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Hobbes: Die Hauptwerke

Ein Lesebuch

0627
2022
978-3-7720-5728-1
978-3-7720-8728-8
A. Francke Verlag 
Otfried Höffe
10.24053/9783772057281

Thomas Hobbes (1588-1679) ist einer der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit und einer der größten Rechts- und Staatsphilosophen des Abendlandes. Besonders wirkungsmächtig sind seine Theorie des Gesellschaftsvertrags, die Metapher des Staats als übermächtigem Leviathan und der Gedanke des Naturzustandes, in dem ein Krieg aller gegen alle herrscht. Hobbes' Ansichten zum Naturrecht und zum Staat können sowohl als Plädoyer für einen absolutistischen als auch einen liberalen Staat gelesen werden. Bis heute aktuell und provokativ ist sein umfassendes philosophisches Gedankengebäude mit der Mathematik als methodischem Vorbild und einem konsequenten Materialismus, Sensualismus und Hedonismus. Der Band versammelt ausgewählte Originaltexte, die nach Themen geordnet und jeweils mit einer Einleitung versehen sind. Damit ist es auch dem philosophischen Laien möglich, zentrale Grundgedanken von Hobbes' Werk zu erkennen und ein Verständnis seiner Philosophie zu entwickeln.

HOBBES: DIE HAUPTWERKE EIN LESEBUCH OTFRIED HÖFFE (HRSG.) HOBBES: DIE HAUPTWERKE OTFRIED HÖFFE (HRSG.) HOBBES: DIE HAUPTWERKE EIN LESEBUCH Umschlagabbildung: Thomas Hobbes, nach John Michael Wright. Öl auf Leinwand, auf Grundlage einer Arbeit von circa 1669 - 1670. National Portrait Gallery (NPG 106). Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. https: / / www.doi.org/ 1024053/ 9783772057281 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8728-8 (Print) ISBN 978-3-7720-5728-1 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0132-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einführung: Leben, Werk und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . 3 1 Programm und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Vom Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Vom Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Vom Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 39 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Vom Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Vom Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5 Staatsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Vom Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 6 Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Vom Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 7 Religion und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Vom Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth . . . . . . . . . . . 237 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Behemoth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Verwendete Werkausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 I Werke und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 II Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 VI Inhalt Vorwort Thomas Hobbes (1588 - 1679) ist einer der größten Rechts- und Staatstheoretiker des Abendlandes, dabei der überragende politische Philosoph der Moderne. In der frühen Neuzeit, vor allem nach dem Epochenereignis der Reformation mit den Hauptorten Wittenberg, Genf und Zürich, aber auch aus genuin politischen Gründen wird Europa von einer nicht abreißenden Welle blutiger Bürgerkriege heimgesucht. In diesen Zeiten rückt ein neues Grundmuster der politischen Legitimation in den Mittelpunkt philosophischer Debatten. Die Vorstellung, die Fürsten herrschten schlicht „ von Gottes Gnaden “ , bräuchten infolgedessen keine säkulare Rechtfertigung, verliert an Überzeugungskraft, und die Theorie des Gesellschaftsvertrages, kürzer Vertragstheorie genannt, tritt auf dem Plan. Es ist vor allem Thomas Hobbes, der sie in begrifflicher Klarheit und argumentativer Stärke ausarbeitet. Seitdem besteht der Kern normativer Rechts- und Staatstheorie entweder in einer Vertragstheorie oder, seltener, in deren Kritik. Hobbes selber spricht freilich nicht von einem Vertrag ( „ contract “ ), sondern von einem Bund ( „ covenant “ ), mit dem das Alte Testament die Beziehung Israels zu Gott bezeichnet. Unser Philosoph verfaßt nicht bloß in immer neuen Anläufen eine bahnbrechende politische Philosophie. Er entwickelt darüber hinaus ein umfassendes philosophisches Gedankengebäude, ein wahres „ System “ der Philosophie. Zu ihm gehören unter anderem eine Naturphilosophie und eine Erkenntnistheorie, eine Theorie von Sprache, Vernunft und Wissenschaft, eine Anthropologie mitsamt einer „ Landkarte der menschlichen Leidenschaften “ und Grundsätze einer christlichen Politik. Tübingen, im März 2022 Otfried Höffe Einführung: Leben, Werk und Wirkung Geboren wird Thomas Hobbes in Westport, nahe des für seine Abtei berühmten Landstädtchens Malesbury. Auf diese Herkunft ein Leben lang stolz, wird er viele seiner Schriften als „ Thomas Hobbes of Malesbury “ signieren. In den Tagen seiner Geburt, Karfreitag, den 5. April 1588, segelt eine riesige spanische Flotte, die Armada, gen England. Daher wird Hobbes später mit großem rhetorischem Gespür schreiben: „ Und eine solche Furcht empfing da meine Mutter, daß sie Zwillinge gebar, mich und zugleich die Furcht “ . Der intellektuell früh- und hochbegabte Thomas erwirbt in seiner Schulzeit gründliche Sprach- und Literaturkenntnisse des Lateinischen und Griechischen. Als 15-Jähriger geht er zum Studium der Logik, Physik und Metaphysik an die Universität Oxford, das er mit dem Grad des Baccalaureus artium abschließt, verbunden mit dem Recht, Vorlesungen zur Logik zu halten. Wie andere Philosophen der frühen Neuzeit entwickelt sich auch Hobbes nicht innerhalb der Universität zu einem großen Denker heran, sondern als Tutor, Reisebegleiter, Privatsekretär und Freund einer wohlhabenden Adelsfamilie, des später zum Earl (Graf) of Devonshire erhobenen Barons William Cavendish, dessen Familie er sein Leben lang verbunden bleibt. In diesen Jahren vertieft Hobbes seine Kenntnisse der Antike, nimmt sich die Zeit, das griechische Vorbild kritischer Geschichtsschreibung, Thukydides ’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges (1629), viel später noch Homers Ilias (1675) und die Odyssee (1676) zu übersetzen. „ Nebenbei “ erwirbt er politische Erfahrung und Weltläufigkeit und wird mit führenden Wissenschaftlern seiner Zeit bekannt, so mit dem Staatsmann und Philosophen Francis Bacon, mit dem Mathematiker, Physiker und Metaphysiker René Descartes, dem Naturforscher Galileo Galilei und dem materialistischen Philosophen Pierre Gassendi. In diesen typischen Lebensweg eines jungen Gelehrten der frühen Neuzeit fällt Hobbes ’ wissenschaftlich-methodisches Schlüsselerlebnis. Er entdeckt für sich Euklids axiomatisch-deduktiv aufgebautes Handbuch der Geometrie, die Stoicheia, lateinisch Elementa. Nach diesem Vorbild wird er sein dreiteiliges philosophisches System Vom Körper (De corpore, 1655), Vom Menschen (De homine, 1658) und Vom Bürger (De cive, schon 1642) Elementa philosophiae nennen. In seinen einzelnen Schriften folgt Hobbes aber nicht Euklids Methode. Ohnehin gibt er sich mit dem Entwurf eines Systems der Philosophie nicht zufrieden. Er übersetzt nicht bloß wie erwähnt Thukydides und Homer. Er schreibt auch eine Geschichte des englischen Bürgerkrieges: Behemoth oder das lange Parlament (1688 - 70; mangels Druckerlaubnis erst posthum, 1679 erschienen). Ferner verfaßt er kirchengeschichtliche Schriften und einen Dialog zwischen einem Philosophen und einem Studenten über das englische Gemeine Recht (posthum 1681). Selbst sein Hauptwerk zur politischen Philosophie, der Leviathan, führt historisch-pragmatische Argumente an und bietet der Auslegung biblischer, vor allem alttestamentarischer Texte einen großen Raum. Nicht zuletzt erlaubt Hobbes seiner rhetorischen Begabung, sich frei zu entfalten. Nach drei Jahrzehnten geruhsamer Lehr- und Wanderjahre gerät der Philosoph in die politisch-religiösen Kriege und Bürgerkriege, die ein zweites, jetzt politisches Schlüsselerlebnis ausmachen. In seinem Heimatland kämpft das auf alte Rechte (der Steuerbewilligung und der Mitwirkung bei der Gesetzgebung) beharrende Parlament gegen den höheren Adel, an dessen Spitze der zum Absolutismus neigende König Karl I. steht. Überlagert wird der Streit von konfessionellen Konflikten der anglikanischen Staatskirche mit den Katholiken auf der einen und den calvinistisch geprägten Puritanern, noch mehr mit den schottischen Presbyterianern auf der anderen Seite. Hobbes hofft, diese hochexplosive Situation mittels einer streng rationalen, von Zank und Zwiespalt freien Argumentation zu entschärfen. Mit dieser Hoffnung scheitert er jedoch. Seine erste einschlägige Schrift, Elements of Law and Politic (1640), kann nämlich den Bürgerkrieg nicht verhindern, im Gegenteil trägt sie zur Verschärfung der Konflikte bei. Dieses grandiose Scheitern hätte Hobbes vorhersehen können. Denn statt sich über die Parteien zu stellen, verteidigt er zum einen die Krone gegen das opponierende Parlament, zum anderen die 4 Einführung: Leben, Werk und Wirkung anglikanische Staatskirche sowohl gegen die Katholiken als auch gegen die Protestanten. Wegen dieser Parteinahme ist das Unterhaus so aufgebracht, daß der Philosoph, um der drohenden Verfolgung zu entkommen, nach Paris flieht. Hier, im Exil, erscheint schon einen Monat nach Ausbruch des Bürgerkrieges in Hobbes ’ Heimat, im April 1642, De cive (Vom Bürger). Obwohl dieser Text in einer winzigen Auflage gedruckt wird, steigt der Autor über Nacht zu einer europäischen Berühmtheit auf. Knapp ein Jahrzehnt später, im Jahr 1651, veröffentlicht Hobbes sein umfangreichstes Werk, eine wahre Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften: Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Common-Wealth Ecclesiaticall and Civill (Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates). In der von Hobbes selbst ins Lateinische übersetzten, oft knapperen Fassung finden sich die zu geflügelten Worte aufsteigenden Formeln vom „ Kriege aller gegen alle “ (bellum omnium contra omnes) und daß „ eine Autorität, nicht die Wahrheit ein Gesetz macht “ ( „ sed aucthoritas, non veritas facit legem “ ). Weil die französische Geistlichkeit im Leviathan die Kritik politischer Ansprüche der katholischen Kirche wahrnimmt, soll der Autor auf ihr Betreiben von der Justiz verfolgt werden. Um sich der Verfolgung zu entziehen, vielleicht aber auch aus Sehnsucht nach seinem Heimatland macht sich der mittlerweile 63-jährige Philosoph mitten im Winter 1651/ 52 auf eine beschwerliche Reise nach England. Dort unterwirft er sich dem damaligen Herrscher, dem Militärführer und späteren Lordprotektor Oliver Comwell, der ihn offensichtlich schätzt. Hobbes schreibt später: „ Ich, ein alter Mann, scharfer Wind, stürmisches Pferd und holpriger Weg, so kam ich nach London. Aber nirgends in der Welt konnte ich sicherer sein. “ In den nächsten Jahren veröffentlicht Hobbes die zwei noch fehlenden Teile der Elemente der Philosophie: De corpore (Vom Körper) und De homine (Vom Menschen). Obwohl er schon mehr als ein Jahrzehnt vor seinem Tod an Schüttellähmung (morbus Parkinson) leidet, bleibt er höchst kreativ, zudem angriffslustig. So läßt er sich auf eine heftige theologische Auseinandersetzung mit Erzbischof Bramhall über den Begriff der Freiheit ein. Er verfaßt die 5 Einführung: Leben, Werk und Wirkung genannte Geschichte des Bürgerkrieges Behemoth (1668 - 70), versucht, selbstverständlich vergeblich, die Quadratur der Kreises zu beweisen, schreibt den erwähnten Dialog zwischen einem Philosophen und einem Studenten und übersetzt Homer. Im Alter von 91 Jahren, am 4. Dezember 1967, stirbt Thomas Hobbes auf den Gütern der Familie Cavendish. Auf dem Sterbebett soll er gesagt haben, er zöge die „ Kirche von England allen anderen vor “ . Jedenfalls wird er in einer Gemeindekirche nach anglikanischem Ritus beigesetzt. Im Laufe der Zeit ist Hobbes so wohlhabend geworden, daß er auch ohne die ihm von König Karl II. ausgesetzt Jahrespension von hundert Pfund Sterling (nach heutigem Wert etliche zehntausend Euro) komfortabel leben und seinen Freunden und Verwandten großzügige Geschenke machen konnte. Sein Nachlaß beträgt eintausend Pfund Sterling, also immerhin zehn Jahresgehälter der ihm versprochenen Pension, nach heutigem Wert einige hunderttausend Euro. Obwohl sich Hobbes mit seiner unnachgiebigen Angriffslust viele Feinde macht, wird sein Tod doch von seinen recht zahlreichen Freunden betrauert. Für die breite Öffentlichkeit seiner Zeit geht jedoch ein Verteidiger des Absolutismus, ein Kritiker der politischen Ansprüche der Kirche, vor allem ein „ Monstrum “ des Materialismus, des Hedonismus und des Unglaubens dahin. Zu Hobbes ’ außergewöhnlicher Wirkung genügen wenige Hinweise: Zunächst kennt man die Person nicht als Philosophen, sondern nur als Thukydides-Übersetzer und als einen Gesprächspartner in den damaligen naturwissenschaftlichen Debatten. Seit De cive wird er aber weit über die Grenzen Englands mehr als nur bekannt, als Recht- und Staatstheoretiker ist er eine europäische Berühmtheit, in Großbritannien entsteht die literarische Figur des Hobbist. Führende Politiker und Intellektuelle zollen dem Philosophen ihre Hochachtung. Über die Vertragstheoretiker Spinoza, Locke, Rousseau und Kant und deren Kritiker wie David Hume hinaus reicht sein Einfluß bis weit in die Gegenwart. Selbst Hegel, einer der späteren Kritiker der Vertragstheorie, sagt: „ Ausgezeichnet und berühmt wegen der Originalität der Ansichten ist Hobbesius “ . „ Der 6 Einführung: Leben, Werk und Wirkung Krieg aller gegen alle ist der wahre Naturzustand, wie Hobbes sehr richtig bemerkt hat “ . Hegel montiert allerdings, daß „ Aus der ganz richtigen Ansicht, in den der allgemeine Wille verlegt wird, in den Willen des Einen, des Monarchen, ein Zustand der absoluten Herrschaft, des vollkommenen Despotismus “ hervorgeht (Vorlesungen über die Geschichte der Philosopie, 3. Teil, 2. Abschnitt, 2. Abtlg., 3. Hobbes: Werke in 20 Bden., Bd. 20, 225 - 229). Diese Einschätzung ist jedoch umstritten. Der Sozialtheoretiker Ferdinand Tönnies, der Hobbes ’ lange verschollenes staatsphilosophisches Erstlingswerk, die genannten Elements, zunächst auf Englisch herausgibt, später ins Deutsche übersetzt, hält Hobbes für einen liberalen Denker. Leo Strauss folgt dieser Interpretation, während der Staatsrechtler Carl Schmitt unverhohlen Hobbes ’ antiliberale Einstellung bewundert. Im Zuge einer neuen Wiederbehebung der Vertragstheorie setzt der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls die eigene Vertragstheorie ausdrücklich gegen Hobbes ab, während sich der Wirtschaftstheoretiker James M. Buchanan auf Hobbes beruft. Jürgen Habermas blickt in seiner „ Diskurstheorie des Rechts “ „ aus Kantischer Perspektive auf Hobbes “ zurück und sieht „ in Hobbes eher einen Theoretiker eines bürgerlichen Rechtsstaates ohne Demokratie als den Apologeten des unbeschränkten Absolutismus “ (Faktizität und Geltung, Frankfurt/ M. 1992, 118). Selbst ein Nobelpreisträger der Literatur, J. M. Coetzee greift, jetzt im Tagebuch eines schlimmen Jahres, direkt Hobbes ’ Thema der Staatsbegründung auf. Schließlich ist daran zu erinnern, daß Hobbes einen Großteil seiner außergewöhnlichen Wirkung sowohl der Kraft, die dem Titelsymbol seines Hauptwerkes, dem Leviathan, innewohnt - es ist das Seeungeheuer aus dem Buch Hiob der Bibel - als auch der Bildqualität des Titelbildes verdankt. Ohne zu übertreiben ist es das bedeutendste Titelblatt aller Schriften zur Rechts- und Staatstheorie. Um das hohe Maß an Kontinuität zu zeigen, werden zum jeweiligen Themenfeld Passagen aus vielen einschlägigen Schriften abgedruckt. 7 Einführung: Leben, Werk und Wirkung 1 Programm und Methode Einleitung Eine eigenständige Schrift über das Programm der Philosophie und deren Methode hat Hobbes nicht geschrieben. Die einschlägigen Hinweise sind über das Werk verstreut und finden sich dort häufig in den Widmungsschreiben und Einleitungen der verschiedenen Schriften. Weil es also keinen eigenen Traktat gibt, werden hier Passagen aus unterschiedlichen Texten abgedruckt. Dabei fällt ein hohes Maß an Stetigkeit auf, allerdings auch, daß Hobbes keiner einfachen Methode folgt. Seit dem methodischen Schlüsselerlebnis, der Entdeckung von Euklids Lehrbuch der Mathematik, den Elementa, bleibt Hobbes zwar den Grundgedanken seines Programms und der Methode „ more geometrico “ treu. Denn ab der Schrift Menschliche Natur und politischer Körper, dem Naturrecht, über den Teil III seines philosophischen Systems, Vom Bürger, danach dem Leviathan bis zum Teil I Vom Körper und Teil II Vom Menschen, gibt die Mathematik das unbestrittene Vorbild ab. Die Vernunft wird sogar als Rechnen bestimmt, die Argumentation soll daher genauso klar und bündig, vor allem aber zwingend, infolgedessen allseits überzeugend wie die Mathematik sein. Nach dem Vorbild der Mathematik also entwickelt Hobbes sein umfassendes Gedankengebäude, ein System im anspruchsvollsten Sinn des Wortes. Von den sachlich allerersten Elementen aus, in der Schrift Vom Körper von der Logik und Ersten Philosophie aus, gelangt Hobbes zu einer Theorie der Bewegungen. Ihretwegen führt der Weg von der Physik, verstanden als eine umfassende Theorie der Physis, der Natur, über eine Anthropologie (Vom Menschen) schließlich zur Staatsphilosophie (Vom Bürger). Der erste Vorteil verbindet sich mit einem zweiten, jetzt politischen Vorteil: Der angeblich von jedermann einfach nachvollziehbare Gedankengang stellt sich der zweiten Herausforderung der Epoche, den „ Wirren der Gegenwart “ , mache nämlich von deren Unheil, Zwang und Zwiespalt, frei. Zwei Dinge müssen freilich hinzukommen, weshalb Hobbes im Widerspruch zur gelegentlich vereinfachenden Selbsteinschätzung keinen Methodenmonismus praktiziert: Ein bloßes Rechnen genügt nicht. Zum einen braucht die Philosophie einen sachhaltigen, zugleich für alle, sowohl für die Leser seiner Schriften als auch die Adressaten, die Politiker und Bürger, unstrittigen Anfang. Hobbes identifiziert ihn mit einer wohlbestimmten Selbsterkenntnis, womit er auf seine Anthropologie verweist: Wenn man von den Objekten der Gedanken und Leidenschaften der Menschen vollständig absieht, dann bleiben nur die Art der Gedanken und die Art der Leidenschaften übrig, und diese sind, so Hobbes ’ Anthropologie, bei allen Menschen gleich. Für diesen Beginn des Rechnens benötigt man Bezeichnungen, die, um allem Zank enthoben zu sein, klar und unmißverständlich sein müssen. Zu diesem Zweck folgt Hobbes ’ Sprachphilosophie einem zweiten methodischen Vorbild, dem reibungslosen Funktionieren einer Maschine. Damit wird noch deutlicher, wie Hobbes sein mathematisches Denken um ein mechanisch-kausales ergänzt und zu dem bei ihm beliebten Bild des Staates als eines künstlichen Menschen gelangt. Dieser lasse sich nämlich mit einer Maschine vergleichen, die der natürliche Mensch aus natürlichen Menschen konstruiert. Dies hat Hobbes ’ nachdrückliche Behauptung zur Folge, daß der Staat, angeblich im Gegensatz zu Aristoteles, kein natürliches Phänomen, sondern ein künstliches Produkt ist. Das Muster dafür gibt die (damals selbstverständlich mechanische) Uhr ab. Deren Teile, so behauptet Hobbes, die Feder, die Stränge und Räder, entsprechen den wichtigsten Aspekten eines Gemeinwesens, eines Staates. Ein weiteres methodisches Element besteht in der resolutiv-kompositiven Staatsbegründung; ihre beiden Teilschritte präzisieren die Art der Konstruktion: Im ersten Schritt, der Resolutio, dem Rückgang zu schlechthin ersten Elementen und Prinzipien, wird der künstliche Mensch, der Staat, wie eine Uhr in seine kleinsten Bestandteile zerlegt, im Leviathan in die Empfindung. Wie eine Uhr aus ihren Bestandteilen wieder zusammengesetzt wird, so wird der Staat im zweiten Schritt, der Compositio, aus seinen Elementen wieder zusammengesetzt und in diesem Sinn Schritt für Schritt konstruiert. In dem hier als viertem Text abgedruckten Kapitel 6 der Spätschrift Vom Körper führt Hobbes unter dem Titel „ Von der Methode “ die verschiedenen Gesichtspunkte zusammen. Ein Aspekt fehlt dort allerdings. Vermutlich war er gemäß dem damaligen Zeitgeist, immerhin die Epoche der Reformation und der daraus folgenden Konfessionskriege, zu selbstverständlich, um ihn erwähnen zu müssen. Es ist der wiederholte Rückgriff auf Passagen des 9 Einleitung Alten und Neuen Testaments. Hobbes kommt seiner „ bibelwütigen “ Epoche insofern entgegen, als er seine Argumentation an thematisch einschlägigen Stellen ausführlich und kenntnisreich durch Bibelstellen untermauert. Naturrecht W i d m u n g s s c h r e i b e n [ … ] aus den zwei Teilen unserer Natur, der Vernunft und der Leidenschaft, rühren zwei Arten des Wissens, das mathematische und das dogmatische. Erstere ist frei von Zank und Hader, weil nur Figuren und Bewegung miteinander verglichen werden; in diesen widerstreiten die Wahrheit der Dinge und das Interesse der Menschen einander nicht. In Letzterer indes gibt es nichts Unstrittiges, weil sie die Menschen vergleicht und sie verwoben ist mit ihrem Recht und ihrem Nutzen; und hier gilt: Sooft die Vernunft sich gegen den Menschen wendet, so oft wird der Mensch sich gegen die Vernunft wenden. Und von daher kommt es, dass diejenigen, die von Gerechtigkeit und Politik im Allgemeinen geschrieben haben, sich wechselseitig und sich selbst widersprechen. Um diese Lehre auf die Regeln und die Unfehlbarkeit der Vernunft zurückzuführen, gibt es keinen anderen Weg, als solche Prinzipien zunächst auf eine sichere Grundlage zu stellen, denn wenn wir der Leidenschaft nicht misstrauen, können wir sie nicht ersetzen; und sodann die Wahrheit der Fälle nach und nach in das Gesetz der Natur (welches bisher nur auf Luft gebaut wurde) einzubauen, bis das Ganze unbezwinglich ist. Vom Bürger W i d m u n g s s c h r e i b e n Nun sind sicher beide Sätze wahr: Homo homini Deus, & Homo homini Lupus - jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten miteinander vergleicht. 1 Im einen Fall kommt man mittels Gerechtigkeit und Liebe, den Tugenden des Friedens, einer Ähnlichkeit mit Gott nahe; im anderen Fall müssen sich, angesichts der Verdorbenheit der Schlechten, selbst die Guten zu 10 1 Programm und Methode ihrem Schutz kriegerischer Tugenden, der Gewalt und der List, bedienen, das heißt, der Raubsucht der wilden Tiere. Und obwohl die Menschen sich dies gegenseitig zum Vorwurf machen, da sie naturgemäß dazu neigen, die eigenen Handlungen, von anderen verübt, wie in einem Spiegel anzuschauen, wo das Linke rechts und das Rechte links erscheint, so ist dies doch nach dem Naturrecht, das sich auf die Notwendigkeit der Selbsterhaltung gründet, nicht als ein Laster anzusehen. Die wahre Weisheit ist nichts anderes als die gründliche Kenntnis der Wahrheit in allen Dingen. Sie ergibt sich erst aus der durch feste und eindeutige Benennung verursachten Erinnerung an die Dinge und ist nicht das Werk eines heftigen Gemüts und plötzlicher Eingebung, sondern dasjenige rechter Vernunft, das heißt, der Philosophie. Dadurch nämlich eröffnet sich der Weg, der von der Betrachtung der einzelnen Dinge zu einer allgemeinen Lehre führt. In so viele Gattungen aber, wie sich die Dinge unterteilen, die der menschlichen Vernunft zugänglich sind, in so viele Zweige teilt sich auch die Philosophie und erhält je nach der Verschiedenheit ihrer Gegenstände unterschiedliche Namen. Diejenige, die von den Figuren handelt, heißt G EOMETRIE ; die, die sich mit Bewegung befaßt, P HYSIK ; und diejenige, die das natürliche Recht behandelt, wird M ORAL genannt, und alles zusammen bildet die P HILOSOPHIE . [ … ] Wären die Maßstäbe menschlicher Handlungen mit der gleichen Gewißheit erkannt worden, wie es mit den Größenverhältnissen der Figuren geschah, so würden Ehrgeiz und Habsucht ganz und gar wehrlos sein, da sich ihre Macht ja auf die falschen Ansichten der Menge über Recht und Unrecht stützt, und das Menschengeschlecht würde sich eines beständigen Friedens erfreuen, der nie mehr durch Kämpfe (außer denjenigen um Raum für eine wachsende Menge von Menschen) gestört werden würde. Wenn dagegen jetzt der Krieg mit den Schwertern und der Krieg mit den Federn kein Ende nehmen will; wenn die Kenntnis des Rechts und der natürlichen Gesetze heute nicht größer ist als in früheren Zeiten; wenn jede Partei ihr Recht mit Lehrsätzen der Philosophen zu verteidigen sucht; wenn 11 Vom Bürger dieselbe Handlung von dem einen gelobt und von dem anderen getadelt wird; wenn derselbe Mensch heute gut heißt, was er morgen verdammt, und wenn er die eigenen Taten anders beurteilt, sofern sie andere tun: so sind dies überaus deutliche Zeichen, daß die bisherigen Schriften der Moralphilosophen zur Erkenntnis der Wahrheit nichts beigetragen haben. [ … ] Was meine Vorgehensweise betrifft, so habe ich mich nicht nur damit begnügt, im Vortrag klar und deutlich zu sein, sondern es für richtig gehalten, inhaltlich mit der Materie des Staates zu beginnen und dann dazu überzugehen, über dessen Entstehung und Gestaltung und den ersten Ursprung der Gerechtigkeit zu schreiben. Denn anhand dessen, woraus sich eine Sache bildet, wird sie auch am besten erkannt. Schon bei einer Uhr, die sich von selbst bewegt, und jeder ein wenig komplizierten Maschine vermag man nämlich die Wirkungsweise ihrer einzelnen Teile und Räder nicht zu verstehen, ohne sie zu zerlegen und die Materie, die Gestalt und die Bewegung jedes Teiles für sich zu betrachten. Und insofern ist es zur Erforschung des Rechts des Staates und der Pflichten der Bürger nötig, daß der Staat zwar nicht aufgelöst, aber doch gleichsam als aufgelöst betrachtet wird, das heißt, es muß richtig erkannt werden, wie die menschliche Natur geartet ist, inwieweit sie zur Bildung eines Staates geeignet oder nicht geeignet ist und wie sich die Menschen zusammentun müssen, wenn sie eine Einheit werden wollen. Auf diese Weise bin ich vorgegangen und stelle deshalb zuerst den allen durch Erfahrung bekannten und von jedermann anerkannten Grundsatz auf, daß die Menschen ihrer natürlichen Anlage nach so beschaffen sind, daß sie, wäre nicht die Furcht vor einer sie alle bändigenden Macht, einander mißtrauen und sich voreinander fürchten würden und daß sich daher jeder mittels seiner eigenen Kräfte mit Recht schützen kann und notwendigerweise auch schützen will. Man wendet vielleicht ein, nicht wenige würden dies verneinen. 12 1 Programm und Methode Leviathan E i n l e i t u n g Die Natur (das ist die Kunst, mit der Gott die Welt gemacht hat und lenkt) wird durch die Kunst des Menschen wie in vielen anderen Dingen so auch darin nachgeahmt, daß sie ein künstliches Tier herstellen kann. Denn da das Leben nur eine Bewegung der Glieder ist, die innerhalb eines besonders wichtigen Teils beginnt - warum sollten wir dann nicht sagen, alle Automaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen, wie eine Uhr) hätten ein künstliches Leben? Denn was ist das Herz, wenn nicht eine Feder, was sind die Nerven, wenn nicht viele Stränge, und was die Gelenke, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Körper so in Bewegung setzen, wie es vom Künstler beabsichtigt wurde? Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste Werk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunst wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt; die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktion und Exekutive künstliche Gelenke; Belohnung und Strafe die mit dem Sitz der Souveränität verknüpft sind und durch die jedes Gelenk und Glied zur Verrichtung seines Dienstes veranlaßt wird, sind die Nerven, die in dem natürlichen Körper die gleiche Aufgabe erfüllen. Wohlstand und Reichtum aller einzelnen Glieder stellen die Stärke dar, salus populi (die Sicherheit des Volkes) seine Aufgabe; die Ratgeber, die ihm alle Dinge vortragen, die er unbedingt wissen muß, sind das Gedächtnis, Billigkeit und Gesetze künstliche Vernunft und künstlicher Wille; Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod. Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile dieses politischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt und vereint wurden, jenem ‚ Fiat ‘ oder ‚ Laßt uns Menschen machen ‘ , das Gott bei der Schöpfung aussprach. Um die Natur dieses künstlichen Menschen zu beschreiben, möchte ich untersuchen: Erstens, Werkstoff und Konstrukteur; beides ist der Mensch. 13 Leviathan Zweitens, wie und durch welche Verträge er entsteht, was die Rechte und die gerechte Macht oder Autorität eines Souveräns sind, und was ihn erhält und auflöst. Drittens, was ein christlicher Staat, und letzlich, was das Reich der Finsternis ist. [ … ] [Das Sprichwort „ nosce te ipsum “ ] sollte uns vielmehr lehren, daß jedermann, der in sich selbst blickt und darüber nachdenkt, aus seinem Denken, Meinen, Schließen, Hoffen, Fürchten, usw., und deren Gründen lesen und erkennen wird, welches die Gedanken und Leidenschaften aller anderen Menschen bei den gleichen Anlässen sind; dies wegen der Ähnlichkeit von Gedanken und Leidenschaften eines Menschen, mit denen eines anderen. Ich sage, die Ähnlichkeit von Leidenschaften, welche in allen Menschen dieselben sind - Verlangen, Furcht, Hoffnung, usw. - nicht die Ähnlichkeit der Objekte der Leidenschaften, also die verlangten, gefürchteten, erhofften, usw., Dinge. [ … ] Wer eine ganze Nation zu regieren hat, muß in sich selbst lesen - nicht in diesen oder jenen einzelnen Menschen, sondern in der menschlichen Gattung. Obwohl das schwierig ist, schwieriger als das Erlernen jeder Sprache oder Wissenschaft, so wird doch die Mühe, die einem anderen bleibt, wenn ich meine eigenen Lesefrüchte geordnet und klar dargelegt habe, nur in der Überlegung bestehen, ob er in sich nicht auch das gleiche findet. Denn diese Art von Lehre läßt keine andere Beweisführung zu. 3 1 . K a p . : Vo m n a t ü r l i c h e n R e i c h G o t t e s Soviel über Einsetzung, Natur und Recht der Souveräne und über die Pflicht der Untertanen, abgeleitet aus den Grundsätzen der natürlichen Vernunft. Und wenn ich nun bedenke, wie sehr sich diese Lehre von der Praxis des größten Teiles der Welt, besonders dieser westlichen Teile, die ihre Moral von Rom und Athen gelernt haben, unterscheidet, und welch tiefe Einsichten in die Moralphilosophie von den Verwaltern der souveränen Gewalt verlangt werden, so bin ich drauf und dran zu glauben, daß meine vorliegende Arbeit so nutzlos ist wie die Politeia Platos. 2 Denn auch er ist der Meinung, die Unordnungen des Staates und die Regierungswechsel durch Bürger- 14 1 Programm und Methode kriege könnten so lange nicht abgeschafft werden, bis die Souveräne Philosophen wären. Wenn ich aber wiederum bedenke, daß die Wissenschaft von der natürlichen Gerechtigkeit die einzige Wissenschaft ist, die für die Souveräne und ihre obersten Diener notwendig ist, und daß im Gegensatz zu Plato ihre einzige Belastung mit den mathematischen Wissenschaften darin besteht, daß die Menschen durch gute Gesetze zu deren Studium angeregt werden sollen, und wenn ich weiter bedenke, daß weder Plato, noch ein anderer Philosoph bisher alle Lehrsätze der Morallehre systematisch entwickelt und ausreichend bewiesen oder wahrscheinlich gemacht hat, so daß die Menschen daraus lernen können, wie man regiert und gehorcht, dann schöpfe ich wieder einige Hoffnung, es möge früher oder später meine vorliegende Schrift in die Hände eines Souveräns fallen, der sie ohne Hilfe eines interessierten oder mißgünstigen Interpreten selbst überdenken wird - denn sie ist kurz und, wie ich meine, klar - , und der durch Ausübung der vollen Souveränität, indem er die öffentliche Verbreitung dieser Lehre schützt, diese spekulative Wahrheit in praktischen Nutzen verwandelt. R ü c k b l i c k u n d S c h l u ß Und was die ganze Lehre betrifft, so kann ich bis jetzt nur sehen, daß ihre Prinzipien richtig und zutreffend und die Schlußweise hieb- und stichfest sind. Denn ich gründe das staatliche Recht der Souveräne und die Pflicht und Freiheit der Untertanen auf die bekannten natürlichen Triebe der Menschheit und auf die Grundsätze des Gesetzes der Natur, über die niemand, der vorgibt, genügend Vernunft zur Leitung seiner Familie zu besitzen, in Unkenntnis sein sollte. Und was die kirchliche Gewalt dieser Souveräne betrifft, so gründe ich sie auf solche Stellen der Schrift, die von selbst einleuchten und mit dem Zweck der gesamten Schrift übereinstimmen. Um zum Schluß zu kommen: weder in dieser ganzen Abhandlung noch in dem, was ich zuvor über denselben Gegenstand in lateinischer Sprache geschrieben habe, befindet sich etwas, soweit ich sehen kann, das entweder gegen das Wort Gottes oder die guten Sitten verstieße oder zu einer Störung der öffentlichen Ruhe führte. 15 Leviathan Deshalb glaube ich, daß sie mit Nutzen gedruckt und mit noch mehr Nutzen an den Universitäten gelehrt werden kann, falls auch diejenigen so denken, denen das Urteil darüber zusteht. Denn da die Universitäten die Quellen der politischen und moralischen Lehre sind, aus denen die Priester und die oberen Stände solches Wasser schöpfen, das sie gerade darin finden und womit sie das Volk (sowohl von der Kanzel als auch in ihren Gesprächen) zu besprengen pflegen, so sollte sicherlich große Sorgfalt darauf verwandt werden, es von dem Gift der heidnischen Politiker und von der Beschwörung durch betrügerische Geister rein zu halten. Und hierdurch werden die meisten Menschen, da sie ihre Pflichten kennen, um so weniger das Werkzeug des Ehrgeizes einiger unzufriedener Personen in ihren gegen den Staat gerichteten Absichten sein, sie werden sich um so weniger von den Abgaben, die zu ihrem Frieden und ihrer Verteidigung nötig sind, beschwert fühlen, und die Herrscher werden um so weniger Grund haben, auf öffentliche Kosten eine größere Armee zu unterhalten, als zur Wahrung der öffentlichen Freiheit gegen die Invasion und Übergriffe auswärtiger Feinde notwendig ist. [ … ] Und somit bin ich am Ende meiner Abhandlung über die bürgerliche und kirchliche Regierung, die von den Wirren der Gegenwart veranlaßt wurde, angelangt, ohne Parteilichkeit, ohne Schmeichelei und eine andere Absicht zu verfolgen als die, den Menschen die gegenseitigen Beziehungen zwischen Schutz und Gehorsam vor Augen zu halten, deren Beachtung die Beschaffenheit der menschlichen Natur und die göttlichen Gesetze, die natürlichen wie die positiven, unabdingbar fordern. Und obwohl in Zeiten von Staatsumwälzungen die Konstellation für die Geburt einer Wahrheit dieser Art nicht sehr gut sein kann (da jene, dir eine alte Regierung auflösen, einen unheilversprechenden Aspekt bieten, und diejenigen, die eine neue errichten, nur den Rücken zeigen), so kann ich doch nicht glauben, daß sie in dieser Zeit entweder von demjenigen, der über Lehrmeinungen öffentlich zu richten hat, oder von irgendeinem Menschen, der wünscht, der öffentliche Frieden möge von Dauer sein, verurteilt wird. Und in dieser Hoffnung kehre ich zu meinen unterbrochenen Forschungen über natürliche Körper zu- 16 1 Programm und Methode rück, wobei - falls Gott mir Gesundheit gibt, sie zu beenden - die Neuheit, wie ich hoffe, im gleichen Maße gefallen wird, wie sie bei der Lehre von diesem künstlichen Körper Anstoß erregt. Denn eine Wahrheit, die weder dem Vorteil noch dem Wohlleben irgendeines Menschen im Wege steht, ist allen Menschen willkommen. Vom Körper I . T e i l , R e c h n u n g o d e r L o g i k , 6 . K a p . : Vo n d e r M e t h o d e Philosophie ist die wahrhaft rationelle Erkenntnis der Erscheinungen oder Wirkungen aus der Kenntnis ihrer möglichen Entstehung oder Erzeugung und solcher möglichen oder faktischen Erzeugungen, die wir aus der Kenntnis der Wirkungen gewonnen haben. Methode im Studium der Philosophie ist daher der kürzeste Weg, Wirkungen aus ihren bekannten Ursachen oder Ursachen aus ihren bekannten Wirkungen zu finden. Aber nur dann werden wir irgendeine Wirkung verstehen, wenn wir erkennen, daß es Ursachen derselben gibt, und in welchem Subjekt jene Ursachen sind und in welchem Subjekt sie jene Wirkung hervorbringen und auf welche Weise sie dies bewerkstelligen. Dies ist die Wissenschaft von den Ursachen oder auch, wie man sie nennt, vom „διότι“ , vom „ Warum “ . Jede andere Erkenntnis, die man die vom ὅτι , vom „ Was “ nennt, beruht entweder auf Empfindung oder Einbildung oder auf der Wahrnehmung zurückgebliebener Erinnerung. Die Anfänge alles Wissens sind die Phantasmen der Sinne und Einbildung. Daß es solche Phantasmen gibt, ist uns von Natur genügend bekannt; aber weshalb es solche gibt oder woher sie stammen, das ergründen wir allein in wissenschaftlichem Schließen, das (wie schon vorher im ersten Kapitel, Abschnitt 2, erwähnt wurde) in der Scheidung und Trennung in die Elemente und in ihrer Zusammenfassung besteht. Daher ist alle Methode, durch welche wir die Ursachen der Dinge erforschen, entweder kompositiv oder resolutiv oder teils kompositiv, teils resolutiv. Gewöhnlich wird die resolutive die analytische und die kompositive die synthetische Methode genannt. 17 Vom Körper 2. Allen Methoden ist gemeinsam, vom Bekannten zum Unbekannten fortzugehen; das erhellt aus der angeführten Definition der Philosophie. In der Erkenntnis durch die Sinne ist nun das ganze Ding bekannter als nur ein Teil davon; wenn wir beispielsweise einen Menschen sehen, so wird die Vorstellung oder die ganze Idee jenes Menschen eher und besser von uns erkannt als die besonderen Vorstellungen seiner bestimmten Gestalt, seines Lebendigseins und seiner Vernunft; d. h. zuerst sehen wir den ganzen Menschen und erkennen sein Wesen, bevor wir an ihm jene andern Einzelheiten gewahr werden. Bei irgendeiner Erkenntnis des ὅτι oder daß irgend etwas da ist, wird unser Forschen von der ganzen Vorstellung ausgehen. Dagegen haben wir in unsrer Erkenntnis des διότι oder der Ursachen von irgend etwas, d. h. in der Wissenschaft, eher Kenntnis von den Ursachen der Teile als des Ganzen. Denn die Ursache des Ganzen setzt sich aus den Ursachen der Teile zusammen; man muß aber das Zusammensetzende eher erkennen als das Zusammengesetzte. Unter Teilen verstehe ich hier nicht Teile des Dinges selbst, sondern die Teile seiner Natur; wie ich bei den Teilen eines Menschen nicht seinen Kopf, seine Schultern, Arme usw. meine, sondern seine Gestalt, Quantität, Bewegung, Sinne, Vernunft und dergleichen, welche Accidenzien zusammengefaßt oder zusammengestellt die Natur des Menschen konstituieren, aber nicht den einzelnen Menschen selbst. Das ist auch der eigentliche Sinn des alten Wortes, daß einiges nach seiner Beziehung auf uns, andres nach seiner Natur bekannter sei; denn ich glaube nicht, daß diejenigen, die so unterscheiden, der Meinung sind, daß etwas seiner Natur nach bekannt ist, was keinem Menschen bekannt ist. Unter dem uns mehr Bekannten müssen wir die Dinge verstehen, die wir durch Sinne wahrnehmen; die aber nach ihrer Natur mehr bekannten sind solche, welche durch Vernunft erschlossen werden. Allein in diesem Sinne ist es zu verstehen, daß das Ganze, d. h. jene Dinge, die universale Namen haben (die ich der Kürze halber Universalia nenne) uns bekannter sind als ihre Teile, nämlich als solche Dinge, welche nicht universale Namen haben (die ich deshalb Singularia nenne); die Ursachen der Teile dagegen sind nach ihrer Natur bekannter als die Ursache des Ganzen, d. h.: Universalia mehr als Singularia. 18 1 Programm und Methode 3. In der Philosophie kann man nun entweder schlechthin ohne begrenztes Ziel forschen und Wissenschaft treiben, nämlich um so viel wie möglich zu ergründen, ohne sich begrenzte Fragen vorzulegen; oder man sucht die Ursache irgendeiner bestimmten Erscheinung oder wenigstens Gewißheit über irgendeinen fraglichen Gegenstand zu finden. So z. B. was die Ursache des Lichtes, der Wärme, der Schwere, der Gestalt eines gegebenen Phänomens sei und ähnliches; oder welchem Subjekt irgendein gegebenes Accidenz inhäriert; oder welches vielleicht von vielen Accidenzien am meisten zur Erzeugung einer gegebenen Wirkung beiträgt; oder wie zur Hervorrufung einer bestimmten Wirkung besondere Ursachen verknüpft werden müßten. Entsprechend dieser Mannigfaltigkeit der in Frage stehenden Dinge muß man bald die analytische Methode, bald die synthetische, bald auch beide Methoden anwenden. [ … ] 7. Die Staatsphilosophie hängt nicht so fest mit der Moralphilosophie zusammen, als daß sie nicht von ihr getrennt werden könnte. Man erkennt nämlich die Ursachen der Seelenregungen nicht nur durch wissenschaftliche Forschung, sondern auch durch die eigene Erfahrung, wenn man sich Mühe gibt, seine eigensten Gefühle zu beobachten. Und deshalb können nicht nur diejenigen, die von den ersten Prinzipien der Philosophie nach der synthetischen Methode zur Erkenntnis der Begierden und Leidenschaften gelangt sind, durch Vorwärtsschreiten auf demselben Wege zur Einsicht in die Notwendigkeit kommen, Staaten aufzurichten, und erkennen, was das natürliche Recht ist und welches die bürgerlichen Pflichten sind und was unter jeder Regierung die Rechte der Gesellschaft sind und was sonst noch zur Staatsphilosophie gehört (denn die Prinzipien der Politik wurzeln in der Erkenntnis der Seelenregungen, die der Seelenregungen aber in der Erkenntnis der Sinneswahrnehmungen und der Imagination); sondern auch diejenigen, die zwar die Grundlagen der Philosophie, nämlich Geometrie und Physik, nicht studiert haben, können trotzdem zu den Prinzipien der Staatsphilosophie durch die analytische Methode gelangen. Denn angenommen, man gehe von einer beliebigen Frage aus, z. B. ob eine bestimmte Handlung gerecht oder ungerecht sei, so wird man durch Auflösung des Begriffs „ ungerecht “ in eine „ Handlung wider das 19 Vom Körper Gesetz “ und des Begriffs „ Gesetz “ in den „ Befehl dessen oder derjenigen, die die Macht und erzwingbare Gewalt besitzen “ und des Begriffs „ Macht “ in den „ Willen der Menschen, die eine solche Macht, des Friedens wegen, einsetzten, “ schließlich zu dem Ergebnis gelangen, daß die Triebe und Seelenregungen der Menschen von irgendeiner Macht in Schrank gehalten werden müssen, weil die Menschen sich sonst gegenseitig bekämpfen und bekriegen würden. Diese Tatsache lehrt aber jeden einzelnen die eigene Erfahrung, wenn er nur seine Seele prüft. Folglich kann man von diesem Punkte aus durch Zusammensetzung zur Bestimmung der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit jeder beliebigen Handlung vorwärtsschreiten. Schon aus dem Gesagten ist klar, daß die Methode des Philosophierens für diejenigen, die nach der Wissenschaft schlechthin forschen, ohne Voraussetzung einer bestimmten Fragestellung, teils analytisch, teils synthetisch ist; analytisch ist nämlich das Aufstellen der Prinzipien von den Sinneswahrnehmungen aus; das übrige hingegen ist synthetisch. Dialog Vo m G e s e t z d e r Ve r n u n f t J.: Warum behauptest du, daß das Studium des Rechts weniger vernunftgemäß sei als das Studium der Mathematik? P.: Das behaupte ich gar nicht, denn jedes Studium ist entweder vernunftgemäß oder es ist nichts wert. Aber ich behaupte, daß die großen Mathematiker nicht so häufig irren wie die großen Rechtsgelehrten. J.: Vielleicht wärest du anderer Meinung, wenn du das Recht wirklich gründlich studiert hättest. P.: Ganz gleich, was ich studiere; ich versuche immer, vernunftgemäß vorzugehen. Die Gesetzestexte, beginnend bei der Magna Carta 3 bis in die heutige Zeit, habe ich durchgesehen. Ich ließ nicht einen ungelesen, von dem ich annahm, daß er für mein Urteil wichtig sein könnte, und dies hielt ich auch für ausreichend, denn es ging mir 20 1 Programm und Methode ja um nichts als mein eigenes Urteil. Aber ich untersuchte sie nicht in der Hinsicht, welcher von ihnen mehr oder weniger vernünftig sei, denn ich las sie ja nicht, um sie in Frage zu stellen, sondern um herauszufinden, ob es vernünftig sei, ihnen zu gehorchen. Und ich erkannte in allen den vernünftigen Grund für meinen Gehorsam, und diese Vernünftigkeit blieb bestehen, auch wenn die Gesetze selbst geändert worden waren. Ich habe auch Littletons Buch der Besitztitel mit den diesbezüglichen Kommentaren des berühmten Juristen Sir Edward Coke 4 sorgfältig durchgelesen, in welchem, ich gestehe, ich ein großes Maß an Scharfsinn erkannte, wobei es wiederum nicht auf die einzelnen Gesetze, sondern auf die allgemeinen Folgerungen ankommt. Dies gilt besonders für die Folgerungen aus dem Gesetz der menschlichen Natur, welches das Gesetz der Vernunft ist: und zweifellos hat Littleton Recht, wenn er in seinem Nachwort sagt: durch Argumentation und Vernunft kommt man eher zu Gewißheit über das Recht und zur Kenntnis von ihm. Ich stimme mit Sir Coke, der jenen Text kommentiert, außerdem darin überein, daß Vernunft die Seele des Rechts ist. 21 Dialog 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie Einleitung Philosophiepolitisch zielt Hobbes zwar auf eine Rechts- und Staatstheorie. Sowohl sein dreiteiliges philosophisches System als auch sein Hauptwerk, Leviathan, setzen aber sachlich gesehen weit vorher an. Sie beginnen nämlich mit einem Thema, das sowohl der Naturphilosophie als auch der Erkenntnistheorie bzw. Philosophie des Geistes zuzuordnen ist. Zur Naturphilosophie gehört es, weil es von Körpern handelt, zur Erkenntnistheorie bzw. Philosophie des Geistes, weil es die Erkenntnis bei den Sinnesempfindungen anheben läßt und diese aus gewissen Eigenschaften von Körpern heraus erklärt. Mit diesem Vorgehen steht Hobbes in der Tradition der von Francis Bacon forcierten Erneuerung der Wissenschaften im Geist der Erfahrung. Daß es in der Schulphilosophie (Scholastik) an diesem Geist fehlte, dürfte der Hauptgrund für Hobbes ’ Ablehnung, sogar Verachtung ihrer Art zu philosophieren sein. Weil er die Erkenntnis bei den Sinnesempfindungen beginnen läßt, ist Hobbes - um gewisse Einteilungsschemata zu bemühen - ein erkenntnistheoretischer Sensualist. Auf den Sinnen bauen die höheren Erkenntnisleistungen auf, zunächst die Einbildung, die als „ zerfallende Empfindung “ erläutert wird und Schlafenden das Träumen ermöglicht, danach die Erinnerung, die im Fall von Regelmäßigkeiten, die erinnert werden, zur Erfahrung und schließlich, bei wachsender Erfahrung, zu Klugheit führt. Keine dieser Fähigkeiten kommen laut Hobbes ausschließlich dem Menschen zu. Denn selbst einjährige Tiere können klüger als Kinder sein. Erst mit Hilfe von Sprache und Methode erreicht die Erkenntnisfähigkeit der Menschen eine Höhe, die sie über alle anderen Lebewesen erhebt. Soweit Hobbes nur natürliche Erklärungen anerkennt, ist er ein konsequenter, man kann auch sagen: bekennender Naturalist. Weil er sich letztlich auf Körper und deren Bewegungen beruft, ist er ein ebenso konsequenter und bekennender Materialist. Zweifelsohne widerspricht diese Denkweise seiner tief von Religion geprägte Zeit und erklärt, warum Hobbes in vielen Kreisen so heftig angefeindet wird. Auch wenn Hobbes nach seinem rhetorischen Naturell ein leidenschaftlicher Widerspruchsgeist ist, hat das Widersprechen für ihn keinen Selbstzweck. Vielmehr ist er sowohl aus politischen als auch aus methodischen Gründen davon überzeugt, das Grundübel seiner Zeit, die religiösen und politischen Zwistigkeiten, auf diese und nur diese Weise überwinden zu können. Sein unausgesprochenes Argument: Wegen des unstrittigen Beginns bei den Sinnen und der ebenso wenig strittigen schrittweisen Entwicklung höherer Erkenntnisstufen, entziehen ein konsequenter Naturalismus und Materialismus allem Aber- und Irrglauben das Fundament. Ins Positive, zugleich Politische gewandt, erhalten schon die ersten Bausteine seiner Argumentation den für die Staatstheorie gesuchten Rang einer allen Streit zunichte machenden Irrtumsfreiheit. Wegen zweier Elemente ist Hobbes ’ Erkenntnistheorie allerdings nicht unbesehen einem reinen Naturalismus und Materialismus zuzuordnen. Es sind die Erklärungen von dem, was Kant die Anschauungsformen nennen wird: Raum und Zeit. Deren Theorie findet sich nicht im Leviathan, wohl aber im späteren Werk Vom Körper. Dort nimmt Hobbes das Gedankenexperiment einer allgemeinen Weltvernichtung vor und fragt, was dann noch übrigbliebe. Seine Antwort: Es ist zum einen der Raum, zum anderen die Zeit. Hobbes selber scheint auch hier seinem naturalistischen Sensualismus treu bleiben zu wollen. Denn er argumentiert mit „ erinnern wir uns “ ; ferner spricht er vom Körper, der hinsichtlich seiner Größe die Vorstellung des Raumes und hinsichtlich seiner Bewegung die Vorstellung der Zeit als ein Phantasma im Geist zurücklasse. Woher diese Phantasmen denn herkommen und wie sie zurückbleiben, erläutert er aber nicht. Vorsichtig gesagt liegt hier die sensualistisch-naturalistische Erklärung zumindest nicht auf der Hand. Nach einer anderen Stelle werden allerdings - vermutlich - alle Vorstellungen durch die Sinne hervorgebracht, infolgedessen auch die von Raum und Zeit. Die genannte Interpretation muß wohl offen bleiben. 23 Einleitung Naturrecht T e i l I , D i e N a t u r d e s M e n s c h e n , K a p i t e l I I I : Vo n d e r E i n b i l d u n g u n d i h r e n A r t e n 1. Wie stehendes Wasser, das durch einen Steinwurf oder einen Windstoß in Bewegung gesetzt wird, nicht augenblicklich zur Ruhe kommt, wenn der Wind nachgelassen oder der Stein sich abgesetzt hat, so wenig hört auch die Wirkung, die der Gegenstand dem Gehirn eingemeißelt hat, auf, sobald durch die Abwendung des Sinnesorgans der Gegenstand zu wirken aufhört. Damit ist gesagt, dass zwar die Sinnesempfindung vorbei ist, die Vorstellung oder Wahrnehmung jedoch zurückbleibt; wenn wir wach sind, aber eher undeutlich, weil der eine oder andere Gegenstand unentwegt die Aufmerksamkeit unserer Augen und Ohren erheischt und den Geist damit in heftiger Bewegung hält, wodurch der schwächere nicht leicht zum Vorschein kommt. Und diese undeutliche Wahrnehmung ist das, was wir FANTASIE (PHANTASY ) oder EINBILDUNG (IMAGINATION ) nennen. Einbildung ist also (um sie zu definieren) die übriggebliebene Vorstellung, die vom Akt der sinnlichen Wahrnehmung an und danach allmählich zerfällt. 2. Wenn es aber keine präsente Sinnesempfindung gibt, wie im SCHLAF, dann sind die nach der Sinnesempfindung übriggebliebenen Bilder (wenn welche da sind), wie etwa in Träumen, nicht undeutlich, sondern stark und klar, wie bei der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Der Grund dafür ist der, dass das, was tagsüber die Vorstellung undeutlich und schwach machte, nämlich die Sinnesempfindung selbst und die gegenwärtige Erfassung der Dinge, beseitigt ist. Denn der Schlaf entbehrt den Akt unmittelbarer, sinnlicher Wahrnehmung, und Träume sind die Einbildungen derer, die schlafen (die Kraft dazu bleibt ja bestehen). 24 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie Leviathan T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 1 . K a p . : Vo n d e r E m p f i n d u n g Was die Gedanken der Menschen betrifft, so möchte ich sie zuerst einzeln und danach in ihrer Abfolge oder Abhängigkeit voneinander betrachten. Einzeln ist jeder eine Darstellung oder Erscheinung einer Qualität oder eines anderen Akzidenzes eines Körpers außerhalb von uns, den man gewöhnlich ein Objekt nennt. Dieses Objekt wirkt auf Augen, Ohren und andere Teile des menschlichen Körpers ein und bringt durch die Verschiedenheit der Einwirkungen Verschiedenheit der Erscheinungen hervor. Ihr aller Ursprung ist das, was wir Empfindung nennen, denn es gibt keine Vorstellung im menschlichen Verstand, die nicht zuerst ganz oder teilweise in den Sinnesorganen erzeugt worden war. Die übrigen werden von diesem Ursprung abgeleitet. Die Kenntnis der natürlichen Ursache der Empfindung ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erforderlich, und ich habe darüber an anderer Stelle in aller Breite geschrieben. Trotzdem möchte ich sie an diesem Ort kurz darlegen, um jeden Teil meiner vorliegenden Lehre auszuführen. Ursache der Empfindung ist der äußere Körper oder Objekt, der auf das jeder Empfindung entsprechende Organ drückt, entweder unmittelbar wie beim Schmecken und Fühlen, oder mittelbar wie beim Sehen, Hören und Riechen. Dieser Druck setzt sich durch die Vermittlung der Nerven und anderer Stränge und Membranen des Körpers nach innen bis zu dem Gehirn und Herzen fort und verursacht dort einen Widerstand oder Gegendruck oder ein Bestreben des Herzens, sich davon freizumachen. Da dieses Bestreben nach außen gerichtet ist, scheint es auch eine äußere Materie zu sein. Und dieser Schein oder diese Einbildung ist das, was die Menschen Empfindung nennen und besteht für das Auge in einem Licht oder einer vorgestellten Farbe, für das Ohr in einem Ton, für die Nase in einem Geruch, für die Zunge und den Gaumen in einem Geschmack und für den Rest des Körpers in Hitze, Kälte, Härte, Weichheit und anderen Qualitäten, die wir durch das Gefühl wahrnehmen. Alle diese Qualitäten, die sinnlich genannt werden, stellen in dem Objekt, 25 Leviathan das sie verursacht, nichts anderes dar als lauter verschiedene Bewegungen der Materie, durch die es auf unsere Organe verschiedenartig drückt. Sie sind auch in uns, auf die ein Druck ausgeübt wird, nichts anderes als entsprechend viele Bewegungen, denn eine Bewegung bringt nichts anderes hervor als Bewegung. Aber ihre Erscheinung ist für uns Vorstellung, im Wachen wie im Träumen. Und wie Drücken, Reiben oder Stoßen des Auges in uns eine Vorstellung von Licht und das Drücken des Ohres ein Geräusch hervorbringt, so bringen auch die Körper, die wir sehen oder hören, durch ihre starken, wenn auch unbemerkten Wirkungen dieselben Erscheinungen hervor. Denn wären diese Farben und Töne in den Körpern oder Objekten, die sie verursachen, so könnten sie von ihnen nicht durch Reflexion mit Hilfe von Spiegeln und als Echo getrennt werden; wir sehen aber, daß dies möglich ist. Dabei wissen wir, daß sich der von uns gesehene Gegenstand und die Erscheinung an zwei verschiedenen Orten befinden. Und obwohl über eine gewisse Entfernung das wirkliche und eigentliche Objekt von der Vorstellung, die es in uns erzeugt, umhüllt zu sein scheint, so sind doch das Objekt und das Bild oder die Vorstellung zwei verschiedene Dinge. So ist also die Empfindung in allen Fällen nichts anderes als eine ursprüngliche Vorstellung, verursacht, wie ich sagte, durch den Druck, das heißt die Bewegung von äußeren Dingen auf unsere Augen, Ohren oder andere dazu bestimmte Organe. T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 2 . K a p . : Vo n d e r E i n b i l d u n g Wenn ein Ding still liegt, ohne daß es von etwas anderem bewegt wird, liegt es für immer still - das ist eine Wahrheit, die niemand bezweifelt. Aber daß ein Ding, wenn es in Bewegung ist, ewig in Bewegung sein wird, wenn nichts anderes es anhält - dem wird nicht so leicht zugestimmt, obwohl der Grund der gleiche ist, nämlich, daß nichts sich selbst ändern kann. Denn die Menschen messen nicht nur andere Menschen, sondern auch alle anderen Dinge an sich selbst, und da sie nach einer Bewegung Schmerz und Schlaffheit fühlen, denken sie, jedes andere Ding werde der Bewegung müde und strebe aus freien Stücken nach Ruhe, ohne viel zu überlegen, ob dieses Verlangen nach Ruhe, das sie in sich finden, nicht etwa in einer 26 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie anderen Bewegung besteht. Daher kommt es, daß die Schulen sagen, schwere Körper fielen aus einem Streben nach Ruhe und zur Erhaltung ihrer Natur an den für sie günstigsten Ort, wobei sie absurderweise unbelebten Dingen Trieb und Kenntnis dessen, was für ihre Selbsterhaltung gut ist, zuschreiben - obwohl dies nicht einmal die Menschen besitzen. Ist ein Körper einmal in Bewegung, so bewegt er sich ewig, bis ihn etwas anderes bremst, und alles, was die Bewegung bremst, kann sie nicht auf einmal, sondern nur in einer bestimmten Zeit und schrittweise völlig auslöschen. Und wie wir am Wasser sehen, daß die Wogen lange Zeit nicht zu rollen aufhören, obwohl sich der Wind gelegt hat, so geschieht es auch mit der Bewegung, die in den inneren Teilen eines Menschen entsteht, wenn er sieht, träumt, usw. Denn nach Entfernen des Objekts oder Schließen der Augen behalten wir immer noch ein Bild des gesehenen Dings zurück, wenn auch dunkler als im Augenblick des Sehens. Und genau das nennen die Lateiner nach dem Bild, das durch das Sehen entstanden ist, Ein- Bildung 5 und verwenden den gleichen Ausdruck, wenn auch ungenau, für alle anderen Sinne. Aber die Griechen nennen es Vorstellung, was Erscheinung bedeutet und für alle Sinne gleich gut paßt. Einbildung ist daher nichts anderes als zerfallende Empfindung und findet sich im Menschen und in vielen anderen Lebewesen im Schlafen so gut wie im Wachen. [ … ] Viel Erinnerung oder die Erinnerung an viele Dinge nennt man Erfahrung. Da es ferner Einbildung nur von jenen Dingen gibt, die vorher durch die Empfindung entweder ganz oder in Teilen zu verschiedenen Zeiten wahrgenommen worden waren, so ist das erste, das Einbilden des ganzen Objekts, wie es sich den Sinnen dargeboten hatte, eine einfache Einbildung, z. B. wenn jemand sich einen Menschen oder ein Pferd vorstellt, die er vorher gesehen hat. Die andere ist zusammengesetzt, z. B. wenn wir einmal einen Menschen und ein andermal ein Pferd sehen und uns auf Grund dessen einen Kentaur vorstellen. [ … ] Die Einbildungen der Schlafenden nennen wir Träume. Auch diese befanden sich wie alle anderen Einbildungen entweder ganz oder teilweise zuvor in der Empfindung. Und weil bei der Empfindung Gehirn und Nerven, welche die notwendigen Sinnesorgane 27 Leviathan sind, im Schlaf so gelähmt sind, daß sie durch die Wirkung äußerer Objekte nicht leicht bewegt werden können, kann auch im Schlaf keine Einbildung und deshalb kein Traum vorkommen, der nicht durch die Bewegung der inneren Teile des menschlichen Körpers entstünde. Diese inneren Teile halten, wenn sie gestört werden, Gehirn und andere Organe in Bewegung, weil sie mit ihnen verbunden sind. Hierdurch erscheinen die dort früher entstandenen Einbildungen so, als wache man - außer daß die Sinnesorgane nunmehr gelähmt sind, so daß es kein neues Objekt gibt, das sie durch einen stärkeren Eindruck überwinden und verdunkeln kann, und daß somit ein Traum in diesem Stillstand der Empfindungen notwendig klarer sein muß als unsere Gedanken im Wachen. Daher kommt es, daß die genaue Unterscheidung zwischen Empfindung und Traum ein schwieriges Problem ist und von manchen für unmöglich gehalten wird. Wenn ich meinesteils bedenke, daß ich im Traum weder oft noch ständig an die gleichen Personen, Orte, Gegenstände und Handlungen denke wie im Wachen, daß ich mich im Traum auch nicht an so lange zusammenhängenden Gedankenfolgen erinnere, wie zu anderer Zeit, und weil ich wachend oft die Widersinnigkeit der Träume bemerke, aber nie von der Widersinnigkeit meiner Gedanken beim Wachen träume, so bin ich sehr zufrieden, daß ich im Wachen weiß, daß ich nicht träume, obwohl ich mich im Traum für wachhalte. Aus dieser Unkenntnis, wie Träume und andere starke Vorstellungen von Visionen und Empfindungen zu unterscheiden sind, ist der größte Teil der Religion der Heiden in der Vergangenheit entstanden, die Satyrn, Faune, Nymphen und dergleichen verehrten, und ebenso heute die Meinung, die primitive Leute von Feen, Geistern, Kobolden und der Macht der Hexen haben. [ … ] Trotzdem kann Gott unzweifelhaft übernatürliche Erscheinungen hervorbringen. Aber daß er es so oft tut, daß die Menschen solche Dinge mehr fürchten müssen als das Anhalten oder das Verändern des Laufs der Natur, was er ebenfalls kann, ist kein christlicher Glaubenssatz. Aber übelwollende Menschen erdreisten sich, unter dem Vorwand, Gott könne alles tun, alles zu behaupten, wenn es ihren Zwecken dient, selbst wenn sie es für unwahr halten. Es ist deshalb Aufgabe eines 28 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie klugen Mannes, ihnen nicht weiter zu glauben, als die rechte Vernunft ihre Behauptungen glaubhaft erscheinen läßt. Wäre diese abergläubische Furcht vor Geistern verschwunden und damit Weissagungen aus Träumen, falsche Prophezeiungen und viele andere Dinge, die davon abhängen und mit denen schlaue und ehrgeizige Leute das einfache Volk mißbrauchen, so wären diese Menschen viel eher zum bürgerlichen Gehorsam geeignet, als sie es jetzt sind. Die Einbildung, die im Menschen oder in anderen Lebewesen, die Einbildungskraft besitzen, durch Wörter oder andere willkürliche Zeichen entsteht, nennen wir gewöhnlich Verstehen, und sie ist Mensch und Tier gemeinsam. Denn ein Hund wird durch Gewöhnung den Ruf oder das Schelten seines Herrn verstehen, ebenso viele andere Tiere. Das dem Menschen eigentümliche Verstehen liegt darin, daß er nicht nur seinen Willen, sondern auch seine Vorstellungen und Gedanken versteht, indem er Namen von Dingen zu Bejahungen, Verneinungen und anderen Sprachformen aneinanderreiht und verknüpft. Auf diese Art des Verstehens werde ich hernach zu sprechen kommen. T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 3 . K a p . : Vo n d e r R e i h e n f o l g e d e r E i n b i l d u n g e n Es gibt zwei Arten dieser Gedankenfolge oder dieses sich im Geiste abspielenden Denkens. Die erste ist ungesteuert, absichtslos und unbeständig. Ihr liegt kein leidenschaftlicher Gedanke zugrunde, der die folgenden auf sich selbst als Ziel oder Gegenstand eines Verlangens oder einer anderen Leidenschaft lenkte oder richtete. In diesem Falle sagt man, die Gedanken schweiften umher, und sie erscheinen zusammenhanglos, wie in einem Traum. So sind gewöhnlich die Gedanken von Menschen beschaffen, die nicht nur ohne Gesellschaft sind, sondern auch nichts zu tun haben. Die zweite Art ist beständiger, denn sie wird von einem Verlangen und einer Absicht geregelt. Denn der Eindruck, der von solchen Dingen hervorgerufen wird, die wir wünschen oder fürchten, ist stark und andauernd oder kehrt, wenn er eine Zeitlang aufgehört hat, 29 Leviathan schnell zurück - manchmal ist er so stark, daß er uns den Schlaf nimmt oder ihn unterbricht. Aus dem Verlangen entsteht der Gedanke an ein Mittel, von dem wir gesehen haben, daß es etwas von der Art des Angestrebten hervorbringt., und aus dem Gedanken daran der Gedanke an ein Mittel für dieses Mittel, und so geht es beständig weiter, bis wir auf einen Anfang kommen, der in unserem Machtbereich liegt. Und da uns das Ziel wegen der Größe des Eindrucks oft in den Sinn kommt, werden unsere Gedanken, wenn sie umherzuschweifen beginnen, schnell wieder auf den richtigen Weg zurückgeführt. Diese Beobachtung veranlaßte einen der sieben Weisen, den Menschen diesen Rat zu geben, der nunmehr zu einer Binsenweisheit geworden ist, nämlich: respice finem! Das soll heißen: Bedenke bei all deinen Handlungen immer wieder das, was du haben möchtest, da dies das Ding ist, das alle deine Handlungen auf den Weg lenkt, auf dem es zu erreichen ist. Der geregelte Gedankengang besteht aus zwei Arten. Die eine liegt vor, wenn wir nach den Ursachen einer eingebildeten Wirkung oder den Mitteln, die sie hervorbringen, suchen, und dies ist Mensch und Tier gemeinsam. Die andere Art liegt vor, wenn wir bei der Einbildung eines beliebigen Dings nach allen möglichen Wirkungen suchen, die damit hervorgebracht werden können. Das heißt, wir stellen uns vor, was wir damit tun können, wenn wir es haben. Anzeichen von dieser Denkweise habe ich ausschließlich beim Menschen gefunden. Denn es handelt sich dabei um eine Neugier, die kaum zu der Natur eines Lebewesens gehören kann, das nur sinnliche Triebe wie Hunger, Durst, Geschlechtstrieb und Wut besitzt. Kurz, wenn das sich im Geiste abspielende Denken von einer Absicht gelenkt wird, so ist es nichts anderes als Suchen oder die Fähigkeit des Erfindens, welche die Lateiner sagacitas und solertia nennen - ein Aufspüren der Ursachen einer gegenwärtigen oder vergangenen Wirkung oder der Wirkungen gegenwärtiger oder vergangener Ursachen. Bisweilen sucht jemand einen verlorenen Gegenstand: von dem Ort und Zeitpunkt, an dem er ihn vermißt, eilt sein Geist zurück, von Ort zu Ort und von Zeitpunkt zu Zeitpunkt, um herauszufinden, wo und wann er ihn besaß - das heißt, um einen sicheren und begrenzten Ort und Zeitpunkt zu finden, um dort ein methodisches Nachsuchen zu beginnen. Von da an begeben sich 30 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie seine Gedanken wieder an die gleichen Orte und Zeitpunkte, um herauszufinden, welche Handlung oder welch anderer Umstand ihn veranlaßt haben könnte, den Gegenstand zu verlieren. Dies nennen wir Erinnerung oder In-den-Geist-rufen: die Lateiner nennen es reminiscentia, als handelte es sich um ein Zurückleiten unserer früheren Handlungen. [ … ] Bisweilen möchte jemand das Ergebnis einer Handlung wissen. Er denkt dann an eine gleichartige, zurückliegende Handlung und an die Reihenfolge ihrer Ergebnisse, in der Annahme, gleiche Ergebnisse folgten auf gleiche Handlungen. So erinnert sich auch derjenige, welcher das Ende eines Verbrechers vorhersieht, daran, was er als Folge eines früheren, gleichartigen Verbrechens gesehen hat, wobei ihm diese Reihenfolge der Gedanken vor Augen steht: das Verbrechen, die Polizei, das Gefängnis, der Richter und der Galgen. Diese Art von Denken nennt man Voraussicht, Klugheit oder Vorsehung und manchmal Weisheit obwohl solche Mutmaßungen durch die Schwierigkeit, alle Umstände zu beachten, sehr irrig sein können. Aber dies ist sicher: Um das, was einer mehr Erfahrung als ein anderer in vergangenen Dingen hat, ist er auch klüger, und seine Erwartungen täuschen ihn um so seltener. Nur die Gegenwart existiert in der Natur, die Vergangenheit existiert nur in der Erinnerung, aber zukünftige Dinge existieren überhaupt nicht, da die Zukunft nur eine Fiktion des Geistes ist, der die Folgen vergangener Handlungen auf eine gegenwärtige anwendet. Hierzu ist derjenige mit der größten Sicherheit in der Lage, welcher die größte Erfahrung hat, aber nicht mit genügender Sicherheit. Und obwohl man es Klugheit nennen mag, wenn das Ergebnis unserer Erwartung entspricht, so ist dies doch seiner eigenen Natur nach bloße Vermutung. Denn die Vorhersicht zukünftiger Dinge, was Vorsehung ist, besitzt nur derjenige, durch dessen Willen sie sich ereignen werden. Nur aus ihm spricht Weissagung, und zwar auf übernatürliche Weise. Auf natürlichem Gebiet ist derjenige der beste Prophet, welcher das beste Urteil hat, und das beste Urteil hat derjenige, welcher in den Dingen, die er beurteilt, die größte Übung und die größten Kenntnisse hat, denn er kennt auch die meisten Zeichen, nach denen er urteilen kann. [ … ] 31 Leviathan Wie die Klugheit eine Mutmaßung der Zukunft darstellt, die aus der Erfahrung der Vergangenheit abgeleitet wurde, so gibt es Mutmaßung vergangener Dinge, die sich auf andere, nicht zukünftige, sondern ebenfalls vergangene Dinge stützt. Denn jemand, der gesehen hat, durch welche Vorgänge und Schritte ein blühender Staat zuerst in einen Bürgerkrieg gestürzt und dann zur Ruine wurde, wird beim Anblick der Ruinen eines anderen Staates vermuten, daß der gleiche Krieg und die gleichen Vorgänge dort stattgefunden haben. Aber diese Mutmaßung besitzt beinahe dieselbe Unsicherheit wie die Mutmaßung der Zukunft, da sich beide nur auf Erfahrung gründen. Ich kann mir keine andere Tätigkeit des menschlichen Geistes denken, die ihm so von Natur aus eingepflanzt worden wäre, daß zu ihrer Ausübung nichts weiter erforderlich ist, als daß man als Mensch geboren ist und seine fünf Sinne gebrauchen kann. Jene anderen Fähigkeiten, auf die ich gleich nachher zu sprechen komme und die allein dem Menschen eigen zu sein scheinen, werden durch Lernen und Fleiß erworben und vergrößert, von den meisten Menschen mit Hilfe von Unterricht und Zucht gelernt und ergeben sich alle aus der Erfindung von Wörtern und der Sprache. Denn außer Empfindung, Gedanken und Gedankengang kennt der menschliche Geist keine Bewegung, obwohl diese Fähigkeiten mit Hilfe von Sprache und Methode auf eine solche Höhe gebracht werden können, daß man die Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheiden kann. Vom Körper I I . T e i l . E r s t e P h i l o s o p h i e , 7 . K a p . : Vo n O r t u n d Z e i t 1. Die Philosophie der Natur werden wir am besten (wie bereits oben erwähnt wurde) mit der Privation beginnen, d. h. mit der Idee einer allgemeinen Weltvernichtung. Gesetzt also, alle Dinge wären vernichtet, so könnte man fragen, was einem Menschen (der allein von dieser Weltvernichtung ausgenommen sein soll) noch als Gegenstand philosophischer Betrachtung und wissenschaftlicher Erkenntnis übrig bliebe oder was er zum Aufbau der Wissenschaft zu benennen dann noch Anlaß hätte. [ … ] 32 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie 2. Erinnern wir uns eines Dinges, das in der Welt vor deren angenommener Vernichtung war, oder vergegenwärtigen wir es uns in unserer Phantasie und achten wir (wobei wir seine Beschaffenheit außer Betracht lassen) nur darauf, daß es ein Sein außerhalb des Geistes hatte, so gelangen wir zu einer Vorstellung, die wir „ Raum “ nennen. Es ist dies zwar nur ein imaginärer Raum, da er lediglich ein Phantasma ist, aber es ist doch eben dieses Ding, das von allen so genannt wird. Denn niemand hält den Raum für etwas tatsächlich Ausgefülltes, sondern unter Raum wird nur verstanden, was ausgefüllt werden kann; wie auch niemand glaubt, daß die Körper den Raum, den sie einnehmen, mit sich fortbewegen, da doch derselbe Raum bald diesen, bald jenen Körper enthält, was unmöglich wäre, wenn der Raum den Körper, der sich einmal in ihm befindet, immer begleiten würde. [ … ] 3. Wie ein Körper von seiner Größe, so läßt ein bewegter Körper von seiner Bewegung ein Phantasma im Geist zurück, nämlich die Vorstellung von einem Körper, wie er stetig seinen Ort ändert. Diese Vorstellung oder dieses Phantasma ist es, was ich als Zeit bezeichne, wobei ich mich wiederum weder von der allgemeinen Auffassung noch von des Aristoteles ’ Definition entferne. Alle Menschen geben zu, daß ein Jahr Zeit ist, und glauben doch nicht, daß das Jahr Accidenz oder Zustand oder Modus irgendeines Körpers sei; daher muß man auch zugeben, daß Zeit nicht in den Dingen an sich außerhalb von uns, sondern nur im Denken des Geistes besteht. 8 . K a p . : Vo n K ö r p e r u n d A c c i d e n z Was aber Accidenz ist, das läßt sich nicht so leicht durch eine Definition als vielmehr durch Beispiele entwickeln. Denken wir uns also, ein Körper nehme irgendeinen Raum ein oder dehne sich mit ihm zusammen aus, so ist die Ausdehnung doch nicht der ausgedehnte Körper selbst. Denken wir uns ebenso weiter, daß derselbe Körper seinen Ort ändere, so ist die Ortsänderung nicht der bewegte Körper selbst. Oder denken wir uns, daß jener Körper in seinem Ort verharre, so ist seine Ruhe nicht der ruhende Körper selbst. Was also sind diese Dinge? Sie sind die Accidenzien des Körpers. Aber die Frage lautet: Was ist ein Accidenz? Welche Frage auf etwas schon 33 Vom Körper Bekanntes geht und keine neue Forschung erfordert. Jeder versteht Sätze, wie daß irgend etwas ausgedehnt sei oder sich bewege oder sich nicht bewege, immer in derselben Weise. Dennoch wünschen die meisten, daß man ihnen sagt: das Accidenz sei irgend etwas, nämlich irgend ein Teil der natürlichen Dinge, während es in Wirklichkeit kein Teil davon ist. Die beste Antwort hierauf gibt die Definition des Accidenz, welche es als die Art und Weise bestimmt, in der ein Körper von uns vorgestellt wird; was so viel besagt wie: das Accidenz ist die Fähigkeit eines Körper, durch die er in uns eine Vorstellung seiner selbst erwirkt. Obgleich diese Definition nicht eine Antwort auf die gestellte Frage ist, beantwortet sie jene andre Frage, die eigentlich hätte gestellt werden müssen, nämlich: Woher kommt es, daß ein Teil des Körpers hier, der andre dort gesehen wird? Die richtige Antwort lautet: Das geschieht wegen seiner Ausdehnung. Oder: Woher kommt es, daß man den Körper nacheinander bald hier, bald dort erblickt? - Antwort: Wegen der Bewegung. Oder endlich: Woher kommt es, daß ein Körper denselben Raum eine Zeitlang einnimmt? Worauf die Antwort lautet: Weil er nicht in Bewegung ist. Handelt es sich um einen konkreten Namen, um den Namen eines Körpers, so muß die Frage, was ist das? durch Definition beantwortet werden, seine Bedeutung muß angegeben werden. Wird aber gefragt, was ein abstrakter Name sei, so wird nach der Ursache gefragt, weshalb etwas so oder so erscheint. Wenn z. B. gefragt wird, was „ hart “ sei, so wird man antworten: hart ist dasjenige, dessen Teile nicht nachgeben. Wenn dagegen die Frage lautet: Was ist die Härte, so muß man die Ursache nachweisen, weshalb ein Teil nicht nachgibt, sofern nicht das Ganze nachgibt. Wir definieren also, das Accidenz sei die Art unserer Wahrnehmung eines Körpers. 9 . K a p . : Vo n U r s a c h e u n d W i r k u n g 1. Man sagt, ein Körper wirkt oder ist tätig, d. h. er tut einem andern Körper etwas, wenn er entweder irgendein Accidenz in jenem hervorruft oder zerstört; und der Körper, in welchem ein Accidenz hervorgerufen oder zerstört wird, erleidet etwas, d. h. ihm wird etwas von einem andern Körper getan. Wenn ein Körper, indem er einen 34 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie andern vorwärts treibt, Bewegung in diesem hervorruft, wird er aktiver Körper (Agens) genannt; der Körper, in welchem Bewegung hervorgerufen wird, heißt ein passiver Körper (Patiens). Das Feuer z. B., welches die Hand erwärmt, ist der aktive Körper, die Hand dagegen, welche warm wird, der passive. Das Accidenz, welches in dem passiven erzeugt wird, heißt Wirkung oder Effekt. 2. Wenn aktive und passive Körper einander berühren, so heißen Handlung und Leiden unmittelbar, im andern Falle mittelbar. Ein Körper hingegen, der zwischen dem aktiven und passiven liegt, ist zugleich aktiv und passiv; aktiv nämlich hinsichtlich des Körpers, der auf ihn folgt und auf den er wirkt, passiv hinsichtlich des Körpers, der ihm vorangeht und von dem er Wirkung empfängt. Wenn mehrere Körper sich so folgen, daß immer die nächsten beiden aneinander grenzen, dann sind alle zwischen dem ersten und letzten sowohl aktiv als auch passiv; der allererste aber ist nur aktiv, der letzte nur passiv. [ … ] 4. Die Summe der für die Wirkung erforderlichen Accidenzien, die in dem oder den aktiven Körpern liegen, heißt, sobald die Wirkung hervorgerufen ist, ihre wirkende Ursache (causa efficiens). Die Summe aber der Acddenzien in dem passiven Körper pflegt, sobald die Wirkung hervorgerufen ist, materiale oder stoffliche Ursache genannt zu werden. Ich sage: sobald die Wirkung hervorgerufen ist. Wo nämlich keine Wirkung ist, da gibt es auch keine Ursache. Denn man kann nichts Ursache nennen, wo es nichts gibt, was Wirkung heißt. Die wirkende und stoffliche Ursache sind Teilursachen, d. h. Teile jener Ursache, die wir ganz kurz vorher Gesamtursache, die vollständige Ursache genannt haben. Hieraus ergibt sich, daß die Wirkung, die wir erwarten, ausbleibt, wenn in dem passiven Körper etwas fehlt, obwohl die erforderlichen Accidenzien in dem aktiven alle vorhanden sind oder umgekehrt. 