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Die Textgeschichte des Epheserbriefes

Marcion änderte nichts: Eine grundlegend neue Perspektive auf den Laodicenerbrief

0613
2022
978-3-7720-5738-0
978-3-7720-8738-7
A. Francke Verlag 
Tobias Flemming
10.24053/9783772057380

Marcion änderte - anders als ihm vorgeworfen wurde - nichts am Laodicenerbrief der vorkanonischen 10-Briefe-Sammlung. Vielmehr entstand der neutestamentliche Epheserbrief durch eine redaktionelle Überarbeitung dieses Briefes im 2. Jahrhundert. Dies ist die zentrale Einsicht von Flemmings Studie zur Textgeschichte des Laodicener-/Epheserbriefes. Die Vorwürfe der Kirchenväter gegen Marcion werden zwar schon länger kritisch betrachtet, doch in diesem Buch wird erstmals aufgezeigt, dass der Text des für Marcion bezeugten Laodicenerbriefes als prioritär zum Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung gelten kann. Auf dieser Basis wurde ein neues textgeschichtliches Modell entwickelt, das auch die Frage nach der Adresse des Epheserbriefes ergründet. Insgesamt wird deutlich: Weil Marcion nichts am Laodicenerbrief änderte, ändert sich der Blick auf die Textgeschichte des Epheserbriefes grundlegend.

<?page no="0"?> Tobias Flemming Die Textgeschichte des Epheserbriefes Marcion änderte nichts: Eine grundlegend neue Perspektive auf den Laodicenerbrief T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER <?page no="1"?> Die Textgeschichte des Epheserbriefes <?page no="2"?> T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER 67 herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel <?page no="3"?> Tobias Flemming Die Textgeschichte des Epheserbriefes Marcion änderte nichts: Eine grundlegend neue Perspektive auf den Laodicenerbrief <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057380 Gefördert durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie die Sächsische AufbauBank (SAB). © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8738-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5738-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0152-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> für meinen Großvater <?page no="7"?> 13 1 15 2 17 2.1 17 2.2 19 2.2.1 19 2.2.2 25 2.3 30 2.3.1 30 30 32 33 34 36 38 2.3.2 39 39 41 42 44 45 2.3.3 49 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand . . . . . . . Fragestellung und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwürfe gegen Marcion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kritik an der Kritik der Kirchenväter: Der Forschungsstand zu Marcions Textsammlung . . . . . . . . Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes . . . . . . . . . . Die Quellenlage: Handschriften und Kirchenväter . . . . a) Handschriften ohne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Handschriften mit in Eph 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weitere Varianten in Eph 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Kirchenväterzitate: Irenäus, Clemens, Origenes und Hieronymus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Laodicener-Adresse in Marcions Paulusbriefsammlung f) Zusammenfassung der Quellenlage zu Eph 1,1 . . . . . . . . . . . Verschiedene Rekonstruktionen zur ursprünglichen Adresse des Epheserbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Epheserbrief ursprünglich nach Ephesus adressiert . . . . . . b) Epheserbrief ursprünglich ohne Adresse in Eph 1,1 . . . . . . c) Epheserbrief ursprünglich ein ‚Rundbrief ‘ . . . . . . . . . . . . . . d) Konjekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Epheserbrief ursprünglich an die Laodicener adressiert . . Zusammenfassung zum Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 3 51 3.1 51 3.1.1 52 3.1.2 53 3.2 56 3.2.1 57 3.2.2 70 3.2.3 75 3.2.4 85 3.3 87 3.3.1 88 3.3.2 90 3.3.3 94 3.3.4 95 3.4 96 4 99 4.1 99 4.2 100 4.2.1 100 100 103 105 Die Priorität der Laodicener-Adresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erweiterung des Untersuchungsfeldes: Adresse und übriger Text, Makroebene der Paulusbriefsammlungen . . . . . Die ursprüngliche Adresse des Epheserbriefes im Kontext der handschriftlichen Überlieferung und der weiteren Textvarianten des Epheserbriefes . . . . . . . . . . Die Adresse im Kontext der (Makro-)Ebene der Paulusbriefsammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Brief in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? . . . . . . . . . . . . . . . . . Identifizierungsversuche des Briefes in Kol 4,16 . . . . . . Das Verhältnis von Kolosser- und Laodicener/ -Epheserbrief auf der literarischen Ebene Historisch-kritische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Der in Kol 4,16 genannte Brief ἐκ Λαοδικείας ist der Epheserbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen . . . . . . . . . . . . . Der Verweis auf die Laodicener im Prolog zum Kolosserbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcionitischer Ursprung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Prologe als Zeugnisse einer vormarcionitischen Paulusbriefausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Die lateinischen Prologe als Argument für die Priorität der Laodiceneradresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Die Laodicener-Adresse als ältester erreichbarer Text in Eph 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Priorität des Laodicenerbrieftextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf welchen Text griff Marcion zurück? Die Forschungsgeschichte zu Marcions Paulusbriefsammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) 18. bis frühes 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Adolf v. Harnack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Harnacks Nachwirkung und Edwin C. Blackman . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 108 113 4.2.2 117 4.3 120 4.3.1 120 4.3.2 122 122 128 4.3.3 133 4.3.4 140 4.4 143 5 145 5.1 145 5.2 148 5.3 154 5.3.1 154 5.3.2 155 5.3.3 160 5.4 163 6 165 6.1 165 d) John J. Clabeaux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ulrich Schmid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der Zuordnung von Marcions 10-Briefe-Sammlung zum ‚Westlichen Text‘ . . . . . . . . . Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten mit größeren semantischen Unterschieden: Laod/ Eph 2,14 und 5,28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Laod 2,14: Die Überwindung der Trennung, die im Fleisch besteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Laod 5,28: Die Männer sollen ihr eigenes „Fleisch“ lieben: ihre eigenen Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten mit mittelgroßen semantischen Unterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Kleine‘ Varianten: Pronomina, Präpositionen etc. . . . Zusammenfassung zur Priorität des Laodicenerbrieftextes . . Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes . . . . Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Modell zur Überlieferungsgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick: Die Lesarten der 10-Briefe-Sammlung in den neutestamentlichen Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . Konflation als Ursache für das Vorkommen einiger Lesarten des Laodicenerbriefes in den Handschriften des Epheserbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung des entwickelten textgeschichtlichen Modells in die Diskussion um die Entstehung neutestamentlicher Textvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Die Überarbeitung des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung . . . . . . . . . . . . . . Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und methodische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="10"?> 6.2 168 6.2.1 168 6.2.2 173 173 177 6.2.3 180 6.3 181 6.3.1 181 6.3.2 182 183 185 6.3.3 185 6.4 190 7 193 7.1 193 7.2 194 7.3 199 7.4 202 8 205 9 211 211 213 214 10 217 217 Gründe für den Adresswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse und Offb 3,14-22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gründe für das ‚Entstehen‘ der Epheser-Adresse . . . . . a) Paulus und Paulustradition in Ephesus . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt“ - 2Tim 4,12 als Hinweis auf die neue Adresse des Epheserbriefes . . . . . . . . . . Zusammenfassung zu den Gründen des Adresswechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Überlieferungsgeschichte der Adresse . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und überlieferungsgeschichtliches Modell . Die ‚ursprünglichen‘ Formen der Adresse in Laod 1,1 und Eph 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Form der Adresse in Laod 1,1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Form der Adresse in Eph 1,1 bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgeschichte - die Entstehung der adressenlosen Variante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Von der Laodicenerzur Epheser-Adresse Ausblick auf weiterführende Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcions Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist eine Rekonstruktion des Laodicenerbrieftextes an nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen möglich? . . . . . . . . . . . . Methodische Schlussfolgerungen für die neutestamentliche Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Ausblicks auf weiterführende Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Handschriften ohne in Eph 1,1 (B 46 * B 6 424 c 1739) . . . . . . . . . . . . . II. Handschriften mit in Eph 1,1 (Beispiele) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Karten Kleinasiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Inhalt <?page no="11"?> 219 219 219 233 233 233 233 235 235 II. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verzeichnis der zitierten Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Registerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Apokryphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Inhalt <?page no="13"?> Vorwort Mein herzlicher Dank für das Entstehen dieser Dissertationsschrift gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Professor Dr. Matthias Klinghardt. Durch sein leidenschaftliches Lehren und innovatives Forschen hat er mich motiviert, nicht nur - wie ursprünglich angedacht - Evangelische Religion ‚noch schnell‘ als Drittfach zu studieren, sondern einen Weg einzuschlagen, der zu dieser Arbeit führte. Sie wurde im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertationsschrift im Fach Evangelische Theologie angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie überarbeitet. Für die Begutachtung der Dissertationsschrift und vor allem auch die überaus wertvollen Hinweise zur Überarbeitung danke ich Herrn Professor Dr. Matthias Klinghardt (Dresden) und in besonderer Weise auch Professor Dr. Günter Röhser (Bonn) ganz herzlich. Prof. Dr. Jan Heilmann hat als Leiter des Forschungsprojektes „Der Text der Erstedition des Neuen Testaments“ an der TU Dresden durch seine außer‐ gewöhnlichen fachlichen, didaktischen und persönlichen Kompetenzen das Werden dieser Arbeit entscheidend gefördert. Ihm danke ich ebenso besonders herzlich. Mein großer Dank gilt außerdem den Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Evangelische Theologie der TU Dresden für Ihre inhaltlichen Gedankenanstöße und ihre freundschaftliche Verbundenheit, vor allem Dr. Alexander Goldmann, Dr. Daniel Pauling, Dr. Nathanael Lüke, Adriana Zim‐ mermann, Christine Hoffmann, Juan Garcés, Kevin Künzl, Fridolin Wegscheider, Oliver John, Dr. Anne Stricker, Maja Ebert, Philipp Müller und unserer Kaffee‐ maschine. Adriana Zimmermann danke ich außerdem besonders für das erste Korrekturlesen. Dr. David Trobisch hat mich während meines Studiums durch seine Bücher und bei seinen Forschungsaufenthalten in Dresden durch seine Denkansätze und seine Persönlichkeit sehr beeindruckt, auch ihm danke ich sehr. Dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus und der Sächsischen Aufbaubank sei für die Finanzierung des Forschungspro‐ jektes „Der Text der Erstedition des Neuen Testaments“ an der TU Dresden, an dem ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig sein durfte, gedankt. Den Herausgebern der Reihe „Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter“ danke ich herzlich für Aufnahme in die Reihe. Vielen Dank auch an Stefan Selbmann und Tina Kaiser vom Verlag Narr Francke Attempto für ihre ausge‐ sprochen hilfreiche Begleitung. <?page no="14"?> Dieses Buch widme ich meinem Großvater Ulrich Flemming, der mit seinem Wissensdurst und seiner Zuversicht ein großes Vorbild für mich ist. Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern am Ehrenfried-Walther-von-Tschirnhaus-Gymnasium Dresden für ihre interessierte und zugewandte Art, die mich täglich neu inspiriert. Der größte Dank gilt meiner Frau und unseren Kindern für ihre überwältigende Unterstützung, ihre Geduld und ihr Wohlwollen. Dresden, im Dezember 2021 Tobias Flemming 14 Vorwort <?page no="15"?> 1 Einleitung Die Paulusbriefe lassen ein bestimmtes Bild des frühen Christentums entstehen. Doch wie sind die Paulusbriefe entstanden und welche Textgeschichte haben sie? Die neutestamentliche Wissenschaft steht hier auch gegenwärtig noch vor etlichen offenen Fragestellungen. Dies betrifft in besonderer Weise den Epheserbrief, denn der war in der Mitte des 2. Jahrhunderts mit einer anderen Adresse - und teilweise auch mit einem anderen Text - bekannt, nämlich als Laodicenerbrief. Kirchenväter wie Tertullian warfen Marcion, einem 144 n. Chr. aus der römischen Gemeinde ausgeschlossenen Christen, vor, den Epheserbrief verfälscht zu haben und so den Laodicenerbrief in die Welt gesetzt zu haben. Diese Information verdient besonders aus zwei Gründen Aufmerksamkeit: Zum einen ist dies die früheste datierbare Erwähnung des Briefes, den wir aus den neutestamentlichen Handschriften als Epheserbrief kennen; zum anderen wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend herausgearbeitet, dass die Pau‐ lusbriefsammlung Marcions - und damit auch der Laodicenerbrief - zum großen Teil einen Text bot, den nicht Marcion geändert hatte, sondern der auf eine ältere Textform zurückgeht. Die vorliegende Arbeit geht nun in der Einschätzung des für Marcion bezeugten Textes des Laodicenerbriefes noch einen entscheidenden Schritt weiter. Die These, deren Plausibilität im Folgenden untersucht und diskutiert wird, lautet: Marcion änderte, anders als ihm vorgeworfen wurde, nichts am Laodicenerbrief, vielmehr entstand der neutestamentliche Epheserbrief durch eine redaktionelle Überarbeitung des Laodicenerbriefes. Diese neue Perspektive auf den Laodicenerbrief wirft auch ein neues Licht auf andere textgeschichtliche Fragen wie beispielsweise das ‚Fehlen‘ der Adresse in einigen wichtigen Handschriften des Epheserbriefes in Eph 1,1 oder die Aufforderung an die Adressaten des Kolosserbriefes, sich einen Brief „aus Laodicea“ zu besorgen (Kol 4,16). Außerdem wird auch die Ebene der Paulus‐ briefsammlungen eine wichtige Rolle spielen, konkret das Verhältnis der für Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammmlung, die sich im Neuen Testament findet. Besonders zentral ist jedoch die Frage, ob sich die für den Laodicenerbrief bezeugten Textstellen als prioritär zum Text des Epheserbriefes verstehen lassen - und ob ersichtlich ist, aus welchen Gründen und bei welcher Gelegenheit der Text des Epheserbriefes entstanden ist. Hierzu werden in einem ersten Schritt die Fragestellung, das methodische Vorgehen und der Forschungsstand vorgestellt (Kapitel 2), anschließend die <?page no="16"?> Priorität der Laodicener-Adresse (Kap. 3) und des Textes des Laodicenerbriefes (Kap. 4) diskutiert, darauffolgend die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes (Kap. 5) und der Epheser-Adresse (Kap. 6) untersucht. Vor der Zusammenfassung wird außerdem noch ein Ausblick auf weiterführende, vor allem methodische Fragestellungen gegeben (Kap. 7). Auch wenn am Ende sicher nicht alle Rätsel geklärt sind und die Erkenntnis bleiben wird, dass unser Wissen über die frühe Textgeschichte des Epheser‐ briefes fragmentarisch ist und bleiben wird, so verspricht ein neuer Blick auf den Laodicenerbrief Erkenntnisse darüber, wie das ‚Gebäude‘ des Epheserbriefes, dessen theologische Überlegungen ja in höhere, kosmologische Dimensionen hineinragen, ursprünglich ausgesehen hat. 16 1 Einleitung <?page no="17"?> 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand 2.1 Fragestellung und methodisches Vorgehen Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit lautet: Wie lässt sich der Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung in die Textgeschichte des Epheserbriefes einordnen? Als Arbeitshypothese wird dabei angenommen: Der Text (mitsamt der Adresse) des Laodicenerbriefes, wie er für Marcions Paulusbriefsammlung bezeugt ist, ist älter als der Text des in den Handschriften überlieferten Epheserbriefes. Diese These zieht etliche weitere Fragen nach sich, die im folgenden Kapitel in einem ersten Überblick dargestellt werden sollen. Eine grundlegende Frage ist, welche Quellen für den Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung existieren und wie dieser rekonstruiert werden kann. Dies wird in Kap. 2.2 diskutiert („Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung“). Ein zweites fundamentales Forschungsproblem ist die handschriftliche Überlieferungsgeschichte der Adresse des Epheserbriefes. Hierzu werden in Kap. 2.3 („Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes“) die vielzähligen bisherigen Vorschläge vorgestellt. Neben diesen beiden zentralen Forschungsfragen werden im Laufe der Untersuchung zahlreiche weitere Themenfelder angesprochen und miteinander verknüpft. Besonders wichtig sind hierbei: ● das ‚Fehlen‘ der Adresse in einigen Handschriften des Epheserbriefes, ● der in Kol 4,16 erwähnte Brief, den sich die die Kolosser „aus Laodicea“ herbeiholen sollen, ● die Prologe zu den Paulusbriefen in einigen lateinischen Handschriften, in denen im Prolog zum Kolosser-Brief die Laodicener erwähnt werden, ● die Einordnung des Textes von Marcions Paulusbriefsammlung in die Textgeschichte der neutestamentlichen Paulusbriefsammlung, ● mögliche Erklärungen für die Übereinstimmungen des Texts von Mar‐ cions Paulusbriefsammlung mit Varianten der neutestamentlichen Hand‐ schriften, ● die Entstehung der in den neutestamentlichen Handschriften vorzufin‐ denden Paulusbriefsammlung, sowie auch ● die Einbeziehung verschiedener Editionen bei textkritischen Überlegungen zu den Paulusbriefen. <?page no="18"?> All diese Themenfelder wurden in der neutestamentlichen Wissenschaft bereits diskutiert. Durch den neuen Blickwinkel der Priorität des Laodicenerbriefes werden sie nun jedoch erstmals miteinander verbunden, so dass hier alte Zuordnungen fraglich werden und ein neues Gesamtbild zum Vorschein kommt. Der methodische Weg, um ausgehend von der heuristischen Annahme der Priorität des bei Marcion bezeugten Laodicenerbriefes ein plausibles Gesamtbild zu erarbeiten, ist es, möglichst alle verfügbaren, zur jeweiligen Fragestellung gehörenden Informationen zusammenzutragen und einem argumentativen Ab‐ wägungsprozess zu unterziehen - so wie es für historische Forschung üblich ist. Dieses Vorgehen wird an einzelnen Stellen durch bestimmte Methoden konkretisiert, beispielsweise einen ‚Canonical Approach‘ bei der Frage des in Kol 4,16 erwähnten Briefes „aus Laodicea“. Insgesamt kann es angesichts der relativ geringen Anzahl erhaltener Quellen für die Frühgeschichte der Paulusbriefe nicht darum gehen, das eine ‚richtige‘ Bild (‚wie es gewesen ist‘) zu rekonstruieren, sondern vielmehr darum, verschiedene Szenarien hinsichtlich ihrer Plausibilität zu überprüfen und zu vergleichen. Dafür wird im Folgenden in vier Schritten ein Szenario entwickelt, das die sich in der jüngeren Forschung abzeichnende Neubewertung von Marcions Textsammlung (vgl. dazu Kap. 2.2) noch einen Schritt weiterdenkt: 1. Kann das Problem der Adresse des Epheserbriefes gelöst werden, wenn dieser Brief ursprünglich als Brief an die Laodicener verfasst wurde? (Kapitel 3) 2. Wenn die Laodicener-Adresse ursprünglich ist, kann dann auch der Text des Laodicenerbriefes als prioritär zum Text des Epheserbriefes gelten? (Kapitel 4) 3. Wenn der Text des Laodicenerbriefes prioritär ist: Wie ist dann der Text des Epheserbriefes entstanden und wie ist die handschriftliche Überlieferung zu erklären? (Kapitel 5) 4. Wenn Adresse und Text des Laodicenerbriefes älter sind und der Ephe‐ serbrief bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung redaktionell überar‐ beitet wurde, lässt sich dann auf dieser Ebene auch die Entstehung der Epheser-Adresse plausibilisieren? (Kapitel 6) Somit bildet die Frage nach der ursprünglichen Form der Adresse des Ephe‐ serbriefes und deren Überarbeitung eine Klammer um die Untersuchungen zur Priorität und Überarbeitung des Laodicener-/ Epheserbrieftextes. Dieses Vorgehen stellt gegenüber den bisherigen Untersuchungen zur Adresse des Epheserbriefes eine doppelte Kontexterweiterung dar: Zum einen wird die Überlieferung der Adresse in den Kontext der Überlieferung des übrigen 18 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="19"?> 1 Vgl. dazu exemplarisch die folgende Äußerung Tertullians, die bereits einige der gleich noch näher zu thematisierenden Vorwürfe gegen Marcion enthält (Tert. Adv. Marc. 4,4,3): Adeo antiquius Marcione est quod est secundum nos, ut et ipse illi Marcion aliqunado crediderit, cum et pecuniam in primo calore fidei catholicae ecclesiae contulit, proiectam mox cum ipso, posteaquam in haeresim suam a nostra veritate desciit. | „Diejenige Version [des Evangeliums], welche bei uns Gebrauch findet, ist so sehr älter als Markion, dass auch Markion selbst einst an dieses glaubte, damals als er auch im frühen Feuereifer für den Glauben der katholischen Kirche eine Summe Geldes zukommen ließ, welche aber schon bald zusammen mit ihm verworfen wurde, nachdem er nämlich von unserer Wahrheit zu seiner Häresie abgefallen war.“ (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 3). Weitere Informationen zu Marcion finden sich z. B. auch bei Tert. Praescr. 30,1-2 (S C H L E Y E R , FC 42). Vgl. zur Biographie Marcions mit einer Angabe der relevanten Quellen A D O L F von H A R N A C K , Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott: Eine Monographie zur Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 2 1924, 3*-30*; dort auch ausgehend von Tert. Adv. Marc. 1,19,2 (zwischen Christus, erschienen im 15. Jahr des Tiberius (Lk 3,1), und Marcion würden 115½ Jahre und ein halber Monat liegen) Harnacks Rekonstruktion der zweiten Julihälfte des Jahres 144 als Zeitpunkt der Trennung Marcions von der römischen Gemeinde (vgl. ebd. 20*). Vgl. zu Marcions Leben und Theologie ausführlich auch J U D I T H M. L I E U , Marcion and the Making of a Heretic: God and Scripture in the Second Century, Cambridge 2015, die verschiedene Marcionbilder der jeweiligen Häresiologen herausarbeitet („Each writer presents a different Marcion. […] It would be a mistake to conflate them into a single picture or to create an identikit image from chosen elements of each.“ (L I E U 2015, 10). Epheserbrieftextes gestellt und zum anderen wird nicht nur die ursprüngliche Gestalt der Epheser-Adresse untersucht, sondern auch deren Überlieferungsge‐ schichte. Diese Einbeziehung von bisher nicht beachteten Verbindungslinien zwischen der Frage nach Adresse des Epheserbriefes, der Textgeschichte von Marcions Paulusbriefsammlung und der Entstehung und Überlieferung der 14-Briefe-Sammlung verspricht, die angekündigte neue Perspektive auf die Textgeschichte des Epheserbriefes zu entwickeln. 2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung 2.2.1 Vorwürfe gegen Marcion Marcion, ein aus dem Pontus an der südlichen Schwarzmeerküste stammender Reeder, trat vermutlich um 140 n. Chr. in die römische Gemeinde ein, wurde jedoch im Jahr 144 wieder aus dieser ausgeschlossen - und erhielt daraufhin die bei seinem Eintritt in die Gemeinde eingebrachten 200.000 Sesterzen zurück. 1 Fortan wurde er in einer Reihe mit anderen Häretikern des 2. Jahrhunderts ge‐ 19 2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung <?page no="20"?> 2 Erstmals bei Justin in 1Apol 26,5; 1Apol 58,1-2, der Marcion vorwirft, einen anderen (höheren) Gott als den Schöpfergott zu verkünden, jedoch nicht auf eine ‚eigene‘ Textsammlung Marcions eingeht. Vgl. dazu L I E U , Marcion, 15-25; A N D R E W H A Y E S , Justin against Marcion: Defining the Christian Philosophy (Emerging scholars), Minneapolis 2017, 207. 3 Iren. Adv. Haer. 1,27,2: Et super haec, id quod est secundum Lucam Evangelium circumci‐ dens et omnia quae sunt de generatione Domini conscripta auferens et […]. Similiter autem et apostoli Pauli epistolas abscidit, auferens quaecumque manifeste dicta sunt ab apostolo de eo deo qui mundum fecit, quoniam hic pater domini nostri Iesu Christi, et quaecumque ex propheticis memorans Apostolus docuit praenuntiantibus adventum Domini. (Text und Übers. B R O X FC 8/ 1). 4 Iren. Adv. Haer. 3,12,12: Unde et Marcion et qui ab eo sunt ad intercidendas conversi sunt scripturas; quasdam quidem in totum non cognoscentes, secundum Lucam autem evangelium et epistulas Pauli decurtantes, haec sola legitima dicunt esse quae ipsi minoraverunt. (Text und Übers. B R O X FC 8/ 3). 5 Vgl. zum Marcionbild des Irenäus ausführlich L I E U , Marcion, 26-49; vgl. auch J U D I T H M. L I E U , Marcion and the Corruption of Paul’s Gospel, ZAC 21/ 1 (2017), 122-126; U L R I C H S C H M I D , Marcion und sein Apostolos: Rekonstruktion und historische Einordnung der marcionitischen Paulusbriefausgabe (ANTF 25), Berlin/ New York 1995, 1-2 und R O L F N O O R M A N N , Irenäus als Paulusinterpret: Zur Rezeption und Wirkung der paulinischen und deuteropaulinischen Briefe im Werk des Irenäus von Lyon (WUNT II 66), Tübingen 1994, 57-58. nannt. 2 Einzigartig - und für die textkritische Forschung besonders interessant - macht ihn die Tatsache, dass Marcion vorgeworfen wurde, eine eigene Text‐ sammlung bestehend aus einem Evangelium und zehn Paulusbriefen erstellt zu haben, wie die nun folgenden Quellen zeigen werden. So schreibt Irenäus in Adversus Haereses an zwei Stellen über Marcions Textsammlung: Adv. Haer. 1,27,2: Genauso [wie im Falle des Lukasevangeliums] schnitt er [Marcion] Teile aus den Briefen des Apostels Paulus heraus und ließ alles weg, was der Apostel eindeutig über den Gott gesagt hat, der die Welt gemacht hat, dass er nämlich der Vater unseres Herrn Jesus Christus ist, und was der Apostel im Rückgriff auf die Prophetenbücher lehrte, die die Ankunft des Herrn ankündigen. […]. 3 Adv. Haer. 3,12,12: Deshalb sind Marcion und seine Anhänger hingegangen und haben die Schriften zerschnitten; einige lehnen sie überhaupt ab, das Lukasevangelium und die Paulusbriefe kürzen sie dagegen, und als authentisch erkennen sie nur das an, was sie selbst verstümmelt haben. Ich werde sie aber mit Gottes Hilfe in einem anderen Buch sogar noch aus den Teilen widerlegen, die sie beibehalten haben. 4 Marcion habe nicht nur aus dem Lukasevangelium, sondern auch aus den Paulusbriefen Aussagen gestrichen - dieser Vorwurf der umfangreichen Text‐ veränderung findet sich erstmals bei Irenäus im zitierten Abschnitt seines Werkes Adversus Haereses (entstanden um 180 n. Chr.). 5 Die von Irenäus 20 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="21"?> 6 Vgl. zur Biographie Tertullians die Zusammenstellung der relevanten Quellen bei H A R N A C K , Marcion, 17-21; vgl. zu Tertullian und seinen Vorwürfen gegen Marcion auch ausführlich L I E U , Marcion, 50-75; M A T T H I A S K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien: Bd. I: Untersuchung; Bd. II: Rekonstruk‐ tion, Übersetzung, Varianten (TANZ 60), Tübingen 2015, 41-45; D I E T E R T. R O T H , The Text of Marcion's Gospel (NTTSD 49), Leiden 2015, 83-91. 7 Für die Paulusbriefsammlung Marcions ist die aktuelle (und weithin anerkannte) Rekonstruktion die von U. S C H M I D , Marcion, 315-344 (vgl. zu früheren Entwürfen und Schmids Methodik und Ergebnissen Kap. 4.2). Über die Rekonstruktion des Evangeliums wurde in den letzten Jahren eine intensive Diskussion geführt, vgl. dazu die genaue Darstellung im folgenden Unterkapitel. 8 Tert. Adv. Marc. 1,1,5: Quis tam comesor mus Ponticus quam qui evangelia corrosit? (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 1). 9 Tert. Adv, Marc. 5,1,9: [...] ex ipsis utique epistolis Pauli, quas proinde mutilatas etiam de numero forma iam haeretici evangelii praeiudicasse debebit. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). angekündigte ausführliche „Abhandlung“ zu Marcions Text wurde von Irenäus jedoch nicht mehr angefertigt. Dieser Aufgabe widmete sich Tertullian, ein in Karthago ansässiger christlicher Schriftsteller, der in seinem Werk Adversus Marcionem (fertiggestellt vermutlich 207 n. Chr.) die häresiologische Tradition des Irenäus fortführt und besonders in Buch 4 und 5 in größerem Umfang auf Marcions Textsammlung eingeht. 6 Später, im 4. Jahrhundert, setzte sich auch Epiphanius mit den Marcioniten auseinander, indem er Passagen aus deren Textsammlung zitierte (zu Epiphanius gleich mehr). Diese beiden Häresiologen, Tertullian und Epiphanius, sind die wichtigsten Quellen für den Text von Mar‐ cions Paulusbriefsammlung - und damit für den in dieser Arbeit diskutierten Laodicenerbrief. Diese indirekte Form der Rekonstruktion ist notwendig, weil sich - wie eingangs bereits erwähnt - keine Handschriften von der für Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung erhalten haben. 7 Als Beispiel für Tertullians Polemik gegen Marcion sollen drei Stellen genannt sein: Tert. Adv. Marc. 1,1,5: Welche pontische Maus ist so gefräßig wie derjenige Mensch, der die Evangelien zernagte? 8 Tert. Adv, Marc. 5,1,9: Der Beweis wird natürlich aus den Briefen des Paulus selbst heraus geführt werden, welche […] in gleicher Weise (wie das Evangelium) entstellt wurden, und dies sogar hinsichtlich ihrer Anzahl. 9 Tert. Adv Marc. 5,4,2 (zu Gal 3,16): Der (tilgende) Schwamm Marcions soll vor Scham erröten! - Abgesehen von der Tatsache freilich, dass ich überflüssigerweise davon 21 2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung <?page no="22"?> 10 Tert. Adv. Marc. 5,4,2: Erubescat spongia Marcionis! Nisi quod ex abundanti retracto quae abstulit, cum validius sit illum ex his revinci, quae servavit. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). 11 Vgl. auch V O L K E R L U K A S , Einleitung zu Adversus Marcionem - Gegen Markion I (FC 63/ 1), Freiburg 2015, 9-14. Die eigentlichen Adressaten von Tertullians Abhandlung seien nicht die Marcioniten, sondern die (eigenen) ‚orthodoxen‘ Gläubigen; vgl. V O L K E R L U K A S , Rhetorik und literarischer „Kampf “: Tertullians Streitschrift gegen Marcion als Paradigma der Selbstvergewisserung der Orthodoxie gegenüber der Häresie; eine philologisch-theologische Analyse (EHS.T 859), Frankfurt am Main 2008, 26-28. Vgl. dazu auch L I E U , Marcion, 54. 12 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 37-38. Ein wichtiges Argument dafür ist beispielsweise, dass Tertullian die Briefe in der Reihenfolge der Marcioniten thematisiert, ohne das explizit zu diskutieren; vgl. dazu auch L I E U , Marcion, 53. 13 Vgl. zur Quellenlage der Adresse des Epheser-/ Laodicenerbriefes ausführlich das übernächste Kapitel 2.3.1. 14 So schreibt Tertullian z. B. gleich zu Beginn seiner Abhandlung des marcionitischen Laodicenerbriefes in Adv. Marc. 5,17,1: „Zu welchem Gott wird es also passen, ‚gemäß seinem gnädigen Vorhaben‘, welches er im Geheimnis seines Willens schon im Voraus etablierte, für die planvolle Einrichtung der Fülle der Zeiten alles im Hinblick auf Christus zu rekapitulieren, […] wenn nicht zu demjenigen, dem alles von Anfang an gehören wird, sogar der Anfang selbst, von dem auch die Zeiten sowie die planvolle Einrichtung der Fülle der Zeiten stammen, wegen welcher alles in Christus bis auf seinen Anfang noch einmal durchgegangen wird? “ (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). berichte, was er tilgte, wo es doch noch mehr bedeuten würde, wenn er aus den Passagen, die er beibehielt, widerlegt wird. 10 In diesen drei Aussagen scheinen bereits die Grundlinien von Tertullians Polemik gegen Marcion durch: Er warf Marcion vor, den Text des Lukasevan‐ geliums und der Paulusbriefsammlung aus theologischen Motiven, nämlich einer Unterscheidung von Schöpfergott mit unbrauchbarem Gesetz einerseits und dem Gott Jesu Christi und seinem Evangelium andererseits, verändert zu haben. 11 Dank Tertullians Vorgehen, Marcion ausgehend von dessen eigenem Text zu widerlegen, sind etliche Textpassagen aus Marcions Evangelium und seiner 10-Briefe-Sammlung überliefert. Dabei spricht sehr vieles dafür, dass Tertullian während seiner Ausarbeitung ein Exemplar der ‚marcionitischen‘ Textsammlung vorlag, dessen Text somit unter Berücksichtigung von Tertul‐ lians Zitiergewohnheiten einigermaßen sicher rekonstruiert werden kann. 12 Den Text des Epheserbriefes, der in Marcions Paulusbriefsammlung als Laodi‐ cenerbrief geführt ist, kritisiert Tertullian in den Kapiteln 17 und 18 des fünften Buches von Adversus Marcionem. 13 Tertullians Hauptanliegen ist auch hier, die Herkunft Christi vom Schöpfergott zu betonen. 14 Aus Tertullians Zitaten lassen 22 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="23"?> 15 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 244-245; siehe dazu die ausführliche Diskussion in Kap. 4.2.1 und 4.2.2. 16 Vgl. zu Biographie und literarischer Tätigkeit des Epiphanius zusammenfassend A N D R E W S . J A C O B S , Epiphanius of Cyprus: A Cultural Biography of Late Antiquity (CLA 2), Oakland 2016, 8-25; L I E U , Marcion, 96-115. 17 Vgl. F R A N K W I L L I A M S , The Panarion of Epiphanius of Salamis: Book I, Leiden u. a. 2 1997, xvi-xxi; L I E U , Marcion, 96-97. sich für 47 der insgesamt 155 Verse des kanonischen Epheserbriefes Lesarten rekonstruieren. 15 Die zweite wichtige Quelle für den von den Marcioniten verwendeten Text ist Epiphanius, der im Jahr 367 Bischof von Constantia (Salamis) auf Zypern wurde und in den 370er Jahren sein Werk Panarion (‚Medizinkoffer‘ gegen die Häresien) verfasste. 16 Darin stellt Epiphanius verschiedene, aus seiner Sicht häretische Gruppen dar, von denen eine die Marcioniten sind (Panarion Kap. 42). 17 Im betreffenden Kapitel beschreibt er im Anschluss an eine fundamentale Polemik gegen Marcion und die Marcioniten auch deren Textsammlung, wovon zwei charakteristische Beispiele genannt sein sollen: Epiph. Pan. 42,9,1-5: Ich komme nun aber zu seinen [Marcions] Schriften, oder besser gesagt, zu seinen Verfälschungen. Dieser hat nur ein Evangelium, das nach Lukas, welches er jedoch am Anfang verstümmelte wegen der Empfängnis und Inkarnation des Retters. (2) Er, der sich damit selbst mehr schädigte als das Evangelium, hat jedoch nicht nur den Anfang herausgeschnitten, sondern er verschandelte die Worte der Wahrheit auch am Ende und in der Mitte, des Weiteren fügte er anderes Geschriebenes hinzu, er verwendete charakteristisch allein das Evangelium nach Lukas. (3) Er hat außerdem zehn Briefe des heiligen Apostels, allein diese benutzt er; aber nicht alles, was in ihnen geschrieben ist; manche Teile tilgt er, manche Kapitel ändert er. Diese beiden Bücher verwendet er, jedoch hat er auch selbst Abhandlungen für die von ihm in die Irre Geführten zusammengestellt. (4) Die von ihm genannten Briefe sind: zuerst an die Galater, als zweiter an die Korinther, als dritter der zweite Brief an die Korinther, als vierter an die Römer, als fünfter der erste Brief an die Thessalonicher, als sechster der zweite Brief an die Thessalonicher, als siebter an die Epheser, als achter an die Kolosser, als neunter an Philemon, als zehnter an die Philipper; außerdem hat er als Bestandteil den an die Laodicener. (5) Davon ausgehend, was von ihm aus dem Evangelium und 23 2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung <?page no="24"?> 18 Epiph. Pan. 42,9,1-3: Ἐλεύσομαι δὲ εἰς τὰ ὑπ' αὐτοῦ γεγραμμένα, μᾶλλον δὲ ἐρρᾳδιουργημένα. οὗτος γὰρ ἔχει εὐαγγέλιον μόνον τὸ κατὰ Λουκᾶν, περικεκομμένον ἀπὸ τῆς ἀρχῆς διὰ τὴν τοῦ σωτῆρος σύλληψιν καὶ τὴν ἔνσαρκον αὐτοῦ παρουσίαν. (2) οὐ μόνον δὲ τὴν ἀρχὴν ἀπέτεμεν ὁ λυμηνάμενος ἑαυτὸν <μᾶλλον> ἤπερ τὸ εὐαγγέλιον, ἀλλὰ καὶ τοῦ τέλους καὶ τῶν μέσων πολλὰ περιέκοψε τῶν τῆς ἀληθείας λόγων, ἄλλα δὲ παρὰ τὰ γεγραμμένα προστέθεικεν, μόνῳ δὲ κέχρηται τούτῳ τῷ χαρακτῆρι, τῷ κατὰ Λουκᾶν εὐαγγελίῳ. (3) ἔχει δὲ καὶ ἐπιστολὰς παρ' αὐτῷ τοῦ ἁγίου ἀποστόλου δέκα, αἷς μόναις κέχρηται, οὐ πᾶσι δὲ τοῖς ἐν αὐταῖς γεγραμμένοις, ἀλλὰ τινὰ αὐτῶν περιτέμνων, τινὰ δὲ ἀλλοιώσας κεφάλαια. ταύταις δὲ ταῖς δυσὶ βίβλοις κέχρηται· ἄλλα δὲ συντάγματα ἀφ' ἑαυτοῦ συνέταξε τοῖς ὑπ' αὐτοῦ πλανωμένοις. (4) αἱ δὲ ἐπιστολαὶ αἱ παρ' αὐτῷ λεγόμεναί εἰσι· πρώτη μὲν πρὸς Γαλάτας, δευτέρα δὲ πρὸς Κορινθίους, τρίτη πρὸς Κορινθίους δευτέρα, τετάρτη πρὸς Ῥωμαίους, πέμπτη πρὸς Θεσσαλονικεῖς, ἕκτη πρὸς Θεσσαλονικεῖς δευτέρα, ἑβδόμη πρὸς Ἐφεσίους, ὀγδόη πρὸς Κολασσαεῖς, ἐνάτη πρὸς Φιλήμονα, δεκάτη πρὸς Φιλιππησίους· ἔχει δὲ καὶ τῆς πρὸς Λαοδικέας λεγομένης μέρη. ἐξ οὗπερ χαρακτῆρος τοῦ παρ' αὐτῷ σῳζομένου, τοῦ τε εὐαγγελίου καὶ τῶν ἐπιστολῶν τοῦ ἀποστόλου, δεῖξαι αὐτὸν σὺν θεῷ ἔχομεν ἀπατεῶνα καὶ πεπλανημένον καὶ ἀκρότατα διελέγξαι. (Text aus H O L L / D U M M E R GCS 31; eigene Übers.). Vgl. zur ungewöhnlichen (und differierenden) Angabe der Reihenfolge der Paulusbriefe bei Epiphanius den nachfolgenden Absatz und die Fußnote 21. 19 Epiph. Pan. 42,11,9: Αὕτη ἡ νενοθευμένη τοῦ Μαρκίωνος σύνταξις, ἔχουσα μὲν χαρακτῆρα καὶ τύπον τοῦ κατὰ Λουκᾶν εὐαγγελίου, καὶ Παύλου τοῦ ἀποστόλου οὐχ ὅλον, οὐ πασῶν τῶν αὐτοῦ ἐπιστολῶν, ἀλλὰ μόνον τῆς πρὸς Ῥωμαίους καὶ τῆς πρὸς Ἐφεσίους καὶ <τῆς> πρὸς Κολασσαεῖς καὶ τῆς πρὸς Λαοδικεῖς καὶ [ἀπὸ] τῆς πρὸς Γαλάτας καὶ τῆς πρὸς Κορινθίους πρώτης καὶ δευτέρας καὶ τῆς πρὸς Θεσσαλονικεῖς πρώτης καὶ δευτέρας καὶ τῆς πρὸς Φιλήμονα καὶ <τῆς> πρὸς Φιλιππησίους· (Text aus H O L L / D U M M E R GCS 31; eigene Übers.). 20 Vgl. dazu genauer U. S C H M I D , Marcion, 151; L I E U , Marcion, 236-237. den Briefen des Apostels als charakteristisch beibehalten wird, haben wir mit Gott zu zeigen, dass er ein Betrüger und Verirrter ist, der gründlich zu widerlegen ist. 18 Epiph. Pan. 42,11,9: Dies ist Markions verfälschte Zusammenstellung, […] und eine nicht vollständige Version des Apostels Paulus, nicht alle seine Briefe, sondern nur der an die Römer, der an die Epheser, der an die Kolosser, der an die Laodicener, der an die Galater, der erste und zweite an die Korinther, der erste und zweite an die Thessalonicher, der an Philemon und der an die Philipper. 19 Damit stimmt Epiphanius in seiner Einschätzung von Marcions Text mit Ire‐ näus und Tertullian überein. Auch er will Marcion ausgehend von dessen Text widerlegen, dafür zitiert er (selektiv und ungeordnet) 40 Exzerpte aus dessen Paulusbriefsammlung. 20 Drei dieser 40 Exzerpte stammen aus dem Lao‐ dicener-/ Epheserbrief (Pan. 42,11,7: Eph 2,11-14; 5,14; 5,31) - wobei Epiphanius bei der Benennung dieses Briefes etwas diffus ist, da er diesen teilweise als 24 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="25"?> 21 Diese Angaben sind am einfachsten mit dem Durcheinander in der Arbeitsweise des Epiphanius zu erklären (Schmid vergleicht die Notizen von Epiphanius mit einem ‚Zettelkasten‘; U. S C H M I D , Marcion, 157). Vgl. dazu auch L I E U , Marcion, 236-238: „He [Epiphanius] cites just forty scholia from Paul’s letters, and these are, as he himself describes, both highly selective and in a curiously random order. […] it may be due only to his somewhat chaotic compilation.” Vgl. zum Laodicenerbrief bei Epiphanius auch die Diskussion der Bezeugung für die Adresse des Epheserbriefes in Kap. 2.3.1. 22 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 150-153; vgl. dazu auch ausführlich L I E U , Marcion, 115-180. 23 U. S C H M I D , Marcion, 236. 24 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 234-245. Epheserbrief bezeichnet, teilweise als Laodicenerbrief (womit er den uns als Epheserbrief bekannten Brief meint, da er in Pan. 42,11,18 Eph 4,5-6 zitiert). 21 Zudem finden sich für den Text von Marcions 10-Briefe-Sammlung einzelne Hinweise im Dialog des Adamantius, außerdem bei Origenes, im Kommentar des Hieronymus zu den Paulusbriefen und in der syrischen Tradition bei Ephraem. 22 In Bezug auf den Text des Laodicenerbriefes finden sich hier jedoch keine Zeug‐ nisse, und zudem ist deren Quellenwert im Allgemeinen als vergleichsweise gering einzuschätzen, da vermutlich davon auszugehen ist, dass der Verfasser des Dialog des Adamantius „keine authentische Kenntnis des marcionitischen Textes hatte“. 23 So kann zum Abschluss dieses Überblicks festgehalten werden, dass die Vorwürfe gegen Marcion sich in ihren Grundzügen gleichen: Marcion habe aus seinen eigenen theologischen Motiven heraus, vor allem der Trennung von Schöpfergott und dem ‚Vater Jesu Christi‘, den Text des Lukasevangeliums und der Paulusbriefe verändert. Rekonstruktionen für den Wortlaut der marcioniti‐ schen Textsammlung sind dabei lediglich auf Basis der Zitate von Tertullian und Epiphanius möglich, die jedoch immerhin 47 der insgesamt 155 Verse des kanonischen Epheserbriefes bezeugen (andere Quellen, wie Justin, Irenäus und der Adamantiusdialog lassen hingegen keine Rückschlüsse auf die Gestalt des marcionitischen Paulustextes zu). 24 Die zentrale Frage ist nun, was von dieser Polemik der Kirchenväter gegen Marcion zu halten ist. Trifft sie zu oder muss der bei den Marcioniten bezeugte Text doch anders in die Textgeschichte des Neuen Testaments eingeordnet werden? Einen knappen Überblick über die Forschungsgeschichte zu dieser Problematik wird das folgende Kapitel bieten. 2.2.2 Die Kritik an der Kritik der Kirchenväter: Der Forschungsstand zu Marcions Textsammlung Das von den Kirchenvätern gezeichnete Bild ist mit dem Beginn der kritischen Forschung ins Wanken geraten. Exemplarisch dafür soll im Folgenden ein 1788 25 2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung <?page no="26"?> 25 J O H A N N D. M I C H A E L I S , Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes: Erster Theil, Göttingen 1788, 341-342. 26 Vgl. J O H A N N G O T T F R I E D E I C H H O R N , Einleitung in das Neue Testament: 3. Band, 2. Hälfte, Leipzig 1814, 529-532 (Zitat S. 529); siehe auch ebd. 532: „Die wichtigste Auslassung, welche Tertullian dem Marcion Schuld giebt, bleibt Coloss. 1,16. […] Indessen ist dies doch die einzige Stelle, die bey der Frage von den von Marcion in Pauli Briefen vorgenommenen Verfälschungen in Anschlag kommen kann.“ veröffentlichter Textabschnitt von Johann D. Michaelis zitiert werden, in dem bereits etliche Fragestellungen, die sich für Marcions Text aufdrängen (und die auch im Laufe der Arbeit ausführlich diskutiert werden), durchscheinen: „Die Kirchenväter geben den Kätzern häufig Schuld, daß sie ihren Irrthümern zu Liebe Stellen des Neuen Testaments verfälscht haben. Bei solchen Beschuldigungen muß man etwas von dem abrechnen, was ein Eiferer sagt, der wol noch dazu der Kritik nicht kundig ist, und gleich für Verfälschung hält, was von seinem Exemplar oder Uebersetzung abweicht. […] Marcion ist es der am härtesten als Verfälscher angeklagt wird, und er ist es auch wirklich, noch dazu ein sehr dreister und unverschämter. […] Indes ist doch gewiß, daß nicht alle Abweichungen Marcions von der gewöhnlichen Lesart Verfälschungen sind. Die ihm zur Kätzerei ausgelegten Lesarten lassen sich sehr füglich in drei Klassen eintheilen 1) wahre eigentliche, blos seinem System zu Liebe vorgenommene Verfälschungen; 2) wirkliche Varianten, die er in Handschriften fand, und vorzog, und die wir zum Theil noch in Handschriften finden. 3) Bisweilen gar eine Variante, die besser sein möchte, als der gewöhnliche Text. Z. B. Ephes. V, 31. ließ Marcion aus καὶ προσκολληθήσεται πρὸς τὴν γυναῖκα αὐτοῦ. Was Marcion für Ursachen hatte, diese Worte auszulassen, untersuche ich nicht, aber Hieronymus glaubte doch auch nicht, daß sie von Pauli Hand sind. […] Wahrscheinlich ist es auch eben nicht, daß diejenigen Lesarten Marcions, die wir noch in Handschriften finden, durch seine Verfälschung in dieselben gekommen sind; er war zu sehr verkätzert, als daß Abschreiber, die nicht selbst Marcioniten waren, ihm hätten folgen sollen, und eine Marcionitisch aussehende Handschrift haben wir unter den bisher verglichenen nicht.“ 25 Mit dem Ansatz, die Vorwürfe der Kirchenväter gegen Marcion zu hinterfragen, da dieser Text übernommen haben könnte und daher an manchen Stellen auch einen früheren Text bieten würde, brachte Michaelis einen Stein ins Rollen. Zwei weitere Kritiker arbeiteten diese Spur in den folgenden Jahren weiter aus: Zum einen Johann G. Eichhorn (1814), der in den Paulusbriefen lediglich eine Textstelle, nämlich Kol 1,16, als Verfälschung Marcions interpretierte (die an‐ deren habe er „aus der Hand der Zeit“ genommen). 26 Und zum anderen Albrecht 26 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="27"?> 27 Vgl. A L B R E C H T R I T S C H L , Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas, Tübingen 1846, 151-171 („Wir müssen es also von vornherein für unwahr‐ scheinlich erklären, dass die Lücken, die die Väter in Marcions Apostolus aufweisen, absichtlich gemacht seien.“, ebd. 156-157). 28 Vgl. A U G U S T H A H N , Das Evangelium Marcions in seiner ursprünglichen Gestalt nebst dem vollständigsten Beweise dargestellt, daß es nicht selbständig, sondern ein ver‐ fälschtes und verstümmeltes Lukas-Evangelium war, Königsberg 1823, v. a. 47-66. 29 Vgl. dazu zusammenfassend K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 11-17; R O T H , The Text, 10-18. 30 Vgl. T H E O D O R Z A H N , Geschichte des neutestamentlichen Kanons: Zweiter Band: Ur‐ kunden und Belege zum ersten und dritten Band, Zweite Hälfte, Erlangen/ Leipzig 1892, 449-529; H A R N A C K , Marcion, 40*-126*; 177*-255*. 31 H A R N A C K , Marcion, V (Vorwort). 32 H A R N A C K , Marcion, zusammenfassend 149*-153* (Zitat 153*). 33 Vgl. H E R M A N N V O N S O D E N , Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt, Berlin 1907, 1624-1629. 34 Vgl. dazu ausführlich die Diskussion in Kap. 4.2. Ritschl (1846), der in seinem Plädoyer für die Priorität von Marcions Evangelium gegenüber dem Lukasevangelium auch Marcions Paulusbriefsammlung für die ursprüngliche hielt und die Vorwürfe Tertullians gegen ihn verwarf. 27 Doch blieben solche Ansichten nicht unwidersprochen: So verteidigte beispielsweise Hahn (1823) Tertullians Beschuldigungen gegen Marcion als zutreffend. 28 In den 1840er und 1850er Jahren verschob sich die Debatte vor allem hin zur Frage, ob das bei Marcion bezeugte Evangelium etwas zur Lösung des Synoptischen Pro‐ blems beitragen könne - wobei sich die traditionelle, Marcion Textänderungen bezichtigende Position vorerst durchsetzte. 29 Diesen Standpunkt übernahmen auch Theodor Zahn (1892) und Adolf von Harnack (1920/ 24), die anhand der Kirchenväterzitate möglichst umfassend den Text der marcionitischen Textsammlung zu rekonstruieren versuchten. 30 Besonders wirkmächtig für die Forschung des 20. Jahrhunderts wurde Harn‐ acks Monographie Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott, in der er Marcion als „Stifter einer neuen Religion“ auf dem „Grunde des paulinischen Evangeliums“ hervorhob. 31 Ausgehend von dieser Perspektive identifizierte er zahlreiche „dogmatisch-tendenziöse“ Textänderungen, die Marcion auf Grund‐ lage seiner eigenen Theologie an einem „W-Text“ vorgenommen habe, den er in der Mitte des 2. Jahrhunderts in Rom vorgefunden habe. 32 Das von Harnack vertretene Verhältnis zwischen marcionitischem und ‚westlichem‘ Text hatte zuvor bereits von Soden angesprochen 33 - und es blieb auch für den Großteil des 20. Jahrhunderts die bestimmende Maxime, von der ausgehend Marcions Text interpretiert wurde. 34 27 2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung <?page no="28"?> 35 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 310. Nach Schmids Entwurf strich Marcion lediglich die Verweise auf Abraham als Vater aller Gläubigen, Israel und seine Verheißungen als Anknüpfungspunkt für die christliche Kirche, die Schöpfungsmittlerschaft Christi sowie eventuell noch die Bezugnahme auf ein Gericht nach Werken und das Fleisch Christi (vgl. ebd; siehe dazu die Diskussion in Kap. 4). Einige Jahre vor Schmid ist eine Monographie von John J. Clabeaux erschienen, die ebenfalls dafür plädiert, ausgehend von Marcion auf eine frühe Paulusbriefsammlung zu schließen, die jedoch bei der Rekonstruktion von deren Text die Zitiergewohnheiten der Kirchenväter nicht so elaboriert analysierte: J O H N J . C L A B E A U X , A Lost Edition of the Letters of Paul: A Reassessment of the Text of the Pauline Corpus attested by Marcion (CBQMS 21), Washington 1989. 36 Vgl. zu Schmids Textrekonstruktion ausführlich mit Verweisen auf weitere Literatur D I E T E R T. R O T H , Review: Vinzent, Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, JThS (2015), 78-86. Vgl. auch die weiterführende Diskussion zu einer - über Schmids Ergebnisse hinausgehenden - Rekonstruktion des Textes der 10-Briefe-Sammlung ausgehend von handschriftlichen Varianten in Kap. 7.2. 37 J A S O N D. B E D U H N , The First New Testament: Marcion's Scriptural Canon, Salem 2013, v. a. 78-79. 38 M A R K U S V I N Z E N T , Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels (StPatrSuppl 2), Leuven u. a. 2014, 277. Erst Ulrich Schmid (1995) löste sich (zumindest teilweise) in seinem Werk Marcion und sein Apostolos von diesem Konsens, indem er ausgehend von einer detaillierten Untersuchung der Zitationsgewohnheiten der Kirchenväter und der handschriftlichen Tradition (die an verschiedenen Stellen etliche Lesarten des marcionitischen Textes ebenfalls bietet), dafür plädierte, dass Marcion nur an ganz wenigen, klar eingrenzbaren Textstellen Änderungen vorgenommen habe. 35 Schmids Textrekonstruktion der marcionitischen Paulusbriefsammlung wurde positiv und weit rezipiert - sie stellt auch die Grundlage der vorliegenden Arbeit dar, die sich jedoch in der Interpretation des von ihm rekonstruierten Textes signifikant unterscheidet. 36 Im Rückblick stellt Schmids Arbeit den Startpunkt eines neu erwachenden Interesses am marcionitischen Text dar, infolgedessen besonders in den letzten Jahren einige Monographien entstanden sind - dabei sind (in chronologischer Reihenfolge) besonders folgende Entwürfe hervorzuheben: Jason BeDuhn argumentierte in seinem 2013 erschienenen Buch The First New Testament, Marcion sei nicht als Redaktor des Lukasevangeliums zu sehen, vielmehr würden beide Evangelien auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen. 37 Markus Vinzent plädierte 2014 in Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels für die Ansicht, Marcion habe das Evangelium in ‚seiner‘ Textsammlung selbst verfasst und somit ein neues literarisches Genre erschaffen. 38 Dieter T. Roth legte 2015 mit The Text of Marcion’s Gospel eine auf Schmids methodischen Prämissen aufbauende Textrekonstruktion für Marcions Evangelium vor, ohne jedoch auf die damit im Zusammenhang stehenden 28 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="29"?> 39 R O T H , Review, rekonstruierter Text auf den Seiten 410-463. 40 K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 455-1168 (dort die Rekonstruktion des Textes). 41 L I E U , Marcion, einleitend dazu 7-11. 42 Vgl. J A S O N D. B E D U H N , New Studies of Marcion’s Evangelion, ZAC 21/ 1 (2017), 8-24; D I E T E R T. R O T H , Marcion’s Gospel and the History of Early Christianity: The Devil is in the (Reconstructed) Details, ZAC 21/ 1 (2017), 25-40; D A N I E L A. S M I T H , Marcion’s Gospel and the Resurrected Jesus of Canonical Luke 24, ZAC 21/ 1 (2017), 41-62; T O N Y J . L A N G , Did Tertullian Read Marcion in Latin? : Grammatical Evidence from the Greek of Ephesians 3: 9 in Marcion’s Apostolikon as Presented in the Latin of Tertullian’s Adversus Marcionem, ZAC 21/ 1 (2017), 63-72; T H O M A S J O H A N N B A U E R , Das Evangelium des Markion und die Vetus Latina, ZAC 21/ 1 (2017); 73-89; U L R I C H S C H M I D , Das marcionitische Evangelium und die (Text-)Überlieferung der Evangelien, ZAC 21/ 1 (2017), 90-109; M A T T H I A S K L I N G H A R D T , Das marcionitische Evangelium und die Textgeschichte des Neuen Testaments. Eine Antwort an Thomas Johann Bauer und Ulrich B. Schmid, ZAC 21/ 1 (2017), 110-120; L I E U , Marcion and the Corruption, 121-139. 43 Der vergleichsweise neutrale, deskriptive Begriff 10-Briefe-Sammlung wird in den folgenden Kapiteln bevorzugt, da er offenlässt, ob bzw. in welchem Umfang Marcion den Text der Paulusbriefsammlung veränderte. Er ist daher dem Ausdruck marcionitische Paulusbriefsammlung vorzuziehen, da das Attribut marcionitisch den Eindruck erweckt, Marcion bzw. die Marcioniten hätten die Paulusbriefsammlung überarbeitet. Schmids Formulierung einer vormarcionitischen (bzw. sogar einer vorvormarcionitischen) Pau‐ lusbriefsammlung steht zwar der These der vorliegenden Arbeit recht nahe, sie trägt jedoch ebenso bereits implizit die Annahme in sich, es habe eine genuin als marcionitisch zu identifizierende Paulusbriefausgabe gegeben (vgl. zu Schmids Terminologie auch Kap. 4.2.1). literargeschichtlichen und historischen Fragen einzugehen. 39 Ebenfalls im Jahr 2015 erschien Matthias Klinghardts zweibändiges Buch Das älteste Evangelium, in dem er für die Priorität des bei Marcion bezeugten Evangeliums gegenüber dem Lukasevangelium (und den drei anderen Evangelien) plädierte - und im Zuge dessen eine umfangreiche, auch auf den Varianten der handschriftlichen Überlieferung basierende Rekonstruktion für Marcions Evangelium präsen‐ tierte. 40 Auch Judith Lieu veröffentlichte 2015 ein Buch zu Marcion, nämlich Marcion and the Making of a Heretic - ihr Hauptfokus liegt weniger auf dem Text der marcionitischen Sammlung, sondern vielmehr darauf, Marcion bzw. die marcionitische Bewegung in die Theologiegeschichte des 2. Jahrhunderts einzuordnen. 41 Mit den genannten Büchern ist die Diskussion keineswegs beendet, sie hat vielmehr eine neue Stufe erreicht - dies zeigt sich beispielsweise auch in einem Themenheft der Zeitschrift für Antikes Christentum zu Marcion, in dem die genannten Ansätze weiter diskutiert wurden. 42 Im Folgenden werden die genannten bisherigen Forschungsüberlegungen konkret am Beispiel des Laodicenerbriefes aus Marcions ‚10-Briefe-Sammlung‘ 43 weitergedacht. 29 2.2 Quellenlage und Forschungsstand zu Marcions Paulusbriefsammlung <?page no="30"?> 44 Vgl. D A V I D C. P A R K E R , An Introduction to the New Testament Manuscripts and their Texts, Cambridge 2008, 274. 45 Diese Zahl für die griechischen Handschriften mit Eph 1,1 resultiert aus einem Abgleich aus der 1991 veröffentlichten Übersicht der griechischen Handschriften in K U R T A L A N D , Text und Textwert der griechischen Handschriften des Neuen Testa‐ ments: II. Die Paulinischen Briefe, Band 3: Galaterbrief bis Philipperbrief (ANTF 18), Berlin/ New York 1991, 356-358 und der aktualisierten, online verfügbaren ‚Liste‘ des INTF Münster, die jedoch zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht vollständig indiziert ist (http: / / ntvmr.uni-muenster.de/ de/ liste). Für die überlieferten (nicht-griechischen) Versionalhandschriften ist ein Fehlen der Adresse in Eph 1,1 nicht bekannt. 46 Eph 1,1 (NA 28 ): Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν [ἐν Ἐφέσῳ] καὶ πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. Zitat im obigen Text aus: B A R B A R A A L A N D / et. al., Novum Testamentum Graece: Einführung, Stuttgart 28 2012, 10*. 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes 2.3.1 Die Quellenlage: Handschriften und Kirchenväter Die überaus auffällige Textüberlieferung der Adresse des Epheserbriefes in einigen neutestamentlichen Handschriften ist neben der in den letzten Jahren besonders intensiv diskutierten Einordnung des bei Marcion bezeugten Textes ein zweiter Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Denn das Problem der Epheser-Adresse ist eines der zentralen textkritischen Probleme der Paulus‐ briefe. 44 Die Quellenlage in den Handschriften und der überlieferten Kirchen‐ väterliteratur wird im Folgenden dargestellt, bevor im Anschluss daran die in der bisherigen Forschung vorgeschlagenen Lösungen für das Problem der Epheseradresse diskutiert werden. a) Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ Von den insgesamt reichlich 600 überlieferten griechischen Handschriften, die den ersten Satz des Epheserbriefes enthalten, fehlen in sechs Exemplaren die Worte ἐν Ἐφέσῳ („in Ephesus“) in Eph 1,1. 45 Nun steht die Frage im Raum, ob das Fehlen dieser beiden Worte ursprünglich ist oder nicht. Die Herausgeber des Nestle-Aland, der kritischen Ausgabe des Neuen Testaments, setzen ἐν Ἐφέσῳ in eckige Klammern und zeigen so an, dass dieser Abschnitt „textkritisch nach dem heutigen Kenntnisstand nicht gänzlich gesichert“ werden kann. 46 Im Einzelnen bezeugen folgende sechs Handschriften das ‚Fehlen‘ der Adresse ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 (vgl. Anhang, Abb. A.1-A.6): 30 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="31"?> 47 Die Datierungen der einzelnen Handschriften sind übernommen aus K U R T A L A N D / B A R B A R A A L A N D , Der Text des Neuen Testaments: Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 2 1989, 109.117-118.141.144.153. Die Datierung der Korrekturen in den Handschriften ist übernommen aus: B. A L A N D / E T . A L ., NTG: Einführung, 15* („Einführung“). Vgl. zu B 46 konkret: S T U A R T R. P I C K E R I N G , The Dating of the Chester Beatty-Michigan Codex of the Pauline Epistles (P46), in: T. W. Hillard (Hg.): Ancient History in a Modern University: Early Christianity, Late Antiquity, and Beyond, Bd. 2, Grand Rapids 1998, 220-227. Vgl. konkret zu B46 auch W I L L Y C L A R Y S S E / P A S Q U A L E O R S I N I , Early New Testament Manuscripts and Their Dates: A Critique of Theological Palaeography, ETL 88/ 4 (2012), 462, die B 46 trotz ihrer prinzipiellen Kritik an der Frühdatierung vieler neutestamentlicher Papyri in das frühe 3. Jahrhundert datieren. 48 Vgl. D I R K J O N G K I N D , Scribal Habits of Codex Sinaiticus (TS 5), Piscataway NJ 2007, 19-21; T H E O D O R C. S K E A T , The Codex Sinaiticus, The Codex Vaticanus and Constantine, JThS 50/ 2 (1999), 598-604. 49 Vgl. J A M E S N. B I R D S A L L , The Text and Scholia of the Codex von der Goltz and its Allies, and Their Bearing upon the Text of the Works of Origen, Especially the Commentary on Romans, in: Ders. (Hg.): Collected Papers in Greek and Georgian Textual Criticism (TaS 3/ 3), Piscataway, NJ 2006, 81-86, der - ausgehend vom Römerbrief - zeigte, dass in dieser ‚Familie‘ 1739 und 1908 von einem Sub-Archetyp stammen, und 6 und 424 C von einem anderen Sub-Archetyp (die Minuskeln 6, 424 C und 1739 haben also eine gemeinsame ‚Großelternhandschrift‘). Vgl. ebenso S T E P H E N C. C A R L S O N , The Text of Galatians and Its History (WUNT II 385), Tübingen 2015, 242-243; P A R K E R , Introduction, 262-263. 1. der Papyrus 46 (B 46 ), der um 200 n. Chr. entstanden ist; 47 2. der Codex Sinaiticus (ℵ), eine Majuskelhandschrift, in ihrer ursprünglichen Fassung (ℵ*), die aus dem 4. Jh. stammt; die sog. ‚zweite Hand‘ des Codex Sinaiticus (ℵ 2 ) fügte später (nicht vor dem 7. Jh.) ἐν Ἐφέσῳ am Rand hinzu; 3. der Codex Vaticanus (B), ebenfalls eine Majuskelhandschrift (die an etli‐ chen Stellen mit dem Text des Sinaiticus übereinstimmt) 48 , und zwar in seiner ursprünglichen, aus dem 4. Jh. stammenden Fassung (B*); auch hier fügte eine ‚zweite Hand‘ (B 2 ) die Worte ἐν Ἐφέσῳ später (ca. im 6./ 7. Jh.) am Rand hinzu; 4. die Minuskel 6 (entstanden im 13. Jh.), die in eine ‚Familie‘ mit den beiden nachfolgend genannten Handschriften gehört; 49 5. die Minuskel 424 (11. Jh.), in der ein Korrektor (424 C ) ἐν Ἐφέσῳ mit Punkten versehen hat, woraus zu schlussfolgern ist, dass ihm ein Korrekturexemplar vorlag, das die Adresse in Eph 1,1 nicht bot. Dabei ist auch durch andere 31 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="32"?> 50 K L A U S W A C H T E L , Varianten in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testa‐ ments, in: C. Jansohn/ B. Plachta (Hg.): Varianten - Variants - Variantes (Beihefte zu editio 22), Tübingen 2005, 26. Vgl. auch B A R B A R A A L A N D , Die Rezeption des neutestamentlichen Textes in den ersten Jahrhunderten, in: J.-M. Sevrin (Hg.): The New Testament in Early Christianity (BETL 86), Leuven 1989, Text, 144. 51 Der Text der Minuskel 1739 ähnelt beispielsweise dem Text, der Origenes in der ersten Hälfte des 3. Jhs. für seinen Römerbriefkommentar vorlag, vgl. P A R K E R , Introduction, 262; vgl. auch K. A L A N D / B. A L A N D , Der Text, 145. 52 In B 46 , 6 und 1739 ist die ‚Überschrift‘ tatsächlich eine Überschrift, denn sie steht vor Beginn des jeweiligen Briefes über dem Text (=inscriptio). In ℵ und B wurde die ‚Überschrift‘ πρὸς Ἐφεσίους (wie in diesen Handschriften üblich) am Ende des Briefes geschrieben (=subscriptio). Die in ℵ und B ebenfalls befindlichen Überschriften der Briefe wurden von einer anderen Hand hinzugefügt (zu sehen z. B. an der fast komplett verblichenen Epheser-Überschrift, während der Text noch hervorragend zu lesen ist, s. Abb. A.2) - und zwar als Kolumnentitel, die sich auf jeder Seite befinden (vgl. dazu für den gut erforschten Codex Sinaiticus v. a. das klassische Werk von H E R B E R T J . M. M I L N E / T H E O D O R C. S K E A T , Scribes and Correctors of the Codex Sinaiticus, London 1938, 30-35; sowie auch J O N G K I N D , Scribal Habits, 51-55). Wenn also im Folgenden der Einfachheit halber von der ‚Überschrift‘ des Epheserbriefes die Rede ist, ist die inscriptio in B 46 , 6 und 1739 und die subscriptio bzw. die (gleichlautenden) Kolumnentitel in ℵ und B gemeint. Textstellen bekannt, dass diese Handschrift „systematisch nach einem Text korrigiert, der bereits für das 4. Jahrhundert und früher nachzuweisen ist.“ 50 6. die Minuskel 1739 (10. Jh.), die auch an vielen weiteren Stellen der Paulus‐ briefe einen recht frühen Text bezeugt. 51 Dabei ist jedoch zu beachten, dass in allen sechs Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ (B 46 ℵ* B* 6 424 C 1739) der jeweilige Brief durch die ‚Überschrift‘ πρὸς Ἐφεσίους eindeutig als Epheserbrief gekennzeichnet ist. 52 Daher ist an dieser Stelle noch eine terminologische Klärung vorzunehmen: Da der Epheserbrief in den Handschriften durchweg mit der Überschrift ‚An die Epheser‘ bezeugt ist, kann das Reden vom ‚Fehlen der Adresse‘ sinnvollerweise nicht das Fehlen der Überschrift, sondern nur das Fehlen der Worte ἐν Ἐφέσῳ im ersten Satz des Briefes (Eph 1,1) meinen. Mit ‚Adresse‘ ist also im Folgenden die Adresse im Präskript des Epheserbriefes gemeint. b) Handschriften mit ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 Alle anderen überlieferten Handschriften enthalten die Adresse in Eph 1,1. Von diesen sollen an dieser Stelle zumindest diejenigen erwähnt werden, die in den textkritischen Überlegungen zu den Paulusbriefen allgemein eine große Rolle spielen (deren übliche Abkürzungen werden ebenfalls genannt, da im weiteren Verlauf der Arbeit darauf zurückgegriffen wird). Dies sind der Codex Alexandrinus (A) aus dem 5. Jh., der Codex Claromontanus (D) aus dem 6. Jh., 32 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="33"?> 53 Vgl. z. B. die Abb. A.7-9 im Anhang. 54 Vgl. H A N S -J O S E F K L A U C K , Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, Paderborn u. a. 1998, 54. 55 Die Übersetzung wird im Folgenden noch intensiv diskutiert. Die hier genannte Überset‐ zung ist die der revidierten Einheitsübersetzung von 2016 und auch die der Lutherbibel von 1984; in der Lutherbibel 2017 lautet Eph 1,1: „Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, an die Heiligen in Ephesus, die an Christus Jesus glauben“. Im Folgenden wird für die deutsche Übersetzung des Bibeltextes - sofern nicht anders angegeben - die Einheitsübersetzung von 2016 verwendet (siehe im Literaturverzeichnis unter „Novum Testamentum Graece, Griechisch-Deutsch“). Sowohl in der Lutherals auch in der Einheitsübersetzung findet sich in einer Fußnote zu Eph 1,1 der Hinweis, dass dem Text in einigen alten Handschriften die Worte „in Ephesus“ fehlen. der Codex Augiensis (F) aus dem 9. Jh., der Codex Boernerianus (G), ebenfalls aus dem 9. Jh., der Codex Athous Laurensis (Ψ) aus dem 8./ 9. Jh. sowie die wichtigen Minuskeln 33 (9. Jh.) und 1881 (14. Jh.). 53 Hinzu kommt auch der sogenannte ‚Mehrheitstext‘ (M), alle altlateinischen (latt), syrischen (sy) und koptischen (co) Übersetzungen sowie die Vulgata-Handschriften (vg) und viele weitere (vor allem Minuskel-)Handschriften. Dazu kommen die bereits oben genannten ℵ 2 und B 2 . In diesen Handschriften ist die Übersetzung des ersten Verses des Epheserbriefes recht problemlos, da er dem in antiken Briefen üblichen Präskript (Absender im Nominativ, Empfänger im Dativ) 54 entspricht: Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν ἐν Ἐφέσῳ καὶ πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ („Paulus, ein Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, an die Heiligen in Ephesus, die Gläubigen in Christus Jesus“). 55 c) Weitere Varianten in Eph 1,1 Im ersten Satz des Epheserbriefes finden sich noch wenige weitere Varianten, denen jedoch bei Weitem nicht die Bedeutung der fehlenden Adresse zukommt. Trotzdem sollen sie hier kurz genannt sein. Zum einen variiert die Reihenfolge der beiden Worte Χριστοῦ Ἰησοῦ (Paulus, ein Apostel Christi Jesu). Diese Anordnung findet sich z. B. in B 46 B D P 0278 33 1505. In ℵ A F G 81 Ψ 1739 u. a. heißt es hingegen Ἰησοῦ Χριστοῦ. Diese unterschiedliche Stellung fällt auch an anderen Stellen in den Paulusbriefen auf, ein Muster ist nicht zu erkennen. Zum anderen ist in den Handschriften ℵ 2 A P 81 326 629 2464 sowie zum Teil auch in Übersetzungen (lat co vg) das Adjektiv πᾶσιν (allen) vor τοῖς οὖσιν (die Heiligen) hinzugefügt, so dass der Brief des Paulus hier an „alle Heiligen in Ephesus“ adressiert ist. Da die Hinzufügung von πᾶσιν ausschließlich in Handschriften mit Adresse zu finden ist, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie auf ein Exemplar zurückgeht, dem ἐν Ἐφέσῳ fehlte (besonders deutlich ist dies daran zu sehen, dass in ℵ sowohl πᾶσιν als auch ἐν Ἐφέσῳ von der zweiten Hand (ℵ 2 ) hinzugefügt 33 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="34"?> 56 Vgl. G E R H A R D S E L L I N , Adresse und Intention des Epheserbriefes, in: G. Sellin/ D. Sänger (Hg.): Studien zu Paulus und zum Epheserbrief (FRLANT 229), Göttingen 2009, 164-165. Grund für die Hinzufügung könnte eine Angleichung an 2Kor 1,2; Phil 1,1 oder Kol 1,4 sein, wo jeweils ebenso alle Heiligen angesprochen werden. 57 Vgl. S E L L I N , Adresse, 165. Dieser Befund sei nicht sonderlich auffällig, da B 46 etliche auf Fehler zurückzuführende Sonderlesarten bietet (vgl. G Ü N T H E R Z U N T Z , The Text of the Epistles: A Disquisition upon the Corpus Paulinum (SchL 1946), London 1953, 252). 58 Vgl. K. A L A N D , Text und Textwert, 357. 59 Vgl. S E L L I N , Adresse, 165. 60 Für eine vorherige literarische Verarbeitung des Epheserbriefes kommen lediglich die Ignatiusbriefe in Frage, die jedoch den Brief (und damit auch seine Adresse) nicht explizit erwähnen; vgl. E R N E S T B E S T , Recipients and Title of the Letter to the Ephesians: Why and When the Designation „Ephesians”? , ANRW II 25/ 4 (1987), 3260-3261; N I L S A L S T R U P D A H L , Einleitungsfragen zum Epheserbrief, in: D. Hellholm/ V. Blomkvist/ T. Fornberg (Hg.): Studies in Ephesians (WUNT 131), Tübingen 2000, 30-32; E R N S T D A S S M A N N , Der Stachel im Fleisch: Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus, Münster 1979, 130-133. Vgl. auch die Diskussion zur Formulierung ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ μνημονεύει ὑμῶν in IgnEph 12,2, mit der nicht der Epheserbrief gemeint sein kann Kap. 6.1. wurde). Die Regeln der Textkritik lassen vielmehr eindeutig darauf schließen, dass die Einfügung von πᾶσιν eine Erweiterung der Lesart mit Adresse darstellt. 56 Abschließend sind noch die vier Fälle zu erwähnen, in denen Eph 1,1 eine ganz andere Lesart bietet: In B 46 fehlt nicht nur ἐν Ἐφέσῳ, sondern auch τοῖς vor οὖσιν; dies ist textkritisch als Sonderlesart der Lesart ohne Adresse zu bewerten. 57 Des Weiteren sind in drei Minuskeln abweichende Lesarten überliefert: In 1149 steht οὖσιν nicht vor, sondern nach ἐν Ἐφέσῳ; in 2544 heißt es nur τοῖς ἐν Ἐφέσῳ; und in 1115 steht nicht ἐν Ἐφέσῳ, sondern ἐν τῇ Ἐφέσῳ (in der Ephesus). 58 Alle drei Lesarten sind als späte Lesarten zu werten, die aus dem Text mit Adresse hervorgegangen sind. 59 d) Die Kirchenväterzitate: Irenäus, Clemens, Origenes und Hieronymus Nachdem der erste Teil der Quellenlage - Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ, mit ἐν Ἐφέσῳ, und mit anderen Varianten - dargestellt worden ist, kann der Blick auf die Schriften der Kirchenväter gerichtet werden, durch die wir an einzelnen Stellen auch Kenntnisse über die Gestalt der Adresse in Eph 1,1 gewinnen können. Die frühesten expliziten Zeugnisse über den Epheserbrief als Epheserbrief und seine Adresse finden sich bei Irenäus von Lyon, Clemens von Alexandrien und Tertullian. 60 Als Erster erwähnt Irenäus den Epheserbrief in Adversus Haereses, und zwar im Kontext einer Argumentation für die Teilhabe des Fleisches am Heil, wo er Eph 5,30 zitiert: 34 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="35"?> 61 Adv. Haer. 5,2,3: Quemadmodum et beatus Apostolus ait in epistola quae est ad Ephesios: „Quoniam membra sumus corporis eius et de ossibus eius.“ (Text und Übers. B R O X , FC 8/ 5). Außerdem benennt Irenäus den Epheserbrief auch in Adv. Haer. 5,8,1; Adv. Haer. 5,14,3 und Adv. Haer. 5,24,4. Vgl. zur zitierten Stelle auch die Diskussion zur Möglichkeit der Rekonstruktion des Textes der 10-Briefe-Sammlung in Kap. 7.2. 62 Clem. Strom. 4,8,64: διὸ καὶ ἐν τῇ πρὸς Ἐφεσίους γράφει· ὑποτασσόμενοι ἀλλήλοις ἐν φόβῳ θεοῦ· αἱ γυναῖκες τοῖς ἰδίοις ἀνδράσιν ὡς τῷ κυρίῳ, ὅτι ἀνήρ ἐστι κεφαλὴ τῆς γυναικὸς ὡς καὶ ὁ Χριστὸς κεφαλὴ τῆς ἐκκλησίας, αὐτὸς ὁ σωτὴρ τοῦ σώματος. (Text aus S T Ä H L I N / F R Ü C H T E L / T R E U , GCS 15/ 2; eigene Übers.). Vgl. zum Epheserbrief bei Clemens zusammenfassend J O S E F S C H M I D , Der Epheserbrief des Apostels Paulus: Seine Adresse, Sprache und literarischen Beziehungen (BibS 22), Freiburg im Breisgau 1928, 17-18. 63 J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 62; sowie auch J O A C H I M G N I L K A , Der Epheserbrief (HThK 10,2), Freiburg u. a. 1990, 2. Der Text des Origenes entstammt einer ‚Katene‘ (also einer ‚Kommentar-Sammlung‘, die am Rand des Bibeltextes hinzugefügt wurde) und ist veröffentlicht bei: J O H N A. F. G R E G G , The Commentary of Origen upon the Epistle to the Ephesians, JThSt 3 (1902), 235. 64 Vgl. B I R D S A L L , Codex von der Goltz, 81-86; P A R K E R , Introduction, 262. Iren. Adv. Haer 5,2,3: Das sagt auch der selige Apostel im Brief an die Epheser: Glieder seines Leibes sind wir, aus seinem Fleisch und seinen Knochen. 61 Clemens von Alexandrien (um die Wende vom 2. zum 3. Jh.) zitiert in seinem Werk Stromata ebenfalls aus dem Epheserbrief (Eph 5,21-23): Clem. Strom. 