1870/71 – Literatur und Krieg
0116
2023
978-3-7720-5754-0
978-3-7720-8754-7
A. Francke Verlag
Hermann Gätje
Sikander Singh
10.24053/9783772057540
Im Vorfeld wie in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 entstand auf deutscher wie auf französischer Seite ein polyphoner Chor lyrischer, erzählerischer und dramatischer Stimmen, die den politischen Konflikt, die patriotischen und nationalistischen Diskurse, die Kampfhandlungen und ihren Verlauf, die ökonomischen und sozialen Auswirkungen des Krieges und nicht zuletzt seine Folgen im Hinblick auf das Leben des einzelnen Menschen wie die Gesellschaft thematisieren. Der Band beleuchtet Darstellungsformen, Repräsentation und Inszenierung von Krieg und Kriegserlebnis. Literarische Zeugnisse werden im Hinblick auf die Entwicklung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen. Voraussetzungen und Bedingungen, die der Krieg für spätere Tendenzen, wie Naturalismus, Expressionismus oder Heimatkunstbewegung, gegeben hat, werden untersucht.
<?page no="0"?> HERMANN GÄTJE, SIKANDER SINGH (HRSG.) 1870/ 71 Literatur und Krieg 07 <?page no="1"?> 1870/ 71 - Literatur und Krieg <?page no="2"?> Passagen Literaturen im europäischen Kontext Herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes Band 7 <?page no="3"?> Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) 1870/ 71 - Literatur und Krieg <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. DOI: https: / / www.doi.org/ 10.24053/ 9783772057540 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. 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Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2512-8841 ISBN 978-3-7720-8754-7 (Print) ISBN 978-3-7720-5754-0 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0158-1 (ePub) www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Anett Lütteken Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik: Formen, Funktionen, Traditionslinien, Resonanzräume . . . . . . . . . . 9 Emanuel Geibel Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Hermann Gätje Epigonen? - Emanuel Geibels „ patriotische “ Gedichte zum Deutsch- Französischen Krieg 1870/ 71 im literarischen Feld ihrer Epoche . . . . . . . . 43 Stefan Knödler „ Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft “ - Das „ große Ganze “ und das Bagatelle in Friedrich Theodor Vischers Auseinandersetzung mit dem Krieg von 1870/ 71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Annette Kliewer Blick zurück nach vorn - Die literarische Verarbeitung des Deutsch- Französischen Kriegs von 1870/ 71 bei Erica Grupe-Lörcher . . . . . . . . . . . . 65 Raphaël Fendrich Marie Hart: Erinnerungen ues ’ m sieweziger Krieg, awer ken militärischi (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Sikander Singh Romantische Regression und Gegenwart. Richard von Volkmann- Leanders Märchen aus dem Deutsch-Französischen Krieg . . . . . . . . . . . . . . 89 Thomas Althaus Philosophie und Krieg. Otto Liebmanns Aufzeichnungen aus den Stellungen vor Paris 1870/ 71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 <?page no="6"?> Hans Giessen Très honoré Confrère - Eine schwierige französisch-deutsche Briefkommunikation nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Eric Thil Queer wars - Représentation de la guerre de 1870 dans la ‘ littérature homosexuelle ’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Béatrice Dumiche Le réalisme de Theodor Fontane. La réponse d ’ un huguenot prussien à la montée des nationalismes au cours de la guerre de 1870/ 71 . . . . . . . . . . . . 137 Alfred Gulden Eine OSTERREISE Theodor Fontane nach zu den Schlachtfeldern von 1870/ 71 - Gedanken und Notizen zu einem Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 6 Inhalt <?page no="7"?> Vorwort Die Erzählung von der historisch begründeten (Erb-)Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist zwar bereits 1954 in Heinz-Otto Sieburgs Studie Deutschland und Frankreich in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts plausibel als Mythos dekonstruiert worden; gleichwohl war die Nachbarschaft beider Länder vom Reformationszeitalter bis in das 20. Jahrhundert von einer langen Reihe von Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzungen bestimmt, so dass die literarischen Topoi, die diese Gegnerschaft aufnehmen, sich als ebenso persistent erwiesen haben wie die politischen Denkfiguren, Urteilsmuster und -stereotypen, die sie begründen. In diesem Zusammenhang ist der Deutsch-Französische Krieg der Jahre 1870/ 71 als einer der Scheitelbzw. Konvergenzpunkte der wechselvollen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen und ihrer Betrachtung im literarischen Diskurs zu verstehen. Im politischen Spannungsfeld der Koalitionskriege (1792 bis 1815) und des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) entstand im Vorfeld wie in der Folge des Waffengangs von 1870/ 71 sowohl auf deutscher als auch auf französischer Seite ein polyphoner Chor lyrischer, erzählerischer und dramatischer Stimmen, welche den militärischen Konflikt, die patriotischen und die nationalen (nicht zuletzt: die nationalistischen) Diskurse, die Kampfhandlungen und ihren Verlauf sowie individuelle Erinnerungen daran, die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen des Krieges, aber auch seine Folgen im Hinblick auf das Leben des einzelnen Menschen wie seine gesellschaftlichen Implikationen zum Gegenstand haben. Da der Krieg 1870/ 71 nicht als ein isoliertes historisches Geschehen zu betrachten ist, sondern diskurswie ideengeschichtlicher Einordnungen bedarf, und die ihn reflektierenden literarischen Texte auf Semantiken, Darstellungsformen und -strategien sowie Rhetoriken rekurrieren, welche die deutschfranzösischen Beziehungen seit der frühen Neuzeit orchestrieren, fragen die Beiträge des vorliegenden Bandes nach bellizistischen und pazifistischen Diskursen in der deutschen und französischen Literatur. Den Ausgangspunkt bilden Werke, die während oder unmittelbar nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 entstanden sind und sich explizit auf ihn beziehen; zugleich werden deren fiktionale und autobiographische Erzählweisen und -strategien im literarischen Diskurs von den Koalitionskriegen bis zum Ersten Weltkrieg kontextualisiert. Hiermit verbunden sind Fragen nach <?page no="8"?> Darstellungsformen und bevorzugten Gattungen, nach Repräsentation und Inszenierung von Krieg und Kriegserlebnis. Auch werden viele der literarischen Zeugnisse literatursoziologisch im Hinblick auf die Entwicklung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts, ihre Medien und Rezeption betrachtet. Saarbrücken, im Herbst 2022 Hermann Gätje und Sikander Singh 8 Vorwort <?page no="9"?> Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik: Formen, Funktionen, Traditionslinien, Resonanzräume Anett Lütteken, Zürich Die Reichsgründung und die dichterische „ Schlaffheit “ Ernst Arnold, der Verfasser der erstmals 1905 bei Ullstein erschienenen und mehrfach wieder aufgelegten Illustrierten Deutsche[n] Literaturgeschichte, gab im Vorwort Auskunft über sein Anliegen. Das Kompendium sollte in erster Linie ein „ verläßlicher und anregender Führer durch das reiche und prangende Feld unserer großen Literatur “ sein. 1 Wenig verwunderlich also, dass Arnold grundsätzlich geneigt war, zeittypisch teleologisch von einer organischen „ Entwicklung unserer Nationalliteratur “ auszugehen. Umso mehr erstaunt es, wie schwer er sich zugleich damit tat, diese Prämisse mit seinem Befund über die kulturellen Errungenschaften des Zeitraums von 1871 bis 1885 damit in Einklang zu bringen: Die großen Siege von 1870, der Jubel, den die Einigung Deutschlands hervorgerufen hatte, und die machtvolle Wiedererstehung des Deutschen Reiches brachten nicht die erwartete neue Blüte der Literatur. Während im geschlagenen Frankreich eine großartige moderne Dichtung entstand, erlebte das siegreiche Deutschland eine Periode der künstlerischen und dichterischen Schlaffheit, die in großem Kontrast zu den bedeutenden Produktionen der vergangenen Jahrzehnte stand. 2 1 Hier verwendet: E[rnst] Arnold: Illustrierte Deutsche Literaturgeschichte. Berlin / Wien 1909 [zuerst: 1905], S. [5]. 2 Arnold: Literaturgeschichte (Anm. 1), S. 385, Abschnitt: „ Von der Gründung des Deutschen Reiches bis zur naturalistischen Epoche. 1871 bis 1885 “ , S. 385 - 407; vgl. den Abschnitt zur „ Kriegsdichtung von 1870/ 71 “ in Alfred Biese: Deutsche Literaturgeschichte. München 1911, Bd. 3, S. 235, der von einem „ neue[n] Auflodern der vaterländischen Lyrik “ , die „ in mancherlei Hinsicht an die der Befreiungskriege erinnert “ , spricht. <?page no="10"?> Bemerkenswert ist hier zum einen die in einem populärwissenschaftlich angelegten Handbuch verbreitete Erkenntnis, dass Kulturnation und Nation sich nicht miteinander, sondern eigengesetzlich entwickeln. Die im Begriff der „ Schlaffheit “ komprimierte Skepsis bezüglich der literarischen Produktion signalisiert zudem eine gewisse Enttäuschung darüber, dass die Literaten (vermeintlich oder wirklich) in den ersten Jahren nach der Reichsgründung nicht in angemessener Form am Höhenflug der zur Nation geeinten Deutschen teilgehabt hatten. Und einmal mehr wird an dieser Stelle auch die selbst durch militärische und politische Dominanz nicht zu überwindende kulturelle Rückständigkeit Deutschlands im Vergleich zu Frankreich angedeutet. Arnolds Sicht mag eine Außenseiter-Position gewesen sein. Dennoch erscheint es sachdienlich, gerade solche Urteile als die etwas leiseren Stimmen des Zeitalters stärker als (in der tendenziell etwas klischeebefrachteten Forschung zum 19. Jahrhundert) üblich einzubeziehen, wenn es, wie im Folgenden, darum geht, die Wechselwirkungen von Nationenbildung, Militarismus, Patriotismus, Gesellschafts-, Mentalitäts- und Literaturgeschichte exemplarisch anhand einiger Gedichte zu beschreiben. Literatur als Teil der öffentlichen Festkultur Diese leiseren Stimmen wurden nicht selten recht lautstark übertönt: An allererster Stelle natürlich von der öffentlichen Festkultur wie sie etwa in der Broschüre Der Einzug des siegreichen Heeres am 16. Juni 1871 und die hierbei Seitens der Stadt Berlin veranstalteten Festlichkeiten nachgerade idealtypisch abgebildet wurde. 3 Dokumentiert wurden hier die zwar verordneten, aber doch ganz offenkundig auch von breiten Teilen der Bevölkerung mitgetragenen kollektiven Anstrengungen, Deutschlands Sieg über Frankreich zu Zwecken der Selbstvergewisserung wie zur Demonstration des Siegerhabitus in geeigneter Form zu präsentieren. 3 Der Einzug des siegreichen Heeres am 16. Juni 1871 und die hierbei Seitens der Stadt Berlin veranstalteten Festlichkeiten. Aus amtlichen Quellen. Berlin 1871; vgl. im Gegensatz dazu die vergleichsweise diskret abgehaltene eigentliche Reichsproklamation im Versailler Spiegelsaal am 18. Januar 1871, hierzu Rainer Pöppinghage: 18. Januar! Das Deutsche Kaiserreich und seine Geburtstage 1871 - 1918. Münster 2020, S. 11 - 13 und den Band Michael Fischer / Christian Senkel / Klaus Tanner (Hrsg.): Reichsgründung 1871. Ereignis - Beschreibung - Inszenierung. Münster / New York / München 2010 sowie den Abschnitt „ Festakt mit Hindernissen “ . In: Christoph Nonn: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs. 1871 - 1918. München 2020, S. 19 - 24. 10 Anett Lütteken <?page no="11"?> Von der „ Ausschmückung der Siegesstraße “ mitsamt der dort aufgestellten „ Colossalstatue der Berolina “ über die auf Segeltuch gedruckten „ bedeutungsvolle[n] Aussprüche des Kaisers “ entlang der Straße „ Unter den Linden “ und die „ auf dem Pariser Platz, zwischen den beiden städtischen Tribünen am Brandenburger Thor “ versammelten 63 „ Ehrenjungfrauen “ reichte dieses weltanschaulich potenzierte mediale ‚ Gesamtkunstwerk ‘ bis hin zum „ kolossalen Kanonenberg “ , der mittels erbeuteter Geschütze Schlachten wie z. B. die „ Siege um Sedan und de[n] Fall dieser Festung “ „ verherrlicht[e] “ . 4 Nicht unterschlagen sei an dieser Stelle zudem die Verteilung von Buchgeschenken auf den städtischen „ Schulfeier[n] “ als ein Indiz für die behördlich gewünschte kollektive Gedächtnisstiftung und einen systematisch auf Breitenwirksamkeit hin angelegten Umgang mit dem historischen Vorgang und der ihm gewidmeten bzw. auf ihn hin gedeuteten Literatur. 5 Welch prominente Rolle am Berliner Großereignis der Musik zugewiesen wurde, lässt sich schließlich der der genannten Broschüre angehängten Verlagswerbung für „ Musikalische Kriegs-Literatur des Feldzuges 1870/ 71 “ entnehmen: 6 Erinnerungsblätter a. d. Schlacht bei Gravelotte von Julius Alsleben standen ebenso zum Verkauf wie Theodor Krauses Komposition Depeschen vom Kriegsschauplatze oder Friedrich-Wilhelm Voigts, des späteren ersten Armeemusikinspizienten des Reichs, Pariser Einzugsmarsch (1871). In diesem Kontext ist auch die „ National-Cantate “ Lorbeer und Palme zu sehen, in der der Berliner Hof-Domorganist Hermann Küster auf heute schwer erträgliche Weise sauerkitschige Texte verschiedener Autoren zusammentrug, um u. a. „ Opferwilligkeit “ , „ Krankenpflege “ ( „ Nur emsig die zarten Hände gerührt, / Schon klaffen die rothen Wunden! [ … ] “ ), „ Heldentod “ ( „ Getroffen, blutend sink ’ ich hin, / Die letzten Lebensgeister flieh ’ n [ … ] “ ) und den „ Sieg “ ( „ Ehre sei Gott in der Höhe! “ ) zu veranschaulichen. 7 Küster hatte sich bei der Textauswahl an der 520-seitigen, von Ernst Wachsmann zusammengetragenen Anthologie Sammlung der Deutschen Kriegs- und Volkslieder des Jahres 1870 orientiert, die schon für sich allein 4 Der Einzug (Anm. 3), Zitate: S. 4, 6, 9 f., 4; s. auch die überlebensgroßen Porträts von Bismarck und Moltke von Adolph Menzel, die als „ Festdekoration für die Siegesparade “ verwendet wurden, abgebildet in: Gerhard Bauer / Katja Protte / Armin Wagner (Hrsg.): Krieg. Macht. Nation. Wie das deutsche Kaiserreich entstand. Militärhistorisches Museum der Bundeswehr. Dresden 2020, S. 236 (Kat. 478 und 479). 5 Der Einzug (Anm. 3), S. 14. 6 Ebd., [o. S. = S. 15]. 7 Lorbeer und Palme. National-Cantate nach deutschen Dichtungen aus der jüngsten Heldenzeit, componirt von Hermann Küster. Berlin 1871, S. 5, 11, 14, 16; vgl. Robert Eitner: Küster, Hermann. In: Allgemeine Deutsche Biographie (1883). URL: https: / / www. deutsche-biographie.de/ pnd11659263X.html (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2022) Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 11 <?page no="12"?> und aufgrund ihrer Auswahlprinzipien eine ausführlichere Analyse lohnen würde. 8 Selbstredend trugen auch die Dichter, bekanntere und weniger bekannte, bei, was ihnen für einen derart singulären Anlaß opportun schien. So verfasste z. B. Julius Rodenberg das von Karl Anton Eckert musikalisch untermalte gereimte Werk Zur Heimkehr! Ein Festspiel zum feierlichen Einzug der Truppen in Berlin, das bei der „ Gala-Vorstellung des Kgl. Opernhauses “ am 17. Juni uraufgeführt wurde. 9 Weit entfernt vom wirklichen Kriegsgeschehen und der Neuordnung Europas wurden die Schauplätze ( „ Wolkenregion “ und „ Rheinlandschaft “ ) in historistischer Manier angesiedelt. Die auftretenden allegorischen Figuren ( „ Die Gerechtigkeit “ , „ Der Frieden, „ Die Tages- und Jahreszeiten “ , „ Die Künste “ , „ Friedensgeister “ , „ Soldaten “ ( „ mittelalterlich gedacht “ ) 10 ) taten ein Übriges, um die politischen Realitäten weit weg und vollends ins verklärend Unverbindliche zu verschieben. Wie das Publikum über ein weiteres, gedanklich eng zugehöriges und auf das sächsische Publikum zugeschnittene Festspiel Rodenbergs (Vom Rhein zur Elbe. Festspiel in zwei Abtheilungen zum feierlichen Einzug der Sächs. Truppen) 11 urteilte, lässt sich der Wiener Theater-Chronik vom 21. Juli 1871 entnehmen. 12 Berichtet wurde hier über die Dresdner „ Festvorstellung “ im reich geschmückten Theater vor geladenem Publikum, zu dem nicht nur Mitglieder des Königshauses und Adlige zählten, sondern auch viele Militärangehörige. Dieses nolens volens mit Gelegenheitsdichtungen vertraute Publikum war sich einerseits natürlich „ der bei solchen Vorstellungen herrschenden Etikette “ bewusst. Dass man seiner Begeisterung dennoch „ bei manchen Stellen durch wahrhaft enthusiastischen Beifall “ Ausdruck verlieh, lag aber womöglich weniger an den 8 Ernst Wachsmann (Hrsg.): Sammlung der Deutschen Kriegs- und Volkslieder des Jahres 1870. Berlin [1870]; hierzu: William Webster: Wars and Rumours of Wars. Questions of Authenticity in German Patriotic Poetry 1870 - 1871. In: German Life & Letters 59 (2006), Issue 3, S. 390 - 404, hier S. 393. 9 Zur Heimkehr! Ein Festspiel zum feierlichen Einzug der Truppen in Berlin gedichtet von Julius Rodenberg. Musik von C. Eckert. Berlin 1871; vgl. Oskar Horn: Im Siegesheimzug. Festspiel zur Heimkehr der deutschen Truppen. Zum Besten des deutschen Invalidenfonds. München 1871. 10 Zur Heimkehr! (Anm. 9), S. 2 f. und 7. 11 [Dresden] [o. J.=1871]. Das Festspiel wurde mit Kompositionen von Karl Krebs aufgeführt. Eingangs wurde mittels Zitation des Tagesbefehls von Albert von Sachsen vom 3. März 1871 sowie des Trinkspruchs „ des Kronzprinzen von Sachsen zu Compiègne, 23. April 1871 “ der Beitrag der Heerführer der sächsischen Armee zum Gesamtsieg betont. Vgl. Klaus Sauer / German Werth: Lorbeer und Palme. Patriotismus in deutschen Festspielen. München 1971. [dtv 755]. 12 Wiener Theater-Chronik, XIII (1871), Freitag, den 21. Juli 1871, Nr. 29, S. 113. 12 Anett Lütteken <?page no="13"?> auftretenden Fluss-Allegorien - „ Vater Rhein “ empfängt nach und nach seine Töchter ( „ die blonde Mosel “ , „ die dunkle Saar “ und die Ill) - , sondern eher am wagnerisch anmutenden „ Schlußtableau “ des ersten Teils. Zum theatralischen Effekt bzw. zur „ ergreifenden Wirkung “ 13 dieser Szene dürfte nicht zuletzt die munter eklektizistische Verschränkung nationaler Mythen beigetragen haben: „ Der Rhein “ postuliert dementsprechend zunächst „ feierlich “ , dass nun endlich das „ ächte Rheingold “ , der „ Nibelungenhort der deutschen Einigkeit “ , vom Bann befreit sei; 14 „ aus dem Rhein “ steigt daraufhin die „ von den Wappen der deutschen Staaten “ flankierte „ deutsche[] Kaiserkrone “ herauf. Der opernhafte, direkt in einen „ Festmarsch “ übergehende „ Chor der deutschen Ströme “ tut dann ein Übriges, diese neue „ Einigkeit “ zu versinnbildlichen: Wir hörten das Wort, das Wort vom Rhein, Wir hörten es, und wir stimmen ein. Nun braust, Ihr Ströme, braust und singt, Daß es wie froher Willkomm klingt Nach blut ’ gem Kampf, nach schwerer Zeit Dem sieggekrönten Heere: Das Lied der deutschen Herrlichkeit, Das Lied der deutschen Ehre! Solche staatstragenden 15 , nicht selten auch christlich verbrämten 16 und allein schon aus Gründen der kulturkämpferisch avant la lettre ausgerichteten Abgrenzung vom ‚ katholischen ‘ Frankreich eher protestantisch konnotierten Poesien wurde quasi automatisch zum Werkzeug der Politik. Ihre Urheber ließen dies, davon ist auszugehen, willentlich und aus Überzeugung geschehen, 13 Ebd. 14 Festspiel (Anm. 11), S. 11 - 14, passim. 15 Rodenberg: Zur Heimkehr (Anm. 9), S. 8: „ Blüh Deutschland, blüh, Du Herz der Welt - so stark, so mild, / Blüh deutsches Reich und sei fortan des Friedens Schild! “ 16 Ebd., S. 8: Die Szenenanweisung unmittelbar vor dem „ Schluß-Tableau “ lautet: „ Der Wolkenvorhang theilt sich. Man sieht eine sonnige Dorflandschaft mit einer Kirche; die Glocken läuten - aus der Kirche schallt der Choral: „ Nun danket Alle Gott. “ ; ähnlich bei Julius Grosse: Das Kaisermärchen. Festspiel zur Friedensfeier von 1871. Weimar 1871. Nach Art eines Totengesprächs treten dort zunächst Personen der „ Unterwelt “ aus der Zeit napoleonischen Besetzung bzw. der Befreiungskriege auf (wie z. B. Napoleon I., Stein, Lützow, Körner, Arndt und Uhland). In der recht krude gemischten „ Oberwelt “ treten neben ihnen dann „ Barbarossa “ , „ Gallia “ , „ Dornröschen “ , „ Napoleon III. “ , „ Fürst Potemkin “ , „ Miß Business “ sowie die Heere Deutschlands und Frankreichs auf. Die Botschaft ist mithin die Vollendung der Geschichte; der Kreis schließt sich durch den vereinigten „ Chor des Heeres und der Frauen “ , der den (überkonfessionell konsensfähigen) Choral „ Nun danket alle Gott “ anstimmt. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 13 <?page no="14"?> weil sie sich selbst als Sprachrohr der Gesellschaft und öffentliche Instanz wahrnahmen. 17 Das gilt für Rodenbergs Festspiele 18 ebenso wie für das bezüglich der zeitenthobenen allegorischen Darstellungsweisen sehr ähnlich konzipierte Werk Der Friede des späteren Literaturnobelpreisträgers Paul Heyse, das am Münchner Hof- und National-Theater zu wohltätigen Zwecken für die Hinterbliebenen der Kriegsopfer aufgeführt wurde. 19 Wie bei Rodenberg so bei Heyse wurde im jubelnden „ Schlußchor “ dabei an ein eher vages „ wir “ und dessen Reichsverständnis appelliert: Eines Bluts, Eines Muths, Sieg -und ehrenreich, Fest und treu, Stark und frei Hüten wir das Reich! 20 Solche ‚ raunenden ‘ Floskeln, die den Zeitgenossen zur Identifikation mit ihrer Gesellschaft taugten und heutige Betrachter eben wegen ihrer Floskelhaftigkeit eher ratlos stimmen, gilt es im Folgenden auf die zugrundeliegende kollektive historische Erfahrung zu beziehen. Es ist dabei zunächst zu fragen, welche Sachverhalte die Zeitgenossen jeweils mitschwingen hörten. Der wuchtige Begriff „ Reich “ etwa, der Mittelalterliches und Kaiserruhm ebenso evoziert wie die zum faktischen Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation beitragenden historischen Ereignisse und die Tilgung (vermeintlicher) historischer Schmach durch die Reichsgründung 1871, ist omnipräsent im Kontext solcher zeittypischen Versatzstückgefüge und -bauten, die man als Interpret faktisch ‚ zurückbauen ‘ muss, um ihre Funktionen wenigstens anteilig verstehen zu können. Unabhängig davon erschwert die beschriebene Form der affirmativen repräsentativen Festkultur, für die sich so bekannte und beliebte Autoren des Kaiserreichs wie Rodenberg oder Heyse so umstandslos in den Dienst nehmen liessen, eine unvoreingenommene Beschäftigung mit der Materie ungemein: Da es eingedenk der geschichtlichen Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts, aber 17 Ebd. 18 Vgl. Julius Rodenberg: Lorbeer und Palme. Zwei Festspiele zur Erinnerung an die glorreiche Heimkehr unserer Truppen aus Frankreich im Sommer 1871. Berlin 1872. 19 Der Friede. Ein Festspiel, für das Münchener Hof- und National-Theater gedichtet von Paul Heyse. Musik von Baron [Karl] von Perfall. München 1871, S. 27. 20 Zu Heyse vgl. Juliane Fiedler: Konstruktion und Fiktion der Nation. Literatur aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 2018, S. 222 - 225. 14 Anett Lütteken <?page no="15"?> auch der literaturgeschichtlichen Entwicklungen im Kontext der Moderne wohlfeil ist, solchen Autoren Verlogenheit und Realitätsverweigerung (und wohl auch Verrat an der Kunst) zu bescheinigen, zählen sie in der Forschung noch immer irrigerweise zu den zu vernachlässigenden und/ oder zu belächelnden Größen, weshalb man der Beschäftigung mit ihren Texten eher ausweicht. Dieses Phänomen der faktischen Ausblendung von literaturgeschichtlich relevanten und präsenten, aber nicht zum Fortschrittsverständnis heutiger Forschung passenden Texten und ihrer Kontexte hat zwischenzeitlich zu einer Über-Fokussierung der Avantgarden und zu einer ebenso problematischen wie bekenntnishaften Solidarisierung mit diesen geführt. Das derart konturierte Bild der Literaturgeschichte des Kaiserreichs zeigt sich daher (noch immer) schwarz-weiß: Es gibt die ‚ guten ‘ Modernen und die nur mit Unbehagen oder besser gar nicht mehr zu betrachtenden ästhetisch wie weltanschaulich ‚ Rückwärtsgewandten ‘ . Um nachvollziehen zu können, wie facettenreich und öffentlichkeitswirksam Literatur instrumentalisiert wurde und vor welchem geschichtlichen Horizont des 19. Jahrhunderts, der sich substantiell von unserer heutigen Wahrnehmung unterscheidet, dies geschah, ist es also erforderlich, diese Literatur überhaupt zu kennen 21 und zu rekonstruieren, welchen Resonanzraum sie tatsächlich gehabt hat. Auch dies ein Desiderat der germanistischen Forschung, weshalb im Folgenden ohne jeglichen Vollständigkeitsanspruch auf einige dabei zu bedenkende Aspekte und Akteure hingewiesen werden soll. Nicht um das Rehabilitieren von (zu Recht oder Unrecht) Vergessenen geht es hierbei. Vielmehr stehen das Konturieren des Gesamtpanoramas und das differenzierende Austarieren, um Denkmuster und Beweggründe des Zeitalters ergründen zu können, im Zentrum des Interesses. „ Einarm und Stelzfuß “ oder Nuancierende Sichtweisen Man kann sich nun fragen, wo und wie sich jene Autoren äußerten, die dem offiziell verordneten Jubel skeptisch(er) begegneten. So liest sich etwa der Vers „ Der Dinge schönes Gleichmaß ist gestört “ in Theodor Fontanes Gedicht Neujahr 1871 als ein Hinweis auf ein vages Unbehagen an und in Kriegszeiten sowie auf die ambivalente Einsicht, dass die ‚ große ‘ und die ‚ kleine ‘ Welt 21 Vgl. die umfangreiche „ Revue des Literaturjahres 1871 “ . In: Blätter für literarische Unterhaltung, 1. Januar 1872, S. 1 - 6; vgl. dort (S. 1) auch die Reflexion über den Eindruck, dass „ Dichtung und Literatur “ „ nicht Schritt zu halten schein[en] “ mit den „ großen Zeitereignissen “ . Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 15 <?page no="16"?> unausweichlich miteinander verzahnt sind. 22 Diese Befindlichkeit findet ihren Ausdruck sehr viel stärker noch in dem hinsichtlich seiner Uneindeutigkeit eindeutigen Gedicht Einzug. (16. Juni 1871). Es ist dies das dritte Gedicht Fontanes mit diesem Titel. Und allein schon dessen, nur durch variierende Untertitel erweiterte Knappheit vermag zu irritieren, wird derart doch recht lakonisch auf die Gleichförmigkeit von eigentlich keineswegs alltäglichen Siegesfeiern und Truppenparaden verwiesen. Besagte Untertitel galten dem „ 7. Dezember 1864 “ , also dem Einzug der siegreichen preußischen Truppen nach dem Deutsch-Dänischen Krieg durch das Brandenburger Tor, 23 und dem „ 20. September 1866 “ , dem Einzug König Wilhelms von Preußen. 24 Die Reihung der drei Gedichte signalisiert darüber hinaus sowohl den Konnex der drei historischen Ereignisse, die Notwendigkeit ihrer Abfolge und dazu die Überlegenheit preußischer Militärpolitik. Dass dies keineswegs gleichbedeutend war mit vorbehaltloser Lobhudelei, Säbelrasseln und Hurra-Patriotismus, lehrt freilich schon das erste der Gedichte. Aus dem beeindruckten Bericht eines fiktiven Zuschauers der bunten Truppenparade mit ihrer abgewandelten Schwerter-zu-Pflugscharen-Motivik sticht ein kurzer Moment der Irritation und der aufgeschreckten Nachdenklichkeit hervor: „ Jeder, als ob er ein Gärtner wäre Trägt drei Sträußer auf seinem Gewehre. Gärtner freilich, gegraben, geschanzt, Dann sich selber eingepflanzt, Eingepflanzt auf Schanze zwei. - Die flinken Berliner sind vorbei. “ 25 Wie wenig selbstverständlich es ist, überhaupt aus einem Feldzug zurückzukehren, wird hier ebenso angesprochen wie der im Bild vom sich selbst einpflanzenden Gärtner aufgerufene Schrecken des Krieges, der durch den Gedankenstrich wieder beiseite gefegt wird. Und auch der zweite Einzug vermag den Leser punktuell bedenklich zu stimmen: Hinsichtlich der Überbetonung der allein auf kriegerische Hand- 22 Theodor Fontane: Neujahr 1871. In: ders.: Die Gedichte. Hrsg. von Otto Drude. Frankfurt am Main 2000, S. 283 f., hier S. 283. 23 Vgl. Theodor Fontane: Erinnerung an die Einzugsfeier in Berlin am 7. December 1864. Templin 1864, abgebildet in: Krieg. Macht. Nation. (Anm. 4), S. 106 (Kat. 118); Jörg Rathjen: Findbuch der Bestände Abt. 57 bis Abt. 62. Preußisch-österreichische Übergangsbehörden 1863 - 1868. Hamburg 2012. [Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein; Bd. 193], S. IX, und Frank Becker: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864 - 1913. München 2001. 24 Theodor Fontane: Gedichte. Vierte vermehrte Auflage. Berlin 1892, S. 282 - 289. 25 Ebd., S. 283. 16 Anett Lütteken <?page no="17"?> lungen fokussierten „ Victoria “ , die nur Sieger einläßt und den eher fragwürdigen Reim „ Chlum “ 26 / „ Ruhm “ goutiert, aber auch bezüglich des gleichfalls knappen und beliebig gehaltenen Gedichtschlusses ( „ Glocken läuten, Fahnen wehn, / Die Sieger drinnen am Tore stehn “ ), bei dem die erbeuteten 208 österreichischen Kanonen zur „ Siegesgasse “ erkoren werden. 27 Im eng an das zweite anknüpfenden dritten der Gedichte ist die Kriegsmüdigkeit angesichts der Gestehungskosten der Reichsgründung kaum mehr zu übersehen. Die Lücken in der Truppenparade und die Opfer werden minutiös aufgezählt: „ Die hellblauen Reiter von Mars La Tour, 28 / Aber an Zahl die Hälfte nur. “ ; „ Alles zerschossen - ihr ganzes Prahlen / Nur ein Wettstreit in den Zahlen, / In den Zahlen derer, die nicht hier. “ ; „ Hunderttausende auf den Zehenspitzen! / Vorüber wo Einarm und Stelzfuß sitzen “ . 29 Das den Bogen zum ersten Einzug-Gedicht schlagende Innehalten der Truppen am Denkmal Friedrichs II. schildert ironisch gebrochen eine profund ernüchterte Sichtweise. 1864 hatte „ König Fritz “ die Taten der Ulanen und „ Zieten-Husaren “ 30 noch befürwortet und militärisch knapp mitgeteilt: „ Concedire, es war gut. “ 1871 hingegen distanziert sich der steinerne Friedrich II., indem er sich in der Sprache des Verlierers Frankreich an das Volk wendet und dadurch Frankreich nicht nur seine Reverenz erweist, sondern den deutschen Siegern gegenüber zugleich seinem Ennui Ausdruck verleiht: Bei dem Fritzen-Denkmal stehen sie wieder, Sie blicken hinauf, der Alte blickt nieder; Er neigt sich leise über den Bug: „ Bon soir, Messieurs, nun ist es genug. “ 31 Freilich: Fontane ist beileibe kein Gewährsmann für eine konsequent kritische politische Haltung. Dafür ‚ verschanzte ’ er sich am Ende wohl allzu gern hinter ironisch gebrochenen Schilderungen, die in der Nähe zu unzulässiger Ver- 26 Die Anhöhe von Chlum war im Rahmen der enorm verlustreichen entscheidenden Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 strategisch wichtig; vgl. auch das als eine „ Form der Öffentlichkeitsarbeit “ eingesetzte Gemälde von Otto Heyden: Anmarsch der preußischen 2. Armee unter Kronprinz Friedrich Wilhelm am Morgen der Schlacht von Königgrätz, 3. Juli 1866, in: Krieg. Macht. Nation. (Anm. 4), S. 133 (Kat. 470). 27 Fontane: Gedichte (Anm. 24), S. 285. 28 Die Schlacht von Mars-La Tour fand am 16. August 1870 statt; die französische Armee wurde von den preußischen Truppen zum Rückzug nach Metz gezwungen. 29 Zur Zahl der Opfer vgl. Michael Epkenhans: Die Reichsgründung 1870/ 71. München 2020. S. 79 f. 30 Fontane: Gedichte (Anm. 24), S. 284, vgl. das aus dem Jahr 1871 stammende Gemälde von Wilhelm Alexander Meyerheim: Preußische Zietenhusaren bei der Verfolgung eines französischen Bataillons, in: Krieg. Macht. Nation. (Anm. 4), S. 225 (Kat. 348). 31 Fontane: Gedichte (Anm. 24), S. 289. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 17 <?page no="18"?> klärung und Ästhetisierung brutaler Ereignisse siedeln. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die den Kapitelanfängen des Bandes Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 vorangestellten kontextbefreiten Motti aus Schauspielen Schillers, Shakespeares und Goethes, aus Gedichten Lenaus, Strachwitz ’ , Droste-Hülshoffs, Storms, Lepels, Freiligraths usw. Sie sind in dieser Form geeignet, den an sich sehr ernsten Sachverhalt der Kriegsgefangenschaft zu relativieren und ihn hierdurch in ein, für ein seriöses historiographisches Werk etwas problematisches Licht zu rücken. 32 Welche Funktionen Fontane darüber hinaus den sparsam eingesetzten lyrischen Einlagen in der wuchtigen Kriegsdokumentation Der Krieg gegen Frankreich beigab, bleibt noch systematisch zu erforschen. 33 Allem Anschein nach dienten sie ihm aber nicht nur als unterhaltende Einlage zu notgedrungen trockenen Ablaufschilderungen. Vielmehr setzte er sie als zuspitzende und damit interpretierende Kommentare zu einzelnen Ereignissen ein. Der jeweilige Verfasser wurde so zum Geschichtsschreiber, der das Ereignis für die Nachwelt poetisch aufbereitet festhält. In solchen Fällen notierte Fontane z. B.: „ Der Bedeutung des Moments gab ein damals erscheinendes Gedicht einen ebenso schönen wie einfachen Ausdruck “ . 34 An anderer Stelle bewertete er, wie viele seiner Zeitgenossen, den Kampf gegen Napoleon als die eigentliche Vorgeschichte des Kriegs gegen Frankreich und bemühte hierzu Verse Goethes aus dessen, anlässlich des Siegs über Bonaparte für die Berliner Feierlichkeiten verfasstem Festspiel Des Epimenides Erwachen von 1814. 35 Hinzu kommt, dass Fontane mit den eingelegten Poesien natürlich zugleich auch die Landkarte der kriegerischen Bewegungen abzubilden suchte. Die nicht immer namentlich bekannten Urheber der jeweiligen Verse wurden so in fast archaischer Weise zum Schlachtensänger und Herold: „ Bei Weißenburg am 32 Theodor Fontane: Kriegsgefangen. Erlebtes 1870. Mit einem Nachwort von Gotthard Erler. Berlin 1999, passim. 33 Theodor Fontane: Der Krieg gegen Frankreich. Berlin 1873; zur zeitgenössischen Kriegsberichterstattung: Nikolaus Buschmann: „ Moderne Versimpelung “ des Krieges. Kriegsberichterstattung und öffentliche Kriegsdeutung an der Schwelle zum Zeitalter der Massenkommunikation (1850 - 1870). In: Nikolaus Buschmann / Horst Carl (Hrsg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn 2001, S. 97 - 124. 34 Fontane: Krieg (Anm. 33), S. 49; das auf die Ereignisse von 1866 bezügliche Gedicht beginnt: „ Ihr, die Ihr kommt, entschlossen, / Mit uns das Schwert zu ziehn, / Erlauchte Bundsgenossen, / Willkommen in Berlin! [ … ]. “ 35 Ebd., S. 82. Vgl. Bodo Plachta / K. Hassan: Des Epimenides Erwachen. Festspiel in zwei Aufzügen. In: Goethe Handbuch. Bd. 1: Musik und Tanz in den Bühnenwerken. Hrsg. von Gabriele Busch-Salmen / Benedikt Jeßing. Stuttgart 2008, S. 483 - 501. 18 Anett Lütteken <?page no="19"?> ersten Tag, / Das war der erste Tatzenschlag. [ … ] “ ; 36 heißt es dann oder: „ Es brüllt die Schlacht von Mars la Tour / Und hagelt Blei und Tod. / Dort steh ’ n die Brandenburger nur / Und leiden große Noth. [ … ] “ . 37 Hinsichtlich der „ Erstürmung von St. Privat “ (bzw. Gravelotte) am 18. August 1870 betonte Fontane neben den zahlreichen direkten und indirekten Kriegsopfern erneut den Zusammenhang und damit innere Notwendigkeiten historischer Ereignisse: Das erste Licht, o Tochter, Für Deinen Bruder brennt, Kein Kreuz Dir seinen Namen Auf Schleswigs Schlachtfeld nennt! Das zweite - Deinem Vater, Der, treu der Fahne stets, Für seinen König kämpfte: Er fiel bei Königgrätz. Und hier die dritte Kerze Mit schwarzer Schleife, sieh ’ , Gilt Deinem letzten Bruder: Er starb in St. Marie. Am Allerseelentage Zünd ’ stets die Lichter Du; Sei stark, wenn bald noch eine Du fügen mußt dazu! - - 38 Festhalten lässt sich für den Moment: Fontane nutzte im Rahmen seiner Kriegsberichterstattung beigegebene Poesien nicht so sehr als Belege für seine persönliche Sicht der Dinge und auch nicht als ‚ Dekorum ‘ einer ansonsten eher spröden Textgattung, sondern vielmehr als Formeln, die bestimmte Ereignisse rhetorisch prägnant auf den Punkt brachten und ihnen so Spezifik verliehen. 36 Fontane: Krieg (Anm. 33), S. 153. Die Schlacht von Weißenburg fand am 4. August 1870 statt. 37 Ebd., S. 286. 38 Ebd., S. 318. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 19 <?page no="20"?> Jenseits der Nuancen: Funktionen patriotischer Poesien in Gedenk- und Ehrenbüchern 39 Signifikant anders als Fontane agierten solche Autoren und Anthologie-Herausgeber, die auf eine eindeutige bzw. vereindeutigende, ein klar konturiertes Weltbild abbildende Lesart der kriegerischen Ereignisse wie der Reichsgründung selbst abzielten. 40 Zu den heute kaum mehr bekannten, der zeitgenössischen Leserschaft gleichwohl aber bestens vertrauten Publikationsformen zählten dabei Sammlungen unterschiedlichster, in jedem Fall aber auf Marktgängigkeit ausgerichteter Machart, die nicht selten explizit an ein jugendliches und dabei wohl eher auch männliches Lesepublikum gerichtet waren. Während man etwa in der überreich illustrierten 500-seitigen Kriegschronik von 1870, in der die Ereignisse in kleinsten Details geschildert und militärhistorisch pointiert nachgezeichnet wurden, vollständig auf Poesien verzichtete, weil die Schlachten-Narrative ganz bewusst in die aufwendigen Illustrationen ausgelagert wurden, 41 war für die weitaus meisten anderen Publikationen die Dreingabe von passend erscheinender Lyrik ein Muss. Was aber wurde als passend verstanden? Als besonders prägnantes Beispiel hierfür kann der von Oskar Höcker (1840 bis 1894) 42 gemeinsam mit dem auf populärwissenschaftliches Schrifttum spezialisierten Buchhändler und Verleger 39 Aus Platzgründen kann die in diesem Kontext unbedingt mitzudenkende, weil aus österreichischer Perspektive und unter dem Eindruck der ‚ kleindeutschen ‘ Lösung zusammengestellte Sammlung: Albin Reichsfreiherr von Teuffenbach zu Tiefenbach und Maßwegg (Hrsg.): Vaterländisches Ehrenbuch. Poetischer Theil. Geschichtliche Denkwürdigkeiten aus allen Ländern und Ständen der österreichisch-ungarischen Monarchie in Gedichten. Salzburg 1879, nicht berücksichtigt werden; vgl. auch das Vorwort zu: Albin Reichsfreiherr von Teuffenbach zu Tiefenbach und Maßwegg (Hrsg.): Vaterländisches Ehrenbuch. Geschichtliche Denkwürdigkeiten aus allen Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wien 1877, S. I - XVI, hier S. I: „ unser Reich ist seit einem Jahrzehnt aus dem uralten Verbande mit Deutschland geschieden; es steht nun allein da und muß sich erst allgemach in das ungewohnte Verhältniß finden. “ 40 Vgl. z. B. Wilhelm Osterwald: Deutschlands Auferstehung. Vaterländische Dichtungen aus dem Jahre 1870. Halle 1871. 41 Illustrirte Kriegs-Chronik. Gedenkbuch an den Deutsch-Französischen Feldzug von 1870 - 1871. Geschrieben vom Verfasser der Illustrirten Kriegs-Chronik von 1866 [ … ]. Leipzig 1871; vgl. etwa die Sedan-Berichterstattung S. 161 - 176 bzw. S. 192; vgl. ebd. die Abbildungen zum „ Triumpheinzuge von Berlin “ , S. 436 f.; vgl.: Frank Becker: Augen- Blicke der Größe. Das Panorama als nationaler Erlebnisraum nach dem Krieg von 1870/ 71. In: Jörg Requate (Hrsg.): Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft / Les médias au XIXe siècle. München 2009, S. 178 - 191. 42 Vgl. Eckhard Schulz: „ Höcker, Oskar “ . In: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 305. URL: https: / / www.deutsche-biographie.de/ pnd116923873.html (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2022) 20 Anett Lütteken <?page no="21"?> „ Franz Otto “ [= Otto Spamer] 43 (1820 bis 1886) herausgegebene Band Das große Jahr 1870 gelten. 44 Neben kolorierten Illustrationen (wie z. B. „ Die Deutschen zum dritten Male vor Paris “ ) finden sich hier Ansätze zu einer Mytheme und Motive verschränkenden und dadurch bezüglich der Aussage potenzierenden patriotischen Lesart. Typisch ist das Werk aber auch im Kontext des Verlagsprogramms des Autodidakten Spamer, der die steigenden Bildungsbedürfnisse breiterer Bevölkerungskreise als ökonomische Chance begriff und diesen, nach einigen Anlaufschwierigkeiten erfolgreich vor allem durch eine Vielzahl einschlägiger „ Jugendschriften “ und Reihen nachzukommen suchte. 45 Damit erschloß er sich federführend einen lukrativen Markt, der zwischen Reichsgründung und Jahrhundertwende mit zahlreichen, einschlägig konnotierten Publikationen in hohen Auflagenzahlen bedient wurde. 46 Der Band Das große Jahr 1870 steht unter einem Motto von Ernst Moritz Arndt. Neben Theodor Körner, der jahrzehntelang als Sinnbild für den ehrenvollen Heldentod für das Vaterland galt, gehörte Arndt zu den mit Abstand meistzitierten Autoren in Publikationen dieser weltanschaulichen Ausrichtung. 47 Zitiert wurde hier eingangs eine Strophe aus dem Gedicht Deutscher Trost: 43 Vgl. Ferdinand Schmidt / Franz Otto [= Otto Spamer]: Kaiser Wilhelm, der Wiederhersteller des Deutschen Reiches und seine Zeit. Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk. Leipzig 1878 f. Roland Stark notiert, dass der Verlag zwischen „ 1860 und 1880 “ „ eine führende Position in der dt. Jugendliteratur “ zukam, „ die auch durch eine Reihe von Auszeichnungen gewürdigt wurde “ , s. Roland Stark: Spamer, Otto. In: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 620 - 621, hier S. 621. URL: https: / / www.deutsche-biographie.de/ pnd117480371.html (zuletzt abgerufen am 5. Januar 2022) 44 Oskar Höcker / Franz Otto [= Otto Spamer] (Hrsg.): Neues Vaterländisches Ehrenbuch. Große Tage aus Deutschlands neuester Geschichte. Ein Gedenkbuch an die wichtigsten Ereignisse des nationalen Krieges im Jahre der deutschen Einigung. Berlin / Leipzig 1871. [Otto Spamer ’ s Jugend- und Hausbibliothek; Dritte Serie; Bd. 11]. 45 Zum Konzept Spamers vgl. Ute Dettmar [u. a.]: „ Kinder- und Jugendbuchverlag. “ In: Georg Jäger (Hrsg.): Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2003. (Bd. 1: Das Kaiserreich 1871 - 1918), S. 105 - 163, hier S. 129 - 132. 46 Vgl. auch Fedor von Köppen: Das Deutsche Reich. Von der Maas bis an die Memel - Von den Alpen bis zum Belt. Volks- und Vaterlandskunde für die deutsche Jugend. Leipzig 1894. Poesien werden hier u. a. zur Erläuterung der Eigenart der deutschen ‚ Stämme ‘ und Landschaften verwendet, vgl. z. B. S. 15, 29 (Hermann Lingg über Bayern, Schwaben), S. 17, 45 (Max von Schenkendorff über Nürnberg, den Schwarzwald), S. 44 f. zur Rhein- Thematik usw. 47 Vgl. die aus ‚ großdeutscher ‘ Perspektive angelegte Lied-bzw. Lyrik-Sammlung: Rudolf Marggraff (Hrsg.): Das ganze Deutschland soll es sein! Großdeutsches Liederbuch. Kriegs-, Siegs-, Mahn- und Spottlieder der Deutschen von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis jetzt. München 1861, sowie die „ Vorrede aus Schutz und Trutz “ , S. V - XXXVIII. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 21 <?page no="22"?> Deutsche Freiheit, deutscher Gott, Deutscher Glaube ohne Spott, Deutsches Herz und deutscher Stahl - Sind vier Helden allzumal. 48 Solche Bezugnahme auf Texte aus diesem, der Schilderung des Freiheitskampfs wie der Befreiung von den nationalen Traumata ‚ Napoleon ‘ und Besetzung durch eine fremde Armee sowie der Kennzeichnung Frankreichs als des ‚ Erbfeindes ‘ geltenden Subkanon deutscher Literatur ist in diesem Genre Standard. 49 Konkret hatte sie u. a. die Funktion, eine heute profund unterschätzte Traditionslinie, nämlich die im kollektiven Bewusstsein schmerzhaft verankerte Erfahrung hoher Kriegsverluste als generationsübergreifend zu bereinigende nationale Schmach insistierend aufzurufen. Diese Traditionslinie spannt sich (ursprünglich ausgehend von den Verwüstungen im Gefolge des Pfälzischen Erbfolgekriegs [1688 bis 1697]) von 1813, häufig unter Hinweis auf die „ Völkerschlacht bei Leipzig “ und mit Bekenntnis zur Turner-Tradition, 50 über den Deutsch-Dänischen Krieg 51 der 1860er Jahre und das Gedenkjahr der Befreiungskriege 1863 52 bis hin zur Reichsgründung 1871. 53 Darüber hinaus reichte sie weiter bis zum 100. Gedenkjahr 1913, in dem u. a. das zur „ Erinnerung an den Geist der Freiheitskriege der Jahre achtzehnhundertunddreizehn, -vierzehn und -fünfzehn “ konzipierte, vorsichtig gesagt, etwas krude Festspiel in deutschen Reimen von Gerhart Hauptmann in Breslau aufgeführt wurde. 54 48 Ernst Moritz Arndt: Deutscher Trost. 1813. In: ders.: Gedichte. Vollständige Sammlung. Berlin 1860, S. 247 f. 49 Vgl. Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812 - 1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur. Stuttgart 1991. [Germanistische Abhandlungen; 65]. 50 Vgl. z. B. Eduard Große: Friedrich Friesen. Der deutsche Heldenjüngling und Freiheitskämpfer. In: Feste der wehrhaften Jugend. Leipzig 1869. [Welt der Jugend; Nr. 20]. 51 Allgemein hierzu: Christoph Jahr: Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang: 1864 - 1871. München 2020. 52 Vgl. die ebenfalls bei Otto Spamer erschienene und wiederum „ der deutschen Jugend “ gewidmete Publikation: Eduard Grosse / Franz Otto (Hrsg.): Vor fünfzig Jahren. Die Befreiung Deutschlands durch die Völkerschlacht bei Leipzig. Patriotische Bilder aus dem Jahre 1813. Leipzig 1863. Bevorzugt zitiert wird hier Theodor Körner (S. 5, 14 f., 25 f., 43, 55, 63); rekurriert wird aber auch auf Max von Schenkendorf und Friedrich Rückert (S. 27), TheodorApel (S. 50 f., 61), Ernst Moritz Arndt (S. 92, 113), Friedrich Förster (S. 112) sowie mit Blick auf 1863 Ludwig Uhland (S. 118) und Emanuel Geibel (S. 120) und andere; vgl. Ludwig Dill: Vaterländische Gedichte aus dem Jahre 1870/ 71. Eichstätt 1872. 53 Vgl. Oskar von Redwitz: Das Lied vom neuen deutschen Reich. Eines ehemaligen Lützow ’ schen Jägers Vermächtniß an ’ s Vaterland. Berlin 1871. 54 Gerhart Hauptmann: Festspiel in deutschen Reimen. Berlin 1913; hierzu: Wilhelm Wundt: Erklärung über Gerhard[! ] Hauptmanns Jahrhundertfestspiel. In: Leipziger Tageblatt, 1. Juli 1913; vgl. Ernst Lissauer: 1813. Ein Cyklus. Jena 1913; Richard Kralik: 22 Anett Lütteken <?page no="23"?> Zurück aber zu Höcker und Spamer: Auf den insgesamt dreihundert Seiten ihrer Rückschau auf das „ große “ Jahr 1870 reicherten sie die Argumentation bzw. die Nachrichten über den „ Kampf gegen den alten bösen Erbfeind “ dem Motto entsprechend flächendeckend mit patriotischer Lyrik an. 55 So liefert Arndt (als „ Ein Geisterruf aus großer Zeit. “ ) auch den Einstieg unter dem Titel In Frankreich hinein! Der viermal wiederholte Refrain „ So klinge die Losung: Zum Rhein! über ’ n Rhein! / All-Deutschland in Frankreich hinein! “ wurde so zur konzeptionellen Leitlinie des gesamten Bandes. 56 Diesem Auftakt folgen ca. neunzig eingelegte Gedichte. Kleinteilig abgebildet wurde damit in kompakter Form ein flächendeckend konsensfähiger Kanon patriotischer Texte, der hier von Ferdinand Stolles Germania, du schöne Braut 57 bis zu Ludwig Uhlands Am 18. Oktober 1816 reicht. 58 Eine typologische Sichtung der verwendeten Poesien zeigt verschiedene Funktionsmuster: Neben Texten, die ganz konkret auf einzelne Ereignisse von 1870/ 71 bezogen werden (wie z. B. auf die Eroberung von Straßburg am 28. September 1870) 59 , finden sich häufig zitierte und allgemeine patriotische Befindlichkeiten idealtypisch formulierende Texte (wie z. B. Max Schneckenburgers, zeitweilig fast als Nationalhymne geltende Poesie Die Wacht am Rhein! ). 60 Diese topoigesättigte Lyrik-Auswahl wird darüber hinaus punktuell durch die Beigabe ‚ klassischer ‘ Sentenzen zu Zwecken der Charakteranalyse politischer Akteure ergänzt. Dies geschieht z. B. mit Blick auf Napoleon III. mittels eines Spruches aus Shakespeares Macbeth (I,7): „ Ich habe nichts, zu spornen meinen Vorsatz / Als Ehrgeiz, der sich in den Sattel schwingt. “ 61 Es versteht sich, dass eine derart poesiegestützte Historiographie nicht ohne Friedrich Schiller auskommen konnte: Das Kapitel „ Das Ende des Kaiserreichs Die Befreiungskriege 1813. Festschrift zur Jahrhundertfeier. Von der Gemeinde Wien ihrer Jugend dargeboten. Wien 1913. 55 Vor fünfzig Jahren (Anm. 52), Vorrede, S. V.; vgl. zu den häufig verwendeten Mythemen der „ Vorrede “ (Kyffhäuser, Germania usw.) auch Lothar Gall: Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 2 (1993), S. 37 - 88. 56 Höcker / Spamer: Gedenkbuch (Anm. 44), S. 1 f. 57 Ebd., S. 3. 58 Ebd., (4. Auflage 1886), S. 5 und S. 474; vgl. Ludwig Uhland: Am 18. Oktober 1816. In: ders.: Sechs vaterländische Gedichte. Würtemberg 1816, S. 6 - 9. 59 Höcker / Spamer, Gedenkbuch (Anm. 44) (4. Aufl. 1886), S. 230: „ Geschütze donnern, Glocken schallen, / Die Fahnen wehen feierlich! / Ja, Strasburgs Thore öffnen sich, / Des Franken Bollwerk ist gefallen, / Bald folgt Paris und Metz; es wendet / Zum eig ’ nen Unheil sich vollauf / Der welsche Frevel; groß vollendet / Das deutsche Heer den Siegeslauf. “ 60 Ebd., S. 24. 61 Ebd., S. 42. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 23 <?page no="24"?> und die dritte Republik in Paris “ wird demgemäß durch einen längeren Abschnitt aus der Glocke, beginnend mit: „ Wo rohe Kräfte sinnlos walten [ … ] “ eindeutig ausgedeutet. 