Primitivistische Künstlerfiguren im Expressionismus
Der Echoraum von Gauguins „Going native” bei Carl Einstein, Carl Sternheim und Robert Müller
0516
2022
978-3-7720-5762-5
978-3-7720-8762-2
A. Francke Verlag
Ladina Fessler
10.24053/9783772057625
Gottfried Benns Künstlerfigur lässt sich ein Pferdeauge implantieren, um neue Kunst zu schaffen. Robert Müllers Protagonisten "verwildern" im guyanischen Urwald und bringen im Delirium eine Kunsttheorie hervor, die Gewalt und Tod ästhetisiert. Carl Einstein propagiert die unerreichbare "Negerplastik", bei deren Imitation die zeitgenössischen primitivistischen Künstler:innen nur scheitern können. Die vorliegende Studie analysiert das "Going native" von Paul Gauguin in der Südsee und die Künstlerfiguren und theoretischen Texte der expressionistischen Generation, die diesem grossen Vorbild Tribut zollen. Die Texte diskutieren das Dilemma des "Verwilderns" und die Möglichkeiten künstlerischer Grenzgänge.
<?page no="0"?> Primitivistische Künstlerfiguren im Expressionismus Ladina Fessler Der Echoraum von Gauguins „Going native“ bei Carl Einstein, Carl Sternheim und Robert Müller N° 101 <?page no="1"?> Primitivistische Künstlerfiguren im Expressionismus <?page no="2"?> Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Heike Behrens, Nicola Gess, Alexander Honold, Martin Luginbühl und Ralf Simon Band 101 <?page no="3"?> Ladina Fessler Primitivistische Künstlerfiguren im Expressionismus Der Echoraum von Gauguins „Going native“ bei Carl Einstein, Carl Sternheim und Robert Müller <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057625 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Dissertationenfonds der Universität Basel und des Max-Geldner Fonds der Philosophischen Fakultät der Universität Basel. © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0067-4508 ISBN 978-3-7720-8762-2 (Print) ISBN 978-3-7720-5762-5 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0174-1 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="7"?> 11 13 13 29 1 41 1.1 47 1.1.1 47 1.1.2 54 1.1.3 62 1.1.4 72 1.2 76 1.2.1 76 1.2.2 81 2 93 2.1 94 2.1.1 94 2.1.2 98 2.1.3 103 2.2 112 2.2.1 115 2.2.2 118 2.2.3 121 2.2.4 132 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlage und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gauguins „Going native“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Legende vom „wilden“ Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . Realität und Vision des „Going native“ . . . . . . . . . . . . . . Die Südsee als kompiliertes Paradies . . . . . . . . . . . . . . . Der Primitivismus als „Kunstort der Avantgarde“ . . . . Das „Going native“ in Noa Noa (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrstimmigkeit und Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . Close reading. Gauguin als „Wilder wider Willen“ . . . . Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 . . . . . . . . . . . . Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland . . . . . . . . Das „primitivistische System“ der französischen Symbolisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Französische Moderne und „neue Wilde“ in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrenzung der Entgrenzung: Paul Gauguin in Julius Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der „Exotismus zweiten Grades“: Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essai sur l’exotisme (1904/ 1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gauguin als Monster und „Exot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gauguin dans son dernier décor (1904) . . . . . . . . . . . . . . Exotismuskritik und Utopie der Kunst . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 2.3 135 2.3.1 136 2.3.2 140 2.3.3 148 2.3.4 154 2.3.5 159 2.4 171 3 179 3.1 180 3.2 189 3.2.1 190 3.2.2 194 3.2.3 197 3.3 202 3.3.1 204 3.3.2 218 3.4 230 3.4.1 231 3.4.2 243 3.4.3 254 3.4.4 259 4 271 275 275 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auftakt: „Negrieren“ in Brüssel 1916/ 1917 . . . . . . . . . . . Entstehungszusammenhang und Wirkung der Negerplastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der Kunstkritik Einsteins in den 1910er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einsteins „primitives“ Kunstprogramm . . . . . . . . . . . . . Die Negerplastik als interkulturelle Kunsttheorie . . . . . Rückblick und Ausgangspunkt für die Analyse der literarischen Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus . . . . . Brüssel 1916/ 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) . . . . . . . . . . . . . . . Pameelen. Scheiternde Regression des Vermessungsdirigenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Picasso. Die Regression des primitivistischen Künstlers Erodierende Gegenfiguren, verschränkte Monströsitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunsteuphorie und -programmatik. Die Künstlererzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gauguin und van Gogh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) . . . . . . . . . Künstlerfiguren und „neues Sehen“ im Tropen-Roman Rezeptionsgeschichte des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . Exotismus, Anti-Primitivismus und „neues Sehen“ . . . Exklusive primitivistische Künstlergemeinschaft und Roroschkin der „Malererfinder“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 276 280 295 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhalt <?page no="11"?> Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel am 24. 5. 2017 als Dissertation angenommen. Betreut wurde sie von Prof. Dr. Alexander Honold vom Deutschen Seminar und Prof. Dr. Ralph Ubl vom Kunsthistorischen Institut der Universität Basel. Sie entstand im Rahmen eines Sinergia-Projekts des Schweizerischen Nationalfonds, einer Kooperation der Universtität Basel und des Zentrums der Geschichte des Wissens der ETH Zürich. Unter dem Titel „Imitation - Assimilation - Transformation. Epistemo‐ logien, Praktiken und Semantiken der Anverwandlung in der Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts“ versammelte das Projekt mehrere Promotions- und Forschungsvorhaben. Für die Kontakte und Anregungen, die dieser Verbund bot, bin ich sehr dankbar. Meinen Betreuern, Prof. Dr. Alexander Honold und Prof. Dr. Ralph Ubl danke ich für Ihre fachliche und kollegiale Unterstützung. Für die finanzielle Unterstützung in der Abschlussphase der Dissertation bin ich dem Forschungsfonds der Universität Basel sowie der Mathieu-Stiftung Basel für die finanzielle Unterstützung zu grossem Dank verpflichtet. Bedanken möchte ich mich auch beim Dissertationenfonds der Universität Basel sowie dem Max Geldner-Fonds, die mit grosszügigen Druckkostenbeiträgen die Drucklegung der Dissertation ermöglichten. Meinen Freund: innen und Bürokolleg: innen Martina Klemm, Cyrill Feigenwinter, Fabian Grossenbacher, Nina Schimmel, Lukas Gloor, Julia Klebs und Rebecca Lötscher danke ich herzlich für Ihre An‐ regungen, Ablenkungen und Lektoratsarbeiten. Speziellen Dank geht an meine Freundin Bettina Braun für Ihre fruchtbare kritische Lektüre und Gespräche über meine Arbeit, an meine Eltern und Geschwistern für Ihre Ermunterungen und ihren Rückhalt und besonders an meine Lieben, Felix, Rosanna, Dimitri und Arno. Februar 2022 Ladina Fessler <?page no="13"?> 1 Hevesi, Ludwig [1909]. Altkunst - Neukunst. Wien 1894-1908. Reprint (1986). Breicha, Otto (Hrsg.). Klagenfurt: Ritter Verlag, 313. 2 Breuer, Rudolf (Lucian Friedlaender). In: Vorwärts, Berlin 1913, vgl. Herwarth Waldens Reaktion: Walden, Herwarth. Nachrichtung. In: Der Sturm, 4.Jg., Heft 182-183, Oktober 1913, 114, bzw. Presseschau (s. u.). 1917 porträtiert Walden Robert Breuer zusammen mit Karl Scheffler und Franz Servaes als Prototypen schlechter Kunstkritik, s. Walden, Herwarth (1917). Kritiker. Tragikkomödie in drei Personen. In: Der Sturm. 8. Jg., H. 6, 88. Zur „Antikritik“ Waldens allgemein s. Kunzelmann, Petra (2010). „… ich fordere die abstrakte Verwendung der Kritiker“. Kurt Schwitters und die Kunstkritik. Dissertation Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Abrufbar unter: nbn-resolving.o rg/ urn: nbn: de: bvb: 29-opus4-48407 (Stand: 01. 02. 2022). Einleitung Das Bild, das dieser Studie voransteht, stammt von Oskar Kokoschka. Es ist ein expressionistisches erweitertes Selbstporträt von 1923 mit dem Titel „Der Maler und sein Modell II“. Es fällt insbesondere durch die plakative Verwendung von Grundfarben und die Inszenierung der Hände auf und offenbart erst auf den zweiten Blick seine narrative Mehrschichtigkeit. Kokoschka zeigt sich bei der Herstellung eines ,wilden‘ Selbstbildnisses, das als Kommentar zum „Primitivismus“ der 1910er Jahre gelesen werden kann: Das Bild auf der Staffelei entspricht einem seiner frühen Selbstporträts aus den 1910er Jahren, der Periode seines Auftretens als „Oberwildling“ 1 (s. Abb. 26). Es ist ein doppeltes Selbstporträt, ein Grenzen sprengendes, mit Verweisen spielendes Künstlerbildnis, das durch den Einbezug der Frau, die Blicke aus dem Bild hinaus und den hintersinnigen Titel die (Selbst-)Bespiegelung potentiert. Eine ähnliche „primitivistische“ Selbstbespiegelung zeichnet auch die literarischen „primitivistischen“ Künstlerfiguren aus, die in dieser Studie vorgestellt werden. Grundlage und Fragestellung „Man braucht nur die Titel all dieser tollwütigen Pinseleien zu lesen, um zu wissen, dass es sich hier wirklich nicht um Malerei, sondern um Kaffeehaus‐ literatur handelt.“ 2 Diese Aussage des Kunstkritikers Robert Breuer in seiner Rezension des Ersten Deutschen Herbstsalons (1913) im Dresdner Vorwärts ist unüblich. Wohl entspricht dieser Auszug der gängigen Schmähung moderner Kunst und es wird mit dem Bild des tollwütigen Künstlers das eingefahrene Argument psychischer und physischer Devianz aufgerufen, um die „primitivis‐ <?page no="14"?> 3 Der Künstler wird in der bürgerlichen Presse und Öffentlichkeit vielfach als psychisch Kranker dargestellt und seine Randständigkeit damit auf die Spitze getrieben. In den Rezensionen, die der Sturm abdruckt (s. u.), ist beispielsweise von der „Neuste[n] Kunsterkrankung“ die Rede, von „Verworrenheit der Psyche“ und dem „gemalte[n] Wahnsinn“ der Künstler, der Herbstsalon wird als „Gemäldegalerie eines Irrenhauses“ beschrieben. 1913 bezeichnet das deutsche Parlament nach dem Dafürhalten von 443 Abgeordneten die moderne Kunst nach Art der „Wilden“ und Kinder offiziell als krankhaft. Vgl. Middleton, J.C. (1971). The Rise of Primitivism and its Relevance to the Poetry of Expressionism and Dada. In: The Discontinous Tradition. Studies in German Literature in Honour of Ernest Ludwig Stahl. Ganz, P. F. (Hrsg.). Oxford: Clarendon Press, 182-203. Hier 193. 4 Der öffentliche Diskurs wird von konservativen Intellektuellen beherrscht und ist von der Polemik der Hierarchisierung der Kulturen geprägt, s. Cescutti, Tatiana (2014). The Reception of Futurism in France, 1909-1912. In: The International Yearbook of Futurism Studies Bd. 4. Berghaus, Günter (Hrsg.). Berlin/ Boston: De Gruyter, 117-133. Hier 125. 5 Vgl. Lüttichau von, Mario-Andreas (2012). „Uns ist nicht das Leben die Kunst. Aber die Kunst das Leben“. Der Erste Deutsche Herbstsalon im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. In: Der Sturm. Zentrum der Avantgarde. Ausst.kat. van der Heydt-Museum Wuppertal Bd. 2. Hülsen-Esch, Andrea et al. (Hrsg.). Wuppertal, 243-250. tischen“ Tendenzen in der neuesten bildenden Kunst zu beschreiben. 3 Dennoch: Hier steht als primäre Referenz des neuen Kunstverständnisses, das meist über sehr konkrete Imitationsverhältnisse gedacht wurde, für einmal dem bildenden Künstler kein „primitiver“ Indigener, „Wilder“ oder gar Affe gegenüber. Es wird kein exotisches, „rassisch minderwertige[s]“ 4 Gegenüber aufgerufen, sondern der Kaffeehaus-Literat. Dass jener in den 1910er-Jahren jedoch nicht die erste Referenz für die Beschreibung „primitivistischer“ Kunst ist, zeigt diese Presse‐ schau im Sturm (s. insbesondere den Abschnitt rechterhand unter dem Titel „Lexikon der deutschen Kunstkritik“): 5 14 Einleitung <?page no="15"?> Abb. 1: Die Presse und der Herbstsalon. Eine Gegenüberstellung/ Lexikon der deutschen Kunstkritik. In: Der Sturm, Nr. 182/ 183 (1913) „Bunthäutige Tölpel“, „Neger im Frack“, „Hottentotten im Oberhemd“, „Horde farbspritzender Brüllaffen“, „Malbotokuden“ - Die kunstkritische Blütenlese, die Herwarth Walden im Oktober 1913 zum Anlass des Ersten Deutschen Herbstsalons sammelt, vermag schön aufzuzeigen, dass die meisten und prä‐ 15 Grundlage und Fragestellung <?page no="16"?> 6 Schultz, Joachim (1995). Wild, irre und rein. Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940. Giessen: Anabas. Der konservative Kunstkritiker Fritz Stahl bezeichnete die „neueste Kunstmode“ als „Niggerei“, vgl. Walden, Herwarth (1916). Kunstvermittler. Der Kauka‐ sier. In: Der Sturm. 6. Jg. H. 3, 32-35. 7 Nordau, Max [1892/ 93]. Entartung. 2 Bde., Berlin 1903, hier Bd. 2, 551, zit. n. Anz, Thomas (2007). Thesen zur expressionistischen Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Becker, Sabina/ Kiesel, Helmuth (Hrsg.). Berlin/ N.Y.: De Gruyter, 329-346. 8 Walden, Herwarth (1924). Einblick in die Kunst. Futurismus, Kubismus. Berlin: Verlag der Sturm, 36. 9 Vgl. Schultz 1995, 149-154. Zur „Wildheit“ der Künstler der Moderne, deren Suche nach dem Ursprung als Anknüpfung an eine „Traumzeit“ (Eliade) beschrieben werden kann, s. Heinrichs, Hans-Jürgen (1995). Wilde Künstler. Über Primitivismus, art brut und die Trugbilder der Identität. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 29-48. gendsten Bilder und Bezeichnungen für den ‚neuen‘ Künstlertypus auf die „primitive“ Kunst und Kultur indigener Stammesgesellschaften referieren. 6 Die Bezugsetzung, die im übrigen auch der oben genannte Kunstkritiker Robert Breuer einsetzt, funktioniert in den negativen Polemiken nach der rassendeter‐ ministischen Logik der konservativen Modernekritik eines Max Nordau. Dieser polemisierte in seiner populären Schrift Entartung (1892/ 93) gegen die kranke Gegenwartskunst und charakterisierte die Künstler als „Wilde“: Sie lallen und stammeln statt zu sprechen. Sie stossen einsilbige Schreie aus, statt grammatikalisch und syntaktisch gegliederte Sätze zu bauen. Sie zeichnen und malen wie Kinder die mit unnützen Händen Tische und Wände beschmutzen. Sie machen Musik wie die gelben Menschen Ostasiens. Sie mischen alle Kunstgattungen durch‐ einander und führen sie zu den Urformen zurück, die sie hatten, ehe die Entwicklung sie differenziert hat. 7 Bekanntlich teilt die moderne und avantgardistische Gegenseite diese Logik der Devianz nicht. Für deren Visionen des modernen „Künstler ausserhalb der Zeit“ 8 (Herwarth Walden) ist die Auseinandersetzung mit der aussereuropäischen „primitiven“ Kunst und Kultur jedoch zweifellos zentral. Viele Künstler/ innen der 1910/ 1920er-Jahre lassen sich von indigener Kunst inspirieren und wollen zum „Wilden“ werden. 9 Franz Marc bezeichnet die Expressionisten im Almanach des Blauen Reiters als „Wilde Deutschlands“. Mit seinen Mitstreitern ruft er darin gleichsam zu einer Transformation zum „Wilden“ auf. Von Paul Gauguin über den einsamen alten Paul Cézanne, der sich selbst um 1903 als „Primitiver“ einer neuen Kunst bezeichnet („le primitif d’un art nouveau“), zu August Strindberg, von dem überliefert ist, dass Gauguin in ihm den Drang ausgelöst hat, ebenfalls zum „Primitiven“ zu werden und eine neue Welt zu kreieren, zu 16 Einleitung <?page no="17"?> 10 Zum Wortfeld des „Primitiven“, „Wilden“ und „Barbarischen“ s. Schultz 1995, 204 f.; hier 205. Zum Konzept des Barbaren, s. bspw. Hermann Bahr in seiner einflussreichen „Expressionismus“-Monographie (1916): „Die Leute wissen gar nicht, wie recht sie haben, wenn sie zu spotten meinen, dass diese Bilder „wie von Wilden“ gemalt sind. Die bürgerliche Herrschaft hat aus uns Wilde gemacht. Andere Barbaren, als Rodbertus einst fürchtete, drohen ihr: wir selber alle müssen, um die Zukunft der Menschheit vor ihr zu retten, müssen Barbaren sein.“ 11 Vgl. Nicola Gess’ Definition des „Primitivismus“ in der Einleitung zum Sammelband Literarischer Primitivismus von 2013: Gess, Nicola (2013). Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs. In: Literarischer Primitivismus. Dies (Hrsg.). Berlin: De Gruyter, 1-10. Gess bezeichnet das „Primitive“ als ein multidisziplinäres Pa‐ radigma zur Bestimmung „dreier Anderer der modernen Gesellschaft“, der sogenannten „Naturvölker“, der Kinder und der Geisteskranken. Mit Verweis auf Gaston Bachelard und Erich Hoerl spricht sie vom „Primitiven“ als einem „Poem“ und einem „Denkzwang der Zeit“, was insbesondere in der Analogienbildung zwischen den drei Figuren des „Primitiven“ evident wird. Das „Primitive“ ist insofern als „Denkfigur“ zu begreifen, als dass für alle drei Figuren analoge Konzepte eines alogischen Denkens formuliert werden. Begrifflich bestimmten die am Diskurs beteiligten Disziplinen dieses alogische Denken wahlweise als magisches, mythisches, prälogisches oder mystisches Denken. den Futuristen, Expressionisten und Dadaisten - viele Künstler der Moderne sprechen über ein Ziel der „Verwilderung“. Eine wichtige Referenzfigur ist Ihnen dabei Arthur Rimbaud, der ein „primitives Vaterland“ („patrie primitive“) besang und dessen Ausspruch „je suis une bête, un nègre“ viele avantgardistische „Verwilderungen“ in Kunst und Literatur inspirierte. Joachim Schultz fasst in seinem Wörterbuch zum „Primitivismus“ folgendermassen zusammen: „Ein wildes Leben war für viele Schriftsteller und Künstler in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Grundbedingung für eine neue Kreativität.“ 10 Diese „Grundbedingung“ eines „wilden Lebens“ fand bekanntlich unterschied‐ liche Auslegung und Umsetzung. Die Künstler orientierten sich an einem äußerst dehnbaren Begriff und Konzept „primitiven“ Lebens, Kultur und Kunst und bezogen sich nicht nur auf aussereuropäische Kunst und Kultur, sondern auch auf europäische Volkskunst, Kunst von Kindern und psychisch Kranken. 11 Es ist unbestritten, dass sich der „Primitivismus“ nicht in einem einfachen interkulturellen Imitationsverhältnis erschöpft, wie es viele Bilder für den modernen Künstler suggerieren. Rudolf Breuer fokussiert bei seiner beiläufig geäusserten Verknüpfung des bildkünstlerischen „Primitivismus“ mit der Literatur auf den europäischen Künstler und argumentiert inneravantardistisch. Er fasst die Entwicklung der Kunst nicht aus der interkulturellen Perspektive und stellt das Schema der Beeinflussung im „Primitivismus“ auf den Kopf, indem er die Malerei von der Literatur her betrachtet. Auch die vorliegende Studie nähert sich dem „Primiti‐ vismus“ über eine inneravantgardistische Perspektivierung: Sie fragt nach der 17 Grundlage und Fragestellung <?page no="18"?> 12 Sinergia-Projekt des Schweizerischen Nationalfonds, Kooperation des Zentrums der Geschichte des Wissens (ZGW) der ETH Zürich und dem Deutschen Seminar der Universität Basel (2010/ 2014). 13 Zweites Dissertationsprojekt im Teilprojekt: Cyrill Feigenwinter (Arbeitstitel): Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn: Poetik der ethnographischen Anverwandlung. Rezeption des bildkünstlerischen „Primitivismus“ in der expressionistischen Literatur der 1910er und 1920er-Jahre und nimmt diesen im Spiegel der Literatur in den Blick. Im Zentrum der Untersuchung stehen fiktive „primitivistische“ Künstlerfiguren. Ursprünglich orientierte sich die Studie an konventionellen interkulturellen und intermedialen Fragestellungen. Ich fragte: Inwiefern entsteht die avantgar‐ distische Kunst - im spezifischen Fall die expressionistische Literatur - aus der Anverwandlung und Aneignung der sogenannten „primitiven“ Kunst, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts so verehrt wurde? Welcher Art sind die Aneig‐ nungsstrategien der Künstler und wie manifestieren sich die interkulturellen Verhältnisse in der Literatur? Solche Fragen, die auf die interkulturelle Anver‐ wandlung zielen, waren für die „Primitivismus“-Forschung lange massgebend. Auch für den Forschungszusammenhang, in welchem die Dissertation entstand, standen solche konventionellen Fragen nach der interkulturellen Interaktion im Vordergrund. Das interdisziplinäre Sinergia-Projekt Imitation - Assimilation - Transformation 12 des Schweizerischen Nationalfonds, der Erforschung von „Epistemologien, Praktiken und Semantiken der Anverwandlung in Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts“ verschrieben, richtete die Aufmerksamkeit auf die Beschreibung der Formen und Funktionsweisen mehr oder weniger konkreter interkultureller Zusammenhänge. Doch von dieser Perspektive auf die Prozesse von Aneignung hat sich das folgende Projekt mehr und mehr gelöst. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Rahmens der Studie war dabei das Basler Teilprojekt unter dem Titel „Poetik der Anverwandlung in der ethnographischen Situation“ 13 mit seinem dezidiert intermedialen und interdis‐ ziplinär formulierten Programm. Das Basler Projekt fokussierte die Problematik der Vermittlung der interkulturellen Konzepte und rückte die (intermediale) Reflexion der Prozesse der Anverwandlung ins Zentrum. Die Forschungsarbeit umgeht mit den literarischen Künstlerfiguren die klas‐ sischen Fragen der kunsthistorischen „Primitivismus“-Forschung nach Art und Grad der jeweiligen künstlerischen Anverwandlung aussereuropäischer Kunst. Auch schlägt sie nicht die typischen Pfade der Forschung zum literarischen „Primitivismus“ ein. Es wird in der Studie nicht aufgezeigt, was parallel zum bildkünstlerischen „Primitivismus“ in der Literatur geschieht und dezidiert nicht nach der Aneignung fremder Kunst und „primitiven“ Denkens in der Literatur 18 Einleitung <?page no="19"?> 14 Die literaturwissenschaftliche Forschung orientierte sich in der Vergangenheit am begriffsbildenden bildkünstlerischen Primitivismus und dessen Forschungstradition. Sie argumentierte oft objektbezogen und klassifizierte diesem engen Verständnis von „Primitivismus“ entsprechend lediglich Texte mit expliziter Aneignung auf sprachlicher Ebene (wie beispielsweise die dadaistischen Lautgedichte) als „primitivistisch“. Insbe‐ sondere über die postkoloniale und feministische Forschung fand hier ein Umdenken statt. Eine Perspektivverschiebung „von Artefakten auf Kulturen, beziehungsweise auf andere Weisen des Denkens und den daraus hervorgehenden Weltanschauungen für die Literatur“ zeichnete sich ab. Über diesen theoretischen Ausgangspunkt herrscht heute in der Forschung Einigkeit. Vgl. Gess 2013, 3. 15 Neueste Überblicksdarstellungen wie der oben erwähnte Sammelband Literarischer Primitivismus lösen sich vom engen kunsthistorischen Begriffskorsett des bildkünst‐ lerischen „Primitivismus“ und orientieren sich für die Beschreibung des literarischen „Primitivismus“ an der Referenz „primitiven Denkens“ (Gess 2013, 3 ff.). Trotzdem fällt auf, wie das Übertragbarkeitsproblem des Primitivismus im Sammelband nach wie vor virulent ist und mittels schematischer Gegenüberstellung von Kunst und Literatur geführt wird (Vgl. ebd., 2 ff.; 15-17; 131). Das Problem der Übertragung des kunsthistorischen Begriffs auf die Literatur wird dabei oft auf das Problem der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Medien reduziert. Trotz Erweiterung des Referenzobjekts werden die jeweiligen medialen Bedingungen als ausschlaggebend betrachtet. Der Zugang der Literatur zum „Primitiven“ wird qua Sprachbarriere als beschränkt beschrieben. Diese etwas kurzsichtige mediale Gegenüberstellung für das intermediale Phänomen „Primitivismus“ überrascht, zumal die postkoloniale Kritik für die komplexe Natur der „primitivistischen“ Aneignungsprozesse (sowohl auf interkul‐ tureller als auch intermedialer Ebene) sensibilisiert, und die Kunstgeschichte sich längst von den objektbezogenen älteren Darstellungen entfernt hat. 16 Im Folgenden ist bewusst nur vom männlichen Künstler die Rede. Diese Handhabung wird dem verschwindend geringen Anteil an Frauen im „Primitivismus“ gerecht und ist den Geschlechterkonventionen der „primitivistischen“ Kunst in Rechnung gestellt. Der Geschlechtertypologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprechend steht die Frau der „primitiven“ Natur, den ursprünglichen Glaubenswelten und allgemein „pri‐ mitiven“ Seiten des Lebens nahe und ist damit das zentrale „Objekt“ „primitiv(istisch)er“ Visionen. 17 Die Reichweite dieser extremen Aneignung beschreibt Hannes Böhringer folgender‐ massen: „In den Ateliers der Fauvisten, Kubisten, Expressionisten liegen Negerplas‐ gefragt. Sie beschäftigt sich nicht mit dem spezifischen Referenzobjekt des literarischen „Primitivismus“ 14 , insbesondere nicht mit dem „Übertragbarkeits‐ problem“ des bildkünstlerischen Begriffs auf die Literatur, das noch jüngste Überblicksdarstellungen zum literarischen Primitivismus in Anspruch nahm. 15 Untersucht wird hier ein spezifischer Ort intermedialer Auseinandersetzung in der Literatur: das literarische Sprechen über den „primitivierenden“ bildenden Künstler, die „primitivierende“ bildende Künstlerin. 16 Die literarischen Künstler‐ figuren interessieren als interkulturelle Reflexionsfiguren - als Manifestationen der Auseinandersetzung mit der meist als extrem imaginierten und inszenierten interkulturellen Anverwandlung im bildkünstlerischen „Primitivismus“. 17 19 Grundlage und Fragestellung <?page no="20"?> tiken, Masken, Fetische aus der Südsee. Sie liefern den Künstlern nicht nur formale Anregungen. Indem sich die moderne Kunst auf die sogenannte primitive Kunst bezieht, beansprucht sie, wie diese zu sein: Kunst, Religion und Philosophie in einem, Kunstreligion (Hegel), poetische Metaphysik (Vico), die ursprüngliche Einheit dieser drei“, vgl. Böhringer, Hannes (1992). Einfach werden. In: Carl Einstein. Negerplastik. Baacke, Rolf-Peter (Hrsg.). Berlin: Fannei u. Walz, 143-152. Hier 144. 18 Der europäische Künstler als Objekt im Blick des „primitiven“ Gegenübers wurde von einzelnen Theoretikern schon früh thematisiert, prominent in Julius E. Lips Studie aus den 1930er Jahren (The Savage Hits Back. Or The White Man Through Native Eyes, 1937). Für die deutschsprachige literaturwissenschaftliche Forschung und deren Blickerweiterung der Beeinflussungsbewegungen im „Primitivismus“ sind die Studien von Wolfgang Riedel und Erhard Schüttpelz ausschlaggebend (Homo natura. Literarische Anthropologie um 1900, 1996/ Die Moderne im Spiegel des Primitiven, 2005). Im Sammelband von Nicola Gess fasst Schüttpelz seine Forschung zusammen und beschreibt den literarischen „Primitivismus“ ausgehend von seiner Definition des „Pri‐ mitivismus“ als „Bumerangeffekt der Kategorie des Primitiven“, vgl. Schüttpelz, Erhard (2013). Zur Definition des literarischen Primitivismus. In: Literarischer Primitivismus. Gess, Nicola (Hrsg.). Berlin: De Gruyter, 13-28. Hier 21 ff. Die neueste Forschung zum literarischen Primitivismus öffnet das Subjekt/ Objekt-Organigramm des Primitivismus weiter. Vgl. Etherington, Ben (2018). Literary Primitivism. Stanford: Stanford University Press. 19 Öhlschläger, Claudia (2013). Abstraktion im Licht der Faszination. Wilhelm Worringer am Ort des Primitivismus. In: Literarischer Primitivismus. Gess, Nicola (Hrsg.). Berlin/ Boston: De Gruyter, 59-73. Öhlschlägers Skizze einer „Faszinationsgeschichte“ (insbe‐ sondere ihre Frage nach dem „Primitiven als Subjekt der Faszination“) bleibt diffus. Nichtsdestotrotz vermag sie die verschiedenen Stränge und Parteien des Primitivis‐ musdiskurses gut zu beschreiben und liefert fruchtbare Anknüpfungspunkte für den Forschungsdiskurs. Am Beispiel Worringers (der hier nicht als Künstlerfigur missver‐ standen werden soll) fokussiert sie darauf, aufzuzeigen, dass sich der „primitivistische“ Kunstdiskurs kontinuierlich in den Bereich des Mentalen verlagert. Über die europäi‐ Mit der Einnahme dieses Blickwinkels wird in dieser Arbeit dafür plädiert, das Phänomen „Primitivismus“ in der modernen Kunst als erweiterte „Faszi‐ nationsgeschichte“ zu lesen. In dieser kommt dem europäischen „primitivisti‐ schen“ Künstler als potentem Interpreten und Bildgenerator gegenüber dem Faszinations-‚Objekt‘ des/ der „Primitiven“ und der „primitiven Kunst“ nicht nur Subjektstatus zu. Der Künstler ist durch seine Aneignung, seine Verkörperung der „primitiven“ Phantasien seinerseits mehrfach als ‚Objekt‘ in die Geschichte des Paradigma des „Primitiven“ eingewoben. 18 Claudia Öhlschläger skizziert eine solche breitere „Faszinationsgeschichte“ des „Primitivismus“ im bereits zitierten Sammelband Literarischer Primitivismus von 2013 - ausgehend von der Beobachtung, dass das „primitivistische“ Erweckungserlebnis Wilhelm Worringers im Pariser Trocadéro weder von der „primitiven“ Kunst noch vom Ort für die „primitive“ Kunst herrührte, sondern von dessen Begegnung mit Georg Simmel - also dem europäischen Interpreten des „Primitiven“. 19 20 Einleitung <?page no="21"?> sche Akzentuierung des Phänomens „Primitivismus“ hinaus denken jüngste Beiträge zum „literarischen Primitivismus“, die den eingeschränkten literarischen Kanon mit Texten aussereuropäischer Autor: innen weiten. Vgl. Etherington 2018. 20 Zur Vorbildfunktion „primitiver“ Kunst, zur gewaltsamen Aneignung der Kunst im „Primitivismus“ und zur eurozentrischen Kunstgeschichtsschreibung, s. Clifford, James (1988). Histories of the Tribal and the Modern. In, Ders.: The Predicament of Culture: Twentieth-century Ethnography, Literature and Art. Cambridge MA/ London: Harvard University Press, 189-214. Price, Sally (1989). Primitive Art in Civilized Places. Chicago: University of Chicago Press. Därmann, Iris (2013). Primitivismus in den Bildtheorien des 20. Jahrhunderts. In: Literarischer Primitivismus. Gess, Nicola (Hrsg.). Berlin: De Gruyter, 75-92. Hier 75ff. 21 Zur Entstehungsgeschichte und Problematisierung des Begriffs „Expressionismus“, s. Anz, Thomas (2010). Literatur des Expressionismus. Stuttgart: Metzler, 2-11. Anz 2007, 329-346. Im Folgenden wird zeitlich argumentiert: die Autoren werden als Vertreter des „expressionistischen Jahrzehnts“ bzw. der „expressionistischen Moderne“ apostrophiert. Gelegentlich wird der Begriff jedoch auch zur stilistischen Bezeichnung benutzt. Gerechtfertigt werden kann der Gebrauch des ungenauen Stil- und Zeitbegriffs, da er als Überbegriff der damaligen neuesten Kunsttendenzen sowohl in der Literatur als auch in der Kunst gebräuchlich war, obwohl sich viele Autoren weigerten, ihn auf sich selbst anzuwenden. Die rezeptionshistorische, inneravantgardistische Anlage der vorliegenden Arbeit trägt dem „Primitivismus“ als eurozentrischem Phänomen Rechnung. Sie nimmt die selbstbezügliche Seite der Kunstströmung ernst. Allerdings reproduziert sie gleichzeitig die eurozentrische Perspektive und vernachlässigt zwangsläufig Fragen nach der gewaltsamen Aneignung fremder Kultur und nach den kolonialpolitischen Bedingungen und Konsequenzen des „Primiti‐ vismus“. Das Ziel der Arbeit ist jedoch über die inneravantgardistische Selbstbe‐ fragung dem interkulturellen „primitivistischen“ Diskurs näherzukommen. Die literarischen Künstlerfigurationen werden als konkrete Hintertür verstanden, um die konventionellen Fragen nach der Vorbildfunktion „primitiver“ Kunst und „primitiven“ Denkens für die moderne und avantgardistische europäische Kunst, die Fragen nach der Art der Aneignung sowie der interkulturellen Konstellation neu zu stellen. 20 Es wird davon ausgegangen, dass die Autor: innen mit den literarischen Künstlerfiguren (Selbst-)Reflexion über die modernen interkulturellen Prozesse betreiben. Die Arbeit konzentriert sich also bewusst auf einen spezifischen Ausschnitt des „Primitivismus“-Diskurses und fragt ex‐ plizit nicht nach „primitivistischen“ Texten. Gegenstand der Untersuchung sind Texte der expressionistischen Moderne, 21 die das Phänomen „Primitivismus“ mit der Darstellung „primitivistischer“ Künstlerfiguren diskutieren und die, so die These, für die Fragen nach der Aneignung zwischen den Kulturen und Medien und schließlich für die Definition eines „literarischen Primitivismus“ besonders aufschlussreich sind. 21 Grundlage und Fragestellung <?page no="22"?> 22 Hellens, Franz (1922). Bass-Bassina-Boulou. Paris: Rieder. Franz Hellens (Pseudonym Frédéric van Ermengems, 1881-1972) Roman wurde in Deutschland rezipiert, Stefan Zweig sprach vom „Roman eines Negergötzen“. In der Zwischenkriegszeit themati‐ sieren bspw. Claire Goll im Roman Der Neger Jupiter raubt Europa (1926) oder Walter Benjamin im Prosatext Die Kaktushecke (1933) die Wirkung „primitiver“ Kunstobjekte. 23 Im Folgenden wird bewusst nur die maskuline Form verwendet, dies wiederum aus dem Grund der Überpräsenz männlicher Autoren im Bereich des „literarischen Primitivismus“ allgemein und um dem entsprechend rein männlichen Textkorpus der vorliegenenden Arbeit im Besonderen Rechnung zu tragen. Das Interesse an der Figur des „primitivierenden“ Künstlers entstand aus der Beobachtung, dass der „Primitivismus“ von allen Seiten als extremer Aneignungs- oder Assimilationsvorgang imaginiert wurde, sowie der Beob‐ achtung, dass viele expressionistische Texte diesen Umstand reflektieren. In der expressionistischen literarischen Auseinandersetzung mit dem bildkünst‐ lerischen „Primitivismus“ geht es auch um die Aneignung „primitiver“ Kunst - ein schönes Beispiel hierfür ist der Roman Bass-Bassina-Boulou (1922) des Belgiers Franz Hellens, der sich um einen afrikanischen Fetisch dreht 22 - doch der Fokus der Expressionist: innen liegt klar auf dem „Verwildern“ des Künstlers. Gottfried Benn, Carl Sternheim oder Robert Müller, welche später ausführlich behandelt werden, aber auch Else Lasker-Schüler oder Albert Eh‐ renstein zeichnen extrem agierende Künstlerfiguren, die eine „primitivistische“ Anverwandlung betreiben, welche über die Kunst hinausgreift und Leben und Körper des Künstlers prägt. Damit reflektieren sie das neue Selbstverständnis des avantgardistischen Künstlers sowie die bürgerliche Kunstkritik mit ihren Bildern extremer Aneignung. Fragen drängen sich auf: Inwiefern positionieren sich die expressionistischen Autor: innen 23 mit diesen Darstellungen „verwil‐ deter“ bildender Künstler im „primitivistischen“ Diskurs? Welche Kunstkritik formulieren sie mit den literarischen Darstellungen des „Verwilderns“? Sind die Texte Primitivismuskritik und „primitivistische“ Praxis? Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass dort, wo die Literatur sich explizit mit dem bildkünstlerischen „Primitivismus“ auseinandersetzt, die kon‐ struktiven Beiträge der expressionistischen Autoren zum „primitivistischen“ Diskurs besonders gut fassen lassen müssen. Dies gilt insbesondere für die Künstlerfiguren, welche die Autoren meist wie angedeutet musterhaft extrem zeichnen. Die Künstler erscheinen als Kolonialisten, als Über-Exoten oder selbstzerstörerische Utopisten und scheitern meist grandios. Die These dieser Arbeit lautet, dass die Autoren mit diesen extremen, oft monströsen Künstler‐ figuren nicht nur Kritik an den Anverwandlungsstrategien der Bildkunst sowie den Vorstellungen der exoterischen Kunstkritik formulieren, sondern produk‐ tive Gegenentwürfe schalten. In ihrer Bestform lassen die hier untersuchten, 22 Einleitung <?page no="23"?> 24 Im Folgenden wird lediglich das „primitive“ und „wilde“ Objekt der Begierde des europäischen Primtivismus in Klammern gesetzt verwendet, der „primitivistische“ Teil des Wortfelds (vor allem aus Gründen der Lesefreundlichkeit) von diesen Klammern erlöst. 