5. Eine vollständige Ursache reicht immer aus, um ihre Wirkung hervorzurufen, sofern eine Wirkung überhaupt möglich ist. Denn was immer bewirkt worden ist: wenn die Wirkung sich wiederholt, ist offenbar, daß die Ursache, die sie hervorgerufen hat, hinreichend gewesen ist; wird sie jedoch nicht hervorgerufen und wäre sie dennoch möglich gewesen, so ist klar, daß entweder in dem aktiven oder dem passiven Körper etwas fehlte, ohne das sie nicht her- 35 Vom Körper vorgerufen werden konnte, d. h. daß irgendein Accidenz gefehlt hat, welches zu ihrer Entstehung erforderlich war. Daher war die Ursache nicht vollständig, was gegen die Annahme ist. [ … ] 7. Die Ursache einer Bewegung kann nur in einem unmittelbar anstoßenden und bewegten Körper liegen. Angenommen, es seien zwei beliebige, nicht anstoßende Körper vorhanden, zwischen denen der Raum leer oder wenn voll, dann von einem ruhenden Körper erfüllt sei, angenommen ferner, einer von den gedachten Körpern befinde sich in Ruhe, so behaupte ich: er wird immer in Ruhe bleiben. Denn wenn er sich bewegt, so liegt [ … ] die Ursache dieser Bewegung in einem außerhalb befindlichen Körper. Befindet sich nun zwischen dem Körper selbst und jenem außerhalb liegenden Körper ein leerer Raum, so mögen sich die beiden Körper wie immer verhalten, so wird der nach Voraussetzung ruhende Körper offenbar so lange ruhen, bis er von einem anderen Körper angestoßen wird. Da aber die Ursache nach der Definition die Summe aller Accidenzien ist, die denknotwendig sind, damit eine Wirkung erfolge, so sind die Accidenzien, die sich entweder in den Außenkörpern oder in dem leidenden Körper selbst befinden, nicht Ursache der zukünftigen Bewegung. Und da in gleicher Weise einleuchtet, daß etwas, was schon ruht, auch weiterhin ruhen werde, selbst wenn es von einem andern Körper berührt werden sollte, wofern nur jener Körper sich nicht bewege, so folgt, daß die Ursache einer Bewegung nicht in einem angrenzenden, aber ruhenden Körper liegen kann. Ein Körper wird nur zur Ursache einer Bewegung, wenn er bewegt ist und an einen andern anstößt. [ … ] I V. T e i l . P h y s i k : Vo n d e n E r s c h e i n u n g e n d e r N a t u r , 2 5 . K a p . : Vo n d e r E m p f i n d u n g u n d d e r a n i m a l i s c h e n B e w e g u n g 1. Philosophie, so definierten wir im ersten Kapitel, ist die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder der möglichen Ursachen aus ihren bekannten Wirkungen oder Erscheinungen. Daher gibt es zwei Methoden philosophischer Erkenntnis: die erste schreitet von der Erzeugung zu den möglichen Wirkungen, die 36 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie andere umgekehrt von den Erscheinungen der Wirkungen zu ihrer möglichen Erzeugung. [ … ] Von allen Phänomen oder Erscheinungen, die uns vertraut sind, ist das Erscheinen selbst, das φαίνεσϑαι , das wunderbarste, nämlich daß von den Körpern in der Natur einige Bilder von fast allen Dingen, andere dagegen keine davon besitzen. Wissen wir durch die Erscheinungen allein von den Prinzipien der Dinge, so ist schließlich die Empfindung das Prinzip auch der Erkenntnis dieser Prinzipien und alles Wissen stammt aus ihr. Aber die Erforschung ihrer Ursachen kann wiederum von keinem andern Phänomen als von ihr selbst, der Sinnesempfindung, ausgehen, Aber, so möchte man vielleicht fragen, mit welchem Sinne nehmen wir nun den Sinn selbst wahr? Ich antworte: durch die Sinnesempfindung selbst, nämlich durch die Erinnerung, die uns von wahrnehmbaren Dingen einige Zeit bleibt, auch wenn diese vergangen sind. Denn empfinden, daß man empfunden habe, heißt sich erinnern. [ … ] 9. Die Phantasmen Schlafender sind Träume. Über sie lehrt uns die Erfahrung fünferlei. Erstens sind die meisten ungeordnet und zusammenhanglos. Zweitens träumen wir nichts, was nicht aus Phantasmen vergangener Wahrnehmungen zusammengesetzt ist und besteht. Drittens entstehen manchmal Träume in müden Menschen durch allmähliche Hemmung und Veränderung ihrer Phantasmen, durch überhandnehmende Schläfrigkeit, bisweilen aber entstehen sie auch mitten im Schlaf. Viertens sind Träume stärker als die Imaginationen der Wachenden, wenn man von den Phantasmen absieht, die in der Wahrnehmung entstehen, denen sie an Klarheit gleichkommen. Fünftens wundern wir uns im Traume weder über den Ort noch das Aussehen der Dinge. Was die Ursachen für diese Phänomene sein können, ist nach dem schon Gesagten nicht schwierig einzusehen. Weil erstens jede Ordnung und jeder Zusammenhang aus fortwährewndem Hinblick auf das Ziel, d. h. aus einer planmäßigen Überlegung stammt, so wird, da im Schlafe an keinen Zweck gedacht wird, die Folge der Phantasmen durch kein Ziel mehr bestimmt, sondern so sein, wie es sich gerade trifft, etwa, wie sich Objekte unsern Augen darbieten, wenn wir gleichgültig auf sie vor uns schauen und die Dinge nur sehen, nicht weil wir sie sehen 37 Vom Körper wollen, sondern weil wir unsre Augen gerade offen haben; dann erscheint uns alles ohne jedwede Ordnung. Die zweite Eigenart der Träume ist darin begründet, daß beim Schwinden der Empfindung keine neue Bewegung von den Objekten her uns trifft; daher entstehen auch keine neuen Phantasmen, es sei denn, daß wir neu nennen würden, was aus alten zusammengesetzt ist, wie eine Chimäre, ein goldener Berg und ähnliches. Warum drittens der Traum bisweilen gleichsam als Fortsetzung von Wahrnehmungen aus zerstückelten Phantasmen entsteht (z. B. bei Kranken), hat seinen Grund augenscheinlich darin, daß die Empfindung in bestimmten Organen fortbesteht und in andern aufhört. 38 2 Naturphilosophie und Erkenntnistheorie, Erste Philosophie 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft Einleitung Die Sprache ist für Hobbes die edelste und nützlichste aller Erfindungen, noch weit bedeutsamer als die Erfindung des Buchdrucks. Sie unterscheidet nämlich den Menschen vom Tier; sie ermöglicht das Lehren und Lernen sowie das Beraten und befähigt zur Wissenschaft, freilich auch zum Widersinn. Grundelement der Sprache sind laut Hobbes die Namen, die man den Dingen, genauer deren Vorstellungen, zwar willkürlich gibt, wobei man jedoch Mehrdeutigkeiten vermeiden soll. Durch das Wort „ ist “ , die Kopula, werden sodann mehrere Bezeichnungen zu bejahenden und verneinenden Sätzen verbunden und im nächsten Schritt Schlüsse gezogen. Nach Hobbes dient die Sprache vor allem zwei Zwecken, erstens über Namen, die etwas kennzeichnen, dem Aufzeigen der Folgen unserer Gedanken, zweitens mittels gemeinsam verwendeter Zeichen der gegenseitigen Verständigung, einschließlich dem Beraten und Belehren. Zusätzlich befähigt die Sprache zur gegenseitigen Hilfe, nicht zuletzt, um einander zu erfreuen oder um mit Worten zu spielen, wobei sich verschiedene Arten von Mißbrauch auftun. Für die Klugen sind die Wörter laut Hobbes „ Rechensteinchen “ , für die Menschen, die lieber klassischen Autoritäten wie Aristoteles, Cicero und Thomas von Aquin folgen, „ das Geld der Narren “ . Gemäß dem Sensualismus stehen laut Hobbes am Beginn des Wissens Vorstellungen im Geist, die dann benannt und als drittes zu logisch richtigen Sätzen verbundenen werden, so daß sie viertens Schlußfolgerungen ergeben. Wenn es sich mit dem Bewußtsein der Wahrheit verbindet, heißt das entsprechende Wissen Wissenschaft, anderenfalls bloß Meinung. Die Vernunft, bestimmt als die Fähigkeit mit Hilfe allgemeinen Namen zu denken, nämlich rationale Schlußfolgerungen zu ziehen, ist laut der Spätschrift Vom Körper als „ natürliche Vernunft jedem Menschen eingeboren “ . Nach dem früheren Werk, Leviathan, hingegen ist sie wieder angeboren noch durch bloße Erfahrung erworben, wird vielmehr durch Fleiß erlangt: durch die passenden Bezeichnungen, durch eine systematische Theorie des Fortschrittes zu Behauptungen, schließlich zur Verbindung von Behauptungen, zu Schlüssen der Syllogismen, was man wie gesagt Wissenschaft nennt. Diese hat vor allem entweder Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen oder umgekehrt die möglichen erzeugenden Gründe aus der bekannten Wirkungen zu erschließen. Ihre größte Bedeutung erhält die Philosophie dort, wo die vorausgehenden Wirkungen unserem Vorteil, namentlich der Förderung des menschlichen Lebens, dienen. Nach Hobbes ’ einschlägiger Bilanz ist die Vernunft der Schritt, die Nahrung der Wissenschaft der Weg und die Wohlfahrt der Menschheit das Ziel. Reiche Erfahrung macht die Klugheit, Reichtum an Wissenschaft die Weisheit aus. Wissen (nach Leviathan , 9. Kap.) Tatsachenwissen (Geschichte) Folgenwissen (auch Philosophie genannt) bürgerliche Geschichte Naturgeschichte Naturphilosophie Politik und Staatsbegründung Naturrecht K a p i t e l V: Ü b e r N a m e n , Ü b e r l e g u n g e n u n d v o m D i s k u r s d e r Z u n g e 1. Sieht man, dass im Geist die Reihenfolge der Vorstellungen (wie schon zuvor gesagt wurde) verursacht wird durch die Reihenfolge, in der sie zueinander standen als sie durch die unmittelbare Sinnesempfindung hervorgerufen wurden, und dass es keine Vorstellung gibt, die wegen der unzähligen Akte der Wahrnehmung nicht unmittelbar vor oder nach unzähligen anderen erzeugt wurde, dann muss daraus unbedingt folgen, dass eine Vorstellung auf die andere folgt nicht nach unserer freien Wahl und nicht nach dem Bedürfnis, das wir danach haben, sondern dass es ganz zufällig ist, was unseren Geist dazu bringt, solche Dinge zu hören oder zu sehen. Die 40 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft Erfahrung, die wir davon haben, zeigt sich bei solchen wilden Tieren, die zwar die Voraussicht haben, die Reste und den Überschuss ihrer Mahlzeiten zu verstecken, denen aber dennoch die Erinnerung an den Ort ermangelt, an dem sie diese Reste versteckt haben, wodurch sie dann, wie der hungrig, davon keinen Nutzen haben. Der Mensch hingegen, der sich in dieser Hinsicht über die Natur der Tiere zu erheben beginnt , hat die Ursache dieses Mangels bemerkt und sich seiner erinnert; und um diese Sache zu verbessern, ist er auf die Idee gekommen, eine sichtbare oder sonst wahrnehmbare Markierung aufzustellen, so dass in ihm, wenn er sie wieder sieht, jener Gedanke in seinem Geist wieder hochkommt, den er hatte, als er die Markierung aufstellte. Eine MARKIERUNG (MARK ) ist deshalb ein wahrnehmbares Ding, das der Mensch aus freien Stücken für sich selbst aufgerichtet hat, zum Zweck, sich dadurch an etwas Vergangenes zu erinnern, wenn es wiederum Gegenstand seiner Sinnesempfindung wird ; wie Menschen, die an einem Felsen im Meer vorbeigekommen sind, eine Markierung errichteten, um sich dadurch der früheren Gefahr zu erinnern und sie zu meiden. 2. Unter diesen Markierungen sind diejenigen menschlichen Artikulierungen (die wir Namen oder Bezeichnung der Dinge nennen) für das Ohr wahrnehmbar, mit denen wir einige Vorstellungen der Dinge in unseren Geist zurückrufen, denen wir diese Namen oder Benennungen gegeben haben. Wie uns die Benennung „ weiß “ die Erinnerung an die Qualität solcher Dinge gibt, die jene Farbe oder Vorstellung in uns erzeugte. Ein NAME (NAME ) oder eine BEZEICHNUNG (APPELLATION ) ist deshalb die freiwillig festgesetzte Artikulation eines Menschen zum Zweck der Markierung, um in seinem Geist eine bestimmte Vorstellung wachzurufen, die den Gegenstand betrifft, für den er festgesetzt wurde. [ … ] 4. Die Annehmlichkeit der Namen macht uns, anders als die Tiere, die der Namen ermangeln, und anders als ein Mensch, der keine Namen benutzt, fähig zur Wissenschaft. Wie ein Tier aus Mangel an Ordnungsnamen (eins, zwei, drei etc., die wir Zahlen nennen) nicht eins oder zwei seiner Jungen vermisst, so würde auch ein Mensch, ohne mit dem Mund oder innerlich die Zahlworte zu wiederholen, 41 Naturrecht nicht wissen, wie viele Geldstücke oder andere Dinge vor ihm liegen. [ … ] 9. Aus zwei Bezeichnungen machen wir mit Hilfe des Wörtchens „ ist “ , oder etwas Gleichwertigem, eine ZUSTIMMUNG (AFFIR- MATION ) oder eine VERNEINUNG (NEGATION ), in jedem Fall durch das, was wir in der Schule Aussage (proposition) nennen, die aus zwei durch das angeführte Zeitwort verbundenen Vorstellungen besteht; so ist z. B. eine Aussage: Ein Mensch ist ein lebendes Geschöpf; oder dies: Der Mensch ist nicht rechtschaffen. Ersteres wird Zustimmung genannt, weil die Bezeichnung „ lebendes Geschöpf “ positiv ist, Letzteres eine Verneinung, weil fehlende Rechtschaffenheit aberkennend ist. [ … ] 12. Zieht ein Mensch Schlüsse aus Prinzipien, die durch Erfahrung für unzweifelhaft befunden wurden, und geht er dabei allen Sinnestäuschungen und der Mehrdeutigkeit von Wörtern aus dem Weg, dann sagt man von der Schlussfolgerung, zu der er kam, sie entspricht der gesunden Vernunft; wenn aber ein Mensch aus seiner Schlussfolgerung durch eine berechtigte Folgerung was auch immer ableitet, das im Widerspruch zur offenkundigen Wahrheit steht, dann sagt man über ihn, er hat gegen die Vernunft geschlussfolgert; und eine derartige Schlussfolgerung wird Absurdität genannt. 13. So wie die Erfindung von Namen notwendig gewesen ist, um die Menschen aus ihrer Ahnungslosigkeit herauszuziehen, indem sie aus ihrer Erinnerung die notwendige Übereinstimmung einer Vorstellung mit einer anderen hervorrufen; so hat dies auf der anderen Seite die Menschen auch auf einen Abweg gebracht: dadurch nämlich, dass sie zwar durch den Nutzen der Wörter und durch Folgerungen im Wissen die wilden Tiere übertreffen, dass sie aber durch die damit einhergehenden Unannehmlichkeiten sie auch in ihren Irrtümern übertreffen. Denn wahr und falsch sind Dinge, die den Tieren nicht einfallen, sie haben, anders als die Menschen, weder Aussagen und Sprache noch können sie Folgerungen ziehen, um dadurch eine Unwahrheit durch eine andere zu vervielfachen. [ … ] 42 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft K a p i t e l V I : Ü b e r W i s s e n , M e i n e n u n d G l a u b e n 4. Das Wissen, das wir WISSENSCHAFT (SCIENCE ) nennen, definiere ich daher, von irgendeinem Anfang oder von Prinzipien der Sinnesempfindung ausgehend, als Evidenz der Wahrheit. Die Wahrheit einer Aussage ist niemals evident, solange wir nicht den Sinn der Worte oder Ausdrücke begreifen, aus denen sie besteht, denn diese sind immer Vorstellungen des Geistes. Wir können diese Vorstellungen auch nicht erinnern ohne das Ding, das sie vermittels der Sinnesempfindungen erzeugt hat. Der erste Grundsatz des Wissens ist daher, dass wir mancherlei Vorstellungen haben; der zweite, dass wir die Dinge, von denen sie Vorstellungen sind, auf diese oder jene Weise benannt haben; der dritte ist, dass wir diese Namen derart verbunden haben, dass wir sichere Aussagen machen können; der vierte und letzte ist, dass wir diese Aussagen so miteinander verbunden haben, dass sie zu einer abschließenden Folgerung führen. Und durch diese vier Schritte ist die Schlussfolgerung gewusst und evident, und über die Wahrheit des Schluss heißt es dann, sie sei bekannt. Und von diesen zwei Arten des Wissens, wovon die frühere Tatsachenerfahrung und die spätere Wahrheitsevidenz ist, wobei die frühe, wenn sie bedeutend ist, Klugheit genannt wird und üblicherweise die spätere sowohl von antiken wie auch von modernen Autoren, wenn sie besonders ist, WEISHEIT (SAPIENS or wisdom); und zu dieser letzteren ist nur der Mensch befähigt, der früheren sind auch die wilden Tiere teilhaftig. K a p i t e l X I I : W i e d u r c h Ü b e r l e g u n g a u s L e i d e n s c h a f t e n d i e m e n s c h l i c h e n H a n d l u n g e n h e r v o r g e h e n 8. Wenn das Wollen vieler zustimmend beteiligt oder einbegriffen ist in einem oder mehreren Willen (wie das sein kann, soll später erklärt werden), dann wird diese Beteiligung vieler Willen zu einem oder mehr VEREINIGUNG (UNION ) genannt. 43 Naturrecht K a p i t e l X I I I : W i e d i e M e n s c h e n d u r c h d i e S p r a c h e w e c h s e l s e i t i g a u f i h r e n G e i s t e i n w i r k e n 2. Die erste Anwendung der Sprache ist der Ausdruck unserer Vorstellungen, damit wir in anderen dieselben Vorstellungen erzeugen, die wir in uns selbst haben. Und dies wird UNTERRICH- TEN (TEACHING ) genannt. Wenn nämlich die Vorstellungen des Lehrenden beständig seine Worte begleiten, erst einmal mit etwas aus Erfahrung, dann erzeugt es den gleichen Beweis im Hörer, der ihn nachvollziehen kann, und lässt ihn, von dem man dann sagt, dass er es LERNT (LEARN ), etwas wissen. Wenn es aber solch eines Nachweises ermangelt, dann wird so eine Lehre ÜBERREDUNG (PERSUASION ) genannt und hinterlässt im Hörer nicht mehr als das, was im Sprecher ist, bloßes Meinen. Und die Zeichen zweier gegensätzlicher Meinungen, nämlich Bejahung und Verneinung derselben Sache, nennt man MEINUNGSVERSCHIEDENHEIT (CONTROVERSY ), zwei Bejahungen oder zwei Verneinungen aber ÜBEREINSTIMMUNG (CONSENT ). 4. Es gibt zwei Sorten von Menschen, die üblicherweise gelehrt genannt werden: Die eine Sorte geht offenkundig von den einfachsten Grundlagen aus, wie es im vorigen Abschnitt beschrieben wird. Diese Leute werden mathematici [Mathematiker] genannt. Die andere Sorte greift Maximen aus ihrer Erziehung und von Autoritäten oder von den üblichen Gepflogenheiten auf und nimmt die gewohnten Redeweisen als folgerichtiges Schlussfolgern; und diese werden dogmatici [Dogmatiker] genannt. Im vorigen Abschnitt sehen wir aber, dass diejenigen, die wir mathematici nennen, vom Verbrechen, Kontroversen zu entfachen, entbunden sind; diejenigen aber, die vorgeben nicht zu lernen, können nicht angeklagt werden. Der Fehler liegt allein bei den Dogmatikern, bei denjenigen also, die mangelhaft gelernt haben und mit Leidenschaft darauf drängen, dass ihre Meinungen ohne jegliche Darlegung überall als Wahrheit durchgehen, wiewohl diese weder aus der Erfahrung noch aus den unstrittiger Auslegung zugänglichen Stellen der Bibel stammen. 5. Den Ausdruck dieser Vorstellungen, die in uns die Erwartung entweder von etwas Gutem oder von etwas Schlechtem verursachen, 44 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft während wir überlegen, nennt man BERATUNG (COUNSEL- LING ). Und so wie in der inneren Überlegung des Geistes über das, was wir tun oder nicht tun, die Resultate der Handlung dadurch, dass sie sich abwechselnd im Geist folgen, unsere Ratgeber sind, so auch bei einem Rat, den ein Mensch von anderen annimmt. Die Ratgeber führen abwechselnd die Konsequenzen einer Handlung vor Augen, und keiner von ihnen beurteilt selbst, sondern sie statten als einer unter allen den, der beraten wird, mit Argumenten aus, die derjenige dann selbst durchdenken muss. 6. Um über Verlangen, Absicht und Willen zu sprechen, verwendet man andere Ausdrücke: Das Verlangen nach Wissen etwa nennt man Befragung; das Verlangen, dass etwas von einem anderen getan werde, nennt man Ersuchen, Gebet oder Bittschrift; es gibt Ausdrücke über unsere Absicht oder unseren Vorsatz, wie VER- SPRECHEN (PROMISE ), das die Bejahung oder Verneinung eines zukünftigen Tuns ist, DROHEN (THREATENING ), das Versprechen eines Übels, und BEFEHLEN (COMMANDING ), wodurch wir anderen unser Verlangen oder unseren Wunsch mitteilen, dass irgendetwas, aus einem Grund, der im Willen selbst liegt, getan zu werden hat oder unterbleiben soll. Es ist falsch, wenn man sagt: Sic volo, sic jubeo [So will ich, so befehle ich], ohne hinzuzufügen: Stet pro ratione voluntas [Lass den Willen für die Begründung stehen]. Und enthält der Befehl einen genügenden Grund, uns zum Handeln zu bewegen, dann wird dieser Befehl GESETZ (LAW ) genannt. 7. Ein anderer Gebrauch von Sprache ist das AUFHETZEN (INSTIGNATION ) und das BESCHWICHTIGEN (APPEASING ), wodurch wir die Leidenschaften eines anderen entweder steigern oder herabmindern. Das ist nicht anders als bei der Überredung, ein wirklicher Unterschied besteht nicht, denn das Erzeugen von Meinung und Leidenschaft ist dasselbe Tun. Wo wir aber bei der Überredung darauf zielen, eine Meinung aus einer Leidenschaft zu bekommen, geht es hier darum, Leidenschaft aus einer Meinung zu erwecken. Und wie bei der Erzielung einer Meinung aus einer Leidenschaft, so sind auch hier x-beliebige Voraussetzungen gut genug, um daraus die erwünschte Schlussfolgerung zu ziehen; deshalb ist es, wenn man aus einer Ansicht heraus eine Leidenschaft steigert, ganz einerlei, ob diese Meinung richtig oder falsch ist oder 45 Naturrecht ob der Bericht auf historischer Grundlage erfolgt oder bloß ein Märchen ist. Denn nicht die Wahrheit, sondern das Bild erweckt die Leidenschaft, und eine gut gespielte Tragödie beeinflusst nicht weniger als eine Mordtat. 8. Wiewohl die Worte die Zeichen sind, die wir von den Ansichten und Absichten anderer haben, so muss es doch, da sie infolge der Verschiedenheit der Umstände und wegen der Gesellschaft, in der sie sich befinden , beständig mehrdeutig sind (weswegen die Gegenwart dessen, der spricht, unsere Sicht auf sein Tun und die Vermutung seiner Absichten entlasten müssen), überaus schwer sein, die Meinungen und das Meinen derjenigen Menschen zu ermitteln, die schon lange von uns gegangen sind und uns keine anderen Wahrzeichen hinterlassen haben als ihre Bücher; ohne genügend geschichtliche Kenntnisse und ohne große Sorgfalt ist es unmöglich, ihre vorgenannten Zeitumstände zu erkennen und sie zu verstehen. Vom Körper I . T e i l , R e c h n u n g o d e r L o g i k , 1 . K a p . : Vo n d e r P h i l o s o p h i e 1. Die Philosophie scheint mir heutzutage unter den Menschen dieselbe Rolle zu spielen, wie nach der Überlieferung in uralten Zeiten Korn und Wein in der Welt der Dinge. Im Anfang der Dinge gab es nämlich Weinreben und Kornähren nur zerstreut auf den Äckern, Aussaaten aber gab es nicht. Daher lebte man von Eicheln, und jeder, der gewagt hätte, unbekannte oder zweifelhafte Beeren zu probieren, tat dies auf die Gefahr hin, krank zu werden. Ähnlich ist die Philosophie, d. h. die natürliche Vernunft, jedem Menschen eingeboren; denn jeder einzelne stellt bis zu irgendeinem Ziele und in irgendwelchen Dingen Erwägungen an; sobald es aber einer langen Kette von Venunftgründen bedarf, entgleisen die meisten oder schweifen ab, weil die richtige Methode, gewissermaßen die Aussaat, fehlt. Hieraus ergibt sich, daß nach allgemeiner Ansicht diejenigen, die mit der täglichen Erfahrung wie mit Eicheln zu- 46 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft frieden sind und die Philosophie entweder von sich weisen oder nicht erstreben, ein gesunderes Urteil besitzen als diejenigen, die nicht mit landläufigen, sondern mit zweifelhaften und leicht aufgegriffenen Ansichten ausgestattet, als ob sie recht klug wären, fortwährend disputieren und streiten. Zwar gebe ich zu, daß derjenige Teil der Philosophie, der von den Größen und Figuren handelt, vortrefflich ausgebildet ist. Aber weil ich weiß, daß man in den übrigen Teilen noch nicht in gleicher Weise fortgeschritten ist, so entschließe ich mich, soweit ich die Fähigkeit dazu besitze, die wenigen ersten Elemente der gesamten Philosophie gewissermaßen als eine Art Samenkörner, aus denen, wie mir scheint, die reine und wahre Philosophie herauswachsen kann, zu entwickeln. Der Schwierigkeit, eingerostete, durch das Ansehen der beredtesten Schriftsteller befestigte Anschauungen aus den Köpfen der Leute auszutreiben, bin ich mir wohl bewußt. Zumal da die wahre (d. h. exakte) Philosophie nicht nur die Schminke der Worte, sondern auch fast jeglichen Schmuck vorsätzlich zurückweist; die ersten Grundlagen jeder Wissenschaft sind auch keineswegs blendend, sie erscheinen vielmehr unansehnlich trocken und fast häßlich. Da es aber gewiß etliche, wenn auch nur wenige gibt, die in allem nach Wahrheit und Vernunft streben, halte ich dafür, für jene Wenigen diese Mühe auf mich nehmen zu müssen. So komme ich nun zur Sache und beginne mit der Begriffsbestimmung der Philosophie. 2. Philosophie ist die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe aus den bekannten Wirkungen. Um diese Begriffsbestimmung zu verstehen, muß man erstlich erwägen, daß Sinneswahrnehmung und Gedächtnis, die der Mensch mit allen Tieren gemeinsam hat, zwar ein Wissen sind, die aber, weil sie die Natur ursprünglich verliehen hat, nicht durch rationelles Schließen erworben, also keine Philosophie sind. Da zweitens Erfahrung nichts anderes ist als Gedächtnis, der praktische Verstand aber oder die Voraussicht in die Zukunft nichts 47 Vom Körper anderes als die Erwartung von Dingen ähnlich solchen, deren Erfahrung wir schon gemacht haben, so darf man auch den praktischen Verstand nicht für Philosophie halten. Unter rationeller Erkenntnis vielmehr verstehe ich Berechnung. Berechnen heißt entweder die Summe von zusammengefügten Dingen finden oder den Rest erkennen, wenn eins vom andern abgezogen wird. Also ist rationelle Erkenntnis dasselbe wie Addieren und Subtrahieren; wenn jemand Multiplizieren und Dividieren hinzufügen will, so habe ich nichts dagegen, da Multiplikation dasselbe ist wie Addition gleicher Posten, Division dasselbe wie eine bestimmte Subtraktion gleicher Posten. Aber rationelle Erkenntnis geht jedenfalls auf zwei Geistesoperationen zurück: Addition und Subtraktion. Man darf also nicht meinen, daß das eigentliche Rechnen nur bei Zahlen stattfindet, als ob der Mensch von den übrigen Lebewesen (wie nach den Berichten Pythagoras angenommen hat) allein durch die Fähigkeit des Zählens unterschieden wäre; denn auch Größen, Körper, Bewegungen, Zeiten, Qualitäten, Handlungen, Begriffe, Verhältnisse, Reden und Namen (worin jegliche Art Philosophie enthalten ist) können addiert und subtrahiert werden. Wenn wir aber hinzufügen oder wegnehmen, d. h. aufeinander beziehen, so nennen wir dies „ denken “ , griechisch λογίζεσδαι , das also berechnen oder rationell erkennen bedeutet. 6. Die größte Bedeutung der Philosophie liegt nun darin, daß wir die vorausgeschauten Wirkungen zu unserm Vorteil nutzen und auf Grund unserer Erkenntnis nach Maß unserer Kräfte und unserer Tüchtigkeit absichtlich zur Förderung des menschlichen Lebens herbeiführen können. Denn die bloße Überwindung von Schwierigkeiten oder Entdeckungen verborgener Wahrheiten sind nicht so großer Mühe, wie sie für die Philosophie aufzuwenden ist, wert; und vollends brauchte niemand seine Weisheit anderen mitzuteilen, wofern er damit weiter nichts zu erreichen hofft. Wissenschaft dient nur der Macht! Die Theorie (die in der Geometrie der Weg der Forschung ist) dient nur der Konstruktion! Und alle Spekulation geht am Ende auf eine Handlung oder Leistung aus. 48 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft 7. Wie groß aber der Nutzen der Philosophie, besonders der der Naturphilosophie und der Geometrie ist, wird am besten eingesehen, wenn man sich die mögliche Förderung des menschlichen Geschlechts durch sie vergegenwärtigt und die Lebensweise derer, die ihrer sich erfreuen, mit anderen vergleicht, die sie entbehren. Die größte Förderung verdankt das menschliche Geschlecht der Technik, d. h. der Kunst, Körper und ihre Bewegungen zu messen, schwere Lasten zu bewegen, zu bauen, Schiffahrt zu treiben, Werkzeuge zu jeglichem Gebrauch herzustellen, die Bewegungen am Himmel, die Bahnen der Gestirne, den Kalender und so weiter zu berechnen. Welch außerordentlichen Nutzen die Menschen von diesen Wissenschaften haben, läßt sich leichter einsehen als sagen. Fast alle europäischen Völker erfreuen sich dieses Nutzens, sowie die Mehrzahl der asiatischen und einige afrikanische. Die Völker Amerikas aber und die Stämme, die den beiden Polen nahe wohnen, ermangeln seiner ganz. Warum dies? Sind etwa jene scharfsinniger als diese? Haben nicht alle Menschen Seelen von derselben Art und dieselben Seelenfähigkeiten? Was besitzen die einen, was den andern fehlt? Doch nur die Philosophie! Die Philosophie ist demnach die Ursache aller dieser Vorteile. Der Nutzen der Moralphilosophie und Gesellschaftslehre läßt sich nicht sowohl aus den Vorteilen, die wir durch sie, als vielmehr aus den Nachteilen, die wir durch ihre Unkenntnis haben, abschätzen. Denn die Wurzel aller Nachteile und alles Unglücks, die durch menschliche Erfindungen vermieden werden können, ist der Krieg, vornehmlich der Bürgerkrieg; aus ihm entspringen Mord, Verwüstung und Mangel an allen Dingen. Der Grund dafür ist nicht, daß die Menschen den Krieg wollen, denn der Wille geht immer auf das Gute oder auf das, was als solches erscheint; auch ihre Unkenntnis, daß die Folgen des Krieges Übel sind, ist nicht der Grund; denn wer spürt nicht, daß Tod und Armut große Übel seien? Der Bürgerkrieg ist daher nur möglich, weil man die Ursachen weder von Krieg noch von Frieden kennt; denn nur sehr wenige gibt es, die die Pflichten, durch welche der Friede Festigkeit gewinnt und erhalten wird, d. h. die wahren Gesetze des bürgerlichen Lebens studiert haben. Die Erkenntnis dieser Gesetze ist die Moralphilosophie. Weshalb aber hat man diese nicht studiert, wenn nicht aus dem Grunde, weil es bisher hierfür keine klare und exakte 49 Vom Körper Methode gab? Oder wie ist es sonst zu verstehen, daß der Masse unerfahrener Menschen in grauer Zeit die griechischen, ägyptischen, römischen und andere Lehrmeister über die Naturen ihrer Götter unzählige Lehren überzeugend beizubringen vermochten, von denen sie selbst nicht wußten, ob sie wahr seien oder nicht, und die ganz augenscheinlich falsch und sinnlos waren; dagegen dieselbe Menge von ihren Pflichten, wofern sie diese selbst begriffen hätten, nicht hätten überzeugen können? Jene wenigen noch vorhandenen Schriften der Geometer sind hinreichend, alle Streitigkeiten in den Dingen, die sie behandeln, aufzuheben; jene zahllosen und gewaltigen Bände der Moralisten dagegen sollten gleiches nicht vermögen, wenn sie Sicheres und Bewiesenes enthielten? Was anders könnte denn die Ursache dafür sein, daß die Schriften der ersteren wissenschaftlich, die der letzteren sozusagen nur tönende Worte sind, wenn nicht der Umstand, daß jene von Wissenden, diese dagegen von Leuten hervorgebracht wurden, die von der von ihnen behandelten Wissenschaft nichts verstanden, vielmehr nur ihre Beredsamkeit oder ihren Geist herausstellen wollten? Daß es dennoch höchst erfreulich ist, Bücher dieser Art zu lesen, möchte ich nicht leugnen: sie sind zumeist sehr beredt und enthalten zahlreiche hübsche und nützliche, gar nicht alltägliche Sätze, die zwar von jenen allgemein ausgesprochen sind, aber dennoch meist nicht allgemeine Gültigkeit beanspruchen können; daher es kommt, daß sie in andern Zeiten und Orten andern Persönlichkeiten oftmals ebensogut zur Rechtfertigung böser Absichten wie zur Anleitung, zum Verständnis ihrer Pflichten gegenüber der Gesellschaft und dem Staate dienen können. Was ihnen nämlich hauptsächlich fehlt, sind genaue und feste Angaben der Grundsätze, die uns über Recht und Unrecht unserer Handlungen belehren. Bevor nicht diese Grundsätze gefunden und das Gesetz und Maß von Recht und Unrecht aufgestellt sind (was bisher noch niemals geschehen ist), ist es unnütz, in Einzelfällen zu gebieten und verbieten. Da also aus der Unkenntnis der bürgerlichen Pflichten, d. h. der wissenschaftlichen Moral- und Staatslehre, Bürgerkriege hervorgehen und diese das größte Unglück der Menschheit sind, so werden wir von ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis mit Recht große Vorteile erhoffen dürfen. So sehen wir, wie groß der Nutzen der Philosophie ist, zu 50 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft schweigen von dem Ruhme und sonstigen Annehmlichkeiten, die sie mit sich bringt. Leviathan T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 4 . K a p . : Vo n d e r S p r a c h e Die Erfindung des Buchdrucks ist, obwohl genial, nichts Außergewöhnliches, wenn man sie mit der Erfindung der Buchstaben vergleicht. Aber es ist nicht bekannt, wer als erster den Gebrauch von Buchstaben erfand. Man sagt, Kadmos, der Sohn des phönizischen Königs Agenor, habe sie in Griechenland zuerst eingeführt. Dies ist eine nützliche Erfindung, um die Erinnerung an die Vergangenheit weiterzugeben und die Menschheit, die in so viele und voneinander entfernte Gegenden der Erde zerstreut ist, zu verbinden. Sie war nicht leicht zu machen, da sie von einer aufmerksamen Beobachtung der verschiedenen Bewegungen von Zunge, Gaumen, Lippen und anderer Sprechwerkzeuge ausgeht, um dadurch ebenso viele verschiedene Lautzeichen zu entwickeln, die zur Erinnerung an diese Bewegungen dienen. Aber die edelste und nützlichste aller Erfindungen war die der Sprache, die aus Namen oder Benennungen und ihrer Verknüpfung besteht. Mit ihr verzeichnen die Menschen ihre Gedanken, rufen sie zurück, wenn sie vergangen sind und teilen sie einander zum gegenseitigen Nutzen und zur Unterhaltung mit. Ohne sie hätte es unter den Menschen weder Staat noch Gesellschaft, Vertrag und Frieden gegeben - nicht mehr als unter Löwen, Bären und Wölfen. Der erste Schöpfer der Sprache war Gott selbst, der Adam lehrte, wie die Geschöpfe zu benennen seien, die er ihm zeigte, denn die Schrift geht in dieser Sache nicht weiter. Aber dies genügte, ihn dazu zu bringen, die Namen entsprechend der Möglichkeit, die die Erfahrung und die Nutzung der Lebewesen boten, zu vermehren, und sie nach und nach derart zu verbinden, daß er sich verständlich machen konnte. Und so mag er im Laufe der Zeit so viel an Sprache erworben haben, wie er brauchen konnte, wenn auch nicht so wortreich, wie es für einen Redner oder Philosophen notwendig ist. Denn ich kann in der Schrift nichts finden, dem direkt oder indirekt entnommen werden kann, daß Adam die Namen aller Figuren, 51 Leviathan Zahlen, Maße, Farben, Töne, Vorstellungen und Beziehungen gelehrt wurden, noch weniger die Namen von Wörtern und Ausdrücken wie allgemein, besonders, bejahend, verneinend, fragend, wünschend, unendlich, die alle nützlich sind, und am wenigsten von allen Entität, Intentionalität, Quidditas und andere nichtssagende Wörter der Schulen. Aber die ganze Sprache, die von Adam und seiner Nachkommenschaft erworben und vermehrt worden war, ging am Turm von Babel wieder verloren, als alle Menschen durch die Hand Gottes für ihren Abfall mit dem Vergessen ihrer früheren Sprache geschlagen wurden. Und da sie hierdurch gezwungen waren, sich in verschiedene Teile der Welt zu zerstreuen, mußte es notwendigerweise dazu kommen, daß die derzeitige Verschiedenheit der Sprachen sich von ihnen aus so weiterentwickelte, wie es ihnen die Not, die Mutter aller Erfindungen, lehrte, und im Laufe der Zeit wurden die Sprachen überall wortreicher. Allgemein wird die Sprache dazu gebraucht, unser sich im Geiste abspielendes Denken in wörtlich geäußertes oder die Folge unserer Gedanken in eine Folge von Wörtern zu übertragen, und dies zu zwei Zwecken. Der eine davon ist das Aufzeichnen der Folgen unserer Gedanken. Diese entgleiten leicht unserem Gedächtnis und machen uns neue Arbeit, können aber mit Hilfe der Wörter, durch die sie gekennzeichnet sind, wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden. So werden also die Namen zuerst als Merk- oder Kennzeichen der Erinnerung gebraucht. Sodann können sich viele Menschen, wenn sie dieselben Wörter gebrauchen, gegenseitig durch Verbindung und Ordnung der Wörter zu verstehen geben, was sie sich unter jeder Sache vorstellen oder was sie über sie denken, sowie, was sie wünschen, fürchten oder sonst für Gefühle haben. Und hinsichtlich dieses Gebrauchs nennt man sie Zeichen. Besondere Benutzungsarten der Sprache sind die folgenden: Erstens, das Aufzeichnen dessen, was wir durch Nachdenken als Ursache eines beliebigen gegenwärtigen oder vergangenen Dings herausfinden und was nach unserer Erkenntnis gegenwärtige oder vergangene Dinge hervorbringen oder bewirken können - kurz, das Erwerben von Fertigkeiten. Zweitens, anderen die Kenntnisse zu zeigen, die wir erworben haben, das heißt gegenseitige Beratung und Belehrung. Drittens, 52 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft anderen unseren Willen und unsere Absicht bekannt zu machen, um gegenseitige Hilfe zu ermöglichen. Viertens, uns und anderen zu gefallen und zu erfreuen, indem wir zum Vergnügen oder zum Schmuck auf harmlose Weise mit unseren Wörtern spielen. Diesem Gebrauch entsprechen auch vier Arten von Mißbrauch. Erstens, wenn die Menschen wegen der schwankenden Bedeutung ihrer Wörter ihre Gedanken falsch aufzeichnen. Hierdurch zeichnen sie das als ihre Vorstellung auf, was sie sich niemals vorgestellt haben und täuschen sich so selbst. Zweitens, indem sie Wörter in übertragener Bedeutung gebrauchen, das heißt in einem anderen Sinn als dem für sie vorgesehenen, und dadurch andere täuschen. Drittens, wenn sie durch Wörter etwas als ihren Willen erklären, was es nicht ist. Viertens, wenn sie sie gebrauchen, um sich gegenseitig zu verletzen. Denn da die Natur die Lebewesen teils mit Zähnen, teils mit Hörnern und teils mit Händen bewaffnet hat, um einen Feind verletzen zu können, ist es nur ein Mißbrauch der Sprache, wenn wir ihn mit der Zunge verletzen - es sei denn, es handelt sich um jemanden, zu dessen Anleitung wir verpflichtet - sind. In diesem Falle ist es kein Verletzen, sondern Züchtigen und Bessern. Die Art und Weise, wie die Sprache zur Erinnerung an die Folge von Ursachen und Wirkungen dient, besteht im Geben von Namen und ihrer Verbindung. Einige Namen sind Eigennamen und gehören allein einem einzigen Ding zu, wie Peter, Johannes, dieser Mensch, dieser Baum. Manche sind vielen Dingen gemeinsam, wie Mensch, Pferd, Baum. Obwohl nur ein Name, ist jeder von ihnen dennoch der Name verschiedener Einzeldinge, der, betrachtet man sie alle zusammen, allgemein genannt wird. Es ist nämlich auf der Welt nichts allgemein außer den Namen, denn jedes benannte Ding ist individuell und einzeln. [ … ] Indem wir Namen von weiterer und engerer Bedeutung einführen, verwandeln wir das Rechnen mit den Folgen der im Geist eingebildeten Dingen in ein Rechnen mit den Dingen von Benennungen. [ … ] So gibt es also ohne Wörter keine Möglichkeit, mit Zahlen zu rechnen, noch weniger mit Größen, Geschwindigkeiten, Kräften und anderen Dingen, deren Berechnung für den Bestand oder die Wohlfahrt der Menschheit notwendig sind. 53 Leviathan Sind zwei Namen miteinander zu einer Folgerung oder Behauptung verbunden, wie z. B. derart: Ein Mensch ist ein Lebewesen, oder so: Wenn es ein Mensch ist, so ist es ein Lebewesen, und der zweite Name Lebewesen bedeutet alles, was der erste Name Mensch bedeutete, dann ist die Behauptung oder Folgerung wahr, andernfalls falsch. Denn wahr und falsch sind Attribute der Sprache, nicht von Dingen. Und wo es keine Sprache gibt, da gibt es weder Wahrheit noch Falschheit. Irrtum kann es geben, wie wenn wir etwas erwarten, was nicht eintrifft oder etwas vermuten, was nicht gewesen ist, aber in keinem dieser Fälle kann man jemand Unwahrheit vorwerfen. Besteht also Wahrheit in der richtigen Anordnung der Namen bei unseren Behauptungen, so mußte jemand, der nach der reinen Wahrheit sucht, sich notwendigerweise daran erinnern, was jeder Name, der von ihm gebraucht wurde, bedeutet und ihn an die entsprechende Stelle setzen, oder aber er wird sich in Wörtern verstrickt finden wie ein Vogel in Leimruten: je mehr er zappelt, desto mehr wird er angeleimt. Und deshalb beginnt man in der Geometrie (der einzigen Wissenschaft, die Gott bisher den Menschen gnädig schenkte) damit, die Bedeutung der Wörter festzulegen. Diese Festlegung der Bedeutungen nennt man Definitionen und stellt sie an den Anfang des Rechnens. [ … ] So wird also die Sprache zuerst dazu gebraucht, die Namen richtig zu definieren: hierin liegt der Anfang aller Wissenschaft. Und ihr erster Mißbrauch liegt darin, daß man falsche oder gar keine Definition gibt. Hieraus entstehen alle falschen und sinnlosen Lehrsätze, die solche Menschen, die ihre Kenntnisse der Autorität von Büchern und nicht eigenem Nachdenken entnehmen, ebensosehr unter die Unwissenden sinken lassen, wie diejenigen darüberstehen, die mit der wahren Wissenschaft vertraut sind. Denn die Unwissenheit liegt in der Mitte zwischen der wahren Wissenschaft und den Irrlehren. Natürliche Empfindung und Vorstellungskraft werden nicht das Opfer von Ungereimtheiten. Die Natur selbst kann nicht irren, und je nach dem Ausmaß ihrer Wortschätze werden die Menschen entweder klüger oder verrückter als der Durchschnitt. Ebensowenig kann jemand, ohne lesen und schreiben zu können, außerordentlich klug 54 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft oder außerordentlich närrisch werden - es sei denn, sein Gedächtnis ist durch Krankheit oder durch schlechte Organbeschaffenheit beeinträchtigt. Denn Wörter sind die Rechensteinchen der Klugen, mit denen sie nur rechnen. Sie sind aber das Geld der Narren, die es nach der Autorität eines Aristoteles, Cicero, Thomas oder irgendeines anderen Gelehrten bewerten, wenn es nur ein Mensch ist. Gegenstand von Namen ist alles, was in eine Rechnung einbezogen, in einer Rechnung untersucht und zu einer Summe zusammengezählt oder voneinander abgezogen werden kann und einen Rest ergibt. Die Römer nannten Geldrechnungen rationes, das Rechnen selbst ratiocinatio, und was wir in Rechnungen oder in der Buchführung als Posten bezeichnen, nannten sie nomina, das heißt Namen. Und von da her scheinen sie die Bedeutung des Wortes ratio auf die Fähigkeit des Rechnens in allen anderen Gebieten ausgedehnt zu haben. Die Griechen besitzen für Sprache und Vernunft nur das Wort λὀγος . Nicht, daß sie gedacht hätten, es gebe keine Sprache ohne Vernunft, sondern umgekehrt kein Denken ohne Sprache. Und den Denkakt nannten sie Syllogismus, was Zusammenzählen der Folgerungen aus einer Aussage mit der einer anderen bedeutet. Und da dieselben Dinge hinsichtlich verschiedener Akzidenzien einer Rechnung einbezogen werden können, werden ihre Namen verschieden gewendet und unterschieden, um diese Verschiedenheit zu zeigen. Diese Verschiedenheit der Namen kann man auf vier Klassen zurückführen. Erstens kann ein Ding hinsichtlich der Materie oder des Körpers in Rechnung gestellt werden, wie lebendig, sinnlich, vernünftig, heiß, kalt, bewegt, ruhend. Mit all diesen Namen ist das Wort Materie oder Körper gemeint, da sie alle Namen von Materie sind. Zweitens kann ein Ding hinsichtlich eines Akzidenzes oder einer Qualität, die wir uns als in ihm liegend vorstellen, in Rechnung gestellt oder betrachtet werden, wie z. B. weil es bewegt wird, weil es so lang ist, weil es so heiß ist, usw. Und sodann machen wir durch eine kleine Veränderung oder Wendung aus dem Namen des Dings selbst einen Namen für dieses von uns betrachtete Akzidenz und rechnen statt mit lebendig mit Leben, statt mit bewegt mit Bewegung, statt mit heiß mit Hitze, statt mit lang mit Länge und dergleichen. Und all diese Namen sind Namen von Akzidenzien und Eigenschaften, 55 Leviathan durch die sich eine Materie oder ein Körper von anderen unterscheidet. Man nennt sie abstrakte Namen, weil sie von der Berechnung der Materie losgelöst sind, nicht aber von der Materie selbst. [ … ] T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 5 . K a p . : Vo n Ve r n u n f t u n d W i s s e n s c h a f t Denken heißt nichts anderes als sich eine Gesamtsumme durch Addition von Teilen oder einen Rest durch Subtraktion einer Summe von einer anderen vorstellen. Geschieht dies durch Wörter, so ist es ein Vorstellen dessen, was sich aus den Namen aller Teile für den Namen des Ganzen, oder aus den Namen des Ganzen und eines Teiles für den Namen des anderen Teiles ergibt. Und obwohl man in manchen Fällen, wie bei den Zahlen, andere Rechnungsarten als Addieren und Subtrahieren nennt, wie Multiplizieren und Dividieren, so handelt es sich dabei doch um dasselbe, denn Multiplizieren ist nur ein Zusammenzählen von gleichen Dingen und Dividieren ein Abziehen eines Dings sooft wie möglich. Diese Rechnungsarten sind nicht nur Zahlen eigen, sondern allen Arten von Dingen, die zusammengezählt oder auseinander entnommen werden können. Denn wie die Arithmetiker lehren, mit Zahlen zu addieren und zu subtrahieren, so lehren dies die Geometriker mit Linien, festen und künstlichen Figuren, Winkeln, Proportionen, Zeiten, Graden von Geschwindigkeit, Kraft, Stärke und Ähnlichem. Dasselbe lehren die Logiker mit Folge aus Wörtern, indem sie zwei Namen zusammenzählen, um eine Behauptung aufzustellen, zwei Behauptungen, um einen Syllogismus zu bilden, viele Syllogismen, um einen Beweis zu führen, und von der Summe oder der Schlußfolgerung aus einem Syllogismus ziehen sie eine Aussage ab, um die andere zu finden. Schriftsteller, die über Politik schreiben, addieren Verträge, um die Pflichten der Menschen zu finden, und Richter Gesetze und Tatsachen, um herauszufinden, was bei Handlungen von Privatleuten recht und unrecht ist. Kurz: Wo Addition und Subtraktion am Platze sind, da ist auch Vernunft am Platze, und wo sie nicht am Platze sind, hat Vernunft überhaupt nichts zu suchen. Auf Grund von allem, was bisher gesagt wurde, können wir definieren, das heißt bestimmen, was mit dem Wort Vernunft ge- 56 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft meint ist, wenn wir sie zu den Fähigkeiten des Geistes rechnen. Denn Vernunft in diesem Sinne ist nichts anderes als Rechnen, das heißt Addieren und Subtrahieren, mit den Folgen aus den allgemeinen Namen, auf die man sich zum Kennzeichnen und Anzeigen unserer Gedanken geeinigt hat. Ich sage Kennzeichnen, wenn wir bei uns selbst rechnen und Anzeigen, wenn wir unsere eigenen Berechnungen anderen beweisen oder darlegen wollen. [ … ] Nutzen und Zweck der Vernunft bestehen nicht darin, daß man die Summe und Wahrheit einer oder mehrerer Folgen findet, fern von den ersten Definitionen und festgesetzten Bedeutungen von Namen, sondern darin, daß man bei diesen beginnt und von einem Schluß zum andern fortschreitet. Denn die letzte Schlußfolgerung kann nicht gesichert sein, ohne daß alle Behauptungen und Verneinungen gesichert sind, auf die sie sich gründete und von denen sie abgeleitet wurde. Wenn ein Familienvater beim Aufstellen einer Rechnung die Summen aller einzelnen Rechnungen zusammenzählt, ohne darauf zu achten, wie jede einzelne Rechnung von den Ausstellern addiert worden war, noch darauf, wofür er bezahlt, so nützt er sich dabei nicht mehr, als wenn er mit der Aufstellung einer ungefähren Rechnung einverstanden wäre und dabei der Geschicklichkeit und Ehrlichkeit der Austeller vertraute. So verhält es sich auch beim Nachdenken über alle anderen Dinge: Wer Schlüsse einfach hinnimmt und dabei den Urhebern vertraut, ohne sie von den ersten Daten jeder Rechnung - die durch Definitionen festgesetzten Bedeutungen von Namen - herzuleiten, bemüht sich vergebens und weiß überhaupt nichts, sondern glaubt nur. [ … ] Ich habe oben im zweiten Kapitel gesagt, der Mensch übertreffe alle anderen Tiere in der Fähigkeit, nach den Folgen eines beliebigen Dings zu fragen, das er sich vorgestellt hat, und danach, was sich damit bewirken läßt. Und nun gehe ich auf diese andere Stufe derselben Überlegenheit ein, nämlich auf die Fähigkeit, auf Grund der von ihm gefundenen Folgen mit Hilfe von Wörtern allgemeine Regeln, Theoreme oder Denksätze genannt, aufzustellen. Er kann also nicht nur in Zahlen denken oder rechnen, sondern auch in allen anderen Dingen, die man zusammenzählen oder voneinander abziehen kann. 57 Leviathan Aber dieses Privileg wird durch ein anderes abgeschwächt, nämlich durch das Privileg des Widersinns, dem kein anderes Lebewesen ausgesetzt ist als allein der Mensch. Und die Menschen, die ihm am meisten ausgesetzt sind, sind die Professoren für Philosophie. Denn es ist völlig richtig, was Cicero an einer Stelle über sie sagt, nämlich, nichts könne so widersinnig sein, als daß es nicht in den Büchern der Philosophen zu finden wäre. Und der Grund liegt auf der Hand. Denn keiner von ihnen stellt Definitionen oder Erklärungen der Namen, die er benützen will, an den Anfang seines Denkens. Diese Methode wurde nur in der Geometrie angewandt, wodurch ihre Schlußfolgerungen unbestreitbar geworden sind. [ … ] Deshalb besitzen Kinder überhaupt keine Vernunft, solange sie noch nicht sprechen können, werden aber dennoch wegen der offenkundigen Möglichkeit, daß sie künftig Vernunft besitzen, vernünftige Wesen genannt. Und obwohl die meisten Menschen ein wenig denken können, wie z. B. in gewissem Maße beim Zählen, so nützt ihnen dies im täglichen Leben doch wenig. In ihm richten sie sich nach ihrer verschiedenen Erfahrung, Schnelligkeit des Gedächtnisses und ihren Neigungen zu verschiedenen Zielen, die einen besser, die anderen schlechter, besonders aber nach ihrem Glück oder Unglück und den Irrtümern, die sie voneinander übernehmen. Denn von Wissenschaft oder sicheren Regeln für ihr Handeln sind sie so weit entfernt, daß sie gar nicht wissen, was dies ist. 6 Geometrie hielten sie für Hexerei, und in den anderen Wissenschaften verhalten sich diejenigen, welche nicht in die Anfangsgründe eingeweiht wurden und einige Fortschritte gemacht haben, damit sie sehen können, wie sie erworben und geschaffen werden, wie Kinder, die keine Ahnung von Zeugung haben und denen von den Frauen eingeredet wird, ihre Brüder und Schwestern seien nicht geboren, sondern im Garten gefunden worden. Aber wer keine Wissenschaft besitzt, ist mit seiner natürlichen Klugheit dennoch in einer besseren und würdigeren Lage als Menschen, die durch falsches Denken oder im Vertrauen auf Leute, die falsch denken, auf falsche und absurde allgemeine Regeln kommen. Denn Unkenntnis von Ursachen und Regeln führt die Menschen nicht so weit von ihrem Weg ab wie das der Fall ist, wenn 58 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft sie sich auf falsche Regeln stützen und Dinge für Ursachen dessen halten, wonach sie trachten, welche dies nicht sind, sondern eher Ursachen des Gegenteils. Um abzuschließen: Klare Wörter sind das Licht des menschlichen Geistes, aber nur, wenn sie durch exakte Definitionen geputzt und von Zweideutigkeiten gereinigt sind. Die Vernunft ist der Schritt, die Mehrung der Wissenschaft der Weg und die Wohlfahrt der Menschheit das Ziel. Und im Gegensatz dazu sind Metaphern und sinnlose und zweideutige Wörter wie Irrlichter, und sie dem Denken zugrunde legen heißt durch eine Unzahl von Widersinnigkeiten wandern, und an ihrem Ende stehen Streit und Aufruhr oder Ungehorsam. Wie reiche Erfahrung Klugheit ist, so ist Reichtum an Wissenschaft Weisheit. Denn obwohl wir gewöhnlich den Namen Weisheit für beides anwenden, so unterschieden doch die Römer immer zwischen prudentia und sapientia, wobei sie das erste der Erfahrung, das letzte der Wissenschaft zuschrieben. Aber stellen wir uns, um den Unterschied klarer zu machen, einen Mann vor, der eine hervorragende natürliche Anlage zum geschickten Gebrauch seiner Waffen besitzt, und daneben einen anderen, der zu dieser Geschicklichkeit noch die Wissenschaft hinzugelernt hat, auf welche Weise er in jeder Haltung oder Auslage treffen oder von seinem Gegner getroffen werden kann. Die Fähigkeit des ersten verhielte sich dann zu der Fähigkeit des zweiten wie die Klugheit zur Weisheit; beide sind nützlich, aber die letzte ist unfehlbar. Aber wer nur der Autorität, von Büchern vertraut und den Blinden blindlings folgt, gleicht dem, der im Vertrauen auf die falschen Regeln eines Fechtmeisters sich in seinem Dünkel an einen Feind heranwagt, der ihn dann entweder tötet oder entehrt. Die Zeichen der Wissenschaft sind teils sicher und unfehlbar, teils unsicher. Sie sind sicher, wenn jemand, der angeblich die Wissenschaft von einem Gegenstand beherrscht, diese lehren, das heißt, ihre Wahrheit einem anderen klar und deutlich demonstrieren kann. Sie sind unsicher, wenn nur einige einzelne Ergebnisse seiner Behauptung entsprechen und in vielen Fällen so zustande kommen, wie sie nach seinen Angaben zustande kommen müssen. Die Zeichen der Klugheit sind alle unsicher, denn es ist unmöglich, 59 Leviathan durch Erfahrung zu beobachten und sich an alle Umstände zu erinnern, die einen anderen Ausgang bewirken können. Aber es ist in allen Handlungen, bei denen man nicht nach einer unfehlbaren Wissenschaft vorgehen kann, ein Zeichen von Narrheit, die man allgemein verächtlich Buchstabengelehrtheit nennt, wenn man sein eigenes natürliches Urteil aufgibt und sich von den allgemeinen Sätzen anleiten läßt, die man in Büchern gelesen hat und die vielen Ausnahmen unterliegen. Und selbst unter den Männern, die in den staatlichen Ratskollegien so gerne ihre Belesenheit in Politik und Geschichte zur Schau tragen, gibt es nur wenige, die dies auch in ihren häuslichen Angelegenheiten tun, wo es um ihre Sonderinteressen geht, denn für ihre Privatangelegenheiten besitzen sie genügend Klugheit! In der Öffentlichkeit ist es ihnen aber mehr darum zu tun, als gescheit zu gelten, als um den Erfolg der Unternehmungen anderer. T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 7 . K a p . : Vo m A b s c h l u ß o d e r E r g e b n i s d e s D e n k e n s Und deshalb gilt: Wird das Denken in Sprachform gebracht, beginnt es mit Definitionen von Wörtern und schreitet fort, indem man sie zu allgemeinen Behauptungen und diese wiederum zu Syllogismen verbindet, so nennt man den Abschluß oder die Endsumme den Schluß, und der hier durch bezeichnete, sich im Geist befindende Gedanke ist dieses bedingte Wissen oder dieses Wissen der Folgen von Wörtern, das man gewöhnlich Wissenschaft nennt. Beruht aber solches Denken nicht zuerst auf Definitionen, oder sind die Definitionen nicht richtig zu Syllogismen verbunden, so ist der Abschluß oder Schluß wiederum Meinung, nämlich von der Wahrheit von irgend etwas Gesagtem, wenn dies auch oftmals in absurden und sinnlosen, unmöglich zu verstehenden Wörtern besteht. Wenn zwei oder mehr Menschen von ein- und derselben Tatsache wissen, so sagt man, sie seien in dieser Tatsache Mitwisser, was soviel bedeutet wie: sie wissen es zusammen. Und da solche Menschen die geeignetsten Zeugen für die Tat des anderen oder eines Dritten sind, galt es und wird es immer als eine besonders böse Tat gelten, seinem Gewissen zuwider auszusagen oder andere dazu anzustiften oder zu 60 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft zwingen, so sehr, daß die Stimme des Gewissens zu allen Zeiten sorgfältig beachtet wurde. Später gebrauchte man dasselbe Wort in übertragener Bedeutung, um die eigenen geheimen Taten und Gedanken zu bezeichnen. Und deshalb gibt es auch die rhetorische Wendung: Das Gewissen kommt tausend Zeugen gleich. Und Leute, die in ihre eigenen - wenn auch noch so absurden - Meinungen heftig verliebt und hartnäckig darauf versessen waren, sie beizubehalten, gaben diesen zu guter Letzt ebenfalls den respekterheischenden Namen ‚ Gewissen ‘ - als wollten sie den Anschein erwecken, es sei unrechtmäßig; sie zu ändern oder etwas dagegen zu sagen. Und so geben sie vor, ihre Meinungen seien wahr, während sie sehr wohl wissen, daß sie nur so glauben. Beginnt das Denken eines Menschen nicht mit Definitionen, so beginnt es entweder mit anderen eigenen Erwägungen und wird dann immer noch Meinung genannt, oder aber es beginnt mit einer Behauptung eines anderen, an dessen Fähigkeit, die Wahrheit zu wissen, und Ehrlichkeit man nicht zweifelt. Das Denken betrifft in diesem Falle nicht so sehr die Sache wie die Person, und sein Ergebnis wird Glauben und Vertrauen genannt: Vertrauen in den Menschen und Glauben sowohl an den Menschen als an die Wahrheit dessen, was er sagt. So enthält also der Glauben zwei Überzeugungen: einmal von der Behauptung des Menschen und sodann von seiner Tugend. Vertrauen haben in, vertrauen oder jemandem glauben bedeutet dasselbe, nämlich die Überzeugung von der Wahrheitsliebe des Menschen. Aber das Gesagte glauben bedeutet nur die Überzeugung von der Wahrheit der Behauptung. Es ist jedoch zu beachten, daß die Wendung ich glaube an, oder lateinisch credo in und griechisch πἴτεύω εις , nur in theologischen Texten Verwendung findet. In anderen Texten steht dafür: Ich glaube ihm, ich traue ihm, ich habe Vertrauen in ihn, ich verlasse mich auf ihn, und lateinisch credo illi, fido illi, und griechisch πὐτεύω αιτῷ . Und diese Eigentümlichkeit des kirchlichen Gebrauchs dieses Wortes führte zu vielen Streitigkeiten über den rechten Gegenstand des christlichen Glaubens. [ … ] 61 Leviathan T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 8 . K a p . : Vo n d e n s o g e n a n n t e n Ve r s t a n d s t u g e n d e n u n d i h r e n e n t g e g e n g e s e t z t e n M ä n g e l n Tugend ist allgemein bei allen Gegenständen etwas, das wegen seiner hervorragenden Beschaffenheit geschätzt wird und besteht in einem Vergleich. Denn wenn alles in allen Menschen gleich wäre, so würde nichts gelobt werden. Und unter Verstandestugenden versteht man immer solche geistigen Fähigkeiten, die die Menschen loben, schätzen und selbst besitzen möchten. Sie werden gewöhnlich guter Verstand genannt, obwohl das gleiche Wort Verstand auch dazu gebraucht wird, eine bestimmte Fähigkeit von den übrigen zu unterscheiden. Es gibt zwei Arten dieser Tugenden, natürliche und erworbene. Unter der natürlichen verstehe ich nicht die, welche man von Geburt an besitzt, denn sie ist nichts anderes als Empfindung. Hierin unterscheiden sich die Menschen so wenig voneinander und von den unvernünftigen Tieren, daß man sie nicht zu den Tugenden zählen kann. Ich verstehe darunter vielmehr jenen Verstand, der allein durch Übung und Erfahrung erworben wird, ohne Anleitung, Bildung oder Unterrichtung. Dieser natürliche Verstand besteht grundsätzlich aus zwei Dingen: der Schnelligkeit des Vorstellens (das heißt der raschen Aufeinanderfolge der Gedanken) und der stetigen Ausrichtung auf ein für gut befundenes Ziel. Im Gegensatz dazu macht eine langsame Vorstellungskraft jenen Mangel oder Fehler des Verstandes aus, den man gewöhnlich mit Dummheit, Stumpfsinn und bisweilen mit anderen Namen bezeichnet, die bedeuten, daß die Bewegungen langsam sind oder daß das Bewegtwerden Schwierigkeiten bereitet. T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 9 . K a p . : Vo n d e n v e r s c h i e d e n e n W i s s e n s g e b i e t e n Es gibt zwei Arten von Wissen, einmal Tatsachenwissen und sodann Wissen von Folgen, die sich aus einer Behauptung für eine andere ergeben. Das erste ist nichts anderes als Empfindung und Erinnerung und stellt absolutes Wissen dar, wie wenn wir sehen, daß eine Tat geschieht oder uns erinnern, daß sie geschehen ist. Dies ist das 62 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft Wissen, das von einem Zeugen verlangt wird. Das zweite wird Wissenschaft genannt und ist bedingt, wie der Satz: Ist die gezeigte Figur ein Kreis, so wird sie durch jede Gerade durch den Mittelpunkt in zwei gleiche Teile geteilt. Dieses Wissen verlangt man von einem Philosophen, das heißt, von dem, der sich auf das Denken beruft. Die Aufzeichnung von Tatsachenwissen nennt man Geschichte. Hiervon gibt es zwei Arten: Die eine heißt Naturgeschichte, das ist die Geschichte solcher Tatsachen oder Wirkungen der Natur, die vom menschlichen Willen unabhängig sind, wie die Geschichte der Metalle, Pflanzen, Tiere, Gegenden und dergleichen. Die andere Art ist die bürgerliche Geschichte, das ist die Geschichte der willentlichen menschlichen Handlungen im Staat. Wissenschaften werden in Büchern aufgezeichnet, die die Demonstrationen von Folgen enthalten, die sich aus einer Behauptung für die andere ergeben. Gewöhnlich nennt man sie philosophische Schriften. Hiervon gibt es verschiedene Arten gemäß der Verschiedenheit des Gegenstands, und man kann sie so einteilen, wie ich es in dem folgenden Schema getan habe. 63 Leviathan WISSEN- SCHAFT, d.h. Wissen von Folgen, auch PHILOSOPHIE genannt Folgen aus den Akzidenzien natürlicher Körper, genannt NATURPHILO- SOPIE Folgen aus den Akzidenzien Politischer Körper, genannt POLITIK und STAATSPHILO- SOPHIE Folgen aus den Akzidenzien, die allen natürlichen Körpern gemeinsam sind, nämlich Quantität und Bewegung PHISIK, oder Folgen aus Qualitäten Folgen aus den Qualitäten beständiger Körper Folgen aus der Einsetzung von STAATEN für die Rechte und Pflichten des Politischen Körpers oder des Souveräns Folgen aus der Einsetzung von STAATEN für Pflicht und Recht der Untertanen Folgen aus den Qualitäten vergäng- Folgen aus den Qualitäten der Sterne Folgen aus den den Sternen Folgen aus den Qualitäten irdischer Körper 64 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft licher Körper, die bisweilen erscheinen, bisweilen verschwinden . . . . . . . . . . . . . Folgen aus unbestimmter Quantität und Bewegung, welche das Prinzip oder die erste Grundlage der Philosophie darstellen, genannt Philosophia Prima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . PHILOSOPHIA PRIMA GEOMETRIE ARITHMETIK ASTRONOMIE GEOGRAPHIE Wissenschaft vom MASCHINEN- BAU ARCHITEKTUR NAVIGATION METEORO- LOGIE SCIAGRAPHIE 12 ASTROLOGIE OPTIK MUSIK ETHIK DICHTKUNST RHETORIK LOGIK die Wisschschaft von RECHT und UNRECHT Folgen aus bestimmter Bewegung und Quantität Folgen aus bestimmter Quantität und Bewegung Folgen aus der Bewegung und Quantität der Körper im besonderen auf Grund von Figuren auf Grund von Zahlen Folgen aus der Bewegung und Quantität der großen Teile der Welt wie der Erde und der Sterne Folgen aus der Bewegung besonderer Arten und Figuren von Körpern Mathematik Kosmographie Mechanik Lehre vom Gewicht Qualitäten flüssiger Körper, die den Raum zwischen ausfüllen, wie z.B. die Luft oder ätherische Substanz Folgen aus den Qualitäten der Tiere Folgen aus den Qualitäten von Tieren im allgemeinen Folgen aus den Qualitäten der Menschen im besonderen Folgen aus dem Licht der Sterne. Hieraus und aus der Bewegung der Sonne besteht die Wissenschaft der . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen aus dem Einfluß der Sterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen aus den Teilen der Erde ohne Empfindung Folgen aus den Qualitäten von Mineralen wie Steine, Metalle usw. Folgen aus den Qualitäten von Pflanzen Folgen aus dem Gesichtssinn . . . . . . Folgen aus Tönen . . . . . . . . . . . . . . . Folgen aus der Sprache Folgen aus den restlichen Sinnen Folgen aus den menschlichen Leidenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . durch Preisen, Schmähen usw. . . durch Überreden durch Denken . . . durch Vertrag . . . 65 Leviathan 4 6 . K a p . : Vo n d e r F i n s t e r n i s a u f G r u n d v o n A f t e r p h i l o s o p h i e u n d Ü b e r l i e f e r u n g e n , d i e i n s R e i c h d e r F a b e l g e h ö r e n Um nun zu erfahren, aus welchen Gründen sie sagen, es gebe abstrakte Essenzen oder substantielle Formen, müssen wir untersuchen, was die eigentliche Bedeutung dieser Wörter ist. Der Zweck von Wörtern ist, für uns selbst die Gedanken und Vorstellungen unseres Geistes zu registrieren und sie anderen gegenüber kundzutun. Einige dieser Wörter sind Namen vorgestellter Dinge, wie z. B. die Namen aller Arten von Körpern, die auf die Sinne einwirken und einen Eindruck in der Einbildungskraft hinterlassen. Andere sind die Namen der Einbildungen selbst, das heißt jener Ideen oder geistigen Bilder, die wir von allen Dingen haben, die wir sehen oder an die wir uns erinnern. Andere wiederum sind Namen von Namen oder von verschiedenen Arten von Redewendungen: so sind z. B. universal, Mehrzahl, Einzahl die Namen von Namen, und Definition, Affirmation, Negation, wahr, falsch, Syllogismus, Frage, Versprechen, Vertrag die Namen gewisser Redewendungen. Andere dienen dazu, um zu zeigen, was aus einem Namen für einen anderen folgt, oder daß sie miteinander unvereinbar sind. Wenn z. B. jemand sagt: „ Ein Mensch ist ein Körper “ , so will er damit ausdrücken, daß der Name Körper notwendig aus dem Namen Mensch folgt, da sie nur zwei verschiedene Namen desselben Dinges Mensch sind. Diese Folge wird durch ihre Verkoppelung mit dem Wort ist bezeichnet. Und wie wir das Wort ist, so gebrauchen die Lateiner ihr Verb est und die Griechen ihr Εστ in allen ihren Konjugationen. Ob alle anderen Völker der Welt in ihren verschiedenen Sprachen ein Wort haben, das dem entspricht, oder nicht, kann ich nicht sagen, aber ich bin sicher, daß sie es nicht benötigen. Denn eine bestimmte Anordnung von zwei Namen könnte, wenn es üblich wäre, ebensogut andeuten, daß sie auseinander folgen, wie die Wörter ist, sei oder sind (denn es ist die Gewohnheit, die den Wörtern ihre Bedeutungskraft verleiht). Und gäbe es tatsächlich eine Sprache ohne ein Wort, das est, ist oder sei entspricht, so wären die Menschen, die sie gebrauchten, dennoch um kein Jota weniger zu Folgerungen, Schlüssen und allen anderen Schlußweisen fähig als die Griechen und Lateiner. Aber was 66 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft würde dann aus diesen Ausdrücken wie Entität, Essenz, essentiell, Essentialität werden, die davon abgeleitet sind und aus vielen anderen mehr, die von diesen abhängen, wenn man sie so nimmt, wie sie meistens angewandt werden? Sie sind deshalb keine Namen von Dingen, sondern Zeichen, durch die wir kundtun, daß wir uns die Konsequenz vorstellen, die sich aus einem Namen oder Attribut für einen anderen Namen oder ein anderes Attribut ergibt. Wenn wir z. B. sagen: „ Ein Mensch ist ein lebendiger Körper “ , so meinen wir nicht, daß der Mensch und der lebendige Körper zwei verschiedene Dinge seien, und das ist oder seiend ein drittes, sondern daß der Mensch und der lebendige Körper dasselbe Ding seien, da die Folgerung: „ lst er ein Mensch, so ist er ein lebendiger Körper “ , eine richtige Folgerung ist, die durch das Wort ist angedeutet wird. Deshalb sind ein Körper sein, gehen, sprechen, leben, sehen und ähnliche Infinitive, sowie Körperlichkeit, Gehen, Sprechen, Leben, Sehen und dergleichen, die genau dasselb bedeuten, die Namen von nichts, wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe. Aber wozu, mag mancher sagen, stehen solche Spitzfindigkeiten in einem Werk dieser Art, in dem ich nichts anderes im Auge habe als das, was für die Lehre von der Regierung und vom Gehorsam notwendig ist? Dies geschieht zu dem Zweck, damit sich die Menschen nicht länger von denjenigen mißbrauchen lassen mögen, die sie durch diese Lehre von den getrennten Essenzen, die auf der Afterphilosophie des Aristoteles fußt, mit leeren Namen vor dem Gehorsam gegen die Gesetze ihres Landes abschrecken wollen, so, wie die Menschen Vögel vom Getreide mit einem leeren Wams, einem Hut und einem Krückstock abschrecken. Denn dies ist die Grundlage ihrer Behauptung, die Seele, das heißt das Leben, eines Menschen, der tot und begraben ist, könne von seinem Körper getrennt wandeln und sei nachts zwischen den Gräbern zu sehen. Aus demselben Grund sagen sie, Gestalt, Farbe und Geschmack eines Stücks Brot dort ein Sein, wo, wie sie sagen, kein Brot ist. Und aus demselben Grund sagen sie, Glaube, Weisheit und andere Tugenden würden vom Himmel herab in einen Menschen zuweilen gegossen und zuweilen geblasen - als ob die Tugendhaften und ihre Tugenden getrennt bestehen könnten! - und eine große Menge 67 Leviathan anderer Dinge, die dazu dienen, die Abhängigkeit der Untertanen von der souveränen Gewalt ihres Landes zu schwächen. [ … ] Vom Menschen 1 0 . K a p . : Vo n d e r S p r a c h e u n d d e n W i s s e n s c h a f t e n 1. Die Sprache oder Rede ist eine Verbindung von Worten, die von den Menschen willkürlich festgesetzt wurden, um eine Reihe von Vorstellungen von Dingen, an die wir denken, zu bezeichnen. Wie sich also ein Wort zu einem Gedanken oder einer Vorstellung verhält, so verhält sich die Sprache zu einem Gedankengang. Und es scheint, daß die Sprache allein dem Menschen eigen ist. Denn obgleich einige Tiere (geschult durch Gewöhnung) auf Grund von Worten verstehen, was wir wollen und befehlen, so erfassen sie dabei gleichwohl nicht die Worte, insoweit sie Worte, sondern insoweit sie für sie Signale sind. Zur Bezeichnung welches Gegenstandes die Worte von der Willkür des Menschen bestimmt sind, wissen sie nämlich nicht. Die Zeichengebung hinwiederum, die mit Hilfe der Stimme zwischen zwei Tieren derselben Art zustande kommt, ist deshalb keine Sprache, da jene Laute, durch die Hoffnung, Furcht, Freude usw. ausgedrückt wird, von ihnen nicht nach Belieben hervorgebracht werden, sondern von ihren Empfindungen durch Naturnotwendigkeit mit Gewalt ausgepreßt werden. Daher kommt es bei Tieren, deren Stimme nur eine kleine Veränderungsmöglichkeit hat, vor, daß durch die Verschiedenheit der Laute die einen von den anderen zur Flucht im Gefahrfall aufgefordert werden, zum Fressen gerufen, zum Singen ermuntert, zur Liebe gereizt werden. Dennoch stellen diese Laute keine Sprache dar, da sie nicht durch deren Willen zustande kommen, sondern bei Furcht, Freude, Begierde und den übrigen Empfindungen jedes einzelnen durch die Gewalt der Natur hervorgerufen werden. Daß dies kein Sprechen ist, geht auch daraus hervor, daß Tiere, die derselben Gattung angehören, an jedem beliebigen Ort der Erde dieselben Laute hervorbringen, während die Menschen jeweils verschiedene Sprachen haben. 68 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft Und so entbehren die anderen Lebewesen auch eines Verstandes. Denn der Verstand hat es zwar mit Vorstellungen zu tun, aber mit solchen, die aus der festgesetzten Bedeutung der Worte entspringen. 2. Da ich soeben gesagt habe, die Worte seien durch menschliche Festsetzung entstanden, wird mancher vielleicht fragen, welchen Menschen diese Festsetzungen so viel bedeuteten, daß sie eine Wohltat, wie sie die Sprache für uns darstellt, dem menschlichen Geschlecht erweisen konnten. Daß die Menschen einmal zu einer Beratung zusammengekommen sein könnten, um durch einen Beschluß festzusetzen, was die Worte und Wortverknüpfungen bedeuten sollten, ist nämlich nicht anzunehmen. Vielmehr ist anzunehmen, daß es anfänglich nur wenige Benennungen gegeben hat, und zwar von denjenigen Dingen, die ihnen am vertrautesten waren. So hat der Mensch zunächst nach seinem Gutdünken nur einigen Tieren Namen beigelegt, denjenigen nämlich, die Gott ihm vor Augen führte; dann anderen Dingen, so wie sich seinen Sinnen von den verschiedenen Arten der Dinge ein immer neuer Anblick darbot. Diese so angenommenen Benennungen wurden von den Vätern an deren nachfolgende Söhne weitergegeben, die noch andere hinzu erfanden. Nun wird allerdings im 2. Kap. der Genesis berichtet, Gott hätte Adam, noch bevor dieser irgendwelchen Dingen Namen gab, untersagt, die Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen; wie konnte jener da das Gebot Gottes verstehen, da er doch bis dahin noch nicht wußte, was essen, was Frucht, was Baum, was Erkenntnis und schließlich sogar gut oder böse bedeute? Adam muß also jenes göttliche Verbot nicht auf Grund der Bedeutung der Worte, sondern auf irgendeine übernatürliche Weise verstanden haben, was bald darauf deutlich daraus hervorgeht, daß Gott ihn fragte, wer ihm gesagt habe, daß er nackt sei. Wie konnte Adam in gleicher Weise die Schlange verstehen, da sie vom Tod sprach, von dem er, der erste Sterbliche, doch keine Vorstellung haben konnte? Diese Vorgänge sind auf natürliche Weise also nicht zu verstehen, und folglich kann der Ursprung der Sprache in natürlicher Hinsicht kein anderer als die Willkür des Menschen sein. Das wird noch deutlicher durch die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel. Denn zu diesem Zeitpunkt sind die verschiedenen Sprachen entstanden und von den einzelnen Menschen auf die 69 Vom Menschen einzelnen Völker übertragen worden. Daß einige lehren, die Benennungen seien den einzelnen Dingen entsprechend ihrer Natur beigelegt worden, ist albern. Wie hätte das nämlich sein können, da doch die Natur der Dinge allenthalben dieselbe, die Sprachen indessen verschieden sind? Und welche Ähnlichkeit hat etwa ein Wort (das heißt ein Laut) mit einem Tier, das ein Körper ist? 3. Von den Vorteilen, die aus der Sprache erwachsen, sind die folgenden die wichtigsten: Erstens kann der Mensch mit Hilfe von Zahlwörtern nicht nur Einheiten zählen, sondern auch einzelnes, was immer es sei, zählend bestimmen. So wird bei Körpern jede Art der Ausdehnung, sei es die Länge oder Länge und Breite oder Länge, Breite und Dicke gemessen; sie werden addiert, subtrahiert, multipliziert, dividiert und miteinander verglichen Zeiten, Bewegung, Gewichte werden berechnet und (bei der Beschaffenheit) die Grade von Zu- und Abnahme. Daraus entstehen dem menschlichen Leben ungeheure Vorteile, die den übrigen Lebewesen versagt sind. Denn jedermann weiß, in welchem Maße diese Fähigkeiten beim Ausmessen von Körpern, bei der Zeitrechnung, bei der Berechnung der Gestirnsbewegungen, bei der Erdbeschreibung, bei Seefahrten, beim Bauen, bei Maschinen und anderen notwendigen Dingen verwendet werden. Alle dies beruht auf dem Zählen, das Zählen aber auf der Sprache. Zweitens verdanken wir der Sprache, daß ein Mensch den anderen belehren kann, das heißt, er kann sein Wissen dem anderen mitteilen, ihn ermahnen, ihn um Rat fragen. Auf diese Weise wird ein Nutzen, der an sich schon groß ist, dadurch, daß man sich mitteilen kann, noch größer. Ein dritter Vorteil der Sprache, und zwar der größte Verdienst, ist, daß wir befehlen und Befehle verstehen können. Ohne diesen Vorteil gäbe es keine Gemeinschaft zwischen den Menschen, keinen Frieden und folglich auch keine Ordnung, sondern erstens Rohheit und alsdann Einsamkeit und anstelle von Wohnstätten Höhlen. Zwar weisen auch einige Tierarten eine Art von staatlicher Ordnung [politiae] auf, aber diese ist nicht von ausschlaggebender Bedeutung für ihre Wohlfahrt. Wir können sie daher hier außer Betracht lassen, zumal sie sich nur bei waffen- und bedürfnislosen Geschöpfen findet. Zu diesen gehört aber nicht der Mensch; denn so gewiß es ist, daß Schwerter und Spieße, die Waffen der Menschen, Hörner, Zähne und Stacheln, die 70 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft Waffen der Tiere, übertreffen. so gewiß ist es auch, daß der Mensch, den sogar der künftige Hunger hungrig macht, raubgieriger und grausamer als Wölfe, Bären und Schlangen ist (deren Raubgier nicht länger andauert als ihr Hunger und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind). Daraus läßt sich leicht einsehen, wie viel wir der Sprache verdanken, durch die wir miteinander verbunden sind und geeint durch Übereinkommen sicher, glücklich und kultiviert leben oder, ich betone es, leben können, wenn wir wollen. Aber die Sprache hat auch ihre Nachteile. Mittels der allgemeinen Wortbedeutungen vermag der Mensch nämlich als einziger unter allen Lebewesen für sich nicht nur allgemeine Regeln hinsichtlich bestimmter Fertigkeiten, vor allem im Hinblick auf die Daseinsbewältigung [Kunst zu leben], zu ersinnen, sondern er allein vermag auch nach falschen Regeln zu handeln und diese an andere zu deren Gebrauch weiterzugeben. Auf diese Weise verbreiten sich die Irrtümer des Menschen weiter und sind gefährlicher, als es bei den Tieren möglich ist. Auch kann der Mensch, wenn es ihm beliebt (belieben wird es ihm aber, sooft er meint, daß es für seine Absichten vorteilhaft ist), vorsätzlich Falsches lehren, das heißt lügen, und die Mitmenschen den Bedingungen von Gemeinschaft und Frieden abgeneigt machen.