4,8,64: Deshalb schreibt er [der Apostel] auch im Brief an die Epheser: Ordnet euch einander unter in der Furcht Gottes: Die Frauen ihren eigenen Männern wie dem Herrn; denn der Mann ist das Haupt der Frau wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist. Er selbst ist der Retter des Leibes. 62 Sowohl Irenäus als auch Clemens binden den Epheserbrief in ihre jeweilige Ar‐ gumentation ein, dabei diskutieren sie jedoch nicht direkt dessen Adresse. Auch die Äußerungen Tertullians zeigen, dass er den Epheserbrief als Epheserbrief kennt (z. B. in Adv. Marc. 5,17,1) - sie werden im folgenden Abschnitt bei der Diskussion der Laodicener-Adresse thematisiert. Interessant ist außerdem eine Bemerkung des Origenes (erste Hälfte 3. Jh.), der in seinem Kommentar zum Epheserbrief (den er als Epheserbrief kennt) die Worte τοῖς οὖσιν in Eph 1,1 als einen ontologisch gedachten Hinweis des Paulus auf ‚das Seiende‘ versteht, was laut J. Schmid „schwer begreiflich ist, wenn er im Text des Eph hinter τοῖς οὖσιν die Ortsangabe ἐν Ἐφέσῳ gelesen hat“. 63 Dieser Befund ist keineswegs überraschend, da festgestellt werden konnte, dass Origenes ein sehr ähnlicher Text vorlag, wie er auch in der Minuskel 1739 (ebenfalls ohne ἐν Ἐφέσῳ) zu finden ist. 64 Der Kommentar des Hieronymus zu Eph 1,1 (spätes 4. Jh.) wendet sich strikt gegen die 35 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="36"?> 65 Vgl. J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 63-66. 66 Tert. Adv. Marc. 5,11,13: Praetereo hic et de alia epistola, quam nos ad Ephesios prae‐ scriptam habemus, haeretici vero ad Laodicenos. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4) Anschließend folgt ein Zitat aus Eph 2,12. In diesem Textabschnitt von Adversus Marcionem plädiert Tertullian dafür, dass Christus die persona Gottes ist und genau wie Mose und die Apostel zu Gott, dem Schöpfer der Welt, zugehörig ist. Interpretation des Origenes - dies deutet darauf hin, dass er den Epheserbrief mit Adresse kannte. 65 Somit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass die Bezeugungen der Kirchenväter insgesamt mit dem (an einzelnen Stellen diversen) hand‐ schriftlichen Befund übereinstimmen. Die einzige drastische Ausnahme findet sich in Marcions Paulusbriefsammlung. Diese Angabe wird im Fol‐ genden diskutiert. e) Die Laodicener-Adresse in Marcions Paulusbriefsammlung Eingangs wurden bereits die Vorwürfe der Häresiologen gegen Marcion be‐ nannt, von denen ausgehend sich der Text der Paulusbriefsammlung Marcions rekonstruieren lässt (Kap. 2.2.1). Für die Frage nach der Adresse des Epheser‐ briefes sind nun zwei Stellen bei Tertullian und drei bei Epiphanius relevant. Zum einen schreibt Tertullian in Adversus Marcionem bei der Thematisierung des 2. Korintherbriefes: Tert. Adv. Marc. 5,11,13: An dieser Stelle möchte ich auch (eine andere Stelle) aus einem Brief beiläufig erwähnen - einem Brief, der bei uns den Titel „an die Epheser“ trägt, bei den Häretikern aber „an die Laodicener“. 66 Zum anderen - und das ist die zentrale Quellenstelle - äußert sich Tertullian gleich zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Epheserbrief der Marcio‐ niten in Adv. Marc. 5,17,1 folgendermaßen: Tert. Adv. Marc. 5,17,1: Gemäß der wahren Lehre der Kirche halten wir den nun fol‐ genden Brief für an die Epheser, und nicht für an die Laodizäer, gesandt; Marcion aber trachtete irgendwann einmal danach, ihm eine falsche Adresse zu verleihen (titulum interpolare gestiit), sodass er sich gleichsam auch darin als ein sehr gewissenhafter Forscher präsentierte. Was aber die Frage der Überschriften betrifft: Diese ist in keiner 36 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="37"?> 67 Tert. Adv. Marc. 5,17,1: Ecclesiae quidem veritate epistolam istam ad Ephesios habemus emissam, non ad Laodicenos; sed Marcion ei titulum aliquando interpolare gestiit, quasi et in isto diligentissimus explorator. Nihil autem de titulis interest, cum ad omnes Apostolus scripserit, dum ad quosdam. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). Volker Lukas übersetzt titulus mit „Überschrift“, was jedoch irreführend ist, da Tertullian in Adv. Marc. 5,5,1 festhält, der titulus des 1Kor gleiche den anderen Briefen - womit nur der gesamte Briefeingang gemeint sein kann (vgl. dazu ausführlicher Kap. 6.3.2). Daher wird titulus hier mit ‚Adresse‘ übersetzt, was sowohl die Überschrift als auch die Adresse im ersten Vers des Brieftextes bezeichnen kann. Vgl. dazu auch J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 57 und U. S C H M I D , Marcion, 111. 68 Vgl. dazu Kap. 3.1.2 Zu Datierungen anderer Quellen der Paulusbriefsammlung siehe auch Kap. 5.1. 69 Vgl. zur Quellenlage und Arbeitsweise des Epiphanius auch U. S C H M I D , Marcion 156f; L I E U , Marcion, 237 und W I L L I A M S , Panarion, ‚Introduction‘ (besonders xii-xxxii). 70 Epiph. Pan. 42,9,3-4: (3) ἔχει δὲ καὶ ἐπιστολὰς παρ' αὐτῷ τοῦ ἁγίου ἀποστόλου δέκα, αἷς μόναις κέχρηται, οὐ πᾶσι δὲ τοῖς ἐν αὐταῖς γεγραμμένοις, ἀλλὰ τινὰ αὐτῶν περιτέμνων, τινὰ δὲ ἀλλοιώσας κεφάλαια. […] (4) αἱ δὲ ἐπιστολαὶ αἱ παρ' αὐτῷ λεγόμεναί εἰσι· […] ἑβδόμη πρὸς Ἐφεσίους, […] ἔχει δὲ καὶ τῆς πρὸς Λαοδικέας λεγομένης μέρη. (Text H O L L / D U M M E R GCS 31; eigene Übers.). Weise von Bedeutung, da der Apostel, wenn er an einige schrieb, (zugleich) an alle schrieb. 67 Tertullian kennt den in dieser Arbeit thematisierten Brief - wie auch Irenäus und Clemens von Alexandrien - als Epheserbrief. Zugleich macht er deutlich, dass dieser Brief (aus dem er in den folgenden Absätzen zitiert) in Marcions Paulusbriefsammlung als Laodicenerbrief enthalten war. Hierbei ist besonders zu betonen, dass Tertullians Thematisierung der Paulusbriefsammlung Marcions - und die daraus resultierende Einordnung der Ursprünge dieser Sammlung vor die Mitte des zweiten Jahrhunderts - die am weitesten zurückreichende explizite Quelle einer konkreten Paulusbriefsammlung ist (sowohl die ältesten erhaltenen Handschriften als auch die frühesten Aussagen der Kirchenväter stammen aus der Zeit nach Marcion). 68 Das Vorhandenseins des Laodicenerbriefes wird auch von Epiphanius bestätigt, der in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts Bischof von Salamis (Zypern) war und sich im 42. Buch seiner Schrift Panarion mit Marcion auseinandersetzt - und dabei verschiedentlich ebenfalls darauf hinweist, dass bei Marcion der Epheserbrief als Laodicenerbrief geführt wird: 69 Epiph. Pan. 42,9,3-4: Er [Marcion] hat außerdem zehn Briefe des heiligen Apostels, allein diese benutzt er; aber nicht alles, was in ihnen geschrieben ist; manche Teile tilgt er, manche Kapitel ändert er. […] Die von ihm geführten Briefe sind: […] als siebter an die Epheser, außerdem hat er als Bestandteil den an die Laodicener.“ 70 37 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="38"?> 71 Epiph. Pan. 42,11,8: Τῆς πρὸς Λαοδικεῖς παρ' αὐτῷ ‚ια‘. Εἷς κύριος, μία πίστις, ἓν βάπτισμα, εἷς θεὸς καὶ πατὴρ πάντων, ὁ ἐπὶ πάντων καὶ διὰ πάντων καὶ ἐν πᾶσιν. (Text H O L L / D U M M E R GCS 31; eigene Übers.). 72 Epiph. Pan. 42,11,9: Αὕτη ἡ νενοθευμένη τοῦ Μαρκίωνος σύνταξις, ἔχουσα μὲν χαρακτῆρα καὶ τύπον τοῦ κατὰ Λουκᾶν εὐαγγελίου, καὶ Παύλου τοῦ ἀποστόλου οὐχ ὅλον, οὐ πασῶν τῶν αὐτοῦ ἐπιστολῶν, ἀλλὰ μόνον τῆς πρὸς Ῥωμαίους καὶ τῆς πρὸς Ἐφεσίους καὶ <τῆς> πρὸς Κολασσαεῖς καὶ τῆς πρὸς Λαοδικεῖς καὶ [ἀπὸ] τῆς πρὸς Γαλάτας καὶ τῆς πρὸς Κορινθίους πρώτης καὶ δευτέρας καὶ τῆς πρὸς Θεσσαλονικεῖς πρώτης καὶ δευτέρας καὶ τῆς πρὸς Φιλήμονα καὶ <τῆς> πρὸς Φιλιππησίους· (Text H O L L / D U M M E R GCS 31; eigene Übers.). 73 Epiph. Pan. 42,13,4: οὐ γὰρ ἔδοξε τῷ ἐλεεινοτάτῳ Μαρκίωνι ἀπὸ τῆς πρὸς Ἐφεσίους ταύτην τὴν μαρτυρίαν λέγειν, ἀλλὰ τῆς πρὸς Λαοδικέας, τῆς μὴ οὔσης ἐν τῷ ἀποστόλῳ. (Text H O L L / D U M M E R GCS 31; eigene Übers.). Epiph. Pan. 42,11,8: Der Brief an die Laodicener, Nummer elf bei ihm [Marcion]: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in allen ist (=Eph 4,5-6). 71 Epiph. Pan. 42,11,9: Dies ist Marcions verfälschte Zusammenstellung, […] und eine nicht vollständige Version des Apostels Paulus, nicht alle seine Briefe, sondern nur der an die Römer, der an die Epheser, der an die Kolosser, der an die Laodicener, der an die Galater, der erste und zweite an die Korinther, der erste und zweite an die Thessalonicher, der an Philemon und der an die Philipper. 72 Epiph. Pan. 42,13,4: Der äußerst bedauernswerte Marcion aber schien dieses Zeugnis nicht aus dem Brief an die Epheser zu lesen, sondern aus dem Brief an die Laodicener, der nicht im Apostolos ist. 73 Auch wenn die Anordnung der Briefe von Marcions Paulusbriefsammlung bei Epiphanius mit einigen Unklarheiten verbunden ist (vgl. dazu die Diskussion in Kap. 2.2.1), so kann doch eindeutig festgehalten werden, dass wir durch die Schriften des Epiphanius neben Tertullian einen weiteren Beleg haben, dass in der für Marcion bezeugten Paulusbriefsammlung anstelle des uns als Epheserbrief bekannten Briefes der Laodicenerbrief enthalten war. f) Zusammenfassung der Quellenlage zu Eph 1,1 An dieser Stelle sollen die wichtigsten Informationen dieses Kapitels kurz zusammengefasst werden: In den sechs Handschriften B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739 fehlt im ersten Satz des Epheserbriefes die Adresse („ἐν Ἐφέσῳ“). Nichtsdes‐ toweniger ist dieser Brief durch die Überschrift πρὸς Ἐφεσίους auch hier als Epheserbrief zu erkennen. Ein Zusammenhang zwischen dem Fehlen der Adresse und weiteren Varianten in Eph 1,1 (die Reihenfolge der Worte Χριστοῦ Ἰησοῦ, die Hinzufügung von πᾶσιν sowie wenige Sonderlesarten) ist nicht ersichtlich. Der Befund der handschriftlichen Überlieferung spiegelt sich in 38 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="39"?> 74 Vgl. P A R K E R , Introduction, 274-275. 75 Ein ausführlicher, jedoch unsystematischer Überblick über die verschiedenen Vor‐ schläge findet sich bei E R N S T P E R C Y , Die Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe (ASHLL 39), Lund 1946, 449-466. den Kirchenväterzitaten wider: Irenäus, Clemens und Tertullian kennen den Epheserbrief, wobei aus ihren Aussagen keine Rückschlüsse auf die Adresse zu ziehen sind; Origenes hatte wahrscheinlich einen Epheserbrief vorliegen, in dem ἐν Ἐφέσῳ fehlte; Hieronymus hingegen las vermutlich die Adresse in Eph 1,1. Außerhalb dieser Reihe steht lediglich die durch Tertullian und Epiphanius bezeugte Information, dass dieser Brief in Marcions Paulusbriefsammlung der Laodicenerbrief war. 2.3.2 Verschiedene Rekonstruktionen zur ursprünglichen Adresse des Epheserbriefes Angesichts der soeben dargestellten Quellenlage ist die Frage nach der ur‐ sprünglichen Form der Adresse des Epheserbriefes für die neutestamentliche Wissenschaft ein wichtiges Desiderat. Dass diese Frage so wichtig ist - sie gilt als eines der großen textkritischen Probleme der Paulusbriefe 74 - hängt sicher auch mit ihrer exegetischen Bedeutung zusammen: Denn es ist eines der zentralen Anliegen der historisch-kritischen Exegese, herauszufinden, in welcher Situation und für welche Adressaten eine neutestamentliche Schrift verfasst wurde. Um die bisher in die Forschungsdiskussion eingebrachten Vorschläge zu sys‐ tematisieren, bietet es sich an, die jeweils für ursprünglich gehaltene Textgestalt als Gliederungsmerkmal heranzuziehen. Demzufolge lassen sich die Vorschläge in drei Gruppen unterteilen: (1) die Lesart mit ἐν Ἐφέσῳ ist ursprünglich, (2) die Lesart von B 46 ℵ* B* 6 424 C 1739 ohne ἐν Ἐφέσῳ ist ursprünglich, (3) es stand ursprünglich etwas Anderes an dieser Stelle. 75 Die Argumente für die einzelnen Positionen sollen zuerst kurz vorgestellt werden, im Anschluss daran erfolgt jeweils eine intensive Diskussion derselben. a) Epheserbrief ursprünglich nach Ephesus adressiert Der große Vorteil, den die Annahme, Eph 1,1 habe ursprünglich die Adresse ἐν Ἐφέσῳ enthalten, mit sich bringt, ist, dass dann der erste Satz des Epheserbriefes grammatikalisch korrekt und gut zu verstehen ist. Denn wenn man die Lesart ohne Adresse für ursprünglich hält, müsste man annehmen, „dass der Autor des Eph bereits im ersten Satz seines im übrigen sorgfältig komponierten 39 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="40"?> 76 A N D R E A S L I N D E M A N N , Bemerkungen zu den Adressaten und zum Anlaß des Epheser‐ briefes, ZNW 67 (1976), 235-236. 77 Vgl. G E R H A R D S E L L I N , Der Brief an die Epheser (KEK 8), Göttingen 2008, 68 (mit Verweis auf F R I E D R I C H B L A S S / A L B E R T D E B R U N N E R / F R I E D R I C H R E H K O P F , Grammatik des neutestamentlichen Griechisch: Joachim Jeremias zum 75. Geburtstag (GTL), Göttingen 18 2001, §413,4). 78 J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 115. 79 Vgl. L I N D E M A N N , Bemerkungen zu den Adressaten, 238. Die große Mehrheit der neu‐ testamentlichen Wissenschaftler hält den Epheserbrief für ein pseudepigraphisches Schreiben, vgl. zusammenfassend M I C H A E L T H E O B A L D , Der Epheserbrief, in: M. Ebner/ S. Schreiber (Hg.): Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 415. Vgl. dazu auch die Argumente in Kap. 3.2.3. 80 Vgl. L I N D E M A N N , Bemerkungen zu den Adressaten, 238. Kol 4,16: „Und wenn der Brief bei euch gelesen ist, so sorgt dafür, dass er auch in der Gemeinde von Laodicea gelesen wird und dass ihr auch den von Laodicea lest.“ Vgl. dazu ebenfalls die Diskussion in Kapitel 3. 81 Vgl. G N I L K A , Epheserbrief, 6: „Wenn man nicht resignieren und sich gleichzeitig nicht dem Vorwurf der Willkür ausliefern will, sollte man nochmals sorgfältig die Möglichkeit der Ephesos-Adresse prüfen.“ Textes einen recht massiven Fehler gemacht hat“ 76 - und zwar deshalb, weil das substantivierte Partizip von εἶναι eine nähere Bestimmung verlangt. 77 Oder anders ausgedrückt: „Sind die Worte τοῖς οὖσιν ursprünglich, so fordern sie mit Notwendigkeit auch eine Ortsangabe.“ 78 Die große Schwierigkeit dieser Theorie ist hingegen, das Auslassen der Adresse und die Bezeugung bei Marcion zu erklären. Andreas Lindemann schlägt in seinem Plädoyer für die Ursprünglichkeit der Epheser-Adresse folgendes Szenario vor: Der Verfasser des Epheserbriefes entstamme einer ‚Paulus-Schule‘ und habe daher von der engen Bindung des Apostels an diese Gemeinde gewusst, so dass er es erstaunlich gefunden habe, dass Paulus gerade nach Ephesus keinen Brief geschrieben haben sollte. 79 Dies habe ihn dazu veranlasst, seine theologische Schrift mit der fiktiven Adresse ‚Ephesus‘ zu versehen. Später ist die Ortsangabe von einem Schreiber wegge‐ lassen worden, weil sie sich nicht mit dem Inhalt des Briefes und der Biographie des Paulus deckte. Auch Marcion, so Lindemann weiter, habe erkannt, dass der Inhalt des Briefes sich nicht mit der Biographie des Paulus decken könne - daraufhin habe er dessen Adresse geändert, wie es durch Kol 4,16 naheliegend gewesen sei. 80 Joachim Gnilka, der auch für die Ursprünglichkeit der Epheseradresse votiert, hält den Epheserbrief für ein in Ephesus entstandenes Schreiben, das in Klein‐ asien verbreitet werden sollte. 81 Die Ortsangabe sei also einerseits als „Etikett, das den Ort seiner Entstehung kundtut“, zu verstehen, andererseits markiere 40 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="41"?> 82 G N I L K A , Epheserbrief, 6. 83 G N I L K A , Epheserbrief, 7. 84 Vgl. G N I L K A , Epheserbrief, 2-3. 85 So S E L L I N , Adresse, 172; R U D O L F S C H N A C K E N B U R G , Der Brief an die Epheser (EKK 10), Zürich u. a. 1982, 38; vgl. dazu L I N D E M A N N , Bemerkungen zu den Adressaten, 237 und D A H L , Einleitungsfragen, 62 (beide weisen auch auf diese Grundregel hin, entscheiden sich jedoch trotzdem für eine andere Lösung). 86 S C H N A C K E N B U R G , Epheser, 38. 87 Vgl. S E L L I N , Adresse, 175. 88 S E L L I N , Adresse, 176-178; S E L L I N , Epheser, 65. sie zugleich auch den „Radius [des Schreibens, T. F.], für den es bestimmt ist.“ 82 Der Grund für das Streichen der Adresse ist seiner Meinung nach, dass so der „allgemeine, alle verpflichtende Inhalt“ des Epheserbriefes betont wird. 83 Auch Gnilka geht davon aus, dass Marcion durch Kol 4,16 dazu veranlasst worden sei, den Epheserbrief in den Laodicenerbrief umzuwandeln. 84 b) Epheserbrief ursprünglich ohne Adresse in Eph 1,1 Die Befürworter der Ursprünglichkeit der Lesart ohne ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 - wie beispielsweise G. Sellin und R. Schnackenburg - berufen sich auf die textkriti‐ sche Grundregel lectio brevior: Denn ein Vergleich der beiden Textformen mit ἐν Ἐφέσῳ und ohne ἐν Ἐφέσῳ spreche eine eindeutige Sprache, das Hinzufügen der Adresse in den Text sei viel einfacher zu erklären als ein Wegfallen bzw. Streichen aus dem Text. 85 Denn während man sich vorstellen könne, dass die Ortsangabe aus der Überschrift in den Text übernommen wurde, sei für ein Streichen der Adresse im Text keinerlei Anlass ersichtlich. Das große Problem der Annahme, ursprünglich habe die Adresse gefehlt, sind die bereits ange‐ sprochenen ernsthaften grammatikalischen Schwierigkeiten. Als ‚Notlösungen‘ wurden hier folgende zwei Erklärungsmöglichkeiten vorgeschlagen: R. Schnackenburg plädiert dafür, τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν καὶ πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ als zweigliedrige Anrede zu verstehen: „den Heiligen und Gläubigen in Christus Jesus“. 86 Diese Rekonstruktion kann jedoch nicht erklären, weshalb τοῖς οὖσιν im Satz steht, zudem passt sie nicht zum sonstigen, sorgfältig formulierten Sprachgebrauch im Epheserbrief. 87 Eine weitere Möglichkeit, diesen Satz als grammatikalisch akzeptabel zu erklären, bietet G. Sellin an: Seiner Meinung nach ist die Wendung εἶναι πιστὸς ὲν Χριστῷ äquivalent mit „Glauben haben“ oder „gläubig sein an Christus Jesus“ zu verstehen - sodass folgendermaßen zu übersetzen sei: „an die Heiligen, das sind die an Christus Jesus Glaubenden“. 88 Das Problem hierbei ist, dass τοῖς οὖσιν und πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ durch das καὶ deutlich getrennt sind, sodass sie semantisch nicht 41 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="42"?> 89 Dieses Problem sieht Sellin auch selbst, daher schlägt er den (nicht überzeugenden) Ausweg vor, das καί verstärke lediglich die erklärende Funktion der partizipialen Apposition (vgl. S E L L I N , Adresse, 170). Diese Rekonstruktion ist jedoch auch nur eine Notlösung und hat keine Anhänger gefunden. 90 Vgl. S C H N A C K E N B U R G , Epheser, 38; vgl. dazu auch K L A U C K , Die antike Briefliteratur, 54. 91 Vgl. T H E O D O R Z A H N , Einleitung in das Neue Testament: Erster Band, Leipzig 1897, 339-341; U L R I C H L U Z , Der Brief an die Epheser, in: U. Luz/ J. Becker (Hg.): Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser (NTD 8/ 1), Göttingen 1998, 108. So auch R U D O L P H A N G E R , Über den Laodicenerbrief: Eine biblisch-kritische Untersuchung (Beiträge zur historisch-kritischen Einleitung in das Alte und Neue Testament 1), Leipzig 1843, 141, der sich aufgrund seiner Überlegungen zum Verhältnis von Kol 4,16 und dem Epheserbrief dafür ausspricht, dass der Brief ursprünglich ein „Cirkularschreiben“ an die Epheser und deren Tochtergemeinden in der Asia proconsularis war (vgl. ebd. 130); Z U N T Z , Text of the Epistles, 228-229. 92 Vgl. A N T O N I A S A R R I , Material Aspects of Letter Writing in the Graeco-Roman World: c. 500 BC - c. AD 300 (Materiale Textkulturen 12), Berlin 2018, 13-14.167-168. Antonia Sarri zeigt in ihrer detaillierten Untersuchung von Briefen in der Antike auf, dass es zwar Briefe gibt, die zwei Adressen haben (z. B. liegt ein Brief von Apion, einem römischen Soldaten, vor, der zuerst an einen Sekretär des Heeres adressiert war, um dann in einem zweiten Schritt an seinen Vater weitergeleitet zu werden) oder auch Rundschreiben mit Anweisungen (ἐντολαί) an Beamte. Diese Weiterleitungen oder amtlichen Anordnungen sind jedoch etwas völlig Anderes als die von den Vertretern der Rundbriefhypothese angenommene Lücke, in die verschiedene Adressen eingetragen werden. Vgl. dazu auch B E S T , Recipients and Title, 3249; S C H N A C K E N B U R G , Epheser, 38-39. zusammengezogen werden können. 89 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass sich in den Präskripten der Paulusbriefen nach einem Partizip von εἶναι immer eine Ortsangabe findet. 90 Angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, die mit beiden genannten Rekonstruktionen verbunden sind, wurden einige weitere Vorschläge in die Diskussion eingebracht. Diese sind im Einzelnen sehr unterschiedlich, doch verbindet sie alle das Merkmal, dass sie in Eph 1,1 einen Text für ursprünglich halten, der sich nicht in den uns überlieferten Handschriften findet. Diese Vorschläge werden im Folgenden ebenfalls kurz dargestellt. c) Epheserbrief ursprünglich ein ‚Rundbrief ‘ Vertreter der sog. ‚Rundbrief-Hypothese‘ wie Th. Zahn und U. Luz gehen davon aus, ursprünglich habe sich nach τοῖς οὖσιν eine Lücke befunden, in die einzelne Ortsnamen eingetragen wurden - und zwar je nachdem, an welche Gemeinde das jeweilige Exemplar gesendet wurde. 91 Das große Problem dieser Theorie ist, dass die Auffassung einer Lücke, in die verschiedene Adressen einzutragen wären, für die Antike nicht belegt ist. 92 In diesem Denkrahmen wird dann oft davon ausgegangen, Marcion habe einen adressenlosen Brief vorge‐ 42 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="43"?> 93 So z. B. S E L L I N , Adresse, 174: „So bezeugt Markion zwar keine ältere Tradition, nach der Eph als Brief ‚an die Laodicener‘ gegolten hätte (er wird diese Adresse vielmehr selber erschlossen haben), wohl aber ist Markion indirekter Zeuge dafür, dass man bei der allmählichen Konstituierung des Corpus Paulinum in dieser Zeit eine Adresse suchte für den seinerzeit adressenlosen Paulus-Brief, für den in anderen Kreisen neben oder nach Markion als Adresse Ephesus erschlossen wurde, woraufhin dann die inscriptio πρὸς Ἐφεσίους aufkam.“ 94 Vgl. dazu die detaillierte Diskussion in Kap. 6.3.2 und die bereits erwähnte Feststellung, dass Tertullian mit der Bezeichnung titulus in Tert. Adv. Marc. 5,17,1 - wie auch in Tert. Adv. Marc. 5,5,1 (1Kor) - auch die Adresse im Text meinen kann. 95 Vgl. D A H L , Einleitungsfragen, 63. 96 Vgl. D A H L , Einleitungsfragen, 63. funden und durch die Erwähnung eines Briefes an die Laodicener in Kol 4,16 vermutet, dass der adressenlose Brief jener nach Laodicea gerichtete Brief sein müsse. Diese Rekonstruktion wird dann schlussendlich herangezogen, um die Ursprünglichkeit der adressenlosen Variante des Epheserbriefes zu begründen. 93 Dass diese Argumentation auf sehr fragwürdigen Vorannahmen aufbaut, wird an zwei Punkten deutlich: Zum einen ist das hierbei angenommene Bild von Marcion als Textveränderer nicht plausibel (dazu im Laufe dieser Arbeit noch mehr) und zum anderen ist es ausgehend von den Kirchenväterzitaten alles andere als sicher, dass der Laodicenerbrief in Marcions Paulusbriefsammlung die Adresse im ersten Satz des Briefes nicht enthielt. 94 Außerdem bleibt die konkrete Überlieferungsgeschichte einer Lücke im Epheserbrief völlig unklar: Es wäre dann ja davon auszugehen, dass nur Briefe mit eingesetzter Adresse im Umlauf waren - daher ist es (besonders bei einem pseudepigraphen Brief) fraglich, auf welche Quelle die Adressform mit ‚Lücke‘ zurückgehen könnte. Letzteres Problem versucht Nils A. Dahl zu umgehen, indem er diese These etwas modifiziert und in Erwägung zieht, dieser Brief sei ursprünglich mit verschiedenen Adressen (z. Β. Laodicea, Hierapolis und noch anderen kleinasia‐ tischen Städten) angefertigt worden; die Ortsnamen seien eventuell später beim Abschreiben weggelassen worden. 95 Dahl weist jedoch selbst darauf hin, dass dieser Vorschlag (wie auch die ‚Lücken-Hypothese‘) die schwierige Annahme voraussetzt, der pseudepigraphe Brief sei tatsächlich von Tychikus an mehrere Empfängergemeinden übermittelt worden. 96 Zusätzlich bleibt bei allen ‚Rundbrief-Hypothesen‘ offen, warum zum einen auch die Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ die Epheser-Überschrift bieten, und weshalb zum anderen ausschließlich Handschriften eines Epheserbriefes überliefert sind, wenn der Brief ursprünglich an verschiedene Gemeinden adressiert gewesen sein soll. Zwei weitere spezielle Szenarien einer Rundbrief-Hypothese schlugen J. Schmid und E. Best vor: J. Schmid plädierte 1928 dafür, dass der ursprüngliche 43 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="44"?> 97 J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 128. 98 Vgl. J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 128. 99 Vgl. B E S T , Recipients and Title, 3251; ebenso E R N E S T B E S T , Ephesians 1.1 Again, in: Ders. (Hg.): Essays on Ephesians, Edinburgh 1997, 21-23. 100 Vgl. B E S T , Ephesians 1: 1 Again, 23. 101 Vgl. B E S T , Recipients and Title, 3251. 102 Vgl. P A U L E W A L D , Die Briefe des Paulus an die Epheser, Kolosser und Philemon (KNT 10), Leipzig 1910, 15. Rundbrief im Laufe der Zeit die Überschrift „An die Epheser“ erhalten habe, da der Brief von Ephesus aus (! ) seine Verbreitung angetreten habe. Später sei von dort die Ortsbezeichnung τοῖς οὖσιν ἐν Ἐφέσῳ in den Brieftext „einge‐ drungen“. 97 Da nun einige den Widerspruch zwischen Adresse und Inhalt des Briefes empfunden hätten (ein so unpersönlicher Brief an die dem Paulus recht gut bekannte Gemeinde), sei die Ortsangabe ἐν Ἐφέσῳ gestrichen worden. 98 E. Best sprach sich dafür aus, dass ursprünglich auf der Außenseite einer Briefrolle die Adresse τοῖς ἁγίοις (‚den Heiligen‘) gestanden habe. 99 Zu einem späteren Zeitpunkt, als der Brief in eine Briefsammlung integriert wurde, sei aus einem unbekannten Grund der Eindruck entstanden, dass der Brief eine Ortsangabe haben sollte - daraufhin wäre zuerst die Überschrift zu τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν ἐν Ἐφέσῳ geändert worden, später dann in einem zweiten Schritt auch der Text im ersten Satz des Briefes. 100 Die Variante ohne ἐν Ἐφέσῳ gehe darauf zurück, dass sich einige daran erinnerten, dass der Brief ursprünglich keine Ortsangabe gehabt habe. 101 Dieses von J. Schmid und E. Best angenom‐ mene schrittweise Hinzufügen mit anschließend partiellem Streichen ist jedoch höchst hypothetisch, und zwar sowohl in den aufgezeigten Einzelschritten als auch im Gesamtbild, da keinerlei Anhaltspunkte für ein solches Vorgehen zu finden sind. Außerdem setzen beide Annahmen die Echtheit des Briefes voraus. Vielmehr zeigen diese beiden Beispiele, dass der Verkomplizierung der bereits grundlegend nicht überzeugenden Rundbrief-Hypothese kaum Grenzen gesetzt sind. d) Konjekturen Außerdem wurden verschiedene Konjekturen, also nicht in den Quellen über‐ lieferte Lesarten, für den ursprünglichen Text von Eph 1,1 vorgeschlagen: So plädierte P. Ewald 1910 dafür, dass ein Schreiber an Stelle von τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν fälschlicherweise die Worte τοῖς ἀγαπητοῖς οὖσιν („den Geliebten“) las und daraufhin die Ortsangabe wegließ. 102 R. Batey meinte 1963, ein Kopist habe - möglicherweise aufgrund der Beschädigung seiner Vorlage - statt τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν die Wortfolge τοῖς ἁγίοις τοῖς Ὰσίας („den Heiligen in der Asia“) 44 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="45"?> 103 Vgl. R I C H A R D B A T E Y , The Destination of Ephesians, JBL 82/ 1 (1963), 101. 104 Vgl. W I L L I A M C. S H E A R E R , To Whom was the so-called Epistle to the Ephesians actually addressed? , ET 4/ 3 (1892), 129. 105 Vgl. A A R T V A N R O O N , The Authenticity of Ephesians (Suppl. NT 39), Leiden 1974, 84. 106 A D O L F J Ü L I C H E R , Einleitung in das Neue Testament (GThW 3/ 1), Leipzig 1894, 93. Er sprach sich schlussendlich selbst dagegen aus, da die Erwähnung des Tychikus in Eph 6,21 einen konkreten Adressatenkreis voraussetze (vgl. ebd.). 107 So z. B. S E L L I N , Epheser, 68 und H E I N R I C H S C H L I E R , Der Brief an die Epheser: Ein Kommentar, Leipzig 1965, 31. Vgl. zu weiteren Konjekturen die Amsterdam Database of New Testament Conjectural Emendation, die über den NTVMR des INTF Münster zugänglich ist (http: / / ntvmr.uni-muenster.de/ de/ nt-conjectures). 108 Vgl. J O H N M I L L , Novum Testamentum Graecum cum Lectionibus Variantibus, Ams‐ terdam/ Leipzig 1707, 9 („Quidni igitur scripta fuerit ad Laodicenses? […] certe Epistola haec, quam ad Laodicenos scriptam contendimus […]”.). 109 Vgl. J O S E P H B. L I G H T F O O T , St. Paul's Epistles to the Colossians and to Philemon, London/ New York 1875, 347. Vgl. zur Verwandtschaft von Kol und Eph die ausführliche Diskussion in Kapitel 3.2.3. gelesen und daraufhin ἐν Ἐφέσῳ ausgelassen. 103 Shearer schlug vor, statt τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν habe die Adresse ursprünglich τοῖς ἁγίοις τοῖς Ἴωσι gelautet, der Brief sei also an die Ionier adressiert gewesen. 104 A. van Roon plädierte für die Konjektur τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν ἐν Ἱεραπόλει καὶ Λαοδικείᾳ, πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, dabei wäre bei der Streichung der beiden ursprünglichen Orts‐ namen Hierapolis und Laodicea das καὶ fälschlicherweise stehen geblieben. 105 A. Jülicher zog außerdem in Erwägung, die ursprüngliche Adresse sei τοῖς οὖσιν ἐν ἔθνεσιν, also „die Heidenchristenschaft insgemein“, gewesen. 106 Zwar ist der Einfallsreichtum all dieser Konjekturen nicht von der Hand zu weisen, doch sind sie durchweg auf jeweils etliche weitere Hypothesen angewiesen und bieten so keine zufriedenstellende Erklärung an. 107 e) Epheserbrief ursprünglich an die Laodicener adressiert John Mill äußerte 1707 ausgehend von dem Fehlen von ἐν Ἐφέσῳ in einigen Handschriften erstmalig die Meinung, der Epheserbrief sei ursprünglich an die Laodicener adressiert gewesen, in Eph 1,1 habe also ἐν Λαοδικείᾳ gestanden - womit dieser Brief genau derjenige ἐκ Λαοδικείας („aus Laodicea“) sei, den sich die Kolosser besorgen sollen (Kol 4,16). 108 Weitere Details zu seinem Vorschlag - zum Beispiel, weshalb die Adresse geändert wurde - nannte Mill nicht. Auch Joseph B. Lightfoot plädierte 1875 dafür, den uns als Epheserbrief bekannten Brief mit dem in Kol 4,16 erwähnten Laodicenerbrief zu identifizieren, da Kolosser- und Laodicener-/ Epheserbrief sich als gleichzeitig abgesandt lesen lassen. 109 Der von Lightfoot angekündigte Kommentar zum Epheserbrief mit‐ 45 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="46"?> 110 Vgl. die Ankündigung des Epheserkommentars ebd. (L I G H T F O O T , Paul's Epistles, 347). 111 Vgl. A D O L F von H A R N A C K , Die Adresse des Epheserbriefs des Paulus, Spaw 37 (1910), 696-709; in verkürzter Form und etwas zurückhaltender auch vorgetragen in H A R N A C K , Marcion, 163*-164*. 112 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 706-708. Zum möglichen Zusammenhang von Offb 3,14-22 und dem ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse siehe die Diskussion in Kapitel 6.2.1. 113 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 708. 114 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 708. 115 Darauf weist Harnack auch selbst hin: „Wenn die Schwierigkeit der von uns empfoh‐ lenen Hypothese nachbleibt, daß man eine ganz befriedigende Antwort nicht zu geben vermag, warum gerade Ephesus gewählt worden ist, so bleibt eben diese Schwierigkeit in gleicher Stärke bei jeder anderen Hypothese auch nach.“ (vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 708). Siehe zum ‚Aufkommen‘ der Epheser-Adresse die Diskussion in Kap. 6.2.2. 116 Vgl. S H I R L E Y J . C A S E , To Whom Was „Ephesians“ Written? , BtWo 38/ 5 (1911), 320. samt ausführlicher Begründung der genannten These ist jedoch nicht mehr erschienen. 110 Aus diesem Grund war Harnack im Jahr 1910 der erste, der die These der Priorität des Laodicenerbriefes konkret ausgearbeitet hat. 111 Ausgehend von der frühesten Bezeugung des Briefes bei Marcion und der aus Kol 4,16 zu rekon‐ struierenden ‚Verwandtschaft‘ mit dem Kolosserbrief stellte sich Harnack die Textgeschichte der Epheseradresse folgendermaßen vor: Der Brief sei ursprüng‐ lich an die Gemeinde ἐν Λαοδικείᾳ („in Laodicea“) adressiert gewesen; diese Gemeinde sei jedoch gegen Ende des 1. Jh., wie aus Offb 3,14-22 zu erkennen ist, in Misskredit geraten, sodass die Adresse dieses Briefes getilgt worden sei. 112 Um diese Zeit sei für die Leser des Briefes auch noch sichtbar gewesen, dass hier eine damnatio memoriae, also eine Verdammung des Andenkens, stattgefunden hatte. 113 Später, als der Brief in eine Sammlung überführt worden sei und man daher eine Ortsangabe benötigt habe, hätte er die Überschrift ‚An die Epheser‘ bekommen. 114 Unklar bleibt bei dieser Rekonstruktion vor allem die Frage, aus welchem Grund und wann der Brief zum Epheserbrief geworden ist - Harnack konnte seine Überlegungen nicht in der Geschichte der frühchristlichen Literatur ver‐ ankern. 115 Harnacks Position wurde (lediglich) von Shirley J. Case 1911 positiv aufgenommen - er meinte, diese Hypothese löse zwar nicht alle Probleme, habe jedoch entscheidende Vorteile gegen alle anderen bisher vorgebrachten Lösungen. 116 Es ist gewissermaßen eine Ironie der Geschichte, dass Harnacks großes Marcion-Buch von 1924, das die Textänderungen Marcions hervorhob, dazu beigetragen hat, dass Harnacks 1910 veröffentlichtes Plädoyer für die Ursprünglichkeit der Laodicener-Adresse in den folgenden Jahrzehnten kaum 46 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="47"?> 117 So z. B. J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 55-56 und S E L L I N , Epheser, 67. 118 Vgl. J O H N M U D D I M A N , A Commentary on the Epistle to the Ephesians (BNTC 10), London 2001, 20-26. 119 Vgl. M U D D I M A N , Ephesians, 29-30. 120 M U D D I M A N , Ephesians, 22. 121 Vgl. G E O R G E H. V A N K O O T E N , Cosmic Christology in Paul and the Pauline School: Colossians and Ephesians in the Context of Graeco-Roman Cosmology, with a New Synopsis of the Greek Texts (WUNT II 171), Tübingen 2003. 122 Vgl. V A N K O O T E N , Cosmic Christology, 195.201. rezipiert wurde - sondern vielmehr angenommen wurde, Marcion habe die Adresse eigenständig geändert. 117 John Muddiman argumentierte 2001 ebenso für die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes, allerdings in einer sehr speziellen Ausprägung: Seiner Mei‐ nung nach ist der Epheserbrief eine umfangreiche Erweiterung (ca. 50 %) eines ursprünglichen echten Paulusbriefes an die Laodicener, der zeitgleich mit Kolosser- und Philemonbrief geschrieben worden sei. 118 Bei den Hinzufü‐ gungen - die Muddiman sich analog zur Überarbeitung des Mk durch Mt vorstellt - handele es sich um liturgisches und katechetisches Material, das eine dezidiert nachapostolisch jüdisch-christliche Perspektive sowie eine pointierte Ekklesiologie und Eschatologie einbringe. 119 Der ursprüngliche Laodicenerbrief sei anschließend zur Seite gelegt und vernachlässigt worden. 120 Problematisch an diesem Vorschlag ist vor allem die Rekonstruktion des ursprünglichen Laodicenerbriefes, für die sich keinerlei Anhaltspunkte in den Quellen finden; außerdem ist höchst fraglich, wie Marcion von diesem Brief gewusst haben soll, wenn er in Vergessenheit geraten sei. Nicht zuletzt ist es ein großer Nachteil, dass Muddiman von den Kirchenväterzitaten zu Marcions Textform nur diejenigen zur Adresse des Briefes berücksichtigt. Im Jahr 2003 untersuchte George van Kooten die Entstehung der kosmi‐ schen Christologie bei Paulus und in der Paulusschule. 121 Im Rahmen der Diskussion der unterschiedlichen kosmologischen Konzepte von Kolosser- und Epheserbrief ging er auch der Frage nach dem literarischen Verhältnis dieser beiden Briefe nach. In diesem Zusammenhang plädierte er ebenfalls für die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes, allerdings in einer etwas von Harnack abweichenden Form: Der Autor des Kolosserbriefes habe in Kol 4,16 einen nicht existierenden Laodicenerbrief erwähnt, um die Kolosser für die angedachte Zirkulation des Briefes außerhalb ihrer eigenen Stadt zu motivieren. 122 Einige Zeit später habe der Autor des Briefes, der uns als Epheserbrief bekannt ist, einen kritischen Kommentar zum Kolosserbrief verfassen wollen, wofür er durch die Erwähnung eines Laodicenerbriefes in Kol 4,16 das perfekte pseudepigraphe Szenario vorgefunden habe - so dass er diesen Brief (unseren Epheserbrief) als 47 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="48"?> 123 Vgl. V A N K O O T E N , Cosmic Christology, 197-201. 124 Vgl. V A N K O O T E N , Cosmic Christology, 199. 125 Vgl. V A N K O O T E N , Cosmic Christology, 199. 126 Vgl. D O U G L A S A. C A M P B E L L , Framing Paul: An Epistolary Biography, Grand Rapids 2014, 309-338. 127 Vgl. C A M P B E L L , Framing Paul, 337 und 387-391. Laodicenerbrief verfasst habe. 123 Laodicea sei später als Adresse verschwunden, weil diese verallgemeinert worden sei. 124 Die Einfügung von Ephesus gehe auf die Verbindungen von Paulus zu dieser Stadt zurück. 125 Van Kootens Überle‐ gungen über das ursprüngliche Verhältnis von Kolosser- und Laodicener-/ Ephe‐ serbrief sind sehr detailreich, bringen jedoch die Schwierigkeit mit sich, eine andere hypothetische Größe in die Diskussion einzubringen - nämlich einen fiktiven Laodicenerbrief. Zudem sind die Überlegungen zum Verschwinden der Laodicener- und dem Aufkommen der Epheseradresse deutlich zu unkonkret, um überzeugen zu können. Auch Douglas Campbell sprach sich in seiner Untersuchung der paulinischen Briefe im Jahr 2014 dafür aus, dass der Epheserbrief ursprünglich nach Laodicea gesandt worden sei. 126 Dabei ist er vor allem daran interessiert, mit dieser Annahme die paulinische Autorschaft dieses Briefes zu verteidigen - und zwar indem er in seiner Rekonstruktion der paulinischen Biographie diesen Brief in das Jahr 50 n. Chr. einordnet (nach den beiden Thessalonicherbriefen und vor dem Kolosser- und Philemonbrief). 127 Gegen Campbells Entwurf sprechen zum einen die Probleme, den Epheserbrief als ‚echten‘ Paulusbrief zu lesen (siehe Kap. 3.2.3), und zum anderen auch der Umstand, dass ein solches Szenario auch pseudepigraph angelegt sein kann - schließlich schreiben sich beispielsweise auch die von Campbell für unecht gehaltenen Pastoralbriefe in eine konkrete Situation der Paulusbiographie hinein. Neben den aufgeführten Einzel(an-)fragen zu den genannten Vorschlägen zur Rekonstruktion der ursprünglichen Adresse des Epheserbriefes ist die große Frage, ob es gelingen kann, den über die Adresse hinausgehende Text in die Diskussion um die ursprüngliche Adresse einzubeziehen und so ein schlüssiges Szenario für die gesamte Textüberlieferung dieses Briefes zu finden. Wie bereits erwähnt, ist dies eine zentrale Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Diese wird nach einer kurzen Zusammenfassung des Forschungsstandes zur Adresse des Epheserbriefes in Angriff genommen. 48 2 Methodisches Vorgehen, Quellenlage und Forschungsstand <?page no="49"?> 2.3.3 Zusammenfassung zum Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes Die wichtigsten Ergebnisse der Vorstellung des Forschungsstandes können folgendermaßen zusammengefasst werden: Die adressenlose Form von Eph 1,1 ist mit ernsthaften syntaktischen Schwierigkeiten verbunden, daher kann sie kaum ursprünglich sein (wenngleich die Handschriften mit der adressenlosen Lesart, B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739, vergleichsweise alt sind). Andererseits kann - wenn der Brief ursprünglich die Adresse ἐν Ἐφέσῳ enthielt - nicht plausibel erklärt werden, weshalb die Adresse in einigen Handschriften fehlt. Auch die These, ursprünglich habe sich an der betreffenden Stelle eine Lücke befunden, kann nicht überzeugen, da eine solche Praxis für die Antike nicht bezeugt ist. Die Annahme, der Epheserbrief sei ursprünglich der Laodicenerbrief gewesen, kann sich auf Marcions Paulusbriefsammlung und die Verwandtschaft zum Kolosser‐ brief berufen; allerdings bleibt in Harnacks Rekonstruktion der ‚Wandel‘ zum Epheserbrief unklar. Auch andere Thesen können nicht überzeugen, wie in der Diskussion deutlich wurde. So bleibt insgesamt festzuhalten, dass es für die Frage nach der Adresse des Epheserbriefes zwar eine Vielzahl von Vorschlägen gibt, jeder Vorschlag jedoch ernsthafte Probleme mit sich bringt (was wiederum der Grund für die Vielzahl an Vorschlägen ist). Grundsätzlich fällt bei der Auseinandersetzung mit dem bisherigen Forschungsstand auf, dass die Epheser-Adresse weder im Zusammenhang mit den übrigen Varianten des Epheserbriefes untersucht noch ihre handschriftliche Überlieferungsgeschichte detailliert in den Blick genommen wird. Beides sind Desiderata, denen in den folgenden Kapiteln intensiv nachgegangen wird. Zuvor steht jedoch die Prüfung der eingangs genannten Überlegung an, ob es - ausgehend von der sich durchsetzenden Neubewertung der Textsammlung Marcions - Indizien dafür gibt, dass der Epheserbrief ursprünglich nach Laodicea adressiert war. Dabei wird zwar in gewisser Weise an den vorgestellten Vorschlag Harnacks angeknüpft, jedoch erfolgt durch die soeben angesprochene Erweiterung des Untersuchungsfeldes schlussendlich eine Rekonstruktion, die deutlich über seinen Vorschlag hinaus‐ führt. 49 2.3 Forschungsstand zur Adresse des Epheserbriefes <?page no="51"?> 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse Die Frage, ob man mit dem ersten oder dem wichtigsten Sachverhalt beginnt, stellt sich bei der Untersuchung der Textgeschichte des Epheserbriefes nicht: Die Adresse steht zu Beginn des Briefes und ist zugleich auch der auffälligste Unterschied zwischen dem Laodicener- und dem Epheserbrief. Dabei trägt die Überschrift dieses Kapitels bereits dessen zentrale These in sich: Die Laodi‐ cener-Adresse ist keine sekundäre Änderung, weder von Marcion noch von irgendjemand anderem, sondern vielmehr kommt ihr Priorität gegenüber der Epheseradresse zu. Um dies zu plausibilisieren, werden in einem ersten Schritt zentrale Ergebnisse des soeben dargestellten Forschungsstandes diskutiert, wobei auch die Makroebene der 10-Briefe-Sammlung in den Blick genommen wird (Kap. 3.1). Daraufhin werden ausführliche Überlegungen zur Erwähnung des Briefes „aus Laodicea“ in Kol 4,16 (Kap. 3.2) und zur Nennung der Laodicener in den lateinischen Prologen zu den Paulusbriefen (Kap. 3.3) angestellt. Eine Zusammenfassung samt Abwägung der Plausibilitäten wird das Kapitel zur Laodicener-Adresse abschließen (Kap. 3.4). 3.1 Die Erweiterung des Untersuchungsfeldes: Adresse und übriger Text, Makroebene der Paulusbriefsammlungen Die ursprüngliche Form und Überlieferungsgeschichte der Adresse des Ephe‐ serbriefes ist, wie im zurückliegenden Kapitel deutlich wurde, nach wie vor eine offene Forschungsfrage, da alle bisherigen Vorschläge erhebliche Schwie‐ rigkeiten aufweisen. Daher ist es ausgehend von der in den letzten Jahrzehnten stattfindenden Neubewertung der bei Marcion bezeugten Paulusbriefsammlung (vgl. Kap. 2.2.2) nun geboten, neu die Argumente für die Priorität der Laodi‐ cener-Adresse abzuwägen. Wie ist ihr Verhältnis zur Epheser-Adresse und kann sie als ältester erreichbarer Text gelten? Zu Beginn der folgenden Überlegungen sollen noch einmal zwei zentrale Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung in Erinnerung gerufen werden: Es ist zum ersten keinerlei Grund ersichtlich, weshalb Marcion die Adresse geändert haben sollte; auch die Vertreter der Ursprünglichkeit der Epheser-Adresse sind an dieser Stelle sprachlos und übergehen diese Frage einfach. Tertullians Äußerung, Marcion habe sich als ein sehr gewissenhafter Forscher (quasi diligentissimus explorator) präsentieren wollen und daher die Adresse geändert, zeigt ebenfalls, <?page no="52"?> 1 Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,17,1 (zitiert und besprochen in Kap. 2.2.1). In Kapitel 6.3 wird im Zusammenhang mit der Diskussion um die Rekonstruktion weiterer Lesarten des Laodi‐ cenerbriefes eine Idee zur Interpretation von Tertullians Ausdruck quasi diligentissimus explorator präsentiert. 2 Ein Großteil der folgenden Überlegungen zur Laodicener-Adresse würden ihre Gültigkeit auch dann behalten, wenn die Rundbrief-Hypothese doch zutreffend wäre (was meines Erachtens aus oben genannten Gründen unwahrscheinlich ist). Sie müssten dann nur insofern angepasst werden, dass sie nur für eine der ursprünglich mehreren Adressen, nämlich die an Laodicea, Legitimität beanspruchen können. Dies wäre angesichts der großen Unsicherheit bezüglich der Epheser-Adresse und ihrer historischen Lokalisierung bereits ein wichtiger Fortschritt. Vgl. dazu auch die hypothetischen Überlegungen zur Adressüberlieferung im Falle des Zutreffens der Rundbrief-Hypothese in Kap. 6.3.3. 3 Vgl. die Darstellung der Forschungsgeschichte zum Text des Laodicenerbriefes in Kap. 4.2.1. dass Tertullian selbst auch keinen Grund für die angebliche Adressänderung durch Marcion erkennen konnte. 1 Zum zweiten ist der Vorschlag, der Brief sei ursprünglich ein Rundbrief gewesen (und daher sei sowohl die Epheserals auch die Laodicener-Adresse als in gewisser Weise originär zu betrachten), lediglich eine Notlösung, für die es in der Antike keinerlei Analogien gibt. 2 3.1.1 Die ursprüngliche Adresse des Epheserbriefes im Kontext der handschriftlichen Überlieferung und der weiteren Textvarianten des Epheserbriefes An den bisherigen Entwürfen zur ursprünglichen Adresse des Epheserbriefes sind neben den genannten konkreten inhaltlichen Einzelproblemen noch zwei weitere grundsätzliche Aspekte zu kritisieren: 1. Sie lassen die handschriftliche Überlieferungsgeschichte der Adresse des Epheserbriefes in ihren Betrachtungen außen vor. So wird beispielsweise von den Befürwortern der Rundbrief-Hypothese nicht erklärt (und es gar nicht für erklärungsbedürftig gefunden), weshalb keine Handschriften mit der Laodicener-Adresse überliefert sind. 2. Sie untersuchen die Adresse des Epheserbriefes nicht im Kontext der Text‐ geschichte des übrigen Epheserbrief-Textes. Es liegt meines Wissens keine Veröffentlichung vor, die bei der Untersuchung der Adresse des Epheser‐ briefes weitere Textvarianten dieses Briefes diskutiert. Und umgekehrt inter‐ essieren sich diejenigen, die die Textvarianten des Laodicener-/ Epheserbriefes detailliert analysieren, nicht für die inhaltlichen Belange der Frage nach der Ursprünglichkeit der Adresse des Epheserbriefes. 3 Der vorzustellende Entwurf geht bei beiden Aspekten einen anderen Weg: Es wird erstens ein sowohl auf inhaltlichen als auch auf überlieferungsgeschichtlichen 52 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="53"?> 4 Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,21,1: Cum ad unum hominem litteras factas receperit, quid ad Timotheum duas et unam ad Titum de cclesiastico statu compositas recusaverit. Adfectuavit, opinior, etiam numerum epistolarum interpolare. | Weshalb hat Marcion, da er doch diesen Brief [den Philemonbrief], der an einen einzigen Mann adressiert ist, (in seinen Kanon) aufgenommen, die beiden Briefe an Timotheus und den einen Brief an Titus - all diese haben die Verfassung der Kirche zum Inhalt - verworfen? Ich glaube, er trachtete auch danach, die Anzahl der Briefe zu verfälschen. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). Vgl. dazu R O B E R T W. W A L L , The Function of the Pastoral Letters within the Pauline Canon of the New Testament: A Canonical Approach, in: S. E. Porter (Hg.): The Pauline Canon (PAST 1), Leiden/ Berlin/ Heidelberg 2004, 31-34, der dafür plädiert, dass Marcion die Pastoralbriefe nicht gestrichen hat, sondern sie schlichtweg nicht kannte. Vgl. dazu auch die nachfolgende Diskussion in diesem Kapitel. Überlegungen basierendes Modell für die Priorität der Laodicener-Adresse und das Aufkommen der Epheseradresse erarbeitet (das im kompletten Zusammenhang erst nach der Diskussion des sonstigen Laodicenerbrieftextes in Kapitel 6 darge‐ stellt wird). Im Folgenden wird zweitens die Adresse des Epheserbriefes in den Kontext der weiteren Textvarianten des Epheserbriefes gestellt. Dabei werden besonders die Varianten des bei Marcion bezeugten Textes in die Betrachtung einbezogen und es wird nach deren Ursprung gefragt. Dies führt zu einer kontex‐ tualisierten Analyse der Frage nach der Adresse des Epheserbriefes, die meines Erachtens angesichts der Komplexität des Problems angemessen ist. 3.1.2 Die Adresse im Kontext der (Makro-)Ebene der Paulusbriefsammlungen Neben den beiden soeben genannten Kontextualisierungen - die in eigenen großen Kapiteln ausführlich besprochen werden - lohnt es sich, die Überliefe‐ rungsgeschichte der Paulusbriefsammlungen in den Blick zu nehmen. Denn auch wenn die historisch-kritische Wissenschaft immer danach trachtet, die ursprüngliche Entstehungssituation der einzelnen Briefe zu rekonstruieren, darf nicht vergessen werden, dass uns kein einziger Brief allein überliefert ist - sie alle sind uns ausschließlich als Teil einer edierten Paulusbriefsammlung erhalten. Daher sollte auch die Makroebene der Sammlung der Paulusbriefe in die Überlegungen zur Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes mit einbezogen werden. Hier stellt sich im Rahmen der heuristischen Annahmen dieser Arbeit schnell die Frage: Bietet die Makroebene der 10-Briefe-Sammlung Marcions einen Hinweis auf die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes? Oder ist die Form dieser Sammlung doch ein Anhaltspunkt dafür, dass Marcion eine bestehende Paulusbriefsammlung durch das Weglassen der Pastoralbriefe verstümmelt habe, wie von Tertullian behauptet? 4 53 3.1 Die Erweiterung des Untersuchungsfeldes <?page no="54"?> 5 Vgl. dazu Kap. 3.1. Zu Datierungen anderer Quellen der Paulusbriefsammlung siehe auch Kap. 5.1. 6 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 297. Diesem ‚ersten Gedanken‘ konnte er sich nicht anschließen; vgl. dazu die Kritik an seiner Zuordnung der vormarcionitischen Paulusbriefsammlung zum ‚Westlichen Text‘ in Kap. 4.2.2. 7 N I L S A L S T R U P D A H L , The Origin of the Earliest Prologues to the Pauline Letters, in: D. Hellholm/ V. Blomkvist/ T. Fornberg (Hg.): Studies in Ephesians (WUNT 131), Tübingen 2000, 193. 8 2Petr 3,15b-16: καθὼς καὶ ὁ ἀγαπητὸς ἡμῶν ἀδελφὸς Παῦλος κατὰ τὴν δοθεῖσαν αὐτῷ σοφίαν ἔγραψεν ὑμῖν, ὡς καὶ ἐν πάσαις ταῖς ἐπιστολαῖς λαλῶν ἐν αὐταῖς. | „Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht.“ PolykPhil 3,2: οὔτε γὰρ ἐγὼ οὔτε ἄλλος ὅμοιος ἐμοὶ δύναται κατακολουθῆσαι τῇ σοφίᾳ τοῦ μακαρίου καὶ ἐνδόξου Παύλου, […] ὃς καὶ ἀπὼν ὑμῖν ἔγραψεν ἐπιστολάς […]. | Denn weder ich noch jemand anders meinesgleichen kann der Weisheit des seligen und berühmten Paulus nachkommen, […] der auch abwesend Briefe an euch geschrieben hat […]. (Text und Übers. L I N D E M A N N / P A U L S E N , Apost. Väter). IgnEph 12,2: πάροδός ἐστε τῶν εἰς Θεὸν ἀναιρουμένων, Παύλου συμμύσται, τοῦ ἡγιασμένου, τοῦ μεμαρτυρημένου, ἀξιομακαρίστου, οὗ γένοιτό μοι ὑπὸ τὰ ἴχνη εὑρεθῆναι, ὅταν Θεοῦ ἐπιτύχω, ὃς ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ μνημονεύει ὑμῶν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. | Ihr seid Miteingeweihte des Paulus, des Geheiligten, des Wohlbezeugten, Preiswürdigen - in dessen Spuren mich zu befinden mir zuteil werden möge, wenn ich zu Gott gelange - der in jedem Brief eurer gedenkt in Christus Jesus (Text und Übers. L I N D E M A N N / P A U L S E N , Apost. Väter). Vgl. zu IgnEph 12,2 auch die Diskussion in Kap. 6.1. Vgl. die Diskussion zur Kenntnis der Paulusbriefsammlung in den genannten Quellenstellen: D A S S M A N N , Stachel im Fleisch, 118-158; M A R K H A R D I N G , Disputed and Undisputed Letters of Paul, in: S. E. Porter (Hg.): The Pauline Canon (PAST 1), Leiden/ Berlin/ Heidelberg 2004, 129-131. Hierbei ist noch einmal die Bedeutung der eingangs dargestellten Quellenlage zu betonen. Die Thematisierung der Paulusbriefsammlung Marcions durch Ter‐ tullian ist die am weitesten zurückreichende explizite Quelle einer konkreten Paulusbriefsammlung, da sowohl die ältesten erhaltenen Handschriften als auch die frühesten Aussagen der Kirchenväter aus der Zeit nach Marcion stammen. 5 Ulrich Schmid stellte daher fest: „Man könnte zunächst auf den Gedanken kommen, die vormarcionitische Sammlung sei älter als die kanonische Paulusbriefsammlung, denn die Pastoralbriefe und Heb waren darin nicht enthalten.“ 6 N. A. Dahl spitzt es folgendermaßen zu: „We have to bear in mind that it [scil. Marcion’s Apostolikon, T. F.] is the only 2 nd century edition of Paul about whose shape we have fairly detailed information”. 7 Zwar bieten vereinzelt sowohl der zweite Petrusbrief (3,15- 16), der Polykarpbrief an die Philipper (3,2) und auch der Ignatiusbrief an die Epheser (12,2) Hinweise auf das Vorhandensein von mehr als einem Paulusbrief, doch kann ausgehend von diesen (außerdem schwer zu datierenden) Zeugnissen nicht auf eine fest umrissene Briefsammlung geschlossen werden. 8 Erst Irenäus 54 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="55"?> 9 Vgl. H A R D I N G , Disputed and Undisputed Letters, 133; N O O R M A N N , Irenäus, 67, zusammen‐ fassend auch 517; D A S S M A N N , Stachel im Fleisch, 295-296. Vgl. dazu auch die Diskussion zur Genese der 14-Briefe-Sammlung in Kap. 5.2. 10 Vgl. W A L T E R S C H M I T H A L S , Zur Abfassung und ältesten Sammlung der paulinischen Hauptbriefe, ZNW 51/ 3-4 (1960), 225-245. 11 Vgl. S C H M I T H A L S , Abfassung, 229-236. 12 Vgl. S C H M I T H A L S , Abfassung, 238. 13 Vgl. H A R R Y Y. G A M B L E , The Redaction of the Pauline Letters and the Formation of the Pauline Corpus, JBL 94/ 3 (1975), 406. 14 Vgl. H A R R Y Y. G A M B L E , Pseudonymity and the New Testament Canon, in: J. Frey/ J. Herzer/ M. Janßen/ C. K. Rothschild (Hg.): Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen/ Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters (WUNT 246), Tübingen 2009, 335-336. Die Datierung nimmt er vor mit Verweis auf H E R M A N N J O S E F F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften (VL 4), Freiburg 1964, 290- 303. Neben der Benennung der zehn Briefe umfassenden Sammlung benutzt Gamble auch den von Knox und Schmithals geprägten Begriff der „seven-churches edition“ (vgl. G A M B L E , Pseudonymity, 335-337; vgl. J O H N K N O X , Marcion and the New Testament: An Essay in the Early History of the Canon, Chicago 1942, 46 sowie S C H M I T H A L S , Abfassung, 241-247). zitiert umfassend aus den Paulusbriefen, die auch im Neuen Testament enthalten sind. 9 Der Blick auf Marcions Paulusbriefsammlung war lange Zeit so stark durch Tertullians Polemik verstellt, dass dieser Text sofort in die Schublade ‚seltsam und sekundär‘ eingeordnet und sein Wert für die Rekonstruktion der Früh‐ geschichte der Paulusbriefsammlung verkannt wurde (vgl. Kap. 2). Walter Schmithals war 1960 der erste, der die Sammlungsebene konstruktiv in die Überlegungen zur Entstehung des Corpus Paulinum einbezog. 10 In diesem Zusammenhang äußerte er zum einen den (sich nicht durchsetzenden) Vor‐ schlag, dass die Briefe ursprünglich aus etlichen Einzelbriefen bestanden, die bei der erstmaligen Herausgabe zusammengestellt worden seien; 11 und zum anderen die Einsicht, dass die Pastoralbriefe und der Hebräerbrief nicht zur ursprünglichen Sammlung der Paulusbriefe gehört haben. 12 Harry Gamble bekräftigte 1975 (in seiner ansonsten höchst kritischen) Auseinandersetzung mit Schmithalsʼ Aufsatz dessen Feststellungen zum Fehlen der Pastoralbriefe und des Hebräerbriefes in der ursprünglichen Edition der Paulusbriefe. 13 In einem wesentlich jüngeren Aufsatz (2009) zog Gamble konkret in Betracht, dass die 10-Briefe-Sammlung, auf die auch Marcion zurückgegriffen habe, die früheste Ausgabe einer Sammlung von Paulusbriefen war (und vermutlich in das erste Viertel des 2. Jahrhunderts zu datieren sei, eventuell auch in das späte 1. Jahrhundert). 14 Auch Stanley E. Porter, der 2004 eine Zusammenstellung und Analyse der Theorien zur Entstehung der Paulusbriefsammlungen vorlegte, stellte deutlich heraus, dass Marcions Kanon in der Mitte des 2. Jahrhunderts 55 3.1 Die Erweiterung des Untersuchungsfeldes <?page no="56"?> 15 Vgl. S T A N L E Y E. P O R T E R , When and How was the Pauline Canon Compiled? : An Assessment of Theories, in: Ders. (Hg.): The Pauline Canon (PAST 1), Leiden/ Berlin/ Heidelberg 2004, 97. 16 Vgl. P O R T E R , When and How, 97 17 Vgl. P O R T E R , When and How, 121-127. Zustimmend dazu z. B. auch P E T E R A R Z T -G R A B N E R , Corpus Paulinum, in: F. W. Horn (Hg.): Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 14-15. der früheste erreichbare Fixpunkt für die Geschichte des Corpus Paulinum ist. 15 Dabei hielt er offen, ob die Pastoralbriefe zu dieser Zeit noch nicht geschrieben waren, ob Marcion sie nicht kannte oder ob er sie verworfen hat. 16 Anhand eines systematischen Überblicks zeigte er auf, dass alle Theorien zur Entstehung der Paulusbriefsammlungen mit ernsthaften Schwächen behaftet sind (vgl. dazu die ausführliche Darstellung in Kap. 5.1.). 17 Ausgehend von diesem Forschungsstand kann im Folgenden auch nicht das Problem in den Blick genommen werden, wie die 10-Briefe-Sammlung entstanden ist - vielmehr steht die Frage im Vordergrund, ob diese älteste erreichbare Sammlung von Paulusbriefen auch als älter als die in den neutes‐ tamentlichen Handschriften bezeugte 14-Briefe-Sammlung gelten kann. Ange‐ sichts des fragmentarischen Charakters der Quellenlage für die Frühzeit der Paulusbriefe ist das absolute Alter der Bezeugung gewiss kein hinreichender Beleg. Ein ernstzunehmendes Indiz ist es jedoch in jedem Fall. Um das relative Verhältnis zwischen Marcions 10-Briefe-Sammlung und der Paulusbriefsamm‐ lung der neutestamentlichen Handschriften zu ergründen, ist - wie eingangs angekündigt - eine genaue Untersuchung der einzelnen Lesarten nötig (Mikro‐ ebene). Dabei muss nach konkreten Argumenten in den jeweils zugehörigen (Kon-)Texten gesucht werden. Dies beginnt mit der Adresse, für die in den beiden folgenden Kapiteln konkrete Argumente für die Ursprünglichkeit der Laodicener-Form vorgestellt werden. 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief? Neben der frühesten Bezeugung des Epheserbriefes als Laodicenerbrief in der bei Marcion bezeugten 10-Paulusbriefsammlung gibt es eine zweite Argumen‐ tationslinie für die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes, die von größter 56 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="57"?> 18 Der Kolosserbrief wird - wie auch der Epheserbrief - mit großer Mehrheit als pseudepigraphes Schreiben angesehen, vgl. zusammenfassend M I C H A E L T H E O B A L D , Der Kolosserbrief, in: M. Ebner/ S. Schreiber (Hg.): Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 441-442. Siehe dazu auch die historisch-kritische Diskus‐ sion in Kap. 3.2.3 c). 19 Kol 4,15-16 (NA 28 ): Ἀσπάσασθε τοὺς ἐν Λαοδικείᾳ ἀδελφοὺς καὶ Νύμφαν καὶ τὴν κατ’ οἶκον αὐτῆς ἐκκλησίαν. (16) καὶ ὅταν ἀναγνωσθῇ παρ’ ὑμῖν ἡ ἐπιστολή, ποιήσατε ἵνα καὶ ἐν τῇ Λαοδικέων ἐκκλησίᾳ ἀναγνωσθῇ, καὶ τὴν ἐκ Λαοδικείας ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀναγνῶτε. 20 Vgl. A N G E R , Über den Laodicenerbrief, 14-41. Relevanz ist. Hierbei steht Kol 4,15-16 im Mittelpunkt. Dort schreibt ‚Paulus‘ 18 an die Gemeinde in Kolossae: Kol 4,15-16: Grüßt die Brüder in Laodicea, auch Nympha und die Gemeinde in ihrem Haus. (16) Wenn der Brief bei euch gelesen worden ist, sorgt dafür, dass er auch in der Gemeinde von Laodicea gelesen wird, und dass ihr auch den aus Laodicea lest (καὶ τὴν ἐκ Λαοδικείας ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀναγνῶτε). 19 Die große Frage ist nun, welcher Brief mit dem Brief „aus Laodicea“ (ἐκ Λαοδικείας) bezeichnet wird. Was kann über diesen Brief gesagt werden? Ist er verlorengegangen? Hat es ihn jemals gegeben? Ist er uns unter einem anderen Namen überliefert? Bei diesen Fragen spielt auch die Frage nach der Authentizität des Kolosser- und Epheserbriefes eine wichtige Rolle. Wie das folgende Kapitel zeigen wird, hat sich in der neutestamentlichen Wissenschaft in Bezug auf Kol 4,16 eine gewisse Ratlosigkeit ausgebreitet, in deren Folge die Frage als nicht beantwortbar erklärt wurde. Sicherlich ist es für die Wissenschaft immer eine Option, eine Frage als unbeantwortbar zu definieren, doch sollte dies nur die ultima ratio bleiben. Zuvor müssen alle zur Verfügung stehenden Argumente und Plausibilitäten abgewogen werden. Und dies ist letztmalig im 19. Jahrhundert umfassend geschehen. 3.2.1 Identifizierungsversuche des Briefes ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 a) Anger und Lightfoot sowie die dort vorgestellten Szenarien früherer Zeiten Im 19. Jahrhundert widmeten sich zwei Wissenschaftler intensiv dem Problem des in Kol 4,16 angesprochenen Laodicenerbriefes. Zum einen der Leipziger Theologieprofessor Rudolph Anger in seinem 1843 erschienenen Werk Ueber den Laodicenerbrief  20 und zum anderen der in Cambridge lehrende und in der neutestamentlichen Wissenschaft bis heute weithin bekannte Theologe Jo‐ seph B. Lightfoot, der in seinem 1875 in erster Auflage erschienenen Kommentar 57 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="58"?> 21 Vgl. L I G H T F O O T , Paul's Epistles, 340-347. 22 Vgl. L I G H T F O O T , Paul's Epistles, 340. 23 So A N G E L A S T A N D H A R T I N G E R , Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes, Leiden u. a. 1999, 287, Anm. 47 („Der in Kol 4,16 erwähnte Brief aus Laodizea ist m. E. eine Fiktion.“). über den Kolosser- und Philemonbrief dem Brief ἐκ Λαοδικείας ein ganzes Kapitel widmete. 21 Beide stellten eine Vielzahl von möglichen Antworten dar, wobei sie auch die Überlegungen aufnahmen, die bereits vor ihrer Zeit zu diesem Thema angestellt wurden. Da der Text von Anger auf 141 Seiten keine einzige Zwischenüberschrift enthält, bietet es sich an, die Gliederung von Lightfoot zu übernehmen. Lightfoot gliedert die Vorschläge zu dem in Kol 4,16 genannten Brief „aus Laodicea“ in drei Gruppen: 22 1. Es handelt sich um einen Brief, der von den Laodicenern geschrieben wurde (an Paulus, Epaphras oder die Kolosser). 2. Es handelt sich um einen Brief, den Paulus von Laodicea aus geschrieben hat (1Tim, 1Thess oder 2Thess). 3. Es handelt sich um einen Brief, der an die Laodicener adressiert war (ein unbekannter Brief von Epaphras oder Lukas, oder auch ein an die Laodicener adressierter Brief des Paulus selbst - in Frage kommt dann ein verloren gegangener Brief oder einer der kanonischen Briefe [1Joh, Hebräer-, Philemon- oder Epheserbrief] oder der apokryphe Laodicener‐ brief). In dieser Übersicht von Lightfoot sind fast alle denkbaren Möglichkeiten zu dem in Kol 4,16 genannten Brief versammelt (wenngleich man manche Möglichkeiten unter der Annahme von Pseudepigraphie noch einmal leicht umformulieren müsste). Lediglich ein weiteres Szenario ist den drei oben genannten noch hinzuzufügen - das unter der Prämisse des heute weithin angenommenen pseudepigraphen Charakters des Kolosserbriefes noch in Frage kommt: Die Nennung des Laodicenerbriefes ist pure Fiktion. 23 Eine gewisse Kreativität ist diesem letztgenannten Vorschlag nicht abzusprechen, doch ein Argument dafür ist nicht ersichtlich. So zeigt insgesamt allein die Bandbreite der Vorschläge, dass in der Frage nach dem Brief ἐκ Λαοδικείας schon seit der Zeit der frühen Kirche eine gewisse Ratlosigkeit verbreitet ist. Daher ist es an der Zeit, sich den einzelnen Vorschlägen genauer zuzuwenden und die jeweiligen Argumente abzuwägen: 58 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="59"?> 24 Johannes Chrysostomus, Hom. 12 (ad Col 4,16): „Some say that this is not Paul’s to them, but theirs to Paul, for he said not that to the Laodiceans, but that written ‚from Laodicea‘.” (Übers. G R O S S NPNF 1/ 13). Vgl. dazu L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 340; A N G E R , Über den Laodicenerbrief, 18. 25 Theodor v. Mopsuestia, Comm. ad Col (ad 4,16): „But the Apostle does not speak of a letter to the Laodiceans but of one from Laodicea, which they had written to the apostle. In it there were set forth some things deserving censure, and it was for this reason that he ordered it to be read by them, so that by learning for themselves what the Laodiceans had written they might censure the letter themselves.” (Übers. G R E E R , WGRW 26). Vgl. dazu (und auch zu weiteren spätantiken Vertretern dieser Meinung). Vgl. dazu auch L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 340-341. 26 Vgl. zu den konkreten Quellenangaben: L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 341. 27 Vgl. L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 342-343; dort auch die Angabe der jeweiligen Quellen‐ editionen. 28 Vgl. L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 343; siehe die Handschrift unter http: / / ntvmr.uni-mu‐ enster.de/ manuscript-workspace (Doc ID: 20006; folio 394r). a.1) ein von den Laodicenern oder ein von Laodicea aus geschriebener Brief ? Zwar werden diese beiden Ansichten, soweit ich sehe, seit Beginn der kritischen Forschung nicht mehr ernsthaft vertreten - sie sind trotzdem interessant, weil sie die Komplexität des Problems um Kol 4,16 verdeutlichen. Bereits im 4. Jahrhundert referierte Johannes Chrysostomos die Ansicht, der in Kol 4,16 genannte Brief ἐκ Λαοδικείας sei von der Gemeinde in Laodicea geschrieben worden. 24 Wenig später schrieb Theodor von Mopsuestia, die Laodicener hätten einen Brief über die Kolosser geschrieben und Paulus sei der Ansicht gewesen, den Kolossern würde es gut tun zu wissen, was deren Nachbarn aus Laodicea über sie denken. 25 Bis in die Neuzeit hinein fanden sich Anhänger dieser Meinung, darunter so bekannte Namen wie Calvin, Beza, Baronius, à Lapide und Estius. 26 Auch die Ansicht, der in Kol 4,16 genannte Brief sei von Laodicea aus geschrieben worden, ist bereits aus antiken Quellen bekannt: Unter dem 1. Timotheusbrief steht in den Codizes A, K, L, 47 ἐγράφη ἀπὸ Λαοδικείας, was aller Wahrscheinlichkeit nach einen Versuch der Identifizierung des in Kol 4,16 genannten Briefes darstellt. Auch Autoren wie Johannes von Damaskus, Theophylact und Erasmus meinten, der 1Tim sei von Laodicea aus geschrieben worden. 27 In der gleichen Weise finden sich auch Subskriptionen unter anderen Briefen, so wurde beispielweise unter dem 1. Thessalonicherbrief im lateini‐ schen Text des Codex Claromontanus (D 06) von einer zweiten (orthographisch nicht sonderlich fachkundigen) Hand scribens a ladicia hinzugefügt. 28 Was ist nun von diesen Annahmen zu halten? Ihr großes Problem ist, dass sie durchweg spekulativ sind, da sich in den frühchristlichen Quellen keine 59 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="60"?> 29 So auch L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 343 und A N G E R , Über den Laodicenerbrief, 16-21. 30 Vgl. J O H N K N O X , Philemon among the Letters of Paul: A New View of its Place and Importance, Chicago 1935, 18-24. Zu den Details der Absendesituation siehe die nachfolgenden Ausführungen dieses Kapitels. 31 Philastrius, Div. Heres. Liber, 89: Sunt alii, qui Epistolam beati Pauli ad Hebraeos non adserunt esse ipsius, sed dicunt aut Barnabae esse beati apostoli, aut Clementis de urbe Romae episcopi, alii autem Lucae beatissimi evangelistae aiunt: Epistolam etiam ad Laodicenses scriptam beati apostoli quidam volunt legere. (Text aus M A R X , CSEL 38). Grundlagen dafür finden lassen. 29 Weder findet sich ein Hinweis darauf, dass Paulus in Laodicea war, noch ein Hinweis darauf, dass die Gemeinde in Laodicea einen Brief geschrieben habe. Es scheint vielmehr so zu sein, dass sowohl die Annahmen, mit dem Brief ἐκ Λαοδικείας sei ein nicht näher bekannter Brief der Laodicener gemeint, als auch die (verschiedenen) Subskriptionen in den Handschriften unter verschiedenen Paulusbriefen schlichtweg eine „Notlösung“ waren, um nicht einen verloren gegangenen Brief des Paulus postulieren zu müssen. Vielmehr lässt der von ‚Paulus‘ in Kol 4,16 aufgetragene Briefaustausch zwischen Kolossae und Laodicea (καὶ ὅταν ἀναγνωσθῇ παρ’ ὑμῖν ἡ ἐπιστολή, ποιήσατε ἵνα καὶ ἐν τῇ Λαοδικέων ἐκκλησίᾳ ἀναγνωσθῇ, καὶ τὴν ἐκ Λαοδικείας ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀναγνῶτε) darauf schließen, dass beide Briefe - aus der Leserper‐ spektive - von Paulus stammen (wie in Kap. 3.2.2 noch genauer begründet wird). a.2) ein an die Laodicener adressierter Brief ? Auch bei der Suche nach einem an die Laodicener adressierten Brief, zu dessen Lektüre die Kolosser in Kol 4,16 aufgefordert werden, wurden verschiedene Möglichkeiten in die Diskussion eingebracht: Zum einen wurde von John Knox vorgeschlagen, dass es sich um den Philemonbrief handelt, da sich beide Briefe teilweise in der Absendesituation ähneln. 30 Doch dieser Vorschlag kann über den Status einer kreativen Vermutung auch nicht hinausgehen. Zum anderen wurde überlegt, ob mit dem Brief ἐκ Λαοδικείας der Hebräerbrief gemeint ist, der ja keine konkrete Adresse im Text hat. Auch diese Überlegung wurde bereits in der Antike angestellt. So schreibt Philastrius am Ende des 4. Jahrhunderts, dass manche Lukas für den Schreiber des Hebräerbriefs hielten und dieser nach Laodicea adressiert gewesen sei, weil Paulus diesen dort habe lesen wollen. 31 Anger stellte zudem die Überlegung an, ob die Überschrift „προς λαουδακησας αρχεται επιστολη / ad laodicenses incipit epistola“ im bilingualen Codex Boernerianus (G 012) ein Hinweis auf die Identifizierung des Hebräerbriefs mit dem Laodicenerbrief sein könnte, da der Hebräerbrief in dieser Handschrift fehlt und sich normalerweise an dieser Stelle - nach 60 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="61"?> 32 Vgl. A N G E R , Über den Laodicenerbrief, 29-30. Vgl. dazu auch W I L L I A M H. P. H A T C H , On the Relationship of Codex Augiensis and Codex Boernerianus of the Pauline Epistles, HSCP 60 (1951), 192-193. 33 L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 345. Der apokryphe Laodicenerbrief findet sich erstmals im Codex Fuldensis, dessen Entstehung in das Jahr 546 datiert wird; vgl. dazu genauer P H I L I P L. T I T E , The Apocryphal Epistle to the Laodiceans: An Epistolary and Rhetorical Analysis (TENTS 7), Leiden 2012, 3. 34 Vgl. L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 345. 35 Theoretisch denkbar ist zwar auch, dass der Schreiber des Codex Boernerianus den griechischen Text des Laodicenerbriefes nicht übernahm, weil er den Text nun als den Text erkannte, den er aus dem Epheserbrief kannte (das würde eine in Dresden entstandene Arbeit natürlich sehr freuen) - doch gerade die Verbindung des Codex Boernerianus zur lateinischen Texttradition im Zusammenhang mit der sehr unge‐ wöhnlichen Schreibweise der ‚Laodicener‘ macht es meiner Einschätzung nach deutlich plausibler, dass hier der ‚apokryphe‘, aus einigen lateinischen Handschriften bekannte Laodicenerbrief hätte folgen sollen. 36 Vgl. C H A R L E S P. A N D E R S O N , Who Wrote „The Epistle from Laodicea“? , JBL 85/ 4 (1966), 436-440. 37 Vgl. T I T E , Apocryphal Epistle, zusammenfassend 101-139. dem Philemonbrief - anschließt. 32 Doch ist es höchst wahrscheinlich, dass an dieser Stelle des Codex Boernerianus der (aus lateinischen Handschriften bekannte) apokryphe Laodicenerbrief folgen sollte: denn im Griechischen steht hier „λαουδακησας“ - und, um es mit Lightfoot zu sagen: „No Greek in the most barbarous age would have written λαουδακησας for λαοδικεας oder λαοδικηνους.