25 Schüttpelz 2013, 17ff. 26 Jack Flam fasst in der Einleitung seiner Primitivismus-Dokumentation folgendermassen zusammen: „After the first world war, Primitive art began to be gradually accepted into the larger canon of World Art“ - mit dem wichtigen Zusatz „though cultural and racial prejudice frequently confined it to ethnographic museums“, s. Primitivism and Twentieth-Century Art: A Documentary History (2003). Flam, Jack/ Deutch, Miriam (Hrsg.). Berkley: University of California Press, XV. Für einen illustrativen Überblick über die Prozesse der Popularisierung des Primitivismus s. Archer-Straw, Petrine (2000). Negrophilia: Avant-Garde Paris and Black Culture in the 1920s. London: Thames & Hudson. Zum Konnex des Entartungsdiskurses s. Hermand, Jost (1986). Artificial Atavism: German Expressionism and Blacks. In: Blacks and German Culture. Grimm Reinhold/ Jost Hermand (Hrsg.). Madison/ London: University of Wisconsin Press. 65-86. Frank, Michael C. (2013). Überlebsel. Das Primitive in Anthropologie und Evolutionstheorie des 20. Jahrhunderts. In: Literarischer Primitivismus. Gess, Nicola (Hrsg.). Berlin/ Boston: De Gruyter, 159-187. 27 Schüttpelz 2013, 15f. heuristisch als Künstlertexte apostrophierten Texte einen (selbst)kritischen „Primitivismus“ 24 erkennen. Dieser beleuchtet die intermedialen und -kultu‐ rellen Prozesse des „Verwilderns“ und trägt auch proto-postkoloniale Züge. Mit monströsen Künstlerfiguren wird die Unmöglichkeit des „Verwilderns“ oder „Going native“ (wie das primitivistische Ideal später begrifflich gefasst wird) des europäischen Künstlers demonstriert und ein „Going native“ ‚trotz allem‘ inszeniert. Diese These zur expressionistischen Künstlerfigur zwischen negativer und konstruktiver Kritik formuliere ich in Anlehnung an Erhard Schüttpelz. Schüttpelz orientiert sich zur Charakterisierung des literarischen Primitivismus an der Geschichte der modernen Ethnologie und Anthropologie. Er beschreibt die eng mit dem künstlerischen Primitivismus verschränkte moderne Geschichte der Disziplinen, in der Konstitution und Kritik des Primi‐ tivismus untrennbar miteinander verbunden sind und hält diesselbe Bewegung zwischen Konstitution und Kritik auch für die Literatur fest. 25 Im Fokus der Studie stehen literarische Texte der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, welche die Anfangsphase der intensiven künstlerischen und theoretischen Auseinandersetzung dokumentieren, bevor das „Primitive“ und mit ihm der Primitivist endgültig seinen Platz im künstlerischen und populärkulturellen Inventar der 1920er/ 30er Jahre findet. 26 Für die Literatur dieser Jahrzehnte kann zwar im Vergleich zur den Primitivismus begrifflich prä‐ genden Bildkunst keine „ähnlich prägnante Serie von literarischen Praktiken, literaturkritischen Kontroversen und ästhetischen Verallgemeinerungen“ 27 vor‐ 23 Grundlage und Fragestellung <?page no="24"?> 28 Goldwater, Robert John [1938]. Primitivism in Modern Art. Harvard: Harvard Univer‐ sity Press 1986, 274. Goldwater verweist mit „Picasso took over“ anerkennend auf frühere Beobachtungen von Wiliam Fagg. 29 Die „wechselseitige Abhängigkeit“ von Literatur und Kunst zeigen nicht nur die zahlrei‐ chen Doppelbegabungen des Expressionismus (Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, Wassily Kandinsky, Ernst Barlach, Alfred Kubin), vgl. Anz 2010, 150ff. 30 Vgl. Goddard, Linda (2012). Aesthetic Rivalries. Word and Image in France, 1880-1926. Bern: Peter Lang. „Interchange and Rivalry between the Arts“, 1-16. Vgl. Kap. 2.1.1. ausgesetzt werden, wie Erhard Schüttpelz festhält. Jedoch gibt es zweifellos eine literarische primitivistische Praxis und theoretische Auseinandersetzung. Die expressionistische Literatur partizipiert auf vielfältige Weise am primitivis‐ tischen Diskurs, in dessen Mittelpunkt nach der Jahrhundertwende der bildende Künstler steht. Wie Robert Goldwater es früh zusammengefasst hat, waren es die bildenden Künstler, die um die Jahrhundertwende den Diskurs um die „primitive“ Kunst und Kultur von der Anthropologie und Rassenpsychologie ‚übernehmen‘ und dem Begriff des Primitivismus den Stempel aufdrücken: It has been said […] that in 1905 Picasso and his friends „took over“ […]. From that date on, for several decades, the primitive arts were perforce viewed through the eyes of artists, with all the subjectivity, mistaken emphasis, and romantic speculation that this implied. 28 Für den deutschen Rahmen dieses in der Tat von Subjektivität, grosser Emphase und romantischen Vorstellungen geprägten künstlerischen Diskurses, der an die bildkünstlerischen Hauptakteure der Künstlervereinigungen der Brücke und des Blauen Reiters, sowie des Kontexts von Sturm und Aktion gebunden ist, gilt dasselbe wie für den französischen ,Mutterdiskurs’: er findet zeitgleich in Literatur und bildender Kunst statt. 29 Die Einflussnahme ist nicht einseitig von der Bildenden Kunst auf die Literatur zu denken, was auch der zeitgenössischen Kunstkritik auffiel, wie das Beispiel Robert Breuer zeigt. Für die Dynamik im Feld primitivistischer Kunst und Literatur kann allgemein festgehalten werden: Die Literatur ist ein nicht immer (und oftmals bewusst nicht) eindeutig einzu‐ ordnender Mitspieler im intermedialen und interdisziplinären primitivistischen Diskurs. Was den französischen Primitivismus-Diskurs auszeichnete, nämlich, dass er in den symbolistisch-exotistischen Anfängen gerade durch den Einsatz der Literaten und (literarischen) Kunstkritiker in der Presse seine Gestalt an‐ nahm, 30 hat auch für den späteren Diskurs in Deutschland Gültigkeit. Literatur, bildende Kunst, Kunstkritik und -theorie sind multidimensional verflochten und insbesondere die sehr diverse publizistische Kunstkritik entscheidet über den Verlauf des primitivistischen Diskurses. 24 Einleitung <?page no="25"?> 31 Vgl. Kap. 3.3.2. 32 Ball, Hugo. Kandinsky [1917]. Vortrag Galerie Dada, 7. April 1917, später integriert in Der Künstler und die Zeitkrankheit (1926). In: Ausgewählte Schriften (1984). Schlichting, Hans Burkhard (Hrsg.). Frankfurt a. M: Suhrkamp, 41-53. Hier 41. 33 Ehrenstein, Albert [1912/ 1926]. Arahar. In: Werke Bd. 2 (1991). Mittelmann, Hanni (Hrsg.). München: Boer, 173-181. Verfasst 1912, publiziert 1926 bei Rowohlt in: Ritter des Todes. Erzählungen 1900-1919 sowie in Das Kunstblatt (10/ 2 1926). 34 Eine ähnliche vermittelnde Rolle zwischen den Medien, Genres und Disziplinen wie Carl Einstein hat im französischen Kontext Guillaume Apollinaire eingenommen. Zur Verbindung von Literatur und Theorie im expressionistischen Jahrzehnt s. Jutta Müller-Tamm. Die Realität der Literatur. Zur Poetik und Prosa der frühen Moderne. In, Dies. (2005). Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in der Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i.B.: Rombach, 249-396. Auf die damaligen kunstkritischen Stimmen zur Gegenwartskunst sowie die Analysen im wissenschaftlichen Bereich nehmen die Literaten der expres‐ sionistischen Moderne in ihrem Sprechen über den primitivistischen Künstler mehr oder weniger explizit Bezug. Carl Sternheim setzt sich in seinem als primitivistisches Doppelporträt lesbaren Text Gauguin und van Gogh (1924) beispielsweise mit Julius Meier-Graefes populären Schriften auseinander oder mit Friedrich Markus Huebners Essay Die Belebung des Nichts aus der Tribüne der Zeit (1922). 31 Hugo Ball, der das expressionistische Jahrzehnt mit seiner Kritik am Expressionismus stark mitprägt, rezipiert Wilhelm Worringers primitivisti‐ sches Angst-Theorem 32 und Albert Ehrensteins Satire auf den Primitivismus, Arahar (1912/ 1926) 33 , karikiert den primitivistischen Künstler nicht nur in seiner Abhängigkeit vom Kunstmarkt, sondern auch von (pseudo)wissenschaftlicher Theoriebildung und Künstlermythologie. Besonders weit geht die Auseinander‐ setzung mit der primitivistischen Theorie jedoch bei Carl Einstein, der mit seinen Schriften eine programmatische Vermischung von Kunsttheorie und Literatur angeht. 34 Seine 1915 erschienene Negerplastik ist für die avantgardis‐ tische Theoretisierung des Primitivismus tonangebend. Der Text wird hier als einflussreiche Folie für die literarischen Konzeptionen gelesen und auf seine direkte Auseinandersetzung mit dem primitivistischen Künstler hin geprüft. Vorliegende Studie gibt immer wieder Hinweise auf diese Ebene der kunstthe‐ oretischen Auseinandersetzung. Sie deutet die grundsätzlichen Verschiebungen im kunsthistorischen und -kritischen Diskurs der Zeit an und macht auf den Wandel in der Wissenschaftssprache sowie den kolonialgeschichtlichen Zu‐ sammenhang aufmerksam. Die diskursgeschichtliche Anbindung kann jedoch lediglich panoramatisch vollzogen werden. Eine systematische Einordnung der Theorien des primitivistischen Künstlers kann die Arbeit nicht leisten. Eine um‐ fassende sozial- und diskurshistorisch fundierte Figurenstudie zum primitivisti‐ 25 Grundlage und Fragestellung <?page no="26"?> 35 Prägend sind die Texte und (Selbst-)Analysen Paul Gauguins, Vincent van Goghs, Henri Matisses u. a. Im Publikationsjahr des Almanachs gewinnt die Diskussion um die künstlerische Selbstverortung insbesondere auch durch die Kontroverse zwischen Franz Marc und Max Beckmann in Pan an Fahrt. Vgl. Schubert, Dietrich (1983). Die Beckmann-Marc-Kontroverse von 1912: „Sachlichkeit“ versus „Innerer Klang“. In: Expressionismus und Kulturkrise. Hüppauf, Bernd (Hrsg.). Heidelberg, 207-244. 36 So fasst Klaus H. Kiefer den Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung „primitiver“ Kunst im Primitivismus zusammen, s. Kiefer, Klaus H. (2012). Primitivismus und Modernismus im Werk Carl Einsteins und in den europäischen Avantgarden. In: Carl Einstein und die europäische Avantgarde, Berlin/ Boston: De Gruyter, 186-209. Hier 198. 37 Einstein, Carl [1933/ 1934, unpubl.]. Die Fabrikation der Fiktionen. Gesammelte Werke in Einzelausgaben (1973). Penkert, Sibylle (Hrsg.). Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 186. schen Künstler des Expressionismus müsste die ganze Palette der (Selbst-)The‐ matisierungen und Theorie des modernen Künstlers miteinbeziehen, um die Interferenzen von Kunstkritik und -theorie und Literatur abzubilden. Berühmte Beispiele programmatischer Selbstdarstellung und Analyse in Bild und Text - allen voran Wassily Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1911 und die theoretischen Texte des Almanachs Der Blaue Reiter (1912) 35 - müssten den Fremdbeschreibungen in Kunstkritik und Wissenschaft gegenübergestellt werden, um die literarischen Darstellungen in ihrer facettenreichen diskur‐ siven (insbesondere intermedialen und personellen) Verknüpfung ergründen zu können. Ferner gälte es, den kunstethnologischen Rahmen rund um die „äs‐ thetische Verwertung“ und „theoretische Nobilitierung“ 36 der Stammeskünste miteinzubeziehen, welcher das neue (Selbst-)Verständnis des europäischen Künstlers bestimmt. Die Brücken zum anthropologischen und rassentheoreti‐ schen, aber auch dem sozialpolitischen Diskurs der Zeit müssten hergestellt werden, die Bilder und Definitionen für das/ den „Primitive(n)“, den „primitiven“ Künstler und den primitivistischen Künstler ständig abgeglichen. Wenn man bedenkt, dass alle avantgardistischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhun‐ derts ihren Anteil am primitivistischen Diskurs hatten, vom Futurismus, der bekanntlich nicht bloss auf den Maschinenkult zu reduzieren ist, dem Kubismus und Expressionismus bis hin zu Dadaismus und Surrealismus - Carl Einstein redet in seiner Rückschau auf die Entwicklung der Avantgarden in Fabrikation der Fiktionen um 1933/ 1934 von einer generellen Flucht der Avantgarden „aus der Gegenwart in artistische Primitive“ 37 - so wird nochmals deutlicher, wie groß eine solche von der Forschung bisher nicht geleistete Arbeit projektiert werden müsste. Die Studie geht dementsprechend einseitig und punktuell vor. Der Diskurs über den Primitivisten wird anhand exemplarischer Lektüren rekonstruiert. Es wird keine Typologie angestrebt, sondern die Typologisierung einzelner 26 Einleitung <?page no="27"?> 38 Robert Goldwater beispielsweise redet von „distrust of all analytic control“ im Primiti‐ vismus, vgl. Goldwater 1986, 254. J. C. Middleton von der „revolt against reason“, vgl. Middleton 1971, 182. 39 Anz 2007, 330. Die Expressionisten wenden sich dezidiert gegen die literarischen Versuche „die Prozesse der Technisierung, Verwissenschaftlichung, Industrialisierung und Verstädterung […] in sich aufzunehmen“. 40 Zit. n. Zink, Jürgen (2005). Rotpeter als Bororo? Drei Erzählungen Franz Kafkas vor dem Hintergrund eines „literarischen Primitivismus“ um 1900. Inaugural-Disseration Uni‐ versität Würzburg, 45 f. Abrufbar unter: core.ac.uk/ download/ pdf/ 35084266.pdf (Stand: 02. 02. 2022). Worringer: „Erst nachdem der menschliche Geist in jahrtausendelanger Entwicklung die ganze Bahn rationalistischer Erkenntnis durchlaufen hat, wird in ihm als letzte Resignation des Wissens das Gefühl für das ‚Ding an sich‘ wieder wach. Was vorher Instinkt war, ist nun letztes Erkenntnisprodukt. Vom Hochmut des Wissens herabgeschleudert steht der Mensch nun wieder ebenso verloren und hilflos dem Weltbild gegenüber wie der primitive Mensch […].“ „Primitive Kunst“ ist bei Worringer 1908 nicht mit aussereuropäischer Kunst gleichzusetzen, vgl. Middleton 1971, 191; Zink 2005, 47. Zur expressionistischen Kunstgeschichtsschreibung vgl. Kap. 2.4. 41 Heymann, Walther (1911). Berliner Sezession 1911. In: Der Sturm Jg. 2, H. 68, 543. Autoren untersucht und dabei der Fokus auf die binnentextuelle Argumentation gelegt. Dieses Vorgehen ist insofern gerechtfertigt, als sich die intertextuelle Auseinandersetzung der ausgewählten Texte grösstenteils als oberflächlich erweist. Insbesondere gegenüber dem wissenschaftlichen Diskurs lassen die Literaten eine wenig genaue Rezeptionshaltung erkennen. Die Auseinanderset‐ zung mit kunsttheoretischen und -kritischen Texten dient meist dazu, sich radikal über diese hinwegzusetzen. Ihr Beitrag zum Diskurs liegt salopp gesagt ausserhalb des Fahrwassers der Theorien zur Gegenwartskunst und gründet unbedingt, so will die Arbeit vermitteln, in der Analyse des Künstlers und dessen „Going native“. Für den primitivistischen Diskurs allgemein trifft bekanntlich zu, dass er sich von den Tendenzen der Verwissenschaftlichung der Kunst in Naturalismus und Impressionismus distanziert; 38 und diese Abwendung wird von den Literaten der expressionistischen Moderne in der Regel kompromisslos weitergeführt. 39 Die Untersuchung der Künstlerfiguren kann gut aufzeigen, in welche Richtung die literarische Beschäftigung mit dem „primitiven“ „Ding an sich“ ausserhalb der „Hochmut des Wissens“ 40 (so Wilhelm Worringer 1908 in Abstraktion und Einfühlung) zielt. Theoriefern gibt sich die Literatur dabei aber auf keinen Fall. Sie lässt sich tendenziell ebenfalls von einem „Fanatismus der Theorien verwilder[n]“, wie Walther Heymann in einem frühen Sturm-Artikel in Bezug auf die expressionistische Bildkunst schreibt. 41 Die Arbeit fokussiert den explizitesten und am einfachsten zu fassenden Typus des primitivistischen bildenden Künstlers in der Literatur: den exoti‐ schen Primitivisten, Künstlerfiguren, die sich mit indigener Stammeskunst auseinandersetzen. Wie schon erwähnt, lässt sich der Primitivismus nicht 27 Grundlage und Fragestellung <?page no="28"?> 42 Dagen, Philippe (2010). Le peintre, le poète, le sauvage. Les voies du primitivisme dans l’art français. Paris: Flammarion, 9-1; 243-255. 43 Cocteau, Jean (1920). Opinion sur l’art nègre. In: Action. Cahiers de philosophie et de l’art Nr. 3, 23-26. Hier 24. Die Zeitschrift Action schaltete in dieser Nummer eine Befragung zur „Negerkunst“, an der diverse Intellektuelle, Autoren und Künstler teilnahmen (Guillaume Apollinaire, Paul Guillaume u. a.). 44 Williams, Rhys W. (1983). Primitivism in the Works of Carl Einstein, Carl Sternheim and Gottfried Benn. In: Journal of European Studies Nr. 13, 247-267. Hier 258. 45 s.o., Cocteau 1920, 24. Vgl. Cocteaus Reflexion über den Primitivismus in Cocteau, Jean [1945]. Poésie critique. Paris: Gallimard 1959, 21: „Rimbaud, Mallarmé sont devenus Adam et Eve. La pomme est de Cézanne. Nous porterons toujours le poids du peché originel.“ auf die Auseinandersetzung mit indigener Stammeskunst aus Übersee be‐ schränken und ist eigentlich treffender mit dem Begriff der „mode archa‐ ïsante“ 42 charakterisiert. Doch hier interessiert gerade die Darstellung des Künstlers in der interkulturellen Extremsituation. Wie fassen die Autoren die Auseinandersetzung der Künstler mit der „primitiven“ Stammeskunst und -kultur? Wie gestalten sie ihre „crise nègre“, 43 wie Jean Cocteau die exotische Form des Primitivismus im frühen Rückblick nennt? Welches Potential schreiben sie der extremen Exotik zu, die für viele Intellektuelle und Künstler vor und während des Krieges mehr als Mode war, sondern Mittel radikaler Entwürfe „alternativer modernistischer Ästhetik“? 44 Und vor allem: Wie wird das Ideal einer grenzüberschreitenden Annäherung an die fremde(n) Kultur(en) beschrieben? Wie nehmen die Autoren die „Verwilderung“ in den Blick, das von prominenten Künstlern propagierte „Going native“? Was bedeutet es, wenn Einstein und Andere schon früh den Primitivismus als oberflächliche Mode kritisieren? Welche interkulturellen Konzepte schreiben Erzähler und Theoretiker den Künstlern zu und wie positionieren sie sich gegenüber diesen Konzepten? Ein Diskussionspunkt ist für die Beantwortung obiger Fragekomplexe entscheidend: Unterscheiden die Texte zwischen Exo‐ tismus und Primitivismus und wenn ja, welchen Primitivismus beanspruchen sie für sich selbst? Die Autoren sind in ihrer Reflexion glücklicherweise ausführlicher als Cocteau, der 1922 auf seine Meinung zur afrikanischen Stammeskunst hin befragt, salopp antwortet: „La crise nègre est devenue aussi ennuyeuse que le japonisme mallarméen.“ 45 28 Einleitung <?page no="29"?> 46 Ball, Hugo [1927]. Die Flucht aus der Zeit (Tagebuch). Echte, Bernhard (Hrsg.). Zürich: Limmat Verlag 1992, 16. 47 Christoph Otterbeck redet von einem „selbstverständlichen und beiläufigen“ Exotismus in der europäischen Kunst und Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Otterbeck, Christoph (2007). Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau, 47. Zum Exotismus der Jahrhundertwende, im Besonderen zum Japonismus, der einen letzten Höhepunkt in den Jahren vor dem Krieg erlebte (Max Dauthendey, Bernhard Kellermann, Hermann von Keyserling u.a), s. Schepers, Gerhard (2006). Exotism in early twentieth-century German literature on Japan. In: Japanese-German Relations, 1895-1945. War, Diplomacy and Public Opinion. Spang, Christian W./ Wippich, Rolf-Harald (Hrsg.). N.Y.: Routledge, S. 98-116. 48 Wegner, Reinhard (1983). Der Exotismus-Streit in Deutschland. Zur Auseinanderset‐ zung mit primitiven Formen in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 152. 49 Im Zentrum der Analyse Middletons steht Kandinskys Primitivismus und der litera‐ rische Primitivismus im Hinblick auf den Abstraktionsdiskurs der Dadaisten. Die Allgegenwart des „primitiven“ Denkens um 1900 beschreibt er folgendermassen: „Early in this century some of the sweetest reasoners among the artists were looking back, or inwards, to primitive modes in feeling or in art, as correctives to rationales which they believed to be unsound or unfit an age of such internal uncertainty and external complexity“, s. Middleton 1971, 183. Korpus „Wenn wir Kandinsky oder Picasso sagten, meinten wir nicht Maler, sondern Priester, nicht Handwerker, sondern Schöpfer neuer Welten, neuer Paradiese.“ Hugo Ball, Flucht aus der Zeit, 1923 46 Erstaunlicherweise gibt es in den 1910er und 1920er-Jahren wenige expressio‐ nistische Texte, in denen der exotische Typus des „primitivierenden“ Künstlers eine tragende Rolle spielt. Bildende Künstler bevölkern zahlreiche epische, ly‐ rische und dramatische Texte der Zeit. Viele dieser literarischen Künstlerfiguren haben teil an einem primitivistischen Diskurs im weiteren Sinne. In ihnen finden die verschiedenen Spielarten des Exotismus 47 und des „primitiven“ Denkens in Kunst und Kultur der Jahrhundertwende Nachhall, welche eng mit der Entste‐ hung des späteren Primitivismus verzahnt sind. Wolfdietrich Rasch oder J. C. Middleton haben bereits in den 1960/ 70er-Jahren für diese Folie des literarischen Primitivismus sensibilisiert. Motive der Regression, in denen die „Sehnsucht und Rückschau auf ursprüngliche, archaische Zustände“ 48 Gestalt annimmt, bezeichnet Middleton in Literatur um 1900 als omnipräsent. 49 Rasch redet 29 Korpus <?page no="30"?> 50 Rasch, Wolfdietrich (1967). Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesam‐ melte Aufsätze. Stuttgart: Metzler, 15. 51 Hierzu siehe Musils Tagebuchnotiz um 1920: „Rationalität u. Mystik, das sind die Pole der Zeit“, zit. n. Sprengel, Peter (2004). Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. München: C.H. Beck, 81. Der Fokus vieler Autoren der Jahrhundertwende liegt auf den „Grenz‐ gebiete[n] zum Nicht-Bezeichenbaren“, auf Exotik, Gebärde, Tanz oder Wahnsinn. Vgl. Pekar, Thomas (2007). Exotik und Moderne bei Hugo von Hofmansthal. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Becker, Sabina et al. (Hrsg.). Berlin: De Gruyter, 129-144. Hier 137. 52 Stefan George, Gerhard Hauptmann (beide in den 1860er Jahren geboren), Thomas Mann, Karl Kraus oder Hugo von Hofmannsthal (1870er) sind hier vor allem zu nennen. Auf Carl Einstein und Gottfried Benn übte bspw. Stefan George eine große Wirkung aus. Vgl. Sprengel 2004, 109 ff.; Anz 2010, 9. 53 s. Thomas Manns Darstellungen von Künstlern, Musikern und Literaten in Der Tod in Venedig (1911), Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) oder Dr. Faustus (1947). Hugo von Hofmannsthal diskutiert prominent in Die Briefe des Zurückgekehrten (1907) die Macht der expressiven Gegenwartskunst. 54 Zur Programmatik von Simultanität und Pluralität im Expressionismus, s. bspwe. Däubler, Theodor. Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften (1988). Kemp, Friedhelm/ Pfäfflin, Friedrich (Hrsg.). Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt 62. Darmstadt: Luchterhand, 37. Vgl. Anz 2010, 331. von der „Kategorie der Abweichung“ 50 als Charakteristikum der Literatur der Jahrhundertwende und Folie für den späteren Primitivismus. Die literarischen Künstlerdarstellungen des expressionistischen Jahrzehnts sind jedenfalls unwi‐ derlegbar beeinflusst von den exotischen und mystischen 51 regressiven Visionen der Jahrhundertwende, ihren Bildern für kulturelle und psychische Urgründe und exotischer Gegenwelten. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass in den 1910er und 1920er-Jahren massgebende Stimmen der Jahrhundertwende den Diskurs weiter aktiv mitbestimmen. 52 Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal schaffen zeitgleich zur Generation der um 1890 geborenen Expressionist: innen wichtige Künstlergestalten und leisten Beiträge zur Auseinandersetzung mit der neuesten Gegenwartskunst. 53 Pluralität und Simultanität bestimmen das ex‐ pressionistische Jahrzehnt nicht nur auf stilistisch-programmatischer Ebene. 54 Grossen Einfluss auf die expressionistischen literarischen Künstlerdarstel‐ lungen haben die künstlerischen Erneuerungsbewegungen um Sezession und Lebensreform. Sie generieren Bilder und Konzepte moderner Künstlerschaft, wobei diejenigen, die um den Typus des prometheischen unverfälschten Künst‐ lers kreisen, der Kunst und Natur in seiner Lebenspraxis versöhnt, besonders nachhaltig wirken. Gerhard Hauptmann, Richard Dehmel oder Rainer Maria Rilke prägen diesen Kontext um Lebensreform und die ersten Künstlerkolonien 30 Einleitung <?page no="31"?> 55 Zum prophetischen Künstlerbegriff Hauptmanns und Rilkes, s. Wacker, Gabriela (2013). Poetik des Prophetischen. Zum visionären Kunstverständnis in der Klassischen Mo‐ derne. Berlin: De Gruyter, 202 ff. Zu Dehmel s. Spiekermann, Björn (2007). Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels. Würzburg: Ergon. 56 Rainer Maria Rilke: Worpswede (1903), davor Erzählung Wladimir, der Wolkenmaler (1899). Zeitgleich zur Monographie über Worpswede entsteht Rilkes Monographie zu Auguste Rodin, des Weiteren sind die posthum publizierten Briefe über Cézanne (1952) zu nennen. Der Künstlertext, der für die Fragen der expressionistischen Autoren am anschlussfähigsten ist, ist jedoch sicherlich Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910). 57 Schauplatz des Romans ist die Ostsee, wo die Protagonisten des Textes, der frei‐ denkerische Künstler Hans und seine dem Adel entstammende Frau Doralice den Sommer verbringen. Die grenzsprengende Liebesbeziehung und ebensolches Lebens- und Kunstkonzept von Hans lösen Verschiebungen im sozialen Gefüge aus, bzw. machen diese sichtbar. Die Idylle endet tödlich. Vgl. Keyserling, Eduard von (1911). Wellen. Roman. In: Die neue Rundschau 22, 601-617, 745-772, 905-930, 1051-1077. 58 Vgl. Sprengel 2004, 119ff. 59 Bereits Hesses erster Roman Peter Camenzind (1903) verhandelt den Rückzug oder Regression des Helden aus der städtischen Welt ins Dorf. Eine klassische Malerfigur gestaltet er später mit Klingsor [Klingsors letzter Sommer (1920), Die Morgenlandfahrt (1932)]. Die exotische Komponente ist bei Hesse zentral, vgl. Schultz 1995, 204. literarisch: 55 Rilkes Worpswede (1903) 56 , im Untertitel auch „Monographie einer Landschaft und ihrer Maler“ genannt, ist sicherlich das prominenteste Beispiel. Auf die romantischen, an Nietzsche geschulten Visionen einer Vereinigung von Leben und Kunst antwortet beispielsweise auch Eduard von Keyserling mit Wellen (1911). Es ist ein Künstlertext, der die Möglichkeiten und Grenzen der künstlerischen und sozialen Befreiung durchspielt und in seiner Offenheit und Reflexionskraft eine Nähe zu expressionistischen Texten offenbart, denen er jedoch schwerlich zugeordnet werden kann. 57 Grundsätzlich gilt, dass im ex‐ pressionistischen Jahrzehnt die Visionen der Erneuerungsbewegungen weiter‐ verfolgt, entwickelt und kritisiert werden. Die Künstler der Vereinigungen der Brücke und des Blauen Reiters formulieren und praktizieren lebensreformerische Ansätze und spiegeln Elemente davon in ihrer Malerei, und die Literatur partizi‐ piert ihrerseits am Diskurs. Die Keimzelle des expressionistischen Sturm-Kreises ist bekanntlich Herwarth Waldens 1904 gegründeter Verein für Neue Kunst, der aus dem Dunstkreis der lebensreformerischen Neuen Gemeinschaft der Gebrüder Hart am Schlachtensee hervorging. 58 Autoren wie Hermann Hesse sind lebensreformerischen Zusammenhängen eng verbunden und schaffen Künstlerfiguren, die einem romantischen Ideal verpflichtet bleiben. 59 Es bleibt 31 Korpus <?page no="32"?> 60 Dass es fliessende Übergänge zwischen Lebensreform- und Heimatkunstbewegung gab und die Simultanität und Pluralität des expressionistischen Jahrzehnts allgemeine Einordungsschwierigkeiten nach sich zieht, zeigt bspw. auch Sprengels Handhabung, Hermann Hesse und Robert Walser unter dem Stichwort „Heimatkunst“ zu verhandeln, vgl. Sprengel 2004, 106f. 61 Ein spezifisches exotisches Reformprojekt verfolgte um die Jahrhundertwende bspwe. auch der Literat Max Dauthendey. Von ihm existiert eine unpublizierte Schrift Gründung einer Künstlerkolonie (1896), vgl. Rduch, Aleksandra E. (2013). Max Dauthendey. Gauguin der Literatur und Vagabund der Bohème. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 95ff. Christian Kracht hat das grandiose Scheitern eines solchen Reformprojekts 2012 im Roman Imperium ins Blickfeld gerückt. 62 Else Lasker-Schüler hat sich bekanntlich zeitweilig direkt an lebensreformerischen Pro‐ jekten beteiligt. Früher Text im reformerischen Zusammenhang: Das Peter Hille Buch (1906), dann diverse Kurztexte, bspwe. Künstler, in: Das Magazin Jg. 77, H. 4, Januar 1908, 52, resp. Der Sturm, Jg. 1, Nr. 29, 15. Sept. 1910, 228f.; prominente Künstlertexte: Briefe und Bilder (1913), Prinz von Theben (1914), Der Malik (1919). Vgl. Lasker-Schüler, Else. Werke und Briefe. Kritische Ausgabe Bd. 3 Prosa 1903-1920 (1998). Dick, Ricarda (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag. 63 Prosatexte Walsers mit Künstlerfiguren (meist zuerst in einem Zeitungskontext, dann in einer Prosasammlung publiziert): Ein Maler (1902/ 1904); Über den Charakter des Künstlers (1911); Brief eines Malers an einen Dichter (1915/ 1918); Leben eines Malers (1916/ 1919). Vgl. Kritische Robert Walser-Ausgabe (2008-2021). Reibnitz, Barbara von et al. (Hrsg.). Frankfurt a.M./ Basel: Stroemfeld/ Schwabe. 64 Hermand, Jost/ Hamann, Richard (Hrsg.) (1977). Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart Bd. 5: Expressionismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 51f. 65 Aleksandra E. Rduch bezeichnete Dauthendey als „Gauguin der Literatur“, s. Rduch 2013. 66 In seinem Prosatext Über den Charakter des Künstlers bezeichnet Walser den Künstler als Vulkan, der weder ausbrechen noch verlöschen könne. Dies ist ein schönes exotisches Bild für den (unmöglichen) Ausbruch des Künstlers, um den sein Schreiben kreist. Vgl. festzuhalten, dass von diesem Diskurs um Erneuerung und Regression auch die konservative Moderne wie die sogenannte Heimatkunstbewegung zehrt. 60 In besonderer Weise spiegelt die expressionistische Generation die exotischen und kolonialen Kontexte der Reformbewegung. 61 Die fiktiven Künstler- und Dichterfiguren des Jahrzehnts zeugen davon: und zwar nicht nur die exotischen Künstlerfiguren der später verhandelten Autoren oder prominent die Geschöpfe Else-Lasker-Schülers 62 , sondern beispielsweise auch die Künstlerfiguren eines Robert Walser 63 . Die radikalen und oft über-sakralisierten Figuren der expressio‐ nistischen Generation lassen sich nicht nur als Antworten auf die Apotheose des Künstlers bei Nietzsche lesen, sondern auch auf die „impressionistische Exotik“ 64 eines Max Dauthendey oder Bernhard Kellermann. 65 Lasker-Schüler und Walser inszenieren beide - auf sehr unterschiedliche Weise - die Unschuld, Exotik und Monströsität eines kompromisslosen Begriffs von Künstlerschaft. Sie nehmen das Künstlertum als genuin abweichende Kategorie in den Blick und agieren als Theoretiker des „Lebenskunst“-Begriffs, respektive von „Verwilderung“. 66 Ihre 32 Einleitung <?page no="33"?> Walser, Robert (1911). Über den Charakter des Künstlers. In: Kunst und Künstler. 9. Jg., H. 4, 185-187. 67 Hermand/ Hamann 1977, 50f. 68 Pechstein: Reise nach Palau (1914); Nolde: Neuginea (1913/ 1914). Es gilt als unbestritten, dass insbesondere die Brücke-Künstler an die Ursprünglichkeit „primitiver“ Kulturen geglaubt haben. Von einem ungebrochenen derartigen Glauben kann beispielsweise bei Lasker-Schüler nicht ausgegangen werden. Vgl. Otterbeck 2007, 62. 69 Struck, Wolfgang (2010). Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen: V&R uni‐ press, 177. 70 Vgl. Lasker-Schülers Roman Der Malik (1919). Dieser setzt sich aus zwei Teilen zusammen, aus den (auch real existierenden) Briefen an den „lieben blauen Reiter“ Franz Marc, die Lasker-Schüler bereits zwischen 1913 und 1917 in einer ersten literari‐ schen Transformation in Zeitschriften publizierte, sowie der „Krönungsrede“, die nach dem Tod Marcs (Verdun, 1916) entstand. Handlungsräume des Malik sind die orienta‐ Künstlerfiguren bewegen sich auf radikale Weise ausserhalb der Gesellschaft (Walser) und in einer überexotischen Welt der Imagination (Lasker-Schüler). Mit dem exotischen lebensreformerischen Kontext und der exotistischen Literatur der Jahrhundertwende hat diese Form von Exotismus wenig mehr gemeinsam. Richard Hamann und Jost Hermand halten fest, dass von „[…] farbigen Valeurs, pikanten Erotismen und psychologischen Raffinessen“ der exotistischen Literatur in den Werken der Expressionisten wenig übrigbleibe. 67 Aber auch von der vor Ort entstandenen zeitgenössischen expressionistischen Malerei eines Emil Nolde oder Max Pechstein, deren Primitivismus noch deutlich exotistisch-romantische Züge trägt, unterscheidet sich die Exotik Lasker-Schülers oder Walsers deutlich. 68 Else Lasker-Schüler schafft eigenständige transkulturelle Welten jenseits exo‐ tistischer Konvention. Die meist idyllischen exotistischen und kolonialliterari‐ schen Gegenwelten der Jahrhundertwende, welche gemäss Wolfgang Struck auf „Heilung des Moderne-Schocks in einer verdoppelten Provinz“ 69 angelegt sind, bürstet Lasker-Schüler mit ihren synkretistischen Künstler- und (Selbst-)Dar‐ stellungen gegen den Strich. Sie setzt den romantischen Gegenwelten eine alternative Utopie entgegen, einen Kunstraum, den sie über eine radikale Entrückung und gleichzeitige Vergegenwärtigung des Exotismus realisiert. Die Vergegenwärtigung handhabt sie mittels autobiographischer Strategien, durch den Einbezug des städtischen Kontexts und durch die Bezugnahme auf einzelne historische Künstler - etwa auf den „Oberwildling“ Oskar Kokoschka und prominent Franz Marc, der in ihrer transkulturellen Exotik die Funktion eines Hohepriesters einnimmt. Marc, der bekanntlich kein exotisches „Verwil‐ dern“ vor Ort lebte, geht in Lasker-Schülers Kunstraum gewissermassen ein solches „Going native“ ein, beziehungsweise ist Teil einer multidimensionalen „Verwilderung“ vor Ort. 70 Diese hat eine stereotype, klar exotistische Seite, ist 33 Korpus <?page no="34"?> lisch-exotischen Städte Theben, Mareia-Ir und Irsahab, Franz Marc („Ruben“, „Marc von Cana“, etc.) ist der „Ehrwürdige[r] blaue Grossgeistliche[r] dieser Stadträume (2. Brief). Vgl. Lasker-Schüler, Else. Der Malik [1919]. Eine Kaisergeschichte mit Bildern und Zeichnungen von Else Lasker-Schüler. Kiel: Neuer Malik Verlag 1983. 71 Schultz 1995, 153. 72 Zum „Verwildern“ im städtischen Kontext, s. bspwe. Beiersdorf, Leonie (2010). „…dass Leben und Arbeit eines sind.“ Gelebte Utopie bei Ernst Ludwig Kirchner und Rosa Schapire. In: Gesamtkunstwerk Expressionismus. Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905-1925. Ausst.kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Beil, Ralf/ Dillmann, Katja (Hrsg.). Ostfildern: Hatje Cantz, 68-99. Allgemein sind die Gelegen‐ heiten der Konfrontation mit dem Exotischen im Städtischen Kontext divers (Varieté, Völkerschauen, Jazzmusik, etc.). 73 Einstein etwa im Prosatext Freie Bahn dem Tüchtigen. Ein Beitrag zur Demokratie. Anonym veröffentlicht in: Der blutige Ernst Jg. 1 Nr. 3 1919, IV; VI; Benn: Südseege‐ jedoch voller Brüche und Widersprüche. Es ist ein Exotismus von zweifellos monströser Qualität, ein avantgardistischer Primitivismus, wie in Joachim Schultz beschreibt: „Es geht hier nicht um Idylle und Harmonie, sondern um frenetische, gigantische Wildheit, die einer allzu harmonischen Kultur geradezu entgegengesetzt ist.“ 71 Es gibt wie gesagt wenige expressionistische Texte, in denen der exotische Typus des „primitivierenden“ Künstlers eine tragende Rolle spielt. Und noch seltener trifft man auf einen extensiv gestalteten exotischen Rahmen für das „Going native“ von Künstlerfiguren, neben Else Lasker-Schüler einzig bei Robert Müller. In seinem Tropen-Roman kollidieren auf einer überexotisch-imperialen Dschungelbühne bildkünstlerisch ambitionierte Protagonisten mit ideell gegen‐ wärtigen (historischen) Künstlerfiguren und einer indigenen Künstlerfigur. Abgesehen von Müller und Lasker-Schüler verknüpfen die Literaten des ex‐ pressionistischen Jahrzehnts den primitivistischen Künstler demnach historisch korrekt mit dem europäischen und städtischen Kontext. Sie interessieren sich nicht für die reisenden Expressionisten, die sich temporär vor Ort aufhielten (Nolde, Pechstein, Klee, Matisse und Andere). 