Freund, was machst du denn da, und bekommt eine Antwort, wie er sie auch von einem Tourainer Bauern bekommen hätte, behaglich und dummschlau, so wie sehr viele Typen bei Rabelais sich darzustellen pflegen: Je plante, dist il, des choulx. Das erinnert mich an den Ausspruch eines kleinen Jungen, den ich einmal mitanhörte; zum ersten Male am Fernsprecher, damit die in einer anderen Stadt lebende Großmutter seine Stimme hören könnte, gab er auf die Frage nach seinem Befinden: was machst du denn, mein Junge? die stolze und sachliche Antwort: ich telephoniere. Hier liegt es ein wenig anders; der Bauer ist nicht nur naiv und beschränkt, er hat auch den etwas hinterhältigen Humor, der sehr französisch und insbesondere rabelaisisch ist. Er ahnt wohl, daß der Gast aus jener anderen Welt ist, von der er auch schon etwas hat läuten hören; aber er gibt sich den Anschein, als merke er nichts, und antwortet auf die neue Frage, die auch nur ein Ausruf des Erstaunens ist (etwa: aber warum denn bloß? wie geht denn das zu? ), wieder ganz naiv, mit einem saftig-redensartlichen Bauernausdruck, der besagt, daß er nicht reich ist; durch den Kohl, den er in der benachbarten Stadt verkauft, verdiene er sein Leben. Nun endlich beginnt der Besucher die Lage zu erfassen; Jesus, ruft er aus, hier ist ja eine neue Welt! Nein, neu ist sie nicht, sagt der Bauer, aber die Leute sagen, es gebe da draußen ein neues Land, wo sie Sonne und Mond und überhaupt lauter gute Sachen haben; aber die hier ist doch älter. - Der Mann spricht von der «neuen Welt» wie die Leute in der Touraine oder sonstwo in West- und Mitteleuropa damals von den neuentdeckten Ländern, von Amerika oder Indien gesprochen haben mögen; aber er ist doch schlau genug, in dem Fremden einen Bewohner jener anderen Welt zu vermuten, denn er beruhigt ihn über die Menschen in der Stadt: es sind gute Christen und werden euch nicht schlecht aufnehmen; dabei nimmt er als selbstverständlich an, womit er ja in diesem Falle recht hat, daß die Bezeichnung «gute Christen» auch für den Gast den Wert einer beruhigenden Garantie besitzt. Kurz, dieser Bewohner der Umgegend von Aspharage benimmt sich genau wie seinesgleichen in der Touraine es getan haben würde, und in derselben Weise geht es weiter, häufig unterbrochen durch groteske Erklärungen, die wiederum keineswegs die Proportionen wahren; denn wenn Pantagruel den Mund öffnet, der so viel Reiche und Städte beherbergt, so dürften die Dimensionen der Öffnung schwerlich die Verwechslung mit einem Taubenschlag gestatten. Aber das Motiv «alles wie bei uns» bleibt unverändert. Wenn man am Tor der Stadt nach seinem 270 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="271"?> Gesundheitszeugnis gefragt wird, weil in den großen Hauptstädten des Landes die Pest herrscht, so ist das eine Anspielung auf die Seuche, die während der Jahre 1532 und 1533 in den nordfranzösischen Städten wütete (vgl. die Einleitung A. Lefrancs zu seiner kritischen Ausgabe, Seite XXXI); die schöne Gebirgslandschaft der Zähne zeigt das Bild westeuropäischer Kulturen, und die Landhäuser sind im italienischen Geschmack gebaut, der damals aber auch in Frankreich Mode zu werden begann; und in dem kleinen Nest, in welchem er die letzte Zeit seines Aufenthalts im Munde Pan‐ tagruels verbringt, geht es ebenfalls, abgesehen von der grotesken Art des Geldverdienens durch Schlafen, zu fünf bis sechs sous pro Tag, für kräftige Schnarcher Extrazulage (eine Erinnerung an die Schlaraffenlandmärchen) sehr europäisch zu; wenn die Senatoren ihn bemitleiden, weil er unterwegs im Waldgebirge beraubt worden ist, so geben sie ihm zu verstehen, daß die Leute «von jenseits» eigentlich kulturlose Barbaren sind, die nicht zu leben wissen, woraus er ersieht, daß es im Rachen Pantagruels Länder diesseits und jenseits der Zähne gibt, so wie bei uns Länder diesseits und jenseits der Berge. Während Lukian in allem Wesentlichen ein phantastisches Reiseaben‐ teuer gibt und es das Volksbuch lediglich auf die groteske Steigerung der Proportionen abgesehen hat, läßt Rabelais ständig verschiedene Schau‐ plätze, verschiedene Erlebnismotive und auch verschiedene Stilbezirke durcheinanderspielen. Indes Alcofrybas, der Abstractor der Quintessenz, seine Entdeckungsreise im Munde Pantagruels unternimmt, führt dieser mit seiner Armee den Krieg gegen Almyroden und Dipsoden weiter; und in der Entdeckungsreise selbst mischen sich zumindest drei verschiedene Erlebniskategorien. Den Rahmen liefert das groteske Motiv der ungeheuer‐ lichen Proportionen, das keinen Augenblick aus den Augen gelassen und durch immer neue absurd-komische Einfälle zurückgerufen wird; durch die ins Maul fliegenden Tauben, wenn der Riese gähnt, durch die Erklärung der Pest mit der Knoblauchmahlzeit, die giftige Dämpfe aus Pantagruels Magen hochsteigen läßt, durch die Verwandlung der Zähne in eine Gebirgsland‐ schaft, durch die Art der Rückreise und durch das abschließende Gespräch. Dazwischen aber klingt ein ganz anderes, ganz neues und damals höchst aktuelles Thema auf, das der Entdeckung einer neuen Welt, mit all dem Erstaunen, den Verschiebungen des Horizontes und Veränderungen des Weltbildes, die solche Entdeckung im Gefolge hat. Das ist eines der großen Themen der Renaissance und der beiden nächsten Jahrhunderte, eines der Hebelmotive für politische, religiöse, wirtschaftliche und philosophische XI Die Welt in Pantagruels Mund 271 <?page no="272"?> Revolution. Immer wieder tritt es in Erscheinung; sei es, daß die Schriftstel‐ ler eine Handlung in jener noch neuen und halbunbekannten Welt spielen lassen, indem sie dort einen reineren und ursprünglicheren Zustand kon‐ struieren als den europäischen, was ihnen eine wirksame und zugleich ein wenig reizvoll verschleierte Form der Kritik an den heimischen Zuständen ermöglicht; sei es, daß sie einen Bewohner jener fremden Länder in die europäische Welt einführen und ihre Kritik am Europäisch-Bestehenden aus seinem naiven Erstaunen und überhaupt aus seinen Reaktionen auf das, was er hier zu sehen bekommt, hervorspringen lassen; in beiden Fällen hat das Motiv eine revolutionäre, das Bestehende auflockernde, es in einen weiteren Zusammenhang stellende und damit relativierende Kraft. Rabelais hat es an unserer Stelle nur anklingen lassen, er hat es nicht ausgeführt; das Erstaunen Alcofrybas’ beim Anblick des ersten Mundbewohners gehört in diese Erlebniskategorie, und vor allem die Überlegung, die er am Ende seiner Reise anstellt: da wurde mir klar, wie richtig es ist, was man sagt: daß die eine Hälfte der Welt nicht weiß wie die andere lebt. Er überdeckt das Motiv sogleich wieder mit grotesken Späßen, so daß es in der ganzen Episode nicht eigentlich herrschend ist. Aber man erinnere sich, daß Rabelais das Land seiner Riesen anfangs Utopie nannte, mit einem Namen, den er dem sechzehn Jahre zuvor erschienenen Werke des Thomas Morus entlehnt, des Mannes, dem er von allen seinen Zeitgenossen vielleicht am meisten verdankte, und der als einer der ersten das Motiv des fernen Landes in der oben beschriebenen modellhaft-reformatorischen Weise verwendet hat. Es ist nicht nur der Name: das Land Gargantuas und Pantagruels, mit seinen politischen, religiösen, pädagogischen Lebensformen, heißt nicht nur, es ist auch Utopien; ein fernes, noch kaum entdecktes Land, das wie die Utopia des Morus irgendwo im Fernen Osten liegt, obgleich es freilich auch zuweilen mitten in Frankreich auffindbar zu sein scheint. Wir kommen darauf zurück. Soviel von dem zweiten der in unserer Stelle sich verschränkenden Motive; es kann sich hier nicht frei entwickeln, teils weil ihm die grotesken Späße des ersten ständig in die Quere kommen, teils weil es sofort von dem dritten gleichsam abgefangen und lahmgelegt wird: dem Motiv «tout comme chez nous». Das allererstaunlichste und absurdeste an dieser gorgiasischen Welt ist eben, daß sie nicht ganz anders, sondern aufs Tüpfelchen genau so ist wie unsere - insofern der unseren überlegen, als sie Kenntnis hat von ihr, während wir keine Kenntnis haben von jener - aber im übrigen ganz gleich. Dadurch gewinnt Rabelais Gelegenheit, die Rollen zu vertauschen, den kohlpflanzenden Bauern nämlich als einheimischen 272 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="273"?> Europäer auftreten zu lassen, der den Fremden aus der anderen Welt mit europäischer Naivität empfängt; er gewinnt vor allem die Möglichkeit, eine alltäglich-realistische Szene zu entwickeln, ein drittes Motiv also, das zu den beiden anderen, der grotesken Riesenfarce und der Entdeckung einer neuen Welt, gar nicht paßt und in absichtlich absurdem Widerspruch zu ihnen steht; so daß die ganze Maschinerie der ungeheuren Proportionen und der kühnen Entdeckungsreise nur in Gang gesetzt worden zu sein scheint, um uns einen Bauern aus der Touraine beim Kohlpflanzen vorzuführen. So wie die Schauplatzebenen und die Motive, so wechseln auch die Stile; herrschend ist die dem grotesken Rahmenmotiv entsprechende grotesk-komische und niedrige Stillage, und zwar in ihrer energischsten Form, in der die kräf‐ tigsten Ausdrücke paradieren; daneben und darein verflochten erscheint sachlicher Bericht, philosophische Gedanken blitzen auf und mitten in all dem grotesken Getriebe erhebt sich das kreatürliche Schreckbild der Pest, in der die Toten karrenweise aus den Häusern gefahren werden. Diese Art der Stilmischung hat Rabelais nicht erfunden; er hat sie zwar seinem Temperament und seinem Zweck dienstbar gemacht, aber stammen tut sie, paradoxerweise, aus der spätmittelalterlichen Predigt, in der sich die christ‐ liche Überlieferung der Stilmischung aufs äußerste gesteigert hatte (vgl. S. 166): diese Predigten sind zugleich auf die roheste Weise volkstümlich, auf kreatürliche Weise realistisch und auf biblisch-figural-interpretierende Weise gelehrt und erbaulich. Aus dem Geist der spätmittelalterlichen Pre‐ digt, und vor allem aus der Atmosphäre, die die im guten wie im bösen Sinne volkstümlichen Bettelorden umgab, übernahmen diese Stilmischung die Humanisten, besonders für ihre antikirchlichen, polemisch-satirischen Schriften; aus derselben Quelle schöpfte sie «reiner» als sie alle Rabelais, der in seiner Jugend Franziskaner gewesen war; er hat diese Lebens- und Ausdrucksform an der Quelle studiert und sie sich auf seine Weise zu eigen gemacht; er kann sich nicht mehr von ihr trennen; so sehr er die Bettelorden haßte, so sehr entsprach ihre würzig-kreatürliche und bis zum Possenhaften anschauliche Stilart seinem Temperament und seiner Absicht, und niemand hat aus ihr soviel hervorzuzaubern gewußt wie er. Diese Filiation hat E. Gilson für alle, denen sie nicht schon vorher deutlich war, in seinem schönen Aufsatz «Rabelais franciscain» (vgl. S. 174) nachgewiesen; wir kommen auch auf die Stilfrage noch zurück. Die Stelle, die wir hier besprochen haben, ist verhältnismäßig einfach. Das Ineinanderspielen der Schauplätze, der Motive und Stillagen ist vergleichs‐ weise leicht zu übersehen, und die Analyse verlangt keine umständlichen XI Die Welt in Pantagruels Mund 273 <?page no="274"?> Untersuchungen. Andere Stellen sind viel komplizierter, etwa solche, an denen sich Rabelais’ Gelehrsamkeit, seine abertausend Anspielungen auf zeitgenössische Dinge und Personen, und seine Wortbildungsorkane austo‐ ben. Unsere Analyse hat uns mit geringen Mitteln gestattet, ein für seine Art, die Welt zu sehen und zu greifen, wesentliches Prinzip zu erkennen: das Prinzip des Durcheinanderwirbelns der Kategorien des Geschehens, des Erlebens, der Wissensbezirke, der Proportionen und der Stile. Man kann die Beispiele, für das Ganze wie für das Einzelne seines Werkes, beliebig vermehren. Abel Lefranc hat gezeigt, daß sich die Ereignisse des ersten Buches, insbesondere der Krieg gegen Picrochole, auf den wenigen Quadratmeilen eines Gebietes abspielen, das um La Devinière, ein Besitztum von Rabelais’ väterlicher Familie, herumgelagert ist; und auch für den, der das nicht so bis ins einzelne genau weiß oder wußte, suggerieren die Ortsnamen und einige gemütlich lokale Vorgänge, die vor und während des Krieges sich abspielen, einen provinziellen und engen Bezirk. Dabei marschieren Heere von Hunderttausenden auf, und Riesen, denen die Stück‐ kugeln wie Ungeziefer in den Haaren stecken bleiben, nehmen am Kampfe teil; Ausrüstungs- und Lebensmittelquantitäten werden aufgezählt, die in jener Zeit ein großes Reich nicht hätte aufbringen können; allein die Zahl der Soldaten, die in den Weingarten des Klosters Seuillé eindringen und dort von Frère Jean niedergemacht werden, wird mit 13 622 angegeben - Frauen und kleine Kinder nicht mitgerechnet. Das Motiv der riesigen Ausmaße dient Rabelais zu perspektivischen Kontrastwirkungen, die das Gleichgewicht des Lesers in einer hinterhältig-humoristischen Weise erschüttern; er wird ständig zwischen provinziell würzigen und gemütlichen Lebensformen, ungeheuren und grotesk überwirklichen Ereignissen und utopisch-humani‐ tären Gedanken hin- und hergeworfen; er darf niemals auf einer gewohnten Ebene des Geschehens zur Ruhe kommen. Auch das kräftig Realistische oder Obszöne wird durch das Tempo des Vortrags und die sich jagenden Anspielungen zu einem geistigen Wirbel; das stürmische Gelächter, das solche Stellen hervorrufen, erschüttert alle damaligen Begriffe gewohnter Ordnung. Wenn man einen kurzen Text liest wie etwa die Ansprache des Bruders Jean des Entommeures zu Anfang des 42. Kapitels im ersten Buch, so findet man darin zwei kräftige Späße. Der erste betrifft den Segen, der vor der schweren Artillerie schützt; Frère Jean sagt nicht etwa nur, daß er nicht an diesen Segen glaubt, sondern er wechselt spielend die Betrachtungsebene, stellt sich auf die der Kirche, die den Glauben als Bedingung der göttlichen Hilfe fordert, und sagt, aus dieser Perspektive: der Segen wird mir nichts 274 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="275"?> helfen, denn ich glaube nicht daran. Der zweite Spaß betrifft die Wirkung der Mönchskutte; Frère Jean beginnt mit der Drohung, er werde dem, der sich als Feigling erweist, seine Kutte umhängen. Natürlich meint man zunächst, dies sei als Strafe und Demütigung gemeint; es werden dem so Bekleideten gleichsam die Qualitäten eines rechten Mannes aberkannt. Aber nein, im Nu wechselt er die Betrachtungsart: die Kutte ist eine Arzenei für unmännliche Männer; sie werden Männer, sobald sie sie anhaben; er meint damit, daß die durch die Gelübde und die vorgeschriebene Lebensweise erzwungene Privation die männlichen Fähigkeiten, sowohl Mut wie sexuelle Potenz, besonders steigert; und er beschließt seine Ansprache mit der Anekdote von dem kreuzlahmen Windhund des Herrn de Meurle, dem man eine Kutte umhing; von Stund an entging ihm kein Fuchs und kein Hase, und er belegte alle Hündinnen der Umgegend, obgleich er vorher zu den «frigidis et maleficiatis» (das ist ein Dekretalientitel) gehört hatte. Oder man lese die langausgesponnene Darstellung der Gegenstände, die zur Säuberung des Afters dienen können, welche der junge Gargantua im 13. Kapitel zum besten gibt: welch ein Reichtum an Improvisationen! Da gibt es Gedichte und Syllogismen, Medizin, Zoologie und Botanik, Zeitsatire und Kostümkunde; am Schluß wird das Entzücken, welches die Eingeweide dem ganzen Körper mitteilen, wenn man die gedachte Prozedur mit einem jungen, lebenden, weichgefiederten Gänslein vornimmt, mit der Seligkeit der Heroen und Halbgötter in den elysäischen Gefilden in Zusammenhang gebracht, und Grandgousier vergleicht den bei dieser Gelegenheit bewiesenen Scharfsinn seines Sohnes mit dem des jungen Alexander in der bekannten Plutarchanekdote, welche berichtet, wie er als einziger die Ursache der Wildheit eines Pferdes - nämlich die Angst vor dem eigenen Schatten - erkannte. Betrachten wir einige beliebige Stellen aus den späteren Büchern. Im 31. Kapitel des dritten Buches gibt der Arzt Rondibilis, von Panurge wegen seiner Heiratspläne befragt, die Mittel an, die den allzu heftigen Geschlechtstrieb dämpfen: erstens übermäßiger Weingenuß, zweitens bestimmte Medikamente, drittens anhaltende körperliche Arbeit, viertens eifriges geistiges Studium - jedes dieser vier Mittel wird mit einem Unmaß von medizinischer und humanistischer Gelehrsamkeit seitenlang erläutert, wobei die Aufzählungen, Zitate und Anekdoten wie ein Sprühre‐ gen niedergehen -; fünftens, fährt Rondibilis fort, der Geschlechtsakt … Halt, sagt Panurge, darauf habe ich gewartet, dies Mittel paßt für mich, die anderen benutze, wer Lust dazu hat. Ja, sagt Frère Jean, der zugehört hat, dies Mittel nannte Bruder Scyllino, der Prior von Sankt Victor bei Marseille, XI Die Welt in Pantagruels Mund 275 <?page no="276"?> die Abtötung des Fleisches … Das Ganze ist ein toller Jux, aber Rabelais hat ihn vollgestopft mit seinen ständig wechselnden, absichtlich die Stil- und Wissensbezirke durcheinanderschüttelnden Einfällen. Nicht anders verhält es sich mit der grotesken Verteidigung des Richters Bridoye (Kap. 39-42 des gleichen Buches), der seine Prozesse sorgfältig durcharbeitete, sie lange anstehen ließ und sie alsdann nach dem Los der Würfel entschied; und der dabei vierzig Jahre lang lauter weise und gerechte Urteile fällte. In dieser Rede mischen sich seniles Gefasel und hinterhältig-ironische Lebens‐ weisheit, es werden die schönsten Anekdoten erzählt, die ganze juristische Fachterminologie ergießt sich in grotesken Wortkaskaden auf den Leser, zu jeder selbstverständlichen oder absurden Behauptung wird ein Haufen von komischen Zitaten aus dem römischen Recht und den Glossatoren angeführt; es ist ein Feuerwerk von Witz, juristischer und menschlicher Erfahrung, von Zeitsatire und Sittengeschichte, eine Erziehung zum Lachen, zum raschen Wechsel des Standpunkts, zum Reichtum der Betrachtungs‐ weisen. Wählen wir schließlich aus dem vierten Buch die Szene auf dem Schiff, wo Panurge mit dem Kaufmann Dindenault um einen Hammel feilscht (Kap. 6-8). Das ist vielleicht im ganzen Rabelais die stärkste Szene, die ein Spiel zwischen zwei Menschen gibt. Der Eigentümer der Hammelherde, der Kauf‐ mann Dindenault aus der Saintonge, ist ein cholerischer und aufgeblasener Mensch, dabei von dem einfallsreichen, redensartlichen und hinterhältigen Witz, der fast allen Figuren Rabelais’ eigentümlich ist; er hat gleich bei der ersten Begegnung den Eulenspiegel Panurge auf das gröbste angepflaumt, und ohne das Dazwischentreten des Schiffspatrons und Pantagruels wäre es zu einer ernsthaften Prügelei gekommen. Danach sitzen sie, scheinbar versöhnt, mit den anderen zusammen beim Wein, als Panurge ihn bittet, ihm doch einen seiner Hammel zu verkaufen. Nun beginnt Dindenault viele Seiten lang seine Ware zu rühmen, und verfällt dabei noch mehr als zuvor in das verletzend Großspurige gegenüber Panurge, den er mit einer Mischung von Mißtrauen, Frechheit, Gemütlichkeit und Herablassung behandelt, wie einen Narren oder Betrüger, der solcher Königsware gar nicht würdig sei. Panurge hingegen bleibt jetzt still und höflich, immer nur die Bitte um einen Hammel wiederholend. Schließlich nennt Dindenault, auf das Drängen der Umstehenden, einen gepfefferten Preis; als ihn Panurge warnt, es sei manchem fehlgeraten, wenn er allzuschnell reich werden wollte, bekommt er einen Wut- und Schimpfanfall. Schon gut, sagt Panurge; er zahlt das Geld, wählt sich einen schönen und großen Hammel, und während Dindenault 276 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="277"?> noch über ihn spottet, wirft er das Tier plötzlich ins Meer. Die ganze Herde springt nach; der verzweifelte Dindenault versucht vergeblich sie zurückzuhalten; er wird von einem starken Widder mitgerissen und ertrink t in der gleichen Stellung, in der einst Odysseus aus der Höhle Polyphems entfloh; ebenso geht es seinen Hirten und Viehknechten. Panurge aber verhindert mit einem langen Ruder diejenigen, die sich aus dem Wasser retten wollen, das Schiff zu erreichen, und hält dabei den Ertrinkenden eine schöne Rede über die Seligkeit des ewigen und das Elend des irdischen Lebens. So endet der Schwank grimmig und fast ein wenig beängstigend, wenn man den Grad des Rachebedürfnisses des immer heiteren Panurge bedenkt. Aber es bleibt doch ein Schwank, in den Rabelais, wie gewöhnlich, eine Menge bunter und grotesker Gelehrsamkeit gestopft hat; über die Hammel diesmal, ihre Wolle, ihre Haut, ihre Därme, ihr Fleisch und noch allerhand andere Teile, verbrämt wie gewöhnlich mit Mythologie, Medizin und seltsamem chemischem Zauberwesen. Doch dies bunte Getriebe von Einfällen, die Dindenault bei seiner Anpreisung der Hammel vorbringt, ist diesmal doch nicht die Hauptsache, sondern die breite Selbstdarstellung sei‐ nes Wesens, die die Art seines Untergangs begründet: er wird hineingelegt und kommt um, weil er sich nicht einstellen und umstellen kann, sondern in seiner eingleisigen Torheit und Großtuerei, wie Picrochole oder der écolier limousin, beschränkt und weltblind vorwärts rennt; er kommt nicht auf den Gedanken, daß Panurge klüger sein könnte als er, daß er einiges Geld opfern könnte, um sich zu rächen. Beschränktheit, Unfähigkeit zur Anpassung, eingleisige Anmaßung, welche den Blick für die Vielfalt der wirklichen Lage versperrt, sind Laster für Rabelais. Dies ist die Form der Dummheit, die er verspottet und verfolgt. Fast alle Elemente, die sich in Rabelais’ Stil vereinen, sind aus dem späten Mittelalter bekannt. Die groben Schwänke, die kreatürliche Anschau‐ ung des menschlichen Körpers, der Mangel an Scham und Zurückhaltung im Geschlechtlichen, die Vermischung solcher Realistik mit satirischen oder didaktischen Inhalten, die formlos aufgehäufte und zuweilen abstruse Gelehrsamkeit, die Verwendung allegorischer Figuren in den späteren Bü‐ chern: dies alles und manches andere findet sich auch im späten Mittelalter, und man wäre versucht, zu glauben, das Neue bestehe hier nur in der ungewohnten Steigerung und Zusammenballung. Allein das würde am Wesentlichen vorbeigehen; die Art, wie die gedachten Elemente gesteigert und durcheinandergewirbelt sind, gibt eine ganz neue Mischung, und die Absicht, die Rabelais verfolgt, ist mittelalterlicher Gesinnung, wie man weiß, XI Die Welt in Pantagruels Mund 277 <?page no="278"?> geradezu entgegengesetzt; dies gibt auch den einzelnen Elementen einen anderen Sinn. Die spätmittelalterlichen Werke sind ständisch, geographisch, kosmologisch, religiös und moralisch fest gerahmt; sie geben von den Dingen jeweils nur einen einzigen Aspekt; wo sie mit einer Vielfalt von Dingen und Aspekten zu tun haben, da sind sie bemüht, sie in den festen Rahmen einer Gesamtordnung zu spannen. Rabelais’ ganzes Bestreben aber geht dahin, mit den Dingen und der Vielfalt möglicher Anschauungen zu spielen und den an bestimmte Betrachtungsweisen gewohnten Leser durch den Wirbel der Erscheinungen auf das große Meer der Welt zu locken, in dem man frei, und auch auf jede Gefahr, schwimmen kann. Es scheint mir nicht ganz das Wesentliche zu treffen, wenn manche Kritiker entscheidenden Wert auf Rabelais’ Trennung vom christlichen Dogma legen; wohl ist er gewiß nicht mehr im kirchlichen Sinne gläubig; aber er ist sehr weit entfernt davon, sich so wie ein Aufklärer der späteren Zeit auf bestimmte Formen des Unglaubens festzulegen; man darf auch aus seiner Satire über christliche Gegenstände keine allzu weitgehenden Schlüsse ziehen, denn in dieser Hinsicht bietet schon das Mittelalter Beispiele, die sich von seinen blasphemischen Späßen nicht wesentlich unterscheiden. Das Revolutionäre seiner Gesinnung liegt nicht eigentlich im Antichristlichen, sondern in der Auflockerung des Sehens, Fühlens und Denkens, welche sein beständiges Spiel mit den Dingen erzeugt, und die den Leser einlädt, sich unmittelbar mit der Welt und dem Reichtum ihrer Erscheinungen einzulassen. In einem Punkte freilich hat sich Rabelais festgelegt, und zwar in einer grundsätzlich widerchristlichen Weise: für ihn ist der Mensch, der seiner Natur folgt, und das natürliche Leben, sei es der Menschen oder der Dinge, gut; man bedürfte nicht einmal der ausdrücklichen Bekräftigung dieser seiner Überzeugung, die er durch die Gründung der abbaye de Thélème gibt; denn sie spricht aus jeder Zeile seines Werkes. Damit hängt zusammen, daß seine kreatürliche Behandlung des Menschen nicht mehr, wie die entsprechende Realistik des ausgehenden Mittelalters, die Kläglichkeit und Vergänglichkeit des Leibes und des Irdischen überhaupt zum Grundton hat; der kreatürliche Realismus hat bei Rabelais einen ganz neuen, dem mittelalterlichen schroff entgegen‐ gesetzten Sinn bekommen, den des vitalistisch-dynamischen Triumphs der Leiblichkeit und ihrer Funktionen. Bei Rabelais gib es keine Erbsünde und kein Jüngstes Gericht mehr, und also auch keine metaphysische Todesfurcht. Als ein Teil der Natur freut sich der Mensch seines atmenden Lebens, der Funktionen seines Körpers und der Kräfte seines Geistes, und wie die anderen Schöpfungen der Natur verfällt er der natürlichen Auflösung. 278 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="279"?> Dem atmenden Leben des Menschen und der Natur gehört Rabelais’ Liebe, sein Wissensdurst und seine Kraft sprachlicher Nachahmung; an ihm wird er zum Dichter, denn das ist er, sogar ein lyrischer Dichter, wenn auch nicht gefühlvoll. Dem triumphierenden irdischen Leben gilt seine realisti‐ sche Nachahmung, und das ist durchaus widerchristlich; es ist auch der Gesinnung, die aus dem kreatürlichen Realismus des späten Mittelalters herausklingt, so sehr entgegengesetzt, daß gerade in den mittelalterlichen Zügen seines Stils sich seine Abwendung vom Mittelalter am schlagendsten offenbart; sie haben Absicht und Funktion vollkommen verändert. Das Aufgehen und Einswerden des Menschen in der natürlichen Welt, das Triumphieren des Animalisch-Kreatürlichen gestattet auch genauer zu bemerken, wie vieldeutig und darum mißverständlich das Wort Individualis‐ mus ist, das sehr oft, und gewiß nicht ohne Berechtigung, in Verbindung mit der Renaissance gebraucht wird. Ohne Zweifel ist der Mensch in Rabelais’ allen Möglichkeiten offener, mit allen Aspekten spielender Weltansicht freier als zuvor in seinen Gedanken, im Geltendmachen seiner Instinkte und Wünsche. Ist er darum stärker individuell? Das ist nicht leicht zu entscheiden. Zumindest hängt er weniger fest in seinem eigentümlichen Wesen, er ist proteischer, eher geneigt in eine andere Haut zu schlüpfen; und die gemeinsamen, überindividuellen Züge, zumal die animalischen, instinktiven, werden sehr stark hervorgehoben. Rabelais hat sehr energisch ausgeprägte und eindeutige Typen geschaffen, aber er ist nicht immer ge‐ neigt, sie eindeutig festzuhalten; sie beginnen leicht zu schillern, eine andere Person schaut unversehens aus ihnen hervor, je nach Lage und Laune. Wie stark verändern sich Pantagruel und Panurge im Laufe des Werkes! Und auch im einzelnen Augenblick bekümmert er sich nicht viel um die Einheit der Person, wenn er behagliche Pfiffigkeit, Geist, Humanismus und eine immer wieder durchscheinende, naturhaft-mitleidslose Grausamkeit durcheinandermischt. Wenn man gar die groteske Unterwelt, die er im 30. Kapitel des zweiten Buches vorführt (in der die irdische Lage und Rolle der Personen auf den Kopf gestellt wird) mit Dantes Jenseits vergleicht, so sieht man, wie summarisch Rabelais mit der menschlichen Individualität verfährt; er findet Freude daran, sie umzustülpen. In der Tat führte die christliche Einheit des Weltbildes und die figurale Erhaltung des irdischen Wesens im göttlichen Urteil zu einer sehr starken und unzerstörbaren Permanenz des Persönlichen, was sich am stärksten bei Dante, aber auch sonst erweisen läßt; und diese geriet zunächst in Gefahr, als die christliche Einheit und Unsterblichkeit nicht mehr das Bild vom Menschen beherrschte. XI Die Welt in Pantagruels Mund 279 <?page no="280"?> Die erwähnte Unterweltsbeschreibung ist ebenfalls von einem Dialog Lukians inspiriert (Menippus seu Necyomantia), aber Rabelais hat das Spiel viel weiter und auch viel bunter getrieben, weit über die Grenzen eines maßvollen Geschmacks. Sein humanistisches Verhältnis zur antiken Litera‐ tur zeigt sich in seiner bedeutenden Kenntnis der Autoren, die ihm Motive, Zitate, Anekdoten, Beispiele und Vergleiche liefern; in seiner Gesinnung in politischen, philosophischen, pädagogischen Fragen, die wie die der übrigen Humanisten unter dem Einfluß antiker Gedanken steht; und insbesondere in seiner von den christlichen und ständischen Rahmenvorstellungen des Mittelalters befreiten Ansicht vom Menschen. Doch fügt er sich darum keineswegs in den Rahmen antiker Vorstellungen; die Antike bedeutet ihm Befreiung und Erweiterung des Horizontes, keineswegs aber eine neue Umgrenzung oder Bindung; nichts liegt ihm ferner als die antike Trennung der Stilgattungen, die in Italien schon zu seiner Zeit, und bald darauf auch in Frankreich, zum Purismus und zum «Klassizismus» führte. Bei ihm gibt es kein ästhetisches Maß; alles verträgt sich mit allem. Das alltäglich Wirkliche ist eingebaut in die unwahrscheinlichste Phantastik, der gröbste Schwank ist angefüllt mit Gelehrsamkeit, und philosophisch-moralische Erleuchtung quillt aus obszönen Worten und Geschichten. Das ist alles weit mehr spätmittelalterlich als antikisch, zumindest hat in der Antike das «lachende Sagen der Wahrheit» nicht solche Weite des Ausschlags nach beiden Seiten gekannt; dazu bedurfte es der spätmittelalterlichen Stilmischung. Aber Rabelais’ Stil ist doch nicht nur ungeheuer gesteigertes Mittelalter. Wenn er, wie ein spätmittelalterlicher Prediger, formlos aufgehäufte Gelehrsamkeit mit grober Volkstümlichkeit mischt, so hat die Gelehrsamkeit nicht mehr die Funktion, eine dogmatische oder moralische Lehre durch Autorität zu stützen, sondern dient dem grotesken Spiel, welches das jeweils Vorge‐ brachte entweder absurd und widersinnig erscheinen läßt, oder doch zum mindesten den Grad von Ernst, mit dem es gemeint ist, in Frage stellt. Und auch seine Volkstümlichkeit unterscheidet sich von der mittelalterlichen. Zweifellos ist Rabelais volkstümlich, da man jederzeit einem ungebildeten Publikum, sofern es seine Sprache versteht, mit seinen Geschichten große Freude machen kann; aber die eigentlichen Adressaten seines Werkes sind die Angehörigen einer geistigen Elite, nicht das Volk. Die Prediger wandten sich in lebendiger Rede an dieses, die Predigten waren zum unmittelbaren Vortrag bestimmt; Rabelais’ Werk hingegen für den Druck, also für die Lektüre, und das bedeutet im 16. Jahrhundert noch immer, für eine sehr 280 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="281"?> kleine Minorität; und selbst innerhalb dieser ist es nicht dieselbe Schicht, für die die Volksbücher bestimmt waren. Rabelais selbst hat sich über die Höhenlage des Stils seines Werkes geäußert, und hat dabei nicht ein mittelalterliches, sondern ein antikes Vorbild herangezogen, nämlich Sokrates. Der Text ist einer der schönsten und reifsten seines Werkes, der Prolog zum Gargantua, zum ersten Buch also, welches aber, wie schon eingangs erwähnt, erst nach dem zweiten geschrieben und veröffentlicht wurde. Beuveurs tres illustres, et vous, Verolez tres précieux - car à vous, non a aultres, sont dediez mes escriptz - so beginnt dieser berühmte, in seinem vielstimmigen Reichtum und im Anklingen der Hauptthemen des Werkes einer musikalischen Ouvertüre vergleichbare Text. Kaum hat je vorher ein Autor seine Leser auf diese Weise angeredet, und die Anrede wird noch ungeheuerlicher durch das plötzliche Auftreten eines Gegenstandes, den man, nach solchem Auftakt, am wenigsten erwartet hätte: Alcibiades ou dialoge de Platon intitulé Le Bancquet, louant son precepteur Socrates, sans controverse prince des philosophes, entre aultres parolles le dict estre semblable es Silenes … Platos Symposion war für die platonisierenden Mystiker der Renaissance, für die libertins spirituels in Italien, Deutschland und Frankreich etwas wie eine heilige Schrift; von ihr gedenkt er den trefflichen Zechern und kostbaren Venusseuchlingen, wie Regis drollig übersetzt, etwas zu erzählen; gleich mit dem ersten Satz gibt er den Ton, den der ungeheuerlichsten und maßlosesten Vermischung der Bezirke. Alsdann folgt eine übermütige und groteske Paraphrase jener Stelle, an der Alcibiades den Sokrates mit den Silenstatuen vergleicht, in deren Innerm sich kleine Bildsäulen der Götter befinden: denn er sei wie diese äußerlich häßlich, lächerlich, unscheinbar, arm, ungeschickt, eine groteske Figur und ein bloßer volkstümlicher Spaßmacher (diesen Teil des Vergleichs, den Alcibiades bei Plato nur kurz andeutet, hat Rabelais breit ausgeführt); aber in seinem Innern fänden sich die herrlichsten Schätze: übermenschliche Einsicht, bewunderungswürdige Tugend, unüber‐ windlicher Mut, unvergleichliche Genügsamkeit, beständige Zufriedenheit, vollkommene Festigkeit, unglaubliche Verachtung alles dessen wofür die Menschen soviel wachen, rennen, sich mühen, kämpfen und reisen. Und was beabsichtige ich wohl, so etwa fährt Rabelais fort, mit diesem Vorspiel? Daß ihr, wenn ihr all die lustigen Titel dessen lest, was ich geschrieben habe (folgt eine Parade von grotesken Büchertiteln), euch nicht einbildet, es finde sich darin nur vergnügliche Narrheit, nur Zeug zum Lachen und Spotten. So leicht, nur nach dem äußeren Eindruck, dürft ihr nicht urteilen. Das Kleid XI Die Welt in Pantagruels Mund 281 <?page no="282"?> macht nicht den Mönch. Ihr müßt das Buch öffnen und sorgfältig abwägen, was darin ausgeführt wird; ihr werdet sehen, der Inhalt besitzt ganz ande‐ ren Wert als die Schachtel versprach, die behandelten Gegenstände sind durchaus nicht so närrisch wie der Titel vermuten ließ. Und selbst wenn ihr im wörtlichen Sinn des Inhalts noch genug Stoff zum Lachen findet, von der Art, wie es dem Titel entspricht, so dürft ihr euch doch nicht damit begnügen: ihr müßt es tiefer deuten. Habt ihr je einen Hund gesehen, der einen Markknochen findet? Da habt ihr beobachten können, wie andächtig er ihn ins Auge faßt, wie inbrünstig er ihn ergreift, wie vorsichtig er sich daran macht, wie leidenschaftlich er ihn zerbricht, wie sorgfältig er ihn aussaugt. Warum tut er dies alles, was erhofft er sich von soviel Mühe? Nur ein wenig Mark. Aber freilich ist dies Wenige die köstlichste, vollkommenste Nahrung. Nach seinem Beispiel müßt ihr eine feine Nase haben, um diese schönen Bücher (ces beaulx livres de haulte gresse) aufzuspüren, ihren Inhalt zu wittern und zu schätzen; alsdann müßt ihr, durch sorgfältiges Lesen und häufige Meditation, den Knochen zerbrechen und das substanzhaltige Mark darausschlürfen - dasjenige nämlich, was ich mit meinen pythagoreischen Symbolen meine - in der sicheren Hoffnung, daß ihr durch solche Lektüre Klugheit und Mut erwerbt; denn ihr werdet darin einen weit schöneren Geschmack und eine verborgene Lehre finden, die euch tiefe Geheimnisse und schaudervolle Mysterien enthüllen wird, sowohl unsere Religion wie Politik und Wirtschaftswesen betreffend. In den abschließenden Sätzen des Prologs zieht er freilich wieder alle tiefsinnige Interpretation ins Komische, aber es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß er mit dem Beispiel des Sokrates, dem Vergleich seiner Leser mit dem Hund, der den Knochen aufbricht, und der Bezeichnung seiner Werke als «livres de haulte gresse» etwas über seine Absicht hat aussagen wollen, was ihm am Herzen lag. Der Vergleich des Sokrates mit den Silenfiguren, den ja auch Xenophon erwähnt, scheint in der Renaissance bedeutenden Eindruck gemacht zu haben (Erasmus bringt ihn in den Adagia, und dies ist vielleicht Rabelais’ unmittelbare Quelle); er vermittelt eine Vorstellung von Sokrates’ Persönlichkeit und Stil, die die aus dem Mittelalter ererbte Mischung der Bezirke durch die Autorität der eindrucksvollsten Ge‐ stalt unter den griechischen Philosophen zu rechtfertigen scheint. Auch bei Montaigne wird Sokrates in dem gleichen Sinne als Kronzeuge angerufen, im dritten Buch, zu Anfang des 12. Essais; die Tonlage der Stelle ist ganz anders als bei Rabelais, aber es läuft auf das gleiche, auf die Stilmischung heraus: 282 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="283"?> Socrates faict mouvoir son ame, d’un mouvement naturel et commun. Ainci dict un païsan, ainsi dict une femme. Il n’a jamais en la bouche que cochers, menuisiers, savetiers et maçons. Ce sont inductions et similitudes tirées des plus vulgaires et cogneues actions des hommes: chacun l’entend. Sous une si vile forme nous n’eussions jamais choisi la noblesse et splendeur de ses conceptions admirables … Wie weit Montaigne oder gar Rabelais recht hatten, sich auf Sokrates zu berufen, wenn sie ihre Neigung zu einem kräftigen und volkstümlichen Stil kundgaben, kann hier außer Betracht bleiben; es genügt für uns, daß sie sich unter einem «sokratischen» Stil etwas Freies, Ungezwungenes, dem täglichen Leben Nahestehendes vorstellten, Rabelais sogar etwas, was der bouffonnerie nahekommt (ridicule en son maintien, le nez pointu, le reguard d’un taureau, le visaige d’un fol … tousjours riant, tousjours beuvant d’autant à un chascun, tousjours se guabelant …); in welchem sich gleichwohl göttliche Weisheit und vollkommene Tugend verbirgt. Es ist ein Lebensstil so gut wie ein literarischer; es ist, wie bei Sokrates (und auch bei Montaigne), der Ausdruck des Menschen. Als Stillage eignete sich diese Mischung schon aus einem praktischen Grunde vorzüglich für Rabelais: sie gestattete ihm das den reaktionären Gewalten der Zeit Anstößige in einem Zwielicht zwischen Spaß und Ernst vorzubringen, was ihm im Notfall erleichterte, sich der vollen Verantwortung zu entziehen. Sie entspricht ferner in vollkommenster Weise seinem Temperament, aus welchem sie, trotz aller ihm bewußten oder unbewußten Tradition, als ganz eigentümliche Erscheinung entsprang. Und vor allem diente sie genau seiner Absicht: nämlich einer produktiven Ironie, die die gewohnten Aspekte und Proportionen verwirrt, die das Wirkliche im Überwirklichen, das Weise im Närrischen, die Empörung in der behag‐ lich-würzigen Lebensfreude erscheinen und im Spiel der Möglichkeiten die Möglichkeit der Freiheit aufleuchten läßt. Ich halte es nicht für glücklich, in dem geheimen Sinn, also dem Mark des Knochens, etwas Bestimmtes, fest Umschreibbares zu suchen; das was sich in dem Werke verbirgt, aber sich doch auf tausend Arten mitteilt, das ist eine Geisteshaltung, die er selbst Pantagruelismus nennt; einen Griff auf das Leben, welcher das Geistige und das Sinnliche auf einmal faßt, welcher keine Möglichkeit, die es bietet, sich entwischen läßt. Sie noch näher zu beschreiben empfiehlt sich nicht, da man sonst genötigt wäre, mit ihm in Konkurrenz zu treten; er selbst beschreibt sie fortwährend, und er kann es besser als wir. Nur eines möchte ich noch hinzufügen, nämlich daß der Rausch des vielfältigen Spieles bei ihm niemals ins formlos Rasende und damit Lebensfeindliche ausartet; so XI Die Welt in Pantagruels Mund 283 <?page no="284"?> 42 Nachdem Panurg den Kaufmann bezahlt, erkor er aus der ganzen Heerd einen schönen und großen Hammel, und trug ihn schreyend und blökend davon, daß all die andern ihn blöken hörten und gleichfalls wieder blökend zusah’n wohin man ihren Camrad trüg. wild es zuweilen in dem Buche tobt, es hat sich in jeder Zeile, in jedem Wort fest in der Hand. Der Reichtum seines Stils ist nicht unbegrenzt; die Tiefe des Gefühls oder die große Tragik sind schon durch den grotesken Rahmen ausgeschlossen, und es ist nicht wahrscheinlich, daß sie ihm erreichbar gewesen wären. Man könnte daher zweifeln, ob er in unserer Untersuchung mit Recht einen Platz gefunden hat, da wir ja die Vereinigung von Alltäglichkeit und tragischem Ernst verfolgen. Die Alltäglichkeit wird man ihm gewiß nicht absprechen können, da er sie fortwährend, in seiner überwirklichen Welt eingebettet, erscheinen läßt und an ihr zum Dichter geworden ist. Daß er, neben vielem anderem, ein lyrischer Dichter war, ein vielstimmiger Dichter wirklicher Lagen, das hat man oft bemerkt und viele Stellen dafür angeführt, etwa aus dem ersten Buch den herrlichen Satz zu Ende des 4. Kapitels, der den Tanz auf dem Rasen beschreibt. Wir wollen uns nicht versagen, hier wenigstens ein Beispiel seiner lyrisch-alltäglichen Vielstimmigkeit einzurücken, das Hammelgedicht nämlich, welches er in den kurzen Augenblick zwischen der Szene des Feilschens und dem unvermuteten Wurf ins Meer eingeschoben hat, während Dindenault breit, witzig, dumm, unverschämt und ahnungslos über Panurge spöttelt (Ende von IV, 7): Panurge, ayant payé le marchant, choisit de tout le troupeau un beau et grand mouton, et l’emportoit cryant et bellant, oyans tous les aultres et ensemblement bellans et regardans quelle part on menoit leur compaignon. 