“ 33 Daher ist es offensichtlich, dass der Schreiber lediglich einen lateinischen Text vorliegen hatte und diesen mit seinen geringen Griechisch‐ kenntnissen spontan übersetzte. 34 Es ist anzunehmen, dass er den Text deshalb nicht in den Codex schrieb, weil er keinen griechischen Text für den lateinischen Laodicenerbrief fand. 35 Anderson plädierte 1966 dafür, dass Epaphras im Auftrag von Paulus einen Brief an die Laodicener geschrieben habe, den Paulus in Kol 4,16 erwähnen würde. 36 Doch auch für diese These gibt es keine Evidenz, auch sie entstammt der Verlegenheit um den Brief ἐκ Λαοδικείας (und setzt zudem die Authentizität beider Briefe voraus). Des Weiteren kommt theoretisch auch der ausschließlich in einigen latei‐ nischen Handschriften enthaltene ‚apokryphe‘ Laodicenerbrief in Frage, der in Kol 4,16 genannte Brief zu sein. Dieser Laodicenerbrief ist jedoch eine Zusammenstellung aus anderen Paulusbriefen, die aus einer späteren Zeit stammt, wie zuletzt Philip L. Tite wieder umfangreich gezeigt hat. 37 Daher kann es ausgeschlossen werden, dass in Kol 4,16 dieser Brief gemeint ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der apokryphe Laodicenerbrief die ‚Lücke‘ schließen wollte, die durch den im neutestamentlichen Kanon angesprochenen, jedoch nicht (mehr) vorhandenen Brief entstanden war. 61 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="62"?> 38 So auch L I G H T F O O T , Paul's Epistles, 344. 39 Posthum wurde zwar noch ein Band mit unveröffentlichten Notizen Lightfoots zu einigen Paulusbriefen herausgegeben, doch finden sich darunter leider keine Überle‐ gungen zur Adresse des Epheserbriefes; vgl. J O S E P H B. L I G H T F O O T , Notes on the Epistles of St. Paul from unpublished Commentaries, London 1890, 307-324. 40 Vgl. L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 347. 41 L I G H T F O O T , Paul’s Epistles, 347. 42 Vgl. A N G E R , Über den Laodicenerbrief, 51-65.85-95. Eine weitere Denkmöglichkeit ist, dass der Brief verlorengegangen ist. Ein solcher Vorschlag kann allerdings nur die ultima ratio sein, also erst dann in Betracht gezogen werden, wenn sich keine andere plausible Möglichkeit finden lässt. 38 Auch diese Rekonstruktion wurde niemals ernsthaft in Betracht gezogen. a.3) der in Kol 4,16 genannte Brief als der Epheserbrief ? Damit wenden wir uns der Position zu, die sowohl von Anger als auch von Lightfoot favorisiert wurde. Während Rudolph Anger der Begründung seines Vorschlages ein ganzes Buch widmete (die wesentlichen Punkte seiner Argumentation werden gleich vorgestellt), haben wir von Lightfoot nur einige Zeilen, die seine Argumentation für den Epheserbrief kurz aufzeichnen - den angekündigten Kommentar über den Epheserbrief, in dem er diese Frage genauer thematisieren wollte, konnte er nicht mehr fertigstellen. 39 Als Argumente führte Lightfoot in aller Kürze an: Der Epheserbrief wurde gleichzeitig mit dem Kolosserbrief versandt (zu erkennen daran, dass die Briefe durch die Person des Tychikus eng miteinander verbunden sind), außerdem war er - das schrieb Lightfoot als Abgrenzung gegen eine Identifikation des in Kol 4,16 genannten Briefes mit dem 1 Tim - nicht an eine Privatperson, sondern an eine Gemeinde (oder mehrere Gemeinden) gerichtet. 40 An den Rand dieser kurzen Ausführung zum Epheserbrief als dem Brief, auf den sich Kol 4,16 bezieht, schrieb Lightfoot: „This is the solution“ - jedoch setzte sich dies, anders als von ihm erwartet, bislang nicht durch. 41 Auch Anger hielt alle anderen in Frage kommenden Rekonstruktionen für unwahrscheinlicher und plädierte für die Identität des in Kol 4,16 genannten Briefes mit dem Epheserbrief. Gründe hierfür sind seiner Ansicht nach: Der Autor des Epheserbriefes kennt die Adressatengemeinde nicht persönlich (Eph 3,2; 4,21), beide Briefe wurden zur gleichen Zeit abgefasst, Marcion kennt den Eph als Laodicenerbrief und die Überlieferung der Adresse des Eph in den Handschriften und bei den Kirchenvätern ist disparat. 42 Da sich seitdem kein Konsens herausgebildet hat - und es gleichzeitig die meistversprechende Spur ist, dass der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 der Ephe‐ serbrief ist, soll diese weiterverfolgt werden. Hier kann auf einzelne Beiträge 62 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="63"?> 43 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 697. Harnack ging davon aus, dass der Kolosser- und Epheserbrief tatsächlich von Paulus stammten. 44 H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 697. 45 Kol 4,7-8 (NA 28 ): Τὰ κατ’ ἐμὲ πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τύχικος ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς καὶ πιστὸς διάκονος καὶ σύνδουλος ἐν κυρίῳ, ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς εἰς αὐτὸ τοῦτο, ἵνα γνῶτε τὰ περὶ ἡμῶν καὶ παρακαλέσῃ τὰς καρδίας ὑμῶν. zurückgegriffen werden, bei denen Kol 4,16 für die Argumentation zentral ist - wobei bemerkenswert ist, dass die jüngeren Beiträge jeweils nicht oder kaum auf die ältere Forschungsliteratur verweisen. Möglicherweise hätte sich die bishe‐ rige Forschungsmeinung anders herauskristallisiert, wenn die Autoren jeweils aufeinander verwiesen hätten. Diese Verknüpfung der verschiedenen Ansätze geschieht hier im Anschluss an die Darstellung der Forschungsgeschichte (und dann wird auch diskutiert, inwiefern ein pseudepigrapher Charakter der Briefe die Argumentation verändert). b) Harnack Als Erster ist Adolf von Harnack zu nennen, der - wie in Kapitel 2.3.2 bereits dargelegt - für die Ursprünglichkeit der Laodiceneradresse in Eph 1,1 plädiert hat. Der Satz in Kol 4,16 und das daraus zu rekonstruierende Verhältnis von Epheser- und Laodicenerbrief war für ihn dabei der zentrale Beweggrund. In seinem 1910 erschienenen Aufsatz weist Harnack gleich zu Beginn darauf hin, dass aus der häufigen Nennung der Laodicener im Kolosserbrief zu schließen ist, „dass sich die Gemeinden von Kolossae und Laodicea an sich und in den Gedanken des Paulus sehr nahegestanden haben müssen.“ 43 Anschließend geht Harnack auf die Abfassungszeit beider Briefe ein: „Hat sich der Kolosserbrief erhalten, so wäre es etwas auffallend, wenn der gleichzeitig geschriebene Laodicenerbrief nicht auf uns gekommen sein sollte. [...] Umgekehrt aber, wenn sich in der Paulinischen Briefsammlung ein dem Kolosserbrief (nach Zeitlage und Inhalt) verwandter Brief findet, dessen überlieferte Adresse verschiedene Hypothesen zuläßt, so ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür gegeben, daß dies der Laodiceerbrief sein wird.“ 44 Harnack geht also davon aus, dass der Kolosser- und der Laodicenerbrief gleichzeitig entstanden sind - eine genauere Betrachtung dazu liefert er im nächsten Abschnitt seines Aufsatzes, in dem die zentralen Sätze folgende sind: Kol 4,7-8: Was mich betrifft, wird euch Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener und Mitknecht im Herrn, alles berichten. Ihn habe ich eigens zu euch gesandt, damit ihr alles über uns erfahrt und er eure Herzen ermutige. 45 63 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="64"?> 46 Eph 6,21-22 (NA 28 ): Ἵνα δὲ εἰδῆτε καὶ ὑμεῖς τὰ κατ’ ἐμέ, τί πράσσω, πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τύχικος ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς καὶ πιστὸς διάκονος ἐν κυρίῳ, ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς εἰς αὐτὸ τοῦτο, ἵνα γνῶτε τὰ περὶ ἡμῶν καὶ παρακαλέσῃ τὰς καρδίας ὑμῶν. 47 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 698. 48 H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 698. 49 H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 698. 50 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 700. 51 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 700-703. 52 Dieses Ergebnis vertritt er etwas vorsichtiger auch in seinem 1924 erschienenen großen Marcion-Buch (vgl. H A R N A C K , Marcion, 163*-164*). 53 Vgl. M I C H A E L D. G O U L D E R , The Visionaries of Laodicea, JSNT 43 (1991), 15-39. 54 Vgl. G O U L D E R , Visionaries, 20. Eph 6,21-22: Damit auch ihr erfahrt, wie es mir geht und was ich tue, wird euch Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener im Herrn, alles berichten. Ihn habe ich eigens zu euch gesandt, damit ihr alles über uns erfahrt und er eure Herzen ermutige. 46 Hier findet sich fast eine wörtliche Übereinstimmung, die Situation ist exakt die gleiche: Den Empfängern wird mitgeteilt, dass Paulus den Tychikus zu den Gemeinden sendet, um ihnen weitere Informationen von Paulus zu überbringen und sie so zu trösten (vgl. dazu detaillierter Kap. 3.2.2). Daher - so Harnack - sei es evident, dass der Kolosserbrief unmittelbar vor dem Brief, den wir als Epheserbrief kennen, geschrieben wurde. 47 In diesem Zusammenhang meint Harnack, gar eine „kleine schriftstellerische Inkorrektheit“ zu entdecken: Paulus schreibe in seinem zweiten Brief so (Ἵνα δὲ εἰδῆτε καὶ ὑμεῖς τὰ κατ’ ἐμέ), „als wisse die Gemeinde schon, daß er auch nach Kolossä geschrieben habe“. 48 Aus dieser Angabe, der gleichzeitigen Abfassung und dem angeordneten Briefaus‐ tausch, so Harnack, „legt sich die Annahme außerordentlich nahe, daß der sogenannte Epheserbrief eben der Laodiceerbrief ist.“ 49 Die allgemein situations‐ abstrakte Form dieses Briefes erklärt sich Harnack dadurch, dass Paulus - anders als bei den Kolossern, von wo Epaphras berichtet hatte - keine Informationen aus Laodicea erhalten hatte. 50 Harnack weist auch auf die früheste Erwähnung des Epheserbriefes in der marcionitischen Paulusbriefsammlung hin. 51 Aus diesen Gründen plädiert er energisch dafür, dass der Epheserbrief ursprünglich der Laodicenerbrief war. 52 c) Goulder Michael Goulder plädierte in seinem 1991 erschienenen Aufsatz ‚The Visionaries of Laodicea‘ auch für die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes. 53 Die Hauptaussage seines Aufsatzes ist, der Epheserbrief richte sich (z. B. in Eph 3,2ff.) gegen ‚Juden‐ christen‘, die visionäre Erlebnisse und einen enthaltsamen Lebensstil propagieren. 54 Daher sei anzunehmen, so Goulder, dass der Brief in einer konkreten Situation 64 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="65"?> 55 Vgl. S T A N L E Y E. P O R T E R / K E N T D. C L A R K E , Canonical-Critical Perspective and the Relati‐ onship of Colossians and Ephesians, Biblica 78/ 1 (1997), 57-86. 56 Vgl. z. B. B R E V A R D S . C H I L D S , Introduction to the Old Testament as Scripture, Philadelphia 1979; B R E V A R D S . C H I L D S , The New Testament as Canon: An Introduction, Valley Forge 1994; und auch J A M E S A. S A N D E R S , Canon and Community: A Guide to Canonical Criticism (GBS), Philadelphia 1984. 57 Vgl. P O R T E R / C L A R K E , Canonical-Critical Perspective, 77, dazu mehr im nachfolgenden Kapitel 3.2.3.b. 58 Vgl. P O R T E R / C L A R K E , Canonical-Critical Perspective, 78-81. Die Frage nach der Authenti‐ zität bzw. Pseudepigraphie beider Briefe lassen die Autoren offen. 59 P O R T E R / C L A R K E , Canonical-Critical Perspective, 70. Sie verabschieden sich nicht komplett von der historisch-kritischen Ebene, der ‚historische Paulus‘ ist allerdings nicht ihr ‚Untersuchungsobjekt‘. an eine einzelne Gemeinde gerichtet sei - worauf auch der paränetische Teil im 3. und 4. Kapitel des Briefes hinweise. Insgesamt hält Goulder daher nicht Ephesus, sondern Laodicea für die wahrscheinlichen Adressaten des Briefes (und setzt somit unausgesprochen die Echtheit des Briefes voraus). Doch führt er keine nähere Untersuchung der Adresse des Epheserbriefes durch, sondern zieht die Laodicener-Adresse nur als Hilfsargument für seine These heran. Daher kann dieser Ansatz keine belastbaren Argumente für unsere Frage liefern. d) Porter und Clarke Stanley E. Porter und Kent D. Clarke untersuchten in einem Aufsatz im Jahr 1997 das Verhältnis von Kolosser- und Epheserbrief unter dem Blickwinkel des ‚Cano‐ nical Approach‘. 55 Diese seit den 1970er Jahren vor allem in der alttestamentlichen Wissenschaft verbreitete Methode legt den Fokus auf die Gestalt des Kanons, und von dieser Perspektive aus werden die einzelnen Schriften betrachtet. 56 Der Beitrag von Porter/ Clarke ist bislang der einzige, der den ‚Canonical Approach‘ auf das Ver‐ hältnis von Epheser- und Kolosserbrief anwendet. Porter und Clarke untersuchen das literarische Verhältnis von Epheser- und Kolosserbrief und weisen auf offen‐ sichtlich vorhandene literarische Beziehungen zwischen beiden Briefen hin, die an den Übereinstimmungen in Aufbau, Inhalt und Wortwahl - besonders augenfällig in Kol 4,7-8 und Eph 6,21-22 - zu sehen ist. 57 Am Beispiel von Kol 1,20.22 und Eph 2,16 erörtern Porter und Clarke die Verwendung von ‚Versöhnungssprache‘ („reconciliation language“) - mit dem Ergebnis, dass an beiden Stellen Christus für die Versöhnung verantwortlich ist (anders als in 2Kor 5,18 und Röm 5,10, wo Gott diese Rolle zukommt). 58 Außerdem führen sie eine Unterscheidung zwischen dem „kanonischen“ und dem „historischen“ Paulus ein, wobei beim ‚Canonical Criticism‘ (anders als bei der historisch-kritischen Forschung) die kanonische Figur des Paulus als Objekt der Untersuchung hervortritt. 59 65 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="66"?> 60 Vgl. P O R T E R / C L A R K E , Canonical-Critical Perspective, 76-77. Damit stehen sie Harnacks Vorschlag sehr nahe, den sie jedoch nicht explizit erwähnen (vgl. zu Harnack Kap. 2.3.2.e). 61 Vgl. P O R T E R / C L A R K E , Canonical-Critical Perspective, 77. 62 Vgl. G Ü N T E R R Ö H S E R , Der Schluss als Schlüssel: Zu den Epistolaria des Kolosserbriefes, in: P. Müller (Hg.): Kolosser-Studien (BThSt 103), Neukirchen-Vluyn 2009,129-150. 63 R Ö H S E R , Schluss, 132. In diesem Kontext beschäftigten sie sich auch mit dem Präskript des Ephe‐ serbriefes und der Frage nach dessen ursprünglicher Form. Als die beiden plausibelsten Antwortmöglichkeiten führten sie zum einen die Möglichkeit auf, dass der Epheserbrief ein Rundbrief war, der an die Gemeinden in Kleinasien gerichtet war oder als Einleitung einer Paulusbriefsammlung diente, und zum anderen die Möglichkeit, der Epheserbrief sei der „mysteriöse“ Laodicenerbrief aus Kol 4,16 gewesen. Hieraus schlussfolgerten sie, dass den frühesten Hand‐ schriften im Präskript die Ortsangabe „in Ephesus“ fehlte und dieser Brief zudem in Marcions Schriftensammlung der Laodicenerbrief war. Sie plädierten für das Szenario, dass die in Offb 3,14-22 vorgetragene Kritik der Laodicener im Zusammenhang mit dem Streichen von deren Namen aus der Briefadresse steht. 60 Ephesus sei später eingefügt worden, vermutlich wegen der engen Beziehungen von Paulus zu dieser treu gebliebenen Kirche (Offb 2,1-7). Dies halten Porter und Clarke aufgrund der Evidenz in der Textüberlieferung für ein wahrscheinliches Modell, das zudem mit weniger versteckten Annahmen als andere Vorschläge auskomme. 61 Genau diese Verbindung von kanonischer Perspektive und historisch-kriti‐ scher Forschung ist der große Gewinn dieses Ansatzes - und besonders für die Beziehung zwischen Epheser- und Kolosserbrief höchst aufschlussreich. Denn auf diese Weise entsteht ein Bewusstsein dafür, dass die beiden Briefe zusammengehören - und folglich auch im Bezug aufeinander zu lesen und zu interpretieren sind. Der Ansatz von Porter und Clarke hat jedoch bislang auch keine große Verbreitung gefunden - wohl auch deshalb, weil weitere Argumente für die Priorität des Laodicenerbriefes nicht einbezogen wurden. e) Röhser Günter Röhser befasste sich in seiner Untersuchung zu den sog. Epistolaria des Kolosserbriefes besonders intensiv mit dem Verhältnis von Kolosser- und Epheserbrief und schlägt eine eigene Interpretation des Textbefundes vor. 62 Ihm ging es um die „möglicherweise fiktive Gesamtsituation“ 63 , die der Verfasser des Kol entwirft, bzw. um das Bild von den realen Abläufen und Umständen, das sich aus einer Zusammenschau der Epistolaria von Kol und Philemonbrief 66 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="67"?> 64 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 133. 65 R Ö H S E R , Schluss, 135. 66 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 135. 67 R Ö H S E R , Schluss, 136 (Anm. 13). 68 R Ö H S E R , Schluss, 144. 69 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 134. Zugleich ist jedoch auch festzustellen, dass bei einer ‚Fäl‐ schungsabsicht‘ gewisse Unterschiede erforderlich sind, um die Fiktion nicht leicht durchschaubar zu machen. 70 Tychikus als Autor des Epheserbriefes wurde vorgeschlagen von O U T I L E P P Ä , The Making of Colossians: A Study on the Formation and Purpose of a Deutero-Pauline Letter (SESJ 86), Helsinki/ Göttingen 2003, 263-264. 71 R Ö H S E R , Schluss, 145; vgl. D A H L , Einleitungsfragen, 57-59. 72 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 145. ergibt. Zuerst widmete er sich dem Verhältnis der beiden Briefe: Da Onesimus im Kolosserbrief nicht mehr wie im Philemonbrief als Sklave des Philemon er‐ scheint, sondern (wie im Philemonbrief gewünscht) als geschätzter Mitarbeiter des Paulus mit umfassendem Informationsauftrag, wolle der Kolosserbrief so gelesen werden, dass er später als der Philemonbrief entstanden sei. 64 Röhser machte deutlich, dass es sich aufgrund der wörtlichen Übereinstim‐ mungen zwischen Kol 4,7-8 und Eph 6,21-22 sowie der in beiden Briefen aufgezeigten Gefangenschaftssituation - zumindest bei diesen Stellen - um die „mündlich gezielt abgesprochene oder literarisch gezielt hergestellte Ein‐ zeichnung der beiden Briefe in denselben Entstehungshintergrund handelt.“ 65 Von daher ist mit der Entstehung der beiden Briefe in einem engen zeitlichen Zusammenhang zu rechnen. 66 Konkret formulierte er die These, dass es sich um ein „Gemeinschaftswerk zweier unmittelbarer Paulusschüler“ 67 handelt bzw. beide Briefe ein „gemeinschaftlich in Szene gesetztes Werk von Paulusmitar‐ beitern“ 68 sind. Zwei verschiedene Autoren hielt er wegen der (nicht näher ausgeführten) Differenzen zwischen beiden Briefen für notwendig, auch, weil beide Briefe mit jeweils verschiedener Zielsetzung verfasst worden seien. 69 Auch wenn sich Röhser mit einem konkreten Votum, um wen es sich handeln könnte, zurückhielt (und er Tychikus und Epaphras fast vollständig ausschließt) 70 - in einer Fußnote erwähnt er vorsichtig, dass N. A. Dahl „mit guten Gründen“ den „judenchristlichen Paulusmitarbeiter Jesus Justus (Kol 4,11) als Verfasser des Eph vorgeschlagen“ 71 habe. Den Entstehungshintergrund der beiden Briefe stellte sich Röhser folgendermaßen vor: Ein Kreis Missionare um bzw. nach Paulus brachte neue Briefe unter dem Namen des Paulus in Umlauf, um je nach lokalen Erfordernissen die Lehrautorität des Paulus zu bewahren und zu aktualisieren, und zwar mit dem Mittel, die neue Situation in die Zeit des Apostels zurückzuverlegen. 72 67 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="68"?> 73 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 135. 74 R Ö H S E R , Schluss, 135. 75 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 136. 76 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 146-147. Vgl. dazu auch M A R C O F R E N S C H K O W S K I , Pseudepigraphie und Paulusschule: Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe, in: F. W. Horn (Hg.): Das Ende des Paulus: Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin 2001, 265. 77 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 147. Röhser nimmt hierbei zum einen besonders Epaphras in den Blick, der im Kol besonders herausgehoben wird, da er für die Gemeinden im Lykostal Sorge getragen hat (Kol 4,12), und zum anderen Tychikus, der dies in der Zukunft tun soll und so zur „Schlüsselfigur und zum wichtigsten Träger von Paulustradition“ (Röhser, Schluss, 143) wird (Kol 4,7-8, Eph 6,21-22). 78 Vgl. R ÖH S E R , Schluss, 148.150. In diesem Zusammenhang sprach Röhser unter der Überschrift „Der Ephe‐ serbrief als ursprünglicher Laodicenerbrief “ auch die Frage an, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht. 73 Röhser liest Kol 4,16 als „Ankündigung eines weiteren ‚Paulusbriefes‘, der ebenfalls zu seinen Adressaten (der Gemeinde in Laodicea) unterwegs oder bereits angekommen ist. Damit kann nach Lage der Dinge nur der spätere Epheserbrief gemeint sein, der wahrscheinlich ursprünglich einmal den Namen der Laodicener in der Adresse getragen hat und somit in direktem zeitlichen Zusammenhang mit dem Kol und in engstem Kontakt zu dessen Verfasser entstanden wäre (was durch das nahezu identische Textstück signalisiert werden sollte; die Erwähnung des Kolossers Onesimus [Kol 4,9] musste dabei im Laodicenerbrief naturgemäß entfallen).“ 74 So enthalte der (jetzige) Epheserbrief zwei epistolare Reflexe auf den Kolos‐ serbrief: Vor der Einführung des Tychikus in Eph 6,21 ist die Formulierung „damit auch ihr wisst“ hinzugesetzt (womit das Ziel der Sendung des Tychikus zu den Kolossern auch für die Laodicener reklamiert wird), und in Eph 3,3 erwähnt ‚Paulus‘, dass er über die Offenbarung des ‚Geheimnisses‘ schon vorher geschrieben habe (was sich dann nur auf den Kol beziehen kann). 75 Um eine Entlarvung der Fiktion zu verhindern, sei es wichtig gewesen, auf die Glaub‐ würdigkeit der Epistolaria zu achten. 76 Also hätten nachprüfbare Informationen, wie die Existenz des Laodicenerbriefes oder die Richtigkeit der Angaben der im Kolosserbrief genannten Personen (Epaphras tatsächlich als Missionar im Lykostal, Archippus und Onesimus wohnhaft in Kolossae), stimmen müssen. 77 Folglich meint Röhser, der Kolosserbrief sei zeitlich kurz nach dem Tod des Paulus geschrieben worden - denn sonst hätte die Fiktion nicht tragfähig sein können. 78 In diesem Zusammenhang betonte Röhser auch noch einmal, dass er den Brief nicht für literarisch-fiktiv, sondern für tatsächlich nach Kolossae 68 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="69"?> 79 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 147.150. 80 Vgl. R Ö H S E R , Schluss, 144. gerichtet hält. 79 Damit stellte Röhser ein höchst gedankenreiches Konzept vor, das - wie er auch selbst betont - nicht von allgemeinen Überlegungen zur Autorschaft in der Antike, sondern von den unmittelbaren Beobachtungen am Text ausgeht, 80 die auch für die nachfolgenden Überlegungen von großem Nutzen sind. In den für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit relevanten methodischen Prämissen deckt sich Röhsers Ansatz mit dem zuvor vorgestellten ‚Canonical Approach‘ von Porter und Clarke. Mit der Darstellung von Röhsers Identifizierung des Briefes ἐκ Λαοδικείας mit dem Brief, der uns als Epheserbrief bekannt ist, ist der Blick in die Forschungsgeschichte zu dem in Kol 4,16 genannten Brief abgeschlossen. Nun folgt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse, bevor im Anschluss speziell die literarische und die historisch-kritische Ebene der Frage nach dem Laodicenerbrief untersucht werden. f) Zusammenfassung und Fazit der Forschungsgeschichte zum Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 Wenn man nun auf die verschiedenen Vorschläge zurückblickt, dann drängt sich eine plausible Antwort auf die Frage nach dem in Kol 4,16 genannten Brief auf: Der Brief ἐκ Λαοδικείας ist der Epheserbrief. Schon Anger und Lightfoot sahen, dass alle anderen Identifikationsversuche des Briefes zu höchst unbefrie‐ digenden Ergebnissen führen; Anger und Harnack wiesen auf die gleiche Abfas‐ sungssituation der beiden Briefe an die nah beieinander gelegenen Gemeinden in Laodicea und Kolossae hin und plädierten dafür, dass der Laodicenerbrief kurz nach dem Kolosserbrief verfasst wurde. Goulder sprach sich, von der Beobachtung ausgehend, dass der Brief an eine einzelne Gemeinde, jedoch nicht nach Ephesus, gesandt ist, für die Ursprünglichkeit der Laodiceneradresse aus. Mit der Methode des ‚Canonical Approach‘ arbeiteten Porter und Clarke heraus, dass Kol und Laod/ Eph in enger literarischer Beziehung zueinander stehen und ein stimmiges Gesamtbild entstehe, wenn der Epheserbrief mit dem in Kol 4,16 genannten Brief identifiziert wird. In seiner Untersuchung der Epistolaria des Kolosserbriefes hielt auch Röhser fest, dass Kol 4,16 als Ankündigung eines weiteren Paulusbriefes zu lesen ist, der nach Laodicea unterwegs oder dort bereits angekommen ist - was nur der später als Epheserbrief bekannte Brief sein könne, der in direktem zeitlichen und personellen Zusammenhang zum Kolosserbrief entstanden sei. Als wichtige Argumente hierfür führt er neben der wörtlichen Übereinstimmung von Kol 4,7-8 und Eph 6,21-22 auch die zwei 69 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="70"?> 81 U M B E R T O E C O , Lector in fabula: Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten (dtv Sachbuch 4531), München 3 1998. im Eph zu findenden Bezugnahmen auf den Kol an (Eph 3,3; 6,21) sowie das übereinstimmende Auftreten des Paulusmitarbeiters Tychikus in beiden Briefen. Diese von Kol 4,16 ausgehenden Argumente - die in sehr verschiedenen Kontexten vorgetragen wurden - sprechen stark für die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes. Wenn man außerdem bedenkt, dass die Alternativen wären, einen verloren gegangenen Brief anzunehmen oder die Frage insgesamt als unbeantwortbar zu definieren, dann ist diese Rekonstruktion zweifelsohne eine ernstzunehmende Lösung. Da Doch die Erörterung der Frage nach dem Brief ἐκ Λαοδικείας muss auch den weiteren Inhalt beider Briefe berücksichtigen. Daher wird nun gefragt, ob ein plausibles Gesamtbild entsteht, wenn die Kolosser aufgefordert werden, sich den Brief aus Laodicea zu besorgen, und die Kolosser ihren Brief den Laodicenern zugänglich machen sollen. 3.2.2 Das Verhältnis von Kolosser- und Laodicener/ -Epheserbrief auf der literarischen Ebene Mit dem von Porter und Clarke in die Diskussion um den Kolosser- und Epheserbrief eingebrachten ‚Canonical Approach‘ wird nicht vorrangig nach der Entstehungssituation der einzelnen Briefe gefragt, sondern der Text - in unserem Fall die beiden genannten Briefe - wird zunächst in seiner litera‐ rischen Gesamtgestalt wahrgenommen. Die Textgrundlage für die folgende Anwendung dieses Ansatzes ist die früheste Sammlung von Paulusbriefen - nämlich die bei Marcion bezeugte 10-Briefe-Sammlung, in der der Brief, den wir als Epheserbrief kennen, der Laodicenerbrief ist. Anders ausgedrückt: Wir begeben uns in die Perspektive eines Modell-Lesers der 10-Briefe-Sammlung. Umberto Eco, auf den der Begriff des Modell-Lesers zurückgeht, definiert ihn wie folgt: „Der Modell-Leser ist ein Zusammenspiel glücklicher Bedingungen, die im Text fest‐ gelegt worden sind und die zufriedenstellend sein müssen, damit ein Text vollkommen in seinem möglichen Inhalt aktualisiert werden kann.“ 81 Diese Theorie hat beispielsweise Zbyněk Garský in seiner erzähltheoretischen Untersuchung des Wirkens Jesu im Johannesevangelium bereits in die neu‐ testamentliche Wissenschaft transferiert: Er plädiert für eine „intertextuelle Lektüre“, bei der sich „der Modell-Leser […] über einen semantischen Mehrwert 70 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="71"?> 82 Vgl. Z B Y N Ě K G A R S K Ý , Das Wirken Jesu in Galiläa bei Johannes: Eine strukturale Analyse der Intertextualität des vierten Evangeliums mit den Synoptikern (WUNT II 325), Tübingen 2012, 297. 83 Tertullian thematisiert in seinem ‚chronologischen‘ Durchgang (Gal zuerst, Röm nach den beiden Korintherbriefen) den Laodicenerbrief in Adv. Marc. 5, Kap. 17-18 und dann darauf den Kolosserbrief in Adv. Marc. 5, Kap. 19. Zur Schwierigkeit der etwas wirren Angaben zur Reihenfolge des Epiphanius vgl. Kap. 2.2.1. Vgl. insgesamt zur Reihenfolge der Paulusbriefe in der 10-Briefe-Sammlung A L E X A N D E R G O L D M A N N , Über die Textgeschichte des Römerbriefs: Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund (TANZ 63), Tübingen 2020, 25; zusammenfassend auch U. S C H M I D , Marcion, 286. freuen kann“ 82 . In unserem Fall ist der Modell-Leser ein Leser, der die 10-Pau‐ lusbriefe-Sammlung intensiv liest und die Angaben in beiden Briefen zu einem Gesamtbild zusammenfügt. a) Kol 4,16 als Verweis auf den Laodicenerbrief der 10-Paulusbriefe-Sammlung Der Schlüssel zur Verbindung der beiden Briefe an die Kolosser und Laodicener ist die in Kol 4,16 festgehaltene Aufforderung zum Briefaustausch („dass ihr auch den von Laodicea lest“). Wer nun die 10-Paulusbriefsammlung von vorn nach hinten durchliest, findet den Laodicenerbrief vor dem Kolosserbrief. 83 Daher kann ein Leser den in Kol 4,16 angesprochenen Brief schnell und sicher mit dem Brief identifizieren, den er in seiner Paulusbriefsammlung kurz zuvor gelesen hat, nämlich den an die Laodicener. Für den Leser wird folglich klar, dass die Kolosser sich genau diesen Brief besorgen sollten und außerdem aufgefordert wurden, den an sie adressierten Brief den Laodicenern zur Verfügung zu stellen. Im Rahmen der 10-Paulusbriefe-Sammlung ist Kol 4,16 ein eindeutiger Verweis. b) zeitliches Verhältnis Auf dem Weg der Überprüfung, ob ein plausibles Gesamtbild entsteht, wenn Laod/ Eph und Kol als aufeinander bezogen gelesen werden, ist nun das zeitliche Verhältnis zwischen den beiden Briefen zu untersuchen. Passt es zusammen, dass ‚Paulus‘ zum gegenseitigen Austausch der Briefe auffordert? Zum einen erkennt der Leser: Sowohl Kol als auch Laod/ Eph wurden von Paulus geschrieben, als er in Gefangenschaft war. In beiden Briefen finden sich jeweils drei Textstellen, in denen das ersichtlich wird: Kol 4,3: Betet auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffnet für das Wort und wir das Geheimnis Christi predigen können, für das ich im Gefängnis bin. Kol 4,10: Es grüßt euch Aristarch, der mit mir im Gefängnis ist, und Markus, der Vetter des Barnabas. 71 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="72"?> 84 Kol 4,3: προσευχόμενοι ἅμα καὶ περὶ ἡμῶν, ἵνα ὁ θεὸς ἀνοίξῃ ἡμῖν θύραν τοῦ λόγου λαλῆσαι τὸ μυστήριον τοῦ Χριστοῦ, δι’ ὃ καὶ δέδεμαι. Kol 4,10: Ἀσπάζεται ὑμᾶς Ἀρίσταρχος ὁ συναιχμάλωτός μου καὶ Μᾶρκος ὁ ἀνεψιὸς Βαρναβᾶ. Kol 4,18: Ὁ ἀσπασμὸς τῇ ἐμῇ χειρὶ Παύλου. μνημονεύετέ μου τῶν δεσμῶν. Eph 3,1: Τούτου χάριν ἐγὼ Παῦλος ὁ δέσμιος τοῦ Χριστοῦ Ἰησοῦ ὑπὲρ ὑμῶν τῶν ἐθνῶν. Eph 4,1: Παρακαλῶ οὖν ὑμᾶς ἐγὼ ὁ δέσμιος ἐν κυρίῳ ἀξίως περιπατῆσαι τῆς κλήσεως ἧς ἐκλήθητε. Eph 6,19-20: καὶ ὑπὲρ ἐμοῦ, ἵνα μοι δοθῇ λόγος ἐν ἀνοίξει τοῦ στόματός μου, ἐν παρρησίᾳ γνωρίσαι τὸ μυστήριον τοῦ εὐαγγελίου, (20) ὑπὲρ οὗ πρεσβεύω ἐν ἁλύσει. 85 Vgl. N A T H A N A E L L Ü K E , Über die narrative Kohärenz zwischen Apostelgeschichte und Paulusbriefen (TANZ 62), Tübingen 2019, 210, der deutlich macht, dass erst die Historiographie der Apostelgeschichte von zwei Gefangenschaften des Paulus spricht, wobei Kol und Laod/ Eph dann am besten in die Gefangenschaft in Rom (Apg 18,16-31) zu situieren sind. So auch M U D D I M A N , Ephesians, 21. 86 Kol 4,7-8: Τὰ κατ’ ἐμὲ πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τύχικος ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς καὶ πιστὸς διάκονος καὶ σύνδουλος ἐν κυρίῳ, (8) ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς εἰς αὐτὸ τοῦτο, ἵνα γνῶτε τὰ περὶ ἡμῶν καὶ παρακαλέσῃ τὰς καρδίας ὑμῶν. 87 Eph 6,21-22: Ἵνα δὲ εἰδῆτε καὶ ὑμεῖς τὰ κατ’ ἐμέ, τί πράσσω, πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τύχικος ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς καὶ πιστὸς διάκονος ἐν κυρίῳ, (22) ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς εἰς αὐτὸ τοῦτο, ἵνα γνῶτε τὰ περὶ ἡμῶν καὶ παρακαλέσῃ τὰς καρδίας ὑμῶν. Kol 4,18: Den Gruß schreibe ich, Paulus, eigenhändig. Denkt an meine Fesseln! Die Gnade sei mit euch! Eph 3,1: Deshalb sage ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch Heiden […]. Eph 4,1: Ich, der ich um des Herrn willen im Gefängnis bin, ermahne euch, ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging. Eph 6,19-20: Betet auch für mich: dass Gott mir das rechte Wort schenkt, wenn es darauf ankommt, mit Freimut das Geheimnis des Evangeliums zu verkünden, (20) als dessen Gesandter ich im Gefängnis bin. 84 Durch die wiederholte Nennung der Gefangenschaft des Paulus kann dieser Um‐ stand der Absendung des Briefes keinem entgehen. Da in der 10-Briefe-Samm‐ lung nur von einer Gefangenschaft die Rede ist, kann der Leser davon ausgehen, dass beide Briefe (etwa) zur gleichen Zeit verfasst wurden. 85 Doch lassen sich zum zeitlichen Verhältnis beider Briefe noch weitere Aussagen machen, wenn man genauer auf die (bereits mehrmals angesprochenen) Textstellen in Kol 4,7-8 und Eph 6,21-22 blickt: Kol 4,7-8: Was mich betrifft, wird euch Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener und Mitknecht im Herrn, alles berichten. (8) Ihn habe ich eigens zu euch gesandt, damit ihr alles über uns erfahrt und er eure Herzen ermutige. 86 Eph 6,21-22: Damit auch ihr erfahrt, wie es mir geht und was ich tue, wird euch Tychikus, der geliebte Bruder und treue Diener im Herrn, alles berichten. (22) Ihn habe ich eigens zu euch gesandt, damit ihr alles über uns erfahrt und er eure Herzen ermutige. 87 72 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="73"?> 88 Vgl. B L A S S / D E B R U N N E R / R E H K O P F , Grammatik, 273: „Der Aorist kann in Briefen statt des Präsens gewählt werden, wenn der Schreibende sich in die Zeit versetzt, in der der Empfänger das Schreiben liest: Phlm 12 | ὃν (Onesimus) ἀνέπεμψά σοι | den ich Dir [mit diesem Brief] zurückschicke.“ Vgl. dazu auch die zugehörige Fußnote (ebd.): „So ἔπεμψα noch Apg 23,30 Eph 6,22 Phil 2,28 Kol 4,8.“ 89 So auch P E R C Y , Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, 450. 90 Siehe die Karte Kleinasiens im Anhang (Abb. A. 10). Vgl. zu weiteren Informationen zur Geschichte und Geographie beider Städte z. B. P A U L R. T R E B I L C O , Christians in the Lycus Valley: The view from Ephesus and from Western Asia Minor, in: A. H. Cadwallader/ M. Trainor (Hg.): Colossae in Space and Time: Linking to an Ancient City (NTOA/ StUNT 94), Göttingen 2011, 180-181 oder U L R I C H H U T T N E R , Early Christianity in the Lycus Valley (AGJU 85), Leiden/ Boston 2013, bes. 13-15. In beiden Briefen sendet Paulus Tychikus zu den Adressaten, damit dieser ihnen weitere Informationen zukommen lässt. Sogar die verwendeten Worte sind nahezu gleich (siehe dazu die Synopse im nachfolgenden Kapitel). Zudem wird in beiden Fällen der sog. Aorist des Briefstils verwendet (Τύχικος […] ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς), der anzeigt, dass Tychikus gleichzeitig mit diesem Brief gesendet wird, er also der Überbringer des Briefes ist. 88 Der Modell-Leser kann nun daraus schlussfolgern, dass beide Briefe zur gleichen Zeit verfasst wurden. 89 Da Kolossae und Laodicea beide im Lykostal und nur 18 km voneinander entfernt liegen, ist es für einen kundigen Modell-Leser naheliegend, dass die beiden Briefe auf einer Reise ausgeliefert werden. 90 Da als Zugangsweg zu den beiden Städten primär der Weg von der Küste aus das Lykostal hinauf in Frage kommt (die Route über das kleinasiatische Hinterland wäre sehr abwegig), kann für die beiden Briefe sogar die Reihenfolge der Auslieferung in den Blick genommen werden: Tychikus erreicht zuerst das weiter flussabwärts gelegene Laodicea, anschließend kommt er in Kolossae an. c) Die Absendesituation von Kolosser- und Laodicenerbrief Durch den beschriebenen literarischen Ansatz wurde deutlich, dass Kol 4,16 sich sehr gut als Verweis auf den in der gleichen Paulusbriefsammlung enthaltenen Laodicenerbrief lesen lässt. Ein Modell-Leser kann sogar genaue Informationen zum zeitlichen Verhältnis von Laodicener- und Kolosserbrief extrahieren: Beide Briefe wurden von Paulus etwa zur gleichen Zeit verfasst, nämlich in der Gefangenschaft des Paulus. Tychikus hat sie auf einer Reise den Adressaten überbracht, dabei erreichte er zuerst die Gemeinde in Laodicea und dann die in Kolossae. Eine Kombination dieser Resultate mit weiteren Angaben im Brief lässt es zu, ein Gesamtszenario zu entwerfen, wie sich ein Modell-Leser der 10-Paulusbriefe-Sammlung die Absendesituation der beiden Briefe vorstellen könnte: 73 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="74"?> 91 Kol 2,1: Θέλω γὰρ ὑμᾶς εἰδέναι ἡλίκον ἀγῶνα ἔχω ὑπὲρ ὑμῶν καὶ τῶν ἐν Λαοδικείᾳ καὶ ὅσοι οὐχ ἑόρακαν τὸ πρόσωπόν μου ἐν σαρκί. | „Ich will euch nämlich wissen lassen, was für einen schweren Kampf ich für euch und die Gläubigen in Laodizea zu bestehen habe, auch für alle anderen, die mich von Angesicht nie gesehen haben.“ Kol 4,12-13: ἀσπάζεται ὑμᾶς Ἐπαφρᾶς ὁ ἐξ ὑμῶν, δοῦλος Χριστοῦ [Ἰησοῦ], πάντοτε ἀγωνιζόμενος ὑπὲρ ὑμῶν ἐν ταῖς προσευχαῖς, ἵνα σταθῆτε τέλειοι καὶ πεπληροφορημένοι ἐν παντὶ θελήματι τοῦ θεοῦ. (13) μαρτυρῶ γὰρ αὐτῷ ὅτι ἔχει πολὺν πόνον ὑπὲρ ὑμῶν καὶ τῶν ἐν Λαοδικείᾳ καὶ τῶν ἐν Ἱεραπόλει. | „Es grüßt euch Epaphras, der Knecht Christi Jesu, einer von euch. Immer kämpft er für euch im Gebet, dass ihr vollkommen werdet und ganz durchdrungen seid vom Willen Gottes. (13) Ich bezeuge ihm, dass er sich große Mühe gibt um euch und um die Gläubigen in Laodizea und Hierapolis.“ 92 Dies ist meines Erachtens eine wesentlich einfachere Lösung als die von van Kooten, der davon ausgeht, die Erwähnung des Laodicenerbriefes in Kol 4,16 sei rein fiktiv und der Laodicener-/ Epheserbrief wäre erst später ausgehend von dieser Stelle geschrieben worden; vgl. V A N K O O T E N , Cosmic Christology, 195-201. 93 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 698: „So nahe aber denkt Paulus die beiden Gemeinden, die er hier im Sinne hat, zusammen, daß er eine kleine schriftstellerische Inkorrektheit begeht: er schreibt im 2. Briefe in seiner Lebhaftigkeit so, als wisse die Gemeinde schon, daß er nach Kolossä geschrieben habe.“ Paulus schreibt einen Brief an die Kolosser - diese Gemeinde hatte er zwar nie besucht (Kol 2,1), doch kannte er offensichtlich einige Personen von dort, wie beispielsweise Epaphras (Kol 4,12). 91 In diesem Brief erwähnt er auch die Gemeinde in Laodicea und Hierapolis (Kol 4,13). In dem Zusammenhang kommt ihm der Gedanke, auch einen Brief an die Laodicener zu schreiben. Also setzt er gegen Ende des Briefes an die Kolosser noch hinzu: „Lest auch ihr den aus Laodicea“ (Kol 4,16). Anschließend schreibt er den Brief an die ihm unbekannte Gemeinde in Laodicea (daher dort auch der relativ anonyme Brief). 92 Da Paulus in Gefangenschaft ist, plant er, beide Briefe dem Tychikus mitzugeben, der sie auf einer Route zu den Gemeinden bringen soll. Da alles dafürspricht, dass Tychikus die beiden Gemeinden im Lykostal von der Küste aus bereisen wird, wird er zuerst in Laodicea ankommen und erst anschließend die kurze Strecke nach Kolossae weitergehen. Daher kann Paulus nun in den Laodicenerbrief noch nicht schreiben, dass sie sich den Brief aus Kolossae besorgen sollen - denn diese werden „ihren“ Brief ja erst im Anschluss erhalten. Als Paulus dann den Satz über den Briefüberbringer schreibt, übernimmt er diesen aus dem Kolosserbrief - wovon abzuleiten ist, dass Tychikus die Briefe den Gemeinden auf einer Reise bringen wird. Auch die vielen anderen Übereinstimmungen zwischen den beiden Briefen sind durch die Abfassung in großer zeitlicher Nähe zu erklären. Zudem verrät Paulus - wie bereits Harnack festgestellt hat - durch die Hinzufügung von „damit auch ihr wisst“ in Laod/ Eph 6,21, dass er den Kol kurz zuvor geschrieben hat. 93 74 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="75"?> 94 Laod/ Eph 3,1: τούτου χάριν ἐγὼ Παῦλος ὁ δέσμιος τοῦ Χριστοῦ Ἰησοῦ ὑπὲρ ὑμῶν τῶν ἐθνῶν. Kol 1,23: τοῦ κηρυχθέντος ἐν πάσῃ κτίσει τῇ ὑπὸ τὸν οὐρανόν, οὗ ἐγενόμην ἐγὼ Παῦλος διάκονος. Kol 4,18: Ὁ ἀσπασμὸς τῇ ἐμῇ χειρὶ Παύλου. μνημονεύετέ μου τῶν δεσμῶν. ἡ χάρις μεθ’ ὑμῶν. 95 Vgl. E R N S T T H E O D O R M A Y E R H O F F , Der Brief an die Colosser mit vornehmlicher Berück‐ sichtigung der drei Pastoralbriefe kritisch geprüft, Berlin 1838, besonders 1-41 sowie F E R D I N A N D C H R I S T I A N B A U R , Paulus, der Apostel Jesu Christi: Bd. II, Leipzig 2 1838, 3-49. Vgl. zur Forschungsgeschichte P E R C Y , Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, 5-6. Sicherlich ist dies ein hypothetisches Szenario, und gewiss können andere Leserperspektiven auch anders aussehen. Doch für einen Leser der 10-Paulus‐ briefe-Sammlung stellt sich die Aufgabe, aus den Informationen der Briefe eine plausible Gesamtsituation zu rekonstruieren - und dies ist alles andere als unmöglich, wie soeben gezeigt wurde. 3.2.3 Historisch-kritische Perspektive a) Kol und Laod/ Eph - von Paulus oder pseudepigraph? Im Anschluss an die Darstellung der Leserperspektive ist es nun notwendig, sich einer historisch-kritischen Analyse zuzuwenden und deren Überlegungen ins Spiel zu bringen. Eine systematische Betrachtung des Verhältnisses von Kolosser- und Epheserbrief ist auch deshalb nötig, weil die Befürworter der These, der in Kol 4,16 genannte Brief sei der Epheserbrief, ihre Argumentationen von verschiedenen Ausgangspunkten aus und zudem ziemlich isoliert vortrugen (beispielsweise wurde Harnacks Vorschlag von keinem der späteren Forscher konkret diskutiert). Ein erstes Untersuchungsfeld dabei ist die Autorschaft der Briefe an die Kolosser und die Laodicener/ Epheser. Beide Briefe geben vor, von Paulus geschrieben worden zu sein: Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ - so beginnt sowohl der Laod/ Eph als auch der Kol. Und auch an anderen Stellen der Briefe wird Paulus als Verfasser dargestellt: Laod/ Eph 3,1: Deshalb (bete) ich, Paulus, für euch, die Heiden. Euch kommt es zugute, dass ich der Gefangene Christi Jesu bin. Kol 1,23: In der ganzen Schöpfung unter dem Himmel wurde das Evangelium verkündet; ihr habt es gehört, und ich, Paulus, diene ihm. Kol 4,18: Den Gruß schreibe ich, Paulus, eigenhändig. Denkt an meine Fesseln! Die Gnade sei mit euch! 94 Nun haben historisch-kritische Leser des Neuen Testaments seit dem 19. Jahr‐ hundert die paulinische Verfasserschaft beider Briefe in Zweifel gezogen. 95 So 75 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="76"?> 96 Vgl. z. B. G E R H A R D S E L L I N , Vom Kolosserzum Epheserbrief, in: P. Müller (Hg.): Ko‐ losser-Studien (BThSt 103), Neukirchen-Vluyn 2009, 160; L E P P Ä , Making of Colossians, 9-15; N I C O L E F R A N K , Der Kolosserbrief im Kontext des paulinischen Erbes: Eine inter‐ textuelle Studie zur Auslegung und Fortschreibung der Paulustradition (WUNT II 271), Tübingen 2009, 26-31; R U B E N Z I M M E R M A N N , Lügen für die Wahrheit? : Das Phänomen urchristlicher Pseudepigrafie am Beispiel des Kolosserbriefs, in: O. Hochadel/ U. Kocher (Hg.): Lügen und Betrügen: Das Falsche in der Geschichte von der Antike bis zur Moderne, Köln/ Weimar/ Wien 2000, 262-265. Siehe zusammenfassend und mit Verweis auf weitere Literatur auch T H E O B A L D , Kolosserbrief, 415; U D O S C H N E L L E , Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 9 2017, 362-363. 97 W A L T E R B U J A R D , Stilanalytische Untersuchungen zum Kolosserbrief als Beitrag zur Methodik von Sprachvergleichen (StUNT 11), Göttingen 1973, 75. 98 Vgl. Z I M M E R M A N N , Lügen für die Wahrheit, 264. 99 Vgl. H A N S K L E I N , Entwicklungslinien im Corpus Paulinum und weitere Studien zu Paulustexten (FRLANT 265), Göttingen 2016, 191. 100 So favorisiert U. Luz Timotheus als Verfasser des Briefes (vgl. U L R I C H L U Z , Der Brief an die Kolosser, in: U. Luz/ J. Becker (Hg.): Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser (NTD 8/ 1), Göttingen 1998, 190). Andere Plädoyers für eine paulinische Autorschaft finden sich bei P E R C Y , Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, 16-66; M A R K U S B A R T H / H E L M U T B L A N K E , Colossians: A New Translation with Introduction and Commentary (AB 34B), New Haven 1994, 114-126 und F R E D E R I C K F. B R U C E , The Epistles to the Colossians, to Philemon and to the Ephesians (NICNT), Grand Rapids 1984, 28-33. wird der Kolosserbrief - um mit diesem zu beginnen - in der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft mehrheitlich für pseudepigraph gehalten: Als wichtigstes Argument dafür wird immer wieder genannt, dass sich der Schreibstil des Kol von dem der echten Paulusbriefe deutlich unterscheide. 96 Walter Bujard, von dem eine der ausführlichsten Untersuchungen zu dieser Thematik stammt, spricht von einem „locker anknüpfenden Stil“ des Kol, der eine bei Paulus nicht vorzufindende Anhäufung von Relativsätzen und Partizi‐ pialkonstruktionen aufweist. 97 Hinzu kommen auch Unterschiede in theologi‐ schen Vorstellungen, die auf eine spätere Abfassung hindeuten: So entwirft der Verfasser eine ‚kosmische Christologie‘, nach der Christus als Erstgeborener und „Haupt“ über alles Geschaffene herrscht (Kol 2,10) - ein Aspekt, der zwar an einzelne paulinische Aussagen anknüpfen kann (z. B. 1Kor 8,6), aber bei weitem noch nicht so räumlich und ekklesiologisch entwickelt ist. 98 Ein weiteres Argument gegen die paulinische Verfasserschaft des Kol ist, dass bereits eine Art Rückblick auf das Wirken des Paulus vorliegt: Indem das Leiden des Paulus mit dem Leiden Jesu parallelisiert wird, wird die Bedeutung seines Apostolats für die gesamte Kirche stark herausgestellt (Kol 1,24). 99 Nichtsdestoweniger gibt es Exegeten, die sich für die Echtheit des Kolosserbriefes aussprechen - indem beispielsweise in Erwägung gezogen wird, dass der Brief von einem Mitarbeiter des Paulus verfasst wurde. 100 Doch die Gesamtheit der Argumente 76 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="77"?> 101 Vgl. G N I L K A , Epheserbrief, 16-18; S E L L I N , Epheser, 54-57; E R N E S T B E S T , A Critical and Exegetical Commentary on Ephesians (ICC), Edinburgh 1998, 6-36; S C H N A C K E N B U R G , Epheser, 20-26; vgl. zu weiterer Literatur S I G U R D G R I N D H E I M , A Deutero-Pauline Mys‐ tery? Ecclesiology in Colossians and Ephesians, in: S. E. Porter/ G. P. Fewster (Hg.): Paul and Pseudepigraphy (Pauline studies 8), Leiden 2013, 174 und T H E O B A L D , Epheserbrief, 416-417. 102 Vgl. T H E O B A L D , Epheserbrief, 417. 103 Vgl. z. B. P E R C Y , Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, zusammenfassend 443-448; V A N R O O N , Authenticity, zusammenfassend 438-440; vgl. zu weiteren Autoren, die für die Echtheit plädieren, G R I N D H E I M , Deutero-Pauline Mystery, 185. 104 Vgl. so zum Beispiel die klassische Argumentation für die paulinische Autorschaft von A D O L F D E I S S M A N N , Licht vom Osten: Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 1908, 165: „Der inhaltliche und formale Kontrast, den man zwischen Kolossernebst „Epheser“(Laodizener)-Brief und anderen Paulusbriefen gesehen hat, erklärt sich ebenfalls aus der brieflichen Situation: Paulus schreibt an Gemeinden, die ihm persönlich noch nicht bekannt sind, und was in den beiden Briefen epistolisch klingt, sollte man tatsächlich als ihren reserviert unpersönlichen Ton bezeichnen. Der größte Stein des Anstoßes ist immer die inhaltliche Verwandtschaft beider Texte gewesen. Ich begreife nun zwar nicht, weshalb Paulus nicht auch in einer Epistel wiederholen könnte, was er in einer anderen auch schon gesagt hätte; aber jedes Befremden hört auf, wenn man sieht, daß hier ein Missionar in derselben Situation gleichzeitig an zwei verschiedene Gemeinden, um die er wirbt, Briefe schickt, wesentlich dieselben Fragen beiden gegenüber in ähnlicher Weise behandelt.“ deutet in die Richtung, dass der Kolosserbrief nicht von Paulus ist. Da jedoch auch nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass der Kolosserbrief paulinisch ist, wird dies auch in die folgenden theoretischen Überlegungen zu Kol 4,16 einbezogen. Für den Epheserbrief stellt sich die Situation grundsätzlich ähnlich dar: Die Sprache wirkt durch die vielen relativischen Satzanschlüsse (Eph 1,3-14 ist ein einziger Satz) unpaulinisch, es liegt eine weiterentwickelte Christologie vor (die Kirche ist der Leib Christi, Eph 1,22-23) und „Apostel und Propheten“ gelten bereits als das Fundament der Gemeinde (Eph 2,20). 101 Hinzu kommt eine Ämter-Theologie (Eph 4,7-16), die in eine nachapostolische Zeit zu gehören scheint. 102 Daher gibt es insgesamt deutlich weniger Stimmen, die den Epheser‐ brief für einen echten Paulusbrief halten, als dies beim Kolosserbrief der Fall ist. 103 Es spricht also auch im Falle des Epheserbriefes sehr vieles dafür, dass dieser Brief nicht von Paulus stammt. Jedoch kann auch hier - wie es histori‐ schen Rekonstruktionen im Allgemeinen inhärent ist - kein für alle Zeiten sicheres, abschließendes Urteil gefällt werden. 104 Dies ist die Ausgangslage für die folgenden historisch-kritischen Überlegungen zum Verhältnis beider Briefe. 77 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="78"?> 105 Vgl. die detaillierte Nebeneinanderstellung bei S E L L I N , Vom Kolosserzum Epheserbrief, 156-157. 106 Vgl. z. B. P E R C Y , Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, 361: „Ein unmittelbarer literarischer Zusammenhang zwischen beiden Briefen ist somit ganz offensichtlich.“ 107 Vgl. zur methodischen Reflexion der Frage nach Intertextualität und literarischer Abhängigkeit: A N N E T T E M E R Z , Die fiktive Selbstauslegung des Paulus: Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (NTOA 52), Göttingen 2004, 87-113 und L E P P Ä , Making of Colossians, 25-58. b) Literarische Abhängigkeit Angesichts der Unklarheiten zur Autorschaft ist auf eine Thematik noch einmal besonders hinzuweisen: die literarische Abhängigkeit beider Briefe. Entspre‐ chungen zwischen beiden Briefen finden sich neben dem Präskript (Kol 1,1-2; Eph 1,1-2) und der Paränese mit der sog. ‚Haustafel‘ (Kol 3,18-4,1; Eph 5,21-6,9) besonders deutlich in der sog. ‚Tychikus-Notiz‘ in Kol 4,7-8 und Eph 6,21-22: 105 Kol 4,7-8 Eph 6,21-22 Ἵνα δὲ εἰδῆτε καὶ ὑμεῖς Τὰ κατ’ ἐμὲ τὰ κατ’ ἐμέ τί πράσσω πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τύχικος ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς καὶ πιστὸς διάκονος πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τύχικος ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς καὶ πιστὸς διάκονος καὶ σύνδουλος ἐν κυρίῳ ἐν κυρίῳ (8)ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς εἰς αὐτὸ τοῦτο, ἵνα γνῶτε τὰ περὶ ἡμῶν καὶ παρακαλέσῃ τὰς καρδίας ὑμῶν. (22)ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς εἰς αὐτὸ τοῦτο, ἵνα γνῶτε τὰ περὶ ἡμῶν καὶ παρακαλέσῃ τὰς καρδίας ὑμῶν. Die überaus großen wörtlichen Übereinstimmungen zwischen beiden Sätzen lassen sich nur so erklären, dass 1) beide Briefe von einem Autor stammen oder 2) der Autor des später geschriebenen Briefes den anderen Brief vorliegen hatte (theoretisch ist natürlich auch denkbar, dass beide Sätze auf eine gemeinsame ‚Vorlage‘ zurückgehen, was an dieser Stelle jedoch nicht naheliegend erscheint und deutlich mehr Schwierigkeiten schaffen als lösen würde). 106 Die Analyse der Richtung der literarischen Abhängigkeit ist dabei prinzipiell mit Problemen behaftet. 107 Die kritische Forschung geht zum großen Teil davon aus, dass der Autor des Epheserbriefes auf den Kolosserbrief zurückgreift (begründet wird dies im Wesentlichen mit Akzentuierungen in theologischen Aussagen, die den 78 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="79"?> 108 So z. B. S E L L I N , Epheser, 54; S E L L I N , Vom Kolosserzum Epheserbrief, 159; L U Z , Epheser, 110-112; T H E O B A L D , Epheserbrief, 418-420; L U K A S B O R M A N N , Der Brief des Paulus an die Kolosser (ThHK 10/ 1), Leipzig 2012, 43-45; V A N K O O T E N , Cosmic Christology, 209-213. 109 P E R C Y , Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, 418-419. 110 B E S T , Commentary on Ephesians, 22; vgl. dazu auch E R N E S T B E S T , Who used whom? The Relationship of Ephesians and Colossians, NTS 43/ 1 (1997), 72-96. Epheserbrief vom Kolosserbrief abheben). 108 So fasst Ernst Percy, von dem die ausführlichste Untersuchung zum literarischen Verhältnis von Epheser- und Kolosserbrief stammt, seine Überlegungen folgendermaßen zusammen: „Wir finden somit, dass es mehrere Stellen im Eph gibt, wo gewisse Züge mehr oder weniger stark dafür zu sprechen scheinen, dass ein anderer Schriftsteller als der Verfasser des Kol hier Gedanken oder Formulierungen aus dem Kol benutzt habe. Ich denke dabei in erster Linie an die Erweiterungen der Mahnungen an die Ehegatten durch den Vergleich der Ehe mit dem Verhältnis Christi zu der Gemeinde in Eph 5.22-33 […]. Daneben scheint aber auch die im Kol fehlende Mahnung zur christlichen Erziehung der Kinder in Eph 6,4 sehr dafür zu sprechen, dass der Eph nach dem Kol geschrieben ist, wenn auch dieser Fall kaum zur Annahme verschiedener Verfasser nötigt.“ 109 Im Kontrast dazu macht Ernest Best jedoch bei der Erörterung des literarischen Verhältnisses beider Briefe auf eine disparate Situation aufmerksam: “Drawing together now the results of the examination of the above list of passages, we see that in some the relationship is most easily explained on the assumption that A/ Col [der Autor des Kolosserbriefes, T.F.] knew Colossians and in others in assumption that A/ Col knew Ephesians.” 110 Daher ist es auch hier, bei der Frage nach der konkreten literarischen Beziehung zwischen Kol und Laod/ Eph, vorerst ratsam, sich nicht auf eine bestimmte Lösung festzulegen (auch wenn es wahrscheinlicher ist, dass der Epheserbrief auf dem Kolosserbrief basiert). Einen intratextuellen Hinweis darauf, dass der Laod/ Eph auf Grundlage des Kol geschrieben worden ist, könnte der in Laod/ Eph 6,22 verwendete Plural ἡμῶν („uns“) sein, der hier nicht wirklich passt, da der Laod/ Eph ja - anders als der Kol - keinen Mitabsender aufweist. Festzuhalten bleibt jedoch: Zwischen beiden Briefen besteht eine literarische Abhängigkeit, ihre Entstehung steht also in einem Zusammenhang. Nun stellt sich noch die Frage, was aus historisch-kritischer Sicht zur Frage gesagt werden kann, ob beide Briefe von einem Autor stammen oder nicht. Hierbei steht auch das oben aus der Leserperspektive heraus erarbeitete Szenario auf dem Prüfstand, das von einem gemeinsamen Autor ausging. 79 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="80"?> 111 P E R C Y , Probleme der Kolosser- und Epheserbriefe, 433. 112 Vgl. S E L L I N , Vom Kolosserzum Epheserbrief, 160-70, der zu zwei verschiedenen Au‐ toren tendiert; vgl. auch S C H N A C K E N B U R G , Epheser, 29. Vgl. zur These einer angestrebten „Korrektur“ des Kolosserbriefes durch den Autor des Epheserbriefes auch M A R T I N H Ü N E B U R G , Paulus versus Paulus: Der Epheserbrief als Korrektur des Kolosserbriefes, in: J. Frey/ J. Herzer/ M. Janßen/ C. K. Rothschild (Hg.): Pseudepigraphie und Verfasserfik‐ tion in frühchristlichen Briefen/ Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters (WUNT 246), Tübingen 2009, 387-409. L U Z , Epheser, 111 meint, der Autor des Epheserbriefes habe den Kol „mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen echten Paulusbrief gehalten“. T H E O B A L D , Epheserbrief, 419 geht von zwei Autoren aus. B E S T , Commentary on Ephesians, 20-36 tendiert auch zu zwei Autoren, hält es jedoch nicht für ausgeschlossen, dass beide Briefe den gleichen Autor haben (vgl. ebd. 24). 113 Vgl. R ÖH S E R , Schluss, 144, vgl. auch ebd. 135. Siehe die detaillierte Darstellung der Argumente Röhsers in Kap. 3.2.1.e. 114 Vgl. B E S T , Who used whom? , 96. c) Kol und Laod/ Eph - von einem oder zwei Autoren? Die Frage, ob Kolosser- und Epheserbrief von einem oder zwei Autoren verfasst wurden, ist vor allem für diejenigen eine spannende Frage, die ihn für pseudepigraph halten. Die Befürworter der ‚Echtheit‘ beider Briefe, wie beispielsweise Ernst Percy, sehen die Unterschiede zwischen beiden Briefen (notwendigerweise) als nicht unüberbrückbar groß an: „Wir finden somit, dass gewisse Berührungen in Gedanken, Sprache und Stil mehr oder weniger stark für die Identität des Verfassers der beiden Briefe sprechen.“ 111 Von den Vertretern der Pseudepigraphie wird häufig die Ansicht vertreten, der Autor des Epheser‐ briefes habe auf den Kolosserbrief zurückgegriffen und den Brief nach dessen Vorbild aufgebaut - möglicherweise auch, weil er den Kolosserbrief ersetzen wollte. 112 Daneben gibt es jedoch auch die - von Röhser in die Diskussion eingebrachte - Auffassung, dass Laod/ Eph und Kol ein „gemeinschaftlich in Szene gesetztes Werk“ 113 von zwei unmittelbaren Paulusschülern ist. Für ihn sind die Differenzen zwischen Kol und Eph zu groß, als dass es sich um ein und denselben Autor handelt. Auch Ernest Best ist einer solchen Lösung des Problems zugeneigt: Er meint, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Briefen können am einfachsten erklärt werden, wenn sie von unter‐ schiedlichen Autoren stammen würden, die jedoch der gleichen Paulusschule angehört und zusammen die paulinische Theologie diskutiert hätten. 114 So ist festzuhalten, dass auch die Frage, ob Kolosser- und Epheserbrief von einem oder von zwei verschiedenen Autoren stammen, nicht abschließend geklärt werden konnte. Fest steht aufgrund von Kol 4,7-8 und Laod/ Eph 6,21-22 lediglich, dass zwischen beiden eine literarische Abhängigkeit vorliegt. Dieser Wissensstand der neutestamentlichen Forschung mag sich zwar etwas ernüchternd anhören. Doch ist dies nicht das Ende der Überlegungen, sondern vielmehr der Anfang 80 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="81"?> 115 Vgl. Kap. 2.3. der Aufgabe, die verschiedenen Varianten zu systematisieren und die jeweils entstehenden Gesamtbilder gegeneinander abzuwägen. d) Diskussion verschiedener Autorschaft-Modelle Angesichts des in den letzten Kapiteln dargestellten Forschungsstandes ergeben sich bei der Diskussion der Entstehungssituation von Kol und Laod/ Eph theo‐ retisch vier grundsätzliche Möglichkeiten für die Autorschaft beider Briefe, die nachfolgend diskutiert werden sollen: 1. Kol und Laod/ Eph sind echte Paulusbriefe. 2. Kol ist ein echter Paulusbrief, Laod/ Eph hingegen nicht. 3. Kol und Laod/ Eph sind pseudepigraphe Paulusbriefe, der Laod/ Eph wurde von einem anderen Autor als der Kol geschrieben. 4. Kol und Laod/ Eph sind pseudepigraphe Paulusbriefe, zwischen beiden besteht eine ‚abgesprochene Autorschaft‘ (was beinhalten kann, dass beide Briefe von einem Autor stammen). Variante 1: Kol und Laod/ Eph sind echte Paulusbriefe. Dies ist tendenziell unwahrscheinlich, da etliche Indizien (Sprachstil, theologi‐ sche Ansichten und nachpaulinische Situation) vorliegen, dass beide Briefe nicht von Paulus stammen. Doch da diese auch nicht unumstößlich sind, sollte dieses Szenario nicht ausgeschlossen werden. Und eventuell wäre die Forschung zu anderen Ergebnissen gekommen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hätte, dass der Epheserbrief mit dem in Kol 4,16 angesprochenen Brief identisch ist. Denn schließlich war die Beobachtung, dass der Epheserbrief nicht nach Ephesus passt, eines der ausschlaggebenden Argumente, die Ursprünglichkeit und ‚Echtheit‘ der Epheser-Adresse anzuzweifeln. 115 Wenn tatsächlich beide Briefe von Paulus stammen würden, ergäbe sich ein äußerst stimmiges Gesamt‐ bild - nämlich notwendigerweise genau jenes, welches sich den Lesern der 10-Briefe-Sammlung aus deren Lektüre ergibt. Variante 2: Kol ist ein echter Paulusbrief, Laod/ Eph hingegen nicht. Wenn der Kolosserbrief von Paulus stammen würde, dann müsste man an‐ nehmen, dass Paulus einen Brief an die Laodicener geplant hatte, zu dessen Abfassung er jedoch nicht mehr gekommen ist. Der Laod/ Eph wäre dann später geschrieben worden, um die so entstandene „Lücke“ auszufüllen. Dabei hätte der Autor den Kolosserbrief für die Anfertigung seines fiktiven Paulusbriefes als Vorlage genommen, wodurch die Übereinstimmungen zwischen beiden Briefen zu erklären wären. Das Problem dieses Vorschlages ist jedoch, dass 81 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="82"?> 116 So H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 698 und R ÖH S E R , Schluss, 135. nach aktuellem Wissensstand vieles dagegen spricht, dass der Kolosserbrief tatsächlich von Paulus stammt - und außerdem bliebe hier die große Frage, worauf sich dann die Nennung des Briefes „aus Laodicea“ ursprünglich bezogen hätte. Variante 3: Kol und Laod/ Eph sind pseudepigraphe Paulusbriefe, der Laod/ Eph wurde von einem anderen Autor als der Kol geschrieben. Diese Rekonstruktion bringt entweder die Schwierigkeit mit sich, dass man annehmen müsste, der pseudepigraphe Autor des Kol habe einen Brief ange‐ fertigt, in den er durch den Verweis auf den (noch nicht existenten) Laodice‐ nerbrief eine ins „Leere“ gehende Verknüpfung einfügte, was die Brieffiktion ernsthaft gefährdet hätte. Ein Ausweg aus diesem Problem wäre, dass der Laodicenerbrief älter als der Kolosserbrief ist und somit Kol 4,16 auf den bereits existierenden Laodicenerbrief verwiesen hätte. Dagegen sprechen dann allerdings die Untersuchungen, die den Epheserbrief als Überarbeitung des Kolosserbriefes interpretieren. Variante 4: Kol und Laod/ Eph sind pseudepigraphe Paulusbriefe, zwischen beiden besteht eine abgesprochene Autorschaft. Die Möglichkeit, dass beide Briefe pseudepigraph sind und von einem Autor stammen bzw. aus einer abgesprochenen Autorschaft hervorgehen, funktioniert ebenfalls sehr gut - denn dann könnte man annehmen, das oben beschriebene narrativ kohärente Szenario (Paulus schreibt beide Briefe gleichzeitig und lässt sie auf einer Reise ausliefern) wurde literarisch angelegt. Für eine solche Lösung spricht auch das in Eph 6,21 vorzufindende „auch ihr“, das als eine (wahrscheinlich unbewusste) Bezugnahme auf den Kol zu lesen ist. 116 Somit wären beide Briefe in gegenseitiger Kenntnis verfasst (da - wie im vorliegenden Kapitel gezeigt - der Kol in 4,16 auf den Laodicener-/ Epheserbrief verweist). Das stimmige Gesamtbild, das die Leser der 10-Paulusbriefe-Sammlung wahr‐ nehmen, findet dann eine gute Erklärung. Diese Zusammenstellung der wichtigsten Argumente führt zu der Schluss‐ folgerung, dass keine der genannten Möglichkeiten ausgeschlossen werden kann; die Varianten 1, 2 und 3 bringen jedoch zu viele Probleme mit sich, um überzeugen zu können. Daher ist meines Erachtens die Möglichkeit 4 einer ‚abgesprochenen Autorschaft‘ zu favorisieren (moralisch wertend würde man wohl von einer ‚Zwillingsfälschung‘ sprechen). Eine Untersuchung der Adressaten beider Briefe wird hierfür noch weitere Argumente liefern. 82 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="83"?> 117 M I C H A E L W O L T E R , Der Brief an die Kolosser (ÖTK 12), Gütersloh 1993, 35-36. Daraus schlussfolgert Wolter, dass die Adressenangabe des Kolosserbriefes fiktiv sei (vgl. ebd., 36). Konsequenzen für eine Rekonstruktion der Entstehungssituation des Kolos‐ serbriefes zieht Wolter daraus jedoch nicht. 118 Vgl. T R E B I L C O , Lycus Valley, 181. 119 Tacitus, Annalen 14,27,1: Eodem anno ex inlustribus Asia urbibus Laodicea tremore terrae prolapsa nullo a nobis remedio propriis opibus revaluit. (Text und Übers. H E L L E R , Sammlung Tusculum); vgl. zur Datierung H U T T N E R , Early Christianity, 100. e) Die Adressaten der pseudepigraphen Briefe Für die pseudepigraphe, abgesprochene Autorschaft sprechen auch Überle‐ gungen zu den Adressaten der beiden Briefe: Denn wenn es sich um pseudepi‐ graphe Briefe handelt, sind sie dann jemals realiter in Kolossae und Laodicea angekommen? Oder sind sie vielmehr von Anfang an für andere Leser ge‐ schrieben worden - zum Beispiel für Leser einer Sammlung von Paulusbriefen? Man stelle sich vor, dass einige Zeit nach dem Tod des Paulus ein Brief ankommt, der vorgibt von ihm zu stammen. Die Adressaten würden sich fragen, woher dieser Brief kommt und ob er tatsächlich von Paulus stammt. Oftmals wird diese Frage in der Pseudepigraphieforschung gar nicht gestellt - als positive Ausnahme ist hier auf Michael Wolter zu verweisen, der in seinem Kommentar zum Kolosserbrief auf diesen Sachverhalt hinweist: „Denn sollte der Brief wirklich für die Gemeinde in Kolossae bestimmt gewesen sein, wird die Autorfiktion problematisch: Wie sollte in diesem Fall das unvermittelte Auftauchen eines der Gemeinde bisher unbekannten Paulusbriefes an sie erklärt werden? Denn es ist doch wohl damit zu rechnen, daß man in Kolossae auch in den 70er Jahren noch gewußt hat, ob es einen Paulusbrief an die dortige Gemeinde gegeben hat oder nicht.“ 117 Bei der Suche nach einer Antwort zu der Frage nach den Adressaten der beiden pseudepigraphen Briefe kann auf historiographische Zeugnisse zurückgegriffen werden, die für die Jahre 60/ 61 n. Chr. ein oder mehrere starke Erdbeben für die Gegend um Laodicea überliefern. 118 So heißt es bei Tacitus in den Annalen über das Jahr 60 n. Chr.: Im selben Jahr stürzte eine der bedeutendsten Städte Asiens, Laodicea, infolge eines Erdbebens zusammen, konnte sich aber ohne jede Hilfe unsererseits aus eigener Kraft wieder aufhelfen. 119 Und auch in der Chronik des Hieronymus heißt es, dass Kolossae, Laodicea und Hierapolis in dieser Zeit durch ein Erdbeben zerstört wurden: „In der Asia brachen drei Städte durch ein Erdbeben zusammen: Laodicea, Hierapolis, 83 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="84"?> 120 Eusebius, Chronik des Hieronymus, 183, 21-22: In Asia tres urbes terrae motu conci‐ derunt, Laodicia Hierapolis Colossae. (Text H E L M , GCS 47; eigene Übers.). Vgl. auch die Übersetzung aus dem Armenischen: „Durch Erdbeben gingen 3 Städte zugrunde: Laodikia und Jerapolis und Kolusse“ (Übers. K A R S T , GCS 20, 215). Vgl. dazu auch H U T T N E R , Early Christianity, 101; L U Z , Kolosser, 184 und L E P P Ä , Making of Colossians, 18. 121 Vgl. H U T T N E R , Early Christianity, 102. Auch numismatische Funde weisen darauf hin, dass Laodicea schon unter Nero wiederaufgebaut wurde (vgl. ebd.). 122 W O L F G A N G S C H E N K , Der Kolosserbrief in der neueren Forschung (1945-1985), ANRW II 25/ 4 (1987), 3335. 123 Besonders D. Trobisch und auch R. Pervo haben die Entstehung der Paulusbriefsamm‐ lung in den Zusammenhang mit anderen antiken Briefsammlungen (z. B. Seneca, Cicero) eingeordnet; vgl. D A V I D T R O B I S C H , Die Entstehung der Paulusbriefsammlung: Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik (NTOA 10), Fribourg/ Göttingen 1989, 89-104; R I C H A R D I. P E R V O , The Making of Paul: Constructions of the Apostle in Early Christianity, Minneapolis 2010, 25-30. Vgl. zu Überarbeitungen und Erweiterungen bei der Herausgabe v. a. die Diskussion zur Entstehung der 14-Briefe-Sammlung in Kap. 5.1. 124 Vgl. T I M O G L A S E R , Paulus als Briefroman erzählt: Studien zum antiken Briefroman und seiner christlichen Rezeption in den Pastoralbriefen (NTOA/ StUNT 76), Göttingen 2009, zusammenfassend 323-329. Kolossae.“ 120 Dazu passt die archäologische Evidenz, dass in diesem Jahrzehnt in Laodicea und Hierapolis umfangreiche Bautätigkeiten nachzuweisen sind. 121 Diese ‚Störung der Ordnung‘ könnte in jedem Fall eine Bedingung geboten haben, angeblich echte Paulusbriefe in die Welt zu setzen: Man hätte später möglicherweise davon sprechen können, sie aus dem Erdbeben gerettet zu haben. W. Schenk bringt es in seinem Forschungsüberblick mit folgendem Satz auf den Punkt: „Ein toter Paulus und ein zerstörter Ort waren offenbar die gegebenen Voraussetzungen für diese älteste Pseudepigraphie.“ 122 Von daher würden sich die Gemeinden in Kolossae und Laodicea als Adressaten für das Aufkommen ‚neuer‘ Paulusbriefe anbieten. Jedoch bleibt diese Überlegung letztlich sehr spekulativ. Sie führt jedoch zu einer anderen Feststellung: Für das plötzliche Auftreten pseudepigrapher Briefe ist es die wahrscheinlichste Option, dass Kolosser- und Laodicenerbrief nicht als Einzelbriefe in den Umlauf kamen, sondern bei der Herausgabe einer Paulusbriefsammlung erschienen. 123 Gerade in einem solchen Fall kommt eine ‚abgesprochene‘ Autorschaft auf der Ebene der Leser der 10-Briefe-Sammlung zur vollen Wirkung. Damit wäre die Abfassung von Kol und Laod/ Eph in die Nähe dessen zu rücken, was Timo Glaser für die Pastoralbriefe herausgearbeitet hat. 124 Er stellt die Pastoralbriefe (Tit, 1Tim, 2Tim) in die Nähe der antiken Briefromane (wie z. B. von Aischines und Euripides) und meint, auch den Lesern der Pastoralbriefe würde eine Geschichte 84 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="85"?> 125 Vgl. G L A S E R , Paulus als Briefroman, bes. 162-166. 126 Vgl. dazu auch P E R V O , Making of Paul, 65-77. von Paulus erzählt werden, die durch ein aufmerksames „kanonisches“ Lesen eruiert werden kann. 125 Im Anschluss daran kann auch für den Kolosser- und Laodicenerbrief gesagt werden: In diesen beiden Briefen wird ein Bild von Paulus geprägt, der sich in der Gefangenschaft um die Ordnung der Gemeinden in Kolossae und Laodicea kümmert - und dabei bereits die gesamte Kirche im Blick hat. 126 3.2.4 Fazit: Der in Kol 4,16 genannte Brief ἐκ Λαοδικείας ist der Epheserbrief. Kann Kol 4,16 etwas zur Klärung der Frage nach der ursprünglichen Adresse des Epheserbriefes beitragen? Diese Frage war der Ausgangspunkt dieses Kapitels. Da in der gegenwärtigen Forschung die Tendenz besteht, die Frage nach dem Brief ἐκ Λαοδικείας als nicht beantwortbar zu erklären, wurde ein intensiver Blick in die Forschungsgeschichte nötig. Sowohl Rudolph Anger als auch Joseph B. Lightfoot - die sich im 19. Jahrhundert am gründlichsten mit dieser Thematik befasst haben - plädierten dafür, dass der in Kol 4,16 genannte Brief der Epheserbrief ist. Zu dieser Überzeugung gelangten sie vor allem aufgrund des Ausschließens aller anderen Möglichkeiten, weniger durch kon‐ krete Argumente zugunsten des Epheserbriefes. Adolf von Harnack hingegen arbeitete die großen Übereinstimmungen zwischen beiden Briefen sowie deren Verknüpfung durch Kol 4,16 heraus und stellte dies in den Mittelpunkt seines Plädoyers für Laodicea als ursprüngliche Adresse des Epheserbriefes. Während Michael Goulder diese Lösung zwar ebenso befürwortet, doch kaum Argumente vorzubringen vermochte, wendeten Stanley E. Porter und Kent D. Clarke den methodischen Ansatz des ‚Canonical Approach‘ auf Kolosser- und Epheserbrief an und wiesen auf das stimmige Gesamtbild hin, das sich ergibt, wenn man annimmt, dass in Kol 4,16 der heute als Epheserbrief bekannte Brief gemeint ist. Auch Günter Röhser hielt ausgehend von seiner Untersuchung der Epistolaria des Kolosserbriefes den Epheserbrief für den Brief, der in Kol 4,16 gemeint ist. Aufgrund der großen Übereinstimmungen beider Briefe sprach er sich für eine ‚abgesprochene Autorschaft‘ von Kol und Laod/ Eph aus. Da die Befürworter der These, der in Kol 4,16 genannte Brief sei der Ephe‐ serbrief, ihre Argumentationen bislang recht isoliert voneinander vortrugen, wurde eine systematische Betrachtung des Verhältnisses von Kolosser- und Epheserbrief nötig. Denn Kol 4,16 ist nur dann ein starkes Argument dafür, 85 3.2 Der Brief ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 - der Epheserbrief ? <?page no="86"?