72 Inwiefern für sie der „primiti‐ vierende“ Künstler vor Ort aber trotzdem aktuell bleibt, kann in dieser Studie nachgewiesen werden. Sternheim, Benn, Einstein und Müller referieren alle‐ samt auf ein Ideal des „Primitivierens“ vor Ort - und gestalten dieses Ideal interessanterweise durchweg im Bezug auf den Übervater des Primitivismus, auf Paul Gauguin. Sternheims „primitivistischer“ Künstler Posinsky geriert sich in der Erzählung Ulrike (1917) als Gauguins Nachfolger, Müllers Protagonisten im Tropen-Roman (1915) sehen in Gauguin und Paul Altenberg, der im Städtischen eine eigene Form von „Going native“ auslebte, ihre Vorbilder. Und sowohl Ein‐ stein als auch Benn setzen sich mit einem primitivistischen Ideal auseinander, das in Bezug auf Paul Gauguin Konturen annimmt. 73 Gauguin beschäftigt die 34 Einleitung <?page no="35"?> dichte Meer- und Wandersagen; Osterinsel; Palau (1922/ 1927), das Südseegedicht mit dem deutlichsten Gauguin-Bezug ist Schutt (1922); spätere Prosa: Doppelleben (1950); Kunst und Drittes Reich (1949), vgl. Handbuch der Kunstzitate: Malerei, Skulptur, Fotografie in der deutschsprachigen Literatur der Moderne (2011). Fliedl, Konstanze/ Rauchenbacher, Marina/ Wolf, Joanna (Hrsg.). Berlin/ Boston: De Gruyter, 60-62. Vgl. Kap. 3. 74 S. bspw. Ehrenstein, Albert (1914/ 1915). Oskar Kokoschka. In: Zeit-Echo Jg.1, H. 20, 304 ff., s. Werke Bd. 5 (2004). Mittelmann, Hanni (Hrsg.). Göttingen: Wallstein, 69-77, od. Junges Drama. In: Die neue Rundschau 1916, s. Werke, Bd. 5, 88-91; Else Lasker-Schüler: Rezensionen zu Kokoschka 1910/ 11 oder Oskar Kokoschka (1913). In: Gesichte. Essays und andere Geschichten. Leipzig: Kurt Wolff Verlag. 75 Benn in Der Vermessungsdirigent (1919), vgl. Kap. 3.2; Däubler, Theodor (1915). Picasso. In: Die Aktion Jg. 5, Nr. 33/ 34, 409-419; u. a. Wiederholt erweist daneben Hugo Ball Kandinsky die Referenz. 76 Sternheim: Gauguin und van Gogh (1924) und Vorgängererzählungen Vincent van Gogh (1910) und Legende von Vincent und Paul (1916); Benn: Der Garten von Arles (1920) etc. Vgl. Kap. 3.3.2. 77 Konkrete Bildverweise bei Kirchner, Pechstein, Nolde, Marc, Kandinsky, Jawlensky, Picasso und Matisse etc. Vgl. Bouvier, Raphael (2015). Zwischen künstlerischer Ausdrucks‐ kraft und utopischem Lebensentwurf - Paul Gauguins Vermächtnis in der modernen und zeitgenössischen Kunst. In: Paul Gauguin. Ausst.kat. Beyeler Museum Basel. Bouvier, Raphael/ Schwander, Martin (Hrsg.). Ostfildern: Hatje Cantz, 29-42. Hier 35-39. 78 März, Roland (1998). Tahiti - Moritzburg und zurück. In: Paul Gauguin. Das verlorene Paradies. Ausst.kat. Museum Folkwang Essen/ Neue Nationalgalerie Berlin. Köln: Du‐ Mont, 280. Autoren mehr als die Künstler der Gegenwart, mit Ausnahme Kokoschkas 74 oder Picassos 75 . Diese historische Bezugnahme der Autoren respektive ihrer fiktiven Künstlerfiguren ist zweifellos bemerkenswert. Die Studie analysiert diese Refe‐ renz auf Gauguin ausführlich und argumentiert, dass Gauguin ein wichtiger Angelpunkt für die primitivistische Praxis der Expressionisten darstellt. Mit Hilfe Gauguins - sowie seines in Belangen der „primitiven“ Lebenskunst ebenso radikalen Zwillingsbruders van Gogh 76 - arbeiten die Autoren die Grundfragen einer primitivistischen und interkulturellen Moderne ab und positionieren ihre Kritik an den diversen primitivistischen Tendenzen in der Gegenwartskunst. Sie verfolgen sozusagen den Primitivismus zu seinen Wurzeln zurück und analysieren das grosse Vorbild der Bildenden Künstler in Sachen Primitivismus. Dass Gauguin eine große Relevanz für das Schaffen vieler bildender Künstler besass, steht fest. Gauguin beeinflusste die „bedeutendsten Strömungen des 20. Jahrhunderts“ 77 , im Besonderen den jungen Picasso, die Fauves und die Deutschen Expressionisten. Moritzburg und seine Seen, wo sich die Künstler der Brücke im Sommer aufhielten, wird im Hinblick auf diese Prägung auch als deren „tahitianisches Ersatzparadies“ bezeichnet. 78 Stellvertretend hier zwei Bildbeispiele: ein Akt von Ernst Ludwig Kirchner, der offensichtlich Bezug 35 Korpus <?page no="36"?> 79 Bouvier 2015, 37f. nimmt auf Gauguins berühmtes Gemälde Mana’o tupapa’u (s. Kap. 1.1.2) und eine „freie[n] Hommage[n]“ 79 an Gauguin von Franz Marc. Abb. 2: Ernst Ludwig Kirchner: Liegender Akt vor Spiegel (1909/ 10) Abb. 3: Franz Marc: Holzträger (1911) 36 Einleitung <?page no="37"?> 80 Ball 1984, 44. Während die Bezugnahmen auf Gauguin im bildkünstlerischen Bereich gut erforscht sind, sind die komplexen Verweise der Literaten im Spannungsfeld von Kritik an der Gegenwartskunst und eigenem primitivistischen Entwurf bisher ein Forschungsdesiderat geblieben. Die Entdeckung der expressionistischen Referenzen hat die Gestalt der vorliegenden Studie kräftig beeinflusst. Sie hatte zur Folge, dass die expressio‐ nistischen Prosatexte Carl Sternheims und Robert Müllers mit den Verweisen auf Gauguin (Kap. 3) ins Zentrum des Lektüreteils rückten und dass beispiels‐ weise Else Lasker-Schülers Texte aufgrund des fehlenden Bezugs zu Gauguin nicht in das Korpus aufgenommen wurden. Um trotz dieses Fokus‘ die Breite des primitivistischen Diskurses um die Künstlerfiguren nicht aus dem Blick zu verlieren, wurde mit Gottfried Benns Vermessungsdirigent eine doppelte Ausnahme in die Auswahl eingegliedert. Der Vermessungsdirigent (1919) ist der einzige dramatische Text der Untersuchung und erweist nicht Gauguin, sondern Picasso die Referenz. Der Einbezug Benns ergibt jedoch unbedingt Sinn: Carl Sternheim, Carl Einstein und Gottfried Benn kannten sich und standen während der Kriegsjahre, in denen ihre Künstlertexte entstanden, in einem folgenreichen Austausch. Mit Hilfe des Textes von Benn kann der Kontext der gemeinsamen Kriegsjahre in Brüssel geklärt und der Horizont der Künstlertexte aufgezeigt werden. Benns „Picasso“ ist eine monströse Künstlerfigur, oder ein Faun nach der Terminologie Hugo Balls von um 1916: In Picasso, dem Faun, und in Kandinsky, dem Mönch, hat unsere Zeit ihre stärksten künstlerischen Nenner gefunden. […] Bei Picasso die Finsternis, das Grauen und die Qual der Zeit, ihre Askese, ihre infernalische Fratze, ihr tiefes Leiden, ihr Stöhnen und Grollen, ihre Hölle und namenlose Trauer, ihr Leichengesicht und den schwarzen Schmerz. Bei Kandinsky ihr Jubel, ihr Festtaumel, ihr Himmelssturm, ihre Erzengelfuge, ihre bunten Donquichoterien, ihre blauroten Marseillaisen, ihr Untergang gesegnet, ihr Aufschwung ein Cherubinenflug von gelb-blauen Fanfaren ins Unendliche gerufen. 80 Wie wir sehen werden, ist in Benns Darstellung des „primitivistischen“ Künst‐ lers „Picasso“ aber auch das Mönchische integriert, welches Ball Kandinsky 37 Korpus <?page no="38"?> 81 Ball seinerseits zeigte sich wenig beeindruckt vom Kunstraum, den die expressionisten Literaten mit ihren Künstlerfiguren eröffneten. In Kapitel X seiner Schrift Tender‐ enda der Phantast (1914/ 1920, EP 1967) wird er Benns Vermessungsdirigenten zum „Verwesungsdirigenten“ verbrämen und sich über den Idealismus des „Dichtklubs“ lustig machen. Vgl. Tenderenda der Phantast. Meyer, Raimund/ Schütt, Julian (Hrsg.). Innsbruck: Haymon 1999, 45-49. 82 Heinrichs 1995, 63. zuschreibt. Das Kurzdrama eignet sich dementsprechend gut dazu, den Spiel‐ raum der Transzendierung des Monströsen im Expressionismus darzulegen. 81 Paul Gauguin war nicht nur für die Auswahl der zentralen Primärtexte ausschlaggebend. Die Auseinandersetzung mit Gauguin entwickelte sich zum Leitfaden, der die gesamte Arbeit strukturiert. Das erste Kapitel ist ausführ‐ lich seinem „Going native“ gewidmet - diesem „Ursprung primitivistischer Präsenz“ 82 in der Kunst der Moderne, wie Hans-Jürgen Heinrichs Gauguins „Verwilderung“ einordnete. Hier wird der Begriff des „Going native“ eingeführt und die Entstehung des Mythos Gauguin beziehungsweise des Mythos des „pri‐ mitivierenden“ Künstlers rekapituliert. Anhand einer kursorischen Abhandlung kunsthistorischer Forschung zu Gauguin werden sowohl die sozialgeschichtli‐ chen sowie institutionellen Grundlagen für das im 19. Jahrhundert entstehende Bild des „wilden“ Künstlers referiert, als auch die medialen Bedingungen des „Going native“ des Primitivisten. Wichtig ist hierbei: Die populären Bilder und Vorstellungen zum „Going native“ Gauguins, die dann später in den expressionistischen Darstellungen der Künstler widerhallen, entstehen zur Blütezeit des Kolonialismus. Für Gauguins Kolonialkritik bedeutet dies, dass die Kritik, die er äußert, nur innerhalb des Systems möglich ist, das kritisiert wird. Sein Kunst- und Lebenskonzept, das er mit seinem „Going native“ vorlebt, ist eine unmögliche und paradoxale Utopie. Ein ernsthaftes Bestreben nach interkulturellem Austausch und Anverwandlung ist innerhalb der kulturellen Hierarchien nicht möglich, zudem ist das „Going native“ den verfälschenden Mechanismen von Selbstinszenierung und medialer Stilisierung preisgegeben. Im zweiten Teil des ersten Kapitels wird aufgezeigt, inwiefern Gauguin diese Bedingungen reflektiert hat. In seinem literarischen Reisebericht und Manifest Noa Noa inszeniert er ein multidimensionales „Going native“, das die idealen primitivistischen Verkörperungsphantasien bedient, aber immer wieder mit ihnen bricht. Gauguin übermittelt ein „Going native“ ‚trotz allem‘, und genau darin, so die zentrale These des zweiten und dritten Kapitels, ist er für die avantgardistische Kunstkritik und expressionistische Kunstgeschichte eines Carl Einstein wie auch die expressionistischen Literaten ein Vorbild. 38 Einleitung <?page no="39"?> Das zweite Kapitel zeichnet die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in der Rezeption Gauguins und dem kunsttheoretischen Diskurs zur primitivis‐ tischen Gegenwartskunst seit der Jahrhundertwende nach. Dies geschieht mit Hilfe dreier kunsttheoretischer Texte: Julius Meier-Graefes Entwicklungs‐ geschichte der modernen Kunst (1904), Victor Segalens Exotismuskritik Essai sur l’exotisme (1904/ 1919, EP 1955), respektive dessen Gauguin gewidmetem literarisch-theoretischen Text Gauguin dans son dernier décor (1904) und Carl Einsteins Negerplastik (1915). Zu Beginn des Kapitels wird mit dem Exkurs zu Julius Meier-Graefe Gauguins deutsche Rezeptionsgeschichte zusammenge‐ fasst. Meier-Graefe steht für eine progressive bürgerlich-liberale Kunstkritik und Kunstförderung, die sich vornehmlich dem Impressionismus verschrieben hat. Die Väter des Primitivismus (Gauguin und van Gogh) bezieht Meier-Graefe in seine Bemühungen mit ein, dem zeitgenössischen Primitivismus jedoch begegnet er mit offenem Unverständnis. Für die populäre Rezeption des Primitivismus ist diese Haltung ausschlaggebend. Im expressionistischen Jahr‐ zehnt entsteht eine alternative progressive Kunstkritik und kunsttheoretische Auseinandersetzung mit der primitivistischen Gegenwartskunst, die im Falle Einsteins weit über die bürgerliche Kunstkritik hinausgeht. Dieser alternativen Kunstkritik nähert sich die Arbeit über Victor Segalen. Mit Segalen stellt die Arbeit eine Öffnung zum französischen Diskurs hin sicher und unterstreicht die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ im Bereich von Exotismus und Primitivismus. Der postsymbolistische Autor und Theoretiker Segalen ist ein Vordenker eines neuen Exotismus: einer interkulturellen Kunsttheorie und alternativen „primitivistischen“ Kunstkritik, wie sie Carl Einsteins Negerplastik auszeichnet. Segalen und der anarchistische expressionistische Literat und Kunsthistoriker Einstein, so die Argumentation des Kapitels, betreiben beide eine interkulturelle Kunstkritik, die in einem „Going native“ ‚trotz allem‘ gründet und von der Verbindung von Literatur und Theorie lebt. Das dritte Kapitel ist den literarischen primitivistischen Künstlerfiguren des expressionistischen Jahrzehnts gewidmet. Der Fokus liegt auf den Dar‐ stellungen des „Going native“ der Künstlerfiguren und der Frage nach der primitivistischen Kunstkritik der Texte im Anschluss an die alternative Kunst‐ kritik eines Einstein oder Segalen. Mit Gottfried Benn sowie dem Brüsseler Kontext wird der Auftakt gemacht, darauf folgt eine detaillierte Analyse der Sternheimschen Künstlerfiguren. Im dritten Teil des Kapitels wird das komplexe Netzwerk von Künstlerfiguren in Robert Müllers Tropen-Roman abgehandelt. In der „Primitivismus“-Forschung sind die hier besprochenen Autoren Sternheim, Benn, Einstein und Müller keine Unbekannten, im Gegenteil. Aus kunsttheore‐ tischer sowie interkultureller Perspektive sind deren Werke jedoch wenig bis gar 39 Korpus <?page no="40"?> nicht erforscht. Die Re-Lektüre der bekannten Texte - Einsteins Negerplastik, Sternheims Ulrike und Gauguin und van Gogh sowie Robert Müllers Tropen - kann den Diskurs über den literarischen Primitivismus daher besonders gut weiterbringen. 40 Einleitung <?page no="41"?> 1 Rey, Robert (1924). Gauguin. London 1924, 7, zit. n. Eisenman, Stephen F. (1997). Gauguin’s Skirt. London: Thames and Hudson, 16. 2 Dagen 2010, 221-255; Middleton 1971, 182-203. Solomon-Godeau, Abigail (1989). Going Native. In: Art in America 77, 118-129. Hier 314. 3 „Man muss sich unablässig entreissen“ (Übersetzung LF). Gauguin in Brief an J. F. Willumsen, Bretagne Ende 1890, s. Oviri: Gauguin, Paul. Oviri, écrits d’un sauvage (1974). Guérin, Daniel (Hrsg.). Paris: Gallimard, 67. Die im Folgenden viel zitierte Edition der Schriften Gauguins von Daniel Guérin (Im Folgenden: Oviri) ist einer der vielen Titel zu Gauguin, die den Künstler als „Wilden“ ins Zentrum stellen. 4 Zur „Sucht nach dem Ur-Sprünglichen“ im Primitivismus, s. Schultz 1995, 198f. 5 „[…] je vais aller à Tahiti et j’espère y finir mon existence. Je juge que mon art que vous aimez n’est qu’un germe et j’espère là-bas le cultiver pour moi-même à l’état primitif et sauvage.“/ „Ich gehe nach Tahiti und hoffe dort zu sterben. Meine Kunst, die 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin Radikale Verkörperung eines neuen künstlerischen Selbstverständnisses „Never has a man so thorougly impressed others with being a moving force, a force that let itself go.“ 1 Mit diesem prägnanten Bild einer mehrschichtigen Bewegung bringt Robert Rey, der Autor einer Gauguin-Monographie aus den 1920er-Jahren den grossen Eindruck, den Gauguin hinterlassen hat, auf den Punkt. „A moving force, a force that let itself go.“ Der Wirkung und Anziehungs‐ kraft Gauguins und besonders diesem Bild einer in zwei Richtungen zielenden Kraft, mit welchem Rey auf Gauguins „primitive“ Kunst- und Lebenskonzeption anspricht, soll im Folgenden nachgegangen werden. Gauguin gilt als Vaterfigur der nach der Jahrhundertwende in der bildenden Kunst sich ausbildenden Bewegung des Primitivismus. 2 Deren künstlerische Auseinandersetzung mit außereuropäischer Kunst führt nicht nur zur Adaption fremder Formen und der Ergründung ursprünglicher Bausteine der Kunst, sondern manifestiert sich auch in einer neuen Dimension des künstlerischen Selbstverständnisses. Für dieses Selbstverständnis des primitivistischen Künst‐ lers ist Gauguins „wild Werden“ in der Südsee zentral. Er ist das einflussreiche, radikale Vorbild, das nach dem Motto „Il faut se déchirer sans cesse“ 3 ein pri‐ mititivistisches Kunst- und Lebenskonzept vorlebte. Gauguin propagiert einen radikalen Schnitt zur europäischen Kunsttradition und Kultur der Gegenwart und setzt mit Tahiti auf eine grösstmögliche Entfernung von dieser. In der Südsee erprobt und inszeniert er die Anverwandlung und Verkörperung einer Kunst und Kultur des „Ursprünglichen“. 4 Seine Suche nach dem „état primitif et sauvage“ (Oviri, 65) 5 definiert Gauguin als radikale Regression. Bekannt ist <?page no="42"?> ihr schätzt, erachte ich nur als ein Samenkorn, dort hoffe ich dieses zu kultivieren mit einem primitiven und wilden Leben“ [Übersetzung LF]. 6 „Was mich betrifft, ich bin weit zurückgegangen, weiter zurück als zu den Pferden des Parthenon,… bis zum Dada meiner Kindheit, zum guten Holzpferd“ [Übersetzung LF]. 7 „Van Gogh ist romantisch und ich orientiere mich eher an einem primitiven Zustand“ [Übersetzung LF]. 8 Solomon-Godeau 1989, 313 f. Solomon-Godeau betrachtet die Blockbuster-Ausstellung in Washington und Paris 1988 als Höhepunkt der biographiefixierten Rezeption. Auf diese folgen u. a. in den Nullerjahren die Ausstellungen in Paris und Boston 2003/ 4 und zuletzt die grosse Gauguin-Schau 2015 in der Fondation Beyeler. 9 Ebd., 314. 10 Ebd. 11 Pekar 2007, 132. Thomas Pekar macht darauf aufmerksam, dass dieses „Überläufertum“ Gauguins auch als „gelebter Exotismus“ bezeichnet werden kann. In einem wissen‐ schaftshistorischen Überblick skizziert er, wie in den 1970/ 80er Jahren in Absetzung zu einem „orientalistischen“ schlechten Exotismus eine positive Deutung dieses „Über‐ läufertums“ oder „gelebten Exotismus“ diskutiert wurde. Er verweist im Besonderen auf Fritz Kramers Forschung (Verkehrte Welten, 1977) und beurteilt den Ansatz dieser Jahre als „‚naiv‘“. beispielsweise sein folgender Ausspruch: „Quant à moi, je me suis reculé bien loin, plus loin que les chevaux de Parthénon… jusqu’au dada de mon enfance, le bon cheval de bois“ (Oviri, 158) 6 . Das „wild Werden“ will er nicht romantisch verstanden wissen: „Il [van Gogh] est romantique et moi je suis plutôt porté à un état primitif “, schreibt Gauguin 1888 in Arles an Émile Bernard (Oviri, 45). 7 Er präsentiert sein „wild Werden“ als Reise an die Grenzen, die lebenstechnische „Verwilderung“ als notwendige Grundlage seiner Kunst. Für die Rezeption Gauguins gilt grundsätzlich, dass sie das Angebot, das Werk aus dieser lebenstechnisch-biographischen Perspektive zu lesen, wenig hinter‐ fragt angenommen hat. Der radikale Grenzgang, der über das konkrete Kunst‐ schaffen hinausgeht, stand und steht im Zentrum der Rezeption Gauguins. 8 Abigail Solomon-Godeau beschreibt diesen Grenzgang und diese Konstellation mit Blick auf Gauguins frühe publizistische Vermarkter Albert Aurier, Charles Morice, Daniel de Monfried und Victor Segalen wie folgt: „Gauguin’s voyage of life was perceived in both the most literal and gratifyingly symbolic sense as a voyage even further outward, to the periphery and margins, to what lies outside the parameters of the superego and the polis […].“ 9 In ihrem Aufsatz zum „Going native“ Gauguins versucht Solomon-Godeau den Mann vom Künstler zu unterscheiden und bemerkt zu Recht, dass in seinem Falle eine unauflösliche Verschränkung der Narrative von Leben und Kunst unter dem „mystischen Zeichen“ des prometheischen Künstlers vorliege. 10 Um der Radikalität und vor allem der radikalen Wirkung von Gauguins „Verwilderung“ oder „kulturellem Überläufertum“ 11 in der Südsee gerecht zu werden, für die 42 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="43"?> 12 Hier sind die populären Texte von Pierre Loti (Louis Viaud), Robert Louis Stevenson, Rudyard Kipling oder Joseph Conrad zu nennen. Ein nicht-literarischer Fall kulturellen Überläufertums bot bspw. Frank Hamilton Cushing (1857-1900), der bei den Zunis in New Mexico ein „Going native“ lebte. Vgl. Kohl, Karl Heinz (1987). „Travestie der Lebensformen“ oder „kulturelle Konversion“? Zur Geschichte des kulturellen Überläufertums. In: Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie. Frankfurt a. M: Qumran/ Campus, 7-38. 13 Solomon-Godeau 1989, 314 f., 323 ff. Auch Linda Goddard benutzt „Going native“, jedoch nicht zentral, vgl. Goddard 2012, 80. Marianna Torgovnick spricht von „gone primitive“, Gill Perry von „going away“: Vgl. Torgovnick, Marianna (1991). Gone Primitive: Savage Intellects, Modern Lives. Chicago: Chicago University Press; Perry, Gill (1993). „The going away“ - A Preparation for the „Modern“. In: Primitivism, Cubism, Abstraction. The Early Twentieth Century. Harrison, Charles/ Frascina, Francis/ Perry, Gill (Hrsg.). Yale: Yale University Press, S. 9-46. Allgemein gibt es wenig begriffsgeschichtliche Forschung zum Komplex. Ende des 19. Jahrhunderts im Grunde vor allem literarische Vergleichswerte ins Gewicht fallen, 12 wird hier im Folgenden ebenfalls der Begriff des „Going native“ starkgemacht. 13 In direktem Bezug auf Gauguin wurde der Begriff lediglich von Abigail Solomon-Godeau gebraucht. Andere Primitivismus-Forscher: innen sprechen von „gone primitive“ oder neutral von „going away“. Die Arbeit vermeidet mit dem Begriff des „Going native“ eine Häufung der Wortfelder des „Primitiven“ und „Wilden“ und will damit insofern auf die Ebene der Kritik an Exotismus und Primitivismus fokussieren, da beim Begriff des „Going native“ die Unmöglichkeit des Europäers die Position des Indigenen einzunehmen, besser zu greifen ist als bei den Begriffen „primitivieren“, „going primitive“ oder „going away“. In Anlehnung an Solomon-Godeau wird der Primitivismus mit „Going native“ als Form „mythischen Sprechens“ in den Blick genommen. Rezeptionsästhetische Fragen stehen im Hinblick auf die primitivistische und expressionistische literarische Resonanz Gauguins im Mittelpunkt, sekundär sind Fragen des künstlerischen Ausdrucks und der konkreten formalen und lebenstechnischen Aneignung von Kunst und Kultur. „Going native“ ist ein unscharfer Begriff für ein unscharfes Phänomen. Im Lexikon der Schlüsselbegriffe der Postcolonial Studies wird er folgendermassen definiert: „Going native“ = The term indicates the colonizers‘ fear of contamination by absorp‐ tion into native life and customs. The construction of native cultures as either primitive or degenerate in a binary discourse of colonizer/ colonized led, especially at the turn of the century, to a widespread fear of ‚Going native‘ amongst the colonizers in many colonial societies. Variants occur such as ‚going Fantee‘ (West Africa) and ‚going troppo‘ (Australian), which suggest that both the associations with other races 43 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="44"?> 14 Key Concepts in Postcolonial Studies (1998). Ashcroft, Bill et al. (Hrsg.). London/ N.Y.: Routledge, 115. 15 Für eine Beschreibung der unterschiedlichen nationalen kolonialen Kontexte und literarischen Konturierungen des Phänomens, s. Bongie, Chris (1991). Exotic Memories: Literature, Colonialism, and the Fin de Siècle. Stanford: Stanford University Press. Zu den im deutschen Kolonialkontext benutzten Begriffen der „Verkafferung“ und „Tropenkoller“ s. Besser, Stephan, (2003). Tropenkoller. The Interdiscursive Career of a German Colonial Syndrome. In: Framing and Imaging Desease in Cultural History. Rousseau, G.S. (Hrsg.). Basingstoke, 303-320; Deutsches Kolonial-Lexikon, Bd. 3 (1920). Schnee, Heinrich (Hrsg.) Leipzig: Quelle & Meyer, 606. and even the mere climate of colonies in hot areas can lead to moral and even physical degeneracy. The threat is particularly associated with the temptation posed by inter-racial sex, where sexual liaisons with ‚native‘ peoples were supposed to result in a contamination of the colonizer’s pure stock and thus their degeneracy and demise as a vigorous and civilized (as opposed to savage or degenerate) race. But ‚Going native‘ can also encompass lapses from European behaviour, the participation in ‚native‘ ceremonies, or the adoption or even enjoyment of local customs in terms of dress, food, recreation and entertainment. Perhaps the best known canonical example of the perils of ‚Going native‘ is Kurtz in Conrad’s Heart of Darkness, a character who seems to embody the very complex sense of vulnerability, primitivism and horror of the process. 14 Der Begriff ist kolonialgeschichtlich geprägt und belastet. Im kolonialsprachli‐ chen Zusammenhang ist er ausgesprochen negativ konnotiert. Die Definition, die ohne begriffshistorische Ausführungen auskommt, zeigt trotz aller Kürze und Unzulänglichkeiten schön, dass neben den negativen Konzepten interkultu‐ reller Interaktion, neben den Bildern gefährlicher Grenzüberschreitungen auch positive Konzepte von „Going native“ existieren. Neben den ethnobiologisch ins Absurde akzentuierten Vorstellungen von Kontamination und Degeneration (im deutschen Sprachgebrauch war „Verkafferung“ gebräuchlich) 15 , ist hier von „participation […], „adoption or even enjoyment“ die Rede. Mit dem Hinweis auf Joseph Conrads Heart of Darkness schliesst die Definition mit dem berühmtesten Beispiel eines „Going native“ aus dem Bereich der Literatur. Damit ist die Ambivalenz und Offenheit des Begriffs auf den Punkt gebracht. Es wird angedeutet, dass der Begriff stark von den kollektiven (sich wandelnden) Phantasien über die „primitiven“ Kulturen abhängt, und dass die interkultu‐ rellen Grenzüberschreitungen Realität und Phantasie verweben, respektive künstlerische Hybride aus Realität und Phantasie generieren. Phantastische Qualitäten haben dabei, so zeigt ein Blick in die Kulturgeschichte der Moderne und Avantgarde, insbesondere die Konzepte und Umsetzungen eines „Going 44 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="45"?> 16 Solomon-Godeau, 1989, 325. 17 Klaus von Beyme rekapituliert: „Die Wertschätzung des Primitivismus war nicht ohne die Entstehung des Kulturrelativismus denkbar“, s. Beyme, Klaus von (2008). Die Fas‐ zination des Exotischen. Exotismus, Rassismus und Sexismus in der Kunst. München: Wilhelm Fink, 133. Vgl. Kaufmann, Doris (2013). „Primitivismus“. Zur Geschichte eines semantischen Feldes 1900-1930. In: Literarischer Primitivismus. Gess, Nicola (Hrsg.). Berlin/ Boston: De Gruyter, 93-124. Hier 105 ff. Zum Paradigmenwechsel der Neubeurteilung „primitiver“ Kunst, s. Clifford 1988, 198-214; Kiefer, Klaus H. (1994). Diskurswandel im Werk Carl Einsteins. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der Europäischen Avantgarde. Tübingen: Max Niemeyer, 175-184. 18 Kramer, Fritz W. (1995). Zwischen Kunst und Wissenschaft: Zu Ethnologie und Exo‐ tismus der Jahrhundertwende. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaft kea. Sonderband „Ethnologie und Literatur“, 11-28. 19 Gamboni, Dario (2010). The Vision of a Vision: Perception, Hallucination and Potential Images in Gauguin’s „Vision of the Sermon“. In: Visions. Gauguin and his Time. Van Gogh Studies 3. Amsterdam: Zwolle, 11-28. Hier 16. native“, welche im europäischen Heimkontext entstehen, fern von den Gefahren einer realen „Verwilderung“. Mit Solomon-Godeau lässt sich an dieser Stelle vorerst rekapitulieren: „There are, of course, as many ways to go native as there are Westeners who undertake to do so“. 16 Die im Kontext rassendeterministischer, eurozentrischer Diskurse des 19. Jahrhunderts geformten Begriffe rund um das „Verwildern“ des Europäers in der Begegnung mit den indigenen Stammeskulturen sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Wandel. Die Theorien des Kulturrelativismus und auch die neu erprobten Formen ethnographischer, kulturanthropologischer Feldfor‐ schung läuten einen höchst wirkungsreichen Paradigmenwechsel ein, der das Verständnis des „Going native“ in der indigenen Gemeinschaft verändert und sich besonders stark auf die Erforschung aussereuropäischer Stammesobjekte auswirkt. 17 Die europäischen Kunstschaffenden, die gleichzeitig die Stammes‐ kunst für sich entdecken, sei es als Reisende oder proaktive BesucherInnen von Völkerkundemuseen, Flohmärkten und Antiquitätenläden, tragen zu diesen Verschiebungen bei. Sie erproben einen neuen Zugang zur fremden Kulturwelt jenseits kolonialer und exotistisch-orientalistischer Massstäbe des 19. Jahrhun‐ derts. Die alternativen Strategien der Künstler und Literaten spiegeln dabei die neuen wissenschaftlichen Methoden, respektive stossen diese mit an. 18 Für Gauguin beschreibt Dario Gamboni im Zusammenhang mit dessen berühmtem bretonischen Werk La vision du sermon (1888): […] Gauguin had painted Vision of the sermon ‚one step removed‘ and with an attitude akin to that of an anthropologist. One could indeed speak of ‚participant observation‘ in relation with Gauguin’s attitude […]. 19 45 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="46"?> 20 Mit ihrem Gemeinschaftsbegriff knüpfen die Künstler an die frühen Reformbewe‐ gungen der „temps des sociétés“ ( Jean-Paul Bouillon) an, sie orientieren sich an den Lebens- und Selbstvermarktungsstrategien, den die Künstlergemeinschaften in der Transitionsperiode vor dem Erstarken des Kunstsystems der „Händler und Kritiker“ entwickelten. Zum Zusammenhang der Begriffsbildungen von Gemeinschaft und Ge‐ sellschaft in den Sozialwissenschaften (Tönnies, später Durkheim, Simmel), s. Bismarck, von, Beatrice (1992). Die Gauguin-Legende. Die Rezeption Paul Gauguins in der französischen Kunstkritik 1880-1903. Münster/ Hamburg: Lit Verlag, CIII. Diese Feststellung, dass Gauguins Werke von der Haltung eines teilnehmenden Beobachters zeugen, wird im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte mehrfach gemacht. Grundsätzlich ist man sich darüber einig, dass die Neuverhandlungen von Interkulturalität in Wissenschaft, Kunst und Kultur der Jahrhundertwende Spuren in den Werken von Gauguin und den primitivistischen Künstlern hin‐ terlassen haben. Die Einflussbewegungen des anthropologischen Diskurses sind jedoch unterschiedlich stark, ebenso die (Selbst-)Reflexivität der Künstler. Und gerade das Beispiel Gauguin zeigt exemplarisch, wie diese (Selbst-)Reflexivität unterschiedlich gedeutet werden kann. Im Folgenden nähert sich die Studie dem interkulturellen Paradigmenwechsel des neuen Exotismus respektive Primitivismus wie gesagt über den Begriff des „Going native“. Die relative Offenheit des Begriffs wird als Chance für die Beschreibung der künstlerischen Interkulturalität gesehen. Das „Going native“ des europäischen Künstlers bedeutet in seiner Extrem‐ form eine radikale Abwendung von der europäischen Gesellschaft und den Versuch, auch jenseits der Kunst sich einem einfachen Leben zu verschreiben, ein ursprüngliches Leben nach dem Vorbild der sogenannten „primitiven“ Kulturen zu führen. Gauguins Künstlergemeinschaft im bretonischen Pont Aven, sein mit van Gogh für kurze Zeit gelebtes „Atelier des Südens“ und darauf sein „Atelier tropique“ auf Tahiti sind sozialutopische Visionen: Der Künstler soll (wieder) in ein soziales Kollektiv eingebunden und als Schöpfer einer wirkungsmächtigen Kunst verstanden werden, die aus einer gemeinsamen Vorstellungswelt entsteht und die Gemeinschaft nachhaltig prägt. 20 Mit dem „Going native“ erprobt Gauguin den produktiven Verlust („letting go“) von Gesellschaft, Konvention und Individuum und der ‚kultivierten‘ europäischen Kunstformen. In der Einfachheit und Ursprünglichkeit des indigenen Zusam‐ menlebens glaubt er eine ebensolche einfache und ursprüngliche Schaffenskraft aktivieren zu können und an die Quellen von künstlerischem Ausdruck und Form zu gelangen. Gauguins kategorische Abwendung und Neuorientierung, diese „moving force“ beeindruckt nachhaltig. Sein Überläufertum wird zum Vorbild. 46 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="47"?> 21 Ich nehme hier Bezug auf Ernst Kris und Otto Kurz, die mit ihrer Abhandlung Legende vom Künstler (1934) für die Analyse der Topoi des Künstlers als genialischem Einzel‐ gänger und Seher am Rande der Gesellschaft grosse Pionierarbeit leisteten. In ihrer Studie setzten sie den Schwerpunkt auf die Frühe Neuzeit, skizzierten aber auch die Weiterentwicklung dieser Topoi und deren institutionelle Prägung im 19. Jahrhundert an. Vgl. Kris, Ernst/ Kurz, Otto [1934]. Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt a.M: Suhrkamp 2008. Vgl. White, Harrison C./ White, Cynthia A. (1993). Canvases and Careers. Institutional Change in the French Painting World. Chicago: University of Chicago Press. 22 Für biographische Angaben und einen Überblick über Gauguins Auseinandersetzung mit indigener Kunst s. Danielsson, Bengt (1969). The Exotic Sources of Gauguin’s Art. In: Expedition 11 Nr. 4, 16-26. Unter dem Bann Gauguins und seines in der Südsee erprobten „Going native“ stehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur viele bildende Künstler, sondern wie schon erwähnt auch die fiktiven primitivistischen Künstlerfiguren des lite‐ rarischen Expressionismus. Es bietet sich darum an, sich diesen Künstlerfiguren über die berühmt-berüchtigte Vaterfigur der Bewegung zu nähern. Um das Gewicht der expressionistischen Referenz auf Gauguin richtig abschätzen zu können, wird im folgenden Kapitel der Blick für sein „Going native“ geschärft. Dabei muss zwischen realer und künstlerischer Dimension dieses „Going native“ differenziert beziehungsweise sein „primitives“ Lebens- und Kunstkonzept auf die spezifische Zusammensetzung zwischen Realität, Vision und Inszenierung hin befragt werden. In einem ersten Schritt wird dafür die spezifische Zusammensetzung dieser ersten primitivistischen Version einer modernen Künstlerlegende 21 analysiert. Anhand Gauguins literarischem Selbstzeugnis Noa Noa, das er über seine erste Südseereise verfasst, wird daraufhin erörtert, wie Gauguin seine lebens- und werktechnische Vision von „Verwilderung“ konkret in Szene setzte. Es wird umrissen, inwiefern der Text in seiner kritischen Selbstreflexivität das Projekt des „Going native“ torpediert, beziehungsweise wie er ein „Going native“ sichtbar macht, das sich der Realität und seiner Kunst anpasst. 1.1 Gauguins „Going native“ 1.1.1 Die Legende vom „wilden“ Künstler Paul Gauguin verbringt die letzten 10 Jahre seines Lebens auf Tahiti und den Marquesas-Inseln (erster Aufenthalt 1891-1893; darauf 1895 bis zu seinem Tod 1903). 22 Er schafft in diesen Jahren die Werke, die längst „Markenzeichen der 47 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="48"?> 23 Schmidt-Linsenhoff, Victoria (2010). Die Ästhetik des Diversen. Victor Segalen und Paul Gauguin. In: Aesthetik der Differenz. Postkoloniale Perspektiven vom 16. bis 21. Jahrhundert. Marburg: Jonas Verlag, 87-108. Hier 100. 24 Zu Exotismus und Orientalismus des 19. Jahrhunderts, s. Beyme 2008, 101-125; 127-157. 25 Zur Rezeption in Frankreich: Bismarck 1992; Zur Rezeption in Deutschland: Krop‐ manns, Peter (1997). Gauguin und die Schule von Pont-Aven im Deutschland nach der Jahrhundertwende. Sigmaringen: Thorbecke. 26 Meier-Graefe, Julius (1904). Entwickelungsgeschichte der modernen Kunst. Verglei‐ chende Betrachtung der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Aesthetik. Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann, 374 f. Das Zitat bezieht sich auf Gauguins Ausstellung bei Durand-Ruel 1893 nach seiner Rückkehr vom ersten Südsee-Aufenthalt. 27 Wright, Alastair (2010). Paradise Lost. Gauguin and the Melancholy Logic of Reproduc‐ tion. In: Gauguin’s Paradise Remembered. The Noa Noa Prints. Ausst.kat. Princeton Populärkultur“ 23 geworden sind und die in ihrer dekorativen Exotik heute eine Ausstrahlungskraft haben, die derjenigen orientalistisch-exotistischer Kunst des 19. Jahrhunderts nicht unähnlich ist. Dies entspricht jedoch keineswegs der historischen Wirkung seiner Kunst. Dekorativ exotisch wirkten Gauguins Bilder auf das nach Exotismus dürstende bürgerliche Kunstpublikum nur be‐ dingt. 24 Das Publikum goutierte seine mit Material, Raum, Farbe und Symbolik experimentierende Kunst nicht. 