-Bei den Verbindungen anderer Lebewesen kann das nicht vorkommen, weil Tiere etwas als gut und schlecht nur nach eigenem Empfinden einschätzen und nicht auf Grund von Klagen anderer, deren Ursachen sie nicht begreifen können, wenn sie sie nicht sehen. Bei denjenigen, die Philosophen und Lehrern zuhören, bringt es außerdem bisweilen die Gewöhnung mit sich, daß sie deren Worte unbesehen hinnehmen, auch wenn sich ihnen kein Sinn entlocken läßt, wie etwa, wenn die Worte nur ersonnen sind, um die Unwissenheit der Lehrer zu bemänteln, und daß sie sich dann ihrerseits dieser Worte in dem Glauben bedienen, etwas damit zu sagen, obwohl mit ihnen nichts ausgedrückt wird. Schließlich verleitet den Menschen auch die Mühelosigkeit des Sprechens dazu, ohne zu denken zu reden und sich insofern selbst zu täuschen, da er für wahr hält, was er redet. Ein Tier kann sich nicht selbst täuschen. Auf diese Weise wird der Mensch durch die Sprache nicht besser, sondern nur mächtiger. 71 Vom Menschen 4. Unter Wissenschaft wird die in Lehrsätzen, das heißt in allgemeinen Behauptungen enthaltene Wahrheit verstanden, das heißt die Wahrheit von Folgerungen. Wenn es sich bloß um die Wahrheit einer Tatsache handelt, so spricht man nicht eigentlich von Wissenschaft, sondern einfach von Kenntnis. Daher handelt es sich unstreitig um Wissenschaft nur, wenn wir wissen, daß irgendeine Behauptung deshalb ein wahrer Lehrsatz ist, weil er durch richtiges Schlußfolgern aus der Kenntnis der Ursachen oder [beziehungsweise] der Entstehung eines Gegenstandes abgeleitet worden ist. Wissen wir hingegen nur, daß ein derartiger Lehrsatz möglicherweise wahr sei, so handelt es sich um ein Wissen, das sich durch eine berechtigte Schlußfolgerung aus der Erfahrung mit [den l Wirkungen [von etwas] herleitet. Beide Arten von Ableitungen pflegt man als Beweise zu bezeichnen: Jene ist jedoch vorzüglicher als diese, und dies mit Recht. Es ist nämlich besser, wenn wir wissen, wie wir uns der gegenwärtigen Ursachen am besten bedienen können, als die unwiderruflich vergangenen zu erkennen, worum es sich dabei auch immer gehandelt haben mag. Durch eine Beweisführung a priori ist den Menschen somit eine Wissenschaft nur von denjenigen Dingen möglich, deren Erzeugung von der Entscheidung der Menschen selbst abhängt. 1 1 . K a p . : Vo m B e g e h r e n u n d Ve r m e i d e n 9. Wissenschaften oder [beziehungsweise] Künste sind ein Gut. Sie sind nämlich etwas Erfreuliches. Denn die Natur hat den Menschen zu einem Bewunderer alles Neuen gemacht, das heißt, er ist begierig, die Ursachen aller Dinge zu kennen. Daher kommt es, daß die Wissenschaft gleichsam eine Nahrung für so viele Geister ist und für den Geist dieselbe Bedeutung hat wie die Nahrungsmittel für den Körper. Was für den Hungernden die Speise ist, das sind für den wißbegierigen Geist die mit den Sinnen wahrnehmbaren Erscheinungen. Der Unterschied ist jedoch, daß der Körper von Speisen gesättigt werden kann, der Geist aber durch Wissen nie befriedigt wird. Ferner ist jede Kunst [Wissenschaft] insofern nützlich, als man sie auf einen Gegenstand anwenden kann. Ebenso sind sie für die 72 3 Sprache, Vernunft und Wissenschaft Allgemeinheit von größtem Nutzen, da wir ihnen fast alle Hilfsmittel und fast alle Kostbarkeiten des Menschengeschlechts verdanken. Man muß aber bedenken, daß nicht alle die Kenntnisse besitzen, die sie zu besitzen behaupten. Wer sich über die Ursachen der Dinge ausläßt, indem er nur den Schriften anderer folgt (und fremde Meinungen wiedergibt), ohne selbst etwas zu entdecken, taugt gar nichts. Denn etwas Gesagtes zu wiederholen hat nichts Gutes an sich, sondern im Gegenteil oft das Schlechte, daß es der Wahrheit den Weg verbaut, indem es die Irrtümer der Alten bekräftigt. 10. Auch die Literatur, nämlich diejenige über Sprachen und Geschichte, ist ein Gut, denn sie ist etwas Erfreuliches. Sie ist auch nützlich, zumal die Geschichte. Diese liefert uns nämlich die Erfahrungen, auf die sich die Kenntnis der Ursachen stützt, und zwar als Naturgeschichte der Physik, als bürgerliche Geschichte der Staats- und Moralwissenschaft, und das, gleichviel ob sie wahr oder falsch ist, wenn sie nur nicht unmöglich ist. In den Wissenschaften sucht man nämlich nicht so sehr die Ursachen dessen, was gewesen ist, als die Ursachen dessen, was sein könnte. Auch die Kenntnis der Sprachen, die bei den Nachbarvölkern gesprochen werden, ist nützlich, des Verkehrs und des Handels wegen. Desgleichen Lateinisch und Griechisch (als die Sprachen der Wissenschaft) der Wissenschaft wegen. 73 Vom Menschen 4 Anthropologie Einleitung Hobbes ’ Anthropologie setzt im System des Philosophen sehr früh an, in der Erkenntnistheorie, dabei in der Theorie der Empfindungen (s. Teil 2, S. 25) und in den Überlegungen zu den Besonderheiten des Menschen, zu Sprache, Vernunft und Wissenschaft (s. Teil 3, S. 51 ff.). In gewisser Weise kann man Hobbes ’ gesamtes Denken, die Mathematik ausgenommen, als philosophische Anthropologie verstehen. Ihm liegt nämlich die Frage zugrunde: Was zeichnet den Menschen aus, das dann ein Gemeinwesen und viele dazu gehörende Hintergrund- und Randüberlegungen, namentlich zu Religion und Kirche, notwendig macht? In diesem Teil 4 kommt es jedoch lediglich auf jene Überlegungen an, die im Leviathan mit Kapitel 6 „ Von den inneren Anfängen der willkürlichen Bewegungen “ beginnen, infolgedessen die allgemeine Erkenntnistheorie beiseite lassen und bei den Antrieben zum Handeln, den Leidenschaften, ansetzen. Obwohl die genaue Gestalt der Leidenschaften je nach Individuum unterschiedlich ausfällt, sind nach Hobbes die Arten der Leidenschaften bei allen Menschen dieselben. Abstrahiert man nämlich von den Objekten der Leidenschaften, den angestrebten oder gemiedenen Dingen, so entdeckt der Blick „ in sich selbst “ , also die jeden Menschen mögliche Introspektion, wie erwähnt die der menschlichen Gattung gemeinsamen Leidenschaften. Gemäß Hobbes fällt die dafür erforderliche Abstraktion deshalb leicht, weil das Ergebnis im gewöhnlichen Sprachgebrauch zu finden ist. Folglich fördert der Blick in die Umgangssprache, bei ihm häufig nicht nur Englisch, sondern auch Latein und Griechisch, die allgemeinmenschlichen Leidenschaften zutage. Für kulturelle Besonderheiten trifft bei Hobbes - allerdings erneut unausgesprochen - dasselbe wie für individuelle Unterschiede zu: Die angestrebten und gemiedenen Dinge sind erwartungsgemäß verschieden, die zugrundeliegenden Arten von Leidenschaften sind es nicht. Aus diesem Grund kann Hobbes zunächst, so sein erster Argumentationsschritt, eine sehr reichhaltige Landkarte der nicht sozialen, sondern für sich betrachteten menschlichen Antriebe erstellen. Diese setzt bei einfachen Leidenschaften wie Neigung, Liebe, Haß und Kummer an, stellt dann deren unterschiedliche Betrachtungsweisen wie Hoffnung, Verzweiflung und Zorn, wie Wohlwollen, Habsucht, Eifersucht, Rachsucht und panische Angst vor. In Hobbes ’ Kartographie von einigen Dutzend Leidenschaften bzw. deren Betrachtungsweisen taucht sowohl überraschenderals auch provokativerweise die Religion auf. Unser Philosoph bestimmt sie nämlich als Furcht „ vor einer unsichtbaren Gewalt, die vom Geist erdichtet oder auf Grund öffentlicher Erzählungen eingebildet ist “ . Im zweiten Argumentationsschritt untersucht Hobbes die Leidenschaften in sozialer Perspektive. In ihr erweisen sie sich als konfliktgeladen, gefährden genau deshalb das Leitziel des Menschen, das Glück, und rufen nach einem Rechts- und Staatswesen. Beide Argumentationsschritte machen Hobbes ’ politische Anthropologie in einem weiteren Verständnis aus. Die Überlegungen folgen stillschweigend dem klassischen Definitionsmuster. Sie beginnen nämlich mit Eigenschaften, die der Mensch mit Tieren teilt, also mit Gattungsmerkmalen, die in vitalen (Atmung, Verdauung usw.) und animalischen, auch „ willentlich “ genannten Bewegungen bestehen. Deren „ innere Anfänge “ , wie der Titel von Kapitel 6 ankündigt, liegen in drei Vorstellungen, in denen des Wohin, Wodurch und Was. Damit schließt sich Hobbes an die dem Kapitel 6 vorangehenden Überlegungen an. Weil die inneren Bewegungen sich mit diesen drei Vorstellungen verbinden, haben sie den Charakter des Strebens, im positiven Sinn den von Antrieben, im negativen Sinn den von Abneigungen. Von den Gattungsmerkmalen geht Hobbes, ohne den genauen Übergangspunkt zu markieren, zur spezifischen Differenz über, nämlich zu Eigenschaften, die den Menschen vor den „ anderen Tieren “ auszeichnen. Zunächst argumentiert der Philosoph noch mit Gattungseigenschaften. Denn die Fähigkeit des Überlegens und eines den Überlegungsprozeß abschließenden Willens spricht Hobbes auch Tieren zu. Erst sobald Sprache, Vernunft und Wissenschaft hereinspielen, befindet man sich im spezifisch menschlichen Bereich. In der politischen Anthropologie findet sich das erwähnte hohe Maß an gedanklicher Kontinuität wieder. Von der ersten Schrift, dem Naturrecht, über De Cive und den Leviathan bis zu De homine vertritt Hobbes einen „ naturalistischen Hedonismus “ . Von ihm aus entwickelt er die für die Staatsphilosophie entscheidende „ konfliktuelle “ Anthropologie. In ihr besteht die politische Anthropologie im engeren Verständnis. 75 Einleitung In ihrem ersten Schritt ist Hobbes ’ politische Anthropologie insofern naturalistisch, als sie auf normative Elemente verzichtet. Sie ist überdies hedonistisch, da sie die teils angeborenen (zur Nahrung usw.), teils erfahrungsvermittelten Antriebe in Begriffen von Lust, die Abneigungen in Begriffen von Unlust definiert. Gemäß dem seines Erachtens üblichen Sprachgebrauch erklärt der Philosoph alle Gegenstände der Antriebe für „ gut “ , alle der Abneigung für „ schlecht “ . Auch der Inbegriff alles Guten, das Glück bzw. die Glückseligkeit, wird normativitätsfrei bestimmt. Im unausgesprochenen Gegensatz zum stoischen Ideal, dem Lebensziel einer immerwährenden Ruhe des Geistes, bezweckt das Glück laut Hobbes den ständigen Erfolg beim Erlangen der Dinge, die man im Laufe der Zeit immer wieder neu anstrebt oder aber meidet. Alle drei Begriffe: die des Guten, des Schlechten und des Glücks, werden nicht bloß hedonistisch, sondern auch individualistisch definiert. Denn sie stehen bei Hobbes immer in Beziehung zu derjenigen Person, die etwas als gut oder schlecht erachtet und entsprechend „ ihr “ Glück anstrebt. Für seine normativitätsfreie und rein individualistische Definition von Gut und Schlecht nennt Hobbes einen methodischen, zugleich politischen Grund. Er wird oft überlesen, da er sich nicht in den für die Anthropologie entscheidenden, sondern in den genuin staatsphilosophischen Überlegungen findet: Im Unterschied zu den Tieren gibt es nur bei Menschen jene „ Wortkunst “ , die Gutes als schlecht und Schlechtes als gut hinzustellen vermag, dadurch die Menschen unzufrieden macht und den „ Frieden stören [kann], wie es ihnen paßt “ (Leviathan, Kap. 17). Allerdings könnte man meinen, unterstellt Hobbes, was er in der Definition von Gut und Schlecht verworfen hat, einen nicht bloß subjektiven, sondern objektiven Begriff. Denn Friede gilt hier generell, nicht nur für diese oder jene Person in ihrer konkreten Situation, als gut, die Störung des Friedens hingegen generell als schlecht. Freilich hatte Hobbes in den Kapiteln zuvor den Wert des Friedens für jedermann begründet, woraus er das „ erste und grundlegende Gesetz der Natur “ aufgestellt hatte: „ Suche Frieden und halte ihn ein “ . Als nächstes leitet Hobbes aus seinem Begriff der Glückseligkeit „ ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht “ ab (Leviathan, Kap. 11). In Verbindung mit einer wohlbestimmten Gleichheit aller Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten führt nun das unbegrenzte Machtstreben in sozialer Perspektive aus drei 76 4 Anthropologie Ursachen zu Konflikten: aus Konkurrenz, aus Mißtrauen und aus Ruhmsucht (bescheidener gesagt: aus dem Streben nach Anerkennung). Da die Konflikte jederzeit mit Gewalt ausgetragen werden können, befinden sich die Menschen mangels einer sie „ im Zaun haltenden Macht “ in einem Zustand des Krieges „ eines jeden gegen jeden “ . Nach der sprichwörtlichen gewordenen lateinischen Formulierung herrscht zwischen den Menschen ein „ bellum omnium contra omnes “ , ein „ Krieg aller gegen alle “ , mithin das klare Gegenteil von Frieden. Gemeint ist beim Krieg nicht ein ständiges Hauen und Stechen, sondern der Umstand, daß stets die Gefahr eines gewalttätigen Austragens der Konflikte droht. Solange nun diese Gefahr besteht, ist laut einer zweiten sprichwörtlich gewordenen Formulierung „ der Mensch dem Menschen ein Wolf “ ( „ homo hominus lupus “ ). Diese Formel spricht allerdings nur die Hälfte der ständigen Gewaltdrohungen aus: Als möglicher Täter von Gewalt ist der Mensch ein Raubtier, als Opfer möglicher Gewalt aber ebenso ein Beutetier. Die ständige Gewaltbereitschaft des Menschen, seine Raubtier- und zugleich Beutetiernatur, gehören zwar zum Kern von Hobbes ’ politischer Anthropologie. Sie macht aber, was häufig übersehen oder verdrängt wird, nur den ersten, das Leben und das Glück des Menschen bedrohenden Teil aus. Dieser beläuft sich nicht einmal auf die Hälfte, sondern, wird sich zeigen, aus einem guten Grund bloß auf ein Drittel von Hobbes ’ politischer Anthropologie. Würde dieses Drittel das Gesamte sein, bestünde die Natur des Menschen in nichts anderem als der latenten Gewaltbereitschaft, so wäre der Mensch in einem fundamentalen Sinn eine Fehlkonstruktion. Denn das von seiner Natur her gegebene schrankenlose Verlangen nach Glück würde durch eben diese Natur, durch die Uneingeschränktheit des Verlangens, grundsätzlich unmöglich. Bei Hobbes entfällt aber diese Gefahr. Denn ein zweiter Teil seiner politischen Anthropologie besteht in Leidenschaften, die den Menschen friedensfähig machen. So wie es für die latent gewaltsam ausgetragenen Konflikte drei Ursachen gibt, die Konkurrenz, das Mißtrauen und die Ruhmsucht, so finden sich auch drei friedensförderliche Antriebskräfte: die „ Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können “ (Leviathan, Kap. 13). Offensichtlich sind diese Antriebskräfte für den Frieden notwendig, aber nicht zureichend. Denn sie bestimmen zwar ein Ziel, aber nicht auch die 77 Einleitung Mittel und Wege, um dorthin zu gelangen. Dafür ist der dritte Teil von Hobbes ’ politischer Anthropologie zuständig. Es ist die Vernunft, die „ die geeigneten Grundsätze des Friedens “ nahelegt, aber auch nicht mehr als ein Nahelegen zustande bringt. Das Ziel ist ihr nämlich vorgegeben. Anders als etwa bei Kant ist Hobbes ’ Vernunft nicht von sich aus praktisch; sie hat lediglich einen instrumentellen Charakter, sie steht im Dienst der Leidenschaften, glücklicherweise aber vor allem im Dienst der friedens-, nicht aber der kriegsförderlichen Leidenschaften. Hobbes ’ Vernunft beläuft sich auf eine pragmatische Vernunft. Naturrecht V I I . K a p . : Ü b e r Ve r g n ü g e n u n d S c h m e r z , G u t u n d S c h l e c h t 3. Jeder Mensch nennt, aus seiner Sicht, das, was erfreut und vergnüglich für ihn ist, GUT (GOOD), und er nennt das SCHLECHT (EVIL), was ihn missvergnügt. Weil sich nun jeder Mensch von anderen in der körperlichen Verfassung unterscheidet, unterscheidet sich einer vom anderen auch in Hinsicht auf die übliche Unterscheidung von gut und schlecht. Etwas wie ein agathon haplôs, das heißt, etwas, das schlechthin gut ist, gibt es nicht. Denn selbst die Güte, die wir dem Allmächtigen zuschreiben, ist seine Güte uns gegenüber. Und wenn wir diejenigen Dinge gut und schlecht nennen, die uns erfreuen oder missvergnügen, so nennen wir Güte und Schlechtigkeit jene Eigenschaften oder Kräfte, wodurch sie es tun. Und die Anzeichen dieser Güte werden von den Lateinern mit einem Wort PULCHRITUDO [SCHÖNHEIT] und die Anzeichen des Schlechten TURPITUDO [HÄSSLICHKEIT] genannt, für die wir keine völlig entsprechenden Ausdrücke besitzen. 4. So wie wir alle Vorstellungen mit sofortiger Wirkung durch die Sinnesempfindung besitzen, sei es Vergnügen, Schmerz, Verlangen oder Furcht, so gilt dies auch für die Einbildungen nach der sinnlichen Wahrnehmung. Weil sie aber schwächere Einbildungen sind, so sind sie auch schwächere Genüsse oder geringerer Schmerz. 5. So wie das Verlangen der Beginn der animalischen Bewegung hin zu etwas ist, das uns erfreut, so ist das dortige Ankommen das 78 4 Anthropologie ZIEL (END) dieser Bewegung, welches wir auch ihren Geltungsbereich, ihre Zielsetzung und die Zweckbestimmung der Bewegung nennen. Und wenn wir dieses Ziel erreichen, dann wird das Vergnügen, das wir dadurch haben, ERFÜLLUNG (FRUITION ) genannt; und es sind also bonum [das Wohl] und finis [das Ziel] zwar verschiedene Namen, allerdings nur verschiedene Gesichtspunkte von derselben Sache. [ … ] 7. Sieht man, dass jedes Vergnügen ein Verlangen ist und dass das Verlangen ein weiter weg liegendes Ziel zur Voraussetzung hat, dann kann es keine Zufriedenheit geben ohne weiteres Voranschreiten. Wir müssen uns deshalb nicht groß darüber wundern, wenn wir sehen, dass das Verlangen der Menschen, je mehr Reichtum, Ehre oder andere Macht sie erreichen, ständig mehr und mehr wächst. Deshalb zeigt sich auch bei denen, die allerhöchste Ehren und Reichtum erreicht haben, dass es einige in irgendeiner Kunstform zur Meisterschaft gebracht haben, wie etwa Nero in Musik und Dichtkunst, Commudus im Gladiatorenhandwerk. Und diejenigen, die sich nicht von so einer Sache affizieren lassen, die müssen Abwechslung und Erholung von ihren Gedanken entweder im spielerischen oder geschäftlichen Wettbewerb finden. Die Menschen beklagen es völlig zu Recht als eine große Betrübnis, dass sie nicht wissen, was sie tun sollen. GLÜCKSELIGKEIT (FELICITY ) besteht nicht darin, Erfolg zu haben, sondern voranzukommen. 8. Wenige Dinge in dieser Welt gibt es, die nicht entweder eine Mischung aus gut und schlecht sind oder die notwendigerweise so miteinander verkettet sind, dass das eine nicht ohne das andere genommen werden kann. So sind etwa die sündigen Vergnüglichkeiten und die Bitternis der Bestrafung unzertrennbar, so wie für gewöhnlich auch Arbeit und Ehre. Wenn nun in der ganzen Kette der überwiegende Teil gut ist, dann wird das Ganze gut, und wenn das Schlechte überwiegt, dann wird das Ganze schlecht genannt. 9. Es gibt zwei Arten von Genüssen, wovon der eine scheinbar das körperliche Organ der Sinnesempfindung affiziert, und diesen nenne ich SINNLICH (SENSUAL). Der größte davon ist jener, wodurch wir eingeladen werden, unserer Gattung Fortbestand zu geben; und der nächste, wodurch der Mensch veranlasst wird zu 79 Naturrecht essen, um sich selbst zu erhalten. Die andere Art von Vergnügen bezieht sich nicht auf einen irgendeinen Teil des Körpers und wird als Vergnügen des Geistes bezeichnet und ist das, was wir FREUDE (JOY ) nennen. Nicht anders bei den Schmerzen: Einige von ihnen betreffen den Körper, wir kennen sie daher als körperliche Schmerzen, und andere nicht, und diese werden deshalb KUMMER (GRIEF ) genannt. X I V. K a p . : S t a n d u n d R e c h t d e r N a t u r 1. In den vorangegangenen Kapiteln ist die ganze Natur des Menschen dargelegt worden, wie sie aus den natürlichen Kräften seines Körpers und seines Geistes besteht und in diesen vier erfasst werden kann: Stärke des Körpers, Erfahrung, Vernunft und Leidenschaft. 2. In diesem Kapitel wird es angebracht sein, darüber nachzudenken, in welchen Stand der Sicherheit unsere Natur uns versetzt hat und welche Wahrscheinlichkeit sie uns gelassen hat, weiterzumachen und uns vor gegenseitiger Gewalt zu schützen. Bedenken wir zunächst, wie gering doch der Unterschied in Kraft und Wissen zwischen Menschen reiferen Alters ist. Mit welch großer Leichtigkeit kann der an Kraft oder Gewitztheit oder beidem Schwächere doch die Macht des Stärkeren aufs Gründlichste zerstören. Es bedarf ja nur geringer Anstrengung, jemandem das Leben zu nehmen. In ihrer reinen Natur (mere nature), so können wir daraus schließen, sollten sich die Menschen also Gleichheit zugestehen. Wer nicht mehr verlangt, der kann als gemäßigt angesehen werden. 3. Andererseits: Betrachten wir die großen Unterschiede zwischen den Menschen. Sie kommen von der Verschiedenheit ihrer Leidenschaften und führen dazu, dass einige nicht nur dann, wenn sie den anderen an Macht gleichgestellt, sondern auch, wenn sie ihnen unterlegen sind, sich der eitlen Ruhmsucht ergeben und nach Vorrang und Vorherrschaft über ihre Mitbürger streben. Wir erkennen so die notwendige Konsequenz - dass nämlich die Gemäßigten, die nur die natürliche Gleichheit anstreben, der Gewalt derjenigen ausgesetzt sind, die danach trachten, sie zu unterjochen. Ein all- 80 4 Anthropologie gemeines Misstrauen unter den Menschen und gegenseitige Furcht sind das Ergebnis. 4. Da ferner die Menschen auf verschiedene Weise durch ihre natürliche Leidenschaft einander beleidigend gegenübertreten jeder Mensch denkt gut von sich selbst und hasst es, dasselbe in anderen zu sehen, so müssen sie einander durch Worte und andere Zeichen der Missachtung und des Hasses, wie sie allen Vergleichen innewohnen, provozieren, bis sie endlich die Vormachtstellung durch Stärke und körperliche Gewalt ausmitteln müssen. 5. Bedenken wir überdies, dass das Verlangen viele Menschen zu ein und demselben Ziel treibt und dass dieses Ziel manchmal weder gemeinsam genossen noch geteilt werden kann, dann folgt daraus, dass sich der Stärkere allein daran erfreuen und dass durch Kampf entschieden werden muss, wer der Stärkere ist. Deshalb provoziert der größte Teil der Menschen, auch wenn es keine Chancengewissheit gibt, nichtsdestotrotz aus Eitelkeit, aus Vergleichssucht oder Verlangen die Übrigen, die sich ansonsten mit Gleichheit begnügen würden. 6. Und insofern ein natürlicher Zwang den Menschen dazu treibt, das bonum sibi [gut für sich], nämlich das, was von Nutzen für ihn ist, zu wollen und zu begehren, und das, was ihm schadet, zu vermeiden, vor allem aber jenen schrecklichen Feind der Natur, den Tod, von dem wir sowohl den Verlust aller Macht als auch die größten körperlichen Schmerzen erwarten, steht es nicht der Vernunft entgegen, wenn ein Mensch alles in seiner Macht stehende tut, Körper und Glieder vor Tod und Schmerzen zu schützen. Und was nicht gegen die Vernunft ist, nennen die Menschen RECHT (LAW ) oder jus oder die schuldlose Freiheit, unsere eigene natürliche Macht und Möglichkeiten zu nutzen. Es ist deshalb ein natürliches Recht, dass jeder Mensch mit all der Macht, die er hat, sein eigenes Leben und seine Körperglieder erhält. 7. Wo aber ein Mensch das Recht hat, seine Zwecke zu verfolgen, und der Zweck nicht ohne Mittel erreicht werden kann, also nicht ohne die Dinge, die notwendig für die Zweckerreichung sind, da ist es nur konsequent, dass es nicht gegen die Vernunft und deshalb eines Menschen Recht ist, auch alle Mittel zu gebrauchen und für die Erhaltung seines Körpers zu tun, was auch immer dazu notwendig ist. 81 Naturrecht 8. Jeder Mensch ist überdies durch das natürliche Recht sein eigener Richter über die Notwendigkeit der Mittel und über die Größe der Gefahr. Denn ist es vernunftwidrig, dass ich selbst als Richter über die mich betreffende Gefahr urteile, so ist es der Vernunft entsprechend, wenn ein anderer Mensch dies beurteilt. Dieselbe Vernunft aber, die einen anderen Menschen darüber urteilen lässt, was mich betrifft, macht mich auch zum Richter über das, was ihn betrifft. Und demzufolge habe ich Grund genug, sein Urteil danach zu beurteilen, ob es mir zum Nutzen gereicht oder nicht. 9. Dem natürlichen Recht entsprechend soll das Urteil eines Menschen also seinem eigenen Vorteil nutzen; und so sind auch die Stärke, das Wissen und die Geschicklichkeit eines jedes Menschen rechtmäßig angewendet, wenn er sie für sich selbst nutzt; ansonsten hätte ein Mensch ja nicht das Recht zur Selbsterhaltung. 10. Von Natur aus hat jeder Mensch ein Recht auf alle Dinge, das heißt, beliebigen Menschen alles Beliebige anzutun, sie zu besitzen und zu gebrauchen und sich an allen Dingen zu erfreuen, soweit er es will und kann. In Hinsicht auf all die Dinge, die er will, müssen diese also nach seinem eigenen Urteil gut sein, weil er sie eben will; und sie müssen gelegentlich auf seine Erhaltung abzielen, oder er muss dies doch annehmen, da wir ihn zum Richter darüber erklärt haben (Abschnitt 8). Daraus folgt, dass alle Dinge mit Recht von ihm getan werden können. Und deshalb sagt man zutreffend: Natura dedit omnia omnibus, dass die Natur alle Dinge allen Menschen gegeben hat, insofern jus und utile, Recht und Nutzen, dasselbe ist. Aber dieses Recht aller Menschen auf alle Dinge ist im Ergebnis um nichts besser, als wenn keiner ein Recht auf irgendetwas hätte. Denn ein Mensch bezieht wenig Nutzen und Vorteil aus seinem Recht, wenn ein anderer, der gleich stark oder sogar stärker ist als er selbst, ein Recht auf dasselbe hat. 11. Zu der in der menschlichen Natur liegenden Angriffsfreudigkeit untereinander kommt also das Recht eines jeden Menschen auf jede Sache, wodurch der eine den anderen mit Recht überfällt und der andere sich dagegen mit Recht wehrt. Die Menschen leben dadurch in unaufhörlicher Verzagtheit und erforschen, wie sie sich wechselseitig beunruhigen. Der Zustand der Menschen in dieser natürlichen Freiheit ist der Kriegszustand. Denn KRIEG (WAR) ist 82 4 Anthropologie nichts anderes als die Zeit, in der der Wille und die Absicht, mit Gewalt zu kämpfen, entweder durch Worte oder durch Taten hinlänglich zum Ausdruck gebracht wird; und die Zeit, in der kein Krieg ist, ist der FRIEDE (PEACE ). 12. Dieser Zustand der Feindseligkeit und des Krieges ist derart, dass dadurch die Natur selbst zerstört wird und die Menscheneinander umbringen (wir wissen, dass es so ist, und die Praxis der heute lebenden wilden Völker zeigt uns dies ebenso wie die Geschichte unserer Vorfahren, der Ureinwohner Germaniens und anderer heute zivilisierter Länder, wo wir nur wenige und kurz lebende Menschen finden, ganz ohne den Schmuck und die Annehmlichkeiten, die von Frieden und Gesellschaft für gewöhnlich erfunden und herbeigeführt werden). Wer sich also danach sehnt, in einem derartigen Zustand zu leben, wie es der Zustand der Freiheit und des Rechts aller auf alles ist, der widerspricht sich selbst. Denn jeder Mensch begehrt doch aus natürlicher Notwendigkeit sein eigenes Wohl, dem dieser Zustand entgegensteht, worin wir die Konkurrenzsituation zwischen den von Natur aus Gleichen, die fähig sind, einander zu vernichten, voraussetzen. 13. Betrachtet man dieses Recht, uns selbst nach unserem eigenem Ermessen und unserer Stärke zu schützen, wie es aus der Gefahr herrührt, einer Gefahr, die aus der Gleichheit der Stärke der Menschen entsteht, dann ist es vernünftiger, dass ein Mensch dieser Gleichheit zuvorkommt, noch bevor die Gefahr und die Notwendigkeit eines Kampfes entsteht. Ein Mensch hat deshalb durch den Vorteil seiner vorhandenen Macht das Recht, so er einen anderen unter seiner Macht hat, um ihm Vorschriften zu machen oder ihn zu regieren, um ihm Gutes zu tun oder Schaden zuzufügen, nach seinem Behagen für kommende Zeiten sicherheitshalber Vorsichtsmaßnahmen gegen den anderen zu ergreifen. Demzufolge kann derjenige, der seinen Widersacher schon unterworfen oder jemanden in seine Gewalt gebracht hat, der entweder seines Kindesalters oder seiner Schwäche wegen unfähig ist, ihm zu widerstehen, dem natürlichen Recht zufolge die beste Sicherheitsleistung abverlangen, die ein solches Kind oder eine derart klägliche und kleinlaute Person ihm geben kann, um auch weiterhin von ihm gelenkt und regiert zu werden. Denn wenn wir immer unsere eigene Sicherheit und 83 Naturrecht Erhaltung im Auge haben, dann konterkarieren wir offenkundig unsere Absicht, wenn wir einen solchen Menschen sehenden Auges entlassen und ihmdamit gleichzeitig gestatten, Kräfte zu sammeln und unser Feind zu sein. Zusammengefasst können wir sagen, dass die unwiderstehliche Macht im natürlichen Zustand Recht ist. 14. Weil aber aus der Gleichheit der Stärke und den anderen Fähigkeiten der Menschen vorauszusetzen ist, dass kein Mensch, solange er im Zustand von Feindseligkeit und Krieg verbleibt, genügend Macht hat, um sich selbst für längere Zeit zu sichern und sich dadurch zu erhalten, gebietet es die Vernunft jedem Menschen zu seinem eigenen Wohl, den Frieden anzustreben, solange die Hoffnung besteht, ihn zu erreichen, und mit aller Hilfe, die er auftreiben kann , sich selbst zur eigenen Verteidigung gegen alle jene zu stärken, von denen ein solcher Friede nicht erreicht werden kann, und all jene Dinge zu tun, die dazu förderlich sind. Vom Bürger F r e i h e i t , K a p i t e l I : Vo m Z u s t a n d d e r M e n s c h e n a u ß e r h a l b d e r b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t I. Einleitung. Die Fähigkeiten der menschlichen Natur lassen sich [Alles, was die menschliche Natur vermag, läßt sich] gattungsmäßig auf vier Dinge zurückführen: Körperkraft, Erfahrung, Vernunft, Leidenschaft. Davon werden wir für die folgenden Lehrsätze ausgehen müssen und daher wird als erstes darzulegen sein, wie die mit solchen Fähigkeiten [Gaben] ausgestatteten Menschen einander gegenüber eingestellt sind und ob und durch welche Fähigkeit sie von Natur aus zur Gesellschaft geeignet und fähig sind, sich vor wechselseitiger Gewalt zu bewahren. Dann werden wir zeigen, welcher Entschluß hierzu notwendig ist und welches die Bedingungen dafür sind, daß es zu Gemeinsamkeit oder Frieden unter den Menschen kommt, das heißt, mit anderen Worten, welches die grundlegenden Gesetze der Natur sind. II. Die bürgerliche Gesellschaft hat ihren Ursprung in der wechselseitigen Furcht. Die meisten, die über den Staat geschrieben haben, unterstellen entweder oder suchen zu beweisen oder be- 84 4 Anthropologie haupten einfach, daß der Mensch von Natur aus ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei, 7 also das, was die Griechen ζῷον πολιτικόν nennen, und errichten auf dieser Grundlage ihre Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft, 8 so als ob zur Erhaltung des Friedens und zur Regierung des ganzen menschlichen Geschlechts nichts weiter nötig wäre, als daß sich die Menschen auf gewisse Übereinkommen 9 und Bedingungen einigten, die sie selbst dann Gesetze nennen. Dieses Axiom [Axioma] ist jedoch, obgleich von vielen übernommen, falsch beziehungsweise ein Irrtum, der aus einer allzu oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur herrührt. Untersucht man nämlich genauer die Gründe, warum die Menschen zusammenkommen und sich wechselseitig ihrer Gesellschaft erfreuen, so ist leicht festzustellen, daß dies nicht deshalb geschieht, da es der Natur nach nicht anders sein kann, sondern nur zufälligerweise. Würden die Menschen einander von Natur, das heißt, bloß weil sie Menschen sind, lieben, so wäre es nämlich unerklärlich, weshalb nicht jeder einen jeden in gleichem Maße liebt, da sie ja alle in gleichem Maße Menschen sind, oder weshalb ein Mensch lieber die Gesellschaft derjenigen aufsucht, deren Gesellschaft ihm mehr Ehre [honor] und Nutzen einträgt als diejenige anderer. Wir suchen von Natur aus also nicht die Gesellschaft von Menschen, um ihrer Gesellschaft willen [socios], sondern um durch sie Wertschätzung [honore] oder Nutzen zu erlangen; dies begehren wir zuerst, das andere an zweiter Stelle. Die Absicht, aus der heraus sich die Menschen zusammentun, erschließt sich eben aus dem, was sie machen, nachdem sie sich zusammengetan haben. Ist es eines Geschäfts wegen geschehen, so ist ein jeder nicht auf seinen jeweiligen Geschäftspartner [socios] bedacht, sondern auf seinen Gewinn. Ist es einer öffentlichen Angelegenheit [officij] wegen geschehen, so kommt es der Öffentlichkeit gegenüber zwar zu einer Art von Freundschaft, aber dergleichen geht mehr mit wechselseitiger Furcht voreinander als mit Zuneigung füreinander einher, so daß es zuweilen zwar zur Bildung einer Parteiung [politischen Gruppierung] kommt, niemals aber zu Wohlwollen einander gegenüber. Kommen die Menschen eines Gedankenaustauschs oder des Frohsinns wegen zusammen, so neigt jeder dazu, sich besonders an dem zu erfreuen, was zum Lachen insofern Anlaß gibt, als er (dem 85 Vom Bürger Wesen des Witzes gemäß) dabei selbst im Vergleich mit den Unzulänglichkeiten oder Schwächen anderer gut wegkommt. Und wenn dies auch nicht immer in böser Absicht geschieht und ohne jemanden verletzen zu wollen, so ist doch offensichtlich, daß das Ergötzliche daran weniger etwas mit dem Zusammensein mit anderen als solchem zu tun hat als mit dem Interesse, das dem eigenen Ansehen [gloria] gilt. 10 Im Übrigen wird bei solcher Art von Zusammenkünften meist über diejenigen herabsetzend gesprochen, die gerade nicht anwesend sind: deren gesamtes Leben, Worte und Taten werden zur Sprache gebracht, beurteilt, verurteilt oder dem Spott preisgegeben; ja selbst die Anwesenden werden, sobald sie zur Tür hinaus sind, nicht verschont und müssen Gleiches erleiden. Der Rat, man sollte solchen Gesellschaften immer erst als Letzter den Rücken zukehren, ist daher gar nicht so verkehrt. Dies sind eben die wahren Freuden des geselligen Zusammenseins, nach denen wir von Natur, das heißt, auf Grund der Leidenschaften, die allen Geschöpfen eigen sind, so lange ein Verlangen haben, bis es auf Grund mißlicher Erfahrungen oder heilsamer Lehren dazu kommt, daß einem (was bei vielen allerdings nie geschieht) in Erinnerung an das Vergangene die Lust daran vergeht, dem augenblicklichen Verlangen nachzugeben. Ohne dergleichen Vergnügungen wären die Gespräche der meisten Menschen, die gerade in diesen Dingen höchst beredt sind, allerdings auch öde und leer. Trifft es sich, daß man sich niedergelassen hat, um sich Geschichten zu erzählen, und gibt dabei einer etwas von sich selbst zum Besten, so will auch jeder andere sofort von sich selbst erzählen. Wenn der eine etwas Außergewöhnliches mitteilt, so wollen auch die anderen von Außergewöhnlichem berichten, das sie erlebt haben. Und haben sie nichts Derartiges erlebt, so ersinnen sie Entsprechendes. Und schließlich, um von denen zu sprechen, die sich für weiser als die anderen halten: Kommen sie der Philosophie zuliebe zusammen, so sind da ebenso viele, die belehren wollen, wie ihrer Menschen sind, denn sie alle wollen als Meister ihres Faches gelten; im Übrigen aber schätzen sie einander ebenso gering wie andere, ja sie machen aus ihrer Abneigung, die sie einander gegenüber hegen, nicht einmal ein Hehl. Und somit ist allen, die sich die menschlichen Verhältnisse etwas genauer ansehen, aus Erfahrung klar, daß sich die Menschen aus 86 4 Anthropologie freien Stücken entweder des Mangels [der Nöte und Widrigkeiten des Lebens] wegen zusammentun oder aber, weil sie nach Ansehen [Wertschätzung] streben. Sie sind also, indem sie sich mit anderen verbinden, entweder darauf bedacht, irgendeinen Nutzen daraus zu ziehen oder das zu erlangen, was man εὐδοκιμεῑν nennt: bei ihren Mitmenschen [socios] in gutem Ruf zu stehen [existimationem] und Ehre [honorem] einzulegen. Dasselbe ergibt sich mittels der Vernunft aus den [in der vorherigen Abteilung gegebenen] Definitionen des Willens, des Guten, der Ehre und des Nutzens. Denn da wir uns mit anderen aus freiem Willen zusammenschließen, so fragt man bei jeder Verbindung nach dem Gegenstand dieses Willens, das heißt, nach dem, was jedem, der sich mit anderen zusammentut, dabei als ein Gut erscheint. Alles aber, was als ein Gut gilt, ist erfreulich und wirkt sich so entweder auf die Sinnesorgane oder auf Geist und Seele aus. Alle seelisch-geistige Freude wiederum hat entweder mit Ansehen zu tun (oder der guten Meinung von sich selbst) oder läuft letztlich darauf hinaus; alles andere wiederum ist sinnlicher Natur oder hat mit dem Sinnlichen zu tun und kann unter dem Namen des Nützlichen zusammengefaßt werden. Jede Verbindung mit anderen wird somit des Nutzens oder der Ansehens wegen eingegangen, das heißt, aus Liebe zu sich selbst und nicht aus Liebe zu denjenigen, mit denen man sich zusammenschließt. Verbindungen, die dergleichen zur Grundlage haben, können allerdings weder von vielen Menschen eingegangen werden noch von langer Dauer sein; mit dem, was Ansehen verleiht, ist es im Allgemeinen nämlich wie mit Ruhm [gloratio] und Ehre [honor] im Besonderen: Wenn dergleichen allen Menschen zukäme, käme es keinem zu; ihr Wesen liegt ja im Vergleichen und im Vorziehen. Auch gibt die bloße Verbindung mit anderen dem einzelnen keinen wirklichen Grund, sich darauf etwas einzubilden, da jeder letztlich nur so viel gilt, wie er von sich aus, ohne die Hilfe anderer, vermag. Die Annehmlichkeiten dieses Lebens können zwar durch gegenseitige Unterstützung vermehrt werden; viel besser noch könnte dies jedoch durch die Herrschaft über andere erreicht werden als durch eine Verbindung mit ihnen. Würde die Menschen nicht die Furcht voreinander daran hindern, so würde jeder von Natur aus zweifellos die anderen eher zu beherrschen suchen, als sich mit ihnen verbinden zu wollen. Es gilt 87 Vom Bürger insofern festzuhalten, daß jede große und dauerhafte Gemeinschaft von Menschen ihren Ursprung nicht in gegenseitigem Wohlwollen hat, sondern in wechselseitiger Furcht voreinander. Anmerkung. von Natur aus geeignet] Da die Menschen, wie man sieht, immer schon gesellschaftlich geordnet zusammenleben und niemand sein Leben außerhalb einer Gesellschaft zubringt, jeder vielmehr Umgang und Unterhaltung mit anderen sucht, so könnte es von bemerkenswerter Dummheit sein, gleich zu Beginn einer Lehre vom Staat den Lesern den Anstoß erregenden Satz entgegenzuhalten, daß der Mensch von Natur nicht zur Gesellschaft geeignet sei. Es sei daher noch deutlicher gesagt: Selbstverständlich ist dem Menschen von Natur beziehungsweise dem Menschen als Menschen, das heißt, sobald er geboren ist, fortwährendes Alleinsein unerträglich. Schon die Kinder bedürfen zum bloßen Überleben der Hilfe anderer und die Erwachsenen bedürfen ihrer zu einem angenehmen Leben. Ich bestreite daher keineswegs, daß die Menschen einander unter dem Zwang ihrer Natur regelrecht bedürfen. Staaten sind jedoch nicht bloße gesellschaftliche Zusammenschlüsse, sondern Bündnisse, zu deren Zustandekommen Eide und Übereinkommen notwendig sind. Kindern und Ungebildeten ist dergleichen in seiner Bedeutung allerdings ebenso unbekannt, wie diejenigen keine Ahnung von dem Nutzen haben, der sich daraus ergibt, die die Nachteile ihres Mangels noch nicht selbst erfahren haben. Und deshalb würde es in einem solchen Fall zu einer Erneuerung einer bürgerlichen Gesellschaft nicht kommen, da die einen nicht wissen, welche Bedeutung Eiden und Übereinkommen zukommt, und sich die anderen nicht darum kümmern, da sie sich ihres Nutzens nicht bewußt sind. Es ist also offensichtlich, daß alle Menschen (da alle Menschen als Kinder geboren werden) als zur Gesellschaft ungeeignet geboren werden, und sehr viele (vielleicht die meisten) bleiben es auch ihr ganzes Leben lang, sei es auf Grund mangelnden Verstands oder auf Grund mangelnder Kenntnisse [Unterweisung]. Sowohl als Kinder als auch als Erwachsene haben sie jedoch [wenigstens] eine menschliche Natur. Und daher ist der Mensch zwar nicht von Natur aus zur Gesellschaft geeignet, wohl aber durch Unterweisung [durch eine entsprechende Einrichtung]. Überdies, selbst wenn der Mensch unter Bedingungen geboren wäre, die ihn nach einer Gesellschaft 88 4 Anthropologie trachten ließen, so folgt daraus gleichwohl nicht, daß er von Geburt an auch dazu fähig sei, gesellschaftliche Bande einzugehen. Nach etwas zu trachten, ist eine Sache, die Fähigkeit dazu zu haben, eine andere. So trachten bekanntlich sogar jene danach, die sich auf Grund ihres Hochmuts nicht dazu herablassen, für sich die gleichen Bedingungen gelten zu lassen, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen kann. Anmerkung in wechselseitiger Furcht] Man hat eingewandt, unter den Menschen könne es auf Grund von Furcht zur Bildung einer bürgerlichen Gesellschaft schon deshalb nicht kommen, da sie in einem solchen Fall nicht einmal die Gegenwart der jeweils anderen ertragen könnten. Dabei, so meine ich, setzt man allerdings voraus, daß Furcht nichts anderes als ein gewaltiger Schrecken sei. Ich verstehe unter diesem Wort aber jede Vorwegnahme kommenden Unheils. Meines Erachtens fürchten sich nicht erst die, die die Flucht ergreifen, sondern auch die, die Mißtrauen hegen [diffidere], Verdacht haben, vorsichtig sind und Vorsorge walten lassen, um nichts fürchten zu müssen. Wer sich schlafen legt, verschließt die Türen; wer eine Reise macht, nimmt aus Furcht vor Banditen eine Waffe mit sich. Staaten schützen ihre Grenzen durch Festungswerke, ihre Städte durch Mauern, und das alles aus Furcht vor den benachbarten Staaten. Selbst die stärksten und schlagfertigsten Heere verhandeln mitunter über den Frieden, weil sie die Macht des Gegners fürchten und einer Niederlage zuvorkommen wollen. Wenn sie glauben, sich anders nicht helfen zu können, so schützen sich die Menschen in der Tat dadurch, daß sie aus Furcht die Flucht ergreifen oder Schlupfwinkel aufsuchen: Meist aber greifen sie zu den Waffen und anderen Verteidigungsmitteln, und jeder ist dann so mutig, so weit zu gehen, die Sinnesart des jeweils anderen auf die Probe zu stellen. Sei es nun, daß sie kämpfen oder sich gütlich einigen - aus dem Sieg oder der Einigung pflegt wiederum der Staat hervorzugehen. III. Die Menschen sind von Natur einander gleich. Der Grund für die gegenseitige Furcht hat zum Teil mit der natürlichen Gleichheit der Menschen zu tun und zum Teil mit deren Wunsch, sich gegenseitig zu schaden. Man kann daher weder von anderen Sicherheit erwarten, noch vermag man sie sich selbst zu verschaffen. Schaut 89 Vom Bürger man sich erwachsene Menschen an und wird sich dessen bewußt, wie hinfällig der menschliche Körper seinem gesamten Bau nach ist (mit seinem Zusammenbruch schwinden dem Menschen auch alle anderen Kräfte, körperlicher wie geistiger Art) und wie leicht es daher selbst für einen höchst Schwachen sein kann, jemanden zu Fall zu bringen, der sehr viel stärker ist, so gibt es für niemanden einen Grund, im Vertrauen auf die je eigene Kraft sich anderen gegenüber von Natur aus überlegen zu dünken. Einander gleich sind diejenigen, die einander Gleiches antun können; diejenigen aber, die zum Schlimmsten in der Lage sind, nämlich zu töten, können Gleiches tun. Und deshalb sind alle Menschen von Natur einander gleich. Die jetzt bestehende Ungleichheit ist durch das bürgerliche Gesetz eingeführt worden. Leviathan T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 6 . K a p . : Vo n d e n i n n e r e n A n f ä n g e n d e r w i l l e n t l i c h e n B e w e g u n g e n , d i e m a n g e w ö h n l i c h L e i d e n s c h a f t e n n e n n t , u n d d e n A u s d r ü c k e n , w o m i t s i e b e z e i c h n e t w e r d e n In den Tieren gibt es zwei Arten von Bewegungen, die ihnen eigentümlich sind. Die eine wird vital genannt; sie begann mit der Zeugung und setzte sich ununterbrochen durch das ganze Leben fort. Dazu gehören Blutkreislauf, Pulsschlag, Atmung, Verdauung, Ernährung, Ausscheidung usw. Diese Bewegungen bedürfen keiner Unterstützung durch die Vorstellungskraft. Die andere Art heißt animalische Bewegung, auch willentliche Bewegung genannt, wie Gehen, Sprechen, das Bewegen eines unserer Glieder auf die Weise, wie wir es zuerst in unserem Geist vorgestellt hatten. Daß Empfindung eine Bewegung in den Organen und inneren Teilen des menschlichen Körpers ist, hervorgerufen durch die Wirkung der Dinge, die wir sehen, hören usw., und die Vorstellung nur die Überreste derselben Bewegung, die nach der Empfindung zurückbleiben, wurde schon im ersten und zweiten Kapitel gesagt. Und weil Gehen, Sprechen und ähnliche willentliche Bewegungen immer von einem vorher gedachten Wohin, Wodurch und Was abhängen, ist 90 4 Anthropologie es klar, daß die Vorstellung der erste innere Anfang aller willentlichen Bewegung ist. Und obwohl Laien sich dort, wo das bewegte Ding unsichtbar oder die Strecke, auf der es bewegt wird, wegen ihrer Kürze nicht wahrnehmbar ist, überhaupt keine Bewegung vorstellen können, so verhindert dies doch nicht, daß solche Bewegungen existieren. Denn mag eine Strecke noch so klein sein: Wird etwas über eine größere Strecke bewegt, wovon jene kleine ein Teil ist, so muß es zuerst über die kleine bewegt werden. Diese kleinen Anfänge der Bewegung, die sich im menschlichen Körper befinden, bevor sie als Gehen, Sprechen, Schlagen und andere sichtbare Handlungen in Erscheinung treten, werden gewöhnlich Streben genannt. Dieses Streben nennt man Trieb oder Verlangen 11 , wenn es auf etwas gerichtet ist, durch das es verursacht wird. Der letzte Ausdruck ist die allgemeine Benennung, und der andere wird oft auf die Bezeichnung des Verlangens nach Nahrung, nämlich von Hunger und Durst, beschränkt. Und führt das Streben von etwas weg, so nennt man es gewöhnlich Abneigung. Die Wörter Trieb und Abneigung kommen aus dem Lateinischen 12 und bedeuten beide Bewegungen, das eine die des Annäherns, das andere die des Zurückweichens. Das gleiche bedeuten auch die griechischen Wörter für diese Begriffe, όρμὴ und ἀφορμὴ . Denn die Natur selbst drängt den Menschen oftmals solche Wahrheiten auf, über die sie später stolpern, wenn sie etwas jenseits der Natur Liegendes suchen. Denn die Schulen finden in dem bloßen Trieb zum Gehen oder Sich- Bewegen überhaupt keine wirkliche Bewegung. Weil sie aber irgendeine Bewegung anerkennen müssen, nennen sie sie bildliche Bewegung, was aber nur ein widersinniger Ausdruck ist. Denn Wörter können zwar bildlich genannt werden, Körper und Bewegungen aber nicht. Man sagt auch: Was die Menschen begehren, lieben, und wovon sie Abneigung empfinden, hassen sie. So sind also Verlangen und Liebe dasselbe, außer daß Verlangen immer die Abwesenheit des Objekts bedeutet, Liebe dagegen gewöhnlich seine Anwesenheit. Ebenso bezeichnen wir mit ‚ Abneigung ‘ die Abwesenheit, mit ‚ Haß ‘ die Anwesenheit des Objekts. 91 Leviathan Einig der Triebe und Abneigungen sind den Menschen, angeboren, wie der Nahrungstrieb, der Trieb zur Ausscheidung und Entleerung, die man auch, und zwar genauer, Abneigung gegen etwas, das man im Körper fühlt, nennen könnte. Dazu kommen noch einige - nicht viele - andere Triebe. Der Rest, der aus Verlangen nach einzelnen Dingen besteht, ging aus der Erfahrung und aus der Erprobung ihrer Wirkungen auf einen selbst oder auf andere Menschen hervor. Denn nach Dingen, die wir überhaupt nicht kennen oder an deren Existenz wir nicht glauben, können wir kein Verlangen haben, das weiter geht, als sie zu versuchen und zu erproben. Aber Abneigung empfinden wir nicht nur gegen Dinge, von denen wir wissen, daß sie uns geschadet haben, sondern auch gegen solche, von denen wir nicht wissen, ob sie uns schaden werden oder nicht. Dinge, die wir weder begehren noch hassen, verachten wir, wobei Verachtung nichts anderes ist als eine Unbeweglichkeit oder Festigkeit des Herzens im Widerstand gegen die Wirkung gewisser Dinge. Der Grund hierfür ist, daß das Herz schon anderweitig durch stärkere Objekte bewegt wurde, oder daß es keine Erfahrung von ihnen besitzt. Und weil die Verfassung des menschlichen Körpers sich fortwährend ändert, ist es unmöglich, daß alle Dinge in ihm immer die gleichen Neigungen oder Abneigungen verursachen. Noch viel weniger können alle Menschen in dem Verlangen nach ein und demselben Objekt übereinstimmen. Aber was auch immer das Objekt des Triebes oder Verlangens eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut, das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung böse und das seiner Verachtung verächtlich und belanglos. Denn die Wörter gut, böse und verächtlich werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist. Es gibt auch keine allgemeine Regel für Gut und Böse, die aus dem Wesen der Objekte selbst entnommen werden kann. Sie entstammt vielmehr dort, wo es keinen Staat gibt, der Person des Menschen, oder im Staat der Person, die ihn vertritt, oder aber einem Schiedsrichter oder Richter, den uneinige Menschen durch Übereinstimmung einsetzen und dessen Urteil sie zur Richtschnur machen. 92 4 Anthropologie Die lateinische Sprache kennt zwei Wörter, deren Bedeutung an die von gut und böse herankommt, aber nicht genau dieselbe ist, nämlich pulchrum und turpe. Das erste bedeutet das, was durch offensichtliche Anzeichen Gutes, und das zweite, was Böses verspricht. Aber in unserer Sprache gibt es keine Namen, die so allgemein sind, daß man dies damit ausdrücken könnte. Wir sagen vielmehr für pulchrum bei manchen Dingen hübsch, bei anderen schön oder stattlich, prächtig, ehrbar, anmutig, liebenswert, und für turpe schmutzig, entstellt, häßlich, niederträchtig, ekelhaft und dergleichen, wie es der Gegenstand gerade erfordert. Alle diese Wörter bedeuten an der ihr zukommender Stelle nichts anderes als die Miene oder das Aussehen, die Gutes oder Böses versprechen. So gibt es also drei Arten des Guten: Gutes im Versprechen, nämlich pulchrum, Gutes in der Wirkung wie das begehrte Ziel, das jucundum, angenehm, genannt wird, und Gutes hinsichtlich des Mittels, das utile, nützlich nennt. Und es gibt ebenso viele Arten des Bösen, denn man nennt Böses im Versprechen turpe, Böses in der Wirkung und hinsichtlich des Ziels molestum, unangenehm, lästig und Böses hinsichtlich des Mittels inutile, unnütz, schädlich. Wie ich schon oben sagte, ist bei der Empfindung das, was sich wirklich in uns befindet, nur Bewegung, hervorgerufen durch die Wirkung äußerer Objekte, die aber für das Sehvermögen als Licht und Farbe, für das Ohr als Ton, für die Nase als Geruch usw. erscheinen. Ebenso ist auch, wenn sich die Einwirkung des gleichen Objekts von den Augen, Ohren und anderen Organen auf das Herz zu fortsetzt, die eigentliche Wirkung dort nichts anderes als Bewegung oder Streben, die aus Neigung zu oder Abneigung von dem bewegenden Objekt besteht. Aber die Erscheinung oder Empfindung dieser Bewegung nennen wir entweder Lust oder Unlust. [ … ] Entstehen im menschlichen Geist abwechslungsweise Neigungen und Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die ein- und dasselbe Ding betreffen, und fallen uns nacheinander gute und schlechte Folgen ein, die sich ergeben, wenn wir das in Frage stehende Ding tun oder unterlassen, so daß wir manchmal eine Neigung dazu, manchmal eine Abneigung dagegen verspüren und manchmal hoffen, dazu in der Lage zu sein, dann wieder verzweifeln 93 Leviathan oder uns davor fürchten, es zu versuchen, so nennen wir die gesamte Summe der Verlangen, Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die sich fortsetzen, bis das Ding entweder getan oder für unmöglich gehalten wird, Überlegung. Deshalb gibt es bei vergangenen Dingen keine Überlegung, da es offensichtlich unmöglich ist, sie zu ändern, ebenso nicht bei Dingen, von denen man weiß oder meint, daß sie unmöglich sind, da man weiß oder meint, daß eine solche Überlegung vergeblich wäre. Aber bei unmöglichen Dingen, die wir für möglich halten, können wir Überlegungen anstellen, da wir die Vergeblichkeit nicht wissen. Und Überlegung wird dies deshalb genannt, weil wir damit der Freiheit des Tuns oder Unterlassens, die wir zuvor je nach unserer Neigung oder Abneigung hatten, ein Ende setzen. 13 Diese abwechselnde Folge von Neigungen, Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen kommt bei anderen Lebewesen genauso vor wie beim Menschen und deshalb überlegen auch Tiere. Ständigen Erfolg im Erlangen der Dinge, die man von Zeit zu Zeit begehrt, das heißt ständiges Wohlergehen, nennt man Glückseligkeit. Ich meine dabei die Glückseligkeit in diesem Leben. Denn solange wir hienieden leben, gibt es so etwas wie beständigen Seelenfrieden nicht, da das Leben selbst nichts anderes als Bewegung ist und deshalb nie ohne Verlangen und Furcht sein kann, ebensowenig wie ohne Empfindung. Welche Art von Glückseligkeit Gott denen zugedacht hat, die ihn fromm verehren, wird der Mensch erst dann wissen, wenn er sich ihrer erfreut, da dies Freuden sind, die hier ebenso unbegreiflich sind, wie das scholastische Wort glückseliges Schauen unverständlich ist. T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 1 0 . K a p . : Vo n M a c h t , We r t , W ü r d e , E h r e u n d W ü r d i g k e i t Die Macht eines Menschen besteht, allgemein genommen, in seinen gegenwärtigen Mitteln zur Erlangung eines zukünftigen anscheinenden Guts und ist entweder ursprünglich oder zweckdienlich. Natürliche Macht ist das Herausragen der körperlichen oder geistigen Fähigkeiten, wie außerordentliche Stärke, Schönheit, Klug- 94 4 Anthropologie heit, Geschicklichkeit, Beredsamkeit, Freigebigkeit und Vornehmheit. Zweckdienlich ist die Macht, die durch natürliche Macht oder durch Zufall erlangt wird und als Mittel oder Instrument zum Erwerb von mehr Macht dient, wie Reichtum, Ansehen, Freunde und das verborgene Wirken Gottes, das man gewöhnlich Glück nennt. Denn die Natur der Macht ist in diesem Falle dem Gerücht ähnlich, das mit seiner Verbreitung zunimmt, oder der Bewegung schwerer Körper, die desto schneller wird, je weiter sie sich fortbewegen. Die größte menschliche Macht ist diejenige, welche aus der Macht sehr vieler Menschen zusammengesetzt ist, die durch Übereinstimmung zu einer einzigen natürlichen oder bürgerlichen Person vereint sind, der die ganze Macht dieser Menschen, die ihrem Willen unterworfen ist, zur Verfügung steht, wie z. B. die Macht eines Staates. Oder die Macht ist dem Willen jedes einzelnen unterworfen, wie die Macht einer Partei oder verschiedener verbündeter Parteien. 14 Deshalb ist es Macht, Diener zu haben, Freunde zu haben ebenfalls, denn sie sind vereinte Kräfte. Ebenso ist Reichtum, verbunden mit Freigebigkeit, Macht, da er Freunde und Diener verschafft - ohne Freigebigkeit aber nicht, denn in diesem Fall schützt er nicht, sondern setzt uns dem Neid als Beute aus. Im Ruf von Macht stehen ist Macht, weil dies die Anhängerschaft von Schutzbedürftigen nach sich zieht. In dem Ruf stehen, von seinem Land geliebt zu werden, Volkstümlichkeit genannt, ist aus demselben Grunde Macht. Ebenso ist jede Eigenschaft Macht, die einem Menschen die Liebe oder die Furcht vieler einbringt, oder der Ruf einer solchen Eigenschaft, da sie ein Mittel ist, die Hilfe und den Dienst vieler zu erlangen. Glücklicher Erfolg ist Macht, da er zu dem Ruf von Weisheit oder großem Glück führt. Er veranlaßt die Menschen, jemanden zu fürchten oder ihm zu vertrauen. Die Leutseligkeit von Menschen, die schon Macht besitzen, ist ein Zuwachs an Macht, denn sie weckt Liebe. Im Ruf stehen, in Frieden und Krieg Klugheit in der Führung gezeigt zu haben, ist Macht, denn klugen Leuten vertrauen wir gerner als anderen die Herrschaft über uns an. 95 Leviathan Adel ist nicht überall Macht, sondern nur in den Staaten, wo er Vorrechte besitzt, denn in solchen Vorrechten besteht seine Macht. Beredsamkeit ist Macht, denn sie ist anscheinende Klugheit. Schönheit ist Macht, denn da sie Gutes verspricht, erwirbt man dadurch leicht die Gunst von Frauen und Fremden. Die Wissenschaften sind eine geringe Macht, da sie nicht auffallen und deshalb nicht von jedermann anerkannt werden: überhaupt besitzen sie nur wenige Leute, und diese nur von wenigen Gegenständen. Denn es liegt in der Natur der Wissenschaft, daß sie nur von denjenigen verstanden werden kann, die schon ein gutes Stück in sie eingedrungen sind. Künste von öffentlichem Nutzen wie Festungsbau und Herstellen von Kriegsmaschinen und anderen Kriegswerkzeugen sind Macht, da sie zur Verteidigung und zum Sieg beitragen. Und obwohl ihre wahre Mutter die Wissenschaft, nämlich die Mathematik, ist, so werden sie doch, da sie durch die Hand des Konstrukteurs ans Licht gebracht werden, für ein Kind seines Geistes gehalten - wobei die Hebamme wie beim einfachen Volk für die Mutter gilt. Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis. Das heißt, er richtet sich danach, wieviel man für die Benützung seiner Macht bezahlen würde und ist deshalb nicht absolut, sondern von dem Bedarf und der Einschätzung eines anderen abhängig. Ein fähiger Heerführer ist zur Zeit eines herrschenden oder drohenden Krieges sehr teuer, im Frieden jedoch nicht. Ein gelehrter und unbestechlicher Richter ist in Friedenszeiten von hohem Wert, dagegen nicht im Krieg. Und wie bei anderen Dingen, so bestimmt auch bei den Menschen nicht der Verkäufer den Preis, sondern der Käufer. Denn mag jemand, wie es die meisten Leute tun, sich selbst den höchsten Wert beimessen, so ist doch sein wahrer Wert nicht höher, als er von anderen geschätzt wird. Das Kundtun des Werts, den wir uns gegenseitig beimessen, nennt man gewöhnlich ehren und entehren. Jemanden hoch einschätzen heißt ihn ehren, ihn niedrig einschätzen heißt ihn entehren. Hoch und niedrig ist in diesem Falle aber als Vergleich mit dem Rang zu verstehen, den jedermann sich selbst beilegt. Der öffentliche Wert eines Menschen, nämlich der Wert, der ihm vom Staat beigemessen wird, wird gewöhnlich Würde genannt. 96 4 Anthropologie Unter dieser Wertschätzung durch den Staat werden obrigkeitliche und richterliche Ämter, öffentliche Stellungen oder Bezeichnungen und Titel verstanden, die zur Auszeichnung eines solchen Wertes eingeführt worden sind. Einen anderen um die Hilfe irgendeiner Art bitten heißt ihn ehren, da dies ein Zeichen unserer Meinung ist, es stehe in seiner Macht zu helfen, und je schwieriger die Hilfe ist, desto größer ist die Ehre. Gehorchen heißt ehren, denn niemand gehorcht Leuten, von denen er annimmt, daß sie keine Macht haben, ihm zu helfen oder zu schaden. Und folglich heißt nicht gehorchen entehren. Jemandem große Geschenke machen heißt ihn ehren, da dies ein Kauf von Schutz und eine Anerkennung von Macht ist. Kleine Geschenke machen heißt entehren, denn sie sind nur Almosen und bedeuten, daß man der Ansicht sei, der Empfänger bedürfe kleiner Unterstützungen. Das Wohl eines anderen eifrig fördern und ihm schmeicheln heißt ehren, da dies ein Zeichen ist, daß wir seinen Schutz oder seine Hilfe suchen. Sich nicht darum zu kümmern heißt entehren. Einem anderen einen Vorteil überlassen oder einräumen heißt ehren, da dies das Zugeständnis von größerer Macht bedeutet. Sich anmaßend verhalten heißt entehren. Einen anderen Beweis von Liebe oder Furcht geben heißt ehren, denn lieben wie fürchten bedeutet einen Wert beimessen. Verachten oder weniger lieben oder fürchten, als es jemand erwartet, heißt entehren, da dies soviel wie unterbewerten bedeutet. Loben, preisen oder glücklich nennen heißt ehren, da nur Güte, Macht und Glück geschätzt werden. Schmähen, spotten oder bemitleiden heißt entehren. Jemanden wohlüberlegt anreden und anständig und bescheiden vor ihm auftreten heißt ihn ehren, denn dies sind Zeichen von Furcht, ihn zu beleidigen. Ihn unbedacht anreden oder vor seinen Augen etwas Unanständiges, Schmutziges oder Schamloses tun beißt entehren. Einem anderen glauben, vertrauen und sich auf ihn verlassen heißt ihn ehren, da dies ein Zeichen ist, daß wir ihm Wert und Macht zuschreiben. Einem mißtrauen oder nicht glauben heißt entehren. Auf den Rat eines Menschen oder seine sonstigen Reden hören heißt ehren, da dies ein Zeichen dafür ist, daß wir ihn für klug, beredt 97 Leviathan oder geistreich halten. Währenddessen schlafen, weggehen oder reden heißt entehren. Einem anderen erweisen, was er für ein Zeichen von Ehrerbietung ansieht oder was Gesetz und Gewohnheit dazu machen, heißt ehren, denn indem man die von anderen bezeugte Ehrerbietung billigt, anerkennt man die Macht, die andere anerkennen. Dies unterlassen heißt entehren. Jemandens Meinung zustimmen heißt ehren, da dies ein Zeichen der Anerkennung seiner Urteilskraft und Klugheit ist. Nicht zustimmen heißt entehren und bedeutet den Vorwurf des Irrtums und, wenn man in vielen Dingen nicht zustimmt, der Verrücktheit. Nachahmen heißt ehren, da dies leidenschaftlich billigen bedeutet. Jemandens Feinde nachahmen heißt entehren. Menschen ehren, die ein anderer ehrt, heißt diesen selbst ehren, da dies ein Zeichen der Anerkennung seiner Urteilskraft ist. Seine Feinde ehren heißt ihn selbst entehren. Bei einem Rat oder einem schwierigen Unternehmen die Dienste eines anderen in Anspruch nehmen heißt ehren, da dies ein Zeichen dafür ist, daß wir ihm Klugheit oder eine andere Macht zuschreiben. In solchen Fällen die Dienste derer, die sich anbieten, ablehnen, heißt entehren. Alle diese Arten des Ehrens sind natürlich und kommen innerhalb und außerhalb eines Staates vor. Aber im Staate, wo derjenige oder diejenigen, welche die höchste Autorität besitzen, nach Belieben festsetzen können, was als Zeichen von Ehre gilt, gibt es andere Ehren. Ein Souverän ehrt einen Untertanen durch alle Titel, Ämter, Beschäftigungen oder Handlungen, die er als Zeichen seines Willens ausersieht, ihn zu ehren. [ … ] T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 1 1 . K a p . : Vo n d e r Ve r s c h i e d e n h e i t d e r S i t t e n Unter Sitten verstehe ich hier nicht geziemendes Betragen, z. B. wie man einen anderen grüßen, in Gesellschaft den Mund wischen oder die Zähne stochern soll, oder andere Regeln der Anstandslehre, sondern diejenigen Eigenschaften der Menschheit, die ihr Zusam- 98 4 Anthropologie menleben in Frieden und Eintracht betreffen. Hierbei haben wir zu beachten, daß die Glückseligkeit dieses Lebens nicht in der zufriedenen Seelenruhe besteht. Denn es gibt kein finis ultimus, d. h. letztes Ziel, oder summum bonum, d. h. höchstes Gut, von welchen in den Schriften der alten Moralphilosophen die Rede ist. Auch kann ein Mensch, der keine Wünsche mehr hat, so wenig weiterleben wie einer, dessen Empfindungen und Vorstellungen zum Stillstand gekommen sind. Glückseligkeit ist ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstandes nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand führt. Der Grund hierfür liegt darin, daß es Gegenstand menschlichen Verlangens ist, nicht nur einmal und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu genießen, sondern sicherzustellen, daß seinem zukünftigen Verlangen nichts im Wege steht. Und deshalb gehen die willentlichen Handlungen und Neigungen aller Menschen nicht nur darauf aus, sich ein zufriedenes Leben zu verschaffen, sondern auch darauf, es zu sichern. Sie unterscheiden sich nur im Weg: dies kommt teils von der Verschiedenheit der Leidenschaften bei verschiedenen Menschen, teils von ihrenunterschiedlichen Kenntnissen oder Meinungen, die jeder einzelne von den Ursachen hat, die die begehrten Wirkungen hervorbringen. [ … ] Wetteifer um Reichtum, Ehre, Befehlsgewalt oder eine andere Macht führt zu Streit, Feindschaft und Krieg, da der Weg des einen Bewerbers zur Erlangung seines Wunsches dazu führt, den anderen zu töten, zu unterwerfen, zu verdrängen oder zurückzuwerfen. Teilweise führt der Wetteifer um Anerkennung zur Verehrung des Altertums. Denn man kämpft nur mit Lebenden, nicht mit Toten, wenn man diesen mehr zuschreibt als ihnen eigentlich zukommt, damit sie den Ruhm des anderen verdunkeln. Das Verlangen nach angenehmem Leben und sinnlichem Vergnügen veranlaßt die Menschen, einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen, denn durch dieses Verlangen gibt man den Schutz auf, den man von eigener Anstrengung und Arbeit hätte erhoffen können. Furcht vor Tod und Mißhandlungen bewirkt aus dem gleichen Grund dasselbe. Umgekehrt sind arme und robuste, mit ihrer gegenwärtigen Lage unzufriedene Männer sowie solche, die ehrgeizig ein 99 Leviathan militärisches Kommando anstreben, geneigt, die Ursachen eines Kriegs andauern zu lassen und Wirren und Aufruhr anzuzetteln. Denn militärische Ehren gibt es nur im Krieg, und für ein schlecht stehendes Spiel besteht nur Hoffnung, wenn man erreicht, daß die Karten von neuem gemischt werden. Das Verlangen nach Wissen und friedlichen Künsten macht die Menschen dazu neigt, einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen, denn ein solcher Wunsch enthält das Verlangen nach Muße und folglich nach Schutz durch eine andere Macht als die eigene. Das Verlangen nach Anerkennung reizt zu lobenswerten Handlungen, die denen gefallen, deren Urteil man schätzt, denn das Lob derer, die wir verachten, verachten wir ebenfalls. Das Verlangen nach Nachruhm bewirkt dasselbe. Und obwohl man nach dem Tode die Anerkennung, die uns auf Erden zuteil wird, nicht empfindet, da diese Freuden entweder durch die unaussprechlichen himmlischen Freuden übertönt oder durch die äußersten Höllenqualen ausgelöscht werden, so ist dieser Ruhm dennoch nicht fruchtlos, denn man empfindet gegenwärtige Freude an dem Vorgefühl und an den Vorteilen, die dadurch der Nachkommenschaft erwachsen können. Obwohl man dies jetzt nicht sieht, so kann man es sich doch vorstellen, und alles, was für die Empfindung Lust ist, ist es auch in der Vorstellung. [ … ] T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 1 3 . K a p . : Vo n d e r n a t ü r l i c h e n B e d i n g u n g d e r M e n s c h h e i t i m H i n b l i c k a u f i h r G l ü c k u n d U n g l ü c k Die Natur hat die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß trotz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist als der andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebensogut für sich verlangen dürfte. Denn was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten - entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden. 100 4 Anthropologie Und was die geistigen Fähigkeiten betrifft, so finde ich, daß die Gleichheit unter den Menschen noch größer ist als bei der Körperstärke - einmal abgesehen von den auf Wörtern beruhenden Künsten und besonders von der Fertigkeit, nach allgemeinen und unfehlbaren Regeln vorzugehen, was man Wissenschaft nennt. Diese beherrschen nur wenige und nur in wenigen Dingen, da sie weder eine mit uns geborene, angeborene Fähigkeit ist, noch durch Beschäftigung mit irgendeinem anderen Gegenstand erworben wird wie die Klugheit. Denn Klugheit ist nur Erfahrung, die alle Menschen, die sich gleich lang mit den gleichen Dingen beschäftigen, gleichermaßen erwerben. Was diese Gleichheit vielleicht unglaubwürdig erscheinen läßt, ist nur eine selbstgefällige Eingenommenheit von der eigenen Weisheit, von der fast alle Menschen annehmen, sie besäßen sie. In höherem Maße als das gewöhnliche Volk, das heißt, als jedermann außer ihnen selbst und einigen anderen, die sie wegen ihres Rufes oder weil sie mit ihnen übereinstimmen, anerkennen. Denn die Natur der Menschen ist so beschaffen, daß sie, wie sehr sie auch den größeren Witz, die größere Beredsamkeit oder Gelehrsamkeit anderer anerkennen, doch kaum annehmen, es gebe viele, die so weise sind wie sie, denn sie sehen ihren eigenen Verstand unmittelbar vor Augen und den anderer Menschen über eine Entfernung. Aber das beweist eher, daß die Menschen in dieser Hinsicht gleich, als daß sie ungleich sind. Denn es gibt gewöhnlich kein besseres Zeichen der gleichmäßigen Verteilung eines Dings, als daß jedermann mit seinem Anteil zufrieden ist. Aus dieser Gleichheit der Fähigkeiten entsteht eine Gleichheit der Hoffnung, unsere Absichten erreichen zu können. Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, dann werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen. Daher kommt es auch, daß, wenn jemand ein geeignetes Stück Land anpflanzt, einsät, bebaut oder besitzt und ein Angreifer nur die Macht eines einzelnen zu fürchten hat, mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß andere mit vereinten Kräften anrücken, um ihn von seinem Besitz zu vertreiben und ihn nicht nur der Früchte seiner Arbeit, sondern auch seines Lebens und seiner 101 Leviathan Freiheit zu berauben. Und dem Angreifer wiederum droht die gleiche Gefahr von einem anderen. Und wegen dieses gegenseitigen Mißtrauens gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden. Und dies ist nicht mehr, als seine Selbsterhaltung erfordert und ist allgemein erlaubt. Auch weil es einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben, könnten andere, die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden, sich durch bloße Verteidigung unmöglich lange halten, wenn sie nicht durch Angriff, ihre Macht vermehrten. Und da folglich eine solche Vermehrung der Herrschaft über Menschen zur Selbsterhaltung eines Menschen notwendig ist, muß sie ihm erlaubt werden. Ferner empfinden die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen, sondern im Gegenteil großen Verdruß, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern. Denn jedermann sieht darauf, daß ihn sein Nebenmann ebenso schätzt, wie er sich selbst einschätzt, und auf alle Zeichen von Verachtung oder Unterschätzung hin ist er von Natur aus bestrebt, soweit er es sich getraut (was bei weitem genügt, Menschen, über denen keine allgemeine, sie zum Stillhalten zwingende Macht steht, dazu zu bewegen, daß sie sich gegenseitig vernichten), seinen Verächtern durch Schädigung und den anderen Menschen durch das Exempel größere Wertschätzung abzunötigen. So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen 15 , drittens Ruhmsucht. Die erste führt zu Übergriffen der Menschen des Gewinnes, die zweite der Sicherheit und die dritte des Ansehens wegen. Die ersten wenden Gewalt an, um sich zum Herrn über andere Männer und deren Frauen, Kinder und Vieh zu machen, die zweiten, um dies zu verteidigen und die dritten wegen Kleinigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln, eine verschiedene Meinung oder jedes andere Zeichen von 102 4 Anthropologie Geringschätzung, das entweder direkt gegen sie selbst gerichtet ist oder in einem Tadel ihrer Verwandtschaft, ihrer Freunde, ihres Volks, ihres Berufs oder ihres Namens besteht. Daraus ergibt sich klar, daß die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden. Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist. Und deshalb gehört zum Wesen des Krieges der Begriff Zeit, wie zum Wesen des Wetters. Denn wie das Wesen des schlechten Wetters nicht in ein oder zwei Regenschauern liegt, sondern in einer Neigung hierzu während mehrerer Tage, so besteht das Wesen des Kriegs nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden. Deshalb trifft alles, was Kriegszeiten mit sich bringen, in denen jeder eines jeden Feind ist, auch für die Zeit zu, während der die Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigene Stärke und Erfindungskraft bieten. In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes - das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz. [ … ] Vielleicht kann man die Ansicht vertreten, daß es eine solche Zeit und einen Kriegszustand wie den beschriebenen niemals gab, und ich glaube, daß er so niemals allgemein auf der ganzen Welt bestand. Aber es gibt viele Gebiete, wo man jetzt noch so lebt. 16 Denn die wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas besitzen überhaupt keine Regierung, ausgenommen die Regierung über kleine Familien, deren Eintracht von der natürlichen Lust abhängt und die bis 103 Leviathan zum heutigen Tag auf jene tierische Weise leben, die ich oben beschrieben habe. Wie dem auch sei - man kann die Lebensweise, die dort, wo keine allgemeine Gewalt zu fürchten ist, herrschen würde, aus der Lebensweise ersehen, in die solche Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung gelebt hatten, in einem Bürgerkrieg abzusinken pflegen. Aber obwohl es niemals eine Zeit gegeben hat, in der sich einzelne Menschen im Zustand des gegenseitigen Krieges befanden, so befinden sich doch zu allen Zeiten Könige und souveräne Machthaber auf Grund ihrer Unabhängigkeit in ständigen Eifersüchteleien und verhalten sich wie Gladiatoren: sie richten ihre Waffen gegeneinander und lassen sich nicht aus den Augen - das heißt, sie haben ihre Festungen, Garnisonen und Geschütze an den Grenzen ihrer Reiche und ihre ständigen Spione bei ihren Nachbarn. Das ist eine kriegerische Haltung. Weil sie aber dadurch den Fleiß ihrer Untertanen fördern, so folgt daraus nicht dieses Elend, das die Freiheit von Einzelmenschen begleitet. Eine weitere Folge dieses Krieges eines jeden gegen jeden ist, daß nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit. Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gehören weder zu den körperlichen noch zu den geistigen Tugenden. Gehörten sie dazu, so müßten sie in einem Menschen, der sich allein auf der Welt befände, ebenso vorkommen wie seine Sinne und Leidenschaften. Sie sind Eigenschaften, die sich auf den in der Gesellschaft, nicht in der Einsamkeit befindlichen Menschen beziehen. Eine weitere Folge dieses Zustandes ist, daß es weder Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein gibt, sondern daß jedem nur das gehört, was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es zu behaupten vermag. Und soviel über den elenden Zustand, in den der Mensch durch die reine Natur tatsächlich versetzt wird, wenn auch mit einer Möglichkeit, herauszukommen, die teils in den Leidenschaften, teils in seiner Vernunft liegt. Die Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen 104 4 Anthropologie Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können. Und die Vernunft legt die geeigneten Grundsätze des Friedens nahe, auf Grund derer die Menschen zur Übereinstimmung gebracht werden können. Diese Gebote sind das, was sonst auch Gesetze der Natur genannt wird. In den beiden folgenden Kapiteln werde ich näher auf Einzelheiten eingehen. Vom Menschen K a p i t e l X I : Vo m B e g e h r e n u n d Ve r m e i d e n , v o m E r f r e u l i c h e n u n d U n a n g e n e h m e n u n d v o n d e r e n U r s a c h e n 4. Alle Dinge, die begehrt werden, bezeichnet man, da sie ja begehrt werden, allgemein als gut [ein Gut]; alle Dinge, die wir vermeiden, als schlecht [ein Übel]. Daher hat Aristoteles richtig definiert, ein Gut sei, wonach alle streben. Da aber verschiedene Menschen verschiedene Dinge begehren und vermeiden, so muß es viele Dinge geben, die für einige gut [Güter], für andere schlecht [Übel] sind sowie für unsere Feinde das schlecht [ein Übel] ist, was für uns gut [ein Gut] ist. Gut und schlecht stehen also mit dem Begehren und dem Vermeiden in einem unmittelbaren Zusammenhang. Ein Gut kann allgemein sein und man kann zutreffend von etwas sagen, daß es gemeinhin ein Gut ist, das heißt für viele von Nutzen, oder [beziehungsweise] gut für den Staat. Man kann bisweilen auch von einem Gut für alle sprechen, wie etwa von der Gesundheit. Aber auch diese Redeweise steht in Beziehung zu etwas, und daher darf man nicht von einem Gut schlechthin reden. Denn jedes Gut ist gut für irgendwelche oder irgendeinen Menschen. Gut war ursprünglich alles, was Gott schuf. Warum? Weil ihm selbst alle seine Werke gefielen. Man sagt auch, Gott sei gut zu allen, die seinen Namen anrufen, nicht aber zu jenen, die seinen Namen lästern. Ob etwas als gut bezeichnet wird, ist also abhängig von der jeweiligen Person, dem jeweiligen Ort und der jeweiligen Zeit. Was einem Menschen hier oder jetzt gefällt, mißfällt einem anderen anderswo oder später. Und ebenso kommen die übrigen Umstände in Betracht. Das Wesen 105 Vom Menschen von gut [des Guten] und schlecht [des Schlechten] ergibt sich nämlich συντυχίαν [aus der Natur der jeweiligen Bedingungen]. [ … ] 6. Das erste Gut aber ist für jeden die Selbsterhaltung. Die Natur hat es nämlich so eingerichtet, daß alle ihr eigenes Wohlergehen wünschen. Um das erlangen zu können, müssen sie Leben und Gesundheit wünschen und für beides, soweit es möglich ist, Gewähr für die Zukunft. Auf der anderen Seite steht unter allen Übeln an erster Stelle der Tod, besonders der Tod unter Qualen. Denn die Leiden des Lebens können so groß werden, daß sie, wenn ihr nahes Ende nicht abzusehen ist, uns den Tod als ein Gut erscheinen lassen. Macht ist, wenn sie bedeutend ist, ein Gut, da sie zu unserem Schutz nützlich ist. Auf dem Schutz aber beruht unsere Sicherheit. Wenn die Macht nicht bedeutend ist, ist sie unnütz; denn was alle gleichermaßen besitzen, bedeutet nichts. Freundschaften sind ein Gut, da sie nützlich sind. Denn Freundschaften tragen ganz besonders zum Schutz bei. Daher sind Feindschaften etwas Schlechtes, da sie Gefahren mit sich bringen und uns des Schutzes berauben. 7. Reichtum, sofern er überaus groß ist (Lucullus zufolge ist derjenige reich, der aus eigenen Mitteln ein ganzes Heer erhalten könnte), ist etwas Nützliches. Er stellt nämlich nahezu sicheren Schutz dar. Auch mäßiger Reichtum ist für diejenigen nützlich, die ihn zu ihrem Schutz verwenden, da man dadurch Freundschaften gewinnt. Freundschaften aber dienen dem Schutz. Wer seinen Reichtum dazu allerdings nicht verwendet, fordert Haß und Neid heraus. Reichtum ist also nur ein scheinbares Gut. Reichtum, der nicht ererbt, sondern durch eigenen Fleiß erworben ist, ist ein Gut, denn er ist etwas Erfreuliches. Er erscheint jedem nämlich als ein Beweis seiner eigenen Klugheit. Not oder auch Armut, bei der man des Notwendigsten entbehrt, ist schlecht, da es ein Übel ist, der lebensnotwendigen Güter bedürftig zu sein. Armut ohne Bedürftigkeit ist ein Gut. Sie bewahrt den Betreffenden vor Neid, Verleumdung und Verfolgung. 8. Weisheit ist etwas Nützliches. Denn sie trägt zum Schutz beträchtlich bei. Sie ist aber auch um ihrer selbst willen erstrebenswert, das heißt, sie ist etwas Erfreuliches. Auch ist sie etwas 106 4 Anthropologie Ansehnliches, da sie schwer zu erwerben ist. Unwissenheit ist ein Übel; denn sie schützt uns nicht und läßt uns drohendes Unglück nicht voraussehen. Das Verlangen nach Reichtum ist größer als das nach Weisheit. Gewöhnlich wird diese nämlich sogar nur um jenes willen erstrebt. Verfügen die Menschen [hingegen] über jenes [Reichtum], so wollen sie, daß es wenigstens so aussieht, als ob sie auch dieses [Weisheit] hätten. Es ist nämlich nicht so, daß derjenige, der weise ist (wie die Stoiker behauptet haben) reich ist, vielmehr möchte, wer reich ist, weise genannt werden. Weisheit bringt mehr Ruhm ein als Reichtum. Das letztere pflegt nämlich als ein Zeichen für jenes gehalten zu werden. Bedürftigkeit bringt geringere Schande als Torheit, da man für jene die Ungunst des Schicksals verantwortlich machen kann. Für diese dagegen nur die Natur. Torheit ist allerdings erträglicher als Bedürftigkeit. Jene stellt nämlich (wie man sagt) keine Last im eigentlichen Sinne dar. [ … ] 15. Über die erfreulichen Dinge, bei denen es eine Sättigung gibt, wie im Falle der leiblichen Genüsse, will ich nicht sprechen, weil bei ihnen der Genuß durch den Überdruß aufgewogen wird und da sie sowohl allzu bekannt sind als auch einige von ihnen anstößig. Das höchste Gut oder, wie man es nennt, die Glückseligkeit, und das letzte Ziel kann man in diesem Leben nicht erlangen. Denn gesetzt, das letzte Ziel ist erreicht, so wird nichts mehr ersehnt, nichts mehr begehrt. Daraus folgt, daß es von diesem Zeitpunkt an für den Menschen kein Gut mehr gibt, ja daß der Mensch überhaupt nicht mehr empfindet [wahrnimmt]. Denn jede Empfindung [Wahrnehmung] ist mit einem Begehren oder Vermeiden [einer Abneigung) verbunden, und nicht empfinden heißt so viel wie nicht leben. Das größte der Güter aber ist ein ungehindertes Fortschreiten zu immer weiteren Zielen. Selbst der Genuß des Begehrten ist, während wir genießen, ein Begehren, das heißt eine seelische [bewußtseinsmäßige] Erregung des Genießenden durch die Teile des Gegenstandes, der genossen wird. Denn das Leben ist beständige Bewegung, die in sich selbst kreist, wenn sie geraden Weges nicht fortschreiten kann. 107 Vom Menschen 5 Staatsphilosophie Einleitung Hobbes ʼ Staatsphilosophie schließt sich unmittelbar an die politische Anthropologie an. Sie beginnt mit den dort angekündigten Naturgesetzen, erörtert den Begriff des Staates und dessen Ursachen sowie den Begriff des Souveräns mit dessen verschiedenen Arten. Unter den Naturgesetzen versteht Hobbes nicht wie heute Gesetze, die die Naturwissenschaften erforschen, sondern Gesetze, die zwar ebenso als „ unveränderlich und ewig “ gelten, aber das menschliche Zusammenleben betreffen. Sie haben insofern einen moralischen Charakter, als sie im Gewissen verpflichten. Überdies kommen sie von Gott, laut Hobbes freilich nur deshalb, weil sie in der Bibel als Wort Gottes geoffenbart wurden. Im Rahmen der Moral, für Hobbes eventuell treffender: Quasi-Moral, da sie sich vom Selbsterhaltungs- und Friedensinteresse her rechtfertigen, sind sie für jenen Anteil zuständig, deren Anerkennung die Menschen einander schulden. Hobbes ʼ Naturgesetze bilden also den Kern seiner Rechtsmoral. Dem Philosophen zufolge gibt es für die Überwindung des lebens- und freiheitsdrohenden Naturzustandes eine einzige Möglichkeit. Jeder Mensch muß freiwillig auf das verzichten, was die genannte Bedrohung zur Folge hat: die Schrankenlosigkeit seines Glücksverlangens. An dessen Stelle soll jenes Maß an Freiheit treten, das man auch jedem Mitmenschen zuzubilligen gewillt ist. Darin besteht allerdings erst das zweite Naturgesetz, denn systematisch gesehen muß man zuvor - erstes Naturgesetz - den Frieden suchen und ihn einhalten. Die Aufforderung des zweiten Naturgesetzes, eine wechselseitige Freiheitseinschränkung und gleichzeitige Freiheitssicherung vorzunehmen, entspricht einem in vielen Kulturen anerkannten Grundsatz, der Goldenen Regel. Hobbes zitiert sie in der Fassung der Bibel. Damit versichert er sich im Vorübergehen eines gemeinsamen Nenners der damals streitenden christlichen Konfessionen, womit er ihnen eine Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens aufzeigt. Die genannte freiwillig vorgenommene Wechselseitigkeit beläuft sich auf einen Vertrag, seiner grundlegenden Bedrohung wegen auf einen Urvertrag. Das dritte Naturgesetz, „ Quelle und Ursprung der Gerechtigkeit “ , besagt, abgeschlossene Verträge sind zu halten. Weil die Gefahr droht, daß die Verträge nur zum Schein abgeschlossen oder bei einer sich bietenden Gelegenheit gebrochen werden, braucht es eine diese Gefahr überwindende Instanz. Um ihren Zweck zu erfüllen, muß sie über den Vertragsparteien stehen, mächtiger als sie alle sein und dank ihrer überlegenen Macht die Vertragstreue durchsetzen. Eine derart höchste, insofern souveräne Macht entspricht einer öffentlichen staatlichen Gewalt, der gegenüber jeder Bürger ein Untertan ist. Nach den Utopien eines herrschaftsfreien, eines an-archaischen Zusammenlebens ist die Errichtung einer öffentlichen Gewalt, so gerecht sie auch sein mag, ein „ Sündenfall “ , von dem die Menschen sich radikal freimachen sollen. Für Hobbes hingegen bringt die Schaffung der öffentlichen Gewalt eine „ Erlösung “ von der Wolfsnatur des im Naturzustand lebenden Menschen. Der Staat erhält dadurch den Rang eines Gottes, im Unterschied zum eigentlichen Gott freilich bloß den Rang eines sterblichen Gottes. Als nähere Gestalt dieses sterblichen Gottes, des Staates, zieht Hobbes zwar die Monarchie vor. Er räumt aber ein, daß die Souveränität, statt einem einzelnen Herrscher zuzukommen, auch wie in der Aristokratie einer Gruppe oder wie in der Demokratie allen Bürgern bzw. deren Repräsentanten, dem Parlament, übertragen werden darf. Nach Hobbes ist der Souverän, um wahrhaft Souverän zu sein, allen, sogar den selbsterlassenen Gesetzen enthoben. Er übt eine im wörtlichen Sinn ab-solute, nämlich von allen Gesetzen losgelöste Herrschaft aus. Diese schließt in heutigen Begriffen die Bindung an eine unantastbare Menschenwürde und an unveräußerliche Menschenrechte aus. Hier kann die Kritik, zumindest eine Rückfrage ansetzen: Müssen die Menschen im Urvertrag um des sicheren Friedens willen dem einzusetzenden Souverän eine Blankovollmacht erteilen? Oder dürfen sie einen Vorbehalt machen? Im Gegensatz zu einer rein absolutistischen Interpretation bleibt Hobbes ʼ Souveränitätsbegriff aber an dessen Legitimationsgrundlage, die Selbsterhaltung, zurückgebunden. Je nachdem wie eng oder weit man diese Rückbindung interpretiert, erscheint Hobbes ʼ Staatsverständnis eher als absolutistisch oder eher als liberal. Die drei Friedensleidenschaften, insbesondere die zweite und die dritte, das Verlangen nach einem angenehmen 109 Einleitung Leben und die Möglichkeit, es durch eigene Anstrengung zu erreichen, sprechen zugunsten einer liberalen Deutung. Naturrecht T e i l I , D i e N a t u r d e s M e n s c h e n , K a p i t e l I : A l l g e m e i n e U n t e r t e i l u n g d e r n a t ü r l i c h e n F ä h i g k e i t e n d e s M e n s c h e n 1. Die wahre und einleuchtende Erklärung der Grundzüge von Recht, Natur und Politik, worum es mir hier geht, hängt ab vom Wissen darüber, was die menschliche Natur, was ein politischer Körper und was es ist, das wir ein Gesetz nennen. In dem Maße, in dem betreffs dieser Punkte das Schreiben der Menschen von der Antike an immer weiter zugenommen hat, haben sich auch die Zweifel und die Auseinandersetzungen darüber stets vermehrt. Wahres Wissen aber erzeugt bekanntlich weder Streit noch Meinungsverschiedenheiten, sondern Kenntnis; und aus den gegenwärtigen Diskussionen ist ersichtlich, dass diejenigen, die bisher darüber geschrieben haben, ihren eigenen Gegenstand nicht gut verstanden haben. 2. Ich kann niemandem schaden, selbst wenn ich nicht weniger irre als sie. Immerhin werde ich die Menschen lassen, wie sie sind, in Zweifel und in Streit. Weil ich aber vorhabe, nicht vertrauensvoll irgendwelche Prinzipien zu nehmen, sondern die Menschen nur an das erinnern will, was sie ohnedies schon wissen oder was sie aufgrund eigener Erfahrung doch wissen könnten, so hoffe ich doch, weniger zu irren; und wenn ich es dennoch tue, dann muss es vom zu hastigen Schlussfolgern herrühren, welches ich zu vermeiden suche, so gut ich kann. 3. Sollte ich andererseits (was ja leicht geschehen kann) mit meinem folgerichtigen Denken doch nicht Zustimmung finden bei denen, die im Vertrauen auf ihr eigenes Wissen das Gesagte gar nicht erwägen wollen, dann ist das nicht meine Schuld, sondern die ihre. So wie es meine Aufgabe ist, meine Gründe zu zeigen, so ist es ihre, mir Aufmerksamkeit entgegenzubringen. 110 5 Staatsphilosophie 4. Die Natur des Menschen besteht aus der Summe seiner natürlichen Fähigkeiten und Kräfte, wie z. B. seiner Fähigkeiten zur Ernährung, Bewegung, Fortpflanzung, Sinnesempfindung, Vernunft etc. Diese Kräfte nennen wir gemeinhin natürlich, und sie sind unter den Worten tierisch (animal) und vernünftig (rational) in der Definition7 des Menschen enthalten. 5. Entsprechend den beiden wesentlichen Teilen des Menschen unterscheide ich seine Fähigkeiten in zweierlei Hinsichten, in die Fähigkeiten des Körpers und die Fähigkeiten des Geistes. 6. Sofern eine exakte und ausgeprägte Analyse der körperlichen Fähigkeiten für den gegenwärtigen Zweck nichts Notwendiges ist, werde ich sie nur in diesen drei Kategorien zusammenfassen: Ernährungs-, Bewegungs- und Fortpflanzungskraft. 7. Betreffs der geistigen Fähigkeiten sind es zwei Arten, das Vermögen zur Erkenntnis, zur Einbildung oder zum Begreifen einerseits und die Triebkraft andererseits. K a p i t e l X V: Vo n d e r E n t ä u ß e r u n g d e s n a t ü r l i c h e n R e c h t s d u r c h S c h e n k u n g u n d Ve r e i n b a r u n g 1. Es herrscht bei denen, die bisher dazu geschrieben haben, keine Einigkeit darüber, was das sei, das wir das Recht der Natur nennen. Zum größten Teil haben solche Autoren, die Anlass hatten zu beteuern, dass irgendetwas gegen das Recht der Natur sei, nicht mehr behauptet, als dass dies gegen die Übereinstimmung aller Völker oder gegen die der klügsten und meist zivilisierten Völker wäre. Aber es herrscht keine Einigkeit, wer darüber urteilen soll, welche Völker die klügsten sind. Andere führen ins Treffen, dass das gegen das Recht der Natur sei, was im Gegensatz zur Übereinstimmung der gesamten Menschheit steht, eine Festlegung, die gewiss nicht statthaft ist, weil dann kein Mensch sich am Recht der Natur vergehen könnte; die Natur eines jeden Menschen ist doch in der Natur der Menschheit inbegriffen. Aber soweit als alle Menschen, fortgetragen durch die Gewalt ihrer Leidenschaft und durch schädliche Gewohnheiten, solche Dinge tun, von denen gemeinhin gesagt wird, sie seien gegen das Recht der Natur, ist es nicht die Übereinstimmung der Leidenschaft oder die Über- 111 Naturrecht einstimmung in irgendeinem durch schlechte Gewohnheiten veranlassten Irrtum, die das Recht der Natur ausmacht. Die Vernunft entspricht nicht weniger der menschlichen Natur als die Leidenschaft. Sie ist die gleiche in allen Menschen, denn alle Menschen stimmen im Willen überein, derart gelenkt und regiert zu werden, dass sie das erreichen, wonach sie sich sehnen, nämlich ihr eigenes Wohl, und das ist das Werk der Vernunft. Es kann daher weder ein anderes Recht der Natur geben als die Vernunft selbst, noch kann es andere Gebote des NATÜRLICHEN RECHTS (NATURAL LAW ) geben als diejenigen, die zwischen uns die Wege zum Frieden, wo er erhalten werden kann, und zur Verteidigung, wo er nicht erhalten werden kann, verkünden. 2. Ein Gebot des Rechts der Natur ist es deshalb, dass sich jeder Mensch seines Rechts, das er von Natur aus auf alle Dinge hat, entäußert. Denn wenn unterschiedliche Menschen ein Recht nicht nur auf alle Dinge haben, sondern auch auf andere Personen, dann erwächst, wenn sie dieses Recht gebrauchen, aus dem einen Teil der Überfall und aus dem anderen der Widerstand, und das ist Krieg, was wiederum dem Recht der Natur zuwiderläuft, dessen Summe darin besteht, den Frieden herzustellen. 3. Wenn ein Mensch selbst sich seines Rechts entäußert und begibt, so verzichtet er entweder bloß darauf oder er überträgt es auf einen anderen. VERZICHTEN (RELINQUISH ) heißt, mittels zureichender Zeichen zu erklären, dass es sein Wille ist, nicht länger zu tun, was er vordem seinem Recht gemäß getan hat. Einem anderen das Recht zu ÜBERTRAGEN (TRANSFER) heißt, mittels deutlicher Zeichen einem akzeptierenden Anderen gegenüber zum Ausdruck zu bringen, dass es sein Wille sei, ihm hinsichtlich des zuvor besessen, nun aber übertragenen Rechts keinen Widerstand entgegenzusetzen und ihn nicht zu behindern. In Anbetracht dessen, dass jeder Mensch von Natur aus ein Recht auf alles hat, ist es für einen Menschen unmöglich, einem anderen etwas zu übertragen, was er nicht schon zuvor gehabt hätte. Alles, was ein Mensch bei der Rechteübertragung tut, ist also nicht mehr, als dass er seinen Willen bekundet, demjenigen, dem er das Recht auf diese Weise übertragen hat, die Vorteilsausübung aus diesem Recht ohne Belästigung zu gestatten. Gibt etwa ein Mensch sein Land oder seine Güter einem 112 5 Staatsphilosophie anderen, so begibt er sich des Rechts, das Land zu betreten und Gebrauch von diesem Land oder den Gütern zu machen oder ihn anderweitig am Gebrauch dessen zu hindern, was er ihm gegeben hat. 4. Zwei Dinge also sind es, die bei der Rechteübertragung nötig sind: eines von dem, der überträgt, nämlich die ausreichende Kennzeichnung seines hier vorliegenden Willens; das andere von dem, dem das Recht übertragen wird, und zwar eine ausreichende Erklärung, dass er die Übertragung des Rechts annimmt. Fehlt eines von beiden, dann bleibt das Recht, wo es war. Dabei kann nicht unterstellt werden, dass derjenige, der sein Recht einem gibt, der es nicht annimmt, einfach darauf verzichtet und es also einfach irgendeinem anderen, der es gerade haben will, überträgt; der Grund dafür, das Recht lieber an den einen als an den anderen zu übertragen, liegt doch im Gegenteil in dem einen und nicht in den Übrigen. K a p i t e l X V I : E i n i g e G e s e t z e d e r N a t u r 1. Es ist eine gebräuchliche Redewendung, dass die Natur nichts vergeblich macht. Und es ist mehr als gewiss, dass, so wie die Wahrheit einer Schlussfolgerung nicht mehr ist als die Wahrheit der Prämissen, aus der sie gefolgert wurde, auch die Stärke des Befehls oder des Rechts der Natur nicht mehr ist als die Stärke der Gründe, die dazu führen. Es wäre deshalb das Recht der Natur, wie es in Kap. XV, 2 erwähnt wurde, dass nämlich jeder sich selbst des Rechts begeben sollte etc., völlig nutzlos und ohne jede Wirkung, wenn es nicht ein natürliches Gesetz gäbe, wonach jedermann verpflichtet ist, zu den Verpflichtungen zu stehen, die er eingegangen ist, und sie zu erfüllen. Denn welchen Vorteil hat ein Mensch, wenn alles, was ihm versprochen oder gegeben wird, dann von dem, der es gegeben oder versprochen hat, nicht erfüllt wird oder er sich das Recht vorbehält, was er gegeben hat wieder zurückzunehmen? 2. Den Bruch oder die Verletzung einer Verpflichtung nennen die Menschen RECHTSVERLETZUNG (INJURY ), wobei diese, wenn sie in einer Handlung oder Unterlassung besteht, deshalb UNGE- RECHT (UNJUST ) genannt wird. Denn es ist eine Handlung oder Unterlassung ohne jus oder ohne ein Recht, das zuvor übertragen 113 Naturrecht oder auf das verzichtet wurde. Es besteht in den Handlungen und Gesprächen der Menschen weltweit eine große Ähnlichkeit zwischen dem, was wir Rechtsverletzung oder Ungerechtigkeit nennen, und dem, was wir abwegig (absurd ) in den Argumenten und Streitgesprächen der Schulen nennen. Denn so, wie man dem, der zum Widerspruch gegen eine Behauptung getrieben wird, die er zuvor unterstützt hat, nachsagt, er sei ad absurdum geführt, so sagt man dem nach, der durch Leidenschaft etwas tat oder unterließ, was er zuvor durch Verpflichtung nicht zu tun oder nicht zu unterlassen versprochen hat, dass er eine Ungerechtigkeit begeht. Und in jedem Verstoß gegen eine Verpflichtung ist genau genommen ein sogenannter Widerspruch enthalten. Denn wer sich verpflichtet hat, der will doch, wenn die Zeit kommt, etwas tun oder unterlassen. Und wer irgendeine Handlung setzt, der will sie in derjenigen Gegenwart, die Teil der in der Verpflichtung enthaltenen Zukunft ist; und wer also gegen eine Verpflichtung verstößt, der will das Tun und das Nicht- Tun der gleichen Sache zur gleichen Zeit, was ein glatter Widerspruch ist. Und so ist die Rechtsverletzung ein Irrwitz der Konversation, wie die Absurdität eine Art Ungerechtigkeit im Streitgespräch ist. K a p i t e l X V I I I : E i n e B e s t ä t i g u n g d e r s e l b e n a u s d e m Wo r t G o t t e s 1. Die in den vorigen Kapiteln erwähnten Gesetze heißen deshalb natürliche Gesetze, weil sie Gebote der natürlichen Vernunft sind; und sie heißen auch moralische Gesetze, weil sie sich auf die menschlichen Umgangsformen und den Verkehr untereinander beziehen. Solcherart sind sie, in Anbetracht ihres Schöpfers, des allmächtigen Gottes, auch göttliche Gesetze und müssen also mit den Worten Gottes, wie sie in der Heiligen Schrift offenbart wurden, übereinstimmen; zumindest dürfen sie ihnen nicht widersprechen. Deshalb sollte ich in diesem Kapitel jene Stellen der Bibel anführen, die am meisten mit den angesprochenen Gesetzen übereinstimmen. 2. Zunächst scheint das Wort Gottes das göttliche Gesetz in die Vernunft gelegt zu haben, indem alle derartigen Stellen dasselbe sowohl dem Herzen als auch der Einsicht zuschreiben; etwa Psalm 114 5 Staatsphilosophie 40, 8: Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen. Ebenso Hebr. 10, 16: Nach diesen Tagen will ich meine Gesetze in ihr Herz geben. Psalm 37, 31, wo er von einem rechtschaffenen Menschen sagt: Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen. Psalm 19, 8, 9: Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele. Es gibt den Unverständigen Weisheit und erleuchtet die Augen. Jer. 31, 33: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es in ihr Herz. Und in Johannes 1 wird der Gesetzgeber selbst, der allmächtige Gott, logos genannt, und der logos heißt Vers 4 zufolge Das Licht der Menschen und nach Vers 9: Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, das in die Welt gekommen ist. All das sind Bezeichnungen der natürlichen Vernunft. 3. Und dass das göttliche Gesetz, soweit es die Moral betrifft, aus jenen Geboten besteht, die zum Frieden streben, scheint mir überaus bestätigt zu sein durch die folgenden Bibelstellen: Römer 3, 17, wo die Rechtschaffenheit, also die Erfüllung des Gesetzes, Weg des Friedens genannt wird. Und Psalm 85, 11: Gerechtigkeit und Friede küssen einander; und Matth. 5, 9: Selig, die Frieden stiften. Und in Hebr. 7, 2: Melchisedek, König von Salem, wird unter einem als König der Gerechtigkeit und als König des Friedens beschrieben. Und in Vers 21 wird von unserem Heiland Jesus Christus bezeugt, er sei ein Priester auf ewig nach der Anordnung Melchisedeks, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass die Lehre unseres Heilands Jesus Christus verknüpft ist mit der Erfüllung des Friedensgebots. 4. Dass das natürliche Gesetz unabänderlich ist, wird dadurch zu verstehen gegeben, dass das Priesteramt des Melchisedek immerwährend ist, und zudem durch die Worte unseres Heilands, Matth. 5, 18: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strich/ ein des Gesetzes vergehen, bis alles geschehen ist. 5. Dass die Menschen zu den eingegangenen Verpflichtungen stehen sollen, wird in Psalm 15 gelehrt, wo in Vers 1 die Frage gestellt wird: Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte? etc., was dann in Vers 4 die Antwort findet: Wer zu seinem Schaden geschworen hat, es doch nicht abändert. Und dass die Menschen dankbar sein sollen, auch wenn keine Verpflichtung eingegangen wurde, 5. Mose 25, 4: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul 115 Naturrecht verbinden, was Paulus (Korinth. 9, 9) als nicht für die Ochsen, sondern für die Menschen gemeint ansieht. 6. Dass die Menschen sich mit Gleichheit zufrieden geben sollen, so wie es dem Grundprinzip des natürlichen Rechts entspricht, steht inhaltsgleich im göttlichen Gesetz an zweiter Stelle, Matth. 22, 39, 40: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten; was aber nicht so zu verstehen ist, als ob ein Mensch seines Nächsten Nutzen so sehr zu berücksichtigen hätte wie seinen eigenen oder dass er sein Vermögen unter seinen Nachbarn aufteilen soll, sondern dass er seinem Nachbarn all jene Rechte und Begünstigungen zubilligen soll, die er selbst genießt, und diesem zumessen soll, was auch immer er selbst erwartet, dass ihm selbst zugemessen wird. Das heißt nichts anderes, als dass er bescheiden, demütig und mit der Gleichheit zufrieden sein soll. 7. Und dafür, dass bei der Verteilung von Rechten unter Gleichen diese Verteilung proportional zur Anzahl, also ræqualia ræqualibus [Gleichen Gleiches zuteilen] und proportionalia proportionalibus [nach Verhältnis das Verhältnismäßige zuteilen], gemacht werden muss, haben wir 4. Mose 26, 53, 54, den Befehl Gottes an Moses: Diesen sollst du das Land austeilen zum Erbe nach der Zahl der Namen; vielen sollst du viel zum Erbe geben, und wenigen wenig; jeglichen soll man geben nach ihrer Zahl. Dass die Entscheidung durch das Los ein Mittel zum Frieden ist, sagt uns Sprüche 18, 18: Streitigkeiten beendet das Los, und zwischen Starken entscheidet es. 8. Kein Zweifel kann darin bestehen, dass Anpassung und Vergebung untereinander, welche zuvor als Gebote des natürlichen Rechts aufgestellt wurden, auch göttliches Gesetz sind. Denn sie sind die Essenz der Nächstenliebe, des Zwecks des gesamten Rechts. Dass wir einander nicht tadeln und zurechtweisen sollen, ist die Lehre unseres Heilands, Matth. 7, 1: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet; und Vers 3: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Und auch das Gesetz, das uns verbietet, anderen unseren Rat weiter aufzudrängen, als sie es zugestehen, ist ein göttliches Gesetz. Denn nachdem unsere Wohltätigkeit und unser Wunsch, einander zu 116 5 Staatsphilosophie korrigieren, verworfen werden, ist das Aufdrängen unseres Rates ein Tadel und eine Missbilligung, was der zuletzt angeführten Stelle zufolge verboten ist, wie auch in Römer 14, 12, 13: Jeder von uns wird also für sich selbst Rechenschaft vor Gott ablegen. Lasst uns nun nicht mehr einander richten, sondern richtet vielmehr dieses: dem Bruder nicht einen Anstoß oder ein Ärgernis zu geben. K a p i t e l X I X : Vo n d e r N o t w e n d i g k e i t u n d D e f i n i t i o n e i n e s p o l i t i s c h e n K ö r p e r s 2. Das Sprichwort sagt: Inter arma silent leges [Unter Waffen schweigen die Gesetze]. Es ist daher nur wenig zu sagen betreffs der Gesetze, an die sich die Menschen in Kriegszeiten, in denen jedermanns Leben und Wohlsein der Maßstab seiner Handlungen ist, gegenseitig zu halten haben. So viel gebietet das natürliche Recht aber auch im Krieg: Dass die Menschen nicht die Grausamkeit ihrer vorhandenen Leidenschaften sättigen, wenn sie dadurch ihrem eigenen Gewissen nach keinen kommenden Nutzen vorhersehen. Denn dies lässt keine Notwendigkeit erkennen, sondern eine kriegerische Haltung, die gegen das natürliche Recht ist. Wir lesen, dass in alten Zeiten die Räuberei ein Lebensberuf war, in dem gleichwohl viele, die ihn ausübten, nicht nur das Leben der überfallenen verschonten, sondern ihnen auch diejenigen Sachen beließen, die dazu notwendig waren, ihr Leben, das sie ihnen gewährt haben, zu erhalten, und zwar ihre Ochsen und die Geräte zur Feldbestellung, wiewohl sie alles andere Vieh und Vermögen mitnahmen. Und so wie die Räuberei selbst dem natürlichen Recht zufolge berechtigt war, wegen des Mangels an Sicherheit, sich auf andere Art zu erhalten, so war doch die Ausübung von Grausamkeit durch dasselbe Recht der Natur verboten, soweit nicht Furcht etwas Gegenteiliges nahelegte. Denn nur Furcht kann es rechtfertigen, dem anderen das Leben zu nehmen. Und da die Furcht kaum anders offenkundig gemacht werden kann als durch irgendeine unehrenhafte Handlung, welche dem Gewissen die eigene Schwäche enthüllt, haben sich alle leidenschaftlich mutigen und großmütigen Menschen der Grausamkeit enthalten, da es zwar im Krieg kein Gesetz gibt, dessen Bruch eine Rechtsverletzung wäre, es aber 117 Naturrecht dennoch diejenigen Gesetze gibt, deren Bruch unehrenhaft wäre. Deshalb ist, mit einem Wort gesprochen, im Krieg die Ehre das einzige Gesetz des Handelns; und das Recht zum Krieg ist Voraussicht. [ … ] 6. Immer noch bleibt aber, dass Übereinstimmung (worunter ich das Zusammenfallen der Willen vieler Menschen in einer Handlung verstehe) keine ausreichende Sicherheit für den gemeinsamen Frieden ist, wenn nicht irgendeine gemeinsame Macht errichtet wird, die die Menschen durch die Furcht, die sie ihnen einflößt, dazu nötigt, sowohl den Frieden untereinander einzuhalten als auch ihre Stärken gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinigen. Und damit dies getan werden kann, gibt es keinen anderen vorstellbaren Weg als die Vereinigung (union), wie sie in Kap. XII, 8 bestimmt wird, um die Willen der Vielen im Willen eines Menschen oder in den Willen des größten Teils irgendeiner Anzahl von Menschen miteinzubeziehen oder aufzunehmen, das heißt in den Willen eines Menschen oder einer RATSVERSAMMLUNG (COUNCIL); denn eine Ratsversammlung ist nichts anderes als eine Versammlung von Menschen, die über etwas beraten, was sie insgesamt betrifft. 7. Die Erzeugung einer Vereinigung besteht darin, dass jeder Mensch durch das Eingehen einer Verpflichtung sich gegenüber irgendeinem und demselben Menschen oder gegenüber irgendeiner und derselben Ratsversammlung, deren Mitglieder bestimmt und eingesetzt sind, verbindlich macht, und zwar derart, dass sie alle Handlungen setzen werden, die ihnen dieser Mensch oder diese Ratsversammlung zu tun befiehlt, und keine Handlung vollziehen werden, die er oder sie verbieten oder ihnen befehlen wird, nicht zu tun. 188 Weiters, wenn es eine Ratsversammlung ist, der gegenüber sie die Verpflichtung eingegangen sind, ihren Befehlen zu folgen, dann haben sie sich auch dazu verpflichtet, dass jedermann dies für den Befehl des ganzen Rates ansieht, was der Befehl des größeren Teils dieser Männer ist, aus denen solch eine Ratsversammlung besteht. Und obgleich der Wille eines Menschen nicht freiwillig ist, sondern der Anfang einer freiwilligen Handlung und er also nicht Gegenstand von Beratung und Verpflichtung ist, so ist ein Mensch, der sich dazu verpflichtet hat, seinen Willen dem Befehl eines anderen 118 5 Staatsphilosophie unterzuordnen, dazu angehalten, seine Stärke und Mittel demjenigen abzutreten, demgegenüber er sich verpflichtet hat zu gehorchen; und hierdurch kann derjenige, dem die Befehlsgewalt zukommt, durch den Gebrauch aller ihrer Mittel und Kräfte und durch die daraus erwachsende Schreckensangst ihren Willen zu Einheitlichkeit und Eintracht unter ihnen selbst formen. 8. Ist diese Vereinigung hergestellt, so nennen die Menschen dies heutzutage einen POLITISCHEN KÖRPER (BODY POLITIC ) oder eine bürgerliche Gesellschaft (civil society). Die Griechen nennen sie polis, das heißt eine Stadt, die definiert werden kann als eine Menge (multitude) von Menschen, die zum Zweck ihres allgemeinen Friedens, der gemeinsamen Verteidigung und des gemeinsamen Nutzens durch eine gemeinsame Macht zu einer Person vereinigt ist. [ … ] 10. In allen Städten oder politischen Körpern, die nicht untergeordnet, sondern unabhängig sind, wird der Mensch oder die eine Ratsversammlung, dem oder der gegenüber die einzelnen Mitglieder die gemeinsame Macht eingeräumt haben, SOUVERÄN (SOVE- REIGN ) genannt, und seine Macht ist die herrschaftliche Gewalt (sovereign power). Diese besteht in der Macht und der Stärke, die jedes der Mitglieder durch Eingehen der Verpflichtung von sich auf ihn übertragen hat. Und weil es in Wirklichkeit unmöglich ist, dass irgendein Mensch seine Stärke auf einen anderen überträgt, oder für den anderen, dass er diese entgegennimmt, ist dies so zu verstehen, dass die Übertragung der Macht und Stärke eines Menschen nichts anderes ist als das Ablegen oder Aufgeben seines eigenen Rechts, sich gegen ihn, dem es übertragen wurde, zur Wehr zu setzen. Und jedes Mitglied des politischen Körpers wird als UNTERTAN (SUB- JECT ) des Souveräns bezeichnet. [ … ] T e i l I I , Vo m p o l i t i s c h e n K ö r p e r , K a p i t e l X X : Ü b e r d i e E r f o r d e r n i s s e e i n e r Ve r f a s s u n g f ü r e i n G e m e i n w e s e n 3. Demnach ist die erste Sache , die sie tun müssen, dass jedermann ausdrücklich mit etwas einverstanden ist, wodurch sie ihren Zielen 119 Naturrecht näher kommen können; man kann sich nichts an deres vorstellen als dies: Dass sie den Willen des größeren Teils ihrer Gesamtzahl oder den Willen des größeren Teils irgendeiner bestimmten AnzahJ von Menschen, die von ihnen bestimmt und benannt wurden, oder schließlich dem Willen irgendeines einzelnen Menschen die Erlaubnis geben, für den Willen eines jeden Einzelnen genommen zu werden und diesen zu beinhalten . Haben sie das getan, sind sie vereinigt und ein politischer Kör per. Und wenn für den größeren Teil ihrer Gesamtzah l angenommen wird, die Willen von allen Einzelnen zu beinhalten, dann wird über sie gesagt, sie wären eine DEMOKRATIE (DEMOCRACY ), das heißt, dass dann eine Regierung, in der die Gesamtzahl oder doch so viele, wie es gefällt, zusammengekommen sind, der Souverän und jeder einzelne Mensch ein Untertan ist. Wenn vom größeren Teil einer bestimmten Anzahl der von den Übrigen benannten und bestimmten Männer angenommen wird, dass er die Willen eines jeden der Einzelnen beinhaltet, dann werden sie als eine OLIGARCHIE (OLIGARCHY ) oder ARISTOKRATIE (ARISTOCRACY ) bezeichnet; zwei Worte, die in Einklang mit den verschiedenen Leidenschaften derer, die sie gebrauchen, dieselbe Sache kennzeichnen. Denn wenn die Menschen in diesen Positionen gefallen, dann wird es eine Aristokratie genannt, andernfalls eine Oligarchie; worin diejenigen, die den größeren Teil derjenigen stellen, die die Willen der gesamten Menge bestimmen, der Souverän sind, und jeder Mensch für sich ein Untertan. Wenn schließlich ihre Übereinstimmung dahin geht, dass der Wille eines Menschen, den sie benennen, für die Willen von ihnen allen stehen soll, dann wird ihre Regierung oder Vereinigung MONARCHIE (MONARCHY ) und dieser Mensch als der Souverän bezeichnet, und jeder der Übrigen ist ein Untertan. [ … ] 5. Der Zweck, um dessentwillen ein Mensch sein Recht auf Schutz und Verteidigung durch eigene Macht aufgibt und an einen anderen oder an andere abtritt, ist die dadurch zu erwartende Sicherheit des Schutzes und der Verteidigung durch jene, denen er sie abgetreten hat. Und ein Mensch kann sich dann dem Zustand der Sicherheit zuzählen, wenn er voraussehen kann, dass an ihm keine Gewalt verübt wird, die nicht durch die Macht jenes Souveräns abgeschreckt 120 5 Staatsphilosophie werden kann, dem sich jeder Einzelne von ihnen unterworfen hat. Ohne diese Sicherheit besteht für niemanden ein Grund, sich seiner eigenen Vorteile zu berauben und sich selbst zur Beute anderer zu machen. Wenn also keine derartige herrschaftliche Gewalt errichtet ist, die diese Sicherheit bietet, dann ist es nur allzu verständlich, dass jedermanns Recht zu tun, was auch immer in seinen Augen als gut erscheint, weiterhin bei ihm verbleibt. Und umgekehrt, wo irgendein Untertan sein Recht durch sein eigenes Urteil und Gutdünken in Anspruch nimmt, ist es verständlich, dass jeder Mensch dasselbe Recht hat und dass es folgerichtig überhaupt kein bestehendes Gemeinwesen gibt. Wie weit daher ein Mensch bei der Schaffung eines Gemeinwesens seinen Willen der Macht anderer unterwirft, ergibt sich aus dem Ziel, nämlich der Sicherheit. Denn was auch immer notwendig ist, durch das Eingehen einer Verpflichtung übertragen zu werden, um diese Sicherheit zu erlangen, so viel wird übertragen, denn ansonsten verbleibt jedermann in seiner natürlichen Freiheit, sich selbst zu sichern. [ … ] 8. Und insofern diejenigen durch das Mittel dieses Schwertes der Gerechtigkeit, das sie alle einschüchtert, untereinander in Sicherheit sind, so sind sie dennoch der Gefahr von äußeren Feinden ausgesetzt; wenn nicht irgendwelche Mittel gefunden werden, ihre Stärke und ihre natürlichen Kräfte im Widerstand gegen solche Feinde zu verbinden, dann ist der Friede unter ihnen völlig vergeblich. Und deshalb muss es als eine von allen Mitgliedern eingegangene Verpflichtung verstanden werden, dass sie ihre gesonderten Kräfte für die Verteidigung des Ganzen beisteuern, um dadurch eine Macht für die Verteidigung so hinreichend wie möglich zu machen. Sieht man nun, dass ein jeder schon den Gebrauch seiner Stärke an ihn oder sie übertragen hat, die das Schwert der Gerechtigkeit besitzen, dann heißt dies, dass das Kriegsschwert in denselben Händen liegen muss wie das Schwert der Gerechtigkeit, und folgerichtig sind diese zwei Schwerter nur eines, welches untrennbar und unbedingt notwendig der souveränen Macht angeheftet ist. 13. Die Gesamtheit dieser Souveränitätsrechte, und zwar der unbeschränkbare Gebrauch des Schwertes in Friedens- und in Kriegs- 121 Naturrecht zeiten, das Aufstellen und das Außerkraftsetzen von Gesetzen, die Höchstgerichtsbarkeit und die Entscheidung in allen juristischen und beratenden Verhandlungen, die Ernennung aller Magistrate und Minister samt der anderen mit eingeschlossenen Rechte, machen die souveräne Gewalt im Gemeinwesen nicht weniger unbeschränkt, als jeder Mensch vor der Staatlichkeit für sich selbst unbeschränkt war, das zu tun oder nicht zu tun, was er selbst für gut befand. Menschen, die keine Erfahrung dieses elenden Zustandes haben, auf den die Menschen durch einen langen Krieg herabgesetzt werden, halten diese Bedingung für derart unerträglich, dass es ihnen schwer fällt anzuerkennen, dass das Eingehen dieser Verpflichtungen und diese Unterwerfung ihrerseits, wie sie hier niedergelegt ist, für ihren Frieden jemals notwendig gewesen wären. Und deshalb haben sich manche eingebildet, dass ein Gemeinwesen geschaffen werden könnte, indem die souveräne Gewalt so begrenzt und gemäßigt werden kann, wie sie es sich für sich selbst vorstellen. Beispielsweise nehmen sie an, dass eine Menge von Menschen, die über einige Bestimmungen eine Übereinkunft erzielt haben (die sie sogleich „ Gesetze “ nennen) und die vorschreiben, wie sie regiert werden wollen, und die, nachdem das getan ist, sich sodann auf irgendeinen Menschen oder auf eine Anzahl von Menschen einigen, um die Ausführung dieser Bestimmungen zu beachten und sie zu vollstrecken. Und um ihn oder sie dazu zu befähigen, bewilligen sie ihnen ein bestimmtes Einkommen aus gewissen Ländereien, Steuern, Strafen und dergleichen, und diese sollen dann (wenn vergeudet) nichts mehr bekommen ohne eine neue Bewilligung jener Menschen, die das zunächst erlaubt haben. Und so glauben sie, dass sie ein Gemeinwesen geschaffen hätten, in dem es für jede Privatperson ungesetzlich wäre, sein eigenes Schwert für seine Sicherheit zu gebrauchen, worin sie sich freilich täuschen. [ … ] 18. Die Vernunft lehrt uns, dass ein Mensch, wenn wir ihn außerhalb der Abhängigkeit von Gesetzen und außerhalb von allen Verpflichtungen gegenüber anderen betrachten, frei ist, alles zu tun und wieder rückgängig zu machen und so lange zu überlegen, wie er Lust hat; jedes Glied des Körpers ist dabei dem Willen des ganzen Körpers unterworfen, und die Freiheit besteht hier in nichts anderem als in 122 5 Staatsphilosophie seinen natürlichen Kräften, ohne die er nichts anderes ist als ein seelenloses Geschöpf. Und ebenso lehrt uns die Vernunft auch, dass ein politischer Körper, welcher Art auch immer, der weder einem anderen unterworfen noch durch das Eingehen von Verpflichtungen gebunden ist, frei sein und in allen seinen Handlungen von seinen Mitgliedern, jeder Einzelne an seinem Platz, unterstützt oder wenigstens nicht behindert werden sollte; denn es wäre ansonsten die Macht des politischen Körpers (dessen Substanz darin besteht, dass sich ihm keines seiner Mitglieder widersetzt) gar keine und es wäre auch kein politischer Körper von irgendeinem Nutzen. Und genau dies wird durch den Gebrauch aller Völker und Staaten in der Welt bestätigt. Welches Volk oder welches Gemeinwesen gibt es denn, in dem dieser Mensch oder diese Ratsversammlung gewissermaßen das Ganze ist, das nicht absolute Macht über jeden Einzelnen hätte? Wo gibt es ein Volk oder Gemeinwesen, das nicht in seinen Kriegen die Macht und das Recht hätte, einen General einzusetzen? Die Gewalt eines Generals aber ist absolut, und daher gab es diese absolute Macht auch schon in dem Gemeinwesen, von dem diese Macht herrührt. Denn keine natürliche oder bürgerliche Person kann einem anderen mehr Macht übertragen, als sie selbst besitzt. 19. In jedem Gemeinwesen, in dem den einzelnen Menschen ihr Recht auf Selbsterhaltung vorenthalten wird, gibt es, wie ich schon gezeigt habe, einen absoluten Souverän. Aber in welchem Mann oder in welcher Versammlung von Menschen dieser seinen Ort hat, das ist nicht so offenkundig, als dass es nicht einiger Kennzeichen bedürfte, an denen man ihn erkennen kann. Zunächst ist es ein unfehlbares Merkmal von absoluter Souveränität bei einem Menschen oder einer Versammlung von Menschen, wenn es kein Recht irgendeiner anderen natürlichen oder bürgerlichen Person gibt, diesen Mann zu bestrafen oder die Versammlung aufzulösen. Denn der, der nicht dem Recht gemäß bestraft werden kann, dem kann rechtmäßig auch nicht widerstanden werden; und wem nicht rechtmäßig Widerstand entgegengesetzt werden kann, der hat die Zwangsgewalt über alle Übrigen und kann so deren Handlungen nach seinem Belieben gestalten und regieren; und eben das ist absolute Souveränität. Andererseits ist der, der in einem Gemeinwesen durch irgendjemanden bestraft werden kann, nicht souverän. 123 Naturrecht Denn um zu strafen oder aufzulösen, ist immer eine größere Gewalt erforderlich als die Macht derer, die bestraft oder aufgelöst werden; und es kann diejenige Macht, der eine größere gegenübersteht, nicht souverän genannt werden. Zweitens, der Mann oder die Versammlung, der oder die durch sein oder ihr eigenes, nicht aus dem gegenwärtigen Recht irgendeines anderen abgeleiteten Rechts nach Gutdünken Gesetze machen und aufheben kann, der oder die hat die absolute Herrschaftsgewalt. Es ist ja anzunehmen, dass die Gesetze, die sie erlassen, dem geltenden Recht entsprechend gemacht werden, und deshalb sind die Mitglieder des Gemeinwesens verpflichtet, sie einzuhalten und sich ihrer Vollstreckung nicht zu widersetzen; und dieser Widerstandsverzicht macht die Macht dessen absolut, der sie festgesetzt hat. In ähnlicher Weise ist es Kennzeichen dieser Souveränität, das ursprüngliche Recht auszuüben, Beamte, Richter, Berater und Staatsminister zu ernennen; denn ohne diese Macht kann kein Akt der Herrschaft ausgeführt werden. Schlussendlich und ganz allgemein: Derjenige, der aus eigener Machtvollkommenheit irgendeine Handlung tun kann, die ein anderer desselben Gemeinwesens nicht tun kann, der muss notwendigerweise als derjenige angesehen werden, dem die Herrschaftsmacht zukommt. Denn von Natur aus haben die Menschen das gleiche Recht; diese Ungleichheit muss deshalb aus der Macht des Gemeinwesens herrühren. Wer deshalb irgendeinen Akt gesetzlich aus eigener Befugnis setzt, den ein anderer nicht setzen kann, tut dies vermittels der Macht des Gemeinwesens, die er verkörpert; und das ist absolute Souveränität. [ … ] 2 1 . K a p . : Vo n d e n d r e i A r t e n d e s G e m e i n w e s e n s 1. Wenn ich im vorigen Kapitel ganz allgemein über die Regierungsform (instituted policy) gesprochen habe, so komme ich im nunmehrigen Kapitel auf diese im Besonderen, wie jede von ihnen eingerichtet ist, zu sprechen. Der Zeit nach ist die Demokratie die erste von diesen drei Arten, und das ist notwendigerweise so, denn eine Aristokratie und eine Monarchie bedürfen der Ernennung von Personen, auf die man sich geeinigt hat, einer Einigung, die innerhalb einer großen Menge aus der Zustimmung des größten Teils 124 5 Staatsphilosophie davon bestehen muss; und wo die Stimmen der Mehrheit die Stimmen der Übrigen umfassen, da handelt es sich tatsächlich um Demokratie. 2. Bei der Schaffung einer Demokratie reden wir nicht vom Eingehen einer Verpflichtung zwischen dem Souverän und irgendeinem Untergebenen. Denn während sich die Demokratie bildet, gibt es keinen Souverän, mit dem ein Vertrag zu schließen wäre. Man kann sich doch nicht vorstellen, dass die Menge mit sich selbst, mit irgendeinem einzelnen Menschen oder mit einer bestimmten Anzahl von Menschen, die zu ihr gehören, kontrahiert, um sich selbst zum Souverän zu machen; ebenso wenig, dass sich die Menge, als eine Gesamtheit betrachtet, etwas geben kann, was sie nicht schon zuvor gehabt hätte. Erkennt man, dass die demokratische Souveränität nicht durch das Eingehen einer Verpflichtung auf jemanden übertragen wird (was die Errichtung einer Verbindung und von Herrschaft schon voraussetzt), dann bleibt lediglich, dass sie durch das Eingehen einzelner Verpflichtungen mit jedem Einzelnen übertragen wird. Das heißt, jeder Einzelne geht unter Bedachtnahme auf den Nutzen für seinen eigenen Frieden und für seine Verteidigung gegenüber jedem Einzelnen die Verpflichtung ein, das einzuhalten und zu befolgen, was auch immer die Mehrheit von allen oder die Majorität derjenigen Anzahl von ihnen, die sich an einem bestimmten Ort zu versammeln beliebt, entscheiden oder befehlen sollte. Das ist es, was eine Demokratie entstehen lässt, in der die souveräne Versammlung von den Griechen als Demus (das ist das Volk) bezeichnet wurde, woraus sich Demokratie ableitet. Wo also jeder Mann, so er will, zum höchsten und unabhängigen Gericht kommen und dort seine Stimme abgeben kann, dort wird das Volk als Souverän bezeichnet. [ … ] 5. In allen Demokratien wird die Souveränität immer von einem oder von einigen wenigen Einzelnen ausgeübt, wiewohl doch das Souveränitätsrecht der Versammlung zukommt, die gewissermaßen der Gesamtkörper ist. Denn in so großen Versammlungen, wie sie sein müssen, damit ein jeder Mensch nach Belieben daran teilnehmen kann, gibt es kein anderes Mittel, sich zu beraten und Vorschläge zu machen, als durch lange und geordnete Reden, durch die jedem 125 Naturrecht Mitglied mehr oder weniger Hoffnung gegeben wird, die Versammlung für seine Zwecke einzunehmen und zu beeinflussen. In einer Menge von Sprechern, wo immer entweder einer allein hervorstechend ist oder einige wenige gleichwertig sind, aber den Rest überragen, beeinflussen immer dieser eine oder wenige das Ganze; insofern ist die Demokratie im Ergebnis nichts anderes als eine Aristokratie von Rednern, manchmal unterbrochen von der zeitweiligen Monarchie eines Redners. 6. Sieht man also, dass die Demokratie ihrer Einrichtung nach der Beginn von Aristokratie und Monarchie ist, dann haben wir nächstens zu überlegen, wie sich die Aristokratie aus ihr ableitet. Wenn einzelne Mitglieder des Gemeinwesens, müde geworden, an der Volksversammlung teilzunehmen, weil sie weit weg wohnen, sich um ihre privaten Geschäfte kümmern müssen oder, weil sie unzufrieden mit der Regierung des Volkes sind, sich versammeln, um eine Aristokratie zu schaffen, so ist dazu nichts weiter erforderlich, als der Reihe nach zunächst die Namen derjenigen zu benennen, aus denen sie bestehen soll, ihrer Wahl zuzustimmen und die Mehrheit der Stimmen, um diese Macht, die zuvor dem Volk zukam, an diese Anzahl benannter und ausgewählter Männer zu übertragen. Vom Bürger F r e i h e i t , K a p i t e l I I : Vo m G e s e t z d e r N a t u r i n B e z u g a u f Ve r t r ä g e Das natürliche Gesetz ist also, um es zu definieren, eine Weisung der rechten* Vernunft im Hinblick auf das, was zur Erhaltung von Leib und Leben zu tun und zu lassen ist, um sich dessen so lange wie möglich erfreuen zu können. I. Anmerkung rechten Vernunft] Unter der rechten Vernunft verstehe ich im Falle der natürlichen Verhältnisse der Menschen nicht eine Fähigkeit, die unfehlbar ist, wie dies viele tun, sondern den Akt der Vernunft als solchen, das heißt, die jeweils eigene, wohlüberlegte Urteilsbildung eines jeden im Hinblick auf diejenigen seiner Handlungen, die anderen Menschen zum Nutzen oder zum Schaden gereichen können. Ich sage die „ eigene “ , da es im Unter- 126 5 Staatsphilosophie schied zum Staat, wo von jedem einzelnen Bürger der Beratungsbeschluß des Staates selbst (das heißt, das bürgerliche Gesetz) für die rechte Vernunft gehalten werden muß, außerhalb des Staates - also da, wo niemand die rechte Vernunft von der falschen zu unterscheiden vermag, sofern er sie nicht mit seiner eigenen vergleicht - so ist, daß die Vernunft eines jeden nicht nur den Maßstab für die Handlungen abgibt, die er allein auf seine Gefahr hin unternimmt, sondern auch den Maßstab zur Einschätzung der Vernunft anderer, soweit seine Angelegenheiten davon betroffen sind. „ Wohlüberlegt “ nenne ich eine Urteilsbildung, die sich aus wahren und richtig zusammengestellten Grundsätzen schlußfolgern läßt. Und deshalb hat jede Verletzung der natürlichen Gesetze entweder etwas mit falscher Schlußfolgerung zu tun oder mit der Kurzsichtigkeit von Menschen, die nicht wahrhaben wollen, daß man sein eigenes Leben nur erhalten kann, wenn man sich anderen Menschen gegenüber verpflichtet. Hinsichtlich dieser Pflichten wiederum sind die Grundsätze des rechten Vernunftgebrauchs bereits in den Abschnitten 2, 3, 4, 5, 6 und 7 des ersten Kapitels dargelegt worden. II. Das grundlegende Gesetz der Natur fordert, den Frieden soweit möglich zu suchen und sich anderenfalls zu verteidigen. Das erste und grundlegende Gesetz der Natur besagt, man solle, soweit es möglich ist, den Frieden suchen; anderenfalls solle man sich nach Unterstützung für den Krieg umsehen. Im letzten Abschnitt des vorangehenden Kapitels wurde gezeigt, daß es sich bei dieser Weisung [præceptum] um eine Weisung [dictamen] der rechten Vernunft handelt. Daß die Weisungen der rechten Vernunft die natürlichen Gesetze sind, ist dann als nächstes näher bestimmt worden. Das erste Gesetz ist dieses wiederum deshalb, da sich die übrigen daraus ergeben, indem sie die Wege weisen, die zum Frieden führen oder zur Selbstverteidigung notwendig sind. III. Das erste spezielle Gesetz der Natur verlangt, nicht am Recht auf alles festzuhalten. Eines der natürlichen Gesetze, das sich von diesem grundlegenden ableiten läßt, besagt, daß man nicht auf dem Recht aller auf alles beharren solle, sondern daß einzelne Rechte zu übertragen oder aufzugeben seien. Würde jeder auf seinem Recht auf alles bestehen, so wäre nämlich zwangläufig die Folge davon, daß die einen mit Recht angreifen, die anderen sich mit Recht 127 Vom Bürger verteidigen könnten (denn jeder sucht mit Naturnotwendigkeit seinen Körper und das zum Schutz des Körpers Notwendige zu verteidigen). Also würde Krieg die Folge sein. Und insofern würde derjenige nicht im Sinne des Friedens handeln, das heißt, gegen das natürliche Gesetz verstoßen, der von seinem Recht, das er auf alles hat, nicht abgehen möchte. IV. Was es heißt, sein Recht aufzugeben, und was, es zu übertragen. Ein Recht, das man hat, aufzugeben, heißt, ihm entweder schlechthin zu entsagen oder es auf einen anderen zu übertragen. Schlechthin entsagt derjenige, der mittels einer oder mehrerer geeigneter Bekundungen erklärt, er bestehe nicht länger auf etwas, das er bislang mit Recht tun konnte. Eine Übertragung auf einen anderen findet hingegen statt, sofern man gegenüber einem anderen, der dieses Recht erwerben möchte, mittels einer oder mehrerer geeigneter Bekundungen erklärt, man werde sich ihm nicht widersetzen, wenn er etwas tut, dem man sich zuvor mit Recht hätte widersetzen können. Daß eine Rechtsübertragung nur darin besteht, keinen Widerstand zu leisten, ersieht man wiederum daran, daß derjenige, auf den die Übertragung erfolgt, schon vor dieser Rechtsübertragung das Recht auf alles hatte. Ein neues Recht konnte der andere ihm daher nicht verleihen; vielmehr ist auf Seiten des Übertragenden nur der rechtmäßige Widerstand aufgehoben, der dem anderen den freien Gebrauch seines Rechtes verwehrt hätte. Wer immer deshalb im natürlichen Zustand [unter den natürlichen Verhältnissen] der Menschen ein Recht erwirbt, tut dies lediglich in dem Sinne, daß er von seinem ursprünglichen Recht sicher und frei von rechtmäßiger Beeinträchtigung Gebrauch machen kann. Verkauft oder schenkt beispielsweise jemand einem anderen seinen Besitz, so beraubt er nur sich selbst des Rechts darauf, während alle übrigen es nach wie vor haben. [ … ] IX. Definition für Verträge und Übereinkommen. Wenn zwei oder mehr Personen sich ihre Rechte wechselseitig übertragen, so wird diese Handlung ein VERTRAG genannt. Bei jedem Vertrag erfüllen entweder beide sogleich, worauf sie sich vertraglich geeinigt haben, so daß keiner vom anderen noch etwas zu fordern hat; oder der eine erfüllt und schenkt dem anderen Vertrauen, oder keiner von beiden erfüllt [sogleich]. Wenn beide sogleich erfüllen, so erlischt der 128 5 Staatsphilosophie Vertrag sofort mit der Erfüllung. Wo aber einer Seite Vertrauen geschenkt wird oder auch beide Seiten es sich schenken, da verspricht der, der das Vertrauen genießt, eine spätere Erfüllung, und ein solches Versprechen wird ein ÜBEREINKOMMEN [BÜNDNIS] genannt. [ … ] XIII. Man kann sich Gott durch feierliche. Versprechungen nicht verpflichten. Menschen, die sich ineinem Naturzustand befinden, wo sie durch kein bürgerliches Gesetz gebunden sind, geben feierliche Versprechungen folglich vergebens ab (es sei denn, es würde ihnen durch eine unzweifelhafte Offenbarung der Wille Gottes, ihr Gelübde oder ihre Übereinkommen anzunehmen, bekannt werden). Steht dem, was sie feierlich versprechen, nämlich das Naturgesetz entgegen, so bindet sie ihr feierliches Versprechen nicht, da niemand verpflichtet ist, etwas Unerlaubtes zu tun; ist aber das, was sie geloben, durch irgendein Naturgesetz geboten, so sind sie nicht durch das Gelöbnis, sondern durch das Gesetz gebunden. Stand es ihnen jedoch frei, irgendetwas zu tun oder zu unterlassen, ehe sie ein feierliches Versprechen machten, so bleibt ihnen diese Freiheit; an ein Gelöbnis ist man nämlich nur dann gebunden, wenn der dafür erforderliche, deutlich erklärte Wille des Verpflichtenden vorliegt, was in dem dargelegten Fall jedoch nicht unterstellt werden kann. Unter einem Verpflichtenden verstehe ich den, gegenüber dem jemand gebunden oder verpflichtet ist; unter einem Verpflichteten den, der gebunden ist. XIV. Übereinkommen, die trotz größter Anstrengungen nicht zustandekommen, verpflichten nicht. Übereinkommen kommen nur im Hinblick auf Handlungen zustande, die der Überlegung zugänglich sind; zu einem Übereinkommen kommt es nämlich nicht ohne den Willen derjenigen, die es eingehen. Der Wille aber ist nichts anderes als der letzte Akt im Rahmen einer Überlegung. Übereinkommen können sich also nur auf das beziehen, was möglich ist und in der Zukunft liegt. Niemand kann sich daher durch ein Übereinkommen zu etwas verpflichten, das unmöglich ist. Kommt man dagegen, wie es sehr häufig geschieht, über Dinge überein, die im Augenblick des Versprechens möglich scheinen, deren Unmöglichkeit sich später dennoch ergibt, so werden wir dadurch gleichwohl nicht frei von jeder Verpflichtung. Der Grunddafür ist der, daß 129 Vom Bürger derjenige, der etwas verspricht, das angesichts der Zukunft ungewiß ist, in der Gegenwart davon einen Vorteil unter der Bedingung hat, daß er die Gegenleistung erbringt. Der Wille desjenigen, der einen gegenwärtigen Vorteil einräumt, bezieht sich für ihn nämlich auf ein Gut, das dem Wert der Sache entspricht, die ihm versprochen wurde. Er bezieht sich hingegen nicht auf die Sache selbst, sondern nur in dem Maße, wie sie möglich ist. Sollte es daher tatsächlich so sein, daß sie unmöglich ist, so muß immerhin so viel gewährleistet werden, wie gewährleistet werden kann. Übereinkommen verpflichten daher nicht zur vereinbarten Sache selbst, sondern zur diesbezüglich höchstmöglichen Anstrengung; nur dies allein liegt nämlich in unserer Gewalt, nicht jedoch die Dinge selbst. [ … ] XVIII. Ein Übereinkommen, wonach man sich demjenigen nicht widersetzt, der einem körperlich schaden will, ist unwirksam. Niemand ist durch irgendein Übereinkommen verpflichtet, demjenigen, der ihn töten oder verwunden oder anderweitig körperlich schaden will, keinen Widerstand zu leisten. Bei jedermann gibt es nämlich gleichsam einen Grad höchster Furcht, der ihm das drohende Übel als das schlimmstmögliche erscheinen läßt, so daß jeder so gut er nur kann, einem solchem Zustand mit Naturnotwendigkeit zu entgehen sucht und, so ist anzunehmen, auch gar nicht anderes handeln könnte. Von jemandem, der sich in einer so fürchterlichen Lage befindet, ist also nichts anderes zu erwarten, als daß er sich durch Flucht oder Kampf zu retten versucht. Und da von niemandem Unmögliches verlangt werden kann, sind die, denen der Tod droht (der das größte natürliche Übel ist), oder die nicht stark genug sind, Verwundungen oder andere körperliche Verletzungen zu ertragen, auch nicht dazu verpflichtet, dergleichen hinzunehmen. Überdies, jemandem, der sich durch ein Übereinkommen verpflichtet hat, vertraut man zwar (Vertrauen ist nämlich das einzig Verbindende bei Übereinkommen), da diejenigen aber, die einer Strafe zugeführt werden, sei es einer Todesstrafe oder einer milderen, mit Stricken gefesselt sind oder durch Henkersknechte bewacht werden, so ist dies wohl ein eindeutiges Zeichen dafür, daß man den Betreffenden nicht als jemanden betrachtet, der durch ein Übereinkommen hinlänglich dazu zu verpflichten sei, keinen Widerstand zu leisten. Es ist eben eine Sache, ob man sich dahingehend einigt: Wenn ich bis 130 5 Staatsphilosophie zu einem bestimmten Tag dieses oder jenes nicht getan habe, so töte mich. Und etwas anderes ist es, ob man sagt: Wenn ich es nicht getan haben sollte, werde ich dem, der mich tötet, keinen Widerstand leisten. Auf die erstgenannte Art und Weise werden von jedermann, wenn es nottut, Übereinkommen getroffen, und dies ist mitunter der Fall; auf die zweite Art und Weise geschieht es hingegen nie, und es ist auch niemals nötig. Unter rein natürlichen Verhältnissen hat man nämlich, wenn man jemanden töten möchte, das Recht dazu allein dieses Zustandes wegen; es ist also nicht nötig, erst dahingehend übereinzukommen, um dann im Falle des Wortbruchs töten zu dürfen.Im Falle bürgerlicher Verhältnisse stehen dagegen das Recht über Leben und Tod und alle sonstigen körperlichen Strafen nur dem Staat zu, und keinem einzelnen kann das Recht zu töten eingeräumt werden. Und auch für den Staat selbst bedarf es zur Bestrafung des einzelnen keines Übereinkommens in dem Sinne, daß man einräumt, dergleichen gegebenenfalls hinzunehmen; es genügt schon, daß keiner den anderen davor schützt. Sollte es im Naturzustand, wie dies beispielsweise zwischen zwei Staaten geschehen kann, zu einem Übereinkommen kommen, mit dem man [wie im Falle eines Krieges] das Risiko eingeht, getötet zu werden, falls es nicht erfüllt wird, so ist anzunehmen, daß dem ein Übereinkommen vorausging, demzufolge es dazu, daß man getötet werden kann, nicht vor einem näher bestimmten Tag kommen darf. Wenn daher an diesem Tag die vereinbarte Leistung nicht erbracht ist, so kehrt das Recht auf Krieg zurück, das heißt, es kommt wieder zu feindseligen Verhältnissen, in denen alles, und insofern auch Widerstand, erlaubt ist. Schließlich, würde man sich verpflichten können, Widerstand nicht zu leisten, so wäre man verpflichtet, von zwei Übeln das größere zu wählen. Der sichere Tod ist nämlich ein größeres Übel als der Kampf. Von zwei Übeln das kleinere nicht zu wählen, ist jedoch unmöglich. Ein derartiges Übereinkommen würde folglich zu etwas Unmöglichem verpflichten, was dem Wesen eines Übereinkommens widerstreitet. K a p i t e l I I I : Vo n d e n ü b r i g e n G e s e t z e n d e r N a t u r 1. Das zweite Gesetz der Natur lautet, Übereinkommen sind zu halten. Das zweite der abgeleiteten natürlichen Gesetze besagt, daß 131 Vom Bürger man zu einem Übereinkommen stehen müsse beziehungsweise sein Wort zu halten habe. [ … ] VIII. Das dritte Gesetz der Natur, über Undankbarkeit. Die dritte Weisung des natürlichen Gesetzes lautet: Laß in einer schlimmen Lage denjenigen nicht im Stich, der dir einmal im Vertrauen auf dich Gutes getan hat; oder: Niemand sollte eine Wohltat [beneficium] annehmen, der nicht willens ist, dafür zu sorgen, daß der Wohltäter keinen Grund hat, dies zu bereuen. Wenn dies nicht wäre, wäre es nämlich wider die Vernunft, jemandem eine Gunst [beneficium] zu bezeigen, von der man weiß, daß sie einem nicht gedankt werden wird. Jede Wohltätigkeit und jede Art von Verläßlichkeit unter den Menschen ginge auf diese Weise verloren und damit auch alles Wohlwollen einander gegenüber; es gäbe unter ihnen dann keine Bereitschaft mehr, einander gegenseitig zu helfen, und niemand würde mehr Anlaß zu Zuneigung und Freundschaft geben. Dem grundlegenden Gesetz der Natur entgegen würde es letztlich also beim Kriegszustand bleiben. Da die Verletzung dieses dritten Gesetzes kein Wort- oder Vertragsbruch ist (daß unter den betreffenden Menschen keine Verträge bzw. Übereinkommen geschlossen wurden, wird nämlich angenommen), pflegt man dergleichen allerdings kein Unrecht zu nennen, sondern, da Wohltat und Dankbarkeit einander wechselseitig begünstigen, von U NDANKBARKEIT zu sprechen. H e r r s c h a f t , K a p i t e l V: Vo n d e n U r s a c h e n u n d d e r E n t s t e h u n g d e s S t a a t e s I. Die natürlichen Gesetze genügen zur Erhaltung des Friedens nicht. II. Die Gesetze der Natur schweigen im Naturzustand. III. Die Sicherheit, der es bedarf, um gemäß den Gesetzen der Natur zu leben, besteht in der Übereinstimmung vieler. IV. Zu einem dauerhaften Frieden ist die Übereinstimmung vieler nicht beständig genug. V. Warum Übereinstimmung bei manchen Lebewesen genügt, um eine Regierung zu bilden, nicht aber beim Menschen. VI. Zum Frieden brauchen die Menschen nicht nur eine Übereinstimmung, sondern eine Vereinigung. VII. Was unter einer Vereinigung zu 132 5 Staatsphilosophie verstehen ist. VIII. Mit einer Vereinigung wird das Recht aller auf einen übertragen. IX. Was unter einem Staat zu verstehen ist. X. Was unter einer bürgerlichen [juristischen] Person zu verstehen ist. XI. Was es heißt, die höchste Gewalt innezuhaben, und was unter einem Untertan zu verstehen ist. XII. Zwei Arten von Staaten, natürliche und eingerichtete. [ … ] V. Warum Übereinstimmung bei manchen Lebewesen genügt, um eine Regierung zu bilden, nicht aber beim Menschen. Zu den Lebewesen, die Aristoteles politisch [staatenbildend] nennt, zählt er nicht nur die Menschen, sondern noch viele andere, wie die Ameisen, die Bienen usw., die zwar über keine Vernunft verfügen, um Übereinkommen schließen und sich einer Regierung unterstellen zu können, aber nichtsdestotrotz in allem übereinstimmen, das heißt, dasselbe begehren und verschmähen, so daß ihre Handlungen so sehr auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet sind, daß ihre Zusammenschlüsse keinen Zerwürfnissen preisgegeben sind. Dennoch stellen ihre Zusammenschlüsse [Kolonien, Schwärme, Herden] keine Staaten dar, und deshalb können diese Lebewesen keine politischen genannt werden; ihre Regierung besteht ja nur in ihrer Einheit, dem Verlangen vieler, das sich auf eine Sache konzentriert, aber es herrscht bei ihnen nicht (wie dies für den Staat nötig ist) ein Wille vor. Wahr ist vielmehr, daß bei diesen Geschöpfen, die allein aus Sinnesempfindungen und Begierden heraus leben, die Übereinstimmung hinsichtlich der Bedürfnisse so beständig ist, daß eben nichts weiter als die naturgegebene Begierde nötig ist, damit unter ihnen diese Übereinstimmung besteht und (als Folge davon) der Friede erhalten bleibt. Anders ist es hingegen bei den Menschen. Unter diesen gibt es erstens einen Wettstreit um Ehre [Ansehen] und Rang, der bei den Tieren fehlt; Groll und Mißgunst, aus denen Zwietracht und Krieg hervorgehen, kommen deshalb zwischen den Menschen vor. Zweitens, die natürlichen Bedürfnisse der Bienen und ähnlicher Geschöpfe sind stets die gleichen und tragen zu einem gemeinschaftlichen Gut bei, das sich von demjenigen des einzelnen [Lebewesens] nicht unterscheidet. Dem Menschen hingegen gilt beinahe nichts als ein Gut, sofern es demjenigen, der es besitzt, nicht einen Vorzug und Vorrang vor demjenigen Gut gibt, über das andere verfügen. Drittens, Lebewesen, die keine Vernunft haben, nehmen 133 Vom Bürger bei der Wahrnehmung ihrer gemeinsamen Angelegenheiten keine Mängel wahr oder glauben wenigstens nicht, solche wahrzunehmen; unter den Menschen aber sind sehr viele, die sich für klüger als die übrigen halten und danach trachten, die Verhältnisse neu zu gestalten, untereinander streben sie dies jedoch auf verschiedene Weise an, so daß es zu Zwiespalt und Bürgerkrieg kommen kann. Viertens, die vernunftlosen Lebewesen können von ihrer Stimme zwar einen gewissen Gebrauch machen, um einander ihre Leidenschaften anzuzeigen, aber es geht ihnen die Kunst der Rede ab, die notwendig ist, um untereinander Leidenschaften aufzuwiegeln, das heißt, das Gute als besser und das Schlechte als schlechter hinzustellen, als es eigentlich ist. Die Gabe der Rede, die der Mensch beherrscht, kommt nämlich einer Trompete zu Krieg und Aufruhr gleich, und von Perikles wird berichtet, daß er einst in seinen Reden mit Donnerstimme gesprochen, Blitze geschleudert und ganz Griechenland in Unordnung gebracht habe. Fünftens, die Tiere unterscheiden Unrecht nicht von Schaden. Daß sie ihre Artgenossen schelten, geschieht daher so lange nicht, wie es ihnen selbst gut geht. Bei den Menschen jedoch stellen diejenigen für ihr Gemeinwesen das größte Ärgernis dar, die am meisten zu Müßiggang in der Lage sind; um öffentliches Ansehen wetteifert man für gewöhnlich nämlich erst dann, wenn man im Kampf gegen Hunger und Kälte den Sieg davongetragen hat. Schließlich, die Übereinstimmung der Lebewesen ohne Vernunft kommt auf natürliche Weise zustande; die der Menschen aber beruht lediglich auf Vertrag, das heißt, sie ist künstlicher Natur. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Menschen noch etwas anderes benötigen, damit sie in Frieden miteinander leben können. Eine Übereinkunft [consensio] also oder eine gesellschaftliche Verbindung [societas contracta], die zustande kommt, ohne daß dies zu einer gemeinsamen Macht führt, die die einzelnen durch Furcht vor Bestrafung regiert, bietet nicht die Sicherheit, die erforderlich ist, um im Sinne natürlicher Gerechtigkeit zu handeln. [ … ] IX. Was unter einem Staat zu verstehen ist. Eine Vereinigung, die so zustande kommt, wird ein Staat genannt oder eine bürgerliche Gesellschaft oder auch eine bürgerliche [juristische] Person, denn da alle hier nur einen Willen haben, so gelten sie für eine Person, die 134 5 Staatsphilosophie sich durch diesen einen Namen von allen einzelnen Menschen unterscheidet und dadurch auszeichnet, daß sie eigene Rechte hat und eigenes Eigentum. Deshalb ist weder irgendein Bürger noch sind sie alle zusammen (mit Ausnahme desjenigen, dessen Wille als der Wille aller gilt) als ein Staat zu betrachten. Ein S TAAT ist also (um ihn zu definieren) eine Person, deren Wille kraft eines Übereinkommens mehrerer Menschen als ihrer aller Wille gilt, so daß sie sich für den gemeinsamen Frieden und den Schutz aller der Kräfte und Fähigkeiten der einzelnen [Menschen] bedienen kann. X. Was unter einer bürgerlichen [juristischen] Person zu verstehen ist. Wenngleich jeder Staat eine bürgerliche [juristische] Person ist, so ist doch umgekehrt nicht jede bürgerliche [juristische] Person ein Staat, da sich mehrere Bürger, die staatliche [öffentlichrechtliche] Anerkennung vorausgesetzt, [auch] zu einer Person verbinden können, um gewisse Geschäfte zu betreiben. Diese, wie beispielsweise die Zünfte der Kaufleute und viele andere Vereine, werden damit [ebenfalls] zu bürgerlichen [juristischen] Personen. Dennoch handelt es sich dabei nicht um Staaten, da diejenigen, die sich auf diese Weise vereinigen, ihren Willen nicht schlechthin beziehungsweise in allen Dingen dem Willen des Vereins unterworfen haben, sondern nur in einzelnen, vom Staat [öffentlich-rechtlich] anerkannten Angelegenheiten. Deshalb vermag jeder, wenn er will, einen Prozeß gegen eine solche Körperschaft zu führen, während dies dem Bürger gegenüber dem Staat nicht erlaubt ist. Derartige Gesellschaften sind also bürgerliche [juristische] Personen, die dem Staat untergeordnet bleiben. XI. Was es heißt, die höchste Gewalt innezuhaben, und was unter einem Untertan zu verstehen ist. In jedem Staat kommt demjenigen Menschen oder derjenigen Versammlung, dessen bzw. deren Willen die einzelnen ihren Willen (so wie dies dargelegt wurde) unterworfen haben, die HÖCHSTE M ACHT oder HÖCHSTE G EWALT [S OUVERÄNITÄT ] oder S TAATSGEWALT zu. Diese Macht und dieses Recht zu herrschen besteht darin, daß jeder einzelne Bürger seine ganze Macht und Stärke auf jenen Menschen oder jene Versammlung übertragen hat. Dies kann jedoch (da niemand seine Macht im buchstäblichen Sinn auf andere übertragen kann) auf keine andere Weise geschehen als dadurch, daß jeder auf sein Recht verzichtet, Widerstand zu leisten. 