> dass der Epheserbrief ursprünglich an die Laodicener adressiert war, wenn sich auf der literarischen Ebene ein plausibles Gesamtbild beider Briefe ergibt. Um dem nachzugehen, bot es sich an, den von Porter und Clarke eingeschlagenen Weg des ‚Canonical Approach’ zu verfolgen. Der ‚Kanon‘ für diese konkrete Untersuchung ist die früheste bezeugte Paulusbriefsammlung - nämlich die des Marcion, in der anstelle des Epheserbriefes der Laodicenerbrief zu finden ist (vgl. Kap. 2.1). Für einen Modell-Leser der 10-Paulusbriefe-Sammlung ergibt sich, dass Paulus Kolosser- und Laodicenerbrief nahezu zur gleichen Zeit geschrieben hat, nämlich in seiner Gefangenschaft; und dass er beide Briefe auch gleichzeitig durch Tychikus, den Briefboten, zu den Adressatengemeinden schickt. Konkret erlaubt es einem Modell-Leser mit Kenntnis der geographischen Verhältnisse der Provinz Asia, ein mögliches Szenario der Abfassung von Laodicener- und Kolosserbrief zu konstruieren: Paulus schrieb einen Brief an die Gemeinde in Kolossae. Dort kannte er einige Personen, die er namentlich nennt. In diesem Zusammenhang plante er, einen Brief an die benachbarte (ihm unbekannte) Gemeinde in Laodicea zu verfassen (daher der unpersönliche Brief), so dass er die Kolosser auffordern kann, sich den Brief ἐκ Λαοδικείας zu besorgen. Da Tychikus auf seiner Reise von der Küste aus zuerst Laodicea erreicht, kann Paulus in den Laodicenerbrief nicht schreiben, dass sie sich den Brief aus Ko‐ lossae besorgen sollen - denn der ist ja dort noch gar nicht angekommen. Schon Harnack fiel in diesem Zusammenhang auf, dass Paulus durch die Hinzufügung von „damit auch ihr wisst“ in Laod/ Eph 6,21 (im Vergleich zum ansonsten fast identischen Satz in Kol 4,7) verrät, dass er kurz zuvor den Brief an die Kolosser geschrieben hat. Aus der Leserperspektive der 10-Paulusbriefe-Sammlung ergibt sich demzufolge ein stimmiges Gesamtbild (wenngleich dessen konkrete Gestalt je nach Leser variieren kann). Diese Feststellung ist von großer Bedeutung - unabhängig davon, ob die Briefe von Paulus stammen oder nicht. Denn wenn die Briefe echt sind, dann ist selbstverständlich zu erwarten, dass ein plausibles Gesamtszenario entsteht. Doch auch wenn es sich um pseudepigraphe Briefe handelt, muss die Situation für die Leser nachvollziehbar sein - ansonsten wäre die Brieffiktion ernsthaft in Gefahr. Diese historisch-kritischen Fragen wurden im folgenden Kapitel bedacht. Sowohl der Kolosserals auch der Laodicener-/ Epheserbrief werden von der neutestamentlichen Wissenschaft mehrheitlich als pseudepigraphe Schreiben angesehen. Nicht ganz eindeutig ist auch das literarische Verhältnis beider Briefe (fest steht aufgrund der wörtlichen Übereinstimmungen von Laod/ Eph 6,21-22 mit Kol 4,7-8 lediglich, dass eine literarische Abhängigkeit vorliegt) und die Frage, ob beide Briefe von einem oder von zwei verschiedenen Autoren verfasst 86 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="87"?> 127 Ältestes Zeugnis der Paulusbrief-Prologe ist der Codex Fuldensis. Eine detaillierte Vorstellung der Bezeugung findet sich in D A H L , Earliest Prologues, 182-185 und auch auf der Homepage von Hugh A. G. Houghton (Birmingham): http: / / www.vetus‐ latina.org/ paratext. Die Prologe wurden erstmals untersucht (und für ‚marcionitisch‘ befunden) von P E T E R C O R S S E N , Zur Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, ZNW 10 (1909), 1-45; D O N A T I E N D E B R U Y N E , Prologues bibliques d’origine Marcionite, RevBen 24/ 1 (1907), 1-14 (vgl. dazu auch die folgende Diskussion um den vermeintlich marcio‐ nitischen Ursprung in Kap. 3.3.2). Wenn im Folgenden von „Prologen“ gesprochen wird, wurden. Aufgrund der Unsicherheiten wurden vier verschiedene Modelle dis‐ kutiert, wobei angesichts des in beide Briefe eingezeichneten Gesamtszenarios entweder Paulus selbst als Autor beider Briefe anzusehen ist oder - was angesichts der Bedenken gegen eine paulinische Autorschaft wahrscheinlicher ist - beide Briefe einer ‚abgesprochenen‘, pseudepigraphen Autorschaft (oder wenn man es anders ausdrücken mag: einer ‚Zwillingsfälschung‘) entstammen. Wenn man die Spur der pseudepigraphen Autorschaft verfolgt, stellt sich die Frage, auf welchem Weg ein pseudepigrapher Brief das intendierte Lesepu‐ blikum erreicht. Es ist problematisch, einfach davon auszugehen, die Briefe seien Jahre nach dem Tod des Paulus in den Gemeinden angekommen, ohne dass deren Verfasserschaft angezweifelt worden wäre. Viel näher liegt, ihre Entstehung im Zusammenhang mit der Herausgabe einer Paulusbriefsammlung zu sehen. Damit kann festgehalten werden: Die Frage nach dem Brief ἐκ Λαοδικείας muss nicht als unbeantwortbar definiert werden. Auch wenn Einzelheiten offen bleiben, ergibt sich durch den hier eingeschlagenen Weg der Verknüpfung von literarischen und historisch-kritischen Überlegungen ein bemerkenswert plausibles Gesamtbild, wenn in Kol 4,16 auf den Brief verwiesen wird, den wir als Epheserbrief kennen. Für die Gesamtfrage der vorliegenden Arbeit bedeutet dies: Kol 4,16 ist ein außerordentlich wichtiges Argument dafür, dass der Epheserbrief ursprünglich nach Laodicea adressiert war. 3.3 Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen In etlichen lateinischen Handschriften der Paulusbriefsammlung finden sich kurze Einführungen vor den einzelnen Briefen (‚Prologe‘), die in der Forschung häufig und kontrovers diskutiert werden: Teilweise galten sie als ‚marcionitisch‘ und somit als Kronzeuge für die Beeinflussung der kanonischen Handschriften durch marcionitische Lesarten, jedoch wurde einer marcionitischen Autorschaft auch widersprochen und die Prologe wurden vielmehr als Zeugnisse einer älteren Paulusbriefsammlung gesehen. 127 Bei aller Diskussion wurde jedoch 87 3.3 Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen <?page no="88"?> sind stets die Paulusbrief-Prologe gemeint. Zu den lateinischen Evangelienprologen (die z. T. als anti-marcionitisch interpretiert wurden) vgl. v. a. J Ü R G E N R E G U L , Die anti‐ marcionitischen Evangelienprologe (VL 6), Freiburg 1969, 77-94 und O T T O Z W I E R L E I N , Die antihäretischen Evangelienprologe und die Entstehung des Neuen Testaments (AAWLM.G 2015/ 5), Mainz/ Stuttgart 2015, 5-83 (beide datieren die Entstehung der Evangelienprologe - anders als De Bruyne und Harnack, die für das 2. Jh. plädierten - in das 4. Jh.). Markus Vinzent schlussfolgerte ausgehend vom Prolog zum Johannes‐ evangelium, dass Marcion selbst das für ihn bezeugte Evangelium geschrieben habe, vgl. V I N Z E N T , Marcion, 14-26; vgl. dazu die Diskussion bei K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 384-386 und die fundamentale Kritik bei Z W I E R L E I N , Die antihäretischen Evangelienprologe, 74-77. 128 Prol. Kol: Colosenses et hi sicut Laodicenses sunt Asiani, et ipsi praeventi erant a pseuda‐ postolis nec ad hos accessit ipse apostolus, sed et hos per epistulam recorrigit. audierant enim verbum ab Archippo qui et ministerium in eos accepit. ergo apostolus iam ligatus scribit eis ab Epheso. (Text aus J O H N W O R D S W O R T H / H E N R Y J . W H I T E / H E D L E Y F. D. S P A R K S , Novum Testamentum Domini Nostri Iesu Christi Pars Secunda - Epistulae Paulinae, Oxford 1913-41, 490 [dort auch die Textvarianten, die für unsere Fragestellung nicht relevant sind]; eigene Übers.). Vgl. dazu auch V I N Z E N T , Marcion, 121 und D I R K J O N G K I N D , On the Marcionite Prologues to the Letters of Paul, in: D. Gurtner/ J. Hernández/ P. Foster (Hg.): Studies on the Text of the New Testament and Early Christianity (NTTSD 50) 2015, 393. ein Aspekt fast durchweg hervorgehoben: Der Prolog zum Kolosserbrief lässt erkennen, dass in der Briefsammlung, zu der die Prologe geschrieben wurden, ursprünglich ein Brief an die Laodicener enthalten war. Die Implikationen dieses Befundes werden im Folgenden diskutiert - dabei wird sich zeigen, dass die Annahme der Priorität der 10-Paulusbriefe-Sammlung die Probleme um die Herkunft der lateinischen Prologe lösen kann. 3.3.1 Der Verweis auf die Laodicener im Prolog zum Kolosserbrief Der Prolog zum Kolosserbrief in den lateinischen Handschriften lautet: Prol. Kol: Die Kolosser sind, so wie auch die Laodicener, aus der Provinz Asia. Und sie wurden von Pseudo-Aposteln ereilt, während der Apostel selbst nicht zu ihnen kam, sondern sie durch einen Brief ermahnt. Sie hatten nämlich ‚das Wort‘ von Archippus gehört, der auch den Dienst an ihnen annahm. Daher schrieb der Apostel, schon in Gefangenschaft, ihnen von Ephesus aus. 128 Die Aussage „Die Kolosser sind, so wie auch die Laodicener, aus der Provinz Asia“ lässt sich am einfachsten dann erklären, wenn man annimmt, dass es ursprünglich ebenso einen Prolog zu einem Laodicenerbrief gegeben hat. Denn auch in weiteren Prologen wird zu Beginn auf andere Briefe der Briefsammlung verwiesen - so nimmt etwa der Prolog zum 1Kor Bezug auf den Galater-Prolog 88 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="89"?> 129 Prol. 1Kor: Corinthi sunt Achaici. et hi similiter ab apostolo audierunt verbum veritatis (Text aus W O R D S W O R T H / H. J . W H I T E / S P A R K S , Novum Testamentum, 153; vgl. auch V I N Z E N T , Marcion, 118; eigene Übers.). Prol. Gal: Galatae sunt Graeci. hi verbum veritatis primum ab apostolo acceperunt ( W O R D S W O R T H / H. J . W H I T E / S P A R K S , Novum Testamentum, 355; vgl. auch Vinzent, Marcion, 118). Vgl. zur Reihenfolge der Briefe in der Briefsammlung, auf die sich die lateinischen Prologe beziehen (Galaterbrief an erster Stelle), die Ausführungen in der übernächsten Fußnote. 130 So C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, 42; B R U Y N E , Prologues bibli‐ ques, 10; D A H L , Earliest Prologues, 192; U. S C H M I D , Marcion, 287-288; J O N G K I N D , Marci‐ onite Prologues, 392; L I E U , Marcion, 239. Dagegen F R E D E , Altlateinische Paulus-Hand‐ schriften, 169, der die Prologe zwar einer Paulusausgabe mit ‚westlichem‘ Text zuordnet, jedoch implizit davon auszugehen scheint, dass Marcion der Urheber der Laodicener-Adresse ist (und sie somit auch nicht in den Prologen vorkommen kann). Seiner Meinung nach geht die Erwähnung von den Laodicenern im Kolosserprolog auf die Nennung dieser Gemeinde im Brief selbst zurück, was jedoch angesichts der übrigen Entsprechungen der Prologe zur 10-Briefe-Sammlung - die im Folgenden dargestellt werden - nur als nebensächlicher Faktor zu bewerten ist. 131 Der Prolog zum 1Kor („Die Korinther sind aus der Provinz Achaia, sie hatten ebenfalls vom Apostel das Wort der Wahrheit gehört […]“) ist ein wörtlicher Rückverweis auf den Galater-Prolog („Sie haben das Wort der Wahrheit zuerst vom Apostel angenommen“), es kann sich nicht auf den Römerbrief beziehen, da die dortige Gemeinde nicht von Paulus gegründet wurde. Auch die frühen syrischen Texte haben den Galaterbrief an erster Stelle (vgl. F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, 177; D A H L , Earliest Prologues, 197). 132 Vgl. B R U Y N E , Prologues bibliques, 8; D A H L , Earliest Prologues, 195.202-203; J O N G K I N D , Marcionite Prologues, 394-395. 133 Vgl. J O N G K I N D , Marcionite Prologues, 401; D A H L , Earliest Prologues, 105; U. S C H M I D , Marcion, 291-293. („Die Korinther sind aus Provinz Achaia, sie hatten ebenfalls vom Apostel das Wort der Wahrheit gehört […]“). 129 Damit passt der Prolog zum Kolosserbrief mit seinem Verweis auf den Laodicenerbrief genau in das gestalterische Muster der lateinischen Prologe. Dieser Link zum Laodicenerbrief wird in der Forschung daher auch intensiv wahrgenommen. 130 Denn auch an anderer Stelle stimmen die Prologe mit der bei Marcion bezeugten Paulusbriefsammlung überein (vgl. zur 10-Briefe-Sammlung Kap. 3.1.2): So lässt der Text der Prologe außerdem erkennen, dass diese ursprünglich zu einer Sammlung geschrieben wurden, die mit dem Galaterbrief beginnt (ein Grund dafür ist der bereits zitierte Prolog zum 1Kor, der den Prolog zum Gal voraussetzt) 131 , die Pastoralbriefe nicht enthielt (die Prologe dazu sind sekundär), 132 und den Römerbrief ohne Kapitel 16 bot (denn aus diesem Kapitel geht hervor, dass der Brief in Korinth geschrieben wurde, die Prologe hingegen geben Athen als Entstehungsort an). 133 89 3.3 Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen <?page no="90"?> 134 Vgl. C O R S S E N , Überlieferungsgeschichte des Römerbriefes, bes. 37-45 und B R U Y N E , Prologues bibliques, 1-14. Auch Wordsworth/ White hatten in ihrer Edition der lateini‐ schen Paulusbriefe die Prologe als marcionitisch identifiziert, vgl. z. B. „Argumentum marcioniticum in epistulam ad Colosenses”, W O R D S W O R T H / H. J . W H I T E / S P A R K S , Novum Testamentum, 490. 135 Vgl. A D O L F von H A R N A C K , Der marcionitische Ursprung der ältesten Vulgata-Prologe zu den Paulusbriefen, ZNW 24 (1925), 207. 136 W I L H E L M M U N D L E , Die Herkunft der „marcionitischen“ Prologe zu den paulinischen Briefen, ZNW 24/ 1 (1925), 57-60. 137 F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, 174. 3.3.2 Marcionitischer Ursprung? Die Diskussion um die lateinischen Prologe entzündet sich vielmehr an einer anderen Frage: Woher stammen diese Paratexte ursprünglich? Denn, wie soeben bereits angesprochen, wurden sie offensichtlich zu einer Paulusbriefsammlung verfasst, die der Marcions entspricht (Gal als erster Brief, Laodicenerstatt Epheserbrief, Römerbrief ohne Kap. 16). Aus diesem Grund wurden die Prologe von Peter Corssen und Donatien de Bruyne, die sich (unabhängig voneinander) zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals mit ihnen beschäftigten, als ‚mar‐ cionitisch‘ bewertet - ihrer Meinung nach hätten Marcioniten die Prologe zu ‚ihrer‘ Paulusbriefsammlung verfasst. 134 Auch Harnack schloss sich dieser Meinung an, da er (irrtümlich, wie sich gleich zeigen wird) sowohl die von den Prologen vorausgesetzte Reihenfolge der Briefe als auch den Laodicenerbrief als ansonsten unbezeugt ansah. 135 Als große Frage schließt sich dann an: Wenn die Prologe von Marcioniten verfasst wurden, wie sind sie in die neutestamentlichen Handschriften ge‐ kommen? Denn dann muss angenommen werden, dass sie von einem Schreiber aus einem „Bibel“-Exemplar aus marcionitischen Kreisen (das ein Evangelium und zehn Paulusbriefe enthielt) in die neutestamentliche Paulusbriefsammlung übertragen wurden, ohne deren marcionitischen Charakter zu erkennen. Dies war zuerst für Wilhelm Mundle 136 und später noch pointierter für Hermann Josef Frede, den langjährigen Leiter des Vetus Latina Instituts Beuron, der wichtigste Anlass, gegen den marcionitischen Ursprung der Prologe zu votieren: „Ob man aber schon im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts, als der Kampf gegen den Marcionitismus seinen Höhepunkt erreichte, wirklich marcionitische Prologe, von deren Existenz Tertullian um 215 offenbar nichts weiß, ohne den geringsten Argwohn in eine katholische Paulusausgabe hat übernehmen können, ist eine Frage, die sich wohl nur mit einem ungewöhnlichen Maß an Kühnheit positiv beantworten läßt.“ 137 90 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="91"?> 138 Vgl. F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, 177; M U N D L E , Herkunft, 57; U. S C H M I D , Marcion, 288-289. 139 Vgl. F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, 178. Zur Problematisierung der Zu‐ ordnung zum „Westlichen Text“ vgl. Kapitel 4.2.2 dieser Arbeit. 140 Vgl. D A H L , Earliest Prologues, 179. 141 D A H L , Earliest Prologues, 203. 142 Prol. Rom: Romani sunt in partibus Italiae. hi praeventi sunt a falsis apostolis et sub nomine domini nostri Iesu Christi in legem et prophetas erant inducti. hos revocat apostolus ad veram evangelicam fidem scribens eis a Corintho. (Text aus J O N G K I N D , Marcionite Prologues, 393; vgl. auch D A H L , Earliest Prologues, 187; eigene Übers.). Vgl. zu Argumenten für die nicht-temporale Übersetzung von praeventi sunt: D A H L , Earliest Prologues, 200. Ausgehend von diesem überlieferungsgeschichtlichen Argument plädiert Frede dafür, dass die Prologe ein wichtiger Zeuge für eine Paulusbriefsammlung sind, die mit dem Galaterbrief beginnt - so wie es auch aus frühen syrischen Zeugen bekannt ist. 138 Die Abfassung der Prologe gehe daher nicht auf Marcioniten zurück, sondern sei im Zusammenhang mit der Entstehung des „Westlichen Textes“ zu verorten. 139 N. A. Dahl kam in seiner Untersuchung der lateinischen Prologe zu einem ganz ähnlichen Schluss: Die Prologe weisen keine marcioni‐ tischen Besonderheiten auf, sie wurden zu einer Paulusbriefsammlung verfasst, die der bei Marcion bezeugten (mindestens) sehr ähnlich ist und von der sich ebenso Spuren in der syrischen und lateinischen Überlieferung finden. 140 Daher sei es sehr wahrscheinlich, dass die lateinischen Prologe im 2. Jahrhundert entstanden sind - doch nicht in marcionitischen Kreisen: „Attestation and history of transmission make it improbable, and no single feature requires a Marcionite origin.” 141 Die Frage nach der Überlieferungsgeschichte ist der zentrale Diskussions‐ punkt für die Rekonstruktion der Entstehung der lateinischen Paulusprologe. Doch spielen auch andere Aspekte eine wichtige Rolle - wie soeben in Dahls Zitat bereits angeklungen ist. Denn es wurde auch die Frage diskutiert, ob die Prologe inhaltlich einen marcionitischen Einschlag erkennen lassen. Von den Befürwortern eines marcionitischen Ursprungs wurde der Prolog zum Römerbrief als Kronzeuge herangezogen, denn dort heißt es: „Die Römer leben in den Regionen Italiens. Sie wurden zuvor von falschen Aposteln erreicht und waren unter dem Namen unseres Herrn Jesus Christus in das Gesetz und die Propheten geleitet worden. Diese ruft der Apostel zum wahren Glauben des Evangeliums zurück, er schreibt ihnen von Athen aus.“ 142 Die aus diesem Text resultierende Frage ist, ob mit diesen Worten die Schriften des Alten Testaments („das Gesetz und die Propheten“) zurückgewiesen werden 91 3.3 Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen <?page no="92"?> 143 Dieser Abschnitt war auch im marcionitischen Römerbrief vorhanden; vgl. U. S C H M I D , Marcion, 118-119. 144 Prol 1Cor: Corinthi sunt Achaici. et hi similiter ab apostolo audierunt verbum veritatis et subversi multifarie a falsis apostolis, quidam a philosophiae verbosa eloquentia, alii a secta legis ludaicae inducti sunt. hos revocat apostolus ad veram et evangelicam sapientiam scribens eis ab Epheso per Timotheum. (Text aus J O N G K I N D , Marcionite Prologues, 393; eigene Übers.). Zu ab apostolo liegt die Variante ab apostolis vor, für deren Ursprünglichkeit sich D A H L , Earliest Prologues, 187 ausspricht. Vgl. zu den Argumenten für ab apostolo J O N G K I N D , Marcionite Prologues, 402-403. Für die hier besprochene Fragestellung ist diese Textvariante jedoch nicht von Relevanz. 145 Vgl. D A H L , Earliest Prologues, 200. 146 Vgl. F R E D E , Altlateinische Paulus-Handschriften, 172-173. Beispielsweise nennt Frede Kallimachos, der einen Katalog der alexandrinischen Bibliothek vorlegt (vgl. ebd.). - oder ob es vielmehr so verstanden werden sollte, dass die römische Gemeinde zuvor von gewissen Gruppen (falsi apostoli) zur strengen Einhaltung der jüdi‐ schen Gesetze - und damit zum Verbleib innerhalb des Judentums - aufgefordert wurde („in das Gesetz und die Propheten geleitet“). Die zweite Interpretation hat den großen Vorteil, dass sie sich aus dem Text des Römerbriefes selbst nachvollziehen lässt (z. B. Röm 3,28-31). 143 Doch kann ausgehend vom Römer‐ prolog noch keine eindeutige Aussage zur marcionitischen Verfasserschaft der lateinischen Prologe getroffen werden. Daher muss in diesem Zusammenhang auch noch einmal der Prolog zum 1. Korintherbrief beachtet werden: „Die Korinther sind aus der Provinz Achaia. Sie hatten ebenso vom Apostel das Wort der Wahrheit gehört, wurden jedoch vielfach von falschen Aposteln verdorben, einige von weitschweifiger, redegewandter Philosophie, andere von einer Gruppe des jüdischen Gesetzes. Diese ruft der Apostel zur Wahrheit und Weisheit des Evangeliums zurück, er schreibt ihnen von Ephesus aus durch Timotheus.“ 144 Bei diesem Prolog fällt die Annahme einer marcionitischen Autorschaft höchst schwer. Der Autor des Prologs identifizierte im Korintherbrief zwei Gruppen, gegen die sich Paulus wendet: Zum einen eine ‚philosophierende‘ (philosophiae verbosa eloquentia) und zum anderen eine ‚judaisierende‘ (secta legis ludaicae). Dahl weist zu Recht darauf hin, dass diese differenzierte Einschätzung, beson‐ ders der Vorwurf der Spaltung durch ‚philosophierende‘ Gruppen, nicht zu dem passt, was die Häresiologen über die Marcioniten schreiben - sondern zu einem typischen Vertreter der „anti-häretischen katholischen Orthodoxie“ 145 . Die Pro‐ loge geben vielmehr auch an dieser Stelle eine prägnante Zusammenfassung des Brieftextes wieder, die sich aus dem Brieftext selbst extrahieren lässt - wofür sich auch Beispiele in der antiken Literatur finden lassen. 146 Folglich ist zu der Frage nach dem Ursprung der lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen festzuhalten, dass der Prolog zum Römerbrief zwar - wenn 92 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="93"?> 147 D A H L , Earliest Prologues, 201. 148 Nichtsdestoweniger gibt es auch in jüngerer Zeit Autoren, die sich für eine marcioni‐ tische Autorschaft der Prologe aussprechen - sie benötigen diese jedoch als Hilfsargu‐ ment für andere Kontexte (ohne damit die Fragen nach den Prologen zu klären): Eric W. Scherbenske untersucht die editorische Praxis anhand von Paratexten der Paulusbrief‐ sammlung - hierfür sind ihm die Marcion zugeordneten Prologe ein willkommenes Beispiel (er scheint die Argumente gegen die marcionitische Urheberschaft bei der Abfassung seines Buches gar nicht beachtet zu haben, da eine Auseinandersetzung mit Dahls Argumenten erst im Anhang des Buches zu finden ist; vgl. E R I C W. S C H E R ‐ B E N S K E , Canonizing Paul: Ancient Editorial Practice and the Corpus Paulinum, Oxford 2013, 237-242). Dirk Jongkind plädiert ebenfalls dafür, die Prologe als marcionitisch anzusehen, weil diese nur zu Marcions Paulusbriefsammlung passen würden (womit er sich Schmids Meinung zu Marcions Apostolos nicht anschließt und bei einem traditionelleren Marcionbild bleibt); vgl. J O N G K I N D , Marcionite Prologues, v. a. 406-407. Markus Vinzent sieht Marcion als Verfasser des bei ihm bezeugten Evangeliums - weshalb es ihm gelegen kommt, in den Prologen ebenfalls eine literarische Hinterlas‐ senschaft Marcions anzunehmen; vgl. V I N Z E N T , Marcion, 111-131. Zwar zieht auch die vorliegende Arbeit die lateinischen Paulusbriefprologe für ein ‚anderes‘ Ziel - die Plausibilisierung der Priorität des Laodicenerbriefes - heran, doch kann mit dieser These und dem daraus resultierenden Modell das wichtigste Problem der Prologe, nämlich deren Überlieferungsgeschichte, geklärt werden (vgl. Kap. 5.3.2). 149 B O N I F A T I U S F I S C H E R , Das Neue Testament in lateinischer Sprache. Der gegenwärtige Stand seiner Erforschung und seine Bedeutung für die griechische Textgeschichte, in: K. Aland (Hg.): Die Alten Übersetzungen des Neuen Testaments, die Kirchenväterzitate und Lektionare: Der gegenwärtige Stand ihrer Erforschung und ihre Bedeutung für die griechische Textgeschichte (ANTF 5), Berlin/ New York 1972, 26. man der Polemik der Kirchenväter folgen will - als marcionitisch verstanden werden kann, jedoch keinesfalls so verstanden werden muss. Er lässt sich pro‐ blemlos als pointierte Zusammenfassung des Briefinhalts verstehen, so wie es beispielsweise auch beim Prolog zum 1Kor der Fall ist. Gerade dieser Prolog zum 1Kor lässt sich hingegen keineswegs als ‚marcionitisch’ plausibilisieren: „On the balance of evidence, it is easier to ascribe the Prologue to Romans to a Catholic author than to ascribe the Prologue to the Corinthian letters to a Marcionite.“ 147 Daher ist nicht nur aus überlieferungsgeschichtlichen, sondern auch aus texti‐ nternen Gründen ein marcionitischer Ursprung der lateinischen Paulusprologe höchst unwahrscheinlich. 148 Vielmehr ist mit Bonifatius Fischer zu konstatieren: „Die bekannten Prologe sind weder marcionitisch noch antimarcionitisch.“ 149 Wann genau sie entstanden sind, kann damit natürlich nicht gesagt werden. Doch der in diesem Kapitel zitierte, ziemlich eigenartig anmutende Ausdruck aus dem Prolog zum Römerbrief „Romani sunt in partibus Italiae“ („Die Römer leben in Teilen Italiens“) lässt schon vermuten, dass die Prologe wohl in einer Zeit verfasst wurden, bevor das Christentum von Rom (und der lateinischen Sprache) dominiert wurde. 93 3.3 Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen <?page no="94"?> 150 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 287-289 (Zitat S. 289: „Es hat sich also gezeigt, daß es unabhängig von Marcion mindestens einen sicheren Beleg für die Existenz einer Pau‐ lusbriefausgabe gibt, die nach Umfang und Anordnung und weiteren Merkmalen (Eph = Laod, Röm nur 14 Kapitel) exakt mit der marcionitischen Ausgabe übereinstimmt.“); vgl. D A H L , Earliest Prologues, 193-195. 151 Beispielsweise lassen ein Kommentar des Ephraem sowie der sog. Catalogus Sinaiticus erkennen, dass ‚deren‘ Paulusbriefsammlungen auch mit dem Galaterbrief begannen; vgl. zu diesen Spuren der 10-Briefe-Sammlung D A H L , Earliest Prologues, 195; J O N G K I N D , Marcionite Prologues, 396-397 und ebenso N I L S A L S T R U P D A H L , The Particularity of the Pauline Epistles as a Problem in the Ancient Church, in: D. Hellholm/ V. Blomkvist/ T. Fornberg (Hg.): Studies in Ephesians (WUNT 131), Tübingen 2000, 165-186. 152 Vgl. D A H L , Earliest Prologues 203. Dahl knüpft bei seinen Überlegungen an J. Knox an (K N O X , Marcion, 46), indem er sich dafür ausspricht, dass die Briefe der 10-Briefe-Samm‐ lung an sieben verschiedene Gemeinden adressiert gewesen seien, wie es im sog. ‚Muratorischen Fragment` erzählt wird (vgl. D A H L , Earliest Prologues, 194; die Briefe an die Kol und Phlm wären dann als ein Brief gezählt). Die Entstehungszeit und Aussagekraft des Muratorischen Fragments ist jedoch sehr umstritten (vgl. J O S E P H V E R H E Y D E N , The Canon Muratori: A Matter of Dispute, in: J. M. Auwers/ H. J. D. Jonge (Hg.): The Biblical Canons (BETL 163), Leuven 2003, v. a. 488-497), so dass die Terminologie einer 10-Briefe-Sammlung zu bevorzugen ist. 3.3.3 Die Prologe als Zeugnisse einer vormarcionitischen Paulusbriefausgabe So steht jedoch die Frage im Raum, an welcher Stelle der Geschichte der Pau‐ lusbriefsammlungen sich die Entstehung der Prologe am einfachsten verorten lassen. Es wurde bereits dargelegt, dass sie nicht zu Einzelbriefen, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Sammlung geschrieben wurden, die a) an erster Stelle den Galaterbrief hatte, b) den Laodicenerbrief statt des Epheserbriefes enthielt, und c) den Römerbrief ohne das 16. Kapitel umfasste. Wenn man sich von der aus Verlegenheit entstandenen Idee des marcionitischen Ursprungs gelöst hat, ist die Überlieferungsgeschichte der Prologe nicht mehr das Problem, sondern vielmehr der Schlüssel. Ausgehend von den lateinischen Prologen zu den Paulusbriefen kann ein Blick auf die Frühgeschichte der Paulusbriefsammlungen geworfen werden. Dabei kann auf Überlegungen von N. A. Dahl und U. Schmid zurückgegriffen werden, die beide die Prologe als Beleg für die frühe Existenz einer Paulusbrief‐ sammlung sehen, welche (mindestens in Umfang und Anordnung) der bei Marcion bezeugten Sammlung entsprach. 150 Dahl interpretierte die lateinischen Prologe als Hinweis auf eine - beispielsweise in der syrischen Tradition auch sonst bezeugte 151 - 10-Briefe-Sammlung, zu der von einem ‚orthodoxen‘ Autor im 2. Jahrhundert die Prologe als Einleitung verfasst worden seien. 152 Diese auch außerhalb marcionitischer Kreise zirkulierende Paulusbriefsammlung 94 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="95"?> 153 Vgl. D A H L , Earliest Prologues, 195-197. 154 U. S C H M I D , Marcion, 296. 155 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 203. Die Entstehungszeit dieser Paulusbriefsammlung setzt Schmid im späten 1. Jahrhundert an. Vgl. die Diskussion von Schmids Annahme einer Überarbeitungstätigkeit Marcions in Kap. 4.2.2. 156 Das heißt nicht, dass die lateinischen Prologe auch tatsächlich in der Zeit vor Marcion verfasst worden sein müssen - es ist durchaus möglich, dass sie erst später entstanden, und zwar zu einer Zeit, als die 10-Briefe-Sammlung noch im Umlauf war (vgl. die Diskussion der Übereinstimmungen zwischen der 10-Briefe-Sammlung und den altla‐ teinischen Handschriften in Kap. 5.3.1). könne als einer der Archetypen für die handschriftliche Überlieferung der Paulusbriefe gelten (vgl. die Diskussion eines überlieferungsgeschichtlichen Modells in Kap. 5.3). 153 Schmid bewertet die „sog. Marcionitischen Prologe“ insbesondere aufgrund der bezeugten Reihenfolge und der 14-Kapitel-Form des Römerbriefes als entscheidenden Anhaltspunkt für eine „vormarcionitische Paulusbriefausgabe“ 154 . Mit diesem Begriff bringt er zum Ausdruck, dass Mar‐ cion eine bereits existierende Paulusbriefsammlung übernommen habe, die zuvor auch in außermarcionitischen Kreisen zirkuliert sei (und die er nur in sehr geringem Umfang überarbeitet habe). 155 Es kann demnach mit guten Gründen davon ausgegangen werden, dass die Spur der lateinischen Prologe zu einer Paulusbriefsammlung führt, die vor Marcion entstand und die Einflüsse auf die handschriftliche Überlieferung ‚orthodoxer‘ Kreise hatte. 156 Die lateinischen Prologe haben somit, wie im zurückliegenden Kapitel deutlich wurde, einen kaum zu überschätzenden Wert für die Rekonstruktion der Frühgeschichte der Paulusbriefsammlung - und auch für die Frage nach dem Laodicenerbrief, wie der folgende Abschnitt noch einmal zusammenfassend zeigt. 3.3.4 Fazit: Die lateinischen Prologe als Argument für die Priorität der Laodiceneradresse Somit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass folgender Rekonstruk‐ tion insgesamt mit Abstand die meiste Plausibilität zukommt: Die lateinischen Prologe wurden nicht von Marcioniten verfasst - dagegen sprechen erheb‐ liche überlieferungsgeschichtliche und inhaltliche Gründe. Ihre Zuordnung zu marcionitischen Kreisen war vielmehr nur eine Verlegenheitslösung, die zustande kam, weil Marcion als Urheber der 10-Briefe-Sammlung (mit dem Galaterbrief an erster Stelle, dem Laodicenerbrief anstelle des Epheserbriefes und dem 14-Kapitel-Römerbrief) angesehen wurde. Im Laufe des 20. Jahrhun‐ derts wurde jedoch zunehmend deutlich, dass Marcion eine ihm vorausgehende 95 3.3 Die lateinischen Prologe zu den Paulusbriefen <?page no="96"?> 157 F I S C H E R , Das Neue Testament, 26. 10-Briefe-Sammlung (mehr oder weniger) übernommen hat. Deshalb müssen die lateinischen Prologe nun nicht mehr als marcionitisch eingeordnet werden, sondern es wird deutlich, dass sie einen wichtigen Blick in die Frühgeschichte der Paulusbriefausgaben erlauben: Die lateinischen Prologe wurden zu einer vormarcionitischen 10-Briefe-Sammlung verfasst, sie sind „weder marcionitisch noch antimarcionitisch“ 157 . Daher kommt den lateinischen Prologen eine außerordentliche Bedeutung für die Frage nach der Adresse des Laodicener-/ Epheserbriefes zu. Der Prolog zum Kolosserbrief verweist mit dem sicut Laodicenses auf einen in der gleichen Briefsammlung befindlichen Laodicenerbrief (so wie auch der Prolog zum 1. Korintherbrief auf den Galaterbrief verweist). Dies ist erstens ein Beleg dafür, dass die Laodiceneradresse nicht von Marcion bearbeitet worden ist (wozu es auch keinen ersichtlichen Grund gibt, vgl. Kap. 2.3.2), sondern ‚vormarcioni‐ tisch‘ ist. Zweitens ist aus den lateinischen Prologen zu schlussfolgern, dass der Brief, den wir als Epheserbrief kennen, im frühen Christentum tatsächlich als Laodicenerbrief im Umlauf war. Und drittens lässt sich an den Prologen zu den Paulusbriefen erkennen, dass sich Spuren der alten 10-Briefe-Sammlung in den neutestamentlichen Handschriften erhalten haben. Diese Relevanz der lateinischen Prologe für die Frage nach der Adresse des Epheserbriefes wurde bislang nicht wahrgenommen. Frede, Dahl, Schmid und andere gehen zwar im Kontext des Kolosserprologs auf die Laodi‐ cener-Adresse ein, fragen jedoch weder danach, in welcher Beziehung diese zur Epheser-Adresse steht, noch danach, wie diese Differenz entstanden ist und wie sie in den Handschriften überliefert wurde. Dabei ist gerade dies ja der interessanteste Aspekt - besonders, wenn man die aus den lateinischen Prologen zu rekonstruierende Existenz des Laodicenerbriefes mit der Angabe in Kol 4,16 zusammenbringt. Dieses Gesamtbild wird das folgende Kapitel noch einmal zusammenfassend in den Fokus nehmen. 3.4 Zusammenfassung: Die Laodicener-Adresse als ältester erreichbarer Text in Eph 1,1 Nach der Analyse der vorliegenden Quellen zur Adresse des Epheserbriefes lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Laodicener-Adresse nicht nur im ältesten Zeugnis für den Epheserbrief, nämlich Marcions 10-Briefe-Sammlung, enthalten war, sondern auch kein Grund ersichtlich ist, weshalb Marcion die 96 3 Die Priorität der Laodicener-Adresse <?page no="97"?> Adresse geändert haben sollte. Zudem lässt sich auch auf der Makro-Ebene der Paulusbriefsammlungen die Priorität der 10-Briefe-Sammlung plausibilisieren. Noch wichtiger ist jedoch, dass mit der Annahme der Priorität der Laodi‐ cener-Adresse für zwei offene Probleme der neutestamentlichen Wissenschaft eine überzeugende Lösung gefunden wurde: Zum einen kann so der Brief „aus Laodicea“, den die Kolosser sich besorgen sollen (Kol 4,16), identifiziert werden. Wenn dieser Brief derjenige ist, den wir als Epheserbrief kennen, dann lässt sich sowohl auf der literarischen Ebene (Tychikus lieferte den Kolosser- und Laodicenerbrief auf einer Reise aus) als auch in historisch-kriti‐ scher Perspektive (beide pseudepigraphen Briefe entstanden wahrscheinlich in einer ‚abgesprochenen Autorschaft‘, möglicherweise bei der Herausgabe der 10-Briefe-Sammlung) ein stimmiges Verhältnis zwischen Kolosserbrief und Laodicenerbrief rekonstruieren. Zum anderen kann so die Erwähnung der Laodicener in den altlateinischen Prologen erklärt werden. Die Prologe wurden nicht - wie in der Forschung ursprünglich angenommen - von Marcion verfasst, sondern zu einer Briefsammlung, die der bei Marcion bezeugten entspricht. Nur so kann ihre Textüberlieferung erklärt werden, und auch der Inhalt der Prologe bietet keine hinreichenden Gründe, die Prologe für marcionitisch zu halten. Damit bieten die lateinischen Prologe einen wichtigen Einblick in die Frühgeschichte der Paulusbriefsammlung - und auch in die Frühgeschichte der Adresse des Epheserbriefes. Somit ist der erste Teil der angekündigten Spurensuche abgeschlossen. Vor allem die Erwähnung des Laodicenerbriefes in Kol 4,16 und der Hinweis in den lateinischen Prologen sind zentrale Elemente bei der Rekonstruktion der Textgeschichte des Briefes, den wir als Epheserbrief kennen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der Brief ursprünglich an die Laodicener adressiert war. Um diese These weiter zu plausibilisieren, ist jedoch die (zu Beginn des Kapitels angekündigte) Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes nötig, nämlich die ausführliche Analyse der übrigen Textvarianten des bei Marcion bezeugten Laodicenerbriefes und darauffolgend die Diskussion um die Entstehung der Epheseradresse sowie die konkrete Textüberlieferung der Laodicener-/ Epheser‐ adresse. 97 3.4 Zusammenfassung: Die Laodicener-Adresse als ältester erreichbarer Text in Eph 1,1 <?page no="99"?> 1 Die textkritische Methodik wird an verschiedenen Stellen dieses Kapitels noch aus‐ führlich angesprochen, zusammenfassend in Kap. 7.3. Vgl. zur fachwissenschaftlichen Diskussion darum, welcher Text rekonstruiert werden soll: M I C H A E L W. H O L M E S , From „Original Text“ to „Initial Text“: The Traditional Goal of New Testament Textual Criticism in Contemporary Discussion, in: B. D. Ehrman/ M. W. Holmes (Hg.): The Text of the New Testament in Contemporary Research: Essays on the Status Quaestionis, Second Edition (NTTSD 42), Leiden/ Boston 2013, 637-688. Der ‚Ausgangstext‘ (=‚initial text‘) ist auch das Ziel der aktuell maßgebenden Methode der Textkritik, der CBGM (‚Coherence-Based Genealogical Method‘), vgl. dazu ausführlich G E R D M I N K , Editing and Genealogical Studies: The New Testament, Literary and Linguistic Computing 15/ 1 (2000), 51-56; P E T E R J . G U R R Y , A Critical Examination of the Coherence-Based Genea‐ 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes 4.1 Einleitung und Fragestellung Zu Beginn dieser Arbeit wurde bereits dargestellt, dass seit dem 18. Jh. Kritik an den Aussagen der Kirchenväter gegen Marcion aufkam und zunehmend in Frage gestellt wurde, inwiefern Marcion das Lukasevangelium und die Paulusbriefe wirklich in einem solch großen Umfang geändert hatte, wie ihm vorgeworfen wurde. Im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich, dass es sehr gute Argu‐ mente dafür gibt, dass Marcion die Adresse des Laodicenerbriefes übernommen hatte und diese sogar Priorität beanspruchen kann. Als nächster Schritt auf dem angekündigten Weg der neuen Perspektive auf die Textgeschichte des Epheser‐ briefes steht nun die Untersuchung der sonstigen - weniger augenfälligen, jedoch nicht weniger wichtigen - Lesarten des Laodicenerbriefes, wie sie sich aus den Zeugnissen der Kirchenväter rekonstruieren lassen, an. Die zugrunde liegende Arbeitshypothese des Kapitels ist, dass dem Text des Laodicenerbriefes Priorität gegenüber dem Text des Epheserbriefes zukommt. Eine besondere Herausforderung stellt dabei das Problem dar, dass sowohl der Text des Laodicenerbriefes als auch der des Epheserbriefes nicht völlig eindeutig zu fassen sind, da sie nicht ‚an sich‘ vorliegen, sondern erst rekonstruiert werden müssen. Auf der Seite der neutestamentlichen Handschriften liegt das Problem in der Vielzahl und der Vielgestaltigkeit der Handschriften; der Text variiert von Handschrift zu Handschrift, auch aus alten Übersetzungen und Kirchenväterzitaten können Varianten des Epheserbriefes rekonstruiert werden. Außerdem steht die Frage im Raum, was eigentlich der Zielpunkt der textkritischen Wissenschaft ist, welcher Text also rekonstruiert werden soll. 1 <?page no="100"?> logical Method in New Testament Textual Criticism (NTTSD 55), Leiden/ Boston 2017, 89-113; zu den Vorzügen und Nachteilen der CBGM vgl. T O M M Y W A S S E R M A N / P E T E R J . G U R R Y , A New Approach to Textual Criticism: An Introduction to the Coherence-Based Genealogical Method (RBSt 80), Atlanta/ Stuttgart 2017, zusammenfassend 111-121. Vgl. dazu auch die Diskussion um zwei mögliche ‚Ausgangstexte‘ in Kap. 7.3. 2 Vgl. dazu die Einleitung in die Rekonstruktion des Textes von Marcions Paulusbrief‐ sammlung in Kap. 2.2.1. Auf der Seite der marcionitischen Paulusbriefsammlung liegt die Schwierigkeit hingegen im Mangel an Quellen, da wir einen Zugriff auf diesen Text nicht über Handschriften, sondern nur über die - teilweise widersprüchlichen - Zitate bei Tertullian und Epiphanius bekommen können. 2 Diese Herausforderungen sind in ihren Grundzügen alles andere als untypisch für die historische Wissenschaft. Die für die neutestamentliche Forschung zentrale und umtreibende Frage ist jedoch die nach dem Verhältnis der beiden Größen zueinander. Dieser Proble‐ matik wird im Folgenden anhand einer detaillierten Untersuchung des Textes der 10-Briefe-Sammlung Marcions nachgegangen. Dafür wird in einem ersten Schritt ein Überblick über die Forschungsgeschichte gegeben und der aktuelle Forschungsstand zu Marcions Paulustext dargestellt und kritisch diskutiert (Kap. 4.2). Ausgehend von dem daraus zu ziehenden Fazit, dass die gegenwärtig weit verbreitete Zuordnung des Textes von Marcions 10-Briefe-Sammlung zum ‚Westlichen Text‘ zu kurz greift, wird die Arbeitshypothese erörtert und geprüft, ob der Text des Laodicenerbriefes bei Marcion als prioritär zu dem in den Handschriften überlieferten Text gesehen werden kann (Kap. 4.3). Ein Fazit zur Arbeitshypothese der Priorität des Laodicenerbrief-Textes wird dieses Kapitel abschließen (Kap. 4.4). 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung 4.2.1 Auf welchen Text griff Marcion zurück? Die Forschungsgeschichte zu Marcions Paulusbriefsammlung a) 18. bis frühes 20. Jahrhundert Nach den ersten Anfängen der kritischen Diskussion zum Verhältnis von ‚mar‐ cionitischen‘ und neutestamentlichen Schriften im späten 17. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert setzte sich erstmals August Hahn im Jahr 1823 konkret mit 100 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="101"?> 3 Vgl. H A H N , Das Evangelium Marcions, 132-223. Dazu auch: A D O L F von H A R N A C K / F R I E D E M A N N S T E C K , Marcion, der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator: Die Dorpater Preisschrift (1870), Kritische Edition des handschriftlichen Exemplars mit einem Anhang (TU 149), Berlin 2003, 121-122 und R O T H , The Text, 8-9. Vgl. zur Darstellung der frühen Forschungsgeschichte R O T H , The Text, 7-45 sowie K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 3-26 und Kap. 2.2.2 in der vorliegenden Arbeit. 4 Vgl. H A H N , Das Evangelium Marcions, 132-222. Für den Laodicenerbrief arbeitete Hahn an folgenden Stellen „willkürliche Änderungen“ heraus: Eph 3,9; 5,31; 6,2; 6,3 (ebd., 64-65). Diese Stellen sind Bestandteil der ausführlichen Diskussion in Kap. 4.3. 5 H A H N , Das Evangelium Marcions, 283. 6 A L B E R T S C H W E G L E R , Rezension zu W. M. L. De Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments, ThJb 2 (1843), 575. 7 S C H W E G L E R , Rezension, 584. dem aus den Quellen zu rekonstruierenden Text auseinander. 3 Dabei hielt er sich eng an das Urteil Tertullians und bot - zumindest für das Evangelium - eine Liste der marcionitischen Änderungen mit seinem Urteil über sie. 4 Hahn diskutierte zwar die Möglichkeit, Marcion habe „seiner Parthey ein Evangelienbuch zum Gebrauche uebergeben, wie es aus der Hand der Zeit selbst erhalten“ 5 - doch ging er nicht auf die für unsere Fragestellung relevanten Textvarianten in den neutestamentlichen Handschriften ein. Dies erfolgte erstmals bei Albert Schwegler, der in einer 1843 erschienenen Rezension zu einem Lehrbuch von Wilhelm M. L. de Wette nicht nur Tertullians Behauptungen gegen Marcion für „ganz unzuverlässig und voll leidenschaftli‐ cher Consequenzmacherei“ 6 hielt, sondern zudem auf das Vorkommen marcio‐ nitischer Lesarten in den katholischen Handschriften der Paulusbriefe einging und dabei resümierte: „Mit dem άποστολικόν hat es die gleiche Bewandtniss [wie mit dem Evangelium, T.F.]. Auch hier soll Marcion gefälscht und verstümmelt haben; ziehen wir aber alles dasjenige ab, wo er nachweislich in seinem Rechte ist, z. B. die letzten Kapitel des Römerbriefes, und Anderes, wo er wenigstens nicht in entschiedenem Unrechte ist, z. B. Abweichungen in Lesarten, - wie Weniges bleibt auch hier übrig, was zur Anklage systematischer Fälschung berechtigte? Und doch, welche Verheerungen hätte er in den zehn paulinischen Briefen, die er als kanonisch anerkannte, anrichten müssen, wenn er alles auf die Weltschöpfung, auf die Person Christi, auf`s A. T. Bezügliche oder seinen ascetischen Grundsätzen Widerstrebende, überhaupt Alles, was zu einer Polemik gegen ihn Material darbieten konnte, in consequenter Verfolgung seines Zweckes hätte tilgen wollen? Auch hier kehrt das Dilemma wieder: entweder er hat gar nichts gefälscht oder er ist über alle Maassen zweck- und gedankenlos dabei zu Werke gegangen.“ 7 101 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="102"?> 8 Vgl. Z A H N , Geschichte des neutestamentlichen Kanons II, 455-529 9 Vgl. H E R M A N N V . S O D E N , Die Schriften, 1624-1629. 10 H E R M A N N V . S O D E N , Die Schriften, 1624. 11 Vgl. H E R M A N N V . S O D E N , Die Schriften, 1629. Mit den Buchstaben I, H und K meint von Soden einzelne Gruppen von Handschriften (Texttypen), nämlich den Koine-Text (K), den hesychianischen, also ägyptischen Text (H) sowie den Jerusalem-Text (I), vgl. ebd. in großer Ausführlichkeit 712-1358. Vgl. dazu auch K. A L A N D / B. A L A N D , Der Text, 37. Schwegler zog hier erstmals (wenn auch nur indirekt) in Erwägung, dass die von den Häretikern geäußerten Vorwürfe gegenüber Marcion (mindestens zum Teil) auch auf Abweichungen in Lesarten zurückgehen können. Diese Spur der Übereinstimmungen von marcionitischem Text und Varianten in den kanonischen Handschriften nahm Theodor Zahn fast 50 Jahre später (1892) wieder auf. Er wies im Apparat seiner Rekonstruktion der marcioniti‐ schen Textform immer wieder auf Parallelen in den Handschriften hin. 8 Doch erst Hermann von Soden formulierte ansatzweise eine Theorie zur Übereinstim‐ mung von Varianten bei Marcion und in den Handschriften (1907). 9 Im Kapitel zu Marcion schreibt er: „Kann auch darüber kein Zweifel sein, dass der allgemeine Vorwurf seiner Gegner, er habe das Lk-Ev verstümmelt, berechtigt war, indem er, was zu seinen Anschauungen nicht passte, strich oder änderte, so kann er an sich dennoch, wo er dazu keinen Anlass sah, sich wortrecht an den damals herrschenden Wortlaut des Lk-Ev gehalten haben. Jedenfalls ist, wo eine Abweichung seines Ev von I-H-K nicht offenkundig in der Linie seiner Sonderlehren liegt, sein Text zunächst vorurteilslos als ältester auf uns gekommener Zeuge zu betrachten.“ 10 Von Soden äußert sich leider nur recht knapp zu dieser Fragestellung. Dies ist insofern verständlich, als Marcion für ihn nur eine Zwischenstation auf der Suche nach der ältesten erreichbaren Textgestalt ist. Doch nimmt er Marcion - auch wenn er ihm eine Verstümmelung der Texte vorwirft - zumindest teilweise als Zeugen für die ihm damals vorliegende Textform ernst: Er sei ein Vertreter des „I-H-K-Textes“, der um 140 in Kleinasien oder Rom gelesen worden sei. 11 Auch wenn die Zuordnung im Einzelnen sehr fraglich bleibt (vgl. die folgenden Diskussionen), legte von Soden an dieser Stelle erstmals einen genauen Blick auf die Übereinstimmungen der Lesarten zwischen marcionitischem und kano‐ nischem Text. Hans Lietzmann schlug 1919 vor, der Paulustext sei erstmals von Marcioniten ins Lateinische übersetzt worden und dann in katholischen Kreisen - aus Ermangelung an eigenen Übersetzungen - benutzt worden; so wären die 102 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="103"?> 12 Vgl. H A N S L I E T Z M A N N , An die Römer: Einführung in die Textgeschichte der Paulusbriefe (HNT 8), Tübingen 3 1928, 14-16. 13 Vgl. H A R N A C K , Marcion, 161*-167*; vgl. H A N S von S O D E N , Der lateinische Paulustext bei Marcion und Tertullian, in: R. Bultmann/ H. von Soden (Hg.): Festgabe für Adolf Jülicher zum 70. Geburtstag, Tübingen 1927, 230. 14 H A N S V O N S O D E N , Der lateinische Paulustext, 276. 15 L I E T Z M A N N , An die Römer, 14-15. 16 Vgl. L I E T Z M A N N , An die Römer, 15. Dabei konkretisiert auch Lietzmann nicht, was den W-Text seiner Meinung nach kennzeichnet - er hält lediglich fest, dass der „abendländische Text des Westens“ als „W“ bezeichnet wird (ebd. S. 13). 17 H A R N A C K , Marcion, 149*-167*. Weite Verbreitung fand die leicht überarbeitete Ausgabe von 1924, die auch im Folgenden zitiert wird. Erste Gedanken zu diesem Thema äußerte Harnack schon 50 Jahre vorher in seiner sog. „Dorpater Preisschrift” (1971); vgl. darin zum Text des marcionitischen Laodicenerbriefes H A R N A C K / S T E C K , Marcion (Dorpater Preisschrift), 172-173. marcionitischen Lesarten in die katholischen Texte vorgedrungen. 12 Allerdings blieb Lietzmanns Auffassung nur eine kurze Episode der Forschungsgeschichte, sowohl Harnack als auch Hans von Soden wiesen darauf hin, dass dieser Vor‐ schlag durch keinerlei Beobachtungen in den Quellen gestützt werden kann. 13 Vielmehr seien die frühen lateinischen Übersetzungen „ein verwickeltes Ge‐ webe“ mit „selbständigen Übersetzungen verschiedener Heimat“ 14 . Lietzmann selbst ging in der dritten Auflage seines Römerbriefkommentares auf die Kritik ein und zeigte sich nun auch selbst skeptisch: „Die in der vorigen Auflage dieser Einführung ausgesprochene Vermutung […] ist unbeweisbar und begegnet ernsthaften Bedenken.“ 15 Vielmehr sieht er den Marcion-Text nun auch in der Nähe eines älteren W-Textes. 16 Nach diesem kurzen Streifzug durch die frühe Geschichte der Forschung zum Text des marcionitischen Apostolos kann festgehalten werden, dass die Frage, ob Marcion den Text selbst geändert oder nur einen bereits existierenden Text übernommen hat, zunehmend differenzierter beantwortet wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgten dann auch detailliertere Untersuchungen zu Beziehungen des Apostolos zu anderen Zeugen der Paulusbriefe. b) Adolf v. Harnack Adolf v. Harnack befasste sich in seinem großen Marcion-Buch (1. Aufl. 1921) erstmals umfangreich mit der Einordnung des marcionitischen Textes in die allgemeine Textgeschichte der neutestamentlichen Schriften, wobei er auch einen besonderen Fokus auf das Verhältnis von Marcion und ‚W-Text‘ (so seine Bezeichnung für den Westlichen Text) legte. 17 Seine Überlegungen dazu führen in das Zentrum unserer Fragestellung und werden daher näher vorgestellt. 103 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="104"?> 18 H A R N A C K , Marcion, 155*. 19 H A R N A C K , Marcion, 154*. Im Einzelnen handelt es sich seiner Meinung nach um: Gal 5,14; Röm 1,16; 1Kor 15,3; 1Thess 2,15; Eph 4,6; Eph 5,31. 20 Vgl. H A R N A C K , Marcion, 166*. In diesem Zusammenhang fällt auch der vielzitierte Satz: „Wo kämen wir hin, wenn wir alle Sonderlesarten des W-Textes dem M. als Urheber zuwiesen! “ (ebd., 162*). 21 H A R N A C K , Marcion, 152*. 22 Vgl. H A R N A C K , Marcion, 30-35. 23 Vgl. S C H W E G L E R , Rezension, 584. Harnack identifizierte in den Paulusbriefen an 98 Stellen Übereinstimmung des Marcion-Textes mit dem W-Text, besonders auch in vielen kleineren „stilisti‐ schen Eigentümlichkeiten“. 18 Von diesen 98 Lesarten bewertet er sechs Lesarten „mit hoher Wahrscheinlichkeit als Marcionitische tendenziöse Korrekturen“ 19 , d. h. sie gehen seiner Meinung nach auf dogmatische Änderungen Marcions zurück und haben dann ihren Weg in die Überlieferung des katholischen Textes gefunden. Zugleich arbeitet Harnack jedoch auch heraus, dass die überwältigende Anzahl der Lesarten, die man ausgehend von den Zitaten der Häresiologen für marcionitisch halten könnte, lediglich Lesarten des W-Textes sind. 20 Dies führt ihn zu der Schlussfolgerung, Marcion habe „der Text der römischen Gemeinde kurz vor der Mitte des 2. Jahrhunderts“ 21 vorgelegen - und von diesem ausgehend habe er seine Rezension des Apostolos angefertigt. Damit erzeugt Harnack ein sehr ambivalentes Bild vom marcionitischen Text der Paulusbriefsammlung. Zum einen habe Marcion an den allermeisten Stellen einfach nur einen früheren Text übernommen, zum anderen soll er ihn an wenigen Stellen aus dogmatischen Gründen geändert haben, und diese Änderungen hätten Eingang in die katholischen Handschriften gefunden (auf welchem Wege, bleibt unklar). Die große Frage ist, wie man eine solche Unterscheidung von übernommenen und selbst erschaffenen Varianten durch‐ führt - und vor allem, wie man sie methodisch rechtfertigt. Für Harnack ist der methodische ‚Hebel‘ seine Vorstellung von den dogmatischen Ansichten Marcions, deren Darstellung er in seinem Buch auch vor die Untersuchung des Textes setzt. 22 Diese dogmatischen Ansichten wiederum extrahiert er aus einem Text, den er allerdings erst durch die Anwendung von vermeintlichen dogma‐ tischen Prinzipien Marcions rekonstruiert. Damit begeht er einen klassischen Zirkelschluss. Wenn man nach Harnacks Methode eine dogmatisch einheitliche Rezension durch Marcion annimmt, müsste Marcion an noch viel mehr Stellen Text gestrichen oder gerändert haben - auf diesen Punkt hatte Schwegler bereits lange vor Harnack hingewiesen. 23 Harnacks ambivalente Trennung zwischen übernommenem W-Text und tendenziösen Änderungen Marcions bringt noch weitere ernsthafte Probleme 104 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="105"?> 24 Vgl. die genauere Untersuchung des W-Textes in Kap. 4.2.2. 25 H A R N A C K , Marcion, 151*. 26 Der Grund dafür liegt wohl darin, dass Harnack nicht auf den Apparat von v. Soden zurückgriff (mit dem er, wie er selbst zugab, „aus verschiedenen Gründen [...] nicht zu arbeiten vermag“; H A R N A C K , Marcion, 243* [Fußnote 3]), sondern mit dem Apparat von Tischendorf arbeitete (vgl. ebd.). Vgl. zur Uneinheitlichkeit des W-Textes die Diskussion in Kap. 4.2.2. mit sich. Zum einen ist es die Frage, auf welchem Wege tendenziöse Textände‐ rungen Marcions in die katholischen Handschriften vorgedrungen sein sollen. Und zum anderen bleibt bei Harnack völlig unklar, wie der (uneinheitliche) W-Text überhaupt entstanden sein könnte. 24 Er beschränkt sich lediglich darauf, festzustellen, „daß der griechische und lateinische Text M.s je ein Zwillingsbruder des bilinguen Textes D, G ist und daher ein Blutsverwandter der Itala und Vulgata (gegenüber dem afrikanischen Text), sowie der Texte, wie sie bei Tert. (in seinen übrigen Schriften), Irenäus lat., Novatian, Ambrosiaster, Lucifer, Origenes lat., Augustin usw. vorliegen.“ 25 Außerdem kommen die zahlreichen Textstellen, in denen Marcion nicht den W-Text bietet, in seiner Darstellung nicht vor. 26 Aus diesem Grund kann Harnack auch nichts darüber aussagen, in welches Stadium der Überlieferung des W-Textes Marcion einzuordnen ist. Harnacks Leistung besteht zweifelsohne darin, erstmals einen Gesamtvor‐ schlag für die Entstehung des marcionitischen Textes vorgelegt zu haben, und dabei auch genauer auf den Zusammenhang von marcionitischem Text und W-Text hingewiesen zu haben; es zeigt sich jedoch auch, dass dabei etliche Fragen offenbleiben, da sein Ansatz einige ernstzunehmende methodische Probleme mit sich bringt. Eine Aufgabe, die sich daraus ergibt, ist es, den soge‐ nannten ‚Westlichen Text‘ näher zu beleuchten. Doch vorher soll die weitere Forschungsgeschichte zum Verhältnis von marcionitischem und kanonischem Text dargestellt werden. c) Harnacks Nachwirkung und Edwin C. Blackman Harnacks Rekonstruktion hat in den darauffolgenden Jahrzehnten in der neu‐ testamentlichen Wissenschaft eine weite Verbreitung gefunden und wurde zum zentralen Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung mit Marcion. Seine Ansicht, Marcion habe den Text der neutestamentlichen Schriften um‐ fangreich und tendenziös bearbeitet, wurde jedoch einige Male herausgefordert: 105 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="106"?> 27 Vgl. P A U L -L O U I S C O U C H O U D , Is Marcion’s Gospel one of the Synoptics? , HibJ 34 (1935), 265-277. 28 Vgl. K N O X , Marcion, 77-113. 29 Vgl. J O S E P H B. T Y S O N , Marcion and Luke-Acts: A Defining Struggle, Columbia, SC 2006, v. a. 83-120. 30 Vgl. R A Y M O N D J O S E P H H O F F M A N N , Marcion: On the Restitution of Christianity: An Essay on the Development of Radical Paulinist Theology in the Second Century (AARSR 46), Chico, CA 1984. 31 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 115-179. 32 Vgl. E D W I N C. B L A C K M A N , Marcion and his Influence, London 1948. 33 Vgl. B L A C K M A N , Marcion, 60. 34 Vgl. B L A C K M A N , Marcion, 60. 35 Vgl. B L A C K M A N , Marcion, 128-171. Dafür nutzt er verschiedene, ihm zur Verfügung stehende Editionen der Altlateiner, die jedoch - wie er auch selbst feststellt - eine unterschiedliche Qualität aufweisen. So plädierten Couchoud 27 , Knox 28 , Tyson 29 , Hoffmann 30 und jüngst Klinghardt 31 mehr oder weniger deutlich für die Priorität des Marcion-Evangeliums. Bemer‐ kenswert ist jedoch, dass dabei (mit Ausnahme von Klinghardt) weniger der konkrete Text im Vordergrund ihrer Argumentation stand, sondern vielmehr kanongeschichtliche Fragen (am deutlichsten bei Knox). Außerdem fällt auf, dass fast durchweg das bei Marcion bezeugte Evangelium im Fokus der wissen‐ schaftlichen Aufmerksamkeit stand, die Paulusbriefsammlung jedoch vernach‐ lässigt wurde. Dies ist zwar insofern nachvollziehbar, als im Evangelium die Unterschiede zwischen marcionitischem und kanonischem Text augenfälliger sind. Doch, um sich der Geschichte des neutestamentlichen Textes zu nähern, sind beide Teile, Evangelium und Paulusbriefsammlung, von gleicher Relevanz. Eine Ausnahme davon bildete das Buch ‚Marcion and his Influence‘ von E. C. Blackman aus dem Jahr 1948, das sich der Paulusbriefsammlung zuwandte. 32 Auf der Grundlage von Harnacks Datenmaterial und auch im Anschluss an seine Grundüberzeugungen (z. B. zum Verhältnis von Mcn und Lk, Mcn hatte einen W-Text vorliegen) plädierte Blackman dafür, den Einfluss Marcions auf die handschriftliche Überlieferung der katholischen Texte als etwas weiter reichend anzusehen. 33 Zu dieser Ansicht kommt er, indem er einige der Textpassagen, die Harnack für den W-Text hielt, auf Änderungen Marcions zurückführt, die die handschriftliche Überlieferung beeinflusst hätten. 34 An dieser Stelle zeigt sich kein großer Erkenntnisfortschritt, sondern nur wiederholt das Problem, welches auftritt, wenn man von Marcions hypothetischem dogmatischem Änderungswillen ausgeht. Eine wichtige Leistung von Blackman besteht nichtsdestoweniger darin, die Quellengrundlage für die Untersuchung des Verhältnisses von altlateinischen Handschriften/ Kirchenväterzitaten und Marcions Bibeltext vergleichsweise über‐ sichtlich aufgezeigt zu haben. 35 Auch wenn für die Paulusbriefe deutlich weniger 106 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="107"?> 36 Vgl. B L A C K M A N , Marcion, 161 (zu d und Marcion) bzw. 166 (zu Victorinus und Marcion). altlateinische Handschriften überliefert sind als für das Lukasevangelium, so finden sich doch etliche auffällige Übereinstimmungen. Diese sind im Folgenden für den Laodicener-/ Epheserbrief einmal exemplarisch aufgeführt, um eine Vorstellung davon zu bekommen, um welche Art von Varianten es sich handelt, wenn über die Übereinstimmungen von Mcn und W-Text gesprochen wird. Blackman führt diese jeweils einzeln für bestimmte Textzeugen auf (nachfolgend beispielhaft für den Codex Claromontanus und Marius Victorinus): dD (Claromontanus) and Marcion Ephesians 1.6 Addition of υἱῷ αὐτοῦ after ἠγαπημένῳ So Dd Ee Ff Gg r Victorinus Afer and Marcion. Also some MSS. of Vulgate. 1.13 in quo credentes (not: et credentes). So D e Gg F (not f) r Irenaeus and Marcion. Ambrosiaster omits ἐν ῳ as well. 2.11 μνημονεύοντες implied by d. > μνημονεύετε. Cf. Ambrosiaster, e 2.15 in se ipso reflexive. So Ee Gg Ffm Victorinus Afer, Ambrosiaster, Vg and Marcion. 3.9 +πάντας with Marcion. So Ee Ff Gg Ambrosiaster, Victorinus Afer and also X c B Vg. 4.6 adds nobis at end. So Ee Ff Gg Victorinus Afer m Irenaeus Cyprian and also K L Vg. 5.28 τὸ ἑαυτῶν σῶμα Dd (also Ambrosiaster) […] Victorinus Afer and Marcion Ephesians 1.6 filio suo, cf. d. 2.2 omits νῦν. 2.14 inimicitas, cf. Irenaeus and Ambrosiaster 2.15 in semet ipso, cf. d. 2.16 seems to omit διὰ τοῦ σταυροῦ. Marcion has it at end of verse. 3.9 omnes, cf. d. 4.6 Cf. d. 5.28 Cf. d. 36 107 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="108"?> 37 B L A C K M A N , Marcion, 168. 38 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition. 39 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 1-4. Vgl. zu den lateinischen Prologen Kap. 3.3. Anhand dieser beispielhaften Liste wird deutlich: Hier und da findet sich in Marcions Text ein zusätzliches Wort, hier und da fehlt ein Wort, an anderen Stellen ändert sich die Wortform. Blackmans Vorgehen ist im Einzelnen sicher‐ lich interessant, kann jedoch nicht zu einem zufriedenstellenden Gesamtbild führen. Denn dazu würde auch gehören, die Übereinstimmungen mit anderen (nicht-westlichen) Handschriften sowie Singulärlesarten des marcionitischen Textes in den Blick zu nehmen. Wer ausschließlich nach Übereinstimmungen von dem für Marcion bezeugten Text und dem W-Text sucht, der findet auch nur Übereinstimmungen zwischen dem für Marcion bezeugten Text und W-Text. Auch Blackmans Art, Schlussfolgerungen zu ziehen, ist methodisch höchst fragwürdig. So stellt er ohne Erläuterungen und Diskussion an das Ende der oben auszugsweise zitierten Liste folgende Behauptung: “The majority of concurrences of reading between Marcion and the Old Latin are taken from the Greek text dominant in Rome in the middle of the second century, e. g. 2 Cor. 5.10; Eph 1.6.” 37 Eine Argumentation findet leider nicht statt, sondern lediglich eine Wiederho‐ lung von Harnacks Aussage. Die Übereinstimmungen kann man auch anders interpretieren bzw. auf andere Phänomene zurückführen (vgl. dazu die Diskus‐ sion in Kap. 5.3.). Erfreulicherweise haben sich auch noch andere mit dem Text des marcioni‐ tischen Apostolos auseinandergesetzt - nämlich John J. Clabeaux und Ulrich Schmid, deren Entwürfe in den nächsten beiden Abschnitten vorgestellt werden. d) John J. Clabeaux Nachdem es einige Jahre still um Marcions Textsammlung geworden war, legte John J. Clabeaux im Jahr 1989 sein Werk A Lost Edition of the Letters of Paul vor. 38 Wie sich aus dem Titel bereits herauslesen lässt, sieht er in dem für Marcion bezeugten Text die Möglichkeit, auf eine frühe Edition der Paulusbriefe zurückzuschließen. Der Ausgangspunkt seiner Untersuchung sind zum einen die lateinischen Prologe, zum anderen die großen Übereinstimmungen zwischen dem für Mar‐ cion bezeugten Text und den altlateinischen Handschriften. 39 Auf der Suche nach den Kausalitäten für die Übereinstimmungen analysiert Clabeaux in einem ersten Schritt die Zitationsweise bei Tertullian, Epiphanius und Adamantius, 108 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="109"?> 40 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 7. 41 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 5. 42 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 5. In diesem Zusammenhang bezeichnet er Harnack (z Recht) als Maximalisten. 43 C L A B E A U X , Lost Edition, 83-129. Dabei wendet er sowohl innere (stilistische, gramma‐ tische Eigenheiten usw.) als auch äußere (Bezeugung in Handschriften) Kriterien an, wobei er oft mit mechanischen Fehlern argumentiert. Zur Diskussion der einzelnen Lesarten des Laodicener-/ Epheserbriefes vgl. das nachfolgende Kap. 4.3. 44 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 130. 45 C L A B E A U X , Lost Edition, 129. 46 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 127. 47 Clabeaux vergleicht daher den rekonstruierten vormarcionitischen Text mit der Auf‐ findung eines sehr frühen, präzise datierbaren Papyrus (vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 5). 48 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 129-130. um den marcionitischen Text zu rekonstruieren. 40 Anschließend subtrahiert er davon die Lesarten, die seiner Ansicht nach auf Marcion bzw. Marcioniten zurückgehen. Seine Kriterien dafür sind, ob es a) tendenziöse Änderungen Mar‐ cions sind oder b) Lesarten, die sich nirgendwo anders in der Textüberlieferung finden. 41 Auf diesem Wege arbeitet er 82 Lesarten in Marcions Apostolos-Text heraus, die er für vormarcionitisch („pre-marcionite“) hält. 42 Diese 82 Lesarten sind dann auch die Basis für seine weitere Arbeit, in der er für jede Variante eine (teilweise recht holzschnittartige) Unterscheidung zwischen „correct“ und „incorrect“ durchführt. 43 Im Ergebnis kommt er auf 30 Stellen, in denen der bei Marcion bezeugte Text die ursprüngliche Textfassung überlieferte, an 52 Stellen sieht er den marcionitischen Text als „incorrect“ an, d. h. hier habe der Marcion vorliegende Text schon eine Änderung (=Verschlechterung) erfahren. 44 Zusammenfassend kann er so für den marcionitischen Text festhalten: „The evidence indicates that he [Marcion] is to be seen more as the traditor of a poorly controlled text than as the heavy handed editor or fabricator of a totally new one.“ 45 Dies bestätige, so Clabeaux, den freien Umgang der Schreiber mit den frühchristlichen Texten. 46 Mit diesem Ansatz setzt Clabeaux den Forschungstrend fort, Marcion gegen den Vorwurf der intensiven Textveränderung zu verteidigen und in ihm vielmehr eine wichtige Quelle für die Erforschung der neutestamentlichen Textgeschichte zu sehen. 47 Diese ‚vormarcionitischen‘ Lesarten (also all jene, die seiner Meinung nach nicht auf eine tendenziöse Änderung Marcions zu‐ rückgehen, sondern die dieser übernommen hat) vergleicht Clabeaux nun im letzten Teil seiner Arbeit statistisch mit den neutestamentlichen Handschriften, um zu eruieren, mit welchen Zeugen der marcionitische Text besonders oft übereinstimmt. 48 Hier sind wir bei der Grundfrage dieses Kapitels: Wo und 109 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="110"?> 49 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 129. 50 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 134. 51 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 130.135.137-138. 52 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 130. 53 Vgl. zusammenfassend C L A B E A U X , Lost Edition, 135-141; grundlegend dazu auch ebd. 6-10. 54 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 136. Eph 2,11: Wegfall des διό; μνημονεύοντες statt μνημονεύετε; Wegfall des ὅτι; ὑμεῖς ποτέ statt ποτέ ὑμεῖς. Eph 5,28b: Wegfall des ὡς; warum findet sich der marcionitische Text in den Handschriften des Neuen Testaments? John J. Clabeaux hat die bis dahin ausführlichste Diskussion zu diesem Thema vorgelegt, die im Folgenden in Grundzügen dargestellt wird. Er beginnt mit der Feststellung, dass der für Marcion bezeugte Text oftmals als „Westlicher Text“ charakterisiert wird, diese Aussage jedoch keine wirkliche Aussagekraft besitzt - denn das heiße erstmal lediglich, dass es sich nicht um einen Alexand‐ rinischen Text handele. 49 Für seine nun folgenden statistischen Untersuchungen zieht Clabeaux durchweg nur die 52 Lesarten heran, die er für inkorrekt hält (nur von diesen Lesarten erwartet er Schlussfolgerungen zum Verhältnis von marcionitischem und kanonischem Text). 50 Er kommt zu dem Schluss, dass 48 der 52 inkorrekten marcionitischen Lesarten in den altlateinischen Zeugen vorkommen - was mit Abstand die größte Gruppe darstellt. 51 Problematisch an seinem Vorgehen ist, dass er vorher die inkorrekten Les‐ arten extrahiert, wobei eine große Rolle spielt, in welchen handschriftlichen Zeugnissen sie vorkommen - beispielsweise bewertet er die altlateinischen Les‐ arten sehr schnell als sekundär. Von daher ist die enorm hohe Prozentzahl von inkorrekten marcionitischen Lesarten in den altlateinischen Texten alles andere als verwunderlich - schließlich war ihr Vorkommen in den altlateinischen Zeugnissen zuvor ein wichtiges Kriterium, um sie als inkorrekt zu beurteilen. Methodisch wäre es besser gewesen, die 48 Lesarten im Vergleich zu den gesamten 82 Lesarten auszuwerten. Dies hätte jedoch auch an der Grundaussage der Clabeaux’schen Analyse nichts verändert: Die größten Übereinstimmungen zwischen vormarcioniti‐ schem und neutestamentlichem Text finden sich bei den Altlateinern (68 von 82 Lesarten). 52 Die Altlateiner unterteilt er im Anschluss an die Veröffentlichung des Vetus-Latina-Instituts in Beuron in drei Gruppen: I, D und K, wobei sich der höchste Anteil vormarcionitischer Varianten im Texttyp „I“ findet (48 von 82). 53 Besonderes Gewicht bei der Diskussion der engen Verbindung zwischen vormarcionitischem und altlateinischem Text kommt dabei zehn „Leitfehlern“ zu, wovon sich allein acht in den beiden Versen Eph 2,11 und Eph 5,28b befinden. 54 Diese zwei Verse gehören zu den Stellen, die Clabeaux 110 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="111"?> σάρκα statt σώματα; ἀγαπᾀ nach σῶμα; Wegfall von ἑαυτὸν ἀγαπᾀ. Vgl. dazu die Diskussion der Lesarten des Laodicenerbriefes in Kap. 4.3. 55 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 136. 56 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 138. 57 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 138. Clabeaux legt sich an dieser Stelle nicht fest, ob die Konflation von einem lateinischen vormarcionitischen Text ausging oder von einem griechischen. Er tendiert zu einer lateinischen Version, da die Prologe durchweg nur in lateinischen Handschriften vorkommen. 58 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 142-143. Dabei ist Ephraem für zwei vormarcionitische Lesarten (Eph 2,13; Gal 4,26) der einzige weitere Zeuge. 59 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 144-145. Die in den armenischen, koptischen und äthio‐ pischen Übersetzungen bezeugten vormarcionitischen Lesarten gehen nicht über die bereits im Syrischen bezeugten Varianten hinaus (vgl. ebd.). 60 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 130.133. 61 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 146-147. Zur ‘alexandrinischen’ Textgruppe zählt er dabei auch die Minuskel 1739 und Origenes. in der vormarcionitischen Fassung für eindeutig sekundär hält (die konkreten Textstellen werden im Laufe dieses Kapitels noch genauer diskutert). 55 Von den Altlateinern hat die Gruppe K die geringsten Übereinstimmungen - dies sei insofern überraschend, da es der früheste bezeugte Texttyp ist (v. a. durch Cyprian). 56 Doch auch innerhalb der altlateinischen Texttypen seien „Varianzen“ zu finden, die Clabeaux zu der Vermutung führen, der altlateinische Texttyp I wurde von einer vormarcionitischen Paulusbriefsammlung beeinflusst, wobei in diesem Schritt auch die Prologe Eingang in die lateinische Texttradition gefunden hätten. 57 Mit einer solchen statistischen Vorgehensweise widmet sich Clabeaux auch den weiteren Handschriftengruppen, dabei ergibt seine Analyse die folgende Abstufung: Nach den Altlateinern weisen die „östlichen Versionen“ die höchste Übereinstimmung (40 von 82) mit dem vormarcionitischen Text auf (vor allem die syrische Überlieferung, und zwar hauptsächlich in den Zitaten Ephraems und in der Peshitta, 58 doch auch die armenischen, koptischen und äthiopischen Übersetzungen). 59 Doch gleichauf (40 von 82) mit den östlichen Versionen liegen die griechischen Handschriften D, F und G (sowie die gotische Übersetzung, die Clabeaux aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten mit D und G auch in diese Gruppe einordnet). 60 Mit der ‚alexandrinischen‘ Textgruppe, so Clabeaux, gibt es 31 Übereinstimmungen (davon nur neun inkorrekte, die durchweg auch in den altlateinischen Zeugen vorkommen). 61 Gerade die Übereinstimmungen zwischen dem vormarcionitischen Text und Origenes, einem „vor-alexandrini‐ schen“ Zeugen, nimmt Clabeaux zum Anlass, sich dafür auszusprechen, dass die vormarcionitische Paulusbriefsammlung im Mittelmeerraum zirkuliert sei, und zwar in einer Zeit, bevor sich die verschiedenen Text-Typen etabliert 111 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="112"?> 62 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 147. 63 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 147. 64 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 147. 65 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 147-148. 66 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 148. 67 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 148. 68 Vgl. dazu besonders C L A B E A U X , Lost Edition, 81-83. hätten. 62 Nur so lasse sich das Vorkommen vormarcionitischer Lesarten in solch verschiedenen Texttraditionen erklären. 63 Im Zusammenhang mit der vormarcionitischen Paulusbriefsammlung weist Clabeaux auf das interessante Faktum hin, dass die beiden ältesten Zeugen‐ gruppen für dieses Corpus (altlateinische Prologe, die syrische Überlieferung mit Gal als erstem Brief) genau den beiden geographischen Räumen ent‐ stammen, in denen sich in den Handschriften die höchste Übereinstimmung mit dem vormarcionitischen Text findet. 64 Seine Folgefrage ist, wo nun die vormarcionitische Sammlung entstanden sei (in Rom oder im Osten? ). 65 Wei‐ tere Überlegungen zu diesem erstaunlichen Befund werden nicht angestellt. Clabeaux weist zusammenfassend lediglich noch einmal darauf hin, dass die Rolle Marcions weiter in den Hintergrund rückt und er einen bereits weit zirkulierenden Text-Typ benutzt habe. 66 Der abschließende Gedanke in seiner Arbeit widmet sich der Frage, warum die vormarcionitische Paulusbriefsamm‐ lung verdrängt wurde - seine Antwort lautet: sie wies zu viele textliche Fehler auf, sie überlieferte die Paulusbriefe in einer später als verkehrt angesehenen Reihenfolge und sie enthielt die Pastoralbriefe nicht. 