25 Höchstens als Kuriosität habe es Gauguin und seine Kunst wahrgenommen, so berichtet Julius Meier-Graefe in der Entwicklelungsgeschichte der modernen Kunst [sic], die im Jahr nach dem Tod des Künstlers erschien: Der Erfolg war Null. Das Publikum und zumal die Kundschaft Durant-Ruels fand die Bilder allerdings höchstens kurios, kurios wie ihren Autor, der in seiner auffallenden Tracht, der blau und gelb gestickten Weste, den schweren Ringen an den Fingern und dem eigenhändig geschnitzten feierlichen Stock, dazu mit seinem Hidalgostolz in dem groben Gesicht, überallhin nur nicht auf den Boulevard gehörte. 26 Gauguins Technik, Stil und Motive werden vor allen Dingen als Provokation wahrgenommen, als klare Kampfansage an die Salonkunst und die etablierte impressionistische Avantgarde. Mit seinen Gemälden, Zeichnungen, Holzskulp‐ turen, Holzschnitten und Keramiken, für die nach seinem Tod - mithilfe der Kolportage seiner Legende - die Nachfrage schnell steigen wird, reüssiert Gauguin zu Lebzeiten nicht über gewisse Avantgardekreise hinaus. Seine Bil‐ dersendungen nach Paris sind wenig einträglich; es gelingt ihm nicht, an seinen mäßigen Erfolg mit den Bretagne-Bildern anzuknüpfen. Während Gauguins temporärer Rückkehr 1893 bis 1895 ist das Interesse der Künstlergemeinschaft an seinen Werken und Erzählungen zwar groß (vor allem bei jungen Anhängern und symbolistischen Dichterkreisen), die Verkaufsausstellungen sind jedoch wenig erfolgreich. 27 Doch die Legende Gauguins nimmt Gestalt an - die mit den 48 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="49"?> University Art Museum. New Haven/ London: Yale University Press, 49-99. Hier 52; 67. Eisenman 1997, 140. Zurück in der Südsee wird Gauguin später von einer bescheidenen Zahlungsvereinbarung mit Ambroise Vollard abhängig sein. Zur Rezeptiongeschichte allgemein und der Realität hinter der Legende von Gauguins Erfolglosigkeit zu Lebzeiten, s. Kropmanns 1997; Kropmanns, Peter (1998). Gauguin in Deutschland. Rezeption mit Mut und Weitsicht. In: Paul Gauguin: Das verlorene Paradies. Költzsch, Georg-W. (Hrsg.). Köln: DuMont, 252-271. 28 Bismarck 1992, 10. 29 Gauguins Freund George-Daniel de Monfreid hat dies früh realisiert, vgl. Dening, Greg (1997). Mahu on the Beach. In: London Review of Books Jg. 19 Nr. 10, 16-17. Hier 16: Monfreid „[…] wrote to him that, out on the margins of civilisation, he was dead already, and a legend for that.“ 30 Perry 1993, 9-46. Hier 8. Perry hält fest, dass die Suche nach Ursprünglichkeit nicht in einer direkten Konfrontation mit „primitiven“ Kulturen gipfeln muss, respektive eine direkte Konfrontation nicht zwangsläufig primitivistische Kunst nach sich zieht: „[…] the actual act of ,going away‘, of seeking out a ,primitive’ culture, was often conflated with the production of work in a ,primitive‘ style, though the latter did not necessarily follow from the former. Both aspects of artistic production were often identified as evidence of ,originality’ […].“ Gill Perry setzt „originality“ in Klammern. Mit diesem zwischen „Ursprünglichkeit“ und „Originalität“ (im Sinne von Eigenständigkeit) schil‐ lernden Begriff vermag er das Ideal des Primitivismus gut zu umreissen. Gesten der Rebellion gepaarte Exotik wirkt um die Jahrhundertwende nicht nur auf Avantgardekreise verlockend. Beatrice von Bismarck fasst zusammen: Von einem zunächst vehement angegriffenen, über längere Perioden unbeachteten Künstler entwickelte sich das Bild Gauguins zu dem einer anerkannten Figur der Kunst um die Jahrhundertwende, eines Lehrer einer ganzen Künstlergeneration, eines genialen Menschen. 28 Dass Gauguins Traum eines Lebens und Schaffens ohne Nöte in finanziellem und gesundheitlichem Ruin endet, vervollständigt das Bild des Revolutionärs der modernen Kunst. Sein Leben und Sterben in der Südsee wird der Legende vom modernen Künstler, der abseits der Gesellschaft für die Kunst alles auf Spiel setzt und daran zugrunde geht, mehr als gerecht. 29 Sein radikal umgesetzter, einerseits geglückter, andererseits kläglich gescheiterter Südseetraum wird das Bild avantgardistischen Künstlers in der Folge massgeblich prägen. Vor allem für die Künstler, die später unter dem Kennzeichen des Primitivismus gefasst werden, wird Gauguins primitivistische Legende Vorbild- und Vergleichsfunk‐ tion haben. Gauguins „Going native“ wird zum Massstab, an dem der Einsatz der KünstlerInnen gemessen wird. Das Ideal primitivistischer Kunstproduktion, das Gill Perry als in totaler Hingabe realisierte größtmögliche Ursprünglichkeit be‐ schreibt, verkörpert Gauguin mit seinem künstlerischen und räumlichen „Going away“ 30 oder eben „Going native“ in vollem Masse. Insofern kann die Legende 49 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="50"?> 31 Bismarck, Beatrice von (2010). Das modernistische Paradigma: Paul Gauguin. Genie Barbar, Prophet. Kult und Kunstkritik um 1900. In: Dies. Auftritt als Künstler - Funktionen eines Mythos, Köln: Walther König, 27-56. Auch van Gogh wirkte als Vorbild in dieselbe Richtung: Zit. n. Ronald de Leeuw, Rijksmuseum Amsterdam: „Das Vorbild van Goghs […] zeigte nicht nur, wie man malen sollte, sondern auch, wie man als Künstler zu leben hatte - in völliger Aufopferung für seine Kunst“ [Herv. LF]. Vgl. Leeuw, Ronald de (1990). Vorwort. In: Vincent van Gogh und die Moderne 1890-1914. Ausst.kat. Museum Folkwang Essen/ Van Gogh Museum Amsterdam. Költzsch, Georg W. et al. (Hrsg.). Freren: Luca Verlag, 17-19. Hier 19. Vgl. auch Solomon-Godeau 1989, 314. 32 Nach seinem Tod stehen die Bilder der Südsee im Zentrum des Interesses, die Zusam‐ menhänge zu den folkloristisch-„primitiven“ Arbeiten der Bretagne geht dem Publikum später auf. Vgl. Kropmanns 1997, 13f. 33 Zur „Künstlergeschichte als Heroengeschichte“, s. Heinz, Kathrin (2015). Heldische Konstruktionen. Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg. Biele‐ feld: Transcript. 34 Die postkoloniale Forschung hat auf die gewaltsame Konstruktion dieser Gleichung aufmerksam gemacht. Die „Wahlverwandtschaft“ moderner und „primitiver“ Kunst und Kultur bedeutet (erneute) Naturalisierung und Atemporalisierung der indigenen Kultur, die Naturalisierung einer niemals egalitären Beziehung. Vgl. Clifford 1988, 190f. von Gauguins „Going native“, der Gauguin selbst durch seine Schriften Vorschub geleistet hat, in denen er das „wild Werden“ inszeniert, als grosse Folie betrachtet werden, auf der sich die Geschichte des Primitivismus entrollt. Sie ist die erste einer Folge ambivalenter Erzählungen extremer Assimilation und Eman‐ zipation. Beatrice von Bismarck spricht vom „modernistischen Paradigma“ Gauguins. 31 Und dieses Paradigma gründet zweifellos auf der „primitiven“ Dimension seines Lebens und Schaffens, welche von Anfang an im Zentrum der Rezeption steht. 32 Gauguins „Primitivität“ bedeutet Steigerung und extreme Verkörperung der Legende des bohèmen Künstlers am Rand der Gesellschaft, des modernen Künstlers als Held und Märtyrer. 33 Er ist Initiant und Repräsentant einer neuen Gleichung in der Kunst, welche moderne und die „primitive“ Kunst und Kultur verknüpft und die Bedingungen für die (Selbst-)Wahrnehmung der Künstler verändert. 34 Das extreme primitivistische Künstler-Narrativ ist Teil einer an extremen Narrativen reichen Geschichte der Modernen Kunst und Avantgarde. Die Fortschrittserzählung der Modernen Kunst unter dem Signum der Abstraktion baut auf Narrative radikaler Durchbrüche und Neuanfänge. Auch für Wassily Kandinsky als dem „paradigmatische[n] Subjekt“ der Abstraktion beispielsweise gilt das Gesetz der extremen Verkörperung. […] Kandinsky [avanciert] als einer ihrer Protagonisten, in dessen Werk sich pa‐ radigmatisch der als künstlerischer Fortschritt signifizierte, gemeinhin genannte 50 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="51"?> 35 Heinz 2015, 15. 36 Tahiti wird in den Reisebeschreibungen von Bougainville bis Loti als „île cythère“ beschrieben, vgl. Edmond, Rod (1997). Representing the South Pacific. Colonial Dis‐ course from Cook to Gauguin. Cambridge: Cambridge University Press, 223-264. Solomon-Godeau 1989, 322; Das idealisierte Bild der Südsee als Paradies der freien Liebe, bzw. das dazugehörige Bild der exotischen Frau ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts intakt, und lockt wie die Jahrhunderte zuvor durch einen gewissen ,schauerromanti‐ schen‘ Reiz. Im Diskurs über Tahiti wirken auch im 20. Jahrhundert die Theorien um Hypersexualität und Kannibalismus nach, die den Missionaren, Wissenschaftlern und der Kolonialverwaltung im 18. und 19. Jahrhundert für die Typologisierung der Bevölkerung der Archipele die mächtigsten Bilder lieferten. Vgl. Eisenman 1997, 104. Zur sexuellen Ebene ausführlich: Solomon-Godeau 1989; Taylor, Sue (1993). Oviri: Gauguin’s Savage Woman. In: Konsthistorisk tidskrift, Jg. 62, 3/ 4, 197-220; Pollock, Griselda (1992). Avant-garde Gambits 1888-1893. Gender and the Colour of Art History. Walter Neurath Memorial Lectures 24. London: Thames & Hudson. 37 Bismarck 2010, 34. 38 Zur Dimension der Verschränkung von Leben und Werk als Schockeffekt s. bspwe. Eisenman 1997, 10. Mit der „Maison du Jouir“ auf Hiva Oa treibt Gauguin die Verkörpe‐ „Durchbruch zur Abstraktion“ zugleich als eine individuelle Entwicklungsgeschichte ereignet, selbst zu einem solchen „Markenzeichen“. 35 So beschreibt Kathrin Heinz die Entwicklung der Heroengeschichte Kandinskys. Leben und Werk, „individuelle Entwicklungsgeschichte“ und historischer „Durchbruch“ werden im Falle Kandinskys wie Gauguins als Einheit betrachtet und zu einer grossen Erzählung natürlicher Analogien und Verkörperung zusammengeführt. Die Legende von Gauguins „Going native“, dies haben zuletzt Bismarck, Childs, Dagen, Druick, Eisenman, Goddard, Schmidt-Linsenhoff und Andere gezeigt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus einem unauflösbaren Netz my‐ thischer Narrative gewoben ist: Das Narrativ von Tahiti als der „Liebesinsel“ 36 , dasjenige indigener Lebensart und Kunstschaffens in zeitloser Ursprünglichkeit und des Indigenen als Urahn des zivilisierten Europäers gehen Hand in Hand mit der Legende des modernen Künstlers ausserhalb von Gesellschaft und Tradition und steigern sich im Bild des Künstlers vor Ort. Massgebliche Konse‐ quenz dieser Überlagerung der Projektionsebenen ist wie gesagt eine extreme Verschränkung von Leben und Werk des Künstlers. Beatrice von Bismarck fasst treffend zusammen: „Auf ihn übertrugen sie [die Rezensenten/ Kunstkritiker] dieselben vorgefassten Vorstellungen vom Primitiven wie auf seine Motive.“ 37 Die Verschränkung von Leben und Werk, welche insbesondere die konservative Kunstkritik ins Negative überspannt, ist im „Going native“ selbstverständlich angelegt. Gauguin reizt das Potential der Übertragung in seiner Selbstinszenie‐ rung als „Wilder“/ „sauvage“ bewusst aus. 38 Gerade in der Überbetonung des 51 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="52"?> rung des Amoralischen auf die Spitze. Eisenman schreibt: „There, Gauguin championed inversion, perversion and decadent exhaustion of all kinds.“ 39 Bismarck 2010, 36f. 40 Segalen, Victor [1919]. Hommage à Gauguin. In: Segalen, Victor. Œuvres complètes (1995). Bouillier, Henry (Hrsg.). Paris: Ed. Robert Laffont, 295. (1919 in der Edition der Briefe Gauguins an Georges-Daniel de Monfreid erschienen, vgl. Kap. 2.2). „Er hat in sich selber eine Art Gattungsgenie, herrisch, hochmütig und linkisch, fruchtbar und stürmisch, wie es sich zuweilen in den Ursprungszeiten der im Entstehen begriffenen Völker erhebt. Er trug es in sich selber. Durch seine Schöpfungskraft kam seine Bedeutung der einer ganzen Rasse gleich“ [Herv. LF, Übersetzung Felix Bühlmann]. Zum „Exoten“ und Monster Gauguin bei Segalen vgl. Kap. 2.2.2; Kap. 2.2.3. 41 Zur Sakralisierung von Kunst und Künstler im Symbolismus, s. Gamboni, Dario (1995). „Of Oneself “, „To Oneself “. Symbolism, Individualism and Communication. In: Lost Paradise. Symbolist Europe. Ausst.kat. Museum of Fine Arts Montreal. Théberge, Pierre/ Clair, Jean (Hrsg.). Montreal: McClelland & Stewart Inc., 242-250. Lebenskunst-Begriffes gleichen sich die modernistisch-avantgardistischen und konservativen Vorstellungen von Künstlerschaft. Der primitivistische Künstler besetzt sowohl in affirmativen Konzepten wie pejorativen Urteilen eine lebens‐ künstlerische Sonderposition, die über den traditionellen Begriff des schöpferi‐ schen Genies hinausgeht. 39 Der französische Militärarzt, Archäologe und Literat Victor Segalen (1878- 1919), dessen Schriften im zweiten Kapitel ausführlich behandelt werden, hat diese neue Form von schöpferischem Genie als exotisches und interkulturelles Genie beschrieben, als Genie, das in einer monströsen Lebenskunst Erfüllung findet. In seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten Text Hommage à Gauguin schreibt er beispielsweise: […] il [Gauguin] contenait en lui-même une sorte de génie d’espèce, impérieux, orgueilleux et gauche, fécond et tumultueux, comme il s’en lève parfois aux temps des origines chez les peuples en formation. Lui le tenait dans son seul individu. Par sa puissance de créer, il équivalait une race entière. 40 [Herv. LF] Segalen krönt Gauguin mit Superlativen und bedient einen klassischen Genie‐ diskurs, über den er jedoch bewusst hinauszuschiessen scheint. 41 Das kräftige Bild, dass Gauguin in seiner unermesslichen Schöpfungskraft (wir erinnern uns an die „moving force“) eine ganze Rasse aufwiege, ist im kolonialen Zusammenhang unmissverständlich chauvinistisch und rassistisch, das Bild kippt hingegen in seiner offensichtlichen Überbetonung. Segalens Zugang zu Interkulturalität und Exotismus ist radikal und, wie erörtert werden wird. zeigt sich dies gut in seiner Darstellung Gauguins als Monster und „Exot“. Diesem und anderen Entwürfen der Darstellung des primitivistischen „Going native“ wird weiter nachgegangen. 52 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="53"?> 42 Die kritische Aufarbeitung des Mythos Gauguin beginnt in den 1950er Jahren mit Bengt Danielssons Studie über das Tahiti der Jahrhundertwende. Bislang existiert keine umfassende Studie über Rezeption und Forschungsgeschichte Gauguins. Ansätze bei Eisenman 1997, Schmidt-Linsenhoff 2010, Childs 2003 u.a. 43 Andersen, Wayne (1971). Gauguin’s paradise lost. London: Viking Press, zit. n. Ei‐ senman, 16. 44 Childs, Elizabeth, C. (1996). The French Connection. Rezension: Sweetman, David. Paul Gauguin. A Life. New York 1996. In: The New York Times 31.3., 22. Für die Gauguin-Forschung bedeutete und bedeutet die extreme Verschrän‐ kung von Leben und Kunst in der Südsee die grosse Herausforderung; wobei die sexuelle Dimension seines (künstlerischen) „Going native“ das Problem intensi‐ vierte und intensiviert. Seine Forschungsgeschichte lässt sich dementsprechend als Geschichte des Abarbeitens an der mythischen Verschränkung von Lebens- und Werkzusammenhang lesen. 42 Grundsätzlich gilt: Die Forschung hat die Erzählung vom „wilden“ Künstler als Grenzgänger und Freigeist entschlüsselt und dekonstruiert, aber immer auch den Mythos verstärkt, indem sie Gauguins Sonderstatus unkritisch reproduzierte. In den 1970er Jahren, zu einer Zeit, als die Dekonstruktion des Mythos Gauguin schon begonnen hatte, schrieb beispielsweise Wayne Andersen: Gauguin ‚created‘ a style of painting in the sense that he gave it its life force; and the vitality of his art was matched by the potency of his personality, by the loudness of his actions. 43 Die Rezeption Gauguins als kraftstrotzender männlicher Erneuerer wurde und wird immer noch fortgeführt. Dieser Heldengeschichte hält die neuere For‐ schung entgegen - beispielsweise Elizabeth Childs mit folgender lakonischen Zusammenfassung des Mythos Gauguin: […] The myth is so seductive that it is nearly impossible not to consider Gauguin as the anointed Adam (or Columbus) of the avant-garde, braving an alternative new world in the fin de siecle, rather than as the disaffected, competitive fellow he was - at times unsure of himself, sometimes uninspired or overwhelmed by homesickness and poverty in his self-imposed exile, working unevenly, without always finding creative success, and constantly looking over his shoulder to check the profile of his reputation back in Paris. The maker of those primitive idylls of tropical harmony and dreamy simplicity actually lived a rather marginal and disjointed existence in Polynesia, where he was neither native nor fully French, and never simply a tourist or a colonial immigrant. 44 53 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="54"?> 45 Die Kritik an der tendenziell formalistisch/ stilistischen Perspektive der frühen kunsthisto‐ rischen Primitivismusforschung war für die postkoloniale Forschung richtungsweisend. 46 Griselda Pollock, Stephen Eisenman, Dario Gamboni, Viktoria Schmidt-Linsenhoff u. a. haben Grundsatzdiskussionen zum „polynesischen“ Gauguin anhand Mana’o tupapa’u geführt. 47 Vgl. Originalmanuskript von 1893, zit. nach zweisprachiger Ausgabe von Pierre Petit: Gauguin, Paul [1893, unpubl.; 1954]. Noa Noa. Petit, Pierre (Hrsg.). München: Meta‐ morphosis 1992, 56 f. (Im Folgenden NN). Zur Textgenese von Noa Noa, vgl. Kap. 1.2.1. Cahier pour Aline (1892/ 95): Cahier pour Aline. Faksimile. Damiron, Suzanne (Hrsg.). Paris: Societé des Amis de la Bibliothéque d’art et d’archéologie de l’Université de Paris 1963, 16. 1.1.2 Realität und Vision des „Going native“ Kunsthistorische Fragen zu Gauguins „Going native“ gestern und heute Die Fragen der kunsthistorischen Primitivismus-Forschung zu Gauguin zielen allesamt ins Herz des „Going native“: Wie ist der/ das „Primitive“ zu fassen, dem sich Gauguin verschreibt? Welcherart ist sein Verhältnis zur polynesischen indigenen Kunst und Kultur? Inwiefern sind seine Bildwelten „primitiv/ istisch“ und verdanken ihre „Primitivität“ dem Austausch mit den Indigenen? Wie lässt sich der Einfluss von Gauguins Assimilation an das Leben der Indigenen für sein Schaffen messen? Diese Fragen können im Zusammenhang dieser Arbeit mit dem Fokus auf die expressionistische Rezeption nicht beantwortet werden. Indessen hat die Gauguin-Forschung der vergangenen Jahrzehnte aber auch aufgezeigt, dass diese Fragen wenig Sinn machen, denn sie führen ins Uferlose. Gauguins Leben in der Südsee und sein „polynesisches“ künstlerisches Universum sperren sich gegen einfache Antworten. Der Primitivismus seines Werkes erschöpft sich nicht in Motiv und Technik und ist nicht eindimensional. 45 Wir haben es mit einer komplexen interkulturellen Figur und ebensolchem Werk zu tun - die Rede von einer extremen Assimilation ist nur in modalisierender Form haltbar. Die Schwierigkeiten der Kunstgeschichte mit der „primitiven“ Vision Gau‐ guins lassen sich mit der sehr disparaten Interpretationsgeschichte von Mana’o tupapa’u (Der Geist der Toten wacht, 1892) gut illustrieren. 46 Der Fall des berühmten Bildes, das Gauguin in mehreren Schriften und Briefen erwähnt (insbesondere in Noa Noa und Cahier pour Aline) 47 und dort als massgebendes Bild seiner ersten Südseereise präsentiert, zeigt zudem gut, wie geschickt Gauguin als Inszenator eines „Going native“ agiert, welches sowohl in Bild und Text für verschiedene Interpretationen offen bleibt. Gauguin steuert in seinen Schriften bewusst die Auslegung seiner avantgardistischen Ästhetik. 54 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="55"?> 48 Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2010, 102ff. Seine spezifischen Kommentare zu Mana’o tupapa’u siedelt Schmidt- Linsenhoff „im Spannungsfeld von Ethnographie und Pornographie“ an. 48 Abb. 4: Paul Gauguin: Mana’o tupapa’u (Der Geist der Toten wacht) (1892) Mit Mana’o tupapa’u bringt Gauguin einen spezifisch „primitiven“ Moment im Leben seiner 13jährigen Geliebten Teha’amana zur Darstellung - einen Moment kindlich-naiver Todes- und Dämonenfurcht. In Noa Noa und Cahier pour Aline schildert er die Begebenheit hinter dem Gemälde: wie er seine Vahine (tahit. Frau/ Ehefrau/ Geliebte) mitten in der Nacht bei seiner Rückkehr von einem Ausflug zu Tode erschreckt habe und Teha’amana geglaubt habe, von den Totengöttern geweckt worden zu sein. Unter anderem erwähnt er, dass seine Geliebte nie schöner gewesen sei als in dieser Situation pani‐ scher Angst. Diese Aussage wurde oft zitiert, um Gauguins kolonialistischen primitivistischen Zugriff zu beschreiben. Die ästhetisierte und sexualisierte Darstellung dieser Szene der Angst hat insbesondere die feministische Kritik stark beschäftigt. Griselda Pollock beschrieb das Bild als Gauguins erfolg‐ 55 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="56"?> 49 Pollock 1992, 16ff. 50 Pollock 1992, 40f. 51 Ebd., 35. 52 Schmidt-Linsenhoff 2010, 88. reichen Versuch, Manets Olympia zu übertrumpfen. Mana’o Tupapa’u sei als Schachzug einer avantgardistischen Inszenierungsschlacht zu verstehen. Tatsächlich, so merkte Pollock an, hätten Gauguins Zeitgenossen vom Bild als der tahitianischen oder braunen Olympia gesprochen. 49 Im Gegensatz zu Manet hätte Gauguin mit der Strategie der kunsthistorischen Referenznahme jedoch nicht sozialkritisch operiert, sondern den Körper seiner Geliebten fetischisiert und sie zur Prostituierten gemacht: The painting references the modernity of Olympia only to erase it with a racist fiction about the fascinating and desirable difference of a pre-modern world of simple, superstitious Tahitian women afraid of the spirits of the dead. 50 Linda Nochlin, Abigail Solomon-Godeau, Griselda Pollock und andere zeigten auf, inwiefern die künstlerischen Innovationen Gauguins auf dieser Fetischi‐ sierung des weiblichen exotischen Körpers gründen. Sein „Going native“ be‐ schrieben sie als einen gewaltsamen Akt respektive als eine plakative Aneig‐ nung, die nicht auf einer ernsthaften Auseinandersetzung mit und Annäherung an die/ das Fremde gründet. Pollock brach ihre Sicht auf das künstlerische „Going Native“ von Gauguin und der Primitivisten allgemein schliesslich auf auf folgende Gleichung herunter: „‚Going Native‘ or The Politics of Prostituti‐ onalization“ 51 . Für die neueste Forschung besteht Konsens darüber, dass einfache Etiket‐ tierungen für die Beschreibung von Gauguins gelebtem und künstlerischem „Going native“ nicht weit führen. Sein „wild Werden“, welches seit den 1970er-Jahren Gegenstand kritischer Untersuchungen ist, wird als eine höchst ambivalente Praxis beschrieben. Das Bild des „wilden“ Künstlers als „pädo‐ phile[n] Sextourist[en] und misogyne[n] Diener kolonialer Ideologien“ 52 , das im Zuge der feministischen Kunstgeschichte und der Kritik der ersten post‐ kolonialen Generation der 1970er und 1980er Jahre dem zuvor tendenziell unkritisch rezipierten Bild des „wilden“ Künstlers Platz machte, ist nuancen‐ reicher geworden. Rod Edmond (1997), Stephen Eisenman (1997), Elizabeth Childs (1999) und Andere wiesen den Weg: Gauguins „Going native“ wird als mehrschichtige ästhetische Praxis beschrieben, in welche die Reflexion über das gelebte „Going native“ zwischen Vision und (kolonialer) Realität mit hineinfliesst. Schmidt-Linsenhoff bringt in Bezug auf Mana’o tupapa’u die veränderte Perspektivierung folgendermassen auf den Punkt: 56 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="57"?> 53 Ebd., 108. 54 Dies beinhaltet auch die Reflexion über die Aneignung und Vermittlung indigener Kunstformen, vgl. die archaische Ornamentik des Bildes. Es ist zwar möglich, in ‚Manao Tupapao‘ mit der feministisch-postkolonialen Ideolo‐ giekritik nur die sexuelle Verfügbarkeit eines abergläubischen Naturkindes dargestellt zu sehen oder im Sinne einer populistisch-ideologiefreien Rezeption nur die Leis‐ tung eines Malers zu bewundern, der das erschöpfte Genre des weißen, weiblichen Aktes zu revitalisieren wusste. Dass nur wenige Interpretationen die künstlerische Selbstreflexion des männlichen, kolonisierenden Blicks wahrhaben wollen, lenkt die Verantwortung des Publikums für die Bedeutungsproduktion. Die Frage, ob Gauguin ein Profiteur oder Überwinder des Kolonialismus war […] ist falsch gestellt. 53 Schmidt-Linsenhoff nimmt Gauguins Äußerungen aus Noa Noa und Cahier pour Aline ernst, die weg vom Sexuellen auf die Angst der Geliebten fokussieren und unterstreicht, dass Mana’o Tupapa’u nicht ohne den europäischen männlichen Blick funktioniert (wie Manets Olympia), und dass dieser für den Bildaufbau und das Bildverständnis wichtiger ist als der indigene Totengeist im Hintergrund, vor dem sich Teha’amana eigentlich fürchten sollte. Gauguin, so ihre These, hätte die Angst der Indigenen vor dem europäischen Blick in Szene gesetzt und die „mariage coloniale“ als Gewaltverhältnis dargestellt. Mit Mana’o tupapa’u bringt Gauguin einen sehr kurzen Augenblick und eine komplexe Dynamik zwischen ihm und seiner Geliebten zur Darstellung. Wie es der schriftliche Kommentar erhärtet, diskutiert er von dieser Dynamik ausgehend auf mehreren Ebenen Fragen der Darstellbarkeit, Sichtbarkeit und Abstraktion. Gauguin scheint explizit auf die Schwierigkeiten seines Verhält‐ nisses zu den Indigenen und die Vermittlung des „Primitiven“ zu zielen, 54 auch auf die Vermittlungsprobleme zwischen Leben und Kunst und nicht zuletzt auf diejenige zwischen „wildem“ Künstler und Publikum. Gauguins „Grätschposition“ oder Das Dilemma des Primitivismus Gauguin ist ein Repräsentant der französischen Kolonialmacht, ein Romantiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf der Flucht und der Suche nach Freiheit, freier Liebe und unverbrauchten Motiven - sowie der rebellische, kritische Gegenpart dieser Zuschreibungen. Stephen Eisenman porträtiert ihn als Figur zwischen den Epochen: Gauguin was in the avant-garde of colonialism and thus engaged in evil works, yet he was viewed by most of his fellow colonials as a discredit to France. He was a vigorous defender of indigenous rights, but is regarded by many Polynesians today as an archetypal sexual tourist. A figure representative of imperialism at its apogee 57 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="58"?> 55 Eisenman 1997, 20. 56 Die Stationen seines Aufenthalts: Mataeia, Tahiti (1891/ 3), Punaaiua, Tahiti (1895/ 1901), Atuona, Hiva Oa Marquesas (1901/ 1903), vgl. Wadley, Nicholas/ Griffin, Jonathan (1985). Noa Noa. Gauguin’s Tahiti. Oxford: Phaidon. 57 Eisenman bspwe. unterstreicht Gauguins kolonialkritische Position, sein Fazit über dessen Beiträge für das kolonialkritische Skandalblatt Les Guêpes jedoch ist ernüch‐ ternd: „inconstant at best hypocritical at worst“. Vgl. Eisenman 1997, 15-21. and anti-imperialism at its birth, Gauguin stood unsteadily astride two historical eras and developed a form of modern painting adequate to that personal and political disequilibrium. 55 Dies ist eine treffende Beschreibung mit einer nüchternen Betrachtung des Zusammenhangs von Leben und Werk bei Gauguin. Sein Werk entspricht gemäss Eisenman diesem „persönlichen und politischen Ungleichgewicht“ zwischen den Epochen. Erstaunlich gut passt zu diesem Bild einer „Grätsch‐ position“ Robert Reys Kürzel, das wir für die Beschreibung von Gauguins „Going native“ herbeigezogen hatten („a moving force, a force that let itself go“). Das (künstlerische) „Going native“ bedeutet eine Grätschposition, eine mehrschichtige Bewegung vor und zurück; eine Bewegung zwischen Kontrolle und (absichtlichem) Kontrollverlust. Gauguins „Going native“ ist ein radikales Experiment, von ehrlichem Engagement geprägt, Ausdruck einer kritischen avantgardistischen Zeitgenossenschaft, ein Experiment jedoch, das fest in der kolonialen Matrix und derjenigen des 19. Jahrhunderts verankert bleibt. Konkret kann man von einer kontinuierlichen Annäherung und Anverwandlung an das Leben der Indigenen sprechen (zunehmende Entfernung vom kolonialen Zentrum Pape’ete, 56 Teilnahme am indigenen Leben, Einsatz für die Rechte der indigenen Bevölkerung), man muss jedoch klar relativieren: Gauguins Perspektive war privilegiert und opportunistisch, er agierte cholerisch und äusserte sich sexistisch und misogyn. In besonderer Weise zeugt sein „Haus der Lüste/ des Geniessens“ („Maison du Jouir“) vom „Going native“ als einer ästhetisch-erotischen Kolonialphantasie. Die neueste Forschung versucht wie gesagt nicht mehr, diese „Grätschpo‐ sition“ auseinanderzudividieren. Sie interessiert das Gesamtpaket sich wider‐ sprechender und entgegengesetzter Kräfte und vor allem das (selbst)reflexive Potential der mehrschichtigen Bewegung. 57 Oder wie Schmidt-Linsenhoff es programmatisch darstellt: Von Interesse sind heute nicht mehr die moralische Beurteilung der Person oder die Kritik an der kulturindustriellen Kommerzialisierung des Markenzeichens Gauguin, sondern die ästhetischen Effekte von einzelnen Arbeiten, die neo-koloniale Mentali‐ 58 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="59"?> 58 Schmidt-Linsenhoff 2010, 108. 59 Foster, Hal (2014). Das Dilemma des Primitivisten. In: Paul Gauguin. Metamorphosen. Figura, Starr (Hrsg.). Ostfildern: Hatje Cantz, 48-59. Hier 49. 60 Der Raum für den/ die nicht-westliche(n) „Andere(n)“ ist im europäischen Exotismus und Orientalismus fest umrissen. Er resp. sie ist das inferiore Gegenüber des aufge‐ klärten und zivilisierten Subjekts. Der Primitivismus codiert diese Dichotomie um. 61 Foster 2014, 49. 62 Foster spricht im Zitat davon, dass der Gegensatz der Werte „wahr“ sei. Es ist unklar, wie diese sehr weit reichende Aussage zu positionieren ist. Eventuell rührt die etwas hölzerne Formulierung jedoch von der Übersetzung aus dem Englischen her. täten und Einstellungen zu kultureller und sexueller Differenz auf unterschiedliche Art und Weise prägen. 58 Das „Going native“ ist unmöglich zu verwirklichen. Dies ist das grosse Dilemma des Primitivisten. Der europäische Künstler kann sich seiner Identität nicht entledigen und möchte dies auch nicht. Hal Foster beschreibt Gauguins Di‐ lemma dahingehend - dass er sich sowohl „der Verschiedenheit öffnen und aus seiner europäischen Identität heraustreten wollte als auch im Gegensatz zu dem Anderen bestehen bleiben und wieder als unabhängiges Subjekt hergestellt werden wollte“ 59 - dass er also zwei unvereinbare Ziele anvisierte. Gauguins Primitivismus bezeichnet Foster als Versuch der Umwertung exotistisch-orien‐ talistischer Werte, 60 als Um-Codierung, die misslingen muss, da Umwertung und Emanzipation nur in gewissem Rahmen möglich sind und sich das künstlerische Subjekt zwangsläufig gegen die Auflösung (sprich die extreme Assimilation) in einer Gemeinschaft erhebt. Den Spielraum des Künstlers steckt er folgender‐ massen ab: Gauguins Primitivismus will die[se] orientalistische Codierung umkehren: In seinen Tahiti-Schriften […] stellt Gauguin das Europäische als pervers und das Primitive als rein dar. Der Gegensatz dieser Werte bleibt in der Umkehrung bestehen, er ist wahr. Auch der Diskurs über die Symptomatik wird beibehalten: Gauguin belegt seine Landleute mit Worten wie „degeneriert“ und „dekadent“. Trotz alledem setzt er die Struktur unter Druck, da er bestrebt ist, die kulturellen Gegensätze des Europäischen und des Anderen - oftmals als weisse Repression und dunkle Sexualität dargestellt - aufzulösen, genauso wie die psychischen Binärprogramme, die diesen unterliegen - aktiv, passiv, maskulin und feminin, heterosexuell und homosexuell - selbst wenn er sogar reaktiv auf diesen Trennungen beharrt und jede endgültige Überkreuzung ablehnt. 61 Eine Auflösung der Gegensätze gelingt Gauguin gemäss Foster nicht (unter anderem da er die Gegensätze selbst beibehalte), 62 jedoch setze er die „Struktur 59 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="60"?> 63 Foster 2014, 50. 64 Childs bemerkt zu diesem heiklen Komplex in ihrer Rezension von Sweetmans Gau‐ guin-Biographie lapidar: „One could read his long roster of native mistresses either as fulfillment of erotic and polygamous desires, played out in the compliant theater of colonialism, or as evidence that Gauguin simply could not sustain personal relations“, vgl. Childs 1996, 22f. 65 Zum Aspekt der Vision in Gauguins Werk, s. Gamboni 2010; Simpson, Juliet (2010). The décor of dreams: Gauguin, Aurier and the symbolist‘ vision. In: Visions: Gauguin and his Time. Van Gogh studies 3. Stolwijk, Chris (Hrsg.). Amsterdam/ Zwolle, 31-45. 66 Zu Gauguins Montage-Strategie s. Wright 2010; Eisenman 1997; Goddard, Linda: (2008). The Writings of a Savage? Literary Strategies in Paul Gauguin’s „Noa Noa“. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 71, 277-293. Gauguin Tahiti. The Studio of the South Seas (2004). Ausst.kat. Museum of Fine Arts Boston/ Galeries nationales du Grand Palais Paris. Frèches-Thory, Claire/ Shackelford, George T.M. (Hrsg.). Boston: MFA Publications. Vgl. Kap.1.1.3; Kap. 1.2.1. unter Druck“. Seine These vom Dilemma des Primitivisten spitzt er dahingehend zu: Gauguins Ziel der Um-Codierung sei „Reinheit“ und zu diesem stehe die „hybride Natur“ seiner Kunst im Widerspruch. 63 Bei Gauguin kann man jedoch nur bedingt von einem Ziel der „Reinheit“ reden; und dass bei ihm von einem bewussten künstlerischen Widerspruch zur Utopie eines unschuldigen Paradieses und eines ebensolchen Primitivismus auszugehen ist, dies haben Stephen Eisenman, Elizabeth Childs, Alistair Wright und Andere gezeigt. Fest steht: Gauguins „Going native“ ist von der Dichotomie des Europäischen und des „Anderen“ geprägt, zum Teil hält er explizit an dieser fest. Sein Verhalten gegenüber den Indigenen, im spezifischen den indigenen Frauen, ist gewiss nicht über alle Zweifel erhaben, 64 auch pflegt er ein kolonial‐ sprachliches Vokabular. Gleichzeitig setzt er, um trotzdem bei Fosters Begriffen zu bleiben, die exotistischen und orientalistischen interkulturellen Strukturen mit seinem (künstlerischen) „Going native“ „unter Druck“. Gauguin verfolgt ein utopisches „Going native“, das auf die Überwindung dichotomer Strukturen und im Spezifischen auf die Überwindung des exotistischen Verhältnisses zwischen Künstler und Indigenen zielt. Das close reading von Noa Noa wird aufzeigen, dass es ein künstliches „Going native“ ist, welches vom eigenen Scheitern zehrt. Sein bildnerisches und schriftliches Werk ist dahingehend grundsätzlich auf das Sprengen von (vermeintlichen) Gegensätzen hin ausgelegt, als dass es Realität und Vision offen vermengt. 65 Gauguin skizziert in Schrift und Bild miterlebte indigene Bräuche, rekonstruiert mithilfe ethnographischen Bild- und Textmaterials die zur Zeit seines Aufenthalts nicht mehr gelebten indigenen Mythen und Riten und konstruiert ein Tahiti der Phantasie, dessen „primitive“ Quellen sich im Dunkeln symbolistischer Bildsprache verlieren. 66 60 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="61"?> 67 Vgl. Childs, Elizabeth C. (2000). Book Review: Stephen Eisenman, Gauguin’s Skirt, London 1997. In: Pacific Studies, Vol. 23, No. 1/ 2, 75-85. Hier 79. Childs bezieht sich auf Jeanne Teilhet-Fisks Studie Paradise Reviewed: An Interpretation of Gauguin’s Polynesian Symbolism (Ann Arbor 1983). 68 Vgl. Eisenman 1997, 56. Vgl. Kap. 1.1.3. 69 Ebd., 179f. Er agiert gleichzeitig als „lay anthropologist“ 67 , exotistischer Synthesist und als „kritischer Primitivist“ 68 . Seine Werke bewegen sich zwischen ethnographischer Repräsentation und Erfindung; oder, wie es Stephen Eisenman beschreibt, zwischen Beobachtung, Erinnerung und Imagination. 