42 Das Sätzchen mit den vielen Partizipien ist ein Bild und ein Gedicht. Danach wird Ton und Thema gewechselt: Ce pendant le marchant disoit à ses moutonniers: «O qu’il a bien sceu choisir, le challant! Il se y entend, le paillard! Vrayement, le bon vrayement, je le reservoys pour le seigneur de Cancale, comme bien congnoissant son naturel. Car, de sa nature, il est tout joyeulx et esbaudy quand il tient une espaule de mouton en 284 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="285"?> 43 Unterdessen sprach der Kaufmann zu seinen Hirten: Ey wie schlau der Kund gewählt hat! Er versteht sich meiner Treu darauf, der Hurensohn. Bey meiner höchsten Seel, ich dacht ihn dem Herrn von Cancale zu; denn ich kenne wohl sein Naturell: er ist nicht froher und aufgeräumter von Natur als wenn er euch eine Hammel-Keul in der linken Hand fein leicht und maulrecht schwenken kann, wie eine Ballpritsch: gebt ihm dazu ein scharfes Messer, und Gott weiß, wie er alsdann scharmüzzelt. 44 Auf einmal, ich weiß selbst nicht wie, die Sach ging fix, ich konnt so schnell nicht Ach‐ tung geben, schmeißt Panurg ohn ein Wort zu sagen, seinen schreyenden, blökenden Hammel Knall und Fall ins hohe Meer. Die andern Hammel, all miteinander, schreyend und blökend aus einer Skal, ihm nach, und schnurgrad ins Meer. Es war ein Drängen in die Wett, wer seinem Camrad der erste nachspräng. Und war nicht möglich, sie aufzuhalten. 45 Wie ihr denn wohl der Hammel Art kennt, daß sie stets ihrem Vordermann, wohin er geht, nachlaufen und treten. Auch nennt sie Aristoteles lib. IX, Histor. Animal. das dümmste und albernste Thier der Welt. (Nach Gottlob Regis.) main bien seante et advenente, comme une raquette gauschiere, et, avecques un cousteau bien tranchant, Dieu sçait comment il s’en escrime! » 43 Diese Darstellung der Natur des Herrn von Cancale bietet ein ganz anderes, aber nicht weniger eindrucksvolles Bild, sinnlich und drollig im höchsten Grade, und zugleich sich vorzüglich einfügend, weil die breite Beschreibung eines allen Anwesenden Unbekannten und seiner Beziehungen zu ihm die breite und dabei witzige Aufgeblasenheit Dindenaults (vrayement, le bon vrayement) gut ausprägt. Dann wird der gekaufte Hammel ins Meer geworfen, und sogleich klingt das lyrische Thema «criant et bellant» wieder auf (Anfang des 8. Kapitels): Soubdain, je ne sçay comment, le cas feut subit, je ne eus loisir le consyderer, Panurge, sans aultre chose dire, jette en pleine mer son mouton criant et bellant. Tous les aultres moutons, crians et bellans en pareille intonation, commencerent soy jecter et saulter en mer après, à la file. La foulle estoit à qui premier y saulteroit après leur compaignon. Possible n’estoit les en garder 44 , und nun eine plötzliche Wendung ins grotesk Gelehrte: comme vous scavez estre du mouton le naturel, tous jours suyvre le premier, quelque part qu’il aille. Aussi le dict Aristoteles, lib. IX, de Histo. animal., estre le plus sot et inepte animant du monde. 45 Soviel vom Alltäglichen. Der Ernst aber liegt in der mit allen Möglichkeiten schwangeren, jedes wirkliche und überwirkliche Experiment wagenden Entdeckerfreude, die seiner Zeit, der ersten Hälfte des Renaissancejahrhun‐ XI Die Welt in Pantagruels Mund 285 <?page no="286"?> derts, eigentümlich war, und die niemand so ins Sinnliche umgesetzt hat wie er mit seiner Sprache. Darum kann man seine Stilmischung, seine sokratische Bouffonnerie wohl einen hohen Stil nennen. Er selbst hat für den hohen Stil seiner Bücher ein bezauberndes Wort gefunden, das selbst ein Musterstück dieses Stils ist. Es ist der Mastviehzucht entnommen, wir haben es schon oben angeführt: ces beaulx livres de haulte gresse. 286 XI Die Welt in Pantagruels Mund <?page no="287"?> XII L’humaine condition Les autres forment l’homme: je le recite; et en représente un particulier bien mal formé, et lequel si j’avoy à façonner de nouveau, je ferois vrayment bien autre qu’il n’est. Meshuy, c’est fait. Or, les traits de ma peinture ne fourvoyent point, quoiqu’ils se changent et diversifient. Le monde n’est qu’une branloire perenne. Toutes choses y branlent sans cesse: la terre, les rochers du Caucase, les pyramides d’Aegypte, et du branle public et du leur. La constance mesme n’est autre chose qu’un branle plus languissant. Je ne puis asseurer mon object; il va trouble et chancelant, d’une yvresse naturelle. Je le prens en ce poinct, comme il est, en l’instant que je m’amuse à luy: je ne peinds pas l’estre, je peinds le passage; non un passage d’aage en autre, ou, comme dict le peuple, de sept en sept ans, mais de jour en jour, de minute en minute. Il faut accomoder mon histoire à l’heure; je pourray tantost changer, non de fortune seulement, mais aussi d’intention. C’est un contrerolle de divers et muables accidens, et d’imaginations irresolues, et, quand il y eschet, contraires; soit que je soys autre moy-mesmes, soit que je saisisse les subjects par autres circonstances et considérations. Tant y a que je me contredis bien à l’adventure, mais la verité, comme disoit Demades, je ne la contredis point. Si mon ame pouvoit prendre pied, je ne m’essaierois pas, je me resoudrois; elle est tousjours en apprentissage et en espreuve. Je propose une vie basse et sans lustre: c’est tout un; on attache aussi bien toute la philosophie morale à une vie populaire et privée, que à une vie de plus riche es‐ toffe: chaque homme porte la forme entière de l’humaine condition. Les autheurs se communiquent au peuple par quelque marque particuliere et estrangiere: moy le premier par mon estre universel, comme Michel de Montaigne, non comme grammairien, ou poete, ou jurisconsulte. Si le monde se plaint de quoy je parle trop de moy, je me plains de quoy il ne pense seulement pas à soy. Mais est-ce raison que, si particulier en usage, je pretende me rendre public en cognoissance? est-il aussi raison que je produise au monde, où la façon et l’art ont tant de credit et de commandement, des effets de nature et crus et simples, et d’une nature encore bien foiblette? est-ce pas faire une muraille sans pierre, ou chose semblable, que de bastir des livres sans science et sans art? Les fantasies de la musique sont conduictes par art, les miennes par sort. Au moins j’ay cecy selon la discipline, que jamais homme ne traicta subject qu’il entendist ne congneust mieux que je fay celuy que j’ay entrepris, et qu’en celuy-là je suis le plus sçavant homme qui vive; secondement, que jamais aucun ne penetra en sa matiere plus avant, ni en <?page no="288"?> 46 Die andern formen den Menschen, ich erzähle von ihm und stelle einen einzelnen dar, der recht schlecht geformt ist; hätte ich ihn neu zu bilden, so würde ich ihn weiß Gott anders machen als er ist; dafür ist es nun zu spät. Aber die Züge meines Bildes sind getreu, ob sie sich gleich wandeln und verschieben. Die Welt ist ein ständiges Schwanken; alle Dinge darin schwanken ohne Unterlaß, die Erde, die Felsen des Kaukasus, die Pyramiden Ägyptens, durch eine allgemeine schwankende Bewegung sowohl als auch jedes durch eine ihm eigentümliche. Die Beständigkeit selbst ist nur ein langsameres Schwanken. Ich kann meinen Gegenstand nicht fixieren; er bewegt sich verworren und wankend, in einer natürlichen Trunkenheit. Ich greife ihn an irgendeiner Stelle, so wie er gerade ist, in dem Augenblick, in dem ich mich mit ihm abgebe. Ich male nicht das Sein, ich male den Wechsel; nicht den Wechsel von einem Lebensalter zum anderen, oder, wie das Volk sagt, von sieben zu sieben Jahren, sondern von Tag zu Tag, von Minute zu Minute. Ich muß meine Geschichte der jeweiligen Stunde anpassen; sehr bald könnte ich mich verändern; nicht nur mein Schicksal, sondern auch meine Gesinnung. Es ist ein Bericht über verschiedenartige und veränderliche Vorgänge, über unbestimmte und gelegentlich sogar widerspruchsvolle Einfälle; sei es weil ich nicht selbst immer derselbe bin, sei es, daß ich die Gegenstände mit einer anderen Betrachtungsweise, von einem anderen Gesichtspunkt ergreife. So viel ist ausgemacht: ich widerspreche wohl mir selbst gelegentlich, aber der Wahrheit, wie Demades sagte, widerspreche ich niemals. Wenn meine Seele festen Fuß fassen könnte, so würde ich nicht Versuche mit mir anstellen, sondern die Ergebnisse berichten; aber sie ist immer noch in der Lehre und auf der Probe. Ich schildere ein niedriges und glanzloses Leben; das schadet nichts. Man kann die ganze Moralphilosophie ebensogut aus einem gewöhnlichen und privaten Leben herausholen wie aus einem Leben reicheren Materials. Jeder Mensch trägt in sich das gesamte Wesen des menschlichen Lebens. Die Schriftsteller teilen sich dem Publikum in einer speziellen, erworbenen Fähigkeit mit; ich als erster in meinem gesamten Wesen, als Michel de Montaigne, nicht als Grammatiker oder Dichter oder Jurist. Wenn die Welt sich darüber beschwert, daß ich zu viel von mir spreche, so beschwere ich mich darüber, daß sie nicht einmal an sich denkt. Ist es aber berechtigt, daß eine praktisch so begrenzte Figur wie ich sich als theoretischen Gegenstand vor die Öffentlichkeit zu bringen wagt? Ist es ferner berechtigt, daß ich einer Welt, in der Form und Kunst so viel gelten und vermögen, ganz rohe und simple Vorgänge aus meinem natürlichen esplucha plus particulierement les membres et suites, et n’arriva plus exactement et plus plainement à la fin qu’il s’estoit proposé à sa besoingne. Pour la parfaire, je n’ay besoing d’y apporter que la fidelité: celle-là y est, la plus sincere et pure qui se trouve. Je dis vrai, non pas tout mon saoul, mais autant que je l’ose dire; et l’ose un peu plus en vieillissant; car il semble que la coustume concede à cet aage plus de liberté de bavasser et d’indiscretion à parler de soy. Il ne peut advenir icy, ce que je veoy advenir souvent, que l’artizan et sa besoigne se contrarient … Un personnage sçavant n’est pas sçavant partout; mais le suffisant est partout suffisant, et à ignorer mesme; icy, nous allons conformément, et tout d’un train, mon livre et moy. Ailleurs, on peut recommander et accuser l’ouvrage, à part de l’ouvrier; icy, non; qui touche l’un, touche l’autre. 46 288 XII L’humaine condition <?page no="289"?> Wesen vorsetze, wo noch dazu mein natürliches Wesen recht schwächlich ist? Heißt es nicht Mauern ohne Steine bauen, oder so etwas ähnliches, wenn man Bücher ohne Kunstverstand verfertigt? Die Phantasien der Musik werden durch Kunstregeln gelenkt, die meinen durch den Zufall. Immerhin gibt es einige Punkte, in denen ich den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werde: noch nie hat ein Mensch einen Gegenstand besser verstanden und gekannt als ich diesen, den ich zu behandeln unternommen habe; in ihm bin ich der gelehrteste Mensch, der lebt. Zweitens ist noch niemals ein Mensch in seinen Stoff tiefer eingedrungen, und hat seine Glieder und Zusammenhänge deutlicher herausgearbeitet, und ist genauer und vollkommener zu dem Ziel gelangt, das er sich vorgesetzt hatte. Um es zu erreichen, habe ich nichts beizutragen als Treue, und die ist vorhanden, die aufrichtigste und reinste, die sich finden läßt. Ich sage die Wahrheit, nicht ganz so offen wie ich wünschte, aber doch soweit ich es wagen darf; und ich wage mehr, je älter ich werde, denn die Sitte gestattet, wie es scheint, dem höheren Alter mehr Freiheit zu schwatzen und weniger Zurückhaltung im Reden über sich selbst. Hier kann nichts geschehen, was ich so oft geschehen sehe: daß der Verfasser und sein Werk nicht miteinander übereinstimmen … Eine gelehrte Person ist nicht in allen Fächern gelehrt; aber ein dem Leben genügender Mensch genügt zu allem, auch zum Nichtwissen. Hier gehen wir zusammen, ganz im gleichen Rhythmus, mein Buch und ich. Anderswo mag man das Werk kritisieren oder empfehlen, ganz unabhängig von dem, der es gemacht hat; hier geht das nicht; wer vom einen spricht, spricht vom anderen. D I E S ist der Anfang des 2. Kapitels des dritten Buches der Essais von Mon‐ taigne; in der Ausgabe von Villey (Paris, Alcan, 1930), deren Seitenzahlen wir auch in Zukunft bei Zitaten angeben werden, steht er im dritten Bande, Seite 39. Es ist eine der zahlreichen Stellen, an denen Montaigne von dem Gegenstand der Essais spricht, von seiner Absicht, sich selbst darzustellen. Zunächst hebt er das Schwankende, Unbeständige, Wechselnde seines Gegenstandes hervor; hierauf beschreibt er das Verfahren, das er bei der Behandlung eines so schwankenden Gegenstandes anwendet; schließlich erörtert er die Frage nach der Nützlichkeit seines Unternehmens. Die Gedankenführung des ersten Absatzes läßt sich bequem in einen Syllogis‐ mus fassen: ich schildere mich selbst; ich bin ein Wesen, das sich ständig verändert; also muß sich auch die Schilderung dem anpassen und sich ständig verändern. Wir wollen versuchen zu analysieren, wie jedes Glied im Text zum Ausdruck kommt. «Ich schildere mich selbst.» Das sagt Montaigne nicht unmittelbar. Er bringt es durch den Gegensatz gegen «andere» weit energischer, und wie sich gleich zeigen wird, auch weit nuancenreicher heraus als es durch die bloße Aussage hätte geschehen können. Les autres forment l’homme, moy …: hier stellt sich heraus, daß der Gegensatz ein doppelter ist. Die andern bilden, ich erzähle (vgl. etwas weiter unten: je n’enseigne pas, je ra‐ XII L’humaine condition 289 <?page no="290"?> conte); die andern bilden «den Menschen», ich erzähle «einen Menschen». Das gibt zwei Stufen des Gegensatzes: forment - recite, l’homme - un parti‐ culier. Dieser particulier ist er selbst; aber auch das sagt er nicht unmittelbar, sondern paraphrasiert es mit seiner hinterhältigen, ironischen und ein ganz klein wenig selbstgefälligen Bescheidenheit. Die Paraphrase ist dreigliedrig, und ihr zweites Glied besteht aus Haupt- und Nebensatz: bien mal formé; si j’avoy …, je ferois …; meshuy c’est fait. Der Obersatz des Syllogismus enthält also, in seiner Redaktion, mindestens drei Gedankengruppen, die, in verschiedener Bewegung, mit- und gegeneinander, ihn aufbauen und kommentieren: 1. die andern formen, ich erzähle; 2. die andern formen den Menschen, ich berichte von einem Menschen; 3. dieser eine Mensch (ich) ist «leider» schon formé. Dies alles ist in einer einzigen rhythmischen Bewe‐ gung zusammengefaßt, ohne die geringste Möglichkeit von Verwirrung; und zwar fast völlig ohne syntaktische Verklammerungen, ohne Konjunktionen oder konjunktionsähnliche Bindungen; der bloße Zusammenhang, das geis‐ tige Band, gewoben aus Sinneinheit und Satzrhythmus, genügt. Ich will, zur Verdeutlichung des Gesagten, hier einige Verklammerungen hinzufügen: (Tandis que) les autres forment l’homme, je le recite; (encore faut-il ajouter que) je represente un particulier; (ce particulier, c’est moi-même qui suis, je le sais,) bien mal formé; (soyez sûrs que) si j’avais à le façonner de nouveau, je le ferais vrayment bien autre qu’il n’est. (Mais, malheureusement) meshuy c’est fait. Natürlich hat das, was ich hinzufüge, nur Annäherungswert; die Abtönungen, die Montaigne ausdrückt, indem er sie fortläßt, sind nicht ganz faßbar. Den Untersatz des Syllogismus (ich bin ein Wesen, das sich ständig verändert) drückt Montaigne zunächst noch nicht aus; er läßt den logischen Fortgang in der Schwebe und bringt zunächst den Schluß als überraschende Behauptung: Or les traits de ma peinture ne fourvoyent pas, quoy qu’ils se changent et diversifient. Das Wort Or zeigt an, daß der Fortgang unter‐ brochen und daß neu angehoben wird; es mildert zugleich das Plötzliche und überraschende der Behauptung; das Wort quoique, hier scharf als syntaktische Verklammerung gesetzt, hebt das Problem energisch heraus. Nun erst folgt der Untersatz, und auch nicht unmittelbar, sondern als Schluß eines untergeordneten Syllogismus, der folgendermaßen lautet: die Welt verändert sich beständig, ich bin ein Stück Welt, also verändere ich mich beständig. Der Obersatz wird mit Beispielen ausgestattet und die Art der Veränderung der Welt wird als doppelte analysiert: jedes Ding erfährt den allgemeinen und dazu noch seinen eigenen Wandel; alsdann folgt eine 290 XII L’humaine condition <?page no="291"?> vielstimmige Bewegung, eingeleitet durch die paradoxe Behauptung über die Beständigkeit, die auch nur eine Art langsameren Schwankens sei. In der gedachten vielstimmigen Bewegung, welche den ganzen Rest des Absatzes ausfüllt, klingt der Untersatz des zweiten Syllogismus, als selbstverständlich, nur ganz schwach an; die beiden Themen, die sich verschlingen, sind Untersatz und Schluß des Hauptgedankens: ich bin ein Wesen, das sich ständig verändert, also muß ich auch die Darstellung dem anpassen. Hier ist er im Mittelpunkt seines eigensten Gebietes, dem Spiel zwischen ich und ich, zwischen Montaigne dem Schriftsteller und Montaigne dem Gegenstand; es quellen die sinn- und klangvollen Wendungen, teils auf den einen, teils auf den andern, meist auf beide bezüglich; man hat die Auswahl, welche man am schärfsten, am eigentümlichsten, am wahrsten finden und also am meisten bewundern mag; die über die natürliche Trunkenheit, die über das Malen des Wechsels, die über äußere (fortune) und innere (intention) Veränderung, das Zitat Demades’, den Gegensatz zwischen s’essayer und se résoudre mit dem schönen Bild si mon âme pouvait prendre pied; von jeder gilt, wie im ganzen, was Horaz von den vollkommen geglückten Werken sagt: decies repetita placebit. Ich hoffe, daß man die Auflösung des Absatzes in Syllogismen nicht allzu pedantisch findet. Sie zeigt, daß der Aufbau des Gedankens in diesem lebendigen, an unvermutet aufspringenden Bewegungen so reichen Stück scharf und logisch ist; daß die große Zahl der ergänzenden, einteilenden, vertiefenden und sogar zum Teil einräumend gegenlaufenden Bewegungen dazu dienen, den Gedanken gleichsam in seiner praktischen Wirksamkeit vorzuführen; daß ferner mehrfach die Ordnung durchbrochen, einzelne Glieder vorweggenommen, andere überhaupt fortgelassen werden, damit sie der Leser ergänzt. Der Leser hat mitzuarbeiten; er wird in die Bewegung des Gedankens mithineingezogen, doch wird jeden Augenblick von ihm erwartet, daß er stutzt, prüft und ergänzt. Wer les autres sind, muß er erraten; wer der particulier ist, ebenfalls; der Satz mit or scheint ihn weit wegzuführen, und erst nach einiger Zeit kann er allmählich erkennen, auf was es hinausläuft; dann freilich wird ihm das Wesentliche in einer reichen Fülle von Formulierungen dargeboten, die seine Einbildungskraft fortreißen; doch immer noch so, daß er tätig bleiben muß, denn jede der Formulierungen ist so eigentümlich, daß sie verarbeitet zu werden verlangt; keine paßt in ein fertiges Denk- oder Redeschema. Obgleich der Inhalt des Absatzes gedanklich und sogar streng logisch ist, obgleich es sich um scharfe, das Problem der Selbstbetrachtung eigentümlich XII L’humaine condition 291 <?page no="292"?> vertiefende Denkarbeit handelt, ist die Lebhaftigkeit des Ausdruckswillens so stark, daß der Stil den Rahmen einer theoretischen Abhandlung sprengt. Ich vermute, daß jeder, der sich in Montaigne eingelesen hat, die gleiche Erfahrung macht wie ich: nachdem ich ihn einige Zeit gelesen und einige Vertrautheit mit seiner Art erworben hatte, meinte ich ihn sprechen zu hören und seine Gesten zu sehen. Das ist eine Erfahrung, die man bei älteren theoretischen Schriftstellern sehr selten macht; in dem Maße wie bei Montaigne wohl bei keinem. Er läßt oft die Konjunktionen und sonstigen Satzverbindungen fort, aber er suggeriert sie; er überspringt Glieder des Gedankens, aber ersetzt das Fehlende durch eine Art von unwillkürlich sich herstellendem Kontakt zwischen den logisch nicht streng verbundenen Glie‐ dern; zwischen den Sätzen «la constance mesme n’est autre chose …» und dem folgenden «je ne puis asseurer mon object …» fehlt augenscheinlich ein Glied, welches auszusagen hätte, daß ich, Gegenstand meiner Betrachtung, als Stück der Welt ebenfalls dem doppelten Wandel unterliege; er sagt das später ausführlich; aber schon hier hat er die Atmosphäre geschaffen, die den Kontakt vorläufig herstellt und doch den Leser in tätiger Spannung läßt. Er wiederholt zuweilen Gedanken, die ihm wichtig sind, viele Male in immer neuen Formulierungen, jedesmal einen neuen Gesichtspunkt, eine neue Besonderheit, ein neues Bild ausarbeitend, so daß der Gedanke nach allen Seiten ausstrahlt. Das alles sind Eigentümlichkeiten, die man weit eher in der Unterhaltung (freilich nur mit ganz besonders gedanken- und ausdrucks‐ reichen Menschen) zu finden gewohnt ist als in einer gedruckten Schrift theoretischen Inhalts; man meint, für eine solche Wirkung sei Tonfall, Geste und die gegenseitige Erwärmung, die eine erfreuliche Unterhaltung mit sich bringt, unerläßlich. Aber Montaigne, der mit sich allein ist, findet in seinem Denken genug Leben und gleichsam körperliche Wärme, um zu schreiben, als ob er spräche. Dies hängt zusammen mit der Art, in der er seinen Gegenstand, sich selbst, zu fassen bemüht ist: die Art, die er eben in unserem Absatz beschreibt. Sie ist ein beständiges Anhören der wechselnden Stimmen, die in ihm klingen, und sie schwankt, in ihrer Höhenlage, zwischen hinterhältiger, ein ganz klein wenig selbstgefälliger Ironie und einer sehr nachdrücklichen, auf den Grund der Existenz dringenden Ernsthaftigkeit. In der Ironie, die er zur Schau trägt, mischen sich wiederum mehrere Motive: eine höchst aufrichtige Abneigung, den Menschen tragisch zu nehmen (der Mensch ist «un subject merveilleu‐ sement vain, divers et ondoyant, 1, 1, p. 10; «autant ridicule que risible», 1, 50, p. 582; «le badin de la farce», 3, 9, p. 434); ein leiser Anklang von 292 XII L’humaine condition <?page no="293"?> hochmütiger Verachtung eines großen Herrn gegenüber schriftstellerischer Tätigkeit («si j’étais faiseur de livres», 1, 20, p. 162 und noch einmal 2, 37, p. 902); schließlich, und das ist die Hauptsache, eine Neigung, seine eigene Art der Betrachtung herabzusetzen. Er nennt sein Buch «ce fagotage de tant de diverses pièces» (2, 37, p. 850), «cette fricassée que je barbouille icy» (3, 13, p. 590), und einmal vergleicht er es sogar mit der Verdauung eines alten Herrn: «ce sont icy … des excremens d’un vieil esprit, dur tantost, tantost la‐ sche, et toujours indigeste» (3, 9, p. 324). Er wird nicht müde, das Kunstlose, Private, Natürliche und Unmittelbare seiner Schreibweise in einer Weise hervorzuheben, als ob er sich deshalb entschuldigen müsse, und nicht immer enthüllt sich das Ironische solcher Bescheidenheit ebenso vollständig und ebenso deutlich wie im zweiten Absatz unseres Textes, den wir weiter unten analysieren werden. Soviel vorläufig von der Ironie. Sie ist eine überaus bezaubernde und auch durchaus dem Gegenstand angemessene Würze seines Stils, aber man darf sich nicht allzusehr von ihr umstricken lassen. Er meint es ernst und nachdrücklich, wenn er sagt, daß seine Darstellung, so wechselvoll und mannigfaltig sie sei, sich doch niemals verirre, und daß er zwar vielleicht zuweilen sich selbst widerspreche, aber doch niemals der Wahrheit. Es spricht aus solchen Worten eine sehr realistische, der Erfahrung und insbesondere der Selbsterfahrung entstammende Auffassung vom Menschen: eben diese, daß er ein schwankendes, den Veränderungen der Umwelt, seines Schicksals, seiner inneren Bewegungen unterworfenes Wesen sei; so daß die anscheinend so launenhafte und von keinem Plan gelenkte Arbeitsweise Montaignes, die dem Wandel seines Wesens elastisch folgt, im Grunde eine strenge experimentelle Methode ist, die einzige, die einem solchen Gegenstand entspricht. Wer einen sich ständig verändernden Gegenstand genau und sachlich beschreiben will, muß den Veränderungen desselben genau und sachlich folgen; er muß in einer möglichst großen Zahl von Experimenten den Gegenstand beschreiben, so wie er ihn jeweils ange‐ troffen hat, und kann auf diese Weise hoffen, den Umkreis der möglichen Veränderungen zu bestimmen und so schließlich ein Gesamtbild zu erhalten. Das ist eine strenge, sogar im modernen Sinne wissenschaftliche Methode, und eben sie sucht Montaigne einzuhalten. Er hätte sich vielleicht gegen das allzu wissenschaftlich-anspruchsvolle Wort «Methode» gesträubt, aber es ist eine Methode, und zwei moderne Kritiker, Villey (Les sources et l’évolution des Essais de Montaigne, 2e éd., Paris 1933, II 321) und Lanson (Les Essais de Montaigne, Paris s. d., 265) haben das Wort auf seine Tätigkeit angewandt, wenn auch nicht ganz in dem hier gemeinten Sinne. Montaigne XII L’humaine condition 293 <?page no="294"?> hat die Methode genau beschrieben; außer unserer Stelle sind noch einige andere bemerkenswert. Unser Absatz zeigt sehr deutlich, daß und warum er zu seinem Vorgehen genötigt ist, eben um sich seinem Gegenstande anzupassen; er erklärt ferner den Sinn des Titels Essais, der treffend, aber freilich nicht sehr schön, mit «Versuchen an sich selbst» oder «Selbstversu‐ chen» wiederzugeben wäre. Eine andere Stelle (2, 37, p. 850) hebt den mit seinem Verfahren intendierten Entwicklungsgedanken heraus, mit einem für Montaigne überaus charakteristischen Schluß, der durchaus nicht nur ironisch ist: «Je veux representer le progrez de mes humeurs, et qu’on voye chaque piece en sa naissance. Je prendrois plaisir d’auoir commencé plus tost, et à recognoistre le train de mes mutations … Je me suis envieilly de sept ou huict ans depuis que je commençay. Ce n’a pas esté sans quelque nouvel acquest. J’y ay pratiqué la colique, par la liberalité des ans: leur commerce et longue conversation ne se passe aysément sans quelque tel fruit …» Eine noch bedeutendere Stelle (2, 6, p. 93/ 4) sagt ganz ohne Ironie, mit dem ruhigen und doch lebhaften Nachdruck, der Montaignes äußerste Stilgrenze nach oben ist - höher erhebt er den Ton niemals -, eine wie hohe Meinung er von seinem Unternehmen hat: «C’est une espineuse entreprinse, et plus qu’il ne semble, de suyvre une allure si vagabonde que celle de nostre esprit; de penetrer dans les profondeurs opaques de ses replis internes; de choisir et arrester tant de menus airs de ses agitations; et est un amusement nouveau et extraordinaire qui nous retire des occupations communes du monde, ouy, et des plus recommandées. Il y a plusieurs années que je n’ay que moy pour visée à mes pensées, que je ne contrerolle et estudie que moy; et si j’estudie autre chose, c’est pour soudain le coucher sur moy, ou en moy …» Diese Sätze sind bedeutend auch deshalb, weil sie die Grenze seines Unternehmens abstecken, weil sie nicht nur sagen, was er tun, sondern auch was er nicht tun will, nämlich die Außenwelt untersuchen; sie interessiert ihn nur als Schauplatz und Anlaß seiner eigenen Bewegungen. Hier gelangen wir zu einer anderen Form seiner trügerischen und hinterhältigen Ironie: zu den häufigen Beteuerungen seiner Unwissenheit und Unverantwortlichkeit in bezug auf alles, was die Außenwelt betrifft, die er am liebsten mit dem Wort «les choses» bezeichnet: «A peine respondroys-je à autruy de mes discours qui ne m’en responds pas à moy … ce sont icy mes fantasies, par les‐ quelles je ne tasche point à donner à connoistre les choses, mais moy …» (2, 10, p. 152). Die «Dinge» sind für ihn nur ein Mittel der Selbsterprobung; sie dienen ihm nur «à essayer ses facultés naturelles» (ibid.), und er fühlt sich ihnen gegenüber zu keiner verantwortlichen Stellungnahme verpflichtet. 294 XII L’humaine condition <?page no="295"?> Auch das läßt sich am besten mit seinen eigenen Worten sagen: «De cent membres et visages qu’a chaque chose, j’en prens un … J’y donne une poincte, non pas le plus largement, mais le plus profondément que je sçay … sans dessein, sans promesse, je ne suis pas tenu d’en faire bon, ny de m’y tenir moy mesme, sans varier quand il me plaist, et me rendre au doubte et à l’incertitude, et à ma maistresse forme qui est l’ignorance …» (1, 50, p. 578). Man sieht hier schon ganz deutlich, was es mit dieser Unwissenheit auf sich hat; hinter Selbstironie und Bescheidenheit verbirgt sich eine ganz bestimmte, auf seine Hauptabsicht gerichtete Haltung, die er mit der ihm eigenen liebenswürdig-elastischen Zähigkeit festhält. Übrigens verrät er uns noch genauer, was die Unwissenheit, seine maistresse forme, ihm bedeutet. Er kennt nämlich eine «ignorance forte et genereuse» (3, 11, p. 493), die er höher schätzt als alles Sachwissen, zu deren Erwerb mehr Wissen gehört als zum Erwerb der Wissenschaft. Sie ist nicht nur ein Mittel, ihm den Weg frei zu machen für die Erkenntnis, auf die es ihm ankommt, die Selbsterkenntnis, sondern sogar ein unmittelbarer Weg, das zu erreichen, was das letzte Ziel seiner Untersuchung ist, nämlich richtig zu leben: «le grand et glorieux chef d’œuvre de l’homme, c’est vivre à propos» (3, 13, p. 651); und es steckt in diesem lebhaften Menschen eine so vollkommene Hingabe an Natur und Schicksal, daß er es für unnütz hält, mehr von ihnen erkennen zu wollen, als sie uns fühlen lassen: «Le plus simplement se commettre à nature, c’est s’y commettre le plus sagement. Oh! que c’est un doux et mol chevet, et sain, que l’ignorance et l’incuriosité, à reposer une teste bien faicte! » (3, 13, p. 580); und kurz zuvor sagt er: «je me laisse ignoramment et negligemment aller à la loy generale du monde; je la sçauray assez quand je la sentiray»-… Die vorsätzliche Unwissenheit und Gleichgültigkeit gegenüber den «Din‐ gen» gehört zu seiner Methode; er sucht in ihnen nur sich selbst. In unzähligen, zu beliebigen Augenblicken unternommenen Versuchen prüft er diesen seinen Gegenstand, er beleuchtet ihn von allen Seiten, er kreist ihn gleichsam ein; das Ergebnis ist aber nicht ein Haufen von beziehungs‐ losen Momentaufnahmen, sondern die spontan erfaßte, aus der Vielfalt der Beobachtungen sich zusammenfügende Einheit seiner Person. Es kommt schließlich doch auf die Einheit und Wahrheit hinaus; es ist schließlich doch das Wesen, welches hervortritt, indem er den Wechsel darstellt. Auf der Jagd nach sich selbst sein, mit einer solchen Methode, das ist schon ein Weg zum Selbstbesitz: «l’entreprise se sent de la qualité de la chose qu’elle regarde; car c’est une bonne portion de l’effect, et consubstantielle» (1, 20, p. 148). Montaigne besitzt in jedem Augenblick des Wechsels den Zusammenhang XII L’humaine condition 295 <?page no="296"?> seiner Person, und er weiß das auch: «Il n’est personne, s’il s’escoute, qui ne descouvre en soy une forme sienne, une forme maistresse» (3, 2, p. 52); oder, an einer anderen Stelle: «les plus fermes imaginations que j’aye, et generalles, sont celles qui, par maniere de dire, nasquirent avec moy; elles sont naturelles et toutes miennes» (2, 17, p. 652/ 3). Freilich ist diese forme sienne nicht mit einigen präzisen Worten zu umschreiben; sie ist zu vielfältig und zu wirklich, um in einer Definition ganz aufzugehen. Doch auch für Montaigne ist die Wahrheit eine, so vielfältig auch ihre Erscheinungen sind; er widerspricht sich wohl selbst, aber nicht der Wahrheit. Zu der Methode Montaignes gehört auch die eigentümliche Form der Essais. Sie sind weder eine Autobiographie noch ein Tagebuch. Kein kunstvoller Plan liegt ihnen zugrunde, und sie folgen auch nicht einer chronologischen Ordnung. Sie folgen dem Zufall - «les fantasies de la musique sont conduictes par art, les miennes par sort». Wenn man es genau nimmt, so sind es doch die Dinge, die ihn leiten - er bewegt sich zwischen den Dingen, er lebt in ihnen, er ist immer in ihnen anzutreffen, denn er ist, mit sehr offenen Augen und immer eindrucksbereitem Geist, mitten in der Welt; nur folgt er nicht ihrem Ablauf in der Zeit, auch nicht einer Methode, die die Kenntnis eines bestimmten Dinges oder einer Gruppe von Dingen zum Ziel hat, sondern seinem eigenen inneren Rhythmus, der zwar von den Dingen immer aufs neue bewegt und genährt wird, aber sich nicht an sie bindet, sondern frei vom einen zum andern überspringt. Er bevorzugt «une alleure poetique, à sauts et à gambades» (3, 9, p. 421). Villey hat gezeigt (Les Sources usw., II, p. 3ff.), daß die Form der Essais von den Beispiel-, Zitaten- und Spruchsammlungen herstammt, einer Art von Schrifttum, das schon in der Spätantike und im Mittelalter sehr beliebt war, und das im 16. Jahrhundert zur Verbreitung des humanistischen Stoffes diente. Montaigne hatte auf diese Art begonnen; sein Buch war ursprünglich eine Sammlung von Lesefrüchten mit begleitenden Bemerkungen. Der Rahmen wurde bald gesprengt; die begleitenden Bemerkungen überwogen, und als Stoff oder Anlaß diente nicht nur das Gelesene, sondern auch das Gelebte; sei es was er selbst erlebte, sei es was er von anderen hörte oder was um ihn herum geschah. Aber das Prinzip, sich an die konkreten Dinge, an das Geschehene zu halten, hat er nie aufgegeben, ebensowenig wie seine Freiheit, sich nicht an eine sacherforschende Methode oder an den Ablauf der Geschehnisse in der Zeit zu binden; er nimmt von den Dingen die Lebendigkeit, die ihn davor bewahrt, abstrakte Psychologie oder substanzloses Bohren in sich selbst zu treiben; aber er hütet sich 296 XII L’humaine condition <?page no="297"?> davor, dem Gesetz irgendeines Dinges unterworfen zu sein, um nicht den Rhythmus der eigenen inneren Bewegung zu übertäuben und schließlich zu verlieren. Er rühmt dies Verfahren sehr hoch, besonders im 9. Essai des dritten Buches, aus der wir eben einige Worte angeführt haben, und er beruft sich auf Plato und andere antike Autoren als Vorbilder. Die Berufung auf manche platonischen Dialoge, deren Aufbau anscheinend locker ist, und deren Thema nicht abstrakt losgelöst, sondern in die menschliche Art und Lage der Unterredner eingebettet erscheint, ist gewiß nicht ganz unberechtigt; aber doch auch nicht wirklich treffend. Montaigne ist etwas Neues: die Würze des Persönlichen, und zwar einer einzigen Person, bietet sich weit eindringlicher, und die Ausdrucksweise ist noch viel spontaner und alltäglich gesprochener Rede näher, obgleich es sich doch hier nicht um Dialoge handelt. Auch die Beschreibung des sokratischen Stiles an einer anderen Stelle im 12. Essai, die wir in unserem Rabelaiskapitel zitiert haben (Seite 282f.), zeigt einen stark montaignisch gefärbten Sokrates. So sehr aus dem Wollen der eigenen konkreten Existenz heraus, so saftig, körperlich und spontan hat kein antiker Philosoph geschrieben, selbst Plato nicht, wenn er den redenden Sokrates darstellt. Im Grunde weiß Montaigne das auch. An einer Stelle, wo er sich gegen das Lob seiner Sprache wehrt, und den Leser auf Sinn und Gegenstand allein verweist (1, 40, p. 483), fügt er hinzu: «Si suis je trompé, si gueres d’autres donnent plus à prendre en la matiere; et comment que ce soit, mal ou bien, si nul escrivain l’a semée ny gueres plus materielle, ny au moins plus drue en son papier.» Der zweite Teil des eingangs abgedruckten Textes erörtert die Frage, ob sein Unternehmen berechtigt und nützlich sei; die Frage, die Pascal, wie man weiß, so energisch verneint hat (le sot projet qu’il a de se peindre! ). Wieder ist seine Anordnung und sein Ausdruck voll hinterhältig-ironischer Bescheidenheit. Es scheint, als wage er selbst nicht die Frage mit einem klaren Ja zu beantworten, als wolle er eher sich entschuldigen und mildernde Umstände anführen. Der Schein trügt; er hat die Frage schon mit seinem ersten Satz entschieden, lange bevor er sie eigentlich stellt; und das, was nachher fast wie eine Entschuldigung klingt («au moins j’ay»), verwandelt sich unversehens in eine so feste, grundsätzliche und seine Eigenheit so bewußt bietende Selbstbehauptung, daß von Bescheidenheit und Entschul‐ digung nicht mehr die Rede sein kann. Die Reihenfolge, in der er seine Gedanken gibt, ist diese: 1. Ich schildere ein niedriges und glanzloses Leben; aber das macht nichts aus; auch im niedrigsten Leben steckt das Ganze des Menschlichen. XII L’humaine condition 297 <?page no="298"?> 2. Ich schildere nicht, wie die anderen, ein Fachwissen oder eine besondere Fähigkeit, die ich erworben habe; ich als erster gebe mich, Montaigne, in meiner ganzen Person. 3. Wenn man mir vorwirft, ich redete zu viel von mir selbst, so entgegne ich mit dem Vorwurf: ihr denkt ja nicht einmal an euch selbst. 4. Jetzt erst formuliert er die Frage: ist es nicht anmaßend, einen so beschränkten Einzelfall zu allgemeiner und öffentlicher Kenntnis bringen zu wollen? Ist es vernünftig, einer Welt, die nur Form und Kunst zu schätzen weiß, ein so unverarbeitetes und einfaches Naturprodukt zu bieten, noch dazu ein so unbedeutendes Naturprodukt? 5. Statt einer Antwort folgen nun «mildernde Umstände»: a) niemand war je in seinem Gegenstand so sachverständig wie ich in dem meinigen; b) niemand hat je seinen Gegenstand so vertieft und so bis in all seine Gliederungen und Verästelungen verfolgt; niemand hat je seine Absicht so genau und so vollkommen ausgeführt. 6. Um das zu erreichen, brauche ich nichts als rückhaltlose Aufrichtigkeit, und daran fehlt es mir nicht. Die Konventionen hindern mich ein wenig, ich ginge zuweilen gern noch etwas weiter; aber, seit ich älter werde, gestatte ich mir in dieser Hinsicht manche Freiheit, die man einem älteren Manne eher nachsieht. 7. Mir kann es nicht passieren, was manchem Fachmann passiert: daß Mensch und Werk nicht miteinander zusammenstimmen, daß man das Werk bewundert, aber den Autor im Umgang recht mittelmäßig findet, oder umgekehrt. Ein gelehrter Mensch ist nicht überall gelehrt; aber ein ganzer Mensch ist überall ganz, auch da, wo er unwissend ist. Mein Buch und ich sind zusammen ein Ding; wer vom einen spricht, spricht zugleich vom anderen. Diese Zusammenstellung zeigt, wie hintergründig seine Bescheidenheit ist; sie zeigt es fast noch deutlicher als das Original, eben weil sie, abgerissen und trocken, nicht die fließende Liebenswürdigkeit des Ausdrucks besitzt. Aber auch das Original ist entschieden genug; der Gegensatz «ich - die anderen», die Malice gegen die Fachleute, und vor allem die Motive «ich als erster» und «niemand hat je» sind nicht zu überhören und treten bei wiederholtem Lesen immer schärfer hervor. Wir wollen nun versuchen, die sieben aufgezählten Gedanken einzeln zu besprechen; das ist freilich nur ein etwas ärmliches Auskunftsmittel, schon weil sie schwer auseinanderzu‐ halten sind und sich fortwährend ineinander verschlingen; trotzdem ist es 298 XII L’humaine condition <?page no="299"?> notwendig, wenn man versuchen will, alles herauszuholen, was in dem Text steckt. Die Beteuerung, daß er ein niederes und glanzloses Leben schildere, ist arg übertrieben; Montaigne war ein großer Herr, angesehen und einflußreich, und es lag lediglich an ihm, wenn er von seiner Person nur sehr maßvoll und widerwillig politischen Gebrauch machte. Aber die bescheidene Über‐ treibung, die er häufig wiederholt, dient ihm dazu, den Hauptgedanken plastischer hervorzutreiben: ein ganz beliebiges Menschenschicksal, une vie populaire et privée, genügt ihm für seinen Zweck. «La vie de Cesar», so sagt er anderswo (3,13, p. 580), «n’a point plus d’exemple que la nostre pour nous: et emperiere et populaire, c’est tousjours une vie que tous accidens humains regardent. Escoutons y seulement …» Und dann kommt der berühmte Satz über die humaine condition, die jeder beliebige Mensch verwirklicht. Au‐ genscheinlich hat er mit diesem Satz die Frage nach Sinn und Nutzen seines Unternehmens schon beantwortet; wenn jeder Mensch ausreichend Anlaß und Stoff für die Darstellung der gesamten Moralphilosophie bietet, so ist die genaue und aufrichtige Selbstuntersuchung eines beliebigen Menschen ohne weiteres gerechtfertigt; ja man kann noch einen Schritt weitergehen: sie ist sogar erforderlich, denn sie ist der einzige Weg, den, nach Montaigne, die Wissenschaft vom Menschen als moralisches Wesen gehen kann. Die Methode des Horchens («escoutons y») läßt sich mit einiger Genauigkeit nur an der eigenen Person anwenden; es ist eigentlich eine Methode des Sichselbst-Behorchens, des Beobachtens der eigenen inneren Bewegungen. Einen anderen kann man so genau nicht prüfen: «Il n’y a que vous qui sçache si vous estes lasche et cruel ou loyal et devotieux; les autres ne vous voyent point, ils vous devinent par conjectures incertaines …» (3, 2, p. 45/ 6). Und das eigene Leben, auf dessen Bewegungen man zu horchen hat, ist stets ein beliebiges; denn jedes Leben ist nur eine der Millionen von Varianten menschlicher Lebensmöglichkeiten überhaupt. Die obligatorische Grundlage der Methode Montaignes ist das beliebige eigene Leben. Und zwar muß dieses beliebige eigene Leben als Ganzes genommen werden. Dies ist der oben als zweiter bezeichnete Teil seiner Aussage. Die Forderung ist einleuchtend; jede Spezialisierung verfälscht das morali‐ sche Bild, sie gibt uns nur in einer unserer Rollen, sie läßt bewußt weite Bezirke unseres Lebens und unseres Schicksals im Dunkeln. Aus einem Buch über griechische Grammatik oder Staatsrecht läßt sich die eigene Existenz des Verfassers nicht erkennen, oder doch nur in den wenigen Fällen, wo sein Temperament so stark und eigentümlich ist, daß es aus XII L’humaine condition 299 <?page no="300"?