67 Die von Clabeaux vorgelegte Arbeit zeichnet sich zum einen durch ihre detaillierte Untersuchung der Übereinstimmungen des bei Marcion bezeugten Textes mit den kanonischen Handschriften aus. Inwiefern seine Interpretation der Daten hierbei überzeugen kann, wird im nächsten Kapitel diskutiert. Zum anderen hat Clabeaux mit dem Ausdruck „vormarcionitischer Text“ eine nütz‐ liche Terminologie in die Marcion-Forschung eingeführt. 68 Bei dem Ausdruck „marcionitischer Text“ schwingt die Annahme mit, der Text sei von Marcion hergestellt. Der Terminus „vormarcionitisch“ hingegen macht deutlich, dass Marcion lediglich einen zeitlich vor ihm entstandenen Text übernommen hat - und zugleich lässt er offen, ob Marcion den Text an einzelnen Stellen verändert hat oder nicht (zu dieser Diskussion gleich mehr). Daher wird auch im Folgenden vom „vormarcionitischen Text“ die Rede sein (und damit die umständliche Redeweise vom „bei Marcion bezeugten Text“ ersetzt). Auch U. Schmid, dessen Überlegungen im nächsten Abschnitt dargestellt werden, übernahm diesen Begriff. 112 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="113"?> 69 Vgl. U. S C H M I D , Marcion. 70 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 236. 71 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 260-308. 72 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 261. 73 H A R N A C K , Marcion, 64-73; vgl. dazu auch U. S C H M I D , Marcion, 11-16. 74 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 261. 75 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 262 76 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 261-262. Beispielsweise bieten in Eph 2,11 F G lat μνημονεύοντες statt (wie alle anderen Handschriften) μνημονεύετε ὅτι. In der marcio‐ nitischen Ausgabe ist (genau wie in F G lat) das grammatikalisch seltsame Partizip μνημονεύοντες zu finden. Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass die Lesart an zwei verschiedenen Stellen unabhängig voneinander entstand, muss davon ausgegangen werden, dass ein Zusammenhang zwischen dem Text bei Marcion und dem in F G lat besteht (vgl. ebd. 142-143). e) Ulrich Schmid Ulrich Schmid legte in seiner 1995 erschienenen Dissertation „Marcion und sein Apostolos“ eine methodisch durchdachte Rekonstruktion des marcionitischen Textes der Paulusbriefsammlung vor. 69 Dabei geht er in zwei Schritten vor: Zuerst untersucht er die Zeugen für den marcionitischen Text (Tertullian, Epiphanius, Dialog des Adamantius), wobei er einen großen Wert auf die jeweiligen Eigenheiten der Quellen legt, vor allem auf die Zitiergewohnheiten der Autoren (u. a. auch mit dem Ergebnis, dass der Dialog des Adamantius für die Rekonstruktion des marcionitischen Apostolos keine kontrolliert auswertbare Quelle ist). 70 Dies führt ihn zu einer methodisch gut fundierten Rekonstruktion des marcionitischen Textes. Ausgehend davon diskutiert Schmid in einem zweiten Schritt die Einordnung des marcionitischen Textes in die Überliefe‐ rungsgeschichte der paulinischen Briefe. 71 Dabei beschränkt er sich auf die so‐ genannten „sicheren“ Lesarten des marcionitischen Textes - also auf diejenigen Stellen, die sich aus Tertullian und Epiphanius rekonstruieren lassen. 72 Dies unterscheidet ihn von Harnack, der allein auf Grundlage seiner Rekonstruktion der marcionitischen Theologie etliche weitere sogenannte „marcionitisch-ten‐ denziöse Änderungen“ 73 schlussfolgerte. Im Anschluss an eine ausführliche Diskussion des Quellenmaterials hält Schmid fest, dass es aufgrund der Bezeugungen der Häresiologen möglich sei, an insgesamt 182 Stellen den Text des marcionitischen Apostolos zu rekonstru‐ ieren. 74 Davon sind 27 Stellen „nicht signifikante Singulärlesarten“, das heißt, diese Lesarten sind nirgendwo sonst belegt und ermöglichen auch keine Verbin‐ dung zu anderen Textzeugen. 75 An den verbleibenden 155 Lesarten hingegen sei der marcionitische Text eindeutig in die Überlieferung des neutestamentlichen Textes einzuordnen. 76 Diese Analyse ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, den Charakter des vormarcionitischen Textes zu eruieren. 113 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="114"?> 77 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 274. Schmid grenzt sich hier vor allem von Clabeaux ab, beispielsweise scheint ihm die bei Clabeaux hergestellte Nähe zwischen lat I und Mcn künstlich zu sein, da I sich nur im Übersetzungsvokabular unterscheide, nicht aber eine abweichende griechische Lesart widerspiegele (vgl. ebd. 269-270). 78 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 271. Die eine Stelle, an der die Textzeugen D F G und die lateinischen Texttypen D und I auseinandergehen, ist Eph 2,3 (καὶ ἡμεῖς vs. καὶ ὑμεῖς) (vgl. ebd. 274-275). Vgl. zur kritischen Diskussion der Nähe von Mcn und W-Text das folgende Kap. 4.2.2. 79 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 274. In diesem Zusammenhang weist Schmid auch ausführlich auf die generellen Probleme hin, die eine Identifizierung verschiedener Text-Typen mit sich bringt (vgl. ebd., 270-274). 80 U. S C H M I D , Marcion, 274-275. 81 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 276. Im Einzelnen handelt es sich um Eph 1,9; Eph 1,12; Eph 1,13; Eph 2,11; Eph 3,10; Eph 5,28 (Anm. 113). 82 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 275-276. Die konkrete Diskussion um die Einordnung des marcionitischen Textes in die Überlieferungsgeschichte der Paulusbriefe führt Schmid anhand des Laodi‐ cener-/ Epheserbriefes - für die vorliegende Arbeit ein glücklicher Umstand. Er identifiziert für den Laod/ Eph 28 Stellen, an denen ein marcionitischer Text bezeugt sei. 77 Anhand dieser Lesarten ordnet er den Text in die Überlieferung der Paulusbriefe ein. Dazu zieht er den W-Text (auch er nutzt Harnacks Begriff für den ‚Westlichen Text‘) des Epheserbriefes heran - und zwar deshalb, weil dieser an 27 der 28 auffälligen Stellen des marcionitischen Textes im Epheserbrief einen recht homogenen Text aufweist. 78 Als Vertreter für den W-Text sieht er die griechisch-lateinischen Handschriften D F G und die lateinischen Texttypen D und I an. 79 Davon ausgehend rekonstruiert er die vermutlich ursprüngliche Lesart des W-Textes durch folgendes Kriterium: „Diejenige der konkurrierenden Lesarten erhält den Vorzug, die a) die Mehrzahl der Zeugen auf sich vereinigt, und/ oder die b) nicht mit dem Hauptstrom der übrigen Textüberlieferung geht.“ 80 Das von Schmid herausgearbeitete Ergebnis des Vergleichs ist höchst inter‐ essant: Der bei Marcion bezeugte Text des Laodicenerbriefes steht an 14 Stellen in großer Nähe zum W-Text (bei zwölf Stellen liegt eine wörtliche Übereinstim‐ mung vor), in sechs Fällen davon stehen marcionitischer Text und W-Text gemeinsam gegen die sonstigen Textzeugen (bei einem solchen Sachverhalt spricht Schmid von einer „seltenen Lesart“ 81 ). An 13 Stellen jedoch gehen marcionitischer Text und W-Text auseinander. Dabei sind die Handschriften, in denen der marcionitische Text vorkommt, recht vielfältig (darauf wird später noch einmal zurückzukommen sein). 82 Um die Verbindung zwischen dem marcionitischen und dem W-Text genauer zu analysieren, sucht Schmid nach „genealogisch signifikanten Lesarten“; dies sind Lesarten, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehrmals unabhängig 114 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="115"?> 83 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 276. 84 Hier liest der marcionitische Text, wie bereits erwähnt, ebenso wie D F lat μνημονεύοντες statt μνημονεύετε ὅτι; vgl. U. S C H M I D , Marcion, 142. 85 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 144-148. Bei Eph 5,28 handelt es sich um eine der beiden se‐ mantisch bedeutsamen Unterschieden, die in diesem Kapitel noch detailliert diskutiert werden. 86 U. S C H M I D , Marcion, 276. Die Hinzufügungen finden sich in Eph 2,12; Eph 2,20 und Eph 3,9 (vgl. ebd. Anm. 119). 87 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 277. Vgl. zur Kritik an dieser Einordnung das nachfolgende Kap. 4.2.2. 88 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 277-278. 89 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 278-279. 90 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 279. voneinander entstanden sein können und daher einen engen Zusammenhang zwischen Texten belegen. 83 Hierbei identifiziert er zwei solche Lesarten, und zwar Eph 2,11 84 und Eph 5,28. 85 An den Stellen, an denen sich marcionitischer Text und W-Text unterscheiden, sieht Schmid „keine wirklich genealogisch signifikanten Lesarten“, er weist aber darauf hin, dass es sich bei drei der vier auffälligen seltenen Lesarten um Hinzufügungen des W-Textes handele. 86 Die wichtige Beobachtung, dass der marcionitische Text durch sechs seltene Lesarten mit dem W-Text verbunden ist, er jedoch zugleich vier seltene Lesarten des W-Textes nicht teilt, führt Schmid zu folgendem Ergebnis: Der Text, der uns in D F G lat vorliegt, ist das Resultat einer längeren Entwicklung, in der sich zwei Strata voneinander abheben; das eine, frühere Stratum ist durch den marcionitischen Text bezeugt, das andere, spätere Stratum findet sich im Text der Handschriften D F G sowie in den Altlateinern. 87 Dabei bietet der marcioni‐ tische Text fast immer den jeweils kürzeren Text, was Schmid als „mechanisch bedingte Auslassungen“ qualifiziert, was zumindest teilweise typisch für die frühe Textgeschichte sei (B 46 ). 88 Spätestens an dieser Stelle entstehen ernsthafte Rückfragen an Schmids Darstellung, die auch gleich diskutiert werden. Zuvor jedoch sollen noch wenige weitere Gedanken Schmids zur Einord‐ nung der marcionitischen Paulusbriefsammlung wiedergegeben werden. Denn Schmid widmet sich anschließend den „glossierenden Elementen“ in der Pau‐ lusbriefsammlung - mit folgendem Ergebnis: Der marcionitische Text biete zwölf Glossen, von denen sieben auch anderweitig in der neutestamentlichen Überlieferung zu finden seien, allen voran (fünf Glossen) in der syrischen Überlieferung (Ephraem und Aphrahat). 89 Diese Glossen, so Schmid, sind nicht einfach als W-Text zu klassifizieren, weil die eigentlichen Zeugen für den W-Text der Paulusbriefe sie gerade nicht bieten. 90 Damit werde „der freie Umgang mit 115 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="116"?> 91 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 279. 92 Vgl. (auch für die weiteren in diesem Absatz zitierten Angaben) U. S C H M I D , Marcion, 280-282. 93 U. S C H M I D , Marcion, 281. 94 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 282. dem Text, der als charakteristisch für den W-Text gilt, […] auch für den MA-Text [=marcionitischer Text, T. F.] unter Beweis gestellt.“ 91 Aus diesem Befund schlussfolgert Schmid, dass der marcionitische Text, der W-Text und der altsyrische Text auf eine gemeinsame („vormarcionitische“) Textform zurückgehen. 92 Die Entstehung dieser Textform datiert er auf den Anfang des 2. Jh.s, eventuell auch in das Ende des 1. Jh.s; und zwar, weil dieser Text eine gewisse Zeit der Zirkulation und Verbreitung benötigt habe, bevor er durch seine Rezeption durch Marcion in Misskredit geraten sei. Dass der von Marcion hergestellte Text direkt auf den W-Text und die syrische Überlieferung Einfluss genommen hat (wie Harnack annahm), hält Schmid für sehr viel unwahrscheinlicher. Erstens setze es eine große Naivität seitens der katholischen Rezipienten voraus, und zweitens - für Schmid noch wichtiger - sei die marcionitische Textform in drei Versen des marcionitischen Apostolos als sekundär zu beurteilen (Gal 4,24; Gal 4,26; Eph 5,28). Der W-Text sei dann durch eine Bearbeitung (oder mehrere Bearbeitungen) dieser Textform entstanden, und zwar „mit Sicherheit auch durch Vergleichung mit anderen HSS“ 93 , wobei dann auch die Glossen entfernt worden seien. Zusammenfassend hält Schmid noch einmal fest, dass der marcionitische Text eine sehr alte und zumindest zeitweise geographisch weit verbreitete Textform bezeugt, die sich vor allem in der lateinischen und der syrischen Überlieferung wiederfindet. Nach Schmids Urteil hat Marcion lediglich einige längere zusammenhängende Textstücke gestrichen, nämlich die Bezugnahmen auf „Abraham als Vater aller Gläubigen“ und „Israel als positiver Anknüpfungspunkt für die Kirche“ sowie die „Schöpfungsmittlerschaft Christi“; darüber hinaus habe er eventuell noch teilweise die Themen „Gericht nach Werken“ (Röm 2,3-11), „Fleisch Christi“ (Eph 2,14, Kol 1,22) bearbeitet. 94 Abschließend wechselt Schmid von der Text‐ ebene auf die Sammlungsebene und diskutiert, wie sich die vormarcionitische Paulusbriefsammlung in die Geschichte des Corpus Paulinum einordnen lässt. Seine Argumentation zu dieser Thematik wird im nachfolgenden Kapitel noch einmal genauer thematisiert. An dieser Stelle zum Gesamtverständnis von Schmids Rekonstruktion nur so viel: Er sieht die Herausgabe von „autoritativen“ Paulusbriefausgaben im Kontext des „paulinischen Missionswerkes“, legt sich dabei jedoch nicht fest, ob es sich bei der vormarcionitischen und der „katholi‐ 116 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="117"?> 95 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 298-301. 96 Vgl. R O T H , The Text, v. a. 79-81. 97 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 277-278. Vgl. dazu genauer die Diskussion der einzelnen Textvarianten in Kap. 4.3. schen“ Paulusbriefsammlung um zwei konkurrierende Sammlungen oder um zwei regional verschiedene Corpora handele. 95 Mit seiner umfang- und detailreichen Arbeit hat Schmid den aktuellen Standard in der Erforschung der marcionitischen Paulusbriefsammlung gesetzt. Seine akribische quellenkritische Arbeit führte zu einer brauchbaren Rekon‐ struktion des Textes der marcionitischen Paulusbriefsammlung, die breit rezi‐ piert wurde und bisher unübertroffen ist - und von Roth auch als methodische Vorlage für die Rekonstruktion des marcionitischen Evangeliums verwendet wurde. 96 Schmids Arbeit markiert zweifellos den bisherigen Höhepunkt der Apostolos-Forschung - auch in Bezug darauf, Marcions Eingriffe in den Text als viel geringfügiger darzustellen als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts angenommen (zugleich muss jedoch auch noch einmal betont werden, dass Schmid an der Meinung festhält, Marcion habe den ihm vorliegenden Text redigiert). Schmids ausführliche Überlegungen zur Einordnung der vormarcio‐ nitischen Paulusbriefsammlung in die neutestamentliche Textgeschichte sind ebenfalls hilfreich - auch deshalb, weil sie zu einem genaueren Betrachten und zu Widerspruch anregen. Dies wird das nächste Kapitel zeigen. 4.2.2 Kritik der Zuordnung von Marcions 10-Briefe-Sammlung zum ‚Westlichen Text‘ Die folgende Kritik knüpft vor allem an Schmids Einordnung des marcioniti‐ schen Textes als „frühes Stratum“ des ‚Westlichen Textes‘ an. Sie bezieht sie damit auch auf den gesamten aktuellen Forschungsstand - schließlich wird seit von Soden, Harnack, Blackman und Clabeaux der marcionitische Text als Vorlage des ‚Westlichen Textes‘ charakterisiert. Die Arbeit Schmids bietet sich jedoch besonders gut für Rückfragen an, weil er sehr gründlich gearbeitet hat, und sie zugleich auch die aktuelle grundlegende Auseinandersetzung mit dem marcionitischen Apostolos ist. Die Anfragen an Schmids Gesamtmodell treten genau an der Stelle auf, die für die Gesamtargumentation der vorliegenden Arbeit zentral ist. Schmid weist selbst darauf hin, dass der W-Text normalerweise durch Hin‐ zufügungen gekennzeichnet ist - der ‚vormarcionitische‘ Text jedoch dort, wo er sich vom W-Text unterscheidet, fast durchweg den kürzeren Text bietet. 97 Nun blickt Schmid jedoch von der Perspektive des späteren ‚Westlichen Textes‘ 117 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="118"?> 98 Vgl. zur Charakteristik des (disparaten) ‚Westlichen Textes‘ z. B. D A V I D C. P A R K E R , Codex Bezae: An Early Christian Manuscript and its Text, Cambridge u. a. 1992, 284: „Thus, the apparent confederacy of what was once described as the ‘Western text' is a similarity not in detail, but in character.” Vgl. ebenso zur Heterogenität des Westlichen Textes B R U C E M. M E T Z G E R / B A R T D. E H R M A N , The Text of the New Testament: Its Transmission, Corruption, and Restoration, New York 4 2005, 277: „The chief characteristic of Western readings is fondness of paraphrase. Words, clauses, and even whole sentences are freely changed, omitted, or inserted. Sometimes the motive appears to have been harmonization, while at other times it was the enrichment of the narrative by inclusion of traditional or apocryphal material.” Siehe auch T. J . B A U E R , Markion und die Vetus Latina, 79-87 und besonders zum wieder erstarkenden Interesse am ‚Westlichen Text‘ am Ende des 20. Jahrhunderts J O Ë L D E L O B E L , Focus on the ‚Western‘ Text in Recent Studies, ETL 73/ 4 (1997), 401-410. 99 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, zusammenfassend 280-281. 100 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 125-129 (zu Gal 4,24-26); 144-148 (zu Eph 5,28). Vgl. zu Schmids Rekonstruktion von Eph 5,28 genauer Kap. 4.3.2. 101 E B E R H A R D W. G Ü T I N G , Rezension zu U. Schmid, Marcion und sein Apostolos, NT 39/ 4 (1997), 404. aus (gleichsam ‚rückwärts‘) auf den Text von Marcions Apostolos und hält diesen insgesamt - wie dargestellt - für ein „frühes Stratum“ des ‚Westlichen Textes‘. Da dieses „frühe Stratum“ jedoch gar nicht in die sonstige Charakteristik des ‚Westlichen Textes‘ passt, ist festzuhalten: Es greift zu kurz, den Text von Marcions Apostolos in die Schublade ‚Westlicher Text‘ einzuordnen. 98 Diese Zu‐ ordnung entsteht vor allem aufgrund des Blickes durch die ‚Brille‘ des späteren ‚Westlichen Textes‘, mit dem es zwar etliche Übereinstimmungen gibt, die jedoch auch anders zu erklären sind (vgl. die Entwicklung des Konflationsmodells in Kap. 5.3.2). Zudem steht Schmids Meinung, Marcions Apostolos biete eine sekundäre Fassung des ‚Westlichen Textes‘, 99 argumentativ auf sehr dünnem Boden. Denn bei den von Schmid identifizierten Lesarten, die seiner Meinung nach älter als Marcions Text seien, handelt es sich in vier Fällen um Glossen im Ephraem-Text (je zweimal in Gal 4,24 und Gal 4,26), dazu kommt eine Lesart in Eph 5,28, an der Schmid mit einem Schreibfehler argumentiert. 100 Diese fünf Lesarten können jedoch durchweg auch genau umgekehrt interpretiert werden. Darauf weist auch E. Güting in seiner Rezension hin: „Einen marcionitischen Einfluss auf den Text des Afraates und Ephraems nimmt der Autor nicht an. Doch haben mich die Ausführungen zu den betreffenden Lesarten nicht überzeugt.“ 101 Der Grund für Schmids Zuordnung des bei Marcion bezeugten Textes liegt auch an seiner Orientierung an Barbara Alands textgeschichtlichem Modell zur Apostelgeschichte, das eine Basis für seine Einordnung von Marcions Apostolos 118 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="119"?> 102 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 275: „Was also den äußeren Befund der Verteilung der Lesarten angeht, so haben wir hier ein ganz ähnliches Bild für den W-Text wie das von B. Aland für Act entworfene.“ 103 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 273-274. 104 Vgl. M E T Z G E R / E H R M A N , The Text, 277. 105 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 345-353 („Beilage II“). darstellt. 102 Dies ist jedoch insofern sehr problematisch, da der W-Text dort (wie z. T. auch in den Evangelien) einen ganz anderen Charakter hat, wie Schmid an anderer Stelle auch selbst betont. 103 Trotz dieses fundamentalen Problems bringt Schmids Ansatz, die Lesarten des W-Textes in zwei Schichten zu differenzieren, einen neuen Impuls für die textkritische Forschung. Und zwar dann, wenn man sich von der Zuschreibung des „früheren Stratums“ zum W-Text löst und in der Beschreibungssprache bei dem bleibt, was dieses Stratum materialiter darstellt: den vormarcionitischen Text. Mit Schmids Identifizierung des vormarcionitischen Textes als eines „frühen Stratums“ des W-Textes hängt noch ein weiteres wichtiges inhaltliches Problem zusammen. Wenn es bereits vor der Zeit Marcions ein Stratum des W-Textes gegeben haben soll, dann muss man notwendigerweise auch annehmen, dass bereits zu dieser Zeit eine Art „Neues Testament“ oder zumindest eine gen‐ reübergreifende Sammlung frühchristlicher Schriften bestanden haben muss. Denn der W-Text findet sich nicht nur in den Paulusbriefen, sondern auch in den Evangelien und in der Apostelgeschichte. 104 In diesem traditionellen Schema beißt sich die textkritische Katze gewissermaßen in den Schwanz, indem sie einerseits Marcions Text als Beispiel für einen in verschiedenen ‚Genres‘ verbreiteten ‚Westlichen Text‘ ansieht und andererseits einen diffusen, langsam anwachsenden Kanon annimmt. Dieses Problem wird in die folgenden Überlegungen zum Modell einer redaktionell gesteuerten Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung einbezogen (Kap. 5). Die dritte Schwierigkeit von Schmids Modell ist, dass er den Fokus aus‐ schließlich auf das Vorkommen der vormarcionitischen Lesarten im ‚Westlichen Text‘ legt. Die durchaus wichtigen Übereinstimmungen des vormarcionitischen Textes mit anderen, „nicht-westlichen“ Handschriften geraten so aus dem Blick. Schmid führt sie zwar in seiner Übersicht auf, 105 doch er stellt keinerlei weiter‐ führende Überlegungen dazu an. So finden sich beispielsweise Textpassagen, bei denen der vormarcionitische Text den Handschriften ℵ und B 46 entspricht (teilweise auch gemeinsam mit D F G lat sy, doch gegen andere Zeugen, z. B. in Eph 2,3; Eph 2,12; Eph 3,9). Manchmal finden sich vormarcionitische Varianten auch nur in einzelnen, sehr späten Handschriften, wie zum Beispiel das ‚Fehlen‘ von καὶ προφητῶν in Eph 2,20 (so auch die Minuskel 112 und 119 4.2 Zum Forschungsstand der ‚marcionitischen‘ Paulusbriefsammlung <?page no="120"?> 106 Vgl. für Eph 5,31: Tert., Adv. Marc. 5,18,9 sowie ebenso Epiph. Pan. 42,11,8. Siehe dazu U. S C H M I D , Marcion, 184-185. Auch bei Origenes und Cyprian lautet Eph 5,31 wie im Laodicenerbrief (vgl. ebd). Dieses Zitat aus Gen 2,24 findet sich auch in Mt 19,5 und Mk 10,7, meist mit den Worten „und er wird sich an seine Frau binden“. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die Streichung dieser Worte unabhängig voneinander geschehen ist, doch angesichts der sonst bezeugten ‚Verwebungen‘ des marcionitischen Textes ist dies unwahrscheinlich; vgl. dazu auch die nachfolgende Diskussion der Varianten des Laodicenerbriefes. das Lektionar 1 +a ) oder von καὶ προσκολληθήσεται πρὸς τὴν γυναῖκα αὐτοῦ in Eph 5,31 (so auch die Minuskeln 6 und 1739). 106 Zumindest an dieser Stelle sind die Untersuchungen von J. J. Clabeaux etwas präziser, der in die statistischen Auswertungen seines (weniger elaborierten) Materials deutlich mehr Handschriftengruppen einbezog. Es ist zweifelsohne richtig, dass der vormarcionitische Text bevorzugt in den Handschriften D F G lat sy auftritt, doch dürfen dabei die anderen Handschriften nicht außer Acht gelassen werden, wenn ein möglichst vollständiges Bild vom Vorkommen des vormarcionitischen Textes in den neutestamentlichen Handschriften erstellt werden soll. Diese drei Einwände gegen Schmids Analyse treffen - wie eingangs bereits angesprochen - auch auf die etlichen zuvor dargestellten Forschungspositionen zu, die allesamt den bei Marcion bezeugten Text dem ‚Westlichen Text‘ zuord‐ neten. Es wurde deutlich, dass diese Zuordnung eindeutig zu kurz greift. Im Folgenden wird deshalb diskutiert, wie plausibel es ist, den von der kritischen Forschung in Bewegung gesetzten Stein der Kritik an der Kirchenväterpolemik auch noch die letzte Wegstrecke rollen zu lassen - nämlich hin zu der Er‐ kenntnis, dass Marcion keinerlei Änderungen an den frühchristlichen Texten vorgenommen, sondern lediglich eine ältere Tradition überliefert hat. 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text 4.3.1 Einleitung Die folgenden beiden Abschnitte werden anhand des Laodicenerbrief-Textes prüfen, ob das soeben beschriebene Problem der Zuordnung des für Marcion bezeugten Textes zum ‚Westlichen Text‘ gelöst werden kann, indem der Text von Marcions 10-Briefe-Sammlung als prioritär zu dem in den neutestamentlichen Handschriften zu findenden Text betrachtet wird. Anders ausgedrückt heißt das: Es wird der Arbeitshypothese nachgegangen, dass das älteste Zeugnis für 120 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="121"?> 107 Das älteste verfügbare handschriftliche Zeugnis der Paulusbriefe entstand mindestens 50 Jahre nach Marcion - nämlich der Papyrus 46, der „um 200“ bzw. in das frühe dritte Jahrhundert datiert wird; vgl. zur Datierung „um 200“ P A R K E R , Introduction, 252; K. A L A N D / B. A L A N D , Der Text, 109. C L A R Y S S E / O R S I N I , Early New, 462 datieren B 46 hingegen in das frühe dritte Jahrhundert (und betonen noch einmal, dass eine Entstehung im 1. Jh. oder der ersten Hälfte des 2. Jhs. ausgeschlossen werden kann). Vgl. zu den Zitaten in der Literatur der Kirchenväter (Irenäus u. a.) die Diskussion in Kap. 5.1. 108 Vgl. dazu K. A L A N D / B. A L A N D , Der Text, 284. Als konkrete Beispiele für die inneren Kriterien nennen Aland/ Aland: „Kontext der Stelle, Stil und Sprachschatz, theologische Vorstellungswelt des Autors usw.“ (vgl. ebd.). 109 U. S C H M I D , Marcion, 277-278 (Eph 2,20; Eph 5,28; Eph 5,31). 110 U. S C H M I D , Marcion, 297. Siehe oben, Kap. 3.1.2. den Text der Paulusbriefe auch den ältesten (erreichbaren) Text darstellt. 107 Wenngleich der für Marcion bezeugte Text seit der Zeit Harnacks einige Aufwertungen erhalten hat, so lag die Frage, ob der Text des Laodicenerbriefes im Gesamten ‚ursprünglich‘ sein könnte, bisher nicht im wissenschaftlichen Denkhorizont. Um diese Diskussion anzuregen und der Arbeitshypothese nachzugehen, wird zunächst der Text des bei Marcion bezeugten Laodicenerbriefes diskutiert. Bevor dazu mithilfe des klassischen textkritischen Instrumentariums die Les‐ arten des Laodicenerbriefes nach ‚inneren Kriterien‘ 108 im Hinblick auf ihre mögliche Priorität diskutiert werden, soll zuvor noch einmal kurz auf einen Gedanken aus der Arbeit von Ulrich Schmid verwiesen werden. Denn neben der von ihm vorgenommenen Einordnung des vormarcionitischen Textes als „frühes Stratum“ des ‚Westlichen Textes‘, die im vorangegangenen Kapitel einer Kritik unterzogen wurde, äußerte sich Schmid an zwei konkreten Stellen auch kurz und knapp zu der Vorstellung, der vormarcionitische Text könne ursprünglich sein. Bei der Einordnung des vormarcionitischen Textes in die neutestamentliche Textgeschichte schreibt er: „Mag er [der Marcion-Text, T. F.] in einigen Fällen dabei auch wahrscheinlich den ursprünglichen Text bewahrt haben, die relativ vielen mechanisch bedingten Auslassungen in Lesart 160), 166) und 168) sind charakteristisch zumindest für einen Teil der frühen Textüberlieferung.“ 109 Auch bei der Frage des Verhältnisses zwischen vormarcionitischer und kanonischer Paulusbriefsammlung äußert Schmid die Idee, dass der vormarcionitische Text der älteste Text sein könnte: „Man könnte zunächst auf den Gedanken kommen, die vormarcionitische Sammlung sei älter als die kanonische Paulusbriefsammlung, denn die Pastoralbriefe und Heb waren darin nicht enthalten.“ 110 In der Folge geht er diesem Gedanken jedoch nicht weiter nach, sondern legt ihn mit einem kurzen 121 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="122"?> 111 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 297. 112 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 280. 113 U. S C H M I D , Marcion, 128-129. 114 U. S C H M I D , Marcion, 147. 115 G Ü T I N G , Rezension, 402 („Einen marcionitischen Einfluss auf den Text des Afraates und Ephraems nimmt der Autor nicht an. Doch haben mich die Ausführungen zu den betreffenden Lesarten nicht überzeugt.“). - kritisch zu prüfenden - Verweis auf den vermeintlich „korrupten Textcharakter“ des vormarcionitischen Textes zur Seite, wobei sicher seine Identifizierung des vormarcionitischen Textes als W-Text eine wichtige Rolle spielt. 111 Ein konkretes Argument führt Schmid jedoch an, wieso seiner Meinung nach der vormarcionitische Text nicht der älteste sein kann: Der bei Marcion bezeugte Text sei teilweise sekundär zur syrischen Überlieferung. 112 Dies macht er an zwei Lesarten fest, bei denen er jeweils höchst umständlich argumentiert: a) Bei Gal 4,24-26 mit auch bei Ephraem bezeugten Glossen: „[…] das verblüffende Ergebnis, daß die Glosse in den Haupttext rutschte, wohingegen der eigentliche Text nun als Glosse der ehemaligen Glosse erscheint“ 113 ; und b) bei Eph 5,28 mit einer Kettenreaktion von mechanischen Schreibfehlern. 114 Allein an der Umständlichkeit der Erklärungen wird deutlich, dass Schmids Plädoyer für den sekundären Charakter des vormarcionitischen Textes auf sehr dünnem Boden steht. Auf diesen Punkt wies auch - wie bereits in Kap. 4.2.2 zitiert - Eberhard Güting in seiner (ansonsten äußerst positiven) Rezension von Schmids Marcion-Buch hin. 115 Somit kann dem Einwand, der vormarcionitische Text sei sekundär zur syrischen Textüberlieferung, nicht stattgegeben werden. Vielmehr kommt es also darauf an, die einzelnen Lesarten und anschließend die Überlie‐ ferungsgeschichte genauer zu untersuchen. Dies soll im folgenden Kapitel für die Lesarten des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung umgesetzt werden. 4.3.2 Varianten mit größeren semantischen Unterschieden: Laod/ Eph 2,14 und 5,28 a) Laod 2,14: Die Überwindung der Trennung, die im Fleisch besteht Die zwei größten semantischen Unterschiede zwischen dem für Marcion bezeugten Laodicenerbrief und dem Epheserbrief der neutestamentlichen Handschriften finden sich in Eph 2,14 und 5,28, wie gleich deutlich werden wird. Mit diesen beiden Textstellen soll die Diskussion um die Priorität des Laodicenerbrieftextes beginnen. Zuerst zu Eph 2,14. Tertullian zitiert in Adv. Marc. 5,17,14 den Text des Epheserbriefes und wirft Marcion dann vor, diesen Vers verändert zu haben: 122 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="123"?> 116 Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,17,14: Itaque ipse est, inquit, pax nostra, qui fecit duo unum - Iudaicum scilicet et gentile, quod prope et quod longe - soluto medio pariete inimicitiae in carne sua. Sed Marcion abstulit 'sua', ut inimicitiae daret 'carne', quasi carnali vitio [non] Christo aemulae. […] cuius supra sanguinem confessus es, hic negas carnem? (Text und Übers. L U K A S , FC 63/ 4). Da Epiphanius, der prinzipiell auch für die Rekonstruktion des für Marcion bezeugten Textes in Frage kommt, das Zitat nach der ersten Hälfte des Verses abbricht, sind wir hier - wie so häufig - auf die Angaben Tertullians angewiesen (Epiph. Pan. 42,11,8: αὐτὸς γάρ ἐστιν ἡ εἰρήνη ἡμῶν, ὁ ποιήσας τὰ ἀμφότερα ἓν καὶ τὰ ἑξῆς; Text H O L L / D U M M E R GCS 31). Vgl. zu Eph 2,14 auch Schmids Erläuterungen: U. S C H M I D , Marcion, 112; 143-144. 117 Durch das von Tertullian erwähnte ‚Fehlen‘ des Pronomens αὐτοῦ ergibt sich folgender Text für Laod 2,14: Αὐτὸς γάρ ἐστιν ἡ εἰρήνη ἡμῶν, ὁ ποιήσας τὰ ἀμφότερα ἓν καὶ τὸ μεσότοιχον τοῦ φραγμοῦ λύσας, τὴν ἔχθραν ἐν τῇ σαρκὶ. Die Übersetzung ist vorerst recht wörtlich gehalten (indem sie sich an S E L L I N , Epheser, 189 orientiert), die Bedeutung des letzten Versteils wird gleich genauer diskutiert. Vgl. zur Rekonstruktion von Laod 2,14 auch U. S C H M I D , Marcion, 143-144; siehe dazu auch die Diskussion im Folgenden. 118 Eph 2,14 (NA 28 ): Αὐτὸς γάρ ἐστιν ἡ εἰρήνη ἡμῶν, ὁ ποιήσας τὰ ἀμφότερα ἓν καὶ τὸ μεσότοιχον τοῦ φραγμοῦ λύσας, τὴν ἔχθραν ἐν τῇ σαρκὶ αὐτοῦ. An dieser Stelle bietet sich die verwendete recht wörtliche Übersetzung aus S E L L I N , Epheser, 189 an. Daher „ist er [Christus, T. F.] selbst“, wie der Apostel sagt, „unser Friede er, der aus zwei Teilen ein einziges Gesamtes machte“ offensichtlich aus dem jüdischen und aus dem heidnischen Teil, also aus dem Teil, der nahe war, und aus demjenigen, der fern war - „indem er die zwischen den beiden Teilen stehende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch niedergerissen hat“ [=Eph 2,14; T.F.]. Marcion freilich tilgte das Pronomen „seinem“, um mit der „Feindschaft“ das „Fleisch“ zu verbinden, als ob dieses durch einen ihm eigenen Makel Christus feindlich wäre. […] Willst du [Marcion, T. F.] hier das Fleisch desjenigen bestreiten, bei dem du weiter oben die Existenz seines Blutes zugegeben hast? 116 Tertullian wirft Marcion also vor, in Eph 2,14 das Pronomen „seinem“ getilgt zu haben, um so das „Fleisch“ Christi zu bestreiten. Im Folgenden sind daher der für den Laodicenerbrief zu rekonstruierende Text (links) und der Text des in den Handschriften überlieferten Epheserbriefes (rechts) nebeneinandergestellt: Laod 2,14 Eph 2,14 Denn er [Christus] ist unser Friede, der die beiden [ Juden und Heiden] zu einem gemacht hat und die Trennwand des Zaunes beseitigt hat, die Feindschaft im Fleisch. 117 Denn er [Christus] ist unser Friede, der die beiden [ Juden und Heiden] zu einem gemacht hat und die Trennwand des Zaunes beseitigt hat, die Feindschaft, in seinem Fleisch. 118 123 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="124"?> 119 In diesem Teil von Eph 2,14 findet sich eine Textvariante, die für unsere Fragestellung zwar nicht zentral ist, aber trotzdem erwähnt sein soll: In der syrischen Überlieferung wird lediglich die „Trennwand“ erwähnt, die Konkretisierung „des Zaunes“ (gr. τοῦ φραγμοῦ) wird nicht erwähnt. Aus dem lateinischen Tertullian-Text (s. o.) ist nicht eindeutig zu schlussfolgern, ob Laod 2,14 eventuell diese Worte ebenfalls nicht bot; vgl. dazu auch U. S C H M I D , Marcion, S. 143-144. 120 Vgl. S E L L I N , Epheser, 213. 121 Vgl. S E L L I N , Epheser, 215 122 Vgl. S E L L I N , Epheser, 215. 123 Vgl. S E L L I N , Epheser, 215 Lediglich in Hebr 10,20 heißt es an einer Stelle „durch sein Fleisch“ (διὰ […] τῆς σαρκὸς αὐτοῦ), vgl. ebd. 124 Vgl. dazu auch S E L L I N , Epheser, 213, der jedoch lediglich die „Trennwand“ in diese Richtung interpretiert (und in Unkenntnis des Laodicenerbrief-Textes nicht auch den folgenden Verweis auf das Fleisch): „So bleibt nur die Deutung auf das jüdische Gesetz als „Trennmauer“ zwischen Juden und Heiden - wie der Kontext (V. 15a) es ja auch verlangt.“ Wie ist nun der Ausdruck „in seinem Fleisch“ (ἐν τῇ σαρκὶ αὐτοῦ) zu verstehen? Und was bedeutet der Text des Laodicenerbriefes, in dem es am Ende des Verses 2,14 heißt, dass Christus die „Feindschaft im Fleisch“ (τὴν ἔχθραν ἐν τῇ σαρκὶ) beseitigt hat? Beide Fassungen haben im mittleren Teil des Verses den etwas umständlichen Ausdruck einer „Trennwand des Zaunes“ (die durch Christus beseitigt worden sei) gemeinsam. 119 Dabei liegt nur eine Interpretation nahe: Mit diesem Ausdruck ist das jüdische Gesetz gemeint, was besonders die explizite Nennung des ‚Gesetzes‘ in Eph 2,15 deutlich macht („[…] der das Gesetz der Gebote mit ihren Anordnungen vernichtet hat“). 120 Im Epheserbriefs steht in 2,14 der Ausdruck ἐν τῇ σαρκὶ αὐτοῦ („in seinem Fleisch“): Das „ἐν“ vor τῇ σαρκὶ αὐτοῦ ist instrumental zu verstehen, die σάρξ Christi ist also das Mittel der Friedensstiftung. 121 Damit wird durch die Worte „in seinem Fleisch“, darauf deutet die Nennung des Kreuzes in Eph 2,16 hin, auf den Kreuzestod Christi verwiesen. 122 Es fällt jedoch auf, dass eine solche metonymische Verwendung der σάρξ Christi auf dessen Kreuzestod in den Paulusbriefen sonst nicht zu finden ist. 123 Wie ist nun Laod 2,14, also der Vers ohne das Personalpronomen αὐτοῦ, zu verstehen? Was ist mit der „Feindschaft im Fleisch“ (τὴν ἔχθραν ἐν τῇ σαρκὶ) gemeint, die von Christus beseitigt wurde? Der Kontext dieses Satzes legt eine einfache Interpretation nahe: Mit der von Christus beseitigten „Feindschaft im Fleisch“, die die „Trennwand des Zaunes“ darstellte, ist die vormalige Trennung von Juden und Heiden gemeint, die sich ja tatsächlich „im Fleisch“ (Beschnit‐ tensein vs. Unbeschnittensein) manifestierte. 124 Eine genauere Übersetzung der Präposition „ἐν“ vor τῇ σαρκί an dieser Stelle wäre dann: „was anbetrifft, bestehend in“; demnach handelt es sich in Laod 2,14 um die „Feindschaft“, 124 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="125"?> 125 W A L T E R B A U E R , Wörterbuch zum NT, Sp. 517 („ἔν τινι= was anbetrifft/ bestehend in“). 126 Die von Schmid vorgeschlagene Rekonstruktion für den Text von Laod 2,14 - nämlich die Setzung von τῇ σαρκί in den Genitiv, weil sich diese Variante auch in der syrischen Überlieferung und in einer Minuskelhandschrift (181) findet (vgl. U. S C H M I D , Marcion, 143-144) - würde ebenfalls zu dieser Interpretation passen, da hier die „Feindschaft des Fleisches“, die durch Christus beseitigt wurde, noch konkreter genannt wäre. 127 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 112; 143-144; zusammenfassend 310. 128 Auch in Eph 2,16 [NA 28 ]: […] καὶ ἀποκαταλλάξῃ τοὺς ἀμφοτέρους ἐν ἑνὶ σώματι τῷ θεῷ διὰ τοῦ σταυροῦ […]. die das „Fleisch“ betrifft. 125 Laod 2,14 hielt also fest, dass Christus Juden und Heiden zu einem gemacht hat, indem er die „Trennwand des Zaunes“ (also die Gebote) und somit die „Feindschaft im Fleisch“ (also die Unterscheidung durch das Beschnittensein) beseitigt hat. 126 Diese Interpretation von Laod 2,14 passt hervorragend zum Kontext dieses Verses, denn die Sätze zuvor thematisieren genau die Frage nach der Beschnei‐ dung und der Unterscheidung von Heiden und Juden - siehe Eph 2,11 als eröffnenden Vers dieser Sinneinheit: „Darum denkt daran, dass ihr, die ihr einst nach dem Fleisch Heiden wart (τὰ ἔθνη ἐν σαρκί) und ‚Unbeschnittenheit‘ genannt wurdet von denen, die genannt sind »Beschneidung«, die am Fleisch mit der Hand geschieht.“ Hier wird das Nomen σάρξ bereits so konnotiert, wie es dann auch in Eph 2,14 verwendet wird: Es geht um die Frage des Beschnittenseins. Auch der nächste Satz schließt sich hervorragend an den marcionitischen Text von Eph 2,14 an, denn beide sind syntaktisch parallel aufgebaut - Eph 2,15 setzt die Aufzählung dessen fort, was Christus veranlasst hat: er hat nicht nur die „Feindschaft des Fleisches“ beseitigt (Eph 2,14), sondern auch das „Gesetz der Gebote mit ihren Anordnungen vernichtet“ (Eph 2,15). Damit kann zu Laod 2,14 festgehalten werden: Dieser Vers passt mit seinem Hinweis auf die Beseitigung der „Feindschaft im Fleisch“ - also der Überwin‐ dung der Trennung von Juden und Heiden durch das Beschnittensein - sehr gut in den literarischen Kontext der umliegenden Verse. Demgegenüber ist es (auch wenn Ulrich Schmid Eph 2,14 für eine der wenigen verbliebenenen Textände‐ rungen, die auf Marcion zurückzuführen sind, hielt) 127 höchst unwahrscheinlich, dass Marcion das Personalpronomen αὐτοῦ nach der Erwähnung der σάρξ in Eph 2,14 gestrichen hat - ein Verweis auf die Leiblichkeit Jesu findet sich ja z. B. durch den Hinweis auf das „Blut Christi“ in Laod 2,13, worauf auch Tertullian konkret hinweist. 128 Auch die Auffälligkeit der singulären Verwendung des σάρξ-Begriffes als Metonymie für den Kreuzestod Jesu (die durch das αὐτοῦ in Eph 2,14 hergestellt wird) ist deutlich leichter zu erklären, wenn man die Priorität des Laodicenerbrieftextes annimmt. 125 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="126"?> 129 Vgl. dazu auch S E L L I N , Epheser, 215. Bei Paulus findet sich σάρξ sonst nirgends in einem solchen ‚soteriologischen‘ Kontext wie hier in Eph 2,14, er benutzt in diesem Zusammenhang (vereinzelt) den Ausdruck σῶμα (‚Leib‘), siehe Röm 7,4; 1Kor 11,27 (vgl. ebd.). Vgl. auch L U Z , Epheser, 139. 130 Zur Datierung der Ignatiusbriefe: Der alte, auf den Angaben des Eusebius basierende Konsens, dass die Ignatiusbriefe in die ersten beiden Jahrzehnte des 2. Jhds. zu datieren sind (so Zahn, Lightfoot und etwas zögerlich auch Harnack), wurde - besonders in der deutschsprachigen Forschung - in jüngerer Zeit ernsthaft herausgefordert: R E I N H A R D M. H Ü B N E R , Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien, ZAC 1 (1997), 214-226 (siehe die Kritik daran in den folgenden Ausgaben der ZAC); T H O M A S L E C H N E R , Ignatius adversus Valentinianos? Chronologische und theologiegeschichtliche Studien zu den Briefen des Ignatius von Antiochien (SVigChr 47), Leiden u. a. 1999, bes. 306-307; zusammenfassend dazu W A L T E R S C H M I T H A L S , Zu Ignatius von Antiochien, ZAC 13/ 2 (2009), 181-191, der sich ebenfalls der Spätdatierung in die Zeit Mark Aurels (161-180) anschließt. 131 IgnTrall 10: „Wenn er aber, wie es gewisse Leute, die gottlos, das heißt ungläubig sind, sagen, zum Schein gelitten hat, während sie doch selbst nur zum Schein existieren, warum trage ich dann Ketten? Und warum bitte ich darum, mit den Tieren zu kämpfen? Dann sterbe ich ja für nichts und wieder nichts. So bringe ich also Lügen vor gegen den Herrn.“; IgnSmyrn 2: „Und er hat wahrhaftig gelitten, wie er sich auch wahrhaftig selbst auferweckt hat, nicht wie gewisse Ungläubige sagen, er habe zum Schein gelitten, während sie doch selbst nur zum Schein existieren.“; IgnSmyrn 4,2: „Wenn dieses nämlich nur zum Schein von unserem Herrn vollbracht worden ist, dann bin ich auch zum Schein gefesselt.“ (Übersetzungen L I N D E M A N N / P A U L S E N , Apost. Väter). 132 IgnTrall 9,1-2: […] ὃς ἀληθῶς ἐγεννήθη, ἔφαγέν τε καὶ ἔπιεν, ἀληθῶς ἐδιώχθη ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου, ἀληθῶς ἐσταυρώθη καὶ ἀπέθανεν, […] ὃς καὶ ἀληθῶς ἠγέρθη ἀπὸ νεκρῶν. (Text und Übers. L I N D E M A N N / P A U L S E N , Apost. Väter). Vgl. dazu auch M A N F R E D L A N G , Johannes und die Synoptiker: Eine redaktionsgeschichtliche Analyse von Joh Welche Gründe sind ersichtlich, die im Epheserbrief zu einer Einfügung des Personalpronomens αὐτοῦ nach σαρκί führten? Oben wurde bereits genannt, dass durch das instrumentale Verständnis des „ἐν“ vor τῇ σαρκὶ αὐτοῦ die σάρξ Christi als das Mittel der Friedensstiftung betont wird und somit, wie es auch die Nennung des Kreuzes in Eph 2,16 nahelegt, auf den Kreuzestod Christi verwiesen wird. Konkret wird durch die Einfügung des Bezuges auf das „Fleisch“ (σάρξ) Christi in Eph 2,14 unterstrichen, dass Jesus in ‚fleischlicher Gestalt‘ auf die Erde gekommen und auch gekreuzigt wurde. 129 Dies war im 2. Jahrhun‐ dert ein viel diskutiertes Thema, wie besonders aus den Ignatiusbriefen und von Irenäus bekannt ist. 130 So wenden sich die Ignatiusbriefe (IgnTrall 10; IgnSmyrn 2; 4,2) gegen Behauptungen, Jesus wäre nur „zum Schein“ auf der Welt gewesen. 131 In IgnTrall 9,1-2 wird außerdem betont, dass Jesus Christus „wahrhaftig geboren wurde, aß und trank, wahrhaftig verfolgt wurde unter Pontius Pilatus, wahrhaft gekreuzigt wurde und starb, […] der auch wahrhaftig von den Toten auferweckt wurde.“ 132 126 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="127"?> 18-20 vor dem markinischen und lukanischen Hintergrund (FRLANT 182), Göttingen 1999, 172. 133 Vgl. Iren. Adv. Haer. 1,24,2: Salvatorem autem innatum demonstravit et incorporalem et sine figura, putative autem visum hominem. | „Er behauptet, dass der Soter ungeboren ist, körperlos und ohne Gestalt; nur zum Schein ist er als Mensch erschienen.“ (Text und Übers. B R O X , FC 8/ 1). 134 Iren. Adv. Haer. 1,24,3 (Irenäus stellt die Ansichten des Basilides dar): „Als der unge‐ zeugte und unnennbare Vater ihre (sc. der Archonten) Verderbtheit sah, hat er seinen erstgeborenen Nous (Verstand) geschickt, der Christos heißt, um seine Gläubigen aus der Gewalt derer zu befreien, die die Welt hergestellt haben. Deren Völkern ist er auf der Erde als Mensch erschienen und hat Wunder getan. Darum hat er auch nicht gelitten, sondern ein gewisser Simon von Kyrene, den man zwang, sein Kreuz für ihn zu tragen. Der wurde dann aus Unwissenheit und Irrtum gekreuzigt, nachdem er von ihm (Christos) so verwandelt worden war, dass man ihn für Jesus hielt; Jesus selbst hatte die Gestalt Simons angenommen, stand dabei und machte sich über sie lustig.“ (Übers. B R O X , FC 8/ 1). Irenäus argumentiert in Adv. Haer. 1,24,2 entschieden gegen Saturninus, der einen ungeborenen, körper- und gestaltlosen Retter propagiert, der nur zum Schein als Mensch erschienen sei. 133 Ebenso schreibt Irenäus in Adv. Haer. 1,24,3-4 gegen Basilides, für den Christus zwar auf Erden erschienen sei, jedoch nicht gekreuzigt wurde - vielmehr sei Basilides zufolge an der Stelle Jesu Simon von Kyrene gekreuzigt worden. 134 Die gleiche Stoßrichtung wie bei Ignatius und Irenäus findet sich auch in 1Tim 3,16, wo es heißt: „Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.“ Auch in 2Tim 2,8 wird die Leiblichkeit Jesu betont, indem er als ein Nachkomme Davids dargestellt wird: „Denk daran, dass Jesus Christus, der Nachkomme Davids, von den Toten auferstanden ist; so lautet mein Evangelium.“ Damit deckt sich die Textänderung in Eph 2,14 theologisch mit dem, wofür auch die Timotheusbriefe, die Ignatiusbriefe und Irenäus stehen: Die ‚fleischliche‘ Existenz Christi wird explizit herausgestellt. Damit kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich zum einen für Laod 2,14 ein sehr gut in den literarischen Zusammenhang passender Sinn ergibt (nämlich die Betonung der Überwindung der Trennung, die „im Fleisch“ besteht); zum anderen lässt sich auch die Hinzufügung des Personalpronomens αὐτοῦ nach σαρκί im frühchristlichen Kontext gut plausibiliseren. 127 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="128"?> 135 Tert. Adv. Marc. 5,18,8-9: Similiter et cum dicit: Carnem suam diligit qui uxorem suam diligit, sicut et Christus ecclesiam. Vides comparari operi Creatoris Christum tuum et ecclesiam tuam. Quantam honoris carni datur in ecclesiae nomine! (9)Nemo, inquit, carnem suam odio habet - nisi plane Marcion solus - sed et nutrit et fovet eam, sicut Christus ecclesiam. (Text und Übers. L U K A S , FC 63/ 4). 136 Laod 5,28-29: […] ἑαυτοῦ σάρκα ἀγαπᾷ ὁ τὴν ἑαυτοῦ γυναῖκα ἀγαπῶν καθὼς καὶ ὁ Χριστὸς τὴν ἐκκλησίαν. (29) Οὐδεὶς γάρ ποτε τὴν ἑαυτοῦ σάρκα ἐμίσησεν ἀλλ’ ἐκτρέφει καὶ θάλπει αὐτήν, καθὼς καὶ ὁ Χριστὸς τὴν ἐκκλησίαν. Übersetzung in Orienteriung an: L U K A S , FC 63/ 4), 1065. Vgl. dazu auch U. S C H M I D , Marcion, 144-148. b) Laod 5,28: Die Männer sollen ihr eigenes „Fleisch“ lieben: ihre eigenen Kinder Die zweite große semantische Differenz zwischen Laodicener- und Epheserbrief betrifft 5,28. Tertullian schreibt über den für Marcion bezeugten Text an dieser Stelle: Tert. Adv. Marc. 5,18,8-9: In ähnlicher Weise kannst du [Marcion, T. F.] - auch wenn der Apostel Folgendes sagt: „Derjenige, der seine Frau liebt, wie auch Christus seine Kirche, liebt sein eigenes Fleisch“ - erkennen, dass dein Christus und deine Kirche mit einer Einrichtung des Schöpfers verglichen wird. Und wieviel Ehre dem Fleisch im Namen der Kirche erwiesen wird! (9) Es heißt weiter: „Niemand hasst sein eigenes Fleisch“ - außer natürlich Marcion allein - „sondern ein jeder nährt und pflegt es, so wie auch Christus seine Kirche“. Du allein aber hasst es und nimmst ihm seine Auferstehung hinweg; somit wirst du auch die Kirche hassen müssen, denn diese wird in gleicher Weise von Christus geliebt. 135 Auch hier folgt Tertullian seinem Ansinnen, Marcion anhand von ‚dessen‘ Paulustext zu widerlegen. Dazu zitiert er zwei Sätze aus dem Laodicenerbrief, wobei der erste (Laod 5,28) sich erheblich von Eph 5,28 unterscheidet, wie gleich im Detail deutlich werden wird. Der Text des Laodicenerbrief lautete gemäß Tertullians Zeugnis: Laod 5,28-29: Derjenige, der seine Frau liebt, wie auch Christus die Gemeinde, liebt sein eigenes Fleisch (σάρξ). (29) Niemand hasst sein eigenes Fleisch, sondern er nährt und pflegt es, so wie auch Christus die Gemeinde. 136 Im Folgenden sind beide Texte nebeneinandergestellt - die einzigen rekonstru‐ ierbaren Unterschiede zwischen beiden finden sich in Laod/ Eph 5,28 (für diesen Vers steht links der Text des Laodicenerbriefes, rechts der des neutestamentli‐ chen Epheserbriefes). 128 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="129"?> 137 Eph 5,28 (NA 28 ): […] οὕτως ὀφείλουσιν καὶ οἱ ἄνδρες ἀγαπᾶν τὰς ἑαυτῶν γυναῖκας ὡς τὰ ἑαυτῶν σώματα. ὁ ἀγαπῶν τὴν ἑαυτοῦ γυναῖκα ἑαυτὸν ἀγαπᾷ. Vgl. zu weiteren Varianten von D, 75, 86 und 89: U. S C H M I D , Marcion, 144. Siehe auch die nachfolgende Diskussion. 138 Vgl. B A U E R , Wörterbuch zum NT, s. v. σάρξ. 139 Vgl. B A U E R , Wörterbuch zum NT, s. v. τρέφω; s. v. θάλπω. Vgl. dazu auch S E L L I N , Epheser, 453. 140 Eph 6,4 (NA 28 ): Καὶ οἱ πατέρες, μὴ παροργίζετε τὰ τέκνα ὑμῶν ἀλλ’ ἐκτρέφετε αὐτὰ ἐν παιδείᾳ καὶ νουθεσίᾳ κυρίου. 141 1Thess 2,17 (NA 28 ): […] ὡς ἐὰν τροφὸς θάλπῃ τὰ ἑαυτῆς τέκνα. Laod und Eph 5,25-30 (25) Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Gemeinde geliebt und sich für sie hingegeben hat, (26) um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. (27) So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos. [Laod: ] (28) Derjenige, der seine Frau liebt, wie auch Christus die Gemeinde, liebt sein eigenes Fleisch. [Eph: ] (28) So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst. 137 (29) Denn niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehasst, sondern er nährt und pflegt es, wie auch Christus die Gemeinde. (30) Denn wir sind Glieder seines Leibes. Die große Frage ist nun, wie Laod 5,28 zu verstehen ist - vor allem, was es heißt, ‚sein eigenes Fleisch (σάρξ) zu lieben‘. Denn die primäre Bedeutung von σάρξ, ‚Fleisch‘ (bzw. im neutestamentlichen Kontext häufig auch die ‚menschliche Natur‘) 138 , führt an dieser Stelle nicht weiter. Ausgehend vom Kontext von Laod 5,28, in dem es um die Aufgaben der einzelnen Familienmitglieder geht (sog. Haustafel), bietet sich jedoch eine gute Möglichkeit für eine passende Interpretation von σάρξ in Laod 5,28 an: Denn auch im nächsten Vers (5,29) ist vom „eigenen Fleisch“ die Rede, das man ‚nährt bzw. aufzieht‘ (ἐκτρέφει) und ‚pflegt‘ (θάλπει) - beides sind typische Begriffe, die sich auf die eigenen Kinder beziehen. 139 So werden beispielsweise direkt im Anschluss an diesen Absatz in Laod/ Eph 6,4 die Väter aufgefordert, ihre eigenen Kinder („in der Zucht und Ermahnung des Herrn“) zu erziehen; 140 in 1Thess 2,7 ist die Rede davon, dass die Amme ihre Kinder pflegt. 141 Daher liegt es meines Erachtens sehr nahe, dass mit dem „eigenen Fleisch“ in Laod 5,28 und 29 die eigenen Kinder gemeint sind, die 129 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="130"?> 142 Gen 37,27 (LXX): δεῦτε ἀποδώμεθα αὐτὸν τοῖς Ισμαηλίταις τούτοις, αἱ δὲ χεῖρες ἡμῶν μὴ ἔστωσαν ἐπ᾽ αὐτόν, ὅτι ἀδελφὸς ἡμῶν καὶ σὰρξ ἡμῶν ἐστιν. 143 Gen 2,24 (LXX): καὶ εἶπεν Αδαμ Τοῦτο νῦν ὀστοῦν ἐκ τῶν ὀστέων μου καὶ σὰρξ ἐκ τῆς σαρκός μου· αὕτη κληθήσεται γυνή, ὅτι ἐκ τοῦ ἀνδρὸς αὐτῆς ἐλήμφθη αὕτη. ἕνεκεν τούτου καταλείψει ἄνθρωπος τὸν πατέρα αὐτοῦ καὶ τὴν μητέρα αὐτοῦ καὶ προσκολληθήσεται πρὸς τὴν γυναῖκα αὐτοῦ, καὶ ἔσονται οἱ δύο εἰς σάρκα μίαν. 144 Vgl. S E L L I N , Epheser, 452. 145 S E L L I N , Epheser, 451. geliebt (Laod 5,28) sowie genährt und gepflegt (Laod 5,29) werden sollen. Ein Beleg, dass „mein Fleisch“ „(Bluts-)Verwandter“ bedeuten kann, ist Gen 37,27 (LXX), wo Josef von Juda als „unser Bruder, unser Fleisch und Blut“ bezeichnet wird. 142 Dass mit der σάρξ nicht einfach die ‚materielle Substanz‘ des eigenen Körpers gemeint sein muss, lässt sich auch an Gen 2,23f, erkennen, wo ‚der Mensch‘ die Frau als ‚Fleisch von seinem Fleisch‘ bezeichnet (Gen 2,23b), und seinen Vater und seine Mutter verlassen wird, und mit seiner Frau „ein Fleisch“ sein wird (Gen 2,24). 143 Gen 2,24 wird in Laod/ Eph 5,31 sogar direkt zitiert, so dass insgesamt eine metaphorische Verwendung des σάρξ-Begriffes in Laod 5,28 sehr wahrscheinlich erscheint. Daher kann zum Text von Laod 5,28 kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass es sich, wie soeben dargestellt,- vor allem aufgrund der Verwen‐ dung der Begriffe ‚nähren‘ und ‚pflegen‘ in Laod/ Eph 5,29 sowie der expliziten Aufnahme dieser Terminologie in Eph 6,4 in Bezug auf die eigenen Kinder - anbietet, das „eigene Fleisch“, das die Männer lieben sollen, als Umschreibung für deren ‚eigenen Kinder‘ zu interpretieren. Somit wäre auch bereits eine Überleitung hin zu Laod/ Eph 6,1 geschaffen, wo die Kinder direkt adressiert werden. Auch die in Laod 5,28 enthaltene Forderung, dass die Liebe zur eigenen Frau - woraus ja die angesprochenen Kinder resultieren können - sich an der Liebe Christi zur Gemeinde orientieren soll, passt hervorragend zum in Laod/ Eph 5,25 begonnenen Gedanken der Forderungen an die Männer. Bei den Überlegungen zur Priorität des Laodicenerbrieftextes spielt außerdem eine Rolle, dass auch der Text des Epheserbriefes keineswegs ohne Schwierig‐ keiten ist: So findet sich z. B. im Text des Epheserbriefes zwischen 5,28 und 5,29 ein starker semantischer Bruch, da in 5,28 von „Leib“ (σῶμα) die Rede ist, in 5,29 hingegen dann von „Fleisch“. Beide Begriffe unterscheiden sich semantisch deutlich, sie scheinen hier im Epheserbrief jedoch synonym gebraucht zu sein - was im Corpus Paulinum sonst nicht der Fall ist. 144 Auch sonst stellt Eph 5,28 „die Exegese vor nicht geringe Probleme“ 145 : Vermutlich soll der zweite Teil dieses Verses („Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst“) eine Begründung für den ersten Teil des Verses sein, diese bleibt jedoch uneindeutig: Denn es ist unklar, ob ὡς an dieser Stelle eine vergleichende („wie“) oder eine prädikativische Bedeutung 130 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="131"?> 146 Vgl. S E L L I N , Epheser, 451-452. 147 Vgl. C L A B E A U X , Lost Edition, 122-124. 148 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 145-146. 149 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 147-148. Vgl. dazu auch die bereits genannte Rezension von Güting zu Eph 5,28 (G Ü T I N G , Rezension, 402): „Doch haben mich die Ausführungen zu den betreffenden Lesarten nicht überzeugt.“ L I E U , Marcion, 268 nimmt Schmids Ergebnis auf, ohne genauer darauf einzugehen, und schreibt: „The textual evidence, however, indicates that Marcion was not the originator of this reading, although he may have refined an existing one.” 150 Röm 7,18 (NA 28 ): Οἶδα γὰρ ὅτι οὐκ οἰκεῖ ἐν ἐμοί, τοῦτ’ ἔστιν ἐν τῇ σαρκί μου, ἀγαθόν· τὸ γὰρ θέλειν παράκειταί μοι, τὸ δὲ κατεργάζεσθαι τὸ καλὸν οὔ. 151 Röm 8,6 (NA 28 ): τὸ γὰρ φρόνημα τῆς σαρκὸς θάνατος, τὸ δὲ φρόνημα τοῦ πνεύματος ζωὴ καὶ εἰρήνη. („als“) hat; ob die Männer also ihre Frauen wie sich selbst lieben sollen oder die Frauen jeweils den Leib ihres Mannes darstellen, so wie die Kirche den Leib Christi darstellt (prädikativische Bedeutung). 146 Des Weiteren spricht für die Priorität des Laodicenerbriefes auch, dass ein Bearbeitungsschritt von Eph 5,28 hin zu Laod 5,28 kaum zu erklären ist. Um eine sekundäre Entstehung der Lesart in Laod 5,28 zu erklären, müsste man ein kompliziertes Schreibversehen annehmen: So sei Clabeaux zufolge der Text des Laodicenerbriefes in 5,28 die Folge eines doppelten Zeilensprungs - der jedoch eine ganz bestimmte Aufteilung der Worte auf einer Zeile voraussetzt. 147 Schmid hält dies zu Recht für viel zu hypothetisch. 148 Er setzte jedoch einen nicht minder hypothetischen Vorschlag entgegen, indem er für einen Schreibfehler durch den Ausfall von ὡς nach γυναῖκας, der eine intensive grammatische Neujustierung des Satzes zur Folge gehabt habe, plädiert. 149 Daher stellt sich die Frage, ob Gründe ersichtlich sind, die für eine Bearbei‐ tung von Laod 5,28 hin zu Eph 5,28 sprechen. Die nächstliegende Lösung ist meines Erachtens, dass mit der Umformulierung von Laod 5,28 zu Eph 5,28 verhindert werden sollte, die Aufforderung zur Liebe des „eigenen Fleisches“ misszuverstehen. Denn in der frühchristlichen Literatur steht der Terminus ‚Fleisch‘ häufig mit ‚irdischen Begierden‘ oder Ähnlichem in Verbindung: Röm 7,18: Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. 150 Röm 8,6: Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden. 151 Irenäus, Adv. Haer. 5,9,1: […] das ist die Seele, die das eine Mal dem Geist folgt und dann von ihm erhoben wird, ein anderes Mal dem Fleisch zustimmt und dann in die irdischen Begierden stürzt. Die also das, was rettet und zum Leben hin formt, nicht 131 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="132"?> 152 Iren. Adv. Haer. 5,9,1: quod est anima: quae aliquando quidem subsequens Spiritum, elevatur ab eo; aliquando autem consentiens carni, decidit in terrenas concupiscentias. Quotquot ergo id quod salvat et format in vitam non habent, hi consequenter erunt et vocabuntur ‚caro et sanguis‘, quippe qui non habent Spiritum Dei in se. (Text und Übers. B R O X , FC 8/ 5). 153 W I C H A R D V O N H E Y D E N , Doketismus und Inkarnation: Die Entstehung zweier gegensätz‐ licher Modelle von Christologie (TANZ 58), Tübingen 2014, 262. 154 Gal 5,24 (NA 28 ): οἱ δὲ τοῦ Χριστοῦ [Ἰησοῦ] τὴν σάρκα ἐσταύρωσαν σὺν τοῖς παθήμασιν καὶ ταῖς ἐπιθυμίαις. 155 Eph 2,3 (NA 28 ): ἐν οἷς καὶ ἡμεῖς πάντες ἀνεστράφημέν ποτε ἐν ταῖς ἐπιθυμίαις τῆς σαρκὸς ἡμῶν ποιοῦντες τὰ θελήματα τῆς σαρκὸς καὶ τῶν διανοιῶν, καὶ ἤμεθα τέκνα φύσει ὀργῆς ὡς καὶ οἱ λοιποί. haben, werden folgerichtig ‚Fleisch und Blut‘ sein und genannt werden, weil sie den Geist Gottes nicht in sich haben. 152 Aufgrund der im Römerbrief und bei Irenäus festgehaltenen engen Konnotation zwischen „Fleisch“ einerseits und „Begierden“, „Tod“ etc. andererseits kann die Aufforderung in Laod 5,28, das Fleisch zu lieben, tatsächlich als anstößig empfunden werden, da sie als Liebe der diesseitigen Vergänglichkeiten und als Akzeptanz der Begierden des Fleisches interpretiert werden könnte. So fasst es auch W. von Heyden in seiner Arbeit zu Doketismus und Inkarnation zusammen: „‚Fleisch‘, der Ort bzw. die Daseinsweise von Schwäche und Versu‐ chung ist in der Gemeinde bzw. bei Einzelnen zum Problem geworden.“ 153 Genau davor wird jedoch an etlichen anderen Textstellen eindringlich gewarnt, wovon beispielhaft nur zwei genannt sein sollen: Gal 5,24: Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. 154 Eph 2,3: Zu ihnen gehörten auch wir alle einmal, als wir noch von den Begierden unseres Fleisches beherrscht wurden. Wir folgten dem, was das Fleisch und der böse Sinn uns eingaben, und waren von Natur aus Kinder des Zorns wie die anderen. 155 Daher ist es inhaltlich nachvollziehbar, dass Laod 5,28 geändert wurde - die Aufforderung, das eigene Fleisch zu lieben, ist - wenn man nicht die sich anbietende Interpretation als ‚eigene Kinder‘ vornimmt - ziemlich unpassend. Demgegenüber ist der wiederholende Appell an die Männer, ihre Frauen zu lieben, wesentlich unverfänglicher (auch wenn sich somit ein Bruch zwischen Eph 5,28 und 29 ergibt). Dass in Eph 5,29 der Begriff des ‚Fleisches‘ stehen geblieben ist, liegt wohl daran, dass er auch im Genesis-Zitat in Eph 5,31 vorkommt; zudem ist er in der ‚negativen‘ Verwendung in Eph 5,29 („Niemand hat je sein eigenes Fleisch gehasst […].“) weniger anstößig als in der potentiell missverständlichen Fassung aus Laod 5,28. 132 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="133"?> 156 Z A H N , Geschichte des neutestamentlichen Kanons II, 525-526. Vgl. dazu auch U. S C H M I D , Marcion, 145. 157 Tert. Adv. Marc. 5,17,9: Non quia interposuit de delictis: In quibus et nos omnes conversati sumus, ideo delictorum dominum et principem aeris huius Creatorem praestat intellegi. | „Also liefert er nicht deshalb, da er über die Sünden folgende Worte einfügte: ‚In ihnen bewegten uns auch wir alle‘, ein Argument dafür, unter dem Herrn über die Sünden Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch Textvari‐ anten in den neutestamentlichen Handschriften des Epheserbriefes, die dem Text von Laod 5,28 in gewisser Weise ähneln: So finden sich z. B. in drei lateinischen Handschriften (75, 86, 89) und im Ambrosiaster die Fassung suum corpus diligit qui uxorem suam diligit („seinen Leib liebt der, der seine Frau liebt“), was - bis auf den Unterschied von „Leib“ und „Fleisch“ genau dem Text des Laodicenerbrief entspricht. Auch die in D* enthaltene Lesart ὡς τὰ ἑαυτῶν σῶμα (Singular! statt: σώματα) ist in diesem Zusammenhang mindes‐ tens auffällig und wurde bereits von P. Corssen und Th. Zahn bei der Suche nach der ältesten Textform von Eph 5,28 besonders in den Fokus gerückt (die jedoch dann meinten, Marcion habe dann τὴν ἑαυτοῦ σάρκα an die Stelle von τὸ ἑαυτοῦ σῶμα gesetzt). 156 Diese Textvarianten in den Handschriften des neutestamentlichen Epheserbriefes können als Spuren des Laodicenerbriefes gedeutet werden und so in die Überlegungen zur Priorität des Laodicenerbriefes einbezogen werden. Eine detaillierte Diskussion dazu wird bei der Entwicklung eines textgeschichtlichen Modells in Kapitel 5 genauer erfolgen. An dieser Stelle kann jedoch bereits festgehalten werden, dass sowohl Laod 2,14 als auch Laod 5,28 mit guten Gründen Priorität zugesprochen werden kann. Zudem lassen sich für diese beiden Textstellen auch gute Gründe für die Überarbeitung hin zum Text des Epheserbriefes finden, wie wir ihn in den überlieferten neutestamentlichen Handschriften vorfinden. 4.3.3 Varianten mit mittelgroßen semantischen Unterschieden Im Folgenden stehen diejenigen Varianten des Laodicenerbriefes im Fokus, bei denen die semantischen Unterschiede zum Text des Epheserbriefes weniger stark, aber immer noch deutlich, ausfallen. Auch hier stellt sich die Frage, ob der Text des Laodicenerbriefes Priorität beanspruchen kann. Eine erste Variante findet sich in Eph 2,3: Hier bietet der Laod-Text (ge‐ meinsam mit B 46 , ℵ u. a.) „auch wir“ (καὶ ἡμεῖς), die meisten anderen Hand‐ schriften hingegen „auch ihr“ (καὶ ὑμεῖς) - nur in F G L steht an dieser Stelle weder das Eine noch das Andere, das Verb (ἀνεστράφημεν) jedoch auch in der 1.P. Plural. 157 Die Frage ist an dieser Stelle, ob Paulus durch das καὶ ἡμεῖς zu 133 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="134"?> und dem ‚Fürsten dieser Luft‘ den Schöpfer zu verstehen.“ (Text und Übers. L U K A S , FC 63/ 4). Eph 2,3 (NA 28 ): „Unter ihnen [den Söhnen des Ungehorsams, T. F.] haben auch wir alle einmal unser Leben geführt, als wir noch von den Begierden unseres Fleisches beherrscht wurden.“ | […] ἐν οἷς καὶ ἡμεῖς πάντες ἀνεστράφημέν ποτε ἐν ταῖς ἐπιθυμίαις τῆς σαρκὸς ἡμῶν. Die Basis für die Nennung der Handschriften, die einzelne konkrete Lesarten bieten, ist die Liste bei U. S C H M I D , Marcion, 351-353. 158 Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,17,12: Inspice et cohaerentia: Memores vos, aliquando nationes in carne, qui appellamini ‚praeputiatio’ ab ea quae dicitur ‚circumcisio’ in carne manu facta | „Betrachte auch das, was sich diesem Gedanken unmittelbar anschließt: ‚Ihr erinnert euch doch ihr, die ihr einst Heidenvölker wart und im Fleisch (lebtet), die ihr von derjenigen (Gruppe) ‚Unbeschnittene‘ genannt werdet, welche man ‚Beschnittene‘ nennt; auch die Beschneidung vollzieht sich im Fleisch, durch Menschenhand.‘“ (Text und Übers. L U K A S , FC 63/ 4; Lukas übersetzt das Partizip memores jedoch nicht partizi‐ pial). Vgl. dazu auch die Diskussion bei U. S C H M I D , Marcion, 142-143. Eph 2,11 (NA 28 ): Διὸ μνημονεύετε ὅτι ποτὲ ὑμεῖς τὰ ἔθνη ἐν σαρκί, οἱ λεγόμενοι ἀκροβυστία ὑπὸ τῆς λεγομένης περιτομῆς ἐν σαρκὶ χειροποιήτου. 159 Eph 2,10 (NA 28 ): „Denn seine Geschöpfe sind wir, in Christus Jesus dazu geschaffen, in unserem Leben die guten Werke zu tun, die Gott für uns im Voraus bereitet hat.“ | […] αὐτοῦ γάρ ἐσμεν ποίημα, κτισθέντες ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ἐπὶ ἔργοις ἀγαθοῖς οἷς προητοίμασεν ὁ θεὸς, ἵνα ἐν αὐτοῖς περιπατήσωμεν. 160 Vgl. das Zitat zu Beginn des Absatzes. denjenigen gerechnet wird, die einst „Söhne des Ungehorsams“ waren - oder ob er das nur von seinen Adressaten behauptet. Tendenziell ist es leichter zu erklären, dass Paulus nachträglich in gewisser Weise ‚sakralisiert‘ wurde, indem nur ‚die Anderen‘ (καὶ ὑμεῖς) zu den vormaligen „Söhnen des Ungehorsams“ gerechnet werden - folglich wäre der bei Marcion bezeugte Text ursprünglich. Eine Auffälligkeit des Laodicenerbriefes findet sich in 2,11: Statt des einlei‐ tenden διὸ μνημονεύετε („deswegen erinnert euch“) findet sich hier im Laodi‐ cenerbrief (genau wie in F und G) das Partizip μνημονεύοντες („sich erinnernd“), wenn man Tertullians lateinisches Zitat wörtlich übersetzt. 158 Durch dieses Partizip ist Eph 2,11 mit dem vorherigen Abschnitt verbunden. Dann ergibt sich jedoch die Herausforderung, dass im letzten Sinnabschnitt von 2,10 das Verb in der 1. P. Plural steht (περιπατήσωμεν), in Eph 2,11 aber die 2. P. Plural angespro‐ chen wird (ὑμεῖς) und demzufolge ein Wechsel der Person vorläge. 159 Eine Mög‐ lichkeit, das Partizip μνημονεύοντες ohne grobe syntaktische Schwierigkeiten in den Kontext zu integrieren, wäre, es dem (etwas entfernt liegenden) finiten Verb ἐγενήθητε in 2,13 zuzuordnen. Eine schriftstellerische Glanzleistung wäre der Abschnitt so zwar nicht, doch zumindest kann das Satzgefüge auf diese Art und Weise aufgelöst werden. Auch Tertullian bemängelte diesen Aspekt von Marcions Text nicht, sondern nahm lediglich die inhaltliche Diskussion auf. 160 So zeigt sich an dieser Stelle eine grundsätzliche Ambivalenz der Arbeit mit inneren Kriterien: Kann die lectio difficilior Ursprünglichkeit beanspruchen 134 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="135"?> 161 Tert. Adv. Marc. 5,17,16: Iam non sumus peregrini et advenae, sed concives sanctorum, sed domestici Dei - utique eius, a quo supra ostendimus alienos fuisse nos et lange constitutos -, superaedificati super fundamentum apostolorum. Abstulit haereticus ‚et prophetarum‘, oblitus Dominum posuisse in ecclesia sicut apostolos ita et prophetas. Timuit scilicet ne et super veterum prophetarum fundamentum aedificatio nostra constaret in Christo, cum ipse Apostolus ubique nos de Prophetis extruere non cesset. | „Wir sind ‚nicht mehr Fremde und Ausländer, sondern Mitbürger der Heiligen, Hausgenossen Gottes‘ - gewiss desjenigen Gottes, dem wir, wie wir weiter oben aufgezeigt haben, fremd waren und fern von dem wir uns befanden - ‚erbaut über dem Fundament der Apostel‘. Der Häretiker tilgte die Fortführung ‚und der Propheten‘, weil er vergaß, dass der Herr in seiner Kirche ebenso wie die Apostel auch die Propheten eingesetzt hat. Er fürchtete offensichtlich, dass unser Bau in Christus auch auf dem Fundament der alten Propheten ruht, wo doch der Apostel selbst nicht müde wird, uns überall nach dem Vorbild der Propheten aufzuerbauen.“ (Text und Übers. L U K A S , FC 63/ 4) 162 Eph 2,20 (NA 28 ): […] ἐποικοδομηθέντες ἐπὶ τῷ θεμελίῳ τῶν ἀποστόλων καὶ προφητῶν, ὄντος ἀκρογωνιαίου αὐτοῦ Χριστοῦ Ἰησοῦ. | „Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst.“ 163 Eph 3,5 (NA 28 ): […] ὃ ἑτέραις γενεαῖς οὐκ ἐγνωρίσθη τοῖς υἱοῖς τῶν ἀνθρώπων ὡς νῦν ἀπεκαλύφθη τοῖς ἁγίοις ἀποστόλοις αὐτοῦ καὶ προφήταις ἐν πνεύματι […]. (das inkonsequent konstruierte Satzgefüge wäre in diesem Fall später korrigiert worden) oder ist es wahrscheinlicher, dass der Text ursprünglich syntaktisch intakt war und der Fehler während der Überlieferung geschah? Beides ist theo‐ retisch möglich - wobei die neutestamentliche Wissenschaft im Allgemeinen (häufig auch mit guten Gründen) dazu tendiert, den ältesten Text als besonders wohlgestaltet anzusehen und folglich den Text von Laod 2,11 als sekundär zu bewerten - was jedoch, wie soeben gezeigt, keinesfalls zwingend so sein muss, weil der Vers auch in der Form von Laod 2,11 verständlich ist (schließlich haben auch Tertullian und Epiphanius keinen Anstoß daran genommen). Eine weitere Textstelle, in der der für Marcion bezeugte Text eine seltene Lesart bietet, ist Eph 2,20: Tertullian wirft Marcion vor, hier den Verweis auf die ‚alten Propheten‘ gestrichen zu haben, demzufolge lautete der Text des Laodicenerbriefes (der sich auch in Minuskel 112 und einem Lektionar findet): „Ihr seid gebaut auf das Fundament der Apostel“. 161 Alle anderen Zeugen bieten zusätzlich καὶ προφητῶν, so dass es heißt: „Ihr seid gebaut auf das Fundament der Apostel und Propheten“. 162 Allerdings spricht sehr vieles dafür, dass an dieser Stelle gar nicht die Propheten Israels gemeint sind, sondern die Propheten innerhalb der frühchristlichen Gemeinden, wie sie auch an anderen Stellen der paulinischen Briefe vorkommen, so z. B. in 1Kor 12,28 und auch an zwei weiteren Stellen des Laodicener-/ Epheserbriefes: Eph 3,5: Den Menschenkindern früherer Generationen war es nicht bekannt; jetzt aber ist es seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist offenbart worden. 163 135 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="136"?> 164 Eph 4,11 (NA 28 ): Καὶ αὐτὸς ἔδωκεν τοὺς μὲν ἀποστόλους, τοὺς δὲ προφήτας, τοὺς δὲ εὐαγγελιστάς, τοὺς δὲ ποιμένας καὶ διδασκάλους, […]. 165 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 112. Schmid meint, dies sei an mindestens zwei Stellen (bei dem Laod 2,20 und dem der Min. 112 zugrundeliegenden Text) unabhängig voneinander geschehen. 166 Vgl. zur Auflistung der Handschriften U. S C H M I D , Marcion, 352, und zum überliefe‐ rungsgeschichtlichen Modell Kap. 5.3. 167 Eph 2,20 (NA28): ἐποικοδομηθέντες ἐπὶ τῷ θεμελίῳ τῶν ἀποστόλων καὶ προφητῶν, ὄντος ἀκρογωνιαίου αὐτοῦ Χριστοῦ Ἰησοῦ. Die zweite Variante in diesem Satz, die Konkretisierung von ἀκρογωνιαίου („äußere Ecke“) durch λίθου („Stein“) in D F G lat sy gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zum von Schmid identifizierten „sekundären Stratum“ des ‚Westlichen Textes‘ (vgl. Kap. 4.2.2). Eph 4,11: Und er gab den einen das Apostelamt, andere setzte er als Propheten ein, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer. 164 Damit läuft der Vorwurf Tertullians, Marcion habe den Verweis auf die Pro‐ pheten gestrichen, völlig ins Leere. Außerdem ist wichtig zu betonen, dass das Fehlen von καὶ προφητῶν in Laod 2,20 - selbst wenn damit die alten Propheten gemeint wären - keinen effektiven semantischen Unterschied nach sich zieht, da in den Sätzen zuvor die christliche Gemeinde eindeutig als an die jüdische Tradition angebunden verstanden wird (Eph 2,11-19). Auch nach U. Schmid ist diese Textänderung nicht auf eine Streichungstätigkeit Marcions zurückzuführen - vielmehr liegt seiner Meinung nach hier ein klassischer Ho‐ moioteleuton-Fehler vor: Die gleiche Endung von ἀποστόλων und προφητῶν sei für das Wegfallen von προφητῶν verantwortlich. 165 Auch wenn dies nicht völlig auszuschließen ist, zwangsläufig ist Schmids Rekonstruktion keineswegs, schließlich lauten ja nur die beiden letzten Buchstaben gleich (noch dazu ist -ων eine der häufigsten griechischen Endungen überhaupt). Außerdem findet sich die Lesart des Laodicenerbriefes auch in der Minuskel 112 und einem Lektionar, was angesichts der Verbindung von Marcions Text auch mit einigen Minuskeln auf einen überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang hindeuten kann. 166 Aus diesen Gründen kann ernsthaft in Betracht gezogen werden, dass dem ‚Fehlen‘ von καὶ προφητῶν Priorität gegenüber dem Text von Eph 2,20 zukommt. Für Eph 2,20 hingegen erscheint es plausibel, dass in den Satz „Ihr seid auf das Fundament der Apostel gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst“ die Worte „und Propheten“ (καὶ προφητῶν) eingefügt wurden, sodass die Adressaten nun als „auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut“ bezeichnet werden. 