135 Vom Bürger Jeder einzelne Bürger sowie auch jede andere bürgerliche [juristische] Person, die demjenigen untergeordnet ist, der die höchste Gewalt innehat, heißt U NTERTAN . K a p i t e l V I : Vo m R e c h t d e s j e n i g e n , d e m i m S t a a t d i e h ö c h s t e M a c h t z u k o m m t , s e i e s e i n e i n z e l n e r o d e r e i n e Ve r s a m m l u n g I. Außerhalb des Staates kann einer Menge kein Recht zugeschrieben werden noch irgendeine Handlung, wenn nicht jeder dem im einzelnen zugestimmt hat. [ … ] II. Die Errichtung des Staates beginnt mit der Einwilligung in das Recht der Mehrheit. Ferner gilt es zu bedenken, daß (sofern mit der Einsetzung [Konstituierung] des Staates überhaupt ein Anfang gemacht werden können soll) jeder einzelne aus der Menge mit den übrigen darin übereinstimmen muß, in allen Dingen, die Gegenstand ihrer Zusammenkunft sind, das, was die Mehrheit will, für den Willen aller zu halten. Anderenfalls kann nämlich eine Menge von Menschen überhaupt keinen Willen haben, da ihre Neigungen und Wünsche ja durchaus voneinander abweichen. Willigt jemand darin nicht ein, so können die übrigen unter sich einen Staat auch ohne den Betreffenden errichten. Und dem ist so, da der Staat demjenigen gegenüber, der sich diesbezüglich abweichend verhält, sein ursprüngliches Recht beibehält, das heißt, das Recht des Krieges, wie es gegenüber jedem Feind besteht. III. Jeder behält das Recht, sich nach eigenem Gutdünken zu schützen, solange nicht für seine Sicherheit gesorgt ist. In Abschnitt 6 des vorangehenden Kapitels war davon die Rede, daß zur Sicherheit der Menschen nicht nur ihre Übereinstimmung erforderlich ist, sondern auch die Unterwerfung ihrer Willen im Hinblick auf alles das, was zum Frieden und zur Verteidigung notwendig ist. In dieser Vereinigung oder Unterwerfung besteht das Wesen des Staates. Es gilt also zu überlegen, welche Dinge, die im Rahmen der Zusammenkunft [in coetu] der Menschen (deren aller Wille im Willen der Mehrheit aufgeht) vorgebracht, besprochen und beschlossen werden können, für den Frieden und zum Schutz aller unumgänglich sind. Für den Frieden ist es vor allem notwendig, daß 136 5 Staatsphilosophie jeder gegen die Gewalttätigkeit der übrigen so weit geschützt ist, daß er sicher leben kann, das heißt, daß es für ihn keinen triftigen Grund gibt, die anderen fürchten zu müssen, solange er selbst anderen kein Unrecht zufügt. Unmöglich ist es allerdings, die Menschen ganz und gar voreinander zu schützen, so daß sie in gar keinem Fall fürchten müssen, unrechtmäßig verletzt oder getötet zu werden. Dies zu erörtern, kann also nicht Gegenstand der Überlegung sein. Dagegen kann man Vorsorge treffen, daß es keinen triftigen Grund dafür gibt, sich fürchten zu müssen. Sicherheit ist nämlich der Zweck, weshalb sich die Menschen anderen unterwerfen, und wenn diese Sicherheit nicht erlangt werden kann, so ist die Unterwerfung unter andere als gegenstandslos anzusehen und das Recht, sich selbst nach eigenem Gutdünken zu verteidigen, keineswegs verloren. Anzunehmen, die Menschen könnten sich, noch ehe für ihre Sicherheit gesorgt ist, zu etwas verpflichtet beziehungsweise ihr Recht auf alles aufgegeben haben, ist undenkbar. IV. Zur Sicherheit bedarf es einer Zwangsgewalt. [ … ] XVIII. Die Merkmale der höchsten Gewalt. Es ist also klar, daß es in jedem Staat einen Menschen oder eine Versammlung [concilium] oder einen Rat [curiam] gibt, der über die einzelnen Bürger rechtlich eine so große Gewalt hat, wie sie außerhalb des Staates jeder über sich selbst besitzt, das heißt eine höchste oder unumschränkte, die allenfalls durch die [de facto bestehenden] Kräfte [viribus] des Staates eingeschränkt sein kann. Zur Begrenzung dieser Gewalt bedürfte es anderenfalls nämlich einer noch größeren Gewalt, da ja der, der Grenzen vorgibt, eine größere Gewalt haben muß als der, der dadurch eingeschränkt werden soll. Deshalb ist diese einschränkende Gewalt entweder selbst uneingeschränkt oder sie wird wiederum von einer größeren eingeschränkt; und damit gelangt man zuletzt zu einer Gewalt, die letztlich keine andere Schranke kennt außer derjenigen, die in der Macht [virium] aller Bürger zusammen besteht. Genau diese wird auch die höchste Gewalt genannt; und sofern sie einer Versammlung übertragen wird, so wird diese die souveräne Versammlung [concilium supremum] genannt, wird sie aber einem Menschen übertragen, so heißt dieser Mensch der souveräne Gebieter [supremus Dominus] des Staates. Die Merkmale dieser höchsten Gewalt sind der Erlaß und die Aufhebung 137 Vom Bürger von Gesetzen, die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Anhörung und Entscheidung aller Streitigkeiten, entweder in eigener Person oder durch Richter, die von ihr eingesetzt wurden, und die Ernennung aller Beamten, Minister und Ratgeber. Mit einem Wort, demjenigen, der rechtmäßig alles tun kann, was sonst keinem einzelnen Bürger oder mehreren gemeinschaftlich erlaubt ist, kommt die höchste Gewalt im Staat zu; denn das, was mit Recht weder ein einzelner tun kann noch mehrere Bürger tun können, kann nur der Staat selbst tun. Daher übt derjenige, der dies tut, das Recht des Staates aus, das heißt, die höchste Gewalt. XIX. Vergleicht man den Staat mit einem Menschen, so verhält sich derjenige, der die höchste Gewalt innehat, zum Staat wie die menschliche Seele zum Menschen selbst. Beinahe alle, die den Staat und die Bürger mit dem Menschen und dessen Gliedern vergleichen, sagen, daß derjenige, der die höchste Gewalt im Staat innehat, sich zu diesem wie das Haupt zum ganzen Menschen verhalte. Gleichwohl geht aus dem, was im Vorangehenden gesagt wurde, klar hervor, daß derjenige, dem die Herrschaft zukommt (sei er ein Mensch oder eine Versammlung), sich zum Staat nicht wie das Haupt, sondern wie die Seele zum Körper verhält. Diese nämlich ist es, durch die der Mensch einen Willen hat, das heißt, durch die er wollen und nicht wollen kann. Und in dieser und keiner anderen Weise hat auch der Staat nur durch denjenigen einen Willen, dem die höchste Gewalt zukommt, und kann wollen und nicht wollen. Mit dem Haupt kann man eher das Gremium der Ratgeber oder (wenn es ein einzelner ist) den einzelnen Berater selbst vergleichen, dessen Rat sich derjenige, dem die höchste Gewalt zukommt, in den wichtigsten Angelegenheiten beim Regieren des Staates bedient. Wie zu beraten nämlich die Aufgabe des Kopfes ist, so ist zu gebieten diejenige der Seele. K a p i t e l V I I : Vo n d e n d r e i F o r m e n e i n e s S t a a t e s : D e m o k r a t i e , A r i s t o k r a t i e u n d M o n a r c h i e I. Es gibt nur drei Formen von Staat, die Demokratie, die Aristokratie und die Monarchie. Bisher ist über den Staat durch Einsetzung im allgemeinen gesprochen worden. Jetzt gilt es von 138 5 Staatsphilosophie dessen Formen zu sprechen. Der Verschiedenheit der Staaten kommt von der Verschiedenheit der Personen, denen die höchste Gewalt übertragen worden ist. Die höchste Gewalt wird entweder einem Menschen übertragen oder vielen Menschen im Sinne einer Versammlung oder eines Rats. Der Versammlung vieler Menschen wiederum gehören entweder alle Bürger an (so daß jedermann ein Stimmrecht hat und an der Erörterung wichtiger Fragen, sofern er will, teilnehmen kann) oder nur ein Teil derselben. Daraus ergeben sich drei Formen von Staaten: Eine, bei der die höchste Gewalt bei einer Versammlung liegt, in der jeder Bürger ein Stimmrecht hat, und die DEMOKRATIE genannt wird; eine bei der die höchste Gewalt bei einer Versammlung liegt, bei der nicht alle das Stimmrecht haben, sondern nur ein Teil, und die ARIS- TOKRATIE genannt wird; und eine dritte, bei der die höchste Gewalt bei einem allein liegt, und die MONARCHIE genannt wird. Bei der ersten Art wird derjenige, der im Besitz der Macht ist, Δήμοϛ , VOLK genannt; bei der zweiten ADEL; bei der dritten MONARCH. II. Die Oligarchie ist keine von der Aristokratie verschiedene Staatsform, und die Anarchie ist überhaupt kein Staat. In der Antike haben die Verfasser politischer Schriften diesen drei Formen drei andere gegenübergestellt: nämlich der Demokratie die Anarchie oder das Fehlen jeglicher Ordnung; der Aristokratie die Oligarchie, das heißt, die Herrschaft weniger; und der Monarchie die Tyrannis. Dabei handelt es sich allerdings nicht um drei andere Formen des Staates, sondern nur um drei andere Namen, die ihnen diejenigen beilegten, denen entweder die jeweilige Regierung oder die Regierenden mißfallen haben. Denn die Menschen pflegen mit den Namen nicht bloß die Dinge zu bezeichnen, sondern zugleich auch den eigenen Leidenschaften Ausdruck zu verleihen, zum Beispiel der Liebe, dem Haß, dem Zorn usw.; und deshalb nennt der eine Demokratie, was ein anderer Anarchie nennt, und der eine Aristokratie, was ein anderer Oligarchie nennt, und wo der eine von einem König spricht, redet ein anderer von einem Tyrannen. So bezeichnen diese Namen nicht verschiedene Formen des Staates, sondern die verschiedenen Ansichten der Bürger über die Herrschenden. Aber wer bemerkt nicht, daß die Anarchie den Gegensatz 139 Vom Bürger zu allen diesen genannten Formen in gleicher Weise bildet? Denn dieses Wort sagt, daß überhaupt keine Regierung besteht, das heißt, daß gar kein Staat vorhanden ist. Wie kann man aber den Nicht-Staat zu einer Art von Staat machen? Und welcher Unterschied besteht wiederum zwischen der Oligarchie als der Herrschaft der Wenigen oder Mächtigen und der Aristokratie als der Herrschaft der Adeligen [Geeignetsten] oder besser Geeigneten, außer daß die Menschen so verschieden sind, daß nicht alle ein und dasselbe für gut halten und deshalb für die einen diejenigen die Besten zu sein scheinen, die den anderen als die Schlechtesten gelten. H e r r s c h a f t , K a p i t e l X : E i n Ve r g l e i c h d e r d r e i S t a a t s f o r m e n a u f i h r e N a c h t e i l e h i n II. Die Vor- und Nachteile sind bei den Bürgern dieselben wie beim Herrscher. Im 7. Buch, Kap. 14, seiner Politik behauptet Aristoteles, es gebe zwei Arten von Herrschaft, von denen die eine auf den Nutzen des Herrschenden ausgerichtet sei, die andere auf den der Untertanen. Daß es sich da, wo die Bürger gleichsam strenger behandelt werden, um eine Art von Staat, und dort, wo sie milder behandelt werden, um eine andere handeln würde, kann ihm jedoch keinesfalls zugestanden werden. Die Vor- und Nachteile, die sich aus einer Herrschaft ergeben, sind für den Herrschenden und die Untertanen vielmehr dieselben beziehungsweise allen gemeinsam. Die Nachteile, die einzelnen Bürgern durch ein Unglück, eigene Torheit, Nachlässigkeit, Faulheit oder Genußsucht widerfahren, können von den Nachteilen, die die Herrschenden ereilen, zwar unterschieden werden, es handelt sich dabei aber um keine Nachteile, die sich aus der Herrschaft ergeben, da sie in jedem Staat vorkommen können. Treten sie sogleich mit der Errichtung des Staates auf, so lassen sie sich zwar als Nachteile bestimmen, die etwas mit der Herrschaft zu tun haben, aber sie werden die Herrschenden gemeinsam mit den Bürgern treffen, ebenso wie auch die Vorteile daraus gemeinsame sind. So ist fürs erste der größte Vorteil, Frieden und Schutz, für beide derselbe. Sowohl derjenige, der herrscht, als auch derjenige, der beherrscht wird, bedarf zum Schutz seines Lebens der Kräfte aller Mitbürger zugleich. Ebenso trifft das 140 5 Staatsphilosophie größte Unheil, das einen Staat ereilen kann, nämlich Mord und Totschlag unter den Bürgern infolge von Anarchie, denjenigen, der die höchst Gewalt innehat, genauso, wie jeden beliebigen einzelnen Bürger. Zweitens, sofern derjenige, dem die höchste Gewalt zukommt, von den Bürger so hohe Steuern eintreiben sollte, daß sie sich und ihre Familien nicht ernähren und ihre körperlichen Kräfte nicht erhalten können, so ist dieser Nachteil für sie nicht größer als für den Herrscher, der, wie groß seine Reichtümer auch immer sein mögen, ohne die Gesamtheit der Bürger seine Herrschaft und seine Reichtümer nicht zu erhalten vermag. Falls er aber nur so viel Steuern erhebt, wie zur Ausübung [Wahrnehmung] der Herrschaft genügt, so gereicht ihm dies in gleicher Weise zum Vorteil wie den Bürgern im Hinblick auf den gemeinsamen Frieden und Schutz. Es ist auch nicht vorstellbar, wie öffentlicher Reichturn den gewöhnlichen [privatis] Bürgern zum Nachteil gereichen könnte, solange ihnen nicht so viel entzogen wird, daß es ihnen unmöglich ist, sich durch ihre Arbeit die notwendigen Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Geistes- und Körperkräfte zu verschaffen. Von einem solchen Nachteil wäre jedoch auch der Herrscher selbst betroffen, und es hätte auch nichts mit einer schlechten Einrichtung [Institutionalisierung] oder schlechten Ordnung des Staates zu tun (denn in jeder Art von Staat können die Bürger unterdrückt werden), sondern würde von der schlechten Verwaltung eines an sich gut geordneten Staates herrühren. III. Eine Empfehlung zugunsten der Monarchie. Um nun zu zeigen, daß von den genannten Staatsformen, der Demokratie, der Aristokratie und der Monarchie, die Monarchie die beste ist, gilt es, sie im einzelnen auf ihre Vor- und Nachteile hin zu vergleichen. Obwohl uns auch noch anderes die Monarchie als die empfehlenswertere Staatsform nahelegt, so werden wir davon hier jedoch absehen, da es nicht durch Vernunftgründe, sondern durch Beispiele und Zeugnisse geschieht, wenn etwa davon die Rede ist, daß das Universum von einem Gott regiert werde; daß die Alten die monarchische Verfassung allen anderen vorgezogen hätten, indem sie allein Jupiter die Herrschaft über die Götter zuschrieben; daß am Anfang der Geschichte und der Völker die Entscheidungen ihrer Führer als Gesetz gegolten hätten; daß die väterliche Herrschaft, die 141 Vom Bürger von Gott bei der Schöpfung errichtet wurde, eine monarchische gewesen sei; daß die übrigen Herrschaftsformen aus der Monarchie durch die Kunstfertigkeit der Menschen zusammengeflickt worden seien, nachdem sie durch Aufstände in Stücke zerfiel; und daß das Volk Gottes unter Königen gestanden habe. [ … ] Leviathan T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 1 4 . K a p . : Vo m e r s t e n u n d z w e i t e n n a t ü r l i c h e n G e s e t z u n d v o n Ve r t r ä g e n Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt, ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenes Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht. Unter Freiheit versteht man nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes die Abwesenheit äußerer Hindernisse. Diese Hindernisse können einem Menschen oftmals einen Teil seiner Macht wegnehmen, das zu tun, was er möchte, aber sie können ihn nicht daran hindern, die ihm verbliebene Macht so anzuwenden, wie es ihm sein Urteil und seine Vernunft gebieten. Ein Gesetz der Natur, lex naturalis, ist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann. Denn obwohl diejenigen, welche über diesen Gegenstand sprechen, gewöhnlich jus und lex, Recht und Gesetz, durcheinanderbringen, so sollten diese Begriffe doch auseinandergehalten werden. Denn Recht besteht in der Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, während ein Gesetz dazu bestimmt und verpflichtet, etwas zu tun oder zu unterlassen. So unterscheiden sich Gesetz und Recht wie Verpflichtung und Freiheit, die sich in ein- und demselben Fall widersprechen. 142 5 Staatsphilosophie Und weil sich die Menschen, wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt, im Zustand des Kriegs eines jeden gegen jeden befinden, was bedeutet, daß jedermann von seiner eigenen Vernunft angeleitet wird, und weil es nichts gibt, das er nicht möglicherweise zum Schutze seines Lebens gegen seine Feinde verwenden könnte, so folgt daraus, daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen. Und deshalb kann niemand sicher sein, solange dieses Recht eines jeden auf alles besteht, die Zeit über zu leben, die die Natur dem Menschen gewöhnlich einräumt, wie stark und klug er auch sein mag. Folglich ist dies eine Vorschrift oder allgemeine Regel der Vernunft: Jedermann hat sich um Friede zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht. Kann er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des Kriegs verschaffen und sie benützen. Der erste Teil dieser Regel enthält das erste und grundlegende Gesetz der Natur nämlich: Suche Frieden und halte ihn ein. Der zweite Teil enthält den obersten Grundsatz des natürlichen Rechts: Wir sind befugt, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Aus diesem grundlegenden Gesetz der Natur, das den Menschen befiehlt, sich um Frieden zu bemühen, wird das zweite Gesetz der Natur abgeleitet: Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde. Denn solange jemand das Recht beibehält, alles zu tun, was er will, solange befinden sich alle Menschen im Kriegszustand. Verzichten aber andere nicht ebenso wie er auf ihr Recht, so besteht für niemanden Grund, sich seines Rechts zu begeben, denn dies hieße eher, sich selbst als Beute darbieten - wozu niemand verpflichtet ist - als seine Friedensbereitschaft zeigen. Dem entspricht dieses Gesetz der Heiligen Schrift: Was ihr wollt, daß euch andere tun sollen, das tut ihnen, sowie dieses für alle Menschen geltende Gesetz: Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris. Auf das Recht auf irgend etwas verzichten heißt sich der Freiheit begeben, einen anderen daran zu hindern, den Nutzen aus seinem Recht hierauf zu ziehen. Denn verzichtet jemand auf sein Recht oder 143 Leviathan überträgt er es, so gibt er damit niemandem ein Recht, das dieser nicht vorher schon besessen hätte, da es nichts gibt, worauf nicht jedermann von Natur aus ein Recht hätte. Er gibt vielmehr dem anderen nur den Weg frei, damit dieser sein eigenes ursprüngliches Recht ohne eine von ihm verursachte Behinderung ausüben kann, nicht aber ohne Behinderung durch einen anderen. So liegt die Wirkung, die der Wegfall des Rechts eines anderen auf jemanden hat, in einer entsprechenden Verringerung der Hindernisse in der Ausübung seines eigenen ursprünglichen Rechts. Ein Recht wird niedergelegt, indem man entweder einfach darauf verzichtet oder es auf einen anderen überträgt. Einfacher Verzicht liegt dann vor, wenn man sich nicht darum kümmert, wem der Vorteil daraus zufällt, Übertragung, wenn man beabsichtigt, den Vorteil einer gewissen Person oder Personenmehrheit zukommen zu lassen. Und wenn jemand auf irgendeine Weise sein Recht aufgegeben oder übertragen hat, so sagt man, er sei verpflichtet oder gebunden, diejenigen, zu deren Gunsten er dieses Recht übertragen oder aufgegeben hat, nicht an der Wahrnehmung des daraus entspringenden Vorteils zu hindern, und er soll - es sei seine Pflicht - seiner eigenen willentlichen Handlung nicht entgegenhandeln. Und eine solche Behinderung wird Ungerechtigkeit und Unrecht genannt, da sie sine jure geschieht, denn das Recht wurde zuvor aufgegeben oder übertragen. So gleicht also Unrecht oder Ungerechtigkeit in weltlichen Streitigkeiten in gewisser Beziehung dem, was in den Disputationen der Scholastiker Absurdität genannt wird. Denn wie man dort als Absurdität bezeichnet, dem zu widersprechen, was man anfangs behauptet hat, so bezeichnet man es auf weltlichem Gebiet als Ungerechtigkeit und Unrecht, willentlich dem entgegenzuhandeln, was man anfangs willentlich getan hat. [ … ] Immer wenn jemand sein Recht überträgt oder darauf verzichtet, so tut er dies entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft. Denn es handelt sich um eine willentliche Handlung, und Gegenstand der willentlichen Handlungen jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst. Und deshalb gibt es einige Rechte, die niemand durch Worte oder andere Zeichen aufgegeben oder übertragen haben kann, da sich diese Auslegung verbietet. Erstens kann 144 5 Staatsphilosophie niemand das Recht aufgeben, denen Widerstand zu leisten, die ihn mit Gewalt angreifen, um ihm das Leben zu nehmen, da nicht angenommen werden kann, er strebe dadurch nach einem Gut für sich selbst. Dasselbe gilt für Verletzungen, Ketten und Gefängnis, einmal deshalb, weil eine solche Duldung keinen Vorteil nach sich ziehen würde wie etwa die Duldung, daß ein anderer verletzt oder eingesperrt wird, zum andern auch, weil niemand sagen kann, wenn er Leute mit Gewalt gegen sich vorgehen sieht, ob sie seinen Tod beabsichtigen oder nicht. Und letztlich sind Motiv und Zweck, um derentwillen Rechtsverzicht und Rechtsübertragung eingeführt worden sind, nichts anderes als die Sicherheit der Person hinsichtlich ihres Lebens und der Mittel, das Leben so erhalten zu können, daß man seiner nicht überdrüssig wird. Und wenn deshalb jemand durch Worte oder andere Zeichen den Zweck scheinbar preisgibt, zu dem solche Zeichen vorgesehen sind, so ist das nicht so aufzufassen, als habe er dies gemeint oder dies sei sein Wille, sondern daß er nicht wußte, wie solche Worte und Handlungen auszulegen sind. Die wechselseitige Übertragung von Recht nennt man Vertrag. [ … ] Wer ein Recht überträgt, überträgt auch die Mittel zu seinem Genuß, sofern es in seiner Macht steht. So versteht es sich, daß, wer Land verkauft, auch die Pflanzen und alles was darauf wächst, überträgt, und wer eine Mühle verkauft, kann den Bach nicht ableiten, der sie treibt. Ebenso versteht es sich, daß diejenigen, welche jemanden das Recht auf souveräne Herrschaft übertragen, diesem auch das Recht einräumen, Geld zur Unterhaltung von Soldaten zu erheben und Friedensrichter zur Verwaltung der Rechtspflege zu ernennen. Verträge mit wilden Tieren sind unmöglich. Da sie unsere Sprache nicht verstehen, können sie eine Rechtsübertragung weder begreifen noch annehmen, noch können sie ein Recht auf einen anderen übertragen. Und ohne gegenseitige Annahme gibt es keinen Vertrag. Ein Vertrag mit Gott ist nur durch Vermittlung solcher Personen möglich, zu denen Gott entweder durch übernatürliche Offenbarung spricht oder die als seine Stellvertreter unter ihm und in seinem Namen regieren. Denn andernfalls wissen wir nicht, ob unsere Verträge angenommen werden oder nicht. Und deshalb ist auch das 145 Leviathan Gelübde derer nichtig, die etwas einem natürlichen Gesetz Widersprechendes geloben, da es unrecht wäre, dieses Gelübde zu halten. Und handelt es sich um etwas, das von Gesetz der Natur vorgeschrieben wird, so verpflichtet sie nicht das Gelübde, sondern das Gesetz. Der Inhalt oder Gegenstand eines Vertrags ist immer etwas, das einer Überlegung unterliegt. Denn ein Vertragsschluß ist ein Willensakt, das heißt eine Handlung, und zwar die letzte einer Überlegung. Und deshalb faßt man ihn immer als etwas Zukünftiges auf, von dem anzunehmen ist, daß ihn der Vertragsschließende erfüllen kann. Und deshalb kommt auch kein Vertrag zustande, wenn man etwas verspricht, dessen Unmöglichkeit bekannt ist. Wenn sich aber die Unmöglichkeit dessen, was man zuvor für möglich gehalten hatte, erst später herausstellt, so ist der Vertrag gültig und verpflichtet, wenn auch nicht die Sache selbst, so doch etwas Gleichwertiges zu leisten, oder aber, wenn dies ebenfalls unmöglich ist, zu der aufrichtigen Anstrengung, soviel wie möglich zu leisten. Denn zu mehr kann niemand verpflichtet sein. [ … ] Ein Vertrag, sich nicht mit Gewalt gegen Gewalt zu verteidigen, ist immer nichtig. Denn wie ich oben schon gezeigt habe, kann niemand sein Recht, sich vor Tod, Verletzung und Gefangenschaft zu bewahren, übertragen oder darauf verzichten. Das Vermeiden dieser Gefahren ist nämlich der einzige Zweck jeden Rechtsverzichts, und deshalb überträgt das Versprechen, einer Gewalt keinen Widerstand zu leisten, in keinem Vertrag ein Recht, noch ist es verpflichtend. Denn selbst wenn jemand folgenden Vertrag abschließen kann: ‚ Wenn ich dies oder jenes tue, so töte mich ‘ , so kann er den Vertrag nicht so fassen: ‚ Wenn ich dies oder jenes tue, so werde ich dir keinen Widerstand leisten, wenn du mich töten wirst. ‘ Denn der Mensch wählt von Natur aus lieber das kleinere Übel, nämlich die Todesgefahr, wenn er Widerstand leistet, als das größere, den sicheren und sofortigen Tod ohne Widerstand. Die Wahrheit dieser Behauptung geben alle Menschen dadurch zu, daß sie die Verbrecher zur Hinrichtung und ins Gefängnis durch Bewaffnete führen lassen, ungeachtet dessen, daß diese Verbrecher dem 146 5 Staatsphilosophie Gesetz, auf Grund dessen sie verurteilt worden sind, selbst zugestimmt haben. [ … ] Da die Kraft von Worten, wie ich schon oben bemerkt habe, zu schwach ist, um die Menschen zur Erfüllung ihrer Verträge anzuhalten, gibt es in der menschlichen Natur nur zwei denkbare Hilfsmittel zu ihrer Stärkung, und diese sind einmal die Furcht vor den Folgen eines Wortbruches, oder aber das Gefühl des Ruhms oder Stolzes, als jemand dazustehen, der einen Wortbruch nicht nötig hat. Dieser letzte Fall ist ein Edelmut, den man zu selten antrifft, als daß er vorausgesetzt werden könnte, ganz besonders bei Leuten, die Reichtum, Kommandogewalt und sinnlichen Vergnügen nachjagen, und dies ist der größte Teil der Menschheit. Die Leidenschaft, auf die man zählen kann, ist die Furcht, die zwei sehr allgemeine Dinge zum Gegenstand hat: einmal die Macht unsichtbarer Geister und sodann die Macht der Menschen, die der Vertragsbruch schädigt. Obwohl die erste die größere Macht ist, so ist doch die Furcht vor der zweiten gewöhnlich die größere Furcht. Die Furcht vor der ersten Macht ist die eigene Religion jedes Menschen, die schon vor der bürgerlichen Gesellschaft in der Natur des Menschen angelegt ist. Auf die zweite Macht trifft dies nicht zu, sie hat mindestens nicht genügend Gewicht, um die Menschen an ihre Versprechen zu binden, da im reinen Naturzustand die Ungleichheit der Macht nur an dem Ausgang eines Kampfes festgestellt wird. So gibt es also in der Zeit vor der bürgerlichen Gesellschaft oder in ihrer Unterbrechung durch Krieg nichts, was einem Friedensvertrag Kraft verleihen könnte, der gegen die Versuchungen von Habgier, Ehrgeiz, Sinnenlust und anderen starken Trieben geschlossen worden war, außer der Furcht vor der unsichtbaren Macht, die jedermann als Gott verehrt und als Rächer seiner unrechten Handlungen fürchtet. Deshalb ist alles, was zwei keiner bürgerlichen Gewalt unterworfenen Menschen tun können, daß sie sich gegenseitig bei dem Gott, den sie fürchten, schwören lassen. Dieser Schwur oder Eid ist eine dem Versprechen hinzugefügte sprachliche Formel, durch die der Versprechende erklärt, er sage sich im Falle der Nichterfüllung von der Gnade Gottes los, oder er rufe ihn an, damit dieser an ihm Rache nehme. So lautete die heidnische Formel: Andernfalls soll Jupiter mich so töten, wie ich dieses Tier töte. Und unsere Formel lautet: Ich will so oder so 147 Leviathan handeln, so wahr mir Gott helfe. Und dies wird von den Riten und Zeremonien begleitet, die jeder in seiner Religion gebraucht, damit die Furcht vor einem Treubruch um so größer sei. [ … ] T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 1 5 . K a p . : Vo n a n d e r e n n a t ü r l i c h e n G e s e t z e n Aus dem Gesetz der Natur, das uns verpflichtet, auf einen anderen solche Rechte zu übertragen, deren Beibehaltung den Frieden der Menschheit verhindert, folgt ein drittes, nämlich: Abgeschlossene Verträge sind zu halten. Ohne dieses Gesetz sind Verträge unwirksam und nur leere Worte, und wenn das Recht aller auf alles bleibt, befinden wir uns immer noch im Kriegszustand. Und in diesem natürlichen Gesetz liegen Quelle und Ursprung der Gerechtigkeit. Denn wo kein Vertrag vorausging, wurde auch kein Recht übertragen, und jedermann hat ein Recht auf alles; folglich kann keine Handlung ungerecht sein. Wurde aber ein Vertrag abgeschlossen, so ist es ungerecht, ihn zu brechen, und die Definition der Ungerechtigkeit lautet nicht anders als ‚ die Nichterfüllung eines Vertrages ‘ . Und alles, was nicht ungerecht ist, ist gerecht. Weil aber auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Verträge ungültig sind, wenn, wie im letzten Kapitel ausgeführt, eine der beiden Parteien die Nichterfüllung befürchtet, so kann es tatsächlich - obwohl der Ursprung der Gerechtigkeit im Abschluß von Verträgen liegt - solange keine Ungerechtigkeit geben, bis die Ursachen dieser Furcht beseitigt sind. Solange die Menschen im natürlichen Kriegszustand leben, kann dies nicht geschehen. Bevor man deshalb von ‚ gerecht ‘ und ‚ ungerecht ‘ reden kann, muß es eine Zwangsgewalt geben, um die Menschen gleichermaßen durch die Angst vor einer Bestrafung zur Erfüllung ihrer Verträge zu zwingen, die gewichtiger ist als der Vorteil, den sie sich vom Bruch ihres Vertrags erhoffen, und um das Eigentum zu sichern, das die Menschen durch gegenseitigen Vertrag als Entschädigung für das aufgegebene universale Recht erwerben. Eine solche Macht gibt es aber vor Errichtung eines Staates nicht. Dies kann man auch der üblichen scholastischen Definition der Gerechtigkeit entnehmen, 148 5 Staatsphilosophie denn sie lautet: Gerechtigkeit ist der ständige Wille, einem jeden das Seine zu geben. Und deshalb gibt es dort, wo es kein ‚ Mein ‘ , das heißt, kein Eigentum gibt, keine Gerechtigkeit, und wo keine Zwangsgewalt errichtet wurde, das heißt, wo es keinen Staat gibt, gibt es kein Eigentum, da alle ein Recht auf alles haben: deshalb ist nichts ungerecht, wo es keinen Staat gibt. So liegt also das Wesen der Gerechtigkeit im Einhalten gültiger Verträge. Aber die Gültigkeit von Verträgen beginnt erst mit der Errichtung einer bürgerlichen Gewalt, die dazu ausreicht, die Menschen zu ihrer Einhaltung zu zwingen, und mit diesem Zeitpunkt beginnt auch das Eigentum. Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht, und bisweilen sagen sie dies auch offen. Dabei führen sie allen Ernstes an, da jedermann für seine Erhaltung und Befriedigung selbst zu sorgen habe, könne es keinen Grund geben, weshalb nicht jedermann das tun könne, was seiner Ansicht nach dazu führe, und deshalb sei auch das Abschließen oder Nichtabschließen, Halten oder Nichthalten von Verträgen nicht wider die Vernunft, wenn es einem Vorteile einbringe. Sie leugnen dabei nicht, daß es Verträge gibt, und daß sie bisweilen gebrochen, bisweilen gehalten werden und daß ihr Bruch Ungerechtigkeit und ihre Beachtung Gerechtigkeit genannt werden kann, aber sie fragen sich, ob Ungerechtigkeit, die die Furcht vor Gott beseitigt - denn dieselben Narren sagen sich insgeheim, es gebe keinen Gott - , sich nicht bisweilen mit jener Vernunft vereinigen lasse, die jedem Menschen das eigene Wohl befiehlt, insbesondere wenn sie zu einem Vorteil führt, der uns in die Lage versetzt, nicht nur Tadel und Schmähungen, sondern auch die Macht anderer Menschen zu mißachten. Das Reich Gottes wird durch Gewalt erlangt - was aber, wenn es durch unrechtmäßige Gewalt erlangt werden könnte? Wäre es wider die Vernunft, es so zu erlangen, wenn es unmöglich ist, von ihm geschädigt zu werden 17 ? Und ist es nicht wider die Vernunft, so ist es nicht wider die Gerechtigkeit - oder aber die Gerechtigkeit kann nicht als Gut anerkannt werden. [ … ] Was das Beispiel des Erlangens der sicheren und ewigen himmlischen Glückseligkeit mit allen Mitteln betrifft, so ist es geradezu 149 Leviathan leichtfertig. Es ist nur ein Weg denkbar, nämlich das Halten nicht das Brechen von Verträgen. Und was das andere Beispiel, das Erwerben der Souveränität durch Rebellion betrifft, so ist klar, daß es der Vernunft widerspricht, dies zu versuchen, weil selbst dann, wenn der Erfolg eintritt, dies doch vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sondern eher das Gegenteil, und weil durch diese Art des Erwerbens andere darauf gebracht werden, sich die Souveränität auf dieselbe Art zu verschaffen. Gerechtigkeit, das heißt, das Einhalten von Verträgen, ist deshalb eine Regel der Vernunft, die uns verbietet, alles zu tun, was unserem Leben schadet und folglich ein natürliches Gesetz. [ … ] Die Namen ‚ gerecht ‘ und ‚ ungerecht ‘ bedeuten zweierlei, je nachdem sie Menschen oder Handlungen zugeschrieben werden. Werden sie Menschen zugeschrieben, so bedeuten sie Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Sitten mit der Vernunft. Werden sie aber Handlungen zugeschrieben, so bedeuten sie Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einzelner Handlungen mit der Vernunft, nicht der Sitten oder Lebensführung. Deshalb ist ein Gerechter, wer sich nach Kräften bemüht, daß alle seine Handlungen gerecht sind, und ein Ungerechter, wer sich nicht darum kümmert. Und in unserer Sprache werden solche Menschen häufiger als ‚ rechtschaffen ‘ und ‚ nicht rechtschaffen ‘ denn als gerecht und ungerecht bezeichnet, obwohl die Bedeutung dieselbe ist. Deshalb verliert ein rechtschaffener Mann diese Bezeichnung nicht durch eine oder wenige ungerechte Handlungen, zu denen er sich in einer plötzlichen Leidenschaft, oder weil er sich über Sachen oder Personen irrt, hinreißen läßt 18 , noch verliert ein nicht rechtschaffener Mensch dieses Wesensmerkmal wegen solcher Handlungen, die er aus Furcht tut oder unterläßt, denn sein Wille richtet sich nicht nach der Gerechtigkeit, sondern nach dem anscheinenden Vorteil seines augenblicklichen Tuns. Das, was den menschlichen Handlungen den Charakter von Gerechtigkeit gibt, ist eine gewisse Vornehmheit oder ein gewisser Edelmut, die man selten antrifft und die einen Menschen darauf verzichten lassen, zu Betrug und Bruch von Versprechen zu greifen, um seine Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Diese Gerechtigkeit der Sitten meint man, wenn man Gerechtigkeit eine Tugend und Ungerechtigkeit ein Laster nennt. 150 5 Staatsphilosophie Aber auf Grund der Gerechtigkeit von Handlungen nennt man die Menschen nicht gerecht, sondern unschuldig, und auf Grund ihrer Ungerechtigkeit, die auch Unrecht genannt wird, schuldig. [ … ] Alles, was einem Menschen in Übereinstimmung mit seinem eigenen, dem Täter kundgetanen Willen zugefügt wurde, ist ihm gegenüber kein Unrecht. Denn hat der Täter sein ursprüngliches Recht, nach Belieben alles tun zu können, nicht durch einen vorhergegangenen Vertrag übertragen, so liegt kein Vertragsbruch vor und deshalb geschah jenem Menschen kein Unrecht. Und hat er dieses Recht übertragen, so bedeutet der kundgemachte Wille, die Tat zuzulassen, eine Auflösung dieses Vertrags und so ist jenem wiederum kein Unrecht geschehen. Die Gerechtigkeit von Handlungen wird in der Literatur gewöhnlich in ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit eingeteilt, wobei die erste angeblich auf einem arithmetischen, die zweite auf einem geometrischen Verhältnis beruht. Die ausgleichende Gerechtigkeit liegt nach dieser Ansicht in der Wertgleichheit der Gegenstände, über die der Vertrag abgeschlossen wurde, und die austeilende in der Verteilung gleicher Vorteile unter Menschen von gleichem Verdienst. Als wäre es ungerecht, teurer zu verkaufen als einzukaufen, oder jemandem mehr zu geben als er verdient! Der Wert aller Gegenstände eines Vertrags bemißt sich nach dem Verlangen der Vertragspartner, und deshalb ist der gerechte Wert der, den sie zu zahlen bereit sind. Und das Verdienst (ausgenommen das Verdienst durch Vertrag, bei dem eine Partei durch die Erfüllung gewissermaßen verdient, das auch die andere erfüllt, das also unter die ausgleichende, nicht unter die austeilende Gerechtigkeit fällt) wird nicht auf Grund von Gerechtigkeit, sondern allein aus Gunst belohnt. Und deshalb ist diese Unterscheidung im Sinne der üblichen Auslegung nicht richtig. Genau genommen ist die ausgleichende Gerechtigkeit die Gerechtigkeit eines Vertragsschließenden, das heißt die Erfüllung eines Vertrags durch Kauf und Verkauf, Mieten und Vermieten, Verleihen und Leihen, Wechseln, Tauschen und andere vertragliche Handlungen. Und die austeilende Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit eines Schiedsrichters, das heißt der Akt des Definierens, was gerecht ist. Wird ihm von den Menschen, die ihn als Schiedsrichter einsetzen, 151 Leviathan vertraut und erfüllt er hierbei das in ihn gesetzte Vertrauen, so sagt man, er teile jedem das Seine zu. Und dies ist in der Tat gerechte Verteilung, die, wenn auch ungenau, austeilende Gerechtigkeit genannt werden kann, aber genauer Billigkeit genannt wird. Diese Billigkeit ist ebenfalls ein natürliches Gesetz, wie an passender Stelle gezeigt werden soll. Wie Gerechtigkeit von einem vorausgegangenen Vertrag abhängt, so hängt Dankbarkeit von einer vorausgegangenen Gunst ab, das heißt von einer vorausgegangenen Schenkung. Sie stellt das vierte natürliche Gesetz dar, das man so formulieren kann: Empfängt jemand von einem anderen einen Vorteil aus reiner Gunst, so soll er sich bemühen, daß der Schenker keinen vernünftigen Grund hat, seinen guten Willen zu bereuen. Denn niemand schenkt etwas ohne die Absicht, sich dabei selbst ein Gut zu verschaffen [ … ]. Ein fünftes natürliches Gesetz verlangt Entgegenkommen. Das soll besagen: Jedermann hat sich zu bemühen, sich den übrigen Menschen anzupassen. [ … ] Ein sechstes natürliches Gesetz lautet: Gegen eine Sicherheitsleistung für die Zukunft soll jedermann frühere Angriffe derer verzeihen, die dies reuevoll wünschen. Denn eine Verzeihung ist nichts anderes als Gewähren von Frieden. Wird sie einem gewährt, der in seiner feindseligen Haltung verharrt, so bedeutet dies nicht Frieden, sondern Furcht. Wird sie dagegen einem verweigert, der Sicherheit für die Zukunft leistet, so ist dies ein Zeichen dafür, daß er keinen Frieden will und deshalb gegen das natürliche Gesetz. Ein siebtes natürliches Gesetz ist: Bei Rache - der Vergeltung eines Übels durch ein Übel - soll man nicht auf die Größe des früheren Übels, sondern auf die des künftigen Nutzens sehen. Hierdurch wird uns verboten eine Bestrafung in anderer Absicht zu verhängen als der der Besserung des Täters und der Anleitung anderer. Denn dieses Gesetz folgt aus dem vorhergehenden, das Vergebung auf Grund einer Sicherheitsleistung für die Zukunft befiehlt. Außerdem ist Rache, die nicht im Hinblick auf das Beispiel und den künftigen Nutzen genommen wird, Triumph oder Sich- Brüsten mit der Verletzung eines anderen, die zwecklos sind, denn ein Zweck ist immer etwas Zukünftiges. Zweckloses Sich-Brüsten ist aber Prahlerei und widerspricht der Vernunft, und unvernünftiges 152 5 Staatsphilosophie Verletzen führt zum Krieg. Dies läuft dem natürlichen Gesetz zuwider und wird gemeinhin als Grausamkeit bezeichnet. Und weil alle Zeichen von Haß oder Verachtung Kampf hervorrufen, und zwar so sehr, daß die meisten Menschen lieber ihr Leben aufs Spiel setzen, als sich nicht zu rächen, können wir, achtens diese Vorschrift als natürliches Gesetz aufstellen: Niemand soll durch Tat, Wort, Miene oder Gebärde gegen einen anderen Haß oder Verachtung zum Ausdruck bringen. Der Bruch dieses Gesetzes wird gewöhnlich Beleidigung genannt. Für die Frage, wer der bessere Mann sei, ist im reinen Naturzustand, in dem, wie oben gezeigt, alle Menschen gleich sind, kein Raum. [ … ] Deshalb stelle ich dies neunte Gesetz der Natur auf: Jedermann soll den anderen für Seinesgleichen von Natur aus ansehen. Der Bruch dieser Vorschrift ist Hochmut. Von diesem Gesetz hängt ein anderes ab: Beim Eintritt in den Friedenszustand soll niemand verlangen, sich ein Recht vorzubehalten, wenn er nicht damit einverstanden ist, daß es auch allen übrigen Menschen vorbehalten werden sollte. [ … ] Dies sind die natürlichen Gesetze, die den Frieden als Mittel zur Selbsterhaltung der in einer Menge lebenden Menschen befehlen und die ausschließlich die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft betreffen. Es gibt auch noch andere Dinge, die zur Vernichtung von einzelnen Menschen führen wie Trunksucht und alle anderen Arten von Unmäßigkeit, die man deshalb ebenfalls zu den Dingen rechnen kann, die das natürliche Gesetz verboten hat. Es ist aber weder nötig, sie ausdrücklich zu erwähnen, noch gehören sie unbedingt in diesen Zusammenhang. Zwar hat es den Anschein, diese Ableitung der natürlichen Gesetze sei zu kompliziert, um bei allen Menschen Beachtung zu finden, die zum größten Teil mit dem Erwerb des täglichen Brots zu sehr beschäftigt und, was die übrigen betrifft, zu gleichgültig sind, um sie zu verstehen. Doch um keinem Menschen eine Ausrede zu ermöglichen, wurden diese Gesetze zu einer auch dem bescheidensten Verstande leicht einsehbaren Maxime zusammengefaßt, welche lautet: Füge einem anderen nicht zu, was du nicht willst, daß man dir zufüge 19 . Dies zeigt ihm, daß zum Lernen der natürlichen Gesetze nichts weiter erforderlich ist als daß man, wenn man 153 Leviathan seine eigenen Handlungen gegen diejenigen eines anderen aufwiegt, die des anderen, wenn sie zu schwer zu sein scheinen, auf die andere Seite der Waage legt und die eigenen an deren Stelle setzt, damit die eigenen Leidenschaften und die Selbstliebe das Gewicht nicht schwerer machen. Und dann gibt es keines dieser natürlichen Gesetze, das ihm nicht sehr vernünftig erscheinen wird. Die natürlichen Gesetze verpflichten in foro interno, das heißt sie verpflichten zu dem Wunsch, daß sie gelten mögen 19 , aber in foro externo, das heißt zu ihrer Anwendung, nicht immer. Denn jemand, der zu einer Zeit und an einem Ort bescheiden und umgänglich wäre und alle seine Versprechen erfüllte, wo sich sonst niemand so benimmt, würde sich nur den anderen als Beute darbieten und seinen sicheren Ruin herbeiführen, im Widerspruch zur Grundlage aller natürlichen Gesetze, die die Erhaltung der menschlichen Natur zum Ziel haben. Und wer ferner ausreichende Sicherheit besitzt, daß andere diese Gesetze ihm gegenüber befolgen, und sie selbst nicht beachtet, sucht nicht Frieden, sondern Krieg und folglich die gewaltsame Vernichtung seiner Natur. Und jedes Gesetz, das in foro interno verpflichtet, kann nicht nur durch eine gegen das Gesetz verstoßende, sondern auch durch eine dem Gesetz entsprechende Handlung gebrochen werden, dann nämlich, wenn jemand glaubt, das Gegenteil zu tun. Denn obwohl seine Handlung in diesem Falle dem Gesetz entspricht, so war doch seine Absicht gegen das Gesetz gerichtet, was bei einer Verpflichtung in foro interno ein Gesetzesbruch ist. Die Gesetze der Natur sind unveränderlich und ewig, denn Ungerechtigkeit, Undankbarkeit, Anmaßung, Hochmut, Unbilligkeit, Begünstigung und anderes mehr können niemals rechtmäßig gemacht werden. Denn es kann nie der Fall eintreten, daß Krieg das Leben erhält und Frieden es vernichtet. Da diese Gesetze nur zu einem Verlangen und Bemühen verpflichten - ich meine ungeheucheltes und ständiges Bemühen - , so sind sie leicht zu befolgen. Denn da sie nur ein Bemühen verlangen, erfüllt sie jeder, der sich darum bemüht, und wer das Gesetz erfüllt, ist gerecht. Und die Wissenschaft von diesen Gesetzen ist die wahre und einzige Moralphilosophie. Denn die Moralphilosophie ist nichts 154 5 Staatsphilosophie anders als die Wissenschaft von dem, was im Verkehr und in der Gesellschaft gut und böse ist. Gut und böse sind Namen, die unsere Neigungen und Abneigungen bezeichnen, die je nach den verschiedenen Temperamenten, Gewohnheiten und Lehren der Menschen verschieden sind. Und verschiedene Menschen weichen nicht nur im Urteil ihrer Sinne über das voneinander ab, was dem Geschmack, Geruch, Gehör, Gefühl und Sehen angenehm oder unangenehm ist, sondern auch über das, was bei den Handlungen des täglichen Lebens mit der Vernunft übereinstimmt oder nicht. Ja, ein und derselbe Mensch hat zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ansichten und lobt - das heißt, nennt gut - , was er ein andermal tadelt und böse nennt. Daraus entstehen Zank, Streitigkeiten und zuletzt Krieg. Und deshalb befindet sich der Mensch so lange im reinen Naturzustand, der ein Kriegszustand ist, wie private Meinung Maßstab von Gut und Böse ist. Und folglich stimmen alle Menschen darin überein, daß der Frieden gut ist, und deshalb sind auch der Weg oder das Mittel zum Frieden, also, wie ich oben gezeigt habe, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Bescheidenheit, Billigkeit, Mitleid und all die anderen natürlichen Gesetze gut, das heißt, sittliche Tugenden, und ihr Gegenteil, die Laster, böse. Nun ist die Wissenschaft von Tugend und Laster Moralphilosophie, und deshalb ist die wahre Lehre von den natürlichen Gesetzen die wahre Moralphilosophie. Aber da die Moraltheoretiker trotz ihrer Anerkennung derselben Tugenden und Laster weder sehen, worin ihre Güte besteht, noch daß sie als Mittel zu einem friedlichen, geselligen und bequemen Leben gepriesen werden müssen, so legen sie die Tugend in die Mitte zwischen den Leidenschaften - als ob nicht der Grund, sondern der Grad des Wagens die Tapferkeit und nicht der Grund, sondern die Größe der Gabe die Freigebigkeit ausmachte! Diese Weisungen der Vernunft werden von den Menschen gewöhnlich als Gesetze bezeichnet, aber ungenau. Sie sind nämlich nur Schlüsse oder Lehrsätze, die das betreffen, was zur Erhaltung und Verteidigung der Menschen dient, während ein Gesetz genau genommen das Wort dessen ist, der rechtmäßig Befehlsgewalt über andere innehat. Betrachten wir jedoch dieselben Lehrsätze als im Wort Gottes verkündigt, der rechtmäßig allen Dingen befiehlt, so werden sie zu Recht Gesetze genannt. 20 155 Leviathan T e i l I I : Vo m S t a a t , 1 7 . K a p . : Vo n d e n U r s a c h e n , d e r E r z e u g u n g u n d d e r D e f i n i t i o n e i n e s S t a a t e s Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen - das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der, wie im 13. Kapitel gezeigt wurde, aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume zu halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag, die im vierzehnten und fünfzehnten Kapitel aufgestellt wurden. Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten. Falls keine Zwangsgewalt errichtet worden oder diese für unsere Sicherheit nicht stark genug ist, wird und darf deshalb jedermann sich rechtmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen - ungeachtet der natürlichen Gesetze (die jedermann dann eingehalten hat, wenn er willens ist, sie in den Fällen einzuhalten, wo er dies ungefährdet tun kann). Und überall dort, wo die Menschen in kleinen Familien zusammenlebten, war gegenseitiges Rauben und Plündern ein Gewerbe und weit davon entfernt, als naturrechtswidrig angesehen zu werden: je größer die Beute, die sie machten, desto größer die Ehre. Und die Menschen beachteten hierbei keine anderen Gesetze als die der Ehre, das heißt, Grausamkeiten waren dadurch zu vermeiden, daß man den Leuten das Leben und die Wirtschafts- 156 5 Staatsphilosophie geräte ließ. Und wie damals kleine Familien, so vergrößern jetzt Städte und Königreiche, die nichts anderes als größere Familien sind, aus Gründen der eigenen Sicherheit ihren Herrschaftsbereich bei jeder angeblichen Gefahr und aus Furcht vor einem Angriff oder der Unterstützung, die den Angreifern zuteil werden könnte, und bemühen sich nach Kräften, ihre Nachbarn mit offener Gewalt und Hinterlist zu unterwerfen oder zu schwächen - mit Recht, da es keine andere Sicherheitsgarantie gibt. Und in späteren Zeiten gedenkt man ihrer deswegen in Verehrung. Auch der Zusammenschluß einer kleinen Anzahl von Menschen gibt ihnen diese Sicherheit nicht, denn bei kleinen Zahlen verleihen kleine Zunahmen auf der einen oder der anderen Seite eine so große übermacht, daß sie genügt, zum Sieg zu führen und deshalb zu einem Angriff ermutigt. Die Menge, die zu einer verläßlichen Sicherheit ausreicht, ergibt sich nicht aus einer bestimmten Zahl, sondern aus einem Vergleich mit dem gefürchteten Feind, und sie reicht dann aus, wenn die Überzahl des Feindes nicht so offensichtlich und ausschlaggebend ist, daß von vornherein der Ausgang des Krieges feststeht und ihn deshalb zu einem Versuch ermuntert. Und eine Menge mag noch so groß sein: Wenn die Handlungen der einzelnen von ihren besonderen Urteilen und Neigungen geleitet werden, so können sie von ihnen weder Verteidigung noch Schutz gegen einen gemeinsamen Feind, noch gegen Übergriffe, die sie sich gegenseitig zufügen, erwarten. Denn da ihre Meinungen über die beste Ausnützung und Anwendung ihrer Stärke auseinandergehen, helfen sie sich nicht, sondern hindern sich gegenseitig und reduzieren ihre Stärke, indem sie sich gegenseitig bekämpfen, auf ein Nichts. Dadurch werden sie nicht nur leicht durch eine sehr kleine Zahl von Menschen, die sich einig sind, unterworfen, sondern sie führen auch ohne gemeinsamen Feind wegen ihrer Einzelinteressen gegeneinander Krieg. Denn könnten wir annehmen, eine große Menge von Menschen stimmte ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht miteinander in der Beachtung von Gerechtigkeit und allen anderen natürlichen Gesetzen überein, so könnten wir ebensogut annehmen, die ganze Menschheit verhielte sich so, und dann gäbe es überhaupt 157 Leviathan keine bürgerliche Regierung oder einen Staat, noch wären sie nötig, denn es herrschte Frieden ohne Unterwerfung. Die Sicherheit, von der die Menschen wünschen, sie möge ihr Leben lang andauern, ist auch nicht gewährleistet, wenn diese nach dem Ermessen eines einzelnen für eine begrenzte Zeit, z. B. in einer Schlacht oder in einem Krieg, regiert oder gelenkt werden. Denn selbst wenn sie durch ihre einmütige Anstrengung einen Sieg über einen auswärtigen Feind erringen, so müssen sie danach doch notwendig sich wegen ihrer unterschiedlichen Interessen entzweien und wieder in einen Krieg untereinander zurückfallen, wenn sie nämlich entweder keinen gemeinsamen Feind haben oder aber jemand von der einen Partei als Feind und von der anderen als Freund angesehen wird. Es ist richtig, daß gewisse Lebewesen wie Bienen und Ameisen gesellig zusammenleben, weshalb sie von Aristoteles zu den politischen Lebewesen gerechnet werden, und daß sie doch keine andere Führung haben als ihre eigenen Urteile und Neigungen, auch keine Sprache, wodurch der eine dem anderen zu erkennen geben könnte, was seiner Meinung nach dem Gemeinwohl zuträglich ist. Und deshalb möchten manche vielleicht wissen, weshalb sich die Menschheit nicht ebenso verhalten kann. Darauf gebe ich zur Antwort: Erstens. Die Menschen liegen in einem ständigen Wettkampf um Ehre und Würde, diese Lebewesen aber nicht; folglich entsteht zwischen den Menschen aus diesem Grund Neid und Haß und letztlich Krieg, zwischen diesen Lebewesen aber nicht. 21 Zweitens. Bei diesen Lebewesen unterscheidet sich das Gemeinwohl nicht vom Privatwohl, und da sie von Natur aus ihr privates Wohl anstreben, fördern sie dadurch das Gemeinwohl. Der Mensch dagegen, der es liebt, sich mit anderen Menschen zu vergleichen, kann nur an Außerordentlichem Geschmack finden. Drittens. Da diese Lebewesen nicht wie die Menschen über Vernunft verfügen, sehen sie keine Mängel in der Verwaltung ihrer allgemeinen Angelegenheiten und meinen auch nicht, solche zu sehen, während es bei den Menschen sehr viele gibt, die sich für klüger und zur Regierung der Öffentlichkeit fähiger halten als der Rest. Und diese Leute streben nach Reformen und Neuerungen, die 158 5 Staatsphilosophie einen auf diesem, die anderen auf jenem Weg und stürzen die Öffentlichkeit dadurch in Wirren und Bürgerkrieg. Viertens. Obwohl diese Tiere in gewissem Maße die Stimme benützen können, um sich gegenseitig ihre Wünsche und andere Gemütsbewegungen zu erkennen zu geben, so fehlt ihnen doch diese Wortkunst, durch die es einige Menschen verstehen, anderen gut als böse und böse als gut hinzustellen und die offensichtliche Größe eines Guts oder Übels zu vergrößern oder zu verringern. Dadurch machen sie die Menschen unzufrieden und stören ihren Frieden, wie es ihnen paßt. Fünftens. Unvernünftige Lebewesen können nicht zwischen Beleidigung und Verletzung unterscheiden. Deshalb sind sie mit ihren Artgenossen nicht verfeindet, solange sie ungestört sind, während der Mensch dann am unleidlichsten ist, wenn er am meisten Muße hat. Denn dann liebt er es, seine Weisheit zu zeigen und die Handlungen derer, die den Staat regieren, zu kritisieren. Letztlich. Die Übereinstimmung dieser Lebewesen ist natürlich, die der Menschen beruht nur auf Vertrag, der künstlich ist. Und deshalb ist es kein Wunder, daß außer dem Vertrag noch etwas erforderlich ist, um ihre Übereinstimmung beständig und dauerhaft zu machen, nämlich eine allgemeine Gewalt, die sie im Zaum halten und ihre Handlungen auf das Gemeinwohl hinlenken soll. Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. Das heißt soviel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, daß jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen 159 Leviathan und Urteil unterwirft. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken. Hierin liegt das Wesen des Staates; der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, daß sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt. Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan. Diese höchste Gewalt wird auf zwei Wegen erlangt: Der eine besteht in der natürlichen Kraft, wenn z. B. jemand seine Kinder dazu bringt, sich zusammen mit ihren Kindern seiner Regierung zu unterwerfen, da er sie vernichten kann, wenn sie es ablehnen, oder wenn jemand seine Feinde seinem Willen dadurch unterwirft, daß er ihnen unter dieser Bedingung das Leben schenkt. Der andere ist gegeben, wenn Menschen miteinander übereinkommen, sich willentlich einem Menschen oder einer Versammlung von Menschen zu unterwerfen, im Vertrauen darauf, von ihnen gegen alle anderen geschützt zu werden. Der letzte Fall kann „ politischer Staat “ oder „ Staat durch Einsetzung “ genannt werden, und der erste „ Staat durch 160 5 Staatsphilosophie Aneignung “ . Zuerst möchte ich auf den Staat durch Einsetzung zu sprechen kommen. 1 8 . K a p . : Vo n d e n R e c h t e n d e r S o u v e r ä n e d u r c h E i n s e t z u n g Ein Staat wird eingesetzt genannt, wenn bei einer Menge von Menschen jeder mit jedem übereinstimmt und vertraglich übereinkommt, daß jedermann, sowohl wer dafür als auch wer dagegen stimmte, alle Handlungen und Urteile jedes Menschen oder jeder Versammlung von Menschen, denen durch die Mehrheit das Recht gegeben wird, die Person aller zu vertreten, das heißt, ihre Vertretung zu sein, in derselben Weise autorisieren soll, als wären sie seine eigenen, und dies zum Zweck eines friedlichen Zusammenlebens und zum Schutz vor anderen Menschen. Von dieser Einsetzung eines Staates werden alle Rechte und Befugnisse dessen oder derer abgeleitet, denen die höchste Gewalt durch die Übereinstimmung des versammelten Volkes übertragen worden ist. [ … ] Und da es sich um wesentliche und untrennbare Rechte handelt, so folgt daraus notwendig, daß dann, wenn die souveräne Gewalt selbst nicht in ausdrücklichen Worten aufgegeben worden ist und die Empfänger den Übertragenden noch mit dem Namen ‚ Souverän ‘ bezeichnen, die Übertragung nichtig ist, in welchen Worten auch scheinbar eines dieser Rechte übertragen wurde. Denn hat er alles übertragen, was er kann, und wir übertragen die Souveränität zurück, so ist alles rückübertragen, da es mit ihr untrennbar verknüpft ist. Da diese große Autorität unteilbar und untrennbar mit der Souveränität verbunden ist, besteht wenig Grund zu der Meinung derer, die behaupten, die souveränen Könige seien, obwohl singulis majores, also von größerer Machtvollkommenheit als jeder einzelne ihrer Untertanen, doch universis minores, von geringerer Machtvollkommenheit als alle Untertanen zusammen. Denn wenn sie unter alle zusammen nicht den kollektiven Körper als eine Person verstehen, dann bedeutet alle zusammen und jeder einzelne dasselbe, und der Ausdruck ist widersinnig. Verstehen sie aber unter alle 161 Leviathan zusammen eine Person, die der Souverän verkörpert, so ist die Gewalt aller zusammen dieselbe wie die des Souveräns, und so ist der Ausdruck wiederum widersinnig. Diese Widersinnigkeit können sie leicht einsehen, wenn die Souveränität bei einer Volksversammlung liegt. Liegt sie aber bei einem Monarchen, so sehen sie es nicht - und doch ist die Gewalt der Souveränität dieselbe, wo immer sie auch liegen mag. Und wie die Macht, so muß auch die Ehre des Souveräns größer sein als die jedes Untertanen oder aller Untertanen zusammen. Denn die Souveränität ist die Quelle der Ehre. Die Adels-, Grafen-, Herzogs- und Prinzenwürden sind seine Geschöpfe. Wie bei der Anwesenheit des Herrn die Knechte alle gleich und ohne jede Ehre sind, so sind dies auch die Untertanen in Gegenwart des Souveräns. Und obwohl sie manchmal heller, manchmal weniger hell strahlen, wenn sie sich außerhalb seiner Sicht befinden, so strahlen sie doch in seiner Gegenwart nicht heller als die Sterne in der Gegenwart der Sonne. Man mag hier aber einwenden, die Untertanen befänden sich in einer sehr elenden Lage, da sie den Begierden und anderen zügellosen Leidenschaften dessen oder derer ausgesetzt seien, die eine so unbegrenzte Macht in Händen halten. Und gewöhnlich meinen diejenigen, die unter einem Monarchen leben, dies sei ein Mangel der Monarchie, und die unter einer demokratischen Regierung oder einer anderen souveränen Versammlung leben, schreiben alle Unannehmlichkeiten dieser Staatsform zu, während die Gewalt, wenn sie vollkommen genug ist, sie zu schützen, in allen Formen dieselbe ist. Sie bedenken nicht, daß der Zustand der Menschen nie ohne die eine oder die andere Unannehmlichkeit sein kann, und daß die größte, die in jeder Regierungsform dem Volk gewöhnlich zustoßen mag, kaum fühlbar ist, wenn man sie mit dem Elend und den schrecklichen Nöten vergleicht, die ein Bürgerkrieg oder die Zügellosigkeit herrenloser Menschen ohne Unterwerfung unter Gesetze und unter eine Zwangsgewalt, die ihre Hände von Raub und Rache abhält, mit sich bringen. Sie bedenken ebenfalls nicht, daß auch der größte Druck durch souveräne Regenten nicht von irgendeiner Freude oder einem Nutzen herrührt, die sie aus dem Schaden oder der Schwächung ihrer Untertanen erwarten können, in deren Kraft ihre eigene Stärke und ihr eigener Ruhm bestehen, sondern 162 5 Staatsphilosophie von der Widerspenstigkeit der Untertanen selbst, die nur ungern zu ihrer eigenen Verteidigung beitragen und somit bewirken, daß es für ihren Regenten zur Notwendigkeit wird, im Frieden aus ihnen herauszuholen, was sie können, damit sie bei jedem unvorhergesehenen Ereignis oder jeder plötzlichen Notlage die Mittel zur Verfügung haben, ihren Feinden zu widerstehen oder sie zu übertreffen. Denn alle Menschen sind von Natur aus mit bemerkenswerten Vergrößerungsgläsern ausgestattet, nämlich ihren Leidenschaften und ihrer Eigenliebe, durch die jede kleine Abgabe als große Belastung erscheint, aber es fehlen ihnen die Ferngläser, nämlich Wissenschaft von der Moral und vom Staate, um von ferne die elenden Zustände zu sehen, die über ihnen hängen und ohne diese Abgaben nicht abgewendet werden können. 1 9 . K a p . : Vo n d e n v e r s c h i e d e n e n A r t e n d e r S t a a t e n d u r c h E i n s e t z u n g u n d d e r N a c h f o l g e i n d i e s o u v e r ä n e G e w a l t Der Unterschied zwischen den Staaten liegt in der Verschiedenheit des Souveräns oder der Person, die alle und jeden einzelnen der Menge vertritt. Und da die Souveränität entweder bei einem Menschen oder einer Versammlung von mehr als einem Menschen liegt, und da entweder jedermann oder nicht jedermann, sondern nur gewisse, von den übrigen unterschiedene Menschen das Recht zum Zutritt zu dieser Versammlung haben, so ist es offensichtlich, daß es nur drei Arten von Staaten geben kann. Denn die Vertretung muß notwendig aus einem Menschen oder aus mehreren bestehen: besteht sie aus mehreren, so ist sie entweder die Versammlung aller oder eines Teils. Besteht die Vertretung aus einer Person, so ist der Staat eine Monarchie, ist sie die Versammlung aller, die zusammenkommen, so ist er eine Demokratie oder Volksstaat, und besteht die Versammlung nur aus einem Teil, so wird er Aristokratie genannt. 22 Andere Arten von Staaten kann es nicht geben, denn es besitzen entweder einer, mehrere oder alle die gesamte souveräne Gewalt, die, wie ich gezeigt habe, unteilbar ist. In den Schriften über Geschichte und Politik mögen auch noch andere Namen von Regierungen vorkommen, wie Tyrannis und 163 Leviathan Oligarchie, aber dies sind nicht Namen anderer Regierungsformen, sondern derselben, wenn man sie für schlecht hält. Denn alle, die mit einer Monarchie unzufrieden sind, nennen sie Tyrannis, und diejenigen, welche eine Aristokratie nicht schätzen, nennen sie Oligarchie, und diejenigen, welche in einer Demokratie Ärger haben, sprechen von Anarchie, was Fehlen einer Regierung bedeutet. Und dennoch glaube ich, daß niemand meint, das Fehlen einer Regierung sei eine neue Regierungsform. Aus demselben Grund sollte niemand meinen, die Regierung gehöre zu der einen Art, wenn er dafür, und zu der anderen, wenn er dagegen ist oder von den Regierenden unterdrückt wird. [ … ] Der Unterschied zwischen diesen drei verschiedenen Staatsformen liegt nicht in der Verschiedenheit der Gewalt, sondern in der unterschiedlichen Angemessenheit oder Eignung für den Frieden und die Sicherheit des Volkes, dem Zweck, zu dem sie eingesetzt worden sind. Und zum Vergleich der Monarchie mit den beiden anderen Staatsformen sollten wir folgende Gesichtspunkte beachten: Erstens: Jeder, der die Person des Volkes verkörpert oder Mitglied der verkörpernden Versammlung ist, verkörpert auch seine eigene natürliche Person. Und selbst wenn er als politische Person sich sorgfältig um das Gemeinwohl kümmert, so kümmert er sich doch mehr, oder mindestens nicht weniger, um sein Privatwohl, um das Wohl seiner Familie, Verwandtschaft und seiner Freunde, und wenn das öffentliche Interesse zufällig dem privaten in die Quere kommt, so zieht er meistens das private vor, denn die Leidenschaften der Menschen sind gewöhnlich mächtiger als ihre Vernunft. Daraus folgt, daß dort, wo das öffentliche und das private Interesse am meisten zusammenfallen, das öffentliche am meisten gefördert wird. Nun fällt in der Monarchie das Privatinteresse mit dem öffentlichen zusammen. Reichtum, Macht und Ehre eines Monarchen ergeben sich allein aus dem Reichtum, der Stärke und dem Ansehen seiner Untertanen. Denn kein König kann reich, ruhmvoll und sicher sein, dessen Untertanen entweder arm oder verachtenswert oder aus Not oder Uneinigkeit zu schwach sind, um einen Krieg gegen ihre Feinde durchhalten zu können. In einer Demokratie oder Aristokratie dagegen trägt der öffentliche Wohl- 164 5 Staatsphilosophie stand zum Privatvermögen eines korrupten oder ehrgeizigen Menschen weniger bei als oftmals ein hinterlistiger Rat, eine verräterische Handlung oder ein Bürgerkrieg. Zweitens: Ein Monarch kann jeden, wann und wo er will, zu Rate ziehen und folglich die Meinung von Menschen anhören, die von der Sache etwas verstehen, über die er nachdenkt, welchen Rang und welche Eigenschaft sie auch immer besitzen mögen, und zwar so lange vor der eigentlichen Handlung und so geheim, wie er es wünscht. Bedarf dagegen eine souveräne Versammlung eines Rats, so werden dazu nur solche Leute zugelassen, die von Anfang an ein Recht dazu haben. Dies sind zum größten Teil solche Leute, die mehr davon verstehen, wie man Reichtum als wie man Kenntnisse erwirbt, und die ihren Rat in langen Reden geben, die die Menschen zu Handlungen aufpeitschen mögen und dies gewöhnlich auch tun, sie aber damit nicht regieren. Denn der Verstand wird durch die Flamme der Leidenschaften niemals erleuchtet, sondern geblendet. Es fehlen bei einer Versammlung auch Ort und Zeit zur Entgegennahme eines geheimen Rates, da sie zu zahlreich ist. Drittens: Die Entscheidungen eines Monarchen sind nur so unbeständig wie die menschliche Natur. In Versammlungen dagegen kommt zur natürlichen Unbeständigkeit noch die der Zahl. Denn die Abwesenheit einiger (dies kann vorkommen, wenn sie sich in Sicherheit wiegen, nachlässig oder persönlich verhindert sind), die an der einmal angenommenen Entschließung festgehalten hätten, oder das eifrige Auftreten weniger Vertreter der gegensätzlichen Ansicht, wirft jeden Tag den Beschluß von gestern um. Viertens: Ein Monarch kann nicht aus Neid oder Selbstinteresse mit sich selbst uneins sein, wohl aber eine Versammlung, und zwar so heftig, daß daraus ein Bürgerkrieg entstehen kann. Fünftens: In einer Monarchie gibt es den Nachteil, daß jeder Untertan durch die Macht eines einzelnen um der Bereicherung eines Günstlings oder Schmeichlers willen seines gesamten Besitzes beraubt werden kann, was, wie ich zugebe, ein großer und unvermeidbarer Mangel ist. 23 Aber dies kann genausogut vorkommen, wenn die souveräne Gewalt bei einer Versammlung liegt, denn sie besitzt die gleiche Gewalt, unterliegt genauso schlechten Ratschlägen und kann von Rednern so verführt werden wie ein Monarch von 165 Leviathan Schmeichlern. Und indem sich ihre Mitglieder gegenseitig schmeicheln, ist jeder der Habgier und dem Ehrgeiz des anderen zu Diensten. Und während Monarchen nur wenige Günstlinge haben und außer ihrer eigenen Verwandtschaft niemanden zu protegieren brauchen, hat eine Versammlung viele Günstlinge, und ihre Verwandtschaft ist viel zahlreicher als die jedes Monarchen: Außerdem gibt es keinen Günstling eines Monarchen, der nicht ebensogut seinen Freunden helfen wie seinen Feinden schaden kann. Von Rednern dagegen, das heißt den Günstlingen souveräner Versammlungen, ist wenig Hilfe zu erwarten, obwohl sie viel Macht besitzen, um Schaden anzurichten. So, wie die menschliche Natur beschaffen ist, erfordert eine Anklage nämlich weniger Beredsamkeit als eine Verteidigung, und eine Verurteilung scheint der Gerechtigkeit mehr zu entsprechen als ein Freispruch. [ … ] T e i l I V: Vo m R e i c h d e r F i n s t e r n i s , 4 6 . K a p . : Vo n d e r F i n s t e r n i s a u f G r u n d v o n A f t e r p h i l o s o p h i e Aus der aristotelischen Staatsphilosophie haben sie [Anhänger einer After-, d. h. Pseudophilosophie] gelernt, alle Staatsformen außer der Demokratie (die damals in Athen bestand) Tyrannis zu nennen. Sie nannten alle Könige Tyrannen, und die aristokratische Herrschaft der Dreißig, die von den Spartanern, die Athen unterworfen hatten, errichtet wurde, die dreißig Tyrannen. Ebenso hatten sie gelernt, den Zustand des Volks unter der Demokratie Freiheit zu nennen. Tyrann bedeutete ursprünglich nichts anderes als einfach Monarch. Aber als später fast überall in Griechenland diese Staatsform abgeschafft wurde, bedeutete dieser Name nicht mehr allein, was er vorher bedeutet hatte, sondern dazu noch den Haß, den Demokratien dieser Staatsform entgegenbringen. Genauso wurde auch nach der Entthronung der römischen Könige der Name „ König “ verpönt, da es eine natürliche Eigenschaft aller Menschen ist zu meinen, daß in jedem Attribut, das aus Verachtung einem großen Feind beigelegt wird, ein großer Fehler zum Ausdruck komme. Und wenn das gleichen Leuten einmal diejenigen mißfallen sollten, die an der Spitze der Demokratie oder Aristokratie stehen, so brauchen sie nicht nach Schimpfwörtern zu suchen, um damit ihren Unmut auszudrücken, sondern sie nennen 166 5 Staatsphilosophie sogleich das eine Anarchie und das andere 0ligarchie oder Tyrannis von wenigen. Und was das Volk erbost, ist nichts anderes, als daß sie nicht so regiert werden, wie sich jeder selbst regieren würde, sondern wie es der öffentliche Vertreter, sei es ein Mensch oder eine Versammlung von Menschen, für richtig hält, das heißt durch eine willkürliche Herrschaft. Deshalb geben sie ihren Herrschern böse Namen, ohne je zu wissen, außer vielleicht kurz nach einem Bürgerkrieg, daß ohne eine solche willkürliche Herrschaft diese Kriege ewig dauern müßten und daß es Menschen und Waffen sind, nicht Worte und Versprechen, die die Stärke und Gewalt der Gesetze ausmachen. Und deshalb ist es ein anderer Irrtum der aristotelischen Politik, daß in einem wohlgeordneten Staat nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollten. Welcher Mensch, der seine natürlichen Sinne beisammen hat, selbst wenn er weder schreiben noch lesen kann, hält sich nicht von denjenigen beherrscht, die er fürchtet und von denen er annimmt, daß sie ihn töten oder ihm schaden können, wenn er nicht gehorcht? Oder wer glaubt, das Gesetz könne ihm schaden, das heißt Worte und Papier, ohne die Hände und Schwerter von Menschen? Und dies gehört zu den verderblichen Irrtümern, denn sie verleiten die Menschen dazu, sooft sie ihre Herrscher nicht leiden können, jenen anzuhängen, die diese Tyrannen nennen, und es für rechtmäßig zu halten, einen Krieg gegen sie anzufangen. Und doch werden sie oftmals vom Klerus von der Kanzel herunter unterstützt. [ … ] R ü c k b l i c k u n d S c h l u ß Den im 15. Kapitel aufgestellten Gesetzen der Natur möchte ich dieses hinzufügen: Jedermann ist von Natur aus verpflichtet, soweit es in seiner Macht steht, im Krieg die Autorität zu schützen, durch die er in Friedenszeiten geschützt wird. Denn wer ein natürliches Recht auf Erhaltung seines eigenen Leibes beansprucht, kann kein natürliches Recht beanspruchen, denjenigen zu vernichten, durch dessen Stärke er geschützt wird: dies ist ein offensichtlicher Widerspruch in sich selbst. Und obwohl dieses Gesetz durch Schlußfolgerung aus einigen der bereits erwähnten abgeleitet werden kann, so erfordern es doch die Zeiten, daß man es sich einschärft und sich daran erinnert. [ … ] 167 Leviathan 6 Rechtsphilosophie Einleitung Die Rechtstradition, die zu Hobbes ʼ Zeit und weitgehend bis heute in England vorherrscht, verläßt sich auf die Weisheit des seit der Invasion der Normannen im Jahr 1066 im Lauf von Jahrhunderten durch Rechtsprechung entwickelten „ Gemeinsamen Rechts “ , des Common Law. Nach dem damals in der Rechtstheorie maßgeblichen Juristen Edward Coke (1552 − 1634) soll man im Gegensatz zu dem auf dem europäischen Kontinent vorherrschenden systematischen Naturrechtsdenken lieber auf die kollektive Vernunft des englischen Juristenstandes und der englischen Rechtsentwicklung vertrauen. Dem widerspricht Hobbes vehement. Im Dialog zwischen einem Philosophen [Hobbes ʼ Ansicht] und einem Studenten des Englischen Rechts lehnt Hobbes Cokes Position kompromißlos ab. Nach Hobbes ʼ prägnanter, schon beim römischen Dichter Juvenal (Satiren 6, 223) zu lesender Formel „ sed aucthoritas, non veritas facit legem “ (Leviathan, Kap. 26) kommt es allein auf die Autorität von Seiten der souveränen Macht an. Die englische Fassung des Leviathan und der Dialog nennen die abgelehnte Position prägnanter „ wisdom “ , womit sie auf die - angeblich - im Recht und Juristenstand Englands kondensierte Weisheit anspielen. Nach der eigenen, als „ aucthoritas facit legen “ pointierten Position treten Gesetze durch eine autorisierte Macht in Geltung. Da gemäß dem ursprünglichen Gesellschaftsvertrag die Autorisierung der Macht durch die Betroffenen erfolgt, hebt Hobbes den geläufigen Gegensatz von (1) Macht-, (2) Zustimmungsbzw. Anerkennungs- und (3) Befugnisbzw.- Ermächtigungstheorien zugunsten einer alle drei Theorien integrierenden Theorie auf: Über den Urvertrag vermittelt geht die Geltung des Rechts letztlich auf die freie Anerkennung der Betroffenen zurück. Hobbes ʼ weiteres Element, seine Grundeinteilung des Rechts in natürliche und bürgerliche Gesetze, ist nicht neu. Zumindest relativ neu ist aber die These ihrer zwar inhaltlichen Selbigkeit, jedoch methodischen Verschiedenheit: „ Das Gesetz der Natur und das bürgerliche Gesetz schließen sich gegenseitig ein und sind vom gleichen Umfang “ . Die Naturgesetze sind nämlich im reinen Naturzustand „ keine eigentlichen Gesetze, sondern Eigenschaften, die die Menschen zu Frieden und Gehorsam hinleiten “ , mithin im Staatszustand zu wirklichen Gesetzen, dann „ staatlichen Befehlen “ , also „ künstlichen Ketten “ werden (Leviathan, Kap. 26). Gesetze natürliche (moralisch, ungeschrieben) positive menschliche (vom Menschen gemacht) göttliche (geoffenbart) bürgerliche (allgemeine) einzelstaatliche (besondere) strafende (nennen die Strafen für Rechtsbrecher) austeilende (legen Rechten und Pflichten der Untertanen fest) Privatverbrechen (Unrecht gegen Privatpersonen) Öffentliche Verbrechen (Unrecht gegen Personen des Staates) Mit dem Befehlscharakter der Gesetze vertritt Hobbes deren Befehlsbzw. Imperativentheorie. Diese mag auf den ersten Blick überzeugen, weshalb sie später auch von Jeremy Bentham und John Austin vertreten wird. Bei näherer Betrachtung finden sich freilich zahlreiche Schwierigkeiten: Erstens bestehen Befehle in konkreten Aufforderungen wie „ Tue dies! “ oder „ Unterlasse jenes! “ , während Gesetze allgemeine Regeln sind. Zweitens richten sich Befehle stets nur an andere Personen, während viele Gesetze auch für den Urheber gelten. Nicht zuletzt wird die Befehlstheorie der ursprünglich allein vorherrschenden Rechtsart, dem Gewohnheitsrecht, nicht gerecht. 169 Einleitung Vom Bürger H e r r s c h a f t , K a p i t e l X I V: Vo n d e n G e s e t z e n u n d d e n Ve r g e h e n I. Wie sich ein Gesetz von einem Rat unterscheidet. Von denjenigen, die die Bedeutung von Worten nicht sorgfältig genug erwägen, wird ein Gesetz manchmal mit einem Rat, mitunter mit einem Übereinkommen, zuweilen mit einem Recht verwechselt. Mit einem Rat verwechseln diejenigen ein Gesetz, die glauben, daß es nicht nur die Pflicht eines Monarchen sei, seine Räte [Berater] anzuhören, sondern ihnen auch Folge zu leisten, so als ob die Einholung eines Rats etwas Nutzloses wäre, wenn danach nicht auch gehandelt würde. Der Unterschied zwischen einem Rat und einem Gesetz ergibt sich aus dem: Unterschied zwischen einem Rat und einem Gebot. Ein R AT [C ONSILIUM ] ist eine Weisung [præceptum], bei der der Grund, warum wir ihr folgen sollten, der Sache selbst zu entnehmen ist, die angeraten wird. Ein G EBOT [M ANDATUM ] aber ist eine Weisung [præceptum], bei der sich der Grund zur Befolgung aus dem Willen des [An-]Weisenden ergibt. Eigentlich ließe sich nämlich nicht sagen: Sic volo, sic iubeo [So will ich es, und deshalb gebiete ich es], wenn nicht der Wille für die Begründung stünde. Da Gesetzen aber nicht ihres Inhalts wegen zu gehorchen ist, sondern des Willens des Anweisenden wegen, so ist ein Gesetz kein Rat, sondern ein Gebot. Und es läßt sich auf diese Weise definieren: Ein Gesetz ist ein Gebot derjenigen Person (sei es ein Mensch oder eine Versammlung), deren Weisung Grund [genug] für Gehorsam ist [den Grund für den Gehorsam ausmacht]. Deshalb müssen die Weisungen [Gebote] Gottes hinsichtlich der Menschen, die des Staates hinsichtlich seiner Bürger und allgemein aller, die Macht haben, hinsichtlich derer, die sich ihnen nicht widersetzen können, deren Gesetze heißen. Gesetz und Rat sind also vielfach voneinander unterschieden: Ein Gesetz kommt nämlich von dem, der über die, denen er gebietet, Macht hat; ein Rat von dem, der diese Macht nicht hat. Zu tun, was ein Gesetz gebietet, ist Pflicht; einem Rat zu folgen, ist eine Sache eigener Entscheidung. Ein Rat zielt auf den Zweck desjenigen ab, dem geraten wird [eine Weisung gegeben wird], ein 170 6 Rechtsphilosophie Gesetz aber auf den Zweck desjenigen, der die Weisung gibt. Ein Rat wird nur denjenigen gegeben, die einen wollen; ein Gesetz auch denjenigen, die es nicht wollen. Schließlich gilt das Recht des Ratgebers nur so weit, als es im Belieben desjenigen steht, dem er einen Rat gibt; das Recht des Gesetzgebers hingegen ist nicht nach dem jeweiligen Belieben desjenigen aufgehoben, dem ein Gesetz auferlegt wird. [ … ] IV. Einteilung der Gesetze in göttliche und menschliche und der göttlichen in natürliche und positive und der natürlichen in Gesetze der einzelnen Menschen und der Völker. Nach der Verschiedenheit seiner Urheber kann jedes Gesetz zuallererst in ein göttliches und ein menschliches unterteilt werden. Der zweifachen Weise entsprechend, in der Gott den Menschen seinen Willen zu erkennen gegeben hat, ist das göttliche [Gesetz] wiederum zweifach: ein natürliches (oder moralisches) und ein positives. Das natürliche ist dasjenige, das Gott allen Menschen durch sein ewiges, ihnen von Geburt an innewohnendes Wort selbst kundgetan hat, nämlich durch die natürliche Vernunft. Und es ist dieses Gesetz, das ich in vollem Umfang in dieser kleinen Schrift darzulegen versucht habe. Das positive [Gesetz] ist dasjenige, das Gott uns durch das Wort der Propheten geoffenbart hat, indem er zu den Menschen wie ein Mensch gesprochen hat. Dazu gehören die Gesetze, die er den Juden im Zusammenhang mit ihrer politischen Verfassung [politiam] und ihrem Dienst an Gott überliefert hat. Sie können auch als die göttlichen bürgerlichen Gesetze bezeichnet werden, da sie besondere Gesetze für den Staat der Israeliten, seinem auserwählten Volk, waren. Das natürliche [Gesetz] wiederum kann eingeteilt werden in ein natürliches der Menschen, das allein die Bezeichnung Gesetz der Natur erhalten hat, und in ein natürliches der Staaten, das Gesetz der Völker genannt werden kann, aber gewöhnlich als Völkerrecht bezeichnet wird. Beider Vorschriften [Weisungen] sind dieselben: Da die einmal eingerichteten Staaten aber die persönlichen Eigenschaften der Menschen annehmen, sprechen wir von einem natürlichen Gesetz, sofern von den Pflichten der einzelnen Menschen die Rede ist und sofern es auf ganze Staaten, Nationen oder Völker angewendet wird, wird es Völkerrecht genannt. Und die Grundlagen [Elementa] des natürlichen Gesetzes und des natürlichen Rechts, 171 Vom Bürger von denen bis hierher die Rede war, können auch, wenn sie auf ganze Staaten und Völker übertragen werden, als die Grundlagen [Elementis] der Gesetze und des Rechts der Völker gelten. V. Einteilung der menschlichen Gesetze, das heißt, der bürgerlichen, in heilige und weltliche. Jedes menschliche Gesetz ist ein bürgerliches. Außerhalb eines Staates sind die Verhältnisse der Menschen nämlich feindliche; und da in dieser Lage keiner dem anderen unterworfen ist, gibt es außer den Weisungen [dictamina] der natürlichen Vernunft, die göttliches Gesetz sind, keine anderen Gesetze mehr. In einem Staat aber ist nur der Staat, das heißt derjenige Mensch oder diejenige Versammlung der Gesetzgeber, der bzw. die mit der höchsten Gewalt des Staates betraut ist, und die Gesetze des Staates sind bürgerliche. Die bürgerlichen Gesetze können der Verschiedenheit des Gegenstands entsprechend, auf den sie sich beziehen, in heilige und weltliche eingeteilt werden. Die heiligen sind diejenigen, die sich auf die Religion beziehen, das heißt auf die Zeremonien und den Gottesdienst (nämlich welche Personen, Dinge und Orte zu weihen sind und nach welchem Ritus; welche Ansichten über das göttliche Wesen öffentlich zu lehren sind; und mit welchen Worten und Gebräuchen Gebete zu verrichten sind; und ähnliches mehr), und die durch kein positives göttliches Gesetz festgesetzt sind. Denn die bürgerlichen heiligen Gesetze sind menschliche Gesetze (die auch kirchliche genannt werden) über heilige Dinge [sakrale Angelegenheiten]; allerdings ist es allgemein üblich, [allein] die weltlichen Gesetze bürgerliche zu nennen. VI. In austeilende und schützende. Den beiden Pflichten des Gesetzgebers entsprechend, zum einen Entscheidungen zu fällen und zum anderen Zwänge zu schaffen, damit die Entscheidungen hingenommen werden, weisen die bürgerlichen Gesetze wiederum zwei Teile auf, einerseits einen austeilenden und andererseits einen schützenden oder strafenden. Der austeilende [Teil] ist derjenige, der jedem sein Recht zuteilt, das heißt der für alles Regeln festsetzt, durch die wir wissen, was uns und was anderen gehört, so daß andere uns nicht am Gebrauch und Genuß unseres Eigentums hindern und wir nicht sie am Gebrauch und Genuß des ihrigen. Ebenso bestimmt er, was einem jeden zu tun oder zu unterlassen erlaubt und was unerlaubt 172 6 Rechtsphilosophie ist. Der schützende [Teil] ist derjenige, der bestimmt, welche Strafen denjenigen aufzuerlegen sind, die ein Gesetz verletzen. VII. Austeilende und schützende sind keine zwei Arten von Gesetzen, sondern zwei Teile desselben. Die austeilenden und die schützenden [Gesetze] sind allerdings nicht zwei [verschiedene] Arten von Gesetzen, sondern zwei Teile ein- und desselben Gesetzes. Sofern nämlich ein Gesetz beispielsweise nichts weiter sagt als: Was du mit deinem Netz im Meere gefangen hast, soll dein sein, so wäre dies nutzlos. Obwohl dir nämlich jemand anderer wegnehmen kann, was du gefangen hast, so ändert dies nichts daran, daß es immer noch dir gehört; denn im Naturzustand, wo alles allen gemeinsam ist, ist das Deinige und ein fremdes Gut dasselbe [ … ] VIII. Von jedem Gesetz ist anzunehmen, daß damit eine Strafe verknüpft ist. Daraus ergibt sich, daß mit jedem bürgerlichen Gesetz eine Strafe verknüpft ist, sei es ausdrücklich oder stillschweigend. [ … ] IX. Die Gebote des Dekalogs über die Ehre gegenüber den Eltern, über Mord, Ehebruch, Diebstahl und Meineid sind bürgerliche Gesetze. Da es sowohl auf den bürgerlichen Gesetzen beruht, daß jeder sein eigenes Recht hat, das von demjenigen eines anderen zu unterscheiden ist, als auch aus den bürgerlichen Gesetzen hervorgeht, daß es verboten ist, sich fremdes Gut anzueignen, so folgt daraus, daß auch die folgenden Weisungen [Gebote] bürgerliche Gesetze sind: Du sollst Deinen Eltern nicht die Ehre verweigern, die die Gesetze vorsehen; Du sollst keinen Menschen töten, dessen Tötung die Gesetze verbieten; Du sollst jeden durch die Gesetze verbotenen Beischlaf vermeiden; Du sollst eines anderen Güter nicht ohne den Willen des Eigentümers wegnehmen; Du sollst Gesetze und Gerichtsurteile nicht durch ein falsches Zeugnis [einen Meineid] vereiteln. Die natürlichen Gesetze geben dieselben Weisungen [gebieten dasselbe], aber in verwickelter Weise [nicht ausdrücklich]. Denn das natürliche Gesetz verlangt [ … ] Übereinkommen zu halten und deshalb auch Gehorsam zu leisten, wenn Gehorsam vereinbart wurde, und sich fremden Guts zu enthalten, wenn durch bürgerliche Gesetze festgesetzt wurde, was fremdes Gut ist. Ferner sind alle Bürger [ … ] bei der Errichtung des Staates selbst übereingekommen, den Geboten desjenigen Gehorsam zu leisten, der die höchste Gewalt 173 Vom Bürger innehat, das heißt den bürgerlichen Gesetzen, also noch ehe sie verletzt werden können: Denn das natürliche Gesetz verpflichtete sie [lediglich] unter natürlichen Verhältnissen [im Naturzustand], wo es erstens (weil die Natur alles allen gegeben hat) kein fremdes Gut gab und fremdes Gut sich anzueignen deshalb unmöglich war; wo zweitens alles gemeinschaftlich [gemeinsam] war, weshalb auch jeder Beischlaf erlaubt war; drittens, wo ein Kriegszustand herrschte und es einem deshalb freistand zu töten; viertens, wo alles von der eigenen Entscheidung eines jeden abhing und deshalb auch inwieweit man seinen Eltern Ehre erweisen wollte; und wo es letztlich keine öffentlichen Gerichte gab und deshalb auch keine Verwendung für Zeugnisse, die wahr oder falsch genannt werden mußten. X. Es ist unmöglich, durch die bürgerlichen Gesetze etwas anzuordnen, was den Gesetzen der Natur widerspricht. [ … ] XI. Bei einem Gesetz ist es wesentlich, daß es selbst und der Gesetzgeber bekannt ist. [ … ] XII. Woran man den Gesetzgeber erkennt. Die Kenntnis des Gesetzgebers hängt vom Bürger selbst ab; denn ohne seine eigene Zustimmung und sein eigenes Übereinkommen [seine vertragliche Verpflichtung], sei es ausdrücklich oder stillschweigend, konnte das Recht zur Gesetzgebung auf niemanden übertragen werden. Ausdrücklich geschieht dies, wenn die Bürger von Anfang an die Regierungsform des Staates untereinander beschließen oder wenn sie sich durch ein Versprechen der Herrschaft von jemandem unterwerfen. Zumindest stillschweigend geschieht es dann, wenn sie sich zu ihrem Schutz und ihrer Erhaltung gegenüber anderen die Vorteile zunutze machen [hinnehmen], die jemandes Herrschaft und Gesetze mit sich bringen. Wessen Herrschaft zu gehorchen wir von unseren Mitbürgern zu unserem Nutzen verlangen [erwarten], dessen Herrschaft erkennen wir nämlich schon durch diese Forderung als rechtmäßig an. Und deshalb ist eine Unkenntnis [hinsichtlich der Rechtsbefugnis] der gesetzgebenden Gewalt niemals eine hinreichende Entschuldigung [für mangelnde Rechtsbefolgung]; denn jeder weiß, was er selbst getan hat. XIII. Zur Kenntnis eines Gesetzes sind seine Bekanntmachung und Auslegung erforderlich. Die Kenntnis der Gesetze hängt vom Gesetzgeber ab, der sie öffentlich bekanntzumachen hat, denn 174 6 Rechtsphilosophie anderenfalls sind sie keine Gesetze. Ein Gesetz ist nämlich ein Gebot des Gesetzgebers; ein Gebot aber ist eine Willenserklärung; deshalb gibt es kein Gesetz ohne eine Willenserklärung des Gesetzgebers; und diese erfolgt durch die Bekanntmachung. Bei einer Bekanntmachung aber muß zweierlei feststehen: Das eine ist, daß der oder die, die ein Gesetz öffentlich bekanntmachen, entweder selbst das Recht zur Gesetzgebung haben oder aber auf Grund einer Ermächtigung desjenigen oder derjenigen handeln, die es [dieses Recht] haben. Das zweite ist der Inhalt des Gesetzes selbst. [ … ] Der Inhalt eines Gesetzes aber ist, wenn diesbezüglich Zweifel entstehen, von denjenigen zu erbitten [ermitteln], denen von der höchsten Gewalt die Untersuchung der Rechtsstreitigkeiten beziehungsweise die Gerichtsbarkeit übertragen worden ist. Recht sprechen ist nämlich nichts anderes als die Anwendung eines Gesetzes auf einen einzelnen Fall mittels Auslegung. Denjenigen aber, denen diese Obliegenheit [dieses Amt] anvertraut wurde, sind auf dieselbe Weise bekannt, wie uns diejenigen bekannt sind, denen die Vollmacht zur Bekanntmachung der Gesetze übertragen wurde. Leviathan T e i l I I : Vo m S t a a t , 2 6 . K a p . : Vo n d e n b ü r g e r l i c h e n G e s e t z e n Unter bürgerlichen Gesetzen verstehe ich Gesetze, zu deren Beachtung die Menschen nicht deshalb verpflichtet sind, weil sie Glieder dieses oder jenes besonderen Staates, sondern überhaupt eines Staates sind. 24 Denn die Kenntnis der einzelnen Gesetze ist Aufgabe derer, die die Gesetze ihres Landes von Berufs wegen studieren - die bürgerlichen Gesetze im allgemeinen muß aber jedermann kennen. Die alten Gesetze Roms wurden nach dem Wort civitas, Staat, bürgerliche Gesetze 25 genannt, und diejenigen Länder, die einmal dem Römischen Reich unterstanden und nach diesem Gesetz regiert wurden, behalten noch Teile davon bei, die sie für geeignet halten und nennen sie bürgerliches Gesetz, um sie von dem Rest ihrer eigenen staatlichen Gesetze zu unterscheiden. Aber hierüber möchte ich nicht sprechen, da ich nicht die Absicht habe zu 175 Leviathan zeigen, welche Gesetze hier und dort gelten, sondern was ein Gesetz überhaupt ist, wie es Plato, Aristoteles, Cicero und verschiedene andere taten, ohne die Rechtswissenschaft als Beruf zu betreiben. Zuerst einmal ist offensichtlich ein Gesetz, allgemein gesehen, nicht Rat, sondern Befehl. Es ist auch nicht der Befehl, den beliebige Menschen aneinander richten, sondern nur der Befehl an einen Menschen, der schon vorher zum Gehorsam gegen einen anderen verpflichtet war. Und was das bürgerliche Gesetz betrifft, so fügt es ihm nur den Namen der befehlenden Person hinzu, nämlich persona civitatis, die Person des Staates. Nach diesen Bemerkungen definiere ich das bürgerliche Gesetz folgendermaßen: Die bürgerlichen Gesetze sind die Regeln, die der Staat jedem Untertanen durch Wort, Schrift oder andere ausreichende Willenszeichen befahl, um danach Recht und Unrecht, das heißt das Regelwidrige und das der Regel Entsprechende, zu unterscheiden. [ … ] Nunmehr leite ich daraus das Folgende ab: 1. In allen Staaten ist nur der Souverän Gesetzgeber, ob er nun ein einzelner, wie in einer Monarchie, oder eine Versammlung von Menschen ist, wie in einer Demokratie oder Aristokratie. Denn Gesetzgeber ist, wer das Gesetz erläßt. Und nur der Staat schreibt die Beachtung jener Regeln vor, die wir Gesetz nennen und befiehlt sie: deshalb ist der Staat der Gesetzgeber. Aber der Staat ist nur durch seinen Vertreter Person, das heißt durch seinen Souverän, und ist nur durch ihn handlungsfähig, und deshalb ist der Souverän der alleinige Gesetzgeber. Aus demselben Grund kann niemand außer dem Souverän ein erlassenes Gesetz aufheben, da ein Gesetz nur durch ein anderes Gesetz aufgehoben werden kann, das seine Ausführung verbietet. 