62 Bleiben noch „ Deutsche Weihnachten vor Paris “ zu erwähnen: Auch sie werden durch Verse ebenso plastisch wie rührselig vermittelt, nämlich durch die Gegenüberstellung von Daheimgebliebenen und den im Feld befindlichen Soldaten: Im Schnee, und Frost und bitt ’ rer Kälte. Liegt vor Paris das deutsche Heer; Baracken schützen kaum und Zelte Des Vaterlandes Stolz und Wehr. Und während hier am Tannenbaume Strahlt tausendfacher Lichter Glanz, Spielt dort der Tod im Lagerraume Mit donnerndem Geschütz zum Tanz. 63 Jederzeit kampfbereit! 64 oder Fernwirkungen der Jugendliteratur des Kaiserreichs Ausdrücklich zu betonen ist an dieser Stelle nochmals, dass die derart in Dienst genommene Literatur definitiv kein Nischen-Produkt des Buchhandels war. Allein das „ Ehrenbuch “ Das große Jahr 1870 wurde bis 1886 viermal aufgelegt. Der mitwirkende Oskar Höcker hat darüber hinaus ein umfangreiches Werk für jugendliche Leser hinterlassen, in der Reihe „ Der deutsche Jugendfreund “ ebenso wie in Form von zahlreichen, thematisch einschlägigen Monographien. Es bleibt noch zu klären, wie viel Verantwortung an der weltanschaulichen Prägung der jungen Generation des Kaiserreichs Meistern der patriotischen Versatzstückkomposition wie Höcker und Spamer zuzuweisen oder auch anzulasten ist. Unübersehbar waren sie Vorbereiter der Kriegsverherrlichung, wozu sie hässliche Feindbilder schufen, um das komplexe Narrativ der deut- 62 Ebd., S. 229; vgl. Oskar Höcker: Deutsche Treue, welsche Tücke. Kulturgeschichtliche Erzählung aus der Zeit der großen Revolution, der Knechtschaft und der Befreiung. Für die reifere Jugend. Leipzig 1881. Das Schiller-Motto des Bandes lautet: „ Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen. “ (Wilhelm Tell, IV.2). 63 Höcker / Spamer: Gedenkbuch (Anm. 44), S. 352. 64 Vgl. Oskar Höcker / Arnold Ludwig: Jederzeit kampfbereit! Geschichtliche und militärische Bilder von der Entwickelung der deutschen Wehrkraft. Der deutschen Jugend, dem deutschen Volke und dem deutschen Heere gewidmet und unter Mitwirkung militärischer Fachmänner geschildert. 2. Auflage. Leipzig [1893]; s. auch die Kauf- Empfehlung im Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1893), S. 487 f. 24 Anett Lütteken <?page no="25"?> schen Nation jungen Menschen nahezubringen. Dabei standen weder Höcker noch Spamer in der ersten Reihe der literarischen Prominenz des Zeitalters, auf die man bis heute gewohnt ist zu schauen. Mehr als kompensiert wurde dieses Defizit freilich durch den enormen Wirkungsgrad ihrer zahlreichen Publikationen. Hinzu kommt, dass sie reichlich Verlockendes an die jugendlichen Leser zu vergeben hatten: Die schön illustrierte und komplexitätsreduzierte Mär von der Größe deutscher Nation, von den sie umstellenden Feinden, die, solange „ deutsche Jünglinge und Männer Helden “ sind, „ an Germanias Panzer [ … ] abprallen “ . Diese Mär vom vermeintlich allein durch „ deutsche Kraft und deutsche Einigkeit “ ermöglichten „ Völkerfriede[n] “ wird nicht Wenige auf Irrwege geleitet haben. 65 Auch diese leiseren Stimmen des Zeitalters also sollten wegen ihres kaum übersehbaren unguten Beitrags zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs nicht unterschätzt werden: Mittels ihrer Publikationen haben Autoren wie Höcker und Spamer (und mit ihnen zahlreiche weitere) junge Leser willentlich weltanschaulich manipuliert. Sie haben ihnen Militarismus und Nationalismus als Ideale vorgegaukelt und Krieg als ein legitimes Mittel der Politik. Schuldig kann man auf vielerlei Weise werden, auch durch Literatur. 65 Höcker / Spamer: Gedenkbuch (Anm. 44) (4. Aufl. 1886), S. VI: Die Autoren betonen in ihrer Vorrede, dass sie „ gern unser Scherflein beitragen wollten zur Weiterpflege mannhafter Gesinnung bei unsrer Jugend. Ist es uns gelungen, durch unser Wort das aufwachsende Geschlecht zur Nachahmung preiswürdigen Thuns anzufeuern und edle Sinnesart zu festigen, dann wäre unserm Bemühen reichlicher Lohn zu teil geworden! Von ihm erwarten wir, daß auch es dereinst, sollten dem Vaterlande neue Gefahren drohen, für die Ehre und Größe desselben willig Gut und Blut einsetze. “ Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/ 71 im Spiegel zeitgenössischer Lyrik 25 <?page no="27"?> Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 1 Emanuel Geibel Kriegslied. (Juli 1870.) Empor, mein Volk! Das Schwert zur Hand! Und brich hervor in Haufen! Vom heil ’ gen Zorn ums Vaterland Mit Feuer laß dich taufen! Der Erbfeind beut dir Schmach und Spott, Das Maß ist voll, zur Schlacht mit Gott! Vorwärts! Dein Haus in Frieden auszubaun, Stand all dein Sinn und Wollen, Da bricht den Hader er vom Zaun Von Gift und Neid geschwollen. Komm ’ über ihn und seine Brut Das frevelhaft vergoßne Blut! Vorwärts! Wir träumen nicht von raschem Sieg, Von leichten Ruhmeszügen, Ein Weltgericht ist dieser Krieg, Und stark der Geist der Lügen. Doch der einst unsrer Väter Burg, Getrost, er führt auch uns hindurch! Vorwärts! 1 Quelle: Emanuel Geibel: Heroldsrufe. Aeltere und neuere Zeitgedichte. Stuttgart 1871, S. 180 - 205. <?page no="28"?> Schon läßt er klar bei Tag und Nacht Uns seine Zeichen schauen, Die Flammen hat er angefacht In allen deutschen Gauen. Von Stamm zu Stamme lodert ’ s fort: Kein Mainstrom mehr, kein Süd und Nord! Vorwärts! Voran denn, kühner Preußenaar, Voran durch Schlacht und Grausen! Wie Sturmwind schwellt dein Flügelpaar Vom Himmel her ein Brausen, Das ist des alten Blüchers Geist, Der dir die rechte Straße weist. Vorwärts! Flieg, Adler, flieg! Wir stürmen nach, Ein einig Volk in Waffen. Wir stürmen nach, ob tausendfach Des Todes Pforten klaffen. Und fallen wir: Flieg, Adler, flieg! Aus unsrem Blute wächst der Sieg. Vorwärts! Ein Psalm wider Babel. (Juli 1870.) Nun ist geschürzt vom Bösen Der Knoten also fein, Kein Rat mehr kann ihn lösen, Er muß zerhauen sein. Ihr habt verworfen den Frieden, Den treuer Sinn euch bot, So soll euch sein beschieden Streit und Jammer und Not. Den ihr, bekränzt die Schläfen, Gebraut, den Greueltrank, Bis auf die letzten Hefen Sollt ihr ihn leeren zum Dank. 28 Emanuel Geibel <?page no="29"?> Lobsingt nur eurem Götzen In frechem Gaukelspiel! Der Herr wird kommen und setzen Dem wüsten Rausch ein Ziel! Sein Odem Sturm des Krieges, Der die Heerscharen fegt, Sein Schwert ein Schwert des Sieges, Das allen Frevel schlägt! Finster wird sein die Erde Und der Himmel voll Glut, Bis an die Zäume der Pferde Steigen wird das Blut. Die Ströme werden weichen Aus ihren Ufern zur Frist, Weil mit Schutt und Leichen Ihr Bett verdämmet ist. Es wird zertreten der Rächer Die Stätten, da ihr sitzt, Daß durch die krachenden Dächer Hochauf die Lohe spritzt. Und Heulen wird sein auf den Gassen Und Hunger Haus bei Haus, Indes die Wölfe prassen Und die Geier am Schmaus. Das aber mag nicht enden, Bis ihr dem Lügengeist Abschwört und von den Lenden Das Kleid der Hoffart reißt; Bis ihr in Reu ’ vernichtet Aus eurem Herzeleid Zum Herrn, der euch gerichtet, Um Gnad ’ und Sühnung schreit. Erst wenn aufs Knie gebogen Ihr euch bekannt zur Schuld, Wird Er der Zornflut Wogen Zerrinnen lassen in Huld. Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 29 <?page no="30"?> Sanftleuchtend auf der Wolke Mag dann der Bogen stehn, Und am zerschlagnen Volke Barmherzigkeit geschehn. Dann mag verwandelt werden Das Schwert zum Palmenzweig, Und Friede wird sein auf Erden, Und kommen wird das Reich. Deutsche Siege. 2 (August 1870.) Habt ihr in hohen Lüften Den Donnerton gehört Von Forbach aus den Klüften, Von Weißenburg und Wörth? Wie Gottes Engel jagen Die Boten her vom Krieg: Drei Schlachten sind geschlagen, Und jede Schlacht war Sieg. Preis euch, ihr tapfern Bayern Stahlhart und wetterbraun, Die ihr den Wüstengeiern Zuerst gestutzt die Klau ’ n! Mit Preußens Aar zusammen Wie trutztet ihr dem Tod, Hoch über euch in Flammen Des Reiches Morgenrot! Und ihr vom Gau der Chatten Und ihr vom Neckarstrand Und die aus Waldesschatten Thüringens Höh ’ n gesandt, Ihr bracht, zum Keil gegliedert, Der Prachtgeschwader Stoß; Traun, was sich so verbrüdert, Das läßt sich nimmer los. 2 Es geht um die Schlachten von Spichern bei Forbach (6. August 1870), Weißenburg im Elsass (4. August 1870) und Wörth im Elsass (6. August 1870). 30 Emanuel Geibel <?page no="31"?> Und die ihr todverwegen, Von Leichen rings umtürmt, Im dichten Eisenregen Den roten Fels erstürmt, Wo blieb vor euch das Pochen Auf Frankreichs Waffenruhm? Sein Zauber ist gebrochen, Nachbricht das Kaisertum. So sitzt denn auf, ihr Reiter, Den Rossen gebt den Sporn Und tragt die Losung weiter: Hie Gott und deutscher Zorn! Schon ließ der Wolf im Garne Ein blutig Stück vom Vlies, Die Maas hindurch, die Marne, Auf, hetzt ihn bis Paris! Und ob die wunden Glieder Mit der Verzweiflung Kraft Er dort noch einmal wieder Empor zum Sprunge rafft: Dich schreckt nicht mehr sein Rasen, O greiser Heldenfürst! Laß die Posaunen blasen, Und Babels Feste birst. Der feigen Welt zum Neide Dann sei dein Werk vollführt. Und du, nur du entscheide Den Preis, der uns gebührt! Es stritt mit uns im Gliede Kein Freund als Gott allein, So soll denn auch der Friede Ein deutscher Friede sein. Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 31 <?page no="32"?> An der Mosel. 3 (August 1870.) Wo der Mosel dunkle Wellen Um ihr felsig Ufer schwellen, Schweigt zum drittenmal die Schlacht, Und die feuchten Winde tragen Lobgesang und Totenklagen Fernverhallend durch die Nacht. Unsre Siegesbanner wogen, Doch die Bahn, die sie durchflogen, Ist von teurem Blute rot; Wo der Eisenregen sprühte, Sank in Garben, ach, die Blüte Unsrer Jugend in den Tod. O wie viel verwaiste Herzen Nennen euch hinfort mit Schmerzen, Mars-la-Tour und Gravelotte! Bleiche Fraun, zum Tod bekümmert, Bräute, deren Glück zertrümmert, Greise Mütter, tröst ’ euch Gott! Aber euch, ihr treuen Toten, Sei der Brüder Schwur entboten, Zorn ’ ge Tränen rinnen drein: Nimmer soll, das ihr vergossen, Euer Blut umsonst geflossen, Nimmer soll ’ s vergessen sein! Eures heil ’ gen Willens Erben Schwören wir auf Sieg und Sterben Treu zu stehn in Wacht und Schlacht: Keiner soll der Rast gedenken Noch das Schwert zur Scheide senken, Bis das große Werk vollbracht; Bis des Erbfeinds Trutz vernichtet, Bis das Bollwerk aufgerichtet, Das die Zukunft schirmt der Welt, 3 Die Schlachten von Mars-la-Tour (16. August 1870) und vor allem Gravelotte (18. August 1870) brachten den Deutschen zwar Siege, aber waren mit erheblich schwereren Opfern und Verlusten als bei den vorangegangenen Gefechten verbunden. 32 Emanuel Geibel <?page no="33"?> Und mit rauschendem Gefieder Über euren Gräbern wieder Deutschlands Aar die Grenzwacht hält. Am dritten September. 4 (1870.) Nun laßt die Glocken Von Turm zu Turm Durchs Land frohlocken Im Jubelsturm! Des Flammenstoßes Geleucht facht an! Der Herr hat Großes An uns getan. Ehre sei Gott in der Höhe! Es zog von Westen Der Unhold aus, Sein Reich zu festen In Blut und Graus; Mit allen Mächten Der Höll ’ im Bund Die Welt zu knechten, Das schwur sein Mund. Furchtbar dräute der Erbfeind. Vom Rhein gefahren Kam fromm und stark Mit Deutschlands Scharen Der Held der Mark. 5 Die Banner flogen, Und über ihm In Wolken zogen Die Cherubim. Ehre sei Gott in der Höhe! 4 Am 1./ 2. September 1870 fand die den Krieg maßgeblich entscheidende Schlacht von Sedan statt, in welcher der französiche Kaiser Napoleon III. in deutsche Gefangenschaft geriet. Der 2. September war im Deutschen Kaiserreich als „ Sedantag “ - nicht unumstritten - quasi der Nationalfeiertag. 5 Gemeint ist der preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke (1800 bis 1891). Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 33 <?page no="34"?> Drei Tage brüllte Die Völkerschlacht, Ihr Blutrauch hüllte Die Sonn ’ in Nacht. Drei Tage rauschte Der Würfel Fall, Und bangend lauschte Der Erdenball. Furchtbar dräute der Erbfeind. Da hub die Wage Des Weltgerichts Am dritten Tage Der Herr des Lichts Und warf den Drachen Vom güldnen Stuhl Mit Donnerkrachen Hinab zum Pfuhl. Ehre sei Gott in der Höhe! Nun bebt vor Gottes Und Deutschlands Schwert Die Stadt des Spottes, Der Blutschuld Herd. Ihr Blendwerk lodert Wie bald! zu Staub, Und heimgefodert Wird all ihr Raub. Nimmermehr dräut uns der Erbfeind. Drum laßt die Glocken Von Turm zu Turm Durchs Land frohlocken Im Jubelsturm! Des Flammenstoßes Geleucht facht an! Der Herr hat Großes An uns getan. Ehre sei Gott in der Höhe! 34 Emanuel Geibel <?page no="35"?> Trinkspruch am 26. October 1870. 6 Stoßt an im Saft der besten Reben! Stoßt an: Land Mecklenburg soll leben, Land Mecklenburg mit Schwert und Pflug! Die Perle gab es uns der Frauen Und jenes Paar mit greisen Brauen, Das unsres Ruhmes Schlachten schlug. Schon wallt sie längst im Paradiese, Die hohe Königin Luise, Die Deutschlands starken Hort gebar, Doch flammend steht ’ s in tausend Herzen, Wie sie zur Zeit der Schmach und Schmerzen Der Engel ihres Volkes war. Und wollt ihr nach den Helden fragen: Vom Marschall Vorwärts laßt euch sagen, Dem blanksten Schwert des Vaterlands; Die Welt durchhallten seine Siege, Doch nie zu Rostock seiner Wiege Vergaß der Greis im Lorbeerkranz. Den andern kennt ihr auch, den Alten, Der hoch und ernst, die Stirn in Falten, Ein Hüter wacht an Preußens Thron. Das ist des Kriegsgotts Wagenlenker, Das ist der kühne Schlachtendenker, Der Schweiger Moltke, Parchims Sohn. Drum stoßt im Saft der besten Reben, Stoßt an: Land Mecklenburg soll leben, Land Mecklenburg mit Schwert und Pflug! Die Perle gab es uns der Frauen Und jenes Paar mit greisen Brauen, Das unsres Ruhmes Schlachten schlug. 6 Am 26. Oktober 1870 war der siebzigste Geburtstag von Helmuth von Moltke (vgl. Anm. 4), der aus Mecklenburg stammte. Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 35 <?page no="36"?> Der Ulan (October 1870.) Frühmorgens um vier, eh die Hähne noch kräh ’ n, Da sattelt sein Roß der Ulan Und reitet, den Feind und das Land zu erspäh ’ n, Den Waffengenossen voran. Hinjagt er durchs Blachfeld und pirscht durch den Forst, Hoch flattert sein Fähnlein im Wind, Und er lugt von der Höh ’ wie der Falke vom Horst Und wählt sich die Straße geschwind. In das sonnige Städtchen da sprengt er hinein, Am Rathaus hält er in Ruh ’ : „ Herr Maire, nun schenkt mir vom schäumenden Wein Und ein Frühstück gebt mir dazu! Und schafft mir die prächtigen Rinder daher, Die am Tor auf den Weiden ich sah, Und Hafer für zwanzig Schwadronen, Herr Maire, Denn die Preußen, die Preußen sind da. “ Hei lustige Streife! Hei köstlicher Scherz, Wenn der Maire seine Bücklinge macht! Doch freudiger wächst dem Ulanen das Herz, Wenn die Schlacht durch die Ebene kracht; Wenn, die Zügel verhängt und die Lanz ’ in der Faust, Das Geschwader mit stiebendem Huf Auf den eisernen Rechen des Fußvolks braust Unter schallendem Hurraruf. Wohl spein die Haubitzen Verderben und Tod, Wohl deckt sich mit Leichen die Bahn, Und die Luft wird wie Blei, und die Erde wird rot, Doch vorwärts stürmt der Ulan. Und rinnt auch das Blut von den Schläfen ihm warm: Durch Geknatter und Kugelgesaus Kühn setzt er hinein in den dichtesten Schwarm Und holt sich den Adler heraus. 36 Emanuel Geibel <?page no="37"?> Und „ Viktoria “ schallt ’ s durchs Getümmel herauf, Schon wanken die feindlichen Reihn, Und das Wanken wird Flucht, und die Flucht wird Lauf, Der Ulan, der Ulan hinterdrein. Hinterdrein durch den Fluß, wo die Brücke verbrannt, Durch das Dorf, das der Bauer verließ, Mit Gott für König und Vaterland Hinterdrein, hinterdrein bis Paris. Dort gibt ’ s einen Tanz noch im eisernen Feld, Bis der Franzmann den Atem verliert, Und Wilhelm der Sieger, der eisgraue Held, Im Louvre den Frieden diktiert. Doch wenn dann die blutige Arbeit getan, Und die Stunde der Heimkehr erschien, Wie reitet so stattlich im Glied der Ulan Am Einzugstag in Berlin! Da steht an den Linden die rosigste Dirn ’ , Und sie jubelt vor Stolz und vor Lust: „ O wie lieb ’ ich dich erst um die Narb ’ auf der Stirn Und das Eiserne Kreuz auf der Brust! “ An Deutschland 7 (Januar 1871.) Nun wirf hinweg den Witwenschleier, Nun gürte dich zur Hochzeitsfeier, O Deutschland, hohe Siegerin! Die du mit Klagen und Entsagen Durch vierundsechzig Jahr ’ getragen, 8 Die Zeit der Trauer ist dahin; Die Zeit der Zwietracht und Beschwerde, Da du am durchgeborstnen Herde Im Staube saßest tiefgebückt, 7 Am 1. Januar 1871 trat offiziell die Verfassung des zum föderalen Nationalstaat erweiterten Deutschen Bundes in Kraft. In der populären Sicht wurde die Proklamation von Wilhelm I. als deutschem Kaiser am 18. Januar 1871 im Palast von Versailles zum Tag der Reichsgründung stilisiert. 8 Gemeint ist die Niederlage Preußens gegen Napoleon im Vierten Koalitionskrieg 1806/ 07. Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 37 <?page no="38"?> Und kaum dein Lied mit leisem Weinen Mehr fragte nach den Edelsteinen, Die einst dein Diadem geschmückt. Wohl glaubten sie dein Schwert zerbrochen, Wohl zuckten sie, wenn du gesprochen, Die Achsel kühl im Völkerrat, Doch unter Tränen wuchs im stillen Die Sehnsucht dir zum heil ’ gen Willen, Der Wille dir zur Kraft der Tat. Und endlich satt, die Schmach zu tragen, Zerrissest du in sieben Tagen Das Netz, das tödlich dich umschnürt, Und heischtest, mit beerztem Schritte Hintretend in Europas Mitte, Den Platz zurück, der dir gebührt. Und als der Erbfeind dann, der Franze, Nach deiner Ehren jungem Kranze Die Hand erhub von Neid verzehrt, Zur Riesin plötzlich umgeschaffen Wie stürmtest du ins Feld der Waffen, Behelmte, mit dem Flammenschwert! O große, gottgesandte Stunde, Da deines Haders alte Wunde Die heil ’ ge Not auf ewig schloß, Und wunderkräftig dir im Innern Aus alter Zeit ein stolz Erinnern, Ein Bild zukünft ’ ger Größe sproß! Wie Erz durchströmte deine Glieder Das Mark der Nibelungen wieder, Der Geist des Herrn war über dir, Und unterm Schall der Kriegsposaunen Aufpflanztest du, der Welt zum Staunen, In Frankreichs Herz dein Siegspanier. Da war dir bald, mit Blut beronnen, Des Rheins Juwel zurückgewonnen, Dein Kleinod einst an Kunst und Pracht, Und dessen leuchtend Grün so helle In Silber faßt die Moselwelle, Der lotharingische Smaragd. 38 Emanuel Geibel <?page no="39"?> O laß sie nicht verglühn im Dunkeln! Verjüngten Glanzes laß sie funkeln Ins Frührot deiner Osterzeit! Denn horch, schon brausen Jubellieder, Und über deinem Haupte wieder Geht auf des Reiches Herrlichkeit. Durch Orgelton und Schall der Glocken Vernimmst du deines Volks Frohlocken? Den Heilruf deiner Fürstenschar? Sie bringen dir der Eintracht Zeichen, Die heil ’ ge Krone sondergleichen, Der Herrschaft güldnen Apfel dar. Auf Recht und Freiheit, Kraft und Treue Erhöhn sie dir den Stuhl aufs neue, Drum Barbarossas Adler kreist, Daß du, vom Fels zum Meere waltend, Des Geistes Banner hoch entfaltend, Die Hüterin des Friedens seist. Drum wirf hinweg den Witwenschleier! Drum schmücke dich zur Hochzeitsfeier, O Deutschland, mit dem grünsten Kranz! Flicht Myrten in die Lorbeerreiser! Dein Bräut ’ gam naht, dein Held und Kaiser Und führt dich heim im Siegesglanz. Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 39 <?page no="40"?> Zur Friedensfeier 9 (18 Juni 1871.) Flammt auf von allen Spitzen, Ihr Feuer deutscher Lust, Und weckt mit euren Blitzen Ein Danklied jeder Brust! Das grause Spiel der Waffen Mit Gott ist ’ s abgetan, Und, die das Schwert geschaffen, Die Palmenzeit bricht an. Preis dem Herrn, dem starken Retter, Der nach wunderbarem Rat Aus dem Staub uns hob im Wetter Und uns heut im Säuseln naht! Nun ward in Eins geschmiedet, Was eitel Stückwerk war, Nun liegt das Reich umfriedet Vor Arglist und Gefahr. Vom Alpenglühn zum Meere, Vom Haff zur Mosel weht Das Banner deutscher Ehre In junger Majestät. Preis dein Herrn, dem starken Retter, Der nach wunderbarem Rat Aus dem Staub uns hob im Wetter Und uns heut im Säuseln naht! Wie braust von Stamm zu Stamme Ein Leben reich und stolz, Seit der Begeistrung Flamme, Was starr sich mied, verschmolz, Seit am vereinten Werke Des Südens Flügelkraft, Des Nordens klare Stärke Wetteifernd ringt und schafft! Preis dem Herrn, dem starken Retter, Der nach wunderbarem Rat 9 Der Deutsch-Französische Krieg endete formell mit der Unterzeichnung des Friedens von Frankfurt am 10. Mai 1871. Daraufhin wurde im Deutschen Reich offiziell am 18. Juni 1871 ein „ Friedens- und Dankfest “ gefeiert. 40 Emanuel Geibel <?page no="41"?> Aus dem Staub uns hob im Wetter Und uns heut im Säuseln naht! Der in der Feuerwolke Voran uns zog im Krieg, Nun send ’ er unsrem Volke Die Kraft zum letzten Sieg, Die Kraft, auch aus den Herzen Der Lüge finstre Saat, Das Welschtum auszumerzen In Glauben, Wort und Tat. Preis dem Herrn, dem starken Retter, Der nach wunderbarem Rat Aus dem Staub uns hob im Wetter Und uns heut im Säuseln naht! Zieh ein zu allen Toren, Du starker, deutscher Geist, Der aus dem Licht geboren Den Pfad ins Licht uns weist, Und gründ ’ in unsrer Mitte Wehrhaft und fromm zugleich In Freiheit, Zucht und Sitte Dein tausendjährig Reich! Preis dem Herrn, dem starken Retter, Der nach wunderbarem Rat Aus dem Staub uns hob im Wetter Und uns heut im Säuseln naht! Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 41 <?page no="43"?> Epigonen? - Emanuel Geibels „ patriotische “ Gedichte zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 im literarischen Feld ihrer Epoche Hermann Gätje, Saarbrücken Die in diesem Band abgedruckten Gedichte zum Krieg 1870/ 71 von Emanuel Geibel bilden den Schluss seines 1871 erschienenen Bandes Heroldsrufe. 1 Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Geibels Zeitgedichten aus den Jahren 1844 bis 1871. Die Gedichte sind datiert, chronologisch angeordnet und reflektieren in der Zeitfolge die politische Entwicklung in Deutschland bis zur Reichsgründung 1871. Geibel formuliert in den Texten seine Positionen zur deutschen Einigung im Allgemeinen und thematisiert konkret wesentliche Ereignisse auf dem Weg dahin, z. B. die Schlacht an den Düppeler Schanzen. Die Gedichte spiegeln Geibels glühenden Patriotismus. Seine Sympathie gilt Preußen und er äußert Kritik gegenüber den der Einigung skeptisch gegenüberstehenden Bayern, die eine preußische Dominanz fürchten. Und dieser Gedanke hat den Dichter nicht verlassen, diese Hoffnung hat ihn nicht betrogen, ja er hat es erlebt, daß König L u d w i g [von Bayern, H. G.] aus eigenem Entschlusse im J. 1871 das d a r b o t , dessen Erwähnung er vor drei Jahren aus des Sängers und Propheten Munde nicht hören konnte. Die Zeitgedichte alle, alte und neue, hat Geibel in der vorletzten seiner Schriften „ H e r o l d s r u f e “ herausgegeben. Sie zeigen auch, wie seine Leyer die Schwerter im großen Kampfe unterstützt, die Herzen entfacht zum mutigen Kampf, die Herzen emporgezogen hat zu frommem Danke. 2 Verschiedene Quellen und Zeugnisse zu dem Band verweisen darauf, dass die Gedichte zu derselben Zeit entstanden sind, auf welche sie sich beziehen. Dies lässt sich jedoch nicht immer nachprüfen. Inwieweit einzelne Texte nachträglich bearbeitet wurden, bedürfte weitergehender Forschungen, doch allein die 1 Emanuel Geibel: Heroldsrufe. Aeltere und neuere Zeitgedichte. Stuttgart 1871. 2 Heinrich Löbner: Emanuel Geibel. Eine litterarische Studie. Brandenburg an der Havel 1884, S. 57. <?page no="44"?> Konzeption des Bandes zeigt, dass alles in dem Bewusstsein des in Geibels Sicht glücklichen Endes aufgenommen und zusammengestellt wurde. Die Kompilation, Redaktion und Anordnung der Gedichte ist in einem mit der späteren Kenntnis stilisierten Spannungsbogen so angelegt, dass sie auf das von Geibel stets ersehnte Ziel hinauslaufen, das sich im Schlussgedicht des Bandes Zur Friedensfeier vollendet. Die Entwicklung dahin ist in der Gedichtsammlung strukturell als dramatisches Auf und Ab angelegt, das auch Geibels persönliche Stimmungen empathisch wiedergibt. Daher muss jedes Gedicht in einem doppelten Kontext gedeutet werden: aus seiner unmittelbaren Gegenwart und der Perspektive des Rückblicks nach dem Krieg. Die Gedichte lassen sich als Antizipation lesen, die - jedes für sich - bereits auf die spätere Vollendung der Wünsche Geibels verweisen. Aus dieser Sichtweise nimmt der Deutsch-Französische Krieg 1870/ 71 eine Schlüsselrolle ein, da er als dramatischer Schlussakt in diesem Band fungiert. Jedes Gedicht des Bandes weist auf dieser Verständnisebene eine Referenz zu dem Krieg auf. Insofern eröffnet die Sammlung eine doppelte Perspektive auf den Krieg: Einerseits lassen sich die abgedruckten Gedichte konkret und tagesaktuell im Kontext der Literatur zu dem Krieg lesen. Auf der anderen Seite bilden sie als Teil der Sammlung die letzten Stationen einer Entwicklung ab, die diesen Krieg symbolisch zu einer siegreichen Endschlacht überhöht. Emanuel Geibel wurde 1815 in Lübeck als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte in Bonn und Berlin Evangelische Theologie, Philosophie und Klassische Philologie und verkehrte freundschaftlich mit Adelbert von Chamisso, Joseph von Eichendorff und Bettina von Arnim. Nach dem Studium arbeitete er in mehreren Anstellungen, 1852 zog er nach München. Wegen seiner dezidiert pro-preußischen Haltung wurde ihm 1868 seine bayrische Pension entzogen. Er verließ München und zog wieder nach Lübeck. 1869 bekam er demonstrativ eine preußische Pension zugesprochen. Gero von Wilpert charakterisiert ihn als [e]pigonal-eklekt. Spätromantiker mit ästhet. Formvirtuosität, musikal. Wohllaut, gefälliger und korrekter klassizist. Glätte und wirklichkeitsfernem Schönheitskult ohne gehaltl. Originalität oder unmittelbare Gefühlstiefe; bürgerl. Spätklassizismus mit traditionellen Formen und Requisiten; romant.-idealist. Nationalbegeisterung, doch konservative Haltung. Begründete s. Erfolg mit volkstüml. Liedern und Gedichten ( ‚ Der Mai ist gekommen ‘ ) von sentimental-weichl. Tönen; polit.-patriot. Lyrik von deklamator. Pathos; bühnenferne und bildungsbeladene Jambentragödien. Verdient als Übs. franz. und span. Lyrik mit starkem Formtalent. Vom Naturalismus heftig angefeindet. 3 3 Gero von Wilpert: Art. Geibel, Emanuel. In: ders. (Hrsg.): Lexikon der Weltliteratur. Bd. 1: Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken. 2., erweiterte Auflage Stuttgart 1975, S. 559. 44 Hermann Gätje <?page no="45"?> Auch wenn man dieser Kritik nach der Lektüre der Kriegsgedichte spontan zustimmen mag, muss man sich sachlich vergegenwärtigen, dass sie in ihrer Argumentation und Plausibilität aus der Perspektive der literarischen Wertung und der Germanistik des Jahres 1975 nach weithin heute noch gültigen Prämissen erfolgt ist. Die Kritik an Geibel aus der Perspektive der Nachwelt spiegelt jedoch nicht die rezeptionshistorische und -ästhetische Bedeutung der Texte wider. Aus der Sichtweise der Trivialliteraturforschung liegt es nahe, Geibels große Resonanz beim Publikum mit der Sehnsucht breiter Leserschichten nach Kitsch, Sentimentalität, Unterhaltung, Affirmation zu erklären. Wenn man jedoch die geläufige Definition von Trivialliteratur heranzieht, stellt man fest, dass es sich im Falle Geibel völlig anders verhält. Helmut Kreuzer definiert Trivialliteratur als Bezeichnung des Literaturkomplexes, den die dominierenden Geschmacksträger einer Zeitgenossenschaft ästhetisch diskriminieren. Diese Diskriminierungen sind weder für die Wertungen der Wissenschaft noch für die jeweils späteren Epochen verbindlich. 4 Geibel wurde von den ‚ dominierenden Geschmacksträgern ‘ seiner Zeit nicht ‚ ästhetisch diskriminiert ‘ . Er stand in hohem Ansehen bei der Fachwelt, verkehrte in den damals einflussreichen literarischen Vereinigungen und war befreundet mit literarischen Größen seiner Zeit wie Paul Heyse. Helmut Löbner hebt in einer Würdigung nach Geibels Tod dessen große Bedeutung hervor. Indem er Geibel als Antipoden zum heute kanonisierten Heinrich Heine herausstellt, signalisiert er, dass im literarischen Feld seiner Zeit signifikante literarische Kontroversen bestanden und Positionen existierten, die nicht erst rückblickend von der Literaturgeschichte konstruiert wurden: Geibels ganze dichterische Stellung läßt sich vielleicht am besten als Reaktion gegen Heine und seine Schule fassen. Reaktion gegen Heines liederlichen Versbau bildet Geibels tadellose Form, Reaktion gegen Heines gemeine Gesinnung die Frömmigkeit und Keuschheit von Geibels Muse. Gegen den unklaren Weltschmerz setzt der Dichter seine Lebensphilosophie: [ … ] Die Zahl der Vollendeten, der Heroen in der deutschen Litteratur wird immer geringer. Das Volk sucht seine Ideale nicht mehr da, wo sie unsere Klassiker gefunden hatten. 5 Geibel selbst findet in heutigen Literaturgeschichten kaum Erwähnung. Er wird der sog. Epigonendichtung des 19. Jahrhunderts zugerechnet. Von Wilpert definiert Epigonendichtung als 4 Helmut Kreuzer: Trivialliteratur als Forschungsproblem. Zur Kritik des deutschen Trivialromans seit der Aufklärung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), S. 173 - 191, hier S. 185. 5 Löbner (Anm. 2), S. 36 f. Epigonen? 45 <?page no="46"?> allg. die auf große schöpferische Epochen folgende Dichtung, die das Erbe der vergangenen Generation unter dem Eindruck ihrer hohen Leistungen ohne eigene Schöpferkraft nachahmt. Sie bringt es leicht zu formaler Beherrschung der erprobten Technik und erreicht dank der Langsamkeit geistiger Entwicklung bei der breiten Masse zeitweilig große Erfolge, bleibt jedoch ohne Sinn für das organisch Gewachsene des Gehalts und unfähig zum Gestalten eigener Probleme. 6 Auch hier kontrastiert von Wilperts negative Wertung die Gegenwart Geibels. Der Begriff des Epigonen wurde im Sinne der Nachfolge der Klassiker Goethe und Schiller sowie des Idealismus ambivalent gedeutet. Er geht als Selbstbezeichnung zurück auf Karl Immermanns Roman Epigonen (1836). Einerseits betont der Begriff die Tragik einer Generation, die die großen geistigen Leistungen der Väter nicht übertreffen kann, andererseits evoziert sie ein Paradigma, diese Ideale weiterzutragen und die geschaffenen Formen zu vollenden. Auch Emanuel Geibel greift den Begriff in einem Gedicht auf: Epigonen. Ich kam in einen grünen Hain, Viel Eichen standen in der Runde, Durch die gewölbte Laubrotunde Floß goldner Sonnenglanz herein; Da streckt ’ ich mich ins Gras zur Ruh' Und sah dem Spiel der Blätter zu. Nach fünfzig Jahren kam ich wieder, Doch mocht ’ ich andres da erschaun: Die schönen Wipfel lagen nieder, Die Stämme waren ausgehaun; Statt dessen blühten in der Rund' Viel tausend Blümlein, klein, doch bunt. Und weil die Eichen nun verschwunden, Brüsten sich stolz die Blümelein, Und meinen gar in manchen Stunden, Sie möchten selbst wohl Eichen sein. 7 Auch wenn das Gedicht in seiner allegorischen Bedeutung schlüssig erscheint, wirft es im Hinblick auf seinen Entstehungskontext und den Begriff des Epigonen die Frage auf, ob Geibel auf sich selbst als Autor und Zeitgenossen verweist. Der Text beschreibt das Sterben einstiger Größen und beklagt die 6 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 6., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart 1979, S. 221. 7 Emanuel Geibel: Gedichte. Erste Periode. Einundsechzigste Auflage. Stuttgart 1867, S. 111. 46 Hermann Gätje <?page no="47"?> Anmaßung der unbedeutenden Nachkommenschaft. Es liegt nahe, den Text als programmatisch, autopoetologisch oder selbstreferentiell zu deuten. Er mag als Selbstbesinnung des Autors und Appell an die Dichter seiner Zeit interpretierbar sein, die Demut vor den großen Vorbildern zu bewahren. So gesehen signalisiert das Gedicht Bescheidenheit, doch wirkt der Gestus des lyrischen Ichs jovial-belehrend. In dem Sammelband Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie widmet sich Jürgen Link Emanuel Geibel mit besonderem Fokus auf dessen Verhältnis zu seiner Zeit. Er konstatiert in Literaturgeschichten die weitgehend verbreitete Beurteilung der Lyrik im 19. Jahrhundert insgesamt als eine „ Periode der Stagnation “ . 8 Da eine solche Wertung problematisch ist, präzisiert er auf der textuellen Ebene, was man darunter verstehen könnte: Mit der Formel würde sicherlich nicht behauptet, daß ein bestimmter Text in seiner Oberflächengestalt lediglich regelmäßig kopiert werde, vielmehr wäre umgekehrt wohl daran gedacht, daß eine identische Tiefenstruktur regelmäßig reproduziert werde, so daß trotz aller Unterschiede in konkreten Oberflächen von Texten ‚ im wesentlichen ‘ sich nichts ändere. 9 Link wählt Geibel heuristisch als Musterbeispiel für weitergehende Untersuchungen auf dieser Ebene aus: Ich greife dabei auf Emanuel Geibel zurück, der in gewisser Weise repräsentativ für die zugespitzte Formel von der Stagnation der deutschen Lyrik im 19. Jahrhundert gesetzt werden kann, weil er in der bewußten Epoche (er lebte von 1815 bis 1884) unermüdlich lyrisch produzierte, einen immensen Erfolg verbuchen konnte und kurz danach fast gänzlich vergessen wurde. 10 Er unterstreicht seine Gedanken an zwei Gedichten Geibels, die er vergleichend betrachtet. Dabei stellt er das Gedicht aus dem Krieg 1870/ 71 Der Ulan dem früheren, von romantischer Waldbegeisterung geprägten Gedicht Aus dem Walde gegenüber. 11 Dieses Poem schildert den lehrreichen Waldspaziergang eines Kindes mit einem Förster. Link stellt bei diesem naiv-harmlos wirkenden Gedicht einige bemerkenswerte Analogien zu Geibels Kriegslyrik heraus: In den Bismarckschen Kriegen konnte Geibel den Beweis antreten, daß seine lyrische Maschine modernstes politisches und militärisches semantisches Material nach ihrem 8 Jürgen Link: Was heißt: ‚ Es hat sich nichts geändert ‘ ? Ein Reproduktionsmodell literarischer Evolution mit Blick auf Geibel. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Sprach- und Literaturhistorie. Hrsg. von Hans-Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer. 2. Auflage Frankfurt am Main 2015 (1985), S. 234 - 250, hier S. 234. 9 Ebd., S. 235. 10 Ebd., S. 236. 11 Vgl. ebd., S. 236 f. Epigonen? 47 <?page no="48"?> Regressionsschema zu verarbeiten vermochte. Alle bereits bekannten Regeln vom simplen Tonfall über die lexikalischen Infantilismen bis zu der Basisregel, ein dominantes Kollektivsymbol als fiktives Objekt dem lyrischen Kind-Subjekt gegenüberzustellen, lassen sich reproduzierend verwenden. [ … ] Auch hier [im Gedicht Der Ulan] also das Kind im Wald. Die mythische Objekt-Figur ist allerdings diesmal nicht der Wald selbst, sondern natürlich der welsche Erbfeind: [ … ] Auch hier dient der religiöse Diskurs, der uns heute in solchem Kontext so besonders schockierend vorkommt, ganz offensichtlich als Vorwand für radikale Regression. Der Held bleibt bei allen Heldentaten ein infantiles Bübchen, das ohne „ eisgrauen “ Papa nicht zurechtkommen würde; statt des Försters ist das hier der König. 12 Auch Geibels oben zitiertes und heuristisch als programmatisch und auf den Autor bezogen charakterisiertes Gedicht Epigonen greift das Motiv des Waldes auf, was Links Deutung untermauert und um einige Aspekte erweitern lässt. Auch hier findet sich in der ersten Strophe das „ Kind im Wald “ . Betrachtet man die Eichen als Figurationen des „ Papa “ , eröffnen sich für die Gedichte aus dem Krieg 1870/ 71 mehrere Deutungsansätze. So könnte der preußische König als Vollender der deutschen Einigung als Kaiserreich auf der politischen Ebene das verkörpern, was Geibel im Hinblick auf Philosophie und Kunst als Ideen bei den Klassikern verwirklicht sieht. Geibel sieht seine eigene Rolle dann in der eines Wegweisers, der mit seiner Orientierung an diesen Idealen die richtige Richtung vorgegeben hat. Die oben skizzierte Konzeption des Bandes Heroldsrufe, der chronologisch Geibels Texte auf dem Weg dahin sammelt, bekräftigt diese Deutung. Links Beobachtungen zu Geibel sind im Kontext der deutschen Literatur über den Krieg 1870/ 71 interessant, weil sich die Frage stellt, inwieweit die von ihm konstatierten literarischen Topoi ein kollektives Phänomen darstellen. Die offensichtliche Mythisierung des Krieges und seine Romantisierung als Abenteuer, die sich auch in Geibels Gedicht finden, bilden gewiss in zahlreichen literarischen Schriften über diesen Krieg wiederkehrende Topoi. Ein vergleichender Blick in die tieferen Strukturen vieler Texte könnte, wie sich an diesem Beispiel von Link andeutet, einige aufschlussreiche Erkenntnisse über die Verhaftung der Texte über den Deutsch-Französischen Krieg im literarischen Feld ihrer Zeit ergeben. Im Hinblick auf die Frage nach dem Epigonentum von Geibels Texten und der Kriegsliteratur 1870/ 71 generell stellt sich die Frage, inwieweit die Dominanz der Wiederholung und Reproduktion gegenüber der Innovation den Erfolg und die Anerkennung der Texte bedingen. Der summarische Blick über die zeitgenössische Literatur zum Deutsch-Französischen Konflikt zeigt, dass dieser Krieg 12 Ebd., S. 243 f. 48 Hermann Gätje <?page no="49"?> in der deutschen Literatur keine nennenswerte nach neuen Bewältigungs-, Darstellungs- und Ausdrucksformen strebende Literatur hervorgebracht hat, wie das z. B. beim Dreißigjährigen Krieg oder der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg der Fall war. In dieser Kriegsliteratur dominieren die heute als ‚ regressiv ‘ und ‚ reproduzierend ‘ charakterisierten geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Geibel befand sich nach dem Krieg 1870/ 71 auf dem Höhepunkt seines Ruhms: [S]eine gesammten politischen Dichtungen aber vereinigte er in den „ H e r o l d s r u f e n “ 1871 (bei Cotta) [dem Verlag Goethes und Schillers! H. G.], die, einzig in ihrer Art, ihn auf der vollen Höhe seiner Zeit und seines Ruhmes zeigen. 13 Das Jahr 1870/ 71 bildete unbedingt den freudigsten Höhepunkt seines [Geibels] Lebens, und mit heißer Entrüstung sah er das bald nachher wieder beginnende Ragen des Partikularismus und Ultramontanismus, der Demokratie und der Sonderinteressen an dem wundersam vollendeten Werke. 14 Man feierte ihn als „ Propheten des deutschen Reiches “ , 15 kurz nach seinem Tod 1884 wurden ihm bereits zahlreiche Denkmäler errichtet. 16 In seiner Zeit war er nicht nur ein einflussreicher Dichter, sondern galt auch als literarische Autorität. Junge Autoren wandten sich an ihn und erbaten sein Urteil sowie seine Protektion. So schreibt der junge Arno Holz - bald darauf einer der Exponenten und Programmatiker des Naturalismus - im Vorwort eines Gedenkbuchs auf Geibel, das er 1884 herausgegeben hat: Geibel war auf der Schulbank unser Gott - seine ersten sentimentalen Liedergaben waren in Aller Händen, und unser jugendlicher Pegasus, schüchtern und doch selbstbewußt, nährte sich an diesen melodischen Strophen einer blonden Muse. Geibel war bei den schäumenden Krügen der alma mater unser Heros - seine patriotischen Lieder, seine Sonette für Schleswig-Holstein elektrisirten die Jugend, und unsere Herzen entzündeten sich an dem bestrickenden Pathos seiner Lyrik. 17 Auch wenn Geibel schon vorher populär war, ist seine zeitweise große Bedeutung signifikant an den Krieg von 1870/ 71 und die Reichsgründung gekoppelt. Mit dem Krieg und vollends nach dem deutschen Sieg wird er zum 13 W. Deecke: Aus meinen Erinnerungen an Emanuel Geibel. Weimar 1885, S. 15. 14 Wilhelm Jensen: Ein Gedenkblatt. In: Arno Holz (Hrsg.): Emanuel Geibel. Ein Gedenkbuch. Berlin / Leipzig 1884, S. 133 - 166, hier S. 161. 15 Ebd. S. a. das bereits oben angeführte Zitat aus Löbner (Anm. 2), S. 77. Holz: Emanuel Geibel (Anm. 14), S. III: „ Der Reingewinn dieses Werkes wird dem Fonds eines in Lübeck zu errichtenden G e i b e l - D e n k m a l s zugewandt. “ 16 Vgl. Deecke (Anm. 13), S. 3. 17 Arno Holz: Vorwort. In: Holz: Emanuel Geibel (Anm. 14), S. V - X, hier S. VI. Epigonen? 49 <?page no="50"?> Dichter der Stunde, der unbeirrbar und gradlinig seinen patriotischen Überzeugungen und Idealen auch gegen Widerstände gefolgt ist: Da bricht der Erbfeind den Hader vom Zaun und Geibel ruft zu den Waffen und verkündet die Nachrichten der deutschen Siege in Versen, die wie Orgelton und Posaunenschall ertönen: [ … ] Und hocherfreut vermag er Deutschland bald darauf zuzurufen: Drum wirf hinweg den Witwenschleier/ Drum schmücke dich zur Hochzeitsfeier, [sic! ] [ … ] So ist Geibel nie schwankend geworden in seiner Ueberzeugung; was er geglaubt und gehofft, hat er gelehrt und verkündet zu einer Zeit, als er eine Einzelstellung einnahm und schimpflichen Verdächtigungen ausgesetzt war. Der Dichter ist nicht Fürstendiener gewesen, so wenig als er vor dem Pöbel knieen wollte; er hat wohl Herrschergunst genossen, aber ihn hat es nie gelüstet nach den Brosamen, die von der Herrn Tische fielen. Er hat nicht die Fackel Herostrat ’ s zum Tempelbrande geschwungen, aber er hat nach Kräften die heilige Flamme des Patriotismus angefacht zur schönen Gluth. 18 Die in den Zitaten sehr prägnant hervortretende Diskrepanz zwischen den Urteilen von Zeitgenossen und der Bewertung Geibels durch die Nachwelt zeigt, dass der Autor für bestimmte Forschungsfelder der Literaturwissenschaft einen epistemologisch lohnenden Gegenstand darstellt. Im Hinblick auf die grundsätzliche Frage nach strukturellen Merkmalen im Wandel der literarischen Wertung gibt die Rezeption Geibels im historischen Wandel instruktive Einblicke. Zu Geibel sind bis heute zwar nicht viele, aber über die Zeit hinweg immer wieder literaturwissenschaftliche Monographien publiziert worden. Jüngste Arbeit ist Christian Volkmanns Dissertation Emanuel Geibels Aufstieg zum literarischen Repräsentanten seiner Zeit. 19 In sachlich fundierter und übersichtlicher Weise beschreibt und diskutiert Volkmann den aktuellen Forschungsstand sowie Geibels Leben, Werk und Wirkung. In seinem Schlusskapitel charakterisiert er Geibel als „ Vorläufer des modernen Erfolgsautors “ 20 , da dieser „ bewusst kalkulierte und perfekt aufeinander abgestimmte Selbstvermarktungs- und Selbstinszenierungsmaßnahmen “ 21 erfolgreich anwandte. Volkmann legt schlüssig dar, wie Geibel Vermarktungsstrategien plante, sich in Netzwerken organisierte oder auch öffentlichkeitswirksam politische Kontroversen lancierte. 18 Heinrich H. Fick: Die deutschpatriotische Lyrik Geibel ’ s. In: Emanuel Geibel. Gedächtnisfeier auf den Tod des Dichters im Deutschen Literarischen Club von Cincinnati. Separatabdruck des „ Deutschen Pioniers “ . Cincinnati, OH 1884, S. 12 - 18, hier S. 17. 19 Christian Volkmann: Emanuel Geibels Aufstieg zum literarischen Repräsentanten seiner Zeit. Berlin 2018. 20 Ebd., S. 321 - 325. 21 Ebd., S. 321. 50 Hermann Gätje <?page no="51"?> Mit der Selbstvermarktung untrennbar verbunden ist die Selbstinszenierung. Geibel negiert öffentlich stets jedwede kommerzielle Erwägung, dabei ist sein Aufstieg seit seinem Karrierebeginn von einem besonders ausgeprägten Geschäftsdenken geprägt. 22 Die Beobachtungen zu Geibels Rolle im Kontext des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/ 71 sowie seine Texte dazu in den Heroldsrufen unterstreichen in besonderem Maße Volkmanns These. 23 Die Darstellung als „ Sänger “ und „ Prophet “ der Reichsgründung ist offensichtlich Teil der Selbstinszenierung des Autors, zumal seine Texte selbst und der Titel Heroldsrufe dies evozieren. An den Kriegsgedichten erkennt man, wie Geibel taktisch Erfolgsstrategien anwendet. Er nimmt populäre Stimmungen auf, die er poetisch transformiert, um wiederum in seinem Sinne Stimmungen hervorzurufen. Dieses Moment ist in den Kriegsgedichten von besonderer Bedeutung. Geibel greift tagespolitische Ereignisse und Stimmungslagen auf und sublimiert diese, indem er sie in größere historische, mythische und religiöse Zusammenhänge stellt. Der Krieg wird zu einem heiligen Krieg idealisiert. Die Sprache der Gedichte ist von einem suggestiven Pathos getragen. Volkmanns Diagnose hinsichtlich des Geschäftsdenkens Geibels entspricht einem für Geibel grundsätzlichen Gestus, den man mit dem Begriff der affektierten Bescheidenheit umschreiben kann und der eine strategisch dialektische Funktion zur Selbststilisierung hat. Dies wurde hier an vorheriger Stelle bereits für das Gedicht Epigonen angedeutet. Einerseits signalisiert Geibel Selbstlosigkeit, Bescheidenheit und Demut, andererseits dient dieser Gestus dazu, seine Rolle als Lehrer und Wissender zu akzentuieren. In der Konstellation vom „ Kind im Wald “ , die Link schlüssig auf das Gedicht Der Ulan überträgt, spiegelt sich, ohne dass Geibel dies intendiert hat, dieser Dualismus. Das lyrische Ich des Gedichts Aus dem Walde wie jenes aus Epigonen bilden ein demütiges, folgsames und lernwilliges Kind ab und suggerieren persönliche Affinität zum Autor. Doch zugleich vermitteln die Gedichte belehrend den richtigen Weg: Der Autor erscheint auf dieser Ebene in seiner Weisheit und Würde gleichrangig neben dem Förster, den Eichen und dem König. 22 Ebd., S. 323. 23 Vgl. ebd., S. 35. Volkmann stellt heraus, dass Kritiker und Fachwelt Geibel vor allem für die Heroldsrufe feierten, sich diese jedoch im Vergleich zu früheren Gedichtbänden Geibels deutlich schlechter verkauften. Dies indiziert, dass beim zeitgenössischen Lesepublikum das Interesse an ‚ friedlicher ‘ beschaulich-sinnlicher Naturlyrik und Volksliedern größer war als an Kriegsgedichten und politischen Texten. Epigonen? 51 <?page no="53"?> „ Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft “ - Das „ große Ganze “ und das Bagatelle in Friedrich Theodor Vischers Auseinandersetzung mit dem Krieg von 1870/ 71 Stefan Knödler, Tübingen Am 20. Juli 1870, kurz nach der „ Kunde von der Gewißheit des Krieges “ , habe Friedrich Theodor Vischer seine literaturhistorische Vorlesung am Stuttgarter Polytechnikum, in der Goethes Iphigenie auf Tauris besprochen wurde, mit folgenden Worten begonnen - so berichtet es einer seiner Zuhörer eine Woche später im Schwäbischen Merkur: Es ist ein eigenes Gefühl, das Gefühl eines schweren Kontrastes, mit dem ich heute in meiner Vorlesung fortfahre. Während vielleicht schon in den nächsten Tagen der Donner der Geschüze beginnt, sollen wir uns mit einer Dichtung voll hoher geistiger Stille beschäftigen, einer Dichtung, worin es wohl tiefe innere Kämpfe, aber wenig äußeren Kampf giebt; in diesen stillen Götterhaine sollen wir wandeln, während die Welt um uns her so furchtbar laut ist. Und doch ein Zusammenhang ist auch hier. Es gilt einen Krieg nicht nur für Haus und Hof, Hab und Gut, sondern für die Ehre, für die geistigen Schäze der Nation. Wohl kann man sagen, diese Schäze können uns ja nicht geraubt werden, die unsterblichen Werke unserer Poesie bestehen, sie sind und bleiben unser geistig Eigenthum. Doch wahrhaft unser Eigentum sind sie nur dann, wenn die Enkel Göthes und Schillers auch mit der That zeigen, daß nicht umsonst unsere großen Dichter ihnen die Seele hoch über des Lebens Dumpfheit und über die Schrecken des Todes emporgehoben haben. 1 Das Pathos ist echt: Der 63-jährige Vischer hatte ernsthaft vor, mitzumarschieren, doch am 18. August 1870, rund einen Monat nach der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen, musste er seinem Freund Julius Ernst von Günthert mitteilen: 1 [anon.: ] Aus dem Hörsaal. In: Schwäbische Kronik des Schwäbischen Merkurs, 2. Abt., 1. Blatt, Nr. 175, 27. Juli 1870, S. 2377. <?page no="54"?> Mir hat das Schiksal jeden Gedanken, mitzuthun, mit einem festen Knopf, einem Übel unterschnürt, das ihm - diesem Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft - ganz gleich sieht: ich könnte keine Stunde marschieren vor einem Hühnerauge, das jeder Behandlung spottet. 2 Beides, die Kriegsbegeisterung wie das Hühnerauge, sind bei Vischer systeminhärent. Im Folgenden soll erstens die unselige Verbindung von Vischers Pathos (in Wort und Tat) mit dem „ Dämon “ , der das Ernste immer wieder komisch unterläuft und von Vischer daher früh in sein Gedankengebäude integriert worden ist, kurz dargestellt werden; zweitens soll diese Verbindung an Vischers Engagement während des Krieges von 1870/ 71 veranschaulicht werden, in dem er die eigene dämonische Verhinderung an seinem in den Kampf gezogenen einzigen Sohn Robert (1847 bis 1933) kompensiert hat; drittens schließlich soll an Vischers ganz unterschiedlich gelagerten Schriften nach dem gewonnenen Krieg, vor allem an seinem Roman Auch Einer (1879), gezeigt werden, wie er seine gescheiterte Kriegsbeteiligung noch einmal überhöht und problematisiert hat. I. Vischer hat seine politische Karriere wie viele andere seiner Generation auch, etwa sein Freund David Friedrich Strauß, als linker Demokrat begonnen; er saß in der Frankfurter Paulskirche und ist schließlich nach zahlreichen Enttäuschungen zu einem Befürworter des Deutsch-Französischen Kriegs und zu einem Anhänger der Reichsidee bismarckscher Prägung geworden. 