> jeder Lebensäußerung unwillkürlich hervorbricht. Montaignes soziale und wirtschaftliche Lage erleichterte es ihm, sich als Ganzes auszubilden und zu bewahren; seine Zeit, die für die höheren Schichten der Gesellschaft Pflicht, Technik und Ethos der spezialisierten Arbeit noch nicht voll ausgebildet hatte, sondern, ganz im Gegenteil, unter dem Eindruck der antiken oligarchi‐ schen Zivilisation nach allgemeinster und menschlichster Bildung strebte, kam seinen Bedürfnissen entgegen. Dennoch hat keiner seiner bekannten Zeitgenossen es darin so weit gebracht wie er. Mit ihm verglichen, sind sie alle Spezialisten: Theologen, Philologen, Philosophen, Staatsmänner, Ärzte, Dichter, Künstler; alle zeigen sie sich der Welt «par quelque marque particuliere et estrangiere». Auch Montaigne war gelegentlich, wenn ihn die Umstände dazu nötigten, Jurist, Soldat, Politiker; er war eine Reihe von Jahren maire von Bordeaux. Aber er lieferte sich selbst diesen Geschäften nicht aus; er lieh sich nur, auf Zeit und auf Widerruf, und er versprach denen, die ihm Geschäfte auftrugen, «de les prendre en main, non pas au poulmon et au foye» (3, 10, p. 438). Die Methode, das beliebige eigene Leben als Ganzes zum Ausgangspunkt der Moralphilosophie, der Erforschung der humaine condition zu machen, steht in betontem Gegensatz zu all den Methoden, die eine große Anzahl von Menschen nach einem bestimmten Plan, etwa auf den Besitz oder das Fehlen gewisser Eigenschaften, oder auf ihr Verhalten in gewissen Lagen hin untersuchen; all diese Verfahrens‐ weisen erscheinen Montaigne als schulmäßige und leere Abstraktionen; er erkennt den Menschen, das heißt sich selbst, in ihnen nicht wieder, sie verkleiden, vereinfachen, versystematisieren ihn, so daß seine Wirklichkeit verlorengeht. Montaigne beschränkt sich auf die genaue Untersuchung und Beschreibung eines einzigen Exemplars, seiner selbst, und auch bei dieser Untersuchung ist er weit entfernt, den Gegenstand in irgendeiner Weise zu isolieren, ihn von den zufälligen Lagen und Bedingungen, in denen er sich jeweils befindet, loszulösen, um etwa auf diese Weise sein eigentliches, dauerndes und absolutes Wesen zu gewinnen; ein solcher Versuch einer Wesensgewinnung durch Isolierung von den jeweiligen zufäl‐ ligen Kontingenzen würde ihm sinnlos erscheinen, da seiner Oberzeugung nach das Wesen sogleich verlorengeht, sobald man es aus der jeweiligen Zufälligkeit loslöst. Eben darum muß er auf eine letzte Definition seiner selbst oder des Menschen, die notwendig abstrakt sein müßte, verzichten; er muß sich darauf beschränken, immer aufs neue sich zu versuchen, und auf das se résoudre verzichten. Aber er gehört zu den Menschen, denen dieser Verzicht nicht schwer fällt; denn er ist überzeugt, daß das Ganze 300 XII L’humaine condition <?page no="301"?> der Erkenntnis sich dem Ausdruck entzieht. Ferner ist seine Methode, trotz ihrer scheinbaren Sprunghaftigkeit, sehr streng insofern, als sie sich auf Beobachtung beschränkt; sie treibt keine allgemeine Ursachenforschung; wo Montaigne Ursachen angibt, da sind es naheliegende, die selbst der Beobachtung zugänglich sind. Darüber gibt es eine polemische Stelle, die auch heut noch aktuell ist: «Ils laissent là les choses et s’amusent à traicter les causes: plaisans causeurs! La cognoissance des causes appartient seulement à celuy qui a la conduite des choses, non à nous qui n’en avons que la souffrance, et qui en avons l’usage parfaictement plein selon notre nature, sans en penetrer l’origine et l’essence … Ils commencent ordinairement ainsi: Comment est ce que cela se faict? Mais se faict il? faudroit il dire …» (3, 11, p. 485). Wir haben es absichtlich unterlassen, in all diesen Bemerkungen über seine Methode die sich aufdrängenden Fachausdrücke für moderne philosophische Methoden zu nennen, die zu der seinen in der Beziehung der Verwandtschaft oder des Gegensatzes stehen. Der sachverständige Leser wird sie ergänzen; wir nehmen davon Abstand, da die Rechnung nirgends glatt aufgeht, und eine genauere Klärung uns von unserer Hauptabsicht allzu weit entfernen würde. Noch haben wir einige Worte nicht besprochen, die er in Verbindung mit der Darstellung seiner Methode, das beliebige eigene Leben als Ganzes zum Zweck der Erforschung der humaine condition darzustellen, an syntaktisch ausgezeichneter Stelle geschrieben hat. Es sind die Worte «moy le premier», und sie stellen uns zwei Fragen: meint er diese Behauptung ernst, und hat er recht mit ihr? Die erste Frage ist schnell beantwortet, er meint sie ernst, denn er wiederholt sie oft; das Thema «niemand hat je» etwas weiter unten in unserem Text ist nur eine Variante dazu, und eine andere Stelle, von der wir schon einen Teil weiter oben, auf Seite 294, zitiert haben, die Stelle über das «amusement nouveau et extraordinaire» «de penetrer dans les profon‐ deurs de ses replis internes», leitet er auf folgende Weise ein: «Nous n’avons nouvelles que de deux ou trois anciens qui ayent battu ce chemin; et si ne pouvons dire si c’est du tout en pareille maniere à cette-ci, n’en connoissant que leurs noms. Nul depuis ne s’est jeté sur leur trace» (2, 6, p. 93). Es ist also kein Zweifel, daß Montaigne, trotz aller Bescheidenheit und Selbstironie, seine Behauptung ernst gemeint hat. Aber hat er recht damit? Besitzen wir wirklich kein einziges Werk ähnlicher Art aus älterer Zeit? Mir fällt der Name Augustins ein. Montaigne erwähnt die Bekenntnisse nirgends, und Villey (Les Sources, I, 75) vermutet, er habe sie nicht gut gekannt. Aber es ist ausgeschlossen, daß er nicht wenigstens über die Existenz und den XII L’humaine condition 301 <?page no="302"?> Charakter dieses berühmten Buches unterrichtet war. Vielleicht hatte er eine gewisse Scheu vor diesem Vergleich, und vielleicht ist es eine ganz echte und unironische Bescheidenheit, die ihn davor zurückhält, sich und seine Methode mit dem bedeutendsten der Kirchenväter in Beziehung zu setzen; er hat auch recht, wenn er meinte, es sei durchaus nicht «en pareille maniere»; Absicht und Einstellung sind sehr verschieden; und doch findet sich von keinem anderen früheren Autor etwas so Grundsätzliches in Montaignes Methode erhalten wie die konsequente und rückhaltlose Selbsterforschung Augustins. Zu dem dritten Glied seiner Aussage (dem Gegenvorwurf: ihr denkt ja nicht einmal an euch selbst) ist zu bemerken, daß ihm die besondere Montaignesche Vorstellung von «ich selbst» unausgesprochen zugrunde liegt. Die auf solche Art Angeredeten denken, im gewöhnlichen Sinne, sehr viel an sich selbst, zu viel sogar; sie denken an ihre Interessen, ihre Begierden, ihre Sorgen, ihre Kenntnisse, ihre Tätigkeit, ihre Familie und ihre Freunde. Dies alles ist, für Montaigne, nicht «sie selbst». Dies alles ist nur ein Teil von «ich selbst», und es kann sogar, wie es meist geschieht, zur Verdunkelung und zum Verlust des Selbst führen, wenn man nämlich sich einem oder dem anderen oder mehreren dieser Dinge so sehr hingibt, daß das gegenwärtige Bewußtsein der eigenen Existenz im ganzen, das volle Bewußtsein des eigenen Lebens dabei zerrinnt. Zu dem vollen Bewußtsein des eigenen Lebens gehört für ihn auch das des eigenen Todes. «Ils vont, ils viennent, ils trottent, ils dansent; de mort, nulles nouvelles» (1,20, p. 154/ 5). Den vierten und fünften Teil der Aussage, den Zweifel, ob die Veröffent‐ lichung eines solchen Werkes gerechtfertigt sei, und die Entschuldigungen, mit denen er dem Zweifel begegnet, können wir zusammen behandeln. Die wahre Antwort auf die Frage hat er schon im voraus gegeben; er stellt sie jetzt nur, um in einigen vorzüglich geformten Antithesen (z. B. particulier en usage gegen public en cognoissance, oder par art gegen par sort) die Eigentümlichkeit seines Unternehmens noch einmal scharf hervor‐ zuheben. Der Text ist ferner bedeutend durch die unvermutete Wendung der entschuldigend geformten Worte zu einem entschiedenen Bekenntnis des Gefühls seiner eigenen Bedeutung. Dies Bekenntnis, eingeleitet durch das Motiv «jamais homme» oder «jamais aucun» zeigt eine neue Seite sei‐ ner Methode. Nie, so sagt er etwa, hat ein Mensch seinen Gegenstand so vollkommen beherrscht, nie ihn so tief in all seine Einzelheiten und Verästelungen verfolgt, nie so restlos seine Absicht erreicht. Trotz der leisen Selbstironie, die etwa in der Formulierung «en celuy-là je suis le plus sçavant 302 XII L’humaine condition <?page no="303"?> homme qui vive» liegen mag, sind diese Sätze ein erstaunlich offenes, klares, nachdrückliches Unterstreichen der Einzigartigkeit seines Buches; und sie gehen über das vorher besprochene «moy le premier» insofern noch hinaus, als sie Montaignes Überzeugung verraten, es gebe überhaupt keine Kenntnis oder Wissenschaft, deren Erwerb mit solcher Vollkommenheit und Genauigkeit möglich sei als die Selbsterkenntnis. Für ihn ist das Erkenne-dich-selbst nicht nur eine praktische und moralische Forderung, sondern auch eine erkenntnistheoretische. Eben darum hat er auch wenig Interesse für naturwissenschaftliche Kenntnisse, und kein Vertrauen zu ihnen; das moralisch Menschliche allein fesselt ihn; wie Sokrates könnte er sagen, daß die Bäume ihn nichts lehren, sondern nur die Menschen in der Stadt. Er gibt dem Gedanken sogar eine polemische Spitze, wenn er von den Leuten spricht, die sich ihrer naturwissenschaftlichen Kenntnisse rühmen: «Puisque ces gens là n’ont pas peu se resoudre de la cognoissance d’eux mesmes et de leur propre condition, qui est continuellement presente à leurs yeux, qui est dans eux …, comment les croirois je de la cause du flux et du reflux de la riviere du Nil? » (2, 17, p. 605). Eine positiv erkenntnistheoretische Bedeutung gewinnt der Primat der Selbsterkenntnis jedoch nur für die moralische Erforschung des Menschen; denn Montaigne zielt bei seiner Untersuchung des beliebigen eigenen Lebens im ganzen auf die Erforschung der humaine condition überhaupt, und er offenbart damit das heuristische Prinzip, dessen wir uns, bewußt oder unbewußt, in verständiger oder unverständiger Weise dauernd bedienen, wenn wir die Handlungen anderer Menschen zu verstehen und zu·beurteilen bemüht sind, seien es die Handlungen unserer nächsten Umgebung oder ferner liegende, politische und geschichtliche: wir legen an sie die Maßstäbe, die uns unser eigenes Leben und unsere eigene innere Erfahrung bieten; so daß unsere Menschen- und Geschichtserkenntnis abhängig ist von der Tiefe unserer Selbsterkenntnis und der Weite unseres moralischen Horizonts. Montaigne hat sich immer auf das lebhafteste für das Leben der anderen interessiert. Freilich hat er ein gewisses Mißtrauen gegen die Historiker. Er findet, daß sie die Menschen allzu ausschließlich in außergewöhnlichen und heroischen Lagen vorführen, und daß sie allzu schnell geneigt sind, von den Charakteren ein festes und einheitliches Bild zu geben: «les bons autheurs mesmes ont tort de s’opiniastrer à former de nous une constante et solide contexture» (2, 1, p. 9). Es scheint ihm verkehrt, sich aus einem oder aus wenigen Höhepunkten eines Lebens eine Vorstellung des gesamten Menschen zu machen; Schwankung und Wechsel des inneren Zustandes XII L’humaine condition 303 <?page no="304"?> seien längst nicht genügend berücksichtigt: «pour juger d’un homme, il faut suivre longuement et curieusement sa trace» (2, 1, p. 18). Er wünscht das alltägliche, gewöhnliche und spontane Verhalten der Menschen zu erfahren, und dazu ist ihm seine Umgebung, die er durch eigene Erfahrung beobachten kann, ebenso wertvoll wie das Material der Geschichte: «moy … qui estime ce siècle comme un autre passé, j’allegue aussi volontiers un mien amy que Aulu Gelle et que Macrobe» (3, 13, p. 595). Private und persönliche Vorgänge interessieren ihn ebensosehr oder vielleicht noch mehr als Staatsaktionen, und es ist nicht einmal erforderlich, daß sie wirklich vorgefallen sind: «… en l’estude que je traitte de noz mœurs et mouvemens, les temoignages fabuleux, pourvu qu’ils soient possibles, y servent comme les vrais: advenu ou non advenu, à Paris ou à Rome, à Jean ou à Pierre, c’est toujours un tour de l’humaine capacité» (1, 21, p. 194). All diese Bemühung um die Erfahrung des Lebens der anderen geht durch den Filter der Selbsterfahrung. Man darf sich nicht durch manche Äußerungen Montaignes beirren lassen, wo er etwa davor warnt, die anderen nach sich selbst zu beurteilen, oder für unmöglich zu halten, was man sich nicht vorstellen könne oder was zu unseren Sitten im Widerspruch steht. Das kann sich nur auf Menschen beziehen, deren Selbsterfahrung zu eng und zu flach ist, und die Lehre, die aus solchen Äußerungen zu ziehen wäre, ist die Forderung, unserem inneren Bewußt‐ sein mehr Elastizität und Weite zu geben. Denn ein anderes heuristisches Prinzip für die historisch-moralische Erkenntnis als die Selbsterfahrung wüßte Montaigne nicht anzugeben, und es gibt mehrere Stellen, in denen er seine Methode unter diesem Gesichtspunkt beschreibt, zum Beispiel folgende: «Cette longue attention que j’employe à me considérer me dresse à juger aussi passablement des autres … Pour m’estre, dès mon enfance, dressè à mirer ma vie dans celle d’autruy, j’ay acquis une complexion studieuse en cela» (3, 13, p. 585). Mirer sa vie dans celle d’autrui: in diesen Worten liegt die ganze Methode der Tätigkeiten, die sich das Verstehen fremder Handlungen oder Gedanken zum Ziel setzen; alles übrige, das Sammeln der Quellen und Zeugnisse, die äußere Kritik und Ordnung des Überlieferten, ist nur Hilfs- und Vorarbeit. Der oben als sechster bezeichnete Teil der Aussage handelt von seiner Aufrichtigkeit: ihrer allein bedarf er, um seine Absicht auszuführen, und sie besitzt er auch; er sagt es selbst, und es ist wahr. Er ist überaus aufrichtig in allem was ihn selbst betrifft, und er wäre gern, wie er es hier und an mehreren anderen Stellen der Essais (schon im Vorwort) sagt, noch ein wenig offenherziger; die Regeln des Anstandes legen ihm einige 304 XII L’humaine condition <?page no="305"?> Beschränkung auf. Seine Kritiker haben jedoch höchstens das Übermaß, niemals einen Mangel an Aufrichtigkeit beanstandet. Er spricht sehr viel von sich selbst, und sein Leser wird mit allen Einzelheiten nicht nur seiner geistigen und seelischen, sondern auch seiner körperlichen Existenz bekannt gemacht. Eine große Zahl von Mitteilungen über seine persönlichs‐ ten Eigenschaften und Gewohnheiten, seine Krankheiten, seine Ernährung und seine geschlechtlichen Eigentümlichkeiten finden sich in den Essais verstreut. Das geschieht gewiß nicht ganz ohne ein wenig Selbstgefälligkeit; Montaigne hat Freude an sich selbst, er weiß, daß er in jeder Hinsicht ein freier, reicher, ganzer, vorzüglich geglückter Mensch ist, und er kann, trotz aller Selbstironie, diese Freude an der eigenen Person nicht verbergen. Aber sie ist ein ruhiges, in sich gegründetes Bewußtsein seiner selbst, frei von Kleinlichkeit, Anmaßung, Unsicherheit oder Koketterie. Er ist stolz auf seine «forme toute sienne». Doch die Freude an sich selbst ist nicht das wichtigste und eigentliche Motiv seiner Aufrichtigkeit, die sich gleichmäßig auf Geist und Körper bezieht; die Aufrichtigkeit ist ein wesentlicher Teil seiner Methode der Darstellung des beliebigen eigenen Lebens im ganzen; Montaigne ist der Überzeugung, daß für eine solche Darstellung Geist und Körper nicht getrennt werden dürfen, und er hat dieser Überzeugung in aller Ruhe, ohne seine Selbstdarstellung mit krampfhaften Bewegungen zu begleiten, eine rückhaltlose praktische Form gegeben, so rückhaltlos und wirklich, wie kaum jemand vor ihm und wenige nach ihm. Er spricht ausführlich von seinem Körper und seinem körperlichen Wesen, weil es ein wesentlicher Bestandteil seiner selbst ist, und er hat es fertiggebracht, sein Buch mit der körperlichen Würze seiner Person zu durchdringen, ohne je Überdruß zu erregen. Seine körperlichen Funktionen, seine Krankheiten und sein eigener körperlicher Tod, von dem er viel spricht, um sich selbst an den Gedanken des Todes zu gewöhnen, sind dermaßen in ihrer konkreten sinnlichen Wirksamkeit mit dem moralisch-geistigen Gehalt seines Buches verschmolzen, daß jeder Versuch einer Trennung sinnlos wäre. Damit hängt wiederum seine Abneigung gegen die schulmäßigen Sys‐ teme der Moralphilosophie zusammen, von der wir schon sprachen: was er ihnen vorwirft, das Abstrakte, die Wirklichkeit des Lebens Verkleidende ihrer Methoden und das Aufgeblasene ihrer Terminologie, läßt sich alles zuletzt darauf zurückführen, daß sie teils schon in der Theorie, teils zumin‐ dest in der Lehrpraxis Geist und Körper trennen und den letzteren nicht zu Wort kommen lassen. Sie haben alle, nach Montaigne, eine zu hochmütige Meinung vom Menschen, sie sprechen von ihm, als sei er nur Geist und XII L’humaine condition 305 <?page no="306"?> verfälschen damit die Wirklichkeit des Lebens: «Ces exquises subtilitez ne sont propres qu’au presche; ce sont discours qui nous veulent envoyer touts bastez en l’autre monde. La vie est un mouvement materiel et corporel, action imparfaicte de sa propre essence, et desreglée; je m’emploie à la servir selon elle …» (3, 9, p.-409/ 10). Die Stellen, an denen er von der Einheit von Geist und Körper spricht, sind sehr zahlreich und geben sehr viel verschiedene Aspekte seiner An‐ schauung. Zuweilen überwiegt die ironische Bescheidenheit: «… moy, d’une condition mixte, grossier …, si simple que je me laisse tout lourdement aller aux plaisirs presents de la loy humaine et generale, intellectuellement sensibles, sensiblement intellectuels.» (3, 13, p. 649.) Eine andere überaus interessante Stelle beleuchtet sein Verhältnis zum Platonismus und damit zugleich zur antiken Moralphilosophie überhaupt: «Platon craint nostre engagement aspre à la douleur et à la volupté, d’autant que (weil) il oblige et attache par trop l’âme au corps; moy plutost au rebours, d’autant qu’il l’en desprend et descloue» (1, 40, p. 100/ 1). Denn für Plato ist der Körper ein Feind des Maßes, der die Seele verführt und mit sich reißt; für Montaigne besitzt der Körper, als natürliche Anlage, «un juste et modéré tempérament envers la volupté et envers la douleur», während «ce qui aiguise en nous la douleur et la volupté, c’est la poincte de nostre esprit». Die in unserem Zusammenhang bedeutendsten Stellen über diesen Gegenstand sind jedoch diejenigen, die die christlich-kreatürlichen Quellen seiner Anschauung zeigen. In dem Kapitel de la présomption (2, 17, p.-615) schreibt er: «Le corps a une grand’ part à nostre estre, il y tient un grand rang; ainsi sa structure et composition sont de bien juste considération. Ceux qui veulent desprendre nos deux pièces principales, et les sequestrer l’un de l’autre, ils ont tort; au rebours, il les faut r’accupler et rejoindre; il faut ordonner à l’âme non de se tirer à quartier, de s’entretenir à part, de mespriser et abandonner le corps (aussi ne le sçauroit elle faire que par quelque singerie contrefaicte), mais de se r’allier à luy, de l’embrasser …, l’espouser en somme, et luy servir de mary, à ce que leurs effects ne paraissent pas divers et contraires, ains accordans et uniformes. Les Chrestiens ont une particuliere instruction de cette liaison; ils sçavent que la justice divine embrasse cette société et joincture du corps et de l’âme, jusques à rendre le corps capable des recompenses eternelles; et que Dieu regarde agir tout l’homme, et veut qu’entier il reçoive le chastiment, ou le loyer, selon ses merites.» Und er schließt mit einem Preis der aristotelischen Philosophie: 306 XII L’humaine condition <?page no="307"?> «La secte Peripatetique, de toutes sectes la plus sociable, attribue à la sagesse ce seul soing, de pourvoir et procurer en commun le bien de ces deux parties asso‐ ciées; et montre les autres sectes, pour ne s’estre assez attachez à la considération de ce meslange, s’estre partialisées, cette-cy pour le corps, cette autre pour l’âme, d'une pareille erreur; et avoir escarté leur subject, qui est l’homme; et leur guide, qu’ils advouent en general estre Nature.» Eine andere, im gleichen Sinne bedeutende Stelle, steht am Ende des dritten Buches, in dem Schlußkapitel de l’expérience (3, 13, p.-663): «A quoy faire demembrons nous en divorce un bastiment tissu d’une si joincte et fraternelle correspondance? Au rebours, renouons le par mutuels offices; que l’esprit esveille et vivifie la pesanteur du corps, le corps arreste la legereté de l’esprit et la fixe. Qui velut summum bonum laudat animae naturam, et tamquam malum naturam carnis accusat, profecto et animam carnaliter appetit, et carnem carnaliter fugit; quoniam id vanitate sentit humana, non veritate divina (aus Augustin, De civitate Dei 14, 5). Il n’y a piece indigne de notre soin, en ce present que Dieu nous a faict; nous en devons conte jusques à un poil; et n’est pas une commission par acquit (etwa: nebensächlich) à l’homme de conduire l’homme selon sa condition: elle est expresse, naifve et trèsprincipale, et nous l’a le Createur donnée serieusement et severement … (Diejenigen, die sich von ihrem Körper lossagen wollen) veulent se mettre hors d’eux, et eschapper à l’homme; c’est folie; au lieu de se transformer en anges, ils se transforment en bestes; au lieu de se hausser, ils s’abattent. Ces humeurs transcendentes m’effrayent-…» Daß Montaignes Körper-Geist-Einheit in der christlich-kreatürlichen An‐ thropologie ihre Wurzeln hat, das wäre auch ohne diese Zeugnisse zu erweisen; auf ihr beruht seine realistische Introspektion, und ohne sie wäre diese unvorstellbar. Aber solche Stellen (man könnte noch eine andere [3, 5, p. 219] hinzufügen, in der sich eine wichtige Bemerkung über die Askese der Heiligen findet) zeigen, wie bewußt er sich des Zusammenhangs war. Er beruft sich auf das Dogma der Auferstehung des Fleisches und auf Bibelstellen; er lobt gerade in diesem Zusammenhang die aristotelische Philosophie, für die er eigentlich sonst nicht viel übrig hat («Je ne recognois, chez Aristote, la plus part de mes mouvements ordinaires»); er zitiert eine der vielen Stellen, in denen Augustin gegen dualistische und spiritualistische Tendenzen seiner Zeit ankämpft; er bedient sich des Gegensatzes ange-bête, den Pascal von ihm übernahm. Er hätte die christlichen Zeugnisse für seine Anschauung noch bedeutend vermehren können; er hätte vor allem XII L’humaine condition 307 <?page no="308"?> die Fleischwerdung des Wortes selbst zu Hilfe rufen können. Das hat er nicht getan, obgleich der Gedanke ihm ohne Zweifel aufgestiegen ist; bei einem christlich erzogenen Menschen seiner Zeit mußte er sich bei diesem Anlaß aufdrängen. Er hat die Anspielung vermieden, absichtlich offenbar, denn das hätte seinen Ausführungen unwillkürlich den Charakter eines christlichen Bekenntnisses gegeben, was ihm ganz fern lag. Er geht so heiklen Gegenständen gern aus dem Wege. Aber die Frage nach seinem religiösen Bekenntnis, die ich übrigens für müßig halte, hat mit der Feststel‐ lung, daß die Wurzeln seiner realistischen Anschauung des Menschen im Christlich-Kreatürlichen liegen, nichts zu tun. Wir kommen nun zum letzten Teil unseres Textes. Er handelt von der Einheit, die bei ihm zwischen Werk und Autor besteht; anders als bei den Spezialisten, die ein mit ihrer Person nur lose zusammenhängendes Fachwissen zeigen. Er hat dasselbe, mit einigen anderen Abtönungen, noch an einer anderen Stelle gesagt (2, 18, p. 666): «Je n’ay pas plus faict mon livre que mon livre m’a faict: livre consubstantiel à son autheur, d’une occupation propre, membre de ma vie, non d’une occupation et fin tierce et estrangiere, comme tous autres livres.» Dem ist nichts hinzuzufügen. Doch bedarf die Malice gegen den gelehrten Fachmann und gegen die Spezialisierung noch einer Erläuterung, die den geschichtlichen Ort solcher Äußerungen zu zeigen versucht. Das Ideal eines allseitig ausgebildeten, nicht spezialisierten Menschen verdankt der Humanismus der antiken Theorie und auch dem antiken Beispiel, doch ließ die soziale Struktur des 16. Jahrhunderts seine volle Verwirklichung nicht zu; überdies schuf gerade die große Arbeitsleis‐ tung, die die Neuentdeckung des antiken Erbes erforderte, einen neuen Typ des humanistischen Fachgelehrten. Noch Rabelais hat vielleicht daran geglaubt, daß die vollkommene Bildung der Selbstbesitz aller Wissenschaft sein müsse, daß also Universalität die Summe aller Spezialkenntnisse sei; vielleicht ist sein surrealistisches Erziehungsprogramm für Gargantua in diesem Sinne ernst gemeint. Jedenfalls ließ sich das nicht verwirklichen, und für die zu leistende wissenschaftliche Arbeit beginnt sich nun, weit mehr als im Mittelalter, die Spezialisierung durchzusetzen. Dem steht die Idealvorstellung eines allseitig und gleichmäßig vollkommenen Menschen geradeswegs entgegen; sie war um so wirksamer, als sie nicht nur vom Humanismus allein getragen wurde; auch die spätfeudale, vom Absolutis‐ mus wiederaufgenommene, durch platonisierende Tendenzen bereicherte Vorstellung vom vollkommenen Hofmann kam ihr zu Hilfe; und die durch wachsenden Wohlstand und größere Verbreitung elementarer Kenntnisse 308 XII L’humaine condition <?page no="309"?> sehr stark vermehrte Zahl derjenigen, die nach Teilnahme am geistigen Leben verlangten - teils dem Adel, teils dem städtischen Bürgertum ange‐ hörig - bedurfte einer Form des Wissens, die nicht spezialisierte Gelehrsam‐ keit war. So entstand eine nicht auf Berufszwecke abgestellte, sehr stark gesellschaftliche und sogar modische Form des Allgemeinwissens; sie war ihrem Umfang nach selbstverständlich nicht enzyklopädisch, obwohl sie gleichsam einen Extrakt alles Wissens darstellt, unter Bevorzugung des Literarischen und überhaupt Geschmacklichen: gerade der Humanismus war in der Lage, den größten Teil des Materials beizusteuern. Es entstand die Schicht derjenigen, die man später «die Gebildeten» nannte. Da sie sich aus den sozial und wirtschaftlich einflußreichsten Kreisen rekrutierte, denen die im modischen Sinne gute Erziehung und Haltung, die Liebenswürdigkeit im Umgang, die Gewandtheit der Menschenbehandlung, die Geistesgegenwart wichtiger war als irgendeine fachliche Zuständigkeit; da in den gedachten Kreisen, auch wenn sie bürgerlicher Herkunft waren, noch adlig-ritterli‐ che Wertbegriffe herrschten; da diese von den antikischen Idealen des Humanismus insofern noch unterstützt wurden, als auch in der Antike die führenden Schichten die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft nicht als Beruf, sondern als «otium», als einen für den zu allgemeinster Existenz und zur politisch-führenden Tätigkeit bestimmten Menschen erforderlichen Schmuck betrachteten, so ergab sich schnell eine Art von Mißachtung der fachlichen Spezialisierung; der fachlich festgelegte Gelehrte und überhaupt der beruflich festgelegte Mensch, der in seinem speziellen Sachwissen aufging und dies auch in seinem Auftreten und seinem Gespräch fühlen ließ, galt als komisch, minderwertig und plebejisch. Diese Gesinnung gelangte im französischen Absolutismus des 17. Jahrhunderts zu voller Blüte, und wir werden davon noch zu handeln haben, da sie nicht wenig zu dem Stilt‐ rennungsideal, das den französischen Klassizismus beherrscht, beigetragen hat. Denn je allgemeiner die Bildung ist, je weniger sie ein spezialisiertes Wissen und ein spezialisiertes Arbeiten wenigstens als Ausgangspunkt eines allgemeineren Überblicks anerkennt, desto mehr entfernt sich die erstrebte allseitige Vollkommenheit vom Konkreten, Lebensmäßigen und Praktischen. In dieser Entwicklung, obgleich sie gewiß nicht nach seinem Geschmack gewesen wäre, hat Montaigne einen bedeutenden Platz; sein homme suffi‐ sant, der stets suffisant ist, même à ignorer, ist ohne Zweifel ein Vorgänger jenes honnête homme, der wie die Marquis bei Molière nichts Speziel‐ les gelernt zu haben braucht, um über alles ein modisch sicheres Urteil XII L’humaine condition 309 <?page no="310"?> abzugeben. Ist doch Montaigne der erste Schriftsteller, der für die eben dargestellte Schicht der Gebildeten schrieb; an dem Erfolg der Essais erwies das gebildete Publikum zum erstenmal seine Existenz. Montaigne schreibt nicht für einen bestimmten Stand, nicht für ein bestimmtes Fachgebiet, nicht für «das Volk», nicht für die Christen; er schreibt für keine Partei; er fühlt sich nicht als Dichter; er schreibt das erste Buch der laienhaften Selbstbesinnung, und siehe da, es gab Menschen, Männer und Frauen, die sich als Adressaten empfanden. Einige humanistische Übersetzer, besonders Amyot, dessen Montaigne auch in diesem Sinne rühmend gedenkt, hatten ihm vorgearbeitet; doch als selbständig Schreibender ist er der erste. So ist es ganz natürlich, daß er diejenigen Vorstellungen von Bildung hat, die jener ersten noch überaus aristokratischen, noch nicht zu spezialisierter Arbeit genötigten Schicht von Gebildeten angemessen sind. Freilich hat das für ihn durchaus nicht zur Folge, daß seine Bildung und Lebensform abstrakt, wirk‐ lichkeitsleer, dem Beliebig-Alltäglichen abgewandt und «stiltrennend» ge‐ worden wäre. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Seine glückliche und reiche Natur bedurfte keiner praktischen Arbeit und keiner an einem Gegenstand spezialisierten Geistestätigkeit, um der Wirklichkeit nahe zu bleiben; sie spezialisierte sich gleichsam jeden Augenblick auf etwas anderes, sie bohrte sich jeden Augenblick in einen neuen Eindruck und vertiefte ihn in so konkreter Weise, wie man sie im Jahrhundert des honnête homme gewiß als ungehörig empfunden hätte; oder man kann auch sagen: er spezialisierte sich auf sich selbst, auf das beliebige eigene Leben im ganzen. So ist sein homme suffisant doch noch nicht der honnête homme, sondern «ein ganzer Mensch». Überdies lebte er in einer Zeit, in der der Absolutismus, der mit seiner ausgleichenden Wirkung die Lebensform des honnête homme standardisierte, noch nicht voll entwickelt war. Darum hat er zwar einen bedeutenden Platz in der Vorgeschichte dieser Lebensform, aber er gehört ihr noch nicht an. Der von uns analysierte Text ist ein guter Ausgangspunkt, um mög‐ lichst viele von den Inhalten und Gesichtspunkten des Montaigneschen Unternehmens, der Darstellung des beliebigen eigenen Lebens im ganzen, zum Bewußtsein zu bringen. Er zeigt sich selbst in vollem Ernst, um die allgemeinen Bedingungen der menschlichen Existenz zu erhellen; er zeigt sich eingebettet in die beliebigen zufälligen Lagen eines Lebens, befaßt sich mit den wechselnden, ohne Wahl aufgegriffenen Bewegungen seines Bewußtseins, und gerade in dieser Beliebigkeit und Wahllosigkeit besteht seine Methode. Er spricht von tausend Dingen, und eines geht leicht in das 310 XII L’humaine condition <?page no="311"?> andere über; ob er eine Anekdote erzählt, von seinen Tagesbeschäftigungen spricht, eine antike Morallehre erwägt oder das Vorgefühl des eigenen Todes auskostet, es gilt ihm gleich; er ändert kaum den Ton. Dieser ist im ganzen der eines mit Lebhaftigkeit, aber ohne Erregung geführten, sehr abtönungsreichen Gesprächs; man kann es kaum ein Selbstgespräch nennen, denn er scheint sich ständig an jemand zu wenden. Etwas Ironie ist fast immer zu spüren, oft tritt sie stark hervor, doch tut sie der aus jeder Zeile leuchtenden, spontanen Aufrichtigkeit nicht den geringsten Abbruch. Niemals ist er getragen oder pathetisch, niemals verzichtet er der Würde des Gegenstandes zuliebe auf eine kräftig-volkstümliche Ausdrucksweise oder ein dem alltäglichen Leben entnommenes Bild; die höchste Grenze seines Stils ist, wie wir schon oben sagten, jener Nachdruck, der unseren Text, besonders den zweiten Absatz, fast durchgehend beherrscht. Er äußert sich hier, wie sehr häufig, durch energisch gegeneinander abgesetzte, meist antithetische Satzgliederung mit scharfen und griffigen Formulierungen; zuweilen aber klingt auch eine fast dichterische Bewegung auf, wie in den Sätzen aus 2, 6, die oben Seite 294 zitiert wurden; die profondeurs opaques sind fast lyrisch, doch alsbald unterbricht er den großen poetischen Schwung durch das kräftige, gesprächshafte «ouy». Einen eigentlich hohen Ton kennt er nicht und will er nicht; er findet sein «urkräftiges Behagen» in einer Tonlage, die er selbst als «stile comique et privé» (1, 40, p. 485) bezeichnet. Das ist eine unverkennbare Anspielung auf den realistischen Stil der antiken Komödie, den sermo pedester oder humilis, und ähnliche Anspielungen finden sich in Menge. Aber was er als Inhalt bietet, ist keineswegs komisch; es ist die condition humaine, mit all ihren Belastungen, Problemen und Abgründen, mit all ihrer grundsätzlichen Ungewißheit, mit all den kreatürli‐ chen Bindungen, die ihr auferlegt sind. Erschreckend greifbar, suggestiv und Schauder erregend tritt das animalische Leben und der darin beschlossene Tod hervor; ohne Zweifel wäre solch ein kreatürlicher Realismus ohne die vorausgehende christliche, insbesondere die spätmittelalterliche Vorstel‐ lung vom Menschen nicht denkbar, und Montaigne fühlt das auch; er fühlt, daß seine so überaus konkrete Geist-Körper-Verbindung mit christlichen Auffassungen vom Menschen verwandt ist. Aber freilich hat sein kreatürli‐ cher Realismus den christlichen Rahmen, in dem er einst entstand, verlassen. Das irdische Leben ist nicht mehr die Figur des jenseitigen, er kann es sich nicht mehr gestatten, das Hier um eines Dort willen zu verachten und zu vernachlässigen. Das irdische Leben ist das einzige, welches er besitzt; er will es auskosten; «car enfin c’est nostre estre, c’est nostre tout» (2, 3, XII L’humaine condition 311 <?page no="312"?> p. 47). Hier zu leben ist sein Ziel und seine Kunst, und er meint das auf eine sehr einfache, aber sehr untriviale Art; es gehört dazu vor allem, sich frei zu machen von dem, was den Genuß des Daseins verzettelt, beschwert, und was den Lebenden von sich selbst ablenkt. Denn «c’est chose tendre que la vie, et aysée à troubler» (3, 9, p. 334). Es ist notwendig, sich frei zu bewahren, sich dem eigenen Dasein zu erhalten; sich den allzu starken Verpflichtungen des Getriebes zu entziehen, sich nicht an dies oder jenes zu binden; «la plus grande chose du monde c’est de sçavoir estre à soy» (1, 39, p. 464/ 5). Das alles ist ernsthaft und grundsätzlich genug, viel zu hoch für den sermo humilis, wie ihn die antike Theorie verstand, und wäre doch in einem hohen und pathetischen Stil, ohne konkrete Darstellung des Alltäglichen, nicht ausdrückbar; die Stilmischung ist kreatürlich und christlich. Aber die Gesinnung ist nicht mehr christlich und mittelalterlich. Man zögert, sie antikisch zu nennen; dazu ist sie zu konkret gegründet; und noch etwas anderes kommt hinzu. Die Loslösung von den christlichen Rahmenvorstellungen versetzte Montaigne, trotz der genauen und dauernd gepflegten Kenntnis der antiken Kultur, nicht einfach in die Anschauungen und Verhältnisse zurück, in welchen seinesgleichen zur Zeit Ciceros oder Plutarchs gelebt hatte. Die nun errungene Freiheit war weit erregender, aktueller, mit dem Gefühl der Ungesichertheit verbunden; der verwirrende Überfluß von Erscheinungen, auf die nun erst das Auge gelenkt wurde, schien überwältigend; die Welt, sei es die äußere oder die innere, schien ungeheuer, grenzenlos, unfaßbar; das Bedürfnis, sich in ihr zurechtzufinden, schien schwierig zu befriedigen und doch dringend. Zwar ist von all den bedeutenden und zuweilen gleichsam überlebensgroßen Menschen dieses Jahrhunderts Montaigne der ruhigste; er hat in sich selbst Schwere und Elastizität genug, er besitzt natürliches Maß, er bedarf der Sicherheit wenig, da sie in ihm sich spontan immer wieder herstellt; zudem hilft ihm seine resignierte Abkehr von der Naturerkenntnis, sein unbeirrbares Streben nach nichts anderem als sich selbst. Allein auch in seinem Buch zittert die Erregung, die von der plötzlichen und gewaltigen Bereicherung des Welt‐ bildes und von dem Bewußtsein der darin liegenden noch unausgeschöpften Möglichkeiten herrührt; und, was noch mehr bedeutet, er hat von allen Zeitgenossen am reinsten das Problem der Selbstorientierung des Menschen gesehen; die Aufgabe, sich ohne feste Stützpunkte in der Existenz Wohn‐ lichkeit zu schaffen. Bei ihm zum ersten Male wird das Leben des Menschen, das beliebige eigene Leben als Ganzes, im modernen Sinne problematisch. Mehr darf man nicht sagen; seine Ironie, seine Abneigung gegen große 312 XII L’humaine condition <?page no="313"?> Worte, sein ruhiges und tiefes Behagen mit sich selbst verhindern ihn, über das Problematische hinaus und bis zum Tragischen vorzudringen, welches schon etwa aus Michelangelos Werk unverkennbar in Erscheinung tritt, und welches in der Montaigne folgenden Generation an mehreren Stellen Europas auch literarisch hervorbricht. Man hat oft gesagt, das christliche Mittelalter kenne keine Tragik; genauer wäre wohl so zu formulieren, daß im Mittelalter alle Tragik in der Tragödie Christi beschlossen ist. Aber nun bricht sie als persönlichste des Einzelnen hervor; und zwar, im Vergleich zur Antike, weit weniger eingedämmt durch überlieferte Vorstellungen von den Grenzen des Schicksals, der Erde, der Naturkräfte, der politischen Formen und des inneren menschlichen Wesens. Wir sagten schon, daß in Montaignes Werk Tragik noch nicht anzutreffen ist; er weist sie von sich; er ist zu unpathetisch, zu ironisch, ja zu bequem, wenn man dieses Wort in einem würdigen Sinne nimmt; er faßt sich selbst, trotz allen Eindringens in die eigene Ungesichertheit, zu ruhig. Ob das eine Schwäche ist oder eine Kraft, will ich nicht zu entscheiden versuchen; jedenfalls verhindert dies eigentümliche Gleichgewicht seines Wesens, daß das Tragische, dessen Möglichkeit in seinem Bild des Menschen gegeben ist, schon bei ihm selbst zum Ausdruck kommt. XII L’humaine condition 313 <?page no="315"?> XIII Der müde Prinz P R I N C E H E N R Y : Before God, I am exceeding weary. P O I N S : Is it come to that? I had thought weariness durst not have attached one of so high blood. P R I N C E H E N R Y : Faith, it does me; though it discolours the complexion of my greatness to acknowledge it. Does it not show vilely in me to desire small beer? P O I N S : Why, a prince should not be so loosely studied as to remember so weak a composition. P R I N C E H E N R Y : Belike, then, my appetite was not princely got; for, by my troth, I do now remember the poor creature, small beer. But, indeed, these humble considerations make me out of love with my greatness. What a disgrace is it to me to remember thy name? or to know thy face to-morrow? or to take note how many silk stockings thou hast; viz., these, and those that were thy peach-coloured ones? or to bear the inventory of thy shirts, as, one for superfluity, and one other for use? -… D I E S ist eine Unterhaltung zwischen dem Prinzen Heinz, späterem König Heinrich V., und einem der Genossen seines jugendlichen Übermutes. Sie findet sich im zweiten Teil von Shakespeares Heinrich IV., zu Beginn der zweiten Szene des zweiten Aktes. Die komische Mißbilligung der Tatsache, daß eine Person so hohen Standes von Müdigkeit und Verlangen nach Dünnbier befallen wird, daß sein Geist genötigt ist, von einer so niedrigen Person wie Poins überhaupt Notiz zu nehmen, ja das Inventar seiner Kleidungsstücke im Gedächtnis zu behalten, ist eine Persiflage der zu Shakespeares Zeit schon sehr mächtigen Bestrebungen nach strenger Trennung zwischen dem Erhabenen und dem Realistisch-Alltäglichen. Die Bestrebungen dieser Art wurden durch das antike Vorbild inspiriert, beson‐ ders durch Seneca, und verbreitet durch die humanistischen Nachahmer des antiken Dramas in Italien, Frankreich und England selbst; aber sie waren noch nicht durchgedrungen. So bedeutend der antike Einfluß auch auf Shakespeare sich auswirkte, zu dieser Stiltrennung hat er ihn nicht verführen können; ihn nicht, und auch andere dramatische Dichter der elisabethanischen Epoche noch nicht; die mittelalterlich-christliche, und zugleich volkstümlich-englische Tradition, die sich dagegen auflehnte, war <?page no="316"?