2. Der Souverän eines Staates, ob Versammlung oder Einzelperson, ist den bürgerlichen Gesetzen nicht unterworfen Denn da er die Macht besitzt, Gesetze zu erlassen und aufzuheben, so kann er auch nach Gutdünken sich von der Unterwerfung durch Aufhebung der ihm unangenehmen Gesetze und durch Erlaß neuer befreien - folglich war er vorher frei. Denn frei ist nur, wer frei sein kann, wenn er will. Es ist auch nicht möglich, gegen sich selbst verpflichtet zu sein, denn wer verpflichten kann, kann die Verpflichtung aufheben, 176 6 Rechtsphilosophie und deshalb ist einer, der nur gegen sich selbst verpflichtet ist, nicht verpflichtet. 3. Wenn lange Gewohnheit Gesetzeskraft erlangt, so kommt sie nicht durch die Länge der Zeit, sondern durch den Willen des Souveräns zustande, den er durch sein Schweigen zu erkennen gegeben hat - denn Schweigen läßt bisweilen auf Zustimmung schließen - , und sie ist nicht länger Gesetz, als der Souverän in dieser Frage schweigt. Und wenn deshalb eine den Souverän betreffende Rechtsfrage auftaucht, die nicht auf seinem gegenwärtigen Willen, sondern auf früher erlassenen Gesetzen beruht, so präjudiziert die Länge der Zeit sein Recht nicht, sondern der Fall muß nach Billigkeitsgründen entschieden werden. Denn viele ungerechte Handlungen und Urteile halten sich ungeprüft länger, als irgend jemand zurückdenken kann. Und unsere Richter berücksichtigen kein Gewohnheitsrecht außer einem, das der Vernunft entspricht, und vertreten die Ansicht, daß schlechte Gewohnheiten zu beseitigen seien. Aber das Urteil darüber, was vernünftig und was zu beseitigen ist, steht dem Gesetzgeber zu, also der souveränen Versammlung oder dem Monarchen. 4. Das Gesetz der Natur und das bürgerliche Gesetz schließen sich gegenseitig ein, und sind von gleichem Umfang. Denn die Gesetze der Natur, die in Billigkeit, Gerechtigkeit, Dankbarkeit und anderen von ihnen abhängenden moralischen Tugenden bestehen, sind im reinen Naturzustand, wie ich am Ende des 15. Kapitels sagte, keine eigentlichen Gesetze, sondern Eigenschaften, die die Menschen zu Frieden und Gehorsam hinlenken. Wenn einmal ein Staat errichtet ist, dann sind sie wirkliche Gesetze, nicht vorher, da sie staatliche Befehle und somit auch bürgerliche Gesetze sind. Denn sodann ist es die souveräne Gewalt, die die Menschen verpflichtet, ihnen zu gehorchen. [ … ] Bürgerliches und natürliches Gesetz sind keine verschiedenen Arten, sondern verschieden Teile des Gesetzes, wobei der eine - geschriebene - Teil bürgerlich, der andere - ungeschriebene - natürlich genannt wird. Aber das natürliche Recht, das heißt die natürliche Freiheit des Menschen, kann vom bürgerlichen Gesetz beschnitten und eingeschränkt werden: ja, der Zweck des Erlasses von Gesetzen ist kein anderer als eine solche Einschränkung, ohne die kein Friede möglich ist. Und auf der Welt 177 Leviathan wurden Gesetze zu nichts anderem eingeführt als um die natürliche Freiheit der Einzelmenschen dergestalt zu begrenzen, damit sie sich nicht gegenseitig schaden, sondern beistehen und sich gegen einen gemeinsamen Feind zusammenschließen. 5. Wenn der Souverän eines Staates ein Volk unterwirft, das unter anderen geschriebenen Gesetzen gelebt hat und es danach mit Hilfe derselben Gesetze regiert, durch die es zuvor regiert worden war, so sind diese Gesetze dennoch die bürgerlichen Gesetze des Siegers und nicht des besiegten Staates. Denn Gesetzgeber ist nicht der, durch dessen Autorität die Gesetze zuerst erlassen worden waren, sondern der, durch dessen Autorität sie nunmehr weiterhin Gesetze sind. [ … ] 6. Erhalten also alle Gesetze, ob geschrieben oder ungeschrieben, ihre Autorität und Kraft vom Willen des Staates, das heißt vom Willen der Vertretung, die in einer Monarchie aus dem Monarchen, in anderen Staaten aus der souveränen Versammlung besteht, so mag man sich erstaunt fragen, woher solche Meinungen stammen, die man in den Büchern bedeutender Rechtsgelehrter verschiedener Staaten findet, die die legislative Gewalt direkt oder indirekt von Privatleuten oder untergeordneten Richtern abhängig machen wollen. So zum Beispiel die Ansicht, „ daß für das gemeine Gesetz nur das Parlament zuständig ist “ . Dies ist nur dort richtig, wo ein Parlament die souveräne Gewalt innehat und nur durch eigenen Beschluß zusammentritt oder sich auflöst. Denn besitzt ein anderer das Recht zu ihrer Auflösung, so besitzt er auch ein Recht, sie zu kontrollieren und folglich zur Kontrolle ihrer Kontrolle. Und ist kein solches Recht vorhanden, dann ist für die Gesetze nicht parliamentum, sondern rex in parliamento zuständig. Und wo ein Parlament souverän ist, würde niemand annehmen, daß sich eine Versammlung aus noch so vielen oder klugen Menschen aus den ihm aus irgendwelchen Gründen unterworfenen Ländern durch ihren Zusammentritt die legislative Gewalt erwirbt. Item, daß die beiden Arme des Staates Gewalt und Gerechtigkeit sind, wovon die erste beim König, die zweite in Händen des Parlaments liegt. Als ob ein Staat bestehen könnte, in dem sich die Gewalt in einer Hand befindet, die der Befehls- und Regierungsgewalt der Gerechtigkeit nicht unterstünde! 178 6 Rechtsphilosophie 7. Unsere Rechtsgelehrten stimmen darin überein, daß ein Gesetz niemals der Vernunft widersprechen kann und daß nicht der Buchstabe, das heißt sein Wortlaut, das Gesetz ausmacht, sondern das, was der Absicht des Gesetzgebers entspricht. Und das ist richtig: Aber die Frage ist, wessen Vernunft als Gesetz aufgefaßt werden soll. Es ist nicht jede private Vernunft gemeint, denn sonst gäbe es bei den Gesetzen ebensoviel Widersprüche wie bei den Scholastikern und auch nicht, wie Sir Edward Coke meint, „ eine ausgebildete Vollkommenheit der Vernunft, erlangt durch lange Studien, Beobachtungen und Erfahrungen “ , wie die seine. 26 Denn es ist möglich, daß ein langes Studium irrtümliche Urteile vermehrt und befestigt, und wo die Menschen auf einem schlechten Grund bauen, da wird die Ruine um so größer, je mehr sie bauen, und die Gründe und Ergebnisse derer, die in gleicher Zeit und mit gleichem Fleiß studieren und beobachten, sind widersprüchlich und müssen es bleiben. Deshalb ist es nicht diese jurisprudentia oder Weisheit untergeordneter Richter, sondern die Vernunft unseres künstlichen Menschen ‚ Staat ‘ und sein Befehl, die das Gesetz ausmachen, und da der Staat in seiner Vertretung nur eine Person ist, kann nicht leicht eine Widersprüchlichkeit der Gesetze entstehen. [ … ] 8. Aus der Tatsache, daß das Gesetz ein Befehl ist und ein Befehl in der Erklärung oder Kundgebung des Willens des Befehlenden durch mündliche, schriftliche oder andere ausreichende Hinweise besteht, können wir entnehmen, daß der Befehl des Staates nur für diejenigen Gesetz ist, die in der Lage sind, davon Kenntnis zu nehmen. Für die von Natur aus Schwachsinnigen, für Kinder oder Geisteskranke gibt es kein Gesetz, nicht mehr als für wilde Tiere. Die Bezeichnungen ‚ gerecht ‘ und ‚ ungerecht ‘ lassen sich auf sie ebenfalls nicht anwenden, da es niemals in ihrer Macht stand, einen Vertrag zu schließen oder die sich daraus ergebenden Folgen zu verstehen, und da sie folglich nie auf sich nahmen, die Handlungen eines Souveräns zu autorisieren, wie es die tun müssen, die sich einen Staat errichten. Und wie diejenigen, denen es die Natur oder ein Unglück unmöglich gemacht hat, die Gesetze im allgemeinen zu erkennen, so ist auch derjenige entschuldigt, der ein besonderes Gesetz nicht beachtet, weil ihm irgendein Umstand, für den er nichts kann, die Möglichkeit genommen hat, es zu erkennen. Um es genau 179 Leviathan zu sagen: dieses Gesetz ist für ihn kein Gesetz. Es ist deshalb nötig, an dieser Stelle zu untersuchen, welche ausreichenden Hinweise und Zeichen es gibt, an denen man erkennen kann, was Gesetz, das heißt, was der Wille des Souveräns ist, in Monarchien so gut wie in anderen Regierungsformen. Erstens. Wenn es sich um ein Gesetz handelt, das ausnahmslos alle Untertanen verpflichtet und weder geschrieben noch auf andere Weise an den Orten veröffentlicht ist, wo man von ihnen Kenntnis nehmen könnte, so ist es ein Gesetz der Natur. Denn alles, was man nicht auf Grund der Worte anderer Menschen, sondern durch seine eigene Vernunft als Gesetz zu erkennen hat, muß so beschaffen sein, daß es mit der Vernunft aller Menschen übereinstimmt. Das trifft auf kein Gesetz außer dem natürlichen zu. Die Gesetze der Natur bedürfen deshalb weder einer Veröffentlichung noch einer Verkündung, da sie in diesem einen, von aller Welt anerkannten Satz enthalten sind: Füge einem anderen nichts zu, was du für unvernünftig hältst, wenn es dir ein anderer zufügt. 27 Zweitens. Wenn es sich um ein Gesetz handelt, das nur für Menschen unter einer bestimmten Voraussetzung oder nur für einen einzelnen verbindlich und weder geschrieben noch mündlich veröffentlicht ist, so ist es ebenfalls ein natürliches Gesetz und wird an denselben Hinweisen und Zeichen erkannt, durch die sich die Menschen, für die diese Voraussetzungen zutreffen, von den anderen Untertanen unterscheiden. Denn jedes nicht geschriebene oder auf eine andere Weise vom Gesetzgeber veröffentlichte Gesetz kann nur durch die Vernunft dessen erkannt werden, der ihm zu gehorchen hat, und ist deshalb nicht nur ein bürgerliches, sondern auch ein natürliches Gesetz. [ … ] Alle diese Richtlinien der natürlichen Vernunft können unter dem einen Namen der Treue zusammengefaßt werden, die ein Zweig der natürlichen Gerechtigkeit ist. Das Gesetz der Natur ausgenommen, gehört es zum Wesen aller anderen Gesetze, daß sie jedem bekanntgemacht werden, der verpflichtet werden soll, ihnen zu gehorchen, und zwar entweder mündlich oder schriftlich oder durch irgendeine andere Handlung, von der bekannt ist, daß sie von der souveränen Autorität stammt. Denn der Wille eines anderen läßt sich nur aus seinen Worten, seinen Handlungen oder den Schlüssen auf Grund seiner Ziele und Ab- 180 6 Rechtsphilosophie sichten verstehen, wobei man bei der Person des Staates annehmen muß, daß diese immer mit der Billigkeit und der Vernunft übereinstimmen. [ … ] Es reicht nicht aus, daß das Gesetz geschrieben und veröffentlicht wird, sondern es muß auch deutliche Anzeichen geben, daß es vom Willen des Souveräns ausgeht. Denn wenn private Personen stark genug sind oder sich für stark genug halten, ihre ungerechten Pläne zu verfolgen und unbedenklich zu ihrem ehrgeizigen Ziel zu führen, so können sie als Gesetze verkünden, was ihnen beliebt - ohne oder gegen die gesetzgebende Gewalt. Deshalb ist nicht nur die Verkündung des Gesetzes erforderlich, sondern auch ausreichende Zeichen des Autors und der Autorität. [ … ] Ist der Gesetzgeber bekannt und sind die Gesetze schriftlich oder durch das Licht der Vernunft ausreichend veröffentlicht, so fehlt doch noch ein anderes, sehr wesentliches Kriterium, um sie verbindlich zu machen. Denn das Wesen des Gesetzes liegt nicht im Buchstaben, sondern in der Absicht oder im Sinn des Gesetzes, das heißt, in seiner authentischen Interpretation (nämlich dem Willen des Gesetzgebers). Und deshalb hängt die Auslegung aller Gesetze von der souveränen Autorität ab, und Interpreten können nur diejenigen sein, die der Souverän, dem der Untertan allein Gehorsam schuldet, hierzu ernennt, denn andernfalls könnte die Verschlagenheit des Interpreten dem Gesetz einen Sinn verleihen, der dem Willen des Souveräns entgegengesetzt ist: dadurch wird der Interpret zum Gesetzgeber. Alle Gesetze, geschriebene und ungeschriebene, bedürfen der Auslegung. Zwar ist das ungeschriebene natürliche Gesetz solchen Menschen, die sich ohne Parteilichkeit und Leidenschaft ihrer natürlichen Vernunft bedienen, leicht zugänglich, und deshalb gibt es für diejenigen, die es verletzen, keinen Entschuldigungsgrund. Wenn man aber bedenkt, daß es nur sehr wenige, vielleicht auch keine Menschen gibt, die nicht in einigen Fällen durch Selbstliebe oder andere Leidenschaften geblendet sind, so ist es nunmehr zum dunkelsten aller Gesetze geworden und bedarf folglich am meisten fähiger Interpreten. Sind' die geschriebenen Gesetze kurz, so werden sie wegen der verschiedenen Bedeutung eines oder zweier Wörter leicht falsch ausgelegt; sind sie lang, so werden sie durch die 181 Leviathan verschiedene Bedeutung vieler Wörter um so dunkler. Insofern kann kein geschriebenes Gesetz, ob es nun in vielen oder wenigen Wörtern abgefaßt ist, ohne ein vollkommenes Verstehen der letztlichen Gründe seines Erlasses ausreichend verstanden werden. Diese letztlichen Gründe kennt der Gesetzgeber. Für ihn kann es deshalb keinen unauflöslichen Knoten im Gesetz geben, weil er entweder die Enden herausfindet, um es aufzuknüpfen, oder wie Alexander beim Gordischen Knoten mit dem Schwert durch die legislative Gewalt die von ihm gewollten Enden schafft. Dazu ist kein anderer Interpret in der Lage. Dialog I . Vo m G e s e t z d e r Ve r n u n f t Jurist.: Warum behauptest du, daß das Studium des Rechts weniger vernunftgemäß sei als das Studium der Mathematik? Philosoph.: Das behaupte ich gar nicht, denn jedes Studium ist entweder vernunftgemäß oder es ist nichts wert. Aber ich behaupte, daß die großen Mathematiker nicht so häufig irren wie die großen Rechtsgelehrten. J.: Vielleicht wärest du anderer Meinung, wenn du das Recht wirklich gründlich studiert hättest. P.: Ganz gleich, was ich studiere; ich versuche immer, vernunftgemäß vorzugehen. Die Gesetzestexte, beginnend bei der Magna Carta 28 bis in die heutige Zeit, habe ich durchgesehen. Ich ließ nicht einen ungelesen, von dem ich annahm, daß er für mein Urteil wichtig sein könnte, und dies hielt ich auch für ausreichend, denn es ging mir ja um nichts als mein eigenes Urteil. Aber ich untersuchte sie nicht in der Hinsicht, welcher von ihnen mehr oder weniger vernünftig sei, denn ich las sie ja nicht, um sie in Frage zu stellen, sondern um herauszufinden, ob es vernünftig sei, ihnen zu gehorchen. Und ich erkannte in allen den vernünftigen Grund für meinen Gehorsam, und diese Vernünftigkeit blieb bestehen, auch wenn die Gesetze selbst geändert worden waren. Ich habe auch Littletons Buch der Besitz- 182 6 Rechtsphilosophie titel mit den diesbezüglichen Kommentaren des berühmten Juristen Sir Edward Coke 29 sorgfältig durchgelesen, in welchem, ich gestehe, ich ein großes Maß an Scharfsinn erkannte, wobei es wiederum nicht auf die einzelnen Gesetze, sondern auf die allgemeinen Folgerungen ankommt. Dies gilt besonders für die Folgerungen aus dem Gesetz der menschlichen Natur, welches das Gesetz der Vernunft ist: und zweifellos hat Littleton Recht, wenn er in seinem Nachwort sagt: durch Argumentation und Vernunft kommt man eher zu Gewißheit über das Recht und zur Kenntnis von ihm. Ich stimme mit Sir Coke, der jenen Text kommentiert, außerdem darin überein, daß Vernunft die Seele des Rechts ist. [ … ] [P.: ] Denn es ist ja nicht die Weisheit, sondern die Autorität, die ein Gesetz zum Gesetz macht 30 . Auch ist der Ausdruck „ juristische Vernunft “ dunkel; außer menschlicher Vernunft gibt es in irdischen Geschöpfen keine Vernunft. Ich vermute, er meint, daß die Vernunft eines Richters oder aller Richter (außer dem König) zusammengenommen jene summa ratio und das Gesetz an sich bildet. Dies aber bestreite ich, da niemand ein Gesetz machen kann, außer er verfügt über die legislative Gewalt. Es ist offensichtlich unwahr, daß das Recht von bedeutenden und gelehrten Männern, d. h. von den Professoren des Rechts, vervollkommnet wurde, denn die Gesetze Englands wurden stets von den Königen von England zu Gesetzen gemacht, nachdem sie Ober- und Unterhaus des Parlaments zu Rate gezogen hatten. Aber dort sitzt nicht einer unter zwanzig, der gelernter Jurist ist. I I . Vo n d e r S o u v e r ä n i t ä t P.: Wir stimmen darin überein, daß es in England der König ist, der die Gesetze zu Gesetzen macht, wer auch immer sie verfaßt, und darin, daß der König seine Gesetze nicht wirksam werden lassen und sein Volk nicht gegen dessen Feinde verteidigen kann ohne die Macht, Soldaten zu rekrutieren. Woraus folgt, daß er rechtmäßig eine Armee (die in manchen Fällen sehr groß sein mag), aufstellen und Geld, um sie zu unterhalten, aufbringen können muß, so oft er es für wirklich notwendig hält. Ich zweifle nicht, daß du zugestehst, daß dies (wenigstens) dem Gesetz der Vernunft entspricht. 183 Dialog J.: Für meinen Teil gestehe ich es zu. Aber du hast gehört, daß es vor und in den jüngsten Auseinandersetzungen Leute gab, die anderer Ansicht waren 31 . Soll der König von uns nehmen, was ihm beliebt, unter dem Vorwand einer Notwendigkeit, über die er sich selbst zum Richter macht, sagten sie? In welch schlechtere Lage können wir durch Feinde geraten? Sie können auch nicht mehr von uns nehmen als das, was sie selber nehmen wollen! P.: Die Menschen ziehen falsche Schlüsse; sie wissen nicht, in welcher Lage wir uns zu Zeiten des Eroberers befanden, als es eine Schande war, ein Engländer zu sein, der, wenn er sich über die niederen Dienste, zu denen er von seinen normannischen Herren gezwungen worden war, beschwerte, keine andere Antwort erhielt als, „ du bist nur ein Engländer “ . [ … ] J.: Gibt es in den besagten Gesetzen, die die Erhebung von Abgaben ohne Zustimmung des Parlaments einschränken, irgend etwas, wonach man Ausnahmen machen kann? P.: Nein, es ist in Ordnung, daß die Könige, die dem Parlament solche Zugeständnisse machen, verpflichtet sind, sich daran zu halten, soweit es ihnen, ohne Unrecht zu tun, möglich ist. Aber sollte der König feststellen, daß er durch ein solches Zugeständnis daran gehindert wird, seine Untertanen zu beschützen, tut er Unrecht, wenn er sich daran hält; er kann und sollte daher einem solchen Zugeständnis keine Beachtung schenken; denn Zugeständnisse, die man durch Irrtum oder falsche Vorschläge von ihm erhalten hat, sind, wie die Juristen zugeben, rechtsungültig und ohne Wirkung und müssen rückgängig gemacht werden. Der König trägt (wie allgemein anerkannt wird) die Verantwortung, sein Volk gegen ausländische Feinde zu schützen und den Frieden innerhalb des Reiches zu wahren. Wenn er nicht sein Äußerstes tut, um diese Verpflichtung zu erfüllen, tut er Unrecht, was weder ein König noch ein Parlament darf 32 . [ … ] J.: Was das Gesetz der Vernunft anbetrifft, welches die Gerechtigkeit ist, so sollte deutlich sein, daß es nur einen Gesetzgeber gibt, nämlich Gott. 184 6 Rechtsphilosophie P.: Daraus folgt dann aber, daß das, was du im Unterschied zum Gesetzesrecht das Gemeine Recht nennst, nichts anderes als das Gesetz Gottes ist. J.: In gewissem Sinne schon, aber es ist keine Offenbarung, sondern natürliche Vernunft und natürliche Gerechtigkeit. P.: Soll etwa jeder Mensch jedem anderen Menschen gegenüber seine besondere Vernunft zum Gesetz erklären? Es gibt unter den Menschen keine allgemeingültige Vernunft, auf die man sich in jedem Staat einigen könnte, außer der desjenigen, der die Souveränität innehat. Auch seine Vernunft ist zwar die eines einzelnen Menschen, aber sie ist doch geschaffen worden, um den Rang jener allgemeingültigen Vernunft einzunehmen, welche uns von unserem Erlöser im Evangelium dargelegt worden ist. Und folglich ist unser König für uns der Gesetzgeber, sowohl für das Gesetzesrecht wie auch für das Gemeine Recht 33 . [ … ] P.: Darüber haben wir schon vorher Einigkeit erzielt. Da also der König alleiniger Gesetzgeber ist, ist es meiner Ansicht nach auch vernünftig, daß er der einzige oberste Richter sein sollte. [ … ] P.: Folgendermaßen: Ein Gesetz ist ein Befehl desjenigen oder derjenigen, die die Souveränität innehaben, gerichtet an jene, die seine oder ihre Untertanen sind, in dem öffentlich und unmißverständlich erklärt ist, was jedem von ihnen erlaubt ist und was sie unterlassen müssen. [ … ] P.: Du siehst, daß kein Privatmann ein Eigentumsrecht an Ländereien oder Gütern geltend machen kann, es sei denn aus Besitztiteln, die von niemand anderem als dem König oder denen, die die Souveränität innehaben, herstammen. Denn es liegt in der Herrschaft begründet, daß nicht jedermann das, was ihm beliebt, betreten und besitzen kann. Wenn man folglich dem Herrscher irgend etwas verweigert, das der Aufrechterhaltung seiner Herrschaft dient, so bedeutet dies die Vernichtung des Eigentumsrechts, um das es doch geht. [ … ] Welche größere Behinderung des Gemeinen Rechts und größere Untergrabung der Macht des Königs gibt es als die Freiheit der 185 Dialog Untertanen, den König daran zu hindern, Abgaben zu erheben, mit denen Rebellionen, die die Gerechtigkeit zerstören und die Macht der Souveränität, untergraben, unterdrückt oder verhindert werden sollen? I I I . Vo n d e n G e r i c h t s h ö f e n P.: Ein Verbrechen ist ein Vergehen, ganz gleich welcher Art, für das vom Recht des Landes eine Strafe angeordnet worden ist, aber man muß erkennen, daß ein Schadensersatz, der der geschädigten Partei zugesprochen wird, nichts mit der Natur der Strafe zu tun hat. Es ist nach dem Gesetz der Vernunft eine reine Wiedergutmachung oder eine angemessene Genugtuung für die geschädigte Partei und infolgedessen ebensowenig eine Bestrafung wie die Bezahlung einer Schuld. J.: Es scheint, du machst bei dieser Definition eines Verbrechens keinen Unterschied zwischen einem Verbrechen und einer Sünde. P.: Alle Verbrechen sind in der Tat Sünden, aber nicht alle Sünden sind Verbrechen. Eine Sünde kann in den Gedanken oder heimlichen Absichten eines Menschen liegen, von denen weder ein Richter noch ein Zeuge, noch irgendein Mensch Kenntnis erlangt. Ein Verbrechen jedoch ist eine Sünde, die in einer Handlung gegen das Gesetz besteht, deren man angeklagt, durch einen Richter verurteilt und von Zeugen überführt oder entlastet werden kann. Weiter kann man sagen, daß dasjenige, was in sich selbst keine Sünde, sondern gleichgültig ist, durch ein positives Gesetz zur Sünde erklärt werden kann. [ … ] P.: Was das Gesetzesrecht betrifft, ist es immer Gesetz und auch Vernunft, denn es ist mit Zustimmung des ganzen Königreiches erlassen worden, während Präzedenzfälle einander widersprechen, denn verschiedene Menschen fällen zu verschiedenen Zeiten in denselben Angelegenheiten verschiedene Urteile. [ … ] P.: Laß ’ uns an dieser Stelle aufhören, denn das, was du gesagt hast, genügt mir; ich wollte ja nichts anderes, als zwischen Gesetzmäßigkeit und Billigkeit zu unterscheiden. Und deswegen komme ich zu 186 6 Rechtsphilosophie dem Schluß, daß Gesetzmäßigkeit dem Gesetz Genüge tut, Billigkeit hingegen das Gesetz interpretiert und die aufgrund desselben Gesetzes gefällten Urteile ergänzt. I V. Vo n d e n K a p i t a l v e r b r e c h e n P.: Du weißt, daß Salus Populi Suprema Lex ist, das bedeutet, daß die Sicherheit des Volkes oberstes Gesetz ist. Die Sicherheit der Menschen in einem Königreich besteht aber in der Sicherheit des Königs und darin, daß er die Macht hat, die notwendig ist, um sein Volk sowohl gegen ausländische Feinde als auch gegen aufrührerische Untertanen zu verteidigen. Daraus schließe ich, daß der Plan, d. h. die Absicht, den jeweiligen König zu töten, Hochverrat war, bevor dieses geschriebene Gesetz geschaffen wurde: denn dies bedeutet, den Bürgerkrieg und die Vernichtung des Volkes zu planen. P.: Und was ist Mord? J.: Mord ist die vorbedachte, böswillige Tötung eines Menschen mit einer Waffe, Gift oder auf irgendeine Weise, wenn sie vorsätzlich geschieht, oder anders gesagt, Mord ist die kaltblütige Tötung eines Menschen. P.: Ich glaube, es gibt eine gute Definition von Mord [ … ]; sie lautet folgendermaßen: Auf Mord soll von nun an nicht mehr in unseren Gerichtshöfen befunden werden, wenn es sich um einen Unfall handelt, sondern nur dort, wo der Totschlag aus Felonie 34 erfolgte. V. Ü b e r K e t z e r e i J.: Was die Ketzerei angeht, so sagt Sir Coke in Inst., III, S. 39, daß fünf Dinge in Betracht gezogen werden müssen, nämlich 1. Wer die Richter über Ketzerei sind, 2. was als Ketzerei beurteilt werden soll, 3. wie das Urteil über einen Menschen lautet, der der Ketzerei schuldig erklärt worden ist, 4. was das Gesetz ihm erlaubt, um sein Leben zu retten, 5. was er durch das gegen ihn verhängte Urteil einbüßen soll. P.: Das Wichtigste, nämlich die Ketzerei selbst, läßt er aus. Er erörtert nämlich weder was sie ausmacht, aus welchem Tatbestand 187 Dialog oder Äußerungen sie besteht und welches Recht, ob Gesetzesrecht oder das Gesetz der Vernunft, durch sie verletzt wird. Der Grund, warum er sich darüber ausschweigt, liegt vielleicht darin, daß die Frage nicht nur außerhalb seines Faches, sondern überhaupt außerhalb seines Wissens lag. Jedermann weiß, daß Mord, Raub, Diebstahl usw. böse sind und vom Gesetzesrecht zu Verbrechen erklärt werden, so daß jeder sie vermeiden kann, wenn er will. Aber wer kann sicher sein, Ketzerei zu vermeiden, wenn er es etwa wagt, Rechenschaft über seinen Glauben abzulegen, es sei denn, er weiß im Voraus, was Ketzerei ausmacht? V I . Ü b e r d i e S t r a f e n P.: Und vor allem möchte ich wissen, wer die Macht hat, die jeweilige Art der Strafe für ein begangenes Verbrechen zu definieren und festzulegen. Immer angenommen, daß wir nicht, wie die Stoiker des Altertums, der Meinung sind, Schuld sei Schuld und für das Töten eines Menschen solle die gleiche Strafe gelten wie für das Töten eines Huhns. J.: Die Art der Bestrafung für jedwedes Vergehen muß durch das Gemeine Recht bestimmt sein. D. h., daß im Fall der Bestimmung durch ein Gesetz das Urteil im Einklang mit dem Gesetz erfolgen muß; sollte die Strafe nicht durch ein Gesetz bestimmt sein, dann muß die Gewohnheit befolgt werden: aber sollte es sich um einen neuartigen Fall handeln so wüßte ich nicht, warum der Richter nicht nach der Vernunft entscheiden sollte. P.: Aber nach wessen Vernunft? Wenn du damit die natürliche Vernunft dieses oder jenes Richters meinst, der vom König autorisiert ist, den Fall zu behandeln, so wäre, da es so viele Arten Vernunft wie Menschen gibt, die Bestrafung aller Vergehen unbestimmt und keine würde je zu einer Gewohnheit werden. Deshalb kann ein bestimmtes Strafmaß nie exekutiert werden, wenn seine Begründung in der natürlichen Vernunft der beauftragten Richter oder sogar in der des obersten Richters liegen soll: denn würde Strafe durch das Gesetz der Vernunft bestimmt, so müßten für die gleichen 188 6 Rechtsphilosophie Vergehen überall in der Welt und zu jeder Zeit die gleichen Strafen gelten; denn das Gesetz der Vernunft ist unabänderlich und ewig. J.: Wenn aus der natürlichen Vernunft weder des Königs noch irgend jemandes eine Strafe abgeleitet werden kann, wie kann es dann überhaupt gesetzliche Strafen geben? P.: Wieso nicht? Denn ich denke, daß sich aus eben dieser Verschiedenheit der vernünftigen Fähigkeiten der einzelnen die wahre und vollkommene Vernunft ergibt, nach der Strafen zu bestimmen sind. Denn man muß nur die Autorität, Strafen festzulegen, einem beliebigen Menschen übertragen und seine Festlegung wird der rechten Vernunft entsprechen: allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sowohl die Festlegung als auch ihre Bekanntmachung erfolgt, bevor die Tat begangen wird 35 . Denn diese Autorität ist dem Trumpfen beim Kartenspielen zu vergleichen - bis dahin, daß in Regierungssachen, solange sonst nichts angesagt ist, Kreuz immer Trumpf ist. Denn da jeder durch seine eigene Vernunft weiß, welche Taten dem Gesetz der Vernunft entgegenstehen, und wenn er weiß, welche Strafe für jede üble Tat durch die Autorität festgelegt ist, ist es offensichtlich vernünftig, daß er, wenn er ein ihm bekanntes Gesetz bricht, dafür auch die ihm bekannte Strafe erleidet. Nun kann die Person, die diese Autorität, Strafen festzulegen, erhält, an keinem Ort der Welt jemand anders sein als die, die die souveräne Gewalt innehat, sei es ein einzelner oder eine Versammlung. [ … ] P.: Es ist nicht der Klerus, der seine Canones zum Gesetz macht, sondern es ist der König, der dies durch das Große Siegel Englands tut; und es ist der König, der dem Klerus die Macht gibt, seine Doktrin zu lehren, indem er ihn öffentlich ermächtigt, die Glaubenslehre von Christus und seinen Aposteln zu lehren und zu predigen, entsprechend der Heiligen Schrift, in der diese Lehre klar verständlich enthalten ist. [ … ] P.: Da sieht man, was es bedeutet, Felonie in verschiedene Arten zu unterteilen, bevor man die allgemeine Bezeichnung Felonie in ihrer Bedeutung verstanden hat. Daß jedoch ein Mann all sein bewegliches Hab und Gut, sein Einkommen und seine Ansprüche verliert allein für die unglückliche Tötung eines anderen, ohne eine böse 189 Dialog Absicht, ist ein sehr hartes Urteil, außer vielleicht, wenn alles den Hinterbliebenen des Getöteten gegeben würde als Ausgleich für den Schaden. Aber so lautet das Gesetz nicht. Ist es das Gemeine Recht (das Gesetz der Vernunft), das ein solches Urteil rechtfertigt, oder das Gesetzesrecht? Das Gesetz der Vernunft kann es nicht sein, wenn es sich um ein bloßes Unglück handelt. Wenn ein Mann auf seinem Apfelbaum sitzt, um Äpfel zu pflücken, unglücklicherweise herunterfällt und einen anderen tötet, weil er auf dessen Kopf fällt, selbst aber glücklicherweise mit dem Leben davonkommt, soll er für dieses Unglück mit dem Verlust seiner Habe an den König bestraft werden? Rechtfertigt dies das Gesetz der Vernunft? Er hätte (wird man sagen) auf seine Füße achten sollen; das stimmt, aber genauso hätte derjenige, der unten war, zum Baum hochschauen müssen. Daher bestimmt das Gesetz der Vernunft (so wie ich glaube), daß jedem von ihnen nur sein eigenes Unglück zugerechnet werden sollte. J.: In diesem Fall stimme ich mit dir überein. V I I . Vo n d e r B e g n a d i g u n g J.: Aber wenn der König nach ejgenem Gutdünken Gnade auf Mord und Schwerverbrechen gewähren soll, gäbe es sehr wenig Sicherheit für jeden, weder außer Haus noch drinnen, weder bei Tag noch bei Nacht. Genau aus diesem Grunde sind viele gute Gesetze gemacht worden, die den Richtern verbieten, Begnadigungen zu gewähren, wenn etwa das Verbrechen, um das es geht, nicht besonders benannt ist. P.: In der Tat muß ich zugeben, daß Gesetze, die dem Richter untersagen, bei Mord zu begnadigen, vernünftig und sehr vorteilhaft sind. Aber welches Gesetz soll dem König verbieten, dies zu tun? Es gibt ein Gesetz, nämlich Richard II, 13, 1 (1389), worin sich der König verpflichtet, bei Mord nicht zu begnadigen, doch auch dies enthält eine Klausel, die die königliche Souveränität bewahrt. Woraus geschlossen werden kann, daß der König auf diese Macht nicht verzichten kann, insofern er ihren Gebrauch für das Gemeinwohl für förderlich hält. 190 6 Rechtsphilosophie V I I I . Ü b e r d a s E i g e n t u m s r e c h t P.: Ich habe jetzt Verbrechen und Strafen abgehandelt; wir wollen jetzt zu den Gesetzen von Meum und Tuum kommen, d. h. zum Recht auf „ Mein und Dein “ , also zum Eigentum. [ … ] J.: Aber du weißt, daß man sagt, der Souverän habe einen Doppelcharakter: d. h. einen natürlichen Charakter als Mensch und einen politischen als König. In seinem Charakter als politisches Subjekt, war König Wilhelm der Eroberer zugegebenermaßen einst der rechtmäßige und einzige Besitzer allen Landes in England, nicht aber als natürliches Subjekt. P.: Wenn er es in seiner politischen Eigenschaft war, dann war das Land auf eine Weise sein Eigentum, daß er sich von einem Teil desselben nur trennen konnte, wenn es zum Wohl des Volkes geschah, und das hatte entweder nach seiner eigenen oder der Entscheidung des Volkes zu geschehen, d. h. kraft Parlamentsbeschluß. [ … ] Aber ich weiß, daß du diesen Vorwand nicht für gerechtfertigt hältst. Es kann daher nicht abgestritten werden, daß das Land, das König Wilhelm der Eroberer an Engländer und andere abgab und das sie jetzt aufgrund seiner Schutzbriefe und anderer Übertragungen besitzen, rechtmäßig und wirklich sein eigenes war. Ansonsten wären die Rechtstitel derjenigen, die es jetzt besitzen, ungültig. J.: Da stimme ich zu. So wie du mir jetzt die Anfänge der Monarchien gezeigt hast, so laß mich jetzt auch deine Meinung über ihr Wachstum hören. P.: Große Monarchien haben sich aus kleinen Familien entwickelt. Zunächst durch Krieg, bei dem der Sieger nicht nur sein Territorium vergrößerte, sondern auch die Anzahl und Reichtümer seiner Untertanen. Was andere Formen von Gesellschaften angeht, so sind sie auf andere Weise vergrößert worden. Einmal durch freiwilligen Zusammenschluß vieler Familienhäupter zu einer großen Aristokratie. Dann aber auch durch Rebellion, die zuerst zu Anarchie führte und diese dann zu den Formen, zu denen das in der Anarchie erfahrene Leid die Betroffenen veranlaßte: ob sie nun ein Erbkö- 191 Dialog nigtum einsetzten oder einen auf Lebenszeit wählten oder ob sie sich auf eine Versammlung bestimmter Personen einigten (was Aristokratie ist) oder auf die souveräne Vertretung des gesamten Volkes, also auf Demokratie. In der ersten Art und Weise, durch Krieg, wuchsen die größten Königreiche der Welt heran, d. h. die ägyptische, syrische, persische und mazedonische Monarchie und genauso die großen Königreiche England, Frankreich und Spanien. Die zweite Art und Weise bildete den Ursprung der venezianischen Aristokratie. Auf die dritte Art, die der Rebellion, wuchsen verschiedene große Monarchien heran, die sich ständig veränderten. So brachte z. B. die Rebellion gegen die Könige in Rom die Demokratie hervor, von der der Senat unter Sulla die Macht usurpierte, und das Volk unter Marius wiederum vom Senat, und der Kaiser vom Volk unter Caesar und seinen Nachfolgern. [ … ] J.: Da alles Land, das ein souveräner Herr innehatte, sein Eigentum war, wie konnte ein Untertan zu Landbesitz kommen? P.: Es gibt zwei Arten von Eigentum. Die eine ist, wenn jemand Land als Geschenk Gottes besitzt, welches die Römischrechtler allodialen Besitz nennen 36 , den in einem Königreich niemand als der König haben kann. Die andere ist, wenn jemand sein Land von jemand anderem als Lehen erhält, in Anerkennung seines Dienstes und Gehorsams. Die erste Art des Besitzes ist absolut, die andere auf bestimmte Weise bedingt, weil für einen Dienst verliehen, der dem Geber zu leisten ist. Die erste Art des Besitzes schließt das Recht aller anderen aus, die zweite schließt das Recht aller anderen Untertanen an diesem Land aus, nicht aber das Recht des Souveräns an diesem Land, wenn das gemeine Wohl des Volkes die Einforderung dieses Rechts erforderlich machen sollte. [ … ] 192 6 Rechtsphilosophie 7 Religion und Kirche Einleitung Religion und Kirche hatten in Hobbes ’ Zeit eine heute kaum noch vorstellbar überragende Bedeutung. Sowohl die Stellung der (christlichen) Religion und ihrer Organisation, der Kirche, im Staat als auch das Verhältnis des Staates zu Religion und Kirche warfen hochpolitische Fragen auf. Infolgedessen spielt dieses Themenfeld in allen drei staatsphilosophischen Schriften Hobbes ’ eine große Rolle: Der anthropologische Teil des Naturrecht ( „ Die Natur des Menschen “ ) widmet das vorletzte Kapitel, XVIII, der „ Bestätigung “ des Gesetzes der Natur „ aus dem Wort Gottes “ . Der zweite und letzte staatstheoretische Teil ( „ Vom politischen Körper “ ) behauptet in zwei Kapiteln, XXV und XXVI, über Religionsstreitigkeiten habe - allein - die souveräne Macht zu entscheiden. In der Schrift Vom Bürger befaßt sich im zweiten Teil „ Herrschaft “ ein Kapitel, XI, mit der Bestätigung des zuvor Gesagten „ aus der heiligen Schrift “ . Und der dritte und letzte Teil widmet sich in vier Kapiteln ausschließlich der „ Religion “ . Im Leviathan tritt das Themenfeld schon im Untertitel zutage, da dieser vom „ bürgerlichen und kirchlichen Staat “ spricht. Zwei der vier Teile, dabei fast die Hälfte des Textes befassten sich mit dem „ christlichen Staat “ (Teil III) und seinem (angeblichen) Gegenspieler, dem „ Reich der Finsternis “ (Teil IV). Dabei polemisiert Hobbes, der überzeugte Anglikaner, heftig gegen die katholische Kirche und die schottischen Presbyterianer. Selbst die anderen Teile des Leviathan behandeln in je einem Kapitel religiöse Fragen. Im Teil I „ Vom Menschen “ widmet Hobbes das Kapitel 11 der „ Religion “ und in Teil II das Kapitel 31 dem „ natürlichen Reich Gottes “ . In vielen weiteren Kapiteln sind mit der Religion zusammenhängende Fragen so wichtig, daß in fast jedem Thema der philosophischen Anthropologie (Teil I) und der Staatsphilosophie (Teil II) Hinweise auf Gott und auf Lehrer oder Personen der Bibel, insbesondere des Alten Testaments auftauchen. Wegen der anthropologischen Bedeutung der Religion behandelt Hobbes ’ mittleres anthropologisches Werk innerhalb des Systems, die Schrift Vom Menschen (De homine), in einem Kapitel, XIV, die „ Religion “ . Trotzdem darf man das Gewicht der Religion in Hobbes ’ Philosophie nicht überbewerten, was ein Gedankenexperiment zeigt: Streicht man in den beiden „ säkularen “ Teilen des Leviathan, immerhin Hobbes ’ philosophischem Hauptwerk, versuchsweise alle Hinweise auf Religion und Kirche, dann gehen zwar so erhebliche Aussagen verloren wie zum Beispiel, daß der gewöhnliche Mensch Gott als „ Rächer unrechter Handlungen fürchtet “ (Kap. 14); daß „ nur Narren sich insgeheim sagen, es gebe keinen Gott “ (Kap. 15); daß wir zwar den Staat als sterblichen Gott brauchen, aber „ unseren Frieden und Schutz “ letztlich dem unsterblichen Gott verdanken (Kap. 17); daß der Souverän Gott, dem Schöpfer der natürlichen Gesetze, Rechenschaft schuldet (Kap. 30); nicht zuletzt daß die Untertanen nur so weit zu Gehorsam gegen die Gebote und Verbote des Souveräns verpflichtet sind, wie sie den göttlichen Gesetzen nicht widersprechen. Unwichtig für die „ säkularen “ Teile des Leviathan sind derartige Aussagen fraglos nicht. Gleichwohl gehen, wenn sie gestrichen werden, so gut wie keine von Hobbes ’ zentralen anthropologischen und staatsphilosophischen Thesen verloren. Denn die Aussagen lassen den naturalistischen Hedonismus unangetastet; auch werden weder die Konfliktsnoch die Friedensnatur des Menschen, weder das Prinzip der wechselseitigen Einschränkung und gleichzeitigen Sicherung der Freiheit noch des Souveränitätsverständnis oder der Rechtsbegriff tangiert. Überflüssig sind die genannten Ansichten freilich nicht. Als erfahrungsoffener Philosoph nimmt Hobbes nämlich die Wirklichkeit der Religion ernst, fragt, warum es sie gibt, und entdeckt, hier als Aufklärer und Ideologiekritiker, mehrere die Religion bloßstellende Gründe. So veranlaßt eine Eigenschaft der Menschen, ihre Sorge um die Zukunft, unbekannte Ursachen unsichtbaren Mächten anzuschreiben, was die (heidnischen) Götter hervorbringt, die man fürchtet. Aufgrund einer weiteren menschlichen Eigenschaft, der Vorstellungskraft, entsteht eine Art von philosophischer Religion: Der Mensch erschließt sich „ eine erste und ewige Ursache aller Dinge “ (Leviathan, Kap. 12), worin ein - für Hobbes vorgeblicher - Gottesbeweis anklingt. Der Philosoph unterscheidet zwei grundverschiedene Arten von Religion, führt dafür aber kein rein religionsinternes, sondern ein zumindest teilweise religionsexternes Argument an, nämlich die Absicht, „ die Menschen zu Gehorsam, Befolgung von Gesetzen, Frieden, Nächstenliebe und zur bürgerlichen Gesellschaft zu erziehen “ (Leviathan, Kap. 12). Bei der ersten für „ alle Staatsgründer und heidnischen Gesetzgeber “ typischen, 194 7 Religion und Kirche heidnischen Art ist die Religion „ Bestandteil der menschlichen Politik und lehrt einen Teil der Pflicht, die irdischen Könige von ihren Untertanen verlangen “ . Bei der zweiten, einzig „ wahren “ Religion, der Offenbarungsreligion, ist die Religion Bestandteil der göttlichen Politik. Durch „ Abraham, Mose und unseren auserwählten Heiland “ vermittelt - die für Alt-Israel ebenso wichtigen Propheten übergeht Hobbes - , lernen die Menschen die Gesetze des Gottesreiches kennen. Weil Gott seine Gesetze auf zwei Wegen verkündet, existiert sein Reich in zwei Gestalten und wird folgerichtig von Hobbes an zwei verschiedenen Stellen behandelt. Den Vorschriften der natürlichen Vernunft entspricht das natürliche Gottesreich, das Hobbes innerhalb des Leviathan im Schlußkapitel dessen zweiten, staatstheoretischen Teils erörtert. Untertanen des natürlichen Gottesreiches sind laut Hobbes nicht etwa, wie von einer säkularen Theorie zu erwarten, alle Menschen, vielmehr sind die Atheisten und die Deisten, die zwar an einen Gott, aber nicht an den persönlichen Gott glauben, ausgenommen. Bürger sind lediglich Theisten, also Personen „ die an einen Gott glauben, der die Welt regiert, der Menschheit Vorschriften gegeben und Strafen verhängt hat “ (Leviathan, Kap. 31). Die Vorschriften der Offenbarung wiederum begründen das prophetische Reich. In ihm, nach Hobbes einem bürgerlichen Staat, „ herrscht Gott über das einzige Volk, das er sich zu einem Untertanen auserwählte, die Juden, und nur über sie “ (ebd.). Wie im Naturrecht und in De cive sucht Hobbes auch im Leviathan seine Auffassungen, insbesondere die zur Souveränität, durch Lehren des Alten und des Neuen Testaments zu bestätigen. Dabei stellt er, der Sohn eines wenig gebildeten Geistlichen, sehr intime Kenntnisse und subtile Interpretationsfähigkeiten unter Beweis. Ohne Zweifel kommt ihm dabei das in den Studien griechischer und lateinischer Autoren erworbene methodische Rüstzeug zugute. Es fällt auf, daß sich Hobbes weit weniger auf den für seine christlichen Zeitgenossen naheliegenden spezifisch christlichen Teil der Bibel, das Neue Testament, beruft. Weit wichtiger ist ihm das Alte Testament, da in dessen Geschichte des jüdischen Volkes die auch in religiösen Fragen uneingeschränkte Gewalt des Souveräns deutlich zutage tritt, während eine Grundlehre des Christentums, die Universalisierung der Auserwählung an Bedeutung verliert. 195 Einleitung Entscheidend ist für Hobbes ein Gedanke der dem anglikanischen Kirchenverständnis und dem kontinentaleuropäischen Staatskirchentum zugrunde liegt: daß der politische Souverän sowohl das Oberhaupt des Staates als auch der (jeweiligen) Kirche ist. Wegen dieser Personalunion von höchster weltlicher und höchster geistlicher Macht trägt der Herrscher auf dem Titelkupfer des Leviathan sowohl das Symbol der weltlichen Macht, das Schwert, als auch das der geistlichen Macht, den Bischofsstab. Wie weit Hobbes ein gläubiger Christ war, ist sowohl unter seinen Zeitgenossen als auch in der Hobbes-Forschung umstritten. Er selbst hat auf den Atheismus-Verdacht trocken bemerkt: „ Denken sie, ich kann ein Atheist sein und es nicht wissen? “ Kaum strittig ist, daß er selbst sich als Christ und Anglikaner verstand, freilich ohne all deren Dogmen anzuerkennen. Für entscheidend hält er lediglich ein allem konfessionellen Streit enthobenes, insofern ein religiösen Frieden ermöglichendes Grunddogma, das „ unum neccessarium, der einzige Glaubensartikel, den die Schrift für die Errettung schlechthin voraussetzt, lautet: Jesus ist der Christus “ (Leviathan, Kap. 43). Des weiteren erkennt Hobbes die Sakramente der Taufe und des Abendmahls an und nimmt für die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes eine geradezu revolutionäre Deutung vor (Leviathan, Kap. 42). In Kapitel 42, dem weitaus umfangreichsten des Leviathan, „ Von der kirchlichen Gewalt “ , weist Hobbes die Ansicht des bedeutendsten gegenreformatorischen, also römisch-katholischen Theologen Kardinal Bellarmin (1542 - 1621) vehement zurück. Nach Bellarmin hat der Papst ein Recht, das Hobbes sowohl von seiner Souveränitätstheorie als auch qua Anglikaner bestreitet, nämlich das Recht, Fürsten zu exkommunizieren und Untertanen von ihren Gehorsamspflichten zu entbinden. In den vier Kapiteln des letzten Leviathan-Teiles setzt Hobbes unter den zwar biblischen, aber entschieden polemischen Titel „ Reich der Finsternis “ seine Ideologiekritik der Religion fort. Voller Sarkasmus zeichnet er das Gegenbild zum wahren christlichen Reich, das er im zweiten Teil mit rationalen und im dritten Teil mit biblischen Argumenten begründet hatte. Dieses Reich der Finsternis gehe aus einer Verschwörung von Betrügern hervor, die, um die „ Herrschaft über die Menschen in dieser gegenwärtigen Welt “ zu erlangen (Leviathan, Kap. 44), das Reich Gottes mit einer gegenwärtigen Kirche in der Welt gleichsetzen, für sie einen höchsten irdischen Stellvertreter, der als Platzhalter des jenseitigen Gottes die Welt regiere, als notwendig behaupten. 196 7 Religion und Kirche Allerdings spricht Hobbes selber dem Souverän die Einheit von höchster politischer und geistlicher Macht zu. Seinem selbst gewählten „ Amt “ eines „ anglikanischen Chefideologen “ folgend, sieht der Philosoph sowohl in der römisch-katholischen als auch in der presbyterianischen Lehre heidnische und abergläubische Züge (etwa Geisterbeschwörungen) am Werk. Zu deren Brutstätte erklärt er die Universitäten, einschließlich seiner Heimatuniversität Oxford. Und als Urheber gelten ihm die Päpste und Priester, die durch die Verfälschung biblischer Wahrheit angeblich Vorteile erhalten. Naturrecht T e i l I . D i e N a t u r d e s M e n s c h e n , K a p i t e l X V I : E i n i g e G e s e t z e d e r N a t u r 1. Es ist eine gebräuchliche Redewendung, dass die Natur nichts vergeblich macht. Und es ist mehr als gewiss, dass, so wie die Wahrheit einer Schlussfolgerung nicht mehr ist als die Wahrheit der Prämissen, aus der sie gefolgert wurde, auch die Stärke des Befehls oder des Rechts der Natur nicht mehr ist als die Stärke der Gründe, die dazu führen. Es wäre deshalb das Recht der Natur, wie es in Kap. XV, 2 erwähnt wurde, dass nämlich jeder sich selbst des Rechts begeben sollte etc., völlig nutzlos und ohne jede Wirkung, wenn es nicht ein natürliches Gesetz gäbe, wonach jedermann verpflichtet ist, zu den Verpflichtungen zu stehen, die er eingegangen ist, und sie zu erfüllen. Denn welchen Vorteil hat ein Mensch, wenn alles, was ihm versprochen oder gegeben wird, dann von dem, der es gegeben oder versprochen hat, nicht erfüllt wird oder er sich das Recht vorbehält, was er gegeben hat wieder zurückzunehmen? 2. Den Bruch oder die Verletzung einer Verpflichtung nennen die Menschen RECHTSVERLETZUNG (INJURY ), wobei diese, wenn sie in einer Handlung oder Unterlassung besteht, deshalb UNGE- RECHT (UNJUST ) genannt wird. Denn es ist eine Handlung oder Unterlassung ohne jus oder ohne ein Recht, das zuvor übertragen oder auf das verzichtet wurde. Es besteht in den Handlungen und Gesprächen der Menschen weltweit eine große Ähnlichkeit zwischen dem, was wir Rechtsverletzung oder Ungerechtigkeit nennen, und dem, was wir abwegig (absurd ) in den Argumenten und 197 Naturrecht Streitgesprächen der Schulen nennen. Denn so, wie man dem, der zum Widerspruch gegen eine Behauptung getrieben wird, die er zuvor unterstützt hat, nachsagt, er sei ad absurdum geführt, so sagt man dem nach, der durch Leidenschaft etwas tat oder unterließ, was er zuvor durch Verpflichtung nicht zu tun oder nicht zu unterlassen versprochen hat, dass er eine Ungerechtigkeit begeht. Und in jedem Verstoß gegen eine Verpflichtung ist genau genommen ein sogenannter Widerspruch enthalten. Denn wer sich verpflichtet hat, der will doch, wenn die Zeit kommt, etwas tun oder unterlassen. Und wer irgendeine Handlung setzt, der will sie in derjenigen Gegenwart, die Teil der in der Verpflichtung enthaltenen Zukunft ist; und wer also gegen eine Verpflichtung verstößt, der will das Tun und das Nicht-Tun der gleichen Sache zur gleichen Zeit, was ein glatter Widerspruch ist. Und so ist die Rechtsverletzung ein Irrwitz der Konversation, wie die Absurdität eine Art Ungerechtigkeit im Streitgespräch ist. T e i l I I . Vo m p o l i t i s c h e n K ö r p e r , K a p i t e l X X V: D a s s U n t e r t a n e n n i c h t v e r p f l i c h t e t s i n d , i h r e n p r i v a t e n U r t e i l e n i n R e l i g i o n s s t r e i t i g k e i t e n z u f o l g e n 2. Diese Schwierigkeit besteht nicht seit alters her. Unter den Juden gab es kein solches Dilemma, denn für sie war das bürgerliche und das göttliche Recht ein und dasselbe Gesetz Moses ’ : Ihre Interpretatoren waren die Priester, deren Macht der Macht des Königs untergeordnet war, so wie die Macht Aarons derjenigen von Moses. Es ist auch keine Streitigkeit, von der man unter den Griechen, Römern oder anderen Nichtjuden je Notiz genommen hätte, denn unter diesen waren die bürgerlichen Gesetze die Regeln, durch die nicht nur die Rechtmäßigkeit und Rechtschaffenheit, sondern auch Religion und äußerliche Verehrung Gottes angeordnet und zugelassen waren. Dasjenige Lebewesen hielt die Anbetung Gottes in Ehren, das sich katà tà nómina, entsprechend den bürgerlichen Gesetzen, verhielt. Auch jene Christen, die der weltlichen Herrschaft des Bischofs von Rom unterstehen, sind von dieser Frage unbeschwert, denn sie erlauben ihm (ihrem Souverän) die Bibel auszulegen, die so weit das Gesetz Gottes ist, als er es nach seinem eigenen Urteil für 198 7 Religion und Kirche recht hält. Diese Schwierigkeit plagt und verbleibt daher nur unter jenen Christen, denen es erlaubt ist, das für den Sinn der Bibel zu nehmen, was sie selbst daraus machen, entweder durch ihre eigene persönliche Auslegung oder durch die Auslegung derer, die dazu von der öffentlichen Autorität nicht berufen wurden. Diejenigen, die ihrer eigenen Auslegung folgen, fordern unentwegt Gewissensfreiheit, und jene, die der Auslegung anderer folgen, welche dazu vom Souverän des Gemeinwesens nicht bestimmt wurden, fordern in Sachen Religion entweder eine Macht über die bürgerliche Gewalt oder zumindest, nicht von ihr abhängig zu sein. 3. Um die Gewissensskrupel betreffend den Gehorsam gegenüber menschlichen Gesetzen bei denen zu beseitigen, die für sich selbst die Worte Gottes in der Heiligen Schrift auslegen, lege ich ihnen zunächst nahe zu bedenken, dass doch kein menschliches Gesetz beabsichtigt, das Gewissen eines Menschen zu nötigen, sondern nur seine Handlung. Denn da wir darum wissen, dass kein Mensch (sondern nur Gott allein) das Herz oder das Gewissen eines Menschen kennen kann, bevor es in einer Tat zutage tritt, sei es durch die Zunge oder durch einen anderen Teil seines Körpers, würde ein dafür gemachtes Gesetz keine Wirkung haben, weil kein Mensch ohne Bedachtnahme auf das Wort oder eine andere Handlung fähig wäre zu erkennen, ob ein solches Gesetz eingehalten oder gebrochen würde. Auch die Apostel selbst täuschten hinsichtlich des Glaubens, den sie predigten, keine Herrschaft über die Gewissen der Menschen vor, sondern lediglich Beeinflussung und Unterweisung. Und deshalb sagt der Heilige Paulus 2 Kor. 1, 24, wenn er den Korinthern betreffs ihrer Streitigkeiten schreibt, dass er und die übrigen Apostel keine Herrschaft über ihren Glauben hätten, sondern Unterstützer ihrer Freude seien. 5. Und unter einem christlichen Souverän haben wir zu berücksichtigen, welche seiner Maßnahmen zu befolgen uns durch Gott den Allmächtigen verboten ist und welche nicht. Die Dinge, in denen es uns verboten ist, ihnen zu folgen, sind lediglich diejenigen, die eine Verleugnung desjenigen Glaubens bedeuten, der für unsere Erlösung nötig ist; ansonsten kann es kein Gebot für Ungehorsam geben. Denn warum sollte sich ein Mensch der Gefahr eines 199 Naturrecht weltlichen Todes dadurch aussetzen, dass er seinen Vorgesetzten kränkt, wenn nicht aus Furcht vor dem anschließenden ewigen Tod? Untersucht werden muss daher, welche Aussagen und Artikel es sind, an die wir der Verkündung unseres Heilands oder seiner Apostel zufolge als solche glauben, weil ein Mensch ohne an sie zu glauben nicht gerettet werden kann. Und dann müssen alle anderen Aspekte, die derzeit in Streit stehen und die den Unterschied zwischen Papisten, Lutheranern, Calvinisten, Arminianer etc. ausmachen, so wie es in alten Zeiten Paulinianer, Apollonianer und Kephasianer gab, notwendigerweise solche sein, wegen deren Bekenntnis ein Mensch seinen Vorgesetzten den Gehorsam nicht zu verweigern braucht. Und in Hinsicht auf die Glaubenspunkte, die für die Erlösung notwendig sind, werde ich diese FUNDAMENTAL (FUNDAMENTAL) nennen und jeden anderen Punkt einen ÜBER- BAU (SUPERSTRUCTION ). 6. Jesus ist der Messias, das heißt, er ist Christus - und unumstritten gibt es keinen weiteren Punkt, an den ein Mensch um seiner Erlösung willen zu glauben hat. Und diese Aussage wird auf allerlei Art erläutert, aber immer mit demselben Ergebnis, wie dass er Gottes Gesalbter ist; denn das wird durch das Wort Christi belegt; dass er der wahre und rechtmäßige König von Israel war, der Sohn Davids; der Heiland der Welt, der Erlöser Israels; das Heil Gottes; der, welcher in die Welt kommen sollte, der Sohn Gottes. Vom Bürger R e l i g i o n , K a p i t e l X V: Vo m R e i c h G o t t e s v o n N a t u r III. Das dreifache Wort Gottes: Vernunft, Offenbarung, Prophezeiung. Man kann nur dann sagen, jemand regiere durch Gebote, wenn er sie den Regierten [gegenüber] deutlich zum Ausdruck bringt. Denn die Gebote der Regierenden sind die Gesetze derer, die regiert werden. Als Gesetz aber gilt nur, was öffentlich klar bekanntgemacht wurde, so daß jede Entschuldigung wegen Unkenntnis entfällt. Die Menschen verkünden ihre Gesetze durch das Wort oder die Stimme [geschriebene oder das gesprochene Wort]; eine andere Möglichkeit ihren Willen allgemein bekannt zu machen, haben sie nicht. Die 200 7 Religion und Kirche Gesetze Gottes aber werden auf dreifache Weise verkündet: Erstens durch die stillschweigenden Weisungen der rechten Vernunft; zweitens durch eine unmittelbare Offenbarung, die bekanntermaßen entweder durch eine übernatürliche Stimme geschieht oder durch eine Vision oder einen Traum oder eine Eingebung, das heißt durch göttlichen Odem; drittens durch die Stimme eines Menschen, den Gott den übrigen Menschen durch wahrhafte Wunder bekanntgemacht und als des Vertrauens würdig empfohlen hat. Derjenige aber, dessen Stimme Gott auf diese Weise zur Erklärung seines Willens anderen gegenüber benutzt, heißt ein P ROPHET . Diese drei Erscheinungsformen können das dreifache Wort Gottes genannt werden, nämlich das mit der Vernunft wahrnehmbare Wort, das sinnlich wahrnehmbare Wort und das prophetische Wort. Ihnen entsprechen die drei Arten, durch die wir, wie man sagt, Gott hören [vernehmen] können: rechter Vernunftgebrauch, sinnliche Wahrnehmung und Glaube. Sinnlich wahrnehmbar ist das Wort Gottes [allerdings] nur wenigen zuteil geworden; mittels Offenbarung hat Gott [ebenfalls] nur zu einzelnen Menschen gesprochen, wobei er verschiedenen Menschen Verschiedenes verkündete, so daß auf diese Weise die Gesetze seiner Herrschaft keinem Volk bekannt geworden sind. IV. Die zweifache Herrschaft Gottes: natürlich und prophetisch. Hinsichtlich des Unterschieds jedoch, der zwischen dem mit der Vernunft wahrnehmbaren und dem prophetischen Wort Gottes besteht, ist Gott ein zweifaches Reich zuzuschreiben: ein natürliches, bei dem er mittels der Weisungen der rechten Vernunft regiert - der vernünftigen Natur wegen, die allen Menschen gemeinsam ist, gehören diesem Reich alle Menschen an, die die Macht Gottes anerkennen - ; und ein prophetisches, bei dem Gott auch durch das prophetische Wort regiert - dies ist ein besonderes Reich, da Gott nicht allen Menschen unmittelbar selbst [positivas] Gesetze gegeben hat, sondern nur einem besonderen Volk und bestimmten, von ihm auserwählten Menschen. V. Das Recht, durch das Gott herrscht, beruht auf seiner Allmacht. In seinem natürlichen Reich kommt Gott das Recht, Herrschaft auszuüben und Strafen gegen die zu verhängen, die seine Gesetze verletzen, allein auf Grund seiner unwiderstehlichen Macht 201 Vom Bürger zu. Alles Recht anderen gegenüber besteht nämlich entweder von Natur oder beruht auf Übereinkommen. Wie das Recht zur Herrschaft aus einem übereinkommen hervorgeht, ist in Kapitel 6 dargelegt worden. Aus der Natur aber leitet sich dasselbe Recht allein dadurch ab, daß es bezüglich der Natur nicht aufgehoben wurde. Da von Natur nämlich ein jeder ein Recht auf alles hat, so war für jeden das Recht, über alle zu herrschen, so alt wie die Natur selbst. Der Grund aber, warum dieses Recht unter den Menschen abgeschafft wurde, war, wie oben im zweiten Kapitel, Abschnitt 3, gezeigt worden ist, kein anderer als der der wechselseitigen Furcht. Das heißt, der Erhaltung des menschlichen Geschlechtes wegen legt die Vernunft nahe, von diesem Recht abzugehen, da sich aus der Gleichheit unter den Menschen hinsichtlich ihrer natürlichen Kräfte und Fähigkeiten notgedrungen ein Krieg ergibt, mit einem Krieg aber das Verderben des menschlichen Geschlechts verbunden ist. Hätte dagegen einer die übrigen an Macht so übertroffen, daß alle selbst mit vereinten Kräften ihm nicht hätten widerstehen können, so wäre kein Grund für ihn vorhanden gewesen, das ihm von der Natur gewährte Recht aufzugeben. Er hätte daher das Recht zur Herrschaft über alle anderen kraft der überragenden Macht behalten, mit der er sich und alle anderen zu erhalten vermocht hätte. Deshalb leitet sich bei denjenigen, deren Macht unwiderstehlich ist, und folglich auch im Falle des allmächtigen Gottes, das Recht zur Herrschaft unmittelbar aus ebendieser Macht ab. Und sooft Gott einen Sünder straft oder sogar tötet, müssen wir, auch wenn er ihn deshalb strafte, weil er gesündigt hatte, dennoch zugeben, daß Gott ihn auch dann mit Recht hätte strafen oder sogar töten können, wenn er nicht gesündigt hätte. Obgleich Gottes Wille die vorangehende Sünde bei der Bestrafung berücksichtigen kann, so folgt daraus doch nicht, daß sein Recht, [die Menschen] zu plagen [heimzusuchen] oder zu töten, nicht von der göttlichen Macht, sondern von der Sünde der Menschen abhängt. K a p i t e l X V I I : Vo m R e i c h G o t t e s d u r c h d a s n e u e B ü n d n i s V. Das Reich Gottes ist dem neuen Bündnis zufolge ein himmlisches und beginnt erst mit dem Tag des Gerichts. Das Reich Gottes, zu 202 7 Religion und Kirche dessen Wiederherstellung C HRISTUS von Gott dem Vater gesandt worden war, nimmt seinen Anfang ferner erst mit dessen zweiter Ankunft, mit dem Tag des Gerichts nämlich, wenn er in Begleitung seiner Engel in Herrlichkeit gekommen sein wird. [ … ] VI. Die Regierung Christi ist in dieser Welt keine Herrschaft gewesen, sondern ein Rat oder eine Leitung durch Lehre und Überredung. Wenngleich das Reich Gottes, das C HRISTUS durch einen neuen Bund begründen sollte, ein himmlisches war, so darf man doch nicht meinen, daß diejenigen, die im Glauben an C HRISTUS dieses Bündnis eingegangen sind, nicht auch auf Erden so regiert werden mußten, daß sie in dem durch das Bündnis versprochenen Glauben und Gehorsam beständig verbleiben würden. Das himmlische Reich beziehungsweise das versprochene Vaterland, wäre nämlich nutzlos, wenn wir nicht dahin geleitet werden würden. Dies ist aber nur möglich, wenn wir den rechten Weg geführt werden. Moses hat, nachdem er das priesterliche Reich eingerichtet hatte, in der ganzen Zeit der Wanderung bis zum Eintritt in das Gelobte Land das Volk geleitet und geführt, obgleich er kein Priester war. Aus demselben Grund obliegt dies unserem Erlöser (der nach Gottes Willen Moses in dieser Hinsicht ähnlich sein sollte), insoweit er vom Vater gesandt war, die künftigen Bürger des himmlischen Staates schon in diesem Leben so zu leiten, daß sie zu jenem gelangen und darin eintreten können, wenngleich das Reich eigentlich nicht seines, sondern das seines Vaters ist. Indes ist die [Art der] Regierung, in der C HRISTUS in diesem Leben seine Gläubigen leitet, nicht eigentlich ein Reich oder eine Herrschaft, sondern das Amt eines Hirten oder das Recht zur Lehre, das heißt, Gott der Vater hat ihm nicht, wie den Königen dieser Erde, die Gewalt über Mein und Dein zu richten gegeben, auch nicht die Gewalt, durch Strafen zu zwingen oder Gesetze zu geben. Er sollte vielmehr der Welt den Weg zeigen und sie die Wissenschaft des Heils lehren, das heißt, er sollte predigen und erklären, was diejenigen zu tun haben, die in das Reich des Himmels eingehen wollem. XI. Zu bestimmen, was zum Frieden und zum Schutz des Staates geschehen soll, kommt der bürgerlichen Gewalt zu. Ferner hat unser Erlöser den Bürgern keine anderen Gesetze im Hinblick auf die Regierung des Staates gegeben, als die Gesetze der Natur, das heißt 203 Vom Bürger als das Gebot zum bürgerlichen Gehorsam. Deshalb darf kein Bürger für sich allein [als Privatmann] darüber bestimmen, wer öffentlich [allgemein] als Freund oder Feind zu gelten hat, wann ein Krieg begonnen, wann ein Bündnis, wann Friede oder Waffenstillstand geschlossen werden soll. Auch hat kein Bürger darüber zu entscheiden, wer Bürger sein soll [wem die Staatsbürgerschaft zukommt], welchen Menschen welche Befugnisse zustehen und welche Lehren, welche Sitten, welche öffentlichen Äußerungen, welche Vereinigungen welcher Menschen dem Wohl des Staates entweder förderlich sind oder ihm entgegenstehen. Also gebührt die Entscheidung über alles dies und ähnliches, soweit es nötig ist, dem Staat, da heißt, dem Souverän. [ … ] Zu bestimmen, was zum Frieden und zum Schutzdes Staatsgeschehen soll, kommt der bürgerlichen Gewalt zu. [ … ] XII. Zu beurteilen (wenn es nötig ist), welche Definitionen und welche Schlußfolgerungen die wahren sind, kommt der bürgerlichen Gewalt zu. [ … ] XIII. Zu Christi Amt gehört es, Moral zu lehren, aber nicht im Sinne von Lehrsätzen, sondern von Gesetzen; die Vergebung der Sünden und die Lehre alles dessen, was nicht in die eigentliche Wissenschaft fällt. Das Wesentliche im Amt unseres Erlösers bestand darin, den Weg und alle Mittel zur Erwerbung des Heils und des ewigen Lebens zu lehren. Eines der Mittel zum Heil besteht aber in Gerechtigkeit und bürgerlichem Gehorsam und in der Beachtung aller natürlichen Gesetze. Diese können jedoch in zweifacher Weise gelehrt werden: zum einen als Lehrsätze mittels der natürlichen Vernunft, indem das Recht und die natürlichen Gesetze von den menschlichen Grundsätzen und Verträgen abgeleitet werden. Und selbst eine so dargebotene Lehre bleibt der Prüfung durch die bürgerlichen Gewalten unterworfen. Zum anderen in Form von Gesetzen, gestützt auf die göttliche Machtvollkommenheit, indem gezeigt wird, daß Gottes Wille es so verlangt. Diese Art zu lehren, kommt allein demjenigen zu, der den Willen Gottes auf übernatürliche Weise erkannt hat, das heißt nur C HRISTUS . Zweitens gehörte es zu C HRISTI Amt, den Reumütigen die Sünden zu vergeben, denn dies war zum Heil der Menschen, die schon gesündigt hatten, notwendig und konnte auch durch niemand 204 7 Religion und Kirche anderen geschehen. Auf die Reue folgt die Vergebung der Sünden nämlich nicht natürlicherweise (als eine Schuldigkeit), sondern sie hängt (als ein freiwilliges Geschenk) vom Willen Gottes ab, der sich in übernatürlicher Weise offenbaren muß. Drittens gehörte es zum Amt Christi, 248 alle jene Gebote Gottes, sei es bezüglich der Anbetung [des Kultus] oder sei es bezüglich der Grundsätze des Glaubens, zu lehren, die durch die natürliche Vernunft nicht erkannt werden können, sondern nur durch Offenbarung. Als da sind: daß er C HRISTUS sei; daß sein Reich kein irdisches, sondern ein himmlisches sei; daß es Lohn und Strafe nach diesem Leben gebe; daß die Seele unsterblich sei; wie viele Sakramente es gebe und welcher Art sie seien und ähnliches. XIV. Die Unterscheidung des Weltlichen vom Geistlichen. Nach dem, was in den vorangehenden Abschnitten gesagt wurde, ist es nicht schwer, zwischen dem Geistlichen und dem Weltlichen zu unterscheiden. Unter dem Geistlichen ist nämlich das zu verstehen, was seine Grundlage in der Machtvollkommenheit und dem Amt C HRISTI hat und was man, wenn C HRISTUS es nicht gelehrt hätte, nicht hätte wissen können. Alles andere ist weltlich. Mithin gehören zum weltlichen Recht die Bestimmung dessen und das maßgebliche Urteil darüber, was gerecht und was ungerecht ist, die Entscheidung aller Streitfragen über die Mittel zur Erhaltung des öffentlichen Friedens oder des Schutzes des Staates und die Prüfung der Lehren und Bücher in jeder vernunftgemäßen Wissenschaft. Was dagegen allein vom Wort und der Machtvollkommenheit C HRISTI abhängt, gehört zu den Geheimnissen des Glaubens, und die Entscheidung hierüber gehört zum geistlichen Recht. Da jedoch unser Erlöser zwischen dem, was geistlich, und dem, was weltlich ist, nicht zu unterscheiden gelehrt hat, so ist dies eine Frage der Vernunft und kommt dem weltlichen Recht zu. [ … ] XIX. Mehrere Bedeutungen von Kirche. Was das Wort Kirche [Ecclesia] betrifft, so bedeutet es ursprünglich dasselbe wie im Lateinischen das Wort concio oder Versammlung der Bürger [Volksversammlung], ebenso wie Ecclesiastes dasselbe bedeutet wie concionator, das heißt derjenige, der zur Versammlung spricht. [ … ] bisweilen sind damit aber [auch] die Christen als solche gemeint, selbst wenn sie sich nicht wirklich versammelt haben, 205 Vom Bürger da es ihnen ja gestattet ist, an einer Zusammenkunft teilzunehmen und sich mit den Versammelten zu besprechen. So bezeichnet beispielsweise der Ausdruck Sage es der Kirche in Mt. 18, V. 17 eine Versammlung; anderenfalls ist es nämlich unmöglich, der Kirche etwas zu sagen. Dagegen ist mit Apg. 8, V. 3: Er hat die Kirche verwüstet die nicht versammelte Kirche gemeint. Mitunter bezeichnet der Name Kirche auch die Getauften oder die sich zum christlichen Glauben Bekennenden, mögen sie wahrhaft Christen sein oder nur zum Schein. [ … ] Mitunter wird damit auch nur ein Teil der Christenheit bezeichnet, wie die Kirche zu Ephesus; die Kirche, die sich in seinem Haus befindet; die sieben Kirchen, usw. Schließlich sind mit Kirche, sofern sie als eine tatsächlich versammelte Gemeinschaft verstanden wird, je nach dem Zweck der Versammlung zuweilen diejenigen gemeint, die sich nur zur Beratung und zu Entscheidungen versammelt haben, wofür auch das Wort Konzil oder Synode gebraucht wird, und zuweilen die, die sich im Haus des Gebets zur Verehrung Gottes versammelt haben, was der Sinn des Wortes ist, wie es in 1 Kor. 14, V. 4, 5, 23, 28, usw. verwendet wird. XX. Was eine Kirche ist, der Rechte, Handlungen und ähnliche persönliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Eine Kirche hingegen, der persönliche Rechte und eigene Handlungen zugeschrieben werden und unter der man sich das vorstellen muß, was mit Sage es der Kirche, Wer der Kirche nicht gehorcht und ähnlichen Wendungen gemeint ist, ist so zu definieren, daß unter diesem Wort eine Menge von Menschen zu verstehen ist, die mit Gott ein neues Bündnis durch Christus insofern eingegangen sind (das heißt, die Menge derjenigen, die das Sakrament der Taufe empfangen haben), daß diese Menge von jemandem rechtmäßigerweise an einem Ort zusammengerufen werden kann und jeder von denjenigen, die auf diese Weise zusammengerufen wurden, verpflichtet ist, entweder selbst oder aber vertreten durch andere zu erscheinen. Von einer Menge von Menschen, die zu keiner Zusammenkunft versammeln kann, sofern nötig ist, läßt sich nämlich nicht sagen, daß sie eine Person sei. [ … ] XXI. Ein christlicher Staat ist dasselbe wie eine christliche Kirche. Aus dem, was bereits gesagt wurde, ergibt sich als eine logisch notwendige Konsequenz, daß ein Staat und eine Kirche, die 206 7 Religion und Kirche aus denselben christlichen Menschen bestehen, durchaus ein und dieselbe Sache sind, die nur aus zwei Gründen mit zwei Namen angesprochen wird: Die Materie des Staates und die Materie der Kirche ist dieselbe, nämlich dieselben christlichen Menschen. Auch ihre Form [Verfassung], die in der rechtmäßigen Gewalt besteht, diese [christlichen Menschen] zusammenzurufen, ist dieselbe; denn es ist klar, daß sich die einzelnen Bürger da versammeln müssen, wohin sie vom Staat gerufen werden. Insofern heißt das, was aus Menschen vereinigt ist, Staat, und insofern es aus Christen besteht, wird es Kirche genannt. K a p i t e l X V I I I : Vo n d e m , w a s n o t w e n d i g i s t , u m i n s H i m m l i s c h e R e i c h e i n z u g e h e n XIII. In einem christlichen Staat gibt es keinen Widerstreit zwischen den Geboten Gottes und denjenigen des Staates. Aus dem, was bis hierher gesagt worden ist, kann man leicht ersehen, was die Pflichten der christlichen Bürger gegenüber ihren Souveränen sind. Solange diese selbst bekennen, Christen zu sein, können sie ihren Untertanen nicht gebieten, Christus zu verleugnen oder zu schmähen; denn wenn sie dies gebieten würden, würden sie bekennen, daß sie keine Christen sind. Anhand von beidem, der natürlichen Vernunft wie der Heiligen Schrift, ist nämlich gezeigt worden, daß die Bürger den Fürsten und höchsten Lenkern des Staates in allem außer dem gehorchen müssen, was wider die Gebote Gottes ist. Ebenso [habe ich gezeigt], daß in einem christlichen Staat die Gebote Gottes hinsichtlich der weltlichen Angelegenheiten (das heißt alles dessen, was nach der natürlichen Vernunft zu beurteilen ist) aus den Gesetzen und Urteilen des Staats bestehen, die von denjenigen erlassen werden, denen vom Staat die Befugnis [Autorität] zur Gesetzgebung und zur Rechtsprechung übertragen worden ist; daß sie aber hinsichtlich der geistlichen Dinge (das heißt alles dessen, was nach der Heiligen Schrift zu bestimmen ist) aus denjenigen Gesetzen und Urteilen des Staates bestehen, das heißt der Kirche (denn ein christlicher Staat und eine christliche Kirche sind, wie im vorangehenden Kap., Abschn. 