3 Unverändert blieb jedoch das Ziel seines politischen Engagements: die deutsche Einheit. Und sein Charakter: Vischer war prinzipientreu, kompromisslos, stellte die Sache stets über das Persönliche, was zum Scheitern seiner Ehe ebenso geführt hat wie zum Zerbrechen - oder wenigstens Unterbrechen - fast aller seiner Freundschaften (Mörike, Strauß). Bereits 1844 hatte er in seiner Tübinger akademischen Antrittsrede sein Bekenntnis zum Pantheismus mit einer Kampfansage verbunden, die jede Vermittlung zwischen seiner Partei und der gegnerischen ausschloss, und seinen Opponenten „ im Prinzip [ … ] einen Kampf 2 Friedrich Theodor Vischer an Julius Ernst von Günthert, 18. August 1870. In: Julius Ernst von Günthert: Friedrich Theodor Vischer. Ein Charakterbild. Stuttgart 1889, S. 169. 3 Vgl. Adolf Rapp: Friedrich Theodor Vischer und die Politik. Tübingen 1911; Christian Jansen: Vischers politische Haltung und sein politisches Engagement zwischen Revolution und Reichsgründung. In: Barbara Potthast / Alexander Reck (Hrsg.): Friedrich Theodor Vischer. Leben - Werk - Wirkung. Heidelberg 2011, S. 37 - 56; vgl. auch Barbara Potthast: Vischers Tendenzen und die Tendenzen der Karikatur. In: ebd., S. 207 - 229. 54 Stefan Knödler <?page no="55"?> ohne Rückhalt “ sowie „ meine volle, ungetheilte Feindschaft, meinen offenen und herzlichen Haß “ versprach. 4 Obwohl Vischer zunächst eine großdeutsche Lösung favorisierte, hatte er große Vorbehalte gegen Preußen; der „ Bruderkrieg “ von 1866 konnte sie nicht entkräften, 5 und obwohl Vischer sich in den folgenden Jahren langsam mit der preußischen Politik versöhnt hat, bezog er noch mitten im Krieg Stellung gegen die dortigen „ inneren Mißstände “ . 6 Doch befürwortete er 1870 den Krieg gegen Frankreich, weil er auch hier die Sache (die Einheit des Reichs unter Einbeziehung von Elsass-Lothringen) über das Persönliche (seine Aversion gegen Preußen) gestellt hat. 7 Vischer hat die Gefährdung des erhabenen Pathos, das sich in allen seinen Äußerungen zur Politik und zum Krieg von 1870/ 71 finden lässt, früh in sein philosophisches System integriert. Schon in seiner Habilitationsschrift Über das Erhabene und Komische von 1837 bestimmt er das „ Bagatell “ als ein „ blos der niederen Erscheinungswelt angehörende[s] Dings, das dem Erhabenen, vorher verborgen, nun auf Einmal unter die Beine geräth und es zu Fall bringt. “ 8 „ Bagatelle “ sind dabei nicht nur Dinge oder das bereits erwähnte Hühnerauge, sondern auch Krankheiten wie jener Katarrh, „ jetzt anderthalb Jahr alt, mit unzähligen neuen multipliziert “ , 9 den Vischer noch im Frühjahr des Jahres 1870 auf einer misslungenen Italien-Reise zu kurieren unternahm; ursprünglich hatte er nach Korsika gewollt, aber Gewitter, Sturm und Kälte hatten eine neue Erkältung und einen „ neue[n] heftige[n] Katarrh mit gehörigem Katarrh- Fieber “ zur Folge und zur Aufgabe des Plans geführt. Nach einer „ unzweck- 4 Friedrich Theodor Vischer: Akademische Rede zum Antritte des Ordinariats am 21. Nov. 1844 zu Tübingen gehalten von Dr. Fr. Vischer, ordentl. Professor der Aesthetik und deutschen Literatur. Tübingen 1845, S. 26. Vgl. Stefan Knödler: Wie Friedrich Theodor Vischers Antrittsrede in Tübingen beinahe zu seinem Rauswurf führte. In: Thomas Schmidt / Kristina Mateescu (Hrsg.): Von Hölderlin bis Jünger. Zur politischen Topographie der Literatur in deutschen Südwesten. Stuttgart 2020, S. 105 - 114. 5 Vgl. Rapp: Vischer und die Politik (Anm. 3), S. 119 - 138. 6 Friedrich Theodor Vischer an David Friedrich Strauß, 7. November 1870. In: Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer. Hrsg. von Adolf Rapp. Stuttgart 1953, Bd. 2, S. 280 f. 7 Vgl. Fritz Bronner: 1870/ 71 Elsass Lothringen. Zeitgenössische Stimmen für und wider die Eingliederung in das Deutsche Reich. Frankfurt am Main 1980, Halbbd. 1, S. 71 - 74. 8 Friedrich Theodor Vischer: Über das Erhabene und Komische, ein Beitrag zur Philosophie des Schönen. Stuttgart 1837, S. 159. Vgl. auch den einschlägigen Abschnitt über „ Das Komische “ im (1846 erschienenen) ersten Band von Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Erster Teil: Die Metaphysik des Schönen. 2. Aufl. Hrsg. von Robert Vischer. München 1922, S. 358 - 523 passim. 9 Friedrich Theodor Vischer an David Friedrich Strauß, 23. März 1870. In: Briefwechsel (Anm. 6), Bd. 2, S. 273. „ Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft “ 55 <?page no="56"?> mäßigen Kur “ in Meran kehrte er Anfang Mai nach Stuttgart zurück. 10 Auch deshalb „ zuckt[e] “ es ihn, ins Feld zu ziehen: „ Am Ende wär ’ es auch die beste[] Badekur gegen den Katarrh. “ 11 II. Vischer investierte seine durch das Hühnerauge freigewordene Kriegsenergie vor allem in seinen Sohn Robert, der sich, dem Wunsch des Vaters folgend, freiwillig gemeldet hat und als Teil des 3. Reiterregiments der III. Armee als ‚ freiwilliger Einjähriger ‘ am Krieg teilnahm. 12 Die Geschichte der beiden ist nicht unproblematisch. Robert war seit der Trennung der Eltern 1855 zunächst bei verschiedenen Bekannten in Ulm untergebracht worden und lebte dann bei der mittlerweile dorthin gezogenen Mutter. Der Vater versuchte aus der Ferne auf seinen Sohn Einfluss zu nehmen, mahnte ihn zu Haltung, Reinlichkeit, Fleiß und Folgsamkeit - meist mit bei einem Jugendlichen sicher nicht immer verfangenden Pathos und nicht ohne übermäßige Strenge und Übergriffigkeiten; eine Zeitlang kontrollierte Vischer sogar die Briefe der Mutter an den Sohn. Insgesamt war Vischer unzufrieden mit Roberts Entwicklung, 13 der zu Kriegsbeginn 23 Jahre alt war und an seiner Doktorarbeit Über das optische Formgefühl arbeitete. Vischer hat zu Kriegsbeginn bei seinen Landleuten - diesen „ stumpfen Seelen “ - keine moralische Überlegenheit feststellen können und seine Hoffnungen ganz darauf gesetzt, dass wenigstens „ recht viel gebildete Jugend dazu kommt “ und schließlich, „ nach Niederlagen, die im Anfang kaum ausbleiben werden, mehr und mehr die ganze Jugend zur Waffe greift “ . 14 Dass er dabei auch an seinen Sohn dachte, ist offensichtlich, schrieb er ihm doch nach der Kriegserklärung, er werde wohl im November eingezogen, da man „ jetzt nicht Zeit u. Leute “ habe, um Rekruten auszubilden: „ aber wenn sich der Krieg in die Länge zieht, so muß natürlich Alles her u. in der Schnellbleiche exerzirt werden, 10 Vgl. Friedrich Theodor Vischer an David Friedrich Strauß, 6. Mai 1870. In: ebd., S. 274; Günthert: Vischer. Ein Charakterbild (Anm. 2), S. 162. 11 Vischer an Günthert, Ende Juli 1870. In: Günthert: Vischer. Ein Charakterbild (Anm. 2), S. 167. 12 Zur württembergischen Beteiligung vgl. Nation im Siegesrausch. Württemberg und die Gründung des Deutschen Reichs 1870/ 71. Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Hrsg. von Wolfgang Mährle. Stuttgart 2020. 13 Vgl. Schlawe: Friedrich Theodor Vischer. Stuttgart 1959, S. 259 f., 311 f., 320 f. 14 Vischer an Günthert, 17. Juli 1870. In: Günthert: Vischer. Ein Charakterbild (Anm. 2), S. 164. 56 Stefan Knödler <?page no="57"?> wie es gehen u. stehen mag. “ 15 Robert wurde früher eingezogen als gedacht und war bereits im September in Nancy stationiert, 16 während sein Vater in Baden- Baden weilte, um einmal mehr seinen Katarrh auszukurieren. Von dort aus sah er im Kampf um Straßburg in der Ferne „ das Feuer der Batterien aufblitzen “ (12. September 1870) und besuchte die eingenommene Stadt schließlich selbst: „ Es ist ein großer, tragischer Eindruck mit Sonne der Freude über den Wiedergewinn des herrlichen Eigenthums im Hintergrunde. “ (16. Oktober 70) Dass es eine gute Sache ist, seinen einzigen Sohn im Kampf stehen zu haben, ist für Vischer keine Frage: „ Ich weiß dich von Gefahr umringt, aber es ist recht, daß du dabei bist, ich hätte recht gehandelt, auch wenn ich dich ohne Dienstpflicht hätte mitziehen lassen, u. wer recht thut, wäre schwach, wen er nicht gehastet wäre! “ (11. September 1870) Als Robert von gefährlichen Situationen berichtet, gratuliert ihm der Vater: „ Du hattest auf dem Marsche nach Châlons zum erstenmale Gefahr u. die Strapazen des Bivouac u. der Ermüdung durchgemacht. Noch einmal meinen väterlichen Glückwunsch von ganzem Herzen! “ (28. September 1870). Zwar ist seine Sorge um das Leben Roberts groß, noch größer aber scheint der Wunsch zu sein, er möge noch „ an ’ s Drauf-Hauen kommen “ (16. Oktober 1870). Das bleibt Robert erspart, und obwohl Vischer mehrmals befürchtet, dass Robert bei ersthaften Gefechten beteiligt gewesen ist, kann er sich jedes Mal beruhigen und tröstet seinen Sohn: „ Die Granatengefahr, in der du [ … ] gewesen, ist hinreichend, in Ehren sagen zu können: ich bin ernstlich dabei gewesen. “ (1. November 1870) Vischer sieht im Krieg eine wichtige Erfahrung für die eigene Biographie, die er seinem Sohn offensichtlich neidet. Mehrmals erinnert er Robert daran, dass er „ eine große Erinnerung für das ganze Leben “ gewinne, die ihn „ zum Manne “ schmiede (16. Dezember 1870). Er solle daher mit „ dem Aufzeichnen an äußeren u. inneren Erfahrungen “ (11. Februar 1871) beginnen und „ ein Tagebuch “ führen: „ Das Große, das Ungeheure hast du jetzt erlebt u. noch ganz anderes “ (16. Dezember 1870). Neben pathetischen Mahnungen „ an ’ s große Ganze, an die herrliche Zukunft “ (28. September 1870) und Evokationen des „ großen Mannes “ und der „ Größe des Vaterlands “ (13. November 1870) kümmert sich Vischer auch um den Alltag seines Sohnes, appelliert etwa an seine Reinlichkeit - ein „ Hauptmittel, sich menschlich zu erhalten “ , „ die Grundlage, Basis “ (11. Februar 15 Friedrich Theodor Vischer an Robert Vischer, 17. Juli 1870. Die zitierten Briefe Vischers an seinen Sohn liegen sämtlich in der Universitätsbibliothek Tübingen (Signatur Md 787); sie werden im Folgenden mit einer in der Universitätsbibliothek Bonn befindlichen Ausnahme lediglich mit dem Briefdatum in Klammern nachgewiesen. Die Gegenbriefe fehlen. Eine vollständige Edition aller Briefe Vischers an seinen Sohn befindet sich in Vorbereitung. 16 Vgl. Vischer an Strauß, 7. November 1870. In: Briefwechsel (Anm. 6), Bd. 2, S. 283. „ Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft “ 57 <?page no="58"?> 1871). Auch schickt er regelmäßig Essbares, Kleidung und andere brauchbare Dinge: „ 1 Pfund Zucker u. condensirte Milch “ und ein Messer - „ freilich ein geringes, weil dir so viel gestohlen wird “ (16. Oktober 1870) - , „ 1 P. Einleg- Sohlen, die ich nur ein paar Tage getragen habe “ und „ etwas gerauchtes Fleisch “ (24. Oktober 1870) oder, zu Weihnachten, „ Kappe, 2 Flaschen, eine mit mixed pickles u. 1 mit eingemachten Austern, rothe Augensalbe, Holzpfeife u. warme Handschuhe. Dazu 1 Nap. d ’ or. “ 17 Aber auch Robert erweist sich als ein tückisches Objekt, entzieht sich den Kontroll- und Formungsversuchen seines Vaters und ignoriert dessen Ratschläge: Der Vater wirft ihm vor, er lebe „ verschwenderisch “ (1. November 1870), schreibe zu selten, und wenn, dann zu kurze Briefe. Einmal bleibt Vischer 16 Tage lang ohne Nachricht von seinem Sohn, der daraufhin offenbar vermutet, dass ein Brief verlorengegangen sein muss: Vischer bezichtigt ihn der Lüge und wird grundsätzlich: Es ist nicht wahrscheinlich, daß ein Brief von dir verlorengegangen ist. Irgend eine Beziehung in den richtig angelangten Briefen müßte doch darauf hinweisen. Ich erkenne jetzt aus deinem eigenen Geständniß, daß ich Recht hatte mit meiner Annahme, daß du in jenen gefährlichen Zustand versunken warst, in welchen gebildete Jünglinge schon öfter gerathen sind, wenn sie in die Lage kamen, längere Zeit die Gewohnheiten u. Bedürfnisse eines gebildeten Lebens aufgeben zu müssen. Ich habe dir vor deinem Abmarsch von einem preußischen Freiwilligen erzählt, der so in völliger Stumpfheit zu Grunde gieng. (11. Februar 1871) Das alles gipfelt schließlich in einer gründlich schiefgegangenen und durch den „ Dämon “ mehrmals sabotierten Reise nach Frankreich im April 1871, die Vischer unternommen hat, um Robert zu besuchen und die Schlachtfelder zu besichtigen. Schon Vischers Abfahrt verzögerte sich wegen Regens (31. März/ 1. April 1871); dann ereilte ihn in Ludwigsburg eine Diarrhöe und er blieb in Mühlburg, wohin er weitergereist war, für mindestens eine Woche hängen (8. April 1871), weil er wegen eines Truppen-Einzugs in Karlsruhe, wo er ursprünglich hatte Station machen wollen, kein Quartier mehr gefunden hat, bevor er Robert in Vitry dann traf. Dass er die Schlachtfelder gesehen hat, schreibt er seinem Freund Günthert: [A]bends in Epernay schlug mir Dr. Leisinger vor, mich vor Paris zu begleiten. Ich nahm es an, wir fuhren nach Pantin (nahe St. Denis), hörten gleich den Kanonendonner, - dann östlich nach Nogent, stiegen da aus und nahmen ein Wägelchen, das eben auf der Chaussee fuhr, nach Brie, von da nach Champigny. Ich habe nun die Stätte des grausen Straßenkampfes, dann das blutgedüngte Feld - die hochliegende Ebene 17 Friedrich Theodor an Robert Vischer, 28. November 1870. Universitätsbibliothek Bonn, S. 2728, 41. 58 Stefan Knödler <?page no="59"?> zwischen Villiers, Coeuilly, Champigny mit allen Spuren des Kampfes, Kugelspuren Ruinen, Brand, Gräbern, eingewühlten Löchern der Granaten, gesehen, - alles immer unter dem Kanonendonner und Mitrailleusengeknack von Paris und Mont Valerien. Deutlich erkannte man den Triumphbogen, Invalidendom, Pantheon. 18 Den weiteren Verlauf der Reise erfährt man aus einem Brief an D. F. Strauß: Robert erhielt fünf Tage, und ich wollte mit ihm Nancy, Metz mit Schlachtfeld Gravelotte, Saarbrücken (Spichern), Wörth und Weißenburg sehen, war auch überall, aber alles wurde absolut verregnet, und ich habe außer einem Überblick über Metz und Umgegend vom Turm in einer regenfreien Viertelstunde einfach nichts gesehen, sondern bin, stets hoffend auf besser Wetter, wie ein Narr auf der Eisenbahn, gehetzt von den Mühen des Reisens ohne die Genüsse des Reisens herumgefahren. 19 Neben diesen äußerlichen Verhinderungen muss es zwischen Vischer und seinem Sohn einen grundsätzlichen Dissens gegeben haben, denn in einem späteren Brief des Vaters nach der Reise heißt es: „ Wir haben Unstern gehabt “ (vor 27. April 1871). Vischer warnt Robert vor „ sittlichen Gefahren “ , die „ zugleich physische “ seien (ebd.) - alles in allem werfe sein Verhalten „ einen schweren Schatten auf die Zukunft deines Lebensglücks “ (2. Mai 1871). Im Zuge seiner Kriegsbegeisterung hat sich Vischer schließlich mit Preußen versöhnt und ein Deutsches Reich unter dessen Führung akzeptiert: die „ schuldvolle Tat “ des Bruderkriegs von 1866 sei nun durch einen gerechten gar „ heiligen “ Krieg gesühnt. 20 Jener „ Unstern “ stand indes auch über den anderen Unternehmungen, die Vischer zur Unterstützung der Kriegsbemühungen veranlasst hat. Sein chronischer Katarrh war noch nicht geheilt - zwischendurch war er froh, dass er riechen konnte, „ wenn Einer einen Veilchenstrauß am Rock hat “ (24. Oktober 1870) - , und so begab er sich zu Pfingsten 1871 erneut nach Baden-Baden, um dort „ Dampf-Einathmungen “ und „ Dampfbäder “ zu nehmen (12. Mai 1871). Eine nur widerwillig angenommene Kandidatur für den Landtag im Wahlbezirk Vaihingen/ Enz - Vischer sorgte sich um die zu erwartenden zahlreichen „ langen Sitzungen “ und „ kalte Füße, Zug, Nerven- Aufregung “ (1. November 1870) - verlor er; eine „ komisch düstere Neuigkeit “ , die er seinem Sohn umgehend gemeldet hat (10 November 1870). Ein Artikel 18 Vischer an Günthert, 21. April 1871. In: Günthert: Vischer. Ein Charakterbild (Anm. 2), S. 183 f. 19 Vischer an Strauß, 5. Mai 1871. In: Briefwechsel (Anm. 6), Bd. 2, S. 288 f. 20 Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Offener Brief an den Redakteur des Feuilletons der „ Deutschen Zeitung “ in Wien Dr. Speidel ( „ Mitte Dezember 1871 “ ). In: Kritische Gänge. 2., vermehrte Auflage. Hrsg. von Robert Vischer. Berlin / Wien 1920, Bd. 3, S. 325 - 341, hier S. 334. „ Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft “ 59 <?page no="60"?> über die zu freundliche Behandlung des kriegsgefangenen Napoleon III. 21 ist sechs Tage auf der Redaktion derAllgemeinen Zeitung liegengeblieben, weil man dort offenbar Anweisungen aus Stuttgart hatte, den französischen König zu schonen; dann druckte man Vischers Text doch, allerdings mit zahlreichen falschen Behauptungen, die Vischer seither hätte korrigieren müssen (vgl. 7. Oktober 1870); nun musste er sich obendrein als „ Professor-Arsch “ (16. Oktober 1870) beschimpfen lassen. Unstern auch über zwei zur Kriegszeit gehaltenen Reden: Ein zunächst verschobener, dann erst ein Jahr nach dem Friedensvertrag gehaltener Vortrag Der Krieg und die Künste geriet zum Desaster, weil Vischer der „ Kobold Heiserkeit “ so stark zusetzte, dass er „ [u]nendliche kleine Pausen “ machen musste, um „ die Stimme ruhen zu lassen “ und so „ die Zuhörer durch dritthalbstündiges Sprechen ermüdete “ ; 22 bei der Festrede zum Geburtstag des Königs am 6. März 1871 verfehlte er das Thema und sprach, statt der patriotischen Freudenstimmung Genüge zu tun, lieber über die mögliche Verlegung der Landesuniversität von Tübingen nach Stuttgart. 23 III. Auch später beschäftigte Vischer der Krieg immer wieder, im Folgejahr in zwei Arbeiten, die ihn von zwei diametral entgegengesetzten Blickpunkten angehen: die eine pathetisch ernst, die andere komisch. Jenes geschieht in der Druckfassung des bereits erwähnten Vortrags Der Krieg und die Künste, der zwar auch einen Durchgang durch die Geschichte der Kriegsdarstellung in der Literatur (Homer, Shakespeare, Schiller), Malerei und Skulptur vornimmt, aber vor allem in dem dringenden Aufruf an die gegenwärtigen Künstler gipfelt, ihn als Motiv- und Stoffreservoir zu nutzen - also das zu tun, was Robert Vischer durch seine Weigerung, ein Tagebuch zu führen, unterlassen hat. Das feierlich-pathetische Ende des Vortrags ist ganz auf der Linie des neuen Reichs: Zwar sei der Krieg „ schrecklich, wild und verwildernd “ , ein „ Ungeheuer mit bluttriefender Sense des Todes “ , 24 aber er sei doch „ schön und erhaben [ … ], wenn er ein heiliger Vertheidigungskrieg ist [ … ], wenn er durch den Sieg die Ehre und Macht einer Nation begründet “ . 25 21 Der erste bittere Tropfen. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung Augsburg, 25. September 1870 (Kritische Gänge [Anm. 20], Bd. 3, S. 298 - 306); vgl. Günthert: Vischer. Ein Charakterbild (Anm. 2), S. 171 f. 22 Friedrich Theodor Vischer: Vorwort. In: Der Krieg und die Künste, Vortrag am 2. März im Saale des Königsbaues zu Stuttgart gehalten. Stuttgart 1872, S. III - XVI, hier S. X. 23 Vgl. Schlawe: Vischer (Anm. 13), S. 325. 24 Vischer: Der Krieg und die Künste (Anm. 22), S. 1. 25 Ebd., S. 55. 60 Stefan Knödler <?page no="61"?> Der Gegenpart dazu ist das (freilich in der Tendenz nicht weniger patriotische) komische „ Heldengedicht “ Der deutsche Krieg, das Vischer 1873 unter dem seit seinen Studentenjahren gebrauchten - und dem Publikum entsprechend nicht unbekannten - Pseudonym Philipp Ulrich Schartenmayer erscheinen ließ. Die erste von insgesamt 285 Strophen fällt inhaltlich mit dem Schluss der Künste-Rede zusammen: Krieg anfangen ist bekanntlich Ohne Ursach immer schandlich; Geht es dem, der anfangt, schlecht, So geschieht es diesem recht. 26 Vischers einziger Roman Auch Einer (1879) enthält seine bedeutendste Auseinandersetzung mit dem Deutsch-Französischen Krieg, auch weil er darin nicht nur die eigene Verhinderung daran, sondern auch das Grundsätzlich-Problematische seines eigenen Charakters und seinen Kampf mit tückischen Objekten verarbeitet. Der Roman ist unverkennbar autobiographisch: Nicht nur lassen sich die Initialen des Namens der Hauptfigur - der Erzähler nennt ihn zunächst „ Auch Einer “ , tatsächlich heißt er Albert Einhart - als die von alter ego lesen; auch teilt der Held viele Gemeinsamkeiten mit seinem Autor: Liebe zu Tieren, Italien, Literatur und Kunst, Neigung zur philosophischen Systematisierung, Wetterfühligkeit, Militarismus, Misanthropie und Unversöhnlichkeit, Franzosenhass, pathetische Gesten. Außerdem wird er von denselben „ Dämonen “ heimgesucht wie Vischer auch, von durch tückische Dinge ausgelösten Missgeschicken wie Stolpern, Verheddern, Zerreißen, von Katarrhen und unpassenden Husten- und Niesreizen - Vischers Roman prägte die Wendung von der „ Tücke des Objekts “ 27 . Wie Vischer selbst befindet sich A. E. in einem permanenten „ Kriegszustand[] [ … ] mit dem Bagatell “ , wie jener ist er „ geboren, [ … ] die Welt mit Hühneraugen anzusehen “ . 28 A. E.-Vischer hat diese „ Dämonen “ in ein „ System des harmonischen Weltalls “ eingefügt, das in „ innere “ und „ äußere Teufel “ sowie in deren „ Aktionen “ - denn die Dinge leben 29 - , schließlich in „ [k]ombinierte Aktionen oder 26 [Friedrich Theodor Vischer: ] Der deutsche Krieg 1870 - 71 ein Heldengedicht aus dem Nachlaß des seligen Philipp Ulrich Schartenmayer herausgegeben von einem Freunde des Verewigten. Nördlingen 1873, S. 3. 27 Vgl. Uwe C. Steiner: Tücke des Objekts. Friedrich Theodor Vischers „ Auch Einer “ (1878). In: Susanne Scholz / Ulrike Vedder: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Berlin / Boston 2018, S. 248 - 256. 28 Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Mit einem Nachwort von Otto Borst. Frankfurt am Main 1987, S. 27. 29 Vgl. Philip Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Berlin / New York 2007, „ Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft “ 61 <?page no="62"?> Häufungen “ 30 eingeteilt ist; der „ Hühneraugenstich “ etwa gehört darin zu den Aktionen der „ inneren Teufel “ . Das Ganze ist auch eine Parodie von Vischers eigenen Bemühungen um seine Ästhetik (1846 - 1857), an der er ebenso gescheitert ist wie sein Held, dessen Konzept ebenso auf das Ästhetische ausgreift und in einem Wirrsal von nicht mehr durchschaubaren Querverweisen und Verbindungslinien abbricht. 31 Vischers wie A. E.s Dauerleiden, der Katarrh, findet sich in der ein Drittel des Romantexts einnehmenden „ Pfahldorfgeschichte “ Ein Besuch wieder, 32 in der aus dem naheliegenden Witz, dass es in den auf dem See erbauten Pfahldörfern unablässig gezogen haben muss, eine umständliche Mythologie des Katarrhs entfaltet wird. Ein anderes, auch im Zusammenhang von Vischers Verhältnis zum Krieg von 1870/ 71 wichtiges Element, ist der Handlung des Romans konstitutiv zugrunde gelegt - das Verhindert-Werden: A. E. liebt Cordelia, die aber ist verheiratet; sie fordert ihn auf, in den Deutsch- Dänischen Krieg zu ziehen, aber ihm versagt - „ [w]ieder einmal ein Koboldstreich der Dämonen “ 33 - im entscheidenden Moment das Gewehr; später trifft er Cordelia, nun endlich verwitwet, wieder, aber ein heftiger Niesanfall, bei dem Nasensekret in den Suppenteller seiner Sitznachbarin spritzt, verunmöglicht alles Weitere und bewegt A. E. zur überstürzten Flucht. Erst auf ihrem Sterbebett sieht er Cordelia noch einmal; danach beschließt er - um Cordelias Wunsch, sich in der Schlacht mutig zu zeigen, doch noch zu erfüllen - , in den eben ausgebrochenen Deutsch-Französischen Krieg zu ziehen, 34 doch ein Reitunfall, bei dem er sich den Fuß verstaucht, verhindert seine Teilnahme; er stirbt wenig später bei einer Prügelei mit einem Tierquäler. Der Krieg von 1870/ 71 selbst ist in vielerlei Hinsicht strukturbildend für den Roman Auch Einer, dessen komplizierte Erzählkonstruktion 35 in die Erinnerungen und Nachforschungen eines namenlosen Erzählers mehrere Einlagen von der Hand A. E.s integriert, darunter neben der bereits erwähnten „ Pfahldorfgeschichte “ auch dessen Tagebuch, das den letzten Teil des Romans einnimmt. 36 Die eigentliche Handlung des Romans beginnt im Spätsommer S. 212 - 237; Charlotte Jaekel: Vive la Bagatelle. Animismus und Agency bei Friedrich Theodor Vischer. Würzburg 2019. 30 Vischer: Auch Einer (Anm. 28), S. 322 - 332. 31 Vgl. zum grundsätzlichen Scheitern von Systembildungen in Auch Einer Petra Mayer: Von der Tücke des Systems. Friedrich Theodor Vischers Roman „ Auch Einer “ und der narrative turn (publiziert Mai 2011). URL: http: / / www.germanistik.ch/ publikation. php? id=Von_der_Tuecke_des_Systems (zuletzt abgerufen am 30. Oktober 2022) 32 Vischer: Auch Einer (Anm. 28), S. 93 - 281. 33 Ebd., S. 432. 34 Vgl. ebd., S. 591. 35 Vgl. dazu Ajouri: Erzählen nach Darwin (Anm. 29), S. 195 - 212. 36 Vischer: Auch Einer (Anm. 28), S. 357 - 592. 62 Stefan Knödler <?page no="63"?> 1865, in dem der Erzähler A. E. begegnet; nachdem sich die beiden aus den Augen verloren haben, sieht der Erzähler A. E. zunächst in einem prophetischen Traum wieder, in dem dieser von einem afrikanischen Spahi, der ein Pferd zu heftig anspornt, im Kampf getötet wird - und zwar in der Nacht „ nachdem die französische Kriegserklärung 1870 bekannt geworden “ 37 ist; auch Cordelia stirbt an diesem Tag. 38 Am nächsten Morgen sieht er A. E. in einer weiteren slapstickartigen Szene tatsächlich, als dieser gerade noch einen Zug erreicht, wobei seine Tasche aufreißt, deren Inhalt sich auf den Bahnsteig ergießt. Durch die dabei befindlichen Ausweise erfährt der Erzähler erst A. E.s wahren Namen und nimmt sich vor, ihn aufzusuchen; er wird durch die Aufgaben des Krieges an der Heimatfront indes verhindert und kann erst nach dem „ Schicksalstag von Sedan “ 39 zu einem Besuch aufbrechen; angekommen, erfährt er von A. E.s Tod. A. E.s Einrichtung der Welt besteht aus einer „ oberen “ und aus einem „ unteren “ Stockwerk. 40 Oben befindet sich das Moralische, das Gute, die sittliche Weltordnung, der Staat (A. E. ist Polizeivogt! ) - freilich immer als Ideal, denn die im unteren Stockwerk (in der Hölle) befindlichen „ Dämonen “ , die tückischen Objekte, verhindern und beschädigen die Bestrebungen im oberen und gefährden und verhindern das Erreichen des Ideals. Für Vischer ist sein Sohn Robert ebenfalls zum Objekt geworden, den er nach dem Ideal, dem auch er nachstrebt, formen möchte, zumal ihm selbst durch das tückische Hühnerauge der Kampf für sein Ideal - die deutsche Einheit - unmöglich geworden ist. Aber Robert, das lebendige Objekt, erweist sich als tückisch und widersetzt sich den Kontroll- und Formungsversuchen seines Vaters. Im Falle von Vischer und seinem Sohn geht die Sache gut aus: Die Formung gelingt insofern, als Robert die vom Vater gewünschte wissenschaftliche Karriere antritt, heiratet und sich charakterlich festigt - später lehrt er als Professor für Kunstgeschichte in München, Breslau, Aachen und Göttingen und gibt die Werke seines Vaters heraus. Auch das Scheitern von Vischers Bemühungen während des Krieges bleibt biographisch weitgehend folgenlos. Im autobiographisch grundierten Roman Auch Einer 41 jedoch wird das Scheitern monumentalisiert. Auch wenn Niederlagen gegen die 37 Ebd., S. 285. 38 Vgl. ebd., S. 591. 39 Ebd., S. 287. 40 Vgl. ebd., S. 25 f. 41 Zum Verhältnis von Autobiographie und Roman vgl. Ingrid Oesterle: Verübelte Geschichte. Autobiographische Selbstentblößung, komische Selbstentlastung und bedingte zynische Selbstbehauptung in Friedrich Theodor Vischers Roman „ Auch Einer “ . In: Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Hrsg. von Reinhold Grimm / Jost Hermand. Königstein/ Taunus 1982, S. 71 - 93. „ Dämon, der mir das Komische tragisch in den Weg wirft “ 63 <?page no="64"?> Bagatellen im Einzelnen komisch erträglich gemacht werden, endet der Roman doch tragisch. Zwar bleibt das Ideal unbeschädigt, der um es ringende Held aber geht an der Tücke des Objekts zugrunde. Vischer selbst hat dieses Schicksal, indem er es in seinem Roman konsequent zu Ende denkt, für sich gebannt. 64 Stefan Knödler <?page no="65"?> Blick zurück nach vorn - Die literarische Verarbeitung des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/ 71 bei Erica Grupe-Lörcher Annette Kliewer, Bad Bergzabern Wie kam eine deutsche Autorin in Straßburg dazu, sich intensiv mit einem historischen Ereignis zu beschäftigen, das vierzig Jahre zurückliegt? Der folgende Beitrag untersucht die literarischen Verarbeitungen eines Traumas, das Deutsche und Elsässer: innen auf Jahrzehnte entfremdet hat - aus der Sicht einer heute völlig unbekannten Unterhaltungsschriftstellerin. Nur wenig wissen wir über ihre Biographie: Erica Grupe wurde 1875 in Manila als Tochter eines deutschen Pharmazeuten geboren und verbrachte ihre Kindheit auf den Philippinen. Auf diese Erfahrung griff sie später in einigen Romanen zurück 1 . 1885 kehrte die Familie nach Lübeck zurück, wo der Vater als Museumsdirektor arbeitete. 1897 heiratete sie den deutschen Journalisten und Schriftsteller Ulrich Lörcher (1869 bis 1930). Lörcher, der ursprünglich in Württemberg eine Lehrerausbildung absolviert hatte, war Chefredakteur des Straßburger Tageblatts und ab 1899 des Elsässer Tageblatts und schließlich Redakteur im literarischen Büro des kaiserlichen Ministeriums. Grupe-Lörcher schrieb vor allem Konzert- und Theaterkritiken für die Zeitung ihres Mannes. Außerdem entwickelte sie eine umfangreiche Tätigkeit als Roman- und Kinderbuchautorin. 1918 wurde das Ehepaar aus dem Elsass ausgewiesen. Nach dem Krieg war Grupe-Lörcher Pressereferentin in Wiesbaden und verstarb dort 1960. Die Autorin widmet sich in zahlreichen Texten dem Leben im Elsass, insbesondere der Aufarbeitung des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/ 71. Grundlage der folgenden Ausführungen sind der Roman Im Kampf um Straßburg (1912) und die beiden Erzählbände Zu Straßburg auf der Schanz (1914) und Ums Elsass. Kriegsnovellen (1915). 1 Auf heißem Boden. Ein Roman aus den Philippinen. Berlin 1911; Freundschaft in den Tropen. Zwei Freundinnen erleben die Philippinen. Hannover 1956. <?page no="66"?> Der Deutsch-Französische Krieg Grupe-Lörcher eignet sich viele historische Kenntnisse über den Kriegsverlauf an und lässt diese immer wieder in ihre Texte einfließen, mit dem Ziel, das Handeln der Deutschen zu verteidigen 2 : Straßburg wurde durch deutsche Truppen vom 12. August bis zur Kapitulation am 28. September 1870 belagert. Angeführt wurde das preußische Heer durch den General August von Werder, Ziel war es, die elsässische Haupt- und ehemalige Reichsstadt einzunehmen und damit den Besitzanspruch auf ganz Elsass-Lothringen zu bekräftigen. Auf der rechtsrheinischen Seite standen 40.000 Soldaten aus Württemberg und Baden bereit. In Straßburg selbst gab es zunächst nur ca. 7000 Franzosen, es kamen danach noch ca. 16.000 Versprengte von der Schlacht von Wörth dazu, die aber zum großen Teil schon geschwächt und schlecht vorbereitet waren. Kommandant und gleichzeitig Gouverneur der Stadt war der 68-jährige General Jean-Jacques Uhrich, der zunächst versuchte, die Bevölkerung zu beruhigen. In der Tat waren die französischen Truppen völlig überrascht, man flutete die Gräben der Festung erst beim Eintreffen der ersten deutschen Truppen. Die Festungsartillerie war oft veraltet und die Festung selbst nicht mehr auf dem neuesten Stand. Vor allem zeigte sich, dass die Fortanlagen viel zu nah an der Stadt gelegen waren, so dass die Angreifer sofort einmarschieren konnten, wenn sie einzelne Anlagen überwunden hatten. Sie wurde sofort von der Außenwelt abgeschnitten. Da es das Ziel der Deutschen war, die Stadt schnell zu erobern, gab es schon am 23. August ein erstes Bombardement, das die Bevölkerung traumatisierte, weil schon hier das Wahrzeichen der Stadt, das Münster, beschädigt wurde. In dem Roman Im Kampf um Straßburg (1912) lässt deshalb Grupe-Lörcher einen Deutschen von seiner Scham wegen dieser Barbarei sprechen: Das war für Fred wie ein Schlag. Ein doppelter Schmerz, daß das Wahrzeichen der Stadt, das Juwel mittelalterlicher Baukunst, ein Raub der Flammen sein sollte, daß deutsche Truppen es nicht verschont hatten! [ … ] „ Und das haben unsere Truppen getan, unsere Kugeln verursacht! “ dachte Fred erregt, als er sich nach kurzer Zeit weiterwandte. Er konnte es nicht mehr zwischen diesen trauernden, bangenden Mitmenschen aushalten, ein Gefühl stummer Mitschuld trieb ihn aus ihrer Mitte. 3 2 Die Informationen zu den historischen Hintergründen wurden folgenden Quellen entnommen: Michael Epkenhans: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/ 1871. Ditzingen 2020; Carl Bleibtreu: Belagerung von Straßburg 15. August bis zum 28. September 1870. Paderborn 2011 (1910); Adolf Borbstaedt: Der deutsch-französische Krieg 1870 bis zu der Katastrophe von Sedan und der Kapitulation von Straßburg. Nach dem inneren Zusammenhange dargestellt. Berlin 1872. 3 Erica Grupe-Lörcher: Im Kampf um Straßburg. Berlin 1912, 158 f. 66 Annette Kliewer <?page no="67"?> Die Zerstörung des Dachstuhls des Münsters spielte in der kollektiven Erinnerung im Elsass eine wichtige Rolle, stellte es doch einen Verstoß gegen die Ideologie dar, dass die Deutschen nur zurückgekommen seien, um sich ihr eigenes Gut wieder zurückzuholen. Grupe-Lörcher geht deshalb immer wieder auf die Vorwürfe ein, die Deutschen seien „ Barbaren “ , die die wahre Zivilisation nicht wertschätzen könnten: „ Wir können doch nicht alle von Kopf bis zu Füßen im Handumdrehen Preußen werden! “ - „ Das verlangt niemand. Aber ihr sollt wenigstens Elsässer sein und unserer Heimat dadurch dienen wollen. Ihr aber waret immer noch Franzosen. Frankreich ist euch das Dorado geblieben, der Gipfel der Kultur. Die Deutschen sind bei euch immer noch die lächerlichen Sauerkrautfresser, die Barbaren, die mit ihren Kürassierstiefeln alles niederstampfen. Und Berlin ist für euch noch immer ein Dorf! “ 4 In der Tat hatten die Kampfhandlungen 1870 dazu geführt, dass nicht nur der Dachstuhl über dem Gewölbe im Münster abgebrannt war, sondern dass auch die große Universitätsbibliothek mit 400 000 Bänden, Urkunden und Handschriften, teilweise aus dem Mittelalter, zerstört wurde, vor allem dem mittelalterlichen Hortus Deliciarum von Herrad von Landsberg aus dem Jahr 1175. Auch das Kunstmuseum, die Gemäldesammlung und die mittelalterliche Neukirche (Temple Neuf ) mit einer berühmten Frescomalerei fielen den Flammen zum Opfer. Innerhalb der Stadt gab es Konflikte, wie mit den Angreifern umzugehen sei: Während der Bischoff der Stadt um Gnade bat, beharrten Uhrich und Teile der Bevölkerung auf einer Fortsetzung der Kämpfe. Werder, der ja zum Ziel hatte, die Stadt so wenig wie möglich zu zerstören, stellte daraufhin die Bombardierung ein, und begann eine längerfristige Belagerung, wobei man vor allem die Wälle angriff. Die französischen Soldaten waren meist völlig überfordert und schlecht organisiert. Ein Thema, das sich in Grupe-Lörchers Texten immer wieder findet, ist die schweizerische Abordnung der Kantone Basel- Stadt, Bern und Zürich, die am 11. September von der badischen Regierung die Erlaubnis erhielt, 1400 Frauen, Kinder und Greise aus der belagerten Stadt in die Schweiz zu bringen. Dieser Auszug wurde von den Deutschen aber eher als Verrat an den Zurückgebliebenen gesehen, es wurde den Geretteten vorgeworfen, sie hätten nur ihren eigenen Vorteil im Blick und seien noch nicht einmal besonders benachteiligt, sondern einfach besonders feige. Grupe-Lörcher mokiert sich denn auch in ihrer Erzählung Adrienne: Anfangs sollten nur Greise, Frauen und Kinder ohne Unterschied des Standes ausziehen dürfen. Aber jetzt wollen die Schweizer nur solche mitnehmen, die sich aus eigenen Mitteln erhalten können. Wißt ihr - so armes Volk wie wir müßte man drüben an der Schweizer Grenze ja noch unterhalten - und so weit reicht der Edelmut 4 Erica Grupe-Lörcher: Ums Elsass. Kriegsnovellen. Leipzig 1915, S. 67 f. Blick zurück nach vorn 67 <?page no="68"?> der Schweizer Brüder nicht. Nun, wenn die Reichen sich abermals retten, werden wir Zurückbleibenden uns auch zu entschädigen wissen. 5 Am 30. September zogen die deutschen Truppen in die Stadt, eine Szene, die Grupe-Lörcher mehrfach beschreibt: In ihrer Erzählung Kapitulation lässt sie einen frankophilen Kämpfer am Schluss in der Einsicht, dass die Zukunft den Deutschen gehört: die Vergangenheit zog hinaus, die neue Gegenwart zog ein! Der jammervolle Auszug der besiegten Armee war das Abbild des zusammengebrochenen, morschen Frankreichs. Dem einziehenden jungen Deutschland aber gehörte in seiner Kraft, in seinem inneren Zusammenhalt die Zukunft, nein, die Gegenwart schon! Und das Herz seines Kindes, das sehnsüchtig seinem Glück entgegenjauchzte, das sich in seiner Liebe dem siegreichen jungen Deutschland zugewandt, durfte er nicht mit der sich senkenden Trikolore bedecken! 6 Entschuldigung des deutschen Verhaltens Anlass für die Beschäftigung mit dem Deutsch-französischen Krieg bei Grupe- Lörcher ist sicher das Unbehagen, das sie in der elsässischen Gesellschaft auch noch Jahrzehnte nach der traumatisierenden Erfahrung spürt: Die Deutschen werden immer noch als „ Besatzer “ wahrgenommen, die die Elsässer: innen instinktiv ablehnen. Diese Haltung lässt sich zum einen mit einer inneren Double-Bind-Situation innerhalb der elsässischen Gesellschaft erklären: So war die elsässische Gesellschaft einerseits kulturell und sprachlich an Deutschland orientiert, politisch fühlte man sich aber seit der französischen Revolution als Franzosen. Der Krieg von 1870/ 71 und die folgende Reichslandzeit hat diese Ambiguität noch verstärkt: So fühlten sich die Elsässer: innen gedemütigt durch die Annexion an das Deutsche Reich. Tiefsitzend blieb der Hass gegen die Besatzer, die sich als die rechtmäßigen Besitzer aufspielten und versuchten, den Elsässer: innen einzureden, sie seien nun zu ihrer „ wahren Kultur “ zurückgekehrt. Wie aggressiv man auf diese Missionierung reagierte, wird z. B. an der Ikonographie eines „ Hansi “ deutlich, der die verschiedenen deutschen Einwanderer: innen karikierte, allen voran die Figur des „ Professors Knatschke “ . Er stellt die Deutschen immer mit den gleichen Insignien dar: der Pickelhaube, einer Brille, Lodenkleidern und Tirolerhut. 7 Grupe-Lörcher hat diese Aggression 5 Erica Grupe-Lörcher: Zu Straßburg auf der Schanz. Elsässische Novellen. Berlin 1914, S. 123. 6 Grupe-Lörcher: Ums Elsass (Anm. 4), S. 21. 7 Hansi: Professor Knatschke. Des großen teutschen Gelehrten und seiner Tochter ausgewählte Schriften. Den Elsässern mitgeteilt und illustriert von Hansi. Mülhausen im Elsass.1913. Jean-Jacques Waltz (1873 bis 1951), bekannt unter der Pseudonym „ Hansi “ 68 Annette Kliewer <?page no="69"?> gegen die Deutschen gut herausgespürt und wohl auch unter ihr gelitten. Ihre Beschwichtigungstexte zum Krieg von 1870/ 71 sind demnach auch ein Versuch, die eigene Position gegenüber den Angriffen zu klären. In Zu Straßburg auf der Schanz schreibt sie in einem Vorwort: Vor allen Dingen bestimmte mich der Wunsch: Den Blick und das Interesse von weiten Kreisen auf das Elsaß zu lenken. Nicht auf das Elsaß, wie es jahraus jahrein hüben und drüben von den Vogesen in der Presse als das rein politische Sujet behandelt wir, an die nationalen Gegensätze und das Ringen von Vergangenheit und Gegenwart das allein Interessante sind. Sondern ich habe in der mich umgebenden Welt die Menschen mit ihren Schicksalen herauslesen wollen. Besonders aus jener denkwürdigen Zeit, welche den Namen dieses Landes mit ehernem Griffel in die Weltgeschichte schrieb. 8 Gerade das Leben in der Großstadt Straßburg war lange nach dem Krieg 1870/ 71 zwiegespalten: Die deutsche Administration erklärte die Stadt zu einer regionalen Metropole, in der man vor allem in Prestigeprojekte wie den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Universität, des Kaiserpalasts, des Landtags Elsaß-Lothringen und der Reichslandverwaltung rund um den Kaiserplatz investierte. Ein ganzes Viertel von neuen Villen entstand, mit den Straßennamen deutscher Schriftsteller und Musiker. Der Straßburger Hauptbahnhof wurde 1883 vom Berliner Architekten Johann Jacobsthal errichtet, der ein Jahr zuvor den S-Bahnhof Alexanderplatz baute. Der Höhepunkt war die Industrieausstellung von 1895 in der Orangerie, wo Modernität und Wohlstand demonstriert werden sollte. In Straßburg lebten 1870 rund 90.000 Menschen, 1895 werden es 150 000 sein, wobei es eine starke Einwanderung von Deutschen gab. Die Mehrheit der Elsässer standen aber weiter einer Eingliederung in das Deutsche Reich skeptisch gegenüber, bei den Reichstagswahlen gewannen bis 1890 regelmäßig die „ Protestler “ oder die „ Autonomisten “ , die sich immer noch zu Frankreich zugehörig fühlten. Das klingt in Grupe-Lörchers Erzählung Mit offnem Visier so: Bittere Zeiten kamen, für die Eingesessenen wie für die Eingewanderten. Im Benehmen der Elsässer offenbarte sich ihre Überzeugung: „ Ihr seid Eindringlinge! Wir betrachten euch nur als Invasion. Wir bleiben nicht in eurem Besitz. Frankreich wird uns zurückholen! “ hat das Elsass-Bild geprägt wie kaum ein anderer. Noch heute werden seine idyllisierenden Heimat-Postkarten überall dort verkauft, wo Touristen zu erwarten sind, und auch seine Bilderbücher L´Histoire de l´Alsace racontée aux petits enfants und L´Alsace heureuse sind immer noch Bestseller. Dabei ist er immer wieder in die Diskussion gekommen, weil seine Darstellung des Elsass immer auch geprägt war von nationalistischen, anti-deutschen Einstellungen. 8 Grupe-Lörcher: Zu Straßburg (Anm. 5), S. 7. Blick zurück nach vorn 69 <?page no="70"?> Und die Deutschen schienen in ihrer festen Ruhe zu antworten: Wir bleiben. Wir haben uns jeden Stein dieser Stadt, die einst uns gehörte, ehrlich zurückerstritten. Erwartet nicht von Frankreich, das euch preisgegeben, das letzte Heil! 9 Grupe-Lörcher greift die Vorkommnisse um 1870/ 71 aber nicht nur auf, um ihre eigene Position in der elsässischen Gesellschaft zu verarbeiten, besonders die Erzählungen aus den Jahren 1914 und 1915 sind schon eine Projektion auf den Ersten Weltkrieg. In diesem stellte sich natürlich die Frage, welcher Nation sich die Elsässer: innen zugehörig fühlen würden, auf welcher Seite sie kämpfen würden und welcher Seite sie nach den Kampfhandlungen angehören wollen würden. Als könnte sie in die Zukunft sehen: Die negative Einstellung gegenüber den Deutschen in der elsässischen Gesellschaft führte auch dazu, dass 1918 nach dem Sieg Frankreichs zum Ende des Ersten Weltkriegs eine ethnische Säuberung in den sogenannten „ Commission de triage “ durchgeführt wurde, der auch Grupe-Lörcher und ihr Mann zum Opfer fielen: Die gesamte Bevölkerung wurde in vier Kategorien eingeordnet, die „ rein Deutschen “ und die mit Deutschen Verheirateten mussten das Land verlassen. Karikierend werden diese Säuberungsprozesse von der Zeitgenossin Marie Hart (1856 bis 1924) dargestellt, einer elsässischen Autorin, die selbst wie Grupe-Lörcher nach Deutschland exilieren musste, weil sie mit einem Deutschen verheiratet war: ’ S därf kener meh herumlaufe, wie nit wie e Hammel mit ’ me Bue ’ stawe gezeicht isch. 1tes Carte A - reini Elsässer, wie nur keltisch Bluet in den Odere han. 2tes Carte B - Mischling, verhassti Prodükt üs eren unnatierliche Hieroot zwischen ’ men Elsässer un ere Ditsche, oder e me Ditschen un eren Elsässere. 3tes Carte C - Neutrali. 4tes Carte D - Ditschi, Schwoowe ! Boches ! ! Enfin, dr Oswurf von d ’ r Menschheit! 10 Ein weiblicher Blick auf den Krieg? Wie sieht ein weiblicher Blick auf den Krieg aus? Eine Möglichkeit wäre, dass die Frauen sich aus der Politik heraushalten, ja dass sie sich nur als Opfer des Krieges wahrnehmen. Ein anderer wäre, dass Frauen als Kriegsgegnerinnen auftreten, die an den „ Spielen der Männer “ nicht teilnehmen. 11 Welchen Weg wählten die Autorinnen, die das Leben in Elsass/ Lothringen von innen kannten? Entschieden sie sich für eine der beiden Nationen und beteiligten sich an den nationalistischen Gefechten? Oder verweigerten sie sich und sahen sich in 9 Ebd., S. 18. 10 Marie Hart: Üs unserer Franzosezit. Stuttgart 1921, S. 73 f. 11 Vgl. Sabine Hering: Die Kriegsgewinnlerinnen. Praxis und Ideologie der deutschen Frauenbewegung im Ersten Weltkrieg. Pfaffenweiler 1990. 70 Annette Kliewer <?page no="71"?> erster Linie als Frauen? Verschiedene Untersuchungen zu dieser Frage haben gezeigt, dass auch die Frauen in der Region sich nicht pazifistischer zeigten als ihre Kolleginnen im Reichsinneren. In der Regel wählten auch sie den Weg weiblicher Mittäterschaft. 12 Wie gestaltet nun Grupe-Lörcher ihre weiblichen Kriegsromane? Welche Rollen gibt sie Frauen in ihren Texten? Die Liebe zwischen den Nationen Ein oft gewähltes Thema ist eine Art „ Romeo-und-Julia-Romanze “ zwischen den beiden verfeindeten Nationen. 13 Grupe-Lörcher lenkt die Sympathie der Leser: innen dahin, die Zuneigung einer Frau zu einem Deutschen als Zeichen ihrer nationalen Entscheidung für Deutschland und gegen Frankreich zu deuten. 14 Obwohl die Umgebung sich von ihr abwendet, obwohl die Familie Druck auf sie ausübt, entscheiden sich elsässische Frauen für die „ richtige Seite “ . Das soll an der Erzählung Mit offnem Visier (S. 9 - 47) gezeigt werden. Geschrieben wird über eine elsässisch-deutsches Paar. Bernhard Seifferling verliebt sich schon beim Einmarsch in das besiegte Straßburg in Gabrielle Bott, Tochter einer frankophilen Familie und entscheide sich dazu, nach dem Krieg als Architekt am Aufbau der Stadt mitzuarbeiten. Gabrielle ist zwar schon vergeben, aber schnell erfährt Seifferling, dass ihr Verlobter Armand nicht mit „ offnem Visier “ kämpft. Er traut sich nicht, sich offen von ihr loszusagen, nachdem sein Bruder ihn unter Druck gesetzt hat. Seifferling überzeugt Gabrielle nach und nach von der deutschen Kultur: „ Als Seifferling ihr einige der Gedichte vorgelesen hatte, fühlte er, daß die korrekten Verse Racines und Boieldieus, daß die Phrasen Victor Hugos sie kalt gelassen haben mochten. Aber daß die Empfindungen Lenaus auch in ihrem Gefühlsleben tief schürften. “ 15 Schließlich entscheidet sie sich, seinen Heiratsantrag anzunehmen, als ihre Familie nach Lyon umziehen 12 Vgl. genauer zu Reaktionen von Autorinnen der Region auf den 1. Weltkrieg: Annette Kliewer: Frauen in Lothringen-Elsaß-Saarland zum 1. Weltkrieg. Zwischen den Fronten. In: Thomas F. Schneider (Hrsg.) : Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „ modernen “ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Osnabrück 1999, S. 233 - 248. 13 Vgl. zu dem Begriff Günter Scholdt: Romeo und Julia oder Liebe als Landesverrat? Ein Motiv im Spiegel der deutsch-französischen Grenzliteratur. In: ders. (Hrsg.): Grenze und Region. Literatur und Literaturgeschichte im Grenzraum Saarland Lothringen Luxemburg Elsaß seit 1871. Blieskastel 1996, S. 186 - 225. 14 Nur in einer Erzählung (In zwölfter Stunde. In: Grupe-Lörcher: Ums Elsass [Anm. 4], S. 22 - 39) wird diese Konstellation auch einmal umgekehrt: Der Elsässer René war von seinen Eltern nach Paris geschickt worden, bei Kriegsbeginn wird er als „ Boche “ angegriffen, kehrt aus Paris nach Straßburg zurück und verbindet sich gegen den Willen seiner Eltern hier mit einer deutschfreundlichen Elsässerin, die er vorher verlassen hatte. 15 Grupe-Lörcher: Zu Straßburg (Anm. 5), S. 41. Blick zurück nach vorn 71 <?page no="72"?> möchte. Auch in dem Roman Im Kampf um Straßburg (1912) wird deutlich, dass der Krieg es unmöglich macht, nationenübergreifende Beziehungen aufrecht zu erhalten. Charlotte Choppinet, verheiratet mit einem französischen Militär, erlebt nun eine Entfremdung, die sie in die Arme eines Deutschen treibt. Es wird so dargestellt, als regten sich nun die deutschen Gene: „ Seit die Wahrscheinlichkeit des Krieges riesengroß vor ihr aufstieg, erwachte auch ihr deutsches Blut, das in den Jahren des Friedens national keine Stellung zu nehmen hatte. “ 16 Die oberflächliche Französin Ein Gegenmodell zu dieser jungen Frau, die sich für das Deutschtum entscheidet, sind immer die frankophilen oberflächlichen Mädchen: In Der Kampf um Straßburg ist dies etwa Angélique Feydeau, die während der Kampfhandlungen zu ihrer Freundin Charlotte zieht, weil sie sich auf dem Land langweilt, die dann eine Beziehung zu Charlottes Mann beginnt und am Schluss ihre kleine Tochter verhungern lässt, weil sie nach seinem Tod einen psychischen Zusammenbruch erleidet. Die einsichtige Frau und Mutter In dem Kampf um die elsässische Identität wird der jungen Frau eine ältere Mentorin zur Seite gestellt, eine Frau, die manchmal größere Einsicht als ihr Mann hat. Sie erkennt früher als er, wie gefährlich die Franzosen in ihrer Oberflächlichkeit sind: In der Erzählung Tigre Singes 17 erkennt Auguste Schuler, dass die Franzosen keine Befreier sind, sondern in ihrer Unberechenbarkeit gefährliche Bestien: „ Du weißt, das [sic] Voltaire mit seiner bissigen Ironie seine eigenen Landsleute, die Franzosen, Tigre-singes genannt hat. Tiger-Affen, von der geschmeidigsten, elegantesten Höflichkeit, solange diese äußere Tünche zu bewahren ist. Aber zu gegebenen Augenblicken grausam und bestialisch, wie ein Tiger. “ 18 Sie soll Recht behalten und ihr Mann gibt am Ende zu: „ Tigre-singes! “ hörte er immer wieder in seinen Gedanken. Ja, das war das erste Kulturvolk der Welt! Und was eine Spanne Zeit von vierundvierzig Jahren nicht vermocht, das zerstörten nun in wenigen Augenblicken bis auf den Grund und für allezeit diese Vertreter der einst so bewunderten Nation. 