> noch zu stark. In einer weit späteren Zeit, mehr als anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tode, wurde Shakespeares Dichtung Ideal und Vorbild all der Bewegungen, die gegen die strenge Stiltrennung des französischen Klassi‐ zismus revoltierten. Wir wollen festzustellen suchen, was die Stilmischung in seinem Werk bedeutet. Das Motiv wird von Poins angeschlagen und vom Prinzen sofort aufge‐ griffen, und zwar mit komischem, leicht preziösem Pathos, welches die Gegensätze unterstreicht: it discolours the complexion of my greatness gegen small beer! Durch Poins zweite Replik angefeuert, spielt der Prinz sich noch tiefer in den Gegenstand hinein; small beer wird nun zu einer armseligen Kreatur, die sich gleichsam widerrechtlich in die vornehme Atmosphäre seines Bewußtseins eingeschlichen hat; dabei fallen ihm andere humble considerations ein, die ihm die eigene Größe verleiden; aus ihnen greift er, geistreich, charmant und frech, den vor ihm stehenden Poins heraus: ist es nicht eine Schande für mich, daß ich mich deines Namens, deines Gesichts, ja sogar des Inventars deiner Kleidungsstücke erinnere? Eine ganze Anzahl der Elemente der Stilmischung sind in diesen wenigen Zeilen erwähnt oder angedeutet: das Element der körperlichen Kreatürlich‐ keit, das der niedrig-alltäglichen Gegenstände, und das der ständischen Mischung zwischen Personen hohen und niederen Ranges; auch wird im Ausdruck die Mischung hoher und niederer Redeweisen markiert, und selbst eines der klassischen Kennworte des niederen Stils, humble, wird ausgesprochen. All das tritt in Shakespeares tragischem Werk reichlich in Erscheinung. Die Beispiele für Ausmalung des Körperlich-Kreatürlichen sind zahlreich: Hamlet ist fett und kommt außer Atem (nach einer anderen Lesart ist er nicht fett, sondern heiß), Cäsar fällt durch den Gestank des Pöbels, der ihm eine Ovation darbringt, in Ohnmacht; Cassio im Othello ist betrunken; Hunger und Durst, Frost und Hitze befallen auch tragische Personen; sie leiden die Unbilden des Wetters und Krankheit; der Wahnsinn wird bei Ophelia mit einer so realistischen Psychologie dargestellt, daß sich ein ganz anderes Stilbild ergibt als etwa in Euripides’ Herakles; und der Tod, der sich auch rein erhaben darstellen läßt, gewinnt hier sehr häu‐ fig (Knochengerippe, Verwesungsgeruch) sein mittelalterlich-kreatürliches Aussehen. Nirgend wird die Erwähnung von alltäglichem Gerät oder allge‐ mein die konkrete Darstellung des alltäglichen Lebensverlaufs vermieden, dies nimmt viel breiteren Raum ein als in der antiken Tragödie, obgleich es auch dort, selbst vor Euripides, nicht so vollkommen verpönt war wie bei den Klassizisten des 16. und 17.-Jahrhunderts. 316 XIII Der müde Prinz <?page no="317"?> Wichtiger als dies ist die Mischung der Personen, und die damit zu‐ sammenhängende Mischung von tragisch und komisch. Zwar sind alle Personen, die Shakespeare tragisch und erhaben behandelt, hohen Standes. Er nimmt nicht, wie das Mittelalter, «jedermann» tragisch; er ist auch bewußter aristokratisch als Montaigne; la condition humaine spiegelt sich bei ihm in den verschiedenen Ständen sehr verschieden, nicht nur praktisch, sondern auch was die ästhetische Würde betrifft. Seine tragischen Helden sind Könige, Fürsten, Feldherren, Edelleute und die großen Gestalten der römischen Geschichte. Ein Grenzfall ist Shylock; zwar auch keineswegs ge‐ wöhnlich-alltäglich nach seinem Stande, sondern ein Paria; doch immerhin niederen Standes. Die leichte, von Märchenmotiven bewegte Handlung des Kaufmanns von Venedig wird durch die Schwere und Problematik seiner Person fast allzusehr belastet, und viele Schauspieler, die seine Rolle gaben, haben versucht, das ganze Interesse des Stückes auf ihn zu lenken und ihn zum tragischen Helden zu machen. Seine Gestalt reizt zu tragischer Überdeutung: sein Haß wird auf das tiefste und menschlichste begründet, tiefer als die Bosheit Richards III., er wirkt bedeutend durch seine Gewalt und Zähigkeit; dazu kommt noch, daß Shylock für ihn Formulierungen findet, die an große humanitäre Gedanken anklingen, und zwar an solche, die die späteren Jahrhunderte aufs tiefste bewegt haben; die berühmteste davon ist die Antwort, die er zu Beginn der großen Gerichtsszene (IV, 1) dem Dogen gibt, um, allein gegen alle, seinen starren und gnadenlosen Rechtsstandpunkt zu verteidigen: warum behandelt ihr eure Sklaven nicht als euresgleichen? you will answer: - the slaves are ours - so do I answer you. In diesem Augenblick, und in manchen anderen hat er etwas von finsterer und zugleich sehr menschlicher Größe; überhaupt fehlt es ihm nicht an Tiefe der Problematik, Eindringlichkeit der Erscheinung, Kraft der Leidenschaft und Gewalt des Ausdrucks. Dennoch läßt Shakespeare die Motive des Tragischen am Ende in achtloser, olympischer Heiterkeit fallen; schon vorher hat er lächerlich groteske Züge, nämlich den Geiz und die schon etwas senile Ängstlichkeit des Juden, stark betont, und in der Szene mit Tubal (Ende von III, 1), wo er abwechselnd über den Verlust der von Jessica entführten Kostbarkeiten jammert und über Antonios Ruin frohlockt, erscheint Shylock geradezu als eine Farcenfigur; am Schluß läßt Shakespeare ihn ohne Größe, als geprellten Teufel abgehen, so wie er es in seinen Vorlagen fand, und nach seinem Abgang gibt er noch einen ganzen Akt poetischen Märchen- und Liebesspiels, in welchem Shylock vergessen und versunken ist. Ohne Zweifel haben also die Schauspieler, die aus XIII Der müde Prinz 317 <?page no="318"?> Shylock einen tragischen Helden machen wollen, unrecht; es widerstreitet der Gesamtökonomie des Stückes; Shylock hat weit weniger Größe als Marlowes grausiger Jew of Malta, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß Shakespeare die menschliche Problematik seines Juden weit tiefer erkannte und faßte. Für ihn ist Shylock, ständisch und ästhetisch, eine niedere Figur, des Tragischen unwürdig, dessen Tragik einen Augenblick beschworen wird, aber doch nur eine Würze ist in dem Triumph einer höheren, edleren, freieren, und auch aristokratischeren Menschlichkeit. Auch unser Prinz denkt ebenso. Er ist weit davon entfernt, Poins als seinesgleichen zu achten, obgleich er der Beste aus der Falstaffgruppe ist, obgleich er Witz und Tapferkeit besitzt. Welch ein Hochmut liegt in den Worten, die er wenige Zeilen nach der oben abgedruckten Stelle zu ihm sagt: … I could tell to thee - as to one it pleases me, for fault of a better, to call my friend … Auf die Art, wie Shakespeare sonst die mittleren und tieferen Stände darstellt, werden wir noch zurückkommen; jedenfalls gibt er sie niemals tragisch. Seine Vorstellung vom Tragisch-Erhabenen ist durchaus aristokratisch. Wenn man jedoch von dieser ständischen Einschränkung absieht, so ist die Stilmischung in der Darstellung der Personen sehr ausgeprägt. Das Tragische und das Komische, das Erhabene und das Niedrige ist in den meisten ihrem Gesamtcharakter nach tragischen Stücken auf das engste ineinandergearbeitet, wobei mehrere verschiedene Methoden zusammen‐ wirken. Tragische Handlungen, in denen Haupt- und Staatsaktionen oder andere tragische Ereignisse geschehen, wechseln ab mit komischen Volks- und Rüpelszenen, die zuweilen eng, zu weilen etwas lockerer mit der Haupthandlung verbunden sind; oder es treten in den tragischen Szenen selbst neben die Helden Narren oder andere komische Typen, die die Handlungen, Leiden und Reden jener begleiten, unterbrechen und auf ihre Weise kommentieren; oder schließlich tragen viele tragische Personen selbst in sich die Neigung zum komischen, realistischen oder bitter-grotesken Stilbruch. Die Beispiele sind für alle drei Fälle zahlreich, und sehr häufig wirken zwei dieser Verfahrensweisen oder alle drei zusammen. Für den ersten Fall, das Abwechseln tragischer und komischer Szenen innerhalb der Tragödie, mag man die Volksszenen in den Römerdramen oder die Falstaffepisoden in den Königsdramen oder die Totengräberszene im Hamlet anführen; diese letztere schillert schon ein wenig ins Tragische, und könnte, wegen des Dazutretens von Hamlet selbst, beinahe schon als Beispiel für den zweiten, ja sogar für den dritten Fall dienen. Das berühmteste Exempel für den zweiten Fall, das Begleiten tragisch-erhabener Personen durch komisch 318 XIII Der müde Prinz <?page no="319"?> kommentierende, ist der Narr im Lear, doch ist im Lear selbst, im Hamlet, in Romeo und Julia und anderswo noch weit mehr in dieser Art zu finden. Entscheidender noch für den Stilcharakter der Tragödie Shakespeares ist der dritte Fall, die Stilmischung innerhalb der tragischen Personen selbst. Schon bei Shylock, wo sich allerdings Shakespeare zuletzt für die komisch-niedere Gesamtauffassung entscheidet, haben wir das Schillern zwischen Tragisch und Komisch innerhalb der gleichen Person angetroffen; es findet sich auch, in sehr vielfältigen Mischungen, bei den grundsätzlich tragisch be‐ handelten Personen. Schon etwa das Aufflammen der Liebe Romeos zu Julia hat fast Lustspielcharakter, und fast unbewußt entwickeln sich die Hauptpersonen dieses Liebesspiels vom Kindlichen zum Tragischen. Die erfolgreiche Werbung Glosters um Lady Anne am Sarge Heinrichs VI. (King Richard III., I, 2) hat etwas Finster-Groteskes; Cleopatra ist kindlich und launenhaft, selbst Cäsar ist unentschlossen, abergläubisch, und sein pathetischer Stolz ist ein wenig komisch übertrieben; in der Art findet sich vieles; vor allem sind es Hamlet und Lear, die hier die bedeutendsten Beispiele liefern. Der halb wirkliche, halb gespielte Wahnsinn Hamlets tobt, zuweilen innerhalb einer einzigen Szene und sogar einer einzigen Rede, durch alle Höhenlagen des Stils; er springt etwa vom zotenhaften Witz zum Lyrischen oder Erhabenen, vom Ironisch-Absurden zur dunklen und tiefen Meditation, von der erniedrigenden Verspottung anderer und seiner selbst zum pathetischen Richteramt und zu stolzer Selbstbehauptung. Lears reiche, macht- und gefühlvolle Willkür zeigt innerhalb des beispiellos Erhabenen Züge des peinlich Greisenhaften und des Theatralischen; schon die Reden des treuen Narren zerren am Mantel seiner Erhabenheit; tiefer noch sind die Stilrisse, die innerhalb seines Wesens selbst liegen, die Exzesse seines Gefühls, die macht- und hilflosen Wutausbrüche, die Neigung zu bitter-grotesker Schauspielerei. In der vierten Szene des zweiten Aktes wirft er sich vor seiner schlimmen Tochter Regan, die ihn aufs blutigste gekränkt hat und noch kränkt, auf die Knie, um die ihm zugemutete Handlungsweise (nämlich Goneril, seine andere Tochter, um Verzeihung zu bitten) gleichsam vorzuspielen: eine Geste bitter-grotesker Selbsterniedrigung, überaus grell und schauspielhaft; er ist immer bereit, es aufs äußerste zu übertreiben, er will Himmel und Erde zwingen, das Äußerste seiner Schmach mitanzusehen und seine Anklagen zu hören. Solche Gesten scheinen über jedes Maß anstößig für einen achtzigjährigen Greis, für einen großen König; und dennoch tun sie seiner Würde und Größe keinen Abbruch; seine Art ist so unbedingt königlich, daß die Erniedrigung sie nur noch mächtiger XIII Der müde Prinz 319 <?page no="320"?> hervortreten läßt. Shakespeare läßt ihn die berühmten Worte: ay, every inch a king selbst aussprechen, im tiefsten Wahnsinn, grotesk aufgeputzt, auf irre Art einen Augenblick den König spielend; nicht daß wir lachen, sondern daß wir weinen, und nicht allein aus Mitleid, sondern zugleich aus Bewunderung für soviel Größe, die in ihrer brüchigen Kreatürlichkeit nur noch größer und unzerstörbarer erscheint. Diese Beispiele mögen genügen; sie sollen nur dazu dienen, dem Leser die Tatbestände, die ja allgemein bekannt sind, zurückzurufen, und sie so anzu‐ ordnen, wie es für unsere Fragestellung erforderlich ist. Shakespeare mischt Erhaben und Niedrig, Tragisch und Komisch in einer unerschöpflichen Fülle von Abtönungen; das Bild wird noch reicher, wenn man die märchenhaft phantastischen Komödien hinzuzieht, in denen ja ebenfalls zuweilen das Tragische aufklingt. Unter den Trauerspielen ist keines, in dem eine einzige Stillage von Anfang bis zu Ende durchgehalten wäre; selbst in Macbeth findet sich die groteske Szene mit dem Pförtner (2, 1). Im Laufe des 16. Jahrhunderts war die Einteilung der menschlichen Schicksale in die Kategorien des Tragischen und des Komischen neu ins Bewußtsein getreten. Eine ähnliche Einteilung war freilich auch den mittel‐ alterlichen Jahrhunderten nicht völlig fremd gewesen, aber in ihnen konnte die Konzeption des Tragischen sich nicht frei entfalten; und zwar liegt dies nicht nur oder vielmehr überhaupt nicht an dem Umstand, daß die antiken tragischen Kunstwerke unbekannt waren und daß die antike Theorie verges‐ sen war oder mißverstanden wurde - Umstände dieser Art hätten einer ei‐ genen Ausbildung des Tragischen nicht im Wege gestanden; sondern es liegt daran, daß die christlich-figurale Betrachtungsweise des Menschenlebens einer Ausbildung des Tragischen entgegenstand. Über allen noch so ernsten Ereignissen des irdischen Verlaufs stand die überragende und alles umfas‐ sende Würde eines einzigen Ereignisses, der Erscheinung Christi, und alle Tragik war nur Figur oder Abglanz eines einzigen Ereigniszusammenhangs, in den sie notwendig einmündete: des Zusammenhangs Sündenfall, Geburt und Leiden Christi, Weltgericht. Damit hängt zusammen die Verlegung des Schwerpunkts aus dem irdischen Leben in ein jenseitiges, so daß die Tragödie niemals hier zu Ende ging. Wir haben zwar früher, besonders in dem Kapitel über Dante, Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß dies keineswegs eine Entwertung des irdischen Lebens oder der menschlichen Individualität bedeutet; aber es brachte doch mit sich eine Abstumpfung des tragischen Ausgangs hier auf Erden, und eine Verlegung der Katharsis in den jenseitigen Ort. Im Laufe des 16. Jahrhunderts nun lockerte sich die 320 XIII Der müde Prinz <?page no="321"?> christlich-figurale Rahmenvorstellung fast überall in Europa; der Ausgang zum Jenseits, obwohl nur selten völlig aufgegeben, verlor an Sicherheit und Eindeutigkeit; und zugleich traten die antiken Vorbilder (zunächst Seneca, dann auch die Griechen) und die antike Theorie wieder ungetrübt vor die Augen. Der mächtige Einfluß der antiken Autoren hat die Ausbildung des Tragischen sehr gefördert; es konnte aber auch nicht ausbleiben, daß er zu den neuen Kräften, die aus den gegebenen Zeitumständen und der eigenen Kultur heraus zum Tragischen drängten, zuweilen in Widerspruch geriet. Die Antike sah die dramatischen Ereignisse des Menschenlebens über‐ wiegend in der Form des Glückswechsels, der von außen und oben über den Menschen hineinbricht; während sich in der elisabethanischen, der ersten eigentümlich modernen Form der Tragödie, der besondere Charakter des Helden als Quelle seines Schicksals weit stärker geltend macht. Das ist, glaube ich, die herrschende Meinung, und sie scheint mir im ganzen zutref‐ fend. Freilich bedarf sie der Abtönung und Ergänzung. In der Einleitung einer mir vorliegenden Shakespeareausgabe (The Complete Works of W. S., London & Glasgow s. d., Introduction by St. John Ervine, p. XII) finde ich sie folgendermaßen ausgedrückt: And here we come on the great difference between the Greek and the Elizabethan drama: the tragedy in the Greek plays is an arranged one in which the characters have no decisive part. Theirs but to do and die. But the tragedy in the Elizabethan plays comes straight from the heart of the people themselves. Hamlet is Hamlet, not because a capricious god has compelled him to move to a tragic end, but because there is a unique essence in him which makes him incapable of behaving in any other way than he does. Und der Kritiker fährt alsdann fort, indem er Hamlets Handlungsfreiheit hervorhebt, die ihn zweifeln und vor Entschei‐ dungen zögern läßt, eine Handlungsfreiheit, die Oedipus oder Orest nicht besitzen. In dieser Form ist der Gegensatz allzu absolut gefaßt. Man wird nicht umhin können, auch etwa der euripideischen Medea eine «unique essence», ja sogar Handlungsfreiheit zuzubilligen, ja sogar Augenblicke des Zögerns und des Kampfes gegen die eigene grausige Leidenschaft; ja sogar der sozusagen mustergültig klassisch-antike Sophokles zeigt zu Beginn der Antigone, in dem Gespräch der beiden Schwestern, ein Beispiel zweier Personen, die, genau in der gleichen Lage, ohne jeden Zwang des Schicksals, sich rein nach der verschiedenen Eigentümlichkeit ihres Cha‐ rakters zu verschiedener Handlungsweise entschließen. Trotzdem ist der Grundgedanke des englischen Kritikers richtig; der Charakter des Helden ist in der elisabethanischen Tragödie, zumal bei Shakespeare, weit genauer und XIII Der müde Prinz 321 <?page no="322"?> mannigfaltiger ausgebildet als in der antiken, und er hat an der Gestaltung des Schicksals aktiveren Anteil. Man kann den Unterschied aber noch auf eine andere Art fassen, indem man sagt, daß die Vorstellung vom Schicksal in der elisabethanischen Tragödie zugleich weiter gefaßt und enger mit dem Charakter der Person verbunden ist als in der antiken. In dieser bedeutet das Schicksal nichts als den aktuellen tragischen Handlungszusammenhang, die gegenwärtige Verstrickung, in welcher sich die betroffene Person jeweils befindet. Auf dasjenige, was ihr sonst in ihrem Leben widerfahren ist, soweit es nicht zur Vorgeschichte des aktuellen Konflikts gehört, auf ihre allgemeinen Lebensumstände, auf alles das, was wir ihr «Milieu» nennen, wird nur wenig Bezug genommen, und abgesehen von Alter, Geschlecht, Stand und ganz typisierender Andeutung ihres Temperaments erfahren wir nichts über ihre normale Existenz; lediglich innerhalb der jeweiligen tragischen Handlung zeigt und entwickelt sich ihr Wesen; alles sonstige ist weggeblieben. Dies beruht auf der Art der Entstehung des antiken Dramas und seinen technischen Voraussetzungen; die Bewegungsfreiheit, die es nur sehr allmählich gewann, ist auch noch bei Euripides weit geringer als die des modernen. Insbesondere beruht die strenge Beschränkung auf den aktuellen tragischen Konflikt darauf, daß die Gegenstände der antiken Tragödie fast ausschließlich dem nationalen Mythos, in einigen wenigen Fällen der nationalen Geschichte entnommen wurden; geheiligten Gegen‐ ständen deren Ereignisse und Personen den Hörern bekannt waren; auch das «Milieu» war bekannt, und überdies war es überall annähernd das glei‐ che; es bestand daher kein Anlaß, seinen besonderen Charakter und seine besondere Atmosphäre zu schildern. Euripides hat an der Überlieferung gerüttelt, und zwar in der Art, daß er neue Auffassungen, von Handlungen wie von Personen, in die überlieferten Stoffe hineintrug; aber auch das ist nicht zu vergleichen mit der Vielfalt von Gegenständen, der Freiheit in Gestaltung und Erfindung, welche das elisabethanische und überhaupt das moderne Theater besitzt. Bei der großen Mannigfaltigkeit der Stoffe und der bedeutenden Bewegungsfreiheit des elisabethanischen Theaters werden uns jedesmal die ganz besondere Atmosphäre, die Lebensbedingungen, die Vorgeschichte der Personen deutlich gemacht; der Ablauf auf der Bühne beschränkt sich nicht streng auf den Ablauf des tragischen Konflikts, sondern es gibt Gespräche, Szenen, Personen, die die eigentliche Handlung nicht notwendig verlangt; wir erfahren dadurch sehr viel «sonstiges» über die Hauptpersonen, es bildet sich ein Begriff ihres normalen Lebens und eigentümlichen Charakters, unabhängig von der Verstrickung, in der sie 322 XIII Der müde Prinz <?page no="323"?> gerade jetzt befangen sind. Auf diese Weise bedeutet das Schicksal hier viel mehr als nur den aktuellen Konflikt. In der antiken Tragödie läßt sich fast überall sauber unterscheiden zwischen dem natürlichen Charakter der Per‐ son und dem Schicksal, welches ihr jetzt widerfährt. In der elisabethanischen tritt uns in der Mehrzahl der Fälle nicht der rein natürliche, sondern ein von Geburt, Lebensumständen, Vorgeschichte (also vom Schicksal) bereits vorgeformter Charakter entgegen; ein Charakter, an welchem das Schicksal bereits sehr viel Anteil hat, bevor es sich in der Form des bestimmten tragischen Konflikts erfüllt; dieser ist oft nur der Anlaß, durch den eine längst vorbereitete Tragik sich aktualisiert. Man sieht das besonders deutlich bei Shylock oder bei Lear. Was mit jedem von ihnen geschieht, ist eigens für ihn bestimmt, für den besonderen Charakter Shylocks oder Lears, und dieser Charakter ist nicht nur der natürliche, sondern ein durch Geburt, Lage, Vorgeschichte, das heißt durch das Schicksal zu seiner unverwechselbaren Eigentümlichkeit und zu der ihm bestimmten Tragik vorgebildeter. Eine der Ursachen oder doch wenigstens Voraussetzungen dieser viel breiter angelegten Darstellung des Menschenschicksals haben wir schon erwähnt: das elisabethanische Theater bietet eine sehr viel mannigfaltigere Welt der Menschen als das antike; ihm stehen alle Länder und Zeiten und auch alle Kombinationen der Phantasie als Gegenstände zur Verfügung; es gibt Stoffe aus der nationalen und aus der römischen Geschichte, aus der sagenhaften Vorzeit, aus Novellen und Märchen; die Schauplätze sind England, Schottland, Frankreich, Dänemark, Italien, Spanien, die Inseln des Mittelmeers, der Orient, das antike Griechenland, das antike Rom und das antike Ägypten. Schon der Stimmungsreiz des Fremden, wie ihn etwa Venedig oder Verona einem englischen Publikum von 1600 bieten, ist ein dem antiken Theater zwar wohl nicht vollkommen, aber doch nahezu un‐ bekanntes Element; eine Gestalt wie Shylock stellt in ihrer bloßen Existenz Probleme, die außerhalb seiner Sphäre lagen. Hier ist darauf hinzuweisen, daß das 16. Jahrhundert schon ein hohes Maß von perspektivisch-geschicht‐ lichem Bewußtsein besitzt. Dies Bewußtsein zu entfalten hatte das antike Theater wenig Anlaß, weil der Kreis seiner Gegenstände zu beschränkt war und weil das antike Publikum andere Kultur- und Lebenskreise als den eigenen nicht als gleichwertig und nicht als beachtenswerten künstlerischen Gegenstand ansah. Im Mittelalter ging sogar die praktische Kenntnis frem‐ der Kulturkreise und Lebensbedingungen verloren; obgleich zwei derselben, die der Vergangenheit angehörten, der antike und der jüdisch-christliche, im Rahmen der mittelalterlichen Kulturen von hoher Bedeutung waren, XIII Der müde Prinz 323 <?page no="324"?> und beide, zumal der jüdisch-christliche, häufig in Literatur und Kunst dar‐ gestellt wurden, so fehlte doch das perspektivisch-historische Bewußtsein in dem Maße, daß die Ereignisse und Menschen jener fernen Epochen in die eigenen Lebensformen und -bedingungen übertragen wurden: Cäsar, Äneas, Pilatus wurden Ritter, Joseph von Arimathia ein Bürgersmann und Adam ein Bauer des 12. oder 13.-Jahrhunderts, so wie man sie in Frankreich, England oder Deutschland antraf. Seit dem ersten Aufleuchten des Humanismus beginnt man zu empfinden, daß die Ereignisse der antiken Sage und Geschichte, und auch die der Bibel, nicht nur durch Zeitablauf, sondern auch durch die völlige Verschie‐ denheit der Lebensbedingungen von der eigenen Epoche getrennt sind. Der Humanismus, mit seinem Programm der Erneuerung antiker Lebens- und Ausdrucksformen, schafft zunächst eine historische Tiefensicht, wie sie keine uns bekannte frühere Epoche in diesem Maße besessen hatte: er sieht die Antike in historischer Tiefe, und gegen sie abgehoben die dunklen Zeiten des dazwischen liegenden Mittelalters, und es macht für die Gewinnung dieses perspektivischen Sehens keinen Unterschied, welche Irrtümer der Auffassung und Interpretation er im einzelnen begangen haben mag. Schon seit Dante ist eine Spur solchen perspektivischen geschichtlichen Blickes festzustellen, im 16. Jahrhundert wird er genauer und verbreiteter, und wenn auch, wie wir später sehen werden, die Tendenz zur Verabsolutierung des antiken Vorbilds und zur Nichtbeachtung alles anderen, dazwischenliegen‐ den die historische Perspektive wieder aus dem Bewußtsein zu verdrängen suchte, so ist das doch niemals in dem Grade gelungen, daß das natürliche In-sich-selbst-Leben der antiken Kultur oder die geschichtliche Naivität des 12. und 13. Jahrhunderts je wieder erreicht worden wäre. Dazu kommt im 16. Jahrhundert die Wirkung der großen Entdeckungen, die den kulturgeo‐ graphischen Horizont und damit die Vorstellungen möglicher menschlicher Lebensformen mit gewaltigem Stoß erweiterten; es bildete sich bei den verschiedenen Völkern Europas das Nationalgefühl, so daß sie begannen, sich ihrer verschiedenen Eigentümlichkeit bewußt zu werden; endlich trug auch die Kirchenspaltung dazu bei, die verschiedenen Menschengruppen gegeneinander abzusetzen; so daß anstelle der verhältnismäßig einfachen Gegensätze zwischen Griechen beziehungsweise Römern und Barbaren, oder zwischen Christen und Heiden sich ein sehr viel mannigfaltigeres Bild der menschlichen Gesellschaft verbreitete. Das geschah nicht auf einmal, es hat sich lange vorbereitet, allein im 16. Jahrhundert geht es stoßweise und in gewaltigem Ausmaß, sowohl was die Weite des perspektivischen 324 XIII Der müde Prinz <?page no="325"?> Blicks als auch was die Zahl der Menschen betrifft, die ihn gewannen. Die Wirklichkeit, in der die Menschen leben, verändert sich, sie wird breiter, reicher an Möglichkeiten und grenzenlos; damit verändert sie sich auch in demselben Sinne, sobald sie Gegenstand der Darstellung wird. Der jeweils dargestellte Lebenskreis ist nicht mehr der einzig mögliche oder Teil des einzig möglichen, fest umgrenzten; sehr oft wird von einem Lebenskreis in den anderen gewechselt, und auch wo das nicht geschieht, ist ein freieres, eine unbegrenzte Welt umspannendes Bewußtsein als Grund der Darstellung zu erkennen. Wir haben schon bei Boccaccio, vor allem aber in unserem Abschnitt über Rabelais darauf hingewiesen, wir hätten es auch anläßlich Montaignes tun können. In der elisabethanischen Tragödie und insbesondere bei Shakespeare ist das perspektivische Bewußtsein selbstver‐ ständlich geworden, obgleich es weder sehr genau ist noch ganz einheitlich zum Ausdruck kommt. Shakespeare und die Dichter seiner Generation haben zuweilen irrige Vorstellungen von fremden Ländern und Kulturen, sie mischen zuweilen absichtlich zeitgenössische Szenen und Anspielungen in ein fremdes Thema hinein, wie etwa die Bemerkungen über das Londoner Theater im Hamlet; sehr oft gibt Shakespeare ein nur ganz locker an wirkliche Zeiten und Orte gebundenes Märchenland als Schauplatz der Handlung; aber auch das sind nur Spielformen des perspektivischen Blickes; das Bewußtsein der Mannigfaltigkeit menschlicher Lebensbedingungen ist bei ihm vorhanden, und er darf es bei seinem Publikum voraussetzen. Innerhalb des einzelnen Stoffes zeigt sich das Perspektivische noch auf eine andere Weise. Shakespeare und vielen seiner Zeitgenossen widerstrebt es, eine einzige, wenige Personen betreffende Schicksalswendung, in einer einzigen Stillage, radikal aus dem allgemeinen Zusammenhang des Gesche‐ hens herauszulösen, wie es die tragischen Dichter der Antike getan hatten, und worin ihre Nachahmer im 16. und 17. Jahrhundert sie zuweilen noch überboten; dies isolierende Vorgehen, das aus den kultischen, mythischen und technischen Voraussetzungen des antiken Theaters zu erklären ist, widerspricht einer Vorstellung magischen und vielstimmigen Weltzusam‐ menhangs, die in der Renaissance aufkam. Shakespeares Theater gibt nicht isolierte Schicksalsschläge, die meist von oben herabfallen, und deren Folgen zwischen wenigen Personen zum Austrag kommen, indes die Umwelt auf wenige, für den Fortgang der Handlung unbedingt erforderliche Personen beschränkt bleibt - sondern es bietet innerweltliche Verstrickungen, aus gegebenen Umständen und dem Zusammenspiel der vielfältig geformten Charaktere erwachsen, und an denen auch die Umwelt, sogar die Landschaft, XIII Der müde Prinz 325 <?page no="326"?> ja selbst die Geister der Verstorbenen und andere überirdische Wesen teilnehmen; wobei die Rolle der Teilnehmer sehr oft gar nicht oder nur in geringem Maße zum Vorwärtstreiben der Handlung beiträgt, sondern in einem sympathetischen Mit- und Gegenspielen auf verschiedener Stilhöhe besteht. Es erscheinen Nebenhandlungen und Nebenpersonen in großer Fülle, die für die Ökonomie der Handlung selbst entbehrlich wären oder doch stark reduziert werden könnten; wie etwa die Glosterepisode im Lear, die Szene zwischen Pompejus und Menas in Antonius und Cleopatra (2, 7), sehr viele Szenen und Personen in Hamlet - jedermann kennt weitere Beispiele. Selbstverständlich sind solche Handlungen und Personen nicht gänzlich nutzlos in der Ökonomie der Dramen; selbst eine Charge wie Osric im Hamlet ist darum so ausgeformt, weil sie einen bedeutenden Reflex von Hamlets Geistesart und augenblicklichem Gemütszustand auslöst; allein für den Fortgang der Handlung ist die Ausformung Osrics nicht erforderlich. Die Ökonomie der Stücke Shakespeares ist von verschwenderischer Groß‐ zügigkeit, sie zeugt von seiner Freude am Ausformen der verschiedensten Lebenserscheinungen, und diese wiederum ist inspiriert von der Vorstellung des universalen Zusammenhangs der Welt, so daß jede berührte Saite menschlichen Schicksals eine Fülle von Stimmen zu Mit- und Gegenspiel aufruft. Der Sturm, in den Regan ihren alten Vater, den König, hinaustreibt, ist nicht ein Zufall, er ist eine Veranstaltung magischer Gewalten, die mobilisiert werden, um den Vorgang auf die Spitze zu treiben, und auch die Reden des Narren und später die des armen Tom sind Stimmen aus jenem Weltorchester, indes ihre Rolle innerhalb des bloß vernünftigen Aufbaus der Handlung nur gering ist. Dabei tritt ein Skalenreichtum der Stillagen in Erscheinung, der innerhalb des Haupttons, welcher erhaben ist, bis zum Farcenhaften und Albernen hinabreicht. Dies Stilbild ist ganz eigentümlich elisabethanisch und shakespearisch, aber seine Wurzeln liegen in der volksmäßigen Tradition, und zwar ur‐ sprünglich in dem Weltendrama der Geschichte Christi. Zwar gibt es Zwi‐ schenstufen, und es haben sich auch allerhand folkloristische Einzelmotive eingeschoben, die nicht christlichen Ursprungs sind; doch die kreatürliche Auffassung des Menschen, der lockere Aufbau mit den vielen Nebenhand‐ lungen und -figuren, und die Mischung des Erhabenen mit dem Niedrigen kann letzten Endes aus keiner anderen Quelle stammen als aus dem mittel‐ alterlich-christlichen Theater, in dem all diese Dinge notwendig und mit dem Wesen der Sache selbst verbunden waren. Sogar die Teilnahme der Elemente an einem bedeutenden Schicksal hat ihr bekanntestes Vorbild 326 XIII Der müde Prinz <?page no="327"?> in dem Erdbeben bei Christi Tod (Matth. 27, 51 ff.), und dies Vorbild war im Mittelalter sehr wirksam geblieben (vgl. Rolandslied 1423 ff. oder Vita Nova 23). Doch nun, im elisabethanischen Theater, ist der Überbau des Ganzen verloren gegangen; das Christusdrama ist nicht mehr das allgemeine Drama, es ist nicht mehr das Gefäß, in welches alles Menschenschicksal zu‐ sammenfließt; die dramatisierte Historie erhält eine bestimmte menschliche Handlung als Mittelpunkt, gewinnt ihre Einheit aus dieser, und der Weg ist frei für die eigenständig menschliche Tragik. Die alte große Ordnung Sündenfall, Gottesopfer, Jüngstes Gericht tritt zurück, das Menschendrama findet seine Ordnung in sich selbst, und hier greift das antike Vorbild ein mit Schürzung, Krise und tragischer Lösung; auch die Einteilung des Gesche‐ hens in Akte wird von dort übernommen. Allein die Freiheit des Tragischen und überhaupt der Bezirk des Menschen kennt die antiken Grenzen nicht mehr; die in großen Krisen sich vollziehende Auflösung des mittelalterlichen Christentums treibt ein dynamisches Bedürfnis nach Selbstorientierung hervor, einen Willen zum Aufspüren der geheimen Kräfte des Lebens, wobei das Magische und das Wissenschaftliche, das Elementare und das Moralisch-Menschliche miteinander in Beziehung treten; eine ungeheure Sympathetik scheint die Welt zu durchdringen. Überdies hatte das Chris‐ tentum die menschlichen Probleme (Gut und Böse, Schuld und Schicksal) in einer stärker erregenden, antithetischeren und sogar paradoxeren Weise gefaßt als die Antike; auch als die Lösung durch das Erbsünde-Erlösungs‐ drama seine Geltung einzubüßen begann, blieben doch die tiefer erregende Fassung des Problems und die damit zusammenhängenden Vorstellungen von der Natur des Menschen noch lange wirksam. Shakespeares Werk zeigt die freigewordenen und doch noch den ganzen moralischen Reichtum der Vergangenheit in sich tragenden Kräfte entfaltet; sehr bald darauf wurden die eindämmenden Gegenbewegungen übermächtig; Protestantismus und Gegenreformation, absolutistische Organisation der Gesellschaft und des Geisteslebens, akademisch-puristische Nachahmung der Antike, Rationalis‐ mus und empirische Wissenschaftlichkeit wirkten zusammen, daß diese Freiheit im Tragischen sich nicht nach ihm fortentwickelte. Die moralische und gedankliche Welt Shakespeares ist auf diese Art sehr viel bewegter, vielschichtiger und in sich selbst, schon vor jeder bestimmten Handlung, dramatischer als die der Antike; der Grund selbst, auf dem sich die Menschen bewegen und die Ereignisse sich abspielen, ist unsicherer und scheint von inneren Bewegungen erschüttert zu werden; es gibt keine ru‐ hende Welt als Hintergrund, sondern eine aus den mannigfaltigsten Kräften XIII Der müde Prinz 327 <?page no="328"?> sich ständig neu erzeugende. Das fühlt wohl jeder Leser oder Hörer, doch ist es vielleicht nicht unnütz, die Dynamik seiner Gedankenbewegung etwas näher zu beschreiben und ein Beispiel zu geben. In der antiken Tragödie ist das Philosophieren zumeist undramatisch; es ist Sentenz, aus den Vorgängen abstrahiert und verallgemeinert, von der Person und ihrem Schicksal losge‐ löst; in Shakespeares Schauspielen wird es persönlich, erwächst unmittelbar aus der aktuellen Lage des Redenden und bleibt damit verbunden; es ist nicht Ergebnis der aus den Vorgängen gewonnenen Erfahrung, auch nicht wirk‐ same Antwort in der Stichomythie, sondern dramatische Selbstbetrachtung, die den rechten Ort des eigenen Einsatzes sucht oder an seiner Auffindung verzweifelt. Wenn der revolutionärste der griechischen Tragiker, Euripides, gegen die ständischen Unterschiede zwischen den Menschen polemisiert, so geschieht dies in einem sentenzenhaft geformten Verse, der etwa aussagt, nur der Name schände den Sklaven; sonst sei ein edler Sklave um nichts geringer als ein freier Mann. Shakespeare polemisiert nicht gegen die stän‐ dische Ordnung, und es scheint, daß er durchaus keine sozialrevolutionären Ansichten hatte. Allein wenn eine seiner Gestalten, aus ihrer Lage heraus, solche Gedanken äußert, so geschieht das mit einer aktuell-dramatischen Kraft, die dem Gedanken etwas Packendes und Schneidendes gibt: Laßt doch eure Sklaven so leben wie ihr selbst, gebt ihnen die gleiche Kost und Wohnung, verheiratet sie mit euren Kindern! Ihr sagt, die Sklaven seien euer Eigentum? Gut, gerade so antworte ich euch: dies Pfund Fleisch habe ich gekauft, es ist mein … Der Paria Shylock beruft sich nicht auf das natürliche Recht, sondern auf das bestehende Unrecht; welch dynamische Aktualität liegt in so bitterer, tragischer Ironie! Die große Zahl von moralischen Erscheinungen, die das ständig sich erneuernde Weltganze hervorbringt, und die selbst ständig an seiner Er‐ neuerung tätig teilnehmen, erzeugt einen Reichtum an Tonlagen, wie ihn die antike Tragödie nie hervorbringen konnte. Ich schlage beliebig einen Band Shakespeare auf und treffe auf Macbeth, 3. Akt, 6. Szene, wo Lennox, ein schottischer Adliger, einem seiner Freunde seine Ansicht über die letzten Ereignisse mitteilt: - My former speeches have but hit your thoughts, - Which can interpret further: only, I say, - Things have been strangely borne. The gracious Duncan - Was pitied of Macbeth: - marry, he was dead: - - And the right-valiant Banquo walk’d too late; - Whom, you might say, if ’t please you, Fleance kill’d, 328 XIII Der müde Prinz <?page no="329"?> For Fleance fled. Men must not walk too late. - Who cannot want the thought, how monstrous - It was for Malcolm and for Donalbain - To kill their gracious father? damned fact! - How did it grieve Macbeth! did he not straight, - In pious rage, the two delinquents tear, - That were the slaves of drinks and thralls of sleep? - Was not that nobly done? Ay, and wisely too; - For ’twould have anger’d any heart alive, - To hear the men deny’t … Die in diesem Stück verwendete Redeform - in welcher man etwas in heim‐ tückischer Weise zu verstehen gibt («insinuiert») ohne es auszusprechen - war in der Antike wohlbekannt; Quintilian behandelt sie im neunten Buch, wenn er von den controversiae figuratae spricht, und es finden sich Beispiele bei den großen Rednern. Aber so gänzlich unrhetorisch, mitten im privaten Gespräch, und dennoch ganz innerhalb der düster-tragischen Atmosphäre, das ist eine Mischung, die der Antike ganz fremd ist. Ich blättere einige Seiten weiter und finde die Worte, mit denen Macbeth, unmittelbar vor seinem letzten Kampf, die Nachricht von dem Tode seiner Frau aufnimmt: - S E Y T O N : The queen, my lord, is dead. - M A C B E T H : She should have died hereafter; - - There would have been a time for such a word-… - - To-morrow, and to-morrow, and to-morrow - - Creeps in this petty pace from day to day - - To the last syllable of recorded time; - - And all our yesterdays have lighted fools - - The way to dusty death. Out, out, brief candle! - - Life’s but a walking shadow; a poor player, - - That struts and frets his hour upon the stage, - - And then is heard no more: it is a tale - - Told by an idiot, full of sound and fury, - - Signifying nothing. (Enter a Messenger.) - - Thou com’st to use thy tongue; thy story quickly-… Macbeth ist durch all das Schreckliche, was er getan und durch sein Tun gelitten hat, hart und furchtlos geworden; nicht leicht kann etwas ihn noch schrecken (I have supp’d full with horrors; Schlegel übersetzt «ich habe mit dem Graun zur Nacht gespeist»); überdies sind all seine Kräfte aufs äußerste angespannt für jene letzte Verteidigung; da erreicht ihn die Nachricht von XIII Der müde Prinz 329 <?page no="330"?> dem Tode der Gefährtin, die ihn einst ins Verbrechen gestoßen hatte, und die doch früher als ihn die Kraft zu leben verlassen hat - und stürzt ihn, für einen Augenblick nur, ins finstere Grübeln; eine Entspannung, freilich nur eine, die ins Hoffnungslose, Schwere und Verzweifelte führt; schwer aber auch von Menschlichkeit und von Weisheit; Macbeth ist schwer geworden von selbsterworbener, aus seinem Geschick ihm erwachsener Weisheit, reif zur Erkenntnis und zum Tode; seine letzte Reife erlangt er in diesem Augenblick, wo seine letzte und einzige Menschengefährtin ihn verläßt. So wie hier aus dem Grausig-Tragischen, so steigt ein anderes Mal aus dem Grotesk-Lächerlichen in aller Reinheit der Mensch auf, so wie er eigentlich gemeint war, und wie er vielleicht in glücklichen Augenblicken sich einmal verwirklicht hatte. Polonius ist albern, senil und närrisch; aber wenn er seinem abreisenden Sohn die letzten Ratschläge und seinen Segen gibt (1, 3), besitzt er Altersweisheit und Würde. Es ist nicht nur die große Menge der Erscheinungen und die immer wieder in neuen Abtönungen vorgestellte, überaus menschliche Mischung aus Hoch und Niedrig, Erhaben und Alltäglich, Tragisch und Komisch, welche hier zu bemerken sind; sondern jene schwer in klare Worte zu fassende, aber doch überall wirksame Vorstellung eines unablässig sich selbst webenden, sich selbst erneuernden und in all seinen Teilen zusam‐ menhängenden Weltgrundes, aus der dies alles fließt und die es unmöglich macht, ein Ereignis oder eine Stillage zu isolieren. Die gemeinsame, klar begrenzte Figuralität Dantes, in der alles jenseits, in Gottes endgültigem Reich zum Austrag kommt und in der die Personen erst im Jenseits ihre volle Wirklichkeit erreichen, besteht nicht mehr; schon hier erreichen die tragischen Personen ihre letzte Vollendung, wenn sie, schwer an Schicksal, reif werden wie Hamlet, Macbeth und Lear; aber doch sind sie nicht nur eingefangen in dem jeden von ihnen zugefallenen Geschick, sondern alle verbunden als Spieler eines Spiel, das der unbekannte und unergründliche Weltendichter geschrieben hat, und an dem er immer noch schreibt; ein Spiel, dessen eigentliche Bedeutung und Wirklichkeit sie und wir nicht kennen. Ich will dazu einige Verse aus dem Sturm (4, 1) anführen: - … these our actors, - As I foretold you, were all spirits, and - Are melted into air, into thin air; - And, like the baseless fabric of this vision - The cloud-capp’d towers, the gorgeous palaces, - The solemn temples, the great globe itself, 330 XIII Der müde Prinz <?page no="331"?