69 Und diese Hybridisie‐ rung seines Werkes korrespondiert mit der „Grätschposition“, die sein gelebtes „Going native“ auszeichnet. Goddard, Eisenman und Wright haben gezeigt, dass die ergiebigste Stra‐ tegie zur Aufarbeitung des vielschichtigen Primitivismusbegriffs bei Gauguin diejenige ist, die Inszenierung seines Verwilderns in den Blick zu nehmen. Da es in der vorliegenden Studie darum geht, das Gewicht seines mythischen „Going native“ für die expressionistische Literatur zu ermessen, steht hier schließlich Gauguins literarische Inszenierung im Zentrum (Kap. 1.2). Im nächsten Kapitel werden unter anderem auch Gauguins Darstellungen von Verwilderung in seiner Korrespondenz ein Thema sein. Es wird diskutiert, inwiefern das primitivistische Dilemma seine Inszenierungen beeinflusst und insbesondere der Frage nachgegangen, wie Gauguin die für ihn vorgesehenen Rollen - die des „Wilden“ und des Künstlers - verhandelt und für die Gestaltung des „Going native“ nutzt. 61 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="62"?> 70 Gauguin in Brief an Monfreid, 14.7.1897, vgl. Gauguin, Paul. Lettres de Paul Gauguin à Georges-Daniel de Monfreid. Mit einer Einleitung von Victor Segalen (1919). Paris: Éditions Georges Cré et C ie , 181 (Im Folgenden Lettres 1919); Gauguin, Paul. Briefe an Georges-Daniel de Monfreid. Mit einer Einleitung von Victor Segalen. Aus dem Französischen von Hans Jacob (1920). Potsdam: Kiepenheuer, 58 (Im Folgenden Briefe 1920): „Sie wissen ja, dass, wenn mich die andern mit einem System bedacht haben, ich keines habe und dazu nicht verurteilt sein will. Malen, wie es mir einfällt, heute hell, morgen dunkel, etc. …, im übrigen muss der Künstler frei sein, oder er ist nicht Künstler.“ [Herv. LF]. 71 Meier-Graefe, Julius (1903). Der moderne Impressionismus. Berlin: Bard, 52, zit. n. Kropmanns 1997, 14. 72 Wie Dario Gamboni und andere aufgezeigt haben, sind die sozialutopischen Visionen der Künstler nur im seltensten Fall auf interkulturelle und zwischengeschlechtliche Egalität und eine ernsthafte Entindividualisierung des einzelnen Künstlers ausge‐ richtet. Nicht nur für den französischen symbolistischen Kontext gilt, dass die Spannungen zwischen Individualismus und Gemeinschaft für die Visionen und Projekte geradezu konstitutiv sind. Vgl. Gamboni 1995, 244. 1.1.3 Die Südsee als kompiliertes Paradies „l’artiste doit être libre ou il n’est pas artiste.“ Gauguin an George-Daniel de Monfreid 70 Montage-Strategien in Bild und Schrift Gauguins biographische Stationen zeugen von einer lebenslangen Anziehung und Auseinandersetzung mit fernen und fremden Welten (frühe Kindheit in Peru, Seefahrten als Lotse ab 17 Jahren, Reisen nach Panama und Martinique vor seinem Aufbruch in die Südsee, etc.). Im mythischen biographischen Narrativ des Künstlers bedeutet die Südsee Fortsetzung und Krönung einer Lebensgeschichte, die mit den bretonischen und provenzalischen Stationen ihren definitiven Lauf nimmt, ja sie bedeutet für gewisse Historiker und Kritiker gar die Realisierung einer genetischen Vorbestimmung. Julius Meier-Graefe beispielsweise ist der Meinung, Gauguin sei „[…] mit dem Vorstellungsinhalt, dem er sich auf Tahiti ergab, bereits auf die Welt gekommen […]“. 71 Die Wildheit des Künstlers mit seiner Geburt zu erklären, entspricht dem rassenbiologischen Denkmuster der Zeit und entwickelt sich zu einem Topos. Gauguin seinerseits erwähnt seine südamerikanischen Wurzeln mütterlicherseits immer wieder, um sein „Going native“ zu beglaubigen und nennt sich beispielsweise „un sauvage de Pérou“ (Oviri, 10). Zum Zeitpunkt als Gauguin beginnt von Tahiti zu träumen, hat er die sozi‐ alutopische, romantische Vision eines primitiv-exotischen Paradieses jeden‐ falls schon mehrfach geäussert und zu realisieren versucht. 72 Die schlechten Erfahrungen auf der Suche nach dem Glück in der Ferne - von Gauguins 62 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="63"?> 73 In Brief Charles Lavals an Ferdinand Loyen du Puigadeau, Juni 1887. Petra Rohde übersetzte diese Stelle fälschlicherweise dahingehend: „Ein bisschen mehr Suppe und wir wären im Paradies“, s. Rohde, Petra Angelika (1988). Paul Gauguin auf Tahiti. Ethnographische Wirklichkeit und künstlerische Utopie. Rheinfelden: Schäuble, 58. Von Gauguin ist in einem Brief an seine Frau Mette Ähnliches überliefert (20.6.1897): „Avec un peu d’argent il y a quoi être heureux“, s. Gauguin, Paul. Correspondance de Paul Gauguin: documents, témoignages (1984). Merlhès, Victor (Hrsg.). Paris: Fondation Singer-Polignac, 155. 74 Vgl. Eisenman 1997, 42-49. 75 Vgl. Wright 2010. 49-99. 76 Eisenman 1997, 53f. 77 s. Wright 2010, 68 ff.; 78 ff.; 86. Aufenthalt mit seinem Schüler und Malerfreund Charles Laval 1887 auf Panama und Martinique ist folgender Ausspruch überliefert: „Un peu plus de billon [Scheidemünzen], et ce serait le paradis“ 73 - scheinen dem Ideal nichts anhaben zu können. Gauguin visioniert die Befreiung aus der mit‐ tellosen Randexistenz und erträumt eine einfache, ursprüngliche, für die Kunst anregende Umgebung und Gemeinschaft, in der er produktiv schaffen und seine Bildsprache im Blick auf die „primitiven“ Formen und Techniken weiterentwickeln kann. Vor dem Aufbruch nach Tahiti entspricht Gauguins Bild der Südsee relativ konventionellen exotistischen Mustern. In seinen Darstellungen und Beschreibungen ist Tahiti ein Ort unschuldiger Reinheit; ein naives Ideal, das den romantischen Träumen eines Jean-Jacques Rousseau bis Pierre Loti nachgeformt ist, 74 ihre eigentliche Prägung aber den modernen Massenmedien verdankt. 75 Eisenman fasst Gauguins Südseebild Ende der 1880er Jahre folgendermassen zusammen: Their [Gauguin und van Goghs] vision of the French overseas territories was framed by the relatively narrow range of their experience of ethnic difference in the métropole, by their idiosyncratic reading and by their knowledge of art in the museums and the Salons. 76 Alastair Wright hat in seiner einflussreichen Studie die bildtechnischen und textuellen massenmedialen Bezüge Gauguins rekonstruiert und aufgezeigt, wie sich dessen naive Vorstellung Tahitis entwickelt. 77 Ein besonders schönes Beispiel massenmedialer Verankerung und (stilistisch) umfangreicher Weiter‐ entwicklung ist Gauguins Bildkomplex Te nave nave fenua mit dem Ölbild von 1892 im Zentrum (Abb. 6). Das Eva-Motiv, das Gauguin schon vor 1892 erarbeitet und danach weiter ausbaut, lässt sich auf ein Relief eines buddhistischen Tempels auf Java zurückführen, dessen fotografische Reproduktion Gauguin mit nach Tahiti brachte (Abb. 7). 63 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="64"?> Abb. 5: Paul Gauguin: Te nave nave fenua (Terre délicieuse) (1892/ 94) Abb. 6: Paul Gauguin: Te nave nave fenua (1892) Abb. 7: Isidore van Kinsbergen: Relief at the Temple of Borobudur (1874) Weiter kann beispielsweise das Ölbild Pape Moe von 1893 herangezogen werden, auch dieses ist in Auseinandersetzung mit einer massenmedial verbreiteten Fotoreproduktion entstanden: 64 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="65"?> Abb. 8: Charles Georges Spitz: Tahitier, von einem Wasserfall trinkend (um 1888) Vermutlich aus einer 1889 im Zusammen‐ hang mit der Pariser Weltausstellung veröf‐ fentlichten Schrift des Botanikers Édouard Raoul (dort unter dem Titel Fontaine dans la roche aux Samoa) Abb. 9: Paul Gauguin: Pape Moe (Eau mysté‐ rieuse; Source mystérieuse), (1893) Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Gauguin mit seiner Montagetechnik ab 1890 die romantisch-exotistische Paradiesesvision bricht und Strategien künstlerischer Verwilderung erprobt, die mit denjenigen seiner exotistischen Vorbilder nichts mehr zu tun haben. Wadley zog bereits in den 1980er Jahren für Gauguins Verhältnis zu Loti folgendes Fazit: To Gauguin, Loti was a dilettante European who no more than dipped his toes in the exotism of Tahiti. Beyond confirming for us the prevalence of a European preoccupation with the distant primitive life as a pictureque and exotic dream, the comparision between Gauguin and Loti has little to offer. Wie bereits angedeutet, lässt sich diese Montagetechnik und Arbeit am Mythos Tahiti auch in Gauguins schriftlichen Äusserungen nachvollziehen. Bengt Da‐ nielsson hat nachgewiesen, dass eine spielerische Bezugsarbeit im Schriftlichen bereits im Vorfeld der Südseereisen ihren Lauf nimmt. 1889 zitiert Gauguin 65 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="66"?> 78 Gauguin zitiert aus Exposition coloniale de 1889. Les colonies françaises, Paris o.D. und Tahiti von E. Raoul (s. Bem. zu Abb. 8) und spielt auch auf die Tahiti-Konferenz (van Veene) an, die 1884 in Paris stattfand. Vgl. NN, 8 f.; Oviri, 68. 79 Vgl. Solomon-Godeau 1989, 323. 80 Brief an Mette, Februar 1890. Vgl. Rohde, 62 ff.; NN, 9. „Käme doch bald, bald der Tag, an dem ich mich flüchten kann in die Wälder einer einsamen Insel der Südsee, dort in Verzückung und Ruhe nur meiner Kunst zu leben. Umgeben von einer neuen Familie, fern von Europa und seiner Jagd nach dem Geld. Dort in Tahiti, im Schweigen der schönen tropischen Nächte könnte ich lauschen auf die leise holde Musik meines Herzens, in Liebe und Harmonie eins mit den geheimnisvollen Menschen, die mich umgeben. Endlich frei! Ohne Sorge um das Geld kann ich dann lieben, singen und sterben.“ nach dem Besuch der Weltausstellung beispielsweise Wort für Wort aus Bro‐ schüren, die den Auftritt Französisch-Polynesiens in Paris begleiteten. 78 Abigail Solomon-Godeau zufolge nahm Gauguin die Weltausstellung als „lexicon of exoticism“ wahr und benutzte Bilder, Texte und Werbeslogans entsprechend. 79 An seine Frau Mette schreibt er im Frühjahr 1890: Puisse venir le jour (et peut-être bientôt) où j’irai m’enfuir dans les bois sur une île de l’Océanie, vivre là d’extase, de calme et d’art. Entouré d’une nouvelle famille, loin de cette lutte européenne après l’argent. Là à Tahiti je pourrai, au silence des belles nuits tropicales, écouter la douce musique murmurante des mouvements de mon cœur en harmonie amoureuse avec les êtres mysterieux de mon entourage. Libre enfin, sans souci d’argent et pourrai aimer, chanter et mourir. (Oviri, 61) 80 [Herv. LF] Diese lobpreisenden Zeilen über das indigene Leben im Einklang mit der Natur zeugen ganz klar von der Permanenz des romantischen Ideals des „Edlen Wilden“. Die Beschreibung seines erhofften Befreiungsschlags in der Südsee - einer Befreiung hin zu einem Leben für die Kunst - ist aber durchaus mehrdimensional. Denn es ist sichtbar, dass Gauguin nicht nur von einer Anverwandlung an eine ideale tahititianische Natur und Kultur spricht, sondern auch von einem künstlerischen „Going native“. Die Konfliktlinien des „Going native“ zwischen Leben und Kunst, Subjekt und Gemeinschaft sind zu erahnen. Und diese Annahme verstärkt sich gleichsam mit dem Wissen darüber, dass wir es hier mit einer Montage zu tun haben. Die letzten Zeilen des zitierten Brief‐ ausschnitts („lieben, singen und sterben“) - gewissermassen der Höhepunkt der idyllischen Vision - entnahm Gauguin einer populärwissenschaftlichen, kolo‐ nialpropagandistischen Publikation. Ende 1890 kostet Gauguin diesen Bezug in einem Brief an seinen dänischen Malerkollegen Willumsen nochmals aus: Là-bas au moins, sous un ciel sans hiver, sur une terre d’une fécondité merveilleuse, le Tahitien n’a qu’à lever le bras pour cueillir sa nourriture; aussi ne travaille-t-il jamais. 66 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="67"?> 81 Brief an Jens-Ferdinand Willumsen, Ende 1890. „Dort unten, unter einem Himmel ohne Winter, auf einem Land von herrlicher Fruchtbarkeit, muss der Tahitianer jedenfalls nur den Arm heben, um seine Nahrung zu ernten. Deshalb arbeitet er nie. […] kennen dagegen die Tahitianer, glückliche Bewohner der unbekannten Paradiese Ozeaniens, nur die süsse Seite des Lebens. Für sie heisst leben Singen und Lieben.“ 82 Eisenman 1997, 56. 83 Ebd., 56. 84 Eisenman stellt in Gauguin’s Skirt die These auf, dass Gauguin sich als androgyner indigener „Mahu“ in Szene setzte. Gauguins „Going native“ in Leben und Werk inter‐ pretiert er als kontinuierliche Annäherung an dieses tahitianische dritte Geschlecht. Elizabeth Childs und Anderen kritisierten Eisenmans Analyse, s. Childs 2000, 75-85. […] les Tahitien en contraire, heureux habitants des paradis ignorés de l’Océanie, ne conaissent de la vie que les douceurs. Pour eux vivre, c’est chanter et aimer. (Oviri, 67 f.) 81 [Herv. LF] Gauguin, der sich der Künstlichkeit der Darstellung Tahitis als Paradies sehr wohl bewusst gewesen ist, reproduziert das Idealbild und überfrachtet es gleichsam ins Irreale. Eisenman resümiert dahingehend, dass Gauguin mit dieser Strategie den Exotismus vorführt und Grundsätze eines neuen „kritischen Primitivismus“ demonstriert: „Gauguin’s letter to Willumsen exposes a familiar exoticism, yet also exhibits the tenets of a new critical primitivism that would supersede it.“ 82 Diesen Primitivismus skizziert Eisenman folgendermassen: What Gauguin desired more than simply racial exotica, sexual titillation or a warm climate was a primitive, anarchist utopia, a land where money was unnecessary, and where mutual aid was the bias for a free and independent life. This would ultimately require a far more throroughgoing engagement with native culture and society than exotist sentiments permitted. 83 Kritische Selbstbefragung, bewusste Ambiguität Dieser Definition des Primitivismus als einer kritischen interkulturellen An‐ näherung und Auseinandersetzung soll weiter nachgegangen werden. Eisen‐ mans spezifische, auf die Geschlechterdimension fokussierte Perspektive, die Gauguins kritische Haltung in den Zusammenhang einer kontinuierlichen Androgynisierung stellt, wird hier aber nicht ausführlich weiter rezipiert. 84 67 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="68"?> 85 Gauguin in Brief an Theo van Gogh, 20./ 21.11. 1889, s. Shakelford, George T.M. (2004). Prologue. In: Ausst.kat. Gauguin Tahiti, 12-21. Hier 15. Vgl. Oviri, 53 f., Brief an Émile Bernard, 09. 1889. 86 Zur Ikonographie des „Oviri“, der androgynen „wilden“ Göttergestalt [„ce dieu-déesse sauvage“ (Oviri, 10)], in die dieses Rollenspiel mündet, vgl. Taylor 1993, 197-220. Abb. 10: Paul Gauguin: Soyez amoureuses vous serez heureuses (1889) Eine Vorstellung von der reflexiven Kraft und kritischen Tiefe der Gauguinschen Montagetechnik gibt das primitivistische Programmbild Soyez amoureuses vous serez heureuses, das 1889 vor seiner Abreise in die Südsee entsteht. Im Brief an Theo van Gogh äussert sich Gauguin, dass das Holzrelief eine Auseinanderset‐ zung mit der Idylle darstelle, welche der Titel evoziert: Puisque vous voulez de la littérature, je vais vous en donner un peu […] Une simple femme qu’un démon prend par la main, qui se défend malgré le bon conseil de l’insc‐ ription tentatrice. Un renard (symbole de perversité chez les Indiens). Plusieurs figures dans cet entourage qui expriment le contraire du conseil („vous serez heureuse“) pour montrer qu’il est mensonger. […] 85 Gauguin deutet an, dass das Bild als Reflexion über die zwischengeschlecht‐ liche und interkulturelle Begegnung, als mehrdimensionale Reflexion über die Dynamik und Macht der Verführung gelesen werden muss. Mit dem Wissen darüber, dass sich Gauguin zu der Zeit mehrfach als Monster und Dämon porträ‐ tierte, dass er ein Rollenspiel einging, welches er kontinuierlich ausbauen wird, 86 68 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="69"?> 87 Shakelford 2004, 15. Eisenman bringt dieses „tahitianische Modell vor Tahiti“ folgen‐ dermassen auf den Punkt: „Gauguin’s „primitivism“ was mostly forged in Brittany, not Tahiti.“ Vgl. Eisenman 1997, 16. 88 Gauguin le sauvage mit Auréole (Wandmalerei in Le Pouldu, 1889); pot anthropomorphe, 1889; Autoportrait au Christ jaune, 1890/ 91, Nature morte à l’estampe japonaise, 1889 etc. Vgl. Shackelford 2004, 15 f.; 208. Gauguin hat sich öffentlich über seine „primitive“ Keramik geäussert: Gauguin, Paul. Notes sur L’art (1889). L’Exposition Universelle. In: Le Moderniste illustré, 4/ 11.7. Vgl. Oviri, 50ff. steigert sich der selbstreflexive Tenor dieser Zeilen. Gauguin experimentiert in dieser Zeit mit einem „modèle tahitien ‚avant la lettre‘“ 87 , wie es George Sha‐ ckelford nennt. Er erprobt in der Relieftechnik und mit der Arbeit mit Keramik und Holz eine ‚Rückkehr‘ zu einfachen Formen, ursprünglichen Materialien und Herstellungsweisen. Vornehmlich in den „primitiven“ Selbstporträts, die Ende der 1880er Jahren entstehen, wird sichtbar, wie sich formale Einfachheit und Komplexität in referentieller und interkultureller Hinsicht verbinden. 88 Die Selbstporträts spiegeln die Mehrdimensionalität eines Primitivismus zwischen den Kulturen, zwischen radikaler Originalität und Aneignung fremder Formen, zwischen Subjekt und Gemeinschaft. Abb. 11: Paul Gauguin: Pot anthropomorphe (1889) 69 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="70"?> 89 Shackelford 2004, 14. 90 Gauguin in Br. an Émile Bernard, Nov. 1889. „[…] am Ende, diese Isolierung, diese Konzentration auf mich selbst, während alle Freuden des Lebens draussen sind […] am Ende ist diese Isolierung ein Selbstbetrug, und auch das Glück, es sei denn, man sei aus Eis, absolut abgestumpft. Trotz all meiner Versuche es zu werden, bin ich es nicht, die Natur kommt ständig zurück. So wie der Gauguin des Topfs, die Hand schmort in der Glut, der Schrei, der raus will. Gut, ich werde darüber hinwegkommen, was ist der Mensch nur in dieser immensen Schöpfung, und wieso soll ich es mehr als andere fordern können? “ [Übersetzung Felix Bühlmann]. Über den pot anthropomorphe (Abb. 11), der 1889 in Paris entsteht, schreibt Shackelford: L’autoportrait en forme de pot [pot anthropomorphe] signale plutôt l’affinité profonde de Gauguin pour le grotesque et le „primitif “ - qui sont manifestes tant dans la sculpture ou l’art populaire de Bretagne que du Japon. Il révèle, en outre, sa prédisposition à imprégner ses œuvres de forces lourdement chargées, délibérément ambiguës et contradictoires: ici, la tête monstreuse est montrée en train de sucer son pouce, dans un geste à la fois calculé et infantile. Ces dichotomies trouvent un écho dans les réflexions du peintre sur sa propre personnalité. 89 Diese „schwer befrachtete, bewusst ambigue gehaltene“, „kalkultierte wie infan‐ tile“ Selbstbefragung führt Gauguin in Tahiti weiter. Konstante Selbstreflexion begleitet die anvisierte Befreiung vom Subjekt in der indigenen Gemeinschaft. Ein 1889 verfasstes Schreiben aus Arles an Émile Bernard kann diese Selbstbe‐ fragung im Vorfeld von Tahiti weiter veranschaulichen. Gauguin reflektiert über den pot anthropomorphe und sein künstlerisches, primitivistisches Selbst zwischen Subjekt und Gemeinschaft. Er schreibt über den Zwang zur Selbstbe‐ fragung und über das „Leben draussen“, das Selbstverlust verspricht: […] à la fin, cet isolement, cette concentration en mois même - alors que toutes les joies principales de la vie sont dehors […] - à la fin cet isolement est un leurre, en tant que bonheur, à moins d’être de glace, absolument insensible. Malgré tous mes efforts pour le devenir, je ne le suis point, la nature première revient sans cesse. Tel le Gauguin du pot, la main étouffant dans la fournaise, le cri qui veut s’échapper. Enfin, je passerais là-dessus, qu’est-ce que l’homme dans cette immense création, et que suis-je de plus qu’un autre pour réclamer? (Oviri, 57) 90 Gauguin zeichnet eine Welt der Gegensätze, eines Innen und Aussen, scheinbar ohne Vermittlung. Die Freuden des Lebens sind draussen, während das auf sich selbst bezogene Ich sich diesen Freuden verwehrt. Selbstbezüglichkeit sei jedoch Selbstbetrug, so schreibt Gauguin, es verhindere das Glück beziehungsweise gebe eine Illusion von Glück. Aufschlussreich an diesem Zitat ist, dass Gauguin 70 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="71"?> 91 Gamboni 1995, 242. Gamboni lenkt den Blick auf die intermedialen Zusammenhänge, die den Diskurs über zeitgenössische Künstlerschaft bestimmen. Er zeigt auf, wie die symbolistische Literatur ( J.-K. Huysmans, Charles Morice, Albert Aurier u. a.) der bild‐ künstlerischen Selbstreflexion Schub gab, die bildkünstlerische Entwicklung ihrerseits wieder aufnahm und die Theoretisierung um künstlerische (Selbst-)Repräsentation, Symbolisierung und Allegorisierung weitertrieb. 92 Gamboni zeichnet die sozialhistorische Entwicklung nach, die die ‚extremen‘ symbolisti‐ schen Selbstdarstellungen zwischen Individualismus und „Anonymitätsphantasie“ mög‐ lich machte. Im Symbolismus erfahren die von Individualisierung und Marginalisierung geprägten Künstlerdarstellungen des Realismus und Naturalismus eine Steigerung. Der Künstler wird weiter überhöht und sakralisiert. Die Träume einer utopischen Künstler‐ letztlich weder dem Ausbruch nach draussen noch der Selbstbezüglichkeit das Wort redet. Man kann die kryptischen Worte dahingehend interpretieren, dass sie schliesslich festhalten, dass weder der Versuch [? ! ], ein abgestumpfter Eis‐ block zu werden, als auch der Ausbruch zur Gemeinschaft einfach umzusetzen sind. „La nature première revient sans cesse“, schreibt Gauguin, und dies ist äusserst mehrdeutig. Von diesem Konflikt zwischen Innen und Aussen zeugt nach seiner Darstellung der pot anthropomorphe („Tel le Gauguin du pot…“). Er erzählt vom Versuch des Ausbruchs und der Vermittlung zwischen Innen und Aussen. Die absolute Freiheit, die Gauguin für den Künstler und die Kunst reklamiert („l’artiste doit être libre […]“, s. Motto dieses Kapitels), so kann dieser Briefausschnitt auch zu verstehen geben, liegt möglicherweise in der Akzeptanz des künstlerischen Ichs als „erste[r] Natur“ und im Kunstwerk als dem Ausdruck der Befreiung aus der Selbstbezüglichkeit („Enfin, je passerais là-dessus […]“). Es ist bekannt, dass um die Jahrhundertwende ausführliche Diskussionen um künstlerische Individualität, Originalität, um Künstlergemeinschaft(en) und die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft geführt werden. Identitätsfragen und Fragen nach der künstlerischen (Selbst-)Repräsentation stehen im Zentrum der Auseinandersetzungen, die Künstler: innen bereiten ihre Fragen und Antworten zu Programmbildern auf, und bringen diese gegeneineinander in Stellung. Zum symbolistischen Diskurs bemerkt Dario Gamboni: The theory of art and the image of the artist (that is, the identity, mental representation and visual representation of the artist) form a plane on which all the manifestations associated with Symbolism in the plastic arts can be seen to converge. 91 Die theoretischen und schöpferischen Selbsterkundungen der Symbolisten zeichnet aus, dass sie ein grosses Spektrum abdecken zwischen den Polen eines ra‐ dikalen Individualismus und „Anonymitätsphantasien“ (Émile Bernard beispiels‐ weise forderte eine „Association des Anonymes“). Allgemein prägen ,extreme’ Formen von Künstlerschaft den Diskurs. 92 Gauguins Selbstdarstellungen als Mär‐ 71 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="72"?> gemeinschaft und einer Rückkehr in eine „era of societies“ (Bouillon) sind die zweite Seite derselben Medaille und direkte Folgen der Verschiebungen im Machtsystem der Kunst des 19. Jahrhunderts (Stichwort „dealer-critic“-System). 93 L’Écho de Paris, 23.2.1891. Vgl. NN, 9. „Ich gehe fort, um Ruhe zu finden, um mich vom Einfluss der Zivilisation zu befreien. Ich will nichts als einfache Kunst schaffen, dazu muss ich wieder in die jungfräuliche Natur eintauchen, nur Wilde sehen, ihr Leben leben, ohne andere Interesse, als die Ideen in meinem Kopf wie ein Kind wiederzugeben nur mit Hilfe primitiver Kunstmittel, der einzigen guten, der einzigen wahren.“ tyrer, Wilder, Monster oder anthropomorphes Urwesen in pot anthropomorphe spitzen die Fragen um Individualität, Künstlerschaft und das gesellschaftliche Potential von Kunst ins Elementare zu. Mit seiner primitivistischen Deutung der Konfliktlinien des künstlerischen Subjekts treibt er die symbolistische Selbst‐ reflexion weiter und vermag auf die Künstlichkeit der diskursiven Positionen (insbesondere der exotistischen Perspektive) aufmerksam zu machen. 1.1.4 Der Primitivismus als „Kunstort der Avantgarde“ Tahiti als Paradies der Kunst. Unerreichbares (künstlerisches) „Going native“ Was passiert nun auf Tahiti? Wie entwickelt sich Gauguins zusammengesetzte und selbstreflexive Paradiesesvision? Wie dessen Selbstdarstellung als Wilder vor Ort? Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass Gauguin weiter unterstreicht, dass seine Reise - sein „Going native“ - als „mission artistique“ zu verstehen ist. Er präsentiert Tahiti als einen Platz zum Arbeiten. Der Ort zum „Lieben, Singen und Sterben“ erlaubt ihm idealiter ein „Going native“ in seiner Kunst. In den Erklärungen, die er im Gespräch mit dem Journalisten Jules Huret für L’Écho de Paris gibt, betont er kurz vor der Überfahrt nach Tahiti nochmals, dass die erträumten idealen Zustände in der Südsee auf sein Schaffen ausgerichtet sind: Je pars pour être tranquille, pour être débarassé de l’influence de la civilisation. Je ne veux faire que de l’art simple, très simple; pour cela j’ai besoin de me retremper dans la nature vierge, de ne voir que de sauvages, de vivre de leur vie, sans autre préoccupation que de rendre, comme le ferait un enfant, les conceptions de mon cerveau avec l’aide seulement des moyens d’art primitifs, les seuls bons, les seuls vrais. (Oviri, 69 f.) 93 Er will sich in der Auseinandersetzung mit den „Wilden“ („sauvages“) auf die Ursprünge der Kunst, auf einfache Mittel und Formen besinnen. Die Bewegung zurück zu den Wurzeln, zum Kind, einem einfachen Leben und „primitiver“ Vitalität beschreibt er auf die Kunst ausgerichtet. Mit den Worten zum pot anthro‐ pomorphe im Gedächtnis ist wichtig zu beobachten, dass Gauguin diese Bewegung zurück nicht als Selbstverlust zeichnet. Grundsätzlich wird die Selbstbefragung 72 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="73"?> 94 Wright 2010, 78, zit. n. Field, Richard S. (1961). Gauguin plagiaire ou créateur, Paris, 139. 95 Brief an Daniel de Monfreid, 7.11.1891, s. Lettres 1919, 81. Vgl. Briefe 1920, 1f.: „Sie fragen mich was ich tue - Das ist schwer zu sagen, denn ich kenne den Wert meiner Arbeit selbst nicht. Bisweilen finde ich, dass es ganz gut ist, gleichzeitig bin ich über den Anblick entsetzt. Bis jetzt habe ich nichts Besonderes gemacht; ich begnüge mich damit, in mir selbst zu suchen, nicht in der Natur […].“ 96 Brief an Mette, März 1892. „Mon centre artistique est dans mon cerveau et pas ailleurs et je suis fort parce que je ne suis jamais dérouté par les autres et que je fais ce qui est en moi.“ 97 Das Manifest erschien als Beilage der Zeitschrift Poésie im Frühjahr 1909 (Nr. 28), darauf in Poésie Nr. 31/ 32/ 33, Juni-August 1909, 162-167. Vgl. Futuristie: Manifestes, Proclamations, Documents (1973). Giovanni Lista, Giovanni (Hrsg.). Lausanne: l’Âge d’Homme, 69-79. des pot anthropomorphe anhalten, ja wird sich auf Tahiti intensivieren. Sie steht gleichsam unter dem Stern einer ambivalenten Äusserung, die Gauguin in einem frühen Brief an Odilon Redon macht - Schelmisch schreibt er diesem, er habe mit bei seiner Flucht lediglich „Gauguin“ hinter sich gelassen: „Gauguin est fini pour ici, on ne verra plus rien de lui. Vous voyez que je suis égoïste […].“ 94 Mit dieser Formulierung scheint er nicht nur die Aufmerksamkeitspolitik des Kunstsystems, sondern auch die populären Vorstellungen des Selbstverlusts in der Annäherung an die „primitive“ Kultur zu konterkarieren. Auch in anderen frühen Briefen aus Tahiti wird deutlich, dass Gauguin keinen Selbstverlust anstrebt: „[…] je me contente de fouiller mon moi-même et non la nature“ - er begnüge sich damit, in sich selbst und nicht in der Natur zu suchen, schreibt er an Daniel de Montfreid. 95 Und seiner Frau Mette legt er dar, dass sich sein „künstlerisches Zentrum“ in seinem Hirn befände, und nirgendwo sonst (Oviri, 78). 96 Diese Aussagen entsprechen nicht den gängigen Bildern von Verwilderung. Gauguin redet von Einkehr und Selbstreflexion anstelle einer Bewegung gegen Aussen und einer naturverbundenen Assimilation. Mit seinen Äusserungen scheint er bewusst auf die Grenze zwischen Leben und Kunst aufmerksam zu machen und diese aufrechtzuhalten. Implizit geht er damit gegen die originären Vorstellungen europäischer Theoretiker an, welche die „primitive“ und primi‐ tivistische Kunst von der Aufhebung dieser Grenze her in den Blick nehmen, und diesen Vorstellungen entsprechend beispielsweise den Indigenen einen Begriff von Kunst absprechen. Wie Letzteres argumentiert wird, ist besonders schön bei Maurice-Ary Leblond zu beobachten, dem Autor aus dem Umkreis der konservativen Autoren des späteren Manifeste du Primitivisme. 97 In l’Art sauvage von 1904 hält Leblond fest: 73 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="74"?> 98 Leblond, Marius-Ary. [Pseudonym der Schriftsteller Georges Athénas und Aimé Merlo] (1904). l’Art sauvage. In: Les Arts de la Vie 2, Nr. 8. Paris, 88. zit. n. Dagen 2010, 248. „In schlichter Wollust nutzen sie ihr instinktives Talent dazu, in Anmut und Schönheit zu leben. Sie betreiben eine so vollkommene Kunst des Lebens/ Lebenskunst, dass das, was wir Kunst nennen, nicht mehr existiert. In der Faulheit ihrer Existenz, die nichts anderes ist als ein Mittagsschlaf der Kunst“ [Übersetzung LF]. 99 Heinrichs 1995, 29f. 100 Ebd. Sobres avec volupté […] ils [les primitifs] ont employé tout leur talent instinctif à vivre avec grâce, et ils pratiquent si pleinement l’art de vivre que ce que nous appelons art n’existe plus. […] Dans la paresse de leur existence qui n’est autre qu’une sieste de l’art. 98 Gauguins montierte Paradiesesbilder zeigen keine derartige Naturalisierung der tahitianischen Kultur und sein Primitivismus setzt bestimmt nicht einen „Mittags‐ schlaf der Kunst“ voraus. Sein „Going native“ ist vom „primitiven“ Leben, von der Vitalität und der Körperlichkeit „primitiver“ Kultur bestimmt, geht aber nicht darin auf. Es ist auf das Kunstwerk ausgerichtet, auf ein künstlerisches „Going native“, und in diesem ist das Dilemma des Primitivisten, das letztlich als ein doppeltes Dilemma der Verkörperung beschrieben werden muss, eingeschrieben: Nicht nur bleibt die indigene reale Lebenswelt unfassbar und das „Going native“ lebenstech‐ nisch nicht möglich. Das künstlerische „Going native“ bedeutet zwangsläufig eine Verdoppelung dieser unmöglichen Verkörperung. In Noa Noa ist dieses doppelte Dilemma gegenwärtig. Es kann später gut aufgezeigt werden, wie Gauguin in seinem Bericht dem Ideal des „Going native“ verpflichtet bleibt, sich aber - zwangsläufig und bewusst - davon absetzt. Reflexionsraum auf das Dilemma des „Going native“ Bei Gauguin kann man mit Hans Jürgen Heinrichs von einem Primitivismus als „Spurensuche des Elementaren“ 99 sprechen. Sein Primitivismus basiert auf einer Spurensuche, welche die „primitive“ Kunst und Kultur nicht naturalisierend beschränkt und, wie Heinrichs die gängige Missdeutung zusammenfasst, nicht als „Primitivität des Anfangens“ verkennt: Der Primitivismus ist eine wiederaufgenommene Spurensuche des Elementaren, an Objekten (der Kunst, der Magie und des Rituals), die ihrerseits ebenso Zeugnis ablegen von einer Suche nach dem Frühen und Unvermischten. Dies wurde lange Zeit missverstanden, insofern man den vitalen und religiösen Bezug zum Absoluten als primitiv denunzierte und seine Gestaltung in der Kunst als „Primitivität des Anfangens“ missdeutete. So kam die Negerplastik als „absolute Plastik“ (Hausenstein) nicht in den Blick. 100 74 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="75"?> 101 Ebd., 30. 102 Schmidt-Linsenhoff 2010, 91. Schmidt-Linsenhoff skizziert das Konzept des „Kunstorts der Avantgarde“ an, baut es aber nicht systematisch aus. Ihre These erwächst aus dem Doppelporträt Paul Gauguin/ Victor Segalen, primär analysiert sie Gauguins Cahier pour Aline. 103 Auch in dieser Arbeit werden die Verbindungslinien zwischen Segalen und Gauguin zur Beschreibung des Phänomens Primitivismus nachgezeichnet. Im literaturwissenschaftli‐ chen Kontext haben Maria Zinfert, Jennifer Yee, Michaela Holdenried, Oliver Lubrich u. a. diesen Bezug bereits fruchtbar gemacht. Das Problem des Primitivismus und auch des „Going native“, so kann man an diese Definition anschliessen, ist, dass die Spurensuche des Elementaren gleichsam immer (wieder) im Namen des Absoluten fortgeführt werden und absoluten Charakter annehmen muss. Der Primitivismus ist auf das Absolute, Elementare und Universelle fixiert und die Verkörperungsphantasie des Primi‐ tivismus beständig. Heinrichs kommentiert diese Disposition historisch folgen‐ dermassen: Für die primitivistischen Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts - und für Gauguin als deren Vorgänger - gelte, dass sie „noch die Verwegenheit [gehabt hätten] zu glauben, dem Ursprünglichen und den Urbildern sehr nah und dem Form gewordenen Archaischen begegnet zu sein.“ 101 Was weiterhelfen kann bei der Beschreibung des spezifischen Primitivismus von Gauguin zwischen reflexiver und substanzieller elementarer Spurensuche, ist Viktoria Schmidt-Linsenhoffs Konzept des Primitivismus als „Kunstort der Avantgarde“. 102 Es ist dies ihre Definition des Primitivismus, die sie in Bezug auf Gauguin und Segalen erarbeitet und die gleichsam auch ein Spiegel ihrer postko‐ lonialen kunsthistorischen Herangehensweise ist: eine Definition, die auf kunst‐ soziologischen und inhaltlich-konzeptionellen Beschreibungen des Phänomens Primitivismus fusst. Mit „Kunstort der Avantgarde“ unterstreicht Schmidt-Lin‐ senhoff Gauguins avantgardistische Ausrichtung auf eine elitäre (und zum Teil explizit fiktive) Künstlergemeinschaft und akzentuiert dessen Primitivismus als elaborierte Kunstsprache. Sie zeigt auf, wie das künstliche Tahiti, welches Gauguin und auch dessen Exotismus-kritischer Promotor Victor Segalen 103 erschaffen, ein Reflexionsraum auf das Dilemma des „Going native“ darstellt: In ihm wird eine Form von künstlicher/ künstlerischer Interkulturalität, ein künstliches „Going native“ erprobt, welches real nicht gelebt werden kann. 75 1.1 Gauguins „Going native“ <?page no="76"?> 104 Es gibt drei sehr unterschiedliche Varianten vom Text: 1. das sogenannte Originalmanu‐ skript MS 1893 aus Gauguins Hand, im Jahr seiner zwischenzeitlichen Rückkehr aus Tahiti (1893) in Paris entstanden (1951 wiederentdeckt, Erstpublikation 1954, im Archiv des Getty Research Institute, LA), 2. das „Louvre“-MS, die zwischen 1895/ 99 in Zusammenarbeit mit Charles Morice entstandene Textvariante (Louvre RF 7259) und 3. MS 1901, die Textvorlage, die ebenfalls aus dieser Kooperation hervorging und die Maurice zur ersten unauthorisierten Edition benutzte (Vorabdruck in Zeitschrift, darauf bei Verlag La Plume 1901). Zur Textgenese vgl. Wright 2010, 51-54, Wadley 1985, 85-107. 105 Goddard 2012, 77. Vgl. ebd. 2008, 277. 106 Foster 2014, 49. Foster bezeichnet Noa Noa als „überspitzte Darstellung seines ersten Aufenthaltes in Tahiti“. 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) 1.2.1 Mehrstimmigkeit und Melancholie Gauguins Textkonvolut Noa Noa, das in mehreren Varianten existiert, 104 zeugt von dem Versuch, das einfache Leben für die Kunst zu realisieren. Zwangsläufig ist der Text daher mehr als ein Bericht über Gauguins Aufenthalt in Tahiti. Es ist ein hochgradig romantisierter fiktionaler Bericht, dessen Autor im Folgenden mög‐ lichst konsequent als „Ich-Erzähler“ gefasst werden soll, um dem Abstand zwischen Fiktion und Fakt gerecht zu werden. Goddard stellt klar: „Both image and text are based on a collage of representations - whether oral legend, colonialist fiction, or photography - not on autobiographical fact.