19 16 Grupe-Lörcher: Im Kampf (Anm. 3), S. 12. 17 Grupe-Lörcher: Ums Elsass (Anm. 4), S. 64 - 80. 18 Ebd., S. 66 f. 19 Ebd., S. 80. 72 Annette Kliewer <?page no="73"?> Frauen durchschauen also die Politik besser als die Männer, indem sie sich Deutschland öffnen. In der Erzählung Kapitulation erlaubt es ein sterbender frankophiler Vater seiner Tochter Yvette, sich mit dem deutschen Militär Ebeling zu verheiraten, der früher Freund der Familie war und jetzt als Feind nach Straßburg eingezogen ist. Eine besondere Rolle bei der Umkehr des Vaters weg von Frankreich nimmt auch hier die Mutter ein: „ Wir haben Frankreich unseren Tribut gezollt, wir erfüllten ihm gegenüber unsere Pflicht. Unser Heimatboden ist mit dem Blute unserer Söhne des Elsasses getränkt, unsere Fluren sind verwüstet, während sie in der Provence in Ruhe ihre Oliven und ihren Wein weiterbestellen. Frankreich hat uns im Stich gelassen. Nun ist es an uns, an uns selbst zu denken. Ich opfere dem Andenken an Frankreich nicht das Glück meines Kindes. “ 20 Die verhärtete Mutter oder Schwiegermutter Ein negativer Frauentypus steht dem gegenüber: Es handelt sich um die Figur der bösen Mutter oder Schwiegermutter, die sich in mehreren Texten 21 wiederfindet. Immer ist sie es, die die Familie dazu zwingen will, sich einseitig auf die Seite Frankreichs und der französischen Kultur zu stellen. Dies setzt sie gegenüber ihrer Tochter durch. In diesen Fällen werden die Mütter als extrem oberflächlich und in ihrer Frankophilie als luxusbesessene Püppchen gezeichnet. In der Erzählung Die Heimat 22 trennt sich der elsässische Soldat Fröreisen von seiner Verlobten Héloise, als diese mit ihrer frankophilen Familie die belagerte Stadt verlässt: „ Ihr bedeutete das Elsass, bedeutete Straßburg nichts. Unter dem Einfluß ihrer französischen Mutter hat sie hier nie innerlich Wurzel gefaßt, und ihr Vater war viel zu schwach und unbedeutend, um ihr die Schönheit unseres Elsasses lebendig zu machen. “ 23 Auch die „ böse Schwiegermutter “ ist frankophil, sie besteht auf ihrem Recht gegenüber der deutschen Schwiegertochter. Von ihr verlangt sie, dass sie alles Deutsche abstreift. Der (männliche) Enkel soll zu einem guten Franzosen erzogen und damit dem mütterlichen Einflussbereich entzogen werden. In Die feindlichen Gespielen 24 gelingt es der Schwiegertochter Hortense, die kurzen Abwesenheiten der Schwiegermutter auszunutzen, um den Sohn Gaston mit dem deutschen Nachbarkind spielen zu lassen. Im Roman Im Kampf um 20 Grupe-Lörcher: Zu Straßburg (Anm. 5), S. 14. 21 Erica Grupe-Lörcher: Die feindlichen Gespielen. In: Grupe-Lörcher: Zu Straßburg (Anm. 5); Grupe-Lörcher: Im Kampf (Anm. 3). 22 Grupe-Lörcher: Ums Elsass (Anm. 4), S. 39 - 64. 23 Ebd., S. 62. 24 Grupe-Lörcher: Zu Straßburg (Anm. 5), S. 82 - 99. Blick zurück nach vorn 73 <?page no="74"?> Straßburg (1912) erkennt die Deutsche Charlotte, wie der Krieg sie von ihrer neuen Familie entfernt: „ Ich fühle, daß meine Wünsche und Gedanken denjenigen meines Gatten und seiner Mutter widerstreben müssen. Dieser Krieg wird mich meinem Manne, meinem ganzen Heim entfremden! Jetzt nach der Kriegserklärung erheben sich die Traditionen dieser Familie gegen mich! Ich werde der Eindringling sein, und selbst mein Knabe wird mir immer mehr genommen werden. “ 25 In diesem Roman geht die Schwiegermutter sogar soweit, ihren Enkel Albert regelrecht zu entführen. Er soll wie sein Vater und sein Großvater auch eine französische Militärausbildung absolvieren, dazu soll er mit der Großmutter in die Schweiz fliehen und von dort nach Paris verbracht werden. Die Macht der Schwiegermutter wird noch erweitert, wenn ihr Sohn stirbt (natürlich im Krieg). Das Happy End besteht dann darin, dass die ehemalige Schwiegertochter sich aus dem Machtbereich der Älteren entfernt und doch einen neuen deutschen Partner findet. Abschließend lässt sich sagen, dass Grupe-Lörcher den weiblichen Figuren eine besondere Bedeutung im nationalen Kampf zuschreibt, nur nicht an der militärischen Front, sondern an der „ Liebesfront “ . Damit lässt sich auch ihr Schreiben in eine Strategie einordnen, die besonders die Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung im Kontext des 1. Weltkriegs verfolgten: Nicht nur etablierte Schriftstellerinnen bezogen literarisch Stellung zur Nation, sondern auch viele ‚ Dilettantinnen ‘ beteiligten sich zwischen 1914 und 1918 an der literarischen Kriegspropaganda in allen kriegsführenden Ländern. Zahllose Gedichte, Kampfschriften, Dramen und Romane richteten sich explizit an Frauen als Rezipientinnen. Damit konnten die Schriftstellerinnen nachweisen, dass auch sie ihren Dienst am Volk ableisteten, was indirekt auch dazu führen konnte, dass Frauen einen Anspruch auf Rechte - nicht zuletzt das Wahlrecht - geltend machen konnten. 26 25 Grupe-Lörcher: Im Kampf (Anm. 3), S. 27 f. 26 Vgl. Annette Kliewer: „ Das deutsche Reich wird nach Müttern fragen! “ Die „ mütterliche “ Beteiligung von Schriftstellerinnen am Ersten Weltkrieg. In: Schneider (Anm. 12), S. 45 - 52; Annette Kliewer: „ Der Tag wird kommen …“ Zur Analyse der Anti-Kriegstexte von Frauen seit dem Ersten Weltkrieg. In: Renate von Bardeleben (Hrsg.): Frauen in Kultur und Gesellschaft. Ausgewählte Beiträge der 2. Fachtagung, Frauen-/ Gender- Forschung in Rheinland-Pfalz. Tübingen 2000, S. 175 - 187. 74 Annette Kliewer <?page no="75"?> Schluss Insgesamt sind Grupe-Lörchers Texte einer weiblichen Unterhaltungsliteratur zuzurechnen, die bestimmte politische Zusammenhänge für Frauen aufbereitet. Dass dabei immer gleiche Stereotypen verwendet werden, zeigt wie ihr Schreibprozess verlief: Sie greift immer wieder auf gleiche Motive, Figuren und Plots zurück, die sie mehrfach verwertet. Es fällt dabei auf, dass sie über eine gute Analyse der elsässischen Gesellschaft verfügt und sicher unter der Feindschaft zwischen den Deutschen und den Elsässer: innen selbst gelitten hat. Es ist ihr auch nicht abzusprechen, dass sie dabei die verschiedenen Bevölkerungsschichten genau beobachtet und ansatzweise sogar sozialkritische Töne anschlägt. 27 Besonders spannend ist, wie sie versucht, mit der Darstellung des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/ 71 ein Thema für weibliche Leserinnen aufzuarbeiten, wobei sie den weiblichen Figuren eine aktive Rolle gibt. An keiner Stelle erscheinen die Frauen als Opfer der Zustände, sondern repräsentieren - ob positiv oder negativ gezeichnet - eine starke Position. Wie viele andere Autorinnen ihrer Zeit ist Grupe-Lörcher heute vergessen, auch weil man sie zwischen „ Propaganda “ und „ Trivialiät “ einzuordnen hat. 27 Etwa in der Erzählung Adrienne aus Zu Straßburg auf der Schanz, wo das Leiden einer jungen Mutter aus dem Proletariat geschildert wird. Blick zurück nach vorn 75 <?page no="77"?> Marie Hart: Erinnerungen ues ’ m sieweziger Krieg, awer ken militärischi (1911) Raphaël Fendrich, Heidelberg / Szeged I. Einleitung: Zeitgenössische Textzeugnisse Nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges findet Ende des Jahres 1870 für eine Reihe von Schülerinnen einer elsässischen Kleinstadt kaum noch regulärer Unterricht statt. Sie sprechen mit ihrer Lehrerin über Kriegsneuigkeiten und schelten über die Preußen. Die Aufsätze, welche zu Hause anzufertigen sind, nehmen oft Bezug auf den Krieg. Die Themen lauten: „ Que pourrait faire une jeune fille pour délivrer sa patrie? “ , „ Warum Gott unsere Feinde begünstigt. “ Und über die Weihnachtsferien ist über das Thema „ Passage de l ’ année 1870 à 71 “ zu schreiben. 1 Einige Aufsätze der damals vierzehnjährigen Marie Anne Hartmann (1856 bis 1924) sind erhalten: Sie dokumentieren die Eindrücke eines in einem patriotischen Elternhaus aufgewachsenen elsässischen Mädchens, spiegeln noch Ende 1870 Hoffnungen auf einen französischen Sieg wider und beleuchten die Mentalitäten ihres Milieus. Der Vater war Apotheker und die Mutter 1 Die Szene beschreibt Marie Hart in den Erinnerungen ues ’ m sieweziger Krieg, awer ken militärischi, die den Hauptgegenstand des vorliegenden Beitrags bilden. Siehe Marie Hart: Ues minre alte Heimet. Aus dem Nachlass. Hrsg. von Charlotte Kurr. Berlin 1930, S. 9 - 43, zur Datierung ebd. S. 43. Die Neuauflage von Ues minre alte Heimet aus dem Jahre 2006 ist unvollständig und enthält den Text nicht, dafür jedoch Teile aus dem Buch Erinnerungsland (Stuttgart 1923). Eine frühere Veröffentlichung des Textes findet sich in der von Robert Ernst herausgegebenen Zeitschrift Elsaß-Lothringen / Heimatstimmen 1928, I, S. 34 - 40; II, S. 105 - 111; III, S. 170 - 177; IV, S. 235 - 240; V, S. 298 - 304. Zur Entstehung des Textes siehe Raphaël Fendrich: Grenzland und Erinnerungsland. Die Identität des Elsass im Werk Marie Harts (1856 - 1924). Baden-Baden 2018, S. 227. Auf den Seiten 227 - 242 findet sich bereits eine Analyse des Textes mit etwas anderem Schwerpunkt. Dort zitiere ich auch ausführlich aus den genannten und weiteren Aufsätzen, siehe ebd., S. 238 - 242; siehe zu den Aufsätzen auch den Marie-Hart-Nachlass im Archivzentrum der Stadt- und Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main, Na19/ 102. <?page no="78"?> Lehrerin. Ihre Familie gehörte zur französisch gesinnten Bildungselite ihres Heimatstädtchens. Unter dem Namen Marie Hart 2 war sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in und auch außerhalb des Elsass als Autorin dialektaler Prosa nicht unbekannt. 3 Ihr Werk, das von einigen Zeitgenossen der Heimatkunst zugerechnet wurde, 4 ist stark autobiografisch geprägt 5 und enthält Hinweise auf die Art der patriotischen Einstellung ihrer Familie, beispielsweise die in D ’ r Hahn im Korb veröffentlichte „ Elsässische Novelle “ D ’ r Schorsch uf d ’ r Freierei: 6 In den 1860er Jahren macht der Apotheker Hermann 7 während eines Wirtshausgesprächs deutlich, dass er Napoleon III. (1808 bis 1873) sowie dessen Regierung kompromisslos ablehnt, für den und für dessen Gattin man „ im allgemeine weni Sympathie im Elsass het g ’ het “ . 8 Er illuminiere deshalb sein Haus am Napoleonsfest nicht. 9 Dem Kaiser wirft er vor: „‚ Er het als Präsident en Eid g ’ schwore g ’ het, 2 Durch ihre Heirat im Jahre 1882 mit einem deutschen (! ) Offizier war ihr Familienname zu dem Zeitpunkt eigentlich Kurr. 3 Dies belegen Besprechungen und Veröffentlichungen in der Straßburger Post und in überregionalen Zeitungen, siehe Fendrich: Grenzland (Anm. 1), S. 143 f., 216 - 220, 290 f., 317 - 320, 364 - 82, 402 f. sowie Kapitel 9, S. 435 - 476. Hauptsächlich war sie freilich Personen aus dem Elsass bekannt oder Personen, die mit der Region in Verbindung standen. 4 Siehe Fendrich: Grenzland (Anm. 1), S. 56 f., 155. Zu einer erweiterten Perspektive auf die Heimatkunst im Elsass siehe Andreas Kramer: Elsass-Diskurse in der deutschen Moderne. In: ders.: Regionalismus und Moderne. Studien zur deutschen Literatur 1900 - 1933. Berlin 2006, S. 65 - 142. 5 Neben Erzähltexten veröffentlichte Marie Hart auch etliche Gedichte und schrieb auch einige Stücke für das Elsässische Theater. Die Mehrzahl der Prosatexte Marie Harts sind von ihrer eigenen Biografie stark inspiriert. Es lassen sich jedoch Texte unterscheiden, die aufgrund der Figurenkonstellationen nicht nur an der eigenen Familie orientiert, sondern womöglich als autobiografisch einzustufen sind. Dazu gehören mehrere der G ’ schichtlen und Erinnerungen üs de sechziger Johr (Stuttgart 1911) sowie die hier dargestellten Erinnerungen ues ’ m sieweziger Krieg. Sie ändert zwar die Namen einiger Figuren, insbesondere den eigenen Familiennamen Hartmann zu Hermann ab, die eigene Familie und der Heimatort Buchsweiler/ Bouxwiller (in ihren Texten Dachsweiler) sowie weitere Personen können aber z. T. sehr leicht identifiziert werden. Auch wenn der autobiografische Status etwas unsicher bleibt, können die Fragen um Fiktionalität und Faktualität der Erinnerungen an dieser Stelle nicht erschöpfend diskutiert werden. 6 Marie Hart: D ’ r Schorsch uf d ’ r Freierei. Eine elsässische Novelle aus den sechziger Jahren. In: dies.: D ’ r Hahn im Korb. Elsässische Novellen. o. O. 2003, S. 99 - 173. 7 Der Apotheker Herrmann spielt im genannten Text nur eine Nebenrolle. Die Verwendung des Namens legt jedoch nahe, dass hier auf die Einstellung des eigenen Vaters hingewiesen wird. Zum Pseudonym Hermann für die Familie Hartmann siehe Anm. 5. 8 Marie Hart: Strooßburig. In: Üs minre alte Heimet. Straßburg 2006, S. 25 - 38, hier S. 34. Zu dieser Neuauflage siehe Anm. 1. 9 Die Fête de l ’ Empereur fand am 15. August statt. Eine Münze des Kaiserpaars gedenkt des Festes von 1853 und befindet sich im Musée Carnavalet, Histoire de Paris. Siehe hierzu 78 Raphaël Fendrich <?page no="79"?> un dene het er gebroche! Mit ’ m e so einem will ich nix ze tuen han! ’“ Es fällt auch das Wort „ Tyrann “ ( „ A bas les tyrans “ ). 10 Dieser Begriff lässt auf eine Einschätzung schließen, die auch Victor Hugo vertrat, der den Staatsstreich des Präsidenten als Verbrechen (crime) bezeichnete, und der zu einer Art Schwarzen Legende über den Kaiser beitrug, 11 dessen Verdienste - etwa um die Modernisierung Frankreichs - mitunter auch durch Hugos Texte überschattet wurden. Einer der anfangs genannten, wahrscheinlich Ende November 1870 verfassten Aufsätze - das Second Empire ist schon untergegangen - , erlaubt ebenfalls Rückschlüsse auf die Haltungen in der Schule. Dem nur in wenigen Schlusszeilen erhaltenen Text, 12 welcher die Erniedrigung Frankreichs durch den Feind anspricht, wird ein zentraler Abschnitt aus einem Gedicht von Casimir Delavigne (1793 bis 1843) angefügt, und dieser in den Kontext des Deutsch- Französischen Krieges gestellt: Reprends ton orgueil Ma noble patrie ; Quitte enfin ton deuil Liberté chérie. Liberté, patrie, Sortez du cercueil ! ! ! 13 Das unter dem Titel Le Besoin de s ’ unir in den seinerzeit berühmten Messéniennes (1818) erschienene Gedicht beklagt die Folgen der Niederlage Napoleons I. Bestätigt dieser Rückgriff für die Familie eine im Elsass während des Second Empire weit verbreitete Art und Weise der Identifikation mit Frankreich? - Der Verehrung Napoleons I., verbunden mit einer republikanischen Haltung folgende URL: https: / / www.parismuseescollections.paris.fr/ fr/ musee-carnavalet/ oeuvres/ fete-de-l-empereur-napoleon-iii-1808-1873-15-aout-1853 (zuletzt abgerufen am 8. November 2022) 10 Siehe Hart: D ’ r Schorsch (Anm. 6), S. 129. Der Eidbruch wird an anderer Stelle ebenfalls als Grund für die Ablehnung des Herrschers angegeben, siehe Marie Hart: Durich drei Johrhundert. In: Üs minre alte Heimet. Straßburg 2006, S.128 - 141, hier S. 132. 11 Victor Hugo: Histoire d ’ un crime. Paris 1877. Hugo unterbrach die Arbeit an dem Text im Jahre 1852 für Napoléon le Petit (Bruxelles 1852), ein mit scharfer Feder geschriebenes Pamphlet gegen den Kaiser. 12 Vermutlich handelt es sich um den soeben genannten Text „ Que pourrait faire une jeune fille pour délivrer sa patrie? “ 13 Vgl. für den vollständigen Text Casimir Delavigne: Le besoin de s ’ unir après le départ des étrangers. In: Trois Messéniennes. Élégies sur les malheurs de la France. Paris 1818, S. 25 - 31, hier S. 29. Zitiert wurde der Abschnitt nach dem wahrscheinlich Ende November 1870 verfassten Aufsatz von Marie Hartmann. Siehe Hart: Nachlass (Anm. 1), Na19/ 102. Zu Delavigne siehe L. Martal in: Dictionnaire de biographie française, Bd. 10. Hrsg. von Roman d ’ Amat. Paris 1965, Sp. 756 f. Marie Hart 79 <?page no="80"?> einerseits, bei gleichzeitiger Ablehnung Napoleons III., welcher die Zerstörung der Republik verkörperte. 14 Zugleich erscheint der Krieg in diesen Aufsätzen als Geißel der Menschheit, 15 die Kriegszüge der Deutschen erscheinen als „ horrible invasion telle que les Barbares n ’ en ont jamais fait des pareilles “ . 16 Im Aufsatz „ Warum wir so inbrünstig für den Frieden beten “ wird, diesmal auf Deutsch, das Leid der Bevölkerung beklagt: Wer würde da nicht um Frieden beten wenn man die blutigen Schlachtfelder sieht wo so viele, viele Leichen welche noch krampfhaft ihre Waffen umfassen, und deren Antlitz, noch in ihrem letzten Schlafe noch von der großen Liebe für die Freiheit und das Vaterland begeistert ist. 17 Vergleicht man diese Momentaufnahmen mit den Veröffentlichungen Marie Harts - keine wurde während des Krieges verfasst - , so wird das prorepublikanische und antideutsche Bild um mehrere Aspekte ergänzt: Zum einen beschreibt sie in ihren Erinnerungen, wie der Krieg in Dachsweiler wahrgenommen wird, das von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont bleibt. Sie charakterisiert eigene, d. h. französische, und die feindlichen Truppen sowie die eigene Haltung zu diesen. Und sie zeigt, wie sich die traumatisierende Erfahrung der Belagerung und Beschießung Straßburgs auf das Feindbild den Deutschen gegenüber auswirkt. Wenn diese Aspekte im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen, so soll nicht vergessen werden, dass sich die Haltung der Autorin selbst nach 1880 den Deutschen gegenüber gewandelt hat. Und schließlich scheint die Position der Erzählerfigur auch davon abhängig zu sein, für welches Publikum Marie Hart schrieb. II. Die Erinnerungen Die idyllische, von den Modernisierungen des 19. Jahrhunderts kaum berührte Kleinstadt Dachsweiler bildet den zentralen Schauplatz der Erinnerungen der 14 Es würde sich lohnen, diesen Rückgriff und seine Funktion zu beleuchten, um die Art und Weise der Identifikation mit Frankreich und die damit verbundenen Einstellungen zum Deutsch-Französischen Krieg herauszuarbeiten. Leider fehlt hierfür an dieser Stelle der Raum. Die Kinder, welche zu Beginn des Textes noch kein Interesse an Politik zeigen, bewundern - dies sei an dieser Stelle noch angemerkt - ein Porträt mit dem Titel Napoléon III. et l ’ impératrice Eugénie, insbesondere die Schönheit der Kaiserin, siehe Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 20. 15 Marie Hartmann: „ Passage de l ’ ancienne année dans la Nouvelle - (1870 - 1871) “ . In: Hart: Nachlass (Anm. 1), Na19/ 102, Aufsatz vom 1. Januar 1871. 16 Ebd. 17 Siehe Hart: Nachlass (Anm. 1), Na19/ 102. Aufsatz undatiert. 80 Raphaël Fendrich <?page no="81"?> bei Ausbruch des Krieges dreizehnjährigen Marie Hermann. 18 Im Vergleich zu den Aufsätzen weisen viele Textpassagen eine größere Distanz zum Geschehen auf: Hierbei spielt der Zeitpunkt des Erzählens eine wesentliche Rolle (er könnte mit dem Entstehungszeitpunkt des Textes zusammenfallen), welcher einen spürbaren Abstand zwischen erlebendem und erzählendem Ich erzeugt, sowie die Rolle des Humors. Neben eigenen Erinnerungen werden Berichte anderer Personen/ Figuren wiedergegeben, so dass neben dem Städtchen Dachsweiler auch Straßburg zu einem wichtigen Schauplatz im Text wird. II.1 Der drohende Krieg, die Schlacht bei Wörth und die Folgen Im Juli 1870 wird in einer Bierstube in Dachsweiler zwar lebhaft über die Kandidatur eines Hohenzollern auf den spanischen Königsthron gestritten, und die politische Lage wird von vielen Männern ernst genommen: „ Awer dies het m ’ r schun e su oft g ’ hört, daß m ’ r gar nemmi aacht druf git. “ 19 Weder die aus dem Wirtshaus in die Familien mitgebrachten Befürchtungen noch die im Städtchen meist dem Siècle oder dem Temps entnommenen Zeitungsartikel machen einen tieferen Eindruck; es ist ein die Ich-Erzählerin und ihre Geschwister etwas seltsam anmutender, da auf Hochdeutsch verfasster Brief der Straßburger Großmutter, welche gerade bei ihrer Tochter in Paris zu Besuch ist, der besonders beunruhigend wirkt: „ Hier spricht man nur von Krieg [ … ] sie sagen, der Bismarck will etwas anfangen; in allen Zeitungen stehn lange Artikel über den Krieg, der unvermeidlich sein soll. Ich wollte gleich nach Straßburg heimreisen; aber sie sagen alle, hier ist es viel sicherer, ich soll lieber hier bleiben. Ich bin also noch nicht fort, wenn es aber zum Krieg kommt, halten mich keine zehn Rösser hier, ich fahre heim in mein Haus. “ 20 Erst die Kriegserklärung (19. Juli 1870) löst größere Aufregung aus. Die Dachsweiler erleben die Folgen jedoch erst mit der Schlacht bei Wörth: Un am 6ten Augüscht bricht ’ s los. Schun z ’ morjeds am elfe hört m ’ r de Kanunedunner von Wörth, un sieht m ’ r de Rauch in d ’ Höh steje. [ … ] Mir Kinder stehn do un dort un lüschtere; baal vergesse m ’ r ’ s awer, gehn heim in de Hoft un spiele. ’ s isch alles ganz wie sunscht, nuer daß m ’ r manichmol mittlen in unserm Spiel stehn bliewe un uf dies dumpf, unheimlich Rolle höre, wie von Wörth her zue uns kummt. Am dreien awer geht ’ s Unwetter lus, un noo kummt ’ s Schlaa uf Schlaa un üwerschwemmt unseri Stadt. 21 18 Zum Ortsnamen, der eine Erfindung der Autorin ist, siehe Anm. 5. 19 Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 11. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 12. Zu den Schlachten bei Weißenburg, Wörth/ Fröschweiler und Spicheren vgl. Kapitel VI. bei Jochen Oppermann: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/ 71. Wiesbaden 2020, S.80 - 92. Marie Hart 81 <?page no="82"?> Die Ich-Erzählerin schildert in ihren Erinnerungen verständlicherweise keine Schlachten, sondern nur die Folgen des Krieges für ihr Heimatstädtchen: Zivile Flüchtlinge, französische Soldaten auf dem Rückzug, denen die Dachsweiler Familien Brot und Wein geben, und Kolonialtruppen kommen durch die Stadt, um dann nach Zabern (Saverne) zu fliehen. Schließlich die gefürchteten Preußen. Da die Anwesenheit von Militär in der Stadt selten war, wirkt der Aufenthalt und der Durchzug der unterschiedlich uniformierten Truppen auf die Kinder bereits wie ein exotisches Ereignis. 22 Für einen Teil der Stadtbevölkerung wird der Krieg immer wieder zur Nebensache. Als in der Schule das Thema darauf kommt, meint eine Schulkameradin: „‚ Am End han m ’ r noo ken Schuele meh, wenn ’ s Kriej git! ‘ Dies isch e ganz neii Perschpektiv, un m ’ r wisse fascht nemmi, sölle m ’ r uns freien uf de Kriej oder solle m ’ r Angscht d ’ rvor han. “ 23 Auch beim Spielen vergessen die Kinder immer wieder die drohende Gefahr. 24 Es sind jedoch nicht nur die Kinder, welche eine Perspektive aus ihrer kleinen Welt heraus einnehmen. Diese findet sich ähnlich bei Erwachsenen; als das Städtchen preußische Einquartierung bekommt, beschwert sich beispielsweise eine Einheimische: ’ s Catherine verzählt uns am andere Morje, er [der einquartierte preußische Soldat] het sin Bierkännel un ’ s Bierglas uf de schöne polierte Tisch g ’ stellt, un het se-n-üwer Nacht stehn lon. Jetzt sin zwei Ring im Tisch, die bringt m ’ r nemmi eweg, un wenn m ’ r sich ’ s Herz üs ’ m Lieb riebt. [ … ] Bi ’ s Hornungs het einer d ’ cuvette vom schöne Wäschservice gebroche. Jetzt weiß d ’ Madam Hornung gar nit, was se mache soll; hie kreijt se kenni, wie d ’ rzue paßt, sie mueß se halt von Strooßburig kumme lon. 25 II.2 Das Feindbild: Die Preußen Während man den französischen Soldaten einschließlich der Kolonialtruppen mit Sympathie begegnet, wandelt sich das Bild des Feindes mehrfach: Wird zu Beginn noch angenommen, Frankreich werde siegen, wächst bald die Furcht vor einem brutalen Feind. Flüchtlinge äußern, die Preußen würden alles niederreiten und kleine Kinder auf ihr Bajonett spießen, was bei der Ich-Erzählerin und ihren Schwestern sowie bei der Stadtbevölkerung Schrecken und Panik auslöst, so dass man sich auf eine Flucht vorbereitet. 26 22 Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 10. 23 Ebd., S. 11. 24 Ebd., z. B. S. 12. 25 Ebd., S. 22. 26 Ebd., S. 13, 15. 82 Raphaël Fendrich <?page no="83"?> Awer ’ s Mimi [die zwei Jahre jüngere Schwester der Ich-Erzählerin], dies isch ganz üßer sich, ’ s molt sich alles ganz genau üs, wie d ’ Preiße d ’ Kleine mit ’ m Säwel spalte were, es sieht uns alli tud, spiert schun ’ s kalt Isen in d ’ r eijene Bruscht, un alli zehn Minüte werft sich ’ s uf d ’ Knej un fleht de Himmel lüt an: „ Mon cher bon Dieu! fais que les Prussiens ne nous tuent pas! “ 27 Als die ersten Preußen ins Städtchen geritten kommen, ist die Anspannung zunächst sehr groß: [ … ] m ’ r [sehn] langsam un vorsichtig de Berri nunter ridde, in d ’ r Hand e Rewolwer, ganz schwarz uf ’ m e schwarze Roß, e Tudekopf üwer d ’ r Stirn, den erschte Preiß! Starr leujt er vor sich, de Rewolwer g ’ spannt, fertig zuem schieße. 28 Die Situation bleibt bedrohlich, bis der Bürgermeister zu verstehen gibt, dass er mit den Preußen kooperiert. Als auch die Bevölkerung mithilfe weißer Fähnchen deutlich macht, dass sie sich friedlich verhalten wird, ist die Erleichterung groß, und die Anspannung lässt mit einem Mal nach. Eine große Anzahl von Soldaten kommt in die Stadt, und der Eindruck, den sie bei der Ich-Erzählerin und ihren Schwestern hinterlassen, ist keineswegs negativ: Hunderti von preißische Soldate, ze Pferd un ze Fueß, komme jetz durich d ’ Strooße. Un sie sin gar nit su schrecklich! Im Gejeteil, erecht artlig! Sie leuje ’ s Louise un ’ s Mimi un mich e su friendlich an un saawen als: „ Hübsche Mädchen, reizende Käfer, nette Mädchen alle drei! “ Wie dies uns g ’ fallt! ’ s Mimi isch e su dankbar drüwer, daß es se schun von witem anlacht, un do lache se natierlich au ganz friendschaftlich, un einer schickt uns gar e [19] Schmutz. Dies het awer d ’ r Babbe g ’ sehn: „ Voulez-vous rentrer! “ rueft er, „ montez tout de suite! “ 29 Während der preußischen Einquartierung kommt es einmal zu Plünderungen, ein preußischer Offizier greift jedoch ein und weist seine Untergebenen derb zurecht: „‚ Ihr Schweinehunde! seid Ihr preußische Soldaten oder seid Ihr Diebe? [ … ] ‘“ 30 Insgesamt wird das Feindbild stark relativiert, da sich die Befürchtungen nicht erfüllt haben. Dieses Bild ändert sich völlig mit der Belagerung Straßburgs. Wegen der grausamen Kriegsführung gab es auch viele zivile Opfer, was einen Hass gegen die Preußen und die Deutschen insgesamt auslöst. Die Folgen: Im Frühling 1871, Monate nach der Kapitulation Straßburgs, kommen erneut Preußen durch Dachsweiler. Diesmal fällt die Reaktion der Schwestern jedoch entgegengesetzt aus: 27 Ebd., S. 16. 28 Ebd., S. 17. 29 Ebd., S. 18 f. 30 Ebd., S. 23. Marie Hart 83 <?page no="84"?> Wenn se jetz „ hübsche Mädchen, nette Käfer “ saawe, wote m ’ r n ’ en am liebschte d ’ Zung herüsstrecke, su hasse m ’ r se, un ken noch su ruter Hüsar, un ken noch su stattlicher Cürassier kann uns jetz e friendliche Blick herüslocke. 31 II.3 Die Belagerung Straßburgs 32 Dass der Deutsch-Französische Krieg auf eine neue Art geführt wird, zeigt sich an der in Straßburg lebenden Großmutter, welche schon zwei Belagerungen erlebt hat: Aufgrund ihrer Erfahrungen sorgt sie für Vorräte, und sie weiß auch, dass man sich von der Stadtmauer fernhalten muss. 33 Der General August von Werder (1808 bis 1887) - sein Spitzname war „ General Mörder “ 34 - ließ jedoch nicht nur auf Befestigungsanlagen schießen, sondern wollte den Druck auf die Stadt erhöhen, indem er zivile Opfer in Kauf nahm, um so die Kapitulation schneller zu erzwingen. Zudem wurden bedeutende Kulturgüter beschädigt, darunter das Münster 35 und der Temple-Neuf, die Bibliothek brannte nieder, wobei bedeutende Schriften vernichtet wurden. 36 Über 400 Häuser wurden zerstört; dadurch waren nach der Kapitulation etwa 6000 Straßburger obdachlos. Von der Beschießung der Stadt ist die Großmutter und ihre Verwandtschaft direkt betroffen. 37 Wegen des ununterbrochenen Donnerns der Geschosse ziehen sich die Bewohner ihres Hauses in „ e grußi Hinterstub “ 38 zurück, wo man die Detonationen weniger hört. Unter diesem Lärm leiden sie während der Beschießung am meisten. Man verschließt auch tagsüber die Fenster, sitzt beim Licht der Lampe zusammen, findet nachts kaum Schlaf, lenkt sich ab, betet, eine Tante bricht in Tränen aus, erleidet anscheinend einen Nervenzusammenbruch. 31 Ebd., S. 43. 32 Zur Belagerung Straßburgs und für weiterführende Literatur siehe Ernest Frantz: Strasbourg 1870. Le journal du siège. D ’ après le journal inédit d ’ Ernest Frantz 15 juillet - 28 septembre. Introduction et commentaires d ’ Aline Bouche / David Bourgeois / Marie-Claire Vitoux. Nancy 2011; Rachel Chrastil: The Siege of Strasbourg. Cambridge, MA / London 2014. 33 Vgl. Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 12. 34 Ebd., S. 33. 35 Siehe hierzu Frédéric Hartweg: Das Straßburger Münster. In: Etienne François / Hagen Schulze: Deutsche Erinnerungsorte. München 2009, Bd. 3, S. 408 - 421; zur Zeit um 1870 vgl. S. 413 - 419. 36 Friedrich Lienhard merkt jedoch an, dass von Seiten der Straßburger zu wenig unternommen worden sei, wertvolle Schriften der Bibliothek zu retten. Vgl. Friedrich Lienhard: Wasgaufahrten. 14. Auflage. Stuttgart o. J., S. 116. 37 Die Ich-Erzählerin erfährt davon erst im Winter nach der Belagerung, die Großmutter sieht sich beim ersten Besuch ihrer Familie aus Dachsweiler noch nicht in der Lage, darüber zu sprechen. Siehe Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 32 - 34. 38 Ebd., S. 35. 84 Raphaël Fendrich <?page no="85"?> Das Essen wird einseitiger, die Tage vergehen gleichförmiger. 39 Zwei Geschosse schlagen ins Haus ein, eines ins Dach, was zu einem Brand führt, der jedoch schnell gelöscht werden kann, ein weiteres ins Schlafzimmer. Das führt zu einer großen Anspannung und inneren Unruhe: „ [S]ie zittere, wenn se-n-e stärkeri détonation höre, un han dies unufhörlich boum, boum su satt, [ … ], daß se meine, for en einzigi stilli Stund täte se gern ihr Lewe here genn. “ 40 Der Belagerungszustand setzt sich über Wochen fort, 41 bis eine Schweizer Delegation die Erlaubnis erhält, bei einem humanitären Einsatz einen Teil der Zivilbevölkerung aus der Stadt zu bringen. Nur eine Tante, deren Nerven völlig blank liegen, verlässt die Stadt. Die übrige Verwandtschaft will ihr Hab und Gut vor späteren Plünderungen schützen und bleibt. 42 Marie Hart schildert noch das Schicksal einer weiteren Tante aus Schiltigheim (Schilke), eine alleinerziehende Witwe. Einer der beiden Söhne erkrankt an Typhus. Sie muss mit dem Sohn, der eigentlich nicht transportabel ist, aufgrund der gefährlichen Lage aus Schiltigheim fliehen und gerät nach Hoerdt. Den kranken Flüchtling will dort aber zunächst niemand aufnehmen, bis ein Schuster sich ihrer erbarmt und ihnen gestattet, in seiner Werkstatt (Bütik) zu nächtigen. 43 Marie Hart gibt in diesen Passagen die Sicht der Figuren hauptsächlich in Außensicht wieder, gestaltet diese somit anders als die Erinnerungen an selbst Erlebtes. Bald nach Ende der Belagerung führt der Vater der Ich-Erzählerin sie und einige ihrer Geschwister nach Straßburg, wobei ihnen das Ausmaß der Zerstörung deutlich wird: Durich verschlosseni [! ] Hiiser un zammeg ’ falleni Müüre führt er [d ’ r Babbe] uns z ’ erscht an d ’ Aubette. Die isch su durichlöchert wie e Sieb. Von do an de Temple Neuf, ein Schutthüfe; von d ’ r Bibliothèque nuer noch ein Hüfe Stein. Ans Münschter führt er uns; do leje viel statues verschmettert am Bode, inwendig isch e grußer Teil üsgebrennt, ’ s Kritz isch krumm g ’ schosse. Von do führt er uns in d ’ Steinstrooß; wahrhaftig e zerstörtes Jerusalem; ken Stein meh uf ’ m andere. Su wit m ’ r leuje kann, ein Schütthüfe. Manichmol steht noch e Stück Müür mit ere helle Tapet. Do hängt noch e Tafel dran; oder mitteln in de Trümmer steht en iserner Ofe un drowen e Kaffeehäfel. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 31, 35 f., zum Zitat vgl. S. 36. 41 Im Zeitraum von 44 Tagen, vom 15. August bis 27. September 1870, schossen die Deutschen 193.722 Projektile auf Straßburg ab, das entspricht einem alle 20 Sekunden. Siehe Chastril: Siege (Anm. 32), S. 67. Sie beschreibt im 3. Kapitel den Schilderungen Marie Harts ähnliche Erfahrungen. 42 Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 36. Zum humanitären Einsatz siehe Chrastil: Siege (Anm. 32), S. 150 - 175. 43 Ebd., S. 36 - 40. Marie Hart 85 <?page no="86"?> Stumm gehn m ’ r do herum, unseri Indrück sin ze tief, als daß m ’ r e Wort saawe könnte. 44 Es sind erst die Kriegseindrücke bei der Belagerung Straßburgs, die damit einhergehenden Traumata, das Ausmaß der Zerstörungen, welche an Bilder der Apokalypse erinnern, die aber auch zu einer unversöhnlichen antipreußischen, antideutschen Haltung führen, personifiziert in der Gestalt des „ General Mörder “ , die Inkaufnahme ziviler Opfer sowie die Zerstörung unersetzlicher Kulturgüter. Erst jetzt wird ein starkes Feindbild aufgebaut und Hass befördert. Hier scheint auch ein Diskurs durch, der sich im 19. Jahrhundert durchsetzt, und weshalb die Kriegsführung unter dem Kommando August von Werders als besonders „ barbarisch “ oder „ unzivilisiert “ erscheinen konnte: In jenen Tagen gewann die Überzeugung an Bedeutung, dass Zivilisten im Krieg zu schützen und anders als Soldaten zu behandeln seien. 45 II.4 Das Kriegsende Im Mai 1871 erfahren die Dachsweiler, dass das Elsass deutsch werden soll. Marie Harts Tochter, Charlotte Kurr, bestätigte später die für die Familie bittere Erfahrung: Als vierzehnjähriges Mädchen erlebte meine Mutter den Krieg von 1870. Ihr und ihrer ganzen Familie Beten und Hoffen galt dem Siege Frankreichs, und ein tiefer Schmerz ergriff alle, als die Kunde von der endgültigen Niederlage bekannt wurde. 46 Man nährt in der Familie einen Preußenhass: Die Schwestern lassen ihren kleinen, etwa einjährigen Bruder „ Vive la France “ rufen, die Großmutter wettert, der Vater verfällt in Schweigen. 47 Man schwört Frankreich die Treue: „ [ … ] m ’ r 44 Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 32 f. Théophile Gautier, der Straßburg von Reisen nach Deutschland kannte und dort Zwischenstation machte, beschreibt die Schäden im September 1870 wie folgt: „ Et cependant une pluie de fer tombe nuit et jour sur le Münster, brisant les clochetons, mutilant les statuettes, perçant les voûtes des nefs et écornant l ’ horloge avec son peuple de figurines et ses millions de rouage. La bibliothèque, unique au monde en son genre, a brûlé. Des incunables provenant de l ’ ancienne commanderie de Saint-Jean de Jérusalem ; l ’ Hortus deliciarum dû à Herrade de Landsberg, abbesse de Sainte-Odile à la fin du douzième siècle, le poëme de la Guerre de Troie, composé par Conrad de Wurzbourg, les poésies [6] de Gaspard de Haguenau, des missels, des bréviaires, des manuscrits a miniatures, cent cinquante mille volumes du choix le plus rare sont réduits en cendre. La rue de la Nuée-Bleue, dont le nom romantique nous plaisait, a perdu plusieurs maisons et le théâtre n ’ est plus qu ’ un monceau de décombres. “ Vgl. Théophile Gautier: Tableaux de siège. Paris 1870 - 1871. Paris 1871 (Charpantier), S. 1 - 7, hier S. 5 f. Es sind diese Zerstörungen, welche sich in das kollektive Gedächtnis vieler Elsässer eingeprägt haben. 45 Siehe Chrastil: Siege (Anm. 32), S. 8 f., 69. 46 Hart: Heimet (Anm. 1), vgl. das Vorwort von Charlotte Kurr, S. 2. 47 Hart: Sieweziger Krieg (Anm. 1), S. 43. 86 Raphaël Fendrich <?page no="87"?> wölle nie ufhöre, d ’ Preiße zu hasse, unser ganz Lewe soll nuer noch ein Warte sin, e Warte uf de Daa, wo m ’ r wieder mit Frankreich vereinigt sin. “ 48 Im Laufe der Jahre lässt dieser Hass jedoch nach, manches wird vergessen. Dies habe, so Marie Hart, an der Zeit gelegen: „ [S]ie [die Zeit] loßt uns d ’ Erinnerungen als witer un bleicher erschiene, un langsam löscht se mit ihrem gruße Schwamm d ’ menschliche Liedeschaften üs. “ 49 Im Vergleich zu den Schulaufsätzen aus dem Winter 1870/ 1871 erscheinen die 1911 zum Abschluss gebrachten Erinnerungen den Ereignissen gegenüber distanzierter, sie betonen die Veränderungen in der Wahrnehmung sogar. Die unterschiedlichen Diskurse, welche bei Marie Hart ihren Niederschlag finden, sind keine für das Elsass untypische Stimmen: Man stellt sich gegen Napoleon III. und auf die Seite der Republik, im Kontext der Schule wiederum finden sich positive Bezüge zu Napoleon I. Die „ Barbareninvasion “ der Deutschen referiert auf Darstellungen der Völkerwanderung der französischsprachigen Historiographie. 50 Thema sind hierbei auch Fragen des Umgangs mit Zivilisten im Krieg. Zeitungen wie der Temps, der Siècle, während des Krieges aber vor allem die Indépendance belge, haben die Meinungen der elsässischen Bevölkerung stark beeinflusst. Dem am Ende angesprochenen „ Revanche- Gedanken “ setzt Marie Hart, wie in ihren Erinnerungen, in verschiedenen Texten einen Versöhnungsdiskurs entgegen, etwa in der Volkserzählung „ Liebe und Krieg “ , 51 in welcher die Versöhnung zwischen Elsässern und Deutschen erst für die nach dem Krieg geborene Generation möglich wird. Diese Sehnsucht findet sich auch in einer Straßburg-Utopie, wo es am Ende jedem zusteht, seine politische Einstellung frei zu wählen, und zu entscheiden, welche Sprache man spricht. 52 In den Erinnerungen ues ’ m sieweziger Krieg ruft Marie Hart zwar französische Diskurse auf, sie distanziert sich jedoch zugleich davon, indem sie sich, das zeigt sich in ihrem Werk, mit dem Versöhnungsdiskurs identifiziert. Die Identifikation mit einem deutschen Elsass zeigt sich noch deutlicher im Ersten Weltkrieg: Louise [und] ich stellten auch Betrachtungen an: vor genau 44 Jahren zitterten wir vor der Ankunft der Deutschen [und] Mimi schrie zu Gott, dass er uns vor den Preussen 48 Ebd., S. 43. 49 Ebd., S. 43. 50 Auf Narrative mit Bezug auf die Belagerung Straßburgs siehe wiederum Chrastil: Siege (Anm. 32), Kapitel 4, S. 102 - 127. 51 Erschienen in den Elsässischen Frauen-Blättern 44 - 48 in fünf Teilen im Zeitraum vom 1. bis 29. November 1903. Eine ausführlichere Analyse findet sich bei Fendrich: Grenzland (Anm. 1), S. 242 - 249. 52 Hart: Strooßburig (Anm. 8), S. 37 f. Marie Hart 87 <?page no="88"?> bewahren sollte. Nun ist es umgekehrt; ist es menschenmöglich, dass man sich so verändern kann? Unser Elsass ist ein armes Land; Gott lasse es deutsch bleiben. 53 Mit dem Gesinnungswechsel der Autorin hat sich anscheinend auch ihr historischer Wahrnehmungshorizont verschoben. Die im Sinne ihres französisch gesinnten Heimatmilieus abgefassten patriotischen Aufsätze berühren die napoleonische Ära. Nach ihrer Heirat mit einem deutschen Offizier und Wohnsitzen in Österreich und Deutschland, schließlich ihrer erzwungenen „ freiwilligen “ Ausreise aus dem Elsass im Jahre 1919, nimmt sie Bezug auf das deutsche Gegenkonzept zur Belagerung Straßburgs, nämlich der durch Frankreich erzwungenen Kapitulation der Stadt im Jahre 1681, an welche man sich als dem „ Raub Straßburgs “ 54 erinnerte. 55 53 Marie Hart: Kriegstagebücher, Eintrag vom Sonntag, 16. August 1914. Siehe Hart: Nachlass (Anm. 1), C014, alte Signatur Nr. 51 (blaues Schulheft). 54 Marie Hart lässt eine ihrer Figuren von einer gewaltsamen Annektierung sprechen. Siehe Marie Hart: Ues unserer Franzosezit. 6. Auflage. Berlin o. J., S. 111. 55 An dieser Stelle danke ich Chiu Yuping, Ladislaus Ludescher und Birgit Sachs, die mich bei der Literaturbeschaffung sehr unterstützt haben. 88 Raphaël Fendrich <?page no="89"?> Romantische Regression und Gegenwart. Richard von Volkmann-Leanders Märchen aus dem Deutsch- Französischen Krieg Sikander Singh, Saarbrücken I. Die Träumereien an französischen Kaminen, die im Frühjahr 1871 in Leipzig im Verlag von Breitkopf und Härtel veröffentlicht wurden, zählen zu den großen Bucherfolgen im Wilhelminischen Kaiserreich, allein bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges erschienen 51 Auflagen. Da das Märchenbuch auch als Feldausgabe ausgeliefert wurde, erreichte die Sammlung im Jahr 1919 bereits die 197. Auflage; im folgenden Jahrzehnt wurde die 300. Auflage überschritten. Im Gegensatz jedoch zu der Vielzahl von Romanen und Erzählungen, Gedichten und autobiographischen Darstellungen, die den Deutsch-Französischen Krieg der Jahre 1870/ 71 thematisieren und damit auf dem Buchmarkt bis in die Zeit der Weimarer Republik erfolgreich waren, reflektieren die Märchen des Arztes Richard Volkmann (1830 bis 1889) weder das Kriegsgeschehen noch seine Folgen. Dass sie gleichwohl auf den Waffengang zwischen den deutschen Staaten und dem französischen Kaiserreich Bezug nehmen, wird einerseits durch den Titel herausgestellt, andererseits durch das Vorwort, das der Sammlung beigegeben ist und Auskunft über die Entstehungsgeschichte gibt. Richard Volkmann, der seit 1867 eine ordentliche Professur an der Medizinischen Fakultät der Universität in Halle an der Saale inne hatte, diente 1870/ 71 als konsultierender Chirurg und Generalarzt in der Preußischen Armee. Nach Einsätzen in den Lazaretten Mannheim, Beaumont und Mouzon (bei Sedan) wurde er im September 1870 zum IV. Armeekorps befehligt, das in Soisy-sous- Montmorency, nördlich von Paris, Aufstellung bezog. Hier nahm er an der Belagerung der französischen Hauptstadt teil, die erst im Februar 1871 mit dem Vorfrieden in Versailles ein Ende fand. 1 1 Fedor Krause: Zur Erinnerung an Richard von Volkmann (Richard Leander). Berlin 1890, S. 19 f. sowie Ute Söll: Leben und Wirken des Hallenser Chirurgen Richard von Volkmann. Halle, Univ., Diss. 1997, S. 36 - 38. <?page no="90"?> Im Feldlager entwickelte Volkmann nicht nur innovative Verfahren der antiseptischen Wundversorgung und Methoden zur Nachbehandlung von Schussverletzungen, die dem Mediziner einen Rang in der Geschichte der Orthopädie sicherten. 2 Während des Frankreich-Feldzuges entstanden auch die Träumereien an französischen Kaminen. Um seinen Ruf als Arzt und Wissenschaftler nicht zu gefährden, zog er allerdings vor, seinen Nachnamen für die Publikation eines Märchenbuches zu gräzisieren. Die Sammlung erschien unter dem Pseudonym Richard Leander; erst posthum wurde der Band mit der Verfasserangabe Richard von Volkmann-Leander verlegt. Die Entstehungsgeschichte der Sammlung ist nicht unabhängig dokumentiert. In dem auf Ostern 1871 datierten Vorwort berichtet Volkmann, die Märchen seien während der Belagerung von Paris entstanden. Während einsamer Abendstunden „ an den Kaminen der verlassenen französischen Villen und Schlössern “ hätten die Kameraden einander erzählt, er habe die „ Traumgestalten “ verschriftlicht und die Manuskripte mit der Feldpost an seine Familie geschickt. 3 Die originalen Feldpostbriefe, die Volkmann nach Halle sandte, sind jedoch nicht auffindbar, lediglich Abschriften derselben haben sich erhalten. 4 Wieder in die Heimat zurückgekehrt, am „ eigenen, kinderumstandenen Herd “ habe er „ verwundert “ gesehen, dass aus den „ einzeln versandten Blättern ein förmliches Bändchen geworden “ sei. 5 Ob die Märchen tatsächlich auf diese Weise gesammelt und niedergeschrieben wurden oder ob es sich um eine Fiktion handelt, ist nicht zu entscheiden. Der Titel Träumereien an französischen Kaminen greift jedoch diese im Vorwort behauptete Genese auf und verdichtet sie bildhaft. Das Vorwort ist daher als „ Bindeglied zwischen Titel und Märchen “ gedeutet worden. 6 In der Einleitung betont Volkmann zudem das Moment der mündlichen Überlieferung, das seit Jacob und Wilhelm Grimms Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen die Vorstellung von Volkstümlichkeit und Ursprünglichkeit des Märchens im deutschen Sprachraum wesentlich konstituiert: Da er seine Funktion als Autor auf das Sammeln und Aufzeichnen von Oralität reduziert, stellt Volkmann seine Märchen in eine Traditionslinie mit dem Grimm ’ schen Vorbild. Zudem akzentuiert er mit diesem Rahmen, der (als erste Textebene) den Märchen (als zweiter Textebene) vorangestellt ist, eine seit Tausendundeine 2 Simone Trieder: Richard von Volkmann-Leander. Chirurg und Literat. Literarisches Porträt. Halle an der Saale 2006, S. 38 - 51. 3 Richard von Volkmann-Leander: Träumereien an französischen Kaminen. München 1973, S. 8. 4 Trieder: Richard von Volkmann-Leander (Anm. 2), S. 68. 5 Volkmann-Leander: Träumereien (Anm. 3), S. 8. 6 Trieder: Richard von Volkmann-Leander (Anm. 2), S. 61. 90 Sikander Singh <?page no="91"?> Nacht für das Märchen charakteristische Erzählsituation, die auch von den Kunstmärchen der deutschen Romantik aufgenommen und weiterentwickelt worden ist. II. Als Paratexte steuern Vorwort und Titel die Rezeption jedoch nicht nur im Hinblick auf den gattungsgeschichtlichen Zusammenhang: Indem das Bild deutscher Soldaten dargeboten wird, die im Feindesland abends am Feuer beieinander sitzen und sich von Pflichten wie Gefahren des Kriegsalltages erholen, werden emotionale Kategorien wie Heimweh und Vaterlandsliebe, Kameradschaft und Treue aufgerufen. Die soldatische Gemeinschaft im Feldlager wird wesentlich, so die implizite Behauptung, durch die gemeinschaftliche Erfahrung des Erzählens konstituiert; in der Fremde sei auf diese Weise ein Stück deutscher Heimat lebendig geworden (bzw. geblieben). Die solchermaßen auch programmatische Rahmung stilisiert die Märchen zu Zeugnissen deutscher Kultur und Tradition in der französischen Fremde, womit ihnen zudem eine (nationale) Identität stiftende Funktion beigelegt wird. Weil in den Märchen das Gute über das Böse siegt, das Recht über das Unrecht, wird darüber hinaus implizit ein Sieg „ deutscher Moral “ über „ französische Unmoral “ behauptet. Schließlich wird durch die Akzentuierung nationaler Stereotypen die emotionale Beziehung zwischen deutschen Soldaten in der Fremde und deutschen Lesern in der Heimat im Sinne einer im Kampf verbundenen (Volks-)Gemeinschaft verstärkt. Während der Titel und das Vorwort auf diese Weise den zeitgeschichtlichen Bezug nicht nur herstellen, sondern als wesentlichen Aspekt der Sammlung akzentuieren, finden sich in den 22 Märchen, die nach keinem erkennbaren kompositorischen Prinzip angeordnet sind, keine unmittelbaren zeitgeschichtlichen Hinweise und Rekurse auf den Deutsch-Französischen Krieg. Die abendlichen Erzählungen können daher als ein Gegenentwurf zu den Erfahrungen des soldatischen Lebens an der Front gelesen werden. Im Vorwort betont Volkmann dieses regressive Moment, das der soldatischen Wirklichkeit die Erinnerung an ein (vergangenes) ziviles Leben gegenüberstellt: Und wenn das Feuer knisterte und die Funken flogen, überkamen gar manchen, alte, sonderbare Gedanken. In Leib und Gestalt traten sie hervor hinter den großen dunklen Gardinen und aus den bunten Kattuntapeten und drängten sich dicht heran an den Träumer. Und wenn er ihnen verwundert in ’ s Gesicht sah, so waren es alte Bekannte und darunter viel langvergessene - wohl aus der Kinderzeit. 7 7 Volkmann-Leander: Träumereien (Anm. 3), S. 8. Romantische Regression und Gegenwart 91 <?page no="92"?> Die Märchen rekurrieren deshalb, sowohl im Hinblick auf Sprache und Symbolik als auch in Bezug auf Motive und Bilder, auf die Tradition märchenhafter Erzählungen. So verweisen Anfangsformeln wie „ Vor langen, langen Jahren lebte einmal [ … ] “ , 8 „ Das mag nun schon geraume Zeit her sein [ … ] “ 9 oder „ Hundert Jahr oder mehr ist ’ s wohl schon her [ … ] “ 10 auf die Grimm ’ sche Sammlung, deren Ton Volkmann zudem mit seiner volkstümlich-schlichten Sprache zitiert. 11 Lyrische Einlagen wie in Sepp auf der Freite oder Heino im Sumpf erinnern an Märchen von Theodor Storm. 12 Ferner sind Motivparallelen zwischen Hans Christian Andersens Der Fliegende Koffer und Der alte Koffer erkennbar und in der Forschung diskutiert worden. 