20 gezeigt worden ist, ein und dasselbe), die von denjenigen rechtmäßig ordinierten Seelsorgern 207 Vom Bürger erlassen werden, denen der Staat die Ermächtigung [Autorität] dazu gegeben hat. Daraus ergibt sich ganz offensichtlich, daß in einem christlichen Staat den Souveränen [summis imperantibus] in allen Dingen, sowohl den geistlichen als auch den weltlichen, Gehorsam zu leisten ist. Und es ist auch keine Frage, daß ein christlicher Bürger einem Herrscher, der kein Christ ist, denselben Gehorsam zumindest in allen weltlichen Dingen schuldet, während er in den geistlichen Dingen, das heißt in allem, was die Art und Weise der Gottesverehrung betrifft, irgendeiner christlichen Kirche Folge zu leisten hat. Daß sich Gott in den übernatürlichen Dingen nur durch christliche Ausleger der Heiligen Schrift vernehmen läßt, stellt für den christlichen Glauben nämlich eine Voraussetzung dar. Was aber folgt daraus? Muß man sich den Fürsten [Herrschern] immer dann widersetzen, wenn man ihnen nicht gehorchen kann? Sicherlich nicht, da dies gegen das bürgerliche Bündnis verstoßen würde. Was also ist zu tun? Es gilt durch ein Martyrium (Blutzeugnis] zu Christus zu gehen. Wem dies als zu hart gesagt erscheint, der glaubt gewiß nicht aus ganzem Herzen, daß J ESUS DER C HRISTUS IST , der Sohn des lebendigen Gottes (er hätte sonst nämlich Lust, [aus der Welt] zu scheiden und bei Christus zu sein), sondern will sich unter dem Vorwand des christlichen Glaubens nur dem Gehorsam entziehen, den er dem Staat versprochen hat. Leviathan T e i l I , Vo m M e n s c h e n , 1 2 . K a p . : Vo n d e r R e l i g i o n Da sich Religion nur beim Menschen zeigt und auswirkt, hat man keinen Grund daran zu zweifeln, daß auch der Keim der Religion nur beim Menschen zu finden ist. Er besteht in einer besonderen Eigenschaft oder mindestens in einem ins Gewicht fallenden Grad dieser Eigenschaften, den man bei keinem anderen Lebewesen finden kann. Erstens ist es eine Eigenart der Natur des Menschen, den Ursachen der Ereignisse, die er sieht, nachzugehen, der eine mehr, der andere weniger. Aber alle Menschen besitzen sie so sehr, daß sie 208 7 Religion und Kirche die Ursachen ihres eigenen Glücks oder Unglücks gerne wissen möchten. Zweitens. Sehen die Menschen ein Ding, das einen Anfang hat, so nehmen sie auch an, daß es eine Ursache hatte, die es dazu bestimmte, gerade zu diesem Zeitpunkt seinen Anfang zu nehmen und nicht früher oder später. Drittens. Während die Tiere kein anderes Glücksgefühl als den Genuß das täglichen Futters, von Ruhe und von Lust kennen, da sie die Zukunft aus Mangel an Beobachtungsgabe und Erinnerung an die Ordnung, Folge und Abhängigkeit der Dinge, die sie sehen, kaum oder überhaupt nicht vorhersehen können, beobachten die Menschen, wie ein Ereignis von einem anderen hervorgebracht wurde und erinnern sich dabei an das, was vorausgegangen war und was darauf folgte. Und kann er sich über die wahren Ursachen der Dinge keine Klarheit verschaffen (denn die Ursachen von Glück und Unglück sind meistens unsichtbar), so nimmt er Ursachen an, die entweder seiner eigenen Phantasie entstammen, oder er vertraut der Autorität anderer Menschen, die er für seine Freunde und für klüger als sich selbst hält. Die beiden erstgenannten menschlichen Eigenschaften bewirken Angst. Diese ständige Furcht, die die Menschheit in ihrer Unwissenheit im Bezug auf Ursachen stets begleitet, als wäre sie im Dunkeln, muß notwendigerweise etwas zum Gegenstand haben. Deshalb kann man auch, wenn nichts zu sehen ist, Glück oder Unglück nur einer unsichtbaren Macht oder einem unsichtbar handelnden Wesen zuschreiben. Das ist vielleicht der Sinn des Ausspruchs eines antiken Dichters, nämlich, die Götter seien zuerst von der menschlichen Furcht geschaffen worden, was im Hinblick auf die Götter, das heißt auf die vielen Götter der Heiden, sehr richtig ist. Aber die Anerkenntnis eines einzigen, ewigen, unendlichen und allmächtigen Gottes kann man wohl eher aus dem menschlichen Verlangen ableiten, die Ursachen der natürlichen Körper und ihrer Kräfte und Wirkungen kennenzulernen, als aus der Furcht vor dem, was einen in der Zukunft erwartet. Denn wer von einem Vorgang, den er feststellt, auf die nächstliegende und unmittelbare Ursache schließt und von da auf die Ursache dieser Ursache und sich schließlich 209 Leviathan gründlich mit der Aufeinanderfolge von Ursachen befaßt, wird schließlich darauf stoßen, daß es, wie selbst die heidnischen Philosophen bekannten, einen ersten Beweger geben muß, das heißt, eine erste und ewige Ursache aller Dinge. Dies versteht man unter dem Namen ‚ Gott ‘ . Und auf all dies kommt man, ohne an sein Schicksal zu denken. Die Besorgnis darüber führt zu Furcht, hindert an der Suche nach den Ursachen anderer Dinge und schafft die Voraussetzung, daß ebensoviel Götter erdichtet werden als es Menschen gibt, die sie erdichten. [ … ] Und in diesen vier Dingen, dem Glauben an Geister, der Unkenntnis zweiter Ursachen 37 , der Verehrung dessen, was man fürchtet und dem Umstand, daß zufällige Dinge für Vorzeichen gehalten werden, liegt der natürliche Keim der Religion. Auf Grund der verschiedenartigen Vorstellungen, Urteile und Leidenschaften der verschiedenen Menschen erwuchsen aus ihm so verschiedenartige Zeremonien, daß die des einen dem anderen meist lächerlich vorkommen. 38 Diese Keime wurden nämlich von zwei Arten von Menschen gepflegt. Die eine Art bestand aus Leuten, die sie nach eigener Erfindung hegten und anordneten. Die andere handelte auf Grund göttlichen Befehls und göttlicher Weisung - aber beide Arten verfolgten dabei die Absicht, die Menschen, die sich ihnen anvertrauten, zu Gehorsam, Befolgung von Gesetzen, Frieden, Nächstenliebe und zur bürgerlichen Gesellschaft zu erziehen. So ist also die Religion der ersten Art ein Bestandteil menschlicher Politik und lehrt einen Teil der Pflicht, die irdische Könige von ihren Untertanen verlangen. Die Religion der letzten Art ist göttliche Politik und enthält Vorschriften für diejenigen, welche sich dem Reich Gottes unterworfen haben. Vertreter der ersten Art waren alle Staatsgründer und heidnischen Gesetzgeber, der zweiten Art Abraham, Mose und unser auserwählter Heiland, durch die uns die Gesetze des göttlichen Reichs überbracht worden sind. [ … ] Und deshalb achteten auch die ersten Gründer und Gesetzgeber der heidnischen Staaten, deren Ziel nur darin bestand, das Volk und Gehorsam und Frieden zu halten, überall auf folgende Dinge: Erstens darauf, in ihre Köpfe den Glauben einzuprägen, die von ihnen erlassenen religiösen Vorschriften seien keine eigene Erfindung, sondern Weisungen eines Gottes oder Geistes, oder aber, sie 210 7 Religion und Kirche selbst seien von höherer Natur als die gewöhnlichen Sterblichen, damit ihre Gesetze um so leichter angenommen würden. So behauptete Numa Pompilius, er habe die Regeln des Gottesdienstes, die er bei den Römern einführte, von der Nymphe Egeria empfangen, und der erste König und Gründer des Königreiches von Peru gab vor, er und seine Frau seien Kinder der Sonne, und Mohammed behauptete, um seine neue Religion einführen zu können, er habe Zusammenkünfte mit dem Heiligen Geist, der als Taube erscheine. Zweitens legten sie Wert darauf, den Glauben zu erwecken, daß dieselben Dinge, die durch Gesetz verboten waren, auch den Göttern mißfielen. Drittens waren sie auf die Einführung von Zeremonien, Bittgebeten, Opfern und Festen bedacht, wodurch die Menschen dazu gebracht werden sollten, zu glauben, der Zorn der Götter könne besänftigt werden, und Mißerfolge im Krieg, große Epidemien und das persönliche Unglück jedes einzelnen rührten vom Zorn der Götter her, und ihr Zorn von der Vernachlässigung ihrer Verehrung oder einigen Fehlern bei den verlangten Zeremonien. Und obwohl es bei den alten Römern nicht verboten war, die Berichte der Dichter über die Qualen und Freuden nach diesem Leben zu leugnen, die von verschiedenen sehr angesehenen und gewichtigen Persönlichkeiten dieses Staates in ihren Ansprachen öffentlich verspottet wurden, so pflegte man diesen Glauben doch stets mehr als das Gegenteil. Und so erreichte man durch diese und ähnliche Einrichtungen hinsichtlich des Ziels, nämlich des staatlichen Friedens, daß das gemeine Volk in seinem Unglück, das die Schuld daran in der Vernachlässigung oder fehlerhaften Ausübung der Zeremonien oder seinem eigenen Ungehorsam gegen die Gesetze suchte, viel weniger dazu neigte, gegen die Herrscher zu rebellieren. Und da man ihm die Zeit mit aufwendigen Festen und öffentlichen Spielen zu Ehren der Götter vertrieb, brauchte man nur noch Brot, um es von Unzufriedenheit, Murren und Aufruhr gegen den Staat abzuhalten. [ … ] Aber wo Gott selbst durch übernatürliche Offenbarung die Religion einpflanzte, schuf er sich auch ein besonderes Reich und erließ Gesetze, die nicht nur das Betragen gegen ihn selbst, sondern auch das der Menschen untereinander betrafen. Und dadurch sind in diesem göttlichen Reich Politik und bürgerliche Gesetze ein Bestandteil der Religion, und somit ist dort die 211 Leviathan Unterscheidung von zeitlicher und geistlicher Herrschaft gegenstandslos. Es ist richtig, daß Gott König der ganzen Welt ist - doch kann er auch König eines besonderen und auserwählten Volkes sein. Denn darin liegt auch kein größerer Widerspruch als in der Tatsache, daß der Oberbefehlshaber der ganzen Armee zugleich ein besonderes eigenes Regiment oder eine eigene Kompanie befehligen kann. Gott ist durch seine Gewalt König der ganzen Erde, aber er ist König seines erwählten Volkes durch Vertrag. Aber auf das natürliche Reich Gottes und auf sein Reich durch Vertrag möchte ich an einer anderen Stelle dieser Abhandlung noch ausführlicher zu sprechen kommen (35. Kapitel). [ … ] So möchte ich also alle Veränderungen der Religionen auf der Welt ein- und derselben Ursache zuschreiben, nämlich der Widerwärtigkeit der Priester, und zwar nicht nur bei den Katholiken, sondern selbst in der Kirche, die in der Reformation am weitesten ging. T e i l I I , Vo m S t a a t , 3 1 . K a p . : Vo m n a t ü r l i c h e n R e i c h G o t t e s Daß der Zustand der reinen Natur, das heißt der absoluten Freiheit, worin sich die Menschen, die weder Souveräne noch Untertanen sind, befinden, Anarchie und Kriegszustand ist, daß die Vorschriften, die die Menschen anleiteten, diesen Zustand zu vermeiden, die natürlichen Gesetze sind, daß ein Staat ohne souveräne Gewalt nur ein inhaltloses Wort ist und keinen Bestand haben kann, daß die Untertanen ihren Souveränen schlechthin Gehorsam schulden in allen Dingen, in denen ihr Gehorsam nicht den göttlichen Gesetzen widerspricht, habe ich in meinen bisherigen Darlegungen zur Genüge bewiesen.Zur völligen Kenntnis der bürgerlichen Pflichten fehlt nur noch, daß man auch diese göttlichen Gesetze kennt. Denn ohne diese Kenntnis weiß niemand, ob ein an ihn gerichteter Befehl der bürgerlichen Gewalt dem göttlichen Gesetz widerspricht oder nicht, und so verstoßen wir entweder durch zu großen bürgerlichen Gehorsam gegen die göttliche Majestät, oder übertreten aus Furcht, gegen Gott zu verstoßen, die Befehle des Staats. Um diese beiden Klippen zu vermeiden, ist es notwendig, daß man die göttlichen 212 7 Religion und Kirche Gesetze kennt. Und da die Kenntnis jedes Gesetzes von der Kenntnis der souveränen Gewalt abhängt, werde ich in Folgendem auf das Reich Gottes eingehen. [ … ] Das Regieren durch Worte erfordert, daß diese Worte öffentlich bekanntgemacht werden, denn sonst sind sie keine Gesetze. [ … ] Gott dagegen verkündet seine Gesetze auf drei Wegen: durch die Vorschriften der natürlichen Vernunft, durch Offenbarung und durch die Stimme eines Menschen, den Gott bei den übrigen Menschen durch Bewirken von Wundern glaubwürdig macht. Daher gibt es drei Erscheinungsformen des göttlichen Wortes: das vernünftige, das wahrnehmbare und das prophetische, welchen eine dreifache Art des Vernehmens entspricht: rechte Vernunft, übernatürliche Wahrnehmung und Glaube. Was die übernatürliche Wahrnehmung betrifft, die aus Offenbarung oder Eingebung besteht, so wurden auf diese Weise keine allgemeinen Gesetze erlassen, da Gott auf diese Art nur zu einzelnen Personen spricht und verschiedenen Menschen verschiedenes sagt. Hinsichtlich des Unterschieds zwischen den beiden anderen Arten des göttlichen Wortes, dem vernünftigen und dem prophetischen, kann man Gott ein zweifaches Reich zuschreiben, ein natürliches und ein prophetisches. In dem natürlichen herrscht er über den Teil der Menschheit, der seine Vorsehung anerkennt, mit Hilfe der natürlichen Vorschriften der rechten Vernunft, und in dem prophetischen herrschte er über das einzige Volk, das er sich zu seinen Untertanen auserwählte, die Juden, und nur über sie, und zwar nicht nur mittels der natürlichen Vernunft, sondern auch mittels positiver Gesetze, die er ihnen durch den Mund seiner heiligen Propheten gab. In diesem Kapitel möchte ich von dem natürlichen Reich Gottes reden. Das natürliche Recht, womit Gott über die Menschen herrscht und diejenigen bestraft, die seine Gesetze übertreten, ist nicht daraus abzuleiten, daß er die Menschen geschaffen hat, als fordere er, daß man aus Dankbarkeit für seine Wohltaten gehorsam sein müsse, sondern aus seiner unwiderstehlichen Gewalt. [ … ] folglich liegt es an dieser Gewalt, daß das Königreich über die Menschen und das Recht, sie nach seinem Belieben heimzusuchen, von Natur aus Gott dem Allmächtigen zusteht, und zwar nicht in seiner Eigenschaft als 213 Leviathan Schöpfer oder Gnadenspender, sondern als Allmächtiger. Und wenn auch nur Sünde Bestrafung nach sich zieht, da unter diesem Wort Heimsuchung wegen Sünde zu verstehen ist, so wird doch das Recht auf Heimsuchung nicht immer aus den Sünden der Menschen abgeleitet, sondern aus der göttlichen Gewalt. [ … ] Letztlich ist der Gehorsam gegen seine Gesetze - in diesem Falle die Gesetze der Natur - die größte aller Ehrbezeugungen. Denn wie Gehorsam Gott wohlgefälliger ist als Opfer, so ist es auch die größte aller Geringschätzungen, seine Befehle leichtfertig zu übergehen. Und dies sind die Gesetze jener Art von Gottesverehrung, die die natürliche Vernunft Privatpersonen vorschreibt. Und da ein Staat nur eine Person darstellt, darf er auch Gott nur auf eine Art verehren. Dies geschieht dann, wenn er befiehlt, daß sie von Privatpersonen öffentlich auszuüben ist. Und dies ist öffentlicher Gottesdienst, dessen Eigenart seine Einheitlichkeit ist. Denn Handlungen, die von verschiedenen Leuten auf verschiedene Art ausgeführt werden, können nicht als öffentlicher Gottesdienst bezeichnet werden. Wo deshalb viele Arten von Gottesdienst zugelassen sind, sie sich aus den verschiedenen privaten Religionen ergeben, kann weder von öffentlichem Gottesdienst gesprochen werden, noch von einer staatlichen Religion überhaupt. Und da Worte und folglich die göttlichen Eigenschaften ihre Bedeutung auf Grund menschlicher Übereinkunft und Einsetzung haben, sind diejenigen Eigenschaften, die die Menschen dafür vorsehen, als Ausdruck von Verehrung anzusehen. [ … ] Da aber nicht alle Handlungen Zeichen durch Einsetzung, sondern einige von Natur aus Ehren- oder Verachtungszeichen sind, können die letztgenannten - diejenigen, bei denen sich die Menschen schämen, sie vor Augen derer, die sie verehren, vorzunehmen - weder durch menschliche Gewalt zu einem Teil des Gottesdienstes gemacht werden, noch können die erstgenannten - anständiges, bescheidenes, einfaches Benehmen - jemals von ihm getrennt werden. Da es aber eine unendliche Anzahl neutraler Handlungen und Gebärden gibt, müssen diejenigen von ihnen, die der Staat zur öffentlichen und allgemeinen Verwendung zu Zeichen von Verehrung und als Teil des Gottesdienstes bestimmt, von den 214 7 Religion und Kirche Untertanen übernommen und angewandt werden. Und wenn in der Heiligen Schrift gesagt wird: „ Es ist besser, Gott zu gehorchen als den Menschen “ , so gilt dies für das Reich Gottes kraft Bundes, nicht aber für das natürliche. [ … ] Soviel über Einsetzung, Natur und Recht der Souveräne und über die Pflicht der Untertanen, abgeleitet aus den Grundsätzen der natürlichen Vernunft. Und wenn ich nun bedenke, wie sehr sich diese Lehre von der Praxis des größten Teiles der Welt, besonders dieser westlichen Teile, die ihre Moral von Rom und Athen gelernt haben, unterscheidet, und welch tiefe Einsichten in die Moralphilosophie von den Verwaltern der souveränen Gewalt verlangt werden, so bin ich drauf und dran zu glauben, daß meine vorliegende Arbeit so nutzlos ist wie die Politeia Platos. 39 Denn auch er ist der Meinung, die Unordnungen des Staates und die Regierungswechsel durch Bürgerkriege könnten so lange nicht abgeschafft werden, bis die Souveräne Philosophen wären. Wenn ich aber wiederum bedenke, daß die Wissenschaft von der natürlichen Gerechtigkeit die einzige Wissenschaft ist, die für die Souveräne und ihre obersten Diener notwendig ist, und daß im Gegensatz zu Plato ihre einzige Belastung mit den mathematischen Wissenschaften darin besteht, daß die Menschen durch gute Gesetze zu deren Studium angeregt werden sollen, und wenn ich weiter bedenke, daß weder Plato, noch ein anderer Philosoph bisher alle Lehrsätze der Morallehre systematisch entwickelt und ausreichend bewiesen oder wahrscheinlich gemacht hat, so daß die Menschen daraus lernen können, wie man regiert und gehorcht, dann schöpfe ich wieder einige Hoffnung, es möge früher oder später meine vorliegende Schrift in die Hände eines Souveräns fallen, der sie ohne Hilfe eines interessierten oder mißgünstigen Interpreten selbst überdenken wird - denn sie ist kurz und, wie ich meine, klar - , und der durch Ausübung der vollen Souveränität, indem er die öffentliche Verbreitung dieser Lehre schützt, diese spekulative Wahrheit in praktischen Nutzen verwandelt. 215 Leviathan T e i l I I I , Vo m c h r i s t l i c h e n S t a a t , 3 2 . K a p . : Vo n d e n G r u n d s ä t z e n c h r i s t l i c h e r P o l i t i k Ich habe bisher die Rechte der souveränen Gewalt und die Pflichten der Untertanen nur aus den Grundsätzen der Natur abgeleitet, Grundsätze, die die Erfahrung für wahr befunden oder, was die Anwendung von Wörtern betrifft, wahr gemacht hat, das heißt, aus der uns durch Erfahrung bekannten Natur der Menschen und aus allgemein anerkannten Definitionen solcher Wörter, die für alles politische Denken wesentlich sind. Da ich aber nunmehr von der Natur und den Rechten eines christlichen Staates handeln werde, wobei viel von den übernatürlichen Offenbarungen des göttlichen Willens abhängt, muß Grundlage meiner Abhandlung nicht nur das natürliche Wort Gottes, sondern auch das prophetische sein. Trotzdem dürfen wir weder auf unsere Sinne und auf unsere Erfahrung noch auf unsere natürliche Vernunft, die das unbezweifelbare Wort Gottes ist, verzichten. Sie sind nämlich das Pfund, das er in unsere Hände gelegt hat, um damit bis zur Wiederkehr unseres auserwählten Heilands zu wuchern, und deshalb sollte es nicht in das Schweißtuch eines blinden Glaubens gefaltet, sondern zum Kauf von Gerechtigkeit, Frieden und wahrer Religion gebraucht werden. Denn obwohl es in Gottes Wort vieles gibt, das über der Vernunft steht, das, heißt, das von der Vernunft weder bewiesen noch widerlegt werden kann, so gibt es darin dennoch nichts, was ihr widerspricht, sondern wenn es diesen Anschein hat, so liegt der Fehler entweder in unserer ungeschickten Auslegung oder unseren Trugschlüssen. [ … ] Spricht Gott zu den Menschen, so geschieht dies notwendig entweder unmittelbar oder durch Vermittlung eines anderen Menschen, zu dem er früher selbst unmittelbar gesprochen hatte. Wie Gott unmittelbar zu einem Menschen spricht, mag von dem, zu dem er so gesprochen hat, recht gut verstanden werden; wie dies aber von einem anderen verstanden werden kann, ist schwer, wenn nicht unmöglich zu begreifen. Denn gibt jemand mir gegenüber vor, Gott habe auf übernatürliche und unmittelbare Weise zu ihm gesprochen, und ich bezweifle dies, so kann ich mir schwerlich vorstellen, welche Argumente er vorbringen kann, um mich zu verpflichten, 216 7 Religion und Kirche daran zu glauben. Es ist richtig, daß er, wenn er mein Souverän ist, mich so zum Gehorsam verpflichten kann, daß ich nicht durch Wort und Tat erklären darf, ich glaubte ihm nicht, nicht aber dazu, irgendwie anders zu denken als meine Vernunft mir eingibt. Erhebt aber ein anderer, der nicht diese Gewalt über mich hat, denselben Anspruch, so gibt es nichts, das Glauben oder Gehorsam erzwingt. Die Behauptung, Gott habe zu einem durch die Heilige Schrift gesprochen, heißt nicht, Gott habe unmittelbar zu ihm gesprochen, sondern mittels der Propheten, der Apostel oder der Kirche, in der Weise, wie er zu allen anderen Christen spricht. Die Behauptung, Gott habe im Traum zu einem gesprochen, heißt nicht mehr als daß er träumte, Gott habe zu ihm gesprochen. Das hat aber nicht die Kraft, den Glauben eines Menschen zu gewinnen, der weiß, daß Träume meistens natürlich sind und, durch frühere Gedanken entstehen können, und Träume wie diese durch Selbsttäuschung, törichte Anmaßung und eine falsche Einschätzung der eigenen Frömmigkeit oder einer anderen Tugend, durch die er die Gnade einer außerordentlichen Offenbarung verdient zu haben glaubt. [ … ] Und wie Wunder ohne Predigen der von Gott eingesetzten Lehre, so ist auch Predigen der wahren Lehre, ohne daß Wunder getan werden, kein ausreichender Beweis von unmittelbarer Offenbarung. Denn sollte einer, der keine falsche Lehre verbreitet, beanspruchen, ein Prophet zu sein, ohne irgendein Wunder vorzuweisen, so ist sein Anspruch völlig unbeachtlich [ … ]. So ist also klar, daß das Lehren der von Gott eingeführten Religion zusammen mit dem Zeigen eines gegenwärtigen Wunders die einzigen Kennzeichen sind, die nach der Heiligen Schrift einen wahren Propheten, das heißt unmittelbare Offenbarung, ausweisen, da keines von beiden einzeln dazu ausreicht, einen anderen Menschen zur Beachtung dessen, was dieser sagt, zu verpflichten. Da nunmehr keine Wunder mehr vorkommen, besitzen wir keine Zeichen mehr, auf Grund derer wir die angeblichen Offenbarungen oder Eingebungen irgendeiner Privatperson anerkennen sollen, noch die Verpflichtung, irgendeiner Lehre weiter Gehör zu schenken, als es mit der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen ist, die seit der Zeit unseres Heilands den Platz jeder anderen Weissagung einnimmt und deren Fehlen ausreichend ersetzt und aus der durch kluge und 217 Leviathan gelehrte Auslegung und sorgfältiges Schließen alle Regeln und Vorschriften, die zur Kenntnis unserer Pflicht gegen Gott und die Menschen nötig sind, ohne Schwärmerei oder übernatürliche Eingebung leicht abgelesen werden können. [ … ] 4 2 . K a p . : Vo n d e r k i r c h l i c h e n G e w a l t Um verstehen zu können, was kirchliche Gewalt ist und bei wem sie liegt, müssen wir die Zeit seit der Himmelfahrt unseres Heilands in zwei Perioden unterteilen: In die Zeit vor der Bekehrung von Königen und Menschen, die mit souveräner Gewalt ausgestattet sind, und in die Zeit nach deren Bekehrung. Denn es war lange nach der Himmelfahrt, daß König oder bürgerlicher Souverän die christliche Religion annahm und ihre öffentliche Verbreitung zuließ. Was die Zwischenzeit betrifft, so lag die kirchliche Gewalt offensichtlich bei den Aposteln und nach ihnen bei solchen Menschen, die von ihnen eingesetzt wurden, um das Evangelium zu predigen, die Menschen zum Christentum zu bekehren und die Bekehrten auf dem Weg der Erlösung zu leiten. Danach wurde die Gewalt wiederum an andere Menschen übertragen, die von diesen eingesetzt worden waren, und zwar dadurch, daß sie die Hände auf diejenigen legten, die eingesetzt werden sollten. [ … ] Hier sehen wir, daß die Person Gottes nunmehr ein drittes Mal geboren wurde. Denn wie Mose und die Hohenpriester Gottes Vertreter im Alten Testament waren und Christus selbst als Mensch während seiner Erdentage, so vertrat ihn von da an der heilige Geist, das heißt die Apostel und ihre Nachfolger im Prediger- und Lehramt, die den heiligen Geist empfangen hatten. [ … ] die Lehre von der Dreieinigkeit hat, soweit sie direkt der Schrift entnommen werden kann, im wesentlichen diesen Inhalt: Gott, der immer ein und derselbe ist, war die von Mose, von seinem fleischgewordenen Sohn und von den Aposteln vertretene Person. Wird er von den Aposteln vertreten, so ist der heilige Geist, durch den sie sprechen, Gott. Wird er von seinem Sohn vertreten, der Gott und Mensch war, so ist der Sohn Gott. Wird er von Mose und den Hohenpriestern vertreten, so ist der Vater, das heißt der Vater unseres Herrn Jesus Christus, Gott. Hieraus können wir auch die Gründe ersehen, weshalb die Namen Vater, 218 7 Religion und Kirche Sohn und heiliger Geist im Alten Testament nie zur Bezeichnung der Gottheit gebraucht werden. Es handelt sich nämlich dabei um Personen, das heißt, sie werden nach ihrer Eigenschaft als Vertreter benannt. Dies war aber nicht möglich, bevor verschiedene Menschen die Person Gottes vertreten hatten, indem sei unter ihm herrschten oder führten. Kardinal Bellarmin hat in seiner dritten allgemeinen Streitschriftt 40 eine große Zahl von Fragen behandelt, die die kirchliche Gewalt des römischen Papstes betreffen, und er beginnt damit, ob sie monarchisch, aristokratisch oder demokratisch sein müsse. Alle diese Arten von Gewalt sind souverän und Zwangsgewalten. Sollte sich nun ergeben, daß unser Heiland ihnen keine Zwangsgewalt überlassen hat, sondern nur eine Gewalt, das Gottesreich zu verkünden, die Menschen dazu zu bringen, sich ihm zu unterwerfen, und durch Regeln und gute Ratschläge denjenigen, die sich unterworfen haben, zu lehren, was sie tun müssen, um in das Gottesreich aufgenommen zu werden, wenn es kommt, und sollte sich ferner ergeben, daß die Apostel und anderen Diener des Evangeliums unsere Lehrmeister, nicht aber unsere Befehlshaber sind und ihre Regeln keine Gesetze, sondern gesunde Ratschläge, so wären alle diese Dispute umsonst. [ … ] Ferner ist es Aufgabe der Diener Christi, die Menschen zum Glauben und Vertrauen in Christus zu führen. Glauben steht aber weder in Beziehung zu Zwang oder Befehl, noch hängt er davon ab, sondern nur von der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit vernunftgemäßer Argumente, oder von irgend etwas, woran Menschen bereits glauben. Deshalb haben die Diener Christi in dieser Welt auf Grund dieses Titels keine Gewalt, jemanden zu bestrafen, weil er nicht glaubt oder weil er ihren Worten widerspricht. Ihr Titel eines Dieners Christi verleiht ihnen, wie ich betonen möchte, keine Gewalt, solche Menschen zu bestrafen. Besitzen sie jedoch kraft politischer Einsetzung souveräne bürgerliche Gewalt, so können sie in der Tat jeden Widerspruch gegen alle ihre Gesetze rechtmäßig bestrafen. Der hl. Paulus sagt in eindeutigen Worten von sich selbst und von den anderen damaligen Predigern des Evangeliums: „ Nicht daß wir Herren seien über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude “ (2. Kor. 1, 24). [ … ] 219 Leviathan Was ist aber, wenden vielleicht einige ein, wenn ein König oder Senat oder irgendeine andere souveräne Person uns verbieten sollte, an Christus zu glauben? Hierauf möchte ich antworten, daß ein solches Verbot wirkungslos ist, da menschliche Befehle auf Glauben und Unglauben keinen Einfluß haben. Der Glauben ist eine Gabe Gottes, die der Mensch durch Versprechen von Belohnungen und Androhen von Folter weder geben noch nehmen kann. [ … ] Exkommunizieren heißt ursprünglich ἀποσυνάγωγον ποιεīν , aus der Synagoge stoßen, das heißt aus dem zum Gottesdienst bestimmten Ort. Dieses Wort kommt von dem Brauch der Juden, diejenigen aus ihren Synagogen zu stoßen, die sie wegen ihrer Sitten oder Lehre für ansteckend hielten, so, wie die Aussätzigen nach mosaischem Gesetz so lange von der Gemeinde Israels getrennt wurden, bis sie der Priester für rein erklärte. Solange die Exkommunikation noch nicht durch die bürgerliche Gewalt wirkungsvoller geworden war, ging ihr Nutzeffekt nicht weiter, als daß diejenigen, die nicht exkommuniziert waren, die Gesellschaft der Exkommunizierten zu meiden hatten. [ … ] Um einen Menschen exkommunizieren zu können, müssen viele Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens einmal, daß er ein Glied einer Gemeinde ist, das heißt einer gesetzlichen Versammlung, das heißt einer christlichen Kirche, die die Gewalt hat, über den Grund zu urteilen, aus dem er exkommuniziert werden soll. Denn wo es keine Gemeinde gibt, da kann es auch keine Exkommunikation geben, und wo keine richterliche Gewalt ist, da kann es auch keine Gewalt geben, die ein Urteil fällen kann. Hieraus folgt, daß keine Kirche von einer anderen exkommuniziert werden kann. [ … ] Eine Schrift kann in zweierlei Hinsicht kanonisch genannt werden. Denn Kanon bedeutet eine Regel, und eine Regel ist eine Vorschrift, durch die ein Mensch in irgendeiner Handlung angeleitet und gelenkt wird. Solche Vorschriften sind Kanons, auch wenn sie ein Lehrer oder Ratgeber, der nicht die Macht hat, ihre Befolgung zu erzwingen, seinem Schüler oder Freunde erteilt, denn sie sind Regeln. Werden sie aber von jemandem erteilt, dem der Empfänger zum Gehorsam verpflichtet ist, so sind diese Kanons nicht nur Regeln, sondern auch Gesetze. Deshalb stellt sich hier die Frage 220 7 Religion und Kirche nach der Gewalt, die die Schriften (die Regeln des christlichen Glaubens sind) zu Gesetzen erheben kann. Der Teil der Schrift, der zuerst Gesetz war, waren die zehn Gebote, die, auf zwei Steintafeln geschrieben, von Gott selbst Mose übergeben und von Mose dem Volk bekanntgemacht wurden. [ … ] Die erste dieser beiden Tafeln enthält das Gesetz der Souveränität: 1. Sie sollten den Göttern anderer Völker weder gehorchen noch sie verehren, oder wörtlich: Non habebis deos alios coram me, das heißt: Du sollst nicht die Götter, die andere Völker verehren, als Götter haben, sondern nur mich. Hierdurch wurde ihnen verboten, einem anderen Gott als ihrem König und Herrscher zu gehorchen oder ihn zu verehren, außer demjenigen, der damals durch Mose und danach durch die Hohenpriester zu ihnen sprach. 2. Sie sollten kein Bildnis machen, um ihn darzustellen, das heißt, sie sollten sich weder im Himmel noch auf Erden eine Vertretung nach ihrer eigenen Phantasie wählen, sondern sie hatten Mose und Aaron zu gehorchen, die er zu diesem Amt bestellt hatte. 3. Sie sollten den Namen Gottes nicht mißbrauchen, das heißt, sie sollten von ihrem König weder vorschnell reden noch sein Recht oder den Auftrag Moses und Aarons, seiner Statthalter, in Frage stellen. 4. Sie sollten sich an jedem siebten Tag ihrer gewöhnlichen Arbeit enthalten und diese Zeit darauf verwenden, ihm öffentliche Ehren zu erweisen. Die zweite Tafel enthält die Pflichten, die ein Mensch gegenüber dem anderen hat, wie z. B. die Eltern zu ehren, nicht zu töten, keinen Ehebruch zu begehen, nicht zu stehlen, kein Urteil durch ein falsches Zeugnis zu fälschen, und endlich, nicht einmal im Herzen die Absicht zu hegen, einem anderen Unrecht zu tun. Die Frage ist nun: Wer war es, der diesen geschriebenen Tafeln die Verpflichtungskraft von Gesetzen gab? [ … ] Da also die Verordnungen der Apostelkonzilien schon damals keine Gesetze, sondern Ratschläge waren, so sind die Verordnungen aller anderen bisherigen Kirchengelehrten oder Konzilien noch viel weniger Gesetze, wenn sie ohne Ermächtigung durch den bürgerlichen Souverän zusammengetreten sind. Und folglich konnten die Bücher des Neuen Testaments, obwohl sie die vollkommensten Regeln der christlichen Lehre sind, von keiner anderen Gewalt als 221 Leviathan der von Königen oder souveränen Versammlungen zu Gesetzen gemacht werden. [ … ] Hieraus ergibt sich klar, daß zur Zeit der Apostel Bischof, Priester, Ältester, Kirchengelehrter, das heißt Lehrer, nur viele verschiedene Namen desselben Amtes waren. Denn es gab damals keine Herrschaft durch Zwang, sondern nur durch die Lehre und durch Oberzeugen. Das Gottesreich sollte noch in einer neuen Welt kommen, so daß keine Kirche eine Zwangsgewalt innehaben konnte, bevor der Staat den christlichen Glauben angenommen hatte, und folglich gab es auch keine unterschiedlichen Machtbefugnisse, obgleich es verschiedene Aufgaben gab. [ … ] Bisher wurde gezeigt, was die Priester der Kirche und die Bestimmungen ihres Auftrages sind, z. B. daß sie zu predigen, zu lehren, zu taufen und den verschiedenen Gemeinden vorzustehen hatten, was die kirchliche Strafe ist, nämlich Exkommunikation: sie war dort, wo das Christentum von den bürgerlichen Gesetzen verboten war, ein Meiden der Gesellschaft des Exkommunizierten, und wo das Christentum vom bürgerlichen Gesetz befohlen war, ein Ausstoßen des Exkommunizierten aus den Gemeinden der Christen. Außerdem haben wir gesehen, wer die Priester und Diener der Kirchen auswählte - daß es die Gemeinde war - , wer sie weihte und segnete - daß es der Priester war - , was das ihnen zustehende Einkommen war - daß es nur aus ihren eigenen Besitzungen, ihrer eigenen Arbeit und den freiwilligen Spenden ergebener und dankbarer Christen bestand. 4 3 . K a p . : Vo n d e n n o t w e n d i g e n Vo r a u s s e t z u n g e n f ü r d i e A u f n a h m e e i n e s M e n s c h e n i n d a s h i m m l i s c h e R e i c h Der häufigste Vorwand für Aufstand und Bürgerkrieg ergab sich in christlichen Staaten lange Zeit aus einer immer noch nicht zureichend gelösten Schwierigkeit, nämlich wie man gleichzeitig Gott und den Menschen gehorchen könne, wenn sich ihre Befehle widersprechen. Es ist zur Genüge bekannt, daß ein Mensch, der zwei widersprüchliche Befehle erhält und weiß, daß der eine von Gott stammt, diesem gehorchen muß und nicht dem anderen, sogar 222 7 Religion und Kirche wenn es sich dabei um den Befehl seines gesetzlichen Souveräns (ob Monarch oder souveräne Versammlung) oder seines Vaters handelt. Die Schwierigkeit besteht deshalb darin, daß die Menschen, wenn sie einen Befehl im Namen Gottes erhalten, in verschiedenen Fällen nicht wissen, ob der Befehl von Gott kommt oder ob der Befehlende den Namen Gottes nur für seine privaten Zwecke mißbraucht. Denn wie es in der Kirche der Juden viele falsche Propheten gab, die sich durch geheuchelte Träume und Gesichte beim Volk Ansehen zu verschaffen suchten, so hat es auch zu allen Zeiten in der Kirche Christi falsche Lehrer gegeben, die danach trachteten, sich beim Volk durch phantastische und falsche Lehren Ansehen zu verschaffen und mit Hilfe dieses Ansehens (wie es in der Natur des Ehrgeizes liegt) das Volk zu ihrem privaten Vorteil zu lenken. Aber diese Schwierigkeit, Gott und dem bürgerlichen Souverän auf Erden gleichermaßen zu gehorchen, ist für jene nicht von Gewicht, die zwischen dem, was für ihre Aufnahme ins Gottesreich notwendig ist und dem, was hierfür nicht notwendig ist, unterscheiden können. Denn ist der Befehl des bürgerlichen Souveräns so beschaffen, daß ihm gehorcht werden kann, ohne das ewige Leben zu verwirken, so ist es ungerecht, ihm nicht zu gehorchen. [ … ] Aber ist der Befehl so beschaffen, daß er nicht befolgt werden kann, ohne dadurch zum ewigen Tod verdammt zu werden, dann wäre es Wahnsinn, ihm zu gehorchen, und es gilt der Rat unseres Heilands: „ Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht können töten “ (Matth. 10, 28). Deshalb muß allen Menschen, die beide Arten der Strafe vermeiden wollen, sowohl diejenigen, die in dieser Welt wegen Ungehorsams gegen ihren irdischen Souverän zu verhängen sind, als auch diejenigen, die in der künftigen Welt wegen Ungehorsams gegen Gott einmal verhängt werden, notwendig gelehrt werden, zwischen dem zur ewigen Errettung Notwendigen und dem hierfür nicht Notwendigen gut zu unterscheiden. Alles, was zur Errettung notwendig ist, ist in zwei Tugenden enthalten, im Glauben an Christus und im Gehorsam gegen die Gesetze. Könnten wir diese Gehorsamspflicht völlig erfüllen, so genügte dies. Da wir aber alle des Ungehorsams gegen das Gesetz Gottes schuldig sind, und zwar nicht nur durch die Ursünde Adams, sondern auch durch unsere eigenen Übertretungen in der Gegenwart, 223 Leviathan so wird von uns nicht nur verlangt, daß wir für die uns verbleibende Zeit gehorsam seien, sondern daß uns auch die vergangenen Sünden vergeben werden. Diese Vergebung ist die Belohnung für unseren Glauben an Christus. Daß sonst nichts zur Errettung notwendig ist, ergibt sich klar aus dem Umstand, daß das himmlische Reich niemandem als den Sündern verschlossen ist, das heißt den Ungehorsamen oder Gesetzesübertretern, und auch ihnen nicht, falls sie bereuen und an alle Glaubensartikel der christlichen Religion glauben, die zur Errettung notwendig sind. [ … ] Welches aber sind die Gebote, die Gott uns gegeben hat? Sind alle Gebote, die Mose den Juden gegeben hatte, Gebote Gottes? Sind sie es - warum lehrt man die Christen nicht, ihnen zu gehorchen? Sind sie es nicht - welche anderen sind es dann, außer dem Gesetz der Natur? Denn unser Heiland Jesus Christus hat uns keine neuen Gesetze gegeben, sondern nur den Rat, jene zu beachten, denen wir unterworfen sind, das heißt den Gesetzen der Natur und den Gesetzen unserer verschiedenen Souveräne. Auch erließ er in seiner Bergpredigt keine neuen Gesetze für die Juden, sondern setzte ihnen nur die Gesetze Moses auseinander, denen sie schon vorher unterworfen waren. Die Gesetze Gottes sind deshalb keine anderen als die Gesetze der Natur, deren hauptsächlichstes ist, daß wir unsere Treupflicht nicht verletzen sollen, das heißt ein Gebot, unseren bürgerlichen Souveränen zu gehorchen, die wir über uns durch gegenseitigen Vertrag, den einer mit dem anderen abgeschlossen hat, eingesetzt haben. Und dieses Gesetz Gottes, das Gehorsam gegen das bürgerliche Gesetz befiehlt, befiehlt folglich Gehorsam gegen alle Vorschriften der Bibel, die, wie ich im vorhergehenden Kapitel bewiesen habe, nur dort Gesetz ist, wo sie der bürgerliche Souverän dazu gemacht hat; an anderen Orten ist sie nur Rat, dem man auf eigene Gefahr den Gehorsam verweigern kann, ohne ungerecht zu sein. [ … ] Nachdem ich somit gezeigt habe, was zur Errettung notwendig ist, ist es nicht schwierig, unseren Gehorsam gegen Gott mit unserem Gehorsam gegen den bürgerlichen Souverän in Einklang zu bringen, der entweder Christ oder Ungläubiger ist. Ist er ein Christ, so erlaubt er den Glauben an den Satz: Jesus ist der Christus, und an alle Sätze, 224 7 Religion und Kirche die darin enthalten sind oder durch einleuchtende Schlußfolgerung daraus abgeleitet werden: dies ist der ganze zur Errettung notwendige Glaube. Und da er ein Souverän ist, fordert er Gehorsam gegen alle seine eigenen, das heißt gegen alle bürgerlichen Gesetze, in denen auch alle Gesetze der Natur enthalten sind, das heißt alle göttlichen Gesetze, denn außer den Gesetzen der Natur und den Gesetzen der Kirche, die ein Teil des bürgerlichen Gesetzes sind (denn die Kirche, die Gesetze erlassen kann, ist der Staat), gibt es keine anderen göttlichen Gesetze. Deshalb wird keiner, der seinem christlichen Souverän gehorcht, dadurch gehindert, an Gott zu glauben, noch Gott zu gehorchen. [ … ] Und ist der bürgerliche Souverän ein Ungläubiger, so sündigt jeder seiner Untertanen, der ihm Widerstand leistet, gegen die Gesetze (denn das sind die Gesetze der Natur) und verwirft den Rat der Apostel, der alle Christen ermahnt, ihren Fürsten zu gehorchen, und alle Kinder und Knechte, ihren Eltern und Herren in allen Dingen gehorsam zu sein. Und was ihren Glauben betrifft, so ist er innerlich und unsichtbar. Sie haben die Erlaubnis, die Naeman hatte und brauchen sich seinetwegen nicht in Gefahr zu bringen. Aber tun sie es, so sollten sie ihren Lohn im Himmel erwarten und dürfen sich nicht über ihren gesetzlichen Souverän beklagen und noch weniger Krieg gegen ihn führen. Denn wer sich nicht über jede echte Gelegenheit zum Märtyrertum freut, hat nicht den Glauben, den er bekennt, sondern gibt ihn nur vor, um seiner Widerspenstigkeit ein Mäntelchen umzuhängen. Aber welcher ungläubige König ist so unvernünftig, einen Untertanen zu töten oder zu verfolgen, von dem er weiß daß dieser auf das zweite Kommen Christi nach dem Brand der gegenwärtigen Welt wartet und diesem sodann gehorchen will (dies besagt der Glaube, daß Jesus der Christus ist), und daß er sich in der Zwischenzeit für verpflichtet hält, den Gesetzen jenes ungläubigen Königs zu gehorchen (wozu alle Christen durch ihr Gewissen verpflichtet sind)? Mehr will ich über das Reich Gottes und die kirchliche Politik nicht sagen. Ich erhebe nicht Anspruch darauf, in meinen Ausführungen irgendeinen eigenen Standpunkt vorzutragen, sondern ich will nur zeigen, was die Folgerungen sind, die man, wie mir scheint aus den Grundsätzen der christlichen Politik (was die Heiligen Schriften sind) zur Stärkung der Gewalt der bürgerlichen Souveräne 225 Leviathan und der Pflicht ihrer Untertanen ableiten kann. Und beim Zitieren der Schrift habe ich mich bemüht, solche Texte vermeiden, deren Auslegung unklar oder umstritten ist, und jede Stelle nur in dem Sinne anzuführen, der am klarsten ist und sich mit der Harmonie und dem Ziel der ganzen Bibel, die zur Erneuerung des Gottesreichs in Christo geschrieben wurde, am besten vereinbaren läßt. Denn nicht die bloßen Worte, sondern das Ziel des Verfassers wirft das wahre Licht, in dem jede Schrift auszulegen ist, und jene, die sich auf einzelne Stellen versteifen, ohne den Hauptzweck in Betracht zu ziehen können aus ihnen nichts klar ableiten, sondern werfen Schriftatome wie Staub vor die Augen der Menschen und machen dadurch eher alles dunkler als es ist - ein üblicher Kunstgriff derer, die nicht die Wahrheit, sondern ihren eigenen Vorteil suchen. T e i l I V, Vo m R e i c h d e r F i n s t e r n i s , 4 4 . K a p . : Vo n g e i s t i g e r F i n s t e r n i s a u s F e h l d e u t u n g d e r S c h r i f t Außer diesen souveränen Gewalten, der göttlichen und der menschlichen, denen ich bisher gehandelt habe, wird in der Schrift eine andere Gewalt erwähnt, nämlich die der Herrscher der Finsternis dieser Welt (Ephes. 6, 12), die des Reichs des Satans (Matth. 12, 26) und die des Fürstentums des Beelzebub über die Teufel (Matth. 9, 34), [ … ] demzufolge werden diejenigen, die sich unter seiner Herrschaft befinden, im Gegensatz zu den Gläubigen (die die Kinder des Lichts sind), Kinder der Finsternis genannt. Denn da der Beelzebub der Fürst der Trugbilder, der Bewohner seines Reichs der Luft und der Finsternis ist, bedeuten die Kinder der Finsternis und diese Dämonen, Trugbilder oder Geister der Täuschung sinnbildlich dieselbe Sache. In Anbetracht dessen ist das Reich der Finsternis, wie es in diesen und anderen Stellen der Schrift dargestellt wird, nichts anderes als eine Verschwörung von Betrügern, die zur Erlangung der Herrschaft über die Menschen in dieser gegenwärtigen Welt versuchen, durch dunkle und irrige Lehren das Licht der Natur und des Evangeliums auszulöschen, um die Menschen von der Vorbereitung auf das künftige Reich Gottes abzubringen. 41 [ … ] 226 7 Religion und Kirche Woher kommt es, daß es im Christentum seit Zeit der Apostel dieses gegenseitige Sich-aus-dem-Sattel-heben durch auswärtige Kriege und durch Bürgerkrieg gab, dieses Straucheln an jeder kleinen Härte des eigenen Geschicks und jeder kleinen Besserstellung anderer Menschen und diese Verschiedenheit der Wege beim Rennen zum selben Ziel, dem Glück, wenn nicht daher, daß Nacht um uns ist oder mindestens Nebel? Wir sind daher noch im Finstern. Der Feind ist in der Nacht unserer natürlichen Unwissenheit hier gewesen und hat das Unkraut unserer geistigen Irrtümer gesät, und zwar erstens indem er das Licht der Schriften mißbrauchte und auslöschte. Denn wir irren, wenn wir die Schriften nicht kennen. Zweitens, indem er die Dämonologie der heidnischen Dichter einführte, das heißt ihre ins Reich der Fabel gehörende Lehre von den Dämonen, die nur Bilder oder Wahnvorstellungen des Gehirns sind, ohne eine eigene wirkliche Natur zu besitzen, die etwas anderes wäre als menschliche Einbildung; hierzu gehören die Geister toter Menschen, Kobolde und andere Dinge, die in Erzählungen alter Weiber vorkommen. Drittens, indem er verschiedene Überreste der griechischen Religion und viel von der hohlen und irrigen griechischen Philosophie, besonders von der des Aristoteles, mit der Schrift vermischte. Viertens, indem er mit diesen beiden Dingen falsche oder ungesicherte Überlieferungen und erfundene oder ungesicherte Historie vermengte. Und so irren wir schließlich, indem wir „ verführerischen Geistern “ und der Geisterlehre derer „ anhangen, die in Gleisnerei Lügen reden “ oder, wie es im Original heißt (1. Tim. 4. 1, 2), „ die die Rolle der Lügner spielen und Brandmal in ihrem Gewissen haben “ , das heißt wider ihr eigenes Wissen. Auf den ersten dieser Punkte, nämlich das Verführen der Menschen durch Mißbrauch der Schrift, möchte ich in diesem Kapitel kurz zu sprechen kommen. Der größte und hauptsächliche Mißbrauch der Schrift, aus dem alle übrige Mißbräuche entweder folgen oder dem sie dienen, ist ihre Verdrehung, mit der bewiesen werden soll, daß das in der Schrift so oft erwähnte Reich Gottes die gegenwärtige Kirche oder die Gesamtheit der nun lebenden Christen sei. [ … ] Aus dem Irrtum, daß die gegenwärtige Kirche das Reich Christi sei, folgt, daß es einen Menschen oder eine Versammlung geben 227 Leviathan muß, durch deren Mund unser Heiland, der sich augenblicklich im Himmel befindet, redet und Gesetze gibt, und die seine Person allen Christen gegenüber vertritt, oder verschiedene Menschen oder verschiedene Versammlungen, die dies den verschiedenen Teilen der Christenheit gegenüber ebenfalls tun. Der Streit um diese königliche Gewalt unter Christus, die für die ganze Welt vom Papst und in den einzelnen Staaten von Versammlungen der einheimischen Priester beansprucht wird (während sie die Schrift niemandem als dem bürgerlichen Souverän gibt), wird so leidenschaftlich, daß er das Licht der Natur auslöscht und eine so große Finsternis im Verstand der Menschen verursacht, daß sie nicht sehen, wer es ist, dem sie sich zum Gehorsam verpflichtet haben. Aus diesem Anspruch des Papstes, Generalvikar Christi in der gegenwärtigen Kirche zu sein (die man für jenes Reich Christi hält, auf das wir im Evangelium. hingewiesen werden), folgt die Lehre, daß ein christlicher König notwendigerweise seine Krone durch einen Bischof empfangen muß, als ob er das Dei gratia seines Titels von jener Zeremonie herleitete, und daß er nur dann kraft göttlicher Gnade König wird, wenn er durch die Autorität des universalen Statthalters Gottes auf Erden gekrönt wird, und daß jeder Bischof, wer auch immer sein Souverän sein mag, bei seiner Weihe dem Papst absoluten Gehorsam schwört. [ … ] Aus demselben Grund gibt es in jedem Staat gewisse Leute, die dank der Freiheit der Kirche von den Abgaben und den Gerichten des bürgerlichen Standes ausgenommen sind. Denn dies trifft außer auf die Kloster- und Predigermönche auch auf den weltlichen Klerus zu, die vielerorts einen so großen Teil des gewöhnlichen Volkes ausmachen, daß, wenn nötig, aus ihnen allein eine Armee gebildet werden könnte, ausreichend für jeden Krieg, in dem die kämpfende Kirche sie gegen ihren eigenen oder gegen andere Fürsten einsetzte. 4 5 . K a p . : Vo n d e r G e i s t e r l e h r e u n d a n d e r e n Ü b e r r e s t e n d e r h e i d n i s c h e n R e l i g i o n Wenn es Leute gibt, die behaupten, göttliche Eingebung sei ein übernatürliches Eintreten des Heiligen Geistes in einen Menschen und nicht ein Erwerben göttlicher Gnaden durch Lehre und Studium, 228 7 Religion und Kirche so glaube ich, daß sie sich in einem sehr gefährlichen Dilemma befinden. Denn wenn sie nicht den Menschen verehren, von dem sie annehmen, er sei auf diese Weise inspiriert, so werden sie gottlos, da sie nicht Gottes übernatürliche Gegenwart anbeten. Und ferner: Verehren sie solche Menschen, so machen sie sich des Götzendienstes schuldig, denn die Apostel hätten es nie erlaubt, sich so verehren zu lassen. Deshalb ist es am sichersten, wenn man glaubt, daß damit, daß die Taube auf die Apostel herabstieg, daß Christus sie anblies, als er ihnen den Heiligen Geist gab und daß er ihn durch Händeauflegen gab, die Zeichen gemeint sind, die Gott nach seinem Gutdünken gebrauchte oder zu gebrauchen vorschrieb und die sein Versprechen andeuten, jenen Personen in ihrem Bemühen, sein Reich zu predigen, und in ihren Gesprächen beizustehen, damit dies anderen Leuten nicht anstößig, sondern erbaulich sein sollte. [ … ] 4 6 . K a p . : Vo n d e r F i n s t e r n i s a u f G r u n d v o n A f t e r p h i l o s o p h i e u n d Ü b e r l i e f e r u n g e n , d i e i n s R e i c h d e r F a b e l g e h ö r e n Unter Philosophie versteht man das Wissen, das erworben wird, indem man von der Art der Entstehung eines Dinges auf seine Eigenschaften oder von den Eigenschaften auf einen möglichen Weg seiner Entstehung schließt, um zu ermöglichen, insofern es Stoff und menschliche Kraft erlauben, solche Wirkungen zu erzeugen, die das menschliche Leben erfordert. 42 So entdeckt der Geometer aus der Konstruktion von Figuren viele ihrer Eigenschaften, und aus den Eigensdiaften neue Wege ihrer Konstruktion, und dies durch Schließen, um Land und Wasser vermessen zu können, und zu unendlich vielen anderen Zwecken. So entdeckt der Astronom aus dem Aufgehen, Untergehen und der Bewegung der Sonne und der Sterne an verschiedenen Himmelsteilen die Ursachen von Tag und Nacht und der verschiedenen Jahreszeiten, auf Grund derer er die Zeit berechnen kann. Und Ähnliches gilt von anderen Wissenschaften. Aus dieser Definition ergibt sich klar, daß wir nicht jenes ursprüngliche Wissen, das man Erfahrung nennt und woraus Klugheit besteht, als einen Teil der Wissenschaft ansehen dürfen. Denn 229 Leviathan sie wird nicht durch Schließen erlangt, sondern man findet sie bei wilden Tieren so gut wie beim Menschen, und sie ist nur eine Erinnerung an das Aufeinanderfolgen von Ereignissen in der Vergangenheit, bei denen die Auslassung jedes kleinsten Umstands die Erwartung des Klügsten zunichte macht, da sie die Wirkung ändert, während durch richtiges Schließen nichts als allgemeine, ewige und unwandelbare Wahrheit erzeugt wird. Deshalb dürfen wir keine falschen Schlüsse so nennen. Denn wer in Wörtern, die er versteht, richtig schließt, kann niemals auf einen Irrtum kommen. Auch das, was jemand auf Grund übernatürlicher Offenbarung weiß, dürfen wir nicht so nennen, da es nicht durch Schließen erlangt wurde. [ … ] Muße ist die Mutter der Philosophie und der Staat die Mutter von Frieden und Muße. Wo es zuerst große und blühende Städte gab, da gab es zuerst das Studium der Philosophie. [ … ] Bevor ich nun zu den einzelnen Lehrsätzen der Afterphilosophie komme, die, teils von Aristoteles, teils von der Blindheit des Verstands herrührend in die Universitäten und von ihnen in die Kirche eindrangen, möchte ich zuerst ihre Prinzipien untersuchen. Da gibt es eine gewisse philosophia prima, von der jede andere Philosophie abhängen muß und die hauptsächlich aus der richtigen Abgrenzung der Bedeutungen solcher Benennungen oder Namen besteht, die die umfassendsten von allen sind. Diese Abgrenzungen dienen dazu, beim Schließen Unklarheiten und Zweideutigkeiten zu vermeiden und werden gewöhnlich Definitionen genannt, wie z. B. die Definitionen von Körper, Zeit, Ort, Materie, Form, Essenz, Subjekt, Substanz, Akzidenz, Gewalt, Akt, endlich, unendlich, Quantität, Qualität, Bewegung, Handlung, Erleiden und verschiedene andere Begriffe, die zur Erklärung der menschlichen Vorstellungen von der Natur und der Entstehung von Körpern notwendig sind. Die Erklärung dieser und anderer Ausdrücke, das heißt die Festsetzung der Bedeutung, nennt man in den Schulen gewöhnlich Metaphysik, da dies ein Teil der aristotelischen Philosophie ist, der diese Bezeichnung trägt, aber in einem anderen Sinn, denn dort bedeutet dies soviel wie Bücher, die nach seiner Naturphilosophie geschrieben oder ihr nachgestellt wurden. Aber die Schulen halten 230 7 Religion und Kirche sie für Bücher der übernatürlichen Philosophie, denn das Wort Metaphysik [ … ]. Diese Metaphysik [ … ] sagt uns, es gebe auf der Welt gewisse vom Körper getrennte Essenzen, die sie abstrakte Essenzen und substantielle Formen nennen. Der Auslegung dieses Kauderwelsches muß man an dieser Stelle etwas mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich schenken. [ … ] Um nun zu erfahren, aus welchen Gründen sie sagen, es gebe abstrakte Essenzen oder substantielle Formen, müssen wir untersuchen, was die eigentliche Bedeutung dieser Wörter ist. Der Zweck von Wörtern ist, für uns selbst die Gedanken und Vorstellungen unseres Geistes zu registrieren und sie anderen gegenüber kundzutun. Einige dieser Wörter sind Namen vorgestellter Dinge, wie z. B. die Namen aller Arten von Körpern, die auf die Sinne einwirken und einen Eindruck in der Einbildungskraft hinterlassen. Andere sind die Namen der Einbildungen selbst, das heißt jener Ideen oder geistigen Bilder, die wir von allen Dingen haben, die wir sehen oder an die wir uns erinnern. Andere wiederum sind Namen von Namen oder von verschiedenen Arten von Redewendungen: so sind z. B. universal, Mehrzahl, Einzahl die Namen von Namen, und Definition, Affirmation, Negation, wahr, falsch, Syllogismus, Frage, Versprechen, Vertrag die Namen gewisser Redewendungen. Andere dienen dazu, um zu zeigen, was aus einem Namen für einen anderen folgt, oder daß sie miteinander unvereinbar sind. [ … ] Aber wozu, mag mancher sagen, stehen solche Spitzfindigkeiten in einem Werk dieser Art, in dem ich nichts anderes im Auge habe als das, was für die Lehre von der Regierung und vom Gehorsam notwendig ist? Dies geschieht zu dem Zweck, damit sich die Menschen nicht länger von denjenigen mißbrauchen lassen mögen, die sie durch diese Lehre von den getrennten Essenzen, die auf der Afterphilosophie des Aristoteles fußt, mit leeren Namen vor dem Gehorsam gegen die Gesetze ihres Landes abschrecken wollen, so, wie die Menschen Vögel vom Getreide mit einem leeren Wams, einem Hut und einem Krückstock abschrecken. Denn dies ist die Grundlage ihrer Behauptung, die Seele, das heißt das Leben, eines Menschen, der tot und begraben ist, könne von seinem Körper 231 Leviathan getrennt wandeln und sei nachts zwischen den Gräbern zu sehen. Aus demselben Grund sagen sie, Gestalt, Farbe und Geschmack eines Stücks Brot dort ein Sein, wo, wie sie sagen, kein Brot ist. Und aus demselben Grund sagen sie, Glaube, Weisheit und andere Tugenden würden vom Himmel herab in einen Menschen zuweilen gegossen und zuweilen geblasen - als ob die Tugendhaften und ihre Tugenden getrennt bestehen könnten! - und eine große Menge anderer Dinge, die dazu dienen, die Abhängigkeit der Untertanen von der souveränen Gewalt ihres Landes zu schwächen. Aus der aristotelischen Staatsphilosophie haben sie gelernt, alle Staatsformen außer der Demokratie (die damals in Athen bestand) Tyrannis zu nennen. Sie nannten alle Könige Tyrannen, und die aristokratische Herrschaft der Dreißig, die von den Spartanern, die Athen unterworfen hatten, errichtet wurde, die dreißig Tyrannen. Ebenso hatten sie gelernt, den Zustand des Volks unter der Demokratie Freiheit zu nennen. Tyrann bedeutete ursprünglich nichts anderes als einfach Monarch. Aber als später fast überall in Griechenland diese Staatsform abgeschafft wurde, bedeutete dieser Name nicht mehr allein, was er vorher bedeutet hatte, sondern dazu noch den Haß, den Demokratien dieser Staatsform entgegenbringen. [ … ]. Deshalb geben sie ihren Herrschern böse Namen, ohne je zu wissen, außer vielleicht kurz nach einem Bürgerkrieg, daß ohne eine solche willkürliche Herrschaft diese Kriege ewig dauern müßten und daß es Menschen und Waffen sind, nicht Worte und Versprechen, die die Stärke und Gewalt der Gesetze ausmachen. Und deshalb ist es ein anderer Irrtum der aristotelischen Politik, daß in einem wohlgeordneten Staat nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollten. Welcher Mensch, der seine natürlichen Sinne beisammen hat, selbst wenn er weder schreiben noch lesen kann, hält sich nicht von denjenigen beherrscht, die er fürchtet und von denen er annimmt, daß sie ihn töten oder ihm schaden können, wenn er nicht gehorcht? Oder wer glaubt, das Gesetz könne ihm schaden, das heißt Worte und Papier, ohne die Hände und Schwerter von Menschen? Und dies gehört zu den verderblichen Irrtümern, denn sie verleiten die Menschen dazu, sooft sie ihre Herrscher nicht leiden können, jenen anzuhängen, die diese Tyrannen nennen, und es 232 7 Religion und Kirche für rechtmäßig zu halten, einen Krieg gegen sie anzufangen. Und doch werden sie oftmals vom Klerus von der Kanzel herunter unterstützt. Denn jede Gewalt, die sich der Klerus (überall dort, wo er dem Staate untersteht) kraft eigenen Rechts zuschreibt, ist nichts anderes als Usurpation, auch wenn er es göttliches Recht nennt. 4 7 . K a p . : Vo n d e m Vo r t e i l a u s d i e s e r F i n s t e r n i s , u n d w e m e r z u g u t e k o m m t Cicero erwähnt einmal mit Hochachtung einen der Cassier, einen strengen römischen Richter, weil dieser in Strafsachen, wenn die Zeugenaussagen nicht genügten, die Ankläger zu fragen pflegte: „ Cui bono “ , das heißt, welchen Vorteil, welche Ehre oder andere Befriedigung der Angeklagte auf Grund der Tat erhielt oder erwartete. Denn es gibt kein Indiz, das so offensichtlich den Urheber verrät, wie der Vorteil aus der Handlung. Mit Hilfe von eben dieser Regel möchte ich an dieser Stelle untersuchen, wer wohl diejenigen sind, die in diesem Teil der christlichen Welt das Volk so lange mit diesen Lehren verwirrt hat, im Gegensatz zu den friedlichen Gesellschaften der Menschheit. Erstens. Mit dem Irrtum, daß die gegenwärtig auf Erden streitende Kirche das Reich Gottes sei (das heißt das Reich der Herrlichkeit oder das gelobte Land, nicht aber das Reich der Gnade, das nur eine Verheißung des Landes ist), sind folgende weltlichen Vorteile verknüpft : Erstens, daß die Priester und Lehrer der Kirche hierdurch als die öffentlichen Diener es einen Anspruch auf das Recht erhalten, die Kirche zu regieren und folglich Lenker und Herrscher des Staates zu sein, da Kirche und Staat dieselben Personen sind. Auf Grund dieses Anspruchs erreichte es der Papst, daß die Untertanen aller christlichen Fürsten glaubten, ihm nicht gehorchen hieße Christus selbst nicht gehorchen, und daß sie in allen Streitfragen zwischen ihm und anderen Fürsten (von dem Wort geistliche Gewalt verhext) ihre rechtmäßigen Souveräne im Stich ließen, was seiner Wirkung nach eine universale Monarchie über die ganze Christenheit darstellt. [ … ] 233 Leviathan Nachdem gewisse Kirchen sich von dieser universalen Macht des Papstes losgesagt hatten, hätte man vernünftigerweise annehmen können, daß die bürgerlichen Souveräne in allen diesen Kirchen so viel Macht wiedererlangt hätten, wie sie zuvor als eigenes Recht in Händen hatten, bevor sie es unklugerweise aufgaben. Und in England war dies in der Tat so, außer daß diejenigen, mit deren Hilfe die Könige die Herrschaft über die Religion ausübten, mit der Behauptung, ihr Amt beruhe auf göttlichem Recht, sich zwar nicht die Oberhoheit, aber doch eine Unabhängigkeit von der bürgerlichen Gewalt anzumaßen schienen. Doch sie schienen sich dies nur anzumaßen, da sie sogar ein Recht des Königs anerkannten, sie nach seinem Belieben ihrer Funktionen zu entheben. Aber dort, wo die Kirchenältesten dieses Amt übernahmen, wurde die Lehre, daß das Reich Christi bereits gekommen sei und daß es mit der Auferstehung unseres Heilands begann, beibehalten, obwohl die Verbreitung vieler anderer Lehren der römischen Kirche verboten wurde. Aber cui bono? Welchen Vorteil erwarteten sie hiervon? Denselben, den der Papst erhoffte: souveräne Gewalt über das Volk innezuhaben. [ … ] Auf diesen Punkt führe ich auch alle Lehren zurück, die ihnen dazu dienen, den Besitz dieser geistlichen Souveränität zu erhalten, nachdem er erlangt worden ist. Hierzu gehört erstens die Lehre, daß der Papst in seiner öffentlichen Eigenschaft nicht irren kann. Denn welcher Mensch, der dies für wahr hält, wird ihm nicht bereitwillig in allem, was er befiehlt, gehorchen? Zweitens die Lehre, daß alle anderen Bischöfe in allen Staaten ihr Recht weder unmittelbar von Gott noch mittelbar von ihren bürgerlichen Souveränen haben, sondern vom Papst. Auf Grund dieser Lehre gibt es in jedem christlichen Staat viele mächtige Männer (denn Bischöfe sind dies), die vom Papst abhängig sind und ihm Gehorsam schulden, obwohl er ein ausländischer Fürst ist. Hierdurch wird dieser in die Lage versetzt, wie schon oft einen Bürgerkrieg gegen den Staat anzuzetteln, der es sich nicht gefallen läßt, nach dessen Belieben und Interessen regiert zu werden. Drittens die Lehre, daß sie und alle anderen Priester sowie alle Kloster- und Predigermönche der Gewalt der bürgerlichen Gesetze nicht unterstehen. Denn hierdurch kommt einem großen Teil eines 234 7 Religion und Kirche jeden Staates der Vorteil der Gesetze zugute, wird durch die Macht des bürgerlichen Staates geschützt und bezahlt dennoch keinen Anteil an den öffentlichen Ausgaben. Sie unterliegen auch nicht den Strafen, die auf ihren Verbrechen stehen, wie andere Untertanen, und fürchten folglich niemanden außer dem Papst und hängen nur ihm an, um seine universale Monarchie zu stützen. Viertens, daß sie ihren Priestern, was im Neuen Testament nicht mehr als Presbyter, das heißt Älteste, bedeutet, den Namen sacerdotes, das heißt Opferer, geben, was bei den Juden, solange Gott ihr König war, der Titel des bürgerlichen Souveräns und seiner öffentlichen Diener war. Daß man das Abendmahl zu einem Opfer machte, dient ebenfalls dazu, das Volk glauben zu machen, der Papst habe über alle Christen dieselbe Gewalt wie Mose und Aaron über die Juden hatten, das heißt die gesamte Gewalt, die bürgerliche wie die kirchliche, wie damals die Hohenpriester. Fünftens räumt die Lehre, daß die Ehe ein Sakrament ist, dem Klerus das Urteil über die Gesetzmäßigkeit von Ehen ein und damit darüber, welche Kinder legitim sind und folglich über das Erbfolgerecht in Erbmonarchien. Sechstens dient die Ablehnung der Priesterehe zur Sicherung dieser Macht des Papstes über die Könige. Denn ist ein König Priester, so kann er nicht heiraten und sein Königreich seinen Nachkommen übertragen. Ist er kein Priester, so erhebt der Papst Anspruch auf diese kirchliche Gewalt über ihn und sein Volk. Siebtens erhalten sie aus der Ohrenbeichte zur Sicherung ihrer Macht bessere Informationen über die Absichten der Fürsten und hochgestellten Persönlichkeiten im bürgerlichen Staat, als diese über den Kirchenstaat erlangen können. Achtens sichern sie durch die Kanonisation von Heiligen und die Verkündung, wer Märtyrer ist, ihre Macht, indem sie einfache Menschen dazu bringen, sich den Gesetzen und Befehlen ihres bürgerlichen Souveräns gegenüber halsstarrig zu zeigen, wobei sie sogar den Tod auf sich nehmen, wenn jene durch die Exkommunikation durch den Papst zu Ketzern oder Feinden der Kirche erklärt werden, was in ihrer Auslegung Feinde des Papstes heißt. Neuntens sichern sie sich diese Gewalt durch die Macht, Christus herzustellen, die sie jedem Priester zuschreiben, und durch die 235 Leviathan Macht, Buße aufzuerlegen und Sünden zu vergeben oder nicht zu vergeben. Zehntens wird der Klerus durch die Lehre vom Fegfeuer, die Lehre von der Rechtfertigung durch äußere Werke und die Lehre vom Ablaß bereichert. Elftens bewirken sie durch ihre Geisterlehre, durch die Vornahme von Geisterbeschwörungen und anderer dazugehöriger Dinge, daß das Volk vor ihrer Gewalt größere Scheu empfindet, oder meinen wenigstens, dies zu bewirken. Endlich dienen ihnen die Metaphysik, Ethik und Politik des Aristoteles, die wertlosen Unterscheidungen, fremdsprachigen Ausdrücke und die verworrene Sprache der Scholastiker, die auf den Universitäten (die alle von der päpstlichen Autorität errichtet und eingerichtet worden sind), gelehrt werden, dazu, diese Irrtümer vor der Aufdeckung zu bewahren und die Menschen dazu zu bringen, das ignis fatuus der Afterphilosophie für das Licht des Evangeliums zu halten. 236 7 Religion und Kirche 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth Einleitung Nach einer verbreiteten Ansicht ist die europäische Epoche der Aufklärung traditionsfeindlich und geschichtsvergessen. In Wahrheit sind viele Philosophen dieser Zeit bedeutende Geschichtsschreiber. Ein Vorbild für sie, für Voltaire, Leibniz und Hume, gibt der Frühaufklärer Hobbes ab. Er verfaßt nämlich sowohl kirchengeschichtliche als auch politikgeschichtliche Werke, schreibt eine Autobiographie und übersetzt zuvor den griechischen Historiker Thukydides. Während Hobbes anders als sein Zeitgenosse Descartes, später Pascal und Leibniz im selbstgewählten Muster von Wissenschaftlichkeit, der Mathematik, trotz ehrgeiziger Versuche erfolglos bleibt, erfüllt er für das Erfahrungswissen hinsichtlich „ willentlicher menschlicher Handlungen “ (Leviathan, Kap. 9), die Geschichtsschreibung, das von ihm aufgestellte Qualitätskriterium: Es „ muß die Urteilskraft [gegenüber der Phantasie] überwiegen, denn ihre Güte liegt in der Darstellung, der Wahrheit und der Auswahl der Begebenheit, die zu wissen am natürlichsten ist “ (Leviathan, Kap. 8). Von Hobbes ’ kirchengeschichtlichem Werk, der Historia Ecclesiastica, einer Interpretation der jüdisch-christlichen Tradition von Moses bis zur Reformation, hat die größte staatstheoretische Bedeutung ein Schema der Weltgeschichte als Staatsgeschichte. Weit wichtiger ist jedoch die Geschichte des englischen Bürgerkrieges. Während der Haupttitel Behemoth das nach dem Leviathan zweite biblische Ungeheuer nennt, gibt der Untertitel „ das lange Parlament “ das genaue Thema an, die Zeit vom 4. November 1640 bis zum 16. März 1660. Am besten liest man die Schrift als eine Fallstudie zur Pathologie von Staatswesen, die an Hobbes ’ Staatstheorie weder bedeutende Ergänzungen noch gar erhebliche Veränderungen vornimmt. Weil aber Hobbes das nicht leistet, vermutlich auch nicht vorgehabt hat, was er an seinem eigenen Vorbild objektiver Geschichtsschreibung, Thukydides, geschätzt hatte, eine von Bewertungen unabhängige Darstellung schlicht der Ereignisse, erstaunt die Geringschätzung des Behemoth durch die Nachwelt nicht. Die durchaus erfahrungsgesättigte Beschreibung der Ereignisse hält sich von parteilichen Bewertungen nicht frei: Die eine Seite, König Karl (Charles) I., gilt als ein musterhafter Regent, als „ ein Mann, dem es an keiner Tugend, weder des Körpers noch des Geistes gebrach, der nichts mehr anstrebte, als seine Pflichten gegen Gott zu erfüllen, indem er seinen Untertanen gut regiere “ . Die gegenseitige, „ das Volk “ aber „ war allgemein verderbt, und gehorsame Personen wurden für die besten Patrioten gehalten “ (Behemoth, Kap. 1). Das Werk besteht aus vier nicht besonders kunstvoll gestalteten Dialogen, deren Themen Hobbes im Widmungsschreiben an den Baron von Arlington selber nennt. In der Schrift unterhält sich eine ältere Person A, die den Bürgerkrieg aus eigener Erfahrung kennt, mit einer jüngeren Person B, die in der Kirchengeschichte bewandert ist. Die Handlung spielt in der Zeit zwischen 1640 und 1660 in England. Mitlaufend gibt Hobbes einen Überblick „ über alle Arten von Ungerechtigkeiten und Torheiten, [ … ] die die Welt je leisten konnte “ (ebd.). Die aus Hobbes ’ staatsphilosophischen Schriften bekannten Feinde finden sich hier wieder, so Geistliche, die behaupten „ von Gott ein Recht zu haben, jeder seine Gemeinde und alle zusammen die ganze Nation zu regieren “ , oder die romtreuen Papisten, ferner „ London und deren große Handelsstädte “ , die „ mit Bewunderung auf das starke Aufblühen der Niederlande nach ihrem Abfall von ihrem Herrscher, dem König von Spanien “ blickten. Auch kritisiert Hobbes jene Gebildeten, die aus der Lektüre berühmter griechischer und römischer Autoren im Namen der Freiheit für eine Volksherrschaft eintraten, die Monarchie aber als „ Tyrannei “ entehrten. Dem an den damaligen Universitäten herrschenden Aristotelismus werden Haarspalterei und Scheinprobleme vorgeworfen. Weithin verhehlt Hobbes nicht, daß es ihm im Unterschied zu Aristoteles nicht auf eine Ethik gleichberechtigter, sowohl regierender als auch regiert werdender Bürger, vielmehr auf eine „ Ethik der Untertanen “ im Unterschied zur „ Ethik der Herrscher “ ankommt. Gegen Ende des ersten Dialogs wird Hobbes in seiner Kritik der Universitäten noch strenger. Er brandmarkt sie als „ Herd der Empörung “ , statt daß sie die „ wahre Politik “ - gemeint ist Hobbes ’ Forderung nach bedingungslosem Gehorsam - lehren. Hier zeigt sich unser Philosoph - im Alter starrsinnig geworden? - als Doktrinär im wörtlichen Sinn, nämlich als der kompromißlose Anwalt einer engen und strengen Doktrin. Nach Hobbes bestätigt der Bürgerkrieg die Ansicht, die er seit Beginn seines staatsphilosophischen Denkens vertreten hat: Allein einem mit 238 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth absoluter Macht ausgestatteten Souverän gelingt es, den ständig drohenden Rückfall in den Naturzustand, den Bürgerkrieg, auf Dauer zu verhindern. Behemoth W i d m u n g s s c h r e i b e n [ … ] ich erlaube mir, Euer Gnaden vier kurze Dialoge zu überreichen, die den unvergesslichen Bürgerkrieg von 1640 bis 1660 im Reich seiner Majestät behandeln. Der erste enthält dessen Kern: gewisse theologische und politische Meinungen. Der zweite zeigt sein Heranwachsen durch Verlautbarungen und Beschwerden und andere Schriften, die zwischen König und Parlament öffentlich gewechselt wurden. Die beiden letzten stellen eine sehr kurze Zusammenfassung des Krieges selbst dar, die aus der Chronik des Herrn Heath entnommen wurde. Es gibt nichts Belehrenderes über die Untertanentreue und Gerechtigkeit als die Erinnerung an diesen Krieg, solange sie dauert. Euer Gnaden mögen nach Ihrem Belieben über diese Schrift verfügen. Ich bitte nicht darum, sie zu veröffentlichen. Aber ich bitte darum, dass Euer Gnaden mir auch fernerhin gewogen bleiben, wie Sie es stets gewesen sind. Ich bin, Mylord, Euer Gnaden untertänigster Diener Thomas Hobbes E r s t e r D i a l o g A Unter geistlicher Macht verstehen sie die Macht, Glaubenssätze festzusetzen und im innerlichen Gericht des Gewissens Richter über sittliche Pflichten zu sein und die Macht zu haben, jene Leute, die ihren Vorschriften nicht gehorchen, durch kirchliche Jurisdiktion, das ist Exkommunikation, zu bestrafen. Diese Macht habe der Papst, sagen sie, unmittelbar von Christus ohne Abhängigkeit von irgendeinem König oder einer souveränen Körperschaft erhalten, deren Untertanen die zu Exkommunizierenden sind. Aber was die weltliche Macht betrifft, die darin besteht, dass sie richtet und alle Handlungen bestraft, die gegen die bürgerlichen Gesetze verstoßen, so sagen sie, dass sie nicht direkt diese Macht beanspruchen, sondern 239 Behemoth doch nur indirekt, insoweit solche Handlungen die Religion und die guten Sitten hindern oder fördern. Das meinen sie, wenn sie sagen in ordine ad spiritualia. B Was bleibt denn nun den Königen und anderen Trägern der Staatsgewalt noch für Macht, die der Papst nicht als die seinige in ordine ad spiritualia beanspruchen könnte? A Keine oder nur eine sehr kleine. Und diese Macht beansprucht nicht nur der Papst für die gesamte Christenheit, [sondern auch die meisten Bischöfe in ihren verschiedenen Diözesen kraft göttlichen Rechts, das heißt unmittelbar von Christus, ohne sie vom Papst abzuleiten.] 