“ 105 Da Gauguin in seiner Korrespon‐ denz beschrieb, dass er Noa Noa zur Erklärung und Vermarktung seiner Werke vorgesehen hatte, wurden die erzählerischen Volten und die „Überspitztheit“ 106 der Darstellung in der Vergangenheit oft marktstrategisch interpretiert. Gauguin sei mit Noa Noa dem Publikum entgegengekommen und habe ein idealisiertes Bild seiner „Verwilderung“ gezeichnet. Er verschweige die Mühen des Alltags, seine Krankheiten und beispielsweise seine Unkenntnis der Sprache der Einheimischen und präsentiere seinem Publikum - wohlgemerkt nach der Schilderung seiner Enttäuschung über die Verwestlichung des Landes - ein geglücktes „Going native“ nach seinem Rückzug aus der tahitianischen Hauptstadt Pape’ete. Die Authentizität dieser „Verwilderung“ wurde lange nicht angezweifelt. So schreibt beispielsweise Pierre Petit im Vorwort zur zweisprachigen Noa Noa-Ausgabe von 1988 folgendermassen über Gauguins „Going native“: Nachdem er aus der Hauptstadt der Insel geflohen war, gelang es ihm, durch eine Symbiose mit einer authentischeren tahitianischen Natur und Gesellschaft sein Denken und seine Kunst zu regenerieren. Seine ,Heirat’ mit der jungen Teha’amana ermöglichte es ihm, wahrhaft primitiv auf tahitische Weise zu leben. Seine Entdeckung 76 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="77"?> 107 Petit in: NN, 10. Zit. n. Gauguin in Brief an Paul Sérusier, 25.3.1892 (Oviri, 80). Auch Jean Loize bspwe. schrieb in den 1960er Jahren: „As soon as he takes up a pen, Gauguin is entirely spontaneous, with no literary tricks: he knows that he is barbarious and shocking“, zit. n. Goddard 2008, 277 (ursprünglich französisch). 108 Vgl. Wright 2010; Goddard 2008, 277-293; Childs, Elizabeth C. (2003). Gauguin as Author: Writing the Studio of the Tropics. In: Van Gogh Museum Journal, 70-87. 109 Vgl. Childs 2003. Zu den Referenzen im bildtechnischen Bereich: Gauguin bringt bekanntlich eine grosse Sammlung an Bildmaterial nach Tahiti (Kataloge, Postkarten, Photographien, Zeitungsauschnitte), vgl. Wright 2010, 78ff. 110 Wright zeichnet nach, wie Gauguin diese Mehrstimmigkeit in der zweiten Bearbeitung des Textes (Louvre-MS) und in den Aufzeichnungen für seine Tochter (Cahier pour Aline, 1892/ 95) weitertreibt. Zu den multimedialen Rollenspielen Gauguins allgemein, s. bspw. Wrights Analyse von Gauguins Pseudonym Mani Vehbi-Zunbul Zadi. Wright beobachtet: „The adoption of alter egos is simply the lighthearted face of a deeper unease about the difficulty of holding on to a stable sense of authenticity“, vgl. Wright 2010, 60ff.; 72ff. 111 Goddard 2012, 14. 112 Die Publikation wurde nie realisiert. Von den ursprünglich zehn Druckstöcken sind acht erhalten geblieben. Eine erste Serie Drucke stellt Gauguin eigenhändig im Februar und März 1894 her, eine zweite Gruppe liess er im Frühling 1894 unter seiner Aufsicht von Louis Roy drucken (s. u.). Im Jahr 1921 schliesslich druckte Gauguins Sohn Pola posthum mit den acht erhalten gebliebenen Druckstöcken eine Serie schwarzweisser der Maori-Mythologie war eine Offenbarung für ihn: „Welch eine Religion ist die alte ozeanische Religion! Welch ein Wunder! Mein Kopf platzt davon…“ 107 Doch wie zahlreiche Forscher: innen der letzten Jahrzehnte aufgezeigt haben, steht gerade dieses „wild Werden“ im Zentrum einer Manipulation. 108 Die indigene Realität sowie die autobiographischen Stationen, die der Ich-Erzähler Gauguin schildert, sind das Resultat einer intertextuellen und bildtechnischen Montage. Zentrale intertextuelle Einflüsse für Noa Noa sind Vincent van Gogh Schriften, Pierre Lotis Le marriage de Loti (Paris 1880), Eugène Delacroix‘ Journal (Paris 1893), J.A. Moerenhouts Voyages aux îles du Grand Océan (Paris 1837), das Reisealbum eines französischen Marineoffiziers namens Godey oder die Werke von Flora Tristan, Gauguins Grossmutter mütterlicherseits. 109 Alastair Wright spricht von „ventriloquism“ 110 , von Mehrstimmigkeit des Textes, davon, dass fremde Stimmen den Text vom Genre eines „intimen Tagebuchs“ in Beschlag nehmen und das Sprechen über das geglückte „Going native“ torpedieren. Die Mehrstimmigkeit verstärke den Topos der Melancholie über den Verlust des Paradieses im Text und präge ihn nachhaltig. Aus der Mehrstimmigkeit erwächst, so beschreibt es Linda Goddard, eine den Text charakterisierende Bewegung des Enthüllens und Verhüllens. 111 Diese Bewegung kennzeichnet auch den Bilderzyklys, den Gauguin für Noa Noa herstellte - Holzschnitte, die einem kontinuierlichen Überarbeitungs- und Überschreibungsprozess ausgesetzt waren. 112 Wright bezeichnet sie als „extraor‐ 77 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="78"?> Abzüge. Vgl. Brown, Calvin (2010). Paradise Remembered. The Noa Noa Woodcuts. In: Gauguin’s Paradise Remembered. The Noa Noa Prints. Ausst.kat. Princeton University Art Museum. New Haven/ London: Yale University Press, 101-126. 113 Wright 2010, 82. Die Reproduktionstechnik wird in diesem experimentellen Prozess gleichsam zum inhaltlichen Akteur: Wright schreibt: „Reproduction ceases to be mere technique - a convenience in the making of images - and begins to operate as content.“ 114 Goddard 2012, 14. Noa Noa ist gemäss Goddard „self-consciously ’anti-literary‘“: „[…] Noa Noa functioned less as an explanatory guide than as a means for Gauguin to provoke his European audiences through a contradictory practice of concealment and revelation.“ 115 Wright 2010, 53ff. dinary visual palimpsest[s]“ 113 . Die Strategie der Verschleierung und Enthüllung - Goddard redet von einer „anti-literarisch[en]“ Strategie 114 - interpretieren sowohl Goddard wie auch Wright als große Reflexion über Authentizität. Wright schlussfolgert folgendermassen über die Holzschnitte: […] in the act of cutting into the surfaces of the wooden block, Gauguin found the means to communicate: his realization that, no matter how fervent his desire to penetrate Tahitian Culture, no matter how sincere his wish to transform himself - as he so often claimed - into a ‚savage‘, he would never be able to achieve this goals. 115 78 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="79"?> Abb. 12-14: Paul Gauguin: L’Univers est créé, Noa Noa-Folge (1894), gedruckt von Louis Roy Dies sind drei sehr unterschiedliche Abzüge desselben Druckstocks. Es ist sichtbar, wie Gauguin mit Farben und Tinten und unterschiedlichen Druck‐ stärken arbeitete und Unschärfe miteinbezog. Mit Ihnen wollte er die Szene il‐ 79 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="80"?> 116 MS 1893 gilt seit dessen Wiederentdeckung in den 1950er Jahren als ‚authentischste‘ Version von Noa Noa, da das Manuskript vor der Zusammenarbeit Gauguins mit Charles Morice entstand. Da die Arbeit die Darstellung des „Going native“ fokussiert und nicht auf Fragen der Mehrstimmigkeit und Intermedialität (im Hinblick auf die Interaktion mit Morice) zielt, ist die Entscheidung einer Beschränkung auf MS 1893 gerechtfertigt. Aus praktischen Gründen zitiere ich aus der zweisprachigen Noa Noa-Edition von Pierre Petit, die auf dem Originalmanuskript MS 1893 fusst (NN). 117 Gerade weil in den beiden jüngeren Manuskriptvarianten die Inszenierung des „Going native“ und Polyphonie des Textes offener zutage tritt, wären diese für diese Studie jedoch äusserst interessant gewesen. Grundsätzlich lässt sich in den Versionen eine klare Arbeitsteilung zwischen Morice und Gauguin ausmachen. Morice tritt als „Zivi‐ lisierter“, Gauguin als „Wilder“ auf. Vgl. Wright 2010, 90. 118 Wright 2010, 88: „The implication that the artist had penetrated the culture learning its myths from a native rather than reproducing them from an old book he picked up in Papeete is, the argument goes, all part of a carefully planned deception.“ 119 Goddard 2008, 285. Goddard formuliert dieses polare Interpretationsangebot in Bezug auf die sogenannte „Rosenbaumszene“ (vgl. folgendes Kap. 1.2.2). Sie schreibt: „For most commentators, this episode marks Gauguin’s transformation - genuine or cynical - from European to ‚primitive‘. However, even after this event, he frequently undermines his ‚savage‘ identity and ironically highlights the fragility of his ‚conversion.’“ lustrieren, in der seine Geliebte Teha’amana ihn in die tathitianische Geschichte des Ursprungs der Gestirne einführt. Wichtig ist, dass das Bild keine Illustration des Textes darstellt. Es bezieht sich nicht auf die Erzählung von Teha’amana (respektive nicht auf die Version der Ursprungsgeschichte, die Gauguin einem spezifischen ethnographischen Werk entnahm), sondern ist eine Art Traum- oder Stimmungsbild, das auf Gauguins zentrale tahitianische Bildideen verweist. Die folgende Analyse des „Going native“ in Noa Noa - für die ich aus dem Ori‐ ginalmanuskript MS 1893 zitiere 116 - entsteht auf Basis dieser Erkenntnisse. 117 Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen Fragen zur Narration: Wie ist die „Symbiose“ mit den Indigenen, das „wahrhaft primitive“ Leben, das Pierre Petit in Noa Noa ausmacht, erzählt? Mit welchen Szenen inszeniert der Ich-Erzähler das - unmögliche - geglückte „Going native“ im Paradies, welches nicht dem Idealbild entspricht? Die zentrale Frage hierbei ist, ob sich Noa Noa als „sorgfältig geplante Täuschung“ 118 auch konstruktiv lesen lässt. Gibt es im Text etwas wie ein „Going native“ ‚trotz allem‘? Ein „Going native“ jenseits von Authentizität und zynischer Dekonstruktion, den beiden Polen, die Goddard als vordergründiges Interpretationsangebot des Textes ausmacht? 119 80 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="81"?> 120 Oviri, 339 [Herv. LF]. „[…], denn mein Werk hat nichts Überraschendes, nichts Verwir‐ rendes an sich, außer (eben) dieses ‚ungewollt Wilde‘.“ [„Wilder wider Willen“, LF]. Abb. 15: Paul Gauguin: Noa Noa, Manuskript (1893) 1.2.2 Close reading. Gauguin als „Wilder wider Willen“ „Je suis par terre, mais pas encore vaincu. […] Tu t’es trompé un jour en disant que j’avais tort de dire que je suis un sauvage. Cela est cependant vrai: je suis un sauvage. Et les civilisés le pressentent: car dans mes œuvres il n’y a rien qui surprenne, déroute, si ce n’est ce „malgré-moi-de sauvage“. C’est pourquoi c’est inimitable.“ 120 Gauguin an Charles Morice, April 1903 81 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="82"?> 121 Wie vorher bereits erwähnt, muss selbstverständlich zwischen Autor und Ich-Erzähler des Textes unterschieden werden. Da wir es hier mit einem Reisebericht und intimen Tagebuch zu tun haben, Textgenres, für die die Kongruenz von Autor und Ich-Erzähler ausschlaggebend sind, erlaube ich mir jedoch zeitweilig von Gauguin zu sprechen. 122 Wie die tahitianische Linguistin Hariata Millaud ausführt, lässt sich alleine anhand des leitmotivischen Gebrauchs der Duftmetapher die mehrschichtige, synästhetische Gestaltung des Textes verdeutlichen. Sie übersetzt den Begriff „Noa Noa“ mit „très parfumé, sublime, très chanceux, très riche, d’une potentialité absolue, d’un intérêt indéniable.“ In ihrer Studie führt Millaud (u. a. im Bezug auf die Begriffsverwendung von „Noa Noa“) den Nachweis, dass Gauguin ein nuancenreicheres Tahitianisch gesprochen haben dürfte als angenommen, vgl. Childs 2003, 75 f.; Wadley 1985, 141-144. 123 Vgl. Version La Plume 1901, s. Gauguin, Paul [1901]. Noa Noa, Berlin: Cassirer 1918, 11. Noa Noa ist als Überblick über den gesamten ersten Aufenthalt auf Tahiti gestaltet. Anhand weniger bedeutungsvoller Szenen, die von seinen persönli‐ chen Erfahrungen berichten, beziehungsweise von persönlichen Erfahrungen zu berichten vorgeben, und der Wiedergabe von Mythen, die ihrerselbst in einen ‚autobiographischen‘ Erzählrahmen eingespannt sind, schildert der Ich-Erzähler 121 Gauguin sein „Going native“. Der Text ist klar strukturiert und in vier Etappen aufgeteilt, die mit Desillusion, Annäherung, Initiation und Aufnahme als „Wilder“ überschrieben werden können. Die Ausgangslage: Erster Teil: Desillusion Der Ich-Erzähler beschreibt die Bewohner Tahitis enttäuscht als zivilisiert und ist „angewidert“ von der „europäischen Trivialität“, auf die er trifft („écœuré par toute cette trivialité européene“; „C’était bien fini: rien que des Civilisées“) (NN, 20 f.; 22 f.). Die Indigenen, so schreibt er, hätten keine Kenntnis mehr über ihre Götter, Mythen und Legenden, kurz: Tahiti ist kein Paradies der Ursprünglichkeit. Nur für Augenblicke, so stellt es der Erzähler dar, blitze die Ursprünglichkeit auf, sie sei lediglich in der unfassbaren Grazie der Tahi‐ tianer: innen wiederzufinden. Sehr früh wird im Text die Duft-Metapher des Titels ins Spiel gebracht („Noa Noa“ = angenehmer Duft/ Geruch; wohlriechend, duftend). Der Ich-Erzähler benutzt sie, um mit ihr die betörend unergründliche und flüchtige Erfahrung der indigenen Ursprünglichkeit zu verbildlichen. 122 Der enttäuschte und traurige Erzähler hält fest: „J’étais triste; venir de si loin pour..“ (NN, 22 f.) - er setzt Punkte der Auslassung, die an dieser Stelle des Berichts vielsagend sind: Das „Going native“ ist zur Leerstelle geworden (1901 wird im Erstdruck ergänzt sein: „Der Traum welcher mich nach Tahiti geführt, wurde durch die Tatsachen grausam verscheucht“ 123 ). Der elegische Grundton von Noa Noa zeugt von der Trauer über diese Leerstelle, der Erzähler beklagt das zerstörte alte Tahiti und den Verlust an Authentizität. Dies entspricht der 82 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="83"?> 124 Vgl. Wright 2010, 55 f.; Edmond 1997, 223-264; 262. 125 Wright hält fest, dass Gauguin die kolonialen Gründe für die Zerstörung des alten Tahiti (im Gegensatz bspw. zu Loti) bewusst waren. Die melancholische Verlustklage Gauguins charakterisiert er folgendermassen: „Nevertheless, he was clearly drawn to the idea of endings, attracted in a typically colonialist way to notions of native deathliness, and he was inclined to see everywhere about him a pervasive melancholy.“ 126 Ebd., 22 f. „Meine Entscheidung war schnell getroffen: Papeete so schnell wie möglich verlassen, mich vom europäischen Zentrum entfernen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, wenn ich mit den Eingeborenen von Tahiti mitten im Busch lebte, würde ich mit Geduld das Misstrauen dieser Menschen überwinden, und ich würde Wissen.“ 127 NN, 24 f. Über seine erste Geliebte Titi urteilt Gauguin: „Es war mir bewusst, dass diese halb Weisse, durch den Kontakt mit all den Europäern ,gefirnist‘, mich nicht zu dem festen Formel des verlorenen Paradieses in der exotistischen Literatur und der Anthropologie des 19. Jahrhunderts. 124 Gauguins nachdrückliche Benennung der kolonialen Gründe für den Zerfall der indigenen Kultur und die experimen‐ telle, nur teilweise der Entwurfsstruktur des Textes geschuldeten Art und Weise, wie er diesen Zerfall und das sich daraus entwickelte neue interkulturelle Verhältnis reflektiert, unterscheidet die Verlustklage in Noa Noa jedoch von den zum Teil prominent als Intertext mit dem Text verwobenen Elegien des 19. Jahrhunderts. 125 Doch wie gestaltet der Erzähler die Klage konkret? Im ersten Teil vermisst der Erzähler die tahitianische Realität unter der Prämisse des Verlusts und schildert misslingende Versuche der Annäherung an diese Realität, an Land und Leute. Wichtig dabei ist, dass er mehr oder weniger versteckt die spezifische Annäherung als Künstler fokussiert. In wenigen Szenen verbildlicht er die Gleichgültigkeit und Melancholie der Indigenen und das Misstrauen, welches sie ihm entgegenbringen. Die Realität, so schreibt der Ich-Erzähler, lasse ihn erblinden [„j’étais en quelque sorte aveugle“ (NN, 20)]; unter diesen Umständen könne er nicht arbeiten. Das heisst: Es ist kein (künst‐ lerisches) „Going native“ möglich. Gauguins Hoffnung ist in Folge, entfernt von der Hauptstadt auf eine ursprünglichere Gemeinschaft zu treffen. Er will das Misstrauen der Einheimischen überwinden und deren einfaches Leben führen: Ma détermination fut bientôt prise: quitter au plus vite Papeete, m’éloigner du centre européen. J’avais comme un vaque pressentiment qu’en vivant complèment dans la brousse avec des naturels de Tahiti j’arriverais patiemment à vaincre la défiance de ces gens-là et que je Saurais [sic]. 126 [Herv. LF] Zweiter Teil: Annäherung Der zweite Teil des Berichts handelt von der Umsetzung ebendieses Planes. Der Erzähler schildert die Befreiung von seiner als zu europäisch beschriebenen Freundin 127 und den Wegzug aus der Hauptstadt. Wie das obige Zitat klar macht, 83 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="84"?> Ziel führen würde, das ich mir vorgenommen hatte“. Hier zeigt sich die rassistische und chauvinistische Seite von Gauguins „wild Werden“ offen. Das Bild einer übermalten Kultur, bzw. einer übertünchten Rasse nimmt Gauguin immer wieder auf, vgl. bspw. die Szene um die Königin Marau zu Beginn von Noa Noa: „An diesem Tag hatte der jüdische Teil ihres Blutes alles absorbiert […] Als ich sie später wiedersah, erkannte ich ihren Maori-Charme; das tahitianische Blut gewann die Oberhand“, s. NN, 20f. 128 In der deutschen Übersetzung („Entscheidung“) ist diese „Schicksalshaftigkeit“ abge‐ schwächt. Gauguin dramatisiert seine Entscheidung jedoch immer wieder und präsen‐ tiert seine Verwilderung als Schicksal. In Briefen an Familie und Freunde redet er von Beginn weg von seinem Tod in der Südsee und spitzt damit die Schicksalshaftigkeit seines „wild Werden“ zusätzlich zu. Vgl. Oviri, 65; 67. 129 NN, 22 f. „Wird es mir gelingen, eine Spur dieser so fernen, so mysteriösen Vergangen‐ heit wiederzufinden? “ 130 Vgl. Kap. 1.1.4. 131 NN, 68 f. „Adieu, gastliches Land! Bei meiner Abreise war ich zwei Jahre älter - und um 20 Jahre verjüngt, auch barbarischer und dennoch klüger geworden.“ 132 „Je suis enfin ici au milieu des miens et de mes amis. Et si j’ai à me plaindre du silence de la direction des Beaux-Arts, du manque à toutes les promesses faites à mon départ en mission, j’ai eu de la part des artistes, des penseurs etc. .…, la seule récompense de mes efforts intellectuels.“ / „Endlich bin ich wieder unter den Meinen und meinen präsentiert er die Suche nach dem „Primitiven“ und sein „wild Werden“ als Schicksal („détermination“). 128 Dabei ist wichtig zu sehen, dass er die Suche als Wiederfinden einer Spur der Vergangenheit und nicht als Suche nach einem „wahren“ Tahiti beschreibt. Er schreibt: „Arriverai-je à retrouver une trace de ce passé si loin, si mystérieux? “ 129 (- dies ruft Heinrichs „Spurensuche des Elementaren“ 130 in Erinnerung). Gauguin spricht sozusagen von einem eingeschränkten „Going native“ und gibt als Ziel seines Lebens im Busch an „Wissen“ zu wollen („j’arriverais patiemment à vaincre la défiance de ces gens-là et je Saurais“). Keine Rede ist im Text davon, wie er das Misstrauen der Indigenen konkret überwinden will. In seiner Beschreibung der Annäherung und Spurensuche redet er hier jedenfalls nicht von einer Assimilation durch Nachleben indigener Lebensart. Die Kategorie des Wissens hingegen nimmt der Erzähler am Schluss des Manuskripts bedeutungsvoll wieder auf. Vor der Abreise aus Tahiti resümiert er folgendermassen über sein „wild Werden“: „Adieu, sol hospitalier! Je partis avec deux années de plus - rajeuni de 20 ans, plus barbare aussi et cependant plus instruit.“ 131 Nicht nur jünger und barbarischer habe die Annäherung an die Indigenen ihn werden lassen, sondern auch klüger, erfahrener. Mit den Komparativen unterstreicht er das Prozesshafte des „Going native“ und dessen Mehrschichtigkeit. Im Appendix des Manuskripts bezeichnet der Erzähler dann seine Reise nochmals als intellektuelle Bemühung (er schreibt von „efforts intellectuels“). 132 Die Frage drängt sich auf: Welchen 84 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="85"?> Freunden,[…] so habe ich bei den Künstlern, den Denkern etc., die einzige Belohnung für meine intellektuellen Anstrengungen gefunden“ [Herv. i. O.], vgl. NN, 78f. 133 Childs 2000, 79. 134 Vgl. bspw. Cordonier, Noël (1995). Par-delà l’Exotisme. In: Victor Segalen. Actes du Colloques de Brest. Balcou, Jean et al. (Hrsg.). Brest, 227-234. 135 Vgl. Kap. 2.2.3. 136 NN, 28 f. „Da war ich also, der zivilisierte Mensch, für eine Weile den Indigenen noch unterlegen“. Diese Zeilen zeigen die Ambivalenz des Gauguinschen „Going native“ paradigmatisch (Kolonialvokabular und Um-Codierung). Die Frage ist natürlich, auf welchen späteren Status diese Äusserung des Erzählers verweist, auf eine Gemeinschaft Begriff muss man sich von der „intellektuellen“ Dimension der Transformation zum Indigenen machen? Kleiner Einschub hierzu: Das Wissen, das Gauguin erlangen will, ist weder dokumentarisch noch wissenschaftlich oder pädagogisch zu verstehen. Childs hat dies folgendermassen in ihrer Beschreibung der Gauguinschen Bestre‐ bungen festgehalten: Gauguin’s practice was simply not guided by scientific goals of precision, documenta‐ tion, consistency, statistical sampling, or comprehensiveness; nor was his overall goal, in spite of some of his rhetoric, to educate his French audience about the „vanishing“ cultural patrimony of their colonies. He aspired perhaps to attract, mystify, intrigue, titillate, shock, confuse, or to conjure dreams - but surely not to educate. 133 Entsprechend seiner bildenden Kunst geht es auch bei der Spurensuche in Noa Noa nicht um die Vermittlung und die Wiederherstellung eines indigenen Ver‐ mächtnisses, jedenfalls nicht im Sinne einer dokumentarischen „récreation“, wie das Ziel des primitivistischen künstlerischen „Going native“ in der Forschung häufig beschrieben wird. 134 Postkolonial argumentierende Forscher: innen wie Cordonier, Forsdick oder Zinfert halten für Gauguin daran fest, betonen aber, dass diese „récreation“ nicht dokumentarisch verstanden werden kann. Sie beschreiben, und hier setzt unsere Argumentation an, dass der „intellektuelle“ primitivistische Zugriff des „artiste-voyant“ (Cordonier) eine Wiederherstel‐ lung aller Unmöglichkeit zum Trotz bedeutet. 135 Im Folgenden wird eine Lektüre des Textes vorgeschlagen, die das „Going native“ zwischen körperlicher Assimilation und intellektuellem Wissen noch‐ mals vergegenwärtigt - und zwar unter dem Aspekt der dritten vermittelnden Dimension der Kunst. Offensichtlich führt der Ich-Erzähler nämlich seine gelungene Annäherung an die Indigenen im zweiten und dritten Teil des Textes mehrmals explizit auf die Kunst zurück. Mit der bemerkenswerten Wendung „J’étais donc là, moi, l’homme Civilisé, pour un moment bien en dessous du sauvage“ 136 [! ] fasst der Erzähler die Schwierigkeiten seines „Going native“ 85 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="86"?> Gleichgestellter oder die Wiederherstellung einer Ordnung, in der der „Zivilisierte“ wieder dominiert? 137 NN, 28f.: Lobpreisend hält er über seine Hütte fest: „Ich konnte mir im Schlaf diesen Raum über meinem Kopf vorstellen, das himmmlische Gewölbe, kein Gefängnis, in dem man erstickt. Meine Hütte, das war Raum, das war Freiheit“. Diese und andere Schilde‐ rungen lassen sich als Antizipation von Gauguins „Maison du jouir“ auf Hiva Oa lesen und als spezifisches Echo der „Luft-Licht-Hütten“ der europäischen Reformarchitektur. Zu den um 1860 herum wiederentdeckten Architekturformen einfacher Hütten, die in die europäische Sanatoriums-Architektur (zur Licht- und Lufttherapie) einflossen und allgemein zu Regression als Therapie von Zivilisationskrankheiten, s. Ekici, Didem (2008). From Rikli’s light-and-air hut to Tessenow’s Patenthaus: Körperkultur and the modern dwelling in Germany, 1890-1914. In: The Journal of Architecture, 13: 4, S. 379-406. bei den „authentischeren“ Indigenen (Petit) ausserhalb Papeetes zusammen. Seine Unterlegenheit gegenüber den „Wilden“ sieht er vor allem im Lebenstech‐ nischen. Er könne nicht auf Bäume klettern und jagen, bedauert der Ich-Erzähler. Wichtig ist, dass er nun aber keine Anstalten macht, die indigene Praxis zu erlernen. Vielmehr kompensiert er die Unterlegenheit durch seine Kunst. Nach einer richtungsweisenden Vision in seiner „Luft-Licht-Hütte“ 137 - nach welcher der Erzähler seine Unterlegenheit mit folgender Aussage relativiert: „Ces êtres noirs, ces dents de cannibale amenaient sur ma bouche le mot de sauvages. Pour eux aussi j’étais le sauvage. Avec raison. Peut-être.“ [! ] (NN, 30 f.) - fängt er an zu arbeiten. Der Abschnitt lautet in der deutschen Übersetzung: „Diese schwarzen Geschöpfe, diese Kannibalenzähne legten mir das Wort Wilde in den Mund. Auch für sie war ich der Wilde. Mit Recht. Vielleicht.“ Die Konfrontation des Europäers und der Indigenen wird in dieser Szene mit der Anspielung auf die Anthropophagie auf die Spitze getrieben. Der zweite Satz mit dem Wechsel der Blickrichtung relativiert und bricht in der Folge die (koloniale) Ordnung. Im Rückblick wird deutlich, dass Gauguin lediglich die Zähne der Indigenen als kannibalisch bezeichnet. Im Anschluss an diese Szene wartet der Text mit mehreren Arbeitsszenen auf, in denen sich ein neues Verhältnis zu den Indigenen verdeutlicht. Die Szenen funktionieren als Barometer der interkulturellen Annäherung. Besonders vielsagend ist die ausführliche Szene, die von der Entstehung des Porträts eines tahitianischen Mädchens (Vahine no te Tiare, 1891) berichtet (NN, 30-33). Gauguin gewährt darin Einblick in seine Werkstatt (Arbeit mit Reproduktionsmedien, Referenzen), er reflektiert über die indigene Reaktion auf seine Kunst und die indigenen, respektive universellen Vorstellungen über das Vermögen von Kunst. Die Szene ist mehrdimensional: Gauguin verweist auf die bildkünstlerischen Bezüge seines Porträts (Manets Olympia) und lässt das Mädchen ,aktiv’ Mehr‐ dimensionalität herstellen. Die Verknüpfungen der Indigena und die Missver‐ 86 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="87"?> 138 Die Übersetzung der Konstruktion „examen de peintre“ ist nicht sehr genau. „Examen“ ist in erster Linie mit „Prüfung“ oder „Untersuchung“ zu übertragen, was mehrdeutig ausgelegt werden kann. ständnisse stellt der Erzähler als für die Kunst fruchtbar dar. Interessant ist auch, wie der Erzähler scheinbar beiläufig in dieser Szene neben Manet auch Raphael und Poe sowie die „italienische[n] Primitivisten“ (NN, 32 f.) erwähnt. Allgemein gibt die Szene gerafft über Gauguins Primitivismusbegriff Aufschluss, ähnlich wie es der Bild/ Text-Komplex „Mana’o tupapa’u“ tut, mit dem die Szene über die Referenz Olympia verbunden ist. Im Misstrauen des Mädchens gegenüber Kunst und Künstler spiegelt er geschickt die Dimension der kolonialen und geschlechtlichen Machtverhältnisse und seine eigene Situation des „Going native“: J’eus conscience que dans mon examen de peintre il y avait comme une demande tacite de se livrer, se livrer pour toujours sans pouvoir reprendre, une fouille perspicace de ce qui était au-dedans. Ich wusste wohl, dass meine Arbeit als Künstler so etwas wie eine stillschweigende Forderung enthielt, sich auszuliefern, sich für immer auszuliefern, ohne wieder zu sich zu finden, eine klarsichtige Suche nach dem, was im Innern war. (NN, 32 f.) 138 Das „sich ausliefern“ für die Kunst, sowohl auf der Seite des Mädchens wie Gauguins (das „Letting go“ oder „Going native“) - so kann man die Situation plakativ fassen - gelingt im Falle dieses Porträts. Der Erzähler schreibt, er glaube ein Bild geschaffen zu haben, das dem Innern des Mädchens ähnlich sei: Ce fut un portrait ressemblant à ce que mes yeux voilés par mon cœur ont aperçu. Je crois surtout qu’il fut ressemblant à l’intérieur: ce feu robuste d’une force contenue. Elle avait une fleur à l’oreille qui écoutait son parfum. Es wurde ein Porträt, das dem ähnelte, was meine durch mein Herz verscheierten Augen wahrnahmen. Ich glaube vor allem, dass es dem Inneren ähnelte: jenem starken Feuer der gebändigten Kraft. Sie hatte eine Blume im Ohr, die sich ihrem Duft unterwarf. (NF, 32 f.) Das Porträt zeige das Innere des Mädchens, ein „starke[s] Feuer der gebän‐ digten Kraft“: Mit dieser Bildinterpretation, die im grösseren Zusammenhang als Aussage über die tahitianische Realität erkennbar ist, zeigt der Erzähler an, inwieweit sich seine Kunst vom Ideal eines Paradieses wegbewegt und trotzdem einem Ideal verpflichtet bleibt. Ausserdem ist hier die Komplexität der Duftmetapher ersichtlich und deren interkulturelle Tiefe. Pierre Petit unter‐ streicht Letzteres (unbewusst? ) mit seiner deutschen Übersetzung der Zeilen um Authentizität und Macht, indem er von einer „Unterwerfung“ der Blume unter 87 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="88"?> 139 Andere Szenen: NN, 32 f.; 37 ff. (Rosenbaumszene); 66 f. (Thunfischfangszene). 140 Die feministische Kunstgeschichte hat ehedem nicht einer solchen Distanzierung das Wort geredet. Vgl. bspw. Pollock 1992. Abigail Solomon-Godeau beobachtet zwar eine Distanzierung von der Gewalt, ist jedoch der Meinung, dass gerade die Distanzierung Gauguins und die Inszenierung der Unschuld Teha‘ amanas im Kontrast zur kolonialen und sexuellen Gewalt perverse Züge trägt. Vgl. Solomon-Godeau 1989, 324. 141 „Ich schlug zornig zu, die Hände bluteten, ich schlug mit der Lust einer besänftigten Brutalität, einer Zerstörung von ich weiss nicht was. Im Rhythmus des Axtgeräusches sang ich: ,Haue den ganzen Wald (der Lüste) an der Wurzel ab, zerschlage in dir die Liebe zu dir selbst, wie man im Herbst den Lotus mit der Hand schneiden würde.’ Völlig vernichtet, in der Tat, mein ganzer alter Vorrat an Zivilisation. Ich wurde wieder ruhig und fühlte mich von nun an als anderer Mensch, als Maori“ [Herv. LF]. Eisenman, Goddard oder Childs lesen die Rosenbaum-Szene zu Recht als große Zäsur in Gauguins Inszenierung seines „Going native“. Vgl. Eisenman 1997, 113-119; Goddard 2008, 284f. den Duft der Frau spricht. Grundsätzlich lässt sich beobachten: der Erzähler skizziert das (künstlerische) „Going native“ unter den Bedingungen kolonialer und zwischenmenschlicher Gewalt und spitzt diese Diskussion mehrfach dort zu, wo er das „Going native“ als sexuelle „Aneignung“ (s. u.) beschreibt. Der Gewaltdiskurs zieht sich durch den gesamten Text; meistdiskutiert ist die Szene, in der Gauguin von den Indigenen ein gewaltsames sexuelles Verhalten (eine „brutale[r] Besitznahme“ einer Frau) nahegelegt wird (NN, 24 f.). 139 Gauguin distanziert sich jedoch klar davon und macht unter anderem dozierende lingu‐ istische Begriffsbemerkungen: „maorie (mau=saisir)“ [aneignen]. Man kann also gleichsam verfolgen, wie das „Going native“ in der Distanzierung von einem gewaltsamen, kolonialen „Going native“ seine Konturen annimmt. 140 Dritter Teil: Initiation Der Ich-Erzähler hält in der Folge an seinem Ziel fest, ein „Wilder“ zu werden. Er schreibt „Je devenais chaque jour un peu plus sauvage“; „[…] mes voisins étaient presque mes amis“ und Ähnliches. In der zentralen Rosenbaum-Szene, die von einem Ausflug ins Hinterland mit einem androgynen indigenen Jüngling erzählt (zwecks Holzbeschaffung für die Skulpturen und Reliefs des Erzählers), folgt schliesslich die Transformation zum „Wilden“. Die obige Beobachtung bestätigt sich: In dieser Szene wird die Unterdrückung der (sexuellen) Gewalt zum eigentlichen Schlüssel des „wild Werdens“. Gauguin fällt das Holz gemeinsam mit dem Indigenen und verbindet seine Transformation zum „Wilden“ explizit mit der Zerstörung des Baumes - einer Gewalt, die er als Sublimation der Gewaltanwendung gegenüber dem reizvollen Indigenen darstellt (NN, 36-41). 141 Die „graziösen Formen“ des Jünglings („gracieuses formes“ und dessen „corps d’animal“) lösen bei Gauguin ein „Vorgefühl von Verbrechen“ aus („un pres‐ 88 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="89"?> 142 „Er […] sagte einfach und aufrichtig, ich sei nicht wie die anderen Menschen, und vielleicht als erster in der Gesellschaft sagte er, ich sei nützlich für die anderen.“ 143 Der Erzähler wird während seiner Bewährungsprobe (NN, 40 ff.) von einer Indigenen als „Taehae“ („Wilder“) bezeichnet. sentiment de crime“) - die Zerstörung des Baumes beschreibt der Erzähler folgendermassen: Je frappais avec rage et les mains ensanglantées je coupais avec le plaisir d’une brutalité assouvie, d’une destruction de je ne sais quoi. Avec la cadence du bruit de la hache je chantais: „Coupe par le pied la forêt toute entière (des désirs), coupe en toi l’amour de toi-même, comme avec la main en automne on couperait le Lotus.“ Bien détruit en effet tout mon vieux stock de civilisé. Je revins tranquille me sentant désormais un autre homme un Maorie. [Herv. LF] Der Wendepunkt für die Kunst aber, und dies ist für unseren Zusammenhang wichtig zu sehen, ist der Rosenbaum-Szene vorgeschaltet. Die Initiation scheint erst von diesem Wendepunkt aus denkbar. Vor der Rosenbaum-Szene führt der Erzähler den Jüngling ein, der ihn in die Berge begleiten wird. Er berichtet von dessen positiven Äusserung über seine Kunst und seinen Künstlerstatus: „[…] il me […] dit simplement avec sincérité que je n’étais pas comme les autres hommes, et, le premier peut-être dans la société, il me dit que j’étais utile aux autres“ (NN, 37). 142 Diese ‚Nützlichkeitserklärung‘ entspricht einer vorgeschalteten verbalen Aufnahme in die indigene Gesellschaft, sie kommt einer Erfüllung seiner sozialutopischen Vision gleich. Die Initiierung seiner Kunst und seiner Künstlerschaft (im intimen Rahmen), die hier als eine Auf‐ nahme des absolut Fremden inszeniert wird - der Künstler als „hors-la-loi“: „pas comme les autres hommes“- entwickelt sich im Anschluss an diese Szene weiter. Grundsätzlich geschieht die Transformation zum „Wilden“ als Künstler. Die Rosenbaumszene beispielsweise lässt sich als Selbstermächtigung des Künstlers als autarker Handwerker lesen. Vierter Teil: Aufnahme Der Ruf, der dem Erzähler nach der Initiation im vierten Teil des Textes voraus‐ eilt, ist jedoch zweigeteilt: er wird als Künstler betrachtet [etwa als „Mann[es] der Menschen macht“ (NN, 45)] oder als „Wilder“ [(NN, 42 f.), beispielsweise „Taehae“ 143 ]. Aus dem Prozess des „Going native“, der als anti-koloniale Emanzi‐ pationsbewegung erzählt wird, geht also eine mindestens doppelgesichtige Ge‐ stalt hervor, was dem Authentizitätsgebot des „Going native“ entgegenläuft. Im Folgenden wird veranschaulicht, dass das ,geglückte‘ „Going native“ des vierten Teils auf dieser Doppelgesichtigkeit beziehungsweise Mehrschichtigkeit beruht. 89 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="90"?> 144 Diese Zergliederung und gleichzeitige Zusammenführung der Rollen halten das Rollen‐ spiel in Gang. Eine etwas andere Schematisierung dieses Rollenspiels zeichnet Goddard; sie sieht es zwischen den Polen „primitive artist prophet“ und „European“ aufgespannt. Vgl. Goddard 2012, 80. Ihr uneindeutiger Begriff des „primitive artist prophet“ passt nichtsdestotrotz zum grundsätzlichen Interpretationsangebot dieser Studie. 145 Goddard 2008, 285 f. Goddard bezieht sich auf Nicholas Wadley, der vom „theme of disjunction“ redete (zit. n. Wadley 1985, 48). Sie beschreibt eine bewusste und durchdachte Regie der Szenen der Unsicherheit, der kulturellen Differenz und der Unmöglichkeit des „Going native“ im Text und unterstreicht die Literarizität des Originalmanuskripts. 146 „Ich ging wieder an die Arbeit, und Glück folgte auf Glück. / Jeden Morgen bei Sonnenaufgang strahlte das Licht in meine Behausung. Das goldene Gesicht Tehamanas erhellte die ganze Umgebung, und wir beide gingen zu einem Bach in der Nähe, um uns natürlich, einfach, wie im Paradies zu erfrischen. / Das Alltagsleben. - Tehamana zeigt sich immer folgsamer, liebevoller; der tahitische noa noa erfüllt alles mit Wohlgeruch. Ich habe kein Gefühl mehr für Tage und Stunden, für Gut oder Böse: Alles ist schön, alles ist gut. Instinktiv schweigt Tehamana, wenn ich arbeite, wenn ich träume; sie Es ist ein vielschichtiges Rollenspiel, bei dem der „Wilde“ und der Künstler abwechselnd einander gegenübergestellt oder zusammengedacht werden. 