13 Auch weisen die meisten Märchen Entsprechungen zu Motiven der Märchenliteratur des 19. Jahrhunderts auf. 14 So erzählt Der Wunschring vom klugen Gebrauch eines freien Wunsches, der von einer Hexe gewährt worden ist. Damit wird ein Motiv variiert, das in Vom Fischer und seiner Frau aus den Kinder- und Hausmärchen ebenso zu finden ist wie in Bechsteins Die drei Wünsche (sowie zahlreichen anderen Märchen). Ein Mädchen, das aufgrund einer Verwachsung im Rückenbereich von der Stiefmutter abgelehnt wird, schließlich stirbt und von einem Engel aus dem Grab geholt wird, der ihm statt des Buckels Flügel wachsen lässt (Das kleine bucklige Mädchen), erinnert an Figuren Andersens, die aufgrund körperlicher Einschränkung oder sozialer Benachteiligung Ausgrenzung erfahren und erst im Tod Erlösung finden. Weil Bezüge und Motivparallelen in Volkmanns Märchen solchermaßen unbestimmt bleiben, ist im Hinblick auf ihre Einordnung in der Forschung ein anderer Ansatz diskutiert worden: Bereits der Titel der Sammlung akzentuiert die Träumerei als konstitutives Moment des Erzählten; das Vorwort betont zudem den Charakter der Erzählungen als „ Traumgestalten “ und stellt heraus: „ Denn man glaubt nicht, was alles ein deutscher Soldat an französischen Kaminfeuern zu träumen vermag. “ 15 Eugen Thurnher konstatiert daher in seiner Studie: „ So wie im Traum die Bilder des Tages wiederkehren, aber verklärt und 8 Ebd., S. 9. 9 Ebd., S. 123. 10 Ebd., S. 127. 11 Helmut Fuchs: Volkmann-Leander: Träumereien an französischen Kaminen. Kritische Studie. Halle, Univ., Diss. 1946, S. 7. 12 Vgl. ebd., S. 15. 13 Bernd Gay. Richard von Volkmann-Leander - Chirurg und Poet. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 18 (1999), S. 9 - 13, hier S. 13 sowie Trieder: Richard von Volkmann-Leander (Anm. 2), S. 80. 14 Fuchs: Volkmann-Leander (Anm. 11), S. 19 f. 15 Volkmann-Leander: Träumereien (Anm. 3), S. 8. 92 Sikander Singh <?page no="93"?> verwandelt, nicht deckungsgleich mit der Wirklichkeit [ … ], so verändert sich für Richard Volkmann das Bilderreich seiner Kindheit. “ 16 Die Bildsprache der Märchentradition, die auf diese Weise zitiert und anverwandelt wird, steht jedoch in einem Spannung erzeugenden Widerspruch zu der Erzählsituation, die durch die paratextuelle Rahmung akzentuiert wird: Und wie der Wandrer, der während der ersten Schrecken des Unwetters gern der Weiterreise vergaß, um unter einem gastlichen Dache Schutz zu finden, nun, wenn der letzte Donner verhallt ist, wieder und immer wieder an ’ s Fenster tritt und hinaus in die graue, regenverhüllte Landschaft schaut, unmutig, daß es immer noch kein Ende finden will - so haben auch wir geharrt und nach der Stunde gefragt, die im leuchtenden Strahl der Friedenssonne uns an den heimischen Herd zurückführen würde. 17 III. Die Belagerung der französischen Hauptstadt während des Winters 1870/ 71 folgt auf eine lange Reihe für die vereinigten deutschen Armeen zwar siegreichen, aber dennoch blutigen Schlachten. Indem diese Phase des Krieges nicht mehr von (Vorwärts-)Bewegung sondern von Stillstand bestimmt wird, indem die einfachen Soldaten wie das Offizierskorps Quartier im Feindesland beziehen, Linien sichern, Stellungen befestigen und die gegnerische Seite an Ausfällen aus der eingeschlossenen Stadt hindern, entsteht eine Situation, die weniger physische Kampfkraft als psychische Stärke einfordert. Volkmann reflektiert dies, wenn er im Vorwort bemerkt: „ Doch Woche um Woche, Monat um Monat verrann, und die weiße Fahne erschien nicht auf den Wällen des Forts! “ 18 In dieser transitorischen Situation gewinnt die Erfahrung von Gemeinschaft eine neue Dimension: Die Kameradschaft muss sich nicht mehr in Kampfhandlungen bewähren, nicht mehr in der andauernden Gefahr der Schlacht, sondern in einer Phase des Wartens, des Ausharrens, der erzwungenen Geduld. Die solchermaßen ebenso angespannte wie spannungsreiche Ruhe der Belagerung lässt zudem Raum für Erinnerungen an die Familien und das zurückgelassene Leben in der Heimat. Indem Volkmann diese, im kollektiven Bewusstsein sowohl der Soldaten als auch ihrer Angehörigen verankerte Erfahrung aufruft, erzeugt er mit der 16 Eugen Thurnher: Richard von Volkmann-Leander: „ Träumereien an französischen Kaminen. Märchen “ . In: Eugen Thurnher (Hrsg.): Zwischen Siebzig und Achtzig. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. Innsbruck 2005, S. 33 - 37, hier S. 35. 17 Volkmann-Leander: Träumereien (Anm. 3), S. 7. 18 Ebd. Romantische Regression und Gegenwart 93 <?page no="94"?> paratextuellen Rahmung ein Moment von Gemeinschaft, das auch das Verständnis und die Deutung der dargebotenen Märchen wesentlich determiniert: Die Märchen verschweigen, wovon sie erzählen. Indem sie Zeugnisse von Sehnsucht und Heimweh sind, indem sie im Rahmen einer archetypischen Erzählsituation einer um das Kaminfeuer versammelten Gemeinschaft ausgetauscht werden, wird ihre Anlage als ein impliziter Kommentar zu den Erlebnissen und Erfahrungen des Frankreichfeldzuges sichtbar. Diese Bedeutung erhalten sie jedoch nicht nur durch die paratextuelle Rahmung, auch der Gattungsdiskurs erlangt in diesem Zusammenhang eine besondere Relevanz. Während Johann Wolfgang von Goethe in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795 in Friedrich Schillers Horen erschienen) im Wechselspiel von Rahmen- und Binnenerzählungen ebenfalls die Funktion des Erzählens vor dem Hintergrund von Kriegs- und Fluchterfahrungen reflektiert, die Auswanderer einander aber mit Novellen, Schauer- und Abenteuererzählungen, erotischen wie moralischen Erzählungen und schließlich auch mit einem Märchen unterhalten, versammelt Volkmann unter der Überschrift der Träumerei einzig Märchenerzählungen. Es finden sich umfangreiche Prosaerzählungen wie Vom unsichtbaren Königreiche ebenso wie knappe Schwankerzählungen wie Wie der Teufel ins Weihwasser fiel. Im Gegensatz zu Goethes Unterhaltungen ist allerdings für keines der Märchen eine Quelle identifizierbar. Einleitend betont Volkmann daher, die Anregungen stammten aus der eigenen Kindheit. Tatsächlich sandte Clara Fechner, eine Schwester seines Vaters, ihren Nichten und Neffen mit ihren Briefen auch Märchen nach Dorpat, wo die Familie zwischen 1837 und 1843 lebte. Ihre Märchen erschienen im Jahr 1848 unter dem Titel Die schwarze Tante. Märchen und Geschichten für Kinder in Leipzig. Die Forschung hat daher in verschiedenen Märchen Volkmanns über Reminiszenzen an Clara Fechner diskutiert. 19 Dass Volkmanns Kindheit in jene Jahrzehnte fällt, da im Spannungsfeld romantischer, biedermeierlicher und frührealistischer Strömungen dem Märchen besondere Wertschätzung zuteilwurde, verleiht dem Hinweis aus der Vorrede Glaubwürdigkeit. Inwieweit er mit den Sammlungen von Jacob und Wilhelm Grimm sowie Ludwig Bechstein oder den Märchen seiner Zeitgenossen Hans Christian Andersen und Theodor Storm vertraut war, ist hingegen nicht zu belegen. Volkmanns Präferenz für das Märchen gründet jedoch nicht nur auf der Beliebtheit und Verbreitung der Gattung in Folge der Kunstmärchen der romantischen Generation und der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. 19 Trieder: Richard von Volkmann-Leander (Anm. 2), S. 81. 94 Sikander Singh <?page no="95"?> Im Gegensatz zu anderen Gattungen der erzählenden Prosa sind Märchen durch wundersame Begebenheiten und phantastische Elemente unzweifelhaft als fiktional gekennzeichnet. Volkmann kontrastiert also die Wirklichkeit des Krieges, von der das Vorwort berichtet, mit imaginären, lediglich erdachten Welten. Indem aber der Fiktionalitätsstatus von Märchenerzählungen - im Gegensatz zu jenem anderer Erzählgattungen - eindeutig ist, entsteht ein impliziter Kommentar zur Wirklichkeit des Krieges. In diesem Sinne ist das Gegenweltliche ihrer Fiktion dialektisch auf die Faktizität des historischen Geschehens bezogen. Das eskapistische Moment, das der Sammlung auf diese Weise eingeschrieben ist, wird durch den Titel Träumereien zudem hervorgehoben. Während der Lektüre vollzieht der Leser die raue Lebenswirklichkeit der Soldaten nach, die im Etappenquartier einander mit Erzählungen unterhalten und so den Schrecken und Ängsten des Tages, zumindest für wenige Stunden am Abend, entkommen. Mit dem Vorwort informiert Volkmann daher nicht nur über die Bedingungen der Entstehungsgeschichte der nachfolgend dargebotenen Märchen. Indem er die abendliche Kameradschaft und die Konstitution von Gemeinschaft durch den Prozess des Erzählens beschreibt, verweist er zugleich auf die psychologische Entlastungsfunktion des Erzählten. IV. Vor diesem Hintergrund eröffnet sich hiermit eine Perspektive auf die Märchen, die über die Ansätze, die bisher in der Forschung diskutiert worden sind, hinausgeht. Eugen Thurnher hat betont, die Verbindung von hergebrachten Motiven in neuer, „ bisher unbekannter Folge “ mache die didaktische Absicht sichtbar, die Volkmann verfolge. 20 Weil Sprache, Figuren, Themen, die aus der Märchenliteratur bekannt seien, Vertrauen erzeugten und die Darbietung in veränderten Zusammenstellungen Neugier erwecke, werde das belehrende Moment der Märchen unterhaltsam. In der Nachfolge des Literaturverständnisses der Aufklärung präsentiere Volkmann „ Weisheiten im Gewande märchenhafter Geschichten “ . 21 In diesem Sinne verhandeln die Märchen beispielsweise die Differenz von äußerem Schein und innerem Wert (Vom unsichtbaren Königreiche), Implikationen sozialer Ungleichheit (Heino im Sumpf ), Fragen von Armut und Reichtum 20 Thurnher: Richard von Volkmann-Leander (Anm. 16), S. 36. 21 W. Baumgart: Ein Lebensbild: Richard von Volkmann (1830 - 1889). In: Geistige Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt. Jg. 2. Nr. 24, 20. Dezember 1935, S. 12. Romantische Regression und Gegenwart 95 <?page no="96"?> (Das Klapperstorch-Märchen), Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung (Der kleine Mohr und die Goldprinzessin), die Schwierigkeit, den richtigen Ehepartner zu wählen (Die drei Schwestern mit den gläsernen Herzen), die Beziehungen zwischen Ehepartnern (Der kleine Vogel), die erlösende Macht der Liebe (Der verrostete Ritter), die Bedeutung moralischer Werte für ein gelingendes Leben (Von Himmel und Hölle), die Beziehungen des Menschen zu himmlischen Mächten (Die himmlische Musik) oder den Vorrang von Witz und Klugheit (Die Traumbuche). Die Forschung hat diese Lesarten mit biographischen Interpretationsansätzen verknüpft. Einerseits folgen diese dem Hinweis Volkmanns, er habe die Märchen seinen Kindern von der Front in die Heimat gesandt. Die Didaxe der Märchen wurde daher im Hinblick auf die sieben Kinder des Arztes gelesen. 22 Andererseits ist seine Frau Anna als Adressatin der Märchen betrachtet worden. Weil diese wiederkehrend das Geschlechterverhältnis und die Beziehungen von Eheleuten thematisieren, habe sie aus den Märchen herauslesen können, „ dass er über sich, über sie beide als Paar und ihre Beziehung nachdachte “ . 23 Der Fokus auf das didaktische Moment macht zwar die gattungsgeschichtlichen Zusammenhänge sichtbar, in deren Tradition die Märchen Volkmanns zu verorten sind, verkürzt die Träumereien an französischen Kaminen jedoch auf den Aspekt einer reinen Sammlung von Märchen, ohne die kompositorische Einheit von Basistext und Paratext mitzudenken und im Hinblick auf Fragen der interpretatorischen Einordnung zu berücksichtigen. Weil die Märchen aber dem Leser als soldatische Erzählungen dargeboten werden, müssen ihre Bilder und Motive, ihre Anlage und Ausgestaltung im Hinblick auf ihren entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang ausgedeutet werden; die Märchen werden durch die Einleitung Volkmanns wie den Titel auf den Deutsch-Französischen Krieg bezogen. Volkmann schreibt hiermit ein weiteres Merkmal der Gattung fort. Wie der Bezug auf die gesellschaftlichen Bedingungen, denen sie entstammen, ein Kennzeichen des Volksmärchens ist, so verweisen seine Märchen auf die Erfahrungen des Krieges als ursächliche Bedingung ihrer Entstehung. Dies geschieht auf eine indirekte Weise: Aber wenn die Märchen vom unglücklichen Leben in der Fremde erzählen (Die künstliche Orgel), von einem Kind, das verloren geht und erst durch überirdische Mächte wieder in das Trauliche des elterlichen Hauses zurückfindet (Goldtöchterchen) oder das Ende einer langen Wanderschaft und das Glück mit Ehefrau und Kindern behandelt (Die Traumbuche), so reflektieren sie die emotionale Situation des Soldaten, der, fern der 22 Trieder: Richard von Volkmann-Leander (Anm. 2), S. 68 - 70. 23 Ebd., S. 71. 96 Sikander Singh <?page no="97"?> Heimat, im Feindesland ein winterliches Quartier beziehen muss und sich nach der Heimkehr sehnt. Andere Märchen wie Heino im Sumpf thematisieren auf eine bildhafte Weise den Sieg von Ehrlichkeit und Moral über Untreue und Falschheit. In der Identifikation des Lesers mit den Protagonisten, die das Richtige wollen und mutig gegen alle Widerstände streiten, liegt ein Beitrag zur Deutung des Krieges als Kampf für eine gute und gerechte (deutsche) Sache. Und indem in Der verrostete Ritter auf eine zwar beiläufige und hintergründig ironische Weise auf das „ Heilige Römische Reich “ verwiesen wird, das aus „ vielen Flicken zusammengesetzt “ bestand, wird indirekt die Notwendigkeit und Legitimität des Krieges 1870/ 71 verhandelt, durch den die deutschen Staaten wieder unter einer Kaiserkrone vereint wurden. 24 Eskapismus meint also im Zusammenhang der Volkmann ’ schen Märchensammlung nicht die Flucht in eine Scheinwirklichkeit. Die Träumereien zitieren die Sprache, das Figureninventar sowie Themen, die aus der Märchenliteratur vertraut sind, und erzeugen eine Bildlichkeit, deren Imaginationen die Wirklichkeit des Krieges zwar nicht darstellen, aber vergegenwärtigt halten. Im intertextuellen Spiel mit Motiven des Volkswie des Kunstmärchens, im Zitat einer Tradition, die dem gebildeten Leser im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geläufig war, bilden die Innerlichkeit und der romantische Ton der Märchen jene Folie, vor deren Hintergrund der Krieg gegen Frankreich als ebenso berechtigt wie unausweichlich verstanden werden kann. Mit der Vergegenwärtigung der Märchentradition der deutschen Romantik betont Volkmann die Bedeutung des kulturellen Erbes für seine Gegenwart und legitimiert so die kriegerische Auseinandersetzung mit dem französischen Nachbarn als erforderlichen Schritt auf dem Weg zu der national(staatlich)en Einheit Deutschlands. Diese politische Aussage, die wesenhaft in der Kompositionsstruktur der Sammlung angelegt ist und einerseits von seit dem 18. Jahrhundert den Diskurs bestimmenden, patriotischen Idealen andererseits von einer romantischen Emphase für das Völkische (im Sinne des „ Einfachen “ , „ Echten “ , „ Ursprünglichen “ der Grimm ’ schen Sammlung) getragen wird, hat den Erfolg der Träumereien auf dem Buchmarkt des Wilhelminischen Reiches vornehmlich begründet. Kurt Tucholsky hat den romantischen Patriotismus, den Volkmanns Märchensammlung solchermaßen fortschreibt, bereits im Jahr 1920 ironisch hinterfragt. Seine Träumereien an preußischen Kaminen, die unter dem Pseudonym Peter Panter im Felix Lehmann Verlag in (Berlin-)Charlottenburg erschienen 24 Volkmann-Leander: Träumereien (Anm. 3), S. 45. Romantische Regression und Gegenwart 97 <?page no="98"?> sind, sind eine Provokation der zeitgenössischen Leser: Als Kontrafaktur der romantischen Märchenliteratur und mit explizitem Bezug auf Volkmanns Träumereien sind die sechs Grotesken des Journalisten und Publizisten eine satirische Betrachtung jener preußischen Tugenden und deutschen Traditionen, deren problematische Implikationen Richard Volkmann nicht zu erkennen vermochte. 98 Sikander Singh <?page no="99"?> Philosophie und Krieg. Otto Liebmanns Aufzeichnungen aus den Stellungen vor Paris 1870/ 71 Thomas Althaus, Bremen Der Philosoph Otto Liebmann beginnt seine professorale Karriere als akademischer Kriegsgewinnler. 1872 wird Liebmann an die frisch gegründete Kaiser-Wilhelms-Universität zu Straßburg berufen, kaum zwei Jahre, nachdem er als Freiwilliger des Garde-Füsilier-Regiments, der Maikäfer (wie man sie in Berlin hieß), da schon einmal vorbeigekommen war, „ auf einem Militärzug durch die Pfalz über Weißenburg in ’ s Elsaß “ : „ Straßburg brannte lichterloh; und aus dem hellen zuckenden Feuerschein, der sich grell gegen die nächtliche Finsterniß abhob, ragte hoch, schwarz und ernst der Münsterthurm empor. “ 1 Das sagt aber noch nichts über die Bedeutung Liebmanns für die Philosophie der Zeit. In dicht an die Ereignisse heranführenden Arbeiten votiert er kämpferisch für eine Reformulierung der kritischen Erkenntnistheorie mit dem Wissen der Experimentellen Psychologie, Psychophysik und Physiologie der Sinnesorgane. Liebmanns Programmschrift Kant und die Epigonen (1865) wird später zum Gründungstext des Neukantianismus erklärt. 2 Für die Berufung nach Straßburg gibt es deshalb schon noch andere Notwendigkeiten, als sie aus dem eigentümlichen Fall eines Philosophen folgen können, der sich bei der Belagerung von Paris 1870/ 71 unter die Militärs und die Kriegsberichterstatter verloren hat. Letzteres geschieht zunächst auch gar nicht unter eigenem Namen, während sich der Unbekannte zugleich jedoch den Niederungen journalistischen Schreibens ins Poetische enthebt: Liebmanns anonyme Aufzeichnungen 1 [Otto Liebmann: ] Vier Monate vor Paris. 1870 - 1871. Belagerungstagebuch eines Campagne-Freiwilligen im K. Pr. Garde-Füsilier-Regiment. Stuttgart 1871, S. 72. 2 So in den Herkunftsnachweisen des Neukantianismus selbst, insbesondere in den philosophiegeschichtlichen Arbeiten Wilhelm Windelbands. Geradezu vernichtend äußert sich dazu Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Frankfurt am Main 1986, S. 211 - 230, im Verweis auch auf „ die glückliche Übereinstimmung “ von Liebmanns „ philosophischen Ansichten mit denen der Reichs- und Heeresleitung “ (S. 221) in der Zeit der Berufung nach Straßburg. <?page no="100"?> aus den Monaten der Belagerung enthalten einige literarische Einschübe, unter anderem eine Verserzählung mit dem Überbietungsanspruch eines kleinen wagnerischen Gesamtkunstwerks aus Hymnus, Threnodie und nordischem Gesang, psalmodierend und dithyrambisch. Dieser Text schafft es über eine Neupublikation von 1899 bis in Echtermeyers Auswahl Deutscher Gedichte. 3 Fünf Wochen nach Eintritt der Kriegshandlungen kommt Liebmann mit dem ganz jungen Nachwuchs Einjährig-Freiwilliger direkt an die schnell gegen Paris vorgeschobene Front. Sie sind der Ersatz für die schweren Verluste des Gardekorps bei Gravelotte/ St. Privat und erneut vor Sedan. Als sich der Belagerungsring um die französische Hauptstadt schließt, bezieht das Gardekorps als Verband der Maas-Armee im Nordosten Stellung, wo es im Oktober und noch einmal im Dezember zu erbitterten Kämpfen kommt, nicht jedoch im Frontabschnitt des Garde-Füsilier-Regiments. Man liegt aber noch bis zum Jahreswechsel unter Beschuss aus den Festungsanlagen vor Paris und vom Hochplateau des Mont Avron. Nachdem sich die Ereignisse zunächst überschlagen haben, setzt mit der Belagerung ein Kriegsalltag zwischen Langeweile und tödlicher Gefahr ein. Es scheint die Zeit „ unmäßig träge, schleppend vorüberzuschleichen “ , wenn nicht gerade „ das infernalische, wuchtig-scharfe Pfeifen vom Flug der Granate durch die Luft “ dazwischendröhnt: „ Ich höre das Vorbeirauschen der leeren Zeit “ , heißt es in absurder Annäherung des Einen an das Andere. 4 Abwechslung bringt der Vorpostendienst, den Liebmann für jeweils 48 Stunden bis zur nächsten Ablösung als seine eigentliche Beteiligung am Krieg erfährt. 3 Otto Liebmann: Die Walküren. Eine Vision. In: Theodor Echtermeyer: Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen. 36. Auflage. Hrsg. von Alfred Rausch. Halle 1907, S. 586 - 589. Der Weg führt über Liebmanns einzige Gedichtsammlung: Weltwanderung. Gedichte von O. L. Stuttgart 1899, S. 42 - 46. - Zu den textgeschichtlichen Verhältnissen insgesamt: Das Belagerungstagebuch geht zurück auf Journalbeiträge Liebmanns für die Deutsche Kriegs-Zeitung. Illustrirte Blätter vom Kriege, die unter dem Titel Vor Paris. Aus dem Tagebuch eines militärischen Dilettanten in serieller Folge (Deutsche Kriegs-Zeitung 1871. Nr. 8 - 15, S. 58, 66 - 68, 82 - 84, 90 f., 98 f., 107, 114 f. u. 122) zum Protokoll der Belagerung ausgebaut werden. Die Einträge in das journalistische Tagebuch reichen in eigener Datierung aber nur bis zum 16. Oktober 1870. Die ebenfalls anonyme Buchausgabe Vier Monate vor Paris hat dann die Kriegsfeuilletons als Textstamm (auf den ersten 44 von insgesamt 174 Seiten) und führt das Diarium des Krieges weiter bis zum Waffenstillstand Ende Januar 1871. Es ist nicht zu klären, ob oder ab wann Liebmanns Autorschaft ein offenes Geheimnis ist, spätestens jedenfalls mit der Neuausgabe von Vier Monate vor Paris zum 25. Kriegsjubiläum (München 1896), die den eigenen Namen trägt. 4 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 64, 50 u. 27. 100 Thomas Althaus <?page no="101"?> I. Cogitatio belli Zur eigentlichen Kriegsberichterstattung trägt das Belagerungstagebuch nichts Nennenswertes bei. Es widmet sich dem Warten auf die Kapitulation von Paris. Der schiere Mangel an Ereignissen sorgt dafür, dass die Zeit mit literarischer und philosophischer Reflexion, wo nicht einfach nur mit Kartenspielerei verbracht wird. Daran ändert sich auch nichts, als in der zweiten Januarhälfte 1871 die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges wieder ihren Lauf nimmt. Die letzten Kämpfe um die Festung auf dem Mont Valérien westlich von Paris, die Niederlage der Armée de la Loire, zu der von dort dann nicht mehr durchzustoßen ist, und schließlich die Waffenstillstandsverhandlungen sind Liebmann jeweils nur eine Randnotiz wert. Dies trifft ebenfalls für die auch nur beiläufig erwähnte Kaiserkrönung zu, außer dass sie eine euphorische Schlussapotheose veranlasst, die nationalliberales Gedankengut und Preußens Gloria im Ziel der Reichsgründung vereinbart. Die Apotheose selbst erscheint - wie die literarischen Einschübe - als ein Produkt der Nebenstunden dieses Krieges, in dem das Manko an geschichtlicher Erfahrung reichlich Zeit, ganze vier Monate, zur Sinnstiftung lässt. So kommt es zu einer umfassenden Cogitatio belli, die diesen gesucht philologischen Titel durch eine Fülle an kulturgeschichtlichen Reminiszenzen verdient. Manches reduziert sich dabei auf akademisch selbstgefällige Gesten. Als es etwa um das Schwadronieren in den Unterkünften über „ Heldenthaten im Reiche der Ἀφροδιτη πανδημος“ geht, wird dies anmerkungsweise übersetzt, aber nur vom Griechischen ins Lateinische: „ Venus vulgivaga “ , - wobei manche dieser Attitüden ironisch unterlaufen werden: „ , Ἄριστον μὲν ὕδωρ ! ‘ dachte ich mit Pindar und trank Chausseewasser. “ - „ Wasser ist das Beste. “ 5 Der Übergang zwischen selbstgefälliger und ironischer Bezugnahme ist fließend. Beides gilt auch für die geradezu unvermeidliche Ilias-Phrase, wenn man geschulter Philologe und Belagerer von Paris ist, den „ klassischen Stoßseufzer Ἐσσεται ἧμαρ ó ταν ποτ’ ὀλωλη ʼΙλιος ἱρη , den man von der Hand so manches studierten Stratioten an so manche Wand geschrieben finden konnte “ und der in der zugehörigen Fußnote ebenso gut nach Voß wie nach Büchmann zitiert sein kann. 6 Darum eignet sich dieser bildungsbürgerliche Abhub aber doch als 5 Ebd., S. 83 u. 124 mit jeweiliger Anmerkung. 6 Ebd., S. 8, mit der Fußnote: „ Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt. “ Vgl. dazu neben der Ilias-Übersetzung von Johann Heinrich Voß (6. Gesang, Vers 448) auch Georg Büchmann: Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des Deutschen Volkes. 6., verb. u. verm. Auflage. Berlin 1871, S. 118: „ [S]o sprechen wir mit dem an Troja, Karthago und Rom erinnernden Versanfang [ … ] noch heute im Alltagsleben unsere Ueberzeugung aus, daß irgend etwas stolz sich Erhebendes einst zusammenbrechen wird. “ Frank Becker: Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Philosophie und Krieg 101 <?page no="102"?> Textstütze für ein epigrammatisches Distichon, das die Frankreich-Kritik der angegriffenen Angreifer auf den Punkt bringt. Es betrifft nicht nur Victor Hugo, an den es gerichtet ist: An Victor Hugo. Heilig nennst du Paris? Ei, welch ein gefährliches Omen! Ἴλιος ἱρὴ *) - sie fiel; Roma, Jerusalem auch. 7 *) Das heilige Troja. Hugo wird als literarischer Repräsentant der Dritten Republik in ihren jüngsten Tagen genau desjenigen übertriebenen Pathos und derjenigen leichtfertigen Rhetorik bezichtigt, die in der deutschen Version der Kriegsschuldfrage wenig zuvor Napoleon III. (Hugo: „ Napoléon le Petit “ ) und seine Militärs erst vom Ruhm eines Sieges über Deutschland schwärmen, dann in die Katastrophe schlittern ließen. Damit ist das alte und das neue Frankreich, das sich im besetzten Paris vorbereitet, auf einen Nenner gebracht. Außerdem gewinnt der Prussien barbare in der vom Epigramm verabreichten Geschichtskunde auch intellektuell Oberhand über den l ’ homme de lettre. Diesem wird das Buch der großen Belagerungen aufgeblättert und daraus auf das Kürzeste Bescheid gegeben. Das schlagende Argument verdankt sich freilich weniger dem Scharfsinn des Epigrammatikers als den Kruppschen Kanonen. Das ist das kulturhistorische Setting, in dem das Belagerungstagebuch über den Krieg in der Zeit seines Stillstandes philosophiert. Die kritische (? ) Auseinandersetzung mit dem Geschehen im Moment des Erlebens vollzieht sich vor allem als Wechsel von journalistischen zu literarischen Schreibweisen. Vier Monate vor Paris ist in Teilen Korrespondenzbericht, Tagebucheintrag, das in der Journalprosa beliebte Kultur- und Genrebild, episierende Lyrik, Hymnus, Mondlyrik, Aphorismus, Fragmentprosa und Epigramm, Reisebericht, kulturkritischer Essay und szenischer Dialog. Bei all dem erweist sich aber die Kodierung durch die Reichsgründungsideologie als nahezu zwanghaft. Da steht Liebmann den engstirnigsten Ausprägungen der nationalen Herrlichkeit in nichts nach. Wie es guter Ton ist, führt auch er die Nationalkulturen in einer Anabasis und Katabasis aneinander vorbei und reduziert hierüber letztlich beide. Alles, was für Frankreich als Kulturnation spricht oder sprach, gibt jetzt die Höhe an, aus der der Absturz in die Niederungen eines Kulturbetriebs Deutschlands 1864 - 1913. München 2001, S. 184 macht grundsätzlich, u. a. auch im Verweis auf dieses Homer-Zitat, darauf aufmerksam, wie sehr Bildungsbürgerliches die Kriegsdeutung in actu begleitet. 7 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 110. Vgl. Victor Hugo: Rentrée à Paris. (Le 4 septembre 1870). In: ders.: Œ uvres complètes. Actes et paroles. Pendant l ’ exil 1870 - 1884. Hrsg. von Jeanlouis Cornuz. Mulhouse 1968, S. 173 f., hier S. 173: „ Défendre Paris, garder Paris. [ … ] Paris est la ville sacrée. “ 102 Thomas Althaus <?page no="103"?> erfolgte, von dem neben der Pariser Bohème nicht zuletzt auch der unschöne Realismus eines Victor Hugo Zeugnis gibt. Das wertet im Vergleich die deutsche Gemütlichkeit auf, die auch für Liebmann nicht länger eine Kategorie des Philiströsen ist bzw. als diese eine grundsolide Voraussetzung für den Aufstieg der Nation. Der Wechsel der Schreibweisen im Belagerungstagebuch ist dann eher ein Remedium gegen den Mangel an Perspektiven, so dürftig erscheint das Resultat vorgeblich gelingender Geschichte in ihrem festgelegten Sinn. Wie wenig Differenzierung die Kriegsdiagnose durch literarische und philosophische Reflexion erfährt, zeigen Liebmanns Bemerkungen über das Plündern. Dazu lässt die Quartiermacherei in besetzten Ortschaften und das Requirieren von Nahrungsressourcen nachgerade zwanglos übergehen ( „ Manches Vergrabene wurde lachend zu Tage gefördert; [ … ] verschlossene Thüren waren kein Hinderniß für das Beil, den Kolben, den Rücken und andere gewichtige Körpertheile. “ ), auch zu schierem Vandalismus, der „ werthvolle Bücher, Prachtwerke aus dem Einband reißt und zu unsagbaren Zwecken verwendet. Aber - c ’ est la guerre! “ 8 Liebmann selbst erlaubt sich auf solchen Streifzügen, „ ein feines Lederbändchen in Sedez mit Goldschnitt [ … ] als gute Prise einzustecken [ … ]. Es sind Pensées de J. J. Rousseau, Citoyen de Genève. Londres 1786 “ , über deren Weltfremdheit und allzu feine Bedenken er sich wundert, unter anderem wegen dieses Auszugs aus dem Contrat social: Der gerechte Fürst bemächtigt sich im Kriege zwar der öffentlichen Güter des Feindes, „ mais il respecte la personne et les biens des particuliers “ , was Liebmann einfach durch den Verweis auf die Flucht der Eigentümer außer Kraft setzt: „ Was wir vorfinden, ist herrenlos, res nullius, und da gilt allein das jus primae occupationis “ und findet so etwas wie eine neue Urbarmachung der verlassenen Gegend durch die Besatzer statt. 9 Der Buchraub bleibt im eigenen Handeln Liebmanns ein Einzelfall. Aber die geistige Inbesitznahme kultureller Errungenschaften des Feindes betreibt er systematisch. Der behauptete Rangwechsel zwischen aufstrebender deutscher Kultur und französischer Verfallskultur geht auch mit einem Erbschaftsverhältnis in Wertefragen überein. Liebmann experimentiert förmlich mit dieser Art von Aneignung. Das reicht bis zu einer Umadressierung der Marseillaise: „ So singen wir jetzt “ : „ Aux armes citoyens! / Der Freiheit Göttin seh ’ ich waffenglänzend “ . 10 Marianne ist jetzt Germania. Die Idee der Freiheit erfüllt sich in der nationalen Eigenständigkeit der Deutschen 8 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 3 u. 52. 9 Ebd., S. 31 u. 51. „ Wie jener erste Ansiedler nach Belieben schaltet, Wälder ausrodet, Sümpfe austrocknet, [ … ] so schalten auch wir nach Belieben. “ (S. 52) Vgl. zur angezogenen Passage Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou Principes du droit politiques. In: ders.: Œ uvres complètes. Hrsg. von Michel Launay. Paris 1971, S. 513 - 585, hier S. 521. 10 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 42 (Auf Vorposten vor Paris). Philosophie und Krieg 103 <?page no="104"?> und revolutionäres Handeln in militärischem Handeln, wofür auf das Deutungsprogramm der Befreiungskriege zurückzugreifen ist. II. Wahrnehmungsprobleme und Schematisierungen Diese Urteilsgewissheit ist kaum mit dem eigentlichen Erfahrungsbericht aus der Sicht eines Beteiligten und seinen Einschätzungsproblemen abzugleichen. Je genauer es Liebmann um die Wahrnehmung von Krieg vor Ort geht, desto mehr hat der angestrengte Blick des Augenzeugen mit Schwierigkeiten der Beobachtung zu tun. Man hat „ von der Höhe mit aller Bestimmtheit unsere Artillerie auf St. Denis Schnellfeuer geben sehen “ , und dann ist es „ trotz der vermeintlichen Autopsie nicht an dem “ ; man sieht nichts, solange die Schlacht tobt ( „ Ein wüstes Chaos, blitzend, krachend, rauchumhüllt - das war ’ s. “ ), und immer noch so gut wie nichts, wenn die Gegend in aller Ruhe ausgespäht werden kann: „ Oft, sehr oft haben wir mit unsern Ferngläsern hinübergelugt [ … ] und aus dem verschwommenen Chaos uns Einzelnheiten zu verdeutlichen gesucht. “ 11 Selbst dann heben sich die Dinge des Krieges kaum besser voneinander ab, nicht einmal für das bewaffnete Auge. Die Betonung des Blicks hat vor allem Weiteren mit mediengeschichtlichen Bedingungen zu tun. Im expandierenden Pressewesen des 19. Jahrhunderts und seit dem Aufkommen der illustrierten Zeitungen und Zeitschriften sind sogenannte Spezialkorrespondenten für Berichte aus der Mitte des Geschehens und Spezialartisten für deren Visualisierung zuständig. So begegnet man den Anschauungsverlusten der beginnenden Moderne dort, wo sie sich als Informationsflut und ständiger Konzentrationswechsel medial ereignen. Das hat unter denselben Voraussetzungen auch mit der Ästhetik des Realismus zu tun. Beides zusammen macht die bis ins Optische und Protofotografische vorangetriebene Mimesis zur Bezugsgröße medialer Repräsentation, was freilich nur mit erheblichem Aufwand zu bewerkstelligen ist. Die Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt mit den Einigungskriegen 1864 - 1871, in denen ‚ militärische Dilettanten ‘ wie Liebmann ins Heer der Kriegsberichterstatter drängen und als ebenso dilettierende Journalisten oder Zeichner die Ereignisse in Medienereignisse zu transformieren helfen. Da ist Authentizität der Beobachtung letztlich wichtiger als übergreifendes Wissen. Das Lektüreereignis der Vier Monate vor Paris beruht wesentlich auf dem Zeugnischarakter und dieser wiederum auf dem Anschauungsgehalt der Mitteilungen. Darum bleiben die geschichtsträchtigen Ereignisse rund um die Belagerung von Paris beinahe unberührt. Liebmann kennt sie nur vom Hörensagen. 11 Ebd., S. 43, 57 u. 66. 104 Thomas Althaus <?page no="105"?> Gerade aber Liebmann durchbricht, kaum ein Jahr vor dem Deutsch- Französischen Krieg, das Realismuskonzept in der Frage der Anschauung mit Erkenntniskritik. In Ueber den objectiven Anblick wendet sich der Neukantianer gegen den „ realismus vulgaris “ , der nicht davon ablässt, „ das Bild der Außenwelt, welches in uns entstanden ist, als ein getreues Conterfei der Welt zu betrachten [ … ], welche realiter draußen existirt. “ 12 Im Akt der Perzeption liefert „ die gereizte, in Activität versetzte Sinnlichkeit dem Subject lauter isolirte Eindrücke “ ; vor deren Zusammensetzung zu konturierten Vorstellungen, als „ Synthesis der sinnlichen Eindrücke “ , „ Synthesis der Erscheinungen “ , „ Synthesis der Anschauung “ 13 gibt es überhaupt kein Gegenstandsbewusstsein, geschweige denn empirisches Wissen. Das entsteht, indem „ wir uns - als unwillkürliche plastische Künstler, - aus den datis a posteriori der Sinnlichkeit die phänomenale, empirische, anscheinend objective Natur unbewußt im Raume construiren “ . 14 Der neukantianische Ansatz, wie Liebmann ihn propagiert, erhärtet das Konzept einer konstitutiven Erfahrung von Raum und Zeit (nach den kantischen Prämissen) durch experimentalwissenschaftliche Befunde der physikalischen Optik und Akustik. Genau hier drängen die Erscheinungen des Krieges nun aber den Analytiker der Wahrnehmung in eine seltsame Beobachterrolle, in der er nämlich den Aufbau sinnlicher Erfahrung rückwärts verfolgen kann. Die Synthesis der Anschauung zerlegt sich ihm in ihre Bestandteile. Im Hagel der Artilleriegeschosse stimmt die ganze Reizabfolge nicht mehr. Indem „ die Geschwindigkeit der Granate erheblich größer “ ist „ als die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalls “ , kommt es zu einer irren „ Combination akustischer und optischer Eindrücke des allerheftigsten Grades und der abnormsten Art “ , 15 - und so sehr dabei Hören und Sehen vergeht, im ohrenbetäubenden Lärm und weil den Granatsplittern und Druckwellen nicht hinterherzusehen ist, so massiv schlägt die Dekonstruktion der objektivierten Erfahrung unmittelbar auf das Objektivierte durch. Wo die Granaten krepieren, ist das für jede Philosophie verlässliche Korrelat eines gegebenen, konstruierten oder interpretierten Zusammenhangs der Dinge nicht mehr da und werden Körper zerstückelt: „ Von einem Franzosen, den das Sprenggeschoß voll in die Brust getroffen, lagen hier 12 Otto Liebmann: Ueber den objectiven Anblick. Eine kritische Abhandlung. Stuttgart 1869, S. 168 u. 4. 13 Ebd., S. 89, sowie Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 1871, S. 84, 136 u. 204. 14 Liebmann: Ueber den objectiven Anblick (Anm. 12), S. 71 u. 126. 15 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 50 u. 138. Philosophie und Krieg 105 <?page no="106"?> die rothbehosten Beine, dort die Arme, da der Kopf; das Mittelstück fehlte gänzlich. “ 16 Die Welt sieht im Bombenhagel aus, wie man sich nach Liebmann das Durcheinander von Eindrücken bei unfertiger Organisation durch das menschliche Bewusstsein vorzustellen hat: wie „ ein ungeordnetes, zusammenhangsloses Aggregat völlig discontinuirlicher Wahrnehmungsfragmente “ . 17 Dennoch funktioniert Krieg nicht als Verifikation des erkenntnistheoretischen Ansatzes in der Empirie. Liebmann versucht erst gar nicht, zwischen extrem gestörter Wahrnehmung und Zerstörung ihrer Gegenstände hin und her zu argumentieren. Das wäre allein schon deshalb eine Metabasis, weil das Belagerungstagebuch als textliches Substrat der Verarbeitung in seinem Zustandekommen keinesfalls durch Dissoziation gefährdet ist. Ganz im Gegenteil wird hier die Darstellung von Zerstörungen sparsam dosiert und in ein Netzwerk genreartig typisierter Arrangements eingebracht. Das entspricht zunächst einfach journalistischer Praxis, jenen unzähligen Zeit-, Genre- und Kulturbildern, in denen die Journale den bezeichneten Anschauungsverlust kleinteilig bearbeiten. Daraus folgt als Aufgabe, sich „ aus dem Gesichtspunkte der Homogeneität eine Anzahl Einzelbilder [ … ] zu vergegenwärtigen “ , „ Verwandtes zusammengruppierend “ , „ eine Reihe kleiner, in sich abgerundeter culturhistorischer Medaillons “ . 18 Das betrifft im Ansatz immer wieder topographische Ekphrasen, in denen vedutenartige Ansichten durch Kriegseindrücke nuanciert werden, das Stadtpanorama von Paris auch dadurch „ ein vielgegliedertes, farbenfrohes Bild “ ergibt, dass aus „ hochgelegenen Forts [ … ] Blitz und Rauch hervorschnellen “ , und in der Weiterführung betrifft dies Genreszenen als sorgfältige Reproduktion von Stereotypen: In einem Café treffen „ ein stämmiger Füsilier mit Sack und Pack, die Flinte in der Hand “ und ein übernervöser Petit Maître der Fechtkunst aufeinander, der jenem an dessen Waffe „ die Theorie des Bajonettkampfes “ pantomimisch demonstriert, mit den unglaublichsten Verrenkungen und Sprüngen bald avancierend bald retirierend, sich duckend und wieder emporschnellend [ … ]. Der blonde, blauäugige Füsilier, ein Westfale, sah mit kühlem Lächeln den Seiltänzersprüngen des Andern zu. [ … ] Endlich nahm er die Flinte zurück, kehrte sie um, holte aus und führte mit dem Kolben einen kurzen, schnell gehemmten Schlag in die Luft. Im Nu fuhr der Franzos zurück [ … ]. 19 16 Ebd., S. 58. 17 Otto Liebmann: Die Klimax der Theorieen. Eine Untersuchung aus dem Bereich der allgemeinen Wissenschaftslehre. Straßburg 1884, S. 76. 18 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 65. 19 Ebd., S. 5 (Ansicht von Paris) u. 133 (Theorie des Bajonettkampfes). 106 Thomas Althaus <?page no="107"?> In den Kategorien von Liebmanns neukantianischer Philosophie gedacht, gibt es keine einheitliche Anschauung ohne Musterbildung und Stabilisierung durch Typik. „ Das Alles associirt sich, kehrt wieder und wieder, reproducirt einander “ und gelingt durch die „ prononcirte Empfänglichkeit unsres Natürells für gewisse Motive “ , durch „ latent beharrende, im Gedächtniß schlummernde, reproducible Erinnerungsbilder “ ; an ihnen hat „ der Verstand [ … ] für alle möglichen neueintretenden Fälle sein Schema in petto. “ 20 Insoweit hat auch dasjenige Schematisieren Methode, das sich nationaler Stereotypen bedient. Ein Übriges leisten Analogien. Mit den fremden Gegenden wird nicht nur nach dem Bildschema der Veduten und Landschaftspanoramen bekannt gemacht. Am anschaulichsten finden sie sich dem Unkundigen als Abziehbilder deutscher Landschaften beschrieben. Soissons an der Aisne erinnert „ an das Saalthal in der Gegend von Naumburg und Kösen “ , das Fort Laon nahebei, von den Franzosen beim Rückzug gesprengt, „ an die gewaltigen Ruinen der Festung Neuffen auf der schwäbischen Alb “ . 21 Zum Temporalen übergehend, helfen „ die in weite Fernen und späte Zeit hinüberglänzenden Thaten der Bravour “ bei der Einordnung des Geschehens oder schult sich der Blick der Heranrückenden auf Paris an kulturgeschichtlichen Vorgaben: Im Voraus hatte man sich allerlei Analogieen zusammengesucht, man hatte sich an das jubelnde Θαλαττα ϑαλαττα der Zehntausend erinnert, an Blücher mit seinen siegreichen Schaaren, an Kaulbachs großartiges Bild, das uns den ersten Blick der Kreuzfahrer auf Jerusalem vergegenwärtigt &c., es war sozusagen der ideelle Gehalt und Hintergrund des Moments schon anticipirt, vorweg genossen [ … ]. 22 Liebmann adaptiert schlicht jedes Versatzstück, das sich zur Sinnkonstruktion einer Wacht am Rhein eignet, die bis zur Seine vorgeschoben worden ist. Im Denkmodell des Neukantianers ist das folgerichtig, sogar erkenntnis- und wahrnehmungstheoretisch begründbar. So trägt er zur politischen Historiographie des entstehenden Reichs mit all ihren Klischees umso williger bei, umso mehr sich der Krieg eigener Anschauung entzieht. III. Froschperspektive und interne Widerlegung Die Situation des Tagebuchschreibers als Spezialkorrespondenten, der sich den Wind der Geschichte direkt um die Nase wehen lässt, ist aber noch genauer zu 20 Liebmann: Ueber den objectiven Anblick (Anm. 12), S. 106 u. 101 f. 21 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 126 u. 130. 22 Ebd., S. 36 u. 4 (im Verweis auf Xenophons Anabasis [IV, 7, 24], Blüchers Feldherrnblick 1814 von den Höhen von St. Denis auf Paris und Kaulbachs Historienbild Die Zerstörung Jerusalems durch Titus [1846] als Assoziationsquellen für das Déjà-vu). Philosophie und Krieg 107 <?page no="108"?> befragen. Sie ist mit wesentlichen Einschränkungen verbunden. Nächste Kenntnis der Umstände bedingt fehlende Übersicht. Was jenseits des eigenen Blickfeldes liegt (vom Geschehen an anderen Frontabschnitten bis zu anstehenden militärischen Operationen und strategischen Entscheidungen), gehört in den Bereich des Zugetragenen, der Gerüchte und Spekulationen. Vor allem aber bekommt selbst ein Theoretiker wie Liebmann, sobald er auf Tuchfühlung mit dem Krieg und „ aus der Froschperspective “ agiert, den Druck der Dinge und die Macht der Bedürfnisse zu spüren, wenn man „ bei schneidender Winterkälte die Nacht durch unter freiem Himmel schlaflos zubringen, oder in engem, rauchigem, dumpfem Raum heerdenweise auf schmutzigem Stroh aneinandergedrängt daliegen “ und zusehen muss, wie „ man einmal Butter und Käse bekommen kann, - kurz, man wird praktischer Materialist. “ 23 Den Neukantianer kann das im Grunde nicht überraschen, beruft er sich doch für den Erweis von Kants transzendentaler Ästhetik auf die experimentelle Physiologie, damit selbst ganz deutlich auf körperliche Erfahrung, sensitives und haptisches Verhalten in der Umfeldorientierung: „ der Gesichtssinn, [ … ] unterstützt vom Tastsinn, aus dessen Sensationen wir uns die Gestalt der im Contact empfundnen Körper construieren, das sind hier die Autoritäten! “ 24 In der Projektion auf die langen vier Monate vor Paris schließt ein derart konkretistischer Ansatz ein, dass sich ganz andere Belange vor die Frage schieben, wann denn endlich das Bombardement auf die belagerte Stadt eröffnet wird: das Problem wundgescheuerter Füße, eines Schlafplatzes für die nächste Nacht, einer nächsten Mahlzeit oder wärmender Kleidung in den kalten Wintertagen. In die souverän entwickelte Cogitatio belli bricht Induktion ein: [ … ] wie von den Achäern vor Troja wird einst das Volk erzählen von der Belagerung und den Kämpfen um Paris. Der Epheu grauer Erinnerung wird das umranken, vom mythischen Dämmer der Heldensage wird das verklärt, vom gelehrten Spinnengewebe der Geschichtsschreibung wird das bedeckt werden, was ich jetzt hier leibhaftig, wirklich, gegenwärtig miterlebe [ … ]. Hier sitze ich in Hemdsärmeln, vor mir ein Stück in Speck gebratner Hammelsleber und eine Flasche Cognac; draußen ist abscheuliches Schnee- und Schmutzwetter; K. sitzt mir vis-à-vis und flickt eine Naht an meiner 23 Ebd., [Vorwort], o. S., S. 36 u. 23. In der Kriegsbelletristik wird derart Alltagsgeschichtliches sehr wohl honoriert, wie etwa die vielgelesenen Briefe des Oberstallmeisters Rauch zeigen. Wo anderes zu berichten wäre, sind sie mit den akuten Wirkungen eines „ Blutgeschwürs “ beschäftigt (Fedor von Rauch: Briefe aus dem großen Hauptquartier der Feldzüge 1866 und 1870/ 71 an die Gattin. Hrsg. von F[eder] v[on] Rauch [ jun.]. Berlin 1911, S. 67, 69, 71, 73 u. ö.), später dann mit wollenen Strümpfen, Steppjacken, Leibbinden usw. 24 Otto Liebmann: Ueber die Phaenomenalität des Raumes. In: Philosophische Monatshefte 7 (1871/ 72). H. 8, S. 337 - 359, hier S. 345. 108 Thomas Althaus <?page no="109"?> Uniform [ … ]. Diese Wirklichkeit ist so unendlich prosaisch, daß mir die dereinstige Apotheose höchst lächerlich vorkommt, ungemein lächerlich! 25 An der großen ideologischen Rahmung ändert das nichts. Sie überformt auch solche Fragmente, aphoristischen Bemerkungen, Aperçus. Aber an der zitierten Stelle folgt Relativierung auf Relativierung, was die großartige Geschichte von Krieg und Sieg mit grundsätzlichen Bedenken durchsetzt. Das tangiert nicht nur diesen deutschen Mythos. In zwei aufeinanderfolgenden Fragmenten wirkt sich die subversiv andere Sicht der Dinge derart aus, dass danach der Weg in eine ereignisgeschichtliche Beschreibung anhand nackter Daten und Fakten eigentlich versperrt ist, der Weg in die Anschauungsprosa der Kultur- und Genrebilder aber auch. Das sind alles nur behelfsmäßige und unbehilfliche Abstraktionen oder Konkretionen: Die guten Poeten und die braven Historiker! - was für Illusionen verbreiten sie doch! Das spärliche Register dessen, was eben registriert wird und registriert werden kann, die kümmerliche Hülfe von Jahreszahlen, Daten und Namen, das abstracte Skelett der amtlichen Berichte, officiellen Actenstücke und Depeschen [ … ]. * * Was ist Geschichte? [ … ] Wahrheit an der Geschichte, im ernsten, strengen Sinne Wahrheit ist eben nur eine trockene Tabelle von Namen und Zahlen; alles Plus, [ … ] das eigentliche Fleisch und Blut um jenes elende Skelett, das menschlich Anmuthende, Interessante zwischen jenen Namen und Zahlen, die concreten Gestaltungen, Stimmungs- und Situationsbilder, &c. - ist Phantasie, nicht Wahrheit. 26 Bei „ concreten Gestaltungen “ wird schon gar nicht mehr unterschieden zwischen literarischer Darstellung und Berichterstattung. Hinter alldem beruht die Anschaulichkeit des Objektiven in der neukantianischen Analyse ja doch auf Erfindungen der Perzeption. So etwas wie vertraute Realität zeigt sich erst bei schematisierter Reizumsetzung im Zusammenspiel mit vorgeprägten Elementen der Wahrnehmung. Hier anstehende Fragen sind damit nur erst angerissen. Auch bleibt die Reflexion auf die Bedingungen des Erlebens wie des Schreibens, soweit sie in den Voraussetzungssystemen zeitgenössischer Theorie voranzutreiben ist, eine Sache weniger Fragmente. Sie jedoch greifen kritisch in die Deutungsgeschichte des Deutsch-Französischen Krieges ein. Diese Intervention ermöglicht dem Belagerungstagebuch, innerhalb des Tagebuchs, eine Generalabrechnung mit sich selbst. 25 Liebmann: Vier Monate vor Paris (Anm. 1), S. 104. 26 Ebd., S. 104 f. Philosophie und Krieg 109 <?page no="111"?> Très honoré Confrère - Eine schwierige französischdeutsche Briefkommunikation nach dem Krieg Hans Giessen, Kielce / Helsinki / Saarbrücken I. Einleitung In der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz befinden sich in der Sammlung Mommsen drei Briefe, die Michel Bréal an Theodor Mommsen geschrieben hat. Die Briefe entstammen der Zeit nach dem Krieg; sie machen deutlich, wie sehr der Konflikt auch persönliche deutsch-französische Beziehungen belastet und verändert hat. Angesprochen werden familiäre Verhältnisse und solche im Wissenschaftskontext. Die Relevanz der Briefe gründet sich auf die Bedeutung des Briefeschreibers (Michel Bréal, membre de l'Institut, Professor am Collège de France, Begründer der Semantik, aber auch Erfinder des Marathonlaufs) sowie derjenigen des Empfängers (Theodor Mommsen, zuletzt Professor an der Universität zu Berlin, erster deutscher Literaturnobelpreisträger). Jenseits dieser abgeleiteten Bedeutungen sind die Briefe aber auch ein interessantes Zeitdokument und bieten einen Anlass für kulturgeschichtliche Bemerkungen. Die Antwortbriefe und der Kontext des kommunikativen Prozesses sind - zumindest in der Staatsbibliothek zu Berlin - nicht vorhanden. Dies ist insofern problematisch, als die Briefe acht beziehungsweise vier Jahre auseinanderliegen und verschiedene Textelemente - wie zum Beispiel der Wandel der Anrede - nahelegen, dass sie nicht isoliert gesehen werden können, sondern Teil eines Kommunikationskontinuums sind, das hier nur zu erahnen ist. II. Der Sender: Michel Bréal Zum Zeitpunkt des ersten Briefes war Michel Bréal bereits 55 Jahre alt. Geboren wurde er als Michael Breal (also mit deutschem Vornamen und ohne accent aigu auf dem Nachnamen) am 26. März 1832 in Landau in der Pfalz, das damals zum <?page no="112"?