167 Dies lässt sich einerseits als Hinweis auf und als Anschluss an das Alte Testament (und seine Propheten) interpretieren, andererseits kann es auch als eine Angleichung an die Aussagen in Eph 3,5 und 4,11 verstanden werden, 136 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="137"?> 168 Eph 2,20 (NA 28 ): […] der Eckstein ist Christus Jesus selbst. | […] ὄντος ἀκρογωνιαίου αὐτοῦ Χριστοῦ Ἰησοῦ. Vgl. dazu Tert. Adv. Marc. 5,17,16. 169 1Petr 2,16 (NA 28 ): „Denn es heißt in der Schrift: Siehe, ich lege in Zion einen auser‐ wählten Stein, einen Eckstein (λίθον ἀκρογωνιαῖον), den ich in Ehren halte; wer an ihn glaubt, der geht nicht zugrunde.“ 170 Eph 3,9 (NA 28 ): „[…] und enthüllen, was die Verwirklichung des geheimen Ratschlusses beinhaltet, der von Ewigkeit her in Gott, dem Schöpfer des Alls, verborgen war.“ | […] καὶ φωτίσαι [πάντας] τίς ἡ οἰκονομία τοῦ μυστηρίου τοῦ ἀποκεκρυμμένου ἀπὸ τῶν αἰώνων ἐν τῷ θεῷ τῷ τὰ πάντα κτίσαντι […]. Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,18,1. 171 Vgl. NA 28 , zur Stelle (Eph 3,9). 172 So auch Sellin, Komm, 263 (ohne natürlich auf das Zeugnis des Laodicenerbriefes einzugehen). 173 Eph 3,9 (NA 28 ): καὶ φωτίσαι [πάντας] τίς ἡ οἰκονομία τοῦ μυστηρίου τοῦ ἀποκεκρυμμένου ἀπὸ τῶν αἰώνων ἐν τῷ θεῷ τῷ τὰ πάντα κτίσαντι. wobei dann die ‚prophetisch wirkenden‘ Menschen des frühen Christentums gemeint wären. Auch wenn an dieser Stelle also unklar bleiben muss (vielleicht ja auch: soll), worauf der Hinweis auf die Propheten in Eph 2,20 zielt - diese Textänderung lässt sich gut auf der Ebene des Epheserbriefes einordnen. Ein weitere Unterschied des Laodicenerbriefes, allerdings nur zu wenigen neutestamentlichen Handschriften, besteht im zweiten Versteil von Eph 2,20: Hier wird „äußere Ecke/ Eck(-stein)“ (ἀκρογωνιαῖος) in D F G lat sy durch „Stein“ (λίθος) spezifiziert. 168 Dies ist am einfachsten als sekundäre Hinzufügung zu bewerten, die den Ausdruck „äußere Ecke“ konkretisiert und zugleich eine Angleichung an 1Petr 2,6 darstellt. 169 Der Laod-Text bietet die kürzere und auch an dieser Stelle die vermutlich ältere Lesart, für die sich auch die Herausgeber des Nestle-Aland 28 entschieden haben. Der Text von Eph 3,9 wirft die textkritische Frage auf, ob nach φωτίσαι das Nomen πάντας steht oder nicht. 170 Der Unterschied hierbei ist, ob „alle“ erleuchtet werden (die Form mit πάντας) oder ob der Akkusativ der (‚erleuch‐ teten‘) Person ungenannt bleibt. Eine Entscheidung ist an dieser Stelle kaum möglich, auch die Herausgeber des Nestle-Aland 28 sind sich an dieser Stelle unsicher und setzten πάντας in eckige Klammern. 171 An dieser Stelle bietet der Laod-Text (gemeinsam mit B 46 ℵ B D F G et al.) den kürzeren Text, der gut als älterer Text gelten kann. 172 Dann könnte in Eph 3,9 - angesichts dessen, dass im unmittelbaren Kontext des Verses vor allem die Heiden angesprochen sind - durch die Hinzufügung von πάντας betont worden sein, dass die Offenbarung nicht auf einzelne Gruppen beschränkt ist, sondern ‚alle‘ erleuchtet werden sollen. 173 Des Weiteren lesen in Eph 3,9b F G lat und einige Minuskeln als Spezifizierung der Aussage, das Geheimnis Christi sei verborgen gewesen „von Ewigkeit her“ (ἀπὸ τῶν αἰώνων), außerdem noch „und von den Generationen her“ (καὶ ἀπὸ 137 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="138"?> 174 Eph 3,9 (NA 28 ): „[…] und enthüllen, was die Verwirklichung des geheimen Ratschlusses beinhaltet, der von Ewigkeit her in Gott, dem Schöpfer des Alls, verborgen war.“ | καὶ φωτίσαι [πάντας] τίς ἡ οἰκονομία τοῦ μυστηρίου τοῦ ἀποκεκρυμμένου ἀπὸ τῶν αἰώνων ἐν τῷ θεῷ τῷ τὰ πάντα κτίσαντι […]. Vgl. Tert., Adv. Marc. 5,18,1. 175 Eph 3,9b (NA 28 ): ἀποκεκρυμμένου ἀπὸ τῶν αἰώνων καὶ ἀπὸ τῶν γενεῶν. Kol 1,26 (NA 28 ): ὸ μυστήριον τὸ ἀποκεκρυμμένον ἀπὸ τῶν αἰώνων καὶ ἀπὸ τῶν γενεῶν - νῦν δὲ ἐφανερώθη τοῖς ἁγίοις αὐτοῦ. | „Er ist jenes Geheimnis, das seit ewigen Zeiten und Generationen verborgen war - jetzt aber seinen Heiligen offenbart wurde.“ 176 Tert. Adv. Marc. 5,18,9: Laborabo ego nunc eundem deum probare masculi et Christi, mulieris et ecclesiae, carnis et Spiritus, ipso Apostolo sententiam Creatoris adhibente, immo et disserente? „Propter hanc relinquet homo patrem et matrem, et erunt duo in carne una, sacramentum hoc magnum est.“ | „Wird es für mich nunmehr mühsam sein zu beweisen, dass ein und derselbe der Gott des Mannes und Christi, der Frau und der Kirche sowie des Fleisches und des Geistes ist, wo sich doch selbst der Apostel einer Aussage des Schöpfers bedient, ja diese sogar noch erörtert? „Wegen ihr wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und sie werden zwei sein, aber in einem einzigen Fleisch, dies ist ein großes Geheimnis“. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). Eph 5,31 (NA 28 ): „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein.“ | […] ἀντὶ τούτου καταλείψει ἄνθρωπος [τὸν] πατέρα καὶ [τὴν] μητέρα καὶ προσκολληθήσεται πρὸς τὴν γυναῖκα αὐτοῦ, καὶ ἔσονται οἱ δύο εἰς σάρκα μίαν. Vgl. zur Stelle auch L I E U , Marcion, 237 und U. S C H M I D , Marcion, 178.184-185. 177 Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,18,11: Obaudiant et parentibus filii: nam - etsi Marcion abstulit: Hoc enim est primum in promissione praeceptum - lex loquitur: Honora patrem et matrem. τῶν γενεῶν) - dies ist beim Laodicenerbrief (genau wie beim Großteil der Handschriften) nicht der Fall. 174 Diese Erweiterung lässt sich leicht als spätere Anpassung an Kol 1,26 verstehen, wo sich genau der gleiche Ausdruck findet. 175 Eph 5,31 bietet eine weitere Variante, bei der der Text des Laodicenerbriefes mit einigen wenigen Zeugen übereinstimmt. Im Laodicenerbrief und in den Minuskeln 6 und 1739 sowie im Text des Origenes heißt es: „Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und die zwei werden ein Fleisch sein.“ 176 Alle anderen Handschriften bieten währenddessen nach „Vater und Mutter verlassen“ noch die Ergänzung „und sich an seine Frau binden“, so dass das Zitat aus Gen 2,24 vollständig wiedergegeben ist. Durch den vorherigen Kontext ist auch hier klar, dass die beiden, die „ein Fleisch“ sein werden, Mann und Frau sind. Auch hier tendiert eine Untersuchung der ‚inneren Kriterien‘ dazu, den bei Marcion bezeugten Text als ursprünglich, und den Text der allermeisten Handschriften des Epheserbriefes als Erweiterung, die das alttestamentliche Zitat im Gesamten hinzufügt, anzusehen. Außerdem ist kein konkreter Grund, weshalb ein Teil des Satzes weggelassen worden sein soll, ersichtlich. In Eph 6,2 findet sich eine weitere Stelle, bei der der Laod-Text eine kürzere Lesart bietet, denn hier heißt es nur: „Ehre deinen Vater und deine Mutter“; alle anderen Zeugen fügen dem hinzu: „das ist das erste Gebot mit einer Verhei‐ ßung“. 177 Mit diesem expliziten Hinweis auf den Dekalog, der die darauffolgende 138 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="139"?> | „Auch sollen die Kinder ihren Eltern gehorchen! “ denn - auch wenn Markion dies tilgte: ‚Dies ist im Hinblick auf eure Verheißung nämlich das wichtigste Gebot“ - so spricht ja das Gesetz: ‚Ehre Vater und Mutter‘.“ (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). Eph 6,2 (NA 28 ): „Ehre deinen Vater und die Mutter: Das ist das erste Gebot mit einer Verheißung.“ | τίμα τὸν πατέρα σου καὶ τὴν μητέρα, ἥτις ἐστὶν ἐντολὴ πρώτη ἐν ἐπαγγελίᾳ. Darauf folgt in Eph 6,3 die Verheißung aus Dtn 5,16: „damit es dir wohl ergeht und du lange lebst auf der Erde“. 178 Dieses Ergebnis korreliert mit den Beobachtungen Klinghardts zu Abraham: „Kohärenz zwischen Altem und Neuem Testament […]: Dies ist in der Tat ein nachweisbarer Schwerpunkt des redaktionellen Konzepts“; M A T T H I A S K L I N G H A R D T , Abraham als Ele‐ ment der Kanonischen Redaktion, in: J. Heilmann/ M. Klinghardt (Hg.): Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 249. 179 Zur Erklärung des Umstandes, dass diese Erweiterung in allen überlieferten Hand‐ schriften zu finden ist, vgl. die Erarbeitung des textgeschichtlichen Modells in Kap. 5.3. 180 Eph 6,2 (NA 28 ): „Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen Mächte und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Fins‐ ternis, gegen die bösen Geister in den himmlischen Bereichen.“ | ὅτι οὐκ ἔστιν ἡμῖν ἡ πάλη πρὸς αἷμα καὶ σάρκα ἀλλὰ πρὸς τὰς ἀρχάς, πρὸς τὰς ἐξουσίας, πρὸς τοὺς κοσμοκράτορας τοῦ σκότους τούτου, πρὸς τὰ πνευματικὰ τῆς πονηρίας ἐν τοῖς ἐπουρανίοις. Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,18,12. 181 Vgl. dazu C H R I S T O P H E R J . A. L A S H , Where do Devils live? : A Problem in the Textual Criticism of Ephesians 6,12, VC 30 (1976), 161-174, der auf das breite Vorkommen dieser Variante auch in manchen alten Übersetzungen hinweist und zusammenfassend festhält: „If the conclusion of all this is the banal one that the devils live in the sky, I hope at least to have drawn attention to some neglected patristic evidence for this verse of Ephesians and to an interesting variant, which, though attested in Greek, Latin, Syriac, Coptic, Ethiopic and Armenian and in the writings of some half dozen Fathers, seems to have disappeared from the apparatus critici of the Greek New Testament since that of Wettstein in 1752.“ (ebd., 174). Verheißung in Eph 6,3 („damit es dir wohl ergehe und du lange lebst auf der Erde“) kommentiert, wird - wie bereits in Eph 2,20 und Eph 5,21 - eine direkte Angleichung an den alttestamentlichen Text vorgenommen. 178 Auch Tertullian kann keinen Grund für eine ‚Streichung‘ im Text des Laodicener‐ briefes erkennen und übergeht die Stelle recht zügig. So ist auch für Laod 6,2 festzuhalten, dass diese Fassung sehr gut als ältester Text versanden werden kann, dem später eine kleine Konkretisierung hinzugefügt wurde. 179 Auch bei der letzten Lesart in dieser Reihe, in Eph 6,12, findet sich im Laodi‐ cenerbrief der kürzere Text, gemeinsam mit einem Großteil der Handschriften: Lediglich in ℵ c D c Ψ und in einigen wenigen weiteren Handschriften findet sich nach der Nennung der „Weltherrscher dieser Finsternis“ (κοσμοκράτορας τοῦ σκότος), gegen die gekämpft werden müsse, noch das Genitivattribut „des Äons“ (τοῦ αἰῶνος). 180 Auch hier ist es sehr wahrscheinlich, dass τοῦ αἰῶνος später als Spezifizierung hinzugefügt wurde und der Laodicenerbrief (in diesem Vers gemeinsam mit vielen anderen Handschriften) den älteren Text bietet. 181 139 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="140"?> 182 Vgl. J A M E S R. R O Y S E , Scribal Habits in Early Greek New Testament Papyri (NTTSD 36), Leiden/ Boston 2008, 705-736, der in seiner ausführlichen Arbeit ausgehend von einer Analyse des Textes der frühen Papyri diese Grundregel grundlegend in Frage stellt; in eine ähnliche Richtung, doch etwas zurückhaltender argumentieren C A R L S O N , Text of Galatians, 90 und P E T E R M A L I K , P. Beatty III (P47): The Codex, Its Scribe, and Its Text (NTTSD 52), Leiden/ Boston 2017, 114-115; die beiden meinen, dass die Länge einer Lesart kein nützliches Kriterium sei, um die Ursprünglichkeit einer Variante zu bestimmen. 183 Vgl. M E T Z G E R / E H R M A N , The Text, 250-271; K. A L A N D / B. A L A N D , Der Text, 79; J A M E S R. R O Y S E , Scribal Tendencies in the Transmission of the Text of the New Testament, in: B. D. Ehrman/ M. W. Holmes (Hg.): The Text of the New Testament in Contemporary Research: Essays on the Status Quaestionis, Second Edition (NTTSD 42), Leiden/ Boston 2013, 461-475 (dort auch Hinweise zu weiterer Literatur). 184 Eph 2,12 (NA 28 ): […] ὅτι ἦτε τῷ καιρῷ ἐκείνῳ χωρὶς Χριστοῦ, ἀπηλλοτριωμένοι τῆς πολιτείας τοῦ Ἰσραὴλ καὶ ξένοι τῶν διαθηκῶν τῆς ἐπαγγελίας, ἐλπίδα μὴ ἔχοντες καὶ ἄθεοι ἐν τῷ κόσμῳ. | Eph 3,9 (NA 28 ): […] καὶ φωτίσαι [πάντας] τίς ἡ οἰκονομία Damit kann auch für die weiteren, signifikant vom Text des Epheserbriefes zu unterscheidenden Lesarten des Laodicenerbriefes festgehalten werden, dass diese als prioritär angesehen werden können. Allein von diesen Varianten aus kann gewiss keine sichere Auskunft zu der Stellung des Laodicenerbriefes in der Textgeschichte erteilt werden, doch in einem Modell, das die Adresse, die Über‐ arbeitung des Textes aus theologischen Motiven und auch die Überlieferungs‐ geschichte umfasst, kann - wie soeben gezeigt - der Text des Laodicenerbrief mit guten Gründen als ältester rekonstruierbarer Text gelten. 4.3.4 ‚Kleine‘ Varianten: Pronomina, Präpositionen etc. Als Letztes steht noch ein Blick auf die ‚kleinen‘ Varianten des Laodicenerbriefes an, nämlich die semantisch wenig relevanten Pronomina, Präpositionen und Partikeln. Im Allgemeinen ist eine textgeschichtliche Einordnung auf dieser Ebene sehr schwierig. Besonders in den letzten Jahren wurde in der textkriti‐ schen Wissenschaft deutlich, dass die traditionelle textkritische Grundregel lectio brevior potior nur mit Einschränkungen gültig ist. 182 Außerdem können solche kleinen Änderungen auch auf individuelle Anpassungen von Schreibern zurückgehen. 183 Daher soll an dieser Stelle lediglich ein kurzer Überblick über die Lesarten des Laodicenerbriefes mit kaum relevanten semantischen Unter‐ schieden gegeben werden. So ‚fehlt‘ im Laodicener-Text: in 2,12 und 3,9 die Präposition ἐν; in 1,13 die zweite Konjunktion καί; in 1,9 und 1,12 das Personalpronomen αὐτοῦ, ebenso in 2,12 das Demonstrativpronomen τούτῳ am Ende und in 3,10 das Adverb νῦν. 184 In all diesen Fällen bietet also der bei Marcion bezeugte 140 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="141"?> τοῦ μυστηρίου τοῦ ἀποκεκρυμμένου ἀπὸ τῶν αἰώνων ἐν τῷ θεῷ τῷ τὰ πάντα κτίσαντι. | Eph 1,13 (NA 28 ): Ἐν ᾧ καὶ ὑμεῖς ἀκούσαντες τὸν λόγον τῆς ἀληθείας, τὸ εὐαγγέλιον τῆς σωτηρίας ὑμῶν, ἐν ᾧ καὶ πιστεύσαντες ἐσφραγίσθητε τῷ πνεύματι τῆς ἐπαγγελίας τῷ ἁγίῳ […] | Eph 1,9 (NA 28 ): […] γνωρίσας ἡμῖν τὸ μυστήριον τοῦ θελήματος αὐτοῦ, κατὰ τὴν εὐδοκίαν αὐτοῦ ἣν προέθετο ἐν αὐτῷ. | Eph 1,12 (NA 28 ): […] εἰς τὸ εἶναι ἡμᾶς εἰς ἔπαινον δόξης αὐτοῦ τοὺς προηλπικότας ἐν τῷ Χριστῷ. | Eph 2,12 (NA 28 ): […] ὅτι ἦτε τῷ καιρῷ ἐκείνῳ χωρὶς Χριστοῦ, ἀπηλλοτριωμένοι τῆς πολιτείας τοῦ Ἰσραὴλ καὶ ξένοι τῶν διαθηκῶν τῆς ἐπαγγελίας, ἐλπίδα μὴ ἔχοντες καὶ ἄθεοι ἐν τῷ κόσμῳ (F G lat D I: τούτῳ). | Eph 3,10 (NA 28 ): […] ἵνα γνωρισθῇ νῦν ταῖς ἀρχαῖς καὶ ταῖς ἐξουσίαις ἐν τοῖς ἐπουρανίοις διὰ τῆς ἐκκλησίας ἡ πολυποίκιλος σοφία τοῦ θεοῦ. 185 Die ‚anderen‘ Varianten, die sich in sehr verschiedenen Handschriften des Epheser‐ briefes finden (z. T. auch im ‚W-Text‘), wurden alle im Vorhergehenden besprochen und sind ausführlich verzeichnet (und mit den Quellenstellen bei Tertullian und Epiphanius versehen) bei U. S C H M I D , Marcion, 351-353. 186 Eph 2,13 (NA 28 ): νυνὶ δὲ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ὑμεῖς οἵ ποτε ὄντες μακρὰν ἐγενήθητε ἐγγὺς ἐν τῷ αἵματι τοῦ Χριστοῦ. Vgl. zu Ephraem: U. S C H M I D , Marcion, 264.276. 187 Tert. Adv. Marc. 5,18,1-3: De manibus haeretici praecidentis, non miror si syllabas subtrahit, cum paginas totas plerumque subducit. Datam inquit sibi Apostolus gratiam novissimo omnium inluminandi omnes, quae dispensatio sacramenti occulti ab aevis in deo, qui omnia condidit. Rapuit haereticus ‚in‘ praepositionem et ita legi fecit: ‚occulti ab aevis deo, qui omnia condidit‘. Sed emicat falsum. (2)Infert enim Apostolus: Ut nota fiat principatibus et potestatibus in supercaelestibus per ecclesiam multifaria sapientia Dei. Cuius dicit principatibus et potestatibus? Si Creatoris, quale est ut principatibus et potestatibus eius ostendi voluerit deus ille sapientiam suam, ipsi autem non, quando nec principatus nec potestates sine suo principe potuissent quid cognoscere? Aut si ideo deum non nominavit hic, quasi in illis et princeps ipse reputetur, ergo et occultatum sacramentum principatibus et potestatibus eius, qui omnia condidit, pronuntiasset, Text den kürzeren Text und die anderen Zeugen ergänzen den Text. 185 Eine weitere Spezifizierung, die jedoch semantisch ebenfalls nur einen kleinen Unterschied darstellt, findet sich in Eph 2,13: Im Laod-Text steht hier (genau wie bei Ephraem) nach ἐν τῷ αἵματι lediglich das Personalpronomen αὐτοῦ, die handschriftlichen Zeugen bieten statt des αὐτοῦ das konkretere Genitiv‐ attribut τοῦ Χριστοῦ. 186 Des Weiteren bietet der Text des Laodicenerbriefes zwei Lesarten, bei denen (gemeinsam mit anderen Zeugen) lediglich die Wortstellung differiert: Eph 2,11 (ποτὲ ὑμεῖς - ὑμεῖς ποτε) und Eph 2,13 (ἐγενήθητε ἐγγύς - ἐγγὺς ἐγενήθητε). Bis auf eine Ausnahme wirft Tertullian an diesen Stellen Marcion auch nicht explizit eine Änderung des Textes vor, sondern zitiert lediglich Passagen aus dem Apostolos Marcions, mit denen er gegen Marcions (vermeintliche) Theologie polemisiert. Die eine Ausnahme ist Eph 3,9, wo der Text des Laodicenerbriefes die Präposition ἐν nicht liest, was Tertullian zum Anlass nimmt, Marcion in einer ausführlichen Argumentation die Trennung von einem (guten) Gott und dem Schöpfergott vorzuwerfen. 187 Die Behauptung Tertullians, im Laodicenerbrief Marcions 141 4.3 Der Text des Laodicenerbriefes als ältester erreichbarer Text <?page no="142"?> proinde in illis deputans ipsum. (3)Quod si illis dicit occultatum, illi debebat dixisse manifestum. Ergo non ‚Deo‘ erat occultatum, sed in Deo, omnium conditore, occultum autem principatibus et potestatibus eius. | „Von den Händen des Häretikers, welcher (die Schriften) beschneidet: Ich wundere mich nicht, wenn er Silben unterschlägt, wenn er doch zumeist ganze Seiten heimlich entfernt. Der Apostel bringt vor, dass ihm als dem Geringsten von allen die Gnade verliehen wurde, ‚alle (mit der Erkenntnis) zu erleuchten, wie das Geheimnis Wirklichkeit geworden ist, das seit allen Zeiten in Gott verborgen war, der alles geschaffen hat‘. Der Häretiker tilgte gewaltsam die Präposition ‚in‘ und bewirkte damit, dass der Satz folgendermaßen zu lesen ist: ‚(das Geheimnis), das seit allen Zeiten vor Gott verborgen war, der alles geschaffen hat‘. Aber seine Verfälschung ist klar und deutlich zu erkennen. (2) Der Apostel fügt nämlich Folgendes hinzu: ‚damit die vielfältige Weisheit Gottes durch die Kirche den Fürsten und Gewalten in den überhimmlischen Gefilden bekannt gemacht wird‘. Wessen ‚Fürsten und Gewalten‘, nach seiner Aussage? Falls denjenigen des Schöpfers, was bedeutet es dann, dass jener (andere) Gott wollte, dass seine Weisheit den Fürsten und Gewalten des Schöpfers präsentiert wird, dem Schöpfer selbst aber nicht, wo doch weder die Fürsten noch die Gewalten ohne ihren Anführer irgendetwas hätten erkennen können? Oder aber: Wenn der Apostel den Gott an dieser Stelle deswegen nicht namentlich anführte, weil gleichsam in den Fürsten und Gewalten auch ihr Anführer selbst mitgedacht würde, hätte er folglich auch damit kundgetan, dass das Geheimnis vor den Fürsten und Gewalten desjenigen verborgen war, der alles geschaffen hat - also auch, wenn er den Gott selbst in jenen mitgedacht hätte. (3) Wenn er demnach sagt, dass das Geheimnis vor jenen verborgen war, musste er damit gesagt haben, dass es dem Schöpfer gut bekannt gewesen ist. Also war es nicht ‚vor Gott verborgen‘, sondern ‚in Gott‘, im Schöpfer von allem - verborgen hingegen vor seinen Fürsten und Gewalten.“ (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). 188 So auch U. S C H M I D , Marcion, 112-113 und C L A U D I O M O R E S C H I N I / R E N É B R A U N , Tertul‐ lian, Contre Marcion: Livre V (SC 483), Paris 2004, 327 und jüngst auch T. J . L A N G , Tertullian, 69-70 (dem es in seinem Aufsatz ausgehend von Eph 3,9 um die Frage geht, ob Tertullian Marcions Apostolos in Griechisch oder Latein vorlag). Anders Harnack in seiner sog. Dorpater Preisschrift von 1870 (vgl. H A R N A C K / S T E C K , Marcion (Dorpater Preisschrift), 172-173). 189 Vgl. Eph 3,10-11(NA 28 ): […] ἵνα γνωρισθῇ νῦν ταῖς ἀρχαῖς καὶ ταῖς ἐξουσίαις ἐν τοῖς ἐπουρανίοις διὰ τῆς ἐκκλησίας ἡ πολυποίκιλος σοφία τοῦ θεοῦ, (11) κατὰ habe es geheißen, das Geheimnis sei „seit allen Zeiten vor Gott verborgen“ (occulti ab aevis Deo) und nicht „seit allen Zeiten in Gott verborgen“ (occulti ab aevis in Deo), entspricht zwar seinem Bild von Marcions Theologie, doch ist es aller Wahrscheinlichkeit nach eine klare Überinterpretation des griechischen Textes (τοῦ μυστηρίου τοῦ ἀποκεκρυμμένου ἀπὸ τῶν αἰώνων [ἐν] τῷ θεῷ): Denn auch ohne die vorherige Präposition ἐν ist die Dativform τῷ θεῷ am einfachsten so zu übersetzen, dass das Geheimnis in Gott verborgen liegt. 188 Darauf weist zum einen der Kontext hin, konkret die Betonung des „ewigen Vorsatzes Gottes“ in Eph 3,11; 189 zum anderen auch das Vorkommen der Lesart 142 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="143"?> πρόθεσιν τῶν αἰώνων ἣν ἐποίησεν ἐν τῷ Χριστῷ Ἰησοῦ τῷ κυρίῳ ἡμῶν. | „So soll jetzt den Fürsten und Gewalten des himmlischen Bereichs durch die Kirche die vielfältige Weisheit Gottes kundgetan werden, (11) nach seinem ewigen Plan, den er durch Christus Jesus, unseren Herrn, ausgeführt hat.“ 190 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 352. 191 Eph 2,15-16 (NA 28 ): […] τὸν νόμον τῶν ἐντολῶν ἐν δόγμασιν καταργήσας, ἵνα τοὺς δύο κτίσῃ ἐν αὐτῷ εἰς ἕνα καινὸν ἄνθρωπον ποιῶν εἰρήνην (16) καὶ ἀποκαταλλάξῃ τοὺς ἀμφοτέρους ἐν ἑνὶ σώματι τῷ θεῷ διὰ τοῦ σταυροῦ, ἀποκτείνας τὴν ἔχθραν ἐν αὐτῷ. | Er hob das Gesetz mit seinen Geboten und Forderungen auf, um die zwei in sich zu einem neuen Menschen zu machen. (16) Er stiftete Frieden und versöhnte die beiden durch das Kreuz mit Gott in einem einzigen Leib. Er hat in seiner Person die Feindschaft getötet. (Unterstreichungen markieren die Worte, bei denen sich der Text des Laodicenerbriefes unterscheidet). 192 Vgl. NA 28 zu den beiden Stellen (Eph 2,15 und 2,16). in der ersten Hand des Codex Sinaiticus (ℵ*) und den Minuskeln 614 und 2412. 190 Zudem sind in der Reihe der kleineren Unterschiede zwischen Laodicener- und Epheserbrief die beiden Personalpronomina in 2,15 und 2,16 zu nennen, bei denen der Laod-Text in 2,15 die reflexive Form aufweist (ἑαυτῷ), in 2,16 die nicht-reflexive (αὐτῷ) (in den Handschriften teilt sich die Überlieferung an beiden Stellen). 191 Welche Form an dieser Stelle ursprünglich ist, ist kaum zu entscheiden. Zwar ist ἑαυτῷ stilistisch die etwas bessere Lesart, weil sie den Rückbezug auf das Subjekt (Christus) eindeutig macht, doch ist in den beiden Fällen Eph 2,15 und 2,16 auch in der nicht-reflexiven Form klar, dass sie sich auf Christus beziehen. Die Herausgeber des Nestle-Aland entscheiden sich an beiden Stellen für die nicht-reflexive Variante, aber sowohl in der Lutherals auch in der Einheitsübersetzung werden die Pronomina reflexiv übersetzt. 192 Somit kann auch für die Lesarten mit semantisch geringen Differenzen zusammenfassend festgehalten werden, dass sich für den Text des Laodicener‐ briefes ein Anspruch auf Priorität geltend machen lässt, dem in der späteren Zeit klärende Konkretisierungen hinzugefügt wurden. 4.4 Zusammenfassung zur Priorität des Laodicenerbrieftextes Die marcionitische Paulusbriefsammlung hat eine bewegte Forschungsge‐ schichte hinter sich. Eine Tendenz wurde dabei im Laufe der Zeit immer deutlicher: Marcions Änderungen am Text sind viel geringfügiger als von den Kirchenvätern behauptet. Diese Erkenntnis setzte sich in der kritischen Forschung schrittweise immer mehr durch. Doch trotzdem blieb die Meinung bestehen, dass Marcion - wenn auch in begrenztem Umfang - Textänderungen 143 4.4 Zusammenfassung zur Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="144"?> vorgenommen habe und der von ihm benutzte („vormarcionitische“, so Cla‐ beaux und Schmid) Text wurde aufgrund eines sehr engen Blickwinkels in die Kategorie des ‚Westlichen Textes‘ eingeordnet. In Kap. 4.2.2 wurden verschie‐ dene Gründe aufgezeigt, weshalb diese Zuordnung meines Erachtens nicht überzeugend ist und der Blick auch auf Übereinstimmungen mit anderen Handschriften als denen des ‚westlichen Textes‘ gerichtet werden sollte. Bei der anschließenden (Neu-)Analyse des Laodicenerbrieftextes wurde deut‐ lich, dass dessen Text gerade an den Stellen mit den größten semantischen Unterschieden mit guten Gründen als prioritär zum Text des Epheserbriefes bewertet werden kann. Der Text von Laod 2,14 ist am besten so zu verstehen, dass Christus die Feindschaft, die das Fleisch betrifft, aufgelöst hat - das heißt, die Trennung durch die Beschneidung ist überwunden. Durch die Hinzufügung des Personalpronomens αὐτοῦ wurde das ‚Fleisch‘ Christi und damit dessen ‚Leiblichkeit‘ besonders betont - ein Aspekt, der im Christentum des 2. Jahrhun‐ derts durchaus umstritten war. Auch in Eph 5,28 bietet der Laodicener-Text eine Lesart, die hervorragend zum Kontext passt und Anspruch auf Ursprünglichkeit hat: Hier bietet sich die Interpretation an, dass mit dem ‚eigenen Fleisch‘, das die Männer lieben sollen (und von dem in Laod/ Eph 5,29 gesagt wird, dass es genährt und gepflegt wird), die ‚eigenen Kinder‘ gemeint sind. Da der σάρξ-Begriff jedoch in der sonstigen frühchristlichen Literatur häufig mit ‚fleischlichen Begierden‘ assoziiert ist, ist die nächstliegende Annahme die, dass dieser Satz geändert wurde und durch die nun im Epheserbrief vorzufindende, wesentlich unverfänglichere Aufforderung zur Liebe der eigenen Kinder ersetzt wurde. Auch konnte festgestellt werden, dass an den Stellen, bei denen der Laodice‐ nerbrief sich in einzelnen bedeutungstragenden Worten von der Mehrheit der handschriftlichen Zeugen des Epheserbriefes unterscheidet, es jeweils gute Ar‐ gumente gibt, dem Laodicener-Text Priorität zuzusprechen: so beispielsweise in Laod 2,20, wo der Hinweis auf die Propheten nicht bezeugt, oder in Laod 6,2, wo der erklärende Hinweis auf die Gebote des Alten Testaments nicht vorhanden ist. Auch für die Varianten mit geringen semantischen Unterschieden konnte plausibilisiert werden, dass der (in der Regel kürzere) Text des Laodicenerbriefes der älteste erreichbare Text ist, der später durch Pronomina, Präpositionen und Partikel syntaktisch spezifiziert wurde. Insgesamt lassen sich die genannten Textänderungen, die der Epheserbrief gegenüber dem Laodicenerbrief bietet, gut in den Kontext der theologischen Diskussionen des 2. Jahrhunderts ein‐ ordnen: Sie betonen die Leiblichkeit Christi und stärken die Relevanz des Alten Testaments. 144 4 Die Priorität des Laodicenerbrieftextes <?page no="145"?> 1 Vgl. A N D R E A S L I N D E M A N N , Die Sammlung der Paulusbriefe im 1. und 2. Jahrhundert, in: J.-M. Auwers/ H. J. d. Jonge (Hg.): The Biblical Canons (BETL 163), Leuven 2003, 322 und auch T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, 2. 2 Wie an verschiedenen Stellen dieser Arbeit bereits genannt wurde, enthielt die 10-Briefe-Sammlung statt des Epheserbriefes den Laodicenerbrief (mit den in Kap. 4 genannten Textunterschieden), sie bot den Galaterbrief an erster Stelle, den Römerbrief (ohne Kapitel 16) an vierter Stelle; die drei Pastoralbriefe (Tit, 1Tim, 2Tim) und den Hebräerbrief enthielt sie nicht; vgl. dazu z. B. den Überblick bei J O N G K I N D , Marcionite Prologues, 389-405. 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes An die Überlegungen zur Priorität des Laodicenerbrieftextes schließen sich zwei grundlegende Fragen an, nämlich: 1) Wie ist der Text des Epheserbriefes zustande gekommen? 2) Wie ist die Textüberlieferung des Laodicener-/ Ephe‐ serbriefes zu erklären? Dass beide Fragen enger miteinander verknüpft sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag, wird im Verlaufe des Kapitels deutlich. Doch zuerst soll die Frage nach der Entstehung des Epheserbrieftextes im Fokus stehen. 5.1 Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung Um die Entstehung des Epheserbrieftextes zu diskutieren, ist es nötig, einen Blick auf die Quellenlage der Paulusbriefe im frühen Christentum zu werfen. Dabei ist zuerst festzustellen: Die Paulusbriefe sind ausschließlich als Teil von Briefsammlungen überliefert. 1 Deshalb ist auch die Ebene der Paulusbriefsamm‐ lungen diejenige, die im Fokus der nachfolgenden Überlegungen steht. Nur auf der Ebene der Paulusbriefsammlungen liegen uns (einigermaßen) identifizier‐ bare Fixpunkte der Textüberlieferung von Laodicener- und Epheserbrief vor. Dabei handelt es sich zum einen um die 10-Briefe-Sammlung, die durch die Häresiologen Tertullian und Epiphanius für Marcion bezeugt ist und von der sich noch Spuren in den lateinischen Prologen zu den Paulusbriefen finden (vgl. Kap. 3.3). 2 Hier ist an die Untersuchung von Stanley E. Porter zu erinnern, der eine Zusammenstellung und Analyse der Theorien zur Entstehung der Pau‐ lusbriefsammlungen vorlegte, und dabei deutlich herausstellte, dass Marcions <?page no="146"?> 3 Vgl. P O R T E R , When and How, 97. 4 Vgl. zur Verwendung der Paulusbriefe bei Irenäus: N O O R M A N N , Irenäus, 67, der aufzeigt, dass Irenäus eine umfassende Paulusbriefsammlung kennt (deren Briefe er an den verschiedensten Stellen zitiert), auch wenn er sie nicht als ‚Corpus Paulinum‘ anspricht; vgl. dazu auch H A R D I N G , Disputed and Undisputed Letters, 133; D A S S M A N N , Stachel im Fleisch, 295-297; vgl. auch die tabellarische Übersicht bei B E N C. B L A C K W E L L , Paul and Irenaeus, in: M. F. Bird/ J. R. Dodson (Hg.): Paul and the Second Century (LNTS 412), London 2011, 192. Vgl. zu Tertullian die Zitate in Kap. 2.2.1 und auch A N D R E W M. B A I N , Tertullian: Paul as Teacher of the Gentile Churches, in: M. F. Bird/ J. R. Dodson (Hg.): Paul and the Second Century (LNTS 412), London 2011, 211-215. Vgl. zu Origenes, der in seiner Predigt über das Buch Josua 14 Briefe des Apostels erwähnt (Hom. in Jos. 7,1: Novissimus autem ille veniens, qui dixit: „puto autem, nos Deus Apostolos novissimos ostendit“ et in quattuordecim epistolarum suarum fulminans tubis muros Hiericho et omnes idolatriae machinas et philosophorum dogmata usque ad fundamenta deiecit. | „Als Letztes kommt nun jener, der sagte: „Ich denke, Gott hat uns als die Geringsten hingestellt“ und in vierzehn seiner Briefe die Mauern Jerichos und alle Tücken des Götzendienstes und philosophische Lehren durch tösende Posaunen bis zu den Fundamenten niedergeworfen hat.“; Text B A E H R E N S GCS 30; eigene Übers.); vgl. dazu J A N H E I L M A N N , Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte, in: J. Heilmann/ M. Klinghardt (Hg.): Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 37. Vgl. zu B 46 (Datierung um 200 bzw. in die erste Hälfte des 3. Jhs.) als frühester erhaltener Handschrift der Paulusbriefsammlung, die auch den Hebräerbrief enthielt und vermutlich auch die Pastoralbriefe (deren Seiten jedoch am Ende fehlen) P A R K E R , Introduction, 253-254 sowie Kap. 2.3.1. Vgl. zur außergewöhnlichen Reihen‐ folge der Briefe in dieser Handschrift T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, 60. Die den genannten Quellen für die 14-Briefe-Sammlung zeitlich vorausgehenden Bezugnahmen auf Paulusbriefe bzw. eine Paulusbriefsammlung im zweiten Petrusbrief, bei Polykarp und in den Ignatiusbriefen sind zu fragmentarisch, um Rückschlüsse auf die Gestalt einer Paulusbriefsammlung zu ziehen; vgl. zu den Quellen E D M O N L. G A L L A G H E R / J O H N D. M E A D E , The Biblical Canon Lists from Early Christianity: Texts and Analysis, Oxford/ New York 2017, 40; L I N D E M A N N , Sammlung der Paulusbriefe, 339-342. Falls die Datierung des Canon Muratori um 200 zutreffen sollte - was sehr unsicher ist - läge noch ein weiterer Beleg für die Sammlung der Paulusbriefe mit den Pastoralbriefen (jedoch ohne den Hebräerbrief; dazu gleich mehr) vor; vgl. dazu C H A R L E S E. H I L L , The Debate Over the Muratorian Fragment and the Development of the Canon, WThJ 57/ 2 (1995), 437-452; S T A N L E Y E. P O R T E R , Paul and the Pauline Letter Collection, in: M. F. Bird/ J. R. Dodson (Hg.): Paul and the Second Century (LNTS 412), London 2011, 21. Angesichts mancher Unklarheiten bezüglich der definitiven Zugehörigkeit des Hebräerbriefes zum Corpus Paulinum kann nicht komplett ausgeschlossen werden, Kanon in der Mitte des 2. Jahrhunderts der früheste erreichbare Fixpunkt für die Geschichte des Corpus Paulinum sei. 3 Der zweite zu rekonstruierende Fixpunkt in der Geschichte der Paulusbrief‐ sammlungen ist die 14-Briefe-Sammlung, deren früheste Zeugnisse die Literatur der Kirchenväter (z. B. Irenäus, Tertullian und Origenes) und die überlieferten neutestamentlichen Handschriften sind. 4 146 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="147"?> dass die 14-Briefe-Sammlung ursprünglich als 13-Briefe-Sammlung konzipiert wurde: Der Hebräerbrief ist für das 2. Jahrhundert an verschiedenen Stellen bezeugt (zum ersten Mal aller Wahrscheinlichkeit nach im 1Clem); vgl. dazu z. B. H A N S -F R I E D R I C H W E Iẞ , Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen, 86-95; E R I C H G R Äẞ E R , An die Hebräer: 1. Teilband, Hebr 1-6 (EKK 17/ 1), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1990, 19-22; K U R T A L A N D , Die Entstehung des Corpus Paulinum, in: Ders. (Hg.): Neutestamentliche Entwürfe (TB 63), München 1979, 325-326; H A R R Y Y. G A M B L E , The New Testament Canon: Recent Research and the Status Quaestionis, in: L. M. McDonald/ J. A. Sanders (Hg.): The Canon Debate: On the Origins and Formation of the Bible, Peabody, MA 2 2004, 284. Auch Clemens von Alexandrien hielt den Hebr im frühen 3. Jh. für einen Paulusbrief, die Unsicherheiten bezüglich seiner Zuordnung zum Corpus Paulinum gehen v. a. auf die Diskussionen des Origenes zur paulinischen Verfasserschaft des Briefes und auf das Nicht-Vorhandensein des Hebr in B 46 zurück; vgl. dazu C H A R L E S P. A N D E R S O N , The Epistle to the Hebrews and the Pauline Letter Collection, HTR 59/ 4 (1966), 429-438 (der jedoch trotzdem für eine sehr frühe Zugehörigkeit zum Corpus Paulinum plädiert). Es scheint mir, im Anschluss an die Überlegungen Jan Heilmanns, im Allgemeinen sinnvoll, die - sehr verständlichen - Zweifel an der Zugehörigkeit des Hebräerbriefes zum Corpus Paulinum als Reaktion auf dessen Einbeziehung in die 14-Briefe-Sammlung zu interpretieren (vgl. H E I L M A N N , Editio Princeps, 35). 5 U. S C H M I D , Marcion, 297. 6 U. S C H M I D , Marcion, 297. 7 So auch schon: E I C H H O R N , Einleitung, 529: „Wer könnte also leugnen, dass die Annahme von zehn paulinischen Briefen (so weit unsere Nachrichten von ihnen reichen) älter gewesen sei, als die von 13 und 14? folglich Marcion’s Apostolikon älter, als der katholi‐ sche Apostolos! “ Folglich sind auch die von Schmid als Ausweg angenommenen (jedoch vollständig hypothetischen) Vorschläge von regional differierenden Paulusbriefsamm‐ lungen oder konkurrierenden Sammlungen, die auf unterschiedliche Paulustraditionen zurückgehen, nicht nötig (Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 298). Die entscheidende Frage ist nun, in welchem Verhältnis diese beiden Fix‐ punkte, die 10-Briefe-Sammlung und die 14-Briefe-Sammlung, stehen. Dabei drängt sich aufgrund der zeitlichen Bezeugung und des Umfangs der Gedanke auf, dass die 10-Briefe-Sammlung durch die 14-Briefe-Sammlung erweitert und verändert wurde. Auch Ulrich Schmid, der in der vorliegenden Arbeit schon etliche Male angesprochen wurde, meinte: „Man könnte zunächst auf den Ge‐ danken kommen, die vormarcionitische Sammlung sei älter als die kanonische Paulusbriefsammlung, denn die Pastoralbriefe und Heb waren darin nicht ent‐ halten.“ 5 Doch konnte sich Schmid diesem ersten Gedanken nicht anschließen, weil der „Textcharakter dieser vormarcionitischen Ausgabe viel zu korrupt“ 6 sei, um älter zu sein. Dass diese Einschätzung (zumindest für den Text des Laodice‐ nerbriefes) nicht zutrifft, wurde in Kapitel 4.3 aufgezeigt. Damit fällt das einzige ernsthafte Argument gegen die Priorität der 10-Briefe-Sammlung weg. Somit ist es meiner Einschätzung nach mit Abstand die plausibelste Lösung, die für Marcion bezeugte 10-Briefe-Sammlung als prioritär zur 14-Briefe-Sammlung, die in den Handschriften überliefert ist, anzusehen. 7 147 5.1 Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung <?page no="148"?> 8 P O R T E R , When and How, 99-113. Seit Porters Zusammenstellung sind meines Wissens nach keine neuen Gesamtentwürfe zur Entstehungsgeschichte des Corpus Paulinum er‐ schienen (Porter wiederholt seine Systematisierung nur mit leichten Akzentuierungen, wie beispielsweise dem Aufgreifen von Trobischs Entwurf als eigene Theorie, noch einmal in P O R T E R , Paul, 20-35. Vgl. auch die Zusammenstellung der Theorien bei H A R R Y Y. G A M B L E , The New Testament Canon: Its Making and Meaning (GBSNT), Eugene 1985, 36-42, auf die Porter zurückgreift. 5.2 Die Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung Da es angesichts des Quellenmaterials die einfachste Annahme ist, dass die 14-Briefe-Sammlung eine Erweiterung der 10-Briefe-Sammlung darstellt, liegt es im Sinne von ‚Ockhams Razor‘ (also der Vermeidung zusätzlicher hypothe‐ tischer Annahmen) nahe, dass bei diesem redaktionellen Schritt auch der Text des Laodicenerbriefes überarbeitet wurde. Dies stellt die Arbeitshypothese für die im nächsten Kapitel anzustellenden Überlegungen dar. Dies kann in folgendem schematischen Modell veranschaulicht werden (das später noch um den textgeschichtlichen Aspekt erweitert wird): Abb. 1: Von der 10zur 14-Briefe-Sammlung Eine solche redaktionelle Überarbeitung ist im Kontext dessen, was wir über die antike Literatur wissen, durchaus denkbar, wie die nachfolgenden Ausfüh‐ rungen zeigen sollen. Auch in der neutestamentlichen Forschung wurde in den letzten Jahrzehnten die Meinung favorisiert, dass die Paulusbriefe nicht - wie noch von Zahn und Harnack angenommen (siehe die gleich folgende Diskussion) - in etlichen verschiedenen, für den kirchlichen Gebrauch angefertigten Sammlungen zirku‐ lierten, sondern bewusst zusammengestellt und herausgegeben wurden. Dabei wurden teilweise sogar Überlegungen zu konkreten, namentlich bekannten Herausgebern angestellt, wie die von Stanley E. Porter erarbeitete Klassifikation der bisher in die Forschung eingebrachten Vorschläge zum Zustandekommen des Corpus Paulinum zeigt: 8 148 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="149"?> 9 Vgl. T H E O D O R Z A H N , Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Erster Band: Das Neue Testament vor Origenes, Zweite Hälfte, Erlangen/ Leipzig 1889, 811-839; vgl. A D O L F von H A R N A C K , Die Briefsammlung des Apostels Paulus und die anderen vorkons‐ tantinischen christlichen Briefsammlungen: Sechs Vorlesungen aus der altkirchlichen Literaturgeschichte, Leipzig 1926, 6-27; vgl. dazu zusammenfassend P O R T E R , When and How, 99-100. 10 Vgl. K I R S O P P L A K E , The Earlier Epistles of St. Paul: Their Motive and Origin, London 1911, 356-359, der zu diesem Schluss ausgehend von verschiedenen bezeugten Reihen‐ folgen der Paulusbriefe kam; vgl. B U R N E T T H. S T R E E T E R , The Four Gospels: A Study of Origins, Treating of the Manuscript Tradition, Sources, Authorship, & Dates, Eugene, OR 1936, 526-527. 11 Vgl. zu diesem und zu weiteren Einwänden P O R T E R , When and How, 101. 12 Vgl. E D G A R J . G O O D S P E E D , New Solutions of New Testament Problems, Chicago 1927, 86-87. Diese Auffassung ist das komplette Gegenteil davon, dass die Paulusbriefe graduell zu Sammlungen anwuchsen - auch hier wieder ein Hinweis darauf, dass mit einer geringen Quellendichte eine hohe Hypothesenfreudigkeit einhergeht. 13 Vgl. G O O D S P E E D , New Solutions, 94-103. 14 Vgl. K N O X , Philemon, 10. 15 Vgl. E D G A R J . G O O D S P E E D , Ephesians and the First Edition of Paul, JBL 70/ 4 (1951), 286. (1) „Gradual Collection or Zahn-Harnack Theory“: Sowohl Zahn als auch Harnack gingen davon aus, dass die Paulusbriefe bereits in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts in verschiedenen Sammlungen existierten, die für den kirchlichen Gebrauch angelegt wurden. 9 Dieser Grundannahme schlossen sich auch andere an, wie z. B. K. Lake und B. H. Streeter, die für die gleichen Prozesse jedoch eine drei bis vier Jahrhunderte währende Entstehungsgeschichte an‐ nahmen. 10 Diese zeitlich so differierenden Rekonstruktionen eines kleinschrit‐ tigen Entstehungsprozesses des Corpus Paulinum lassen erkennen, dass sie nicht auf den Quellen basieren, sondern ihren Ursprungvielmehr in modernen Vorstellungen über die frühchristlichen Überlieferungsbedingungen und Trans‐ formationswegen haben. 11 (2) „Lapsed Interest or Goodspeed-Knox Theory“: Edgar J. Goodspeed und John Knox teilten die Überzeugung, dass die Paulusbriefe nach dem Tod des Paulus in Vergessenheit geraten seien. 12 Erst die Abfassung der Apos‐ telgeschichte habe wieder ein Interesse an Paulus geweckt, woraufhin eine Paulusbriefsammlung erstellt worden sei. 13 Als Herausgeber dieser Sammlung schlägt Knox (der Goodspeeds Vorschlag weiter ausarbeitet) Onesimus vor, dessentwegen der Philemonbrief geschrieben wurde (Phlm 10) - was zugleich auch der Grund sei, weshalb dieser Brief in der Sammlung enthalten ist. 14 Diese Sammlung habe den Epheserbrief, der auf den anderen Paulusbriefen basiere, als vorangestellten Brief enthalten. 15 Eine große Schwierigkeit dieser These liegt darin, dass der Epheserbrief in den Handschriften nie als vorangestellter Brief 149 5.2 Die Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung <?page no="150"?> 16 Vgl. P O R T E R , When and How, 105; vgl. auch T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsamm‐ lung, 12-45. 17 Vgl. W A L T E R S C H M I T H A L S , Paulus und die Gnostiker: Untersuchungen zu den kleinen Paulusbriefen, Hamburg-Bergstedt 1965. 18 Vgl. S C H M I T H A L S , Paulus und die Gnostiker, 17-85. 19 Vgl. S C H M I T H A L S , Paulus und die Gnostiker, 15. 20 Vgl. S C H M I T H A L S , Paulus und die Gnostiker, 13. 21 Vgl. P O R T E R , When and How, 108-109 (dort auch weitere Literaturhinweise). 22 Vgl. die Vorstellung der einzelnen Forschungspositionen bei P O R T E R , When and How, 109. 23 Vgl. C H A R L E S F. D. M O U L E , The Birth of the New Testament, New York/ Evanston 1962, 264-265. 24 Vgl. D O N A L D G U T H R I E , New Testament Introduction, Downers Grove, IL 1970, 584; vgl. dazu auch P O R T E R , When and How, 110. der Paulusbriefsammlung überliefert ist, wie es in so einem Fall zu erwarten wäre. 16 (3) „Composite Anti-Gnostic or Schmithals Theory“: Schmithals sah - im Anschluss an Baurs Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums - die Sammlung der Paulusbriefe durch eine anti-gnostische Absicht motiviert. 17 Er nahm an, dass die Paulusbriefe aus einzelnen authentischen Fragmenten bestanden und intensiv überabeitet wurden (so zum Beispiel die Korintherbriefe, die aus ursprünglich 13 einzelnen Briefen bestanden hätten). 18 In diesem Zu‐ sammenhang plädierte er für ein sieben Briefe umfassendes Corpus Paulinum, in dem die Korintherbriefe am Anfang gestanden hätten, der Römerbrief (mit der Doxologie Röm 16,25-27) am Ende. 19 Auf die sieben Briefe kommt Schmithals durch Überlegungen zur Heiligkeit dieser Zahl 20 - was nur ein sehr schwaches Argument ist. Auch die Briefteilungshypothesen und die Mutmaßungen zum Gnostizismus riefen Kritik hervor, sodass sich Schmithals Ansicht zu Recht nicht durchsetzen konnte. 21 (4) „Personal Involvement or Moule and Guthrie Theories“: Angesichts der großen Unsicherheit über die Entstehungsgeschichte des Corpus Paulinum be‐ fürworteten einige Forscher die These, dass ein bestimmtes Individuum für die Sammlung und Herausgabe der Paulusbriefe verantwortlich ist. 22 Charles F. D. Moule beispielsweise vertrat ausgehend von einer linguistischen Analyse die Meinung, Lukas habe nicht nur die Pastoralbriefe geschrieben, sondern auch die Paulusbriefe herausgegeben - und zwar, nachdem er die Apostelgeschichte geschrieben und noch einmal die Wirkungsstätten des Paulus besucht habe. 23 Donald Guthrie schlug indessen Timotheus als Herausgeber vor, der in vielen Briefen als enger Mitarbeiter des Paulus genannt wird. 24 Wie bereits bei Ka‐ tegorie (2) genannt, plädierte John Knox für Onesimus als Herausgeber der Paulusbriefsammlung. Auch hier wird deutlich, dass die einzelnen genannten 150 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="151"?> 25 Vgl. T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, 134. 26 Vgl. H A N S -J O S E F K L A U C K , Ancient Letters and the New Testament: A Guide to Context and Exegesis, Waco, TX 2006, 332; P O R T E R , When and How, 116-117. Es ist jedoch anzumerken, dass Trobisch selbst auf den hypothetischen Charakter seines Entwurfes hinwies (T R O B I S C H , Entstehung der Paulusbriefsammlung, 129). Schmid kritisiert zudem jedoch zu Recht, dass Trobisch die marcionitische Paulusbriefsammlung nicht mit in seine Überlegungen einbezog (vgl. U. S C H M I D , Marcion, 284). 27 So wurde z. B. das ‚Zusammenfügen‘ von ursprünglichen Einzelbriefen zum 2. Ko‐ rintherbrief im Kontext der Sammlung der Cicerobriefe untersucht, vgl. T H O M A S S C H M E L L E R , Die Cicerobriefe und die Frage nach der Einheitlichkeit des 2. Korinther‐ briefs, ZNW 95/ 3-4 (2004), 181-208; dazu auch H A N S -J O S E F K L A U C K , Compilation of Letters in Cicero’s Correspondence, in: J. Fitzgerald/ T. Olbricht/ L. M. White (Hg.): Early Christianity and Classical Culture (NT.S 110) 2003, 131-155. Meinungen von teilweise gewagten Hypothesen getragen werden (z. B. Lukas als Verfasser der Pastoralbriefe) oder nur Vermutungen sind (wie z. B. Timotheus als Herausgeber). (5) Zuletzt stellt Porter noch den Entwurf von David Trobisch zur Entstehung der Paulusbriefsammlung vor: Trobisch kommt aufgrund seiner Untersuchung der verschiedenen Anordnungen der Paulusbriefe in den Handschriften zu dem Ergebnis, dass die Briefe zuerst in einer Autorenrezension herausgegeben wurden, und dann bereits in der Frühzeit in zwei verschiedenen Sammlungen im Umlauf waren: zum einen Röm Hebr 1Kor Eph und zum anderen Röm 1+2Kor Gal Eph Phil Kol 1+2Thess 1+2Tim Tit und Phlm. 25 Kritik an Trobischs Entwurf wird vor allem bezüglich seines Vorschlages, Paulus selbst habe die erste Paulusbriefsammlung zusammengestellt, geübt - hierfür sei die Quellenlage zu dünn. 26 Auch wenn sich in der bisherigen Forschung - aufgrund der spärlichen Quellenlage - keine eindeutige Rekonstruktion zur Entstehung der Paulusbrief‐ sammlung etablieren konnte (und die Überlegungen sich vor allem auf eine ‚Erstausgabe der Paulusbriefe‘ konzentrierten) 27 , so bleibt doch festzuhalten: Es spricht vieles dafür, dass sich die Paulusbriefsammlungen nicht an verschie‐ denen Orten ‚von selbst‘ durchgesetzt haben, sondern sind zu einer bestimmten Zeit von bestimmten Personen (mit bestimmten Interessen) angefertigt und herausgegeben worden (dafür spricht auch die relativ große Einheitlichkeit der handschriftlichen Überlieferung, die auf bestimmte Ausgangstexte zurück‐ zuführen ist, wie im nächsten Kapitel diskutiert wird). Die These der redaktionellen Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung passt gut zu neueren Erkenntnissen zur Überarbeitung bei der Neuherausgabe von Literatur. So zeigte Eric W. Scherbenske in seinem Werk Canonizing Paul (2013) auf, dass in antiken 151 5.2 Die Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung <?page no="152"?> 28 Vgl. S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, 16-41. Vgl. zur Verwendung der griechischen Begriffe auch F R A N C O M O N T A N A R I , Alexandrian Homeric Philology: The Form of the „Ekdosis“ and the „Variae Lectiones“, in: M. Reichel/ A. Rengakos (Hg.): Epea Pteroenta: Beiträge zur Homerforschung ; Festschrift für Wolfgang Kullmann zum 75. Geburtstag, Stuttgart 2002, 119-135; und H I L L A R I U S E M O N D S , Zweite Auflage im Altertum: Kultur‐ geschichtliche Studien zur Überlieferung der antiken Literatur (KPS 14), Leipzig 1941, 277-305. 29 Vgl. S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, 34; vgl. Diese Terminologie findet sich bereits bei Aristarch, vgl. K A R L L E H R S , De Aristarchi Studiis Homericis, Königsberg 1833, 351. 30 Vgl. S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, 19. 31 Vgl. S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, 40-41. 32 S C H E R B E N S K E , Canonizing Paul, 20. Scherbenske untersucht jedoch nicht die Frühzeit der Zusammenstellung, sondern nur ‚spätere‘ „Editionen“ der Paulusbriefsammlung - wobei seiner Meinung nach die 10-Briefe-Sammlung Marcions die erste war (vgl. ebd. 71-115). 33 Galen, In Hippocratis De Victu Acutorum, 424: Ἐπιδιεσκευάσθαι λέγεται βιβλίον ἐπὶ τῷ προτέρῳ γεγραμμένῳ τὸ δεύτερον γραφέν, ὅταν τὴν ὑποθεσιν ἔχον τὴν αὐτὴν καὶ τὰς πλείστας τῶν ῥήσεων τὰς αὐτὰς τινὰ μὲν ἀφῃρημένα τῶν ἐκ τοῦ προτέρου συγγράμματος ἒχῃ, τινὰ δέ προσκείμενα, τινὰ δ’ ὑπηλλαγμένα. (Text H E L M R E I C H , CMG V 9,1 [S. 120, Z. 5-8]; eigene Übers.). Quellen zum Publikationsvorgang drei Begriffe eine zentrale Bedeutung haben: διόρθωσις (Verbesserung, Berichtigung), ἔκδοσις (Herausgabe, Auslieferung) und διασκευή (Überarbeitung, Einrichtung). 28 Scherbenske macht deutlich, dass es keine Herausgabe (ἔκδοσις) von Texten gab, ohne dass zuvor eine Verbesserung bzw. Berichtigung (διόρθωσις) des Textes vorgenommen wurde - die jedoch in unterschiedlichem Umfang geschehen konnte. 29 Dies reichte vom Abgleich mit anderen Handschriften bis hin zu inhaltlichen Überarbeitungen. 30 Waren diese signifikant, wurde der Begriff διασκευή verwendet - wobei wichtig war, dass bei der Änderung, Hinzufügung und Tilgung von Text die Hauptaus‐ sage des Werks nicht maßgeblich verändert wurde. 31 So kann Scherbenske insgesamt festhalten, dass antike Editionen häufig „the product of interpretive concerns, not modern, dispassionate textual criticism“ 32 waren. Im 2. nachchristlichen Jahrhundert ist beispielsweise in Galens Kommentar zu Hippokrates von διασκευή, der Überarbeitung bei der Neuveröffentlichung, die Rede: Galen, In Hippocratis De Victu Acutorum, 424: ‚Überarbeitet‘ (ἐπιδιεσκευάσθαι) wird ein Buch genannt, wenn auf Grundlage eines zuvor geschriebenen ein zweites geschrieben wurde; wenn es die gleiche Grundaussage wie das vorige hat und größtenteils die gleichen Worte; manche Worte aus dem vorherigen gestrichen, manche hinzugefügt, manche etwas geändert. 33 152 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="153"?> 34 Tert. Adv. Marc. 1,1,1-2: (1)Novam rem adgredimur ex vetere. Primum opusculum quasi properatum pleniore postea compositione rescideram. [...] (2)Frequentia emendationis necessitas facta est innovationis. Eius occasio aliquid adicere persuasit. Ita stilus iste […] hunc pousculi sui exitum necessario praefatur, ne quem varietas eius in disperse reperta confundat. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 1). 35 In gewisser Weise war Tertullians 2. Auflage bereits die 3. Veröffentlichung von Adversus Marcionem, da eine zweite Fassung gestohlen und damit unautorisiert her‐ ausgegeben wurde, sodass Tertullian später seine zweite Edition herausgab (siehe Tert. Adv. Marc. 1,1,1). Vgl. dazu L U K A S , Einleitung, 19-20 und auch E M O N D S , Zweite Auflage, 258-265. 36 Vgl. L U K A S , Einleitung, 20. Die Überarbeitung (διασκευή) auf der Ebene von einzelnen Wörtern bei der (Neu-) Herausgabe von Literatur war demnach in der Antike gängige Praxis. Dies lässt sich selbst an dem in dieser Arbeit häufig zitierten Werk Adversus Marcionem erkennen, in dessen Einleitung (1,1,1-2) Tertullian schreibt: Tert. Adv. Marc. 1,1,1-2: Auf der Grundlage des alten Werkes gehen wir an ein neues heran. Mein erstes Büchlein, welches gewissermaßen übereilt erstellt worden war, habe ich später durch eine umfangreichere Zusammenstellung ersetzt. […] (2) Durch die Fülle an erforderlichen Korrekturen ergab sich die Notwendigkeit einer grundle‐ genden Überarbeitung. Im Zuge dieser Neubearbeitung empfahl es sich auch, manches hinzuzufügen. So muss im Vorwort dieser Ausgabe […] auch darauf hingewiesen werden, dass dies die endgültige Form dieses Werkes darstellt, damit niemanden verschiedene Lesarten der Schrift, die man hier und dort finden könnte, in Verwirrung bringen. 34 Gleich zu Beginn von Adversus Marcionem erwähnt Tertullian, dass die vor‐ liegende Ausgabe aus einer „grundlegenden Überarbeitung“ (innovatio) eines vorherigen Buches hervorgegangen ist. Da die überlieferten Handschriften jedoch ausschließlich auf diese zweite Veröffentlichung zurückgehen, kann der Charakter der innovatio nicht ausgehend von den Varianten erschlossen werden, sondern nur von Tertullians eigenen diesbezüglichen Angaben. 35 Die uns über‐ lieferte ‚Neuausgabe‘ von Adversus Marcionem ist zum einen mit „Korrekturen“ versehen und zum anderen ist sie „umfangreicher“ - vermutlich wurden die Bücher 4 und 5 erst hier hinzugefügt. 36 Daher könnte die Änderungen an Tertullians Adversus Marcionem möglicherweise dem ähneln, was man für die Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung feststellen kann. Somit lässt sich festhalten, dass die angenommene Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung sehr gut in das Muster passt, das sich bei den in der Antike üblichen Überarbeitungen bei der Neuherausgabe von Literatur zeigt. Wichtiger noch als dieses vergleichsweise 153 5.2 Die Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung <?page no="154"?> 37 Vgl. Kap. 4.2.2. 38 Die Basis für die Nennung der Handschriften, die einzelne konkrete Lesarten bieten, die sich auch im Laodicenerbrief finden, ist die Liste bei U. S C H M I D , Marcion, 351-353. Konkret handelt es sich um folgende Textstellen: lat: Eph 1,9; 1,12; 1,13; 2,3; 2,12; 2,13; 2,15; 3,9; 3,10 / G: 1,9; 1,12; 1,13; 2,12; 2,15; 3,9; 3,10 / F: 1,9; 1,12; 1,13; 2,12; 3,9; 3,10 / D: 1,9; 1,12; 1,13; 2,12; 3,9. allgemeine Argument ist jedoch, dass sich mit der These von zwei verschiedenen Editionen der Paulusbriefe auch die Textüberlieferung des Epheserbriefes er‐ klären lässt, wie das folgende Kapitel zeigen wird. 5.3 Ein Modell zur Überlieferungsgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes Die These einer redaktionellen Überarbeitung des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung wird vor allem dann plausibel, wenn sich damit auch die Textüberlieferung des Epheserbriefes erklären lässt. Diese Verknüpfung der beiden Fragestellungen nach der Priorität des Laodicener‐ briefes und der Textgeschichte des Epheserbriefes wurde meines Wissens nach zuvor noch nicht hergestellt. Der Ausgangspunkt dafür sind die bereits thematisierten Übereinstimmungen von Lesarten des (bei Marcion bezeugten) Laodicenerbriefes mit manchen erhaltenen Handschriften des Epheserbriefes. 5.3.1 Überblick: Die Lesarten der 10-Briefe-Sammlung in den neutestamentlichen Handschriften Wie bereits bei der Beurteilung des bei Marcion bezeugten Textes des Laodi‐ cenerbriefes deutlich wurde, kann dieser Text nicht einfach als ein Stratum des ‚westlichen Textes‘, so wie Ulrich Schmid es vorschlug, abgestempelt werden. 37 Vielmehr ergibt eine Sichtung der Übereinstimmungen zwischen dem Tex des Laodicenerbriefes und den neutestamentlichen Handschriften ein differenziertes Bild: Der marcionitische Laodicenerbrief weist in neun Fällen Übereinstimmungen mit den altlateinischen Handschriften auf (lat), als Nächstes folgen G (sieben Übereinstimmungen), F (sechs Übereinstimmungen) und D (fünf Übereinstimmungen). 38 Doch es gibt ebenfalls fünf Übereinstim‐ mungen des Laodicenerbrieftextes mit dem Codex Sinaiticus (ℵ), vier mit dem Codex Vaticanus (B), ebenfalls vier mit Lesarten des sog. ‚Mehrheitstextes‘ (byz) und der syrischen Peschitta (sy p ) sowie jeweils drei Übereinstimmungen mit 154 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="155"?> 39 ℵ: Eph 2,3; 2,11; 2,12; 2,13; 3,9 / B: 2,3; 2,12; 2,13; 3,9 / M: 2,3; 2,11; 2,15; 3,9 / sy p : 2,14; 2,15; 3,9; 3,10 / B 46 : 2,3; 2,13; 3,9 / vg: 2,15; 3,9; 3,10 / sy h : 2,3; 2,11; 3,9. In Eph 2,11 und 3,9 gibt es in einem Satz bei verschiedenen Worten Varianten, daher sind diese Verse öfter genannt (vgl. zu den einzelnen Stellen U. S C H M I D , Marcion, 264-265). 40 Vgl. Kap. 4.3.3; siehe dazu U. S C H M I D , Marcion, 184-185. 41 Vgl. D A H L , Earliest Prologues, 193-194. 42 Dahl ließ offen, ob der Hebräerbrief (dessen Zuordnung zu Paulus umstritten ist) zu dieser Sammlung anfangs dazugehört hat oder nicht, vgl. D A H L , Earliest Prologues, 194. Vgl. dazu (und auch zur Tendenz der Einbeziehung des Hebräerbriefes) in die Briefsammlung, die die Ausgangsbasis für unsere Handschriften ist, die Diskussion in Kap. 5.2. 43 D A H L , Earliest Prologues, 194. Vgl. zur Diskussion um einen bzw. mehrere ‚Ausgangs‐ texte‘ der Paulusbriefsammlung auch Kapitel 7.3. B 46 , der Vulgata und der syrischen Harklensis (sy h ). 39 Es zeigt sich also, dass die bei Marcion bezeugten Lesarten des Laodicenerbriefes nur etwas seltener in den nicht-‚westlichen‘ Handschriften vorkommen als in den ‚westlichen‘. Aus dieser Datenlage resultiert die Einsicht, dass für die Einordnung des Marcion-Textes in ein überlieferungsgeschichtliches Modell die Berücksichtigung nur einer be‐ stimmten Textform wie der ‚Westlichen‘ nicht ausreicht, sondern dass man dabei eine größere Bandbreite an Handschriften einbeziehen muss. Dies zeigt auch das bereits thematisierte Beispiel aus Eph 5,31, bei dem der für Marcion bezeugte Text lediglich mit den beiden recht entlegenen Minuskeln 6 und 1739 und einem Zitat des Origenes übereinstimmt. 40 Deshalb stellt sich die große Frage, wie die textlichen Übereinstimmungen zwischen Marcions Paulusbriefsammlung und den Varianten der neutestamentlichen Handschriften anderweitig erklärt werden können. 5.3.2 Konflation als Ursache für das Vorkommen einiger Lesarten des Laodicenerbriefes in den Handschriften des Epheserbriefes Für die Entwicklung eines überlieferungsgeschichtlichen Modells, das Marcions Paulusbriefsammlung als wichtigen Zeugen für die Frühgeschichte der Paulus‐ briefsammlung ernst nimmt, kann auf die Überlegungen von Nils A. Dahl zurückgegriffen werden. Auch wenn Dahl annimmt, dass Marcion eine ihm vorliegende Sammlung redaktionell bearbeitete, so plädiert er doch dafür, in dieser vormarcionitischen Sammlung von Paulusbriefen einen zentralen Aus‐ gangspunkt der Textüberlieferung zu sehen. 41 Auf der einen Seite stehe die 13- oder 14-Briefe-Sammlung 42 und auf der anderen Seite die 10-Briefe-Sammlung - von diesen beiden Sammlungen ausgehend lasse sich „the whole complex evi‐ dence as due to alterations and conflations of two basic editions“ 43 erklären (vgl. zu den beiden Paulusbriefsammlungen ausführlich die Diskussion in Kap. 5.1). 155 5.3 Ein Modell zur Überlieferungsgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes <?page no="156"?> 44 Vgl. D A H L , Earliest Prologues, 195. 45 Vgl. Tert. Adv. Marc. 5,4,12: Quid nunc, si et confirmat illam ex parte, qua debet? Tota enim, inquit, lex in vobis adimpleta est: diliges proximum tuum tamquam te. | „Und was bedeutet es nun, wenn der Apostel das Gesetz sogar bestätigt, insoweit nämlich, wie er es bestätigen muss? Denn er sagt: ‚Das gesamte Gesetz hat sich in euch erfüllt (durch die Weisung): Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘.“ (Text und Übers. L U K A S , FC 63/ 4). Da Dahl lediglich am Zusammenhang zwischen Marcions Paulusbriefsammlung und der lateinischen und syrischen Überlieferung interessiert ist, spricht er zwar wiederholt das Prinzip der „Konflation“ an, konkretisiert diese Überlegungen jedoch nicht in einem Modell. 44 Dahls Theorie einer Konflation zwischen der 10-Briefe-Sammlung und der 13-/ 14-Briefe-Sammlung verspricht jedoch einen großen Erkenntnisgewinn bei der Untersuchung der Überlieferungsgeschichte der Paulusbriefe, da sie auch die soeben dargelegten Übereinstimmungen von Marcions Briefsammlung mit den nicht-‚westlichen‘ Handschriften zu erklären vermag. Daher sollte diese Spur dringend weiterverfolgt werden. Unter Einbeziehung der bereits festgehaltenen Arbeitsergebnisse zur 10-/ 14-Briefe-Sammlung lässt sich lässt sich des das Prinzip der Konflation vereinfacht folgendermaßen darstellen: Abb. 2: Textgeschichtliches Modell der Paulusbriefsammlungen Ein konkretes Beispiel für eine solche Konflation ist Gal 5,14. Im Text des Galaterbriefes in der bei Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung heißt es: „Denn das ganze Gesetz ist bei euch (ἐν ὑμῖν) zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. 45 In der großen Mehrzahl der Handschriften lautet der Beginn dieses Satzes: „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort (ἐν ἑνὶ λόγῳ) zusammengefasst […].“ Die Handschriften D F G ar b Ambst bieten jedoch einen Text, der eindeutig eine Konflation zwischen dem Text 156 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="157"?> 46 Vgl. zur Übersetzung von ἐν ὑμῖν als „bei euch“: H A R N A C K , Marcion, 47. Vgl. zur Stelle bes. R O T H , The Text, 306 („[…] a singular reading in Gal. 5: 14 of Marcion’s text is highly significant for the insight it provides into the textual history of this verse“). Vgl. auch U. S C H M I D , Marcion, 130-131. 47 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, bes. 72-113. Vgl. auch M A T T H I A S K L I N G H A R D T , Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft: Zur Textgeschichte der neutestamentlichen Handschriftenüberlieferung, ZNT 39-40 (2017), 87-104. 48 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 80-83 und D A H L , Earliest Prologues, 193-195. Klinghardt nimmt aufgrund der widersprüchlichen Bezeugungen für das marcioniti‐ sche Evangelium bei Tertullian und Epiphanius zugleich auch eine Beeinflussung der von den Marcioniten benutzten Ausgabe durch den kanonischen Text an, so dass er von einer ‚Interferierung‘ der beiden Hanschriftenüberlieferungen spricht (vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 82). 49 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 80. Diese Lesarten kommen - genau wie auch im Falle des für Marcion bezeugten Apostolos (vgl. Kap. 4.2.1) - vor allem im sog. ‚Westlichen Text‘ vor, sind jedoch keineswegs auf diesen beschränkt (vgl. ebd. 96-99). 50 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 83. 51 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 83. der 10-Briefe-Sammlung und dem der 14-Briefe-Sammlung darstellt: „Denn das ganze Gesetz ist bei euch in einem Wort (ἐν ὑμῖν ἐν ἑνὶ λόγῳ) zusammengefasst: […].“ 46 Um sich den konkreten, materiellen Überlieferungsverlauf der Konflation dieser beiden Paulusbriefsammlungen vorzustellen, kann auf die Untersuchung von M. Klinghardt zum bei Marcion bezeugten Evangelium zurückgegriffen werden. 47 Klinghardts überlieferungsgeschichtliches Modell deckt sich in seinen Prämissen mit den Überlegungen Dahls; beide gehen von einer Konflation des bei Marcion bezeugten Textes mit einer anderen Textgröße (dem Lukasevan‐ gelium bzw. der 14-Paulusbriefe-Sammlung) aus, um die Übereinstimmungen zwischen Marcions Textsammlung und den neutestamentlichen Handschriften zu erklären. 48 Klinghardt hält für das bei Marcion bezeugte Evangelium (das er aufgrund von redaktionsgeschichtlichen Einsichten als „ältestes Evangelium“ bezeichnet) fest, dass dessen Lesarten zahlreich in den neutestamentlichen Handschriften auftreten, vor allem - doch bei Weitem nicht ausschließlich - in den Handschriften D it sy. 49 Da das Lukasevangelium durch eine redaktionelle Überarbeitung des bei Marcion erhaltenen „ältesten Evangeliums“ entstanden sei, habe es im frühen Christentum unterschiedliche ‚Ausgaben‘ dieses Evan‐ geliums gegeben. 50 Exemplare des „ältesten Evangeliums“ seien auch nach dem Aufkommen des Lukasevangeliums in der entstehenden katholischen Kirche noch im Umlauf gewesen und dabei zum Teil auch zur Herstellung von Kopien des Lukasevangeliums herangezogen worden. 51 Mit dieser Theorie erklärt Klinghardt das umfangreiche Vorkommen (75%) von Lesarten des bei 157 5.3 Ein Modell zur Überlieferungsgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes <?page no="158"?> 52 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 99. 53 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 125. 54 Vgl. dazu die Diskussion um den Ursprung der Varianten in Kap. 5.3.2. 55 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 281. So sind nach Schmids Ansicht beispielsweise die Glossen im vormarcionitischen Text durch die Hinzunahme von anderen Handschriften bei der Herstellung des W-Textes wieder entfernt worden. Auch entstand der W-Text Schmid zufolge „mit Sicherheit auch durch Vergleichung mit anderen HSS“ (ebd.). 56 U. S C H M I D , Marcion, 298. 57 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 298. Diese überlieferungsgeschichtlichen Modelle befinden sich grundlegend in der Traditionslinie von Günther Zuntz, der in seiner wegweisenden Arbeit zur Textgeschichte der Paulusbriefe den weit verbreiteten ‚alexandrinischen‘ Text als einen auf philologischer Basis hergestellten Text beschrieben hat, vgl. Z U N T Z , Text of the Epistles, 273-275. Marcion bezeugten Evangeliums in den neutestamentlichen Handschriften. 52 Da sich die textliche Situation der Varianten in den Paulusbriefen - wie bereits angesprochen - sehr ähnlich darstellt, bietet es sich an, diesen Entwurf in seinen Grundzügen auch auf das Verhältnis zwischen der 10- und der 14-Briefe-Samm‐ lung, konkret auf den Laodicenerbrief, zu übertragen. Dies führt zum Modell der Beeinflussung des Textes des Epheserbriefes der 14-Briefe-Sammlung durch den Text des Laodicenerbriefs der 10-Briefe-Sammlung. Auch wenn es noch weiterer Untersuchungen bedarf, um den konkreten Vorgang der ‚Beeinflus‐ sung‘ der Handschriften zu verstehen (z. B. wäre es denkbar, dass Änderungen an den Handschriften der 10-Briefe-Sammlung nicht konsequent eingetragen wurden) 53 , so ist dieses Modell die einfachste Möglichkeit, zu erklären, warum sich in der handschriftlichen Überlieferung der Paulusbriefsammlung etliche Lesarten finden, die aus der älteren 10-Briefe-Sammlung stammen. 54 Bemer‐ kenswert ist an dieser Stelle, dass auch Ulrich Schmid - wenngleich er den bei Marcion bezeugten Text ganz anders beurteilt - mit verschiedenen (seiner Meinung nach nicht näher identifizierbaren) Ausgaben von Paulusbriefsamm‐ lungen rechnet, deren Texte fortgelebt haben und bei der Handschriftenproduk‐ tion als Vorlagen vergleichend herangezogen wurden: Denn gemäß Schmids Ansicht seien beispielsweise die Glossen im vormarcionitischen Text durch die Hinzunahme von anderen Handschriften bei der Herstellung des W-Textes wieder entfernt worden. 55 Schmid setzte die verschiedenen Briefsammlungen jedoch nicht in ein direktes zeitliches Verhältnis, sondern hielt sie für „re‐ gional verschiedene Corpora Paulinum (sic! )“ oder für „konkurrierende Samm‐ lungen“. 56 Interessant ist, dass er in diesem Zusammenhang ebenfalls dafür plädiert, dass die Textüberlieferung der 14 Briefe umfassenden Sammlung nicht auf einen einzelnen Archetyp zurückgeht. 57 Das hier vorgestellte Modell der Konflation kann jedoch ausgehend von den zwei definierbaren Fixpunkten, 158 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="159"?> 58 Vgl. H A R N A C K , Marcion, 153 * -155*. Harnacks Annahme setzte eine übergroße Naivität auf Seiten der entstehenden katholischen Kirche voraus, wenn diese den Text des von ihr bekämpften Ketzers Marcion übernommen hätte, vgl. dazu U. S C H M I D , Marcion, 280. nämlich der 10- und der 14-Briefe-Sammlung und deren Konflation ein deutlich konkreteres Gesamtbild der Geschichte der Paulusbriefsammlungen entwerfen. Auch wird mit dieser Rekonstruktion das große Problem Harnacks um‐ gangen, dem aufgrund der textlichen Übereinstimmungen nichts anderes übrig blieb, als davon auszugehen, dass der von Marcion dogmatisch-tendenziös ver‐ änderte Text die kanonischen Handschriften beeinflusste. 58 Wenn aber Marcion lediglich einen sehr alten Text der Paulusbriefe überliefert hat, der durch Kon‐ flation Eingang in die Handschriften fand, dann sind diese Übereinstimmungen nicht mehr der das offene Problem, sondern vielmehr der Schlüssel für die Einordnung des bei Marcion bezeugten Textes in die Überlieferungsgeschichte der Paulusbriefe. So kann an dieser Stelle folgendes festgehalten werden: Das Szenario mit den wenigsten hypothetischen Zwischenschritten, nämlich die Annahme einer Überarbeitung des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung bei der Heraus‐ gabe der 14-Briefe-Sammlung ist nicht nur im Rahmen der antiken Literatur‐ produktion denkbar, sondern - wichtiger noch - es vermag auch die Entstehung der textlichen Übereinstimmungen zwischen dem Laodicenerbrieftext und Varianten des Epheserbriefes zu erklären. Das textgeschichtliche Modell für den Laodicener-/ Epheserbrief kann daher folgendermaßen veranschaulicht werden: Abb. 3: Textgeschichtliches Modell des Laodicener-/ Epheserbriefes 159 5.3 Ein Modell zur Überlieferungsgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes <?page no="160"?> 59 Vgl. B A R T D. E H R M A N , The Orthodox Corruption of Scripture: The Effect of Early Christological Controversies on the Text of the New Testament, Oxford 2011, 321 (1. Auflage: 1993). 60 Vgl. E H R M A N , Orthodox Corruption, 324. Ehrman ordnet in seinem weit rezipierten Gesamtentwurf ganz verschiedene Textänderungen aus vielen unterschiedlichen Hand‐ schriften in ein großes Muster ein, wobei die theologischen Überarbeitungen („corrup‐ tions“) - wenn sie, wie von ihm angenommen, stattgefunden hätten - wohl tendenziell eher in bestimmten Handschriften zu erwarten wären. Vgl. zu Ehrmans Entwurf auch D A V I D C. P A R K E R , Review: Ehrman, Bart D., The Orthodox Corruption of Scripture. The Effect of Early Christological Controversies on the Text of the New Testament, New York/ Oxford, 1993, SJT 50/ 04 (1997), 506-507. Die Besonderheit von Ehrmans Entwurf - sein stark systematischer Zugang - ist zugleich eine wichtige Schwäche: Ehrman öffnet, bildlich gesprochen, etliche, aus verschiedenen Zeiten der Kirchengeschichte bekannte theologische ‚Schubladen‘ und ordnet dort alle ihm günstig erscheinenden Varianten ein, ohne den jeweiligen konkreten (und verschiedenen) Überlieferungsverlauf in den Blick zu nehmen. 5.3.3 Einordnung des entwickelten textgeschichtlichen Modells in die Diskussion um die Entstehung neutestamentlicher Textvarianten An letzter Stelle der Überlegungen zur Textgeschichte von Laodicener- und Epheserbrief sollen die gewonnen Erkenntnisse noch in den Kontext der Diskussion um die Entstehung von Varianten der neutestamentlichen Hand‐ schriften eingeordnet werden. Diese Diskussion wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem entlang der thematischen Linie geführt, welche Rolle die (Ab-)Schreiber der neutestamentlichen Handschriften bei der Entstehung der Varianten spielten. War es ihr Auftrag und Anspruch, eine exakte Kopie des vorliegenden Textes herzustellen? Oder haben sie den Text gemäß ihren jeweiligen theologischen Vorstellungen beim Abschreiben verändert? Besonders in der englischsprachigen Forschung wurde die letztgenannte Variante in jüngerer Vergangenheit entschieden vertreten: Die beiden promi‐ nentesten und wirkmächtigsten Entwürfe stammen hierbei von Bart D. Ehrman („The Orthodox Corruption of Scripture“) und David C. Parker („The Living Text of the Gospels“). Die Hauptthese Bart D. Ehrmans, dessen Buch 1993 in erster Auflage erschien, lautet: Schreiber des zweiten und dritten Jahrhunderts haben die Texte gemäß ihren eigenen christologischen Ansichten modifiziert. 