144 Diesem Rollenspiel entspricht, dass es konsequent Szenen des Misslingens des „Going native“ (Goddard redet von „disjunction“) 145 integriert. Es wird demonstriert, dass das geglückte „Going native“ nur aus der Mehrstimmigkeit heraus gedacht, beziehungsweise aus der Unmöglichkeit des „Going native“ heraus verstanden werden kann. Wie das „Going native“ changiert und sich dies auf der Figurenebene spiegelt, kann folgende Stelle verdeutlichen, in der der Erzähler das Zusammenleben mit Teha’amana schildert. Im Mittelpunkt der Szene stehen abgegriffene Bilder eines romantischen Paradieses, eines Garten Eden, in dem dem Ich-Erzähler das Bewusstsein von Zeit fehlt: „[…] le noa noa tahitien embaume tout. Moi, je n’ai plus la conscience des jours et des heures, du Mal et du Bien: tout est beau, tout est bien.“ Die Zeilen sind jedoch wie folgt gerahmt: Je me remis au travail et le bonheur succédait au bonheur. Chaque jour au petit lever du soleil la lumière était radieuse dans mon logis. L’or du visage de Tehamana innondait tout l’alentour et tous deux dans un ruisseau voisin nous allions naturellement, simplement, comme au Paradis, nous rafraîchir. La vie de tous les jours. - Tehamana se livre de plus en plus docile, aimante; le noa noa tahitien embaume tout. Moi, je n’ai plus la conscience des jours et des heures, du Mal et du Bien: tout est beau, tout est bien. D’instinct, quand je travaille, quand je rêve Tehamana se tait; elle sait toujours quand il faut me parler sans me déranger. Conversation sur ce qui se fait en Europe, sur Dieu, les Dieux. Je l’instruis; elle m’instruit… (NN, 52 f.) 146 90 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="91"?> weiss immer wann sie mit mir sprechen kann, ohne mich zu stören. / Gespräche über die Vorgänge in Europa, über Gott, die Götter. Ich belehre sie; sie belehrt mich…“ 147 Solomon-Godeau und Andere bemerken zu Recht, dass Teha’amana als fiktive Ver‐ mittlerin der Mythen und Legenden gänzlich überdeterminiert dargestellt ist. Vgl. Solomon-Godeau 1989, 326. 148 Kurzversion in MS 1893. 149 „Gegensatz zwischen dem religiösen Glauben, dem Aberglauben der Rasse und dem Skeptizismus unserer Zivilisation“ Die Paradiesbilder, so zeigt dieser grössere Textausschnitt, sind in einen vielsa‐ genden Rahmen eingebunden. Die unschuldige Romantik des „Going native“ ist ganz klar auf die Kunst ausgerichtet („Je me remis au travail et le bonheur succédait au bonheur“), die Beziehung wird überraschend nüchtern auf ihre Arbeitstauglichkeit geprüft („[…] quand je travaille […]“). Dass Teha’amana als folgsam („docile“) beschrieben wird, hat natürlich einen mehr als schalen Beigeschmack, und man fragt sich, inwiefern der Autor diese Szene in bewusster Kopplung zu den Stellen geschaffen hat, in denen ein exotistisches „Going native“ aus der Gewaltbeziehung greifbar wird. Die Szene endet mit folgender Beschreibung einer idealen interkulturellen Beziehung: „Je l’instuit; elle m’inst‐ ruit“. Gauguin lässt das Bild eines romantischen zeitlosen Paradieses, in dem die Spuren der Gewaltsamkeit sich nicht verstecken lassen, mit dem Bild eines gleichberechtigten intellektuellen „Going native“ kollidieren. Der Rest des vierten Teils von Noa Noa ist von diesen Zeilen her einerseits als Resultat dieses erarbeiteten interkulturellen Austauschs lesbar. Er besteht zu einem grossen Teil aus Nacherzählungen von Mythen und Legenden, die, so will es die Konstruktion, eben über Teha’amana vermittelt sind („[…] elle m’instruit“). 147 Andererseits ist der vierte Teil weiter der Dekonstruktion des „Going native“ verpflichtet. Der Erzähler berichtet von verwestlichten Indigenen [Szene eines Hochzeitsfestes: „Was dort unten der Missionar will, das will auch Gott“ (NN, 56 ff.)], von Missverständnissen und Fremdheit. Zwischen die im Telegrammstil nacherzählten Mythen und Legenden sind zwei Szenen eingeschaltet, in der der Erzähler den Aberglauben der Indigenen diskutiert [„Mana’o tupapa’u“ (NN, 56 f.) 148 , Thunfischfangszene]. In der Fischfangszene resümiert er ohne Ausführungen und sonstigen Kommentar zur Verbindung der Zeilen mit den religiösen Mythen und Legenden: „Contraste entre la foi religieuse, superstitieuse de la race et le scepticisme de notre civilisation“ (NN, 56 f.) 149 . Doch diesem westlichen Ton, der westlichen Art und Weise mittels Klassifizierung auf die Konfrontation mit fremder Religion und Aberglauben zu reagieren, stellt der Autor etwas entgegen: Die Fischfangszene als letzte Szene vor den Worten der Verabschiedung des Ich-Erzählers und denjenigen zur Rückreise nach Frankreich steht nämlich unter dem Bann eines letzten „Going 91 1.2 Das „Going native“ in Noa Noa (1893) <?page no="92"?> 150 „Wider Willen schloss ich mich ihrem Glauben an.“ native“. Der Erzähler erkennt in der Szene „wider Willen“ [! ] den indigenen Aberglauben an [„Malgré moi je la suivis dans sa foi“ (NN, 64 f.) 150 ] und nimmt ihn an; und zwar währenddessen sich Teha’amana mit dem Erzähler versöhnt, trotzdem er nicht wie von ihr in der Situation erwartet mit Gewalt reagiert. „Il faut me battre, beaucoup me frapper.“ […] „Frappe! te dis-je, sinon tu seras longtemps courroucé et tu seras malade.“ / Je l’embrassai, et mes yeux disaient ces paroles de Bouddha: „C’est par la douceur qu’il faut vaincre la colère; par le bien qu’il faut vaincre le mal; par la vérite, le mensonge.“ „Du musst mich schlagen, sehr schlagen.“ […] „Schlag! Sage ich dir, wenn nicht, wirst du lange zornig sein und krank werden.“ / Ich küsste sie, und meine Augen sagten diese Worte Buddhas: „Durch Sanftmut muss der Zorn besiegt werden; durch das Gute muss das Böse besiegt werden; durch Wahrheit die Lüge.“ (NN, 66 f.) Und dieses „Going native“ als gegenseitiges Entgegenkommen unter dem Zeichen der Gewaltlosigkeit geschieht wiederum im Modus der Kunst. Der Erzähler beschreibt Teha’amana in dieser Szene als „vollkommenes Idol“ und betont, dass er es als „Künstler und Mann“ anbetet. Auch diese Schlusszene vermag also die These zu tragen, dass das „Going native“ in Noa Noa mehrfach gebrochen und trotzdem konstruktiv anvisiert wird. Der Künstler als „Wilder wider Willen“ [„malgré-moi-de-sauvage“ (Vgl. Motto, Kap. 1.2.2)] in seiner interkulturellen (Selbst)Reflexivität ist mehr als ein simpler Macher, Lebemann und Abenteurer, er ist ein intellektueller Vermittler, der der Unmöglichkeit des „Going native“ das Wort redet und ,trotz allem‘ - in der Kunst - lebt. 92 1 Die Vaterfigur der Primitivisten: Paul Gauguin <?page no="93"?> 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 Die Dynamik, die die Gauguin-Rezeption nach dessen Tod annahm, verrät viel über die spätere Bereitschaft des Publikums, der Kunstkritik und der Künstler, die primitivistische Nachfolgegeneration aufzunehmen. Im Weiteren nähert sich die Arbeit Schritt für Schritt dieser Generation. Zuerst wird dargelegt wie nach einer ersten auf Frankreich konzentrierten Rezeptionsphase (Ende 1880er Jahre bis zu seinem Tode) Gauguins Rezeption in Deutschland Ge‐ stalt annahm. Anhand einer Analyse der Darstellung Gauguins in Julius Meier-Graefes einflussreichen Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst (1904) wird hierbei die Spezifik des deutschen Diskurses erläutert. Der Fokus auf Gauguin vermag die Ambivalenzen des modernen Kunstdiskurses besonders gut aufzuzeigen: Meier-Graefe kämpft für die moderne Kunst und entwickelt dabei einen dezidiert internationalen Zugang; er setzt sich für eine neue Kunstkritik ein, bricht hingegen keine Lanze für die neueste Kunstgeneration. Gegenüber dem konservativen Kunstpublikum, welches der neuesten Kunst sehr skeptisch bis feindlich gegenübersteht, macht er Zugeständnisse. Das heisst am Beispiel Meier-Graefes können die Bruchlinien der Akzeptanz moderner - im Besonderen primitivistischer Kunst - gut aufgezeigt werden. Bruchlinien, die die jüngere Generation primitivistisch/ expressionistischer Künstler, Kunstkritiker und Literaten zum Teil hellsichtig wahrnimmt und darauf reagiert. Im zweiten Teil des Kapitels wird nochmals ein kurzer Schlenker zurück zum französischen Symbolismus vollzogen. Mit Victor Segalens im Jahre von Gauguins Tod entstandenem Text Gauguin dans son dernier décor (publiziert 1904 im selben Jahr wie Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte) kommt es ein erstes Mal zur Konfrontation mit einem Gauguin gewidmeten literarischen Text. Victor Segalens Schriften, welche die expressionistische Generation im Gegensatz zu denjenigen Gustave-Albert Auriers oder Maurice Denis‘ kaum zur Kenntnis nahm, sind von einer inter‐ kulturellen Feinfühligkeit, die ihresgleichen sucht. Sein Konzept des Künstlers als (monströser) „Exot“, welches er im journalistischen Kontext mit Gauguin dans son dernier décor besonders plastisch ausgestaltet hat, wird ausführlich präsentiert, da dieses als literarisch-theoretische Folie für die Lektüre der Künstlertexte der Expressionisten taugt. Im dritten Teil des Kapitels folgt die zweite Folie für die Auseinandersetzung mit den expressionistischen Texten: Carl Einstein eminente Negerplastik (1915). Der Text ist das Initial des <?page no="94"?> 1 Aurier, G.A. (1891). Le symbolisme en peinture. Paul Gauguin. In: Mercure de France Bd. 2, Nr. 15, 155-165. Hier 158. 2 Als Vermittler traten insbesondere Gustave-Albert Aurier, Maurice Denis und Charles Morice hervor; Periodika: Le Moderniste, Mercure de France, La Revue indépendente, Art et Critique, La Revue blanche etc. Vgl. Bismarck 2010, 27-56. 3 Gamboni 1995, 242-250. Hier 246. primitivistischen Diskurses in Deutschland und Drehpunkt der literarischen expressionistischen Beschäftigung mit dem bildkünstlerischen Primitivismus. 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland 2.1.1 Das „primitivistische System“ der französischen Symbolisten Das Bild des „Wilder wider Willen“, das wir aus der Lektüre von Noa Noa extrapoliert haben, läuft dem Bild diametral entgegen, welches das Kunstpub‐ likum der Jahrhundertwende von Gauguin und seinem „Going native“ machte. Als „Wilder“ oder als „exotisches Genie“ machte er auf das Publikum keinen widerwilligen Eindruck. Dies hat massgeblich mit der Kunstkritik der symbolis‐ tischen Generation zu tun, die Gauguin ab 1891 als ihre Führerfigur propagierte. Gustave-Albert Aurier verkündete 1891: Donc, qu’on invente un nouveau vocable en iste (il y en a tant déjà qu’il paraîtra point! ) pour les nouveaux venus, à la tête desquels marche Gauguin: synthétistes, idéistes, symbolistes, comme il plaira, mais surtout qu’on renonce à cette inepte appellation générale d’impressionnistes et qu’on réserve strictement ce titre aux peintres pour lesquels l’art n’est qu’une traduction des sensations et des impressions de l’artiste. 1 Forscher wie Philippe Dagen oder Dario Gamboni haben aufgezeigt, dass die Rezeptionsgeschichte Gauguins massiv von den Eingriffen der symbolistischen Künstler und Literaten geprägt ist. 2 Diese können, wie auch im Zitat Auriers sichtbar wird, nicht vereinheitlicht werden. Gamboni schreibt: „[…] the sanc‐ tification of Gauguin and the proclamation of Symbolism in painting, which coincided with the sanctification and popular success of literary Symbolism, did not bring about a movement, or even a symbolist group.“ 3 Indes kommen die gewichtigsten Fürsprecher Gauguins aus der Gruppierung der Nabis. Obwohl die Fürsprecher Gauguins Primitivismus unterschiedlich interpretieren, kann 94 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="95"?> 4 Dagen 2010, 221 ff. „Le système est achevé: au centre, l’axe qui rejoint archaïsme et classicisme, et de part et d’autre, abîmes symétriques, le hiératisme et le modernisme, perversions nées de l’habitude et de la répetition - maniérismes, dirait-on dans une langue plus contemporaine. Autrement dit: une ligne droite où se rangent Giotto, Poussin, Ingres et Gauguin et, de part et d’autre de cette arête, les ,basses époques‘.“ 5 Einflussreichster Theoretiker ist neben oben genanntem Gustave-Albert Aurier Mau‐ rice Denis, der ab 1896 unermüdlich seine neo-klassizistische Kunstauffassung propa‐ giert („Notes sur la peinture religieuse“, in: L’Art et la Vie 1896; „Les arts à Rome ou la méthode classique“, in: Le Spectateur catholique 1896; „Les élèves d’Ingres“, in: L’Occident 1902, etc.). Im Falle Denis‘ spricht Dagen von einer neo-klassizisti‐ schen „Konterrevolution“ gegenüber dem Impressionismus respektive dem früheren „effet ,pont-avenien‘“, vgl. Dagen 2010, 223. 6 Ebd., 225. 7 Geffroy, Gustave. Paul Gauguin, 12 novembre 1893. In: La Vie artistique, Bd. 6, Paris 1892, 225; Natanson, Thadée. Œuvre récentes de Paul Gauguin. In: La Revue blanche, Bd. 5, Nr. 29, Dezember 1893, 421. Vgl. Bismarck 2010, 33. 8 Zentral für die frühe Rezeption: Denis, Maurice (1890). Définition du néo-traditiona‐ lisme. In: Art et Critique, 30. 8.; Gustave-Albert Aurier (1891). Le symbolisme en peinture - Paul Gauguin (s. o.). Zur grösseren zeitlichen Dimension s. Kearns, James (1989). Symbolist Landscapes. The Places of Paintings in the Poetry and Criticism of Mallarmé and his Circle. London: The Modern Humanities Research Association, 48: „Aurier attempted to promote Gauguin’s Symbolism as a break with Impressionism at the very moment that Impressionism was being assimilated within restatements of the idealist tradition“. 9 Denis, Maurice: Définition du néo-traditionalisme (s. o.). 10 Denis, Maurice (1920). Von Gauguin und van Gogh zum Klassizismus. In: Kunst und Künstler Heft 4, 86-101. Hier 96. man mit Philippe Dagen von einem „primitivistischen System“ 4 sprechen, das diese in Gang setzten. 5 Aus dem „primitivistischen System“ resultiert ein „zweiter Gauguin“ oder, wie Dagen im Hinblick auf die manipulative Kraft der Heroisierungen der symbolistischen Künstler und Literaten zuspitzt, ein „Gauguin travesti“. 6 Gauguins Primitivismus wird in den kunstkritischen und literarischen Bei‐ trägen der Symbolisten als Kunst der Wiedergeburt interpretiert. Sie wird als „Kunst der Vergangenheit“ 7 beschrieben, die für die zeitgenössische nach‐ impressionistische Kunst die Substanz freigelegt habe. 8 Das „primitivistische System“ der rezeptionstechnischen Vordenker bedeutet einerseits klare histo‐ rische Verkettung (Maurice Denis prägt in dem Zusammenhang den Begriff des „néo-traditionalisme“ 9 ) und andererseits Entzeitlichung im Hinblick auf die universelle Dimension, der sich der Symbolismus verschreibt (Wiederum Denis: „[…] es gibt keine Kunst, die nicht symbolistisch ist“ 10 ). Historische Vorbilder und Vorläufer der Gauguinschen Strategien der Vereinfachung von Farbe und Form sehen die Autoren vor allem in der europäischen mittelalterlichen 95 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="96"?> 11 Rubin, William [1984]. Primitivismus in der Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts. New York/ London: Prestel 1996, 9ff. 12 Denis 1910, 87. 13 Charakterisierungen von Charles Morice und Armand Séguin, vgl. Bismarck 2010, 30; 209. 14 Natürlich gibt es auch eine andere, ambivalente Seite des Symbolismus, so bspwe. bei Huysmans. Vgl. Gamboni 1995, 243. Im Prozess der Glorifizierung Gauguins werden diese „Nachtseiten“ jedoch oft überblendet. Im religiösen, mediävistischen Archaismus eines Denis und Sérusier oder dem Primitivismus des Salons de la Rose + Croix, in deren Umkreis schliesslich das Manifest des Primitivismus entsteht, ist diese Tendenz am deutlichsten sichtbar. 15 Kearns 1989; Gamboni, Dario (1992). Le „symbolisme en peinture“ et la littérature. In: Revue d’Art 96, 12-23, 14. 16 Zu den positiven Aspekten der Heroisierung für die Entwicklung der Kunstkritik, s. Kuspit, Donald B. (1980). Civil War. Artist Contra Critic. In: Artforum 19/ 2, 59-64. Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts. Gauguin revolutioniere die Kunst, so die Vorstellung, im Rückgriff auf die „primitive“ Formen- und Ausdruckswelt eines Giotto oder Fra Angelico. Diese Sichtweise prägt die populäre Definition von Primitivismus der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts massgeblich. 11 Die „primitiven“ Formen und Motive Gauguins interpretieren die symbolis‐ tischen Theoretiker vor allem auch aus sozialer und religiöser Perspektive. Auf Gauguins Erweiterung des Primitivismus-Begriffs im Interkulturellen gehen sie nur schematisch ein. Primär ist in ihren Beschreibungen der Primitivismus Synonym für Vereinfachung und Ausdruck der Konzentration auf universelle emotionale und geistige Werte. Maurice Denis schreibt, Gauguins „Durst nach Vereinfachung“ hätte ihn nach Tahiti getrieben. 12 Die Autoren betonen, dass Gauguin in der Südsee seine „eigentliche Verwirklichung“ gefunden habe, „seiner inneren Stimme“ gefolgt sei, seinem „Talent“, „göttlicher Berufung“ und „Genie“. 13 In seinen Bildern präsentiere er die „wilde Schönheit, die natürliche Würde und Anmut“ der Bewohner Tahitis. Die Authentizität seines künstleri‐ schen Zugriffs und seines „Going native“ wurde in den prominenten Beiträgen nicht angezweifelt. 14 Gauguin und beispielsweise auch sein Malerkollege Émile Bernard haben sich gegen die Vereinnahmung der neuen Kunstkritik gewehrt. 15 Im close reading von Noa Noa haben wir gesehen, wie Gauguin mit Mehrschichtigkeit auf die Realität der Südsee und das Dilemma des Primitivisten reagierte. Mehrschichtig‐ keit ist auch seine Antwort auf die symbolistische Rollenzuschreibung. Er ant‐ wortet mit den erprobten Strategien von Anverwandlung und Verfremdung. 16 Dass Gauguin nicht dem symbolistischen Ideal entsprechen wollte, dafür gibt es neben dem „malgré-moi-de sauvage“ in Noa Noa viele weitere Hinweise: die 96 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="97"?> 17 Vgl. Gamboni 1995, 246. 18 Gauguin, Paul [1902, unpubl.; 1951]. Racontars de rapin. Monaco: Sauret 1993, 23. 19 Heinrichs 1995, 28. 20 Meier-Graefe, Julius [1924]. Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Belting, Hans (Hrsg.). München/ Zürich: Piper 1987, 646. Erstausgabe 1904, Bd. 1 und 2 der Neufassung erscheinen 1914/ 1915, der besagte dritte Band gelangt 1924 zur Publikation. Meier-Graefe zitiert bereits in der Erstausgabe von 1904 ausführlich aus Racontars de Rapin. Selbstbildnisse mit kritischem Bezug auf die Gemeinschaft in Pont Aven, 17 die Aussagen in seiner Korrespondenz und insbesondere seine berühmt-berüchtigte letzte Schrift Racontars de rapin, einer Kampfschrift gegen die Kunstkritik. Darin hält Gauguin plakativ fest: „Après le régime du du sabre le régime de l’homme de lettre“ 18 - auf das Joch der Akademie folge dasjenige der Kunstkritik. Es kann an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden, inwiefern sich die zeitgenössischen Kunsttheorien und insbesondere die symbolistischen Vorstellungen und Darstellungen des künstlerischen Subjekts von denjenigen Gauguins unterscheidet. Die These Hans-Jürgen Heinrichs zur Unterscheidung zwischen dem symbolistischen Visionären und demjenigen des Primitivismus soll stellvertretend in den Raum gestellt werden: Heinrichs argumentiert, dass der Primitivismus „Mehrfachschichtungen von Realitätsebenen“ auszeichnet 19 und sich darin eine neue Dimension der „Loslösung vom Ich in der Vision“ zeige, eine neue Dimension des Verständnisses von Original. Eine gewisse Sensibilität für das Erfassen der kritischen Position Gauguins demonstriert Julius Meier-Graefe, dessen Kunstkritik wie gesagt im Folgenden für die Rekapitulation der deutschen Rezeption im Zentrum der Argumentation steht. Er schätzt das problematische Verhältnis von Gauguin und den Symbo‐ listen richtig ein und skizziert Gauguins kritische Position im Zusammenhang mit dessen Verständnis von „Primitivität“ an. Zum Zeitpunkt der Niederschrift des dritten Bandes der zweiten Auflage seiner Entwicklungsgeschichte, der erst nach dem Krieg 1924 publiziert wird, stellt Meier-Graefe bezüglich Racontars de Rapin hellsichtig fest: Dem Spötter behagt die Gemeinde nicht. Man müsste so primitiv sein, wie er sich stellt, um sie auf die Dauer zu ertragen. Sie machen aus hingeworfenen Floskeln Theorien und Doktrinen, und aus jedem Elaborat der Adepten grinst ihn eine Karikatur seiner eigenen Gesichte an. Symbolismus! Man weiss nicht, ob man lachen oder vor Wut bersten soll. Sie sagen Symbol und malen schlechte Tapeten. 20 97 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="98"?> 21 Kropmanns 1998, 252. 22 Vor 1903 gab es einzelne Rezeptionsbemühungen, bswe. in Pan (ab 1895, auf Initiative Meier-Graefes), erste öffentliche Präsenz in den Jahren vor seinem Tod 1901/ 1903, ab 1903/ 1904 erste Ankäufe durch Sammler (Karl Ernst Osthaus, Harry Graf Kessler, Hugo von Tschudi u. a.), wichtige Ausstellung noch vor verspäteter Todesnachricht (Phalanx München, Berliner Secession); danach regelmässige Ausstellungen (Hagen 1903; Krefeld und München 1904; Weimar 1905; Dresden 1906; Berlin 1907; Bremen und Düsseldorf 1909; Leipzig, München und Dresden 1910; Köln und Barmen 1912. Vgl. Kropmanns 1998; Kropmanns, Peter (2014). Cézanne, Gauguin, van Gogh, Matisse und die Fauves: Ausstellungen französischer Moderne in Berlin, Dresden und München 1904-1909. In: Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Von Matisse zum Blauen Reiter. Ausst. kat. Kunstmuseum Zürich. München/ London/ New York: Prestel, 58-79. 23 Publikation in Kunst und Künstler zwischen November 1907/ Januar 1908: Jg. 6, H. 2, 7.11.1907, 78-81; Jg. 5, H. 3, 1.12.1907, 125-127; Jg. 6, H. 4, 4.1.1908, 160-163. 24 Kropmanns 1997, 7. 25 Däubler, Theodor (1915). Paul Gauguin. In: Die Aktion Jg. 5, Nr. 51, 633-634. 2.1.2 Französische Moderne und „neue Wilde“ in Deutschland Um 1903 hat die exoterische französische Kunstkritik ein Gauguin-Bild etabliert, das zum Inbegriff modernistischer Künstlerschaft werden konnte. Die posthume europaweite Anerkennung des Künstlers ist danach massgeblich deutschen Initiativen zu verdanken: „Grundsteine für die Akzeptanz seiner Kunst wurden gelegt, als man diese schon im ersten Jahrzehnt in Deutschland ausgestellt, rezensiert und gesammelt hat“ 21 , so Peter Kropmanns in seiner Studie zur Rezeption des Künstlers in Deutschland. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sind Gauguins Werke in vielen Ausstellungen, meistens Gemeinschaftsausstel‐ lungen der Schule von Pont Aven und der Postimpressionisten, zu sehen. 22 Mit Julius Meier-Graefe’s Der moderne Impressionismus (1903) und der Entwi‐ ckelungsgeschichte moderner Kunst (1904) erscheinen erste wichtige Arbeiten zu Gauguin. 1906 gibt Harry Graf Kessler die erste Gauguin-Monographie heraus, 1907/ 1908 folgt die deutsche Übersetzung von Noa Noa bei Cassirer (dreiteilige Serie in Kunst und Künstler 23 ), darauf 1909 der Einzeldruck. Die Würdigung des Künstlers erreicht ihren Höhepunkt an der Sonderbundsausstellung 1912 in Köln, bei der er zusammen mit Cézanne und van Gogh als „Leitfiguren moderner Malerei“ präsentiert wird. 24 Die erste intensive Phase der deutschen Gauguin-Rezeption endet mit dem Ersten Weltkrieg. Theodor Däublers Gedicht Pfaublau rauscht der Ozean heran 25 , das 1915 in der Aktion erscheint, kann als Abspann dieser Phase gelesen werden. Gauguin bleibt jedoch eine feste Grösse, gerade die hier 98 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="99"?> 26 Kropmanns 1998, 263 f. „Während des Ersten Weltkriegs als nahezu alle Bande mit Frankreich gekappt waren, blieb Gauguin jedoch eine feste Grösse und präsent: Nicht wenige Werke aus deutschem Besitz wechselten in dieser und der darauffolgenden Zeit über den Kunsthandel ihre Eigentümer, wurden ausgestellt und versteigert.“ 27 Gauguin, Paul (1926). Noa Noa. Vollständige Faksimile-Ausgabe mit Original-Holz‐ schnitt. Meier-Graefe, Julius (Hrsg.). 45. Druck der Marée-Gesellschaft, Berlin: Ga‐ nymed-Presse (Piper Verlag). Der Text basiert auf dem Louvre-Manuskript (zw. 1895/ 1899 entstanden, unpubliziert bis 1926). 28 Meier-Graefe, Julius (1904). Entwickelungsgeschichte der modernen Kunst. Verglei‐ chende Betrachtung der bildenden Künste, als Beitrag zu einer neuen Aesthetik. Stuttgart: Verlag Julius Hoffmann. 2. überarbeitete Auflage (Buch 1 und 2) München: Piper 1914; 3. Überarbeitete Auflage (Buch 1-3) München: Piper 1924. 29 Bereits vor der Entwicklungsgeschichte setzte Meier-Graefe wichtige Impulse für die moderne Kunst: Er war Mitbegründer der Zeitschrift Pan (1894), Gründer der Zeit‐ schrift Dekorative Kunst (1897/ 1899), der Galerie La Maison Moderne (Paris, 1899/ 1903), verfasste wichtige Publikationen zum Impressionismus, darunter Der moderne Im‐ pressionismus (1903). Meier-Graefe verantwortete Ausstellungen und Vorträge und verbreitete Reproduktionen von Kunstwerken via Graphikmappen. 1905 folgt auf die Entwicklungsgeschichte die politisch Wellen schlagende Streitschrift Der Fall Böcklin (1905), später Monographien zu Renoir, Manet und Cézanne, zentral die Werke über van Gogh: Vincent van Gogh, 1912 (6 Ausgaben bis 1929), Vincent, 1922. später besprochenen Texte der Expressionisten zeugen davon. 26 Seine Werke werden weiter ausgestellt und über die zentralen Galerien moderner Kunst vertrieben. In den 1920er-Jahren steht sein Werk an exponierter Stelle in der Nationalgalerie in Berlin. 1920 und 1922 erscheinen Neuausgaben von Noa Noa, ebenfalls 1920 die deutsche Übersetzung von Avant et après und die Briefe an Georges-Daniel de Monfreid. 1926 folgt Noa Noa in der Faksimileausgabe von Julius Meier-Graefe. 27 Die Initiativen zur Vermittlung der internationalen, im Besonderen der französischen Kunst der Moderne in Deutschland sind eng mit dem Namen Meier-Graefes (1867-1935) verbunden. Mit seinem bahnbrechenden Unter‐ nehmen der Entwickelungsgeschichte der Kunst 28 prägte er die Geschichte der modernen Kunst entscheidend mit. 29 Hans Belting hält in seinem Nachwort zur Neuedition der Entwicklungsgeschichte 1966 fest: Von der Wirkung des Werkes kann man sich kaum noch eine Vorstellung machen. Es war über Nacht in aller Munde, die über Kunst redeten, und blieb auf Jahrzehnte ein Vademecum jener Kunstliebhaber, die selbst nach einem positiven Bild der Moderne suchten. Im nächsten Satz hingegen relativiert Belting mit Verweis auf Carl Einstein diese Wirkungsgeschichte bereits: 99 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="100"?> 30 Belting, Hans (1987). Nachwort des Herausgebers. In: Julius Meier-Graefe. Entwick‐ lungsgeschichte der modernen Kunst. Belting, Hans (Hrsg.). München/ Zürich: Piper, 727-760. Hier 728. 31 Überliefert von Karl Scheffler, vgl. Belting 1987, 741. 32 Ebd., 742. Belting erwähnt in dem Zusammenhang die Werke Richard Muthers, Cornelius Gurlitts und Karl Lamprechts. 33 Wie Belting und Andere aufgezeigt haben, ist das Bild Meier-Graefes als „Prophet des Impressionismus“ zu großen Teilen ein Konstrukt seiner Gegner. Tatsächlich äusserte sich Meier-Graefe auch kritisch zu impressionistischer Kunst, er redete beispielsweise vom fehlenden Weltbezug des Impressionismus, davon, dass dieser die „Zerstückelung der Welt“ vorangetrieben habe. Vgl. ebd., 742ff. 34 N.N. (1905). Vom Kunstmarkt. In: Die Kunst-Halle, Jg. 10, Nr. 21, 333. Vgl. Kropmanns 1998, 252. Als „Bibel“ der modernen Kunst hat es sich in den zwanziger Jahren, wie der jüngere Rivale Carl Einstein mit höhnischer Genugtuung vermerkte, dann schliesslich überlebt. 30 Doch dazu später. Es ist überliefert, dass die Entwicklungsgeschichte auf ein‐ zelne Zeitgenossen wie den Literaten Richard Dehmel einen derart grossen Eindruck machte, dass er Passagen daraus auswendig vortragen konnte. 31 Die Entwicklungsgeschichte habe damals, so Belting, die fortschrittlichsten kunsthis‐ torischen Arbeiten der Zeit über Nacht altern lassen. 32 Bezüglich Gegenstand, Zugriff und Sprache habe der „engagierte Kunstkenner“, wie sich der Autodi‐ dakt selber sah, Neuland betreten. Meier-Graefe und ein kleiner Kreis von deutschen Sammlern, Kunsthändler, Kritiker und Künstler sind Pioniere der Vermittlung der fremden Welt moderner Kunst, deren Spezialgebiet: der fran‐ zösische Impressionismus und die Sezessionskunst. 33 Die negativen Reaktionen auf die Ausstellungen und Bemühungen der zumeist wie Meier-Graefe dem Grossbürgertum entstammenden Kunstförderer sind bekannt. 1905 etwa warnt ein anonymer Autor mit folgenden Zeilen vor Harry Graf Kesslers Ausstellung in Weimar mit 33 Werken Gauguins: […] Warnung! Eine Sammlung von Bildern des in Paris [sic! ] verstorbenen obskuren Malers Paul Gauguin […] rückt langsam gegen - Berlin vor. […] Auf den Idioten van Gogh folgt jetzt - Gauguin. 34 „Der Kampf um die moderne Kunst“, so der Titel eines Kapitels der Entwick‐ lungsgeschichte, wird sich bekanntlich in den folgenden Jahren nicht legen. Das Kunstpublikum des Kaiserreichs ist konservativen Werten verpflichtet und verteufelt die moderne Kunst, besonders diejenige aus dem Land des Erzfeindes Frankreich. Herwarth Walden bringt den politisch vergifteten Kunstdiskurs zum spezifischen Anlass der Ausstellung der Neuen Sezession 100 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="101"?> 35 Trust [H.W.] (1910). Die neue Sezession. In: Der Sturm. 1. Jg., H. 32, 266. 36 Meier-Graefe wird von nationalkonservativen Kräften direkt angegriffen. Im Zusam‐ menhang mit seiner Böcklin-Schrift wird ihm anti-deutsche Haltung vorgeworfen, Tendenzschriften wie Der Fall Meier-Graefe von Ernst Schur entstehen, dort ist vom „Meier-Graefetum“ die Rede, das dort synonymisch zu „Franzoseln“ und „Judeln“ gebraucht wird [! ]. Meier-Graefe lehnte Nationalismus explizit ab, aber er konnte sich letztlich, so schreibt Timothy Benson „[… ] doch ebenso wenig wie Fechter und andere Zeitgenossen ganz vom Glauben an eine deutsch-französische Polarität lösen“, vgl. Benson, Timothy O. (2014). Der Expressionismus in Deutschland und Frankreich. In: Der Expressionismus in Deutschland und Frankreich. Von Matisse zum Blauen Reiter. Ausst.kat. Kunsthaus Zürich. Benson, Timothy O. (Hrsg.). Zürich, München: Prestel, 12-31. Hier 16f. 37 Im Blauen Reiter spricht bspw. Wilhelm Worringer davon, dass die Sezessionskunst „Fett angesetzt“ hätte. Vgl. Kandinsky, Wassily/ Marc, Franz [1912]. Der Blaue Reiter. 9. Aufl. München: Piper 2000, 254. 38 Kropmanns 1998, 264. 1910 anhand der Inszenierung folgender fiktiven Publikumsstimme auf den Punkt: „Die Franzosen wurden 1871 endgültig geschlagen. Und jetzt werden ihre Maler zu Meistern ernannt. Solchen Unfug sollen wackere, ehrliche Menschen mitmachen? “ 35 Der Kulturkampf zwischen den nationalkonservativ und den kosmopolitisch argumentierenden Fraktionen gipfelt im Bremer Kunststreit von 1911. 36 Die Initiativen Meier-Graefes und seiner Mitstreiter haben einen entschei‐ denden Makel: Sie geschehen vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Kunst, die sich schon weit von Gauguins Kunst und dessen nachimpressionis‐ tischer Generation sowie der eigenen nationalen Sezessionskunst entfernt hat. 37 Eine neue Generation „Primitiver“ und „Wilder“ tritt beinahe zeitgleich mit ihren Vätern auf die Bühne: In Dresden formiert sich die Künstlervereinigung Brücke und in Paris schockieren die Fauves am Salon D’Automne. Diese Konstel‐ lation der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen offenbart sich in besonderem Masse an der Ausstellung des Sonderbunds 1912 in Köln, welche Picasso, Braque, die Fauves, Künstler des Münchner Kunstvereins, Kokoschka, Schiele, Klee und sowohl Werke des Blauen Reiters als auch der Brücke um die drei Leitsterne Cézanne, van Gogh und Gauguin versammelt. Während sich die zeitgenössischen Künstler mit dieser Konstellation gut arrangieren können, für sie diese Künstler wichtige Instanzen bleiben, obwohl, wie Kropmanns schreibt, „die zeitgenössische Kunst schon vor 1914 vordergründig kaum mehr mit Gauguin in Verbindung zu sein [schien]“, 38 bekunden viele Kritiker, Künstler und Theoretiker der herausgeforderten Vätergeneration große Mühe mit ihr. 101 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="102"?> 39 Belting 1987, 751. 40 Meier-Graefe, Julius (1913). Wohin treiben wir? Zwei Reden über Kultur und Kunst. Berlin: Fischer. 41 Fleckner, Uwe (2006). Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektu‐ ellen Biographie. Berlin: Akademie Verlag, 168. 42 Ebd., 96. 43 Denis 1910, 86-101. Vgl. Kap. 2.1.1. Die Situation Meier-Graefes als „Sprachrohr der Progression“ (s. u.) - be‐ drängt sowohl durch nationalkonservative Gegner seiner Kunstauffassung sowie die jüngste Künstlergeneration - beschreibt Belting folgendermassen: Aber Meier-Graefe, der zum Sprachrohr der Progression prädestiniert schien, war offenbar inzwischen von unerwünschten Parteigängern noch progressiverer Gesin‐ nung so unter Druck geraten, dass er in seiner Schrift „Wohin treiben wir? “ nicht den erwarteten Kurs steuerte. 39 Spätestens mit diesem Essay aus dem Jahr 1913, 40 so Uwe Fleckner, sei offen‐ kundig geworden, dass Meier-Graefe mit den neuesten Tendenzen in der Kunst „nicht schritthalten konnte, nicht schritthalten wollte“. 41 Die neuen „Wilden“ erfahren grundsätzlich dieselbe Ablehnung einer breiten Öffentlichkeit wie die Vätergeneration, wobei, so beobachten frankophile Avantgardisten wie Carl Einstein, „deutsche Adepten“ qua Nation eher Akzep‐ tanz finden als ihre französischen Kollegen und Vorgänger. Zur Kritik an den neuen „Wilden“ von Seiten der (arrivierten) Vätergeneration: Maurice Denis, derselben Generation wie Meier-Graefe angehörend, diskreditiert bereits 1910 in Kunst und Künstler die neuen „Wilden“ und singt ein Hohelied auf die „Primitiven von 1890“, denen es zu danken sei, „dass einige grundlegende Wahrheiten hell beleuchtet worden“ seien. 42 Wer Zeuge der Bewegung von 1890 gewesen ist, der kann sich über nichts mehr wundern: die abgeschmacktesten und unverständlichsten Anstrengungen Derer, die man jetzt „les fauves“ nennt, können gerade nur eben in unserem Gedächtnis die Erinnerung an die Extravaganzen unserer Generation wachrufen. 43 Aufschluss über die Veränderungen in der Kunstwelt um 1910/ 1915 gibt ein Kommentar auf diese Äusserungen von Denis - und zwar die Redaktionsnotiz, die Kunst und Künstler Denis‘ Essay hinzufügte. Die Zeitschrift aus dem Haus Cassirer, die bekanntlich selber nicht zur Speerspitze der Avantgarde zählte, offenbart mit ihrer Positionierung die neue Konstellation: Wir unterbreiten den Lesern hier eine der geistreichsten Verteidigungen des Aka‐ demismus, die man sich denken kann, mit der einschränkenden Bemerkung, dass 102 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="103"?> 44 Ebd., 86. Der erwähnte wichtige Aufsatz Matisses (Notizen eines Malers) war 1909 in der Zeitschrift erschienen. 45 Meier-Graefe 1987, 638. (Im Folgenden: Sigle MG) 46 Belting 1987, 745f. Maurice Denis, der so lebendig die Feder eines Theoretikers zu führen weiss, mit seinen Überzeugungen nicht auch den unseren Ausdruck giebt. Bei hoher Achtung vor dem Ernst der Künstlergeneration, zu deren Wortführer sich Denis nun ebenso macht, wie Henri Matisse es im vorigen Jahr an eben dieser Stelle gethan hat, vermögen wir an die Fruchtbarkeit tendenzvoll konstruierter Stilprinzipien, und seien sie noch so bedeutend, nicht zu glauben. Wir halten in der Kunst mehr von der schöpferischen Empfindungskraft der grossen Persönlichkeit - gleichviel welcher Stilregeln sie sich bedient […]. 