> Königreich Bayern gehörte. 1 Der Vater starb früh, als Michael erst sieben Jahre alt war. Die Mutter zog über die Grenze nach Weißenburg ins benachbarte Elsass, wo Verwandte lebten. Jenseits der Grenze passte man auch den Namen an, wie es damals üblich war. Aus Michael wurde Michel und der Nachname erhielt nun einen accent aigu. In Weißenburg schloss der Sohn, nun also als Michel Bréal, die Grundschule ab. Später zog die Mutter nach Metz weiter, wo ihr Sohn aufs Gymnasium ging. Da er ein guter Schüler war, konnte er an das berühmteste Gymnasium Frankreichs überwechseln, das Lycée Louis-le-Grand in Paris. Sein Abschluss war auch hier so gut, dass er (nach der École préparatoire) an einer der renommierten Pariser Hochschulen aufgenommen wurde, die École nationale supérieure, rue d'Ulm, die er mit Erfolg abschloss. Dann setzte Bréal seine Studien in Berlin fort. Die Wahl des Studienorts war Ausdruck seiner sprachlichen wie emotionalen Verbundenheit mit Deutschland, erfolgte aber auch aus akademischen Gründen, denn die deutsche Sprachwissenschaft war damals weltweit führend. Einige ihrer renommiertesten Vertreter waren Albrecht Weber (1825 bis 1901) und Franz Bopp (1791 bis 1867), bei denen Bréal Lehrveranstaltungen besuchte. Beruflich fand er eine erste Anstellung in der Abteilung für orientalische Manuskripte der Bibliothèque Imperiale. Dort schrieb er auch seine erste Studie, die die Ursprünge der persischen Zoroaster-Religion zum Thema hatte und die 1862 gleich mit dem Preis der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres des Institut de France ausgezeichnet wurde. 2 Im Jahr darauf erwarb er den Doktortitel. 3 Und nur wieder ein Jahr später, 1864, wurde er Professor an einer der prestigeträchtigsten Hochschulen Frankreichs, dem Collège de France. Seine Disziplin war die vergleichende Sprachwissenschaft. Auch hier hatte er bald seinen ersten großen Erfolg. Bréal entzifferte die Eugubbinischen Tafeln (1875), 4 vor-römische Bronzetafeln aus dem italienischen Gubbio. Es stellte sich heraus, dass die Schrift Etruskisch war, die Sprache aber Umbrisch. Die Tafeln beschreiben einen Jupiterkult. Offenbar ein faszinierendes Thema; das Buch muss auf heute kaum noch vorstellbare Art und Weise Aufsehen erregt und seinen Autor mit einem Schlag berühmt gemacht haben. Dafür gibt es mehrere Indikatoren, auch wenn Bréals Buch heute nicht mehr bekannt ist. Gubbio kürte ihn zum Ehrenbürger. Er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität in 1 Zur Familiengeschichte und zum Leben Bréals vergleiche meine biographische Skizze: Hans W. Giessen: Michel Bréal. The ‚ Inventor ‘ of the Marathon Race. In: Journal of Olympic History 22 (2014), Nr. 2, S. 31 - 39. 2 Michel Bréal: Étude des origines de la religion Zoroastrienne. Paris 1862. 3 Michel Bréal: Hércule et Cacus, étude de mythologie comparée. Paris 1863. 4 Michel Bréal: Les tables eugubines. Texte, traduction et commentaire, avec une grammaire et une introduction historique. Paris 1875. 2 Volumnes, 1 album. 112 Hans Giessen <?page no="113"?> Bologna, der ältesten Universität Europas - im Übrigen in einem Kontext, der noch einmal seine Bedeutung herausstreicht: aus Anlass des 800-jährigen Bestehens der Universität, zusammen mit dem ersten italienischen Nobelpreisträger Giosué Carducci. Später hat übrigens auch die Universität Zürich Bréal aus vergleichbarem Anlass einen Ehrendoktortitel verliehen, nämlich zur Würdigung ihres fünfzigsten Gründungsjubiläums. In Frankreich hatte sich Bréal zudem bereits als Bildungsreformer einen Namen gemacht. Aufgrund seines Bekanntheitsgrads und seiner Beziehungen gab es sogar die Anfrage eines der bedeutendsten französischen Politikers seiner Zeit, Jules Ferry (zunächst Bildungsminister und später ebenfalls Ministerpräsident), ob Michel Bréal nicht ins Ministerium wechseln wolle. Bréal lehnte zwar ab, denn er sah sich primär als Lehrer und Wissenschaftler, aber er half Ferry in vielerlei Hinsicht, beispielsweise bei der Gründung der Refomhochschule École pratique des hautes études (1868). Bréal nahm dort Lehraufgaben wahr und engagierte sich als Gründungsdekan der Philosophischen Fakultät. Auch sozial war Michel Bréal in die Pariser Gesellschaft gut integriert. Sein Schwiegersohn war der spätere Literaturnobelpreisträger Romain Rolland. Bréal war also bereits berühmt, als er den ersten Brief an Theodor Mommsen schrieb - auch wenn die wichtigsten Errungenschaften, die auf ihn zurückgehen und wegen derer er heute noch bekannt ist, zu diesem Zeitpunkt noch in der Zukunft lagen: Bréal ist der Begründer der Semantik als Wissenschaftsdisziplin, die auf seinen Éssai de sémantique aus dem Jahr 1897 zurückgeht; 5 die höchste Breitenwirkung hatte er aber mit zwei Anregungen, die er auf dem ersten Olympischen Kongress an der Sorbonne sowie in einem späteren Brief an seinen Freund, den Baron Pierre de Coubertin gab: Bréal propagierte das Olympische Motto Citius, Altius, Fortius. Als Erfinder des Marathonlaufs gilt er, weil er Coubertin in einem Brief vorschlug, für die ersten Spiele 1896 einen Lauf von Marathon ins Athener Stadion zu organisieren; Coubertin hat diese Idee sofort aufgegriffen. III. Der Empfänger: Theodor Mommsen Der Empfänger der Briefe, Theodor Mommsen, war am 30. November 1817 im schleswig-holsteinischen Garding als Sohn eines protestantischen Pfarrers geboren worden. Er war mithin 15 Jahre älter als Bréal; zum Zeitpunkt des ersten Briefes war er bereits siebzig Jahre alt. 6 Dies erklärt vermutlich den 5 Michel Bréal: Essai de sémantique, science des significations. Paris 1897. 6 Zu Mommsen vergleiche insbesondere Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie. München 2002, sowie als Internetressourcen die Biographie auf der Home- Très honoré Confrère 113 <?page no="114"?> respektvollen und zunächst sehr sachlichen Ton insbesondere des ersten Briefes. Auch wenn Bréal bekannt und renommiert war, so schrieb er doch an einen deutlich älteren und mindestens ebenso renommierten Kollegen. Die Anrede, das formale Monsieur, deutet darauf hin, dass man noch nicht in engem Kontakt stand. Das Anliegen des Briefs ist die beruflich-formale Bitte des Jüngeren an den Älteren, einem Nachwuchswissenschaftler, der offenbar aus Paris nach Berlin zu reisen beabsichtigte, den Weg zu ebnen. Mommsen war dazu zweifellos wie nur wenige in der Lage. Der Brief kam rund zwei Jahre nach dem Zeitpunkt, als Mommsen seine Lehrtätigkeit an der Universität zu Berlin beendet hatte. Noch war er also bekannt, kannte alle handelnden Personen - zumal er bereits 24 Jahre dort gewirkt hatte. 1861 hatte Mommsen den Lehrstuhl für römische Altertumskunde in Berlin erhalten; dies war gleichzeitig das letzte Jahr des Aufenthalts von Michel Bréal als Student in Berlin. Ob er den frischberufenen Mommsen damals erlebt und wahrgenommen hat, ist nicht bekannt. Zumindest ist aber zu vermuten, dass dem jungen Studenten der Name Mommsen bereits geläufig war, denn bereits damals war dieser eine Koryphäe. Er hatte zahlreiche Ehrungen erhalten und war zum Zeitpunkt des Briefes Mitglied der wichtigsten Akademien seiner Zeit. Die wichtigsten Werke waren zum Zeitpunkt des Briefes bereits veröffentlicht, insbesondere seine Römische Geschichte, 7 für die er 1902 den Literaturnobelpreis erhalten sollte. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam war auch seine Konzeption, alle bekannten antiken lateinischen Inschriften zu sammeln und der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen: das Corpus Inscriptionum Latinarum. 8 Die Idee geht auf eine Denkschrift Mommsens an die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften im Jahr 1847 zurück, die positiv aufgegriffen wurde. Mommsen selbst hat den ersten Band erstellt, der die lateinischen Inschriften des Königreichs Neapel kompilierte (die er direkt nach seinem Studium während eines längeren Aufenthalts von 1844 bis 1847 in Neapel gesammelt hatte; später gingen vier weitere Bände auf ihn zurück). Ein Jahr nach seiner Denkschrift erhielt er auch seinen ersten Ruf als außerordentlicher Professor für Rechtswissenschaft nach Leipzig, denn Mommsen war von seiner Ausbildung her Jurist. Studiert hatte er Jura in Kiel; der akademische Schwerpunkt lag jedoch durchgängig beim Römischen Recht und der antiken Geschichte. page der Familie Mommsen (URL: www.mommsen.de [zuletzt abgerufen am 4. Januar 2022]) und die Seite der Nobelstiftung, (insbesondere URL: https: / / www.nobelprize.org/ prizes/ literature/ 1902/ mommsen/ biographical/ [zuletzt abgerufen am 4. Januar 2022]) 7 Theodor Mommsen: Römische Geschichte. 3 Bände. Leipzig 1854 - 1856. 8 Corpus Inscriptionum Latinarum. 17 Bände in mehreren Teilbänden. Berlin 1862 f. 114 Hans Giessen <?page no="115"?> Mommsen war aber auch stets ein sehr politischer Geist. Wegen seiner Mitwirkung am sächsischen Maiaufstand 1849 wurde er schon kurze Zeit später angeklagt und 1851 aus dem Hochschuldienst entlassen. Allerdings erhielt er schon 1852 eine neue Professur an der Universität Zürich mit der Denomination Römisches Recht. Von Zürich wechselte Mommsen an die Universität Breslau, bevor er nach Berlin ging. Die Familie formulierte auf der Lebenslauf-Seite von mommsen.de: „ Mommsens ausgeprägter Freiheitssinn wurzelt in der Überlieferung des nordfriesischen Bauerntums “ . 9 Politisch drängte Mommsen auf eine Liberalisierung in Deutschland. Von 1863 bis 1866 und erneut von 1873 bis 1879 war er Abgeordneter im preußischen Landtag, von 1881 bis 1884 im Reichstag. Der deutschfranzösische Krieg von 1870/ 71, der beispielsweise zu einer Entfremdung zwischen Bréal und seinem Lehrer Albrecht Weber geführt hatte (der zunehmend nationalistische Positionen vertrat), 10 konnte einer Beziehung zu Mommsen nicht entgegenstehen, da dieser immun gegen nationalistische Positionen war. Offensichtlich lagen beide, Briefschreiber wie -empfänger, in ihren Überzeugungen nicht weit auseinander. IV. Der erste Brief (16. September 1887) Es ist dem Brief zu entnehmen, dass sich beide bereits kannten; Bréal bedankt sich dafür, zwei Drucke von Mommsen erhalten zu haben. Um welche Schriften Mommsens es sich handelt, geht aus dem Brief nicht hervor und konnte nicht eruiert werden. Gleichzeitig kündigt Bréal Mommsen an, ihm bald eine eigene Arbeit zuzusenden, die die Interessen Mommsens berühre. Auch hier ergibt sich aus dem Brief nicht, um welche Publikation es sich handelt. Aus dem zeitlichen Kontext heraus kann jedoch vermutet werden, dass es sich um die (deutschsprachige, sich aber auf die lateinische Lexikographie beziehende) Publikation Discipulus handelt. 11 Diese Aussage bedeutet gleichzeitig und erneut, dass es bereits einen gewissen Kontakt und Austausch zwischen beiden gab; mithin auch weitere Briefe Bréals an Mommsen (mindestens ja denjenigen, den Bréal der angekündigten Sendung seiner Publikation beigelegt haben wird). In der Sammlung Mommsen der Staatsbibliothek zu Berlin sind jedoch nur die drei hier präsentierten Briefe vorhanden, so dass der Einblick in die Korrespondenz 9 URL: http: / / mommsen.de/ theodor/ leblau.html (zuletzt abgerufen am 4. Januar 2022). 10 Vergleiche Pascale Rabault-Feuerhahn: Wissenschaft im Krieg. Michel Bréal und der Indologe Albrecht Weber. In: Hans W. Giessen / Heinz-Helmut Lüger / Günther Volz (Hrsg.): Michel Bréal, Grenzüberschreitende Signaturen. Landau 2005, S. 43 - 76. 11 Michel Bréal: Discipulus. In: Archiv für lateinische Lexicographie und Grammatik 1888, S. 579 - 580. Très honoré Confrère 115 <?page no="116"?> zwangsläufig sehr rudimentär ist und viele Informationen nach Plausibilitätserwägungen vermutet, aber nicht mit Sicherheit bestimmt werden können. Zumindest ist eindeutig, dass wir es (noch) nicht mit der Textsorte des privaten Briefs zu tun haben, sondern mit einer Briefkonversation, die sehr formalisierten, geradezu ritualisierten Höflichkeitskonventionen folgt. Das formale Monsieur lässt sogar zweifeln, ob man in der Tat schon einen intensiven und engeren Kontakt hatte. Andererseits ist der Kontakt offenbar eng genug, dass Bréal eine Bitte an Mommsen richten kann, auch wenn sie lediglich auf die berufliche Sphäre bezogen ist. Die Bitte lautet, den jungen Kollegen aufzunehmen und ihm den Weg in Berlin zu ebnen. Es handelt sich also um ein klassisches Empfehlungsschreiben. Der Text des Briefs lautet wie folgt: Paris 16 Sept 1887 Monsieur, Cette lettre vous sera apportée par M. Haussoullier, ancien élève de l ’ Ecole française d ’ Athènes, actuellement professeur à l ’ École des Hautes Études. M. Haussoullier est un de nos jeunes archéologues les plus distingués. Je vous prie de lui faire bon accueil. Je vous serai très obligé si vous voulez bien lui faciliter l ’ accès des Musées et Bibliothèques de Berlin. Je profite de l ’ occasion pour vous remercier des deux brochures que vous avez bien voulu m ’ envoyer, et que j'ai lue avec un vif intérêt comme tout ce qui de près ou de loin se rattache à vos recherches sur l ’ histoire romaine. J'aurai l ’ honneur de vous adresser prochainement un petit travail qui touche incidemment à vos études. En vous recommandant à nouveau M. Haussoullier, qui est très au courant de toutes les nouvelles archéologiques et épigraphiques, je vous prie de recevoir l ’ expression de ma haute considération. Michel Bréal Als Ergänzung scheint noch ein Hinweis darauf notwendig, wer Bernard Haussoullier war. Der biographischen Notiz von Jean-Baptiste Chabot kann entnommen werden, 12 dass Haussoullier (1852 bis 1926) ebenfalls Schüler der École Nationale Supérieure war und sich auf Hellenistik spezialisierte. Er führte Ausgrabungen auf Kreta durch; in dieser Zeit war er am französischen Forschungsinstitut in Athen, der École française d ’ Athènes, beschäftigt. Nach Stationen in Caen und Bordeaux erhielt er 1885 eine Maître de Conférences- Stelle an der École pratique des hautes études. Hier ist erneut der Hinweis angebracht, dass Michel Bréal zu diesem Zeitpunkt dort Dekan der Philosophischen Fakultät war. Interessanterweise hat Haussoullier, der Biographie Chabots zufolge, stets (nur) eine Maître de Conférences-Stelle besessen, war also nicht Professeur, wie 12 Jean-Baptiste Chabot: Éloge funèbre de M. Bernard Haussoulier. Paris 1926. 116 Hans Giessen <?page no="117"?> aber Michel Bréal schreibt. Entweder ist dies eine Funktionsbeschreibung oder Bréal will Haussoullier aufwerten. Dennoch überrascht diese Zuschreibung; es wäre verwunderlich, wenn Mommsen den Titel Maître de Conférences nicht gekannt hätte. Dies wäre nur nachvollziehbar, wenn Mommsen gänzlich ohne Kenntnis des französischen Hochschulsystems gewesen wäre; dann wieder wäre es aber umso erstaunlicher, dass Bréal seinen Brief auf Französisch geschrieben hat. Immerhin gab es auch in Zukunft weitere Bezugspunkte. So war Bréal Mitglied der Académie des inscriptions et belles-lettres im Institut de France; Mommsen wurde dort 1895 auswärtiges Mitglied und Bernard Houssoullier wurde 1905 als Mitglied aufgenommen. An der École pratique des hautes études blieb Haussoullier offenbar bis zu seiner Pensionierung. Er starb 1926 bei Paris. V. Der zweite Brief (18. Juni 1895) Bis zum Datum des zweiten Briefs haben sich die Beziehungen zwischen Michel Bréal und Theodor Mommsen zweifellos intensiviert. In diesem Jahr wurde Mommsen auch, wie erwähnt, zum auswärtigen Mitglied der Académie des inscriptions et belles-lettres ernannt. In jedem Fall haben sich die Tonlage (bereits in der Anrede) und auch die Bezüge innerhalb des zweiten Briefes, der aus diesem Jahr datiert, geändert. Bréal spricht Mommsen nun als Très honoré Confrère an - aber offenbar erstmals, denn er thematisiert die Anrede auf der Metaebene, was er zweifellos nicht getan hätte, wenn sie bereits geläufig gewesen wäre. In dieser Anrede schwingt immer noch Respekt, aber doch auch eine deutlich größere Nähe mit. Ein weiterer Indikator für eine größere Vertraulichkeit ist die Ortsangabe. Begann Bréal im ersten Brief mit der allgemeinen Spitzmarke Paris, endet er den zweiten Brief mit der Nennung der Privatadresse (70, rue d ’ Assas). Offenbar ist dies - und nicht die Institutsadresse - nun auch die Anschrift für Antwortschreiben. Dennoch bleibt es bei distanziert-respektvollen Einschüben wie dem sehr formalen Monsieur in der Schlussformel (Veuillez agréer, cher Monsieur, l ’ assurance de ma haute considération). Eng vertraut und persönlich ist das Verhältnis der Briefeschreiber also nach wie vor nicht. Der Text des zweiten Briefs lautet wie folgt: Paris 18 Juin 95 Très honoré Confrère Il est permis à présent de vous donner ce nom et je suis heureux d ’ avoir pu y contribuer pour ma petite part. Je vous remercie pour l ’ envoi de la Nation, ainsi que de votre mémoire sur le Princeps peregrinorum. Très honoré Confrère 117 <?page no="118"?> J ’ avais déjà lu votre article de la Nation, car je suis un lecteur assidu de ce journal. En répondant à vos insulteurs de la presse française et allemande, je trouve que vous leur faites bien de l'honneur. Heureusement nous n ’ en sommes pas encore là que ce soit d ’ une qui porte la direction. Ce jour-là, l ’ oeuvre de la civilisation serait bien compromise. Nous pourrons vous rendre ce témoignage en France qu ’ il y a parmi nous un groupe d ’ hommes qui ne s'est jamais laissé entraîner aux passions du grand nombre. À l ’ Académie des Inscriptions ce groupe d ’ hommes comptait autrefois Renan, Alfred Maury, Adolphe Regnier, Littré … Ils sont morts, mais ils ont eu des remplaçants, et j'espère qu ’ ils en auront toujours. C ’ est en ce sens qu ’ il faut entendre le paucis humanum vivit genus. J'ai été heureux d ’ apprendre par nos communs amis que votre santé s'est tout à fait rétablie. Nous avons maintenant une nouvelle raison de nous y intéresser. Mais elle importe également à tous ceux qui travaillent et étudient. Veuillez agréer, cher Monsieur, l ’ assurance de ma haute considération. Michel Bréal 70, rue d ’ Assas Es ist eindeutig, dass es sich hier um ein Antwortschreiben handelt. Im Gegensatz zum ersten Brief, der nahelegte, dass es bisher nur einen eher formalen Kontakt zwischen Bréal und Mommsen gab, deuten nicht nur die bereits genannten formalen Elemente, sondern auch inhaltliche Aspekte auf eine enge(re) Beziehung zwischen den beiden. Bréal bedankt sich zunächst für die Zusendung eines Artikels von Mommsen. Offensichtlich ist der Beitrag Mommsens über Ludwig Bamberger gemeint, der 1894 in der politischen, liberal eingestellten Wochenzeitschrift Die Nation erschienen ist, die seit 1893 von Theodor Barth herausgegeben wurde. 13 Ludwig Bamberger (1823 bis 1899) ist der Schwager Michel Bréals. Mommsen hat also einen Artikel über einen (angeheirateten) Verwandten geschrieben, so dass alleine von daher - und unabhängig von der weltanschaulichen Nähe - eine emotionale Verbindung bestand, auch wenn das Verhältnis zwischen Michel Bréal und Ludwig Bamberger zu diesem Zeitpunkt bereits getrübt war. Michel Bréals Ehefrau Henriette, ihre Brüder Ludwig und Heinrich sowie vier weitere Geschwister entstammten einer Mainzer Kaufmanns- und Bankiersfamilie. Die Mutter war eine gebürtige Bischoffsheim, ebenfalls einer Bankiersfamilie entstammend, deren Geldhäuser damals bereits international aktiv waren. Ludwig und Heinrich Bamberger interessierten sich jedoch zunächst weniger für Geldgeschäfte. Ludwig begann zwar ein Studium der Rechtswissenschaften in Gießen, aber die Brüder engagierten sich stark im Revolutionsjahr 1848; Ludwig war gar militärischer Befehlshaber im Pfälzer Aufstand. 13 Theodor Mommsen: Ludwig Bamberger. In: Die Nation 1894, Nr. 12, S. 9 - 10. 118 Hans Giessen <?page no="119"?> Nach dessen Niederschlagung floh er zunächst in die Schweiz, wo er Kontakt zu Pierre-Joseph Proudhon hielt. Inzwischen wurden die Brüder in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die Familie unterstützte die Flüchtlinge finanziell, forderte sie bald aber auf, selbst zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Ludwig Bamberger begann eine Banklehre im Bischoffsheimschen Bankhaus in London, was ihn zunächst allerdings nicht davon abhielt, engen Kontakt zu Karl Marx zu pflegen. Allerdings dominierte die Bankkarriere immer mehr; sie erforderte auch weitere Ortswechsel (Antwerpen, Rotterdam, Paris). In Paris gründeten Heinrich und Ludwig Bamberger schließlich auch ihr eigenes Bankhaus, die Banque de Paris et des Pays-Bas, das Vorgängerinstitut der heutigen Paribas, der bezüglich des Umsatzes größten Bank Europas. Die Brüder wurden nun schnell sehr wohlhabend. Zum angedeuteten Bruch kam es in der Folge des Kriegs von 1870/ 71. Bismarck begnadigte die Brüder, aber nur Ludwig kehrte nach Deutschland zurück. Politisch hatte er sich Bismarck zugewandt, denn er sah als Konsequenz der Revolutionszeit von 1848/ 49 die vorrangige Notwendigkeit, die Kleinstaaterei in Deutschland zu beenden und hoffte, über die Einheit auch die Freiheit zu erreichen. Bismarck wiederum beauftragte ihn, der sowohl mit der deutschen als auch der französischen Mentalität vertraut war, mit der Zivilverwaltung im Elsass. Dies führte zu heftigen Irritationen bei der Familie. Ludwigs Bruder Heinrich, aber auch seine Ehefrau Anna blieben in Paris zurück. Mit Schwager Michel Bréal hatte er ausführliche Diskussionen, wobei er betonte, dass es sich um einen kurzfristigen deutschen Vereinigungskrieg handele, keinen antifranzösischen Kampf. 14 Kurze Zeit später war er zusammen mit Adelbert Delbrück an der Gründung der Deutschen Bank beteiligt; hier zog man ihn aufgrund seiner Erfahrungen bei der Gründung der Banque de Paris et des Pays-Bas hinzu. So war ein und dieselbe Person an der Gründung des heute größten französischen und des heute größten deutschen Bankinstituts beteiligt! Schließlich involvierte Bismarck Bamberger auch bei der Etablierung der Reichsmark. Politisch engagierte sich Bamberger im Reichstag im Kontext verschiedener liberaler Parteien, zunächst Bismarck unterstützend. Bald kam es aber zum Bruch, denn Bamberger warf Bismarck die zunehmend autoritäre, militaristische und nationalistische Politik vor. Damit verließ er auch die Altliberalen, die ebenfalls einen nationalistischen Kurs wählten, und wandte sich den Sezessionisten zu (der Liberalen Vereinigung). Es gab mehrere Jahre, in denen Bamberger als Reichstagsabgeordneter kein einziges der von Bismarck eingebrachten Gesetze unterstützte. Aus diesem Grund wird immer wieder 14 Ludwig Bamberger: Bismarcks grosses Spiel. Frankfurt am Main 1932. Très honoré Confrère 119 <?page no="120"?> betont, dass Ludwig Bamberger vermutlich der einzige Mensch gewesen sei, der in verschiedenen Phasen seines Lebens mit Karl Marx und mit Otto von Bismarck befreundet war - und später von beiden als Renegat betrachtet wurde. In der bismarckkritischen Liberalen Vereinigung arbeiteten Ludwig Bamberger und Theodor Mommsen zusammen. Trotz der Entfremdung Bambergers von seiner Familie in Paris (Bruder Heinrich wechselte kein Wort mehr mit ihm; mit Ehefrau Anna tauschte er zwar noch Briefe aus, aber es kam nicht mehr zu einem gemeinsamen Eheleben, und Anna ist in Paris bestattet, während Ludwig Bamberger in Berlin begraben ist) hielt Michel Bréal Kontakt, wenngleich er stets deutlich machte, dass seine Loyalität nicht bei Bismarcks Deutschland lag. Die bismarckkritische liberale Position des späten Ludwig Bamberger deckte sich dann aber wieder mit Bréals Weltbild, der offener als Ludwigs Bruder und Ludwigs Frau reagierte. Dennoch blieb das Verhältnis schwierig. Dies erklärt zumindest teilweise, warum Bréal Kontakt zum Kollegen und weltanschaulichen très honoré Confrère hielt, aber doch auch stets eine gewisse Distanz spürbar blieb. Es erklärt auch, warum Bréal die Nation las und wertschätzte; aber, obwohl die Lektüre der Nation seine Deutschkompetenz noch einmal bestätigt, seine Briefe dennoch auf Französisch abgefasst sind. Die Briefe an Mommsen bestätigen demnach erneut die Konflikte und Zerrissenheit, die der Krieg auch in so transnationale Lebensentwürfe wie diejenigen Michel Bréals und seiner Familie gebracht hatte. Inhaltlich würdigte Mommsen Ludwig Bambergers Lebenswerk aus Anlass seines 70. Geburtstages und nannte ihn einen „ der tapfere[n] und gescheite[n] Verbündete[n] “ . 15 Eine solche Stellungnahme erklärt zumindest die vorrangige Nennung des Nation-Beitrags und den Dank sowie auch die zumindest die weltanschauliche Nähe ausdrückende Anrede als très honoré Confrère. Michel Bréal deutet auch an, warum er Mommsen als Verbündeten (confrère) schätzt und der Kontakt nach Deutschland so wichtig für ihn ist. Offenbar leidet er sehr unter der Entwicklung seit dem Krieg. Dazu kommt das Alter, und Michel Bréal muss feststellen, dass es immer weniger Verbündete gebe. Die Mehrheit denke heute anders; Bréal schreibt den Brief ganz eindeutig in einer pessimistischen Stimmung; die Euphorie seiner jüngeren Jahre findet sich in diesem Brief kaum noch. Das zitierte Motto paucis humanum vivit genus (die Menschheit überlebt dank weniger Menschen) ist pessimistisch, auch wenn Bréal es wieder relativiert. Zunächst schildert er, dass die Anzahl der Wenigen abnimmt. Bréal nennt Namen aus seinem Bekannten- und Freundeskreis, die in den vergangenen Jahren verstorben sind: Renan (den 1823 geborenen und 1892, also knapp drei Jahre vor 15 Ebd., S. 10. 120 Hans Giessen <?page no="121"?> dem Brief verstorbenen Religionswissenschaftler und Orientalisten Ernest Renan, ein Kollege am Collège de France und seit 1878 Mitglied der Académie française, den Mommsen gekannt haben musste, da er 1859 auch korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften geworden war, so dass Bréal auch auf die Nennung des Vornamens verzichten konnte); Alfred Maury (geboren 1817, gestorben ebenfalls 1892, Wissenschaftler und Bibliothekar zunächst an der Bibliothèque nationale, später an der Bibliothèque de l ’ Institut); Adolphe Regnier (geboren 1804, gestorben 1884, ebenfalls ein Kollege vom Collège de France); sowie Émile Littré (geboren 1801, der bereits, als erster dieser Liste, 1881 verstorben ist, ein weiteres Mitglied der Académie française). Dennoch ist das Schreiben nicht resignativ; Bréal schwankt auch hier zwischen Pessimismus und dennoch vorhandener Fortschrittsgläubigkeit, 16 denn er hofft, dass es auch in der nachrückenden Generation humane und friedliebende Geister gebe. Der zweite Dank - neben demjenigen für den überlassenen Nation-Artikel - bezieht sich vermutlich auf das Manuskript Mommsen/ Harnack, 17 in dem die Autoren auf der Basis der Lektüre der Originalquellen versuchen, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der Apostel Paulus in Rom angekommen war. VI. Der dritte Brief (31. März 1899) Auch der dritte Brief des Korpus hat Ludwig Bamberger zum Thema und Anlass. Der Schwager ist am 14. März 1899 gestorben; Bréal bezieht sich auf die Grabrede Mommsens, für die er sich bedankt, obwohl er betont, dass er sie zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes - exakt zwei Wochen nach dem Tod des Schwagers - noch nicht erhalten hat. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Bréal offenbar aus dem Urlaub schreibt (Beaulieu-sur-Mer liegt an der Côte d'Azur zwischen Nizza und Monaco, direkt am Mittelmeer); es scheint ihm also wichtiger gewesen zu sein, zeitnah zu antworten, als detailliert auf die Grabrede einzugehen, zumal er diesbezüglich Vertrauen signalisiert. Formal handelt es sich also um die Briefgattung des Dankschreibens. Der Text des dritten Briefs lautet wie folgt: 16 Vergleiche dazu Yvonne Stork: Michel Bréal und die Ambivalenz seiner Fortschrittsgläubigkeit. In: Peter Wunderli / Iwar Werlen / Matthias Grünert (Hrsg.): Italica - Raetica - Gallica. Tübingen 2001, S. 471 - 487. 17 Th.[eodor] Mommsen / Ad.[olf] Harnack: Zu Apostelgesch. 28,16 (Princeps peregrinorum). In: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1895, S. 491 - 503. Très honoré Confrère 121 <?page no="122"?> Beaulieu (Alpes maritimes) 31 mars 1899 Monsieur et très honoré Confrère J ’ ai voulu attendre que je possède le texte entier de votre discours pour vous remercier des paroles que vous avez prononcées aux obsèques de M. Louis Bamberger. Mais je n ’ ai pu réussir jusqu ’ à présent à me procurer ce texte. Je ne veux pas tarder plus longtemps à vous dire qu ’ un hommage rendu par vous à sa mémoire était ce qui pouvait lui être le plus honorable et le plus cher. Il avait pour vous une sincère admiration qu ’ il m ’ avait souvent exprimée. Il s ’ était vivement intéressé, comme vous savez, à votre nomination comme membre associé de notre Académie. Je ne vous parlerai pas de ses qualités d ’ esprit et de c œ ur. Vous les connaissiez comme moi. Je peux seulement vous dire que sa perte a été vivement ressentie par ses amis de Paris et que la presse française a parlé de lui, sans exception, dans les termes les plus équitables et les plus sympathiques. Dans l ’ espérance que ces lignes vous trouveront bien portant et donnant, comme toujours, l'exemple d'une ardeur que peuvent vous envier de plus jeunes, je vous prie de me croire. Votre dévoué Confrère Michel Bréal 70 rue d ’ Assas Noch einmal wird deutlich, dass - neben dem Bindeglied Ludwig Bamberger - die Aufnahme Mommsens in die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres ein gemeinsames Band schuf. Inhaltlich verwundert, dass Bréal die (angeblich) ausschließlich positive Würdigung durch die französische Presse betont; nach dem Krieg, der Zusammenarbeit mit Bismarck und insbesondere der Tätigkeit beim Aufbau und der Leitung der Zivilverwaltung im Elsass sah dies zumindest lange Zeit anders aus. Für diesen Aufsatz konnten die Nachrufe in der französischen Presse nicht überprüft werden; möglicherweise nahm sie Bréal nur selektiv wahr oder die kritischen Zeitungen haben auf Nachrufe verzichtet. Zeithistorisch interessant ist, dass Bréal nach wie vor von M. Louis Bamberger spricht, also insbesondere den französischen Vornamen benutzt. Die Bindung des (Vor-)Namens an die Ursprungssprache war zwar zu Bréals Lebzeiten weniger eng als heute (und er selbst nannte sich, wie erwähnt, ja auch stets Michel Bréal, obgleich sein Geburtsname Michael Breal lautete). Dennoch schreibt er an einen deutschen Briefpartner, der Bamberger (ausschließlich) unter dessen deutschem Vornamen und im deutschen Kontext kannte, und die größere Freiheit der Vornamenssprache auch umgekehrt Gültigkeit hatte. Bréals Vornamenwahl ist offenbar an seine grundsätzliche Sprachenwahl gebunden. 122 Hans Giessen <?page no="123"?> VII. Abschließende Bemerkungen Karl Ermert geht davon aus, dass „ [d]er Briefschreiber [ … ] um die Zeichenhaftigkeit der formalen Elemente des Briefes [weiß] “ . 18 Michel Bréal folgt im Rahmen seiner Korrespondenz mit Theodor Mommsen so sehr den Konventionen, dass die Briefe weniger der Kategorie des Privatkontakts als vielmehr der tendenziell beruflich orientierten Netzwerkpflege zugeordnet werden können, obwohl der oben dargestellte Inhalt fraglos eher privaten Charakters ist. Auflösungen in Richtung privater Korrespondenz gibt es kaum - die Änderung der Anrede oder die Hinzufügung der Privatadresse sind Schritte in diese Richtung, weitere Schritte geht Bréal aber nicht. Von einem schriftlichen Gespräch, als das beispielsweise Robert Vellusig die Briefkultur noch im 18. Jahrhundert beschreibt, 19 sind wir hier weit entfernt. Hinsichtlich der Textsortenanalyse können wir von einem sehr formalen und rein berufsbezogenen Empfehlungsschreiben ausgehen, einem Antwortbrief, der inhaltlich ins Private greift, formal aber doch weitgehend konventionsgebunden ist, und einem inhaltlich ebenfalls privaten, textsortentypisch aber erneut rein konventionell gehaltenen Dankesbrief. Fraglich ist, warum Bréal die Konventionalität nicht aufgibt. Die Antwort könnte darin liegen, dass er Mommsen zwar als Teil seines Netzwerkes sah, aber wenig bis kein direkter persönlicher Kontakt existierte. Offenbar bestand der Kontakt nur mittelbar über den Schwager Ludwig Bamberger und die Akademie-Mitgliedschaft (und bezüglich Ludwig Bambergers war das Verhältnis seit dem Krieg ja ebenfalls nicht mehr unbeschwert). So deuten die Briefe, neben dem Wunsch der Vernetzung, stets auch diese Distanz an. Zur Konventionalität gehört, dass die Briefe in ihrer formalen Gestaltung nahezu identisch sind, obgleich der erste Brief an einen offenbar noch weitgehend Fremden, die beiden anderen aber durchaus an eben ein Mitglied des Netzwerkes gesandt wurden. Alle Briefe wurden handschriftlich geschrieben und haben fast denselben Umfang: drei Seiten in großer Handschrift. Dies bedeutet, dass der Charakter fast identisch bleibt. Wie bereits festgestellt, ist privates Geplaudere nicht zu beobachten. Auch Emotionen werden nicht thematisiert, allenfalls auf der Metaebene beschrieben, auch wenn der zweite Brief von einer melancholisch bis pessimistisch geprägten Grundstimmung charakterisiert ist und der dritte Brief auf einen Todesfall Bezug nimmt. 18 Karl Ermert: Briefsorten. Untersuchungen zu Theorie und Empirie der Textklassifikation. Tübingen 1979, S. 107. 19 Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Köln / Weimar / Wien 2000. Très honoré Confrère 123 <?page no="124"?> Möglicherweise ist auch die Sprachenwahl vor dem Hintergrund der nicht unproblematischen Beziehungen zu interpretieren. Bréal nutzt nicht nur französische Vornamen, vor allem schreibt er auf Französisch, obgleich er des Deutschen uneingeschränkt mächtig ist, wie sein oben genannter Artikel Discipulus bezeugt, 20 aber auch noch ein Aufsatz aus dem Jahr 1908, in dem er seine Jugend in Deutschland für die unter anderem von Hermann Hesse mitherausgegebene Monatszeitschrift März beschreibt. 21 Zudem betont er im zweiten Brief, dass er regelmäßiger Leser einer deutschen Wochenzeitung sei. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil der Empfänger ein in Deutschland lebender Deutscher ist, der auch niemals lange in Frankreich war. Zwar konnte Bréal davon ausgehen, dass Mommsen die Bildungssprache des 19. Jahrhunderts beherrschte, aber es erstaunt dennoch, dass er vor dem persönlichen Hintergrund seiner und Mommsens Herkunft nicht doch Deutsch gewählt hatte. Zumindest könnte es sich auch hier um einen Indikator für die komplizierte emotionale Situation nach dem Krieg handeln. 20 Vgl. Bréal: Discipulus (Anm. 11). 21 Michel Bréal: Erinnerungen an Deutschland. In: März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur Nr. 2, März 1908, S. 75 - 83. 124 Hans Giessen <?page no="125"?> Queer wars - Représentation de la guerre de 1870 dans la ‘ littérature homosexuelle ’ Eric Thil, Saarbrücken « Au bout de quelques minutes, il s ’ essuya la bouche et tourna Laura de façon à ce qu ’ elle présentât son prussien en bordure du lit. » 1 L ’ exemple susmentionné est un cas d ’ école des libertés du traducteur prises en regard du texte original. Si ce dernier signale que Laura présente son séant (« bottom »), l ’ utilisation du nom commun désignant une autre culture est lourd de signification et implique peut-être - et ce malgré une forme de poétisation du récit érotique anonyme anglais (après tout Adam aurait pu choisir « cul » pour rendre compte de la réalité crue du texte) - un traumatisme dans la mémoire collective et inconsciente des français dont l ’ origine serait à trouver dans la guerre franco-prussienne de 1870 2 . La période dite décadente regorge d ’ écrivains portant en eux les conséquences de ce conflit, stigmates d ’ autant plus profonds qu ’ il faudrait se demander si la peur de cette fin de siècle ne représenterait pas une phobie de l ’ extinction de la race française qui trouverait son origine dans les atrocités des batailles de 1870. Si bon nombre de romans font de la guerre la toile de fond de leur diégèse, 3 les exemples présentement étudiés s ’ éloignent quelque peu de ce schéma narratif traditionnel : en effet le Sébastien Roch de Mirbeau (1890) 4 , à 1 Anonyme: Les Péchés des cités de la plaine, traduit de l ’ anglais et présenté par Charles Adam. Paris 2000, p. 63. 2 Le TLFI indique que depuis 1891 au moins, ce mot associe la civilisation au derrière dans la langue argotique, URL : https: / / www.cnrtl.fr/ definition/ prussien (consulté le 16.03.2021) 3 Voir à ce sujet la thèse inédite de Pascale Auditeau: La Guerre de 1870 dans la littérature française (1870 - 1914), soutenue à l ’ Université d ’ Orléans le 3 mars 2005. Qu ’ elle soit ici remerciée de son aide précieuse par l ’ envoi de son travail dont l ’ impact sur la présente recherche a été très important. Voir également le travail de Laurence Olivier-Messonnier : Guerre et littérature de jeunesse française (1870 - 1919). De la voix o fficielle à la matérialisation littéraire et iconographique. Tome 1. Littératures. Université Blaise Pascal - Clermont-Ferrand II, 2008. Français. NNT : 2008CLF20003. tel-00681071. 4 Octave Mirbeau: Sébastien Roch. Paris 2003. <?page no="126"?> l ’ instar des Hors Nature de Rachilde (1897) 5 ou encore du Prussian Officier de Lawrence (1914) 6 n ’ en fait qu ’ une brève mention. 7 Ces trois ouvrages éloignés dans le temps traitent surtout d ’ un autre thème, celui implicite de l ’ homosexualité, ce qui permettrait de les inscrire dans une catégorie qui pourrait se nommer imparfaitement ‘ littérature homosexuelle ’ . Mirbeau, en bon héritier du naturalisme, présente un personnage éponyme, Sébastien Roch, élevé et violé par un prêtre jésuite, ce qui aura pour conséquence de faire de lui un être léthargique et sans grande volonté dont la guerre aura raison. Rachilde, fidèle à sa réputation d ’ écrivaine sulfureuse typiquement décadente, décrit les m œ urs des deux frères Jacques-Reutler et Paul-Eric de Fertzen, l ’ aîné souffrant de son amour incestuel pour son cadet, dont les frasques les feront périr dans un incendie au château familial. Quant au moderniste Lawrence, il décrit l ’ attitude ambiguë d ’ un officier prussien envers son « orderly » 8 , et dont l ’ agressivité grandissante sera à l ’ origine d ’ une double tragédie. En plus des dénouements tragiques, ces récits choquent par la violence dont ils font preuve. Plus marquée chez Mirbeau, plus diluée chez Rachilde, latente puis progressivement marquée chez Lawrence, elle trouve son paroxysme dans les scènes de bataille d ’ une guerre qui à défaut d ’ être celle des civilisations serait celle du sexe. L ’ hypothèse de cette communication invite à lire ces ouvrages sous un autre angle, celui de l ’ allégorie : il s ’ agit de montrer comment les perversions sexuelles (en particulier l ’ homosexualité) des figures romanesques devient un miroir de la guerre franco-prussienne de 1870. L ’ allemand : du personnage à l ’ allégorie Dans un premier temps, il convient d ’ étudier la manière dont est représenté l ’ ennemi prussien dans les textes. La confrontation des trois ouvrages révèle deux principaux moyens de représenter l ’ ennemi : soit de façon assumée, comme c ’ est le cas pour Rachilde et Lawrence, soit de façon plus subtile à l ’ instar de Mirbeau. 5 Rachilde: Les Hors nature. Dans: Guy Ducrey (Ed. Sc.): Romans fin-de-siècle. Paris 1999. 6 D. H. Lawrence: The prussian Officer and other shortstories. London / Granada 1984. 7 Un chapitre dans le cas de Mirbeau (II-4), quelques allusions dans le cas de Rachilde (qui seront étudiés plus avant) et aucune mention dans le cas de Lawrence. 8 Le dictionnaire en ligne oxford indique que ce nom commun désigne « a soldier who does jobs that do not need any special training », l ’ équivalent français n ’ existant pas (le terme d ’ officier est plus général), le terme original sera préféré. URL : https: / / www.oxfordlearnersdictionaries.com/ definition/ english/ orderly_2 (consulté le 16.03.2021) 126 Eric Thil <?page no="127"?> Ainsi que le montre J.-F. Dominé, l ’ adversaire de la France est généralement désigné par les vocables l ’ allemand ou le prussien 9 . Le titre de Lawrence nous plonge immédiatement dans un univers militaire toutefois éloigné du trouble des guerres, puisque le texte suit l ’ histoire de deux personnages, le fameux officier du titre et son orderly, dans leur quotidien en caserne, probablement au sein de ce qui deviendra bientôt l ’ Allemagne. Lawrence dresse un portrait apparemment laudatif du prussien dès l ’ incipit (pp. 2 - 3) : The Captain was a tall man of about forty, grey at the temples. He had a handsome, finely knit figure, and was one of the best horsemen in the West. ( … ) The Captain had reddish-brown, stilt hair, that he wore short upon his skull. His moustache was also cut short and bristly over a full, brutal mouth. His face was rather rugged, the cheeks thin. ( … ) He was a Prussian aristocrat, haughty and overbearing. But his mother had been a Polish Countess. Having made too many gambling debts when he was young, he had ruined his prospects in the Army, and remained an infantry captain. He had never married: his position did not allow of it, and no woman had ever moved him to it. His time he spent riding - occasionally he rode one of his own horses at the races - and at the officers club. Now and then he took himself a mistress. But after such an event, he returned to duty with his brow still more tense, his eyes still more hostile and irritable. With the men, however, he was merely impersonal, though a devil when roused; so that, on the whole, they feared him, but had no great aversion from him. They accepted him as the inevitable. L ’ énumération de ses qualités physiques se trouve néanmoins assombrie par la mésalliance du père allemand à sa mère polonaise exprimée par la conjonction d ’ opposition « but » (mésalliance qui n ’ est pas sans rappeler l ’ histoire des parents de Fertzen chez Rachilde). Cette part de la généalogie expliquerait deux choses si l ’ on considère la juxtaposition des phrases et leur caractère consécutif : sa passion pour les jeux et sa haine des femmes, haine qu ’ il rapporte à son retour en caserne à chaque nouvelle conquête. Cette maladie qu ’ il traîne en lui le fait devenir aussi terrible que le diable voire que la fatalité, d ’ où sa couleur rousse et cette violence qui se fixe sur lui (« brutal mouth », « face ( … ) rugged », « eyes ( … ) hostile and irritable »). Il devient alors l ’ allégorie de la violence prussienne tant durant la guerre de 1870 que durant la 1 ère Guerre mondiale (le récit de Lawrence étant écrit et publié en 1914) 10 . Le roman des ‘ m œ urs contemporaines ’ parisiennes écrit par Rachilde présente deux frères, fruits d ’ une union interculturelle entre une française 9 Jean-François Dominé : L ’ Image du prussien dans la littérature française contemporaine. Dans : Revue historique des armées [En ligne], 269 | 2012, mis en ligne le 20.11.2012. URL : http: / / journals.openedition.org/ rha/ 7570 (paragraphe 7) (consulté le 16.03.2021) 10 Ce qui est également une inteprétation suggérée par Paul Hammond: Love between men in English literature. London 1996, p. 187. Queer wars 127 <?page no="128"?> et un souabe. L ’ aîné Jacques-Reutler de Fertzen ayant suivi les traces et le caractère de son père 11 , il en devient ainsi comme le souligne l ’ auteure par l ’ utilisation des italiques « l ’ ennemi » (p. 660), un « esprit allemand » (p. 656), « le prussien » (p. 660). Sa première apparition laisse le lecteur quelque peu coi (pp. 643 - 644) : Cet homme [d ’ une trentaine d ’ années] était vêtu d ’ une redingote fermée, sorte de soutane courte, qui l ’ enveloppait hermétiquement, faisant sa silhouette austère. Il paraissait souffrant, malgré son attitude calme ; son visage était blême et sa bouche frissonnait nerveusement sur ses dents serrées. Il avait des yeux d ’ eau noire, des yeux sans regard direct, mais si larges, sous leur sourcil placé haut dans le front, qu ’ il semblait voir par tout son visage et non par des prunelles fixées à un endroit précis. Il est intéressant de noter la sobriété de ce portrait en noir et blanc qui vient rompre avec l ’ exubérance de son cadet lors de l ’ incipit (ce dernier cherchait un brin de muguet rose). Mais ces couleurs rappellent également deux des trois teintes du Wappen des Norddeutschen Bundes utilisé encore avant la défaite de 1871. Ancien prêtre ayant abandonné son office pour s ’ occuper de son jeune frère 12 , ce qui explique sa « soutane », Reutler conserve cette rigidité et ce sérieux allemand qui entrent en contradiction avec la gaieté et l ’ indolence française dont fait preuve son cadet. Il se voit doté d ’ une force prodigieuse qui en fait un nouvel « Hercule » (p. 774). G. Ducrey, dans sa préface, incite à une lecture allégorique du personnage (p. 632) : « la relation de ces deux frères ( … ) peut [ainsi] se lire ( … ) comme une image des difficiles rapports francoallemands à la fin du XIX e siècle ». Dans le cas de Mirbeau, l ’ ennemi reste a priori invisible. Dans la deuxième partie du roman, Sébastien se demande « sur qui ou sur quoi » il aurait dû tirer (p. 272) et l ’ utilisation de la majuscule pour le vocable « Prussiens » (p. 278) suggère une abstraction, une menace dont on pense reconnaître la présence sans pour autant arriver à la concrétiser. Et en effet, même lors de l ’ attaque finale de l ’ excipit, les prussiens restent invisibles, se cachant derrière les obus qu ’ ils envoient aux troupes françaises. Cependant, la donne change lorsqu ’ on se réfère à l ’ onomastique. Dans le premier livre qui retrace l ’ enfance du personnage éponyme chez les Jésuites, ce dernier y rencontre le Père de Kern dont l ’ influence et les actions le précipiteront dans sa déchéance. Il est fort étrange de trouver ce nom à consonance germanique dans un pays comme celui de Vannes fortement éloigné de toutes les frontières prussiennes. Aussi pourrait-il 11 « Tu es un caractère allemand et moi je suis un caractère français » dit le cadet à la page 663. 12 En I-4, il est révélé que leur père est mort durant la guerre de 1870 et leur mère en couche au moment même où le père rendait l ’ âme (voir pp. 673 - 675). 128 Eric Thil <?page no="129"?> se lire comme une réminiscence de la guerre de 1870 qu ’ il faudrait alors lire de manière allégorique. « Kern » pouvant désigner à la fois le c œ ur ou la graine, il est probable que Mirbeau l ’ utilise à dessein pour exprimer l ’ idée que ce personnage est à l ’ origine du mal qui détruit lentement Sébastien (jusqu ’ à son issue fatale au front), un mal qui trouve son expression dans l ’ (homo) sexualité. La Métaphore de la guerre : le viol Outre le chapitre II-4 de Sébastien Roch, il n ’ est guère fait mention de bataille entre la France et l ’ Allemagne (sauf par analepse comme la bataille de Villersexel en I-4 des Hors Nature), le lecteur est donc invité à chercher ailleurs les allusions à la guerre franco-prussienne de 1870. L. Frappier-Mazur rappelle que « la guerre est d ’ abord un fait de société qui suscite ou favorise le débordement de la violence » 13 , violence dont le cheminement paroxystique semble se voir au sein même de la progression diégétique, mais également dans l ’ avancée chronologique qui sépare les œ uvres du corpus. 14 Celle-ci se manifeste en particulier par la sexualité dans les œ uvres étudiées, la fameuse guerre des sexes disparaissant, laissant place à une guerre franco-prussienne vue à travers l ’ angle du sexe. Peutêtre faut-il lire en ce sens les viols décrits dans Sébastien Roch (I-5) et Les Hors nature (I-9) ? Le viol du jeune personnage de Mirbeau est habilement préparé de façon pernicieuse par le Jésuite qui tâche de le séduire à force de compliments et d ’ attentions (p. 142). Au niveau narratif, Mirbeau annonce le dénouement tragique de ce rapprochement par les jeux de regards que le Père de Kern pose sur l ’ enfant (pp. 141 - 142) : Pendant les heures d ’ étude, il ne pouvait lever les yeux de son pupitre sans rencontrer le regard du Père, posé sur lui, un regard singulier, mêlé de sourires et de langueurs, qui le mettait mal à l ’ aise quelquefois. ( … ) Qu ’ était ce regard ? ( … ) Souvent, il détournait les yeux de ce regard qui finissait par le fasciner, l ’ amollir, l ’ engourdir de somnolences lourdes ; qui substituait à sa volonté des volontés étrangères, insinuait dans son esprit d ’ énervantes suggestions, dans sa chair d ’ irritantes fièvres, d ’ un caractère nouveau, 13 Lucienne Frappier-Mazur: Rachilde : allégories de la guerre. Dans: Romantisme, 1994, n° 85. Pouvoirs, puissances : qu ’ en pensents les femmes? pp. 5 - 18 (p. 6). 