> Yea, all which it inherit, shall dissolve, - And like this unsubstantial pageant faded, - Leave not a rack behind; we are such stuff - As dreams are made of, and our little life - Is rounded with a sleep. Damit ist zugleich gesagt, daß Shakespeare zwar die irdische Wirklichkeit, und auch ihre alltäglichsten Formen, in tausend Brechungen und Mischun‐ gen enthält, daß aber seine Absicht das Darstellen des Wirklichen in seinen nur irdischen Zusammenhängen weit überschreitet; er umfaßt die Wirk‐ lichkeit, aber er übertrifft sie. Das zeigt sich schon an dem Auftreten von Geistern und Hexen, und an dem oft unrealistischen Sprachstil, in dem sich die Einwirkungen Senecas, des Petrarkismus und anderer Modeströmungen in einer eigentümlich-konkreten, aber doch nur sprunghaft realistischen Weise verschmelzen. Es offenbart sich noch viel wesentlicher in der inneren Struktur der Ereignisse, die sehr oft und gerade in den bedeutendsten Stücken nur sprunghaft und abgerissen realistisch sind, und vielfach die Neigung zeigen, ins Märchenhafte oder ins Phantastisch-Spielende oder ins Überirdisch-Dämonische durchzubrechen. Und noch von einer anderen Seite gesehen ist Shakespeares Tragik nicht vollkommen realistisch; wir haben schon zu Beginn dieses Kapitels davon gesprochen: er nimmt die alltäglich-gewöhnliche Wirklichkeit nicht ernst oder tragisch; er behandelt tragisch nur Edelleute, Fürsten und Könige, Staatsmänner, Feldherren und Heroen der Antike; wo Volk oder Soldaten oder andere Personen der mittleren oder unteren Sphäre auftreten, so geschieht das stets im niederen Stil, in einer der vielen Abtönungen des Komischen, über die er verfügt. Diese ständische Stiltrennung findet sich bei ihm konsequenter als in den Werken der mittelalterlichen Literatur oder Kunst, zumal in den christlichen, und sie ist zweifellos eine Ausstrahlung des antiken Begriffs vom Tragischen. Zwar zeigen bei ihm, wie wir bemerkten, tragische Figuren der hohen Sphäre häufig Stilbrüche ins Körperlich-Krea‐ türliche, Groteske und Zwiespältige, aber dies gilt kaum umgekehrt; Shylock ist wohl die einzige Gestalt, die als Ausnahme in Frage käme, und wir haben gesehen, daß auch bei ihr die tragischen Motive zuletzt fallen gelassen werden. Shakespeares Weltgeist ist auf keine Weise Volksgeist, und dies unterscheidet ihn auch grundsätzlich von seinen Bewunderern und Nach‐ ahmern im Sturm und Drang und in der Romantik. Das dynamische Walten der elementaren Kräfte, welches wir in seinem Werke empfinden, hat nichts XIII Der müde Prinz 331 <?page no="332"?> zu schaffen mit den Tiefen der Volksseele, mit welchen jene Späteren es verbanden. Es ist in dieser Hinsicht lehrreich, seine Volksszenen mit denen Goethes zu vergleichen. Die erste Szene von Romeo und Julia, wo sich die Bedienten der Montague und der Capulets treffen, hat viel Ähnlichkeit mit der Begegnung von Bauernführern und bambergischen Reitern zu Beginn des Götz von Berlichingen; wieviel ernster, menschlicher, an den Ereignissen verstehender teilnehmend, sind die Goetheschen Gestalten! Und wenn man in diesem Falle vielleicht noch einwenden könnte, daß ja auch ganz anders volksbewegende Probleme im Götz zum Austrag kommen, so entfällt der Einwand bei einer Gegenüberstellung der Volksszenen in den Römerdramen, in Julius Cäsar oder Coriolan, mit denen im Egmont. Nicht nur das Sicheinspinnen in die Volksseele liegt Shakespeare ganz fern, sondern es finden sich bei ihm auch noch keinerlei Vorboten von Aufklärung, von bürgerlicher Moralistik und von Gemütspflege; in seinen Werken, deren Verfasser nahezu anonym bleibt, weht eine andere Luft als in den Gestaltungen aus der Zeit des deutschen Erwachens, in denen man stets die tief empfindende, gemütsreiche Persönlichkeit hört, welche, in einer altbürgerlichen Stube sitzend, sich für Freiheit und Größe begeistert. Man bedenke, wie unvorstellbar Gestalten wie Klärchen oder Gretchen, oder eine Tragödie wie Luise Millerin in Shakespeares Welt sind; eine tragische Ver‐ wicklung, in der es sich um die Jungfernschaft eines bürgerlichen Mädchens handelt, ist im Rahmen der elisabethanischen Literatur ein Unding. Man möge sich in diesem Zusammenhang auch der berühmten Hamle‐ tinterpretation erinnern, die Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren (Buch 4, Kap. 3 und 13) gibt. Sie ist tief und schön; mit Recht haben nicht nur die Romantiker, sondern auch viele spätere Leser, in Deutschland und in England, sie bewundert. Die Art, wie Goethe Hamlets Tragik aus dem jähen Zusammenbruch des äußerlich und moralisch gesicherten Lebens seiner Jugend, aus dem Einsturz des Vertrauens in die sittliche Ordnung erklärt, wie sie ihm vordem durch das nun so gräßliche zerrissene Band zwischen seinen Eltern, die er liebte und verehrte, repräsentiert wurde, diese Art der Erklärung ist von überzeugender Kraft. Goethes Deutung ist aber zugleich auch ein Stilbild seiner eigenen, der Goethezeit. Hamlet erscheint bei ihm als ein zarter, gemütvoller, auf idealische Weise nach dem Höchsten strebender, bescheidener Jüngling von ungenügender Kraft des inneren Wesens; es wird, um Goethes eigene zusammenfassende Worte zu zitieren, «eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist»; oder, ein wenig später: «Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches 332 XIII Der müde Prinz <?page no="333"?> Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann …» Sollte Goethe die ursprüngliche und im Verlauf des Stückes immer noch wachsende Kraft von Hamlets Wesen nicht gefühlt haben, seinen schneidenden Witz, vor dem seine ganze Umgebung zurückbebt, die List und Kühnheit seiner Anschläge, seine wilde Härte gegenüber Ophelia, die Gewalt, mit der er seiner Mutter entgegentritt, die kalte Ruhe, mit der er die ihm in den Weg tretenden Höflinge beiseite räumt, die elastische Kühnheit all seiner Worte und Gedanken? Er ist, obgleich er die entscheidende Handlung immer wieder aufschiebt, weitaus die stärkste Gestalt des Stückes; um ihn ist eine Aura von Dämonie, die Respekt, Scheu, und nicht selten Furcht hervorruft; wenn einmal eine aktive Bewegung aus ihm hervorbricht, so ist sie schnell, kühn und zuweilen heimtückisch, und sie trifft mit sicherer Gewalt mitten ins Ziel. Freilich ist es wahr, daß gerade die Ereignisse, die ihn zur Rache aufrufen, seine Kraft zur Entscheidung lähmen; aber kann man das aus einer Lebensschwäche, aus einem Mangel an «sinnlicher Stärke, die den Helden macht», erklären? Ist es nicht eher so, daß in einer starken und mit fast dämonischem Reichtum begabten Natur Zweifel und Überdruß am Leben mächtig werden, daß sich das ganze Gewicht des Wesens eben nach dieser Seite verlagert? Daß gerade wegen der Leidenschaft, mit der eine starke Natur sich ihren Regungen hingibt, diese so übermächtig werden, daß ihm die Pflicht zu leben und zu handeln lästig und zur Qual wird? Es soll hier nicht etwa versucht werden, der Goetheschen Hamletinterpretation eine andere gegenüberzustellen, sondern es soll die Richtung angegeben werden, in der sich Goethe und die Goethezeit bewegten, als sie Shakespeare ihren eigenen Gesinnungen anzugleichen bestrebt waren. Übrigens ist die neuere Forschung gegen solche einheitlich-psychologischen Deutungen der Charaktere Shakespeares sehr skeptisch geworden, ja allzu skeptisch nach meinem Gefühl. Der Reichtum an Höhenlagen des Stils, der in Shakespeares Tragik mitenthalten ist, geht über die eigentliche Realistik hinaus; er ist zudem freier, härter, voraussetzungsloser und auf eine göttliche Art unparteiischer als der seiner späteren Bewunderer um 1800. Er ist andererseits, wie wir oben zu zeigen versuchten, bedingt durch die Möglichkeiten der Stilmischung, die das christliche Mittelalter geschaffen hatte. Erst durch diese christliche Stilmischung konnte sich die Ahnung verwirklichen, die Plato am Ende des Gastmahls ausspricht; wo Sokrates im Morgengrauen den letzten, von Müdigkeit auch schon nahezu überwältigten Zechern Agathon und XIII Der müde Prinz 333 <?page no="334"?> Aristophanes erklärt, daß ein und derselbe Dichter die Komödie und die Tragödie beherrschen müsse, und daß der echte Tragödiendichter auch ein Komödiendichter sei. Daß diese platonische Ahnung oder Forderung erst auf dem Wege durch die christlich-mittelalterliche Anschauung vom Menschen ausreifen, und erst nach Überwindung derselben Wirklichkeit werden konnte, ist wenigstens in den großen Linien schon oft erkannt und ausgesprochen worden, auch von Goethe. Ich will eine Stelle, in der er es ausspricht, hierhersetzen, weil sie wiederum selbst ein Stilbild ist; sie vereinigt geistreiche Erkenntnis mit einer gewissen Begrenzung des kritischen Blickes, die sich hier als altbürgerlicher, dem Mittelalter abgeneigter Humanismus zeigt. Die Stelle steht in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Diderots Erzählung «Rameaus Neffe», gegen Ende des auch sonst bedeutenden Abschnitts über «Geschmack»; sie wurde 1805 geschrieben, und lautet folgendermaßen: «Wohl findet sich bei den Griechen so wie bei manchen Römern eine sehr geschmackvolle Sonderung und Läuterung der verschiedenen Dichtarten, aber uns Nordländer kann man auf jene Muster nicht ausschließlich hinweisen. Wir haben uns anderer Voreltern zu rühmen und haben manch anderes Vorbild im Auge. Wäre nicht durch die romantische Wendung ungebildeter Jahrhunderte das Ungeheure mit dem Abgeschmackten in Berührung gekommen, woher hätten wir einen Hamlet, einen Lear, eine Anbetung des Kreuzes, einen standhaften Prinzen? Uns auf der Höhe dieser barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht-…» Die beiden Stücke, die Goethe nach den beiden shakespearischen rühmend nennt, sind von Calderon, und dies führt uns zu der Literatur des spanischen siglo de oro, in welcher sich, trotz aller Verschiedenheit der Voraussetzungen und der Atmosphäre, eine der elisabethanischen nahe verwandte Behand‐ lung der Lebenswirklichkeit zeigt, sowohl in der Mischung der Stillagen wie in der allgemeinen Absicht, welche das Darstellen des Alltäglich-Wirk‐ lichen zwar einschließt, aber nicht als Ziel; sie dringt darüber hinaus; die Bemühung um ständige Poetisierung und Überhöhung des Wirklichen ist noch weit fühlbarer als bei Shakespeare. Selbst in bezug auf ständische Stiltrennung lassen sich gewisse Ähnlichkeiten feststellen; doch sind sie nur oberflächlich; der spanische Nationalstolz kann jeden Spanier als Gestalt hohen Stils ansehen, nicht nur den Spanier von vornehmer Abkunft; denn das in der spanischen Literatur so bedeutende und eigentlich zentrale Motiv der Frauenehre gibt Anlaß zu tragischen Verwicklungen selbst unter Bauern, 334 XIII Der müde Prinz <?page no="335"?> und es entstehen auf diese Art Volksdramen tragischen Charakters wie etwa Fuente Ovejuna von Lope de Vega oder El Alcalde de Zalamea von Calderon. In diesem Sinne ist die spanische Realistik entschiedener volks‐ tümlich und von dem Leben des Volkes erfüllt als die englische der gleichen Epoche; sie gibt überhaupt weit mehr zeitgenössische Alltagswirklichkeit. Während in den meisten europäischen Staaten, besonders in Frankreich, der Absolutismus das Volk zum Schweigen brachte, so daß während zweier Jahrhunderte seine Stimme kaum gehört wurde, war er in Spanien so sehr mit dem Eigentlichsten der nationalen Überlieferung verbunden, daß in ihm das Volk zu buntestem und lebendigstem literarischen Ausdruck gelangte. Dennoch hat die spanische Literatur des großen Jahrhunderts in der Geschichte der literarischen Eroberung der modernen Wirklichkeit keine sehr große Bedeutung; eine weit geringere als Shakespeare, ja selbst als Dante, Rabelais oder Montaigne. Zwar wirkte auch sie sehr stark auf die Romantik, aus welcher, wie wir später zu zeigen hoffen, sich der moderne Realismus entwickelte; aber sie hat innerhalb der Romantik weit mehr das Phantastische, Abenteuerliche und Theatralische befruchtet als die Richtung auf das Wirkliche. Spaniens mittelalterliche Dichtung war auf eine besonders echte und konkrete Art realistisch gewesen; aber die Realistik des siglo de oro ist selbst wie ein Abenteuer und wirkt fast exotisch; sie ist, selbst in der Darstellung der niederen Lebensbezirke, überaus farbig, poetisierend und illusionistisch; sie durchstrahlt die alltägliche Wirklichkeit mit zeremoniellen Formen des Verkehrs, mit gesuchten und kostbaren Sprachbildungen, mit dem großen Pathos ritterlicher Ideale und mit all dem inneren und äußeren Zauber barock-gegenreformatorischer Frömmigkeit; sie macht aus der Welt ein Wundertheater. Und in dem Wundertheater - auch dies ist für das Verhältnis zum modernen Realismus sehr wesentlich - herrscht gleichwohl, trotz der Abenteuerlichkeit und Wunderhaftigkeit, eine feste Ordnung; in der Welt ist zwar alles ein Traum, doch nichts ein Rätsel, welches auf Lösung drängte; es gibt Leidenschaften und Konflikte, aber Probleme gibt es nicht. Gott, der König, Ehre und Liebe, Stand und ständische Haltung sind unverrückbar und unbezweifelt, und weder die tragischen noch die komischen Gestalten geben uns Fragen auf, die schwer zu beantworten wären. Unter den spanischen Autoren der Blütezeit, die ich kenne, ist Cervantes sicher derjenige, dessen Personen noch am ehesten Problematik bieten; allein es genügt die nur verirrte, leicht deutbare und letztlich heilbare Tollheit Don Quijotes mit dem grundsätzlichen, vieldeuti‐ gen und nicht heilbaren An-der-Welt-Irresein Hamlets zu vergleichen, um XIII Der müde Prinz 335 <?page no="336"?> des Unterschieds innezuwerden. Da der Rahmen des Lebens so fest und gesichert ist, wenn auch noch so viel Verkehrtes in ihm geschieht, so fühlt man aus den spanischen Werken, trotz alles bunten und lebhaften Getriebes, nichts von einer Bewegung in den Tiefen des Lebens, oder gar von einem Willen zu seiner grundsätzlichen Erforschung und praktischen Gestaltung. Die Handlungen der Menschen haben in diesen Werken vorwiegend den Zweck, die moralische Haltung, wie sie auch sei, tragisch oder komisch oder aus beidem gemischt, eklatant zu erweisen und zu bewähren; ob sie etwas wirken, etwas vorwärts treiben, etwas in Bewegung bringen, ist von geringerer Bedeutung, und jedenfalls steht die Ordnung der Welt nachher ebenso unverrückt fest wie vorher; nur innerhalb derselben ist Bewährung oder Verirrung möglich. Wieviel wichtiger moralische Haltung und Absicht ist als der Erfolg, das parodiert Cervantes im 19. Kapitel des ersten Buches von Don Quijote; als der Ritter durch den verwundeten bachiller Alonso Lopez darüber aufgeklärt wird, welch Unheil er durch seinen Angriff auf den Leichenzug angerichtet hat, empfindet er keinerlei Bestürzung oder Verlegenheit; er hatte den Zug für eine satanische Erscheinung gehalten, und also hatte er die Pflicht, ihn anzugreifen; er ist zufrieden, seine Pflicht erfüllt zu haben und rühmt sich dessen. Übrigens hat selten ein Gegenstand die Auf‐ gabe der problematischen Erforschung der zeitgenössischen Wirklichkeit so nahe gelegt wie Don Quijote. Der Konflikt zwischen den Idealvorstellungen einer vergangenen Epoche und eines Standes, der seine Funktion verloren hat, einerseits, und der zeitgenössischen Wirklichkeit andererseits müßte zu einer problematisch-kritischen Darstellung dieser letzteren führen, um so eher, als der tolle Don Quijote durch ethische Unbeirrbarkeit und Geist seinen vernünftigen Gegenspielern oft überlegen ist. Aber nicht in dieser Richtung hat Cervantes sein Werk ausgearbeitet. Seine Darstellung der spanischen Wirklichkeit zerfasert sich in viele einzelne Abenteuer und Bilder; ihre Grundlagen bleiben unberührt und unbewegt. 336 XIII Der müde Prinz <?page no="337"?> 47 Dies Kapitel wurde erst 1949, drei Jahre nach dem Erscheinen der deutschen Erstausgabe, für die spanische Übersetzung hinzugefügt. XIV Die verzauberte Dulcinea 47 Yo no veo, Sancho, dijo D. Quijote, sino a tres labradoras sobre tres borricos.-- - Ahora me libre Dios del diablo, respondió Sancho; ¿y es possible que tres hacaneas, o como se llaman, blancas como el ampo de la nieve, le parezcan a vuesa merced borricos? Vive el Señor, que me pele estas barbas si tal fuese verdad. - - Pues yo te digo, Sancho amigo, dijo D. Quijote, que es tan verdad que son borricos o borricas, como yo soy Don Quijote, y tu Sancho Pansa: a lo menos a mi tales me parecen. - Calle, señor, dijo Sancho, no diga la tal palabra, sino despabile esos ojos, y venga a hacer reverencia a la señora de sus pensamientos, que ya llega cerca: y diciendo esto se adelantó a recebir a las tres aldeanas, y apeándose del rucio tuvo del cabestro al jumento de una de las tres labradoras, y hincando ambas rodillas en el suelo, dijo: - Reina y princesa y duquesa de la hermosura, vuestra altivez y grandeza sea servida de recebir en su gracia y buen talante al cautivo caballero vuestro, que alli está hecho piedra marmol, todo turbado y sin pulsos de verse ante vuesa magnifica presencia. Yo soy Sancho su escudero, y él es el asendereado caballero D. Quijote de la Mancha, llamado per otro nombre el Caballero de la Triste Figura. A esta sazón ya se habia puesto D. Quijote de hinojos junto a Sancho, y miraba con ojos desencajados y vista turbada a la que Sancho llamaba reina y señora; y como no descubria en ella sino una moza aldeana y no de muy buen rostro, porque era cariredonda y chata, estaba suspenso y admirado, sin osar desplegar los labios. Las labradoras estaban asimismo atonitas viendo aquellos dos hombres tan diferentes hincados de rodillas, que no dejaban pasar adelante a su compañera; pero rompiendo el silencio la detenida, toda desgraciada y mohina, dijo: --Apártense nora en tal del camino, y déjenmos pasar, que vamos de priesa.-- A lo que respondió Sancho: - O princesa y señora universal del Toboso, ¿como vuestro magnifico corazón no se enternece viendo arrodillado ante vuestra sublimada presencia a la coluna y sustento de la andante caballeria? - Oyendo lo qual otra de las dos dijo: <?page no="338"?> - Mas jo que te estrego burra de mi suegro: mirad con que se vienen los señoritos ahora a hacer burlas de las aldeanas, como se aqui no supiésemos echar pullos como ellos: vayan su camino, y déjenmos hacer el nueso, y serles ha sano. - - Levántate, Sancho, dijo a este punto Don Quijote, que ya veo que la fortuna, de mi mal no harta, tiene tomados los caminos todos por donde pueda venir algun contento a esta anima mesquina que tengo en las carnes. Y tu, o extremo valor que puede desearse, termino de la humana gentileza, unico remedio de esto afligido corazón que te adora, ya que el maligno encantador me persigue, y ha puesto nubes y cataratas en mis ojos, y para solo ellos y no para otros ha mudado y transformado tu sin igual hermosura y rostro en el de una labradora pobre, si ya tambien el mio no le ha cambiado en el de algun vestiglo para hacerle aborrecible a tus ojos, no dejes de mirarme blanda y amorosamente, echando de ver en esta sumisión y arrodillamiento que a tu contrahecha hermosura hago, la humildad con que mi alma te adora. - - Toma que mi aguelo, respondió la aldeana, amiguita soy yo de oir resquebrajos. Apártense y déjenmos ir, y agradecérselo hemos. - Apartóse Sancho y dejola ir, contentisimo de haber salido bien de su enredo. Apenas se vió libre la aldeana que habia hecho la figura de Dulcinea cuando picando a su cananea con un aguijon que en un palo traia, dió a correr por el prado adelante; y como la borrica sentia la punta del aguijón, que le fatigaba mas de lo ordinario, comenzó à dar corcovos, de manera que dió con la señora Dulcinea en tierra: lo cual visto por D. Quijote, acudió a levantarla, y Sancho à componer y cinchar el albarda, que tambien vino a la barriga de la pollina. Acomodada pues el albarda, y queriendo D. Quijote levantar a su encantada señora en los brazos sobre la jumenta, la señora levantándose del suelo le quitó de aquel trabajo, porque haciendose algun tanto atrás tomó una corridica, y puestas ambas manos sobre las ancas de la pollina dió con su cuerpo mas ligero que un halcón sobre la albarda, y quedó a horcajadas como si fuera hombre, y entonces dijo Sancho: - Vive Roque, que es la señora nuestra ama mas ligera que un alcotán, y que puede enseñar a subir de la gineta al mas diestro Cordobés o Mejicano; el arzón trasero de la silla pasó de un salto, y sin espuelas hace correr la hacanea como una cebra, y no le van en zaga sus doncellas, que todas corren como el viento! - Y asi era la verdad, porque en viendose a caballo Dulcinea todas picaron tras ella y dispararon a correr, sin volver la cabeza atrás por espacio de mas de media legua. Siguiólas D. Quijote con la vista, y cuando vió que no parecian, volviendose a Sancho le dijo: --Sancho, ¿qué te parece, cuan mal quisto soy de encantadores? -… 338 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="339"?> ÜBERSETZUNG VON LUDWIG TIECK Ich sehe nichts, Sancho, sagte Don Quixote, als drei Bäuerinnen auf drei Eseln. Nun, so mag mich Gott vom Teufel erlösen! antwortete Sancho; aber ist es denn möglich, daß Ihr die drei Zelter, oder wie sie heißen mögen, die so weiß sind wie der frisch gefallene Schnee, für Esel halten könnt? Meiner Seele, den Bart würde ich mir ausreißen, wenn das die Wahrheit wäre! Ich sage dir aber, Freund Sancho, sagte Don Quixote, daß dieses so gewiß Esel oder Eselinnen sind, als ich Don Quixote bin, oder du Sancho bist; zum mindesten erscheinen sie mir so. Schweigt doch, gnädiger Herr, sagte Sancho, und sprecht nicht dergleichen Worte, sondern putzt Euch die Augen, und kommt, um der Dame Eurer Gedanken die Reverenz zu bezeigen; denn sie ist schon ganz nahe. Und mit diesen Worten entfernte er sich, um den Bäuerinnen entgegenzugehen; er stieg vom Grauen ab, faßte den Esel des einen Mädchens beim Zaum, ließ sich mit beiden Knien zur Erde nieder, und sprach: Königin und Prinzessin und Herzogin der Schönheit, Eure Hochmütigkeit und Größe sei von der Gnade, zu ihrem Dienste und Wohlgefallen jenen Euren gefangenen Ritter aufzunehmen, der dort wie ein Marmorstein steht, so verwirrt und ohne Leben sich in Eurer kostbaren Gegenwart zu befinden. Ich bin Sancho Pansa, sein Stallmeister; er aber ist der übermüdete Ritter Don Quixote von la Mancha, mit einem andern Namen genannt der Ritter von der traurigen Gestalt. Jetzt hatte sich Don Quixote auch knieend neben Sancho niedergeworfen, und schaute mit hervorstarrenden Augen und verwirrtem Blicke diejenige an, die Sancho Königin und Gebieterin nannte: und da er nichts als ein Bauernmädchen gewahr wurde, und zwar von nicht anmutigem Ansehen, denn sie hatte ein rundes Gesicht mit einer plattgedrückten Nase, so blieb er voll Erstaunen und Verwunderung, ohne es zu wagen, die Lippen zu öffnen. Die Bauernmädchen waren ebenfalls nicht wenig betroffen, da sie diese beiden so verschiedenen Leute sahen, die vor ihnen niederknieten, und ihre Gefährtin nicht fortlassen wollten. Die Angehaltene brach zuerst das Stillschweigen, und sagte sehr unwillig und verdrießlich: Marsch da! aus dem Wege, zum Henker! Laßt uns gehen, denn wir haben keine Zeit übrig! Worauf Sancho antwortete: O Prinzessin und Universaldame von Toboso, wird denn Euer großmütiges Herz nicht gerührt, wenn es vor Eurer sublimierten Gegenwart die Säule und Stütze der irrenden Ritterschaft knieen sieht? Als dies eine von den andern beiden hörte, sagte sie: Sieh doch, das fehlte mir noch; ja, links um die Ecke! Da kommen die Kerlchen her, um sich mit XIV Die verzauberte Dulcinea 339 <?page no="340"?> Bauernmädchen einen Spaß zu machen, als wenn wir hier nicht auch die Kunst könnten, einem etwas abzugeben. Schert Euch Eurer Wege, und laßt uns auf unserem gehen, das wird Euch gesund sein. Stehe auf, Sancho, sagte hierauf Don Quixote; denn ich sehe, daß das Glück, noch meiner Leiden nicht gesättigt, alle Wege versperrt, auf denen einige Lust zu dieser entmuteten Seele kommen könnte, die in meinem Fleisch wohnt. Und du, o Ausbund aller Trefflichkeit, die man nur wünschen kann, du Gipfel der menschlichen Vollendung, du einziges Labsal dieses gekränkten Herzens, welches dich verehrt, wenn auch jener boshafte Zauberer mich verfolgt, und mir mit Wolken und Nebel die Augen verhüllt hat, so daß er einzig für sie und nicht für andere deine unvergleichliche Schönheit und dein Antlitz in die Gestalt einer armseligen Bäuerin entstellt und verwandelt hat: hat er meine Gestalt nicht auch vielleicht gegen die eines Gespenstes vertauscht, um mich in deinen Augen abscheulich zu machen, so blicke zärtlich und liebevoll auf mich herab; betrachte in dieser kniegebeugten Unterwerfung, die ich deiner entstellten Schönheit erweise, die Demütigkeit, mit welcher meine Seele dich vergöttert! Da hat’s mir auch weh getan, antwortete das Bauernmädchen; als wenn es mir pluzierlich wäre, mit mir kurassieren zu lassen; marsch weg da, daß wir fort können, und Gottes Lohn dafür! Sancho ließ sie frei, sehr zufrieden, daß er so gut aus seiner Verwicklung losgekommen sei. Kaum sah sich die Bäuerin, welche die Dulcinea vorgestellt hatte, befreit, als sie ihren Zelter mit einem Stachel spornte, den sie vorn an einem Stocke hatte, und schnell fort über die Wiese rannte; da aber der Esel die Spitze des Stachels mehr als gewöhnlich fühlte, so fing er an so übermäßige Sprünge zu machen, daß er die Dame Dulcinea bald auf die Erde warf. Als dies Don Quixote sah, lief er hinzu, sie aufzuheben, Sancho aber, ihr das Reitkissen wieder zurechtzuschnallen, welches auch unter den Bauch des Füllens gerutscht war. Als das Reitkissen zurechtgemacht war, und Don Quixote seiner bezauberten Dame in seinen Armen auf den Esel helfen wollte, stand die Dame vom Boden auf, und überhob ihn dieser Mühe; denn sie trat ein Weniges zurück, setzte sich in einen Galopp, stemmte beide Hände auf die Hüften des Füllens, und schwang sich leichter als ein Falke mit dem Körper in den Sattel, wo sie wie ein Mann mit geteilten Beinen sitzen blieb. Sancho rief hierauf aus: Hol mich der Satan, unsere Beherrscherin und Dame ist so leicht wie ein Vogel, die kann dem geschicktesten Corduaner oder Mexikaner im Voltigieren Unterricht geben! Mit einem einzigen Sprunge ist sie im Sattel, und läßt nun ohne Sporen den Zelter wie ein Zebra laufen, und ihre Jungfrauen geben ihr auch nichts nach, denn da fliegen sie alle wie der Wind hin. Und dies war in der Tat der Fall; denn da sich Dulcinea wieder 340 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="341"?> beritten sah, eilten sie ihr alle nach und so im schnellsten Laufe davon, ohne in einer halben Meile den Kopf wieder umzuwenden. Don Quixote folgte ihnen mit den Augen, und als sie endlich verschwunden waren, wandte er sich zu Sancho, und sagte: Sancho, was meinst du nun? wie sehr bin ich doch von Zauberern gehaßt! * Dies ist ein Stück aus dem zehnten Kapitel des zweiten Teils von Cer‐ vantes’ Don Quijote. Der Ritter hat Sancho Pansa in den Ort El Toboso gesandt, um Dulcinea aufzusuchen und ihr seinen Besuch anzukündigen. Sancho, durch frühere Lügen verstrickt, und in großer Verlegenheit, wie er die imaginäre Dame finden soll, beschließt seinen Herrn zu betrügen. Er wartet eine Weile vor dem Ort, lange genug, um Don Quijote glauben zu lassen, er habe seinen Auftrag ausgeführt; wie er alsdann drei Bäuerinnen auf Eseln herausreiten sieht, kehrt er eilig zu ihm zurück und meldet, Dulcinea mit zwei ihrer Damen komme ihn zu begrüßen. Er zieht den von Überraschung und Freude überwältigten Ritter mit sich, den Bäuerinnen entgegen, indem er in glühenden Farben ihre Schönheit und die Pracht ihres Aufzuges schildert; doch sieht Don Quijote diesmal nichts als die Wirklichkeit, nämlich drei Bäuerinnen auf Eseln - und so entwickelt sich die Szene, die wir abgedruckt haben. Unter den vielen Episoden, die ein Zusammenprallen der Illusion Don Quijotes mit einer alltäglichen und der Illusion entgegengesetzten Wirklich‐ keit darstellen, hat diese einen besonderen Rang. Zunächst deshalb, weil es sich um Dulcinea selbst handelt, die ideale und unvergleichliche Herrin sei‐ nes Herzens; es ist der Höhepunkt seiner Illusion und seiner Enttäuschung, und obgleich er auch diesmal einen Ausweg findet, um die Illusion zu retten, so ist doch der Ausweg (Dulcinea ist verzaubert) so schwer erträglich, daß fortan all seine Gedanken auf das Ziel ihrer Rettung und Entzauberung gerichtet sind; die Einsicht oder Ahnung, daß dies nie gelingen wird, ist, in den letzten Kapiteln des Buches, die unmittelbare Vorbereitung seiner Krankheit, seiner Befreiung von der Illusion und seines Todes. Sodann ist die Szene dadurch ausgezeichnet, daß hier zum ersten Male die Rollen vertauscht erscheinen: bis dahin war es Don Quijote gewesen, der die Erscheinungen des alltäglichen Lebens, die ihm begegneten, spontan im Sinne der Ritterromane auffaßte und verwandelte, indes Sancho zumeist zweifelte und oft zu widersprechen, die absurden Handlungen seines Herrn zu verhindern suchte; nun ist es umgekehrt, Sancho improvisiert eine XIV Die verzauberte Dulcinea 341 <?page no="342"?> Romanszene, während Don Quijotes Fähigkeit, die Ereignisse nach seiner Illusion zu verwandeln, vor der rohen Gewöhnlichkeit des Anblicks der Bäuerinnen versagt. Das alles scheint höchst bedeutend; so wie wir es (absichtlich) hier dargestellt haben, klingt es traurig, bitter, und beinahe tragisch. Aber wenn wir nur einfach Cervantes’ Text lesen, so lesen wir eine Posse, und sie ist überwältigend komisch. Viele Illustratoren haben das Bild festgehalten: Don Quijote, neben Sancho kniend, mit weit aufgerissenen Augen und verwirrtem Gesicht auf das häßliche Schauspiel starrend, das sich ihm bietet. Doch gibt erst der Stilgegensatz der Reden und die groteske Bewegung am Schluß (Fall und Erhebung Dulcineas) den vollen Genuß am Geschehenden. Der Stilgegensatz der Reden entwickelt sich nur allmählich, da die Bäuerinnen zuerst viel zu verblüfft sind. Dulcineas erste Worte, in denen sie den Weg freizugeben verlangt, sind noch gemäßigt. Erst in den späteren Reden der Bäuerinnen erscheinen die Perlen ihrer Beredsamkeit. Als Vertreter des ritterlichen Stils tritt zunächst Sancho auf, und es ist auf überraschende Weise lustig zu sehen, wie vorzüglich er seine Rolle spielt. Er springt vom Esel, wirft sich den Frauen zu Füßen, und spricht, als habe er sein Leben lang nichts anderes gehört als den Jargon der Ritterromane. Anrede und Syntax, Metaphern und Epitheta, Beschreibung der Haltung seines Herrn und Flehen um Gnade: das alles gelingt vorzüglich, obwohl er nicht lesen kann, und seine Bildung nur dem Vorbild Don Quijotes verdankt. Er hat auch Erfolg damit, wenigstens insofern er seinen Herrn nach sich zieht: Don Quijote kniet neben ihm nieder. Man könnte sich vorstellen, daß es hier zu einer schrecklichen Krise käme. Dulcinea ist wirklich la señora de sus pensamientos, das Urbild der Schönheit, der Sinn seines Lebens. Seine Erwartung so zu spannen, und sie dann so zu enttäuschen, das ist kein ungefährliches Experiment; es könnte einen Choc hervorrufen, der viel tieferen Wahnsinn zur Folge hätte; es könnte auch, durch den Choc, zur Heilung, zur augenblicklichen Befreiung von der fixen Idee führen. Nichts von beidem geschieht. Don Quijote überwindet den Choc. Er findet in seiner fixen Idee selbst einen Ausweg, der ihn sowohl vor Verzweiflung wie vor Heilung bewahrt: Dulcinea ist verzaubert. Dieser Ausweg findet sich jedesmal, sobald die äußere Lage in unüberwindbaren Gegensatz zur Illusion tritt; er gestattet Don Quijote in der Haltung des edlen und unüberwindbaren Helden zu verharren, den ein mächtiger und auf seinen Ruhm neidischer Zauberer verfolgt. In diesem ausgezeichneten Falle, bei Dulcinea, ist der Gedanke einer so häßlichen und 342 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="343"?> gemeinen Verzauberung gewiß schwer zu ertragen; immerhin kann der Lage mit Mitteln begegnet werden, die im Bezirke der Illusion zu Gebote stehen, nämlich mit den ritterlichen Tugenden der unwandelbaren Treue, der hingebenden Opferbereitschaft und der bedenkenlosen Tapferkeit. Zudem steht fest, daß zuletzt die Tugend siegt; das glückliche Ende ist gewährleistet. Sowohl Tragödie wie Heilung sind vermieden. Und so beginnt Don Quijote, nach kurzer Verwirrung, zu sprechen. Er richtet seine Worte zunächst an Sancho; sie zeigen, daß er sich zurechtgefunden, die Lage nach seiner Illusion interpretiert hat; diese Interpretation hat sich schon so fest in ihm kristallisiert, daß selbst die kräftige Redensartlichkeit die unmittelbar davorstehenden Worte einer der Bäuerinnen, so grell sie auch mit dem hohen Stil ritterlicher Sitte kontrastieren, seine Haltung nicht mehr in Frage zu stellen vermag; Sanchos List ist gelungen. Der zweite Satz Don Quijotes richtet sich an Dulcinea. Er ist wunderschön. Wir haben eben gesagt, wie geschickt und lustig Sancho den Stil der Ritterromane, den er seinem Herren abgelernt hat, zu ge‐ brauchen weiß; hier zeigt sich, welch einen Meister er zum Lehrer hatte. Der Satz beginnt, wie ein Gebet, mit einer beschwörenden Anrufung (invocatio); sie ist dreifach abgestuft (extremo del valor …, termino …, unico remedio …), und zwar auf eine sehr wohlberechnete Weise, indem zuerst eine absolute Vollkommenheit, sodann eine solche unter den Menschen, schließlich die besondere persönliche Ergebenheit des Redenden hervorgehoben wird; zusammengehalten wird das dreiteilige Gebilde durch die Anfangsworte y tu, und es endet, in seinem dritten, weit ausgeschwungenen Teile mit dem rhythmisch zwar konventionellen, aber doch herrlich sich einfügenden corazón que te adora; hier ist, in Inhalt, Worten und Rhythmen, das Haupt‐ thema, das am Schluß erscheint, schon angedeutet; so daß ein Übergang geschaffen ist zu der auf solche invocatio obligat erwarteten supplicatio, für die der optative Hauptsatz (no dejes de mirarme …) reserviert ist - der aber noch lange auf sich warten läßt. Zunächst kommt ein vielfältiges, gestuftes, gegen invocatio und supplicatio dramatisch kontrastierendes, konzessives Gebilde: ya que …, y …, y …, si ya tambien …; sein Sinn ist «und mag auch», und sein rhythmischer Gipfel liegt in der Mitte des ersten (ya que) Teiles, in den stark herausgehobenen Worten y para solo ellos. Erst nachdem die ganze dramatisch-melodische Herrlichkeit des Konzessivsatzes verklungen ist, darf der so lange zurückgehaltene Hauptsatz mit der supplicatio erscheinen, und auch er hält noch zurück, häuft noch Paraphrasen und Pleonasmen, bis endlich das Hauptmotiv herauskommt, auf welches der ganze lange XIV Die verzauberte Dulcinea 343 <?page no="344"?> Satz gezielt hat, die Worte, die Don Quijotes gegenwärtige Haltung und sein ganzes Leben symbolisieren sollen: la humildad con que mi alma te adora. Das ist der Stil, den Sancho schon im ersten Teil, im 25. Kapitel, wenn Don Quijote ihm seinen Brief an Dulcinea vorliest, so sehr bewundert: … y como que le dice vuestra merced ahi todo cuanto quiere, y qué bien que encaja en la firma El Caballero de la Triste Figura. Aber die Rede hier ist unvergleichlich schöner, und bei aller Kunst nicht so kleinlich preziös wie der Brief. Solche rhythmen- und bilderreichen, schön gegliederten und musikartigen Bravourstücke der höfischen Rhetorik - die aber doch auch in der antiken Überlieferung gegründet sind - liebt Cervantes sehr, und er ist ein Meister darin; er ist auch in dieser Hinsicht nicht nur ein Kritiker und Zerstörer, sondern ein Fortsetzer und Vollender der großen episch-rhetorischen Tradition, für die auch Prosa eine geregelte Kunst ist. Sobald es sich um große Gefühle und Leidenschaften, oder auch um erhabene Ereignisse handelt, so tritt dieser hohe Stil, mit all seinen Künsten, in Erscheinung; zwar ist er, durch lange Konvention, schon ein wenig vom Hochtragischen ins Liebliche, Geschmeidige und ein ganz klein wenig Selbstironische übergegangen, doch noch herrscht er auch im Ernsten; wenn man etwa die Anrede Doroteas an ihren ungetreuen Geliebten liest, im 36. Kapitel des ersten Teiles, mit ihren vielen Figuren, Bildern und rhythmischen Klauseln, so fühlt man, daß dieser Stil auch im Ernsthaften und Tragischen noch lebendig ist. Hier aber, vor Dulcinea, dient er nur der Kontrastwirkung; die schnöde und rohe Antwort der Bäuerin erst gibt ihm seinen Sinn; wir sind im niederen Stil, und die hohe Rhetorik Don Quijotes dient nur dazu, den komischen Stilbruch zu voller Wirkung zu bringen. Cervantes ist auch damit noch nicht zufrieden, er fügt zu dem Stilbruch der Reden noch ein äußerstes an Stilbruch in der Handlung, indem er Dulcinea vom Esel fallen und mit grotesker Fixigkeit wieder auf denselben springen läßt, während Don Quijote noch immer bemüht ist, den ritterlichen Stil aufrechtzuerhalten. Daß er so fest in seiner Illusion steckt, so daß ihn weder Dulcineas Replik noch die Eselszene irremachen kann, ist der Gipfel des Possenhaften. Selbst Sanchos überschäumende Lustigkeit (Vive Roque …), die doch eigentlich eine Frechheit ist, kann ihm nichts anhaben. Er blickt den davonreitenden Bäuerinnen nach, und als sie verschwunden sind, wendet er sich an Sancho mit Worten, die weit weniger Traurigkeit oder Verzweiflung ausdrücken, als eine Art triumphierender Befriedigung darüber, daß er zur Zielscheibe der schlimmsten Künste der bösen Zauberer geworden ist; das gibt ihm die 344 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="345"?> Möglichkeit, sich als ein Einziger, Ausgezeichneter zu fühlen, und zwar in einer Weise, die vorzüglich in die Konvention der abenteuernden Ritter sich einfügt: yo naci para ejemplo de desdichados, y para ser blanco y terrero donde tomen la mira y asesten las flechas de la mala fortuna. Und seine Beobachtung, die er nun äußert, daß die böse Zauberei sich auch auf den Duft Dulcineas erstrecke - denn ihr Atem sei unerfreulich gewesen - kann seiner Illusion ebensowenig etwas anhaben wie Sanchos groteske Beschreibung von Einzelheiten ihrer Schönheit. Sancho, ermutigt durch den vollständigen Erfolg seines Anschlags, ist nun richtig in Schwung gekommen, und spielt mit der Narrheit seines Herrn zu seinem eigenen Vergnügen. Wir suchen in unserer Schrift nach Darstellungen des alltäglichen Lebens, in denen dieses ernsthaft, in seinen menschlichen und gesellschaftlichen Problemen, oder sogar in seinen tragischen Verwicklungen dargestellt wird. Ohne Zweifel ist unsere Szene realistisch; alle handelnden Personen werden in einer aktuellen Wirklichkeit und in ihrer lebendig-alltäglichen Existenz vorgeführt; nicht nur die Bäuerinnen, sondern auch Sancho, ja nicht nur Sancho, sondern auch Don Quijote erscheinen als Personen der zeitgenössischen spanischen Lebenssphäre. Denn daß Sancho ein freches Spiel spielt, und Don Quijote in seiner Illusion befangen ist, enthebt beide nicht ihrer alltäglichen Existenz; Sancho ist ein Bauer aus der Mancha, und Don Quijote eben nicht Amadis oder Roland, sondern ein kleiner Landjunker, der den Verstand verloren hat. Man mag allenfalls sagen, daß die Narrheit den Hidalgo in eine andere, imaginäre Lebenssphäre versetzt; aber auch dann bleibt der alltägliche Charakter unserer Szene und ähnlicher Vorgänge gewahrt, da ja die Personen und Vorgänge des alltäglichen Lebens fortwährend in Gegensatz zu jener Narrheit treten, und durch den Gegensatz um so schärfer herausgearbeitet erscheinen. Viel schwieriger ist es, die Höhenlage der Szene, und des Romans über‐ haupt, auf der Skala zwischen Tragik und Komik zu bestimmen. So wie sie dasteht, ist die Geschichte mit den drei Bäuerinnen nichts anderes als komisch. Der Gedanke, Don Quijote mit einer konkreten Dulcinea zusammentreffen zu lassen, ist Cervantes sicher schon gekommen, als er den ersten Teil des Romans schrieb; sie auf einem Täuschungsmanöver Sanchos aufzubauen, so daß die Rollen vertauscht erscheinen, ist ein genialer Einfall, und er ist so vorzüglich durchgeführt, daß die Posse, trotz der verwickelten Absurdität aller Voraussetzungen und Beziehungen, als etwas Natürliches und sogar notwendig sich Ergebendes vor den Leser tritt. Aber eine Posse ist es unbedingt. Wir haben oben zu zeigen versucht, daß bei der einzigen XIV Die verzauberte Dulcinea 345 <?page no="346"?