59 Bei den christologischen Ansichten handele es sich um die gleichen, die sich auch später auf den Konzilien von Nicäa und Chalcedon durchgesetzt haben: Die Schreiber hätten also das ‚Gottsein‘ Christi gegen die Adoptianisten, seine ‚Menschheit‘ gegen die Doketisten, seine ‚Einheit‘ gegen die Separationisten und seine ‚Personhaftigkeit‘ gegen die Modalisten verteidigt. 60 David C. Parker argumentierte in seinem 1997 erschienenen Buch anhand von Textbeispielen aus den Evangelien in ganz ähnlicher Weise dafür, „that there was a continuing 160 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="161"?> 61 D A V I D C. P A R K E R , The Living Text of the Gospels, Cambridge u. a. 1997, 204. 62 Vgl. P A R K E R , Living Text, 212. 63 Vgl. z. B. J U A N H E R N Á N D E Z , Scribal Habits and Theological Influences in the Apocalypse: The Singular Readings of Sinaiticus, Alexandrinus, and Ephraemi (WUNT II 218), Tübingen 2006; J O N G K I N D , Scribal Habits; R O Y S E , Scribal Habits (der sich jedoch teilweise auch zurückhaltend äußert: „Instead of saying that scribes tend to do something, one should rather say that some scribes tend to do one thing, and other scribes tend to do something else“; ebd. 469-470); vgl. dazu zusammenfassend: K I M H A I N E S -E I T Z E N , The Social History of Early Christian Scribes, in: B. D. Ehrman/ M. W. Holmes (Hg.): The Text of the New Testament in Contemporary Research: Essays on the Status Quaestionis, Second Edition (NTTSD 42), Leiden/ Boston 2013, 488-489. 64 Vgl. A L A N T A Y L O R F A R N E S , Scribal Habits in New Testament Co‐ pies with Extant Exemplars, http: / / evangelicaltextualcriticism.blogspot.de/ 2018/ 03/ alan-taylor-farnes-on-scribal-habits-in.html [Zugriff am 08.08.2021]; vgl. dazu auch das Bild der Poster-Session am ‚Birmingham Biblical Studies Day’ (Mai 2017): https: / / www.birmingham.ac.uk/ research/ activity/ itsee/ news/ 2017/ farnes-poster.aspx [letzter Zugriff am 08.08.2021]. interplay between the Scripture - the text copied - and the tradition - the person engaged in the process of copying in and for the church“ 61 . In diesem Zusammenhang versteht er den Text des Neuen Testaments als living, der durch eine vergleichsweise ‚freie‘ Entwicklung charakterisiert gewesen sei. 62 Beide Autoren, Ehrman und Parker, gehen von einer Individualität der Schreiber aus, die auf die zu kopierenden Texte eingewirkt habe, und produzieren so eine Gesamterzählung für die Entstehung der Varianten in den Handschriften, die in der textkritischen Wissenschaft einen großen Widerhall fand und weitere, nach dem Paradigma der Schreiber als ‚kleiner Exegeten‘ mit eigenen theologischen Absichten ausgerichtete Arbeiten evoziert hat. 63 Auf der anderen Seite wird in der textkritischen Wissenschaft jedoch auch eine andere Meinung vertreten, die sich trotz (oder gerade wegen) der Plädoyers von Ehrman und Parker für einen wesentlich geringeren Gestaltungswillen der Schreiber ausspricht. Jüngst hat Alan Taylor Farnes in einer (bisher unver‐ öffentlichten) Dissertation gezeigt, dass Schreiber ihrer Vorlage eng verpflichtet waren: Er untersuchte neutestamentliche Handschriften, von denen direkte Ko‐ pien existieren - wie beispielsweise den Codex Claromontanus (06) mit seinen Abschriften Codex Sangermanensis (0319) und Codex Waldaccensis (0320) -, und konnte dabei zeigen, dass die Schreiber keine intentionalen Änderungen in den Text eingetragen haben. 64 Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kam beispiels‐ weise auch Barbara Aland in einer Untersuchung neutestamentlicher Papyri: es gebe in den Papyri etliche Schreibfehler, doch es sind kaum aus eigener theologischer Überzeugung heraus resultierende Textänderungen zu finden: „Schreiber […] wollen kopieren und damit ihre handwerkliche Berufsaufgabe 161 5.3 Ein Modell zur Überlieferungsgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes <?page no="162"?> 65 B A R B A R A A L A N D , Sind Schreiber früher neutestamentlicher Handschriften lnterpreten des Textes? , in: J. W. Childers/ D. C. Parker (Hg.): Transmission and Reception: New Testament Text-Critical and Exegetical Studies (TaS 3.4), Piscataway, NJ 2006, 114. 66 Vgl. B. A L A N D , Schreiber, 117-118. 67 Vgl. M I N K , Editing, 52. erfüllen.“ 65 Zwar sei es in gewisser Weise möglich, Schreiber als Interpreten des Textes anzusehen, doch nur in einem eng umgrenzten Rahmen, so zum Beispiel bei Angleichungen an andere Evangelien („Harmonisierungen“). 66 Auch die gegenwärtig maßgebliche Methode der neutestamentlichen Textkritik, die ‚Kohärenzbasierte Genealogische Methode‘, setzt die Grundannahme voraus, dass Schreiber ihre Vorlage(n) möglichst genau kopieren wollen. 67 Beide soeben dargestellten Forschungspositionen bringen meiner Einschät‐ zung nach Aporien mit sich: So krankt die eine Seite (Ehrman, Parker, Royse etc.) daran, dass bei einer solch großen Fluidität des Textes, wie sie von ihnen angenommen wird, die Zahl der Textvarianten viel höher sein müsste, als sie tatsächlich in den Handschriften zu finden ist. Die andere Seite, die nicht mit intentionalen Änderungen rechnet (Farnes, Aland etc.), hat das ernsthafte Problem, alle Abweichungen mit Schreibfehlern und Harmonisierungen zu erklären - wofür wiederum die in den Handschriften zu findenden Varianten zu groß und zu vielfältig sind. Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich meines Erachtens nur an, mit intentionalen Änderungen an wenigen, möglichst konkret zu identifizierenden Stellen zu rechnen - genau, wie es im oben entwickelten Modell der Konflation zwischen der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung vorgestellt wurde. Dies gilt in besonderer Weise für die semantisch relevanten Unterschiede zwischen Laodicener- und Epheserbrief - und bedeutet natürlich nicht, dass alle Textvarianten auf die Konflation mit dem Laodicenerbrief zurückgehen: Manche Textvarianten sind Schreibfehler, oder lassen sich durch andere Um‐ stände erklären, wie z. B. die oben genannte Hinzufügung der Worte „und von den Generationen her“ zu Eph 3,9, die sich in F G lat findet und eine Angleichung an Kol 1,26 darstellt. Damit haben auch die zu Beginn des Kapitels gestellten Fragen, wie die Entstehung der Textvarianten in den Handschriften zu erklären ist, eine Ant‐ wort gefunden: Das plausibelste Gesamtszenario ist, dass die Paulusbriefe nicht von ‚vielen kleinen Schreibern an vielen kleinen Orten‘ überarbeitet wurden, sondern bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung im Rahmen einer redaktionellen Bearbeitung. 162 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="163"?> 68 Vgl. G O L D M A N N , Textgeschichte des Römerbriefes. 5.4 Zusammenfassung: Die Überarbeitung des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung Dem zurückliegenden Kapitel lag die Frage zugrunde, wie der Text des Ephe‐ serbriefes zustande gekommen ist und wie die Textüberlieferung des Briefes zu erklären ist. Hierbei wurde deutlich, dass es lediglich zwei bekannte Fix‐ punkte aus der Geschichte der Paulusbriefsammlungen gibt, nämlich zum einen die 10-Briefe-Sammlung, die den Laodicenerbrief enthielt, und zum anderen die 14-Briefe-Sammlung (mit dem Epheserbrief), auf die die Kirchenväter als „ihre“ Paulusbriefsammlung zurückgriffen und die uns in den Handschriften überliefert ist. Will man unnötige zusätzliche Annahmen vermeiden, so ist die Entstehung des Epheserbriefes am einfachsten mit einer redaktionellen Überarbeitung des Laodicenerbriefes bei der Erstellung der 14-Briefe-Sammlung zu erklären. In einem nächsten Schritt konnte gezeigt werden, dass sich diese (bereits in Kapitel 4 durch einen Textvergleich zwischen Laodicener- und Epheserbrief identifizierte) Überarbeitung im Rahmen dessen bewegt, was man über die Neuherausgabe von Literatur in der Antike weiß. Mit diesem Modell können auch die Textänderungen des Epheserbriefes - vor allem die Betonung der Leiblichkeit Jesu und die Stärkung der Relevanz des Alten Testaments - als Bausteine eines theologischen Profils gelten, das bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung Eingang in die Texte gefunden hat. Hier sind sicherlich weitere Analysen anderer Texte nötig (eine Untersuchung des Römerbriefes meines Kollegen Alexander Goldmann wurde kürzlich veröffent‐ licht) 68 - doch insgesamt scheint es sich abzuzeichnen, dass mit der Theorie einer redaktionellen Überarbeitung der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung das gelingt, woran Tertullian bei Marcion - verständ‐ licherweise - gescheitert ist: nämlich einen einheitlichen Gestaltungswillen der redaktionellen Textänderungen in den Paulusbriefen zu identifizieren. Mindestens genauso wichtig für die Plausibilität der redaktionellen Überar‐ beitung des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung ist, dass sich so die handschriftliche Überlieferung des Epheserbriefes, vor allem dessen (in ganz verschiedenen Handschriften auftretenden) Übereinstim‐ mungen mit Lesarten des Laodicenerbriefes erklären lassen: Sie sind Spuren des Laodicenerbriefes, dessen Text vereinzelt bei der Überlieferung des Ephe‐ serbriefes herangezogen wurde und so die Textüberlieferung des Epheserbriefs beeinflusste. Dieses Konflationsmodell kann auch eine Antwort auf die viel 163 5.4 Zusammenfassung: Die Überarbeitung des Laodicenerbriefes <?page no="164"?> diskutierte Frage geben, ob bzw. inwiefern Schreiber den Text veränderten: Die Textüberlieferung ist dann am einfachsten zu erklären, wenn man mit relativ wenigen, konkreten Eingriffen in die Textüberlieferung rechnet. Das folgende Kapitel wird zeigen, dass sich mit dem Modell der Überarbeitung des Laodice‐ nerbriefes der bei der Herausgabe des Epheserbriefes der 14-Briefe-Sammlung auch die ‚Adressänderung‘ und deren Überlieferungsgeschichte erklären lässt. 164 5 Die Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrieftextes <?page no="165"?> 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung 6.1 Einleitung und methodische Grundlegung Nachdem nun im Laufe der vorliegenden Arbeit die Ursprünglichkeit der Laodicener-Adresse und des Laodicenerbrief-Textes sowie die redaktionellen Überarbeitungen des Textes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung nach‐ gewiesen wurden, ist noch ein letzter großer Baustein in das Modell einzufügen, nämlich die Änderung der Adresse des Laodicener-/ Epheserbriefes. Dabei soll zuerst geklärt werden, welche Gründe für den Wechsel der Briefadresse von „Laodicea“ zu „Ephesus“ ersichtlich sind (Kap. 6.1). Anschließend wird gefragt, ob sich mit der vorgelegten Rekonstruktion auch die Textüberlieferung der Adresse, vor allem das zu Beginn dieser Arbeit aufgezeigte ‚Fehlen‘ der Adresse in den Handschriften B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739, erklären lässt. Dies würde wie‐ derum die Plausibilität des vorgelegten Gesamtmodells noch einmal zusätzlich erhöhen. Wie in Kapitel 3 dargestellt wurde, ist keinerlei Grund ersichtlich, weshalb Marcion (oder jemand anderes vor ihm) die Adresse des Epheserbriefes hin zu „an die Laodicener“ geändert haben sollte. Doch wie sieht es in der umgekehrten Richtung aus? Gibt es Argumente, weshalb die Laodicener-Adresse des Briefes ‚verschwunden‘ und die Epheser-Adresse ‚entstanden‘ ist? Hierfür sollen die Argumente für ein ‚Verschwinden‘ der alten Adresse und das ‚Entstehen‘ der neuen Adresse zuerst einzeln betrachtet werden - wobei die Beweiskraft nicht von einem der beiden genannten Aspekte allein getragen werden muss. Denn für die Adresse des Laodicener-/ Epheserbriefes kann als Arbeitshypothese angenommen werden, was für den übrigen Text in Kap. 4 und 5 gezeigt wurde: Es ist mit Abstand die einfachste Annahme, die Textänderungen mit erkennbarem redaktionellem Interesse auf eine Stufe mit der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung zu stellen. Für die Gründe der Adressänderung liegen keine direkten Informationen vor. Da die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der Textgeschichte der Ephe‐ serbrief-Adresse bisher nicht in Betracht gezogen wurde, finden sich auch in der Forschungsliteratur - mit der Ausnahme von Harnacks Vorschlag - keine Überlegungen zu dieser Thematik. Daher geht es im Folgenden darum, das <?page no="166"?> 1 IgnEph 12,2: πάροδός ἐστε τῶν εἰς Θεὸν ἀναιρουμένων, Παύλου συμμύσται, τοῦ ἡγιασμένου, τοῦ μεμαρτυρημένου, ἀξιομακαρίστου, οὗ γένοιτό μοι ὑπὸ τὰ ἴχνη εὑρεθῆναι, ὅταν Θεοῦ ἐπιτύχω, ὃς ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ μνημονεύει ὑμῶν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. (Text und Übers. L I N D E M A N N / P A U L S E N , Apost. Väter). 2 So die meistverbreitete Übersetzung, vgl. z. B. auch H E N N I N G P A U L S E N , Die apostolischen Väter: II. Die Briefe des Ignatius von Antiochia und der Brief des Polykarp von Smyrna (HNT 18), Tübingen 2 1985, 38; C A R S T E N L O O K S , Das Anvertraute bewahren: Die Rezeption der Pastoralbriefe im 2. Jahrhundert (MThB 3), München 1999, 142; D A S S M A N N , Stachel im Fleisch, 129; W I L L I A M R. S C H O E D E L , Ignatius of Antioch: A Commentary on the Letters of Ignatius of Antioch (Hermeneia 81), Philadelphia 1985, 73; P A U L F O S T E R , The Epistles of Ignatius of Antioch, in: Ders. (Hg.): The Writings of the Apostolic Fathers, London u. a. 2007, 105; A N D R E A S L I N D E M A N N , Paulus im ältesten Christentum: Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübingen 1979, 84-85. Die Fragen der Autorschaft und der Datierung der Ignatiusbriefe sind umstritten, dazu gleich mehr. 3 So Z E L L E R (BKV 1/ 35): „Ihr seid die Miteingeweihten des Paulus, der gehei‐ ligt, gemartert worden ist, des hochseligen, auf dessen Pfaden ich erfunden werden möchte, wenn ich zu Gott gelange, der in einem ganzen Briefe euer gedenkt in Christus Jesus.“ Jüngst plädierte für diese Übersetzung auch M I C H A E L D O R M A N D Y , In Every Letter? Some Possible Evidence for the Authorship of Ephesians, http: / / www.academia.edu/ 34326522/ _in_every_letter_Some_Possible_Evi‐ dence_for_the_Authorship_of_Ephesians [Zugriff am 08.08.2021], 2-3 (bisher nur online veröffentlicht): „The most natural translation of ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ is ‘in every letter’, such that Ignatius is saying that Paul remembered the Ephesians in every little he vereinzelte Quellenmaterial auf mögliche Hinweise hin zu durchsuchen und davon ausgehend ein plausibles Gesamtbild zu generieren. Bevor die möglichen Gründe für den Wechsel der Adresse diskutiert werden, muss zuvor noch geprüft werden, ob ein grundlegender Einwand gegen die dargestellte Arbeitshypothese spricht. Dies wäre der Fall, wenn der Epheser‐ brief bereits vor der angenommenen Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung um die Mitte des 2. Jahrhunderts als Epheserbrief bezeugt wäre. Vor den ersten expliziten Nennungen des Epheserbriefes durch Irenäus und Clemens von Alexandrien (vgl. Kap. 2.3.1) ist für diese Frage nur eine Quellenstelle relevant, nämlich der Ignatiusbrief an die Epheser - dort heißt es in 12,2: IgnEph 12,2: Ihr seid Miteingeweihte des Paulus, des Geheiligten, des Wohlbezeugten, Preiswürdigen - in dessen Spuren mich zu befinden mir zuteil werden möge, wenn ich zu Gott gelange - der in jedem Brief eurer gedenkt (ὃς ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ μνημονεύει ὑμῶν) in Christus Jesus. 1 ‚Ignatius‘ schreibt hier der Gemeinde in Ephesus, dass Paulus ihnen „in jedem Brief “ (ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ) gedenkt. 2 Da diese Formulierung nicht ganz eindeutig ist - die Epheser werden lediglich in 1Kor und 1+2Tim erwähnt -, wurde ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ vereinzelt mit „in einem ganzen Brief “ übersetzt. 3 Wäre diese 166 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="167"?> wrote. I suggest an alternative translation: ‘in a complete letter, in a whole letter, in all of his letter’.“ Dormandy gibt jedoch zu, dass „the general rule for this πᾶς-construction suggests that my proposed reading is wrong” (ebd.) - doch sein Wunsch, in IgnEph 12,2 einen Hinweis für die frühe Abfassung des Epheserbriefes (von Paulus oder jemandem in seiner zeitlichen Nähe) zu sehen, war in diesem Fall wohl stärker als seine Bedenken. 4 Die auf den Angaben des Eusebius basierende Datierung der Ignatiusbriefe in das frühe 2. Jh. wurde in jüngerer Vergangenheit herausgefordert durch H Ü B N E R , Thesen zur Echtheit, 214-226 und L E C H N E R , Ignatius, bes. 306-307, die beide für die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts plädieren. Vgl. dazu auch S C H M I T H A L S , Ignatius, 181-191, der sich Lechners Spätdatierung in die Zeit Mark Aurels (161-180) anschließt. 5 Vgl. LSJ, s. v. πᾶς, 1345; BR § 153. So auch T H E O D O R Z A H N , Ignatius von Antiochien, Gotha 1873, 609-610: „Aber ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ kann erstlich nicht heissen „im ganzen Brief “ (so nach Pears. II, 118 sq.; III, 38 noch Denzinger, S. 55f). Die z. B. bei Kühner, ausf. Gramm. II, 546, Anm. 8 genannten Beispiele sind nicht vergleichbar, und in Eph. 5 würde πάσης ἐκκλησίας, auch wenn der Artikel nicht durch ein blosses Versehen von Voss ausgefallen wäre, immer nur heissen ‚einer ganzen Gemeinde'. Ferner müsste unter den paulinischen Briefen derjenige, in welchem Paulus von Anfang bis zu Ende der Epheser gedacht hätte, doch erst genannt sein. […] Ignatius sagt nicht mehr und nicht weniger, als dass Paulus in jedem Briefe der Epheser in Christo gedenke, d. h. die Epheser als Christen oder die ephesischen Christen erwähne.“ 6 IgnEph 2,2; IgnEph 11,2 (2x); IgnMagn 10,3; IgnTrall 2,3; IgnRöm Prol. (2x); IgnPhld 8,1; IgnSmyrn Prol. (2x); IgnPol 2,1; IgnPol 3,2, vgl. dazu auch D O R M A N D Y , In Every Letter, 17. 7 Vgl. dazu auch S C H O E D E L , Ignatius, 73 („The whole passage is highly idealized and tends to make sweeping claims on the basis of a few instances“). 8 So auch B E S T , Ephesians 1: 1 Again, 20: „It therefore seems easiest to conclude that Ignatius did not know Pauline Ephesians as a letter to Ephesian Christians. Yet he knew it and other Pauline letters, so Pauline Ephesians must have had some identification.“ Übersetzung zutreffend, dann würde das heißen, dass bereits die Ignatiusbriefe (die nicht eindeutig zu datieren sind, aber in die Zeit zwischen dem Beginn und der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts eingeordnet werden) 4 den Brief als Epheserbrief kennen. Die Übersetzung „in einem ganzen Brief “ ist jedoch völlig unplausibel, da der Ausdruck πᾶς - wie selbst von den Befürwortern dieser Übersetzung konzediert wird - ohne Artikel eindeutig die Bedeutung „alle, jede“ trägt, die Bedeutung „ganz“ käme nur bei prädikativer Stellung in Frage. 5 Dies zeigt sich ganz deutlich auch an allen anderen 14 Textstellen in den Ignatiusbriefen, bei denen πᾶς (bzw. eine deklinierte Form davon) durchweg die Bedeutung von „jedes/ jede/ jeder“ trägt. 6 Daher kann ἐν πάσῃ ἐπιστολῇ in IgnEph 12,2 nur - so wie eingangs angegeben - mit „in jedem Brief “ übersetzt werden. Es spricht alles dafür, dass der Verfasser dieses Ignatiusbriefes seinen Adressaten in Ephesus mit der kleinen Übertreibung, Paulus gedenke ihrer in jedem Brief, freundlich schmeicheln wollte. 7 Somit kann IgnEph 12,2 vielmehr ein indirektes Zeugnis dafür sein, dass der Autor der Ignatiusbriefe den Epheserbrief nicht als Epheserbrief kannte. 8 Denn sonst hätte er wohl nicht die 167 6.1 Einleitung und methodische Grundlegung <?page no="168"?> Ebenso Z A H N , Ignatius, 610: „Wüsste Ignatius, dass Paulus einen Brief gerade an diese Gemeinde gerichtet habe, so würde man allerdings erwarten, dies in diesem Zusammenhange erwähnt zu finden.“ 9 Vgl. zum sog. apokryphen Laodicenerbrief, der ausschließlich in lateinischen Hand‐ schriften überliefert ist und eine kurze, lediglich 20 Verse umfassende Kompilation aus den kanonischen Paulusbriefen darstellt T I T E , Apocryphal Epistle, 3-6.101-103 (Tite datiert den Brief ins 2. oder 3. Jh., während vor ihm - auch abhängig von der Identifizierung dieses Briefes mit dem im Canon Muratori genannten Laodicenerbrief - eine Datierung dieses Briefes zwischen dem 2. und dem 4. Jh. üblich war; vgl. E D G A R H E N N E C K E / W I L H E L M S C H N E E M E L C H E R , Neutestamentliche Apokryphen: II. Apos‐ tolisches, Apokalypsen und Verwandtes (NTApo 2), Tübingen 5 1989, 42). umständliche Formulierung „in jedem Brief “ gewählt, sondern direkt den an sie adressierten Paulusbrief angesprochen. Somit kann die Erörterung der Gründe für den Adresswechsel im Rahmen der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung beginnen. 6.2 Gründe für den Adresswechsel 6.2.1 Das ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse und Offb 3,14-22 Zuerst soll das ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse dieses Briefes untersucht werden (auf das aller Wahrscheinlichkeit nach auch das Aufkommen des sog. apokryphen Laodicenerbriefes zurückgeht, der die durch die Umbenennung des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung entstandene Leerstelle in Kol 4,16 schließen wollte). 9 Die Gemeinde in Laodicea ist in der Frühzeit des Christen‐ tums neben der bereits in Kap. 3.2 intensiv diskutierten Angabe in Kol 4,16 („Brief aus Laodicea“) nur an einer weiteren Stelle erwähnt, nämlich in der Johannesoffenbarung. Daher ist auf diese Textstelle ein besonderer Fokus zu richten. Im dritten Kapitel der Johannesoffenbarung, im letzten der sieben soge‐ nannten ‚Sendschreiben‘, wird die Gemeinde in Laodicea explizit angesprochen (Offb 3,14-22): Offb 3,14-22: An den Engel der Gemeinde in Laodicea schreibe: So spricht Er, der ‚Amen‘ heißt, der treue und zuverlässige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: (15) Ich kenne deine Taten. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! (16) Daher, weil du lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien. (17) Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt. (18) Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich 168 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="169"?> 10 Offb 3,14-22 (NA 28 ): Καὶ τῷ ἀγγέλῳ τῆς ἐν Λαοδικείᾳ ἐκκλησίας γράψον· Τάδε λέγει ὁ ἀμήν, ὁ μάρτυς ὁ πιστὸς καὶ ἀληθινός, ἡ ἀρχὴ τῆς κτίσεως τοῦ θεοῦ· (15) οἶδά σου τὰ ἔργα ὅτι οὔτε ψυχρὸς εἶ οὔτε ζεστός. ὄφελον ψυχρὸς ἦς ἢ ζεστός. (16) οὕτως ὅτι χλιαρὸς εἶ καὶ οὔτε ζεστὸς οὔτε ψυχρός, μέλλω σε ἐμέσαι ἐκ τοῦ στόματός μου. (17) ὅτι λέγεις ὅτι πλούσιός εἰμι καὶ πεπλούτηκα καὶ οὐδὲν χρείαν ἔχω, καὶ οὐκ οἶδας ὅτι σὺ εἶ ὁ ταλαίπωρος καὶ ἐλεεινὸς καὶ πτωχὸς καὶ τυφλὸς καὶ γυμνός, (18) συμβουλεύω σοι ἀγοράσαι παρ’ ἐμοῦ χρυσίον πεπυρωμένον ἐκ πυρὸς ἵνα πλουτήσῃς, καὶ ἱμάτια λευκὰ ἵνα περιβάλῃ καὶ μὴ φανερωθῇ ἡ αἰσχύνη τῆς γυμνότητός σου, καὶ κολλ [ο]ύριον ἐγχρῖσαι τοὺς ὀφθαλμούς σου ἵνα βλέπῃς. (19) ἐγὼ ὅσους ἐὰν φιλῶ ἐλέγχω καὶ παιδεύω· ζήλευε οὖν καὶ μετανόησον. (20 ) Ἰδοὺ ἕστηκα ἐπὶ τὴν θύραν καὶ κρούω· ἐάν τις ἀκούσῃ τῆς φωνῆς μου καὶ ἀνοίξῃ τὴν θύραν, [καὶ] εἰσελεύσομαι πρὸς αὐτὸν καὶ δειπνήσω μετ’ αὐτοῦ καὶ αὐτὸς μετ’ ἐμοῦ. (21) Ὁ νικῶν δώσω αὐτῷ καθίσαι μετ’ ἐμοῦ ἐν τῷ θρόνῳ μου, ὡς κἀγὼ ἐνίκησα καὶ ἐκάθισα μετὰ τοῦ πατρός μου ἐν τῷ θρόνῳ αὐτοῦ. (22) Ὁ ἔχων οὖς ἀκουσάτω τί τὸ πνεῦμα λέγει ταῖς ἐκκλησίαις. 11 So H E I N Z G I E S E N , Johannes-Apokalypse (SKK NT 18), Stuttgart 1992, 140: „Worin das kritisierte Verhalten der Gemeinde konkret besteht, wird nicht ausdrücklich gesagt. Wahrscheinlich meint der Verfasser - wie in den zuvor angesprochenen Gemeinden - die Kompromissbereitschaft gegenüber den heidnischen Kulten, vor allem gegenüber dem Kaiserkult. Das muss er nun nicht mehr konkretisieren, denn die Adressaten sind mit dem Inhalt der vorausgehenden Schreiben und mit ihrer eigenen Situation vertraut. Daraus, dass Laodizea als einzige Gemeinde keinerlei Lob erfährt, sondern nur getadelt wird, ist zu schließen, dass sie Christliches und Heidnisches mehr als jede andere Gemeinde vermischt.“ Vgl dazu T H O M A S W I T U L S K I , Die Johannesoffenbarung und der wirst; und kaufe von mir weiße Kleider, damit du dich bekleidest und die Schande deiner Blöße nicht aufgedeckt wird; und kaufe Salbe, um deine Augen zu salben, damit du sehen kannst! (19) Wen ich liebe, den weise ich zurecht und nehme ihn in Zucht. Mach also Ernst und kehr um! (20) Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn einer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten und Mahl mit ihm halten und er mit mir. (21) Wer siegt, der darf mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie auch ich gesiegt habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe. (22) Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt. 10 Von den in der Johannesoffenbarung genannten Gemeinden erhält keine Gruppe ein so scharfes Urteil wie die Laodicener (Offb 3,16): „Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien.“ Die Laodicener sind zudem auch die einzigen, die keinerlei Lob ausgesprochen bekommen. Selbst im gesamten Neuen Testament ist diese Polemik gegen eine christliche Gemeinde einmalig. Inhaltlich wird Offb 3,14-22 nicht sonderlich konkret, doch spricht vieles dafür, dass der Verfasser der Gemeinde in Laodicea - analog zu den vorher genannten Gemeinden - „Kompromissbereitschaft gegenüber den heidnischen Kulten, vor allem gegenüber dem Kaiserkult“ vorwirft. 11 Dabei kommt die neutestamentliche Wissenschaft auch an dieser 169 6.2 Gründe für den Adresswechsel <?page no="170"?> Kaiser Hadrian (FRLANT 221), Göttingen 2007, 297 sowie H E R M A N N L I C H T E N B E R G E R , Die Apokalypse (ThKNT 23), Stuttgart 2013, 47-52. 12 Vorgeschlagen wurden z. B. ein Rückgriff auf die nur durch ein Aquädukt mögliche Wasserversorgung der Stadt, der zufolge in Laodicea nur lauwarmes Wasser ange‐ kommen sei (so M A R T I N J . S. R U D W I C K / E D W A R D M. B. G R E E N , The Laodicean Luke‐ warmness, ET 69/ 6 (2016), 176-178 und auch S T A N L E Y E. P O R T E R , Why the Laodiceans Received Lukewarm Water (Revelation 3: 15-18), TynBul 38 (1987), 143-149); die Ver‐ wendung medizinischer Vorstellungen, bei denen ‚kalt‘ und ‚warm‘ zu den nützlichen Naturprinzipien gezählt worden seien, lauwarm jedoch als kraftlos gegolten habe (so C L A R E K. R O T H S C H I L D , Principle, Power, and Purgation in the Letter to the Church in Laodicea (Rev 3: 14-22), in: J. Frey/ J. Kelhoffer/ F. Tóth (Hg.): Die Johannesapokalypse: Kontexte - Konzepte - Rezeption (WUNT 287), Tübingen 2012, 259-292) oder auch Anleihen aus der antiken Mahlpraxis, bei der lauwarmes Wasser oder lauwarmer Wein nicht geschätzt worden seien, weil sie sich nicht von ihrer Umgebung unterscheiden würden (C R A I G R. K O E S T E R , The Message to Laodicea and the Problem of Its Local Context: A Study of the Imagery in Rev 3.14-22, NTS 49/ 3 (2003), 407-424). Stelle nicht ‚hinter‘ den Text zurück und es kann keine Aussage darüber getroffen werden, inwiefern die geäußerten Vorwürfe historisch zutreffende Anknüpfungspunkte haben oder rein literarischer Natur sind (und ‚lediglich‘ die Leser der Johannesoffenbarung ermahnen sollen). Auch wenn zudem unklar bleibt, auf welche konkrete Metaphorik der Vorwurf der ‚Lauheit‘ in Offb 3,14- 22 zurückgreift, 12 und den Laodicenern die Möglichkeit zur Umkehr eingeräumt wird (Offb 3,18-20) - dieser Textstelle kommt allein schon wegen des Mangels an anderen Quellen eine zentrale Bedeutung bei der Suche nach Gründen für das ‚Verschwinden‘ der Adresse des Laodicenerbriefes zu. Besteht ein Zusammenhang zwischen der Kritik an den Laodicenern in der Johannesoffenbarung und der ‚Tilgung‘ der Adresse des Laodicenerbriefes? Dieser wäre angesichts der soeben dargestellten offenen Fragen zu Offb 3,14-22 theoretisch auf zwei verschiedenen Ebenen denkbar: 1) Zum einen kann in Betracht gezogen werden, dass die geäußerten Vor‐ würfe gegen die Laodicener (zumindest in gewisser Weise) der Realität entspra‐ chen, d. h. die dortigen Christen hätten sich - zumindest in den Augen der später als ‚orthodox‘ bezeichneten Kreise - zu wenig vom römischen Kult losgelöst. Falls diese Vorwürfe gegen die Laodicener auch zur Zeit der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung noch virulent waren, dann wäre leicht zu erklären, dass den Herausgebern der ‚neuen‘ Paulusbriefsammlung die Laodicener-Adresse nicht behagte. Schließlich lobt Paulus in dem Brief die Adressaten für ihren Glauben (Eph 1,15-16). Dieser Zusammenhang wird umso plausibler, je mehr die Abfassung der Johannesoffenbarung in zeitliche Nähe zur angenommenen Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung (Mitte 2. Jh.) rückt - was mit der in 170 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="171"?> 13 Vgl. W I T U L S K I , Johannesoffenbarung, 348, der die Offb in die Regierungszeit Hadrians datiert, genauer in die Jahre 132-135. Grundlage dafür ist Witulskis Analyse der kultisch-religiösen Kaiserverehrung in der Provinz Asien, die das Ergebnis zu Tage fördert, dass viele der in der Johannesoffenbarung vorgetragenen Aussagen erst vor den politischen Hintergründen der Zeit des Kaisers Hadrian erklärbar sind. Mehrheitlich wird die Johannesoffenbarung jedoch nach wie vor gegen Ende der Regierungszeit Domitians (ca. 90-95 n. Chr.) datiert (So z. B. A K I R A S A T A K E , Die Offenbarung des Johannes (KEK 16), Göttingen 2008, 51-55; vgl. dazu zusammenfassend auch S C H N E L L E , Einleitung, 601-602; S T E F A N S C H R E I B E R , Die Offenbarung des Johannes, in: M. Ebner/ S. Schreiber (Hg.): Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 573-581; L I C H T E N B E R G E R , Apokalypse, 48-52). Vgl. zu den grundsätzlichen Schwierigkeiten der Datierung der Johannesoffenbarung auch S I L V I A P E L L E G R I N I , Babylon - die Strategie der Verteufelung (Offb 17,1-19,10), in: T. Schmeller/ M. Ebner/ R. Hoppe (Hg.): Die Offenbarung des Johannes: Kommunikation im Konflikt (QD 253), Freiburg i. Br. 2013, 205-206. 14 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 706-708. Dabei weist er auf die in der Antike nicht unübliche Tilgung von Namen hin, die für Inschriften, aber auch für Papier und Pergamente bezeugt ist. Zur jüngeren Forschung über die Vernichtung von Erinnerung (damnatio memoriae) vgl. z. B. H A R R I E T F L O W E R , The Art of Forgetting: Disgrace and Oblivion in Roman Political Culture (SHGR 2011), Chapel Hill 2011, bes. 234-275. Vgl. zu Beispielen der Umsetzung der damnatio memoriae in Kleinasien zur römischen Zeit H U T T N E R , Early Christianity, 59-66. 15 H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 708. jüngerer Zeit in Betracht gezogenen Spätdatierung der Johannesoffenbarung der Fall wäre. 13 2) Eine zweite denkbare Möglichkeit des Zusammenhangs zwischen Offb 3,14-22 und dem ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse besteht darin, dass die Johannesoffenbarung allein durch ihre literarische Wirkung die Ge‐ meinde in Laodicea so in Misskredit gebracht hat, dass der lobende Paulusbrief an diese Gemeinde nicht mehr vertretbar war. In diese Richtung dachte auch Adolf v. Harnack, der - wie oben dargestellt - als einziger bislang für die Ursprünglichkeit der Laodicener-Adresse plädierte. Er äußerte die Ansicht, dass die Publikation der Johannesoffenbarung mit ihrer Kritik der Laodicener eine solch starke Wirkung hinterlassen habe, dass wenig später (im letzten Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts) in den Handschriften die Adresse des Laodicenerbriefes getilgt worden sei. 14 Dabei sei eine Lücke entstanden, die den Lesern anzeige, dass hier eine „literarische Hinrichtung“ 15 stattgefunden habe. Prinzipiell ist eine solche ‚literarische Wirkungsgeschichte‘ der Johannesoffenbarung denkbar, jedoch ist Harnacks Vorschlag, die Laodicener-Adresse sei in den umlaufenden Briefen getilgt worden, im Detail nicht plausibel. Erstens müsste dann die angenommene damnatio memoriae an verschiedenen Orten erfolgt sein und einen durchschlagenden Erfolg gehabt haben; denn die Laodicener-Adresse blieb ja in keiner der uns erhaltenen Handschriften erhalten, noch dazu ist 171 6.2 Gründe für den Adresswechsel <?page no="172"?> 16 Konkrete literarische Informationen über die Geschichte Laodiceas in der Zeit nach Domitian und vor Commodus, also zwischen 96-180 n. Chr., liegen nicht vor, weder von christlichen noch von sonstigen Quellen (vgl. H U T T N E R , Early Christianity, 92- 93). Angesichts der vorherigen Bedeutung Laodiceas als einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Städte Kleinasiens (vgl. ebd.) ist dies zumindest auffällig, auch wenn daraus keine direkte Schlussfolgerung gezogen werden kann. in keiner der Handschriften ohne Adresse die von Harnack angenommene ‚Lücke‘ im Text vorhanden (vgl. Kap. 2.3.2). Ebenso problematisch an Harnacks Vorschlag ist, dass diese eine umfassende Tilgung der Laodicener-Adresse impliziert, andererseits jedoch davon ausgeht, dass bei Marcion in der Mitte des 2. Jahrhunderts die ursprüngliche Adresse dann auf einmal wieder aus dem ‚Dunkel‘ der Geschichte auftaucht. Demgegenüber ist die Änderung der Adresse von Laodicea zu Ephesus in einem redaktionellen Schritt, wie es in Kapitel 6.3 diskutiert wird, deutlich plausibler. Denn so können sowohl die große Einheitlichkeit in der Überlieferung der Adresse als auch die Ausnahmen davon erklärt werden. So ist an dieser Stelle zusammenfassend festzuhalten, dass Harnacks Ansatz, die Verbindung zwischen dem Verschwinden der Laodicener-Adresse und der in der Johannesoffenbarung vorgetragenen Kritik der Laodicener in den Blick zu rücken, angesichts der Quellenlage eine vielversprechende Spur ist, der es zu folgen gilt. Inwiefern die von Harnack in die Diskussion eingebrachte literarische Wirkung der Laodicener-Kritik ein wichtiger Anlass war oder ob eventuell sogar konkrete theologische Differenzen zwischen der Gemeinde von Laodicea und den Herausgebern der 14-Briefe-Sammlung vorlagen, kann nicht sicher rekonstruiert werden. Theoretisch können auch ganz andere Gründe der Auslöser gewesen sein, von denen wir aufgrund des Mangels an Quellen nichts wissen. So ist beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der 14-Briefe-Sammlung (aus welchen Gründen auch immer) keine christliche Gemeinde in Laodicea gab. 16 Dies wäre für das bei der Lektüre der Paulusbriefsammlung entstehende Paulusbild nicht gerade zuträglich, da die Appelle des Paulus dann als wirkungslos verpufft erscheinen würden. Doch aus methodischen Gründen ist es geboten, ausgehend von den zur Verfügung stehenden Informationen ein plausibles Gesamtbild zu entwickeln - und dies ist mit der Verknüpfung der deutlichen Lauheits-Kritik in Offb 3,14-22 mit dem Verschwinden der Laodicener-Adresse durchaus gegeben. Doch diese aufgezeigte Verbindung muss die Beweiskraft nicht allein tragen, schließlich können auch Gründe der Herausgeber, den Brief an die Epheser zu adressieren, wesentlich zum Verschwinden der Laodicener-Adresse beigetragen haben. Diesen Gründen wird im nächsten Abschnitt nachgegangen. 172 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="173"?> 17 Vgl. S T E F A N S C H R E I B E R , Paulus in Ephesus: Historische Probleme und literarische Erinnerungen, in: J. Pichler/ C. Rajic (Hg.): Ephesus als Ort frühchristlichen Lebens: Perspektiven auf einen Hotspot der Antike (Schriften der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten 13), Regensburg 2017, 21-52; und auch N I E L S H Y L D A H L , Die paulinische Chronologie (ATDan 19), Leiden 1986, 25. 18 2Kor 1,8 (NA 28 ): Οὐ γὰρ θέλομεν ὑμᾶς ἀγνοεῖν, ἀδελφοί, ὑπὲρ τῆς θλίψεως ἡμῶν τῆς γενομένης ἐν τῇ Ἀσίᾳ, ὅτι καθ’ ὑπερβολὴν ὑπὲρ δύναμιν ἐβαρήθημεν ὥστε ἐξαπορηθῆναι ἡμᾶς καὶ τοῦ ζῆν· | „Denn wir wollen euch über die Not nicht in Unkenntnis lassen, Brüder und Schwestern, die in der Provinz Asien über uns kam und uns über alles Maß bedrückte; unsere Kraft war so sehr erschöpft, dass wir am Leben verzweifelten.“ Vgl. W E R N E R T H I E S S E N , Christen in Ephesus: Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe (TANZ 12), Tübingen u. a. 1995, 135-136. 6.2.2 Gründe für das ‚Entstehen‘ der Epheser-Adresse Bei der Auswertung der Quellen hinsichtlich des Entstehens der Epheser‐ Adresse liegt der Fokus besonders auf der Verbindung von Paulus bzw. der Paulustradition mit Ephesus und der etwas versteckten, jedoch sehr aufschluss‐ reichen Erwähnung des Tychikus in 2Tim 4,12. a) Paulus und Paulustradition in Ephesus Die Überlegungen zu den Gründen für das Aufkommen der Epheser-Adresse haben ihren Ausgangspunkt darin, dass Ephesus für Paulus selbst eine wichtige Station war. Er schreibt im 1. Korintherbrief: 1Kor 15,32: Was habe ich dann davon, dass ich in Ephesus, wie man so sagt, mit wilden Tieren gekämpft habe? Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot. 1Kor 16,8-9: In Ephesus will ich bis Pfingsten bleiben. (9) Denn mir ist eine Tür aufgetan zu reichem Wirken; aber auch viele Widersacher sind da. Aus diesen Angaben am Ende des 1. Korintherbriefes geht eindeutig hervor, dass Paulus eine (nicht genau zu definierende) Zeit in Ephesus war und von dort aus auch den 1Kor schrieb. 17 Vor dem Hintergrund der in 1Kor 16,9 genannten „Widersacher“ in Ephesus stellt auch die von Paulus in 2Kor 1,8 erwähnte Not und Bedrückung in der Provinz Asia eine Bezugnahme auf seinen Aufenthalt in Ephesus dar. 18 Zudem wurde auch diskutiert, ob das letzte Kapitel des Römerbriefes eine Verbindung zu Ephesus aufweist, weil die in Röm 16,3 gegrüßten Prisca und Aquila (mitsamt der Gemeinde in ihrem Haus) laut 1Kor 16,19 in Ephesus wohnen - und Röm 16 somit ursprünglich möglicher‐ weise an die Gemeinde in Ephesus adressiert gewesen sein könnte (und zwar 173 6.2 Gründe für den Adresswechsel <?page no="174"?> 19 Vgl. W A L T E R S C H M I T H A L S , Der Römerbrief als historisches Problem (StNT 9), Gütersloh 1975, 143-147 und auch D A V I D T R O B I S C H , Die Paulusbriefe und die Anfänge der christlichen Publizistik, Bolivar 2010, 105-106, der Röm 16 als nach Ephesus gesandtes Begleitschreiben zu einer von Paulus selbst angefertigten Autorenrezension aus Gal, 1Kor, 2Kor und Röm ansieht. Die These des nach Ephesus gesandten letzten Kapitels des Römerbriefes hat sich jedoch in jüngerer Zeit nicht durchgesetzt (vgl. U D O S C H N E L L E , Paulus: Leben und Denken, Berlin 2003, 333). 20 Vgl. P H I L I P P V I E L H A U E R , Geschichte der urchristlichen Literatur: Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter (GLB), Berlin 4 1985, 111 (zu Gal). 21 Vgl. T H I E S S E N , Christen in Ephesus, 250. 22 Vgl. z. B. M I C H A E L G E S E , Das Vermächtnis des Apostels: Die Rezeption der paulinischen Theologie im Epheserbrief (WUNT II 99), Tübingen 1997, 276: „Ephesus war das Zen‐ trum der paulinischen Wirksamkeit und nach dem Tod des Apostels sicherlich der Sitz der Paulusschule. Dieser Ort steht mit seinem Namen für die Kontinuität apostolischer Tradition auch nach dem Tod des Paulus.“ Vgl. dazu auch R A I N E R S C H W I N D T , Das Weltbild des Epheserbriefes: Eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie (WUNT 148), Tü‐ bingen 2002, 61 (mit weiteren Literaturhinweisen) und S C H N E L L E , Paulus, 152: „Als Sitz der Paulusschule bietet sich Ephesus an. […] In keiner anderen Stadt verweilte Paulus so lange wie in Ephesus, wo er einen großen Mitarbeiterstab um sich versammelte und nach Apg 19,9f zwei Jahre lang im Lehrsaal des Rhetors Tyrannos predigte. In Ephesus wurde nicht nur der 1Korintherbrief abgefasst, sondern es entstanden dort wahrscheinlich auch einige der Deuteropaulinen (Kol, Eph[? ], Past).“ als „Begleitschreiben“ zum Römerbrief). 19 Außerdem ergeben Überlegungen zur paulinischen Chronologie, dass Gal und Phlm von Ephesus aus geschrieben worden sein könnten. 20 Neben diesen Anhaltspunkten aus den ‚echten‘ Paulusbriefen finden sich in den Pastoralbriefen und vor allem in der Apostelgeschichte literarische Verknüpfungen des Paulus mit Ephesus. So hält sich Timotheus, der Empfänger von 1Tim und 2Tim, laut den Angaben der beiden Briefe in Ephesus auf. Zu Beginn des Ersten Timotheusbriefes (1Tim 1,3) heißt es: „Bei meiner Abreise nach Mazedonien habe ich dich ermahnt, in Ephesus zu bleiben, damit du bestimmten Leuten verbietest, falsche Lehren zu verbreiten.“ Auch in 2Tim scheint sich nichts an dieser grundsätzlichen Situation geändert zu haben - denn Timotheus wird aufgetragen, Grüße an Onesiphorus, der „treue Dienste in Ephesus“ geleistet hat (2Tim 1,18; 2Tim 4,19), und an Prisca und Aquila, die auch in Ephesus ansässig sind (1Kor 16,19), auszurichten. 21 Somit ist Ephesus in den pseudepigraphen Timotheusbriefen das Zentrum der beginnenden nach‐ paulinischen Mission. Darin liegt auch ein wesentlicher Grund für die vielfach angenommene - jedoch nicht durch Quellen zu belegende - ‚Paulusschule‘ in Ephesus. 22 Will man zusätzlich noch die Erzählung der Apostelgeschichte hinzuziehen, um eine Paulusbiographie zu rekonstruieren (was allerdings sehr umstritten 174 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="175"?> 23 Vgl. dazu die L Ü K E , Narrative Kohärenz, zusammenfassend 260-265. 24 Ephesus erfuhr unter Augustus einen politischen Bedeutungszuwachs und wurde bald zum kulturellen Zentrum der Provinz Asien und zu einer der Metropolen des Imperium Romanum (vgl. W I N F R I E D E L L I G E R , Ephesos: Geschichte einer antiken Welt‐ stadt, Stuttgart u. a. 1985, 61-112.) Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die große Celsus-Bibliothek, die zwischen 117 und 125 in Ephesus errichtet wurde (vgl. ebd. 84-85). Vgl. zur Geschichte des Christentums in Ephesus M I K A E L T E L L B E , Christ-Believers in Ephesus: A Textual Analysis of Early Christian Identity Formation in a Local Perspective (WUNT 242), Tübingen 2009, bes. 3-22 (mit einer ausgewogenen Darstellung des Forschungsstandes); P A U L R. T R E B I L C O , The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius (WUNT 166), Tübingen 2004, 628-711. Deutlich vorsichtiger zur Verbindung von Paulus und Ephesus positioniert sich M A T T H I A S G Ü N T H E R , Die Frühgeschichte des Christentums in Ephesus (ARGU 1), Frankfurt a. M./ Berlin u. a. 2 1998, zusammenfassend 46-47. 25 Die Epheser werden für ihre Taten, Mühe und Geduld gelobt, dafür, dass sie Schweres ertrugen und standhaft gegen selbsternannte Apostel blieben; sie werden anschließend ist) 23 , dann ließe sich noch mehr über die Verbindung von Paulus und Ephesus sagen: Nach einem Kurzbesuch in der dortigen Synagoge (Apg 18,19-22) blieb Paulus später für einen zweijährigen Missionsaufenthalt in Ephesus (Apg 19,1- 40). Hierbei konnte er einige Erfolge verbuchen (beispielsweise verbrannten viele ‚Zauberer‘ ihre Zauberbücher), was jedoch mancherlei Schwierigkeiten nach sich zog: Es kam zu einem Aufruhr der Silberschmiede, die kleine Ar‐ temistempel verkauften. Ihnen brach durch die Missionserfolge des Paulus der Absatzmarkt weg. Dies wiederum führte zu einer Anklage des Paulus und zu seinem Abschied aus Ephesus. Nach einigen Reisestationen in Milet angekommen, bat Paulus die Ältesten der Gemeinde in Ephesus zu sich, um noch einige Worte des Abschieds an sie zu richten, die sehr emotional aufgenommen wurden (Apg 20,17-38). In der Apostelgeschichte ist Paulus also noch deutlich enger mit Ephesus verknüpft als in den Paulusbriefen. Zumindest für die Fragestellung dieses Kapitels ist es nicht entscheidend, ob die Erzählung der Apostelgeschichte historisch zutrifft oder nicht - in der literarischen Tradition des frühen Christentums ist Ephesus für Paulus eine wichtige Wirkungsstätte. Diese Verbindung ist durch den Aufenthalt des Paulus in Ephesus angelegt und wurde in den Timotheusbriefen und der Apostelgeschichte auf literarischer Ebene noch ausgebaut. Von daher würde es hervorragend passen, wenn sich in der Paulusbriefsammlung ein Brief an die Epheser finden würde. Ephesus, eine der bedeutenden Metropolen des römischen Reiches, wurde im weiteren Verlauf der Geschichte ein wichtiges Zentrum des Christentums. 24 Hier sind - neben den bereits dargestellten Verbindungen der paulinischen und nach‐ paulinischen Literatur zu dieser Stadt - zum einen die vergleichsweise positive Erwähnung im ersten Sendschreiben der Johannesoffenbarung (Offb 2,1-6) 25 175 6.2 Gründe für den Adresswechsel <?page no="176"?> ‚lediglich‘ eindringlich aufgefordert, zu ihrer ersten Liebe wieder zurückzukehren (Offb 2,2-6). Vgl. dazu auch L I C H T E N B E R G E R , Apokalypse, 84-87. 26 Iren. Adv. Haer. 3,3,4: Sed et quae est Ephesi ecclesia a Paulo quidem fundata, Iohanne autem permanente apud eos usque ad Traiani tempora, testis est verus apostolorum traditionis. (Text und Übers. B R O X , FC 8/ 3). 27 Vgl. L I N D E M A N N , Sammlung der Paulusbriefe, 346-347; vgl. zur Verwendung der Paulus‐ briefe bei Ignatius auch H E I N R I C H R A T H K E , Ignatius von Antiochien und die Paulusbriefe, Berlin 1967, 13-66. 28 Ephesus als Ort der Herausgabe der Paulusbriefsammlung ziehen auch U. S C H M I D , Marcion, 303 (Ephesus als Missionszentrum) und S C H N E L L E , Paulus, 152 (Ephesus als Sitz einer Paulusschule) in Betracht. Explizit für Ephesus als Ort der „production of the corpus“ plädiert P E R V O , Making of Paul, 27. In der zweiten Hälfte des 20. Jahr‐ hunderts wurde - besonders in der englischsprachigen Forschung - die These von G O O D S P E E D , Ephesians, 285-291 wirkmächtig, der den Epheserbrief als für die in Ephesus herausgegebene Paulusbriefsammlung konzipierten Einleitungsbrief wertete (vgl. G O O D S P E E D , Ephesians, 285-291). Vgl. dazu auch P O R T E R , When and How, 103-107. Mit der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung liegt eine konkrete Situation vor, in die die Entstehung der Epheser-Adresse verortet werden kann, so dass nicht auf eine solch vage Theorie wie die von E. Best zurückgegriffen werden muss: „At a later stage in some unknown Christian community and für some unknown reason it was felt that the letter ought to have a geographical destination. For a reason again which is not clear to us and for which we do not know to seek an answer ‚Ephesus‘ was chosen as the appropriate identification.“ (B E S T , Ephesians 1: 1 Again, 23). und eine Äußerung des Irenäus in Adv. Haer. 3,3,4 von Relevanz: „Aber auch die Kirche von Ephesus, die von Paulus gegründet wurde und in der sich Johannes bis in die Zeit Trajans aufhielt, ist eine wahrhafte Zeugin der apostolischen Überlieferung.“ 26 Und zum anderen wird in den Ignatiusbriefen der Bischof von Ephesus, Onesiphorus, als wichtige Figur vorgestellt (IgnEph 1,3; IgnEph 2,1; IgnEph 6,2). Des Weiteren weisen, wie Andreas Lindemann herausstellte, die frühesten Indizien für das Vorhandensein einer Paulusbriefsammlung und den literarischen Umgang mit dieser in den Ignatiusbriefen und bei Polykarp nach Kleinasien. 27 Falls die zu Beginn dieses Abschnitts beschriebene These des nach Ephesus adressierten letzten Kapitels des Römerbriefes zutrifft, würde in dieser Stadt sogar eine konkrete Spur eines Nukleus der Paulusbriefsammlung vorliegen. So kann an dieser Stelle vorerst festgehalten werden, dass Ephesus - min‐ destens auf der literarischen Ebene - eine wesentliche Rolle in der Biographie des Paulus und in der Weitergabe der Paulustradition spielte. Von daher ist die nächstliegende Lösung, dass die Einfügung der Epheseradresse bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung mit der wichtigen Funktion dieser Stadt im frühen Christentum korreliert, eventuell hatten sogar die Christen in dieser Stadt einen nicht unwesentlichen Anteil daran. 28 Dies führt zu dem Gedanken‐ spiel, dass die Epheser sich selbst in die Paulusbriefsammlung hineinschreiben 176 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="177"?> 29 A. Lindemann denkt in eine ähnliche Richtung, indem er sogar in Betracht zieht, die Epheser hätten diesen Brief komplett an sich selbst geschrieben (vgl. L I N D E M A N N , Sammlung der Paulusbriefe, 347 Anm. 94). 30 Laod/ Eph 6,21 (NA 28 ): Ἵνα δὲ εἰδῆτε καὶ ὑμεῖς τὰ κατ’ ἐμέ, τί πράσσω, πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τύχικος ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς καὶ πιστὸς διάκονος ἐν κυρίῳ. Tychikus ist auch der Briefbote des Kolosserbriefes, in dem sich fast die gleiche Formulierung wie im Laod/ Eph findet (Kol 4,7): „Wie es mir geht, wird euch der geliebte Bruder Tychikus ausführlich berichten. Er ist mein treuer Helfer und dient mit mir dem Herrn.“ 31 2Tim 4,12 (NA 28 ): Τύχικον δὲ ἀπέστειλα εἰς Ἔφεσον. 32 Vgl. z. B. Eph 3,1 und 2Tim 1,8. wollten, indem sie die Adresse der womöglich in Verruf geratenen Laodicener strichen und die Adresse dieses Briefes mit einer anderen kleinasiatischen Stadt ersetzten, nämlich ihrer eigenen. 29 Ein an die Gemeinde in Ephesus adressierter Paulusbrief ist ihrem eigenen Prestige und Einfluss sicher nicht abträglich gewesen - und möglicherweise auch förderlich für die Erweiterung des Lesepublikums innerhalb und außerhalb dieser Metropole des Römischen Reiches. b) „Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt“ - 2Tim 4,12 als Hinweis auf die neue Adresse des Epheserbriefes Bei der Suche nach Gründen und Indizien für die Entstehung der Epheser-Adresse im Rahmen der 14-Briefe-Sammlung gibt es eine weitere, besonders interessante Spur. Diese führt zu der einzigen namentlich erwähnten Person im Laodicener-/ Epheserbrief, nämlich Tychikus. Wie bereits in Kap. 3.2.2 dargestellt, wird er als Briefbote dieses Briefes vorgestellt: Laod/ Eph 6,21: Wie es mir geht, wird euch der geliebte Bruder Tychikus ausführlich berichten. Er ist mein treuer Helfer und dient mit mir dem Herrn. 30 Von Tychikus, dem Paulusmitarbeiter, ist im Rahmen der 14-Briefe-Sammlung auch an einer anderen Stelle die Rede, nämlich in 2Tim 4,12: „Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt.“ 31 Der aufmerksame Leser der 14-Briefe-Sammlung wird bei der Lektüre von 2Tim 4,12 feststellen, dass Paulus dem Timotheus an dieser Stelle genau das schreibt, was bereits in Eph 6,21 deutlich wurde: Tychikus wurde von Paulus nach Ephesus geschickt. Unterstützt wird diese Beobachtung noch dadurch, dass sowohl der Epheserals auch der 2. Timotheusbrief sich als in einer Gefangenschaft geschriebene Paulusbriefe ausgeben. 32 Damit ist festzuhalten, dass die Angaben über Tychikus im Epheserbrief und im 2. Timo‐ theusbrief ein kohärentes Gesamtbild ergeben: Tychikus wurde von Paulus, der sich in der römischen Gefangenschaft befand, nach Ephesus gesandt (im 177 6.2 Gründe für den Adresswechsel <?page no="178"?> 33 Außer diesen Angaben ist über Tychikus nur Folgendes bekannt: Im Titusbrief fordert Paulus den Titus auf, zu ihm nach Nikopolis zu kommen, sobald Artemas oder Tychikus bei ihm eintreffen (Tit 3,12). Aus dieser Stelle ist lediglich zu erschließen, dass Tychikus mit Paulus in Kontakt steht und jemand ist, der umherreist. In Apg 20,4 wird erzählt, dass Paulus von Griechenland über Makedonien nach Troas reist, und zwar unter anderem mit „Timotheus sowie Tychikus und Trophimus aus der Provinz Asien“. Demnach würde Tychikus aus der Provinz Asien stammen - was gut zu den Angaben in Kol 4,7 und Eph 6,21 passt (wobei die Angaben in Kol und Eph vermutlich auch die Basis für die Erzählung der Apg sind, vgl. L Ü K E , Narrative Kohärenz, 214215). 34 2Tim 4,11-13 (NA 28 ): Λουκᾶς ἐστιν μόνος μετ’ ἐμοῦ. Μᾶρκον ἀναλαβὼν ἄγε μετὰ σεαυτοῦ, ἔστιν γάρ μοι εὔχρηστος εἰς διακονίαν. (12) Τύχικον δὲ ἀπέστειλα εἰς Ἔφεσον. (13) τὸν φαιλόνην ὃν ἀπέλιπον ἐν Τρῳάδι παρὰ Κάρπῳ ἐρχόμενος φέρε, καὶ τὰ βιβλία μάλιστα τὰς μεμβράνας. 35 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 298. „Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, daß wir unbedingt einen der zufällig bekannten Bischöfe aus Kleinasien, Polykarp von Smyrna oder Onesimus von Ephesus zu Herausgebern erklären.“ Laodicenerbrief bedeutete das „er wird euch berichten“ (Laod/ Eph 6,21) noch, dass Tychikus von Paulus nach Laodicea gesandt worden ist). 33 Kann diese verblüffende Kohärenz etwas zur Klärung der Adressänderung des Laodicenerbriefes beitragen? Besteht eventuell sogar ein konkreter Zusam‐ menhang zwischen 2Tim 4,12 und der Adressänderung des Laodicener-/ Ephe‐ serbriefes? Um dieser Fährte weiter zu folgen, ist ein Blick auf den literarischen Kontext der Tychikus-Notiz aufschlussreich: 2Tim 4,11-13: Lukas ist als Einziger bei mir. Nimm Markus und bring ihn mit; denn er ist für mich nützlich zum Dienst. (12) Tychikus habe ich nach Ephesus geschickt. (13) Wenn du kommst, bring den Mantel mit, den ich in Troas bei Karpus gelassen habe, auch die Bücher, vor allem die Pergamente! 34 In diesem Abschnitt des 2. Timotheusbriefes werden neben Tychikus als weitere Personen Markus, Lukas und Karpus erwähnt. Markus und Lukas sind zum einen aus Kol 4,10-14 und Phlm 24 als Paulusmitarbeiter bekannt, zum anderen führen diese beiden Namen auch zu den Überschriften von zwei der vier Evangelien (Mk und Lk). Wenn nun in 2Tim 4,11 ein Querverweis zu anderer frühchristlicher Literatur vorliegt, dann kann dies auch für die Erwähnung des Tychikus in 2Tim 4,12 in Betracht gezogen werden (dazu gleich mehr). Auch der in 2Tim 4,13 genannte Karpus könnte ein Hinweis auf eine prominente Person des frühen Christentums sein. Denn wenn man nach möglichen Her‐ ausgebern der in den Handschriften zu findenden Paulusbriefsammlung sucht, dann kommen, wie U. Schmid vorsichtig festhält, beispielsweise Onesimus von Ephesus oder Polykarp von Smyrna in Frage. 35 Für Polykarp, im 2. Jh. eine der wichtigsten Figuren der Christen in Kleinasien, würde sprechen, dass er auch als 178 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="179"?> 36 PolykPhil 13,2: „Die Briefe des Ignatius, die uns von ihm geschickt sind, und andere, soviel wir ihrer bei uns haben, sandten wir euch, wie ihr verlangtet. Sie sind diesem Brief beigegeben; und ihr werdet großen Nutzen aus ihnen ziehen.“ (Übers. L I N D E M A N N / P A U L S E N , Apost. Väter). Vgl. dazu L O O K S , Rezeption der Pastoralbriefe, 153-155 und v. a. J O H A N N E S B A P T I S T B A U E R , Die Polykarpbriefe (KAV 5), Göttingen 1995, 31-32, der zur Ignatiusbriefsammlung festhält: „Wie immer die Entstehungsverhältnisse der Sammlung beurteilt werden müssen, Polykarp hat sie ohne Zweifel zu verantworten.“ (vgl. auch ebd. 13-21 zur Diskussion um die Überlieferungsproblematik des Polykarp‐ briefes und zu den eventuell ursprünglichen zwei Einzelbriefen). Falls die Spätdatierung der Ignatiusbriefe zutrifft (vgl. Kap. 6.1), müsste zumindest die Erwähnung der Ignati‐ usbriefe im 13. Kapitel des Polykarpbriefes auch noch einmal neu bedacht werden, denn dann würde es sich wohl um eine „Zwillingsfälschung“ von Ignatiusbriefsammlung und Polykarpbrief handeln. 37 Dieser Gedanke geht zurück auf D A V I D T R O B I S C H , Who Published the New Testament? , Free Inquiry 28/ 1 (2008), 33, der Polykarp als Herausgeber der sog. Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments in Betracht zog. Der Name (Poly-)Karpus ist ansonsten für die Zeit des frühen Christentums nicht belegt. Interessant ist in diesem Zusam‐ menhang außerdem, dass die in 2Tim 4,13 erwähnte Begriff φαιλόνης (üblicherweise mit „Mantel“ übersetzt) auch „Buchhülle/ Futteral“ bedeuten kann (und so auch in einer frühen syrischen Übersetzung benutzt wurde), vgl. Z A H N , Geschichte des neutes‐ tamentlichen Kanons II, 939-940. Dann wäre der Zusammenhang zu den in 2Tim 4,13b erwähnten Büchern und einer möglicherweise angedeuteten Herausgeberschaft der 14-Briefe-Sammlung noch bemerkenswerter. 38 Dabei muss offenbleiben, ob möglicherweise der gesamte 2. Timotheusbrief auf die Ebene der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung zurückgeht. Trobisch sah den 2Tim mit seinen Querverweisen und seiner Gestaltung als paulinisches ‚Testament‘ als Bestandteil des „Editorials“ einer „Kanonischen Ausgabe“ des Neuen Testaments, vgl. D A V I D T R O B I S C H , Die Endredaktion des Neuen Testaments: Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Fribourg/ Göttingen 1996, 134-136. Wenn man sich dieser Ansicht nicht anschließen will, wäre auch denkbar, dass das Ende des 2. Timotheusbriefes redaktionell überarbeitet worden ist (dann wäre nicht einmal ausgeschlossen, dass der 2Tim ein authentischer Paulusbrief ist, was jüngst von Jens Herzer erneut in Betracht gezogen wurde, vgl. J E N S H E R Z E R , Zwischen Mythos und Wahrheit: Neue Perspektiven auf die sogenannten Pastoralbriefe, NTS 63/ 03 (2017), 428-450). Autor eines Briefes an die Philipper und als ‚Herausgeber‘ der Ignatiusbriefe in Erscheinung getreten ist. 36 Könnte daher die Erwähnung des Karpus (Κάρπος) in 2Tim 4,13, bei dem „die Bücher und Pergamente“ (! ) liegen, ein versteckter Hinweis auf den Herausgeber der 14-Briefe-Sammlung sein, nämlich Polykarp (Πολύκαρπος)? 37 Es sollte zumindest nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Polykarp seinem Namen Ehre gemacht hat, indem er auch durch die Herausgabe der noch heute weit verbreiteten 14-Briefe-Sammlung „viel Frucht“ gebracht hat. 38 Aus den aufgezeigten Verlinkungen ist zu schlussfolgern, dass der Satz „Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt“ nicht einfach eine bedeutungslose 179 6.2 Gründe für den Adresswechsel <?page no="180"?> 39 Ganz vereinzelt wurde der Zusammenhang von Eph 6,21 und 2Tim 4,12 zwar bemerkt, jedoch völlig anders bewertet: So meint L U Z , Epheser, 108, einzelne Schreiber hätten im Laufe der Überlieferung den bis dahin adressenlosen Brief ausgehend von 2Tim 4,12 Ephesus zugeordnet. Demgegenüber ist die hier vorgeschlagene Annahme einer literarisch angelegten Beziehung zwischen den genannten Textstellen wesentlich näherliegend. Randnotiz ist, sondern in einem größeren, sicherlich redaktionell initiierten Zusammenhang steht. Tychikus wurde - entsprechend der in dieser Arbeit herausgearbeiteten Priorität des Laodicenerbriefes - von ‚Paulus‘ ursprünglich nach Laodicea geschickt (Laod/ Eph 6,21: „Wie es mir geht, wird euch der geliebte Bruder Tychikus ausführlich berichten“). 39 Da demnach die Herausgeber der 14-Briefe-Sammlung diesen Brief mit einer neuen Adresse, nämlich Ephesus, versehen haben, hat Tychikus auf der literarischen Ebene zugleich auch einen neuen ‚Zielort‘ für die Auslieferung des Briefes erhalten (denn dieser Ort ist nicht im Brieftext genannt, sondern wird nur über die Adresse erschlossen) - er ist jetzt nach Ephesus gesandt. Wenn nun 2Tim 4,11-13 in einem redaktionellen Zusammenhang mit der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung steht, wofür es - wie soeben gezeigt - einige Anhaltspunkte gibt, dann wäre an dieser Stelle genau das ausgedrückt, was die Herausgeber durch die Umadressierung des Laodicenerbriefes zum Epheserbrief selbst veranlasst haben, es jedoch (notwendigerweise) in den Mund des Paulus legten: „Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt.“ 6.2.3 Zusammenfassung zu den Gründen des Adresswechsels Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes ist ein erheblicher redaktio‐ neller Schritt, über dessen Anlass jedoch keine direkten Quellen vorliegen. Daher ist es notwendig, in der frühchristlichen Literatur nach in Frage kom‐ menden Hinweisen Ausschau zu halten und davon ausgehend die plausibelste Lösung zu erarbeiten. Hierbei fällt der Blick zuerst auf das letzte der sieben Sendschreiben in der Johannesoffenbarung (Offb 3,14-22). Darin werden die Laodicener einer scharfen Kritik ausgesetzt („Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien“). Dabei ist völlig unklar (aber schlussendlich auch unerheblich), inwiefern die geäußerten Anpassungs‐ vorwürfe berechtigt sind - sie könnten auch zur Zeit der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung noch aktuell gewesen sein oder auf literarischer Ebene eine Diffamierung der Laodicener bewirkt und so letztendlich zum ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse geführt haben. Doch der Impuls für die Adressänderung kann darüber hinaus auch von dem Wunsch ausgegangen sein, einen an die 180 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="181"?> Epheser adressierten Brief in der Paulusbriefsammlung zu haben. Als Grund dafür kommt besonders die nahe Verbindung von Paulus zu Ephesus und deren Nachwirkungen in Betracht. Dazu gehört auch, dass die Gemeinde in Ephesus ein zentraler Ort für die Sammlung von Paulusbriefen gewesen zu sein scheint und es denkbar ist, dass diese Gemeinde auch einem an ‚sie selbst‘ adressierten Brief nicht abgeneigt war, der sowohl ihr Prestige als auch das Lesepublikum vergrößert haben könnte. Der konkreteste Hinweis für das Aufkommen der Epheser-Adresse lässt sich in 2Tim 4,12 finden („Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt“). Im Laodicenerbrief war Tychikus, der Überbringer des Briefes, nach Laodicea gesandt (Laod 6,21: „Wie es mir geht, wird euch der geliebte Bruder Tychikus ausführlich berichten“). Wenn der Laodicenerbrief durch die Heraus‐ gabe der 14-Briefe-Sammlung eine neue Adresse erhielt, dann folgt daraus, dass die Sendung des Tychikus zu den Briefadressaten (Eph 6,22: „zu euch“) nun ein neues Ziel hat, nämlich Ephesus. Da die im Abschnitt 2Tim 4,11-13 neben Tychikus genannten Personen (Markus, Lukas und Karpus) allesamt wichtige Verknüpfungen zu anderer frühchristlicher Literatur aufweisen, ist es eine naheliegende Option, die dortige Tychikus-Notiz auch als redaktionell initiiert anzusehen. Demnach wäre in 2Tim 4,12 genau das ausgedrückt, was die Ände‐ rung der Adresse vom Laodicenerzum Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung zur Folge hatte: Tychikus ist nun nach Ephesus gesandt. 6.3 Die Überlieferungsgeschichte der Adresse 6.3.1 Einleitung und überlieferungsgeschichtliches Modell Eine der Ausgangsfragen der vorliegenden Arbeit war die Suche nach Gründen für das ‚Fehlen‘ der Adresse in Eph 1,1 in den Handschriften B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739. Diese Problematik steht im Zentrum des folgenden Kapitels. Eingangs wurde aufgezeigt, dass dafür bereits etliche Lösungen vorgeschlagen wurden, sich jedoch keine durchsetzen konnte. Dabei haben die bisherigen Überlegungen zur Adresse sowohl die übrigen Textvarianten des Epheserbriefes als auch die konkrete handschriftliche Überlieferungsgeschichte der Adresse dieses Briefes außer Acht gelassen. Diesem Desiderat wird im Folgenden nachgegangen. Als Arbeitshypothese für die Textüberlieferung der Adresse des Laodi‐ cener-/ Epheserbriefes bietet sich das in den zurückliegenden Kapiteln erarbei‐ tete Konflationsmodell an, das wichtige Textvarianten in der 14-Briefe-Samm‐ lung als Resultat des ‚Einflusses‘ der 10-Briefe-Sammlung interpretiert. Dieses Modell kann - wie am Text des Laodicener-/ Epheserbriefes deutlich wurde 181 6.3 Die Überlieferungsgeschichte der Adresse <?page no="182"?> 40 Vgl. z. B. S E L L I N , Adresse, 166-167; J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 55-58. Diese Rekon‐ struktion wird sogar teilweise herangezogen, um die Ursprünglichkeit der adressen‐ losen Variante des Epheserbriefes zu bekräftigen: So z. B. S E L L I N , Adresse, 174: „So bezeugt Markion zwar keine ältere Tradition, nach der Eph als Brief ‚an die Laodicener‘ gegolten hätte (er wird diese Adresse vielmehr selber erschlossen haben), wohl aber ist Markion indirekter Zeuge dafür, dass man bei der allmählichen Konstituierung des Corpus Paulinum in dieser Zeit eine Adresse suchte für den seinerzeit adressenlosen Paulus-Brief, für den in anderen Kreisen neben oder nach Markion als Adresse Ephesus erschlossen wurde, woraufhin dann die inscriptio πρὸς Ἐφεσίους aufkam.“ Diese Argumentation baut zum einen auf der äußerst fragwürdigen Vorannahme auf, Marcion habe seinen Text umfangreich geändert, und zum anderen auf einer bestimmten Interpretation von Tertullians Ausdruck titulus, vgl. dazu gleich mehr. - Übereinstimmungen zwischen den Lesarten der bei Marcion bezeugten Pau‐ lusbriefsammlung und den Varianten der neutestamentlichen Handschriften erklären. Es vermag nun auch die Textgeschichte der Adresse in Laod/ Eph 1,1 zu erklären, wie sich gleich zeigen wird. Doch muss im Falle der Adresse im Vergleich zum übrigen Text dieses Briefes eine Besonderheit beachtet werden: es liegt kein direktes Zeugnis eines Einflusses des Textes der 10-Briefe-Sammlung vor (keine überlieferte Handschrift weist die Laodicener-Adresse auf), sondern nur ein indirektes - nämlich das Fehlen der Adresse in Eph 1,1 in den sechs genannten Handschriften. Die Details und die Begründung dieser Arbeitshypo‐ these werden in den folgenden Abschnitten dargestellt. Dabei sind zwei substan‐ zielle Fragen zu klären: 1) Welche Gestalt hatte die Adresse im Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung und im Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung? 2) Wie ist die konkrete handschriftliche Überlieferung der Adresse des Epheserbriefes zu erklären? Diesen beiden Problemstellungen widmen sich die folgenden beiden Kapitel. 6.3.2 Die ‚ursprünglichen‘ Formen der Adresse in Laod 1,1 und Eph 1,1 Um die Überlieferungsgeschichte der Adresse des Laodicener-/ Epheserbriefes zu rekonstruieren, ist es in einem ersten Schritt nötig, zu klären, wie die Adressen des Briefes jeweils ‚ursprünglich‘ aussahen, also bei der Herausgabe der 10bzw. der 14-Briefe-Sammlung. Besonders die Gestalt der Adresse des Laodicenerbriefes war in der bisherigen Forschung - wenn überhaupt - ledig‐ lich Gegenstand von Spekulationen. Denn wenn behauptet wurde, Marcion habe einen Brief ohne Adresse vorgefunden und ausgehend von Kol 4,16 die Laodicener-Adresse eingefügt, wurde dabei impliziert, Tertullians Aussagen würden auf eine Form des Laodicenerbriefes ohne Adresse in Eph 1,1 schließen lassen. 40 Auf der anderen Seite sprach Harnack, der für die Ursprünglichkeit der 182 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="183"?> 41 Vgl. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 696-709. 42 Tert. Adv. Marc. 5,17,1: Ecclesiae quidem veritate epistolam istam ad Ephesios habemus emissam, non ad Laodicenos; sed Marcion ei titulum aliquando interpolare gestiit, quasi et in isto diligentissimus explorator. Nihil autem de titulis interest, cum ad omnes Apostolus scripserit, dum ad quosdam. (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). Vgl. zur Übersetzung von titulus die nachfolgende Diskussion. Das von Tertullian verwendete Verb interpolare meint bei Tertullian (anders als im heutigen Sprachgebrauch) jede Änderung, egal ob Auslassung oder Einfügung (vgl. J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 57). 43 So der allgemeine Sprachgebrauch in der Antike; siehe G E O R G E S , Lat.-dt. Wörterbuch, s. v. titulus: „Titel, Überschrift, Aufschrift“; vgl. dazu auch J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 57 und U. S C H M I D , Marcion, 111. In Adv. Marc. 4,2,5 verwendet Tertullian titulus auch in diesem Sinne. Laodicener-Adresse plädierte, die Form der Adresse in Eph 1,1 gar nicht an. 41 In den allermeisten Fällen gerät die genaue Gestalt der Adresse des Laodicener- und des Epheserbriefes gar nicht in den Blickpunkt - und zwar deshalb, weil die konkrete Überlieferungsgeschichte der Adresse ausgeblendet wird. a) Die Form der Adresse in Laod 1,1 Daher lohnt sich zuerst ein erneuter genauer Blick auf die Aussagen Tertullians zur Adresse des Laodicenerbriefes, bevor die Form der Adresse des Epheser‐ briefes und deren Textgeschichte diskutiert werden. Tertullian schreibt: Tert. Adv. Marc. 5,17,1: Gemäß der wahren Lehre der Kirche halten wir den nun folgenden Brief für an die Epheser, und nicht für an die Laodicener, gesandt; Marcion aber trachtete irgendwann einmal danach, ihm einen falschen titulus zu verleihen, sodass er sich gleichsam auch darin als ein sehr gewissenhafter Forscher präsentierte. Was aber die Frage der Überschriften betrifft: Diese ist in keiner Weise von Bedeutung, da der Apostel, wenn er an einige schrieb, (zugleich) an alle schrieb. 42 Die entscheidende Frage an Tertullians Zeugnis ist, was er mit dem Ausdruck titulus meint: die Überschrift des Briefes oder die Adresse im ersten Satz des Textes? Im ersten Moment ruft der Ausdruck titulus („Aufschrift, auch: Buchtitel“) die Assoziation hervor, dass es sich um die Überschrift handelt. 43 Doch ein Blick auf Tertullians Äußerungen zum 1. Korintherbrief zeigt, dass er mit dem Begriff titulus an einer anderen Stelle den gesamten Briefeingang bezeichnet (Adv. Marc. 5,5,1): Tert. Adv. Marc. 5,5,1: Die zum vorher behandelten Brief [Gal, T. F.] hinführenden Bemerkungen brachten mich dazu, auf eine Besprechung seines titulus zu verzichten (de titulo eius non retractaverim), da ich sicher war, dass dieser auch an anderer Stelle besprochen werden kann, da er offensichtlich allen Briefen gemeinsam ist und bei allen identisch ausfällt. Wenn der Apostel denjenigen, an die er schreibt, zu Beginn 183 6.3 Die Überlieferungsgeschichte der Adresse <?page no="184"?> 44 Tert. Adv. Marc. 5,5,1: Praestructio superioris epistulae ita duxit, ut de titulo eius non retractaverim, certus et alibi retractari eum posse, communem scilicet et eundem in epistulis omnibus. Quod non utique salutem praescribit eis quibus scribit, sed gratiam et pacem […]. (Text und Übers. L U K A S , FC 63/ 4). 45 Vgl. auch J . S C H M I D , Der Epheserbrief, 57; H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 703. Harnack zufolge konnte sich Tertullian „wenn er nicht weitschweifig werden wollte, kaum anders ausdrücken als so“, um festzuhalten, dass bei Marcion ein anderer Ortsname in Überschrift und Adresse gestanden habe (vgl. ebd.). 46 So auch U. S C H M I D , Marcion, 111: „Tertullians Behauptung, Marcion selbst habe diese Änderung vorgenommen, ist mit Vorsicht zu betrachten, da er diese Überschrift ja auch schon vorgefunden haben kann; eine marcionitische Tendenz ist unwahrscheinlich. Der Ausdruck titulus muß sich nicht nur auf die Überschrift beziehen, sondern kann auch die Adresse im Text meinen. Sehr wahrscheinlich wird daher der marcionitische Text diese Adresse auch in Eph 1,1 gelesen haben.“ 47 Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν ἐν Λαοδικείᾳ καὶ πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. nicht um jeden Preis Wohlergehen wünscht, sondern „Gnade und Frieden“, so möchte ich […]. 44 Wenn Tertullian an dieser Stelle schreibt, der titulus des 1. Korintherbriefes in Marcions Paulusbriefsammlung falle identisch aus mit dem der übrigen Briefe, dann kann er mit diesem Begriff nicht die jeweils unterschiedlichen Überschriften (= Adressaten) der Briefe meinen - denn die Briefe haben ja ganz verschiedene Adressaten -, sondern nur das gesamte Präskript, das in den Paulusbriefen durchweg eine ähnliche Struktur hat. 45 Daraus folgt, dass Tertullian mit dem Ausdruck titulus die Adresse im Text, also im ersten Satz des Briefes, meint. Wenn Tertullian Marcion nun auch im Falle des Epheserbriefes die Änderung des titulus vorwirft, dann ist es auch die nächstliegende Lösung, dass er damit nicht (nur) die Überschrift dieses Briefes meint, sondern (auch) die Adresse im Briefeingang. 46 Neben den Überlegungen zur Bedeutung des Vorwurfes, Marcion habe dem Epheserbrief einen falschen titulus verliehen, gibt es ein weiteres wichtiges Argument für das ursprüngliche Vorhandensein der Adresse in Laod 1,1: Denn die eingangs angestellten Überlegungen zur grammatikalischen Struktur von Eph 1,1 (vgl. Kap. 2.3.2) zeigten, dass dieser Satz nur dann einen (vergleichs‐ weise) grammatikalisch richtigen und semantisch sinnvollen Satz ergibt, wenn er eine Adresse enthält. Wenn die Laodicener-Adresse nun - wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt - Priorität beanspruchen (und damit auch die wenig überzeugende Rundbrief-Hypothese ad acta gelegt werden) kann, dann spricht alles dafür, dass der Laodicenerbrief im ersten Satz die folgende Adresse aufwies: „Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, an die Heiligen in Laodicea, die Gläubigen in Christus Jesus.