14 Si le viol de Sébastien ou la bataille finale étaient éludés voire passés sous silence chez Mirbeau, le viol de Geneviève de Crossac ainsi que l ’ incendie final dans le roman de Rachilde témoignent d ’ une crudité et d ’ une violence expressive qui trouvera son apogée dans la nouvelle de Lawrence. Au fur et à mesure de l ’ avancée chronologique, il semble que les langues se délient : là où une pudeur régnait encore dans les allusions aux atrocités de la guerre de 1870 chez les écrivains l ’ ayant vécue (Mirbeau), les écrivains des générations suivantes (Rachilde puis Lawrence) ne feront plus dans la dentelle. Queer wars 129 <?page no="130"?> presque douloureux, où sa raison s ’ effarait. ( … ) Ne le voyant plus, il le sentait davantage pesant, hardi ou frôleur, multipliant sur sa peau d ’ humides frissons, d ’ exaspérés chatouillements, où il retrouvait un peu des étranges sensations épidermiques que lui versaient les mains de Marguerite, lorsqu ’ elle le caressait. La synesthésie entre les sens de la vision et du toucher entraîne un véritable « viol » tant mental que physique du jeune homme (le terme est d ’ ailleurs employé p. 154). Cet extrait fonctionne alors comme une prolepse que le lecteur est invité à substituer à la scène « proprement innommable [du] viol de Sébastien ( … ) figuré[e] par des points de suspension ». 15 Toutefois, peu avant l ’ acte pédophile, Sébastien éprouvera un sentiment d ’ angoisse prémonitoire qui permet de rapprocher le viol de son vécu durant la guerre (p. 157) : [La présence du Père de Kern] se révélait à des heurts, à des chocs, à des glissements qui laissaient après eux, d ’ étranges résonances … Sébastien entendit des grincements de serrures, des vibrations de cristal, une multitude de sons dont la cause, en ce lieu, l ’ épouvantait … Cette cacophonie ambiante de la cellule dans laquelle le prêtre a emmené l ’ enfant n ’ est pas sans rappeler celle qui règne sur le champ de bataille (p. 280) : C ’ était un grondement sourd, continu, soutenu par d ’ épouvantables secousses ( … ) cela passait avec des gestes cassés et fous, d ’ étranges profils, des flottements vagues et de noires bousculades ( … ) De même, le « cerveau [ … ] meurtri, et lourd, lourd affreusement, si lourd qu ’ il ne pouvait pas le porter » du jeune homme (p. 159) trouve également son écho dans sa mort atroce (dont l ’ intertexte envers Rimbaud est évident) « Sébastien gisait, inanimé, le crâne fracassé. La cervelle coulait par un trou horrible et rouge » (pp. 281 - 282). Le viol subit par Sébastien se lit dès lors comme une métaphore de la guerre de 1870 : le Père de Kern aura raison du Roc(h) tout comme la Prusse aura raison de la France. Si le rapprochement est subtil chez Mirbeau, Rachilde l ’ aborde de façon plus certaine. En visite chez la comtesse de Crossac avec laquelle le jeune Paul-Eric de Fertzen souhaite rompre, celle-ci est présentée non sans ironie, comme une Marianne particulièrement décadente (p. 650) : Geneviève incarnait à merveille le type de la Gauloise. Grande, active, se mêlant de tout ce qui ne regarde pas les femmes, son visage ovale ( … ) dominait altièrement les occultes conseils de guerre ; elle possédait ( … ) un embonpoint de matrone qui attend le 15 Stéphane Gougelmann: Le Pur et l ’ impur de l ’ homosexualité chez Mirbeau. Dans : Cahiers Octave Mirbeau n°25, 2018, pp. 285 - 298. Etant donné les circonstances particulières des derniers mois, il fut impossible de se procurer la revue où se trouvait publié l ’ article en question. L ’ intervention de Pierre Michel qui le fit parvenir sous format *.docx fut une aide précieuse, qu ’ il en soit ici remercié. 130 Eric Thil <?page no="131"?> retour du fils tué par les barbares ( … ). Elle ( … ) inculquait [aux hommes], entre deux caresses, de dignes pensées de revanche, le respect du pantalon de garance et celui de la république. Cette fervente patriote qui n ’ hésite pas à se prostituer pour rallier les hommes à la cause de sa patrie sera à l ’ origine de la révélation malheureuse du sang de l ’ ennemi coulant dans les veines de l ’ amant venu la délaisser, et, en conséquence, à l ’ origine de la brouille entre les deux frères de Fertzen (p. 730). C ’ est précisément à cause de ce dernier point que le cadet gardera rancune à l ’ égard de la comtesse. Durant une fête de carnaval à l ’ opéra, Paul-Eric travesti en impératrice Irène de Byzance se moquera de Geneviève qu ’ il appelle la France (p. 731) avant de la renier pour commettre l ’ irréparable (p. 732) : Paul saisit le poignet de Geneviève, le tordit, puis, comme elle allait enfin crier, il lui ferma la bouche … et la comtesse Geneviève de Crossac, patronne de Paris, sut ce qu ’ était un viol en temps de guerre. L ’ atmosphère carnavalesque de même que le caractère antipathique 16 de la comtesse empêche tout sentiment de pitié. Rachilde, par la bouche de son personnage, donne les clefs de cette lecture allégorique du viol : il s ’ agit d ’ une métaphore politique visant à montrer la victoire prussienne sur les armées françaises. Néanmoins, dans ce cas précis s ’ observe un glissement identitaire : alors qu ’ il est considéré comme le fils de sa mère portant en lui l ’ héritage français, Paul-Eric prend le rôle de son frère Jacques-Reutler dans l ’ extrait précédent et représente ainsi l ’ ennemi allemand. D ’ après J. de Palacio, cela s ’ explique aisément par le fait que « le roman se construit sur [un] cumul des rôles ». 17 Cumul qui conduirait presque à une forme de polyphonie au sens bakhtinien du terme et qui, en plus de montrer la virtuosité de l ’ auteure, démontre également l ’ impossibilité d ’ une lecture manichéenne de l ’ Histoire. Dans le cas de Lawrence, la donnée est quelque peu différente. Point de viol ici, mais une scène de meurtre qui y ressemble. L ’ officier ayant attisé la haine de l ’ orderly tout au long de la nouvelle, ce dernier passera à l ’ acte alors que tous deux se trouvent seuls dans une clairière. L ’ orderly nommé ironiquement « Schöner » (littéralement ‘ le beau ’ ) 18 étrangle son « Hauptmann » dans une 16 Anita Staro ń : Les Hors Nature de Rachilde : la querelle des nationalistes et des cosmopolites à la sauce décadente. In e-Scripta Romanica n°3, pp. 63 - 74. « Un autre personnage censé représenter la nation française avec son patriotisme est franchement antipathique : Geneviève De Crossac » (p. 69). 17 Rachilde: Les Hors nature. Présentation par Jean de Palacio. Paris 1994, p. 10. 18 Hammond (note 10) y voit en revanche un « sarcastic use » du terme et non son patronyme (p. 187). Annie Fernihough: The Cambridge companion of D. H. Lawrence. Cambridge 2001, semble pourtant adhérer à l ’ idée du patronyme (p. 55), respectant ainsi le sens donné par la majuscule. Queer wars 131 <?page no="132"?> clairière érotisée 19 à l ’ abris des regards après avoir subi ses humiliations et mauvais traitements. Pour ce dernier il s ’ agit d ’ une pulsion dont la métaphore incendiaire (« strong flame ») se rapproche du domaine de la passion amoureuse traditionnelle (pp. 18 - 19) : And the instinct which had been jerking at the young man's wrists suddenly jerked free. He jumped, feeling as if it were rent in two by a strong flame. ( … ) And in a second the orderly, ( … ) had got his knee in the officer's chest and was pressing the chin backward over the farther edge of the tree-stump, pressing, with all his heart behind in a passion of relief, the tension of his wrists exquisite with relief. And with the base of his palms he shoved at the chin, with all his might. And it was pleasant, too, to have that chin, that hard jaw already slightly rough with beard, in his hands. He did not relax one hair's breath, but, all the force of all his blood exulting in his thrust, he shoved back the head of the other man, till there was a little cluck and a crunching sensation. Then he felt as if his head went to vapour. Heavy convulsions shook the body of the officer, frightening and horrifying the young soldier. Yet it pleased him, too, to repress them. It pleased him to keep his hands pressing back the chin, to feel the chest of the other man yield in expiration to the weight of his strong, young knees, to feel the hard twitchings of the prostrate body jerking his own whole frame, which was pressed down on it. Eros allant toujours en compagnie de son compère Thanatos, la violence de ce meurtre choque par la précision descriptive autant que par le parallèle sexuel qui en découle (« passion of relief », « tension ( … ) exquisite with relief », « exulting », « pleased »). Cette bataille que se livrent les deux officiers, forme latente d ’ homosexualité, permet ici de souligner la monstruosité de l ’ ennemi germanique dont il devient une caractéristique principale. Les perversions sexuelles comme métaphore de la monstruosité germanique Pour un XIX e siècle décadent dont la misogynie n ’ est plus à débattre « la femme est sans conteste le sexe qui tue » 20 . Cette « violence féminine se relie donc, par la violence que subit et répercute la femme, à la violence généralisée qui culmine dans la guerre ». 21 Cette remarque pourrait cependant s ’ appliquer aux deux sexes, en particulier lorsque ceux-ci sont empreints de perversion. En effet, cette « hostilité » avec laquelle l ’ officier prussien de Lawrence revient dans sa caserne 19 Hammond (note 10), p. 187. 20 Frappier-Mazur (note 13), p. 12. 21 Ibid., p. 13. 132 Eric Thil <?page no="133"?> après s ’ être donné à sa maîtresse n ’ est-elle pas un reflet de son propre dégoût ? 22 Il y a quelque chose de similaire entre ce sentiment et celui de la fascination de son orderly qui « irritated the Prussian » (p. 3). Non content de développer « a warm flame » (p. 3) métaphore de son désir homo-érotique, l ’ officier prussien ne trouvera l ’ expression de son désir que dans le sadisme, mental d ’ abord jusqu ’ à son déchainement physique (pp. 8 - 9) : The orderly took his hands full of dishes. His master was standing near the great green stove, a little smile on his face, his chin thrust forward. When the young soldier saw him his heart suddenly ran hot. He felt blind. Instead of answering, he turned dazedly to the door. As he was crouching to set down the dishes, he was pitched forward by a kick from behind. The pots went in a stream down the stairs, he clung to the pillar of the banisters. And as he was rising he was kicked heavily again, and again, so that he clung sickly to the post for some moments. His master had gone swiftly into the room and closed the door. La répétition de coups injustes donne au coeur du capitaine « a pang, as of pleasure, seeing the young fellow bewildered and uncertain on his feet, with pain » (p. 9), accomplissement qui révèle ainsi le diable qui est en lui et dont le narrateur met en garde dès l ’ incipit. L ’ image du diable est également utilisée par Mirbeau afin de destituer le Père de Kern de l ’ aura sacré entourant sa profession. Alors qu ’ il se méfie encore du prêtre qui le violera, Sébastien est alerté une nuit par une sorte de cauchemar prémonitoire mettant en scène « des diables qui l ’ emportaient dans leurs bras velus » faisant se réveiller le jeune garçon tout en laissant apparaître le Père de Kern (p. 146). Lors du viol également, le Père vient chercher Sébastien au beau milieu de la nuit pour le faire traverser le cloître, le faisant passer par « [d]es tortueux escaliers, [d]es corridors aux angles brusques, [d]es paliers lugubres où, dans l ’ ombre plus dense, des lampions fumeux remuaient des lueurs de crime » (p. 156). Cette catabase ressemble fort à une descente aux enfers dont les « lampions fumeux » augurent les flammes des damnés éternels. Mirbeau emploie d ’ ailleurs l ’ expression « force diabolique » quelques lignes plus loin pour désigner la persuasion dont à fait preuve le Père qui s ’ adonnera à ses penchants pédophiles après avoir emplie la pièce d ’ une « odorante fumée » de cigarette (p. 158). A nouveau, Mirbeau donne au lecteur le soin de lire ce passage en miroir de celui durant lequel Sébastien et Bolorec se trouvent au front : se 22 Dans son analyse de Rachilde Eros décadent. Sexe et identité chez Rachilde (Paris 2002) Regina Bollhalder-Mayer cite « les Fragments et aphorismes posthumes de Weiniger [Traduits par Michel-François Demet et Jacques Le Rider. Dans: L ’ Infini, n° 4, 1983, p. 21 - 31], [où] on peut lire cette remarque lucide : ‘ La haine de la femme n ’ est jamais que la haine non surmontée de l ’ homme contre sa propre sexualité ’ . » (p. 83) Cette citation semble parfaitement s ’ accorder à la nouvelle de Lawrence. Queer wars 133 <?page no="134"?> retrouvent le même « jaillissement de fumée », la même « lueur fauve » (p. 281). La pédophilie/ l ’ homosexualité, perversion sexuelle du diable moderne qu ’ incarne le Père de Kern, symbolise à son tour la monstruosité du prussien dans le cas de Mirbeau. En ce qui concerne Rachilde, la perversion est double : non seulement l ’ homosexualité qu ’ éprouvent les deux protagonistes est loin d ’ être latente, mais en plus il s ’ agit d ’ un inceste. R. Bollhalder-Mayer voit ainsi dans « les frères [ … ] de Fertzen des Hors nature [ … ] un couple homosexuel, le cadet représentant le principe féminin » et dont « le déguisement révèle ( … ) l ’ ambuigité sexuelle et peut-être le désir homosexuel du personnage. ( … ) Le changement artificiel de sexe sous-entend en effet l ’ homosexualité ». 23 Cette double perversion (voire triple s ’ il faut considérer le travestissement du cadet comme telle) provient probablement de cette généalogie morbide teintée de mésalliance, incarnation de la monstruosité germanique. 24 Conclusion S. Gougelmann estime qu ’ au XIX e siècle « [le troisième sexe] aiguise les concurrences scientifiques et alimente en particulier le débat nationaliste franco-allemand ». 25 L ’ homosexualité devient ainsi une arme politique capable de discréditer l ’ ennemi orchestrant dès lors une forme de propagande romanesque. En sexualisant le corps militaire ennemi, les écrivains français décrédibilisent et amoindrissent le traumatisme de la défaite de 1871. En ce sens, l ’ onomastique du patronyme des héros de Rachilde revêt une autre signification : Fertzen pourrait renvoyer à Jacques d'Adelswärd-Fersen (1880 - 1923), dandy et écrivain de cette fin de siècle dont la réputation sulfureuse n ’ est plus à faire. Nommer les protagonistes ainsi (tout en germanisant le vocable en remplaçant le s par tz) revient à faire de l ’ ennemi allemand un inverti, donc à le rendre monstrueux et pervers. Il est probable que Lawrence, pour sa part, fasse également référence à un personnage historique. Cet officier prussien que son homosexualité refoulée conduit au sadisme et finalement à sa propre mort ne serait-il pas un reflet de Philipp zu Eulenburg (1847 - 1921), dont le procès pour homosexualité à la fin de la décennie 1900 eut des répercussions internationales ? 26 23 Bollhalder-Mayer (note 22), p. 90. 24 Ibid., p. 120 l ’ auteure n ’ y voit qu ’ un simple « emblème de la Décadence ». 25 Gougelmann (note 15). 26 Un travail entier mériterait d ’ être consacré à cette question et à laquelle ce présent travail n ’ a pas la prétention de trouver une réponse définitive. 134 Eric Thil <?page no="135"?> Pourtant, et à l ’ instar de Mirbeau, les trois textes développent « une attitude ambiguë face à l ’ homosexualité. Surtout face à l ’ homosexualité masculine ». 27 Conforme aux discours médicaux régnant à cette époque, l ’ homosexualité s ’ y voit d ’ abord traiter comme une maladie hautement contagieuse. C ’ est en effet ce qui s ’ observe chez Mirbeau, Rachilde et Lawrence : le viol subi par Sébastien le mène apparemment vers la haine de toute forme de sexualité (il fuit Marguerite dans le deuxième livre) mais la réalité de l ’ acte d ’ amour lui fera retrouver ses penchants homo-érotiques (p. 262) : « Et tandis que Marguerite parlait, il l ’ écoutait haletant, et lui-même faisait appel à tous ses souvenirs de luxure, de voluptés déformées, de rêves pervertis ( … ) des ombres anciennes, du fond de cette chambre de collège, où le Jésuite l ’ avait pris ». L ’ éducation de Paul-Eric entreprise par son frère aîné et qui vise à faire de lui un homme n ’ aura pour résultat que de le transformer un peu plus en femme. Paul-Eric a en effet l ’ air « d ’ une femme déguisée » alors que Reutler lui impose une hygiène de vie typiquement masculine au château familial de Rocheuse (p. 741). Le Père de Kern comme le baron de Fertzen se livrent tous deux à ce que P. Michel nomme dans sa préface une « éducastration » (p. 13), contaminant ainsi la race française, la reléguant dans une position féminine, pour l ’ époque inférieure, et qui ne pouvait qu ’ expliquer la décadence de cette société de même que devenir une interprétation étiologique de la défaite des armées en 1871. Comment la victoire eut-elle été possible puisque l ’ ennemi avait déjà envenimé voire souillé le territoire ? Cependant, de la défaite semble naître une autre forme d ’ homosexualité, celle-là dépourvue de désir selon S. Gougelmann et où « sont promues l ’ amitié chaleureuse, la confraternité virile et effusive ». 28 Mirbeau rejoint en cela le souhait formulé par Rachilde chez laquelle « l ’ homosexualité semble approcher [un] idéal d ’ amour chaste et spirituel ». 29 Cette communion semble aussi à l ’œ uvre dans l ’œ uvre de Lawrence où « the bodies of the two men lay together, side by side, in the mortuary » (p. 26). Selon Lisa Zeller, ce phénomène trouve son explication par le fait que « der Körper der Republik sollte ( … ) metonymisch durch das regenierte männliche Kollektive eines homosozialen Bruderbundnes gebildet werden ». 30 En choisissant de célébrer une forme d ’ amour platonique 27 URL : http: / / mirbeau.asso.fr/ dicomirbeau/ dictionnaire/ index.php? option=com_glossary&id=380 (consulté le 16.03.2021). R. Bollhalder-Mayer aborde dans le même sens en la qualifiant d ’ ambivalente (Bollhalder-Mayer [note 22], p. 134). 28 Gougelmann (note 15). Cette analyse se rapproche de la conception de l ’ amitié développée par Andreas Kraß: Ein Herz und eine Seele. Geschichte der Männerfreundschaft. Frankfurt am Main 2016, pp. 14 - 16. 29 Bollhalder-Mayer (note 22), p. 126. 30 Lisa Zeller: Auf der Suche nach der verlorenen Männlichkeit. Mainz 2016, p.14. Queer wars 135 <?page no="136"?> homosexuel, les écrivains français assoient le modèle républicain et en font un régime politique supérieur à l ’ Empire allemand, au sein duquel, ainsi que nous le montrent Lawrence ou Rachilde, l ’ amitié et la fraternité ne peuvent exister que dans la mort, contrairement à Mirbeau qui décrit la solidarité naissant du champ de bataille du côté français, à l ’ instar de Bolorec qui tente malgré tout de ‘ sauver ’ Sébastien. Rachilde reste toutefois la seule des trois auteurs à constater tristement que « Germains ou Gaulois, nous sommes frères » (p. 670), ce qui n ’ évitera en rien la catastrophe de l ’ incendie final comparé au « bruit sourd d ’ une artillerie lointaine » (p. 841) ainsi qu ’ au « sang des guerres » (p. 844), préfigurant ainsi les atrocités de la Première Guerre mondiale et la répétition absurde du passé … 136 Eric Thil <?page no="137"?> Le réalisme de Theodor Fontane. La réponse d ’ un huguenot prussien à la montée des nationalismes au cours de la guerre de 1870/ 71 1 Béatrice Dumiche, Paris / Reims A la mémoire de mon grand-oncle, Hans Dümiche, huguenot berlinois qui a gardé vivant l ’ héritage de ses ancêtres contre l ’ adversité de deux guerres mondiales. Le succès littéraire de Fontane repose sur la réputation qu ’ il a acquise auprès du grand public en devenant le chantre de la beauté âpre mais authentique du Brandebourg dont le progrès technique commence à transformer les paysages tout comme la population locale mêlant les propriétaires terriens traditionnels à une petite et moyenne bourgeoisie en pleine ascension grâce à cette modernisation. Avec ses scènes de genre qui entrent dans l ’ intimité des familles et révèlent, à travers la psychologie des personnages, les espoirs et les attentes déçus par la perspective d ’ une mobilité sociale non moins réelle et prometteuse malgré tout, il crée, dans ses récits suivant la guerre de 1870/ 71, l ’ image ambiguë d ’ une Prusse où l ’ unité allemande s ’ avère un défi pour ses valeurs fondamentales: la victoire militaire accélère en effet la mise en place du libre-échange sur l ’ ensemble de l ’ espace national entraînant la liberté de circulation des personnes et des biens qui risque d ’ ébranler son identité agraire et protestante et de devenir une menace pour sa cohésion intérieure. C ’ est pourquoi, défenseur d ’ un conservatisme libéral après avoir été un adepte de la révolution de 1848 et avoir soutenu les parlementaires de l ’ Eglise Saint-Paul, il fait de son œ uvre le témoignage d ’ une réussite personnelle et familiale qui relie l ’ intégration des nouveaux citoyens allemands à la politique de Frédéric II accueillant, avec les huguenots, l ’ élite artisanale et commerçante de son temps, dont le savoir-faire a enrichi le pays et participé de sa renommée 1 Merci au Docteur Gilles Mulatier pour m ’ avoir aidée une fois de plus à accoucher de mes pensées par son écoute et ses encouragements avisés. <?page no="138"?> européenne. Il y exprime son adhésion à un empire moderne non sans rendre un hommage quelque peu mélancolique à cette Prusse d ’ antan, idéalisée par ses souvenirs d ’ enfance du Brandebourg et de la Poméranie, où la coexistence entre les hobereaux et les descendants des réfugiés s ’ est développée naturellement selon la devise que « chacun (devait) pouvoir (y) trouver le salut qu ’ il désire ». C ’ est de cette façon qu ’ il traduit l ’ ambivalence de ses sentiments en 1871 où l ’ empire allemand marque non seulement la fin de la dynastie napoléonienne mais engendre le regret d ’ un héritage de tolérance tombé en désuétude et finalement bafoué qui le met en porte-à-faux par rapport à toute sa tradition familiale. L ’ univers littéraire qu ’ il entreprend dès lors de construire correspond ainsi au besoin de se réconcilier avec ses origines par-delà l ’ incidence de l ’ actualité, en faisant revivre ce passé, et de prévenir, par la conjuration d ’ une communauté mémorielle, d ’ autres guerres fratricides entre sa patrie actuelle et celle de ses aïeux. A la conscience des bouleversements irrémédiables qu ’ il vient de vivre, il répond par le principe d ’ une composition prismatique qui restaure l ’ unité affective et morale à jamais brisée. Elle est au service d ’ une écriture réparatrice qui suscite la capacité de se reconnaître en l ’ autre et de bâtir une appartenance nouvelle commune sur le lien entre la réalité présente et l ’ éternel humain. 2 De là découle son travail simultané à trois types d ’œ uvres de genres différents 3 - autobiographie (1894) 4 , roman, de Avant la Tempête (1878) au Stechlin (1899), et chronique (1862 - 1882) 5 . Il lui permet de revendiquer le statut d ’ un poète local défini par l ’ ancrage dans un terroir dont l ’ esprit l ’ a accompagné dans ses voyages à travers l ’ Europe et l ’ a aidé à le situer et à le comprendre à travers un autre regard : cette expérience lui confère à son retour l ’ autorité de porter sur lui un jugement à la fois plus objectif et plus affectueux. Elle le met en 2 Dans sa remarquable biographie, Regina Dieterle: Theodor Fontane, 2è édition revue et augmentée, Munich 2019, relate, sous le titre de « Das Tabu », pp. 47 - 49 les circonstances extrêmement traumatisantes où, chacun de leur côté, les parents de Fontane ont vu mourir de jeunes Français sous leurs yeux. 3 Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2) suggère l ’ imbrication des styles comme le principe de son écriture « réaliste ». A notre avis, celui-ci trouve son pendant dans cette simultanéité d ’œ uvres complémentaires datant d ’ après 1871 dont la biographe elle-même suggère plusieurs fois qu ’ elle traduit le besoin d ’ une quête identitaire. A cause des rapprochements qu ’ elle opère pour les besoins de son propre travail d ’ analyse biographique sans les interpréter du point de vue littéraire, nous avons choisi de nous référer, pour notre propre argumentation, à ses synthèses plutôt que de revenir séparément aux textes primaires et de les mettre en rapport. Il s ’ agit d ’ un choix méthodologique assumé et d ’ une volonté de simplifier une mise en perspective qui recourt déjà par elle-même à tout un système d ’ associations socio-culturelles et historiques auquel s ’ articule l ’ écriture de Fontane. 4 Mes années d ’ enfance. Roman autobiographique. 5 Promenades dans la Marche de Brandebourg. 138 Béatrice Dumiche <?page no="139"?> position d ’ inscrire son patrimoine dans l ’ évolution des temps modernes tout en le faisant apparaître, avec le recul, comme leur berceau mythique qui a su garder la magie et l ’ intégrité des commencements par-delà les fractures. A défaut de réécrire l ’ Histoire, 6 il s ’ efforce donc d ’ en circonscrire les effets en montrant que, dans son pays en particulier, elle évolue à partir d ’ un consensus sur les valeurs que les hommes qui agissent en son nom se doivent de respecter pour conserver son identité au travers des changements temporels. Dans cette perspective, sa description de la Prusse rurale, néanmoins ouverte à l ’ innovation technique, qui doit beaucoup aux huguenots, représente sa tentative pour dissocier l ’ unité nationale d ’ une guerre de conquête qui est tout à fait contraire au génie et à la culture de ses habitants car non seulement elle retourne la raison humaine contre elle-même en justifiant la barbarie militaire par la liberté des peuples à disposer d ’ eux-mêmes. Cet abus du droit international compromet le principe d ’ ordre et de paix de tout le continent en donnant, avec la chute de Napoléon III, le coup de grâce à son organisation dynastique qui provoque cette fois-ci l ’ avènement irréversible d ’ une république sur le sol français. L ’ unification « par le fer et par le sang », au-delà de la rupture intérieure avec les descendants des réfugiés français, menace le fondement idéologique de l ’ Europe continentale qui repose sur la culture franco-allemande commune de l ’ Aufklärung et des Lumières incarnée par Frédéric II et Napoléon Ier et dont ce dernier s ’ est imposé comme la figure emblématique. C ’ est pourquoi, l ’ écrivain se réclame de ce patrimoine, dont l ’ Empereur des Français s ’ est montré ouvertement redevable lors de sa propre entrée triomphale dans Berlin et de son installation à Sans-Souci, pour faire de lui la figure tutélaire de ce nouvel empire allemand. Il se sert de sa renommée en France et en Allemagne pour apporter une légitimité morale et culturelle à cette unité sur les bases de la continuité historique dans la mesure où il a incarné le mythe d ’ une universalité génératrice d ’ espoirs en réussissant à concilier les acquis de la révolution et le renouvellement de la dynastie impériale dans une conception méritocratique. Face à la virulence de la Commune et à la volonté de revanche de la IIIè République, 7 la convocation de sa mémoire à travers le souvenir de l ’ intégration huguenote est un acte à la fois littéraire et politique qui restaure une autorité mythique par-delà les clivages idéologiques et les guerres d ’ extermination que 6 Nous avons choisi d ’ écrire Histoire dès lors qu ’ il pourrait y avoir un risque de confusion avec l ’ histoire en tant que récit de l ’ auteur. 7 Tobias Arand: Rogerowski oder Rasumofsky? Überlegungen zur nationalen „ Meistererzählung “ in Fontanes „ Kriegsgefangen “ . Dans: Fontane Blätter 105 (2018), p. 63, donne un excellent aperçu du contexte: celui de la « levée en masse » par la IIIè République qui use d ’ une virulente propagande anti-allemande et transforme ainsi une « guerre de cabinets » en « guerre populaire ». Le réalisme de Theodor Fontane 139 <?page no="140"?> leur dogmatisme risque de susciter. Le rappel de l ’ expérience de ses ancêtres par son autobiographie, qui témoigne de leur implication dans l ’ essor de la Prusse et de leur participation à son histoire, s ’ avère ainsi une nécessité pour la reconnaissance d ’ un Etat allemand dont l ’ écrivain souligne qu ’ il ne peut se passer, en termes de légitimité symbolique, de la référence à Napoléon Ier. Le roman historique qui articule le passé au présent à travers la commémoration des grands hommes désigne l ’ intemporalité de leur héritage. Il apparaît en effet comme la référence de tout un chacun dès lors qu ’ il vise à conférer un sens à son action en y voyant sa contribution à une tradition collective dont la cohérence se révèle a posteriori au gré des réflexions de la conscience littéraire qui relie les actes individuels par-delà le temps et l ’ espace dans une structure transcendantale. Il permet à l ’ homme de se dépasser et de devenir l ’ acteur d ’ un destin qui l ’ affranchit de l ’ anecdotique parce qu ’ il l ’ intègre dans la lignée signifiante de l ’ ordre narratif qui conserve sa mémoire comme l ’ expression de sa participation à une œ uvre dont la complexité reflète l ’ impossibilité de l ’ individu de se l ’ approprier définitivement à l ’ instar de l ’ Au-delà métaphysique. Elle devient porteuse d ’ un sacré polymorphe accessible à chacun selon son intelligence psychologique qui le relie à la compréhension du monde. Dès lors, l ’ interpénétration de l ’ autobiographie et de la chronique marque pour Fontane un retour sur soi par l ’ écriture à un moment crucial de sa vie où il se perçoit comme un témoin historique à qui ses antécédents lui permettent tout d ’ abord de se situer puis de se comprendre dans cette situation au travers d ’ un thesaurus de souvenirs familiaux dont le récit s ’ est transmis parce qu ’ ils ont eu, dans un contexte précis, une signification mémorable pour l ’ avenir. Ce savoir qu ’ un tel recours existe fait la particularité et l ’ avantage de son appartenance huguenote : ressortissant d ’ un Etat unifié depuis longtemps qui s ’ est constitué un patrimoine mémoriel commun - un canon culturel - , il dispose du recul et de la sérénité qu ’ il offre par rapport aux aléas de l ’ actualité immédiate contrairement à cet empire qui semble n ’ avoir pour seule légitimité que sa supériorité militaire. Réfugié déraciné, il partage néanmoins avec les habitants de celui-ci, cette nécessité de se construire une identité ex nihilo en qualité de nouveau venu, sans autre ancrage que celui-dans une mémoire mythique qui le renvoie à son altérité au sein même de son pays d ’ accueil. Il lui appartient donc, de par la dualité de ses origines, d ’ être un ambassadeur de la paix entre ses deux patries en aidant à déconstruire l ’ image du militarisme prussien comme un fait de propagande révolutionnaire qui vise à dénier à l ’ Allemagne le droit à son unité nationale. Le témoignage autobiographique, sous-tendu par le récit de voyage, apparaît ici au service d ’ un objectif diplomatique : il soutient la politique bismarckienne car sa référence à ses origines devient la caution d ’ une unification fondée sur le libéralisme conservateur dont le rôle est de prévenir 140 Béatrice Dumiche <?page no="141"?> les excès du capitalisme industriel qui est le véritable danger pour la paix européenne. C ’ est son matérialisme qu ’ il dénonce comme une atteinte à la culture humaniste qui permet de tirer les leçons d ’ une guerre, voire de pardonner des persécutions, tant qu ’ il est possible de les intégrer à un contexte historique dont la conscience transcendantale ne développe le sens qu ’ au fur et à mesure jusqu ’ à le dévoiler dans instant prégnant où il modifie le rapport à soi et aux autres. Pour cela, il lui importe tant de lui opposer une écriture subjective grâce à laquelle le narrateur accède lui-même au statut de personnage littéraire aux confins du réel et de l ’ imaginaire et s ’ immortalise in situ : là où l ’ histoire - individuelle et collective - rejoint le mythe et crée un lieu mémoriel. Telle est la fonction de la Prusse de composition qu ’ il dépeint par la mise en perspective des trois types de style qui font du poète local, qu ’ il semble être, l ’ écrivain philosophe, héritier d ’ une grande tradition franco-allemande dont il est appelé à incarner la synthèse et qui a pris naissance dans un territoire privilégié. Elle devient par-là le symbole d ’ une culture dont la nature demeure le principe structurant dans lequel s ’ inscrit l ’ évolution de l ’ homme qui se définit par la conscience transcendantale de ses actes. De ce fait, son avènement à la tête de l ’ Europe ne relève pas du hasard d ’ un coup de force militaire mais de cette rencontre, à un moment donné, d ’ un peuple et de son destin dans une situation précise qui est le résultat de concordances conjoncturelles dont la signification ne se manifeste que lors du dénouement historique qui préfigure une ère nouvelle. Aussi Fontane défend-il certes la politique prussienne mais pas au nom d ’ un quelconque nationalisme. Elle est l ’ aboutissement de la mise en œ uvre d ’ une prédisposition naturelle qui a incité les habitants à tirer parti de la modernisation scientifique à la suite des théories évolutionnistes : elles leur ont permis de comprendre l ’ adaptation comme un facteur de progrès corollaire d ’ un ordre dont le principe transcendant lui-même se soustrait à la connaissance humaine et ne se manifeste que par mutations successives. C ’ est la science qui lui sert ainsi de justification philosophique et historique pour prouver l ’ infondé de l ’ accusation militariste. Grâce à elle, il peut la contrer pour dénoncer les deux adversaires du nouvel empire qui, refusant aux Allemands leur souveraineté nationale, font preuve de leur incapacité à refonder l ’ Europe sur des bases adaptées à sa modernisation : l ’ Autriche, caractérisée par l ’ alliance rétrograde de l ’ Eglise catholique et des Habsbourg, dont le règne est entaché par la légitimité douteuse de la Pragmatique Sanction que Frédéric II a été le premier à mettre en question par la conquête de la Silésie, et la France républicaine, héritière de la Révolution régicide et promotrice d ’ une morale détachée de la spiritualité - deux extrêmes irréconciliables qui menacent le continent d ’ une rupture violente. C ’ est la raison pour laquelle la Prusse qu ’ il décrit réconcilie ces contraires et s ’ avère fondamentalement celle de Kant qui, définissant les limites de la Le réalisme de Theodor Fontane 141 <?page no="142"?> connaissance pour laisser une place aux croyances, ouvre un champ d ’ action pratique à la liberté de l ’ homme conscient de sa relativité. A la nature sauvage et aride de sa côte baltique s ’ y opposent les grands domaines agricoles qui incarnent une forme de permanence et de résistance contre les forces élémentaires de cette façade maritime ouverte à tous vents. Loin de signifier le repli sur soi qu ’ on leur prête, ils figurent l ’ alliance de la tradition et du progrès grâce à un savoir-faire agricole adapté aux conditions naturelles qui garantit indépendance et prospérité et ils s ’ intègrent à une transformation du territoire par l ’ urbanisation et l ’ essor du commerce portuaire. A aucun moment, l ’ activité humaine ne porte atteinte à l ’ équilibre structurel des paysages tel qu ’ ils se sont développés au fil des ans grâce au respect des limites qu ’ elle se doit de s ’ imposer à elle-même pour préserver l ’ avenir de cette richesse. Partant de la théorie des climats de Montesquieu, il invoque ainsi l ’ ancrage prussien dans un terroir comme le principe métaphorique d ’ une culture qui se constitue au travers de l ’ interaction entre l ’ homme et son environnement grâce à laquelle il prend la mesure de lui-même car elle lui fait prendre conscience du lien indissociable de sa liberté individuelle et de sa détermination physique. A partir de là, l ’ altérité devient une entité psychique qui se livre à travers une sémantique qui s ’ articule au réel à travers l ’ échange interpersonnel qui le met en perspective et relie les points de vue différents par la fonction symbolique du langage prévenant l ’ expression de l ’ adversité dans des actes violents. L ’ Aufklärung, héritière de la Réforme, dont il est le représentant au titre de son passé familial et de son éducation, s ’ avère par-là en contrepoint l ’ alternative à l ’ esprit des Lumières dévoyé dans leur pays d ’ origine par la Révolution puis par le naturalisme de Zola. C ’ est en effet précisément cette maîtrise de la fonction transcendantale qui a permis de conserver l ’ autorité en Prusse comme le fondement structurel de la société tout en développant l ’ instruction populaire, facteur d ’ un véritable progrès humaniste car indissociable d ’ une morale pratique qui soustrait la question du sacré à toute polémique en refusant d ’ en faire un dogme dans le cadre d ’ une guerre idéologique. Aussi, dans l ’ optique de Fontane, n ’ est-ce pas la supériorité militaire de son adversaire qui a provoqué la défaite française, ce sont sa supériorité philosophique et sa connaissance de soi où la rigueur scientifique et la droiture personnelle sont inséparables et engendrent un sens critique qui n ’ empêche pas la spontanéité ni l ’ humour : bien au contraire, ils sont les garde-fous contre la tentation dogmatique d ’ une quête d ’ absolu déraisonnable. C ’ est pourquoi, certains de ses personnages romanesques n ’ hésitent pas à noter le manque d ’ envergure de la vie intellectuelle et mondaine de leur pays qu ’ ils finissent par quitter comme Kathinka Ladalinski dans Avant la Tempête et l ’ actrice Franziska Franz de Graf Petöfy qui sont attirés par les grandes métropoles européennes. Ils 142 Béatrice Dumiche <?page no="143"?> sont les indicateurs de ce que l ’ écrivain lui-même attend de cette victoire pour l ’ unité et l ’ essor de son peuple et qui se situe exactement à l ’ opposé de la prétention hégémonique dont ses adversaires lui font le procès : l ’ ouverture sur le monde que l ’ élargissement territorial et l ’ accès au statut de grande puissance européenne sont susceptibles de lui apporter dans le cadre de la consécration du libéralisme conservateur. En cela, 1871 marque le parachèvement du rééquilibrage interne au sein de la nation allemande dont la Prusse a été le moteur de fait, dès le début, et à qui la guerre s ’ est imposée comme une nécessité par rapport aux dogmatismes intransigeants qui s ’ affrontent à l ’ échelle du continent entre l ’ Eglise catholique et le matérialisme scientifique et dont la visée hégémonique de chacun est la véritable cause du conflit particulier entre la France et l ’ Allemagne. La vision déformée du monde, que l ’ idéalisme dénué de fondement dans la pensée rationnelle de ces deux doctrines contradictoires génère au travers de leurs utopies, s ’ avère par-là l ’ origine d ’ un antagonisme qui projette le déchirement intérieur de l ’ esprit français sur un ennemi extérieur : ce dernier devient alors la cible d ’ une propagande caricaturale ayant pour enjeu de faire diversion de la guerre civile idéologique qui continue de faire rage de plus belle dans la IIIè République même après sa défaite et qui reste une menace pour l ’ Europe. Après la victoire militaire, il appartient à l ’ empire allemand de la conjurer par d ’ autres moyens que par « le fer et le sang » qui sont les survivances d ’ une époque révolue dont son avènement signifie la fin et qu ’ il doit aider son ancien adversaire à dépasser. Le combat d ’ idées révolutionnaire doit céder le pas à la modernité tolérante d ’ une philosophie transcendantale qui dépasse par l ’ esthétique les méfaits d ’ une politique d ’ endoctrinement incapable de concilier l ’ idéal et l ’ action dans une pratique morale. L ’ art avec lequel Fontane décrit sa terre natale représente dès lors une réponse directe à Zola dont il dénonce la référence au déterminisme naturel comme un dévoiement de la fonction artistique : il lui apparaît au service d ’ une idéologie pseudo-scientifique proprement spéculative et dépourvue de tout lien avec l ’ expérience réelle des personnages qu ’ il dépeint et de la perception qu ’ ils en ont eux-mêmes de telle sorte qu ’ elle les enferme dans une dichotomie manichéenne où ils sont conditionnés par leurs instincts les plus vils. Cette deshumanisation paradoxale au nom de la science résulte de la dissociation des Lumières et de la spiritualité que la Prusse a su éviter grâce au kantisme et à l ’ éducation esthétique de Schiller qui ont su moderniser la conscience religieuse en connaissance transcendantale de soi et des autres grâce à la psychologie et réconcilier au travers d ’ une imagination constructive - édifiante - l ’ esprit critique et la foi. L ’ interprétation luthérienne des textes, intégrée à une réflexion sémantique plus large, a ouvert la voie au principe d ’ une union nationale pacifique et souveraine fondée sur une Le réalisme de Theodor Fontane 143 <?page no="144"?> identité culturelle sans apriori. Le récit historique s ’ avère lors même son vecteur privilégié car il se révèle la trame intrinsèque d ’ une communauté de vie qui engendre sa propre exemplarité, différente de celle du classicisme, par évolutions réflexives : illustrant une possibilité, elle ne relève d ’ aucune contrainte institutionnelle ou morale, elle a pour seul but de stimuler les talents particuliers de chacun qui est libre de les cultiver à sa guise. C ’ est à ce titre qu ’ il lui revient de contribuer, par le biais des arts populaires, à la culture en gestation du nouvel Etat en s ’ inspirant de la Prusse. Cette ambition est donc indissociable de sa mission d ’ écrivain huguenot qui consiste à remémorer aux Français la richesse de leur propre héritage, qui a nourri la tradition de ses ancêtres, et de les associer aux améliorations qu ’ ils lui ont apportée au travers de leur intégration à leur terre d ’ accueil : le recul de cette expérience confraternelle différente leur offre, par un effet de miroir, dans un retour sur eux-mêmes, la chance de renouer avec l ’ esprit des Lumières dans son originalité. Sa description de son pays d ’ adoption vise ainsi à conjurer le souvenir de ce lien mémoriel en gage de paix contre le positivisme de la propagande républicaine pour laquelle l ’ Histoire est devenue le terrain même de l ’ engagement dogmatique au nom de la science absolue pardelà la conscience transcendantale. La réintroduction de la poésie et des mythes dans sa conception est de ce fait une nécessité philosophique pour sauver d ’ ellemême la France qui a besoin de se réconcilier avec son passé de liberté et de tolérance que la Prusse a réussi à réaliser contre elle grâce à Frédéric II qui a accueilli les huguenots et n ’ a pas cédé aux sarcasmes polémiques de Voltaire. Fontane investit par-là son écriture d ’ une fonction médiatrice où la psychologie et l ’ éducation esthétique et morale sont l ’ application d ’ une philosophie politique qui n ’ impose pas des opinions comme des croyances dont le dogmatisme engendre la terreur et la violence et empêche les différences de se relativiser et de s ’ ajuster dans le cours significatif de l ’ ordre des choses tout au long de la vie. Il vise à montrer de cette façon que le roi-philosophe et auteur de l ’ Anti-Machiavel a bien laissé en héritage un pays qui est à l ’ image de son esprit et qui lui a évité de succomber aux tentations révolutionnaires comme, précédemment, aux guerres de religion : une terre de tolérance qui intègre l ’ altérité parce que sa reconnaissance en fait une richesse et non une menace et crée un art de vivre loin de tout nationalisme : c ’ est le comportement individuel dans sa relation à l ’ altérité qui est déterminant de telle sorte que tout fait divers, toute anecdote peuvent devenir une métaphore de l ’ humaine condition. C ’ est pourquoi, l ’ écrivain décrit le cadre prussien dans lequel il a grandi comme une relativisation bienveillante de la France dont la paix et la stabilité ont été le garant de son insouciance et de de son bonheur : en effet, s ’ il ne lui a pas épargné de rencontrer, dès l ’ enfance, l ’ horreur suprême de la violence physique et de la mort - car telles sont les réalités de l ’ existence au monde - , il l ’ a contrebalancée 144 Béatrice Dumiche <?page no="145"?> par une autorité juste et protectrice qui n ’ abuse pas de l ’ ignorance et de la peur mais mise sur la capacité de l ’ humanité à respecter la vie comme le lien suprême qui l ’ unit à l ’ autre dans une sympathie naturelle immédiate au travers de l ’ affection sensible. A la Déclaration des Droits de l ’ Homme et du Citoyen Fontane oppose ainsi une expérience philosophique concrète, d ’ apparence certes bien plus modeste, mais fonctionnelle car elle ne se contente pas d ’ être déclarative, elle engendre une pratique à partir de l ’ éducation esthétique. Cette dernière est l ’ intermédiaire qui manque et qui demande à être incarnée par un artiste capable de représenter la complémentarité de l ’ esprit français et allemand et de montrer que, malgré les apparences du moment dues aux abus du discours nationaliste, l ’ histoire des idées européenne est faite de telle sorte que ces deux pays ont vocation à s ’ accomplir dans une communauté culturelle humaniste. Dès lors la victoire de l ’ Allemagne s ’ explique : elle est à la fois une exhortation morale et un présage favorable car, à l ’ instar du protestantisme qui s ’ est intégré à l ’ Aufklärung, elle invite la IIIè République à ne pas retomber dans les travers d ’ un universalisme dogmatique après les excès du Second Empire mais de se rappeler l ’ authentique héritage napoléonien, qui a fait la grandeur de la France, en reconnaissant paradoxalement ce qu ’ elle lui doit au travers des transformations que lui a apporté la Prusse et qui ont finalement abouti à ce que la couronne impériale change de propriétaire. Elle est la consécration du mérite militaire incarné par l ’ Empereur des Français qui renvoie à sa propre admiration pour Frédéric II dans le cadre d ’ une reconnaissance politique de la valeur individuelle. Le récit que Fontane fait de l ’ assassinat, à Swinemünde, d ’ une veuve et de sa nièce pour 1000 thaler par les époux Mohr 8 est la parfaite synthèse de cette démarche qui allie citoyenneté et universalité à travers le développement pratique de la conscience morale. Calqué sur la technique du Neuruppiner Bilderbogen 9 dont il semble la mise en abîme, il repose sur l ’ évocation d ’ images fortes dont les sensations sont immédiatement relativisées par des réactions de bon sens qui forment le jugement par l ’ analyse critique. La vision de l ’ échafaud au-dessus d ’ un trou creusé dans les dunes qui inspire la répulsion autant que la curiosité des enfants souligne la nécessité d ’ une éducation qui prône le respect de la vie et de la propriété et pour cela même ne convoque pas la terreur en spectacle. Elle la circonscrit pour mieux laisser la nature faire son œ uvre en silence car devant elles tous les êtres vivants sont égaux. Pas besoin dans ces 8 Cf. le très bon résumé chez Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2) « Die Hinrichtung », p.82 - 84. 9 Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2), p. 93 mentionne ces fameux équivalents des images d ’ Epinal, dont la guerre de 1870/ 71 a augmenté le succès comme une des distractions favorites du jeune Fontane dans la ville natale de qui se trouve l ’ imprimerie. Le réalisme de Theodor Fontane 145 <?page no="146"?