> beteiligten Person, für die die Möglichkeit einer Wendung ins Problemati‐ sche und Tragische besteht, bei Don Quijote, diese Wendung durchaus vermieden wird. Seine fast augenblickliche und gleichsam automatisch funktionierende Zuflucht zur Interpretation der Verzauberung Dulcineas schaltet das Tragische aus. Er wird übertölpelt, und diesmal sogar von Sancho; er kniet und peroriert im hohen Gefühlsstil vor ein paar häßlichen Bauernweibern; und nachher rühmt er sich seines erhabenen Unglücks. Aber Don Quijotes Gefühl ist wahr und tief. Dulcinea ist wirklich die Herrin seiner Gedanken, er ist wirklich erfüllt von einer Mission, die er als die höchste Pflicht des Menschen ansieht; er ist wirklich treu, tapfer, und zu jedem Opfer bereit. Ein so unbedingtes Gefühl und eine so unbedingte Entschlossenheit erzwingen auch dann Bewunderung, wenn sie auf einer närrischen Illusion beruhen, und diese Bewunderung hat Don Quijote auch bei fast allen Lesern gefunden. Es wird nur wenige Liebhaber literari‐ scher Kunst geben, die nicht mit Don Quijote die Vorstellung idealischer Größe verbinden; zwar absurd, abenteuerlich, grotesk, aber eben doch idealisch, unbedingt und heldenhaft. Insbesondere seit der Romantik ist diese Vorstellung fast allgemein geworden, und sie erhält sich auch gegen die philologische Kritik, insofern diese zu beweisen sucht, daß Cervantes einen solchen Eindruck nicht beabsichtigte. Die Schwierigkeit liegt in dem Umstand, daß in der fixen Idee Don Qui‐ jotes das Edle, Reine und Erlösende mit dem absolut Sinnlosen verbunden ist. Ein tragischer Kampf für das Ideale und Wünschbare kann zunächst nur in der Weise vorgestellt werden, daß er in den wirklichen Zustand der Dinge sinnvoll eingreift, diesen erschüttert und bedrängt; so daß gegen das sinnvoll Idealische ein ebenso sinnvoller Widerstand entsteht, ausgehend sei es von der Trägheit, der kleinlichen Bosheit und dem Neid, sei es auch von einer mehr konservativen Einsicht. Der idealische Wille muß mit der bestehenden Wirklichkeit mindestens so weit in Einklang stehen, daß er sie treffen kann, so daß beide ineinandergreifen und ein wirklicher Konflikt entsteht. Don Quijotes Idealismus ist nicht von dieser Art. Er beruht nicht auf einer Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse der Welt; Don Quijote hat zwar eine solche Einsicht, aber sie verläßt ihn, sobald der Idealismus der fixen Idee von ihm Besitz ergreift. Alles, was er dann tut, ist vollkommen sinnlos, und so unvereinbar mit der bestehenden Welt, daß es in ihr nichts bewirkt als komische Verwirrung. Es hat nicht nur keine Aussicht auf Erfolg, sondern findet überhaupt keinen Ansatzpunkt in der Wirklichkeit; es trifft ins Leere. 346 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="347"?> Man kann den gleichen Gedanken noch auf eine andere Weise entwickeln, so daß noch weitere Folgerungen sichtbar werden. Das Thema des edlen und tapferen Narren, welcher auszieht, um sein Ideal zu verwirklichen und die Welt zu verbessern, könnte so gefaßt werden, daß die in der Welt bestehenden Probleme und Konflikte dabei zur Erscheinung und zum Austrag kämen. Ja die Reinheit und Unmittelbarkeit des Narren könnte, auch ohne konkrete Absicht auf Wirkung, von der Art sein, daß überall, wo er erscheint, er spontan und absichtslos ins Herz der Dinge trifft, so daß die schwebenden oder verborgenen Konflikte aktuell werden; man denke an Dostojewskis Idioten. Dabei könnte es geschehen, daß der Narr sich selbst in Verantwortung und Schuld verwickelt, so daß er auf diese Art tragisch würde. Nichts der Art geschieht in Cervantes’ Roman. Die Begegnung mit Dulcinea ist insofern kein passendes Beispiel für die Beziehung Don Quijotes zur konkreten Wirklichkeit, als es sich nicht, wie sonst, um Durchsetzung seines idealen Willens im Kampf gegen die‐ selbe, sondern um Anblick und Anbetung des inkarnierten Ideals handelt. Dennoch ist auch diese Begegnung symbolisch für das gedachte Verhältnis des närrischen Ritters zu den Erscheinungen dieser Welt. Man muß sich erinnern, was für überlieferte Vorstellungen in dem Motiv der Dulcinea enthalten waren, und wie diese noch in Sanchos und Don Quijotes grotesk erhabenen Worten mitklingen. La señora de sus pensamientos, extremo del valor che puede desearse, termino de la humana gentileza, und so fort: darin das platonische Urbild des Schönen, die hohe Minne, die donna gentile des Süßen Neuen Stils, Beatrice, la gloriosa donna della mia mente. Und all diese Munition wird verschossen auf ein paar häßliche und gewöhnliche Bauernweiber. Sie trifft ins Leere. Don Quijote kann weder gnadenvoll aufgenommen noch verstoßen werden; es gibt nichts als lustig sinnlose Verwirrung. Um in dieser Szene etwas Ernstes oder einen verborgenen tieferen Sinn zu sehen, müßte man sie gewaltsam überdeuten. Die drei Weiber sind fassungslos und machen sich davon so schnell sie können; das ist eine Wirkung, die Don Quijotes Auftreten häufig hervorruft. Oft kommt es auch zu Auseinandersetzungen und Prügeleien; die Leute werden wütend, wenn er ihnen mit seinem Unsinn ins Gehege kommt. Sehr oft geschieht es auch, daß sie auf seine fixe Idee eingehen, um sich einen Spaß daraus zu machen. Schon der Wirt und die Dirnen bei seinem ersten Auszug reagieren auf diese Weise; später geschieht das gleiche mit der Gesellschaft im zweiten Wirtshaus, mit dem Pfarrer und dem Barbier, Dorotea und Don Fernando, ja sogar mit Maritornes; wobei zwar einige den Scherz benutzen XIV Die verzauberte Dulcinea 347 <?page no="348"?> wollen, um den Ritter sicher wieder nach Hause zu bringen, aber es doch viel weiter treiben, als für die praktische Absicht erforderlich wäre. Im zweiten Teil baut der Lizentiat Sanson Carrasco seinen Heilungsplan auf das Spiel mit der fixen Idee, und späterhin, bei dem Herzog und in Barcelona, wird Don Quijotes Narrheit methodisch zum unterhaltenden Zeitvertreib benutzt, so daß überhaupt kaum echte Abenteuer geschehen, sondern nur noch gestellte, das heißt solche, die, zur Belustigung der Veranstalter, für die Narrheit des Ritters eigens präpariert werden. In all dieser Fülle der Re‐ aktionen, im ersten wie im zweiten Teile, fehlt eines vollkommen: tragische Verwicklungen und ernste Folgen. Selbst das satirische und zeitkritische Element ist sehr schwach: wenn man vom rein literarkritischen absieht, fehlt es fast ganz; es beschränkt sich auf kurze Bemerkungen oder gelegentliche Karikaturen von Typen (etwa der Geistliche am Hofe des Herzogs); es ist niemals grundsätzlich, und es ist in seiner Haltung gemäßigt. Vor allem sind es nicht etwa Quijotes Abenteuer, durch die irgendwelche grundsätzlichen Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft aufgedeckt würden. Seine Tä‐ tigkeit deckt gar nichts auf. Sie ist ein Anlaß, das spanische Leben in bunter Fülle vorzuführen; in den mannigfaltigen Zusammenstößen Don Quijotes mit der Wirklichkeit ergibt sich niemals eine Lage, die diese Wirklichkeit in ihrem Lebensrecht in Frage stellt: sie hat immer gegen ihn recht, und nach einiger lustiger Verwirrung fließt sie gleichmütig und unangetastet weiter. Eine einzige Szene gibt es, wo das zweifelhaft erscheinen könnte: das ist die Befreiung der Galeerensklaven, im 22. Kapitel des ersten Teiles. Hier greift Don Quijote in die Rechtsordnung ein, und man findet bei manchen Kritikern die Meinung vertreten, er tue das im Namen einer höheren Moral. Solche Auffassung ist verständlich, denn gewiß ist der Satz, den Don Quijote ausspricht: allá se lo haya cada uno con su pecado, Dios hay en el cielo que no se descuida de castigar al malo, ni de premiar al bueno, y no es bien que los hombres honrados sean verdugos de los otros hombres, no yéndoles nada en ello - gewiß ist solch ein Satz höheren Ranges als jedes geltende Recht. Aber eine solche «höhere Moral» muß Folgerichtigkeit und Methode haben, wenn sie ernst genommen werden soll. Wir wissen jedoch, daß Don Quijote gar nicht daran denkt, die Rechtsordnung grundsätzlich anzugreifen; er ist weder ein Anarchist noch ein Prophet des Gottesreiches; es zeigt sich vielmehr immer wieder, daß er sich, sobald seine fixe Idee nicht im Spiele ist, gern ins Gegebene einfügt, und daß er eben nur in der fixen Idee für den fahrenden Ritter eine Sonderstellung beansprucht. Jene schönen Worte: allá se lo haya etc. sind zwar tief gegründet in der gütigen 348 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="349"?> Weisheit seines eigentlichen Wesens (darauf kommen wir noch zurück), aber an dieser Stelle sind sie doch nur eine Improvisation; was ihn dazu bestimmt, die Gefangenen zu befreien, ist die fixe Idee; sie treibt ihn dazu, alles was ihm begegnet, als Gegenstand eines ritterlichen Abenteuers aufzufassen; sie liefert ihm die Motive «Hilfe für die Bedrängten» oder «Befreiung der gewaltsam Verschleppten»; und danach handelt er. Mir scheint es ganz verkehrt, hier etwas Grundsätzliches, etwas wie einen Konflikt zwischen natürlich-christlichem und positivem Recht sehen zu wollen. Für solch einen Konflikt wäre es ja schließlich auch erforderlich, daß ein Gegner aufträte, der, wie der Großinquisitor bei Dostojewski, berechtigt und willens wäre, das Prinzip des positiven Rechtes gegen Don Quijote zu vertreten. Der Kommissar, der den Gefangenentransport führt, ist dafür ungeeignet und auch nicht dazu bereit; vielleicht ist er, als Privatperson, durchaus zugänglich für den Gedankengang «Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet». Aber er hat ja gar nicht gerichtet, er repräsentiert ja gar nicht das positive Recht. Er hat seine Instruktion, und mit vollem Recht beruft er sich auf sie. Alles findet ein heiteres Ende, und immer wieder werden die Schäden, die Don Quijote anrichtet oder erleidet, als komische Verwirrung mit stoischem Witz behandelt. Selbst der bachiller Alonso Lopez, der übel zugerichtet, mit eingezwängtem Bein, unter seinem Maultier am Boden liegt, tröstet sich mit spöttischen Wortspielen. Diese Szene findet sich im 19. Kapitel des ersten Buches; sie zeigt auch, daß die fixe Idee Don Quijote davor bewahrt, sich für das, was er anrichtet, verantwortlich zu fühlen; so daß auch für sein Gewissen jeder tragische Konflikt und jede ernsthafte Verdüsterung ausgeschaltet wird. Er hat nach den Regeln der fahrenden Ritterschaft gehandelt, damit ist er gerechtfertigt; er beeilt sich zwar, dem bachillero zu helfen, denn er ist ein guter und hilfsbereiter Mensch, aber es fällt ihm nicht ein, sich schuldig zu fühlen. Ebensowenig fühlt er sich schuldig, wenn der Pfarrer, zu Beginn des 30. Kapitels, um ihn zu prüfen, von bösen Folgen erzählt, die die Befreiung der Sträflinge gehabt habe; er sagt zornig, es sei die Pflicht der fahrenden Ritter, den Bedrängten zu helfen, nicht aber zu prüfen, ob sie zu Recht oder Unrecht litten; und damit ist die Frage für ihn erledigt. Im zweiten Teil, dessen Heiterkeit noch freier und eleganter ist, gibt es solche Verwicklungen überhaupt nicht mehr. Es findet sich also sehr wenig von Problematik und Tragik in Cervantes’ Buch - obwohl es zu den Meisterwerken einer Epoche gehört, in der die europäische Problematik und Tragik sich formte. Don Quijotes Narrheit XIV Die verzauberte Dulcinea 349 <?page no="350"?> enthüllt nichts davon; das ganze Buch ist ein Spiel, in dem Narrheit lächer‐ lich wird an einer wohlgegründeten Wirklichkeit. Und doch ist Don Quijote nicht nur lächerlich; er ist nicht wie der komi‐ sche Alte oder der prahlende Soldat oder der pedantisch-unwissende Doktor. In unserer Szene wird Don Quijote von Sancho zum Narren gehalten; aber mißachtet ihn Sancho, betrügt er ihn beständig? Durchaus nicht, er betrügt ihn nur, weil er sich nicht anders helfen kann; er liebt und verehrt ihn, obwohl er sich seiner Narrheit halb und manchmal ganz bewußt ist; er lernt von ihm und will nicht von ihm lassen; er wird, in Don Quijotes Gesellschaft, klüger und besser, als er vorher war. In all seiner Narrheit bewahrt Don Quijote eine natürliche Würde und Überlegenheit, der die vielen kläglichen Mißerfolge nichts anhaben können. Er ist nicht niedrig, wie die oben erwähnten komischen Typen es gewöhnlich sind; er ist überhaupt kein Typ dieser Art, denn er ist, im ganzen, kein Automat für komische Effekte; auch er entwickelt sich und wird gütiger und weiser, während seine Narrheit noch andauert. Ist es nun so, daß es sich, im Sinne der romantischen Ironie, um eine weise Narrheit handelt? Erschließt sich ihm die Weisheit aus der Narrheit? Liefert ihm die Narrheit eine Einsicht, die er bei gesundem Ver‐ stande nie hätte gewinnen können, und spricht die Weisheit bei ihm aus der Narrheit wie bei den Narren Shakespeares oder bei Charlie Chaplin? Nein, so ist es auch nicht. Sobald die Narrheit, das heißt die fixe Idee des fahrenden Rittertums, von ihm Besitz ergreift, handelt er unweise und wie ein Automat, wie die oben genannten komischen Typen. Weisheit und Güte besitzt er unabhängig von seiner Narrheit. Zwar kann eine Narrheit wie die seine nur in einem reinen und edlen Menschen entstehen, und es ist auch wahr, daß Weisheit, Güte und Anstand durch seine Narrheit hindurchleuchten und sie liebenswert erscheinen lassen. Dennoch sind Weisheit und Narrheit bei ihm klar geschieden - anders als bei Shakespeare, den romantischen Narren und Charlie. Der Pfarrer sagt es schon im ersten Teile (30. Kapitel), später kommt es immer wieder zum Ausdruck: nur wo seine fixe Idee hineinspielt, ist er närrisch, sonst aber ein normaler und ein sehr gescheiter Mensch. Seine Narrheit ist nicht von der Art, daß sie sein ganzes Wesen ausmacht und ganz mit diesem identisch ist; eine fixe Idee hat ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt ergriffen, sie läßt auch dann noch Teile seines Wesens frei, so daß er in vielen Fällen handelt und spricht wie ein Gesunder, und eines Tages, kurz vor seinem Tode, verläßt sie ihn wieder. Er war etwa fünfzig Jahre alt, als er, unter dem Einfluß übermäßigen Lesens von Ritterromanen, seinen absurden Plan faßte. Das ist seltsam. Man sollte eine von einsamer 350 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="351"?> Lektüre genährte Überspanntheit eher bei einem ganz jungen Menschen für möglich halten ( Julien Sorel, Madame Bovary), und man ist versucht, nach einer besonderen psychologischen Erklärung zu fragen: wie ist es möglich, daß ein Fünfziger, der ein geregeltes Leben führt und einen guten, in vieler Hinsicht wohlgebildeten und ausgeglichenen Verstand besitzt, etwas so Unsinniges unternehmen kann. Cervantes macht, in den ersten Sätzen des Romans, einige Angaben über die soziale Lage seines Helden; aus ihnen läßt sich allenfalls herauslesen, daß sie ihn bedrückte, da sie ihm gar keine Mög‐ lichkeit bot für eine wirkende Tätigkeit, die seinen Fähigkeiten entsprach; er war gleichsam gelähmt durch die Beschränkungen, die ihm einerseits durch seine Standeszugehörigkeit, andererseits durch seine Armut auferlegt wurden. Man könnte also vermuten, der verrückte Entschluß sei eine Flucht aus einer unerträglich gewordenen Lage, eine gewaltsame Befreiung aus ihr. Eine solche soziologische und psychologische Erklärung ist auch in der Literatur vertreten worden; ich selbst habe sie an einer früheren Stelle dieses Buches vorgetragen, und lasse sie dort stehen, da sie in dem Zusammenhang jener Stelle ihre Berechtigung hat. Aber als Interpretation von Cervantes’ Kunstabsicht ist sie unbefriedigend, denn es ist nicht wahrscheinlich, daß er mit seinen wenigen Sätzen über Don Quijotes soziale Stellung und Lebensgewohnheiten irgendetwas wie eine psychologische Motivierung der fixen Idee geben wollte; er hätte das sonst deutlicher aussprechen und genauer durchführen müssen. Ein moderner Psychologe könnte auch noch andere Interpretationen von Don Quijotes seltsamer Narrheit finden. Aber Cervantes liegen solche Probleme fern. Er gibt auf die Frage nach den Ursachen von Don Quijotes Irrsinn keine andere Antwort als diese: er hat zu viel Ritterbücher gelesen, und sie haben ihm den Verstand verwirrt. Daß dies einem Fünfziger geschieht, läßt sich, aus Cervantes’ Werk, nur ästhetisch erklären: aus der Vision des Komischen, die ihm bei der Konzeption des Romans kam: ein langer, dürrer, ältlicher Mann, in seiner unzeitgemäßen und schäbigen Ausrüstung; wobei in solchem Bilde, neben dem Närrischen, auch das Asketische und Idealische vorzüglich ausgedrückt ist. Man muß sich damit abfinden, daß dieser kluge und gebildete Landjunker plötzlich verrückt wird, nicht infolge einer schrecklichen Erschütterung, wie Ajax oder Hamlet, sondern weil er zu viel Ritterromane gelesen hat. Das wäre, wie mir Leo Spitzer schreibt, im Einklang mit der Humoralpathologie, die das quantitative Übermaß als Krankheitsursache hervorhob: … del mucho leer se le secó el celebro de manera que vino a perder el juicio. Aber jedenfalls ist hier nichts tragisch. Wir müssen das Tragische bei der Analyse XIV Die verzauberte Dulcinea 351 <?page no="352"?> seines Irrsinns ebenso ausschalten wie die spezifisch shakespearische und romantische Verbindung von Weisheit und Narrheit, in der das eine nicht denkbar ist ohne das andere. Die Weisheit Don Quijotes ist nicht die Weisheit eines Narren; es ist der Verstand, der Edelmut, der Anstand und die Würde eines klugen und ausgeglichenen Menschen: weder dämonisch noch paradox, nicht erfüllt von Zweifel, Zwiespalt und Heimatlosigkeit in dieser Welt, sondern gleich‐ mäßig, abwägend, empfänglich, noch im Ironischen liebenswürdig und bescheiden; auch ist er eher konservativ, oder doch jedenfalls im Einklang mit den gegebenen Umständen. Das zeigt sich überall im Verkehr mit Menschen, und insbesondere im Verkehr mit Sancho Pansa, sobald, für kürzere oder längere Zeit, seine fixe Idee ruht. Von Anfang an, aber freilich weit mehr im zweiten Teil als im ersten, ist der gute und kluge, freundliche und durch natürlich-überlegene Würde ausgezeichnete Charakter, Alonso Quijano el bueno, neben dem närrischen Abenteurer vorhanden; man lese, mit welch lustig-gütiger Ironie er Sancho behandelt, wenn dieser, auf den Rat seiner Frau Teresa, im siebenten Kapitel des zweiten Teiles seine Bitte um ein festes Gehalt vorzutragen beginnt; die Narrheit greift erst ein, sobald er seine Ablehnung mit den Gewohnheiten der fahrenden Ritter begründet. Solche Stellen finden sich in Menge; überall zeigt sich, daß es einen klugen Don Quijote und einen närrischen gibt, nebeneinander, und daß die Klugheit durchaus keine dialektisch von Narrheit inspirierte ist, sondern eine normale und gleichsam durchschnittliche. Schon dies gibt eine ungewohnte Kombination; es gibt Schichten in der Tongebung, wie man sie im rein Komischen nicht gewöhnt ist. Ein Narr ist ein Narr; man ist gewöhnt, ihn auf einer einzigen Höhenlage dargestellt zu sehen, eben der des Komischen und Närrischen, womit zugleich, wenigstens in der älteren Literatur, das Niedrige und Dumme, zuweilen auch das hinterhältig Bösartige verknüpft war. Was sagt man zu einem Narren, der zugleich weise ist, von jener Weisheit, die am wenigsten mit Narrheit vereinbar zu sein scheint, nämlich der des klugen Maßes? Schon dies, das kluge Maß verbunden mit dem absurden Unmaß der fixen Idee, gibt eine Vielfältigkeit, die sich mit dem bloß Komischen nicht ganz in Einklang bringen läßt. Aber das ist längst nicht alles. Es sind ja die Flügel der Narrheit, auf denen sich die Weisheit aufschwingt, die Welt durchzieht und in ihr reicher wird; denn wäre Don Quijote nicht närrisch geworden, so hätte er sein Haus nicht verlassen. Und dann wäre auch Sancho zu Haus geblieben; er hätte seinem Wesen nicht all das abgewinnen können, was, wie wir mit 352 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="353"?> heiterem Erstaunen bemerken, in ihm angelegt war; das vielfältige Spiel zwischen den beiden, das Spiel beider in der Welt hätte nicht stattgefunden. Das Spiel ist, wie wir nun glauben gezeigt zu haben, niemals tragisch, und niemals werden die menschlichen Probleme, seien es die persönlichen des einzelnen oder die der Gesellschaft, in der Weise vor die Augen gestellt, daß wir erzittern und mitleiden; immer bleiben wir im Heiteren. Aber das Heitere ist so vielfach geschichtet wie nie zuvor. Kehren wir noch einmal zu dem Text zurück, mit dem wir begannen. Don Quijote spricht zu den Bauernweibern in einem Stil, der wirklich der hohe Stil der höfischen Liebe ist, in sich selbst keineswegs grotesk; diese Sätze sind nicht ganz so lächerlich, wie sie vielleicht heute manchen Lesern erscheinen, sondern in der damaligen Tradition, und ein Meisterstück des hohen Ausdrucks, wie er damals lebte. Wenn Cervantes beabsichtigte, gegen die Ritterbücher zu polemisieren (was er ohne Zweifel tat), so polemisierte er doch nicht gegen den hohen Stil des höfischen Ausdrucks; im Gegenteil, er wirft den Ritterbüchern vor, daß sie diesen Stil nicht beherrschen, daß sie hart und trocken geschrieben seien. Und so geschieht es, daß mitten in einer Parodie gegen die ritterliche Liebesideologie einer der schönsten Prosatexte steht, den jene Spätform der hohen Minne hervorgebracht hat. Die Bäuerinnen antworten mit bäurischer Roheit; solch ein bäurischer Stil war längst in der komischen Literatur verwendet worden (wenn auch vielleicht niemals mit so viel Maß bei so viel Verve); aber was gewiß nie geschehen war, ist dieses, daß er unmittelbar auf eine Rede folgt wie die Don Quijotes: welcher man, sobald man sie für sich betrachtet, auf keine Weise anmerken kann, daß sie in einem grotesken Zusammenhang steht. Das Motiv des Ritters, der eine Bäuerin bittet, seine Liebe zu erhören, ein Motiv, welches eine ähnliche Situation ergibt, ist uralt, es ist das Motiv der Pastorelle; es ist schon von der altprovenzialischen Dichtung gepflegt worden, und es hat, wie wir später bei Voltaire sehen werden, sehr lange gelebt. Allein in der Pastorelle haben die beiden Beteiligten sich einander angepaßt, sie verstehen einander, und es ergibt sich eine einheitliche Stillage, die auf der Grenze zwischen dem Idyllischen und dem Alltäglichen liegt. Bei Cervantes, durch die Narrheit Don Quijotes, stoßen die beiden Lebens- und Stilbezirke aufeinander, ohne jede Möglichkeit der Verbindung - jeder in sich geschlossen, durch nichts zusammengehalten als durch die heitere Neutralität des Spieles - dessen Leiter und Meister in diesem Falle Sancho ist: der ungeschickte Bauer, der eben noch fast alles glaubte, was sein Herr erzählte, der sich nie abgewöhnen wird, einiges zu glauben, der immer nur XIV Die verzauberte Dulcinea 353 <?page no="354"?> nach der Lage des Augenblicks handelt. Hier hat ihm die Verlegenheit des Augenblicks eingegeben, seinen Herrn zu betrügen, und er findet sich in die Lage des Spielleiters mit der gleichen Verve und Anpassung, wie er sich später darein finden wird, Gouverneur einer Insel zu sein. Er spielt zunächst den hohen Stil, und wechselt dann in den niederen, freilich nicht wie die Bäuerinnen, sondern überlegen, die Lage beherrschend, die er selbst, der Not gehorchend, geschaffen hat, die er aber nun in vollen Zügen genießt. Was Sancho hier tut, nämlich daß er eine Rolle übernimmt, sich ver‐ wandelt und mit der Narrheit seines Herrn spielt, das tun andere Perso‐ nen fortwährend. Don Quijotes Narrheit gibt Anlaß zu unerschöpflichen Verkleidungen und Spielkünsten: Dorotea als Prinzessin Micomicona, der Barbier als ihr Schildknappe, Samson Carrasco als irrender Ritter, Ginés de Pasamonte als Marionettenspieler: das sind nur wenige Beispiele. Solche Verwandlungen machen die Wirklichkeit zu einem unaufhörlich fortspi‐ elenden Theater - ohne daß sie doch aufhört, Wirklichkeit zu sein. Wo die Personen sich nicht freiwillig verwandeln, da ist es Don Quijote, dessen Narrheit sie verwandelt, wie es seit dem Wirt und den Dirnen im ersten Gasthaus immer wieder geschieht. Die Wirklichkeit bietet sich willig einem Spiel, das sie jeden Augenblick anders kostümiert; niemals zerstört sie die Heiterkeit des Spieles durch den schweren Ernst ihrer Nöte, Sorgen und Leidenschaften. Don Quijotes Narrheit löst das alles aus; sie macht die wirkliche, alltägliche Welt zu einer heiteren Bühne. Man wolle sich etwa die verschiedenen Abenteuer mit Frauen zurückrufen, die außer der Begegnung mit Dulcinea noch im Laufe der Erzählung vorkommen: die widerstrebende Maritornes in seinen Armen, Dorotea als Prinzessin Mico‐ micona, die Serenade der verliebten Altisidora, die nächtliche Begegnung mit der dueña Rodriguez (von der Cid Hamet Benengeli sagt, daß er sein bestes Kleid hergeben wollte, um ihr beigewohnt zu haben): jede dieser Geschichten ist in einem anderen Stil, jede enthält in sich Wechsel der Stilhöhe, alle sind sie ausgelöst durch Don Quijotes Narrheit, und alle bleiben sie im Bezirk des Heiteren. Dabei sind einige darunter, die durchaus nicht unbedingt ins Heitere gehören müßten. Die Beschreibung von Maritornes und ihrem Maultiertreiber ist roh realistisch, Dorotea ist unglücklich und die dueña Rodriguez ist in großer Not und Sorge, denn ihre Tochter ist verführt worden. Durch Don Quijotes Dazwischenkunft wird daran nichts geändert, weder an dem rohen Leben von Maritornes noch an der traurigen Lage von dueña Rodriguez’ Tochter. Aber es geschieht, daß wir uns darum nicht sorgen, daß uns die Lage und das Leben dieser Frauen heiter erscheint, und 354 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="355"?> daß unser Gewissen sich darüber nicht beunruhigt fühlt. Wie Gott die Sonne scheinen und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte, so erleuchtet Don Quijotes Narrheit alles, was ihm über den Weg kommt, mit heiterem Gleichmut und läßt es in heiterer Verwirrung. Die vielfältigste Spannung und die weiseste Heiterkeit des Buches zeigt sich in der Beziehung, in der Don Quijote sich ständig befindet: in seiner Beziehung zu Sancho Pansa. Diese Beziehung ist durchaus nicht so eindeu‐ tig beschreibbar wie die zwischen Rocinante und dem Grauen, oder die zwischen dem Grauen und Sancho selbst. Sie sind nicht immer und unun‐ terbrochen in Treue und Liebe verbunden. Sehr häufig gerät Don Quijote in solchen Zorn über Sancho, daß er ihn beschimpft und mißhandelt, zuweilen schämt er sich seiner, und einmal, im 27. Kapitel des zweiten Teiles, läßt er ihn sogar in der Gefahr im Stich. Sancho seinerseits folgt ihm zunächst aus Dummheit und materiellem Egoismus, weil er sich phantastische Vorteile aus der Unternehmung erhofft; auch deshalb, weil ihm das Herumziehen, trotz aller Strapazen, besser behagt als die regelmäßige Arbeit und das eintönige Leben zu Hause. Bald fängt er an zu ahnen, daß etwas mit Don Quijotes Verstand nicht stimmen kann; und dann kommt es vor, daß er ihn betrügt, sich über ihn lustig macht und despektierlich über ihn spricht. Zuweilen, auch noch im zweiten Teil, ist er so ärgerlich und enttäuscht, daß er drauf und dran ist, Don Quijote zu verlassen. Das Schwankende und Ge‐ mischte menschlicher Beziehungen, das Launenhafte und vom Augenblick Bestimmbare unserer Verbindungen, selbst der nächsten, wird dem Leser immer wieder vor die Augen geführt. In dem Text, von dem wir ausgingen, betrügt Sancho seinen Herrn, und spielt auf eine fast grausame Art mit seiner Narrheit. Aber welch ein liebevolles Eingehen auf die Narrheit, welch Hineinleben in die Welt Don Quijotes mußte vorausgehen, damit er solch einen Plan fassen und seine Rolle so vorzüglich spielen konnte! Noch wenige Monate vorher ahnte er nichts von all dem; jetzt lebt er, auf seine Weise, in der Welt der ritterlichen Abenteuer, und sie hat es ihm angetan: er ist verliebt in die Narrheit seines Herrn, und auch in seine eigene Rolle; er hat sich auf das erstaunlichste entwickelt. Dabei ist und bleibt er Sancho, aus der Familie der Pansa, ein Christ von altem Stamm, wohl bekannt in seinem Dorf; er bleibt es auch als weiser Gouverneur, und selbst dann, ja gerade dann, wenn er Sanchica durchaus nur an einen Grafen verheiraten will. Er bleibt Sancho, und nur Sancho konnte all dies geschehen; aber daß es geschieht, daß sein Leib und sein Geist so gewaltig bewegt werden, und in dieser Bewegung die Probe auf ihre unerschütterliche und eigentümliche XIV Die verzauberte Dulcinea 355 <?page no="356"?> Echtheit bestehen, das verdankt er Don Quijote, su amo y natural señor. Die Erfahrung der Persönlichkeit Don Quijotes wird von niemand so vollständig aufgenommen, so sehr als reines Ganzes unmittelbar verarbeitet wie von Sancho - alle anderen wundern oder ärgern oder belustigen sich oder wollen ihn heilen: Sancho lebt sich in ihn hinein, Narrheit und Weisheit Don Quijotes werden in ihm produktiv; obgleich er längst nicht genug kritischen Verstand besitzt, um ein synthetisches Urteil über ihn zu bilden und auszusprechen, ist er es eigentlich, in all seinem Verhalten, durch den wir Don Quijote am besten verstehen. Dies wiederum bindet Don Quijote an ihn; Sancho ist sein Trost und sein Widerpart, sein Geschöpf und doch ein anderer, ein Mitmensch, der sich gegen ihn behauptet und verhindert, daß die Narrheit ihn wie in einen isolierenden Käfig einsperrt. Zwei miteinander auftretende, gegeneinander kontrastierende, komische oder halbkomische Figuren, das ist ein sehr altes und auch heut noch überall, in der Posse, in der Karikatur, im Zirkus und im Film wirksames Motiv: der lange Dünne und der kleine Dicke, der Schlaue und der Dumme, der Herr und der Diener, der gebildet Vornehme und der bäurisch Naive, und was es alles sonst noch, in verschiedenen Ländern und Kulturen, für Kombinationen und Kreuzungen geben mag. Was Cervantes daraus gemacht hat, ist herrlich und einzig. Es ist vielleicht nicht ganz richtig zu sagen: was Cervantes daraus gemacht hat. Genauer wäre wohl zu sagen: was unter seinen Händen daraus wurde. Seit Jahrhunderten, und ganz besonders seit der Romantik, ist vieles aus ihm herausgelesen worden, was er kaum ahnte oder gar beabsichtigte. Solche Umdeutungen und Überdeutungen eines alten Textes sind oft fruchtbar: ein Buch wie der Don Quijote löst sich los von der Absicht seines Verfassers und führt sein eigenes Leben; er zeigt jeder Periode, die an ihm Gefallen findet, ein neues Gesicht. Aber für den Historiker, der den Platz eines Werkes innerhalb eines geschichtlichen Ablaufs zu bestimmen sucht, ist es doch erforderlich, sich, soweit es noch möglich ist, darüber klar zu werden, was das Werk für den Verfasser und für seine Zeitgenossen bedeutete. Ich habe mich bemüht, so wenig wie möglich zu deuten; ich habe insbesondere immer wieder betont, wie wenig Tragik und Problematik im Text zu finden ist. Er scheint mir ein heiteres Spiel, in vielen Höhenlagen, insbesondere auch in der Höhenlage des alltäglich Realistischen, und dadurch unterschieden etwa von der gleichermaßen problemlosen Heiterkeit Ariosts; aber eben doch ein Spiel. Wenn ich mich also bemüht habe, so wenig wie möglich zu deuten, so fühle ich doch, daß auch meine Gedanken über das Buch oft viel weiter gehen als die Kunstabsicht Cervantes’. Wie diese auch gewesen sein mag 356 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="357"?> (wir wollen uns hier nicht mit den Problemen der ihm zeitgenössischen Ästhetik befassen) -, sie war sicher nicht von Anfang an und bewußt auf die Schöpfung solch eines Verhältnisses wie das von Don Quijote und Sancho Pansa gerichtet, so wie es vor uns steht, wenn wir den Roman gelesen haben. Vielmehr waren beide Figuren zunächst nur eine Vision, und was aus ihnen, aus jedem einzelnen und aus beiden zusammen, schließlich wurde, das ergab sich allmählich, aus Hunderten von einzelnen Einfällen, aus Hunderten von Situationen, in die er sie geraten läßt: wo sie reagieren, wie der Augenblick es eingibt, aus der unablässig quellenden und sich erneuernden Einbildungskraft des Dichters. Zuweilen gibt es sogar Seltsamkeiten und Widersprüche, nicht nur im Tatsächlichen, was oft bemerkt wurde, sondern auch im Psychologischen: Wendungen, die nicht mit dem gesamten Bilde der beiden Helden übereinstimmen; ein Zeichen, wie sehr sich Cervantes von der Lage des Augenblicks, von den Erfordernissen des jeweiligen Abenteuers leiten ließ: das ist auch, und sogar noch häufiger, im zweiten Teil der Fall. Absichtslos und allmählich bauen sich die beiden Personen auf, jeder für sich sowohl wie auch das Verhältnis beider zueinander. Freilich fließt eben dadurch das eigentümlich Cervantinische, die Summe von Cervantes’ Lebenserfahrung und die Fülle seiner Einbildungskraft, um so reicher und spontaner in die Ereignisse und Reden hinein. Das «eigentümlich Cervantinische» ist mit Worten nicht beschreibbar; dennoch will ich etwas davon auszusagen versuchen, um seine Kraft und seine Grenzen deutlich zu machen. Es ist zunächst etwas spontan Sinnliches: eine energische Fähigkeit, sich sehr verschiedene Menschen in sehr mannigfaltigen Lagen lebhaft vorzustellen; sich lebhaft zu vergegenwärtigen und auszudrücken, welche Gedanken jeweils in ihren Sinn, welche Gefühle in ihr Herz, und welche Worte auf ihre Lippen kommen. Diese Fähigkeit besitzt er so unmittelbar und so stark, zugleich auch so unabhängig von jeder anderen Absicht, daß fast alles Realistische aus früherer Zeit neben ihm begrenzt, konventio‐ nell oder zweckgebunden erscheint. Ebenso sinnlich ist seine Fähigkeit, fortwährend neue Kombinationen von Menschen und Ereignissen sich auszudenken oder einfallen zu lassen - hier gibt es zwar die alte Tradition der Abenteuerromane und ihre Erneuerung durch Bojardo und Ariost - aber niemand hatte vordem in dies glanzvoll und absichtslos kombinatorische Spiel die echte alltägliche Wirklichkeit hineinspielen lassen. Und schließlich besitzt er etwas, ein «Etwas», welches das Ganze ordnet und in einem bestimmten «cervantinischen» Licht erscheinen läßt. Hier wird es nun sehr schwierig. Man könnte der Schwierigkeit aus dem Wege gehen, und XIV Die verzauberte Dulcinea 357 <?page no="358"?> sagen, daß dies Etwas einfach in dem Gegenstand besteht, in dem Einfall von dem Landjunker, der närrisch wird und sich einredet, er müsse das fahrende Rittertum wieder aufleben lassen: dies Thema gibt dem Buch seine Einheit und seine Einstellung. Aber das Thema (das Cervantes übrigens einem kleinen und sonst ganz uninteressanten zeitgenössischen Werk, dem Entremés de los Romances entnahm) hätte auch ganz anders behandelt werden können - der Held hätte ganz anders aussehen können als Don Quijote, es brauchte keine Dulcinea und vor allem keinen Sancho zu geben - und vor allem, was reizte Cervantes so sehr an diesem Einfall? Es reizte ihn die darin enthaltene Möglichkeit des Mannigfaltigen und Perspektivischen, die Mischung von Phantastik und Alltäglichkeit, das Wendige, Knetbare und Dehnbare des Gegenstandes; man konnte darin alle Kunst- und Stilarten einfügen. Man konnte die bunteste Welt in einem Lichte zeigen, das seinem, Cervantes’, Wesen entsprach. Und hier sind wir wieder bei der schwierigen Frage, die wir eben stellten: was ist das Etwas, welches das Ganze ordnet und in einem bestimmten «cervantinischen» Licht erscheinen läßt? Es ist keine Philosophie, keine Tendenz, und nicht einmal ein Bewegt‐ werden durch die Unsicherheit der menschlichen Existenz oder durch die Gewalt des Schicksals, wie bei Montaigne und bei Shakespeare. Es ist eine Haltung - eine Haltung zur Welt, und also auch zu den Gegenständen seiner Kunst - an der Tapferkeit und Gleichmut den stärksten Anteil haben. Neben der Freude am vielfältig-sinnlichen Spiel gibt es in ihm etwas südlich Herbes und Stolzes. Es verhindert ihn, das Spiel sehr ernst zu nehmen. Er sieht es, er formt es, es erfreut ihn; es soll auch den Leser auf eine gebildete Art erfreuen. Aber er nimmt nicht Partei (es sei denn gegen die schlecht geschriebenen Bücher); er bleibt neutral. Es ist nicht genug zu sagen, daß er nicht urteilt und keine Schlüsse zieht: der Prozeß wird gar nicht eröffnet, die Fragen werden gar nicht gestellt. Niemand und nichts (ausgenommen die schlechten Bücher und Schauspiele) wird in diesem Buch verurteilt: weder Ginés de Pasamonte noch Roque Guinart, weder Maritornes noch Zoraida; uns wird das Verhalten Zoraidas zu ihrem Vater zum moralischen Problem und wir rätseln daran herum, aber Cervantes erzählt die Geschichte, ohne zu verraten, was er dabei denkt; oder vielmehr, nicht er erzählt sie, sondern der Gefangene, der natürlich Zoraidens Verhalten billigt; und damit ist es genug. Es gibt wohl einige Karikaturen in diesem Buch, den Bizcayer, den Geistlichen im Schloß des Herzogs, die dueña Rodriguez; aber sie enthalten keine moralische Problematik, und kein grundsätzliches Urteil. Es wird aber auch niemand als vorbildlich gepriesen. Hier könnte man an den Hidalgo 358 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="359"?> mit dem grünen Mantel denken, Don Diego de Miranda, der im 16. Kapitel des zweiten Teils eine Schilderung seiner maßvollen Lebensweise gibt, und damit auf Sancho einen so tiefen Eindruck macht. Er ist maßvoll und verständig abwägend, er findet sowohl zu Don Quijote wie zu Sancho den richtigen Ton der wohlgeneigten, bescheidenen und doch selbstsicheren Höflichkeit; seine Versuche, Don Quijotes Narrheit zu widerlegen oder zu mildern, sind freundlich und einsichtig; man darf ihn nicht, wie es ein großer spanischer Gelehrter, Americo Castro, getan hat, mit dem bornierten und unduldsamen Geistlichen am Hof des Herzogs zusammenstellen. Don Diego ist ein Musterbild seines Standes, der spanischen Variante des humanisti‐ schen Edelmanns: otium cum dignitate. Aber er ist auch bestimmt nicht mehr als das; er ist kein absolutes Muster. Dazu ist er doch zu vorsichtig und mittelmäßig, und es ist sehr wohl möglich, daß ein Schatten von Ironie in der Art liegt, wie Cervantes seine Lebensweise, seine Art zu jagen und seine Ansichten über die literarischen Neigungen seines Sohnes darstellt; darin hat Castro vielleicht recht. Die Haltung Cervantes’ ist so, daß seine Welt zu einem Spiel wird, in dem eine jede Spielfigur, durch ihr bloßes Leben an ihrem Ort, gerechtfertigt ist. Der einzige, der unrecht hat, ist Don Quijote in seiner Narrheit. Er hat auch unbedingt unrecht gegen den maßvoll friedliebenden Don Diego, den Cervantes «with inspired perversity», wie Castro sich ausdrückt, zum Zeugen des Löwenabenteuers macht. Es wäre gewaltsam, wollte man hier einen Preis des abenteuernden Heldenmuts gegen die berechnende, kleinliche und mittelmäßige Vorsicht erblicken. Wenn möglicherweise eine Spur von Ironie in der Darstellung Don Diegos mitklingt, so ist Don Quijote nicht möglicherweise, sondern unbedingt, und nicht eine Spur, sondern durch und durch lächerlich gefaßt. Das Kapitel wird eingeleitet durch die Beschreibung seines absurden Stolzes auf seinen Sieg über den als Ritter verkleideten Carrasco und ein darauf bezügliches Gespräch mit Sancho. Man wolle es nachlesen und sich vergegenwärtigen, daß selten in dem ganzen Buch Don Quijote auch moralisch so lächerlich gemacht wird wie hier. Närrisch hochgeschwellt ist die Selbstbeschreibung, mit der er sich Don Diego vorstellt; in dieser Gemütsverfassung begibt er sich in das Abenteuer mit dem Löwen; und der Löwe rührt sich nicht, er dreht Don Quijote den Rücken! Das ist reine Parodie, und zur reinen Parodie passen auch die Einzelheiten: das Verlangen, der Wärter solle ihm ein schriftliches Zeugnis über seinen Heldenmut geben, die Art, wie er Sancho empfängt, die XIV Die verzauberte Dulcinea 359 <?page no="360"?