43 B Aber was ist denn nun diese Häresie, welche die römische Kirche so grausam verfolgt, indem sie Könige absetzt, die, wenn sie dazu aufgefordert werden, nicht alle Häretiker aus ihrem Reiche entfernen? A Häresie ist, wenn es ohne Affekt gebraucht wird, ein Wort, das eine Privatmeinung darstellt. So wurden die verschiedenen Schulen der alten Philosophen, Akademiker, Peripatetiker, Epikureer und Stoiker, als Häresien bezeichnet; aber in der christlichen Kirche lag in der Bedeutung dieses Wortes ein sündhaftes Auflehnen gegen den mit inbegriffen, welcher der oberste Richter über die das Seelenheil der Menschen betreffenden Lehren war. Folglich hat die Häresie dieselbe Beziehung zur geistlichen Macht wie der Aufruhr zur weltlichen und wird am geeignetsten durch den verfolgt, der eine geistige Macht und Herrschaft über die Gewissen der Menschen hat. A Ich bin jetzt bei einer Erzählung, nicht bei einer Disputation, und darum möchte ich dich bitten, dass du jetzt nichts anderes in Betracht ziehst, als was diese Lehre auf die Könige und ihre Untertanen für eine Wirkung ausüben mochte, in Beziehung zu der Geistlichkeit, die allein fähig war, aus einem Stück Brot unseres Heilands Körper zu machen und dadurch in der Todesstunde ihre Seele zu retten. B Es hätte auf mich die Wirkung, dass ich dächte, sie seien Götter, und dass ich Ehrfurcht vor ihnen hegte wie vor Gott selbst, wenn er sichtbar gegenwärtig wäre. 240 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth Aber obgleich die römische Religion mit den Mitteln des Gesetzes vertrieben war, gab es doch noch eine Menge Leute, darunter viele Adelige, die an der Religion ihrer Vorfahren festhielten; diese waren für die zivile Gewalt aber, da sie in Gewissensfragen nicht sehr belästigt wurden, kein besonderes Ärgernis. Doch die geheime Tätigkeit der Jesuiten und anderer Emissäre der römischen Kirche bewirkte, dass sie weniger ruhig waren, als sie hätten sein sollen, und einige wenige von ihnen wagten sich an den entsetzlichsten Anschlag, von dem man je gehört hat, ich meine den Gunpowder-Plot. 44 Deshalb wurden die Papisten von England als Leute betrachtet, die jede wie immer geartete Unordnung, die möglicherweise den Weg freimachen konnte zur Wiederherstellung der päpstlichen Autorität, in Kauf nehmen würden. Darum nannte ich sie eine der Krankheiten des englischen Staates in der Zeit unseres verstorbenen Königs Charles. [ … ] A Dieser Streit zwischen den Papisten und den reformierten Kirchen hatte zur Folge, dass jeder Laie nach bestem Vermögen mit Hilfe der Heiligen Schrift selbst zu untersuchen hatte, welche von beiden im Recht war. Deshalb wurde die Bibel in die Volkssprachen übersetzt, während doch früher ihre Übersetzung verboten und keinem Menschen, außer denen, welche die besondere Erlaubnis dafür hatten, gestattet war, sie zu lesen. Denn der Papst tat in Bezug auf die Heilige Schrift dasselbe, was Moses bezüglich des Berges Sinai tat. Moses ließ keinen Menschen auf den Berg Sinai, um Gottes Stimme zu hören oder ihn zu schauen, außer solchen, die er mit sich nahm. Und der Papst ließ keinen in der Bibel mit Gott sprechen, der nicht etwas von dem päpstlichen Geist in sich hatte, dessentwegen man ihm trauen konnte. B Sicherlich handelte Moses damit sehr weise und in Übereinstimmung mit Gottes eigenem Befehl. A Kein Zweifel, und der Erfolg selbst hat es seither so erscheinen lassen. Denn nachdem die Bibel ins Englische übersetzt war, glaubte jedermann, ja sogar jeder Junge und jedes Mädchen, die lesen konnten, sie sprächen mit Gott dem Allmächtigen und verstünden, was er sagte, wenn sie eine Anzahl Kapitel pro Tag aus der Heiligen 241 Behemoth Schrift ein- oder zweimal durchgelesen hätten. Damit wurden die Ehrfurcht und der Gehorsam, die der hiesigen reformierten Kirche und ihren Bischöfen und Pastoren gebühren, verworfen, und jeder wurde jetzt selbst Richter der Religion und Ausleger der Heiligen Schrift für sich selbst. [ … ] A Ich gestehe: Dieser Freibrief bei der Auslegung der Heiligen Schrift war die Ursache so vieler verschiedener Sekten, die bis zum Beginn der Regierung des verstorbenen Königs im Verborgenen blieben und die dann zur Störung des Staates [Common wealth] auftauchten. [ … ]. B Ich weiß ja, dass zu Beginn des Bürgerkrieges die Macht der Presbyterianer so groß war, dass nicht nur fast alle Bürger Londons ihnen zu Diensten standen, sondern auch die meisten anderen Städte und Marktflecken Englands. Aber du hast mir noch nicht erzählt, durch welche Kunst und durch welche Schritte sie so mächtig wurden. A Nicht die eigene Kunstfertigkeit allein vermochte es, sondern sie besaßen auch die Mitwirkung einer großen Zahl von Adeligen, die nicht weniger eine Volksherrschaft im Staat wünschten als diese Priester [ministers] in der Kirche. Und wie diese von der Kanzel aus die Leute dazu brachten, ihren Meinungen zu folgen und eine Abneigung gegen Kirchenregiment, Kanon und das Common Prayer Book 45 zu entwickeln, so flößten jene ihnen Liebe zur Demokratie ein durch ihre Reden [Harangues] im Parlament und durch ihre Unterredungen und Gespräche mit dem Volk auf dem Lande. Sie priesen beständig die Freiheit, schmähten die Tyrannei und überließen es den Leuten, selbst darauf zu kommen, dass diese Tyrannei die jetzige Regierung des Staates sei. A Was den Zeitpunkt des Versuchs eines Regierungswechsels von der Monarchie zur Demokratie anbelangt, so müssen wir unterscheiden: Sie forderten die souveräne Herrschaft nicht in klaren Worten und unter dem richtigen Namen heraus, bis sie den König erschlagen hatten, auch nicht die Rechte einer solchen unter ihren speziellen Bezeichnungen, bis der König durch Tumulte, die sich in der Stadt erhoben, aus London verjagt war und sich seiner per- 242 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth sönlichen Sicherheit wegen nach York zurückgezogen hatte. Er war dort erst seit wenigen Tagen, als sie ihm die Nineteen Propositions sandten, von denen über ein Dutzend Forderungen nach verschiedenen Machtbefugnissen waren, die wesentliche Teile der souveränen Gewalt ausmachten. Vorher aber hatten sie schon einige Punkte in einer Bittschrift eingefordert, die sie eine Petition of Right 46 nannten. Nichtsdestoweniger hatte der König diese bereits in einem früheren Parlament gewährt [ … ]. B Wie konnte das Parlament in der Lage sein, diesen Krieg anzuzetteln, wo doch der König eine große Flotte, eine große Zahl ausgebildeter Soldaten und alle Waffenlager unter Kontrolle hatte? A Rechtlich gesehen hatte der König all dies in der Tat, aber das bedeutete wenig, wenn diejenigen, denen die Überwachung der Flotte und der Vorräte und damit aller ausgebildeten Soldaten oblag, und in gewisser Weise alle seine Untertanen, durch die Predigten der presbyterianischen Geistlichen und durch verführerische Einflüsterungen von falschen und ignoranten Politikern zu seinen Feinden gemacht wurden und wenn der König an keine Gelder herankam außer denen, die das Parlament ihm gab, was, wie du dir denken kannst, nicht ausreichte, um seine königliche Gewalt aufrechtzuerhalten, die sie ihm nehmen wollten. Und doch glaube ich, sie hätten sich nie ins Feld gewagt, wenn nicht jene unglückliche Sache gewesen wäre, dass man den Schotten, die alle Presbyterianer waren, unser Common Prayer Book aufzwingen wollte. [ … ] Es geschah im Jahre 1637, dass der König auf den Rat, wie man vermutete, des Erzbischofs von Canterbury hin ein Common Prayer Book nach Schottland schickte, das sich inhaltlich nicht und auch in der Wortwahl kaum von dem unsrigen unterschied, außer dass an Stelle des Wortes Priester [minister] Presbyter stand, mit dem Befehl, es solle von jetzt ab von den dortigen Priestern (aus Gründen der Einheitlichkeit im Königreich) in der alltäglichen Form des Gottesdienstes gebraucht werden. Als dies in der Kirche zu Edinburgh verlesen wurde, verursachte es dort einen solchen Tumult, dass der, der es verlas, kaum mit dem Leben davonkam; das gab dem größten Teil des Adels und anderen 243 Behemoth Gelegenheit, aus eigener Machtvollkommenheit einen Bund zu schließen, den sie frech Bund mit Gott [Covenant with God] nannten, zu dem Zweck, das Episkopat abzuschaffen, ohne den König zu fragen. 47 [ … ] B Was geschah nun nach dem Bruch des Friedens als nächstes? A Der König schickte den Duke of Hamilton nach Schottland mit der Bevollmächtigung und Instruktionen, dort ein Parlament einzuberufen und alle Mittel, die er anwenden konnte, einzusetzen. Aber alles war zwecklos; denn die Schotten waren nun entschlossen, ein Heer aufzustellen und in England einzumarschieren, um, wie sie vorgaben, ihre Beschwerden Seiner Majestät in einer Petition vorzutragen, weil der König, wie sie sagten, unter dem Einfluss schlechter Ratgeber stehe und sie nicht anders zu ihrem Recht kommen könnten. Aber in Wahrheit waren sie durch die demokratischen und presbyterianischen Engländer dazu angespornt worden mit der Verheißung einer Belohnung und der Hoffnung auf Beute. A Der größte Teil der Lords im Parlament und der Junker in ganz England war mehr für die Monarchie als für eine Volksregierung, wollte aber nichts von der absoluten Macht des Königs hören. Das veranlasste sie, in der Zeit des Parlaments sich leicht herbeizulassen, jene zu beschneiden, und die Regierung zu einer gemischten Monarchie zu machen - wie sie es nannten - , worin die oberste Gewalt zwischen dem König, dem House of Lords und dem House of Commons geteilt werden sollte. B Was war des Papstes Plan, als er die Universitäten gründete? A Welch andere Absicht konnte er haben als die, die du vorhin gehört hast, nämlich die Stärkung seiner eigenen Autorität in den Ländern, in denen die Universitäten errichtet wurden? Dort lernten sie, für ihn zu disputieren und mit unverständlichen Unterscheidungen die Augen der Menschen zu blenden, während sie das Recht der Könige schmälerten. Es war ein augenscheinlicher Beweis für diese Absicht, dass sie mit der Arbeit so schnell anfingen, denn der erste Rektor der Universität von Paris war (wie ich irgendwo gelesen habe) Petrus Lombardus, der dort als erster das Lehrfach der scholastischen 244 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth Theologie einführte. Er wurde von Johannes Duns Scotus unterstützt, der ungefähr um dieselbe Zeit lebte. Diese beiden hätte jeder gescheite Leser, der nicht wüsste, dass Absicht darin lag, für zwei der größten Dummköpfe der Welt gehalten, so dunkel und sinnlos sind ihre Schriften. [ … ] Von den Universitäten wurde auch die aristotelische Philosophie zum Bestandteil der Religion gemacht, da sie eine große Anzahl absurder Artikel stützte, welche die Natur des Körpers Christi und den Zustand der Engel und Heiligen im Himmel betrafen; und diese Artikel hielten sie für geeignet, Glaubenssätze zu werden, weil sie einigen von ihnen Gewinn, anderen Ehrfurcht vor dem Klerus, selbst für den Geringsten unter ihnen, brachten. [ … ] B Übergehen wir alle anderen Pflichten, um zu jener zu kommen, welche wir dem König schuldig sind, und betrachten wir, ob die von jenen Theologen, die dem König anhingen, gelehrte Lehre so beschaffen war in jenem Punkt, dass es die Presbyterianer rechtfertigte, die das Volk zum Aufstand anstachelten, denn das ist die Sache, die du in Frage stellst. A Betreffs der Pflichten gegen unseren Herrscher stellt er diese Worte auf: Gehorsam müssen wir ihm zollen, entweder aktiven oder passiven. Den aktiven im Falle aller gesetzlichen Befehle, d. i. wenn die Behörde [Magistrate] etwas anordnet, das nicht gegen irgendein Gebot Gottes ist, dann sind wir verpflichtet, gemäß dieser Anordnung der Behörde zu handeln und auszuführen, was sie verlangt; aber wenn sie irgendetwas befiehlt, das gegen Gottes Gebot ist, brauchen wir nicht diesen aktiven Gehorsam zu leisten. Wir können, nein, wir müssen uns weigern, so zu handeln (jedoch hier müssen wir so sicher sein, dass die Sache klar entgegengesetzt ist, und nicht das Gewissen vorschützen als eine Ummantelung der Widerspenstigkeit). Wir müssen in diesem Fall Gott eher gehorchen als den Menschen. Aber selbst dies ist ein Fall für den passiven Gehorsam: Wir müssen geduldig ertragen, was er uns für die Weigerung auferlegt, und dürfen uns nicht, um uns selbst zu sichern, gegen ihn empören. 48 B In welcher Beziehung steht das zu der kürzlichen Rebellion? 245 Behemoth A Sie werden sagen, sie taten es im Gehorsam gegen Gott, insofern sie glaubten, dass es in der Bibel steht, aus der sie Beispiele bringen, etwa das von David und seinen Anhängern, die dem König Saul Widerstand leisteten, und das von den Propheten später, die heftig von Zeit zu Zeit gegen die abgöttischen Könige von Juda und Israel predigten. Saul war ihr rechtmäßiger König, und doch zollten sie ihm weder aktiven noch passiven Gehorsam, denn sie nahmen eine widerständige Haltung gegen ihn ein, wenn auch David selbst Sauls Person schonte. Und so machten es auch die Presbyterianer, indem sie in den Aufträgen an ihren General erklärten, dass die Person des Königs geschont werden solle. Der Herd der Empörung - wie du hier gesehen und von anderen Rebellionen gelesen hast - sind die Universitäten, die trotzdem nicht abgeschafft, sondern besser diszipliniert werden sollen, d. h., dass die dort gelehrte Politik (so wie wahre Politik es sollte) in solche Bahnen geleitet werden sollte, dass die Menschen erkennen lernen, dass es ihre Pflicht ist, allen Gesetzen zu gehorchen, welche auch immer von des Königs Autorität Gesetzeskraft bekommen haben, bis sie von derselben Autorität aufgehoben werden; dass sie verstehen lernen, dass die staatlichen Gesetze [civil laws] Gottes Gesetze sind, weil die Gesetzgeber dazu von Gott bestimmt sind, und dass das Volk und die Kirche eins sind und nur ein Haupt haben, das ist der König; und dass kein Mensch, der es nicht von ihm hat, das Recht hat, unter ihm zu regieren; dass der König seine Krone Gott allein verdankt und keinem Menschen, kirchlichem oder anderem; dass die Religion, die sie lehren, ein ruhiges Warten auf das Wiederkommen unseres gesegneten Heilands ist und bis dahin allen Gesetzen des Königs - welche auch Gottes Gesetze sind - zu gehorchen ist; keinen Menschen zu beleidigen, wohltätig gegen alle Menschen zu sein, die Armen und Kranken zu pflegen; besonnen und frei von Schande zu leben, ohne unsere Religion mit Fragen der Naturphilosophie zu vermengen, wie Freiheit des Willens, körperlose Substanz, das immerwährende Jetzt, Ubiquitäten und Hypostasen, die das Volk nicht versteht und um die es sich auch niemals kümmern wird. Wenn die Universitäten so diszipliniert sein werden, dann werden allmählich aus ihnen gediegene Priester 246 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth mit guten Grundsätzen hervorgehen, und die, die jetzt schlechte Grundsätze haben, fallen nach und nach weg. Z w e i t e r D i a l o g A Nachdem das Parlament das Volk von der Unrechtmäßigkeit der Erhebung des Ship-money überzeugt hatte und es damit dazu gebracht hatte, dies für tyrannisch zu halten, klagte es außerdem den König - um die Abneigung gegen ihn zu steigern - der Absicht an, die römische Religion in seinem Reich einführen und vertreten zu wollen, denn nichts war dem Volk verhasster; nicht, weil sie irrig war (was zu prüfen es weder genug Wissen noch Urteilsfähigkeit besaß), sondern weil es die Schmähungen gegen sie in den Predigten und Reden der Priester gehört hatte, denen es vertraute. Und dies war in der Tat die wirksamste Verleumdung, die erfunden werden konnte, um dem König die Zuneigung des Volkes zu entziehen. A Nach der Auflösung des Parlaments, das in den Jahren 1627 und 1628 tagte, zögerte der König - der von Parlamenten kein Geld erhalten konnte, ohne es mit dem Blut seiner liebsten Ratgeber und Minister zu erkaufen - lange Zeit, ein neues einzuberufen, und er hätte sich dessen noch länger enthalten, wenn ihn nicht der Aufstand der Schotten dazu gezwungen hätte. Während jener Parlamentsperiode machte der König Sir Thomas Wentworth zum Baron, weil er ihm wegen seiner großen Begabung empfohlen worden war, einer Begabung, die besonders durch den Schaden auffiel, den sie dem König in früheren Parlamenten verursacht hatte, die aber künftig für ihn nützlich sein konnte. Und nicht lange danach kam er in das Star Chamber und wurde hierauf Statthalter für Irland, eine Stelle, die er zur größten Zufriedenheit und zum Nutzen Seiner Majestät ausfüllte. Er behielt diese Stelle, bis er durch den Neid und die Gewalt der Lords und Commons dieses verhängnisvollen Parlaments von 1640 zu Tode gebracht wurde. In diesem Jahr war er zum General der königlichen Streitkräfte gegen die Schotten ernannt worden, die damals in England einfielen, und ein Jahr vorher zum Earl of Strafford. Nachdem der Friede geschlossen war, die beiderseitigen Streitkräfte aufgelöst waren und das Parlament nun in Westminster tagte, 247 Behemoth dauerte es nicht mehr lange, bis das House of Commons ihn beim House of Lords des Hochverrats anklagte. A Aber Philosophie, vereint mit Theologie, hat sehr oft dazu geführt, dass die Professoren den Platz der höchsten Autorität nach der Autorität der Könige selbst erhielten, das geschah in den meisten der alten Königreiche, wie es aus der Geschichte dieser Zeiten klar zu ersehen ist. B Ich bitte dich, nenne mir einige Autoren und Quellen. A Erstens, was waren die Druiden in alten Zeiten in Britannien und Frankreich? Welchen Einfluss sie hatten, kannst du bei Caesar, Strabo und anderen nachlesen, besonders bei Diodorus Siculus, vielleicht dem größten der Alten, der jemals gelebt hat; der sagt über die Druiden (die er Saroviden nennt) in Frankreich folgendes: „ Es gibt auch unter ihnen gewisse Philosophen und Theologen, die außerordentlich geehrt werden und deren man sich auch als Propheten bedient. Diese Menschen wahrsagen die Zukunft kraft ihrer Geschicklichkeit in der Deutung des Vogelfluges und der Untersuchung von Knochen heiliger Tiere, und die Menge gehorcht ihnen. “ Und etwas weiter unten: „ Es ist bei ihnen Brauch, dass niemand ohne einen Philosophen opfern soll, weil (wie sie sagen) die Menschen den Göttern ihren Dank nicht anders ausdrücken können als durch solche, die die göttliche Natur kennen, die wie diese in derselben Sprache sprechen, und alle guten Dinge müssen von solchen erbeten werden. “ 49 B Ich kann kaum glauben, dass diese Druiden in Naturphilosophie oder Ethik sehr bewandert waren. A Ich auch nicht; weil sie wie Pythagoras die Seelenwanderung von einem Körper in den anderen lehrten; ob sie diese Anschauung von ihm hatten oder er von ihnen, weiß ich nicht. Was waren die Magier in Persien anderes als Philosophen und Astrologen? Du weißt, wie sie kamen, um unseren Heiland mit Hilfe eines Sternes zu finden, entweder von Persien selbst oder von einigen Ländern östlich Judäas aus. Standen sie nicht in ihrem Lande 248 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth in großem Ansehen? Und werden sie nicht vom größten Teil der Christenheit für Könige gehalten? Ägypten wurde von vielen als das älteste Königreich und die älteste Nation der Welt bezeichnet; und seine Priester hatten die größte Macht in Staatsangelegenheiten wie sie irgendein Untertan in irgendeinem Staat je gehabt hat. Und was waren sie anderes als Philosophen und Theologen? [ … ] Lass uns nun den Staat der Juden betrachten. War dort nicht die Priesterwürde so gut wie in Ägypten in einer Familie (nämlich in der der Leviten)? Gab nicht der Hohepriester sein Urteil durch den Brustschild von Urim und Thummim ab? Sieht dir das assyrische Königreich und die chaldäischen Philosophen an. Besaßen sie nicht Länder und Städte als Familieneigentum wie zu Abrahams Zeiten, der (wie du weißt) in der Stadt Ur der Chaldäer wohnte? Von ihnen sagt derselbe Autor: „ Die Chaldäer sind eine politische Sekte ähnlich der der ägyptischen Priester; die, da sie zum Dienst der Götter eingesetzt sind, ihr ganzes Leben mit Philosophie ausfüllen; die in der astrologischen Wissenschaft ein außerordentlich großes Ansehen genießen und auch künftige Dinge durch Läuterung und Opfer vorhersagen können und durch gewisse Zauberformeln auch die Verhütung von Unheil erreichen und das Gute herbeirufen, und viele von ihnen erheben deshalb darauf Anspruch, Propheten zu sein. Sie verstehen sich auch auf die Vogeldeutung und auf die Auslegung von Träumen und Wundern, auch sind sie nicht unbewandert im Wahrsagen aus den Eingeweiden heiliger Tiere, und sie haben ihre Wissenschaft nicht von den Griechen, denn die Philosophie der Chaldäer wird in ihrer Familie durch Tradition vererbt, und der Sohn übernimmt sie von seinem Vater. “ 50 Lass uns von Assyrien nach Indien gehen und schauen, welche Achtung die Philosophen dort genießen. „ Alle Inder “ (sagt Diodorus) „ sind in sieben Schichten eingeteilt, deren erste die Körperschaft der Philosophen ist, die an Zahl die geringste, an Bedeutung die erste ist, denn sie sind von Steuern befreit, und wie sie nicht Herren über andere sind, so sind auch andere nicht Herren über sie. Von Privatpersonen werden sie zu den Opfern und zu den Totenbestattungen gerufen, weil sie als Lieblinge der Götter und als 249 Behemoth erfahren in der Lehre von der Hölle gelten; und für dieses Amt erhalten sie sehr beträchtliche Gaben und Ehrungen. Sie sind auch von großem Nutzen für das indische Volk, weil sie zu Beginn des Jahres in einer großen Versammlung dem Volk große Dürren, Regen, auch Winde und Krankheiten vorhersagen, und was auch immer für die Leute vorherzuwissen von Vorteil ist. “ 51 [ … ] A Ich beabsichtige mit diesen Zitaten nicht, die Theologie oder die Philosophie dieser heidnischen Völker zu loben, sondern will nur zeigen, was das Ansehen solcher Wissenschaften im Volk ausrichten kann. Denn ihre Theologie war nichts als Götzendienst, und ihre Philosophie (ausgenommen die Kenntnisse, die sich die ägyptischen Priester und von ihnen die Chaldäer durch lange Beobachtung und das Studium der Astronomie, Geometrie und Arithmetik angeeignet hatten) war recht gering; und dies wurde wiederum zum großen Teil in der Astrologie und beim Wahrsagen missbraucht. Wohingegen die Theologie der Geistlichkeit in dieser Nation die wahre Religion ist, abgesehen von der Vermischung (was durch die römische Kirche eingeführt wurde und teilweise hier beibehalten worden ist) des philosophischen Geschwätzes des Aristoteles und anderer Griechen, das keine Ähnlichkeit mit Religion hat und nur dazu dient, Unzufriedenheit, Uneinigkeit und endlich Aufruhr und Bürgerkrieg (wie wir vor kurzem herausfanden durch die kostspielige Erfahrung der Meinungsverschiedenheiten zwischen Presbyterianern und Bischöfen) zu erzeugen. Aber trotz dieser Auseinandersetzung unterdrückten beide Parteien, als sie zur Macht kamen, nicht nur ihre wechselseitigen Grundsätze, sondern auch jede Lehre, welche es auch immer war, die ihren Interessen nicht förderlich war, und folglich alle wahre Philosophie, besonders die politische und moralische, die niemals dem Ehrgeiz oder einer Befreiung von der Untertanenpflicht gegen die höchste Gewalt günstig gegenüberstehen kann. D r i t t e r D i a l o g B Wir waren bei den beiderseitigen Kriegsvorbereitungen stehengeblieben. Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich wirklich, 250 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth welche Möglichkeiten dem König blieben, in einem solchen Rennen mit dem Parlament mitzuhalten, und welche Aussichten auf ausreichend Geld, Soldaten, Waffen, Festungen, Kriegsschiffe, Ratgeber und Offiziere er für ein solches Unternehmen gegen das Parlament hatte, das so viel Geld und Menschen zur Verfügung hatte, wie die City of London und andere Gildenstädte zu liefern imstande waren - und das war mehr, als sie brauchten. Und was die Männer anbelangt, die sie als Soldaten ins Feld schicken wollten, so waren fast alle voller Hass gegen den König und seine ganze Partei, der sie vorwarfen, entweder Papisten oder Schmeichler des Königs zu sein oder zu beabsichtigen, ihre Güter durch die Plünderung der Hauptstadt und anderer verbündeter Städte zu vermehren. Und obgleich ich nicht glaube, dass sie mutiger als andere Männer waren oder dass sie genug Kriegserfahrung hatten, um als gute Soldaten bezeichnet zu werden, so hatten sie doch etwas in sich, was im Augenblick der Schlacht eher zum Sieg führt als Mut und Erfahrung zusammen, und das war Erbitterung. An Waffen besaßen sie die Hauptmagazine, den Tower von London und die Stadt Kingston upon Hull, außerdem das meiste Pulver und Blei, das in verschiedenen Städten für den Einsatz durch die ausgebildeten Truppen bereitlag. Es gab nicht viele Festungen in England, und die meisten waren in den Händen des Parlaments. Die gesamte Flotte des Königs stand gänzlich zu ihrer Verfügung unter dem Earl of Warwick. Ratgeber benötigten sie nicht mehr als jene, die schon zu ihrer Partei gehörten, so dass der König ihnen in jeder Hinsicht unterlegen war, ausgenommen vielleicht an Offizieren. [ … ] B Doch wie konnte der König Geld auftreiben, um ein solches Heer, wie er es gegen das Parlament benötigte, zu bezahlen? A Weder König noch Parlament hatten zu dieser Zeit viel Geld in Händen, sondern mussten sich auf das Wohlwollen derer verlassen, die ihre Partei ergriffen. Und darin, muss ich sagen, war das Parlament gewaltig im Vorteil. Diejenigen, die den König in dieser Weise unterstützten, waren nur Lords und große Herren. Sie missbilligten das Vorgehen des Parlaments, und jeder von ihnen war 251 Behemoth bereit, die Bezahlung einer gewissen Zahl berittener Mannschaft zu übernehmen. Man kann dies aber nicht als große Hilfe bezeichnen, da die Anzahl der Bezahlenden so gering war. Von anderen Geldmitteln, über die der König darüber hinaus verfügte, habe ich nichts gehört, ausgenommen das, was er in den Niederlanden gegen Juwelen lieh. Das Parlament hingegen erhielt eine sehr reichliche Zuwendung. Sie kam nicht allein aus London, sondern ganz allgemein von seiner Partei an allen anderen Orten Englands, die unter gewissen Bedingungen (die im Juni 1642 von Lords und Commons veröffentlicht wurden, wobei sie neuerdings erklärten, der König beabsichtige, Krieg gegen sie zu führen) Geld oder Geräte einbrachten, um Pferde und Reiter zu unterhalten, Waffen für die Erhaltung des Friedens im Staat und für die Verteidigung des Königs und beider Häuser des Parlaments anzuschaffen. Für die Rückzahlung des beigesteuerten Geldes und der Geräte sollte das Vertrauen in den Staat bürgen. B Welche Trümpfe besaß Cromwell in diesem Spiel? A Du musst Folgendes wissen: Als König Henry VIII. hier in England die Autorität des Papstes aufhob und sich zum Oberhaupt dieser Kirche erklärte, vermochten die Bischöfe ihm keinen Widerstand zu leisten, aber sie waren auch nicht unzufrieden damit. Denn da der Papst den Bischöfen nicht erlaubte, die Jurisdiktion in ihren Diözesen jure divino zu beanspruchen, d. h. kraft unmittelbar göttlichen Rechts, sondern nur kraft Gabe und Autorität des Papstes, so ließen sie nun, da der Papst hinausgeworfen war, keinen Zweifel daran, dass das göttliche Recht in ihnen selber sei. Später setzten die Stadt Genf und mehrere andere Orte auf dem Festland, die gegen den Papismus revoltiert hatten, Presbyterien zur Regierung ihrer verschiedenen Kirchen ein. Und manche englische Gelehrte, die während der Verfolgung zur Zeit der Königin Mary über See gingen, waren sehr für diese Einrichtung eingenommen, und sie haben bei ihrer Rückkehr zur Zeit der Königin Elisabeth und von da ab immer zur großen Beunruhigung von Kirche und Volk versucht, diese Einrichtung auch hier zu schaffen, bei der sie herrschen und ihrem eigenen Witz und ihrer eigenen Gelehrsamkeit Beifall spenden 252 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth können. Und diese nahmen für sich nicht nur ein göttliches Recht, sondern auch eine göttliche Inspiration in Anspruch. [ … ] Dies waren Cromwells beste Karten, und von ihnen befand sich eine große Zahl im Heer und einige im Parlament, und er selber wurde für einen Sektierer gehalten, obgleich er nichts Bestimmtes war, sondern sich immer der stärksten Gruppierung anschloss und deren Farbe annahm. Die besten Karten des Parlaments waren die Londoner City und die Person des Königs. Der General, Sir Thomas Fairfax, war ein richtiger Presbyterianer, aber in den Händen der Armee, und die Armee war in den Händen Cromwells; welche Partei aber das Übergewicht erhielt, hing vom Verlauf des Spiels ab. Cromwell beteuerte noch Gehorsam und Treue gegen das Parlament, aber da nichts weniger als das in seiner Absicht lag, besann und entschied er sich für einen Weg, auf dem er alles, was er im gegenteiligen Sinne tun würde, gestützt auf die Armee rechtfertigen konnte. Deshalb legten er und sein Schwiegersohn, der Generalkommissar [Commissary General] Ireton, der im Plänemachen so bewandert war wie er selbst, im Sprechen und Schreiben aber sogar gewandter, es darauf an, das Heer gegen das Parlament zur Meuterei anzustiften. Zu diesem Zweck verbreiteten sie heimlich das Gerücht in der Armee, dass das Parlament, nachdem es nun den König in seiner Macht habe, beabsichtige, das Heer aufzulösen, es um seine ausstehenden Zahlungen zu betrügen und nach Irland zu senden, damit es von den Iren vernichtet werde. Das Heer, hierdurch in Wut gebracht, wurde von Ireton angestiftet, einen Rat unter sich zu wählen, der aus zwei Soldaten von jedem Trupp und jeder Kompanie bestehen und beratschlagen sollte, was für das Heer am besten wäre. Dieser sollte dem Kriegsrat beiwohnen und zum Frieden und zur Sicherheit des Königreiches mitberaten. Sie wurden Agitatoren genannt, so dass Cromwell, was auch immer er ausgeführt haben wollte, nichts anderes zu tun hatte, wenn er sie dazu bringen wollte, als es heimlich in die Köpfe dieser Agitatoren zu setzen. Der Erfolg ihrer ersten Beratung war, den König von Holmeby zu entfernen und ihn zum Heer zu bringen. 253 Behemoth Aber nun war der König der Gefangene des Parlaments, warum förderten die Presbyterianer nicht ihr eigenes Interesse durch seine Wiedereinsetzung? A Die Abgeordneten des Parlaments, von denen immer noch mehr Presbyterianer als Independenten waren, hätten schon zu Lebzeiten des Königs alles erreichen können, was sie wollten, wenn sie sich nicht den Weg zu ihren Zielen durch gewissenlosen und törichten Ehrgeiz versperrt hätten. Sie sandten ihm vier Forderungen, die er unterzeichnen und als Parlamentsakte genehmigen solle, indem sie ihm sagen ließen, wenn diese bewilligt seien, so wollten sie ihm Vertrauensleute schicken, um mit ihm über irgendwelche anderen Punkte zu verhandeln. Die Forderungen waren die folgenden: erstens, dass das Parlament die Hoheit über die Miliz und das Recht, Geld zu erheben, um sie aufrechtzuerhalten, auf zwanzig Jahre haben solle, und nach dieser Frist solle die Militärhoheit dem König zurückgegeben werden, falls das Parlament dächte, dass die Sicherheit des Reiches davon abhinge. B Der erste Artikel nimmt dem König die Militärhoheit und folglich für immer die ganze Souveränität. A Die zweite war, dass der König das Vorgehen des Parlaments gegen ihn gutheißen und alle von ihm erlassenen Erklärungen gegen das Parlament für nichtig erklären solle. B Dies bedeutete, ihm die Schuld am Krieg und an allem darin vergossenen Blut zuzuschieben. A Die dritte war, alle vom König seit Mai 1642 verliehenen Ehrentitel von der Zeit an, da ihm das Große Siegel gebracht worden war, zu tilgen. Die vierte war, dass es dem Parlament möglich sein solle, sich wann, wohin und wie lange es wolle zu vertagen. Der König weigerte sich aus gutem Grund, diese Forderungen zu erfüllen, aber er sandte andere eigene Vorschläge, die nicht viel weniger vorteilhaft für das Parlament waren, und wünschte eine 254 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth persönliche Verhandlung hierüber mit dem Parlament, um den Frieden im Königreich zu festigen. Doch das Parlament lehnte sie als für diesen Zweck ungeeignet ab und beschloss, dass an ihn keine Zuschriften mehr gerichtet und auch keine Botschaften von ihm empfangen werden sollten, sondern dass sie das Königreich ohne ihn beruhigen wollten. Das Parlament erklärte in der Zwischenzeit [ … ] durch eine Verordnung den Supremats- und Untertaneneid für ungültig und erließ gleich danach eine andere, um den König abzuurteilen. B Das ist ein Stück Recht, von dem ich nie gehört habe, dass viele, die als einzelne geschworen haben, sich, so sie wollen, durch gemeinsamen Beschluss davon entbinden können. A Die Verordnung wurde, nachdem sie entworfen war, dem Parlament vorgelegt, wo nach drei Lesungen Folgendes bestimmt wurde: Die im Parlament vereinten Lords und Commons von England erklären, dass es nach den Grundgesetzen des Reiches Hochverrat ist, wenn der König Krieg gegen das Parlament anfängt. Dieser Beschluss wurde den Lords gesandt, und als sie ihre Zustimmung verweigerten, fassten die Commons im Zorn einen anderen Beschluss: Alle Mitglieder von Ausschüssen können alle Gesetze erlassen und ausüben, ob nun die Lords diesem zustimmen oder nicht. Nach Gott ist das Volk der Ursprung aller wirklichen Macht. Das House of Commons hat also die oberste Gewalt der Nation inne. Alles, was das House of Commons beschließt, ist Gesetz. Alles dieses ging nemine contradicente [ohne Gegenstimme] durch. B Diese Bestimmungen kämpfen nicht nur gegen den König von England, sondern gegen alle Könige der Welt. Es wäre gut, wenn sie daran gedacht hätten, und doch glaube ich, dass nach Gott der Ursprung aller Gesetze im Volk lag. A Das Volk und seine Erben hat lange vorher durch Zustimmung und Eide die absolute Gewalt des Reiches in die Gewalt seiner Könige 255 Behemoth und ihrer Erben gegeben, und deshalb auch in die Gewalt dieses Königs, ihres anerkannten und gesetzmäßigen Herrschers. B Aber verkörperte das Parlament nicht das Volk? A Ja, zu einigen Zwecken, etwa: Petitionen an den König zu richten, wenn sie die Erlaubnis haben und sich beschwert fühlen, aber nicht, sich zu beschweren über des Königs Macht. Außerdem vertritt das Parlament niemals das Volk, außer wenn der König es dazu beruft, auch ist es undenkbar, dass er ein Parlament beruft, um ihn abzusetzen. Gesetzt den Fall, jede Grafschaft und jeder Wahlflecken hätten diesem Parlament aus Wohlwollen eine Summe Geldes gegeben und jede Grafschaft sich in ihrem Grafschaftsgerichtshof [County Court] oder sonstwo versammelt und jeder Wahlflecken in seinem Rathaus und sie hätten dort etliche Männer gewählt, um je ihre verschiedenen Summen dem Parlament zu bringen: Hätten nicht diese Männer die ganze Nation vertreten? B Ja, ohne Zweifel. A Denkst du, dass das Parlament es für vernünftig gehalten hätte, von dieser Vertretung zur Rechenschaft gezogen zu werden? B Sicherlich nicht; und doch muss ich zugeben, dass der Fall derselbe ist. A Diese Verordnung enthielt erstens eine Zusammenfassung der Anklage gegen den König. [ … ] Zweitens die Einsetzung eines hohen Gerichtshofs [high Court of Justice], d. h. von einer gewissen Anzahl Beauftragter, von denen einige zwanzig die Macht hatten, den König zu verhören und ein Urteil gemäß der Wichtigkeit der Sache zu fällen und dieses schleunigst zu vollstrecken. Die Beauftragten tagten am Sonnabend, dem 20. Januar, in Westminster Hall, und der König wurde vorgeführt; auf einem Stuhl sitzend, hörte er die Verlesung der Anklage, weigerte sich aber, über seine Schuld oder Unschuld zu rechten, bis er wisse, kraft welcher gesetzmäßigen Autorität er vorgeführt worden sei. Der Präsident sagte ihm, dass das Parlament seine eigene Autorität behaupte, und der König verharrte bei seiner 256 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth Weigerung sich zu äußern. Obgleich er und der Präsident viele Worte wechselten, war dies doch alles Wesentliche. [ … ] Endlich tagten sie wieder am 27. Januar, wo der König den Wunsch aussprach, vor den Lords und Commons im Painted Chamber verhört zu werden, und er versprach, sich hierauf dem Urteil des Gerichts zu unterwerfen. Die Beauftragten zogen sich für eine halbe Stunde zur Beratung zurück, und als sie wiederkamen, ließen sie den König wieder vor die Schranken bringen und sagten ihm, dass sein Verlangen nichts als eine erneute Leugnung der Rechtmäßigkeit des Gerichtshofes sei und dass sie, wenn er nichts weiter zu sagen habe, in der Verhandlung fortfahren würden. Als dann der König antwortete, dass er nichts weiter zu sagen habe, hielt der Präsident eine lange Rede zur Rechtfertigung des Vorgehens des Parlaments, indem er die Beispiele vieler Könige anführte, die in England und Schottland und anderen Teilen der Welt von verruchten Parlamenten in früheren und neueren Zeiten getötet oder abgesetzt worden waren. Dies alles versuchte er aus diesem einzigen Grundsatz heraus zu rechtfertigen, dass das Volk die höchste Gewalt besitze und dass das Parlament das Volk sei. Nachdem die Rede beendet war, wurde das Todesurteil verlesen und am nächsten Donnerstag, dem 30. Januar, vor dem Tor seines eigenen Palastes Whitehall vollstreckt. Wer sich daran freuen kann zu lesen, wie schurkisch der König von den Soldaten zwischen Urteil und Hinrichtung behandelt wurde, möge an die Chronik selbst gehen; darin kann er sehen, welch ein Mut, welche Geduld, Weisheit und Güte in diesem Fürsten waren, den die Mitglieder dieses verruchten Parlaments in ihrer Anklage einen Tyrannen, Verräter und Mörder nannten. [ … ] B Nachdem der König tot und sein Nachfolger verbannt war, kraft welcher anerkannter Autorität wurde der Friede aufrechterhalten? A Sie hatten in ihrem Zorn gegen die Lords früher erklärt, dass die höchste Gewalt des Reiches im House of Commons liege, und nun bestimmten sie am 5. Februar, dass das House of Lords nutzlos und gefährlich sei. Und so wurde das Königreich in eine Demokratie, oder besser Oligarchie, verwandelt, denn sie erließen sofort ein 257 Behemoth Gesetz, dass keines derjenigen Mitglieder, die wegen ihres Widerstands gegen die Abmachung, an den König keine Schreiben mehr zu senden, ausgeschlossen worden waren, jemals wieder zugelassen werden dürfte. Und diese nannte man gewöhnlich „ die ausgeschlossenen Mitglieder “ , und die übrigen wurden von einigen Parlament genannt und von anderen das „ Rumpfparlament “ [the Rump]. Ich glaube nicht, dass du jetzt noch einen Katalog der Laster, Verbrechen oder Torheiten des größten Teils derer, aus denen das Lange Parlament sich zusammensetzte, nötig hast; es kann keine größeren geben auf der Welt. Welche größeren Laster als Irreligion, Heuchelei, Geiz und Grausamkeit, die in den Handlungen presbyterianischer Parlamentsmitglieder und presbyterianischer Geistlicher so ungeheuerlich zutage getreten sind? Welche größeren Verbrechen, als den Gesalbten Gottes zu lästern und zu töten? Das geschah durch die Hände der Independenten, aber durch die Torheit und den ersten Verrat der Presbyterianer, die ihn an seine Mörder verrieten und verkauften. [ … ]. Zu diesen Torheiten möchte ich die Torheit derjenigen feinen Leute rechnen, welche aufgrund ihrer Belesenheit in Cicero, Seneca und anderen Antimonarchisten sich für befähigte Politiker halten und ihre Unzufriedenheit zeigen, wenn sie nicht in die Staatsführung berufen werden, und die von einer Seite zur anderen pendeln, wenn sie sich vom König oder von seinen Feinden vernachlässigt glauben. V i e r t e r D i a l o g A Du hast gesehen, wie das Rumpfparlament nunmehr (so meinte es) im Besitz der höchsten Gewalt über die beiden Nationen England und Irland und über die Armee als ihren Diener war; auch wenn Cromwell anders darüber dachte, der ihnen zur Beförderung seiner eigenen Absichten sorgsam zu Diensten war. Ich muss dir deshalb nun ihr weiteres Vorgehen zeigen. B Sag mir zuerst, wie diese Art Regierung unter dem Rumpfparlament oder dem Überbleibsel eines House of Commons genannt werden muss. 258 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth A Es ist ohne Zweifel eine Oligarchie. Die höchste Gewalt muss nämlich notwendigerweise in Einem oder Mehreren verkörpert sein. Wenn sie bei Einem liegt, ist es eine Monarchie; deshalb war das Rumpfparlament keine Monarchie. Wenn die Staatsgewalt bei mehr als einem ist, so ist sie bei allen oder weniger als allen. Wenn sie bei allen liegt, ist es eine Demokratie; denn jeder darf in die Versammlung, die den souveränen Entscheidungsort darstellt, eintreten; das konnten sie aber hier nicht. Deshalb steht fest, dass die Autorität bei einigen Wenigen lag, und folglich war der Staat eine Oligarchie. B Ist es für ein Volk nicht unmöglich, gut regiert zu werden, wenn es mehr Herren dienen soll als einem? A Sowohl das Rumpfparlament als auch alle anderen souveränen Versammlungen sind, wenn sie nur eine Stimme haben, obgleich es viele Leute sind, doch nur eine Person. Denn entgegengesetzte Befehle können nicht in ein und derselben Stimme, die die Stimme der Mehrheit ist, bestehen. Und mithin mochten sie gut genug regieren, wenn sie Ehrlichkeit und Witz genug hatten. Die erste Tat des Rumpfparlaments war die Ausschließung derjenigen Mitglieder des House of Commons, die früher schon mit Gewalt ausgeschlossen worden waren, um eine Verordnung für den Prozess des Königs durchzusetzen; denn diese Mitglieder waren gegen das Gesetz, dem König keine Schreiben mehr zu senden, öffentlich aufgetreten und mussten deshalb ausgeschlossen werden, weil sie sonst ein Hindernis für ihre künftigen Pläne hätten darstellen können. [ … ] A Sie konnten es ohne Auftrag des Parlaments nicht tun. Danach setzten sie einen Rat von vierzig Mitgliedern ein, den sie als Staatsrat bezeichneten, dessen Aufgabe es war, die Befehle des Rumpfparlaments auszuführen. B Wenn es weder König noch House of Lords gab, so konnten sie sich nicht Parlament nennen, denn ein Parlament ist eine Zusammenkunft von König, Lords und Commons, um zusammen über die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu beraten. Mit wem beriet sich das Rumpfparlament? 259 Behemoth A Menschen können ihre Zusammenkünfte nennen, wie sie wollen; welche Bedeutung dieser Name früher auch immer gehabt haben mag. Und der Rumpf nahm den Namen Parlament an, weil dies für ihren Zweck am geeignetsten war, und ein solcher Name hat schon, weil er dem Volk verehrungswürdig erschien, viele hundert Jahre lang Subsidien und andere Gelderhebungen, die anders dem Untertan sehr unliebsam waren, begünstigt und versüßt. A In diesen Jahr tat das Rumpfparlament im Lande nicht viel, außer dass sie zu Anfang England zu einem Freistaat [Free-State] machten, durch ein Gesetz, das folgendermaßen lautet: „ Durch das gegenwärtige Parlament und kraft dessen Autorität wird beschlossen und verkündet, dass das Volk von England und alle dazugehörigen Gebiete und Territorien hierdurch für Gegenwart und Zukunft zu einer Republik [Common Wealth] 52 und zu einem Freistaat usw. konstituiert, umgewandelt und erklärt werden. “ 53 [ … ] Sie meinten, dass weder dieser noch ein anderer König noch eine einzige Person außer ihnen selbst Herr über das Volk sein solle, und sie hätten es auch in so deutlichen Worten niedergelegt, wenn das Volk sich mit verständlichen Worten so leicht hätte beschwindeln lassen wie mit unverständlichen. Anschließend verteilten sie unter sich Geld und Grundstücke aus den Ländereien und Gütern der loyalen Partei. Sie beschlossen auch, dass jedermann die folgende Verpflichtung [Engagement] auf sich nehmen solle: „ Du sollst geloben, treu und ergeben zu sein der Republik von England, in ihrer jetzigen Verfassung, ohne König oder House of Lords. “ 54 B Was tat während dieser Zeit das Rumpfparlament daheim? A Es gewährte den Sektierern Gewissensfreiheit, das heißt, sie rissen dem Presbyterianertum den Stachel aus, der darin bestand, dem Volk mit Strenge wunderliche Ansichten beizubringen, die nichts mit Religion zu tun haben, aber dazu führen, die Macht der presbyterianischen Geistlichen zu fördern. B Wer besaß nun, wo es kein Parlament mehr gab, die höchste Gewalt? 260 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth A Wenn du mit Gewalt das Recht zu regieren meinst, so hatte es hier niemand. Wenn du die größte Macht meinst, so lag sie ohne Zweifel bei Cromwell, dem man als dem General aller Streitkräfte Englands, Schottlands und Irlands gehorchte. B Gründete er darauf seinen Anspruch? A Nein, aber gleich darauf erfand er den folgenden Rechtsanspruch: Er sei genötigt gewesen, für die Verteidigung der Sache, um derentwillen das Parlament zuerst die Waffen erhoben (das heißt, rebelliert) hatte, seine Zuflucht zu außergewöhnlichen Handlungen zu nehmen. Du weißt, der Vorwand zur Rebellion des Langen Parlaments war die salus populi, die Sicherheit des Volkes gegen eine gefährliche Verschwörung von Papisten und eine böswillige Partei im Lande, und jeder sei verpflichtet, soweit seine Macht reicht, die Sicherheit des ganzes Volkes zu erhalten (was niemand außer der Armee vermöge, und das Parlament habe dies bisher versäumt); war es da nicht die Pflicht des General, dies zu tun? Hatte er deshalb nicht recht? Denn jenes Gesetz der salus populi gilt nur für die, die Macht genug haben, das Volk zu verteidigen, d. h. für die, welche die höchste Gewalt haben. [ … ] B Kam Cromwell nur hoch mit dem einzigen Titel der salus populi? A Nein. Denn das ist ein Titel, den sehr wenige Menschen verstehen. Sein Weg war, die oberste Gewalt vom Parlament übertragen zu bekommen. Deshalb berief er ein Parlament und gab diesem die oberste Gewalt unter der Bedingung, dass sie ihm diese übertrügen. War das nicht geistreich? Zuerst veröffentlichte er eine Erklärung der Gründe, warum er das Parlament aufgelöst habe. Die Quintessenz davon war, sie hätten, anstatt zu versuchen, das Wohl von Gottes Volk zu fördern, durch eine Bill, die zur Abstimmung vorbereitet war, versucht, das Haus zu erneuern und ihre eigene Macht zur dauernden zu machen. Als nächstes konstituierte er einen Staatsrat [Council of State] aus seinen Gefolgsleuten, der die höchste Gewalt in England verkörpern sollte, aber nicht länger, als bis das nächste Parlament gewählt und zusammengetreten sei. Drittens berief er 142 Personen, die er selbst oder seine zuverlässigen Offiziere auslasen. Von diesen war der größte Teil angewiesen, 261 Behemoth was sie tun sollten; zumeist zweifelhafte Personen und die meisten von ihnen Fanatiker, obgleich sie von Cromwell als Leute von bewährter Treue und Ehrenhaftigkeit bezeichnet wurden. Diesen übertrug der Staatsrat die höchste Autorität, und nicht lange danach übertrugen diese Leute sie Cromwell. Am 4. Juli trat das Parlament zusammen und wählte zu seinem Sprecher einen Herrn Rous und nannte sich von dieser Zeit ab das Parlament von England. Aber zur größeren Sicherheit konstituierte Cromwell außerdem einen Staatsrat, der sich aus nicht so unbedeutenden Männern wie jenen zusammensetzte, sondern aus ihm selbst und seinen ersten Offizieren bestand. Diese führten alle Geschäfte, öffentliche und private, erließen Verordnungen und empfingen. fremde Gesandte. Aber er hatte jetzt mehr Feinde als vorher. Das letzte bemerkenswerte Ereignis dieses Jahres war ein Antrag, den ein Mitglied des Hauses, ein Stadtrat [Alderman] Londons, stellte, dass das Haus den Protektor bitten und ihm raten sollte, den Titel Protektor abzulegen und den Titel König anzunehmen. B Das war in der Tat ein kühner Antrag, der, wenn er durchgegangen wäre, dem Ehrgeiz vieler Menschen und der Zügellosigkeit des ganzen Heeres ein Ende gesetzt hätte. Ich glaube, der Antrag wurde in der Absicht gestellt, sowohl den Protektor als auch seine ehrgeizigen Offiziere zu verderben. Im Jahre 1658, am 3. September, starb der Protektor, der seit seiner letzten Einsetzung ständig mit der Furcht lebte, durch einen verzweifelten Anschlag der Royalisten umzukommen, in Whitehall. Da er während seiner Krankheit von seinem geheimen Rat [Privy Council] dringend gebeten wurde, seinen Nachfolger zu bestimmen, benannte er seinen Sohn Richard, der nicht durch seinen eigenen Ehrgeiz, sondern durch Fleetwood, Desborough, Thurlow und andere aus seinem Rat dazu gebracht wurde, das Amt anzunehmen. Und sofort sandten ihm die Heere in England, Schottland und Irland Ergebenheitsadressen. Seine erste Amtshandlung war das kostspielige und prächtige Begräbnis seines Vaters. 262 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth So übernahm Richard Cromwell seinen Sitz auf dem Thron Englands, Irlands und Schottlands als Nachfolger seines Vaters, von den in London befindlichen Offizieren des Heeres dazu erhoben und beglückwünscht von allen Teilen der Armee der drei Länder; kaum eine Garnison verabsäumte, ihm besonders schmeichelhafte Glückwünsche zu senden. A Das brachte den König herein: Denn nur wenige Mitglieder dieses Langen Parlament (das Land fühlte noch den Schmerz, den ihm ihr früheres Wirken beigebracht hatte) konnten durchsetzen, wiedergewählt zu werden. 55 Dieses neue Parlament begann seine Tagungen am 25. April 1660. Wie bald dies den König zurückrief, mit welcher Freude und mit welchem Triumph er empfangen wurde, wie sehr Seine Majestät bei diesem Parlament auf eine Amnestie drängte und wie wenige davon ausgenommen wurden: das weißt du so gut wie ich. B Aber ich habe bei den Presbyterianern noch nicht beobachtet, dass sie ihre früheren Grundsätze vergessen hätten. Wir sind nur zu dem Zustand zurückgekehrt, wie er zu Beginn des Aufruhrs war. A Nein, dem ist nicht so, denn vor jener Zeit besaßen die Könige von England die Militärhoheit kraft der Souveränität, ohne dass es bestritten wurde und ohne eine besondere Akte des Parlaments hierfür, jetzt aber, nach diesem blutigen Kampf, hat das nächste Parlament (welches das gegenwärtige ist) in besonderen und ausdrücklichen Worten dasselbe für das ausschließliche Recht des Königs allein erklärt, ohne eines der Häuser des Parlaments; diese Akte ist für das Volk lehrreicher als irgendwelche Beweisgründe, die aus dem Titel „ Souverän “ abgeleitet sind und die folglich besser dazu geeignet sind, den Ehrgeiz aller zukünftigen aufrührerischen Redner zu entwaffnen. B Ich bitte Gott, dass es sich so erweist. Immerhin muss ich bekennen, dass dieses Parlament alles zur Sicherung unseres Friedens getan hat, was ein Parlament tun kann; ich denke, dies würde auch genügen, wenn die Prediger darauf achtgäben, ihrer Zuhörerschaft nicht schlechte Grundsätze einzuflößen. Ich habe in dieser 263 Behemoth Revolution 56 eine Kreisbewegung der souveränen Gewalt über zwei Thronräuber, Vater und Sohn, vom verstorbenen König an bis zu diesem seinen Sohn, beobachtet. Denn (wenn man von der Macht des Offiziersrates absieht, die nur vorübergehend und ihnen nur zu treuen Händen übertragen war) sie bewegte sich von König Charles I. über das Lange Parlament zum Rumpfparlament, vom Rumpfparlament zu Oliver Cromwell, und dann von Richard Cromwell zum Rumpf zurück, von da aus zu dem Langen Parlament und von da zu König Charles II., wo sie lange bleiben möge. A Amen. Und möge er, sooft es nötig sein wird, einen solchen General haben. 57 264 8 Geschichte des Bürgerkrieges: Behemoth Anmerkungen 1 Das Homo-homini-lupus-Diktum geht auf den römischen Dichter Plautus (254 - 184 v. Chr.) zurück, in dessen Komödie Asinaria (2. Akt, 4. Szene, Zeil 495) es heißt: Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit (Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, wenn er nicht weiß, wer der andere ist). Das Diktum Homo homini deus [est, si suum officium sciat] (Der Mensch ist dem Menschen ein Gott, wenn er seine Pflicht kennt) findet sich erstmals in einem Komödienfragment des römischen Komödiendichters Cæcilius Statius (220 - 168 v. Chr.) [ … ], wobei Hobbes selbst sie vermutlich dem Werk von Francis Bacon entlehnt haben dürfte. [ … ] 2 In der lat. Fassung nennt Hobbes außer der Politeia Platos die Utopia des Thomas Morus und die Nova Atlantis von Francis Bacon: Erwäge ich aber, wie so sehr vielen daran gelegen sein müsse, daß diese meine Gedanken als unbegründet verworfen werden möchten; sehe ich ferner, daß diejenigen, welche ganz entgegengesetzte Lehren behaupten, selbst durch das Elend des Bürgerkrieges, welcher dadurch erregt wurde, nicht gebessert worden sind; werde ich endlich gewahr, daß die besten Köpfe in den aufrührerischen Lehren der älteren Griechen und Römer frühzeitig unterrichtet werden, so muß ich allerdings besorgen, daß man mein Werk der Republik des Plato, dem Lande Utopien, Atlantis und anderen solchen Schriften gleich achten werde. Indessen gebe ich dennoch nicht alle Hoffnung auf, daß, wenn edeldenkende Fürsten über ihre Gerechtsame, und wenn Lehrer über ihre eigenen und der Bürger Pflichten reiflicher nachdenken werden, man auch diese meine Grundsätze mit der Zeit weiniger anstößig finden und dereinst noch zum Wohl der Staaten allgemein annehmen werde. 3 Die „ Magna Carta Libertatum “ - Große Urkunde Englischer Freiheiten - war im Jahre 1215 König Johann, der mit außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, von den selbstbewussten und unzufriedenen Baronen unter Mitwirkung der Kirche aufgedrungen worden. In einer Präambel und 63 Sätzen schreibt sie als echte Rechtsurkunde die Verhältnisse der Zeit: König - Kirche, König - Adel, König - Lehenseigentum, Rechtspflege, Stellung der Städte und des Handels, Kontrolle königlicher Beauftragter, fest. Als ihr Kernstück gilt der Satz 39, in dem festgehalten ist, daß kein Freier ( „ freemen “ ) ohne ein ordentliches Standesgerichtsverfahren gefangengesetzt oder enteignet werden dürfe. Aufgrund ihres Alters und in Erinnerung der Feierlichkeit ihrer ersten Verkündigung wurde die M. C., obwohl im 13. Jahrhundert noch mehrfach verändert, zunehmend zum zentralen Mythos zunächst englischer (später auch amerikanischer) Freiheit. Die Grundprinzipien wurden zwangsläufig wichtiger als die zeitgebundenen Regeln, die M. C. wurde zum Bezugspunkt jeglicher Freiheitsbehauptung gegen herrscherliche Willkür oder was die - bis zur modernen Massendemokratie sich ständig erweiternden - Bezugsgruppen ( „ freemen “ ) je als diese darunter verstanden. 4 Sir Thomas Littleton (1422 - 1481), hoher Richter seines Landes, war der Verfasser eines in der englischen Rechtsgeschichte ungemein einflußreichen Werkes, Littleton of Tenures. Bedeutung und Wirkung sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß es in Englisch verfaßt und vom Römischen Recht kaum beeinflußt ist. Das erste Buch von Sir Edward Cokes Institutes enthält Littetons Text mit den Kommentaren Cokes. Für das Verständnis des englischen Rechtswesens ist es nicht uninteressant, daß Litteleton bis ins 20. Jahrhundert hinein keineswegs nur als historisches Dokument, sondern auch noch als juristische Autorität herangezogen werden konnte. 5 Engl. imagination, lat. imaginatio. 6 Lat. Fassung präzisiert: Wissenschaft und feste Grundsätze sind ihnen so fremd, daß sie außer ihren Begierden keine anderen Lebensregeln kennen. 7 Bei dieser und jeder anderen Kennzeichnung mittels eines hochgestellten Asterisks (in den Originalausgaben in runde Klammern gefaßt) handelt es sich um einen Verweis auf eine dem Abschnitt jeweils folgende „ Anmerkung “ (Annotatio), die Hobbes für die Ausgaben von 1647 dem Text des Privatdrucks von 1642 jeweils hinzufügte, um einigen der kritischen Einwände begegnen zu können, die nach 1642 an ihn herangetragen wurden [ … ]. 8 Lat. societas civilis wird hier und im Folgenden wortwörtlich mit „ bürgerliche Gesellschaft “ übersetzt, obwohl damit keineswegs etwas Bürgerliches in einem ökonomisch-schichtenspezifischen Sinne gemeint ist, sondern vielmehr alles das, was mit Staat und Staatsbürgerschaft konnotiert ist. [ … ] 9 Lat. pacta wird hier und im Folgenden nicht mit „ Verträge “ , sondern mit „ Übereinkommen “ übersetzt, da Hobbes in II. 9 (s. dazu Anm. 45) klar zwischen lat. contractus und lat. pactum unterscheidet. 10 Lat. gloria wird hier und im Folgenden vielfach nicht mit „ Ruhm “ wiedergegeben, sondern mit „ Ansehen “ . 11 Engl. appetite or desire; lat. appetitus vel cupido. 12 Engl. appetite and aversion. 13 Hobbes gibt eine (falsche) etymologische Herleitung: And it is called deliberation; because it is a putting an end to the liberty we had of doing, or omitting, according to our own appetite, or aversion. Lat.: Deliberatio autem ideo dicitur, quia libertatis, quam habemus faciendi omittendive, finis est. 14 Lat. Fassung präziser: Die dieser am nächsten kommenden Macht ist die, welche von dem Willen vieler Menschen abhängt, die sich nicht miteinander vereinigt haben, wie z. B. einer einzelnen oder mehrerer verbündeter Parteien. 15 Lat. defensio, Abwehr. 16 Die lat. Fassung bringt ein biblisches Beispiel: Wie, hat nicht Kain seinen Bruder aus Neid ermordet? Würde er das wohl gewagt haben, wenn schon 266 Anmerkungen damals eine allgemein anerkannte Mache, die eine solche Greueltat hätte rächen können, dagewesen wäre? 17 Die lat. Fassung weicht ab: … da hieraus unmöglich etwas Böses, sondern vielmehr das höchste Gut erfolgen würde? 18 Die lat. Fassung enthält den Gedanken der Wiedergutmachung: Gesetzt also, es habe ein Mensch bei dem fortdauernden Willen, einem jeden das Seinige zu geben, eine oder die andere ungerechte Handlung begangen, so muß er selbst dennoch gerecht genannt werden, wenn er nur Gerechtigkeit liebt und das von ihm auch insgeheim verübte Unrecht verwirft, vernichten zu können wünscht und den zugefügten Schaden nach Möglichkeit zu ersetzen sucht. 19 Die lat. Fassung formuliert abweichend: Die Gültigkeit der natürlichen Gesetze wird zwar von unserem Gewissen (Foro interno) anerkannt, und die Übertretung derselben macht uns nicht zu eigentlichen Verbrechern, sondern zu Lasterhaften. 20 Die lat. Fassung enthält eine interessante Abweichung: Ein eigentliches Gesetz hängt allein von dem ab, der im Besitz der höchsten Gewalt ist; er gebe es mündlich oder schriftlich, wenn nur die, welche demselben gehorchen sollen, wissen, daß er es gegeben hat. 21 In der lat. Fassung Satzende einschränkend formuliert: … unter jenen aber höchst selten. 22 Die lat. Fassung ist genauer: … und die Aristokratie, bei der die höchste Gewalt dem vornehmsten Bürgerstande anvertraut ist. 23 Die lat. Fassung enthält eine Modifikation des Nachsatzes: Zu den Unbequemlichkeiten der monarchischen Staatsverfassung gehört zwar auch, daß der Monarch, um seinen Günstling zu bereichern, einen Bürger aller seiner Glücksgüter berauben kann; wiewohl davon die Geschichte kein Beispiel aufstellt. 24 Die lat. Fassung formuliert abweichend: Als Menschen betrachtet, müssen wir den natürlichen Gesetzen, als Bürger aber den bürgerlichen Gesetzen Gehorsam leisten. 25 Engl. civil laws 26 Coke, Kommentar zu Littleton, Buch II, Kap. 6, fol. 97, B (Cf. Note 11.) 27 Die lat. Fassung hat die positive Version dieser Formel: Was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. 28 Die „ Magna Carta Libertatum “ - Große Urkunde Englischer Freiheiten - war im Jahre 1215 König Johann, der mit außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, von den selbstbewussten und unzufriedenen Baronen unter Mitwirkung der Kirche aufgedrungen worden. In einer Präambel und 63 Sätzen schreibt sie als echte Rechtsurkunde die Verhältnisse der Zeit: König - Kirche, König - Adel, König - Lehenseigentum, Rechtspflege, Stellung der Städte und des Handels, Kontrolle königlicher Beauftragter, fest. Als ihr Kernstück gilt der Satz 39, in dem festgehalten ist, daß kein Freier ( „ freemen “ ) 267 Anmerkungen ohne ein ordentliches Standesgerichtsverfahren gefangengesetzt oder enteignet werden dürfe. Aufgrund ihres Alters und in Erinnerung der Feierlichkeit ihrer ersten Verkündigung wurde die M. C., obwohl im 13. Jahrhundert noch mehrfach verändert, zunehmend zum zentralen Mythos zunächst englischer (später auch amerikanischer) Freiheit. Die Grundprinzipien wurden zwangsläufig wichtiger als die zeitgebundenen Regeln, die M. C. wurde zum Bezugspunkt jeglicher Freiheitsbehauptung gegen herrscherliche Willkür oder was die - bis zur modernen Massendemokratie sich ständig erweiternden - Bezugsgruppen ( „ freemen “ ) je als diese darunter verstanden. 29 Sir Thomas Littleton (1422 - 1481), hoher Richter seines Landes, war der Verfasser eines in der englischen Rechtsgeschichte ungemein einflußreichen Werkes, Littleton of Tenures. Bedeutung und Wirkung sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß es in Englisch verfaßt und vom Römischen Recht kaum beeinflußt ist. Das erste Buch von Sir Edward Cokes Institutes enthält Littetons Text mit den Kommentaren Cokes. Für das Verständnis des englischen Rechtswesens ist es nicht uninteressant, daß Litteleton bis ins 20. Jahrhundert hinein keineswegs nur als historisches Dokument, sondern auch noch als juristische Autorität herangezogen werden konnte. 30 „ It is not wisdom, but authority that makes a law. “ In der lateinischen Fassung des Leviathan (O. L. III, S. 202) heißt es: „ In civitate constitua, legum naturae interpretatio a doctoribus et scriptoribus moralis philosophiae dependet, sed ab authoritate civitatis. Doctrinae quidem verae esse possant, sed authoritas, non veritas facit legem. “ 31 Vgl. Behemoth, 84 ff. 32 Im Original (hier wie im unmittelbar folgenden) „ sin “ . Da es sich aber an dieser Stelle um eine klassische Argumentation aus „ Verantwortungsethik “ handelt und eine „ Sünde “ hier jedenfalls die Bedeutung von „ Politischer Sünde “ hat, erschien die Übersetzung mit „ Unrecht “ angemessener. 33 Hier klingt bereits die wichtige Bestimmung des Charakters des Souveräns als „ natürlicher “ und „ politischer “ Person an, die weiter unten ausgeführt ist [ … ]. Wesentlich ist festzuhalten, daß Hobbes hier den „ politischen “ Charakter des Souveräns als Verkörperung der allgemeinen Vernunft bestimmt - wobei er bemüht ist, diese wiederum mit dem Evangelium kurzzuschließen. Er begründet damit die sehr wesentliche neuzeitliche Erkenntnis vom Politischen als Begründung und durchzuhaltender Behauptung allgemeiner Vernunft, die später Hegels Rechtsphilosophie ( „ Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee “ ) wieder aufgenommen ist. Zum Problem generell vg. Kantorowicz. 34 Vorsätzlicher Bruch der Lehnstreue. 35 Eine sowohl rechtsphilosophisch [ … ] wie rechtspolitisch hochbedeutsame Stelle, die in der positiven Konsequenz bis heute ein fundamentales Prinzip aller Rechtsstaatlichkeit enthält, nämlich das Prinzip „ nulla poena sine lege “ 268 Anmerkungen (keine Strafe ohne - vorhergehendes - Gesetz) und das der Öffentlichkeit und Veröffentlichung der Gesetze. 36 Diese Art von „ unmittelbarem “ Besitz ( „ Allod “ ) kam im England des 11. Jahrhunderts noch vor, seit 1066 freilich nicht mehr. Das Wort selbst ist germanischen Ursprungs. 37 Engl. second causes, lat. causae secundae: Die scholastische Lehre von der causa prima und den causae secundae. Gott ist causa prima, die Grundursache, die anderen Ursachen sind causae secundae, sekundäre, abgeleitete Ursachen. 38 Die lat. Fassung weist darauf hin, daß die Zeremonien von den Staaten bestimmt werden: … daß oft das, was in dem einen Staate als gesetzmäßig angenommen ist, in dem anderen verspottet wird. 39 In der lat. Fassung nennt Hobbes außer der Politeia Platos die Utopia des Thomas Morus und die Nova Atlantis von Francis Bacon: Erwäge ich aber, wie so sehr vielen daran gelegen sein müsse, daß diese meine Gedanken als unbegründet verworfen werden möchten; sehe ich ferner, daß diejenigen, welche ganz entgegengesetzte Lehren behaupten, selbst durch das Elend des Bürgerkrieges, welcher dadurch erregt wurde, nicht gebessert worden sind; werde ich endlich gewahr, daß die besten Köpfe in den aufrührerischen Lehren der älteren Griechen und Römer frühzeitig unterrichtet werden, so muß ich allerdings besorgen, daß man mein Werk der Republik des Plato, dem Lande Utopien, Atlantis und anderen solchen Schriften gleich achten werde. Indessen gebe ich dennoch nicht alle Hoffnung auf, daß, wenn edeldenkende Fürsten über ihre Gerechtsame, und wenn Lehrer über ihre eigenen und der Bürger Pflichten reiflicher nachdenken werden, man auch diese meine Grundsätze mit der Zeit weiniger anstößig finden und dereinst noch zum Wohl der Staaten allgemein annehmen werde. 40 Roberto Francesco Romolo Bellarmino (1542 - 1621): De summon pontifice, 1586. 41 In der lat. Fassung lautet der letzte Satzteil dieser Definition anders: … welche auf dem Wege zum ewigen Leben geistliche Finsternis zu verbreiten suchen. 42 Diese Definition lautet in der Iat. Fassung folgendermaßen: … die durch richtige Schlüsse erworbene Wissenschaft, wie aus begreiflichen Ursachen gewisse Wirkungen, und aus diesen wieder neue Wirkungen entstehen können. - Die folgenden Abschnitte der lat. Fassung sind häufig gekürzt und weichen teilweise inhaltlich ab. 43 In eckige Klammern eingeschlossene Stellen sind von Hobbes im Manuskript gestrichen. 44 Unter dem Begriff wird allgeimein der frühzeitig vereitelte Versuch eines Aufstands englischer Katholiken mit dem Ziel der Rekatholisierung Englands bezeichnet. Im englischen Original des Behemoth hieß es Gunpowder Treason (Verrat). 269 Anmerkungen 45 Das Common Prayer Book wurde 1549 in England eingeführt und enthält die Ordnungen für die Riten der anglikanischen Kirche. 46 Die Petition of Right wurde am 7. Juni 1628 vom Parlament ratifiziert. 47 Der Covenant with God, der ganz in der Calvinistischen Tradition steht, wurde am 28. Februar 1638 vom schottischen Adel und der schottischen Gentry unterzeichnet. Vgl. Th. Hobbes, Leviathan (XXXV), S. 313 f. 48 Hobbes zitiert hier beinahe verbatim The Whole Duty of Man laid down in a Plain and Familiar Way for the use of all, but especially the meanest Reader, London 1661, S. 280. 49 Diodoros, Griechische Weltgeschichte, Buch V-31. 50 Ebd. II-29. 51 Ebd. II-40. 52 Der englische Begriff Common-Wealth ist hier im Sinne der republikanischen Verfassung und im Gegensatz zur Monarchie gemeint. Von Hobbes wird Common-Wealth wertneutral verwendet und kann sich sowohl auf eine Monarchie als auch auf eine rebublikanische Verfassung beziehen, wie dies der Untertitel des Leviathan bereits eindeutig belegt: Leviathan, or the Matter, Forme, & Power of a Commom-Wealth Ecclesiastical and Civil. Zumeist ist Common-Wealth im Behemoth angemessen mit Staat zu übersetzen. 53 Der am 19. Mai 1649 erlassene Act declaring constituting the People of England to be a Commonwealth, and Free-State. 54 Diese Verpflichtung wurde ursprünglich nur von den Mitgliedern des Parlaments, Offizieren der Armee und anderen Staatsdienern eingefordert. Vom 18. Januar 1650 wurde diese Verpflichtung von allen englischen Staatsbürgern durch den Act for subscribing the Engagement eingefordert. Zu Hobbes und der sogenannten Engagement Controversy [ … ]. 55 Das Long Parliament löste sich am 23. März 1660 auf. 56 Hobbes benutzt im Behemoth nur an dieser Stelle den Begriff Revolution. Allerdings nicht im modernen politischen Sinne, sondern um den Kreislauf (re-volvere) der Ereignisse zu kennzeichnen. Ansonsten benutzt er für den politischen Widerstand gegen den König konsequent den Begriff Rebellion. Neben anderen Mängeln war vor allem diese Begriffsverwirrung der früheren deutschen Übersetzungen zu revidieren, die unreflektiert von Revolution und Revolutionären sprechen, anstatt, wie es bei Hobbes heißt, von Rebellion und Rebellen. 57 Damit ist der General George Monck, Duke of Albermarle (1608 - 1670), und nicht [ … ] Oliver Cromwell gemeint. Monck hatte zunächst auf Seiten Charles I gekämpft, sich dann aber nach einer Haft im Tower auf Seiten Cromwells geschlagen. Nach dessen Tod verhielt sich Monck gegenüber den verschiedenen Fraktionen undurchsichtig. Als sich das Long Parliament am 16. April 1660 auflöste, schlug Monck sich wieder auf die Seite des royalistischen Lagers. Wie im Dialog oben erwähnt, konstituierte sich das neu gewählte 270 Anmerkungen Convention Parliament am 25. April 1660. Am 8. Mai des gleichen Jahres nahm es die Deklaration von Breda an, die Charles II zusammen mit Monck entworfen hatte. Damit wurde die Restauration der Monarchie eingeleitet und Charles II. zum rechtmäßigen Monarchen ernannt. 271 Anmerkungen Verwendete Werkausgaben Werke von Thomas Hobbes, denen die Auszüge entnommen sind; Kurztitel stehen in Kursiv. Behemoth oder Das lange Parlament. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Peter Schröder, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2015. Dialog zwischen einem Philosophen und einem Juristen über das englische Recht, hrsg. u. kommentiert v. Bernard Willms, VHC Verlagsgesellschaft: Acta humaniora, Weinheim 1992. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrsg. und eingel v. Iring Fetscher, Übersetzung W. Euchner, Luchterhand Verlag, Berlin 1966. (Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Walter Euchner liegen beim Luchterhand Literatuverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.) Naturrecht: Menschliche Natur und politischer Körper. Übersetzt mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. V. Alfred Noll, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020. Vom Bürger [De cive], in: Vom Bürger, Vom Menschen. Neu übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Lothar R. Waas, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2017. Vom Körper [De corpore], ausgewählt und übersetzt v. Max Frischeisen- Köhler 1915, zweite mit Literaturhinweisen und Registern versehene Auflage, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1967. Vom Menschen [De homine], in: Vom Bürger, Vom Menschen. Neu übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Lothar R. Waas, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2017. Literatur I Werke und Hilfsmittel 1 Texte 1.1 Gesamtausgaben Thomae Hobbes Malmesburiensis Opera philosophica quae latine scripsit omnia. In unum corpus nunc primum collecta primum collecta studio et labore G. Molesworth, London 1839 - 45, 5 Bde. (ND Aalen 1961). The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, now first collected and ed. by Sir W. Molesworth, London 1839 - 45, 11 Bde. (ND Aalen 1962; ND London 1992). The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes, ed. by H. Warrender et al., Oxford 1983 ff. 1.2 Einzelausgaben Leviathan, or The Matter, Forme & Power of a Common-wealth Ecclesiasticall and Civill, London 1651. Leviathan, ed. with an Introduction by C. B. Macpherson, London 1968. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. u. eingel. v. I. Fetscher, Übersetzung v. W. Euchner, Neuwied 1966. Leviathan, hrsg. u. mit einer Einf. V. H. Klenner, übers. v. J. Schlösser, Hamburg 1996. Leviathan. Teil I und II, übers. v. W. Euchnerkommentiert v. L. R. Waas, Berlin 2011. Leviathan sive de materia, forma et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis, in: Opera Philosophica, London 1841, Bd. 3 (ND London 1966). De corpore, Elementorum philosophiae section prima, in: Opera Philosophica, London 1839, Bd. 1, 1 - 431 (ND London 1966). De homine, Elementorum philosophiae section secunda, in: Opera Philosophica, London 1839, Bd. 2, 1 - 132 (ND London 1966). Vom Körper, übers. u. hrsg. v. M. Frischeisen-Körper, Hamburg 2 1967. Vom Menschen. Vom Bürger, eingel. u. hrsg. v. G. Gawlick, Hamburg, 2., verbesserte Auflage 1966. De cive. Vom Bürger, lat.-dt., übers. v. A. Hahmann, hrsg. v. A. Hahmann/ D. Himing, Stuttgart 2017. Vom Bürger/ Vom Menschen, übers. u. hrsg. v. L. R. Waas, Hamburg 2017. Behemoth oder Das Lange Parlament, hrsg. v. H. Münkler, Frankfurt/ M. 1991. Behemoth oder das lange Parlament, übers. u. hrsg. v. P. Schröder, Hamburg 2015. 2 Bibliographien und Hilfsmittel Garcia, A. 1986: Thomas Hobbes: Bibliographie Inernationale de 1620 à 1986, Caen. MacDonald, H./ Hargreaves, M. 1952: Thomas Hobbes. A Bibliography, London. Martinich, A. P. 1995: A Hobbes Dictionary, Cambridge, MA. Sacksteder, W. 1982: Hobbes-Studies 1879 - 1979. A Bibliography, Bowling Green, KY. Wilms, B. 1979: Der Weg des Leviathan. 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Common Law, Gemeines Recht 168, 185 Dekalog, zehn Gebote 173, 221 Demokratie 120, 124 - 126, 138 ff., 164 Denken 56 ff. Dogmatiker, dogmatisch 10, 44 Ehre, ehren 87, 97 f., 118 Einbildung 23 Empfindung 25 ff. Erfahrung 27, 84 Erhaltung s. Selbsterhaltung Erinnerung 31 Erkenntnis 17, 23 Fantasie 23 Freiheit 83, 107 f., 126 ff., 143 f., 177 f. Freundschaft 106 Friede 77, 83 f., 103 - 105, 115, 118 f., 127 f., 132, 143, 153, 265 Furcht 84 ff., 118, 147, 209 gerecht/ Gerechtigkeit, ungerecht/ Ungerechtigkeit 20, 104, 148 ff., 151 f., 197 f., 204, s. auch Recht und Unrecht Gesellschaftsvertrag, Vertrag, Vertragstheorien 1, 7, 107 f., 128, 145 f. Gesetz(e) 16, 45, 132, 167 ff., 178 ff., 183, 185, 200 f., s. auch Naturgesetze Geometrie s. Mathematik Gleichheit, Ungleichheit 76, 79, 83 f., 94, 99, 107 Glück(seligkeit) 76, 79, 94, 99, 107 gut, schlecht 76, 78 f., 92 f., 105 himmlisches Reich s. Reich Gottes Hoffnung 84 Kirche, kirchliche Gewalt, kirchliche Politik 196, 205 ff., 218 ff., 225 f., 233 f. Klugheit 31 f., 43, 59, 96, 101 Konflikt(e) 77, 102 f. Krieg, Kriegszustand 77, 82 f., 103 f., 117 f., 128, 147, s. auch Naturzustand Leidenschaften 45, 74 f., 84, 104 f. Macht 94 ff., 106, 239 f. Materialismus 23 Mathematik, mathematisches Wissen 3, 10, 20, 44, 182 Mensch, Anthropologie 13, 24, 69 ff., 72 ff., 74 ff., 85, 88 ff., 110 ff. Methode(n) 8 f., 12, 17 f., 36 f. 279 Mißtrauen 81, 101 f. Monarchie 120, 124, 126, 139, 141 f., 163 ff. Moral, Moralphilosophie 14 f., 19, 154 f. Naturgesetze, natürliche Gesetze 107 ff., 126 ff., 148 ff., 167, 203 f. Naturalismus 23 Naturzustand 7, 107, 132 Oligarchie 120 Philosophie 11, 17, 19, 36, 46 ff., 229 f., s. auch Vernunft, Weisheit Recht 81 ff., 169 f. Recht und Unrecht 104, 113, 144 Reich der Finsternis 226 ff. Reich Gottes, himmlisches Reich 14 f., 200 ff., 212 ff., 222 ff., 233 Reichtum 106 Religion(sstreitigkeiten) 28, 75, 147, 193 ff., 198 ff., 208 ff., 228 f. Ruhm(sucht) 80, 87, 147 Schlaf s. Traum schlecht s. gut Selbsterhaltung 82, 106, 153 Sensualismus, Sinne 23, 39 sinnlich 79 f. Sitten 98 Souverän(ität) 109 f., 119, 121 f., 125, 135 ff., 150, 160 ff., 176 f., 183 ff., 208 Sprache 39, 44 ff., 51 ff., 64 ff., 68 ff. Staat, Staatsphilosophie 19, 107 ff., 134 ff., 158 ff., 172, 214 Strafe 188 f. Streben, Trieb 91 f. Tiere 57, 68 ff., 75, 90, 94, 133 f., 145, 158 f., 209 Tod 106 Traum, Träume 24, 27 f., 37 f. Trieb s. Streben Tugend 62 Überlegung 94 Unrecht, ungerecht s. gerecht, ungerecht, Recht und Unrecht Verbrechen 186 f. Vernunft, gesunde/ rechte V. 39, 42, 56 f., 64 f., 78, 82, 84, 105, 126 f. - Regel der V. 143 Vertrag, Vertragstheorie s. Gesellschaftsvertrag Verstand 69 Wahrheit 42 f., 54 Weisheit 11, 31, 43, 106 f., 168 Wille 129 f. Wissen, Wissenschaft 17, 19, 40, 43, 62, 64 f., 72, 96 zehn Gebote s. Dekalog 280 Register ISBN 978-3-7720-8728-8 Thomas Hobbes (1588-1679) ist einer der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit und einer der größten Rechts- und Staatsphilosophen des Abendlandes. Besonders wirkungsmächtig sind seine Theorie des Gesellschaftsvertrags, die Metapher des Staats als übermächtigem Leviathan und der Gedanke des Naturzustandes, in dem ein Krieg aller gegen alle herrscht. Hobbes’ Ansichten zum Naturrecht und zum Staat können sowohl als Plädoyer für einen absolutistischen als auch einen liberalen Staat gelesen werden. Bis heute aktuell und provokativ ist sein umfassendes philosophisches Gedankengebäude mit der Mathematik als methodischem Vorbild und einem konsequenten Materialismus, Sensualismus und Hedonismus. Der Band versammelt ausgewählte Originaltexte, die nach Themen geordnet und jeweils mit einer Einleitung versehen sind. Damit ist es auch dem philosophischen Laien möglich, zentrale Grundgedanken von Hobbes’ Werk zu erkennen und ein Verständnis seiner Philosophie zu entwickeln. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe ist Emeritus der Philosophie an der Universität Tübingen und Leiter der dortigen Forschungsstelle für Politische Philolosophie.