> circonstances d ’ un Dieu Vengeur ni de superstitions qui prêtent une intention humaine aux causalités naturelles et faussent l ’ appréhension du réel en transmettant la peur sans raison. C ’ est ce que rappelle la mère de l ’ écrivain, élevée dans le luthéranisme allemand, à son mari qui suggère que son cheval a dû se cabrer lors d ’ une promenade dans les environs parce qu ’ il a senti la présence du meurtrier enterré non loin : selon elle, c ’ est sa propre appréhension qu ’ il a communiquée à l ’ animal ! Le narrateur laisse en suspens qui des deux a raison car la conclusion de son histoire est qu ’ il n ’ y a pas de vérité ultime : elle change en fonction des personnes et de l ’ espace-temps dans lequel elles vivent. Le rôle de l ’ éducation n ’ est pas d ’ endoctriner mais de solliciter la réflexion en l ’ entraînant à l ’ esprit critique à partir de la réalité vécue. Cette conclusion a une valeur métaphorique capitale car elle désigne l ’ écrivain, enfant, comme le fruit de cette union qui transfigure sa filiation biologique en inscription dans une tradition mythique. Sa vocation naturelle est de la rendre signifiante dans l ’ actualité de son époque, précisément de par la coïncidence de sa naissance avec l ’ avènement de ce nouvel empire grâce à laquelle l ’ histoire de sa famille, celle de la liberté de culte et de la pensée, va devenir le substrat d ’ une réconciliation avec la France. La référence au Neuruppiner Bilderbogen sous-tend ainsi le souvenir d ’ enfance que le vieux Fontane relate dans un récit sophistiqué qui désigne sa capacité de donner une expression simple à la complexité de l ’ existence humaine comme précurseur de son écriture transcendantale qui dépasse le matérialisme historique : elle lui sert à déconstruire son espoir illusoire que l ’ homme puisse s ’ affranchir de sa détermination naturelle par la science pour devenir le maître de son destin et se substituer à Dieu. Elle montre en effet qu ’ en abolissant le lien entre la connaissance scientifique et la poésie qui permet à chacun de se situer librement par rapport à l ’ univers en son âme et conscience, il assigne, sous prétexte d ’ une émancipation imaginaire dans un avenir hors de portée, l ’ individu à un hic et nunc qui l ’ empêche d ’ envisager les changements réellement possibles. Son autobiographie est donc une prise de position on ne peut plus claire contre Zola et sa théorie du milieu au nom de ses ascendants huguenots qui ont su tirer parti de leur exil grâce à leur réalisme au service de leur foi. Leur aptitude à comprendre leur sort comme la participation à l ’ histoire humaine leur a en effet permis de se construire une identité originale dans leur pays d ’ accueil qui leur a permis de transmettre leur roman familial en l ’ élargissant par leur intégration à la population locale au travers de leur activité et des liens qu ’ elle crée jusqu ’ à la consécration du mariage mixte et de la reconnaissance de la cour royale. C ’ est ce pragmatisme pacifique et tolérant dont ils peuvent attester après avoir dû fuir leur patrie sectaire qui constitue le véritable lien culturel franco-allemand. La Prusse en est la caution morale à la 146 Béatrice Dumiche <?page no="147"?> fondation de ce nouvel empire qui aspire à promouvoir l ’ universalité de ces principes dont la force de conviction est si grande qu ’ il n ’ a besoin d ’ aucune guerre pour s ’ imposer. De ce fait, sa victoire mérite d ’ être reconnue comme un hommage à la France qu ’ elle met à l ’ honneur en reprenant le flambeau de son « Empire » de la même façon qu ’ elle légitime sa vocation d ’ écrivain qu ’ il tire de Zola associant son œ uvre à la chute de Napoléon III à travers la signification emblématique de Nana qui s ’ achève le jour où débute la guerre franco-allemande et marque à jamais la fin d ’ une époque. Elle correspond à la « reconquête » de la littérature comme l ’ espace d ’ une liberté symbolique créé par le pouvoir transcendantal de l ’ écriture où le sujet se constitue en dialogue avec lui-même et avec les autres dans la continuité d ’ une Histoire humaniste, synthèse du présent et du passé indispensable pour envisager l ’ avenir. Sa fonction métaphorique ouvre ainsi l ’ accès à une connaissance évolutive de soi sous le signe de l ’ impératif catégorique qui transforme la conscience religieuse de l ’ homme de n ’ être que de passage sur terre en parabole de la vérité transitoire de l ’ interprétation philosophique. En ce sens, les rappels entre les Souvenirs d ’ enfance et Les voyages dans la Marche de Brandebourg illustrent la genèse d ’ une mise en abîme réflexive du sujet qui s ’ approprie son histoire par la constitution d ’ une identité mythique qui le relie à l ’ humanité éternelle. C ’ est ce que suggère le récit autobiographique du déplacement nocturne improvisé du petit Theodor, âgé de six ans, de Neuruppin, son lieu de naissance, à Berlin, le domicile de son grand-père où il connaîtra lui-même sa gloire. Sous le ciel étoilé, l ’ expérience de l ’ enfant en calèche avec son père est décrite comme une initiation merveilleuse où leur course rejoint les astres et où, tout près de lui physiquement, il découvre le sens de sa filiation naturelle qui le relie spirituellement à un ordre généalogique dont le cosmos est le garant, visible de toutes parts sous des aspects et à des moments différents. 10 A posteriori, c ’ est là que l ’ auteur situe la genèse de son œ uvre dont la constellation devient le présage par la médiation de l ’ imagination réflexive qui reflète la qualité subjective de l ’ histoire personnelle dans son aspiration à l ’ universel : l ’ écriture romanesque, sous la double dédicace à la philosophie kantienne et au génie paternel, marque l ’ avènement de l ’ esthétique transcendantale dont la Bible illustrée est la forme originelle et dont les images populaires de sa ville natale, dont il a été imprégné, sont le prolongement. Elle transforme l ’ appartenance familiale en inscription 10 « Ich bin nie wieder so gefahren; mir war, als reisten wir in den Himmel.», citation de Mes années d ’ enfance par Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2), p. 66, qui retrace les circonstances de ce voyage dans tous ses détails sous l ’ intitulé « Kutschfahrt unterm Sternenhimel », pp. 65 - 68. Le réalisme de Theodor Fontane 147 <?page no="148"?> dans une cosmogonie dont le rapport se révèle à chacun au cours de sa vie et qu ’ il est libre d ’ interpréter et de définir de la façon qu ’ il juge appropriée. Pour lui, la figure du père y atteint une dimension mythique à laquelle il initie son fils qui lui rend hommage pour cela dans une œ uvre mémorielle qui fait de lui le véritable patriarche à la place de l ’ aïeul, Pierre Barthélemy, qui récapitule pourtant à lui seul les étapes de la réussite sociale au travers des mutations symboliques qu ’ elle connaît en son temps. Descendant de bonnetiers, miniaturiste à la manufacture royale de porcelaine, professeur de dessin des enfants de la reine Louise puis son secrétaire de cabinet qui s ’ est enrichi par le mariage et la spéculation immobilière, il était le destinataire de leur voyage dont le but était d ’ obtenir le règlement des dettes de jeu paternelles. Son refus n ’ entame en rien l ’ admiration de l ’ enfant qui, par-delà le succès matériel et la proximité réelle - toute relative - de son grand-père avec la famille royale, voit dans son père le guide spirituel qui se détache d ’ une tradition qui repose sur l ’ adaptation, sous l ’ effet de l ’ urbanisation, des valeurs nobiliaires de l ’ enrichissement par le mariage et la propriété foncière aux aspirations de la bourgeoisie montante. Non seulement il incarne la liberté et le risque en l ’ emmenant sans laisser à sa femme le temps de l ’ habiller pour le voyage. Il représente le plaisir de la découverte et du partage gratuit de la beauté esthétique qui se communique spontanément et crée un sentiment d ’ appartenance universel dans le parcours du monde qui est l ’ expression même de la religion véritable, en mesure de surmonter tous les conflits temporels. Son goût du jeu, répréhensible moralement pour Pierre-Barthélemy, ne l ’ est pas au niveau de la spiritualité dont sa famille est l ’ héritière car sa valeur change face à l ’ influence déterminante que le capitalisme commence à exercer dans une société dont il détruit l ’ unité naturelle. L ’ art, pari sur l ’ indétermination de la vie, s ’ avère pour le vieux Fontane, le point d ’ intégration dans son passé familial visà-vis duquel l ’ indépendance de son père lui offre le moyen de prendre ses distances. Il le conduit à s ’ affranchir de la seule référence à une histoire sociale dont les prémisses appartiennent à une époque révolue où l ’ obéissance à la tradition risque de l ’ enfermer en coupant, qui plus est, celle-ci de ses forces vives jusqu ’ au reniement de la philosophie à l ’ origine de son essor. Ses mémoires qui le relient à lui, en joignant la perspective de l ’ enfant et celle de l ’ adulte qu ’ il est devenu, font dès lors de cette relation le principe structurel de son œ uvre, caution de la continuité biographique. Mais elles soulignent en même temps la nécessité de pouvoir opérer un retour synthétique sur soi à un moment crucial de son devenir où les circonstances l ’ exigent. Leur expérience sensorielle commune, qui a consacré sa filiation en relation esthétique au monde est devenue en effet à ce moment-là la révélation-clé de son inscription singulière dans un ordre universel au travers d ’ une fonction parabolique qui justifie la 148 Béatrice Dumiche <?page no="149"?> transfiguration signifiante du réel en principe de vie salvateur. Elle permet de rétablir dans son droit la vérité individuelle par l ’ interprétation du contexte dans lequel elle se situe et qu ’ elle autorise à relativiser en contrepoint, ouvrant la voie à un équilibre existentiel au travers de l ’ écriture dont le pouvoir de translation spatio-temporel est l ’ expression de la conscience transcendantale. La liberté du père par rapport aux conventions et aux exigences sociales de sa famille n ’ est dès lors plus un défaut, elle marque une évolution nécessaire du jugement critique qui impose le retour aux origines de la tradition huguenote en réponse à l ’ actualité : cette dernière requiert d ’ urgence le dépassement de l ’ adversité par l ’ intermédiaire des arts qui conjurent immédiatement au-delà de l ’ instrumentalisation d ’ identités ontologiques fantasmées, une vision conciliante de l ’ universalité humaine. Aussi l ’ exemple de sa participation à la vie politique de son pays, différente de celle de l ’ implication directe de son aïeul, apporte-t-il un réconfort et un recours à l ’ écrivain qui, bien avant 1871, a fait, à plusieurs reprises, l ’ amer constat de l ’ échec de son engagement pour une unité allemande pacifique fédérant un empereur et son peuple. A travers sa double filiation biologique et métaphorique, il renoue avec l ’ héritage de Frédéric II et l ’ admiration dont il bénéficie dans la culture populaire transmise par son père qui y a associé Napoléon Ier : synthèse de l ’ absolutisme éclairé et de l ’ élan révolutionnaire, il figurait à ses yeux le fils spirituel du vieux Fritz qu ’ il propose à l ’ identification de son propre enfant comme l ’ expression historique de l ’ union biculturelle dont il est issu. Cela confère un tout autre sens à la participation paternelle aux guerres de libération qui s ’ avère motivée par des raisons aux antipodes des slogans patriotiques. 11 Elle traduit certes son opposition à l ’ invasion militaire napoléonienne mais pas aux idées de l ’ Empereur et au progrès humain dont elles sont porteuses à ses yeux dans la mesure où elles réalisent les conditions de l ’ impératif catégorique et de l ’ égalité de droit à travers le Code Civil et font de l ’ armée l ’ illustration d ’ une méritocratie individuelle caractéristique de toute la société. S ’ il s ’ est enrôlé, c ’ est par nécessité de défendre l ’œ uvre morale et politique du père fondateur de la Prusse moderne. Il obéit en cela à l ’ ultime appel de la raison pratique pour bannir à tout jamais l ’ usage de la guerre sous prétexte de la liberté car une telle injonction contradictoire relève de l ’ aliénation dogmatique. 11 Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2), p. 42, cite, extraite de ses mémoires, une conversation particulièrement éclairante à ce sujet entre le jeune Fontane et son père qui lui avoue que son patriotisme était à peine moyen et qu ’ il devait beaucoup au fait qu ’ à 17 ans, on s ’ imagine que la vie de soldat au grand air est plus exaltante que l ’ apprentissage. Le réalisme de Theodor Fontane 149 <?page no="150"?> Le vieux Fontane resitue donc les souvenirs de son père dans un contexte historique à la définition duquel tous les deux contribuent par un dialogue qui marque la réconciliation de l ’ Allemagne issue de l ’ Etat prussien et de la France dans la perspective d ’ une morale raisonnable sur la base du Traité de Paix perpétuelle et de sa vocation universelle. L ’ anecdote préférée du petit garçon, celle du portefeuille rempli de billets qui sauve son père d ’ une balle de voltigeur français qui y reste fichée et fait de lui un miraculé ordinaire, témoigne en effet dans sa rétrospection de la capacité de ce dernier à transformer son héroïsme en chance d ’ avoir survécu et donne un prix immatériel à la vie qu ’ il importe de chérir et de préserver par la défense de la paix. 12 L ’ angle sous lequel il aborde son expérience, pour qu ’ elle parle à l ’ imagination de son fils, a ainsi beau participer de l ’ affabulation puisqu ’ il s ’ inspire librement du sauvetage de Frédéric II, protégé par un étui en or et en émail lors de la guerre de Silésie. Ce choix traduit une vision philosophique du monde où le combat militaire devient la représentation de l ’ égalité de tous devant la liberté suprême et mystérieuse d ’ un principe vital dont les manifestations sont aléatoires si l ’ interprétation humaine ne leur prête pas une signification intrinsèque en fonction d ’ un contexte qu ’ elle contribue à définir. La référence à l ’ origine du récit paternel dans Les Voyages dans la Marche de Brandebourg est de ce fait elle-même relativisée par la « vérité historique » qui serait simplement qu ’ un officier du roi l ’ aurait enlevé de force du champ de bataille où il continuait de s ’ acharner à combattre seul. L ’ identification du père au « Landesvater », qui semble au premier abord l ’ élever à sa hauteur comme pour un éloge conventionnel, se révèle par-là avant tout un hommage à l ’ esprit napoléonien tel qu ’ il l ’ a transmis à son fils. Elle reflète leurs jeux de rôle où ils se mettent l ’ un et l ’ autre tantôt à la place de l ’ officier tantôt à celle du soldat de la Grande Armée 13 en guise d ’ écho à la fameuse phrase prononcée par Louis XVIII en 1817 à l ’ Ecole militaire de Saint-Cyr, qu ’ il ne saurait y avoir personne qui n ’ ait son bâton de maréchal dans sa giberne, garantissant la continuité du principe méritocratique sous la royauté. Grâce au crédit que l ’ autobiographe accorde au récit paternel qui cautionne l ’ ambition de sa propre écriture, il fait de lui un passeur qui a reconnu en Napoléon l ’ héritier des huguenots à travers l ’ admiration de ce dernier pour Frédéric II car, à leur instar jadis, il s ’ est montré instigateur de progrès dans un esprit de tolérance éclairé puisqu ’ il a élargi la notion de mérite militaire du roi de Prusse à l ’ ensemble de la société. Prenant le contrepied du nationalisme haineux des écrivains prussiens mobilisés contre la France, il invoque le souvenir paternel pour s ’ autoriser à célébrer l ’ avènement de l ’ empire allemand en 1871 comme le 12 Cf. à nouveau Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2), pp. 43 - 45. 13 Cf. Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2), p. 93. 150 Béatrice Dumiche <?page no="151"?> renouement de la Prusse avec sa tradition française dont elle s ’ apprête à incarner le génie pacifique que l ’ Empereur des Français n ’ a pu réaliser en son temps : trop en avance sur lui, il n ’ a pas réussi à aller au bout de son œ uvre et faire régner la paix sur l ’ Europe. Son père qui lui a enseigné, par le lien qu ’ il a établi entre l ’ héritage de Frédéric II et celui de Napoléon Ier, qu ’ on pouvait être à la fois patriote et pacifiste l ’ a en effet amené à comprendre l ’ importance d ’ une écriture qui relie le passé et le présent dans une vision synthétique et rompt avec l ’ autorité absolue de la narration historique linéaire et univoque : il s ’ avère ainsi que l ’ approche scientifique ne saurait se passer de la fiction pour représenter la vérité intrinsèque de l ’ Histoire que même ses plus grands acteurs ne peuvent pas connaître. Néanmoins, leurs actes inspirés ont un sens que les artistes se doivent de dévoiler lors de leur évocation pour que leurs mérites soient reconnus par la postérité au-delà de leurs échecs personnels. Aussi est-ce la conscience de cette relativité de son pouvoir temporel de la part de l ’ homme le plus puissant de son époque face au poète, dont sa rencontre avec Goethe à Erfurt en 1808 lui sert de preuve, qui l ’ autorise à croire en la sincérité de ses intentions pacifiques à ce moment-là et à l ’ invoquer en caution morale du pacifisme de ce nouvel empire qu ’ il s ’ emploie à réaliser grâce à son œ uvre. 14 Elle exprime la quintessence de ce moment intemporel où le chef militaire victorieux s ’ est incliné devant le génie esthétique qui donne un sens transcendantal à l ’ Histoire. C ’ est cette qualité-là qui fait de l ’ Empereur des Français la figure historique universelle qui rayonne sur l ’ Europe car ses actions dépassent la partialité des luttes d ’ influence sans lendemain. C ’ est elle qui le lie à Frédéric II et fait de lui le père fondateur d ’ une véritable dynastie impériale européenne dont l ’ Allemagne prend la relève contre l ’ Autriche des Habsbourg. Sa visite du champ de bataille de Rossbach où les troupes françaises et autrichiennes ont été battues en 1757 par l ’ armée prussienne pendant la guerre de Silésie, prélude à l ’ unification allemande, est l ’ expression de cette complémentarité entre le génie politique et le génie littéraire dans la réflexion philosophique d ’ une époque qui se substitue au dogmatisme religieux, 15 fauteur de troubles au sein du continent depuis toujours. 14 Son interprétation de la participation de son père aux guerres de libération représente en effet à nos yeux le contrepied offensif du Katechismus der Deutschen où il se sert de la caution morale de Goethe et de son inimitié pour Kleist pour lui conférer plus de poids. 15 Il est évident que Fontane vise en premier lieu le catholicisme à travers l ’ Autriche et les Habsbourg mais il se dégage aussi du Kulturkampf par la même occasion en suggérant qu ’ il n ’ est que la version moderne de la confiscation partisane de la spiritualité par le pouvoir temporel. La culture ne consiste nulle part dans ses écrits en une apologie du pouvoir. Le réalisme de Theodor Fontane 151 <?page no="152"?> En faisant de Napoléon la figure clé de son œ uvre qui célèbre l ’ empire allemand, Fontane ne se dégage donc pas simplement de toute perspective nationaliste car il défend l ’ aspiration à l ’ universel qu ’ incarne l ’ Empereur des Français comme le principe déterminant de sa mission historique. L ’ alliance de la liberté et de l ’ égalité représentée par la Grande Armée ressuscite à ses yeux les valeurs originelles de l ’ empire de Charlemagne et de la chevalerie : c ’ est grâce à la réinterprétation de ce passé culturel que l ’ Allemagne a pu réaliser son unité sur le fondement d ’ un humanisme qui honore la valeur morale du mérite personnel dans une esthétique de l ’ émulation comme jadis le Moyen-Age dont Walter Scott a récréé l ’ esprit dans ses grands romans populaires. 16 Ses écrits qui articulent l ’ Histoire à l ’ autobiographie poétique renvoient ainsi à un nouveau rapport de l ’ individu à sa patrie qui inscrit le roman familial dans le roman national grâce à la fonction synthétique de l ’ art au service d ’ une culture « classique » commune qui revient sur les usurpations nationalistes du romantisme lors des guerres de libération. L ’ écriture représente en effet la médiation du sujet réflexif dans le temps et dans l ’ espace par-delà ses limites : elle l ’ autorise à combiner tous les genres et toutes les formes pour définir sa propre vérité historique. Cette dernière repose sur l ’ élaboration de sa relation à un réel composite qui se réfère à un imaginaire collectif où toute l ’ humanité est capable de se reconnaître à travers des réflexions partielles, des citations qui en appellent à l ’ intemporalité d ’ une identité plurielle qui se révèle au monde dans l ’ instant privilégié d ’ une reconnaissance réciproque. Fontane revendique dès lors par sa référence napoléonienne, en contrepoint de la tentation hégémonique nourrie par les dirigeants de son pays ou soupçonnée simplement par ses adversaires, la succession de Goethe qui symbolise la rencontre d ’ un homme avec son époque dans une œ uvre infiniment riche dont l ’ Empereur des Français a remarqué l ’ originalité : il y a vu la synthèse inédite de l ’ Histoire et de l ’ esprit universel caractéristique de l ’ humanisme moderne en prononçant son fameux : « Voilà un Homme ! ». Il se réclame de cette consécration pour manifester l ’ autonomie de l ’ art contre toute forme d ’ appropriation politique et en particulier contre un empire qui essaie d ’ utiliser le rayonnement international de Weimar pour se prévaloir de sa suprématie nationale face à la décadence de la France de Napoléon III. Par son « réalisme prussien » il rétablit la vérité historique de cette rencontre entre le grand homme d ’ Etat et le poète qui réside dans leur conscience esthétique et la vraisemblance d ’ une écriture philosophique qui a pour principe de dévoiler le génie humain dans et par ses actes à des 16 Cf. Dans la même description de l ’ éducation paternelle, Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2), p. 93 écrit que la passion du père pour Napoléon était soutenue par celle pour les romans historiques de Walter Scott. 152 Béatrice Dumiche <?page no="153"?> fins d ’ édification personnelle. Sa fonction transcendantale lui permet donc, à travers l ’ originalité de sa propre œ uvre, d ’ incarner cet héritage par sa double identification au chef militaire et à l ’ écrivain contre leur appropriation univoque et de démarquer l ’ art de la propagande grâce au jugement critique. Il se fait l ’ historien de Napoléon dont il inscrit l ’ universalisme dans le mythe prussien pour réclamer la primauté de l ’ Aufklärung sur le nationalisme larvé qui en usurpe. L ’ intégration de son expérience de la guerre de 1870/ 71 dans une composition littéraire est sa façon de s ’ affranchir de cette mainmise sur la culture par le pouvoir politique au travers de cette liberté d ’ esprit que son père lui a enseignée dans ses jeux de rôle. Pour sa création, synthèse de sa double appartenance culturelle grâce à laquelle il a surmonté le déchirement intérieur de ce conflit fratricide, il s ’ attribue la Légion d ’ Honneur, comme Napoléon qui s ’ est couronné lui-même, et s ’ auto-proclame le successeur authentique de Goethe. Cette décoration militaire décernée par l ’ Empereur à un poète étranger qui, au nom de ce qu ’ il devait à la culture française, et notamment au théâtre classique, n ’ a jamais participé à la campagne littéraire contre la France devient par-là le symbole d ’ une nouvelle ère inaugurant l ’ universalité de l ’ art qui dévoile le sens de l ’ Histoire à travers les âges et intègre au classicisme la transposition romantique de ses memorabilia dans l ’ actualité de l ’ instant présent. Elle consacre le génie allemand par l ’ accueil de ses représentants, héritiers spirituels du pays de la tradition humaniste universelle de l ’ Antiquité, dans un ordre où leur valeur est reconnue à l ’ égal du mérite militaire. Cette distinction, qui instaure une nouvelle alliance franco-allemande sur le fondement d ’ une philosophie historique commune relayée par les arts, rétablit dès lors l ’ unité de la conscience européenne dont elle reconnaît la diversité des expressions. Elle marque la réconciliation du continent, ravagé par les guerres, grâce à une esthétique instituant la liberté et l ’ égalité en principes fondateurs de l ’ humanité. 17 Elle renouvelle ainsi la tradition des chevaliers d ’ Empire, libres et dévoués à l ’ Empereur, conscient d ’ incarner l ’ âme d ’ une Europe mythique dont Goetz de Berlichingen était le dernier représentant et dont Goethe a assuré la postérité populaire en lui rendant l ’ hommage qu ’ il n ’ a pu se rendre lui-même en renonçant, en refusant, au nom de la seule valeur de l ’ action, d ’ écrire ses mémoires, comme sa femme l ‘ en conjurait dans le drame de l ’ auteur. Fontane se 17 Ce n ’ est pas par hasard, à notre avis, qu ’ il confie, dans une correspondance du 19 novembre 1878, à l ’ éditeur E. Hallberger sa fierté d ’ « être entré dans l ’ ordre des conteurs » après avoir achevé Avant la Tempête (cité d ’ après Regina Dieterle: Theodor Fontane (note 2), p. 574). La Légion d ’ Honneur, dont Goethe portait toujours la distinction, est un ordre et le poète de Weimar était très séduit par l ’ idée de Napoléon d ’ honorer les hauts faits littéraires par les mêmes décorations que les faits militaires. Le réalisme de Theodor Fontane 153 <?page no="154"?> revendique dès lors non pas l ’ épigone mais l ’ émule du poète de Weimar 18 en faisant de sa propre autobiographie le lien structurel de son œ uvre qui s ’ avère toute entière Poésie et Vérité car elle intègre le roman familial à l ’ histoire universelle de l ’ humanité dont elle contribue à élaborer la synthèse véridique. Cette « révolution copernicienne » l ’ autorise à s ’ inscrire dans la lignée des grands conteurs et romanciers pour poursuivre l ’ écriture de la Comédie Humaine que Balzac avait conçue comme la suite de l ’œ uvre de Walter Scott à laquelle il voulait répondre par une cosmogonie socio-culturelle reflétant la réalité de son époque dans une construction synthétique raisonnée. L ’ introduction de la subjectivité dans la structure narrative par Fontane marque en effet l ’ accomplissement de son réalisme par la reconnaissance de la liberté individuelle à travers sa réflexion dialogique dans l ’ Histoire qui change le rapport au lecteur en constituant une œ uvre ouverte à partir de l ’ intertextualité : l ’ interprétation critique s ’ y avère la garantie morale de la Paix perpétuelle contre le déterminisme scientifique de Zola dont il dénonce implicitement la responsabilité dans les affrontements guerriers intérieurs et extérieurs passés et à venir car il dénie le rôle déterminant du libre-arbitre dont l ’ écriture et la pluralité des textes sont l ’ expression depuis les origines de l ’ humanité. Son œ uvre est une profession de foi ancrée dans le protestantisme de ses ancêtres contre son usurpation idéologique par le Kulturkampf. Elle signifie son engagement politique indépendant, en tant que personne et en qualité d ’ artiste, au nom de l ’ humanisme transcendantal qui inscrit la religion dans le sens de l ’ Histoire et la transforme en principe d ’ une spiritualité universelle révélée par la pratique esthétique. 18 Ehrhard Bahr: Fontanes Verhältnis zu den Klassikern. Dans: Pacific Coast Philology 11 (1976), pp. 15 - 22, montre bien que Fontane ne rejette pas Goethe mais sa « canonisation » par ses fameux « épigones » qui cherchent à copier son œ uvre. 154 Béatrice Dumiche <?page no="155"?> Eine OSTERREISE Theodor Fontane nach zu den Schlachtfeldern von 1870/ 71 Gedanken und Notizen zu einem Film Alfred Gulden, Wallerfangen / München „ Anhalten! “ , rief ich: „ Wir drehen! “ , als ich den neben der Straße in einen Acker gestürzten Wegweiser sah. Während die Kamera lief, fuhr ein Bauer mit einem Traktor pflügend durchs Bild. „ Perfekt! “ , sagte ich, denn Film wie Schlacht ist Bewegung. Bei der Preisverleihung zu meinem Dokumentarfilm Grenzfall Leidingen (Thema: Der Aberwitz einer Grenze, die ein kleines Dorf in ein deutsches und ein französisches teilt. Und wie „ Europa “ im Alltag erlebt wird) fragte mich der Chefredakteur, ob ich mir einen weiteren Film mit ähnlichem Thema vorstellen könne. <?page no="156"?> Konnte ich nicht. Jahre später, nach einigen anderen Filmen, hatte ich plötzlich beim Lesen des Gedichtes Der Schläfer im Tal von Arthur Rimbaud in der Übertragung von Stefan George, den Einfall. Und als mir die beiden, noch in der damaligen DDR gekauften Fontane-Bände Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 und Aus den Tagen der Okkupation. Eine Osterreise. 1871 in die Hände fielen, und ich dazu noch zufällig - es gibt wahrlich keine Zufälle - in den Verklingenden Weisen, Louis Pincks Lothringer Liedersammlung, nach einem bestimmten Lied suchte und dabei auf alte Soldatenlieder stieß, hatte ich das Thema für einen „ weiteren Film “ . Der Film dreht sich um eine Gegend, eine Landschaft, um einen Krieg und um zwei Reisen. Die eine hat Theodor Fontane über Ostern 1871 gemacht, die andere, einen Teil seiner damaligen Reiseroute, mache ich mit einem Filmteam sozusagen hinter ihm her, auf seinen Spuren. Die Gegend: Vor allem Lothringen, in der Geschichte immer wieder Pufferzone zwischen zwei feindlichen Lagern, oft genug Gebiet, durch das sich die Hauptkampflinie zog, rote Zone, terrain interdit, Schlachtfeld und Kriegsschauplatz. Eine Landschaft mit weitem Horizont, sanft gewellt, Hügellandschaft, nichts Auffallendes, Felder und Wiesen, von Waldstücken durchzogen, eingestreut kleine Dörfer mit spitztürmigen Kirchen als Mitte, kaum Städte, viel weite, freie Fläche, durchschnitten, geteilt nur von den fast immer schnurgerade laufenden Straßen. Noch heute so. Diese Landschaft, so oft zum militärischen Gelände gemacht, missbraucht, zum generalstabsmäßig verplanten Terrain verkommen, ist vom Krieg geprägt. Er hat in ihr seine Spuren hinterlassen, Zeichen gesetzt. Der Krieg 1870/ 71, der Deutsch-Französische Krieg, dessen Schlachtorte Straßen und Plätzen in deutschen Städten ihre Namen gegeben haben - in München in der Gegend um den Ostbahnhof gibt es unter anderen eine Spicherenstraße, einen Weißenburger Platz, eine Breisacher-, eine Bazeille-, eine Sedan- und eine Gravelottestraße wie einen Orleansplatz - , wurde bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein mit einem schulfreien Tag, dem Sedantag, gefeiert und so im Gedächtnis behalten. Dieser Krieg wird einerseits als „ Akt nationaler Verteidigung “ gesehen, von der anderen Seite als „ territoriale Eroberung “ . In diesem Krieg sind „ wohl zum letzten Mal in der Geschichte der europäischen Kriege nach Jena-Auerstedt, Borodino, Leipzig oder Waterloo die Entscheidungsschlachten noch eng lokalisiert [ … ] Amiens, St. Quentin, St. Denis, Metz, Sedan, Bitsch sind Schauplätze, auf denen sich Geschichte als visuell fassbares Geschehen vollzogen hat: in Planungen, Aufmärschen, Gefechten, als Sturmangriffe, als letzte große Reiterschlachten, die auf den Feldern Europas geschlagen worden sind, als Rückzüge und Belagerungen “ , schreibt Günter Jäckel im Vorwort zu Theodor Fontane: Wanderungen durch Frankreich, 156 Alfred Gulden <?page no="157"?> Bd. I, Kriegsgefangen, Erlebtes 1870. In diesem Krieg muss sich Kaiser Napoleon III. in Sedan mit 83.000 Mann ergeben und wird nach Kassel ins Exil geschickt, und Wilhelm I., König von Preußen, wird deutscher Kaiser. Ein Dachbodenfund im Haus in München: Krieg und Sieg 1870/ 71, Kulturgeschichte heißt der voluminöse Prachtband, 1896 in Berlin im Verlag Schall und Grund erschienen, aus dem die „ Militaria “ (Soldaten, Schlachtenbilder, Schlachtorte, Kriegsgegenstände) von damals im Film Osterreise bebildert werden. In diesem „ Gedenkbuch “ gibt es auch ein Kapitel „ Kriegskorrespontenden und Zeichner: Schlachtenbummler “ , in dem Theodor Fontane mit Artikel und Porträt erwähnt ist. „ Schlachtenbummler “ ( „ bummeln “ heisst im Deutschen bis heute ein Herumtrödeln, ein verlangsamtes Tun und Handeln) wurden die Berichterstatter anfänglich eher von der kämpfenden Truppe, von den Soldaten genannt. Denn sie sahen keinen Sinn in diesen meist unbewaffneten, meist im Weg stehenden, schreibenden oder skizzierenden Leuten. Das wurde ihnen erst mit der Zeit klar, wie, auch strategisch, wichtig eine „ gute Presse “ in der Heimat wie im Ausland war. Und sie hatten plötzlich Achtung vor der Waffe des Blei- oder Zeichenstifts. Für die „ Schlachtenbummler “ hat dieser Krieg auf Grund seiner Übersichtlichkeit noch „ etwas hergegeben “ . Und dieser Krieg ist der letzte, bei dem sich für Deutschland Krieg auf Sieg reimen lässt. Zwei Reisen. Ein erster Versuch, die Schlachtfelder in Frankreich zu bereisen, endet für Theodor Fontane fast tödlich. Er wird am 5. Oktober 1870 vor dem Geburtshaus der Jeanne d ’ Arc in Domrémy, als er Notizen und Skizzen in sein Notizbuch macht, von Franctireurs, von Freischärlern, gefangen genommen, als Spion angesehen und zum Tode verurteilt. Dann aber auf die Festung Oléron verbracht. Von dort kann er im Dezember desselben Jahres nach Berlin zurückreisen, nachdem sich hochgestellte Persönlichkeiten für ihn eingesetzt haben. Unter anderen Bismarck in einem Drohbrief: „ [ … ] seine Freilassung von der französischen Regierung zu verlangen, und ausdrücklich zu erklären, dass wir im Weigerungsfalle eine gewisse Anzahl von Personen in ähnlichen Lebensstellungen in verschiedenen Städten Frankreichs verhaften und nach Deutschland schicken, und ihnen dieselbe Behandlung zuteil werden lassen, die dem Dr. Fontane in Frankreich beschieden ist “ . Nach diesem vergeblichen Versuch macht Fontane nur ein halbes Jahr darauf seine zweite Reise nach Frankreich. Am 9. April reist er von Berlin ab. Diesmal nicht in umkämpftes Gebiet, sondern in schon erobertes, okkupiertes. Seine Reiseroute (grob): von Straßburg über Reims nach St. Denis, Amiens, Rouen, Dieppe, St. Quentin, Charleville-Mézières, Sedan, Montmédy, Thionville, Gravelotte, Metz, Saarbrücken, Bitsch. Die ganze Reise wäre in einem Film von 45 Minuten (so die „ Sendegefäß “ -Größe der Fernsehredaktion für diesen Film) Eine OSTERREISE Theodor Fontane nach zu den Schlachtfeldern von 1870/ 71 157 <?page no="158"?> nicht unterzubringen, also habe ich mir einige der Haltepunkte seiner Reise herausgenommen, z. B. Charleville-Mézières, Sedan, Montmédy, Thionville, Gorze, Gravelotte. Theodor Fontane ist 51 Jahre alt, als er die Osterreise macht, ein Jahr älter als Karl Marx, der ja auch über diesen deutsch-französischen Krieg geschrieben hat (Zweite Adresse des Generalrats über den deutsch-französischen Krieg in: Der Bürgerkrieg in Frankreich). Fontane ist in Bismarcks Augen, so schreibt er in seinem „ Forderungs-Brief “ : „ [ … ] ein preußischer Untertan und wohlbekannter Geschichtsschreiber, auf einer wissenschaftlichen Reise in französischen, durch deutsches Militär besetzten Distrikten verhaftet worden, wo er in Lebensgefahr zu sein scheint. Nichts kann ein derartiges Vorgehen gegen einen harmlosen Gelehrten rechtfertigen “ . Ein „ preußischer Untertan “ , ein prussien, der in von Deutschen okkupiertes französisches Land einreist, um von dort zu berichten. Die Franzosen unterscheiden zu der Zeit sehr (und empfindlich) genau zwischen prussien und allemand. Un Allemand, das ist ein Mensch, den man wahrnimmt, mit dem man sich sogar ein Gespräch vorstellen kann, ein prussien, da schweigt man. Dafür gibt es Textstellen in Fontanes Reisebericht. Aber Fontane ist, wie er (1894) in einem Brief schreibt „ nur ein in der Wolle gefärbter Preusse “ . Und das sind nicht nur Worte. Die Fontanes sind unter Louis XIV. aus Frankreich vertriebene und nach Preußen geflüchtete Hugenotten. Noch Fontanes Großvater soll Französisch gesprochen haben. Er selbst spricht seinen Namen sein Leben lang französisch aus. In vielem ist er der französischen Mentalität verwandt, zum Beispiel in seinem Erzählstil, der causerie ähnlich, dem anscheinend leichten Plauderton. „ Ein wohlbekannter Geschichtsschreiber “ , nicht „ Geschichtenschreiber “ , „ auf wissenschaftlicher Reise “ . Fontane hat von seinem 45. bis zu seinem 57. Lebensjahr tausende Druckseiten in Großformat über militärische Ereignisse veröffentlicht. Alexander Kluge sagt in seiner Rede zur Verleihung des Fontane-Preises 1979 an ihn: „ Wir wussten, dass Fontane eines der absoluten Meisterwerke der Literatur, Weltliteratur, Effi Briest [ … ] geschrieben hat. Was wir nicht wussten, ist, dass er 4.500 Seiten Kriegsberichterstattung geschrieben hat: also die ganzen Kriege 1864, 1866, 1870/ 71 genau beschrieb. Dabei übrigens in Lebensgefahr geriet, denn neugierig trieb er sich in Frankreich zwischen den Fronten herum. [ … ] Dies ist eine Haltung, die ich an ihm außerordentlich respektiere, die der Neugierde zwischen den Fronten, dieses Linienüberqueren. “ Ein „ harmloser Gelehrter “ ? Ein berühmter Schriftsteller ist Fontane damals noch nicht, das wird er erst auf die 60 zu. Wenn andere daran gehen, „ ihr Werk abzuschließen “ , fängt Fontane erst an, aber „ harmloser Gelehrter? “ Erfahrener Kriegsberichterstatter, Geschichtsschreiber, Schriftsteller und auch Poet, diese Mischung ist es, die mich an Fontane und seiner Osterreise interessiert. Auch 158 Alfred Gulden <?page no="159"?> wenn der Schriftsteller, der Dichter, was das Stilistische angeht, noch etwas zu kurz dabei kommt. Fontanes Osterreise ist aber anders als der Zeitstil der einäugig verklärenden Schlachtenmaler und verlogen hymnisierenden Schlachtenbeschreiber. Er ist nicht voller Vorurteile und Hass à la: „ Man muss ihnen den Daumen aufs Auge drücken “ und strotzt nicht vor dümmlicher Überheblichkeit: „ Die Franzosen? Alles Bande! “ , sondern lässt dem Gegner Gerechtigkeit zukommen. Er wird deshalb in Berlin auch als „ Gallomane “ verschrien, was er mit Sicherheit nicht ist. Fontane hat kein oder kaum Augenmerk auf das Pompöse, Aufgeblasene, vordergründig Beeindruckende der Schlachten und was damit zusammenhängt - auch wenn er sich gelegentlich darin untreu wird - , sondern das Detail, die Kleinigkeit am Rande, das scheinbar Nebensächliche „ nimmt ihn gefangen “ , nimmt er auf, hält er fest, um daraus ein Bild, ein Sinnbild des Ganzen zu geben: Das ist das Poetische. „ Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen Klein und Groß nicht recht gelten lasse, treffe ich aber wirklich mal auf Großes, so bin ich ganz kurz “ schreibt er an seine Frau. Der Film Osterreise will auch zeigen, will mitteilen, was aus dieser Gegend geworden ist, ob und wie sie sich seit Fontanes Reisebericht verändert hat: nach meinen Recherchen(-Fahrten) verhältnismäßig wenig im Vergleich zu anderen mir bekannten Gegenden. Natürlich ist die Veränderung in den Städten dort deutlicher, aber auch hier scheint oft die Zeit stehen geblieben zu sein. Und in der Landschaft: da gibt es noch genügend Punkte, von denen aus der Blick so fällt, wie Fontane sie beschrieben hat, zum Beispiel bei St. Privat, hinter Vernéville oder um Gorze. Ruhige Kameraschwenks, langsame Fahrten, viel totale Einstellungen sollen Platz lassen, Raum geben für Texte, zum Nachdenken und Hinschauen, auch auf die Inserts (vor allem aus dem Bild-Textband Krieg und Sieg), die das Damals in Kupferstichen und Zeichnungen bebildernd hervorrufen sollen. Was ist noch vom Krieg 70/ 71 und den darauffolgenden zwei weiteren Kriegen zu sehen, zu zeigen? Von Charléville ab gibt es eine route des fortifications quer durch die Wiesen, hauptsächlich die Bahnlinie entlang, Bunker in gegenseitiger Sichtweite, die Maginot-Linie, auch davon wird die Rede sein in diesem Film. Und auf Wiesen, und mitten in den zurzeit in jungem Grün stehenden Feldern sind die monuments de la guerre (ausgewiesen in den Landkarten der Gegend und auf Hinweisschildern an den Straßen) immer noch Fremdkörper, die sofort ins Auge fallen. Fast alle aus dem Krieg 70/ 71. Als Denkmäler, in vielen Formen und Größen (Obelisken, Türme, Säulen), kennzeichnen sie diese Wiesen und Felder als Kampfplätze, als Schlachtfelder. Fontane ist vor allem mit der Eisenbahn gereist, aber auch mit dem Omnibus (ein Pferdefuhrwerk, eine von Pferden gezogene Kutsche wird es gewesen sein). Eine OSTERREISE Theodor Fontane nach zu den Schlachtfeldern von 1870/ 71 159 <?page no="160"?> Wir fahren mit dem Auto. Aber die Eisenbahnlinien mit Bahndamm, Bahnübergängen, Brücken, Schranken, neben denen wir streckenweise herfahren werden, sind noch die gleichen. Auch die Bahnhöfe in den kleinen Ortschaften haben noch viel von denen von vor hundert Jahren. Vor allem aber die langen, schnurgeraden Straßen mit ihren Hinweisschildern vermitteln den Eindruck einer Reise durch eine andere Zeit. Auch einige der auberges, die Fontane beschreibt und in denen er logiert und seine Notizen macht, existieren noch. Zum Beispiel das „ Hotel de L´Europe “ in Sedan nahe dem Bahnhof, oder in Gravelotte, gegenüber dem Haus, in dem Napoleon III. sich damals aufhielt (ein Schild zeigt es an), lädt das „ Cheval d ’ Or “ immer noch zum Essen ein. Hier hat Fontane sich Gedanken gemacht, wie lange es dauern wird, bis aus den Franzosen, die mit ihm im Restaurant sitzen, Preussen geworden sind. Auch die verschiedenen Hotelzimmer in diesen kleinen auberges, in denen Fontane bei Kerzenlicht oder im Schein einer Gaslampe die Tageseindrücke festgehalten hat, werden gezeigt, um den Fortgang der Reise, das Vorübergehende, das Flüchtige eines kurzen Aufenthalts mitzuteilen. Fontane wird im Film hauptsächlich durch seine Texte präsent sein. Gesprochen - im Off - von einem Sprecher mit tiefer, angenehmer Stimme, die den leichten, anscheinend leichten Ton der causerie trifft und hält, und dennoch anrühren und betroffen machen kann. Zum Beispiel die Episode maison blanche: Fontane besucht ein Haus, in dem Kriegswaisen untergebracht sind, und ist erschüttert. Als Fontane, als idealen Sprecher für die Fontane-Texte im Film höre ich die Stimme des Berliner Schauspielers Otto Sander. Ein Foto-Porträt von Theodor Fontane um die Zeit seiner Osterreise, Kupferstiche mit ihm sowie der Blick auf einige Tagebuchseiten mit seiner Handschrift und von ihm gemachten Skizzen können hilfreich sein, sich ein Bild von ihm und seiner Tätigkeit zu machen. Was für Fontane Notizbuch und Stift, ist für mich das Filmteam mit Kamera, Licht und Ton. Es sollte auch an einigen Stellen im Film zu sehen sein, zum Beispiel an „ strategisch wichtigen Punkten “ . Das kann an einem Bahndamm sein, auf einem Feldherrnhügel, vor einer Auberge, auf einem (Schlacht-) Feld, an einem Kriegerdenkmal. Und als Realisator des Films, der auch die zweite Stimme im Film sein wird, so die Idee: wie Fontane, der im Lichtkreis einer Kerze oder Gaslampe allabendlich in einem Hotelzimmer die Eindrücke eines Tages Revue passieren lässt, sie reflektiert, kommentiert und schriftlich festhält, will ich im Synchronstudio, die Filmbilder der Reise auf dem Monitor vor mir, im Lichtkreis einer Studiolampe im On dazu sprechen. Es wird aber weniger ein hinzugefügter „ daraufgesetzter “ Kommentar sein, sondern mehr der Versuch, mit Fontane in ein Gespräch zu kommen, in einen Diskurs. Dort der „ Binnenländler “ (Berlin), hier der „ Grenzgänger “ (Saarlouis). Da der preußische Hugenotte (beschimpft als „ Gallomane “ ), hier der „ Saar- 160 Alfred Gulden <?page no="161"?> franzose “ . Da der Vater, der seinen Sohn, ein Fähnrich in einem preußischen Regiment, beim Exerzieren trifft, hier der Kriegsdienstverweigerer, gegen Kriegsende geboren - „ Kriegsware “ nannte uns ein Lehrer - der sechs seiner Onkel „ im Krieg verloren “ hat, so wurde das genannt, und Tanten nur als Witwen kannte, aufgewachsen mit einem Großvater, der Bismarck verehrte und die Franzosen als Erbfeinde hasste: „ Wir sind und bleiben deutsch “ . Da der Fremde, der in diese Gegend, durch diese Landschaft reist, weil sie Kriegsschauplatz war, hier jemand, der diese Landschaft seit Kind auf kennt und liebt. Dieser Gesprächsversuch, dieser Diskurs aus Festellungen, Fragen und versuchten Antworten, aus Anekdoten, Erlebnissen und Erfahrungen, zum Beispiel nach zwei weiteren Kriegen in dieser Landschaft, will Leitlinie, roter Faden in dem Film sein. Wenn dieser Film einen weiteren Sinn hat als den, Geschichte in Bild und Ton festzuhalten, dann, dass die großen Worte von „ Europa als Mutterland der Vaterländer “ , von der „ Vielfalt in der Einheit “ , vom „ Neben- und Miteinander “ auch und gerade der Erbfeinde konkretisiert werden (müssen! ) im Kleinen, anscheinend Kleinen, Alltäglichen, im Detail, im sogenannt Nebensächlichen. Zum Beispiel wie starre Haltungen, nationalistische, chauvinistische, Hass und Feindseligkeit, Stolz und Überheblichkeit, sich in vorurteilsfreie Neugier verändern lassen. Und dass heute nicht oberflächliche Harmonisierung verlangt ist, sondern eine andere Art von Streit und Auseinandersetzung, in der das Reimpaar, die Reimworte „ Krieg “ und „ Sieg “ nichts mehr zu suchen haben, nicht mehr zu finden sein werden, sondern „ Fremdworte “ geworden sind. Und das wäre auch der Anschluss, die Verbindung zu meinem Film Grenzfall Leidingen. Anmerkung: August 2020. Zum 150 -Jährigen der Schlacht auf den Feldern um Gravelotte erhielt ich den Auftrag für einen kurzen Film. Unter der (Stichwort-)Eingabe „ Himmeldonnerwetter. Ein Film von Alfred Gulden “ ist er auf YouTube zu sehen. (URL: https: / / www.youtube.com/ watch? v=fZnfmbYsOWA, zuletzt abgerufen am 10. Januar 2022) Eine OSTERREISE Theodor Fontane nach zu den Schlachtfeldern von 1870/ 71 161 <?page no="162"?> Passagen herausgegeben von Sikander Singh und Hermann Gätje Die am Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Universität des Saarlandes herausgegebene Reihe eröffnet Perspektiven auf die deutsche Literatur im europäischen Kontext. Weil das literarische Kunstwerk im Dialog mit literarischen Texten anderer kultureller Überlieferungen entsteht, tragen intertextuelle, komparatistische sowie kulturvergleichende Studien wesentlich zu einem vertieften wissenschaftlichen Verständnis des Wechselspiels der Literaturen und literarischen Traditionen bei. In diesem Sinne befragen die Sammelbände und Monographien der Reihe die Literaturen Deutschlands auf ihren Bezug auf andere europäische Literaturen. Bisher sind erschienen: Band 1 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Konjunktionen - Yvan Goll im Diskurs der Moderne 2017, 214 Seiten €[D] 49,99 ISBN 978-3-7720-8606-9 Band 2 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Grenze als Erfahrung und Diskurs Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen 2018, 227 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8638-0 Band 3 Hermann Gätje / Sikander Singh Studien zu Leben und Werk von Gustav Regler 2018, 186 Seiten €[D] 59,99 ISBN 978-3-7720-8658-8 Band 4 Ralf Georg Bogner / Sikander Singh (Hrsg.) Theobald Hocks Schönes Blumenfeldt (1601) Texte und Kontexte 2019, 490 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8678-6 Band 5 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Das geistige Straßburg im 18. und 19. Jahrhundert 2020, 178 Seiten €[D] 69,90 ISBN 978-3-7720-8703-5 Band 6 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) Identitätskonzepte in der Literatur 2021, 329 Seiten €[D] 79,90 ISBN 978-3-7720-8722-6 Band 7 Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.) 1870/ 71 - Literatur und Krieg 2022, 162 Seiten €[D] 59,90 ISBN 978-3-7720-8754-7 <?page no="163"?> ISBN 978-3-7720-8754-7 Im Vorfeld wie in der Folge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/ 71 entstand auf deutscher wie auf französischer Seite ein polyphoner Chor lyrischer, erzählerischer und dramatischer Stimmen, die den politischen Konflikt, die patriotischen und nationalistischen Diskurse, die Kampfhandlungen und ihren Verlauf, die ökonomischen und sozialen Auswirkungen des Krieges und nicht zuletzt seine Folgen im Hinblick auf das Leben des einzelnen Menschen wie die Gesellschaft thematisieren. Der Band beleuchtet Darstellungsformen, Repräsentation und Inszenierung von Krieg und Kriegserlebnis. Literarische Zeugnisse werden im Hinblick auf die Entwicklung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen. Voraussetzungen und Bedingungen, die der Krieg für spätere Tendenzen, wie Naturalismus, Expressionismus oder Heimatkunstbewegung, gegeben hat, werden untersucht. PASSAGEN. LITERATUREN IM EUROPÄISCHEN KONTEXT www.narr.de