> Namensänderung (von nun an will er sich Löwenritter nennen), und vieles andere. Don Quijote allein hat unrecht, solange er närrisch ist; er allein hat unrecht in einer wohlgeordneten Welt, in der jeder, außer ihm, an seinem Platze steht; er selbst sieht es zuletzt ein, wenn er sich sterbend ins Geordnete zurückfindet. Ist aber die Welt wirklich wohlgeordnet? Danach wird nicht gefragt. Gewiß ist, daß sie im Licht von Don Quijotes Narrheit, konfrontiert mit ihr, wohlgeordnet und sogar als heiteres Spiel erscheint. Es mag in ihr viel Unglück, Unrecht und Unordnung geben. Wir treffen Dirnen, Verbrecher als Galeerensklaven, verführte Mädchen, gehängte Banditen und vieles in der gleichen Art. Aber es ficht uns nicht an. Don Quijotes Erscheinen, das nichts bessert und nirgends hilft, verwandelt Glück und Unglück in ein Spiel. Das Thema des närrischen Landedelmannes, der das fahrende Rittertum wiederaufleben lassen will, gab Cervantes die Möglichkeit, die Welt als Spiel zu zeigen, mit jener vielfältigen, perspektivischen, nicht urteilenden und nicht einmal fragenden Neutralität, die eine tapfere Weisheit ist. Man könnte sie sehr einfach mit den Worten Don Quijotes ausdrücken, die oben einmal zitiert wurden: allá se lo haya cada uno con su pecado, Dios hay en el cielo que no se descuida de castigar al malo, ni de premiar al bueno; oder auch mit denen, die er, im achten Kapitel des zweiten Teiles, am Ende des Gesprächs über Mönche und Ritter zu Sancho sagt: muchos son los caminos por donde lleva Dios a los suyos al cielo. Damit ist gesagt, daß es letzten Endes eine fromme Weisheit ist. Sie ist ein wenig verwandt mit der neutralen Haltung, um die sich Gustave Flaubert so sehr bemühte, und doch ganz verschieden von ihr: Flaubert wollte durch den Stil die Wirklichkeit verwandeln, daß sie so erschiene, wie Gott sie sieht, so daß Gottes Ordnung, insofern sie das jeweils behandelte Stück Wirklichkeit betrifft, im Stil des Autors sich inkarnieren müsse. Für Cervantes dient ein guter Roman keinem anderen Zweck als dem gebildeten Vergnügen, honesto entretenimiento; das hat in letzter Zeit niemand so überzeugend ausgedrückt wie W. J. Entwistle in seinem Cervantesbuche (1940); wobei er, sehr schön, aber im Deutschen nicht nachahmbar, recreation mit re-creation in Verbindung bringt. Cervantes wäre es nicht eingefallen, daß der Stil eines Romans, und wäre es der beste, die Weltordnung erschließen könne. Doch waren, andererseits, die Erscheinungen der Wirklichkeit auch für ihn schon schwer übersehbar geworden, und sie ließen sich nicht mehr in einer eindeutigen und überlieferten Weise ordnen. An anderen Stellen 360 XIV Die verzauberte Dulcinea <?page no="361"?> Europas hatte man schon längst angefangen zu fragen und zu zweifeln, ja aus Eigenem neu zu bauen. Aber das entsprach weder dem Geist seines Landes, noch seinem eigenen Temperament, noch seiner Vorstellung von dem Amt eines Schriftstellers. Er fand die Ordnung der Wirklichkeit im Spiel. Es ist nicht mehr das Spiel von Jedermann, wo nach festen Normen geurteilt werden kann, was gut ist und was böse; so war es auch noch in der Celestina. So einfach ist es nicht mehr; Cervantes urteilt nur noch über die Dinge, die seinen Beruf, die Schriftstellerei betreffen. Was die irdische Welt sonst betrifft, so sind wir alle Sünder; Gott wird dafür sorgen, daß das Böse bestraft und das Gute belohnt wird. Hier auf Erden liegt die Ordnung des Unüberschaubaren im Spiel: so schwer zu übersehen und zu beurteilen die Erscheinungen auch sein mögen, vor dem närrischen Ritter aus der Mancha werden sie zu einem Reigen heiterer und unterhaltsamer Verwirrung. Dies ist, so scheint mir, die Funktion der Narrheit Don Quijotes. Als das Thema - der Auszug des närrischen Hidalgo, der das Ideal des caballero andante verwirklichen will - Cervantes’ Einbildungskraft zu entzünden begann, da zeigte sich ihm auch das Bild der zeitgenössischen Wirklichkeit, wie sie, konfrontiert mit solcher Narrheit, darzustellen sein würde: und dies Bild gefiel ihm, sowohl wegen seiner Mannigfaltigkeit als auch wegen der neutralen Heiterkeit, die die Narrheit über alles verbreitet, was ihr begegnet. Daß es eine heroische und idealische Narrheit ist, daß sie Raum läßt für Weisheit und Menschlichkeit, gefiel ihm gewiss nicht minder. Aber die Narrheit symbolisch und tragisch zu nehmen, scheint mir gewaltsam. Es läßt sich hineininterpretieren, doch im Text liegt es nicht. Eine so weltweite und vielschichtige, dabei kritikfreie und problemlose Heiterkeit in der Darstellung des alltäglich Wirklichen ist in Europa nicht wieder versucht worden; ich kann mir nicht vorstellen, wo und wann sie hätte versucht werden können. XIV Die verzauberte Dulcinea 361 <?page no="363"?> XV Der Scheinheilige D A S Porträt des Scheinheiligen, welches sich im Kapitel De la mode von La Bruyères Caractères findet, enthält einige polemische Anspielungen auf Molières Tartuffe. Der Scheinheilige, so sagt La Bruyère gleich zu Anfang, spricht nicht von ma haire et ma discipline, au contraire; il passeroit pour ce qu’il est, pour un hypocrite, et il veut passer pour ce qu’il n’est pas, pour un homme dévot: il est vrai qu’il fait en sorte que l’on croit, sans qu’il le dise, qu’il porte une haire et qu’il se donne la discipline. Später kritisiert er das Vorgehen Tartuffes im Hause Orgons: S’il se trouve bien d’un homme opulent, à qui il a su imposer, dont il est le parasite, et dont il peut tirer de grands secours, il ne cajole point sa femme, il ne lui fait du moins ni avance ni déclaration; il s’enfuira, il lui laissera son manteau, s’il n’est aussi sûr d’elle que de lui-même. Il est encore plus éloigné d’employer pour la flatter et pour la séduire le jargon de la dévotion; ce n’est point par habitude qu’il le parle, mais avec dessein, et selon qu’il lui est utile, et jamais quand il ne serviroit qu’à le rendre très-ridicule … Il ne pense point à profiter de toute sa succession, ni s’attirer une donation générale de tous ses biens, s’il s’agit surtout de les enlever à un fils, le légitime héritier: un homme dévot n’est ni avare, ni violent, ni injuste, ni même intéressé; Onuphre n’est pas dévot, mais il veut être cru tel, et par une parfaite, quoique fausse imitation de la piété, ménager sourdement ses intérêts: aussi ne se joue-t-il pas à la ligne directe, et il ne s’insinue jamais dans une famille où se trouvent tout à la fois une fille à pourvoir et un fils à etablir; il y a là des droits trop forts et trop inviolables: on ne les traverse point sans faire de l’éclat (et il l’appréhende), sans qu’une pareille entreprise vienne aux oreilles du Prince, à qui il dérobe sa marche, par la crainte qu’il a d’être découvert et de paroître ce qu’il est. Il en veut à la ligne collatérale: on l’attaque plus impunément; il est la terreur des cousins et des cousines, du neveu et de la nièce, le flatteur et l’ami déclaré de tous les oncles qui ont fait fortune; il se donne pour l’héritier légitime de tout vieillard qui meurt riche et sans enfants-… Augenscheinlich denkt La Bruyère hier an den vollkommenen, gleichsam idealen Typus des Scheinheiligen, der nichts anderes ist als scheinheilig, und der ohne jede menschliche Schwäche oder Lücke, in unausgesetzter, vernunftbeherrschter Wachsamkeit den aus kalter Überlegung gefaßten Plan, der zu der Rolle des Scheinheiligen gehört, folgerichtig durchführt. <?page no="364"?> Molière aber konnte gar nicht die Absicht haben, die vollkommene Inkarna‐ tion des Adjektivs «scheinheilig» auf die Bühne zu bringen; er brauchte für die Bühne starke komische Wirkungen, und er fand sie, überaus geistreich, indem er die Rolle des Scheinheiligen, die sein Tartuffe spielt, in Gegensatz stellt zu dessen natürlichem Charakter. Dieser kräftige und gesunde Bursche (gros et gras, le teint frais, et la bouche vermeille), mit seinem starken Appetit (deux perdrix avec une moitié de gigot en hachis für ein Abendessen) und seinen nicht minder entwickelten sonstigen sinnlichen Bedürfnissen, hat nicht das mindeste Talent zur Frömmigkeit, und wäre es auch nur zu einer gespielten; der Esel guckt überall unter dem Löwenfell hervor; er spielt seine Rolle spottschlecht, indem er sie unsinnig übertreibt, und er verliert sofort die Kontrolle über sich, wenn seine Sinne gereizt werden; seine Intrigen sind roh und einfältig, und niemand außer Orgon oder seiner Mutter kann auch nur einen Augenblick auf ihn hereinfallen, weder die übrigen Spieler des Stückes noch die Zuschauer. Tartuffe ist eben nicht die Verkörperung eines intelligenten und sich selbst beherrschenden Heuchlers, sondern ein grobschlächtiger Kerl mit starken und rohen Begierden, der die erfolgversprechende Haltung des Frömmlers anzunehmen versucht, obgleich sie ihm durchaus nicht zu Gesicht steht und seiner ganzen äuße‐ ren und inneren Art widerspricht; und gerade dies ist das überwältigend Komische. Die Kritiker des 17. Jahrhunderts, die wie La Bruyère nur das vernünftig Einsichtige für wahrscheinlich hielten, mochten sich fragen, wie es möglich ist, daß auch nur Orgon und Madame Pernelle ihm auf den Leim gehen; allein die Erfahrung zeigt, daß auch der roheste Betrug und die albernste Verführung zuweilen erfolgreich sind, wenn sie nämlich den Gewohnheiten und lnstinkten der Verführten und Betrogenen schmeicheln und ihren geheimen Wünschen Befriedigung verschaffen. Das instinktivste und geheimste Bedürfnis Orgons, dem er gerade dadurch frönen kann, daß er sich mit Haut und Haaren Tartuffe verschreibt, ist der Sadismus des Familientyrannen; was er, ohne die Legitimation der Frömmigkeit, niemals wagen würde, denn er ist ebenso sentimental und unsicher wie er cholerisch ist, dem kann er sich nun mit gutem Gewissen hingeben: faire enrager le monde est ma plus grande joie! (3, 7; dazu auch 4, 3: je porte en ce contrat de quoi vous faire rire); um der Befriedigung dieses instinktiven Bedürfnisses willen, seine Nächsten zu tyrannisieren und zu quälen, die er ihm verschafft, liebt er Tartuffe und läßt sich von ihm umgarnen; dadurch wird seine ohnehin nicht sehr ausgebildete Urteilskraft geschwächt; ein ganz ähnlicher psychologischer Vorgang findet bei Madame Pernelle statt. Und es ist 364 XV Der Scheinheilige <?page no="365"?> wiederum überaus geistreich, wie Molière hier gerade die Frömmigkeit verwendet, um die Hemmungen, die der freien Entfaltung von Orgons Sadismus entgegenstehen, zu beseitigen. Hier wie in vielen anderen seiner Stücke zeigt es sich, daß Molière weit weniger typisiert, weit individueller die Wirklichkeit faßt als die Mehrzahl der Moralisten seines Jahrhunderts. Er hat nicht «den Geizigen» gegeben, sondern einen ganz bestimmten hüstelnden alten Monomanen, nicht «den Menschenfeind», sondern einen unbiegsamen und von seinen eigenen Ansichten durchdrungenen jungen Aufrichtigkeitsfanatiker aus der besten Gesellschaft, der über die Welt zu Gericht sitzt und sie seiner unwürdig findet; nicht «den Hypochonder», sondern einen wohlhabenden, überaus kräftigen, gesunden, cholerischen Haustyrannen, der fortwährend seine Krankenrolle vergißt. Und dennoch gehört Molière, wie jedermann fühlt, vollkommen in sein moralistisch-typisierendes Jahrhundert hinein; denn er sucht das individuell Wirkliche nur um seiner Lächerlichkeit willen, und die Lächerlichkeit bedeutet für ihn das Abweichen vom Mittleren und Üblichen; ein ernst zu nehmender Mensch wäre auch für ihn «typisch». Er sucht Bühnenwirkung, sein Genie ist lebhafter und spielt freier; die strichelnde Technik La Bruyères, der aus lauter Eigenschaften und Anek‐ doten den reinen moralischen Typus zusammensetzt, ist für die Bühne un‐ verwendbar; denn sie braucht starke Wirkungen und mehr Einheitlichkeit im Konkret-Lebendigen als im Abstrakt-Typischen; aber die moralistische Haltung ist grundsätzlich die gleiche. Eine andere, nicht minder aufschlußreiche Kritik an Molière findet sich in einigen berühmten Versen von Boileaus Art poétique (3, 391 bis 405): - Etudiez la Cour, et connoissez la Ville; - L’une et l’autre est toujours en modèles fertile. - C’est par là que Molière, illustrant ses écrits, - Peut-être de son art eût remporté le prix, - Si, moins ami du peuple, en ses doctes peintures, - Il n’eût point fait souvent grimacer ses figures, - Quitté, pour le bouffon, l’agréable et le fin, - Et sans honte à Térence allié Tabarin. - Dans ce sac ridicule, où Scapin s’enveloppe, - Je ne reconnois plus l’auteur du Misanthrope. - Le Comique, ennemi des soupirs et des pleurs, - N’admet point en ses vers de tragiques douleurs; - Mais son emploi n’est pas d’aller dans une place XV Der Scheinheilige 365 <?page no="366"?> De mots sales et bas charmer la populace. - Il faut que ses acteurs badinent noblement-… In ihrer Art ist diese Kritik vollkommen berechtigt; da Boileau im Grunde Molière sehr bewunderte, ist sie sogar milde und zurückhaltend ausgefallen. Denn die farcenhaften Gesten, Worte und Bühnentricks finden sich nicht nur in den eigentlichen Schwänken, zu denen die von Boileau zitierten Fourberies de Scapin gehören, sondern dringen auch in die Gesellschaftsko‐ mödien ein; im Tartuffe etwa enthält die Trioszene Orgon-Dorine-Marianne (2, 2), wo Orgon sich in Positur stellt, um Dorine eine Ohrfeige zu geben, wenn sie ihn noch einmal unterbricht, eine reine Schwankwirkung, und fast noch mehr gilt das von dem Auftritt, wo Orgon und Tartuffe sich beide auf die Knie werfen (3, 6). Selbst der von Boileau als Muster einer Gesell‐ schaftskomödie angeführte Misanthrope, in der Tat das am einheitlichsten auf einen vornehm gesellschaftlichen Ton gestimmte Lustspiel Molières, enthält eine kleine farcenhafte Szene, nämlich das Auftreten von Alcestes Diener Dubois (4, 4). Molière hat niemals auf die Wirkungen verzichtet, die ihm seine Beherrschung der Schwanktechnik an die Hand gab, und es sind vielleicht seine genialsten Einfälle diejenigen, die ihm gestatteten, solche ursprünglich rein mechanische, clownhafte Situationskomik in den Sinn und das Leben seiner Konflikte einzufügen. Die Absicht, de faire rire les honnêtes gens sans personnages ridicules, seit den ersten Lustspielen Corneilles der eigentliche Ehrgeiz der französischen komischen Bühne, hat Molière niemals zum Stilpuristen gemacht. Wer seine Stücke in guten Aufführungen gesehen hat, oder genügend Phantasie besitzt, sich bei der Lektüre das szenische Spiel vorzustellen, der weiß, daß grotesk-farcenhafte Wirkungen überall verstreut sind, auch in den vornehmen Lustspielen, selbst im Misanthrope; Schauspieler, die Verve und szenische Phantasie haben, finden überall Gelegenheit, solche Möglichkeiten auszugestalten und auch zu improvisieren; Molière selbst, der ein vorzüglicher Komiker war, hat in seinem Spiel jede Gelegenheit zu grotesker Überpointierung ausgenützt. Freilich beschränken sich die Farcenwirkungen keineswegs auf Personen, die dem Volk angehören, auf die Boileau hier allein anspielt; Personen aller Stände macht Molière zum Gegenstand von solchen lazzi, und in dem Streit um die Ecole des femmes rühmt er sich ausdrücklich, den marquis ridicule eingeführt, ja ihm die Rolle verschafft zu haben, die früher die Clownfigur des komischen Dieners spielte: 366 XV Der Scheinheilige <?page no="367"?> Le marquis aujourd’hui est le plaisant de la comédie; et comme, dans toutes les comédies anciennes, on voit toujours un valet bouffon qui fait rire les auditeurs, de même, dans toutes nos pièces de maintenant, il faut toujours un marquis ridicule qui divertisse la compagnie. (L’Impromptu de Versailles, scène I.) Das ist zwar eine aus der Lage des Moments geborene, frech-polemische Überspitzung, aber sie verrät doch die Absicht, die Molière auch ausgeführt hat, jedermanns Lächerlichkeit ins Groteske auszuformen, ohne sich nur auf komische Typen niederen Standes zu beschränken. Boileau hingegen wünscht in seiner Kritik eine strenge, von antiken Vorbildern inspirierte Dreiteilung der Höhenlagen des Stils; er kennt zunächst den hohen, erha‐ benen Stil der Tragödie; alsdann den mittleren der Gesellschaftskomödie, der von honnêtes gens handeln und für honnêtes gens bestimmt sein muß, in welchem die Schauspieler «badinent noblement»; und schließlich den niederen der Volksfarce, in dem, sowohl in den Ereignissen wie in der Sprache, «le bouffon» herrscht, und den Boileau schon wegen seiner mots sales et bas, welche den Pöbel entzücken, aufs tiefste verachtet; er wirft Molière - in sehr milder Weise, wie wir sahen - vor, den mittleren mit dem niederen Stil vermischt zu haben. Was uns an dieser Kritik Boileaus am meisten interessiert, ist die darin enthaltene Auffassung vom Volk. Es ist augenscheinlich, daß er sich keine anderen Volkstypen vorstellen kann als grotesk-komische, wenigstens nicht als Gegenstand künstlerischer Nachahmung. La cour et la ville bedeutet im 17. Jahrhundert das, was wir heut etwa die gebildete Gesellschaft oder auch das «Publikum» nennen würden; es setzte sich zusammen aus dem Hofadel, der Umgebung des Königs, la cour, und dem Pariser Großbürgertum, la ville, welches vielfach schon dem Amtsadel (noblesse de robe) angehörte oder sich durch Ankauf von Ämtern ihm einzugliedern strebte; das ist die Schicht, der Boileau selbst und die große Mehrzahl der führenden Köpfe des Jahrhunderts angehören. La cour et la ville ist der gebräuchlichste Ausdruck für die führenden Kreise der Nation unmittelbar vor und unter Ludwig XIV., insbesondere auch die gebräuchlichste Bezeichnung für diejenigen, an die sich die literarischen Werke wenden, und sie wird nicht nur hier, sondern auch sonst sehr oft, etwa bei Auseinandersetzungen über den guten Sprachgebrauch, in Gegensatz gestellt zu le peuple. La cour et la ville, so sagt Boileau, solle man studieren, um den mittleren Stil, die Höhenlage des vornehmen Lustspiels zu treffen, und sich freihalten vom bouffon, von den Grimassen des Volkes; andere Bilder vom Volk und seinem Leben scheint XV Der Scheinheilige 367 <?page no="368"?> Boileau nicht für möglich zu halten. Und hier zeigen sich deutlich die Grenzen seines Gegensatzes zu Molière, ganz wie oben die Grenzen des Gegensatzes zwischen Molière und La Bruyère. Molière hat zwar farcenhafte Wirkungen verwendet, sogar mitten in seinen eleganten Lustspielen, er hat sogar Personen der gebildeten Gesellschaft bis ins Grotesk-Farcenhafte karikiert; aber auch er kennt das Volk nur als «personnages ridicules». Man kann Molières Kunst als das Höchstmaß derjenigen Realistik be‐ trachten, die in der voll ausgebildeten französischen klassischen Literatur, unter der Herrschaft Ludwigs XIV., noch gefallen konnte; er hat die Grenze des damals Möglichen abgesteckt. Er hat sich nicht ganz der herrschenden Neigung zur psychologischen Typisierung gefügt, allein auch für ihn ist das Eigentümliche, Charakteristische stets nur das Lächerliche und Extra‐ vagante; er hat das Farcenhaft-Groteske nicht vermieden, allein von einer wirklichen Darstellung des Lebens der Volksschichten, und wäre sie selbst von einer so aristokratisch-verächtlichen Gesinnung getragen wie diejenige Shakespeares, ist bei ihm ebensowenig die Rede wie bei Boileau. All seine Kammerzofen und Diener, Bauern und Bäuerinnen, ja sogar seine Kaufleute, Notare, Ärzte und Apotheker sind nichts als komische Chargen, und nur innerhalb eines großbürgerlichen oder aristokratischen Haushalts vertreten die Hausbediensteten, insbesondere die weiblichen, zuweilen die Stimme des handfesten gesunden Menschenverstandes; wobei sich ihr Wirken stets auf die Probleme ihrer Herrschaft, niemals auf die ihres eigenen Lebens bezieht. Jeder Schatten von Politik, von sozialer oder ökonomischer Kritik oder von Untersuchung der politischen, sozialen, ökonomischen Grundlagen des Lebens fehlt; seine Kritik der Sitten ist rein moralistisch, das heißt, sie nimmt die bestehende Struktur der Gesellschaft als gegeben, setzt ihre Berechtigung, Dauer und Allgemeingültigkeit voraus und geißelt die inner‐ halb derselben vorfallenden Extravaganzen als belachenswert. In dieser Hinsicht steht er sogar dem in seinem Darstellungstalent begrenzteren, aber weit ernsthafter ethischen La Bruyère nach, der zwar auch keine Kritik der Struktur des gesellschaftlichen Lebens gibt, aber, gegen Ende des Jahrhunderts schreibend, als der Glanz des großen Königs schon nicht mehr ganz so hell strahlte, dieser Beschränkung der literarischen Kunst bewußt wurde, und diesem Bewußtsein auch an einigen Stellen seines Werks wirksamen Ausdruck gab; um so wirksameren, als man fühlt, daß mehr verschwiegen als gesagt wird. Un homme né Chrétien et François, so schreibt er gegen Ende des Abschnitts Des ouvrages de l’esprit, se trouve contraint dans la satire; les grands sujets lui sont défendus … Und in diesem 368 XV Der Scheinheilige <?page no="369"?> Zusammenhang möchte ich auch die bekannte, eigentümlich packende Stelle über die Bauern zitieren, die sich in dem Kapitel De l’homme findet (Absatz 128 in der Ausgabe der Grands Ecrivains): L’on voit certains animaux farouches, des mâles et des femelles, répandus par la campagne, noirs, livides et tout brûlés du soleil, attachés à la terre qu’ils fouillent et qu’ils remuent avec une opiniâtreté invincible; ils ont comme une voix articulée, et quand ils se lèvent sur leurs pieds, ils montrent une face humaine, et en effet ils sont des hommes. Ils se retirent la nuit dans des tanières, où ils vivent de pain noir, d’eau et de racines; ils épargnent aux autres hommes la peine de semer, de labourer et de recueillir pour vivre, et méritent ainsi de ne pas manquer de ce pain qu’ils ont semé. Obgleich diese bedeutende Stelle schon durch ihre moralistische Zuspitzung ihr Jahrhundert nicht verleugnet, so dürfte sie doch in der schönen Literatur der Zeit einzig dastehen; Gedanken dieser Art kommen Molière ebensowe‐ nig wie Boileau, und jener wie dieser würde sich scheuen, ihnen Ausdruck zu geben; sie überschreiten die Grenze dessen, was Boileau l’agréable et le fin nennt; freilich nicht, weil es große Gegenstände, de grands sujets sind, denn das waren sie nach damaliger Anschauung nicht, sondern weil sie einem alltäglichen und zeitgenössischen Gegenstand durch allzu konkrete und ernste Behandlung mehr Gewicht geben, als ihm ästhetisch zusteht. Auch dem Satiriker oder allgemein dem Moralisten sind nicht eigentlich die gro‐ ßen Gegenstände verboten; hat doch La Bruyère selbst Kapitel geschrieben, die vom Monarchen und vom Staat, vom Menschen, von den Freigeistern handeln; man hat darum auch in der oben zitierten Stelle (un homme né Chrétien et François) gar nicht ein grundsätzliches Bewußtsein der Grenzen seiner Schriftstellerei, sondern nur eine diskrete Kritik an seinem Freunde und Gönner Boileau sehen wollen, eine durchaus erwägenswerte und leicht zu verteidigende Interpretation, die ich aber doch für einseitig halte; so wie wir La Bruyères Art und Temperament kennen, das zwar durchaus nicht revolutionär war, aber schon viel tiefer kritisch und geneigt, den gesellschaftlichen Problemen auf den Grund zu gehen, möchte ich doch annehmen, daß er auch an sich selbst und an die allgemeine politische und ästhetische Lage gedacht hat; eine Lage, die ihm zwar gestattete, die großen Gegenstände zu behandeln, aber nur bis er an eine unüberschreitbare Mauer stößt (il les entame parfois et se détourne ensuite …); nur in hoher, moralistischer Allgemeinheit konnte er sich mit ihnen befassen; mit voller Freiheit ihre konkrete, zeitgenössische Struktur zu behandeln, das verbot XV Der Scheinheilige 369 <?page no="370"?> sich sowohl aus politischen wie aus ästhetischen Gründen, und beide Arten von Gründen hängen miteinander zusammen. Bei Molière sind zeitgenössisch-politische Anspielungen äußerst selten, und wo sie auftreten, sind sie so diskret angedeutet wie etwas Ungehöriges, was man nur vorsichtig erwähnt oder besser umschreibt. Im Tartuffe hat Orgon offenbar in der Fronde auf seiten des Hofes gestanden: - Nos troubles l’avaient mis sur le pied d’homme sage, - Et pour servir son prince, il montra du courage-… (1, 2). Und nicht minder diskret wird angedeutet, daß er trotzdem die Papiere eines Kompromittierten, dem er persönlich nahestand, heimlich zur Aufbe‐ wahrung übernahm, als jener fliehen mußte. Ebenso diskret ist all dasjenige behandelt, was sich auf berufliche und ökonomische Dinge bezieht. Wir sagten schon oben, daß bei Molière (ganz wie überall sonst in der zeitgenös‐ sischen Literatur) nicht nur Bauern und sonstige Typen des niederen Volkes, sondern auch Kaufleute, Notare, Ärzte und Apotheker lediglich als komische Chargen auftreten. Das hängt damit zusammen, daß das gesellschaftliche Ideal der Zeit vom honnête homme eine möglichst allgemeine Ausbildung und Haltung verlangte; es strebte fort von jeder Spezialisierung, wäre es selbst die des Dichters oder des Gelehrten; wer gesellschaftlich vollgültig sein wollte, durfte die ökonomischen Grundlagen seines Lebens und seine berufliche Spezialisierung, falls er eine solche besaß, nicht in Erscheinung treten lassen; sonst wurde er als pedantisch, extravagant und lächerlich empfunden; nur solche Fähigkeiten durfte man zeigen, die etwa auch als elegante Liebhabereien gelten konnten und die in der Gesellschaft zur leichten und angenehmen Unterhaltung beitrugen. Das hat, wie wir hier einschalten möchten, auch dazu geführt, daß zuweilen selbst schwierige und bedeutende Dinge in einer vorbildlich einfachen, eleganten und unpedanti‐ schen Weise dargestellt wurden, und daß, wie man weiß, der französische Sprachausdruck zu beispielloser Klarheit und Allgemeingültigkeit gelangte. Aber die berufliche Spezialisierung wurde auf diese Weise gesellschaftlich und ästhetisch unmöglich, sie war nur in der Kategorie des Grotesken Gegenstand der literarischen Nachahmung. Dazu hat freilich auch die Über‐ lieferung der Farce ihr Teil beigetragen, aber das erklärt noch nicht, warum nun auch in der neuen Gattung des vornehmen, gesellschaftlichen Lustspiels mittlerer Stillage die groteske Auffassung des berufstätigen Menschen so allgemein und ausnahmslos sich erhielt. 370 XV Der Scheinheilige <?page no="371"?> Man kann auch eine Gegenprobe machen. Eine ganze Anzahl von Lust‐ spielen Molières spielen in den Kreisen des gehobenen Bürgertums, zum Beispiel l’Avare, le Bourgeois gentilhomme, les Femmes savantes, le Malade imaginaire. In all diesen Häusern ist man sehr wohlhabend, aber in keinem von ihnen ist von Beruf oder von produktiver wirtschaftlicher Tätigkeit die Rede. Wir erfahren nicht einmal, wie Harpagon, der Geizige, zu seinem Vermögen gekommen ist - vielleicht hat er es geerbt -, und das einzige Geschäft, das erwähnt wird, das wucherische Darlehen, ist grotesk, von zeitloser Allgemeinheit und überdies nicht produktiv, sondern die Anlage eines Rentners. Von keinem unter all diesen Bürgersleuten erfährt man den Beruf; es sind augenscheinlich alles Rentner. Nur ein einziges Mal wird davon gesprochen, woher das Vermögen ursprünglich stammt: im Bourgeois gentilhomme nämlich, wo Frau Jourdain ihrem Manne vorhält: «Descen‐ dons-nous tous deux que de bonne bourgeoisie? … Et votre père n’était-il pas marchand aussi bien que le mien? …» Und in bezug auf ihre Tochter sagt sie: «… ses deux grands-pères vendaient du drap auprès de la porte Saint-Innocent.» Aber diese Angaben dienen nur dazu, die groteske Narrheit ihres Mannes, des Herrn Jourdain, schärfer hervortreten zu lassen; Herr Jourdain ist ein ungebildeter Parvenu, der das gesellschaftliche Ideal seiner Zeit mißversteht und seinen gesellschaftlichen Aufstieg mit untauglichen Mitteln ins Werk zu setzen versucht; statt zu versuchen, ein gebildeter honnête homme des großbürgerlichen Standes zu werden, begeht er den schwersten gesellschaftlichen Fehler, den man damals begehen konnte: er will scheinen, was er nicht ist, nämlich ein Adliger, un gentilhomme. Das wird ganz deutlich, wenn man an seinen präsumptiven Schwiegersohn Cléonte denkt, den Molière dem Herrn Jourdain als Muster eines honnête homme bürgerlicher Herkunft gegenüberstellt. Als Cléonte seine Werbung anbringt, fragt ihn Herr Jourdain, ob er gentilhomme sei, und erhält folgende Antwort: Monsieur, la plupart des gens, sur cette question, n’hésitent pas beaucoup; on tranche le mot aisément. Ce nom ne fait aucun scrupule à prendre, et l’usage aujourd’hui semble en autoriser le vol. Pour moi, je vous l’avoue, j’ai les sentiments, sur cette matière, un peu plus délicats. Je trouve que toute imposture est indigne d’un honnête homme, et qu’il y a de la lâcheté à déguiser ce que le ciel nous a fait naître, à se parer au monde d’un titre dérobé, à se vouloir donner pour ce qu’on n’est pas. Je suis né de parents, sans doute, qui ont tenu des charges honorables; je me suis acquis, dans les armes, l’honneur de six ans de service, XV Der Scheinheilige 371 <?page no="372"?> et je me trouve assez de bien pour tenir dans le monde un rang assez passable; mais, avec tout cela, je ne veux point me donner un nom où d’autres, en ma place, croiraient pouvoir prétendre; et je vous dirai franchement que je ne suis point gentilhomme. So also sieht ein standesbewußter junger Bürgersmann aus, ein honnête homme, der seinen Platz in der Gesellschaft kennt. Die Adelsstreberei, der solche Parvenus wie Herr Jourdain verfallen (die erst in zweiter Generation reich sind, und deren Vater noch Tuchhändler war), weist er weit von sich. Aber ebensoweit entfernt ist er von Volk und konkretem Beruf. Kein Wort davon, daß seine Familie etwa in der Seidenindustrie oder im Weinhandel angesehen ist. Vielmehr «ils ont tenu des charges honorables», das heißt, sie haben sich Ämter gekauft, die sie zu Angehörigen des Zwischenstandes, der robe, erhoben; er selbst war sechs Jahre Offizier; und er ist reich genug «pour tenir dans le monde un rang assez passable». Kein Gedanke an wirtschaftliche Gesinnung, an produktives Bürgertum, kann diesem jungen Manne kommen; im Gegenteil, er strebt davon fort. Sein Bürgertum ist ihm, genau wie einem jungen Adligen sein Adel, nichts als «un rang qu’on tient dans le monde»; er wird ebenfalls, wie seine Eltern und Verwandten, eine charge honorable kaufen oder erben. (Diese letzten Ausführungen sind fast wörtlich meiner früheren Abhandlung «Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts», München 1933, Seite 40 bis 42, entnommen; auch sonst werde ich in dem gegenwärtigen Kapitel diese Schrift mehrfach verwenden.) Molière hat sich, wie wir gesehen haben, nicht gescheut, farcenhafte Elemente in seinen Gesellschaftslustspielen zu verwenden, aber er vermei‐ det es durchaus, die politische und ökonomische Lage des Milieus, in dem seine Personen sich bewegen, realistisch zu konkretisieren oder gar kritisch zu vertiefen; er ist weit eher geneigt, dem Grotesken in die mittlere Höhenlage des Stils Einlaß zu gewähren als dem ernsthaft und grundsätzlich Realistischen des wirtschaftlich-politischen Lebens. Sein Realismus, inso‐ fern er eine ernsthafte und problematische Seite hat, beschränkt sich auf das Psychologisch-Moralistische; um das mit aller Schärfe zu erkennen, wolle man sich der Schilderung der Entstehung des Grandetschen Vermögens erinnern, die Honoré de Balzac zu Beginn seines Romans Eugénie Grandet gibt, in welche die ganze französische Geschichte von 1789 bis zur Restau‐ ration hineingeflochten ist, und daneben die vollkommene Allgemeinheit und Geschichtslosigkeit der Wirtschaftslage Harpagons halten. Man möge nicht einwenden, daß Molière im Rahmen eines Lustspiels nicht Raum 372 XV Der Scheinheilige <?page no="373"?> für eine Schilderung wie die Balzacs hatte; auch auf der Bühne wäre es möglich gewesen, anstelle Harpagons einen zeitgenössischen Großhändler oder Finanzpächter mitten in seinen Geschäften zu zeigen; aber so etwas erscheint erst nachklassisch, bei Dancourt etwa oder bei Lesage, und auch da ohne ernsthafte Problematik im Zeitgeschichtlich-Wirtschaftlichen. Die Feststellungen über die Beschränkungen des Realismus, die wir bisher getroffen haben, beziehen sich alle auf den mittleren Stil des Lustspiels und der Satire; weit strenger noch sind sie im Bezirk des hohen Stils, in der Tragödie. Dort ist in jener Zeit die Trennung des Tragischen von den Gegebenheiten des täglichen und des menschlich-kreatürlichen Lebens in einer so radikalen Weise durchgeführt worden, wie nie zuvor, auch nicht in der Epoche, deren Stil als Muster diente, der griechisch-römischen Antike. Noch Corneille hat zuweilen empfunden, wieviel weiter der Geschmack seiner Zeit in dieser Richtung ging, als die antike Tradition es forderte. Auf der französischen tragischen Bühne darf weder das Alltägliche der Vorgänge noch das Kreatürliche der Personen in Erscheinung treten; es erscheint ein Typus der tragischen Person, der der Antike ganz fremd war. Um von ihm eine konkrete Vorstellung zu geben, will ich einige charakteristische Stilbilder zusammenstellen; sie stammen aus Racines Tragödien Bérénice und Esther; doch finden sich ähnliche überall in den tragischen Werken der Zeit, wenn auch nur bei Racine in solcher Vollendung der Form. Zu Beginn der Bérénice werden wir in ein Zimmer des kaiserlichen Palasts eingeführt: - - … La pompe de ces lieux, - - Je le vois bien, Arsace, est nouvelle à tes yeux. - - Souvent ce cabinet, superbe et solitaire, - - Des secrets de Titus est le dépositaire. - - C’est ici quelquefois qu’il se cache à sa cour … Dem entspricht die Art, wie der Kaiser sich ausdrückt, wenn er der Einsam‐ keit bedürftig ist: - - Paulin, qu’on vous laisse avec moi (2, 1); oder - - Que l’on me laisse (4, 3); oder, wenn er jemand zu sprechen wünscht: - T I T U S : A-t-on vu de ma part le roi de Comagène? XV Der Scheinheilige 373 <?page no="374"?> Sait-il que je l’attends? - P A U L I N : … - - De vos ordres, seigneur, j’ai dit qu’on l’avertisse. - T I T U S : Il suffit-… (2, 1) Wenn Titus den König Antiochus beauftragt, die Königin Bérénice auf ihrer Reise zu begleiten, so sieht das folgendermaßen aus: - Vous, que l’amitié seule attache sur ses pas, - Prince, dans son malheur ne l’abandonnez pas: - Que l’Orient vous voie arriver à sa suite; - Que ce soit un triomphe, et non pas une fuite; - Qu’une amitié si belle ait d’éternels liens; - Que mon nom soit toujours dans tous vos entretiens. - Pour rendre vos Etats plus voisins l’un de l’autre, - L’Euphrate bornera son empire et le vôtre. - Je sais que le sénat, tout plein de votre nom, - D’une commune voix confirmera ce don. - Je joins la Cilicie à votre Comagène-… Aus den Worten des Antiochus zitiere ich: - Titus m’accable ici du poids de sa grandeur: - Tout disparaît dans Rome auprès de sa splendeur; - Mais, quoique l’Orient soit plein de sa mémoire, - Bérénice y verra des traces de ma gloire. (3, 1 u. 2) Die Darstellung des Königs im Prolog zu Esther ist zu lang, um hierherge‐ setzt zu werden, und auch aus der Schilderung der Frauensuche und der Wahl des Königs, die Esther in der ersten Szene gibt, will ich nur einige Proben abdrucken: - De l’Inde à l’Hellespont ses esclaves coururent: - Les filles de l’Egypte à Suse comparurent; - Celles même du Parthe et du Scythe indompté - Y briguèrent le sceptre offert à la beauté. Und später - Il m’observa longtemps dans un sombre silence; - Et le ciel qui pour moi fit pencher la balance, - Dans ce temps-là, sans doute, agissait sur son cœur. - Enfin, avec des yeux où régnait la douceur, 374 XV Der Scheinheilige <?page no="375"?> Soyez reine, dit-il-… Was Racine aus dem Auftritt gemacht hat, wo Esther ungerufen vor dem König erscheint, ist jedem Racineleser in Erinnerung: - A S S U É R U S : - Sans mon ordre on porte ici ses pas! - - Quel mortel insolent vient chercher le trépas? - - Gardes-… C’est vous, Esther! Quoi! sans être attendue? - E S T H E R : Mes filles, soutenez votre reine éperdue: - - Je me meurs-… (Elle tombe évanouie). - A S S U É R U S : - Dieux puissants! quelle étrange pâleur - - De son teint tout à coup efface la couleur! - - Esther, que craignez-vous? Suis-je pas votre frère? Est-ce pour vous qu’est fait un ordre si sévère? - - Vivez: le sceptre d’or que vous tend cette main - - Pour vous de ma clémence est un gage certain. - - … - E S T H E R : Seigneur, je n’ai jamais contemplé qu’avec crainte - - L’auguste majesté sur votre front empreinte; - - Jugez comment ce front irrité contre moi - - Dans mon âme troublée a dû jeter d’effroi: - - Sur ce trône sacré qu’environne la foudre - - J’ai cru vous voir tout prêt à me réduire en poudre. - - Hélas! sans frissonner, quel cœur audacieux - - Soutiendrait les éclairs qui partaient de vos yeux? - - Ainsi du Dieu vivant la colère étincelle-… - A S S U É R U S : … - - Calmez, reine, calmez la frayeur qui vous presse. - - Du cœur d’Assuérus souveraine maîtresse, - - Eprouvez seulement son ardente amitié. - - Faut-il de mes Etats vous donner la moitié? Dieses Angebot begleitet der Text des Estherbuches, freilich nicht an dieser Stelle, sondern erst später, beim Gastmahl, mit der «nüchternen» Bemer‐ kung «postquam vinum biberat abundanter»; davon ist bei Racine nichts zu lesen; ebenso wie er schon vorher eine realistische Angabe dieses Textes verschweigt, obgleich sie, weit mehr noch als das bloße Verbot, ungerufen zu erscheinen, Esthers Mut in das richtige Licht setzt: Ego igitur quo modo ad regem intrare potero, quae triginta iam diebus non sum vocata ad eum? Was aus all diesen Zitaten hervorgeht, ist die zum Äußersten getriebene Überhöhung der tragischen Person; sei sie nun ein Fürst, der in seinem XV Der Scheinheilige 375 <?page no="376"?> cabinet superbe et solitaire sich seiner Liebe hingibt, nachdem er zu seiner Umgebung gesagt hat: que l’on me laisse - sei sie eine Fürstin, die etwa ein sie erwartendes Schiff besteigt, souveraine des mers qui vous doivent porter (Mithridate l, 3) - die tragische Person ist stets in erhabener Haltung, im Vordergrund, umgeben von Gerät, Gefolge, Volk, Landschaft und Weltall wie von Siegestrophäen, die ihr dienen oder zu Gebote stehen. In dieser Haltung gibt sie sich ihren fürstlichen Leidenschaften hin, und zu den wirksamsten Stilbildern in der Art der oben aufgezählten gehören solche, in denen ganze Länder, Erdteile oder auch das Weltall als Zuschauer, Zeuge, Hintergrund oder Echo der fürstlichen Gemütsbewegung erscheinen. Auch für diesen Sonderfall will ich einige Beispiele geben. In der Andromaque (2, 2) sagt Hermione - Pensez-vous avoir seul éprouvé des alarmes; - Que l’Epire jamais n’ait vu couler mes larmes? Weit berühmter ist der herrliche Vers aus der Liebeserklärung des Antio‐ chus, Bérénice 1, 4, den ich mit seiner nächsten Umgebung hierhersetze, und in dem sich das Barock-Überhöhende mit dem Romantischen zu begegnen scheint: - Rome vous vit, madame, arriver avec lui. - Dans l’Orient désert quel devint mon ennui! - Je demeurai longtemps errant dans Césarée, - Lieux charmants où mon cœur vous avait adorée, - Je vous redemandais à vos tristes Etats; - Je cherchais en pleurant les traces de vos pas-… Und schließlich soll noch ein Bild aus derselben Bérénice folgen: - Aidez-moi, s’il se peut, à vaincre ma faiblesse, - A retenir des pleurs qui m’échappent sans cesse; - Ou, si nous ne pouvons commander à nos pleurs, - Que la gloire du moins soutienne nos douleurs; - Et que tout l’univers reconnaisse sans peine - Les pleurs d’un empereur et les pleurs d’une reine. (4, 5) Das Bewußtsein, welches die tragische Person von ihrem fürstlichen Stande hat, ist so stark, daß es sie niemals verläßt. Selbst in tiefstem Unglück, im äußersten Affekt nennen sie sich selbst mit ihrem Stande; sie sagen nicht: ich Unglücklicher! - sondern ich unglücklicher Fürst. Une triste princesse nennt 376 XV Der Scheinheilige <?page no="377"?> sich Hermione (Andromaque, 2, 2), und Bérénice, in der schrecklichsten Verwirrung, beschwört Antiochus mit folgenden Worten: - O ciel! quel discours! Demeurez! - Prince, c’est trop cacher mon trouble à votre vue: - Vous voyez devant vous une reine éperdue, - Qui, la mort dans le sein, vous demande deux mots-… (3, 3) Titus nennt sich stets un prince malheureux, und in dem dramatischen Augenblick, wo Athalie, plötzlich sich verraten und verloren sehend, in Verzweiflung ausbricht, ruft sie: - Où suis-je? O trahison! ô reine infortunée! - D’armes et d’ennemis je suis environnée! (5, 5) Die Stelle, wo Esther, in Ohnmacht fallend, ausruft: - Mes filles, soutenez votre reine éperdue-… haben wir schon oben erwähnt. Der fürstliche Stand und die damit ver‐ bundene Überhöhung ist ein Teil ihres natürlichen Wesens geworden, untrennbar von ihrer Substanz, und selbst vor Gott oder dem Tode er‐ scheinen sie in der ihnen zukommenden Haltung des Fürsten; ganz im Gegensatz zu der «kreatürlichen» Vorstellung, die wir, in dem Abschnitt über das 15. Jahrhundert, auf Seite 252 zu beschreiben versucht haben. Dabei wäre es durchaus verkehrt, wenn man ihnen das Natürlich-Menschliche, Unmittelbare und Einfache absprechen wollte, wie dies die Romantiker zuweilen getan haben; zumindest für Racine verrät ein solches Urteil völliges Unverständnis, seine Personen sind in einer vollkommenen und exemplari‐ schen Weise natürlich und menschlich; nur spielt sich ihr ergreifend und exemplarisch menschliches Leben auf einem überhöhten Standort ab, der ihnen selbstverständlich geworden ist. Ja es geschieht zuweilen, daß aus der Überhöhung selbst die bezauberndste und tiefste menschliche Wirkung gewonnen wird; als Beispiel könnte man vieles aus Phèdre zitieren, doch will ich mich hier mit der Rede der ahnungslos glücklichen Bérénice begnügen, in der sie fast verzückt die Majestät ihres Geliebten Titus während der nächtlichen Zeremonie im Senat beschreibt, um zuletzt etwas zu sagen, was nur ein Liebender sagen kann: - Parle: peut-on le voir sans penser, comme moi, - Qu’en quelque obscurité que le sort l’eût fait naître, XV Der Scheinheilige 377 <?page no="378"?