“ 47 184 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="185"?> 48 So zu Eph 1,1 auch Z U N T Z , Text of the Epistles, 276: „No editor can be supposed to have prefaced his collection by a letter with a blank in the address.“ 49 Vgl. dazu auch die Übersicht bei U. S C H M I D , Marcion, 264-265. b) Die Form der Adresse in Eph 1,1 bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung Nun ist noch zu klären, wie die Adresse im ersten Satz des Epheserbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung aussah. Theoretisch sind hier zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder bot Eph 1,1 die Adresse „in Ephesus“ - oder der Epheserbrief enthielt bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung keine Adresse im ersten Satz, sondern in der Überschrift. Doch näherliegend ist hierbei die Variante, dass die Herausgeber der 14-Briefe-Sammlung (aus den zu Beginn dieses Kapitels genannten inhaltlichen Gründen) die Laodicener-Adresse durch die Epheser-Adresse schlichtweg ersetzten - und demzufolge Eph 1,1 die Adresse „in Ephesus“ bot. Andernfalls müsste man annehmen, dass der gram‐ matikalisch höchst seltsame - und zudem auch den übrigen Paulusbriefpräs‐ kripten, die durchweg eine Adressangabe haben, nicht entsprechende - Text ohne Adresse bei der Herausgabe der ‚neuen‘ Paulusbriefsammlung produziert worden wäre. Dies ist nur sehr schwer vorstellbar. 48 Zudem ist das eigenwillige ‚Fehlen‘ der Adresse in den sechs genannten Handschriften sehr gut auf der Ebene der Überlieferungsgeschichte zu verorten - wie das folgende Kapitel sogleich zeigen wird. 6.3.3 Textgeschichte - die Entstehung der adressenlosen Variante Sowohl der Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung als auch der Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung enthielten - wie soeben rekonstruiert - aller Wahr‐ scheinlichkeit nach im ersten Satz die Adresse. Die daran anschließende Frage ist nun, ob sich mit dem in dieser Arbeit aufgezeigten Konflationsmodell auch die Textüberlieferung der Adresse in Eph 1,1 erklären lässt. Konkret muss geprüft werden, wie plausibel es ist, dass das ‚Fehlen‘ der Adresse in den Handschriften B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739 auf eine Konflation der 10-Briefe-Sammlung mit der 14-Briefe-Sammlung zurückgeht. Der zentrale Schlüssel hierzu ist das Vorkommen von Lesarten der 10-Briefe-Sammlung in neutestamentlichen Handschriften: Denn wie in Kap. 5.3.1 gezeigt wurde, treten die Varianten des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung zwar vor allem in den Handschriften des sogenanntem ‚Westlichen Textes‘ (D F G lat) auf, doch stimmen sie auch in erheblichem Maße mit anderen Handschriften überein (so gibt es beispielsweise in ℵ* ebenso viele Übereinstimmungen wie in D (06), einem klassischen Vertreter des ‚W-Textes‘). 49 185 6.3 Die Überlieferungsgeschichte der Adresse <?page no="186"?> 50 Z. B. lesen B 46 ℵ A c B D c M sowie lat und einzelne weitere Handschriften in Eph 2,3 wie auch der Laodicenerbrief καὶ ἡμεῖς und nicht καὶ ὑμεῖς wie die anderen Handschriften. Zu diesen anderen, ‚nicht-westlichen‘ Handschriften gehören auch B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739, die an einzelnen Stellen ebenso Übereinstimmungen mit dem bei Marcion bezeugten Text aufweisen. 50 So bieten, wie gezeigt, beispielsweise in Eph 5,31 die Minuskeln 6 und 1739 als einzige Textzeugen den Text, der sich auch in Marcions Paulusbriefsammlung findet (vgl. Kap. 4.3.3). Von daher ist es grundsätzlich vorstellbar, dass die hier diskutierte Variante in Eph 1,1, nämlich das ‚Fehlen‘ der Adresse in einigen Handschriften, auf eine Konflation durch den Text des Laodicenerbriefes, konkret dessen Adresse, zurückzuführen ist. Die wichtige Frage ist jedoch, ob sich ein Szenario (re-)konstruieren lässt, welches die Entstehung der adressenlosen Form des Epheserbriefes in den genannten Handschriften plausibel erklären kann. Dies ist, wie zu Beginn der vorliegenden Arbeit festgestellt wurde, bislang noch keinem Vorschlag gelungen (vgl. Kap. 2.3.2). Das genannte Konflationsmodell geht nun davon aus, dass Handschriften der 10-Briefe-Sammlung an einzelnen Stellen bei der Herstellung von Handschriften der 14-Briefe-Sammlung herangezogen wurden (wodurch, wie bereits erwähnt, die Spuren der älteren 10-Briefe-Sammlung in den Varianten der ‚kanonischen‘ Handschriften zu finden sind). Bildlich lässt sich das folgendermaßen veranschaulichen: Abb. 4: Textgeschichtliches Modell der Laodicener-/ Epheseradresse 186 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="187"?> 51 Die Überschrift ΠΡΟΣ ΕΦΕΣΙΟΥΣ in den Handschriften ohne Adresse im ersten Satz des Epheserbriefes geht vermutlich darauf zurück, dass von einer anderen Hand die mehrheitlich bekannte Epheser-Adresse zu Grunde gelegt wurde. Dabei ist folgendes Szenario denkbar: Bei einer Rezension der 14-Briefe-Samm‐ lung für eine (Neu-)Ausgabe der Paulusbriefe lag den Verantwortlichen neben dem Epheserbrief auch ein Exemplar des Laodicenerbriefes vor (oder sie hatten zumindest Kenntnis davon). Aufgrund der Frage, welche Adresse nun die richtige sei, ließen sie (evtl. vorerst) die Adresse des Briefes aus. Eine Parallele aus dem Epheserbrief für ein solches ‚Auslassen‘ von Worten bei der Konflation von zwei differierenden Lesarten könnten die bereits angesprochenen Lesarten in Eph 2,3 sein, wo B 46 ℵ A c B D c M sowie lat καὶ ἡμεῖς lesen, A* D* 81 und wenige andere Handschriften καὶ ὑμεῖς; F G und L jedoch weder καὶ ἡμεῖς noch καὶ ὑμεῖς bieten, sondern auf eine eindeutige Aussage in dieser Sache verzichten. Möglicherweise wurde das Auslassen der Adresse in Eph 1,1 auch dadurch ermöglicht, dass der erste Satz des Briefes (zur Not! ) auch ohne Adresse verständlich ist. 51 Eventuell wurde bei einer solchen Rezension sogar in Betracht gezogen, dass der Brief ursprünglich ein ‚Rundbrief ‘ gewesen sein könnte - schließlich lag er ja mit zwei unterschiedlichen Adressen vor. An dieser Stelle würde die historisch sehr unwahrscheinliche Rundbrief-Hypothese auf einer neuen, späteren Ebene in die Überlegungen zur Textgeschichte der Epheserad‐ resse einbezogen werden können. Auch wenn der genaue Überlieferungsverlauf hypothetisch bleiben muss: Ein solches Szenario der Entstehung der grammatikalisch höchst seltsamen Variante ohne Adresse in Eph 1,1 an einem konkreten Punkt im Verlauf der Textgeschichte ist deutlich wahrscheinlicher als all die Vorschläge, die diese Form an den Beginn der Geschichte der Textüberlieferung des Epheserbriefes setzen. Weitere denkbare Möglichkeiten, die auch mit dem dargestellten Konflations‐ modell vereinbar wären (jedoch meines Erachtens schwerwiegende Probleme mit sich bringen), sind: 1. Der Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung hatte keine Adresse im ersten Satz (evtl., weil er ursprünglich ein ‚Rundbrief ‘ war), die Epheser-Adresse wurde dann bei der Überarbeitung des Briefes in den Text eingefügt, so dass B 46 ℵ* usw. zwar den Epheserbrief bieten, jedoch insofern von der 10-Briefe-Sammlung beeinflusst sind, dass sie die Adresse im ersten Satz nicht haben. Das Problem hierbei sind die in Kap. 2.3.2 dargestellten Probleme der Rundbriefhypothese; die Anfänge des Laodicener-/ Epheser‐ briefes würden erneut im Dunkel der Geschichte liegen (während es 187 6.3 Die Überlieferungsgeschichte der Adresse <?page no="188"?> 52 Vgl. Z U N T Z , Text of the Epistles, 281 und auch C A R L S O N , Text of Galatians, 243. in der historischen Forschung darum geht, die plausibelste Lösung zu rekonstruieren). 2. Der Laodicenerbrief enthielt ursprünglich die Adresse im Text, diese wurde bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung (als der Brief die Epheser-Überschrift bekam) gestrichen, worauf B 46 ℵ* usw. zurückgehen; alle anderen Handschriften gehen auf einen Einfluss der 10-Briefe-Samm‐ lung zurück, durch den die Epheseradresse an die Stelle im Text rückte, wo vormals die Laodicener-Adresse stand. Die große Schwierigkeit dieses Vorschlags besteht darin, das Streichen der Adresse im Text (und somit die Entstehung der grammatisch falschen Lesart) bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung zu erklären. Zudem wäre es angesichts des sonstigen Auftretens der Lesarten des Laodicenerbriefes auch etwas überraschend, wenn alle Handschriften bis auf die sechs ohne Adresse auf die konflatio‐ nierte Form mit Adresse zurückgehen würden. 3. Die dritte denkbare Möglichkeit ist, dass sowohl der Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung als auch der Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung keine Adresse im ersten Satz boten (Anhänger der Rundbrief-Hypothese könnten sagen, die Rundbriefe ohne Adresse hätten verschiedene Über‐ schriften erhalten), und im späteren Verlauf der Überlieferungsgeschichte wäre dann die Adresse in den Brief eingetragen worden. Problematisch an diesem Vorschlag sind die schon erwähnten Schwierigkeiten der Rund‐ brief-Hypothese (die Ursprünglichkeit des Laodicenerbriefes, besonders mit Blick auf das Verhältnis zum Kolosserbrief, erscheint mir deutlich plausibler), und zudem auch die Frage, aus welchem Anlass die Adresse in den Text eingefügt wurde (man müsste hier auch eine zusätzliche Rezension annehmen). Auch wenn die drei soeben genannten Möglichkeiten nicht auszuschließen sind, ist meiner Meinung nach das oben vorgestellte Szenario, das die Entstehung der adressenlosen Lesart in Eph 1,1 in der späteren Überlieferungsgeschichte verortet, am überzeugendsten, auch, weil es die soeben genannten Schwierig‐ keiten umgeht. Zudem passt eine solche, von einem Textvergleich ausgehende Rekonstruktion des Entstehens der adressenlosen Lesart in Eph 1,1 auch sehr gut zu dem, was Günther Zuntz in der klassischen textkritischen Arbeit zu den Paulusbriefen herausgearbeitet hat: Denn gerade die Handschriften B 46 ℵ B 1739 gehören zu den typischen Vertretern des früher sog. ‚Alexandrinischen Textes‘, den Zuntz als einen kritischen, auf philologischer Basis hergestellten Text interpretierte. 52 188 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="189"?> 53 Möglicherweise lässt sich mit diesem Modell auch die allgemeine Römeradresse in Röm 1,7 und 1,15 im Codex Boernerianus (G) erklären: Da der Römerbrief der bei Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung etliche Übereinstimmungen mit dem Römer‐ brief des Codex Boernerianus aufweist, gibt es „eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass bei M. auch ἐν Ῥώμῃ gefehlt hat“ (so H A R N A C K , Marcion, 164*; vgl. dazu auch H A R R Y Y. G A M B L E , The Textual History of the Letter to the Romans (SD 42), Grand Rapids 1977, 113, Anm. 93). Von daher wäre es naheliegend, das Fehlen der Adresse des Römerbriefes (wie auch die bei Origenes für Marcion bezeugte 14-Kapitel-Form dieses Briefes) auf eine Beeinflussung des Textes der 14-Briefe-Sammlung durch den Text der 10-Briefe-Sammlung zurückzuführen; vgl. zur Diskussion der Thematik des Römerbriefes der 10bzw. 14-Briefe-Sammlung die Arbeit meines Dresdner Kollegen Alexander Goldmann: G O L D M A N N , Textgeschichte des Römerbriefes. 54 Tert. Adv. Marc. 5,17,1: Sed Marcion ei titulum aliquando interpolare gestiit, quasi et in isto diligentissimus explorator. | „Marcion aber trachtete irgendwann einmal danach, ihm eine falsche Adresse zu verleihen, sodass er sich gleichsam auch darin als ein sehr gewissenhafter Forscher präsentierte.“ (Text und Übers. L U K A S FC 63/ 4). Vgl. zu dieser Passage z. B. H A R N A C K , Adresse des Epheserbriefes, 701-702. Damit kann festgehalten werden: Das in dieser Arbeit entwickelte Konfla‐ tionsmodell mit der Annahme der punktuellen Beeinflussung der handschrift‐ lichen Überlieferung der 14-Briefe-Sammlung durch die 10-Briefe-Sammlung bietet eine plausible Rekonstruktion der Textgeschichte der Epheser-Adresse. 53 Die Entstehung der ‚fehlenden‘ Adresse des Epheserbriefes in den Hand‐ schriften B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739 lässt sich historisch gut an einem Punkt verorten. Bei einer Rezension der 14-Briefe-Sammlung lag der Brief einmal mit Laodicener- und einmal mit Epheser-Adresse vor, so dass (vermutlich vorerst) die Adresse ausgelassen wurde, woraus die adressenlose Variante von Eph 1,1 entstand. So kann auch das Fehlen der Adresse gerade in den sechs genannten Handschriften, die allesamt einen vergleichsweise frühen Text bieten (wie zu Beginn dieser Arbeit aufgezeigt wurde), erklärt werden: In der Frühzeit der Textüberlieferung der 14-Briefe-Sammlung war der Laodi‐ cenerbrief der 10-Briefe-Sammlung noch präsent. Später setzte sich der Text der 14-Briefe-Sammlung dann ohne Ausnahmen durch - und der Epheserbrief wurde auch in den Handschriften zu dem, was er seit seiner Überarbeitung sein sollte: ein Brief mit der Adresse ἐν Ἐφέσῳ im ersten Satz des Präskripts. Mit dieser Rekonstruktion der Textgeschichte der Laodicener‐/ Epheser‐ Adresse lässt sich nun sogar ein bislang rätselhaft gebliebener Vorwurf Ter‐ tullians an Marcion erklären: Als ein „sehr gewissenhafter Forscher“ habe sich Marcion präsentiert, indem er dem Epheserbrief eine „falsche Adresse“ verliehen habe, meinte Tertullian. 54 Warum wählte Tertullian den Ausdruck diligentissimus explorator? Diese Formulierung lässt sich folgendermaßen am einfachsten erklären: Tertullian lag der Laodicenerbrief mit Adresse im ersten 189 6.3 Die Überlieferungsgeschichte der Adresse <?page no="190"?> 55 Vgl. dazu die Argumente in Kapitel 6.3.2. Satz vor, der Epheserbrief seiner 14-Briefe-Sammlung jedoch bot die adressen‐ lose Textform (die durch das oben beschriebene Konflationsmodell entstanden ist und die sich in B 46 usw. findet). Als Tertullian nun ‚seinen‘ Epheserbrief mit dem (von ihm für marcionitisch gehaltenen) Laodicenerbrief verglich, könnte er festgestellt haben, dass der Laodicenerbrief, anders als sein Epheserbrief, eine Adresse enthielt. 55 Innerhalb Tertullians Denkrahmen, in dem Marcion ein Fäl‐ scher war, stellte sich die Lage somit folgendermaßen dar: Marcion hat im ersten Satz seines Laodicenerbriefes die Adresse eingefügt - und sich so den Anschein eines sorgfältigen Forschers gegeben. Genau in diesem Fall ergibt Tertullians Aussage einen Sinn. Denn eine sorgfältige Forschung kommt - und das könnte auch Tertullian geahnt haben - tatsächlich zu dem Ergebnis, dass in den ersten Satz dieses Briefes korrekterweise eine Adresse gehört. Zugegebenermaßen sind dies sehr hypothetische Überlegungen, doch zeigen sie noch einmal das mögliche Erklärungspotential des aufgezeigten Konflationsmodells bei bisher offen gebliebenen Fragestellungen auf. Zwei weitere Textstellen, bei denen es naheliegt, dass die von Tertullian zum Vergleich herangezogene Handschrift des Epheserbriefes der 14-Briefe-Sammlung bereits einen Einfluss des Textes der 10-Briefe-Sammlung aufweist, werden auch im nachfolgenden Kapitel 7, das einen Ausblick auf weiterführende Fragestellungen gibt, genannt. Zuvor folgt eine Zusammenfassung der Überlegungen zur Adresse des Laodicener- und Epheserbriefes. 6.4 Zusammenfassung: Von der Laodicenerzur Epheser-Adresse Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt werden, dass sich für das Problem der Adresse des Epheserbriefes ein plausibles Gesamtbild rekonstruieren lässt, wenn die methodisch einfachste Annahme eines redaktionellen Schrittes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung zugrunde gelegt wird, bei dem die Laodicener-Adresse durch die Epheser-Adresse ersetzt wurde. Hierfür wurden zuerst die Gründe für den ‚Wechsel‘ der Adresse in den Blick genommen. Dabei zeigte sich, dass die in der Johannesoffenbarung geäußerte harsche Kritik an der Gemeinde in Laodicea (Offb 3,14-22) zentrale Bedeutung erlangt, wenn man nach Gründen für das ‚Verschwinden‘ der Laodicener-Adresse fragt. Ob diese fundamentale Kritik auch bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung noch vorherrschte oder ob die Johannesoffenbarung vor allem auf literarischer 190 6 Die Änderung der Adresse des Laodicenerbriefes <?page no="191"?> Ebene ihre Wirkung erzielte, ist dabei nicht entscheidend. Ob noch andere Gründe vorlagen, kann aufgrund nicht überlieferter Quellen nicht erschlossen werden. Doch auch in diesem Fall geht es - wie bei der historischen Arbeit im Allgemeinen - um die plausibelste Rekonstruktion auf Grundlage der vorliegenden Quellen. Als Gründe für die Wahl der Epheser-Adresse kommen dabei vor allem die enge Verbindung des Paulus zu Ephesus, die einen Brief auch an diese Gemeinde ‚ermöglicht‘, und die Bedeutung der dortigen Gemeinde für die frühchristliche Literatur, besonders für die Sammlung der Paulusbriefe, in Betracht. Ein konkreter und vielsagender Hinweis lässt sich in 2Tim 4,12 finden, wo ‚Paulus‘ schreibt: „Tychikus habe ich nach Ephesus gesandt.“ Da Tychikus im Laodicener-/ Epheserbrief (6,21) als Briefbote vorgestellt wird (und dabei die einzige namentlich erwähnte Person ist, ganz anders als in Kol 4! ), ist er mit der Neuadressierung des Briefes nun auf der literarischen Ebene der 14-Briefe-Sammlung tatsächlich nach Ephesus gesandt - genau wie es in 2Tim 4,12 ausgedrückt wird. Von dieser Rekonstruktion der Überarbeitung des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung ausgehend konnte auch für das Problem der Textüberlieferung der Adresse des Epheserbriefes eine Lösung erarbeitet werden. Hierzu wurde in einem ersten Schritt aufgezeigt, dass sowohl der Lao‐ dicenerals auch der Epheserbrief aller Wahrscheinlichkeit nach die jeweilige Adresse im ersten Satz des Briefes boten, da der von Tertullian verwendete Ausdruck titulus sich auch in 1Kor auf den gesamten Briefeingang (und nicht nur auf die ‚Überschrift‘) bezieht, und es vor allem kaum denkbar ist, dass die grammatikalisch äußerst fragliche adressenlose Form von Laod/ Eph 1,1 am Beginn der Überlieferung stand. Basierend auf dieser Einsicht und dem im Verlauf dieser Arbeit aufgezeigten Konflationsmodell konnte ein Szenario für die konkrete Überlieferungsgeschichte der Adresse entworfen werden. Demnach wurde bei der Anfertigung einer Handschrift des Epheserbriefes ein Exemplar des Laodicenerbriefes (bzw. mindestens die Erinnerung daran) hinzugezogen und aufgrund der Unsicherheit, wie mit zwei verschiedenen Adressen dieses Briefes umzugehen ist, die Adresse (vorerst) weggelassen. Diese Verlegenheit führte zur adressenlosen Lesart von Eph 1,1, die sich besonders in den Handschriften B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739 findet, die entweder früh entstanden sind oder einen frühen Text bezeugen - also zu einer Zeit, in der die Erinnerung an den Laodicenerbrief der 10-Briefe-Sammlung noch nicht vollständig erloschen war. 191 6.4 Zusammenfassung: Von der Laodicenerzur Epheser-Adresse <?page no="193"?> 1 Vgl. die Diskussion um die aktuelle Terminologie der neutestamentlichen Textkritik in Kapitel 7.3. 7 Ausblick auf weiterführende Fragestellungen Nach der in den zurückliegenden Kapiteln aufgezeigten Neueinordnung des bei Marcion bezeugten Laodicenerbriefes in die Textgeschichte des neutesta‐ mentlichen Epheserbriefes sollen nun noch einige daran anschließende Frage‐ stellungen diskutiert werden. Diese Fragen betreffen zum einen die Möglichkeit, Feststellungen über Marcions Theologie zu treffen; zum anderen die Frage, ob auch an weiteren, nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen, der Text des Laodicenerbriefes rekonstruiert werden kann; und zuletzt werden allgemeine methodische Aspekte der neutestamentlichen Textkritik diskutiert - vor allem die Frage, ob das den aktuellen textkritischen Methoden zugrundeliegende Paradigma eines Ausgangstextes in Bezug auf die Paulusbriefe aufrechterhalten werden kann oder ob mit zwei ‚ursprünglichen‘ Texten gerechnet werden muss. 7.1 Marcions Theologie Zu Beginn des Ausblicks auf weitere Fragestellungen sollen einige Überle‐ gungen zu Marcion als Person stehen. In Kapitel 2 wurde festgehalten, dass Marcion lange Zeit vorgeworfen wurde, ausgehend von seinen eigenen theolo‐ gischen Ansichten die neutestamentlichen Schriften verändert zu haben. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass der für Marcion bezeugte Text des Epheserbriefes im Vergleich zum kanonischen Text sehr gut als älter (und damit als ältester rekonstruierbarer Text) 1 gelten kann. Marcion hat demnach nicht in die Textüberlieferung eingegriffen, sondern lediglich eine zu seiner Zeit vorfindbare Paulusbriefsammlung übernommen, die dann von Anderen redaktionell überarbeitet und zur 14-Briefe-Sammlung erweitert wurde. Für die Rekonstruktion der christlichen Geschichte des 2. Jahrhunderts sinkt mit diesem Ergebnis die Bedeutung Marcions als Person erheblich, während die Relevanz der von den Kirchenvätern für ihn bezeugten Paulusbriefsammlung <?page no="194"?> 2 Das vollständige Zitat Reguls spricht davon, dass Marcion „in viel stärkerem Maße, als z. B. Harnack annimmt, Zeuge und nicht Schöpfer eines bestimmten Textes“ sei (R E G U L , Die antimarcionitischen Evangelienprologe, 87). Die vorliegende Arbeit geht mit dem Plädoyer für die Ursprünglichkeit des bei Marcion bezeugten Textes noch einen Schritt weiter als Regul (und andere, wie in Kap. 2.2.2 dargestellt wurde). 3 Vgl. die beiden prominentesten Entwürfe von U. S C H M I D , Marcion, 60-149.175-195 und R O T H , The Text, 46-395; vgl. dazu auch die Darstellung des Forschungsstandes zu Marcion in Kap. 2.2.2. enorm zunimmt. Mit einer von J. Regul übernommenen Formulierung lässt sich festhalten: Marcion ist „Zeuge und nicht Schöpfer eines bestimmten Textes“. 2 Damit liegt es nahe, das in den Quellen überlieferte Bild Marcions als durch und durch polemisches Zerrbild zu bewerten und alle Aussagen über Marcion und seine Theologie mit besonderer Vorsicht neu zu interpretieren. Dabei müsste auch der Vorwurf, Marcion habe eine doketische Theologie vertreten, noch einmal genauer untersucht werden. Dies ist zwar nicht auszuschließen, doch muss ernsthaft in Erwägung gezogen werden, dass Irenäus, Tertullian und andere (möglicherweise auch ausgehend von den Ansichten späterer Marcioniten) Marcion, um ihn zu diskreditieren, in die Schublade ‚Doketismus‘ einordneten, obwohl er gar nicht in diese hineingehört. Das hieße dann wie‐ derum auch, dass die anti-doketistischen Textänderungen bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung nicht als direkt gegen Marcion gerichtet verstanden werden müssen. Vielmehr scheinen sie in erster Linie dazu gedient zu haben, die eigene (später als ‚orthodox‘ bezeichnete) theologische Meinung in den Texten zu sichern. Aus diesen Feststellungen zu den Vorwürfen gegen Marcion ergibt sich ebenso, dass neben den Zitiergewohnheiten der Kirchenväter - die in den letzten Jahren intensiv untersucht wurden 3 - auch die Lektürekonzepte von Irenäus, Tertullian, Epiphanius und anderen ein wichtiges Forschungsdesiderat darstellen: Mit welchen Vorannahmen lasen die Kirchenväter die ihnen vorlie‐ genden Texte? Worüber äußerten sie sich, worüber nicht? Diese Frage ist auch ein Ausgangspunkt für das nächste Kapitel des Forschungsausblickes. 7.2 Ist eine Rekonstruktion des Laodicenerbrieftextes an nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen möglich? Die vorliegende Untersuchung des Laodicenerbriefes ging von den Textstellen aus, die bei den Kirchenvätern bezeugt sind. Nun haben Tertullian, Epiphanius und andere nicht den Anspruch gehabt, einen Überblick über Marcions Text zu geben, sondern Marcion an ausgewählten Stellen ‚seiner‘ Textsammlung theologisch zu widerlegen. Davon ausgehend stellt sich die Frage, ob es mit dem 194 7 Ausblick auf weiterführende Fragestellungen <?page no="195"?> 4 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 73. Vgl. ausführlicher zu Klinghardts textge‐ schichtlichem Modell die Darstellung in Kap. 5.3.2. 5 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 455-1208. 6 Vgl. K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 1171-1208. Vgl. zu Klinghardts Vorschlag zur Lösung des synoptischen Problems anhand der Priorität des bei Marcion bezeugten Textes ebenfalls Kap. 5.3.2. 7 Zusammenfassend K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 108: „Wenn es in der Bezeu‐ gung - für Mcn durch die direkten Referate, für den kanonischen Text durch die Handschriftenvarianten - signifikante Abweichungen gibt, dann spricht in der Regel alles dafür, dass die am weitesten vom Wortlaut des Mehrheitstextes entfernte Fassung den vorkanonischen Text repräsentiert.“ Vgl. dazu auch die Überlegungen in Kap. 5.3.2. 8 So auch T. J . B A U E R , Markion und die Vetus Latina, 82-83 und U. S C H M I D , Das marcio‐ nitische Evangelium, 101. Andere von Bauer und Schmid vorgetragene Schwierigkeiten beeinträchtigen meines Erachtens Klinghardts These nicht. Beispielsweise kritisierte Bauer, dass eine lateinische Übersetzung der neutestamentlichen Schriften vor der Mitte des 2. Jhds. nicht plausibel sei - jedoch behauptet Klinghardt dies auch gar nicht (vgl. T. J . B A U E R , Markion und die Vetus Latina, 74). Vgl. auch die Replik auf Bauer und Schmid von K L I N G H A R D T , Das marcionitische Evangelium, 110-120. entwickelten Redaktions- und Konflationsmodell von 10- und 14-Briefe-Samm‐ lung möglich ist, den Text des Laodicenerbriefes auch an anderen, nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen zu rekonstruieren. Für das bei Marcion bezeugte Evangelium ist Matthias Klinghardt diesen Weg gegangen: Er stellte fest, dass drei Viertel der Lesarten dieses Evange‐ liums Entsprechungen in den Handschriften des Lukasevangeliums haben - hauptsächlich (nämlich zu ca. zwei Dritteln) in den Handschriften des sog. ‚Westlichen Textes‘ (D it sy). 4 Dies veranlasste Klinghardt dazu, ausgehend von den Varianten der neutestamentlichen Handschriften auch an nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen jeweils eine Entscheidung zu treffen, wie der Text des für Marcion bezeugten Evangeliums vermutlich lautete. 5 So konnte er erstmals einen umfangreichen Vorschlag zum Gesamttext des bei Marcion bezeugten Evangeliums vorlegen. 6 Bei der Frage, ob dieses Modell auf den Lao‐ dicenerbrief übertragen werden kann, ist meines Erachtens zu bedenken, dass die von Klinghardt typischerweise für die Textrekonstruktion herangezogenen handschriftlichen Varianten 7 auch an den Textstellen des Evangeliums auf‐ treten, die in Marcions Text nicht vorhanden waren, wie zum Beispiel in Lk 1- 2. 8 So ließe sich mit Klinghardts Methode der Textrekonstruktion theoretisch kurioserweise auch für den sicher nicht in Marcions Evangelium vorhandenen Text ein Wortlaut rekonstruieren, was die Zuverlässigkeit dieses Ansatzes doch erheblich einschränkt. Hinzu kommt eine andere spezifische Schwierigkeit, dieses Modell auch für den Laodicenerbrief anzuwenden und an nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen aus den handschriftlichen Varianten des Epheserbriefes einen Text des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung zu 195 7.2 Ist eine Rekonstruktion an nicht bezeugten Stellen möglich? <?page no="196"?> 9 Vgl. U. S C H M I D , Marcion, 275-276; siehe dazu die ausführliche Diskussion in Kap. 4.2.2. 10 Eph 4,13: […] μέχρι καταντήσωμεν οἱ πάντες εἰς τὴν ἑνότητα τῆς πίστεως καὶ τῆς ἐπιγνώσεως τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ, εἰς ἄνδρα τέλειον, εἰς μέτρον ἡλικίας τοῦ πληρώματος τοῦ Χριστοῦ. | […] „bis wir alle zur Einheit im Glauben und der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zum vollkommenen Menschen, zur vollen Größe, die der Fülle Christi entspricht“. Angabe der Handschriften aus NA 28 . rekonstruieren: Ulrich Schmids Untersuchung zum marcionitischen Apostolos hat gezeigt, dass der Text des marcionitischen Laodicenerbriefes zum einen nicht nur mit Handschriften des ‚Westlichen Textes‘ Übereinstimmungen aufweist, sondern auch mit anderen Handschriften, wie dem Codex Sinaiticus (ℵ), dem Codex Vaticanus (B) oder B 46 -, und er zudem auch nur in ca. der Hälfte der Fälle mit dem ‚Westlichen Text‘ korreliert und sich in der anderen Hälfte der Fälle von ihm unterscheidet. 9 Bei der Frage, welche handschriftlichen Varianten nun für die Rekonstruktion des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung auszuwählen wären, gibt es eine solch große Vielfalt und Ungewissheit, dass es viel mehr einem Ratespiel als einem methodisch kontrollierbaren Weg gleichen würde, aus einzelnen Lesarten auf den Text des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung zu schließen. Jedoch bietet sich noch eine andere Möglichkeit an, den Text des Laodice‐ nerbriefes über die von den Kirchenvätern bezeugten Stellen hinaus zu rekon‐ struieren: Denn von den in Kap. 4.4 erarbeiteten theologischen Grundlinien der Redaktion der 14-Briefe-Sammlung aus kann nach Varianten Ausschau gehalten werden, die sich in dieses inhaltliche Konzept einfügen. Wenn sich auf diesem Weg Textvarianten identifizieren lassen, die sehr gut auf die Ebene der erweiterten Paulusbriefsammlung passen, dann könnte - mit der gebotenen Vorsicht - auch auf den Text des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung geschlossen werden. Bei einer Durchsicht des Nestle-Aland von der 25. bis zur 28. Auflage rücken besonders drei Lesarten in den Fokus, die in das erarbeitete Schema der Redaktion der 14-Briefe-Sammlung passen. Es fällt zum einen auf, dass in Eph 4,13 in den allermeisten Handschriften von der „Erkenntnis des Sohnes Gottes“ (τῆς ἐπιγνώσεως τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ) gesprochen wird, sich jedoch in den Handschriften F, G und b sowie bei Lucifer von Calaris und in einem Zitat bei Clemens von Alexandrien das Genitivattribut τοῦ υἱοῦ nicht findet, sodass hier lediglich von der „Erkenntnis Gottes“, nicht von der „Erkenntnis des Sohnes Gottes“ die Rede ist. 10 Bei dieser Lesart bieten Hand‐ schriften des ‚Westlichen Textes‘ - wie bereits in den in Kap. 5.3.1 dargestellten Stellen der Übereinstimmung mit dem für den Laodicenerbrief bezeugten Text - einen kürzeren Text, der sich sehr gut als redaktionelle Erweiterung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung lesen lässt: Denn auch hier wurde eine 196 7 Ausblick auf weiterführende Fragestellungen <?page no="197"?> 11 Vgl. dazu z. B. B A R B A R A A L A N D , Gnosis und Christentum, in: Dies. (Hg.): Was ist Gnosis? : Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie (WUNT 239), Tübingen 2009, 212. 12 Eph 3,14-15: Τούτου χάριν κάμπτω τὰ γόνατά μου πρὸς τὸν πατέρα τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, (15) ἐξ οὗ πᾶσα πατριὰ ἐν οὐρανοῖς καὶ ἐπὶ γῆς ὀνομάζεται. | „Daher beuge ich meine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, (15) von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde seinen Namen hat.“ Vgl. dazu S E L L I N , Epheser, 276. Die Angabe der Handschriften ist aus NA 28 übernommen. 13 Vgl. z. B. Gen 1,5: „[…] und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht.“, Gen 2,19f: „Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen.“ Sowie Ps 147,4: „Er [der Herr] bestimmt die Zahl der Sterne und ruft sie alle mit Namen.“ 14 Die erweiterte Fassung von Eph 3,14 kommt zwar auch in Handschriften des ‚Westli‐ chen Textes‘ vor, doch ebenso findet sie sich in anderen Handschriften wie ℵ 2 , Ψ und M (anders als typische Lesarten des W-Textes wie die Hinzufügung von υἱῷ αὐτοῦ in Eph 1,6 oder von ἡμῖν in Eph 4,6), sodass das dargestellte überlieferungsgeschichtliche Modell für Eph 3,14 wesentlicher plausibler ist als die Zugehörigkeit dieser Lesart zum genuinen ‚Westlichen Text‘. eventuell mögliche (jedoch keinesfalls naheliegende) gnostische Interpretation der Textstelle ausgeschlossen, indem der allgemeine Ausdruck „Erkenntnis Gottes“ durch die Einfügung von τοῦ υἱοῦ christologisch spezifiziert wurde. 11 Zudem ist kein Grund ersichtlich, weshalb τοῦ υἱοῦ gestrichen worden sein sollte. Somit kann - mit der aus den oben genannten Gründen gebotenen Vorsicht - angenommen werden, dass der Text des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung in Eph 4,13 lediglich von der „Erkenntnis Gottes“ (τῆς ἐπιγνώσεως τοῦ θεοῦ) sprach. Eine weitere Lesart für die mögliche Rekonstruktion eines Laodicenerbrief‐ textes an nicht von den Kirchenvätern bezeugten Stellen ist Eph 3,14-15. In B 46 ℵ* A B C P 6 1739 heißt es an dieser Stelle: „Daher beuge ich meine Knie vor dem Vater, von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde seinen Namen hat“; in ℵ 2 D F G Ψ 0278 1881 M lat sy findet sich jedoch (nach „Vater“) noch der Einschub „unseres Herrn Jesus Christus“. 12 Diese Hinzufügung in Eph 3,14 betont, dass der Schöpfergott zugleich der Vater Jesu Christi ist (das Schöpfungsthema ist in V. 15 durch das „Benennen“ eines jeden Geschlechts im Himmel und auf der Erde eindeutig angesprochen). 13 Durch diesen Einschub wird (wie bereits in Eph 4,13) eine theologische Verknüpfung zwischen Christus und dem Alten Testament hervorgehoben. Somit lässt sich auch diese Variante sehr gut in das in Kap. 5.2 erarbeitete redaktionelle Konzept der Überarbeitung des Laodicenerbriefes im Rahmen der 14-Briefe-Sammlung einordnen. 14 197 7.2 Ist eine Rekonstruktion an nicht bezeugten Stellen möglich? <?page no="198"?> 15 Eph 5,30: ὅτι μέλη ἐσμὲν τοῦ σώματος αὐτοῦ, ἐκ τῆς σαρκὸς αὐτοῦ καὶ ἐκ τῶν ὀστέων αὐτοῦ. 16 Vgl. Lk 24,39 (NA 28 ): ἴδετε τὰς χεῖράς μου καὶ τοὺς πόδας μου ὅτι ἐγώ εἰμι αὐτός· ψηλαφήσατέ με καὶ ἴδετε, ὅτι πνεῦμα σάρκα καὶ ὀστέα οὐκ ἔχει καθὼς ἐμὲ θεωρεῖτε ἔχοντα. | „Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst. Fasst mich doch an und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.“ Vgl. zur ekklesiologischen Deutung von Eph 5,30 z. B. S E L L I N , Epheser, 453-454. 17 Vgl. E H R M A N , Orthodox Corruption, 276-277. 18 Iren. Adv. Haer. 5,2,3: Quae sanguine et corpore Christi nutritur et membrum eius est? Quemadmodum et beatus Apostolus ait in epistola quae est ad Ephesios: „Quoniam membra sumus corporis eius, de carne eius et de ossibus eius”, non de spiritali aliquot et invisibili homine dicens haec - spiritus enim neque ossa neque carnes habet - sed de ea dispositione quae est secundum verum hominem, quae ex carnibus et nervis et ossibus consistit. | „Dabei wird es [das Fleisch] doch vom Blut und Leib des Herrn ernährt und ist eines seiner Glieder. Das sagt auch der selige Apostel im Brief an die Epheser: Glieder seines Leibes sind wir, aus seinem Fleisch und seinen Knochen; wobei er das nicht von irgendeinem pneumatischen und unsichtbaren Menschen sagt - denn ein Geist hat weder Knochen Besonders interessant bei der Frage nach möglichen weiteren Lesarten des La‐ odicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung ist eine Textvariante in Eph 5,30. Hier heißt es in vielen neutestamentlichen Handschriften: „Denn wir sind Glieder seines Leibes“ (so z. B. B 46 ℵ* A B 048 6 1739 sowie einige Vulgata-Handschriften und die koptische Überlieferung). Diesen Worten ist in ℵ 2 D F G Ψ 0278 0285 M lat sy sowie in einer Randnotiz in der Minuskel 1739 der Präpositionalausdruck „von seinem Fleisch und seinen Knochen“ (ἐκ τῆς σαρκὸς αὐτοῦ καὶ ἐκ τῶν ὀστέων αὐτοῦ) hinzugefügt. Demzufolge lautet die erweiterte Fassung dieses Verses: „Denn wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und seinen Knochen.“ 15 Durch den Hinweis auf Fleisch und Knochen Jesu, der sich genau so auch in Lk 24,39 findet (und eine Anspielung auf das Alte Testament, konkret auf Gen 2,23 darstellt! ), wird die Leiblichkeit Jesu deutlich - ja fast überdeutlich, weil Leib hier eigentlich als ekklesiologische Metapher verwendet wird - herausgestellt. 16 Theologisch entspricht diese Erweiterung der redaktionellen Hinzufügung des Personalpronomens „sein“ nach „Fleisch“ in Eph 2,14 (vgl. Kap. 4.3.2). Auch hier, in Eph 5,30, lässt sich die Betonung der Leiblichkeit Christi hervorragend in das entwickelte Modell der Überarbeitung des Textes der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung einordnen - sodass auch nicht auf Ehrmans Vorschlag, diese Variante resultiere aus einer individuellen Textänderung eines einzelnen Schreibers, zurückgegriffen werden muss. 17 Für die These der frühen redaktionellen Überarbeitung spricht auch, dass bereits Irenäus die erweiterte Fassung von Eph 5,30 kennt; denn er schreibt in Adv. Haer. 5,2,3: „Das sagt auch der selige Apostel im Brief an die Epheser: Glieder seines Leibes sind wir, aus seinem Fleisch und seinen Knochen.“ 18 198 7 Ausblick auf weiterführende Fragestellungen <?page no="199"?> noch Fleisch -, sondern von der tatsächlichen Ausstattung des Menschen, die aus Fleisch, Nerven und Knochen besteht. (Text und Übers. B R O X FC 8/ 5). 19 Vgl. Z U N T Z , Text of the Epistles, 81, Fußnote 5: „Practically the same grouping recurs, for example in Rom. ix. 28 and Eph. v. 30 where both times spurious additions from the Septuagint are omitted by these very witnesses.“ Dass diese Textstellen, die für den weiteren Text des Laodicenerbriefes in Frage kommen, von Tertullian und anderen Häresiologen nicht erwähnt wurden, könnte an einem Phänomen liegen, das in dieser Arbeit bereits bei dem Thema der Adresse angesprochen wurde (bei der Tertullian ja meinte, Marcion wolle sich wie ein besonders gewissenhafter Forscher prä‐ sentieren): Es ist denkbar, dass Tertullian und andere die soeben diskutierten Textstellen (Laod/ Eph 3,14-15; 5,30) nicht erwähnen, weil ihr ‚eigener‘ Text der 14-Briefe-Sammlung an diesen Stellen vom Text der 10-Briefe-Sammlung beeinflusst war (also die genannten Hinzufügungen nicht enthielt), sodass ihnen die Textunterschiede zwischen Laodicener- und Epheserbrief gar nicht hätten auffallen können. Zwar bleibt dies letztlich spekulativ - auch weil sich prinzipiell nicht begründen lässt, weshalb etwas nicht erwähnt wird. Doch dass die für Eph 3,14 und 5,30 vermutete Textfassung des Laodicenerbriefes (mehr oder weniger) genau in den Handschriften vorkommt, für die sich auch im Falle der Adresse ein Einfluss des Textes der 10-Briefe-Sammlung plausibilisieren lässt, nämlich B 46 ℵ* B* 6 424 c 1739, ist meiner Meinung nach trotz allem ein ernstzunehmendes Indiz. Die Übereinstimmung der Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 mit einer der hier diskutierten Varianten, nämlich Eph 5,30, hat bereits Günther Zuntz festgehalten, jedoch nicht weiter diskutiert. 19 Das in dieser Arbeit entwickelte Konflationsmodell zwischen 10- und 14-Briefe-Samm‐ lung kann somit auch an nicht von Tertullian und anderen Häresiologen bezeugten Textstellen des Laodicenerbriefes einige wenige - zugebenermaßen sehr hypothetische - Einsichten in bisher offen gebliebene Fragestellungen bieten. 7.3 Methodische Schlussfolgerungen für die neutestamentliche Textkritik In den letzten beiden Jahrzehnten fand eine intensive Debatte über das Ziel der neutestamentlichen Textkritik statt: Von dem traditionellen Ansinnen, den „ursprünglichen Text“ (‚original text‘) der jeweiligen Schriften zu rekonstru‐ 199 7.3 Methodische Schlussfolgerungen für die neutestamentliche Textkritik <?page no="200"?> 20 So z. B. K. A L A N D / B. A L A N D , Der Text, 81 („Es gilt, dass die Entscheidung über den ursprünglichen Text von Fall zu Fall neu zu treffen ist.“). 21 E L D O N J . E P P , The Multivalence of the Term „Original Text“ in New Testament Textual Criticism, HTR 92/ 33 (1999), 254. 22 H O L M E S , Original Text, 656-662. 23 So z. B. K L A U S W A C H T E L , The Coherence-Based Genealogical Method: A New Way to Reconstruct the Text of the Greek New Testament, in: J. S. Kloppenborg/ J. H. Newman (Hg.): Editing the Bible: Assessing the Task Past and Present (RBSt 69), Atlanta 2012: 129: „’Initial text’ is a key term characteristic not only of the CBGM but of the theoretical concept behind it. We strive to reconstruct a form of the New Testament text that best explains the states of text that are preserved in the manuscripts, and hence comes as close as possible to the text of the authors. In terms of stemmatology, this means that our aim is a rooted tree.“ sowie ebd., 131: „The CBGM is an instrument for the reconstruction of the initial text, the text form from which the manuscript transmission started.“ Kritisch mit diesem Terminus setzt sich G U R R Y , Critical Examination, 92-101 auseinander. 24 Vgl. z. B. H O L M E S , Original Text, 651-653. 25 Vgl. P A R K E R , Living Text, zusammenfassend 203-213; E H R M A N , Orthodox Corruption, zusammenfassend 320-327. 26 Auch in der im zurückliegenden Abschnitt zitierten Literatur wird nirgendwo über die Möglichkeit von mehreren ‚Ursprüngen‘ diskutiert. ieren, 20 wurde Abstand genommen und stattdessen vorsichtiger vom „frühesten erreichbaren“ Text („earliest attainable text“) 21 , vom „frühesten überlieferten Text“ („earliest transmitted text“) 22 oder vom „Ausgangstext“ („initial text“) 23 gesprochen. Besonders der letztgenannte Terminus, der mit der „Kohärenzba‐ sierten Genealogischen Methode“ und der Veröffentlichung der Editio Critica Maior verbunden ist, scheint sich in der textkritischen Wissenschaft durchzu‐ setzen. 24 Die in den genannten Begriffen festgehaltene Fokussierung auf den Beginn der Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Texte - und nicht auf deren schriftstellerische Anfänge - korreliert mit der Tendenz der jüngeren Textkritik, den Fokus auch auf die Überlieferung des Textes und die Entstehung von Textvarianten zu richten, wie es beispielsweise durch die Arbeiten von David Parker und Bart Ehrman in den 1990er Jahren angeregt wurde. 25 All diese Begriffe haben jedoch einen Aspekt gemeinsam: Sie setzen implizit voraus, es habe einen ‚ursprünglichen Text‘/ ‚frühesten erreichbaren Text‘/ ‚Aus‐ gangstext‘ gegeben - wie bereits an der jeweiligen Terminologie deutlich wird. 26 Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung des Laodicener-/ Epheserbriefes führen jedoch dazu, nicht nach dem einen Ausgangstext zu suchen, sondern vielmehr zwei Ausgangstexte für die Textüberlieferung der Paulusbriefe anzu‐ setzen - nämlich den Text der 10- und den der 14-Briefe-Sammlung. Vereinzelt wurde in der neutestamentlichen Textkritik bereits in die Richtung gedacht, dass die Textüberlieferung nicht nur auf einen Text zurückgeht. So wies Michael 200 7 Ausblick auf weiterführende Fragestellungen <?page no="201"?> 27 Vgl. H O L M E S , Original Text, 647. 28 Vgl. H O L G E R S T R U T W O L F , Original Text and Textual History, in: K. Wachtel/ M. W. Holmes (Hg.): The Textual History of the Greek New Testament: Changing Views in Contemporary Research (TCS 8), Atlanta 2011, 41. 29 Vgl. D A V I D T R O B I S C H , The Need to Discern Distinctive Editions of the New Testament in the Manuscript Tradition, in: K. Wachtel/ M. W. Holmes (Hg.): The Textual History of the Greek New Testament: Changing Views in Contemporary Research (TCS 8), Atlanta 2011, 47 sowie auch K L I N G H A R D T , Das älteste Evangelium, 83 und D A H L , Earliest Prologues, 193-194 (vgl. dazu auch die Diskussion zur Konflation verschiedener Ausgaben in Kap. 5.3.2). 30 Vgl. G O L D M A N N , Textgeschichte des Römerbriefes. Holmes darauf hin, dass die in der Disziplin vorausgesetzte Annahme einer einzigen maßgeblichen Textform häufig den Status eines Axioms habe - diese Praxis müsse jedoch hinterfragt werden. 27 Holger Strutwolf stellte fest, dass die Textkritik des Neuen Testaments anders gedacht werden müsste, wenn es eine einschneidende Zäsur in der Textüberlieferung gäbe (wofür er jedoch keinen Anlass sah). 28 Die bislang konkreteste Aufforderung, verschiedene Editionen in die neutestamentliche Textkritik einzubeziehen, stammt von David Trobisch, der dafür plädiert, nicht den Text des Autors oder den initial text, sondern den der editio princeps zu rekonstruieren. 29 Mit dem vorliegenden Entwurf zur Textgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes, der eine redaktionelle Überar‐ beitung und die Konflation zweier Ausgaben in die Überlegungen einbezieht, erlangt auch die Frage, welcher Text rekonstruiert werden soll, eine neue Brisanz. Für die Edition des Neuen Testaments - das ja 14 Paulusbriefe enthält - hieße das, es müsste konsequenterweise auch der redaktionell bearbeitete Text der 14-Briefe-Sammlung abgedruckt werden. Hierfür wären weitere Un‐ tersuchungen nötig, vor allem müsste der Text der anderen Paulusbriefe der 10-Briefe-Sammlung vor dem Hintergrund dieses textgeschichtlichen Modells analysiert werden. Hier ist die vim Jahr 2020 erschienene Arbeit über die Text‐ geschichte des Römerbriefes der 10-Briefe-Sammlung von Alexander Goldmann (Dresden) ein wichtiger Schritt. 30 Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die Suche nach einem ursprünglichen Ausgangstext, wie ihn z. B. die „Kohärenzbasierte Genea‐ logische Methode“ zu rekonstruieren versucht, nicht zum Ziel führt, sondern im Horizont des in der vorliegenden Arbeit entwickelten Konflationsmodells sich vielmehr die Annahme von zwei Ausgangstexten aufdrängt: einem älteren Text, auf den einige der handschriftlichen Varianten zurückgehen (10-Briefe-Samm‐ lung), und einem jüngeren Text, der eine redaktionelle Überarbeitung des älteren Textes darstellt und von dem die überlieferten Handschriften maßgeb‐ lich abstammen. Neutestamentliche Textkritik sollte demnach als Editionskritik 201 7.3 Methodische Schlussfolgerungen für die neutestamentliche Textkritik <?page no="202"?> stattfinden, d. h. stets die Existenz verschiedener Ausgaben der biblischen Texte mitdenken. Gerade für die Paulusbriefe ist ein solcher Fokus auf Ausgaben von Texten besonders naheliegend, weil uns diese ausschließlich in der Form von Briefsammlungen überliefert sind. 7.4 Zusammenfassung des Ausblicks auf weiterführende Fragestellungen Am Ende dieses Ausblicks auf einige weitere Fragestellungen, die sich an das Ergebnis der vorliegenden Arbeit anschließen, kann festgehalten werden: Die Priorität des Laodicenerbriefes hat Auswirkungen auf die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums, denn Marcion kann in diesem Horizont nicht als Doketist gesehen werden, der die neutestamentlichen Schriften ver‐ stümmelt hat, sondern vielmehr als jemand, über dessen theologische Ansichten keine zuverlässigen Quellen vorliegen, da er lediglich einen älteren Text ver‐ wendete. Außerdem wurde deutlich, dass die Rekonstruktion des nicht von den Kirchenvätern bezeugten Textes ausgehend von den neutestamentlichen Handschriften - wie sie Matthias Klinghardt für das bei Marcion bezeugte Evangelium vorgelegt hat - sich für den Laodicenerbrief nicht anbietet. Denn die von den Häresiologen bezeugten Stellen dieses Briefes stimmen zur Hälfte mit den Lesarten des ‚Westlichen Textes‘ überein, zur Hälfte unterscheiden sie sich von diesem und weisen Übereinstimmungen mit etlichen anderen Handschriften auf, sodass ausgehend von den Textvarianten keine methodisch zuverlässigen Aussagen möglich sind. Jedoch bietet sich für die Rekonstruktion des Laodicenerbrieftextes eine andere Möglichkeit an, nämlich ein Blick auf die Varianten des Epheserbriefes ausgehend von den in Kap. 5 erarbeiteten inhaltlichen Grundlinien der Redaktion der 14-Briefe-Sammlung. Hierbei wurde deutlich, dass sowohl in Eph 3,14 mit der Betonung der Einheit von Schöpfergott und Vater Jesu Christi als auch in Eph 4,13 durch den Verweis auf die Erkenntnis des Sohnes Gottes sowie in Eph 5,30 mit dem expliziten Verweis auf die Leib‐ lichkeit Jesu („Fleisch und Knochen“) Textänderungen zu identifizieren sind, die eine gnostisch-doketistische Interpretation ausschließen sollten. Wenn diese Hinzufügungen - dem textgeschichtlichen Modell gemäß - auf der Ebene der 14-Briefe-Sammlung zu lokalisieren sind, könnte geschlussfolgert werden, dass der Laodicenerbrief sie nicht enthielt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammen‐ hang, dass die Handschriften, in denen die Lesarten der 10-Briefe-Sammlung vorkommen, diejenigen sind, die auch bei der Adresse in Eph 1,1 einen Einfluss des Textes des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung aufweisen. 202 7 Ausblick auf weiterführende Fragestellungen <?page no="203"?> Zuletzt wurden noch methodische Konsequenzen des vorgetragenen textge‐ schichtlichen Modells diskutiert. Diese betreffen vor allem das in der neutesta‐ mentlichen Textkritik vorherrschende Paradigma eines Ausgangstextes, das an‐ gesichts einer redaktionellen Überarbeitung des Textes der 10-Briefe-Sammlung bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung nicht aufrechterhalten werden kann. Vielmehr ist dann von zwei Ausgangstexten auszugehen, die die hand‐ schriftliche Überlieferung beeinflusst haben. Daraus resultiert auch die abschlie‐ ßende Empfehlung, einen Schwerpunkt der Überlegungen zur neutestament‐ lichen Textkritik auf die Identifizierung verschiedener Editionen und deren jeweilige Texte zu setzen. So ließ sich an den genannten Themenfeldern exemplarisch erkennen, dass die Neueinordnung des Laodicenerbrieftextes neben dem in den vorangegan‐ genen Kapiteln angesprochenen neuen Blick auf Detailfragen noch weitere grundsätzlichere Fragen nach sich zieht. Die nun folgende Zusammenfassung wird den von der vorliegenden Arbeit zurückgelegten Weg - von der relativ kleinen Auffälligkeit der Epheseradresse über die Vorwürfe gegen Marcion und die Einordnung des Laodicenerbrieftextes hin zum in den Handschriften überlieferten Text und dessen Varianten sowie dem Ausblick auf anschließende Forschungsfragen - noch einmal in aller Kürze nachzeichnen. 203 7.4 Zusammenfassung des Ausblicks auf weiterführende Fragestellungen <?page no="205"?> 8 Zusammenfassung Zu Beginn dieser Arbeit stand die Feststellung, dass die Textgeschichte der Paulusbriefe nach wie vor mit manchen ungeklärten Fragen verbunden ist, die in besonderer Weise auch den Epheserbrief betreffen. Ausgehend von den Vorwürfen der Kirchenväter gegen Marcion, den Text des Epheserbriefes verändert und so den Laodicenerbrief in die Welt gesetzt zu haben, wurde eine Spurensuche zu verschiedenen Aspekten der Textgeschichte des Epheserbriefes unternommen. Im Laufe der Untersuchung wurde deutlich, dass diese Vorwürfe gegen Marcion nicht nur - wie von der Forschung des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet - zum großen Teil, sondern als komplett unzutreffend ange‐ sehen werden können. Vielmehr kann der für Marcion zu rekonstruierende Text des Laodicenerbriefes mit guten Gründen als durchweg prioritär zum Epheserbrief gelten. In diesem Zusammenhang wurde auch deutlich, warum keine Handschriften des Laodicenerbriefes überliefert sind: Dieser Brief wurde bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung, auf die unsere Handschriften primär zurückgehen, redaktionell überarbeitet und so zum Epheserbrief, wie wir ihn kennen. Für diese neue Perspektive auf den Epheserbrief wurden mehrere Ebenen der neutestamentlichen Wissenschaft zusammengeführt: Zum einen die soeben bereits angesprochene kritische Einschätzung der Vorwürfe der Häresiologen gegen Marcion und des daraus zu rekonstruierenden Textes, zum anderen die vieldiskutierte Problematik um die ursprüngliche Form der Adresse des Epheserbriefes, ebenso die Erwähnung eines Briefes ἐκ Λαοδικείας in Kol 4,16 und das hi sicut Laodicenses in den lateinischen Paulusbriefprologen, das eben‐ falls auf die Existenz eines Laodicenerbriefes in der zugehörigen Sammlung schließen lässt. Einbezogen wurden außerdem auch Überlegungen zum Auf‐ treten von Lesarten des Laodicenerbriefes in den kanonischen Handschriften und Analysen zu in der Antike üblichen redaktionellen Prozessen bei der Herausgabe von Texteditionen. So konnte zuerst plausibilisiert werden, dass die Laodicener-Adresse Priorität beanspruchen kann: Der Ausgangspunkt dafür war die Frage nach den Gründen des Fehlens der Worte ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 in den Handschriften B 46 ℵ* B 6 424 c 1739. Es wurde gezeigt, dass die meistgenannten Vorschläge zu dieser Frage mit erheblichen Problemen belastet sind: So kann die Annahme, der Epheserbrief sei ursprünglich nach Ephesus gesandt, weder das ‚Streichen‘ der Adresse noch den unpersönlichen Charakter dieses Briefes an eine dem Paulus <?page no="206"?> gut bekannte Gemeinde erklären. Die These des ursprünglichen Fehlens der Adresse in Eph 1,1 wiederum hat die große Schwierigkeit, dass der Satz dann grammatikalisch höchst problematisch ist. Auch der Vorschlag, der Brief sei ursprünglich ein Rundbrief gewesen, ist nicht plausibel, da es in antiken Quellen keinerlei Parallele zu der Vorstellung gibt, dass in einem Brief ursprünglich eine ‚Lücke‘ gestanden hat, in die verschiedene Adressen eingetragen wurden. Ebenso sind auch die aus der verbreiteten Ratlosigkeit in die Diskussion eingebrachten Konjekturen für Eph 1,1 viel zu hypothetisch, um überzeugen zu können. Demgegenüber bringt der bereits von Mill und Lightfoot angedeutete und von Harnack in einer ganz bestimmten Form ausgearbeitete Vorschlag, der Epheserbrief sei ursprünglich an die Gemeinde in Laodicea adressiert gewesen, wesentliche Vorteile mit sich: Denn zum einen ist diese Adresse tatsächlich bezeugt - und zwar in Marcions 10-Briefe-Sammlung, die auch das früheste ex‐ plizite Zeugnis des Laodicener-/ Epheserbriefes darstellt. Neben diesem externen Kriterium - das natürlich nur ein Hinweis und kein Beleg sein kann - spricht vor allem auch die Erwähnung des vieldiskutierten Briefes „aus Laodicea“, den die Kolosser sich besorgen sollen (Kol 4,16), für die Ursprünglichkeit der Lao‐ dicener-Adresse. Dies zeigte insbesondere die Untersuchung der literarischen Ebene beider Briefe: Ausgehend von der Leserperspektive der 10-Briefe-Samm‐ lung ist Kol 4,16 eindeutig ein Verweis auf den in der gleichen Sammlung zu findenden Laodicenerbrief. Beide Briefe lesen sich so, dass sie zur gleichen Zeit von dem im Gefängnis sitzenden Paulus verfasst und durch Tychikus, den Paulus in beiden Briefen mit exakt dem gleichen Wortlaut autorisiert, auf einer Reise zu den nahe beieinander liegenden Gemeinden im oberen Lykostal überbracht wurden. Indessen wurde aus historisch-kritischer Sicht deutlich, dass besonders aufgrund der wörtlichen Übereinstimmungen in den Abschnitten Kol 4,7-8 und Laod 6,21-22 von einer direkten literarischen Abhängigkeit auszugehen ist. Zwar kann nicht geklärt werden, ob beide Briefe von einem oder zwei Autoren stammen, doch das dargestellte literarische Szenario lässt sich am leichtesten als ‚angelegt‘ verstehen, was auf eine ‚abgesprochene‘ Autorschaft zwischen beiden Briefen hindeutet. Neben Kol 4,16 ist auch die Erwähnung der Laodicener in den lateinischen Prologen, konkret im Kolosserprolog, ein Argument für die Priorität der Laodi‐ cener-Adresse des Briefes, den wir als Epheserbrief kennen. Denn die Überlie‐ ferung der lateinischen Prologe lässt sich nur dann erklären, wenn diese Prologe nicht von Marcioniten verfasst wurden (wofür es auch keine inhaltlichen Gründe gibt), sondern zur vormarcionitischen 10-Briefe-Sammlung gehörten - worauf z. B. auch die aus den Prologen zu rekonstruierende Voranstellung 206 8 Zusammenfassung <?page no="207"?> des Galaterbriefes hindeutet, die auch in der für Marcion bezeugten Sammlung zu finden ist. Somit ist die Nennung der Laodicener in den lateinischen Paulus‐ briefprologen ein wichtiger Hinweis darauf, dass der Laodicenerbrief im frühen Christentum auch in nicht-marcionitischen Kreisen im Umlauf war. Im nächsten Schritt wurde die Hauptthese dieser Arbeit diskutiert: Wie plausibel ist es, dass dem Text des Laodicenerbriefes Priorität gegenüber dem Text des Epheserbriefes zukommt? Hierbei wurde bei einem Blick in die Forschungsgeschichte zuerst deutlich, dass seit im 18. und 19. Jahrhundert Übereinstimmungen zwischen dem für Marcion bezeugten Text und Varianten in den neutestamentlichen Handschriften wahrgenommen wurden. Doch erst seit den Forschungen von H. von Soden, Lietzmann und Harnack zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Marcions Text hatte sich die Ansicht durchgesetzt, Marcion habe für seine umfangreichen Textänderungen auf eine Handschrift des ‚Westlichen Textes‘ zurückgegriffen. Diese Meinung blieb auch im folgenden Forschungsverlauf grundsätzlich bestehen, wobei durch die Veröffentlichungen von Blackman, Clabeaux und vor allem Schmid immer deutlicher wurde, dass Marcion viel weniger in den Text eingegriffen hatte, als es ihm die Häresiologen vorwarfen. Schmid arbeitete heraus, dass Marcion nur wenige, konkret identifizierbare Änderungen an einem ‚frühen Stratum‘ des ‚Westlichen Textes‘ vorgenommen habe. In einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Einschätzung wurde gezeigt, dass die Zuordnung des Laodicenerbrieftextes zum ‚Westlichen Text‘ aus textkritischen Gründen deutlich zu kurz greift. Dies war der Ausgangspunkt, um die mögliche Priorität der für den Laodice‐ nerbrief bezeugten Lesarten zu überprüfen. Hierbei zeigte sich, dass besonders an den beiden Stellen mit den semantisch größten Differenzen die Lesarten des Laodicenerbriefes sehr gut in den jeweiligen Kontext passen und Priorität gegenüber dem Epheserbrief beanspruchen können: Laod 2,14 ist am besten so zu verstehen, dass Christus die Feindschaft, die das Fleisch betrifft - also die durch die Beschneidung definierte Trennung von Juden und Christen - über‐ wunden hat. Demgegenüber wird im Epheserbrief durch die Hinzufügung des Personalpronomens αὐτοῦ das ‚Fleisch‘ Christi und damit dessen ‚Leiblichkeit‘ besonders betont - ein Aspekt, der im Christentum des 2. Jahrhunderts durchaus umstritten war. Auch Laod 5,28 fügt sich sehr gut in seine textliche Umgebung ein, wenn man den Begriff des „eigenen Fleisches“ (das genährt und gepflegt werden solle, wie es im nächsten Vers heißt) so versteht, dass damit die „eigenen Kinder“ gemeint sind. Die Motivation der Textänderung in Eph 5,28 gegenüber Laod 5,28 kann darin gesehen werden, eine mögliche positive Interpretation des ansonsten in den Paulusbriefen häufig mit Begierden konnotierten ‚Fleisch‘-Be‐ griffes (σάρξ) zu vermeiden. Auch bei kleineren semantischen Unterschieden 207 8 Zusammenfassung <?page no="208"?> lässt sich der Text des Laodicenerbriefes gut als prioritär verstehen, bei dem im Epheserbrief z. B. alttestamentliche Zitate vervollständigt (Eph 5,31; Eph 6,3) bzw. an Traditionen des Alten Testaments angeknüpft wurde (Eph 2,20; Eph 3,9). Die Untersuchung der Entstehung und Textüberlieferung des Epheserbrief‐ textes führte ausgehend von einem genauen Blick auf die Paulusbriefsamm‐ lungen zu dem Ergebnis, dass die neutestamentliche 14-Briefe-Sammlung am einfachsten als Überarbeitung der bei Marcion bezeugten 10-Briefe-Sammlung (die auch den Laodicenerbrief enthielt) zu erklären ist. Dabei ist die nächstlie‐ gende Option, dass bei diesem redaktionellen Schritt auch die Überarbeitung des Laodicenerbriefes angefertigt wurde und so der Epheserbrief entstand. Mit dieser Einsicht lässt sich auch die Textüberlieferung des Epheserbriefes, vor allem dessen (in verschiedenen Handschriften auftretenden) Übereinstim‐ mungen mit Lesarten des Laodicenerbriefes erklären: Bei diesen Übereinstim‐ mungen handelt es sich (wie im Falle der lateinischen Prologe) um Spuren des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung, so dass von einer Konflation der Handschriften der 10- und der 14-Briefe-Sammlung gesprochen werden kann. Denkbar ist beispielsweise, dass Handschriften der 10-Briefe-Sammlung an einzelnen Stellen des Herstellungsprozesses der späteren neutestamentlichen Paulusbriefsammlung herangezogen wurden. Dieses Konflationsmodell kann auch eine Antwort auf die viel diskutierte Frage geben, ob bzw. inwiefern Schreiber den Text veränderten: Die Textüberlieferung ist dann am einfachsten zu erklären, wenn man mit wenigen, konkreten Eingriffen in die Textüberliefe‐ rung rechnet. Außerdem konnte festgehalten werden, dass die Überarbeitung des Laodicenerbriefes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung dem ent‐ spricht, was wir über die (Neu-)Herausgabe eines literarischen Werkes in der antiken Editionspraxis wissen. Im nächsten Schritt wurden die Entstehung und Überlieferung der Ephe‐ seradresse diskutiert. Auch hier führt die möglichst sparsame Verwendung hypothetischer Zwischenschritte zu der Annahme eines redaktionellen Schrittes bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung, bei dem die Laodicenerdurch die Epheseradresse ersetzt wurde. So kann auch die große Unbestimmtheit zum Auftreten der Epheseradresse in Harnacks Plädoyer für die Ursprünglichkeit der Laodiceneradresse überwunden werden. Als Grund für das Verschwinden der Laodiceneradresse erlangt vor allem die in Offb 3,14-22 geäußerte harte Kritik an der Gemeinde in Laodicea zentrale Bedeutung. Diese könnte ihre Wirkung allein auf literarischer Ebene erzielt haben, doch möglicherweise - besonders bei einer Spätdatierung der Johannesoffenbarung - deutet sie auch auf noch virulente theologische Differenzen mit der Gemeinde in Laodicea bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung hin. Für die Wahl von Ephesus als 208 8 Zusammenfassung <?page no="209"?> neue Adresse sprechen vor allem die enge, in den Briefen festgehaltene und in der Apostelgeschichte noch zusätzlich ausgeprägte, Verbindung von Paulus zu dieser Gemeinde, doch auch die allgemeine Bedeutung von Ephesus als wichtiger Standort frühchristlicher Literatur. Zudem findet sich in 2Tim 4,12 ein aussagekräftiger Hinweis: ‚Paulus‘ schreibt hier an Timotheus, dass er Tychikus nach Ephesus gesandt habe. Dies deckt sich genau mit dem, was ein Leser der 14-Briefe-Sammlung aus dem Epheserbrief erfährt. Denn Tychikus ist der Überbringer dieses Briefes (Eph 6,21) - und mit der Neuadressierung des Briefes ist Tychikus auf literarischer Ebene nun tatsächlich nach Ephesus gesandt. Mit dieser Theorie des redaktionellen Austauschs der Adresse konnte auch ein konkretes Szenario für die Textüberlieferung der Adresse des Epheserbriefes erarbeitet werden: Da alles dafür spricht, dass der Laodicenerbrief im ersten Satz des Briefes die Adresse enthielt (der Satz also ursprünglich grammatikalisch korrekt war), ist davon auszugehen, dass mit der Ersetzung von Laodicea durch Ephesus bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung auch der Ephe‐ serbrief die Adresse im Briefeingang aufwies. Das Fehlen der Adresse des Epheserbriefes in den Handschriften B 46 ℵ* B 6 424 c 1739 geht dann auf eine Konflation dieser beiden Versionen zurück. Vermutlich lag einem Schreiber bei der Anfertigung einer Kopie des Epheserbriefes die Kenntnis einer Handschrift der 10-Briefe-Sammlung mit dem Laodicenerbrief vor, so dass er mindestens vorläufig die Adresse wegließ, wodurch die Lesart ohne ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 in den genannten Handschriften entstand. In einem letzten Schritt der vorliegenden Arbeit wurden einige Fragen dis‐ kutiert, die sich an diese Rekonstruktion anschließen. Dabei wurden besonders drei Aspekte deutlich: 1) Da die Vorwürfe der Kirchenväter gegen Marcion in Bezug auf dessen Paulusbriefsammlung nicht zutreffen, ist auch höchst fraglich, ob dessen Zuordnung zur doketistischen Theologie den historischen Tatsachen entspricht oder allein auf der Polemik der Kirchenväter fußt. Dementsprechend müsste - auch ausgehend von anderen Beispielen - gefragt werden, ob die Geschichte der entstehenden Kirche und ihrer Schriftgrundlage überdacht werden sollte. 2) Eine Rekonstruktion des Laodicenerbrieftextes ausgehend von den handschriftlichen Varianten an nicht von Kirchenvätern bezeugten Stellen ist mit ernsthaften methodischen Problemen verbunden, denn die Lesarten des Laodicenerbriefes finden sich in ganz verschiedenen Handschriften und stimmen nur in ca. der Hälfte der Fälle mit dem ‚Westlichen Text‘ überein. Jedoch konnten in den Handschriften des Epheserbriefes drei Varianten identifiziert werden (Eph 3,14; Eph 4,13 und Eph 5,30), die sich gut als theologische Spezifizie‐ rungen bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung interpretieren lassen, durch die eine gnostisch-doketistische Interpretation der betreffenden Textstellen 209 8 Zusammenfassung <?page no="210"?> ausgeschlossen werden sollte. 3) Das erarbeitete Konflationsmodell von 10- und 14-Briefe-Sammlung stellt das allen aktuellen textkritischen Methoden zugrundeliegende Paradigma eines Ausgangstextes grundlegend in Frage. In dieser Hinsicht sollte bei allen textkritischen Entscheidungen bezüglich der Paulusbriefe die Möglichkeit beachtet werden, die Textüberlieferung auf zwei verschiedene Editionen zurückzuführen - und demnach die Textkritik auch als Editionskritik zu denken. Nach diesem zusammenfassenden Blick auf die vorliegende Arbeit kann abschließend festgehalten werden, dass es gute Argumente für die Ursprüng‐ lichkeit von Adresse und Text des bei Marcion bezeugten Laodicenerbriefes gibt. Mit dieser Perspektive lassen sich auch die eingangs angesprochenen ungeklärten Fragen zur Textgeschichte des Epheserbriefes, wie beispielsweise die Frage nach der Textgeschichte der Epheseradresse oder die Identifizierung des in Kol 4,16 erwähnten Briefes „aus Laodicea“, in einem neuen Gesamtzu‐ sammenhang plausibel beantworten. Der Epheserbrief lässt sich dann sehr gut als ein Produkt des 2. Jahrhunderts verstehen, der bei der Herausgabe der 14-Briefe-Sammlung entstanden ist, und zwar durch eine direkte redaktionelle Überarbeitung des Laodicenerbriefes der 10-Briefe-Sammlung. Dies ist nun keinesfalls ein Aufruf, den Text des Laodicenerbriefes in das Neue Testament zu drucken. Es bedeutet jedoch, den Epheserbrief - und das darin gezeichnete Paulusbild - als ein redaktionell hergestelltes Produkt des 2. Jahrhunderts zu lesen. Verliert dieser Text dadurch an Wert? Ich finde nicht. Vielmehr gewinnt man einen neuen und detaillierteren Blick auf die Themen, die das frühe Christentum bewegte. 210 8 Zusammenfassung <?page no="211"?> 9 Abbildungen I. Handschriften ohne ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 (B 46 ℵ* B 6 424 c 1739) Abb. A.1: Papyrus 46 (B 46 ), um 200 n. Chr. (Bildquelle: NTVMR, ID: 10046, fol. 75r) Abb. A.2: Codex Sinaiticus (ℵ), 4. Jh., Hinzufügung (ℵ 2 ) nicht vor dem 7. Jh., im oberen Bilddrittel die stark verblasste Inscriptio (Bildquelle: NTVMR, ID: 20001, fol. 280v) <?page no="212"?> Abb. A.3: Codex Vaticanus (B), 4. Jh., Hinzufügung (B 2 ) am rechten Rand der dritten Zeile ca. im 6./ 7. Jh. (Bildquelle: NTVMR, ID: 20003, fol. 1493) Abb. A.4: Minuskel 6, 13. Jh. (Bildquelle: NTVMR, ID: 30006, fol. 164r) Abb. A.5: Minuskel 424, 11. Jh., Korrektur: Punkte über ἐν Ἐφέσῳ (Bildquelle: NTVMR, ID: 30424, fol. 243v) Abb. A.6: Minuskel 1739, 10. Jh. (Bildquelle: NTVMR, ID: 31739, fol. 75r) 212 9 Abbildungen <?page no="213"?> II. Handschriften mit ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 (Beispiele) Abb. A.7: Codex Alexandrinus (A), 5. Jh. (Bildquelle: British Library, Royal MS 1 D VIII, fol. 104r Abb. A.8: Codex Athous Laurensis (Ψ), 8./ 9. Jh. (Bildquelle: NTVMR, ID: 20044, fol. 221r) 213 II. Handschriften mit ἐν Ἐφέσῳ in Eph 1,1 (Beispiele) <?page no="214"?> Abb. A.9: Codex Boernerianus (G), 9. Jh. (Bildquelle: SLUB Dresden, Digitale Bibliothek, Mscr.Dresd.A.145.b, fol. 61r) III. Karten Kleinasiens Abb. A.10: Karte von Ephesus (links im Bild umrandet) und der Region um Kolossae (rechts im Bild umrandet, siehe für eine Detailansicht die nächste Abbildung), Bildquelle: Digital Atlas of the Roman Empire: https: / / dh.gu.se/ dare/ [letzter Zugriff 08.08.2021] 214 9 Abbildungen <?page no="215"?> Abb. A.11: Karte von Hierapolis, Laodicea und Kolossae, Bildquelle: Digital Atlas of the Roman Empire: https: / / dh.gu.se/ dare/ [letzter Zugriff 08.08.2021] 215 III. Karten Kleinasiens <?page no="217"?> 10 Literaturverzeichnis I. Editionen Clemens von Alexandrien: Clemens Alexandrinus, Zweiter Band, Stromata Buch I-VI, hg. von Otto Stählin, neu herausgegeben von Ludwig Früchtel, 4. Aufl. mit Nachträgen von Ursula Treu (GCS 15), Berlin 1985. Epiphanius: Epiphanius, Zweiter Band, Panarion haer. 34-64, hg. v. Karl Holl, 2. bearbeitete Auflage hg. v. Jürgen Dummer (GCS 31), Berlin 1980. Eusebius: Eusebius Werke, Siebenter Band, Die Chronik des Hieronymus, hg. v. Rudolf Helm (GCS 47), Berlin 1956. Eusebius Werke, Fünfter Band, Die Chronik, aus dem Armenischen übersetzt mit textkritischem Commentar, hg. v. Josef Karst (GCS 20), Leipzig 1911. Galen: Galen, In Hippocratis De Victu Acutorum Commentaria IV, hg. v. Georg Helmreich (CMG V 9,1), Leipzig/ Berlin 1914. 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Strom. 4,8,64 35 Epiphanius Epiph. Pan 42,9,1 23 f. Epiph. Pan 42,9,3 37 Epiph. Pan 42,11,8 38, 120, 123 Epiph. Pan 42,11,9 24, 38 Epiph. Pan 42,13,4 38 235 Antike Autoren <?page no="236"?> Eusebius Chronik des Hieronymus 183,21-22 84 Galen In Hippocratis De Victu Acutorum 424 152 Ignatiusbriefe IgnEph 1,3 176 IgnEph 2,1 176 IgnEph 2,2 167 IgnEph 6,2 176 IgnEph 11,2 167 IgnEph 12,2 34, 54, 166 f. IgnMagn 10,3 167 IgnPhld 8,1 167 IgnPol 2,1 167 IgnPol 3,2 167 IgnRöm Prol. 167 IgnSmyrn 4,2 126 IgnSmyrn 2 126 IgnSmyrn Prol. 167 IgnTrall 2,3 167 IgnTrall 9,1-2 126 IgnTrall 10 126 Irenäus Adv. Haer. 1,24,2 127 Adv. Haer. 1,24,3 127 Adv. Haer. 1,24,3-4 127 Adv. Haer. 1,27,2 20 Adv. Haer. 3,3,4 176 Adv. Haer. 3,12,12 20 Adv. Haer. 5,2,3 35, 198 Adv. Haer. 5,8,1 35 Adv. Haer. 5,9,1 131 f. Adv. Haer. 5,14,3 35 Adv. Haer. 5,24,4 35 Adv. Marc. 5,17,1 35 Johannes Chrysostomus Hom. 12 59 Justin 1Apol 26,5 20 1Apol 58,1-2 20 Origenes Hom. in Jos. 7,1 146 Philastrius Div. Heres. Liber 89 60 Polykarpbriefe PolykPhil 3,2 54 PolykPhil 13,2 179 Tacitus Annalen 14,27,1 83 Tertullian Tert. Adv. Marc. 1,1,1 153 Tert. Adv. Marc. 1,1,1-2 153 Tert. Adv. Marc. 1,1,5 21 Tert. Adv. Marc. 1,19,2 19 Tert. Adv. Marc. 4,4,3 19 Tert. Adv. Marc. 5,1,9 21 Tert. Adv. Marc. 5,4,2 21 f. Tert. Adv. Marc. 5,5,1 43, 183 f. Tert. Adv. Marc. 5,11,13 36 Tert. Adv. Marc. 5,17,1 36 f., 43, 52, 183, 189 Tert. Adv. Marc. 5,17,9 133 Tert. Adv. Marc. 5,17,12 134 Tert. Adv. Marc. 5,17,14 123 Tert. Adv. Marc. 5,17,16 135, 137 Tert. Adv. Marc. 5,18,1 137, 141 Tert. Adv. Marc. 5,18,8 128 Tert. Adv. Marc. 5,18,8-9 128 Tert. Adv. Marc. 5,18,9 138 Tert. Adv. Marc. 5,18,11 138 Tert. Adv. Marc. 5,18,12 139 Tert. Adv. Marc. 5,21,1 53 Tert. Adv. Marc. 5,4,12 156 Tert. Praescr. 30,1-2 19 Theodor v. Mopsuestia Theod. Mops. Comm. ad Col 4,16 59 236 Registerverzeichnis <?page no="237"?> Marcion änderte - anders als ihm vorgeworfen wurde - nichts am Laodicenerbrief der vorkanonischen 10-Briefe-Sammlung. Vielmehr entstand der neutestamentliche Epheserbrief durch eine redaktionelle Überarbeitung dieses Briefes im 2. Jahrhundert. Dies ist die zentrale Einsicht von Flemmings Studie zur Textgeschichte des Laodicener-/ Epheserbriefes. Die Vorwürfe der Kirchenväter gegen Marcion werden zwar schon länger kritisch betrachtet, doch in diesem Buch wird erstmals aufgezeigt, dass der Text des für Marcion bezeugten Laodicenerbriefes als prioritär zum Epheserbrief der 14-Briefe-Sammlung gelten kann. Auf dieser Basis wurde ein neues textgeschichtliches Modell entwickelt, das auch die Frage nach der Adresse des Epheserbriefes ergründet. Insgesamt wird deutlich: Weil Marcion nichts am Laodicenerbrief änderte, ändert sich der Blick auf die Textgeschichte des Epheserbriefes grundlegend. ISBN 978-3-7720-8738-7 www.narr.de T A N Z