> Le monde en le voyant eût reconnu son maître? Während nun, wie wir sahen, das Bewußtsein des fürstlichen Standes in die Substanz selbst der tragischen Person eingeschmolzen ist, so tritt dennoch das eigentlich Funktionelle des Regierens, also ihre praktische Tätigkeit, nur in allgemeinsten Andeutungen in Erscheinung; ihr Fürstsein ist weit mehr eine Haltung, eine «Attitüde», als eine praktische Funktion. In den frühesten Stücken, besonders im Alexandre, tritt die politische und kriegerische Tätigkeit des Fürsten ausschließlich in den Dienst seiner Liebe; Alexandre unterwirft die Welt nur, um sie seiner Geliebten zu Füßen zu legen, und das ganze Stück ist voll von barocken Stilbildern in der Art des folgenden: - A L E X A N D R E : … - - Maintenant que mon bras, engagé sous vos lois, - - Doit soutenir mon nom et le vôtre à la fois, - - J’irai rendre fameux, par l’éclat de la guerre, - - Des peuples inconnus au reste de la terre, - - Et vous faire dresser des autels en des lieux - - Où leurs sauvages mains en refusaient aux dieux. - C L É O P H I L E : Oui, vous y traînerez la victoire captive; - - Mais je doute, Seigneur, que l’amour vous y suive. - - Tant d’Etats, tant de mers, qui vont nous désunir - - M’effaceront bientôt de votre souvenir. - - Quand l’Océan troublé vous verra sur son onde - - Achever quelque jour la conquête du monde; - - Quand vous verrez les rois tomber à vos genoux, - - Et la terre en tremblant se taire devant vous, - - Songerez-vous, seigneur, qu’une jeune princesse, - - Au fond de ses Etats, vous regrette sans cesse - - Et rappelle en son cœur les moments bienheureux - - Où ce grand conquérant l’assurait de ses feux? - A L E X A N D R E : Et quoi! vous croyez donc qu’à moi-même barbare - - J’abandonne en ces lieux une beauté si rare? - - Mais vous-même plutôt voulez-vous renoncer - - Au trône de l’Asie où je vous veux placer? (3, 6) Diese fiktive Geschehensanordnung, die unmittelbar aus den galanten Romanen, mittelbar aus dem höfischen Epos stammt (vgl. Seite 146f.), findet sich noch sehr ausgeprägt in der Andromaque, wo Pyrrhus zu Andromaque sagt: 378 XV Der Scheinheilige <?page no="379"?> Mais, parmi ces périls où je cours pour vous plaire, - Me refuserez-vous un regard moins sévère? (1, 4) oder später, in einem Musterbeispiel barocker Hyperbel, seine Liebesqual mit den Qualen vergleichend, die er den Trojanern angetan hat: - Je souffre tous les maux que j’ai faits devant Troie: - Vaincu, chargé de fers, de regrets consumé, - Brûlé de plus de feux que je n’en allumai - … - Hélas! fus-je jamais si cruel que vous l’êtes? Dem entsprechen die Äußerungen Orestes, der in seiner Liebesqual vergeb‐ lich den Tod bei den Skythen gesucht hat: - Enfin, je viens à vous, et je me vois réduit - A chercher dans vos yeux une mort qui me fuit. - … - Madame, c’est à vous de prendre une victime - Que les Scythes auraient dérobée à vos coups, - Si j’en avais trouvé d’aussi cruels que vous. (2, 2) In den späteren Stücken klingen derartige Motive seltener an, etwa in Bérénice 2, 2: - … et de si belles mains - Semblent vous demander l’empire des humains-… Im ganzen ist später die Auffassung vom Regierungsgeschäft und die politische Geschehensanordnung eine andere, doch immer noch bleibt sie eine erhaben-allgemeine, weit entfernt vom Praktischen und Sachlichen. Es handelt sich stets um Hofintrigen und Machtkämpfe, die nicht über die höchsten Sphären der unmittelbaren Umgebung des Fürsten hinaus‐ dringen, und dies gestattet dem Dichter das Politische ganz im Rahmen des Persönlich-Psychologischen und innerhalb von wenigen Personen zu halten, welche moralistisch behandelt werden; was darunter und dahinter liegt, kommt entweder gar nicht, oder nur in allgemeinster Weise zum Ausdruck; dies letztere ist zum Beispiel der Fall mit jener «loi qui ne se peut changer», die den Kaiser Titus (Bérénice) hindert, eine auswärtige Königin zu heiraten. Wenn Titus sich in diesem Konflikt nach der Stimmung des Volkes erkundigt, so sieht das so aus: - Que dit-on des soupirs que je pousse pour elle? XV Der Scheinheilige 379 <?page no="380"?> Die vollkommen moralistische Art der politischen Geschehensanordnung, die jede sachlich-problematische Betrachtung und jedes Sicheinlassen mit dem Konkret-Praktischen des Regierungsgeschäfts ausschließt, läßt sich am besten in Britannicus, Bérénice und Esther studieren. Überall ist Wohl und Wehe des Staates ausschließlich von den moralischen Eigenschaften des Fürsten abhängig, der entweder seine Leidenschaften beherrscht und seine Allmacht in den Dienst der Tugend und somit des Staatswohls stellt, oder aber diesen Leidenschaften verfällt und sich von den Schmeichlern aus seiner Umgebung verführen und in seinen bösen Gelüsten bestärken läßt. Ganz unbestritten ist seine Allmacht, die nirgends Widerstand findet, und all die sachlichen Probleme und Widerstände, die sich in der lebendigen Wirklichkeit dem guten wie dem bösen Willen entgegenstellen, bleiben ganz unberücksichtigt; das alles liegt tief unter uns. Von diesem Standpunkt ist das Bild überall das gleiche, sei es in den Anspielungen auf Neros erste tugendhafte Regierungsjahre: - Depuis trois ans entiers, qu’a-t-il dit, qu’a-t-il fait - Qui ne promette à Rome un empereur parfait? - Rome, depuis trois ans, par ses soins gouvernée, - Au temps de ses consuls croit être retournée; - Il la gouverne en père-… (Britannicus 1, 1) sei es in der Art, wie Titus’ Ehrgeiz ein guter Herrscher zu sein, ausgedrückt wird: - J’entrepris le bonheur de mille malheureux: - On vit de toutes parts mes bontés se répandre-… (Bérénice 2, 2) oder - Où sont ces heureux jours que je faisais attendre? Quels pleurs ai-je séchés? Dans quels yeux satisfaits - Ai-je déjà goûté le fruit de mes bienfaits? - L’univers a-t-il vu changer ses destinées? (Ibid. 4, 4) sei es in der Beschreibung des guten Königs: - J’admire un roi victorieux, - Que sa valeur conduit triomphant en tous lieux: - Mais un roi sage et qui hait l’injustice, - Qui sous la loi du riche impérieux - Ne souffre pas que le pauvre gémisse 380 XV Der Scheinheilige <?page no="381"?> Est le plus beau présent des cieux, - La veuve en sa défense espère. - De l’orphelin il est le père. - Et les larmes du juste implorant son appui - Sont précieuses devant lui. (Esther 3, 3) sei es schließlich in der Darstellung der höfischen Schmeichler: - De l’absolu pouvoir vous ignorez l’ivresse, - Et des lâches flatteurs la voix enchanteresse. - Bientôt ils vous diront que les plus saintes lois, - Maîtresses du vil peuple, obéissent aux rois: - Qu’un roi n’a d’autre frein que sa volonté même-; - Qu’il doit immoler tout à sa grandeur suprême-… (Athalie 4, 3) Diese reinlich in Schwarz und Weiß scheidende, überaus vereinfachende und ausschließlich moralistische Betrachtungsweise des Politischen findet sich, wie wir gesehen haben, nicht nur in den für die Fräuleins von Saint-Cyr bestimmten Stücken, wo sie durch den besonderen Zweck erklärlich ist, sondern auch in den anderen. In den Saint-Cyr-Tragödien ist es eher der biblische, in den früheren eher der spätantike Moralismus, der die gedachte Geschehensauffassung inspiriert hat; in beiden Fällen aber tritt ein Motiv ganz stark hervor, das in den inspirierenden Quellen entweder gar nicht oder doch nur weit schwächer aufklingt, das der fürstlichen Allmacht; ein führendes Motiv des barocken Absolutismus. Der Fürst ist auf Erden wie Gott; den Vergleich beider haben wir schon in der auf Seite 375 angeführten Esther-Stelle angetroffen; dem entspricht die Darstellung Gottes als eines moralistischen Großkönigs: - L’Eternel est son nom, le monde est son ouvrage; - Il entend les soupirs de l’humble qu’on outrage, - Juge tous les mortels avec d’égales lois, - Et du haut de son trône interroge les rois-… (Esther 3, 4) Ähnliches findet sich etwa im Schlußchor des ersten Aktes von Athalie, und unwillkürlich erinnert man sich dabei jener prachtvoll rollenden Pe‐ rioden Bossuets zu Beginn der Grabrede auf die Königin von England, Henriette-Marie de France, die in einen Psalmvers ausklingen: Et nunc, reges, intelligite; erudimini, qui iudicatis terram; die Rede wurde 1669, in der ersten Glanzzeit des Königs und Racines, zwanzig Jahre vor Esther gehalten. XV Der Scheinheilige 381 <?page no="382"?> In den Tragödien der französischen Klassik herrscht, wie es nach all dem schon Gesagten selbstverständlich ist, die schärfste Abschließung der tragischen Personen und des tragischen Vorgangs nach unten; schon aus der nächsten Umgebung des Fürsten werden nur wenige, für die Handlung unentbehrliche Figuren ausgewählt, Minister oder Vertrauenspersonen, und alles übrige ist «on». Vom Volk ist nur selten und nur in den allgemeinsten Ausdrücken die Rede, Angaben über den alltäglichen Lebensverlauf, über Schlafen, Essen und Trinken, über Wetter, Landschaft und Tageszeit fehlen fast vollkommen, und sind, wo sie auftreten, in den erhabenen Stil einge‐ schmolzen. Daß kein gewöhnliches Wort, keine geläufige Bezeichnung für ein Gerät des täglichen Gebrauchs statthaft ist, weiß man aus der heftigen Polemik der Romantiker gegen diesen Stil, deren wohl energischster und witzigster Ausdruck sich in Victor Hugos Gedicht Réponse à un acte d’ac‐ cusation findet (in den Contemplations); aus den fast allzu beredten Versen, in denen er seine Revolte gegen das klassische Erhabenheitsideal schildert, ist mir immer eine Zeile als besonders charakteristisch in Erinnenung geblieben: - On entendit un roi dire: Quelle heure est-il ? So etwas (es geschieht in Hugos Hernani) wäre in der Tat ganz unvereinbar mit dem erhabenen Stil Racines. In dieser sie abschließenden und isolierenden Erhabenheit geben sich die tragischen Fürsten und Fürstinnen ihren Leidenschaften hin. Nur die bedeu‐ tendsten, von dem Wirrsal des Alltäglichen befreiten, von dem Geruch und Geschmack des Alltäglichen gereinigten Erwägungen dringen in ihre Seele, die auf diese Art gänzlich frei ist für die größten und stärksten Bewegungen. Die gewaltige Wirkung der Leidenschaften in den Werken Racines, und auch schon Corneilles, beruht zum guten Teil auf der eben beschriebenen atmosphärischen Isolierung des Vorgangs; sie ist vergleichbar mit der isolierenden Herstellung der günstigsten Bedingungen, wie sie im modernen Experiment üblich ist; man sieht den Vorgang vollkommen ungestört und ungebrochen. Im moralischen Bezirk wird die Neigung zur ständischen Stiltrennung so weit getrieben, daß die jeweils aus der Lage erwachsenen praktischen Erwägungen und Bedenken den Personen vergleichsweise nie‐ derer Sphäre entstammen; die fürstlichen Helden und Heldinnen halten sich frei davon, ihre leidenschaftliche Erhabenheit verschmäht jedes praktische Bedenken. In Bérénice ist es die confidente Phénice, die der Königin rät, Antiochus nicht völlig zu entmutigen, da Titus sich noch nicht deutlich 382 XV Der Scheinheilige <?page no="383"?> erklärt habe (1, 5); und in demselben Stück ist es Antiochus’ Vertrauter Arsace, der seinen König auf die für ihn günstige Zwangslage aufmerksam macht, in der sich Bérénice befindet; sie muß nach Arsaces Meinung, da Titus sie verläßt, Antiochus heiraten (3, 2); solche gleichsam rechnerischen Erwägungen, die die praktischen Erfordernisse der Lage betrachten und danach urteilen, sind zu niedrig, um in der Seele des von erhabenen Leidenschaften bewegten Fürsten Platz zu finden, und sie erweisen sich auch als falsch. Das gleiche Stilgefühl hat Racine bewogen, die Verleumdung Hippolytes nicht, wie in seiner Vorlage, dem euripideischen Hippolytos, Phèdre selbst in den Mund zu legen, sondern ihrer Amme Oenone; er sagt dies in seiner Préface: J’ai même pris soin de la rendre un peu moins odieuse qu’elle n’est dans les tragédies des anciens, où elle se résout d’elle-même à accuser Hippolyte. J’ai cru que la calomnie avait quelque chose de trop bas et de trop noir pour la mettre dans la bouche d’une princesse qui a d’ailleurs des sentiments si nobles et si vertueux. Cette bassesse m’a paru plus convenable à une nourrice, qui pouvait avoir des inclinations plus serviles-… Doch scheint mir Racine an dieser Stelle, an der er den moralischen Wert der Tragödie gegen die von fromm-christlicher Seite stammenden Angriffe zu verteidigen sucht, dem Gedanken eine allzu «tugendhafte» Wendung zu geben; es ist nicht eigentlich das moralisch Böse, sondern das niedrig und praktisch den Vorteil Berechnende, welches unvereinbar ist mit der Erhabenheit seiner fürstlichen Helden. Ein weiteres sehr wesentliches Merkmal der Erhabenheit der tragischen Personen ist ihre körperliche Intaktheit; alles, was ihrem Körper geschieht, muß in hohem Stil geschehen, und alles Niedrige und Kreatürliche muß fortbleiben. Noch Corneille hat ein Empfinden dafür gehabt, wie weit das Stilgefühl seiner Zeit in dieser Hinsicht alle Überlieferung, selbst die der Antik, überbot. Als seine Théodore durchfiel, schrieb man den Mißerfolg zum Teil dem Umstand zu, daß in dem Stück von der drohenden Prostitution der Heldin die Rede ist. Dans cette disgrâce, so sagt er in seinem Examen (Œuvres. éd. Grands Ecrivains, V, 11), j’ai de quoi congratuler à la pureté de notre scène, de voir qu’une histoire qui fait le plus bel ornement du second livre de Saint-Ambroise, se trouve trop licencieuse pour y être supportée. Qu’eût-on dit, si, comme ce grand Docteur de l’Eglise, j’eusse fait voir cette vierge dans le lieu infâme-… XV Der Scheinheilige 383 <?page no="384"?> Auch jedes Zeichen der körperlich-kreatürlichen Hinfälligkeit ist unverein‐ bar mit der französisch-klassischen Vorstellung vom Erhabenen; nur der Tod selbst, als Ereignis hohen Stiles, ist unentbehrlich; aber kein tragischer Held darf alt, krank, hinfällig und entstellt sein. Auf dieser Bühne gibt es weder Lear noch Ödipus, oder aber sie müssen sich dem herrschenden Stilgefühl anpassen. In dem Vorwort seines Œdipe spricht Corneille von seinem Vorbild Sophokles: Je n’ai pas laissé de trembler quand je l’ai envisagé de près, et un peu plus à loisir que je n’avais fait en le choisissant. J’ai connu que ce qui avait passé pour miraculeux dans ces siècles éloignés, pourrait sembler horrible au nôtre, et que cette éloquente et curieuse description de la manière dont ce malheureux prince se crève les yeux, et le spectacle de ces mêmes yeux crevés, dont le sang lui distille sur le visage, qui occupe tout le cinquième acte chez ces incomparables originaux, ferait soulever la délicatesse de nos dames … j’ai tâché de rémédier à ces désordres … (Œuvres VI, 126) Man fühlt aus dem Ton der beiden Zitate, daß Corneille nicht ganz ohne inneren Widerspruch dem Stilgefühl der Zeit Ludwigs XIV. gegenüberstand. In seinem ersten und weitaus wirksamsten Meisterwerk, dem Cid, gibt es Don Diègue, der geohrfeigt wird und einen Augenblick wenigstens ein hilfloser alter Mann ist; und im Attila, der erst zur Zeit Boileaus und Racines geschrieben wurde, stirbt der Held an einem Nasenbluten, was viel Anstoß erregte. In Racines Tragödien wäre so etwas undenkbar. Für seine Generation war es selbstverständlich, daß das Körperlich-Natürliche oder gar Kreatürliche nur auf der komischen Bühne, und auch da nur in gewissen Grenzen, geduldet werden kann. Auch in Racines Tragödien tritt ein alter Held auf, nämlich Mithridate; aber er ist durchaus eine erhabene Gestalt, und sein Alter gibt Anlaß zu Stilbildern in der Art des folgenden: - Ce cœur nourri de sang, et de guerre affamé, - Malgré le faix des ans et du sort qui m’opprime - Traîne partout l’amour qui l’attache à Monime-… (2, 3) Es ist, schließlich, auch das Gefühl für das Körperlich-Wohlanständige - welches, für ein modernes Empfinden, in seltsamem Gegensatz steht zu der überall maßlos tobenden Liebesleidenschaft -, das Racine veranlaßt hat, die Art der Anklage gegen Hippolyte (in Phèdre) zu mildern. In seinem Vorwort sagt er: 384 XV Der Scheinheilige <?page no="385"?> Hippolyte est accusé, dans Euripide et dans Sénèque, d’avoir en effet violé sa belle-mère: vim corpus tulit. Mais il n’est ici accusé que d'en avoir eu le dessein. J’ai voulu épargner à Thésée une confusion qui l’aurait pu rendre moins agréable aux spectateurs. Dabei läßt sich ein ganz allgemeiner Gegensatz zur Antike feststellen: in den antiken Werken ist die Liebe nur sehr selten ein Gegenstand hohen Stils; sie ist dort, wenn sie als Hauptgegenstand, also ohne Verbindung mit anderen, göttlich-schicksalshaften Motiven auftritt, nur in Dichtungen mittlerer Höhenlage behandelt; aber sobald von ihr die Rede ist, sei es selbst in einem erhaben epischen oder tragischen Werk, wird ohne jede Scheu das Körperliche zur Sprache gebracht. Mit der französischen Tragödie ist es gerade umgekehrt. Sie hat die erhabene Auffassung der Liebe übernommen, wie sie sich in der höfischen Kultur und nicht ohne Mitwirkung der Mystik im Mittelalter entwickelt und im Petrarcismus weiter ausgebildet hatte; schon bei Corneille ist sie ein tragisch-erhabenes Motiv, unter dem Einfluß der galanten Romane verdrängt sie fast alle anderen hohen Gegenstände, und Racine gibt ihr jene übermächtige Gewalt, die die Menschen aus ihrer Bahn schleudert und vernichtet. Aber bei alledem ist kaum ein Hauch von dem zu spüren, was der damalige Geschmack als niedrig und ungehörig empfand, vom Körperlichen und Geschlechtlichen. An der Abschließung und Isolierung des tragischen Vorgangs, die wir be‐ sprachen, haben auch die Einheitsgesetze bedeutenden Anteil. Sie beschrän‐ ken die Einbettung des Vorgangs in seine Umgebung auf ein Mindestmaß. An einem immer gleichbleibenden Ort, in der kurzen Zeitspanne von vier‐ undzwanzig Stunden, mit einer gänzlich aus ihren weiteren Verflechtungen herausgelösten Handlung kann die geschichtliche, soziale, ökonomische und landschaftliche Verwurzelung des Geschehens nur in allgemeinsten Andeutungen ausgedrückt werden. Es ist bewunderungswürdig, wie Ra‐ cine trotzdem, mit den geringsten Mitteln und ganz aus der eigentlichen Handlung heraus, eine Atmosphäre schafft; allein am glücklichsten gelingt ihm das in Phèdre und Athalie, wo Raum und Zeit, das eine Mal grie‐ chisch-mythisch, das andere Mal alttestamentlich, sich dem Absoluten und Außergeschichtlichen nähern. Szenen eines bestimmten Augenblicks, der tageszeitlich und landschaftlich in seiner Besonderheit deutlich würde, sind sehr selten. Man kann die Stelle aus Britannicus (2, 2) anführen, wo Nero die nächtliche Ankunft Junies beschreibt; sie ist meisterhaft, und zeigt, wie auch eine andere, von der wir gleich sprechen werden, daß Racine keineswegs aus XV Der Scheinheilige 385 <?page no="386"?> dichterischer Armut Augenblicksbilder dieser Art so sparsam gegeben hat, aber sie ist streng in den psychologischen Aufbau der Haupthandlung ein‐ gearbeitet, und sie trägt den Stempel des verallgemeinernd-umschreibenden Zeitstils, besonders in jenen Versen, die das Nachtgewand Junies schildern: - Belle sans ornement, dans le simple appareil - D’une beauté qu’on vient d’arracher au sommeil-… Die andere Stelle, an die ich denke, ist die dem Euripides nachgebildete Morgenlandschaft der ersten Szene von lphigénie. Sie enthält den herrlichen Vers: - Mais tout dort, et l’armée, et les vents, et Neptune, und ist durch ihren realistischen Augenblicksgehalt - der König, einen noch schlafenden Diener weckend - einzig in ihrer Art. Aber auch sie ist ganz in dem psychologischen Verlauf der Haupthandlung begründet, ihr Stimmungsgehalt ist nicht Selbstzweck, und ihr Sprachausdruck enthält nichts von realistischer Spontaneität; er ist erhaben und voll von Metaphern. Man kann im ganzen sagen, daß die Vereinheitlichung von Zeit und Ort die Handlung aus dem Zeitlichen und Örtlichen heraushebt; der Leser oder Hörer empfängt den Eindruck von einem absoluten, mythischen und irdisch nicht bestimmbaren Schauplatz. Es ist nicht mehr das abenteuerliche, auf pedantische und absurde Art mit Liebenden erfüllte Nirgendwo der galanten Romane; davon hat sich Racine schon früh befreit. Es ist ein überhöhter und isolierter Schauplatz, auf welchem tragische Personen, weit über alle alltäglichen Vorgänge herausgehoben, in erhabener Stilisierung redend, sich ihm leidenschaftlichen Gefühlen hingeben. Die klassische Tragödie der Franzosen stellt das äußerste Maß von Stiltrennung dar, von Loslösung des Tragischen vom Wirklich-Alltäglichen, das die europäische Literatur hervorgebracht hat. Ihre Auffassung vom tragischen Menschen und ihr Sprachausdruck sind das Ergebnis einer ganz speziellen, auf sehr komplizierten und vielschichtigen Traditionen beruhen‐ den, und vom durchschnittlichen Leben welcher Epoche auch immer sich weit entfernenden ästhetischen Hochzucht. Das ist jedoch eine moderne Erkenntnis, wenn sie auch nicht mehr sehr neu ist. Die zeitgenössische ästhetische Theorie besaß sie nicht. Sie brauchte, um die Tragödie Racines und ähnliche Werke zu begründen, zu loben oder zu verteidigen, Ausdrücke wie Natur, Vernunft, gesunder Menschenverstand und Wahrscheinlichkeit. In Racines Werken schien seinem und noch dem folgenden Jahrhundert le 386 XV Der Scheinheilige <?page no="387"?> naturel, la raison, le bon sens und la vraisemblance verwirklicht, daneben auch la bienséance und die vollendetste, zuweilen die Vorbilder übertref‐ fende Nachahmung der Antike. Ein solches Urteil bedarf der Interpretation, denn es ist heute nicht mehr einsichtig. Ist es vernünftig und natürlich, die Menschen dermaßen zu überhöhen, sie in derart stilisierter Weise reden zu lassen? Ist es wahrscheinlich, daß Krisen in so kurzer Zeit und so ungestört sich entwickeln, und ist es etwa wahrscheinlich, daß sich alles Wichtige daran im gleichen Raum abspielt? Jeder Unbefangene, das heißt jeder, der nicht von Kindheit und Schule an mit jenen Meisterwerken groß geworden ist, so daß er auch ihre erstaunlichsten Eigentümlichkeiten als selbstverständlich empfindet, wird mit nein antworten. Daß man im 17. Jahrhundert die Kunst Racines nicht etwa nur als meisterhaft und hinreißend, sondern auch als vernünftig, dem gesunden Menschenverstand entsprechend, natürlich und wahrscheinlich empfand, läßt sich nur aus der Perspektive der Zeit selbst erklären; sie hatte andere Maßstäbe als wir für das Vernünftige und Natürliche. Wenn man Racines Kunst beurteilte, so verglich man sie mit der Kunst der unmittelbar vorausgegangenen Genera‐ tion. Man stellte dabei fest, daß Racines Tragödie aus wenigen, einfachen, klar miteinander zusammenhängenden Ereignissen besteht, während die Vorgänger ein Übermaß von außerordentlichen und abenteuerlichen Vor‐ gängen aufgehäuft hatten; daß ferner die seelischen Lagen und Konflikte, in welchen Racines Personen befangen sind, eine vorbildliche, beispielhafte, allgemeingültige Einfachheit besitzen, während in den unmittelbar vorher‐ gehenden Generationen, teilweise durch Corneilles Einfluß, übermäßig heroische, zugespitzte und unwahrscheinliche Konflikte, teilweise auch, unter dem Einfluß der Preziösen, die Extravaganzen einer sentimentalen und pedantischen Galanterie Mode waren. Man kann den Widerhall des Kampfes gegen die früheren Strömungen noch in manchen Polemiken Boileaus, in den ersten Lustspielen Molières und in den Vorworten Racines, besonders in denen zu Andromaque, Britannicus und Bérénice vernehmen, und aus Boileau und Racine kann man auch erkennen, in welchem Maße und auf welche Art man die antiken Dichter als Muster verehrte. Es ist die Einfachheit des Vorgangs und die Eleganz des Ausdrucks, die die Elite der Zeitgenossen Racines am griechischen Theater bezauberte. Man hatte schon mehrere Jahrzehnte vorher, zur Zeit von Corneilles Jugend, als die Kreise des Hofes und der besseren städtischen Gesellschaft sich für das Theater zu interessieren begannen, die Einheitsregeln übernommen, hauptsächlich aus einer Auffassung von Wahrscheinlichkeit heraus, die uns nicht mehr XV Der Scheinheilige 387 <?page no="388"?> geläufig ist: man fand es unwahrscheinlich, daß in den wenigen Stunden einer Aufführung, auf der räumlich beschränkten und nur wenige Schritte vom Zuschauer entfernten Bühne, sich Ereignisse abspielten, die in Zeit und Raum weit auseinanderliegen. Diese Wahrscheinlichkeit bezieht sich also nicht auf die Ereignisse selbst, sondern auf ihre Wiedergabe auf der Bühne, auf die Möglichkeit der Bühnenillusion; und der technische Zustand des französischen Theaters, besonders in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, war in der Tat so, daß große Veränderungen des Schauplatzes noch kaum überzeugend suggeriert werden konnten. Sobald man sich aber aus solchen Gründen und aus dem Bestreben, die Antike nachzuahmen, auf die Ortsein‐ heit und die Vierundzwanzig-Stunden-Konvention festgelegt hatte, mußten die Vorgänge so geordnet werden, daß sie sich diesen Voraussetzungen fügten, und gerade darin ist Racine ein Meister. Bequem und natürlich legt sich bei ihm die Handlung in den gegebenen Rahmen; wenn er die Isolierung des Schauplatzes und die Abschließung der Handlung gegen alles Niedere, Äußere und Sonstige am weitesten getrieben hat, so dient das ohne Zweifel, unter den gegebenen Bedingungen der Einheitsvorschriften, der Natürlichkeit der Wirkung. Sodann aber, und das ist wohl das Wichtigste, müssen wir uns ver‐ gegenwärtigen, daß man zur Zeit Racines eine andere Vorstellung vom Natürlichen hatte als in späteren Epochen. Man setzte den Begriff vom Natürlichen nicht in Gegensatz zur Zivilisation, man verband ihn nicht mit den Vorstellungen von primitiven Kulturen, vom reinen Volkstum oder von freier Landschaft; sondern man identifizierte ihn mit einer wohlausge‐ bildeten, sich mit Anstand bewegenden, jeder noch so voraussetzungsvollen Lebenslage zwanglos sich einfügenden Artung des Menschen; so wie auch wir noch zuweilen an einem überaus gebildeten Menschen das Natürliche seines Wesens rühmen. Das Natürliche war nahezu gleichbedeutend mit dem Vernünftigen und Wohlanständigen. In dieser Hinsicht fühlte man sich, zu Recht oder Unrecht, im Einklang mit den Blütezeiten der antiken Kultur, die diese Vorzüge harmonisch-vernünftig-natürlicher Bildung in beispielhafter Weise besessen hätten; man hatte, unter Ludwig XIV., den Mut, die eigene Kultur neben der der Antike als mustergültig zu empfinden, und man setzte diese Auffassung in Europa auch durch. Auf dem Grunde dieser Anschauung, nach welcher sich das Natürliche als ein Erzeugnis von Kultur und Hochzucht darstellt, wurde weiter aufgebaut, und es wurde ferner dasjenige als natürlich empfunden, was zu jeder Zeit und unter allen Umständen die Herzen der Menschen bewegt: ihre Gefühle und 388 XV Der Scheinheilige <?page no="389"?> Leidenschaften. Das Natürliche war zugleich auch das Ewig-Menschliche; es schien die höchste Aufgabe der Dichtung, das Ewig-Menschliche rein zum Ausdruck zu bringen; und man glaubte, dies Ewig-Menschliche trete klarer und ungemischter auf den isolierten Höhen des Lebens zutage als im niederen und verworrenen historischen Getümmel. Dadurch aber war zugleich eine Beschränkung innerhalb des Ewig-Menschlichen gegeben; nur die «großen» Leidenschaften blieben als Gegenstand möglich, und auch die Liebe war nur in den Formen darstellbar, die den zeitgenössischen Vorstellungen vom höchsten Anstand entsprach. Jedenfalls ist das Natürliche zur Zeit Ludwigs XIV. etwas rein Psychologi‐ sches, und innerhalb des Psychologischen etwas unveränderlich Gegebenes; es ist der Inbegriff des unveränderlich Menschlichen. Wenn man es in den Formen der eigenen Gesittung zum Ausdruck brachte, so geschah es in der Absicht, diese zu einer mustergültigen, das Ewig-Menschliche exemplarisch vorstellenden zu stempeln, über oder neben welcher nur die Blütezeiten der antiken Kulturen Geltung hatten. Zu der Gesittung der Zeit gehört auch die barocke Überhöhung der fürstlichen Personen. Antike und mittelalterlich-hö‐ fische Metaphorik traten schon seit dem 16. Jahrhundert in den Dienst des vordringenden Absolutismus, und das Renaissanceübermenschentum gerann im Barock zu dem Bilde des Monarchen. Der Hof Ludwigs XIV. ist der Höhepunkt in der Entwicklung des Absolutismus, sowohl der Sache nach als auch in der äußeren Form; die Person des Königs, umgeben von der großen, sorgfältig nach Rang abgestuften Gesellschaft des einstigen Feudaladels, der, seiner Macht und seiner ursprünglichen Funktion beraubt, eben nur noch Umgebung des Königs ist, zeigt das vollendete Bild des barock überhöhten, absoluten Fürsten; ja der Hof wurde noch fortgesetzt von der «Stadt», denn auch das Pariser Großbürgertum sah in dem König seinen gesellschaftlichen Mittelpunkt, und die Grenzen zwischen «Hof» und «Stadt» waren nicht scharf gezogen. An der Überhöhung nahmen auch die Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses teil, in geringerem Maße auch diejenigen, die den König in den höchsten Heeres- und Verwaltungsposten vertraten; als ideales, auf einer niederen Stufe nachzuahmendes Vorbild gewannen der König und sein Hof inner- und außerhalb Frankreichs allgemeine Geltung. Die ständige Öffentlichkeit, in der sich das Leben des Königs abspielte, die unausgesetzte Einhaltung der überhöhten Lage in jedem Wort und jeder Geste, die fest geregelte, durch Sitte und Erziehung natürlich gewordene Art des Verkehrs zwischen ihm und seiner Umgebung stellen ein gesellschaftliches Kunstwerk dar, welches sich in zahlreichen Dokumenten der Zeit spiegelt und welches XV Der Scheinheilige 389 <?page no="390"?> oft, besonders auch in Taines Racineaufsatz (Nouveaux Essais de critique et d’histoire, 109-163), vorzüglich dargestellt worden ist. Das Bedeutende und Imponierende daran ist die Entsprechung von innerer und äußerer Würde, die von den beteiligten Personen ständig verlangt und auch gezeigt wird, obschon sie nur ein sehr beschränktes Maß von Freiheit besitzen: vollkommenste Selbstbeherrschung, richtige Beurteilung jeder Lage und des eigenen Platzes in ihr, richtige, bis ins Subtilste ausgeformte und doch spontane Haltung in jedem Wort und jeder Geste - diese Vorzüge sind kaum je zu solcher Vollendung gediehen wie am französischen Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und sie manifestierten sich in den Sprach- und Lebensformen des Spätbarock, die hier noch einmal hell aufstrahlen, und dabei eine Eleganz und Wärme gewinnen, die sie zuvor nicht besaßen. Das ist die Gesellschaft, das sind die mit neuer Eleganz erfüllten Formen des Spätbarock, das ist vor allem die Überhöhung der fürstlichen Gestalten, die sich in Racines Tragödien spiegeln. Eine Glorie von Würde strahlt von allen seinen Helden aus; ma gloire ist ein Wort, das sie oft verwenden, um die Unberührbarkeit ihrer körperlichen oder seelischen Würde zu bezeichnen; denn ihre Würde ist nicht nur etwas Äußeres, sondern ein Bestandteil ihres Wesens, was besonders bei den Frauen - man denke an Monime - bewunderungswürdig zum Ausdruck kommt. Das alles hat Taine in seiner scharfen Art sehr gut herausgearbeitet, obwohl mir scheint, daß das Urteil, welches er aus solchen Erwägungen über Racine gewinnt, doch etwas einseitig ist. Jedenfalls aber hat er zuerst die soziologische Methode verwendet, die zum perspektivisch-geschichtlichen Verständnis der Literatur des großen Jahrhunderts unentbehrlich ist. Ohne Einsicht in die gesellschaftliche Lage könnte man nicht erklären, wie die Überhöhung und die barocke Schnörkelei des Ausdrucks solche Modegeltung gewinnen und ausstrahlen konnte in einer Epoche, die in so vieler Hinsicht, auf so vielen Gebieten, philosophisch, wissenschaflich, politisch, ökonomisch, ja selbst gesellschaftlich, einen modern-rationalistischen Charakter besitzt, ja sogar die modern-rationalistischen Methoden vielfach begründete; noch wie es möglich ist, daß die zeitgenössische Kritik solche barocken und hyperbo‐ lischen Formen nach Vernunft und gesundem Menschenverstand beurteilt, einige davon bewundert, andere verwirft, dabei sehr viel Geschmack und Kunstverstand bezeugend, ohne doch den Widerspruch zu bemerken, in dem die barocke Formenwelt im ganzen zu einer rein vernünftigen Beurteilung steht. Diese Formenwelt ist der Ausdruck eines ganz bestimmten, unter ganz besonderen Bedingungen lebenden Teiles der Gesellschaft, und die funktio‐ nelle Bedeutung dieses Teiles war weit geringer als das Prestige, welches 390 XV Der Scheinheilige <?page no="391"?> er besaß, vermuten läßt. Es ist ja wohl nicht der geschichtliche Sinn des vollkommenen Absolutismus gewesen, einen überhöhten, von einem großen Hof umgebenen Monarchen zu schaffen; der Sinn war vielmehr, die Kräfte der Nation zusammenzufassen, die zentrifugalen Tendenzen zu zerstören, Politik, Verwaltung, Wirtschaft einheitlich zu organisieren. Der Hof ist sozusagen nur ein Nebenprodukt dieses Vorgangs; er verdankt seine Existenz nicht einer Funktion, die notwendig zu erfüllen war, sondern der Adel strömte beim König zusammen, weil er anderwärts keine Funktion mehr besaß; erst aus seiner neuen Existenz um den König herum erwuchs ihm die Funktion des Dienens am Hofe. Auch wenn man, wie es unbedingt erforderlich ist, als Träger der klassischen französischen Kultur nicht den Hof allein, sondern auch «la ville» berücksichtigt, so ist auch dies nur eine kleine Minorität, die zwar nicht ohne abtönenden Einfluß auf den Zeitgeschmack blieb, aber doch noch kein positiv bürgerliches Selbstbewußtsein besaß, weder auf politischem noch auf ästhetischem Gebiet. In zwei sehr wichtigen Merkmalen stimmen la ville und la cour überein; man war gebildet - das heißt weder gelehrt wie die Fachleute, noch roh und unwissend wie das Volk, sondern wohlerzogen und mit denjenigen Kenntnissen ausgestattet, die zu einem Geschmacksurteil gehören; und man strebte nach dem unspezialisierten, berufslosen Ideal des honnête homme, man betrachtete auch die bürgerliche Abstammung als «un rang qu’on tient dans le monde» - wir haben davon schon zu Anfang dieses Kapitels gesprochen (Seite 370 bis 373). Aus dem besonderen Charakter der Minorität, an die sich die klassische französische Dichtung wandte, insbesondere aus ihrem gesellschaftlichen Idealbild, läßt sich die Mode der barocken und überhöhenden Formen und auch ihre Mischung mit vernünftigen Geschmackskategorien allenfalls verstehen oder doch ein wenig nachfühlen. Aus dem Geschmack des Elite‐ publikums, der gebildeten Gesellschaft im näheren und weiteren Umkreis des Hofes läßt sich allein auch die radikale Trennung des Tragischen vom Realistischen erklären, von der die barocken, den tragischen Menschen überhöhenden Formen nur ein besonders augenfälliges Symptom sind. Die klassisch-französische Trennung der Stile ist weit mehr als bloße Nachahmung der Antike im Sinne der Humanisten des 16. Jahrhunderts; das antike Vorbild wird übersteigert, und es gibt einen scharfen Bruch mit der jahrtausendalten, christlich-stilmischenden Volksüberlieferung; die Übersteigerung der tragischen Person (ma gloire) und der zum Äußersten getriebene Kult der Leidenschaften ist geradezu widerchristlich. Das haben die zeitgenössischen Theologen, die das Theater verurteilten, auch sehr XV Der Scheinheilige 391 <?page no="392"?> scharf erkannt, besonders Nicole und Bossuet. Man höre einige Worte aus den Maximes et Réflexions sur la Comédie, die Bossuet 1694 schrieb: Ainsi tout le dessin d’un poète, toute la fin de son travail, c’est qu’on soit, comme son héros, épris des belles personnes, qu’on les serve comme des divinités; en un mot, qu’on leur sacrifie tout, si ce n’est peut-être la gloire, dont l’amour est plus dangereux que celui de la beauté même. (1. Abs. des 4. Kap.) Das ist vollkommen richtig, wenigstens vom Standpunkt des Theologen; die Liebesleidenschaft, wie sie die Racinesche Tragödie darstellt, ist hinreißend und verführt, trotz des tragischen Ausgangs, den Zuhörer zur Bewunderung und Nachahmung eines so großen und erhabenen Schicksals; am stärksten ist dies der Fall für Phèdre; obgleich sie wirklich, wie man oft gesagt hat und wie es Racine fühlte, etwas von einer Christin hat, der Gott seine Gnade versagt, so ist doch die Wirkung im ganzen ohne jeden Zweifel gar nicht christlich; jedes junge und fühlende Herz wird überwältigt von Bewunde‐ rung für ihre große, alles verachtende und vergessende Leidenschaft. Ebenso zutreffend und noch scharfsichtiger sind Bossuets Worte über «gloire»: sie treffen die Überhöhung der tragischen Personen, die, christlich gesprochen, nichts ist als superbia. Aber auch Bossuet oder Nicole hätten sich nicht mit dem volkstümli‐ chen und stilmischenden christlichen Theater befreunden können, dessen Aufführungen ein Jahrhundert vorher vom Pariser Parlament verboten wor‐ den waren; ihr ethisch-ästhetisches Stilgefühl hätte sich dagegen empört. Sie waren selbst dem stiltrennenden Zeitgeschmack verfallen. Die große und bedeutende christliche Literatur des französischen 17. Jahrhunderts (welches mit Recht, verglichen mit den Glaubenskrisen des 16. und der Aufklärung des 18., für ein orthodox-christliches gilt) ist durchgehend hohen und erhabenen Tones, sie wird es im Laufe des Jahrhunderts immer mehr; sie vermeidet jedes «niedrige» Wort, jeden griffigen Realismus; sie selbst nimmt teil an der Überhöhung der fürstlichen Personen, und fast alle ihre Werke klingen, als seien sie für eine Elitegesellschaft, für la cour et la ville geschrieben. Man weiß, wie groß die Macht des klassischen französischen Stils in ganz Europa gewesen ist. Erst viel später, und unter ganz veränderten Bedingungen, haben sich tragischer Ernst und alltägliche Wirklichkeit wieder zusammenfinden können. 392 XV Der Scheinheilige <?page no="393"?> XVI Das unterbrochene Abendessen On nous servit à souper. Je me mis à table d’un air fort gai; mais, à la lumière de la chandelle qui était entre elle et moi, je crus apercevoir de la tristesse sur le visage et dans les yeux de ma chère maîtresse. Cette pensée m’en inspira aussi. Je remarquai que ses regards s’attachaient sur moi d’une autre façon qu’ils n’avaient accoutumé. Je ne pouvais démêler si c’était de l’amour ou de la compassion, quoiqu’il me parût que c’était un sentiment doux et languissant. Je la regardai avec la même attention; et peut-être n’avait-elle pas moins de peine à juger de la situation de mon cœur par mes regards. Nous ne pensions ni à parler ni à manger. Enfin, je vis tomber des larmes de ses beaux yeux: perfides larmes! «Ah Dieu! », m’écriai-je, «vous pleurez, ma chère Manon; vous êtes affligée jusqu’à pleurer, et vous ne me dites pas un seul mot de vos peines! » Elle ne me répondit que par quelques soupirs qui augmentèrent mon inquiétude. Je me levai en tremblant; je la conjurai, avec tous les empressements de l’amour, de me découvrir le sujet de ses pleurs; j’en versai moi-même en essuyant les siens; j’étais plus mort que vif. Un barbare aurait été attendri des témoignages de ma douleur et de ma crainte. Dans le temps que j’étais ainsi tout occupé d’elle, j’entendis le bruit de plusieurs personnes qui montaient l’escalier. On frappa doucement à la porte. Manon me donna un baiser, et, s’échappant de mes bras, elle entra rapidement dans le cabinet, qu’elle ferma aussitôt sur elle. Je me figurai qu’étant un peu en désordre, elle voulait se cacher aux yeux des étrangers qui avaient frappé. J’allai leur ouvrir moi-même. A peine avais-je ouvert, que je me vis saisir par trois hommes que je reconnus pour les laquais de mon père-… D E R Text stammt aus der Geschichte Manon Lescauts von dem Abbé Prévost. Der kleine Roman erschien zuerst 1731, also kurz vor Voltaires Lettres anglaises und Montesquieus Römerbuch. Die Lage, in der sich die beiden auftretenden Personen, Manon und der Chevalier des Grieux, zu Beginn der Szene befinden, ist folgende: der Chevalier, ein siebenzehnjähriger Bursch aus gutem Hause, gerade mit der Schule fertig geworden, hat einige Wochen zuvor die noch jüngere Manon, die in ein Kloster gebracht werden sollte, zufällig auf der Poststation in Amiens gesehen und ist mit ihr nach Paris durchgegangen. Dort haben die beiden vergnügt und idyllisch zusammengelebt, bis ihnen das Geld <?page no="394"?> auszugehen drohte; in dieser Lage hat Manon Beziehungen zu einem sehr reichen Nachbar, einem Finanzpächter, angeknüpft, der seinerseits die Familie des Chevaliers benachrichtigt hat. Zwar ist der Chevalier am Morgen des gleichen Tages, an dem er entführt werden soll, durch einen Zufall der Verbindung Manons mit dem Finanzpächter auf die Spur gekommen, und das hat ihn in große Bestürzung