44 2.1.3 Begrenzung der Entgrenzung: Paul Gauguin in Julius Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst Entwicklungsgeschichte (1924): Gauguin als tragischer Held des „neuen Rationalismus“ Wie bereits erwähnt, hält Julius Meier-Graefe im dritten Band der Neufassung der Entwicklungsgeschichte fest: „Es ist nicht mehr die Zeit für Primitive“ 45 . Meier-Graefe schreibt diese Zeilen im Kapitel über van Gogh, sie sind aber eindeutig darüber hinaus als Befund über die zeitgenössische Kunst allgemein angelegt, der er wie gesagt grösstenteils fremd gegenüberstand. Im Kunstver‐ ständnis und der Erzählform der Entwicklungsgeschichte, die die Entwicklung der Kunst aus der Tradition in den Blick nimmt, und eine eigentliche „Synopse von Tradition und Moderne“ (MG, 743) im Sinne hat - was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass sie die Formfrage mit den traditionellen Massstäben des Malerischen kombiniert und für die projektierte „Biographie der Kunst“ (MG, 738) an einer Geschichte grosser Persönlichkeiten festhält - ist kein Platz für Kunst, die sich radikal von der Tradition löst und den Weg der Abstraktion geht. „Meier-Graefe war ein Mensch des 19. Jahrhunderts, der seine Auftritte im 20. Jahrhundert hatte und dennoch auch dann immer noch zu modern war“, so verortet Hans Belting die komplexe Person Meier-Graefe und den Wirkungs‐ zusammenhang seiner Entwicklungsgeschichte. 46 Dieses Urteil kann mit Blick auf Meier-Graefes Präsentation von Gauguin in der Entwicklungsgeschichte besonders gut bestätigt werden. Im Hinblick auf den Primitivismus und die Fragen der Studie erweist sich die Entwicklungsgeschichte grundsätzlich als aufschlussreich, denn Meier-Graefe 103 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="104"?> 47 Ebd., 627-672. Unter diesem Titel versammelt er drei Kapitel: „Vincent van Gogh“, „Paul Gauguin“, „Matisse und Picasso“. Zur neuesten Kunst in Deutschland äußert sich Meier-Graefe nur sehr knapp. Er verschanzt sich gleichsam hinter dem Plan der ersten Ausgabe. Belting rekapituliert: Beckmann und Hofer würden „lustlos abgehandelt“, auf Kokoschka falle lediglich „ein Streiflicht“. Vgl. Belting 1987, 741f. kreist in seiner Schrift immer wieder um die für den Primitivismus zentrale Problematik der Apropriation. Er vermittelt die Entwicklungsgeschichte als große Erzählung von Anverwandlung und Aneignung. Besonders evident wird dies im besagten Dritten Band der Neufassung, wo sich Meier-Graefe unter Titel „Der neue Rationalismus“ 47 mit der Kunst von van Gogh, Gauguin, Matisse und Picasso auseinandersetzt. Mit dem Begriff des Rationalismus reflektiert er in selbstbezüglicher Referenz auf die Grundprinzipien seiner Kunstbetrachtung die Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst als gesetzmässig verlaufende Geschichte der Anverwandlung, Entlehnung und Entleerung von Kunstmitteln und -formen. Der Begriff steht für das „[R]einigen der überlieferten Kunstmittel“ (MG, 630), welches Meier-Graefe als universelle künstlerische Praxis beschreibt. Grundsätzlich gilt ihm: „[…] Rationalismus ist keineswegs immer Parasit. Jede Entwicklung bedarf seiner so gut, wie kein menschlicher Haushalt ihn zu entbehren vermag. Sein Parasitentum beginnt, wo er aufhört, Mittel zu sein, und zum Selbstzweck wird“ (MG, 631). Und diese Gefahr des negativen Selbstzwecks ist gemäss Meier-Graefe zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungleich höher als zuvor. Er beschreibt eine neue Dimension von Rationalismus, einen „neuen Rationalismus“ [Herv. LF], dessen verstärkte Fragmentarisierung und Entgeistigung den Ausdifferenzierungsbewegungen der modernen Gesellschaft entsprechen würden. Meier-Graefe redet von einer „geist- und gebärdenlose[n] Zeit“ (MG, 629) und beschreibt folgenden grossen Bogen: Die Rubens, Rembrandt, Poussin machten es mit den Mitteln ihrer Vorgänger nicht anders als die Manet, Renoir und Cézanne mit ihren Meistern. Die Alten erscheinen uns als geistigere, vollständigere Koryphäen. Das Verfahren dezentralisiert sich mit der Zeit, wird mehr Sache des Auges, der Hand, gewährt nicht dieselben umfassenden Resultate, wirkt fragmentarischer, aber ersetzt diesen Mangel durch vergrösserten Ausdruck. (MG, 630) An diesem Zitat ist die Zerrissenheit des Meier-Graefeschen Projekts einer „objektiven Kunstgeschichtsschreibung“ gut ersichtlich. Der formalästhetische, hier ins Phänomenologische gerichtete Blick ist entwicklungspsychologisch ge‐ 104 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="105"?> 48 Belting 1987, 740. Meier-Graefe distanziert sich vom Geniekult der früheren Kunstge‐ schichtsschreibung eines Hermann Grimm und Anderen. Vgl. Gaehtgens, Thomas W. (1990). Les rapports de l’histoire de l’art et de l’art contemporain en Allemagne à l’époque de Wölfflin et de Meier-Graefe. In: Revue d’Art Nr. 88, 31-38. Hier 34. Trotzdem entwickelt er viele Deutungen aus dem Biographischen. Im Falle Gauguins bekennt er freimütig, dass ihm die Trennung von Biographie und Werk schwerfalle. Vgl. MG, 651. 49 MG, 634f. „Kunst kann nicht mehr sozial sein, selbst wenn sie nur als soziales Bedürfnis gewollt wird, und die Menschen, die dergleichen versuchen, werden unmögliche Gevattern“ - dies das Dilemma des Primitivismus nach Meier-Graefe, s.u. 50 Mit solchen Bildern reizt Meier-Graefe den Metaphernkomplex der Reinigung aus, der in der deutschen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts allgemein vielfache Anwen‐ dung findet (bspw. im Bereich der Sprachpolitik) und auch von den Gegnern moderner Kunst bemüht wird. 51 Van Goghs Primitivismus charakterisiert Meier-Graefe auch als „fessellose Hingabe“, was im Hinblick auf das primitivistischen „Going native“ eine schöne Definition darstellt, vgl. MG, 636. Er nennt den Künstler keusch, aufrichtig und einfältig (MG, 638) und schmückt ihn vor allem mit religiösen und biblischen Attributen („Jünger Christi“, „Zeichnen ist Arbeit und Gebet“, „als Maler verkappte[r] Christus“, MG, 632; 640). bunden, Meier-Graefe trauert einer „Aera eines glorreichen Individualismus“ 48 nach („geistigere, vollständigere Koryphäen“). Die psychologisch-zeitdiagnostische Ebene und auch die Verhaftung in der klassischen biographischen Kunstgeschichtsschreibung sind in den Kapiteln zu Gauguin und van Gogh nun besonders evident. Den Primitivismus der Künstler versteht er als Ausdruck eines dramatischen Heldentums, er beschreibt die Primitivisten als tragische Helden in einer (rationalisierten und fragmentari‐ sierten) Welt, in der die Kunst auf dem Weg sei, so „sauber wie ein Badezimmer moderner Architekten“ (s. u.) zu werden und nicht mehr sozial sein könne. 49 Den „Rationalismus“ der Künstler charakterisiert er daher als Zwischenposition. Gauguin und van Gogh sind gleichsam „Rationalisten“ ‚wider Willen‘: Die Kunst bereitet sich, sauber wie ein Badezimmer moderner Architekten zu werden. Auf dem Wege dahin gibt es Helden. Nicht die Outsider sind gemeint, die neben dem Wege, sondern die Kämpfer in der Richtung der Zeit. Ihre tiefste Tragik ist die Bestimmung, den Rationalismus zu fördern, gegen den sie bis zum letzten Atemzuge kämpfen. (MG, 631) 50 „Je inbrünstiger sich die Primitiven zur Gottheit bekannten, desto leichter fiel es gottlosen Geschlechtern, die Gebärden der Inbrunst zu entlehnen“ (MG, 629). Mit dieser etwas verqueren Reflexion über die Verbindung nicht näher spezifizierter „Primitiver“ und gottloser Moderne leitet Meier-Graefe die Refle‐ xionen zum neuen Rationalismus und van Gogh ein. Er präsentiert van Gogh als „Primitive[r] der Gesinnung“ (MG, 631) 51 , der „alles von den Primitiven [hatte], nur nicht ihre Kirche“ (MG, 638). Er ist der vom Rationalismus bedrohte reine, 105 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="106"?> 52 Meier-Graefe ist sich der Konsequenz der Verkettung (teilweise) bewusst: Er beschreibt, dass van Gogh „[…] das Schicksal Gauguins zur Folie, fast zu einer Karikatur wird", s. MG, 640. 53 Ebd. 54 Ebd. unrettbar verlorene „Primitive“, ein letzter Romantiker, der die Utopie einer Gemeinschaft der Kunst lebt. Dieses Interpretationsangebot Meier-Graefes wird uns insbesondere im Falle der Künstlertexte Sternheims wieder beschäftigen. Sternheim verwertet für seine Zeichnung van Goghs Meier-Graefes Attribute und, und dies ist wichtig, er führt auch dessen folgenreiche Gegenüberstellung und Verkettung von van Gogh mit Gauguin fort. Meier-Graefe vergleicht van Goghs Primitivismus in sehr plakativer Weise mit demjenigen Gauguins. 52 Dem Drama des „blinden“ van Gogh stellt er Gauguins Primitivismus als Drama dessen dar, der zu viel sieht: Gauguin wird tragisch, weil er sieht. Eine der vielen unreinen Gestalten der Kunst. Er reinigt sich, ohne es zu wollen, ohne es auch nur zu ahnen. Zum ersten Mal wird die Gefahr eines mit hohem Intellekt begabten Rationalisten dramatisch. 53 Gauguin verkörpert den Rationalismus im schlechten Sinne reinen Selbst‐ zwecks. Meier-Graefe charakterisiert ihn als „Rechner […], in dem keine Faser die Menschenliebe Vincents, seinen Glauben, seine Demut, seinen Gemeinsinn teilt.“ (MG, 645). „Gauguins Paradox“, so führt er aus, „ist das Vertrauen auf sein Talent. […] Er möchte das Talent zur Gottheit machen und endet bei den Wilden“ (MG, 640). Das Ende des gottlosen, selbstsüchtigen und zweckratio‐ nalen Künstlers bei den gemeinschaftlich lebenden und gläubigen „Primitiven“ entbehre nicht einer schicksalshaften Ironie. Mit Gauguin erklärt Meier-Graefe gleichsam das gesamte Abenteuer der avantgardistischen Kunst für gescheitert. „Paroxysmus der Blague eines Abenteuers“, 54 so nennt er Gauguins Aufbruch zu neuen Ufern. Sein Verdikt 1924 ist klar: Gauguin ist ein schlechter Europäer und seine Kunst einfältig nach Art der „Eingeborenen“: „Das primitive Dasein mit den Eingeborenen in einem unberührten Milieu legitimierte eine Kunst von freskenhafter Einfalt. Der Sensualismus tat das übrige“ (MG, 648). Und schliesslich schlussfolgert Meier-Graefe: „Er konnte alles […]. und alles blieb Arabeske, selbst die Europaflucht“ (MG, 651). Entwickelungsgeschichte (1904): Gauguins ambivalent schöner „Barbarismus“ Doch zurück zur ersten Ausgabe der Entwicklungsgeschichte, in der Meier-Graefe Gauguin noch nicht auf diese Weise im Hinblick auf die zeitge‐ 106 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="107"?> 55 Meier-Graefe 1904 (Im Folgenden: MG1). Das Teilkapitel zu Gauguin („Gauguin und sein Kreis“) ist im dritten Buch („Farbe und Komposition in Frankreich“) und unter dem, 2. Kapitel („Die Komposition“. zu finden. Er bezieht sich auf die erste Edition von Noa Noa, die 1901 bei La Plume erschien (Morice-Kollaboration). 56 MG1, 380-382. 57 Allgemein äussert er sich: „In Paris gibt es ausser Vollard noch immer keinen einzigen Händler, der sich ernstlich für ihn interessiert“, vgl. MG1, 378. 58 Vgl. Kropmanns 1998, 264f. nössische Kunst konturiert (konturieren kann), und wo er dessen Kunst noch nicht der Einfalt bezichtigt. 1904 behandelt Meier-Graefe Gauguin ausführlicher und befasst sich vor allem eingehend mit Noa Noa. 55 Um den Künstler dem deutschen Publikum näher zu bringen, scheut er keinen Aufwand. Er zitiert aus Schriften der Symbolisten, aus diversen französischen Zeitungen und Zeitschriften, aus einer Ausgabe von Le Sourire und diskutiert umständlich die verschiedenen Meinungen und Dokumente betreffend Gauguins Todesur‐ sache. Schlusspunkt des Textes ist ein langes Zitat aus dem Manuskript von Racontars de rapin an, welches über Daniel de Monfreid in Meier-Graefes Besitz war. 56 Mit Entdecker-Stolz erwähnt er, dass er der erste sei, der aus diesem „künstlerische[n] Testament“ 57 zitiere. Er merkt an, dass er gerne Gauguins Schriften in Deutschland herausgeben möchte (MG1, 379), was über zwanzig Jahre später mit der Faksimile-Ausgabe von Noa Noa Wirklichkeit werden wird (1926). 58 Insbesondere dieses Engagement um das Faksimile bestätigt, dass bei Meier-Graefe Faszination und Befürwortung letztlich überwiegen. Er hegt für den Künstler eine schauerromantische und exotistische Passion, wie sämtliche Gauguin-Texte und im speziellen Meier-Graefes Lektüre von Noa Noa von 1904 ersichtlich machen. 1904 ist er voller Bewunderung für Gauguins Kunst: Denn alles, alles, was Gauguin je gemacht hat, ist schön, mag man es Fragmente nennen, mag man sich den gegenständlichen Sinn nicht immer erklären können, mag man bedauern, dass an manchen grossen Panneaux die Harmonie von Farbe und Linie nicht immer so rein und stark erscheint, wie auf den unendlich einfacheren van Goghschen Gemälden, immer werden die höchsten Sphären des Schönen gestreift. (MG1, 377) Gauguin konnte alles. Er war ein grosser Lithograph; […] ein grosser Bildhauer und ein geschickter Töpfer. (MG1, 378) Die Schönheit der Südsee-Bilder erklärt er mit dem naiven und ‚nackten‘ Blick Gauguins: Die Grazie, die er auf seiner Insel fand, liess ihn durch irgendeinen unbegreiflichen Zusammenhang für die Darstellung des nackten Leibes in der Natur nicht Motive, 107 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="108"?> 59 MG1, 371; 373; 375; 378. 60 Hier ist gut sichtbar, wie konservative und fortschrittliche Ansichten bei Meier-Graefe Hand in Hand gehen. sondern Mittel finden, die uns wie neu erscheinen, neu, weil wir so naiver Lösungen sehr reich ausgestatteter Maler längst entwöhnt sind. Dieser Mensch, der nichts bei sich hatte in der Wildnis als seine Augen, sah sich in eine Formenordnung hinein, mit der nur in ganz grossen Glanzzeiten die Menschen auf die Welt kommen. (MG1, 377) Dies ist nicht die „freskenhafte Einfalt“ der Neuausgabe 1924. In seinem Urteil gegenüber Gauguins „Verwildern“ ist Meier-Graefe aber auch schon 1904 gespalten. Im Gegensatz zu den späteren Schriften nimmt er den Künstler jedoch viel stärker in Schutz, das Verständnis für Gauguin scheint ungleich höher. Meier-Graefe versucht das Misstrauen des Publikums abzubauen und das Ausnahmetalent des „Verkannten“ (MG1, 383) zu erklären. Mit welchem Primitivismus-Begriff operiert Meier-Graefe, um das Publikum zu gewinnen, und welchen Platz weist er Noa Noa in den Ausführungen zu? Meier-Graefe bezeichnet Gauguin alternierend als „Primitiver“, „Barbar“, „Robinson Crusoe“, „Hidalgo“, „grosses Kind“ und „Abenteurer“. 59 Sein „wild Werden“ ist ihm Ausdruck einer „tiefe[n] Instinktgemeinschaft mit der dunklen Rasse, die ihm im Blute lag“ (MG1, 380). Entwicklungsgeschichtlich beschreibt er Gauguins künstlerischen Primitivismus als „Fortsetzung des Exotischen“ - ins Barbarische: Gauguin ist im engeren die Fortsetzung des Exotischen in Frankreich über Degas und Lautrec hinaus, im weiteren eine unendliche Ausdehnung der künstlerischen Grenzen überhaupt. Eine Fortsetzung ins Barbarische, wenn man will, da er Gesichter malt, die wir nicht zu den unsrigen rechnen, da er sich nicht an die fremde aber anerkannte Tradition hält, die Japan uns brachte, da er in und mit Formen handelt, deren Stammbaum noch nicht in unseren Museen notiert ist. Man kann ihm vorwerfen, dass er um jeden Preis etwas anderes wollte. (MG1, 375 f.) 60 Meier-Graefe versucht die Ablehnung des Publikums, dessen Blick er, wie wir in einem späteren Zitat noch sehen werden, als exotistisch beschreibt (s. u.), von dieser Grenzsprengung ins Barbarische her zu verstehen. Er versteht es als seine Aufgabe, das Publikum mittels seiner Theorie der Abstufungen von „Primitivität“ im Werke Gauguins gewissermassen über deren Exotismus hinauszuleiten. Für diesen Zweck muss er (zwangsläufig) in seiner Narration der Entwicklungsgeschichte bleiben, und den Bogen zur europäischen Tradition schliessen. 108 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="109"?> 61 MG1, 376: Die „Europaflucht“ des „leeren alten Europäers“ endet in der „Idylle“. der Zugang ist ihm durch „Tehura“ gewährt, die ihm das „Genie der Maoris“ näherbringt. Die Assimilation deutet Meier-Graefe anhand der Fischereiszene an: „beide beten zusammen die tiefen Gebete der Heiden“. Gauguins Plastik attestiert er das grösste grenzsprengende Potential. Die „Gefahr, die Synthese ins Barbarische zu treiben“ (MG1, 378), sei bei den plasti‐ schen Arbeiten verzehnfacht, schreibt Meier-Graefe. Worin diese „Primitivität“ besteht und inwiefern sie an die „primitive“ Kunst und Kultur gebunden ist, führt er nicht aus. Grundsätzlich relativiert er die Auseinandersetzung mit der fremden Kunst und beschreibt den Primitivismus als „Perversität des Europäers“ (MG1, 378). Gauguin hätte das „Primitive“ „so wild und schreckhaft als möglich“ (MG1, 378) machen wollen. Die ganze Argumentation läuft darauf hinaus, Gauguins Grenzsprengung zurückzubuchstabieren. Er bindet die Primitivität auf Gauguin zurück und dessen Werke auf ein „ureuropäisches“ Erbe. Dies ist in folgendem Zitat sichtbar: In Paris gibt es ausser Vollard noch immer keinen einzigen Händler, der sich ernstlich für ihn interessiert. Die Liebhaber, wenige Ausnahmen abgerechnet, stört er. Den Exotismus würden sie gelten lassen, aber das gar nicht Exotische, sondern Ureuropäi‐ sche, das der grossen Fläche, nicht dem Rahmen dient, ist den wenigsten Europäern willkommen. (MG1, 378 f.) [Herv. LF] Meier-Graefe bindet hier das „Primitive“ an Gauguins Behandlung der Fläche - und bezeichnet diese als „ureuropäisch“. Die Ablehnung des Publikums macht er als Unverständnis für die eigene Tradition begreiflich. Meier-Graefe argumen‐ tiert in Anlehnung an Albert Aurier und Maurice Denis aber auch an Worringers Gotik-Begriff und deutet Gauguins Kunst „neo-traditionalistisch“. Gauguins Grösse sieht er wie jene im Dekorativen und grenzsprengend Flächigen. Er zitiert Aurier „Des Murs! Des Murs! Donnez lui des Murs! “ (MG1, 378 f.) - und diese Mauern können doppeldeutig als Mauern für die Flächenkunst sowie als Mauern der Begrenzung gefasst werden. Aus kunsthistorischer Sicht lassen sich diese Worte nochmals weiter übertragen. Die Mauern können Meier-Graefes Strategie versinnbildlichen, grenzsprengende Kunst in Grenzen zu verwiesen. Diese Vorgehensweise prägt auch Meier-Graefes Lektüre von Noa Noa, wie abschliessend gezeigt werden soll. Noa Noa bringt Meier-Graefe zum Schwärmen. Er nennt die Schrift eine „einzigartige Dichtung“, ein „Gedicht“ von „homerische[m] Gepränge“ (MG1, 376). Das schöne, anregende „Märchen“ erzählt nach seiner Interpretation eine kontinuierliche Annäherung an ein Paradies. 61 Er glaubt, dass Gauguin mit Noa Noa die Geschichte seiner Kunst erzählt und stellt die entscheidende These 109 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="110"?> auf, dass diese dem Publikum über die Schrift zugänglicher sei als über das bildkünstlerische Werk: Das Gedicht gibt sich in unserer Sprache, und die farbigen Episoden mit ihren vokalreichen Namen dienen unserer Freude an der Pracht, ohne uns in fremde Form zu bringen. Der Geist ist europäisch, ja nichts spricht hier entschiedener für den Europäer als diese Gauguinsche Europaflucht. (MG1, 376) [Herv. LF] Wieder theoretisiert Meier-Graefe den Primitivismus über die Publikumswir‐ kung. Er behauptet, dass Gauguins Noa Noa dem Publikum einen ungestörten Zugang zur „Idylle“ (s. o.) bietet. In der Malerei hingegen würde es genötigt, sich „selbst in diese fernen Gebilde einzuschiffen und unsere Nahrung mit den Wilden zu teilen.“ (MG1, 376). Beim „Märchen“ ist dies nicht nötig, es gewährt Rührung aus einer für den Europäer ungefährlichen Distanz: Keiner der Zuhörer des Märchens, so gerührt er war, glaubte ernsthaft an diese merkwürdige Geschichte, ja, das Bewusstsein in dem alten Schaukelstuhl Europas dabei zu sitzen, erhöhte noch die Rührung. Jetzt wehrt man sich dagegen. Auch wenn da draussen ein Nirwana lacht, etwas das eingestandenermassen höchst bekömmlich wäre, auch wenn da Reize winken, die wir nicht haben und wohl haben möchten, Dinge die ganz vernünftigerweise bei uns sein könnten, wenn dies und jenes andres wäre, die früher, vor undenklichen Zeiten, auch bei uns gewesen sein sollen, als wir noch selbst Barbaren waren… (MG1, 367 f.) In diesem Stil argumentiert Meier-Graefe weiter. Mittels vieler Perspektiven‐ wechsel und Windungen versucht er Gauguins literarischen Text zu fassen. Er ist berührt davon und glaubt gerne an die rührende Geschichte (der Kunst), die Gauguin erzählt, andererseits versucht er Distanz zur geschilderten Idylle („Paradies“/ „Nirwana“) zu gewinnen und beteuert, dass keiner ernsthaft an diese „Autosuggestion“ (MG1, 378) Gauguins glaube; an diese „Autosuggestion“, die er als Resultat einer „Angst vor Europa“ (MG1, 377) darstellt. Wie die letzten beiden längeren Zitate zeigen, schliesst sich Meier-Graefe im exotistischen Publikum explizit mit ein. Er redet in der zweiten Person Plural vom Europäer, der durch seinen zivilisatorischen Abstand zum „Barbaren“ keinen Zugang zu dieser wunderbaren Kunst finde, sie lediglich mit der Hand über den Augen durch die Finger hindurch wahrzunehmen getraue. Der Zivilisierte würde keine harten Kontraste mehr vertragen, sei vom Elementaren und dem Sensualismus schon zu weit entfernt. Für Ihn gäbe es kein Zurück mehr. (MG1, 377) Wie letztes Zitat zeigt, wendet Meier-Graefe die Fragen nach der „Primitivie‐ rung“ des europäischen Künstlers und nach der Authentizität des künstlerischen „Going native“, die er nicht zu beantworten vermag - einmal redet er von 110 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="111"?> 62 Für die Künstler der Brücke war Meier-Graefes Kunstgeschichtsschreibung leitend, vgl. Bätschmann, Oskar (1997). Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln: DuMont, 171f. 63 Worringer, Wilhelm (1927). [ohne Titel]. In: Julius Meier-Graefe. Widmungen zu seinem sechzigsten Geburtstage. München: Piper, 110-111. Hier 110, zit. n. Fleckner 2006, 167. elementarer Kunst und dann wieder von einer Kunst der Täuschung - in eine grundsätzliche Diskussion der Begegnung der Kulturen. Prinzipiell spricht er einer unüberbrückbaren kulturellen Differenz das Wort. Seine Präsentation lebt jedoch davon, dass sowohl Gauguin als auch er selber in dieses hierarchische interkulturelle Schema schlecht hineinpassen. Meier-Graefe blickt ohne Hände vor den Augen auf die „primitive“ Kunst Gauguins und kündet von deren Schönheit. Er handelt offensichtlich in der Rolle des Lehrers und Vermittlers, der die Distanznahme zu relativieren versucht, unter anderem eben durch die Rückbindung Gauguins an die europäische Tradition. Letztlich erlaubt ihm diese Rückbindung, den „schlechten Europäer“ (s. o.) als „wunderbaren“ europäischen Künstler zu präsentieren. Und dies, indem er Gauguins „Going native“ schliesslich als harmlose, auf Europa bezogene „Musse im Urwald“ beschreibt: Gauguin starb am 9. Mai 1903 auf der Insel Dominique. Damit ging der europäischen Kunst nicht nur ein wunderbarer Künstler verloren, […] sondern auch ein tiefer Beobachter ihres Treibens der durchaus nicht die Verbindung zwischen sich und der europäischen Kultur durchschnitt, sondern seine Musse in dem Urwald seiner neuen Heimat vorteilhaft nutzte, um über die alte nachzudenken. (MG1, 379) Der Einfluss der Kunstgeschichtsschreibung Meier-Graefes auf die nachfol‐ gende Generation primitivistischer Künstler und Theoretiker ist gross. 62 Sein ambivalenter Standpunkt, der, wie unsere Ausführungen gezeigt haben ge‐ rade im Bereich des Exotismus und Primitivismus evident ist, ist für diverse Positionen anschlussfähig. Von Wilhelm Worringer, der mit seiner Theorie zur „primitiven“ Kunst die Generation seinerseits direkt prägte, ist folgender Ausspruch über die Autorität Meier-Graefes überliefert: „Ganze Kapitel der Kunstgeschichte haben wir durch seine Augen gesehen - auch wenn wir glaubten, es wären unsere eigenen.“ 63 Bevor wir uns der expressionistischen Generation zuwenden und mit Carl Einstein demjenigen Exponenten dieser Generation, der sich dem Einfluss der liberalen grossbürgerlichen Kunstgeschichtsschreibung programmatisch entzieht, verbleiben wir vorübergehend bei der Generation Meier-Graefes. Im Folgenden wird Victor Segalen (1878-1919) vorgestellt, ein Kunsttheoretiker, der sich im Gegensatz zu Meier-Graefe mit dem exotistisch-primitivistischen 111 2.1 Gauguin-Rezeption in Frankreich und Deutschland <?page no="112"?> 64 Vgl. Kap. 2.2.2 & 2.2.3. 65 Segalen, Victor (1904). Gauguin dans son dernier décor. In: Mercure de France, Nr. 174/ 6, 679-685. In: Œuvres complètes (1995). Bouillier, Henry (Hrsg.). Paris, 287-291; Segalen, Victor [1904]. Gauguin in seiner letzten Umgebung. In: „Neger im Louvre“. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst (2001). Prussat, Margrit/ Till, Wolfgang (Hrsg.). Amsterdam/ Dresden: Verlag der Kunst, 37-46. (künstlerischen) „Going native“ auseinandersetzt. Für unseren Zusammenhang ist der französische Marinearzt, Ethnologe, Archäologe und Literat Segalen von besonderer Bedeutung, da er seine exotismuskritische Kunsttheorie direkt aus der Beschäftigung mit Paul Gauguin entwickelt. In Bezug auf den monströsen „Exoten“ 64 Gauguin erarbeitet er einen neuen Begriff von Exotismus, in dem die späteren expressionistischen Entwürfe eines radikalen Primitivismus schon eingeschrieben scheinen. 2.2 Der „Exotismus zweiten Grades“: Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik „Gauguin fut un monstre. C’est à dire qu’on ne peut le faire entrer dans aucune des ca‐ tégories morales, intellectuelles ou sociales, qui suffisent à définir la plupart des indivi‐ dualités.“ Victor Segalen, 1904 65 Das obige Zitat von Victor Segalen steht dem Kapitel als Motto vor. Der mons‐ tröse Gauguin jenseits von Tradition und Moral und üblichen Kategorien von Intellektualität und Gemeinschaft: Dieses positiv akzentuierte Bild des Monsters zeigt die Richtung an, in die sich die avantgardistische Auseinandersetzung mit dem Gauguinschen Primitivismus fortbewegt. Für Segalen steht das monströse „Going native“ im Zentrum seiner Beschäftigung mit Gauguin. Er nimmt dessen Aufbruch in unbekanntes Terrain, seine Auseinandersetzung mit dem Fremden ernst, und formt aus der Analyse seines „Going native“ eine Theorie der Inter‐ kulturalität. Mit Meier-Graefes Primitivismus-Begriff teilt diese interkulturelle Ästhetik, so hat es den Anschein, lediglich die Entstehungszeit. Nach dem vereinfachten „seconde Gauguin“ von Denis und Meier-Graefes Begrenzung der 112 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="113"?> 66 Die folgenden Ausführungen beruhen auf meiner Darstellung von Victor Segalens interkultureller Ästhetik in: Fessler, Ladina (2014). Das „Going Native“ des primiti‐ vistischen Künstlers und die exotische Frau. Victor Segalens kritische Ästhetik des Exotismus. In: Diesseits der imperialen Geschlechterordnung. (Post-)koloniale Refle‐ xionen über den Westen. Hostettler, Karin/ Vögele, Sophie (Hrsg.). Bielefeld: Transcript, 197-224. 67 Zu Segalens fast zweijährigem Aufenthalt auf Tahiti (1903/ 1905) und für allgemeine historische und biographische Informationen s. Cahn, Isabelle (1995). Segalen et Gauguin. In: Victor Segalen. Actes du Colloques de Brest. Balcou, Jean et al. (Hrsg.). Brest, 147-157; Dollé, Marie (2008). Victor Segalen. Le voyageur incertain. Bruxelles: Éditions Aden. 68 Henry Bouillier relativiert dies: Segalen verkehrte im Kreis um die symbolistische Zeitschrift Mercure de France (Er war mit Rémy de Gourmont, Saint-Pol Roux u. a. bekannt und verfasste ab 1901 erste Artikel für die Zeitschrift), und über diese Verbindungen dürfte Segalens Interesse an Gauguin bereits vor dem Aufbruch geweckt gewesen sein. Fest steht, dass Segalens Interesse für Kunst vor der Reise nach Tahiti auf die Literatur fokussiert ist. Er bewundert die französischen Naturalisten und Symbolisten, im speziellen Joris-Karl Huysmans und dessen Poetik eines „spirituellen Naturalismus“. Vgl. Zinfert, Maria (2004). Die grosse Diagonale. Der französische Arzt, Archäologe und Autor Victor Segalen im Reich der Mitte. In: Neue Zürcher Zeitung, 31.1./ 1.2.: „Die Poetik eines spirituellen Naturalismus, wie sie Huysmans auf den ersten Seiten von „Tief unten“ entwickelt, hat das Schreiben Segalens geprägt: Seine Werke basieren je auf einer umfassenden Recherche und fundierten Kenntnis des Gegenstandes, gehen aber in ihrem poetischen Entwurf und ihrer imaginären Leistung weit über diesen hinaus.“ Segalens medizinisches und literarisches Engagement laufen in seiner medizinischen Dissertation unter dem Titel (Les cliniciens ès lettres, 1902) zusammen, einer psychologischen Studie über naturalistische Literaten. Vgl. Cahn 1995, 148f. 69 Die Haltung der französischen Kolonialgesellschaft gegenüber dem verstorbenen Gauguin fasst Cahn folgendermassen zusammen: „La bonne société coloniale s’est empressée d’oublier ses pamphlets, ses procès, son anticléricalisme et sa déchéance“, s. Cahn 1995, 147. Entgrenzung folgt hier Segalen, der näher heranzoomt und seinen Blick auf den Künstler und dessen Lebensrealität richtet. 66 Victor Segalen ist im Jahre von Gauguins Tod als Arzt auf Tahiti stationiert. 67 Er setzt sich intensiv mit der Geschichte, Religion und Sprache der Maoris auseinander, insbesondere mit der Geschichte der Entdeckung und Christiani‐ sierung der Inseln. Vor Ort entsteht sein erster Roman Les Immémoriaux (Die Unvordenklichen), den er nach seiner Rückkehr 1905 beendet und 1907 unter dem Pseudonym Max-Anély publiziert. Es ist überliefert, dass Segalen den Künstler nur vom Hörensagen kannte, bevor er (nach Gauguins Tod) auf Hiva Oa und Tahiti mit seinem Werk und Wirken in Kontakt kommt. 68 Es ist eine folgenreiche Verbindung. Segalen setzt sich gegen das koloniale Establishment für die Rettung von Gauguins stiefmütterlich behandelten Werken ein, 69 bringt 113 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="114"?> 70 Segalen kommt in den Besitz des Briefnachlasses von Gauguin (Briefe an Gauguin) und von zahlreichen Manuskripten (Cahier pour Aline, L’Ancien culte maori, Avant et après, Racontars de rapin, etc). Er ist der Hauptkäufer an den Versteigerungen von Gauguins Hab und Gut, kauft Gemälde, Skulpturen, Reliefs, Zeichnungen, Skizzenbücher, Hefte, Photographien, und andere Lebensdokumente, s. Cahn 1995, 149ff. 71 Zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte Segalens, s. Manceron, Gilles (1986). Préface. In: Segalen, Victor. Essai sur l’exotisme. Une esthétique du divers et textes sur Gauguin et l’Océanie. Ders. (Hrsg.). Paris: Fata Morgana, 7-25. Hier 7 ff.; Bouillier, Henry (1995). Préface. In: Segalen, Victor. Œuvres complètes. Paris: Ed. Robert Laffont, I-XXV. Zur Frage der Postkolonialität Segalens s. bspw. Yee, Jennifer (2008). Exotic Polyphony: Victor Segalen and „Les Immémoriaux“. In: Exotic Subversions in Nine‐ teenth-Century French Fiction. London: Maney, 83-103. Hier 83ff. 72 Teile des Fragments wurden erstmals 1955 durch Pierre Jean Jouve ediert, 1986 folgt die komplette Edition durch Gilles Manceron (s. o.): Segalen, Victor. Essai sur l’exotisme, Une esthétique du divers et Textes sur Gauguin et l’Océanie (1986). Manceron, Gilles (Hrsg.). Paris: Fata Morgana; Gesammelte Werke 1995: Œuvres complètes 1995, 745- 781; Deutsche Übersetzung 1994: Segalen, Victor. Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus (1994). Aufzeichnungen, übersetzt von Uli Wittmann. Frankfurt a. M./ Paris: Qumran. 73 Die Einleitung zur Briefedition verfasste Segalen bereits 1916. gewichtige Teile davon nach Frankreich 70 und fördert die Gauguin-Rezeption nach Kräften, unter anderem mit eigenen kunstkritischen Beiträgen über den Künstler. Segalen ist nach seiner Wiederentdeckung in den 1960er-Jahren zu einer Leitfigur postkolonialer Studien geworden. 71 Zu grossen Teilen verdankt sich dieser späte Ruhm seiner in Fragmenten überlieferten Exotismus-Studie Essai sur l’exotisme, 72 in der Segalen in einer proto-postkolonialen Haltung den Eurozentrismus und Romantizismus des Exotismus anprangert und eine interkulturelle Neudefinition des Exotismus versucht. In diesem Kapitel wird auf‐ gezeigt, inwiefern Segalen diese Neudefinition mit Gauguins Primitivismus verknüpft ist. Zwischen 1904 und seinem frühen Tod im Jahre 1919 verfasst Segalen mehrere Texte über Gauguin, von denen nur zwei zur Publikation gelangen. Im Jahr seiner Rückkehr aus Tahiti erscheint der kurze Prosatext Gauguin dans son dernier décor (aus dem das Monster-Zitat stammt), kurz nach Segalens Tod 1919 die Edition des Briefwechsels zwischen Gauguin und Georges-Daniel de Monfreid mit Segalens Vorwort unter dem Titel Hommage à Gauguin. 73 Zwei Romanprojekte, für die er aus dem Gauguin-Stoff schöpft, bleiben Fragmente: Maître-du-Jouir (zwischen 1907 und 1918 verfasst, in der Werkausgabe von Henry Bouillier 1995 ediert) und La Marche du feu (1908 verfasst, unveröffent‐ 114 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="115"?> 74 Maître-du-Jouir nahm als Fortsetzung von Les Immémoriaux Konturen an. Vgl. Cahn 1995, 156; Manceron 1986, S. 19ff.; La marche du feu schrieb Segalen für einen Sammelband unter dem Titel Les Exotiques, der nie erschien. Vgl. ebd., 23ff. 75 Im Folgenden werden die Siglen Essai und EDt für die deutsche Übersetzung des Essai sur l’Exotisme von 1994 benutzt. 76 Der Essai setzt sich aus Einträgen unterschiedlichster Art zusammen. Umfangreiche ausformulierte Passagen stehen neben stichwortartigen Aufzeichnungen, daneben gibt es beispielsweise längere Abschnitte mit Exzerpten. Mehrere Notizen betreffen die Strukturierung der Theorie resp. der Schrift und machen Segalens kontinuierliche Arbeit am Konzept des Exotismus sichtbar. 77 Vgl. Essai, 46. Er nennt Paul Bonnetain, Jean Ajalbert, Pierre Loti, aber auch Saint-Pol-Roux und Paul Claudel. Weitere Namensnennungen und Negativbeispiele: Essai, 31; 35 f.; 40; 46; 52; 55; 58 ff.; 82 ff.; vgl. EDt 35; 39 f.; 46; 55; 62; 69; 73 ff.; 110ff. 78 Vgl. Essai, 36: „Jeter par-dessus bord tout ce que contient de mésusé de rance ce mot d’exotisme. Le dépouiller de tous ses oripeaux: le palmier et le chameau; casque de colonial; peaux noires et soleil jaune; et du même coup se débarrasser de tous ceux qui les employèrent avec une faconde niaise“, vgl. EDt, 41: „Als erstes die Vorfragen klären. Alles, was das Wort Exotismus an Missbrauchtem und Abgestandenem enthält, über Bord werfen. Es von seinen fadenscheinigen Kleidern befreien: von den Palmen und Kamelen, dem Tropenhelm, der schwarzen Haut und der gelben Sonne.“ 79 Vgl. Essai, 84: „Sous les termes redoutables de ,littératures exotiques‘, ‚impressions d’exotisme‘, …on réunissait et on réunit encore tout l’attirail clinquant d’un retour de chez un roi nègre; […].“ licht). 74 Im Zentrum der folgenden Analyse steht mit Gauguin dans son dernier décor von 1904 Segalens frühester Text. Dieser, so wird argumentiert, ist nicht nur ein einzigartiges Zeugnis über Gauguin und dessen Wirken vor Ort, sondern ein poetisches Äquivalent zu Segalens später ausformulierten Theorie des Exotismus. 2.2.1 Essai sur l’exotisme (1904/ 1919) Der Essai sur l’exotisme 75 ist das Herzstück von Segalens vielseitigem interdiszi‐ plinären Œuvre. Das fragmentarische Konvolut, für das er 1904 erstmals Notizen macht, und das im Zeitraum zwischen 1908 und seinem Tod kontinuierlich weiterwächst, ist das Resultat einer breiten Ausdifferenzierung und Neubestim‐ mung des Exotismus-Begriffs. 76 Segalen propagiert eine neue Definition von Exotismus, die in Ablehnung des Exotismus und Kolonialismus des 19. Jahrhun‐ derts ihre Konturen gewinnt. Er wendet sich gegen die „Zuhälter des Exotismus“ (EDt, 55) 77 , die er vor allem im dekorativen, romantischen Impressionismus ausmacht und betont, dass sein neuer Begriff von Exotismus jenseits von „Palmen, Kamelen, Tropenhelmen, schwarzer Haut und gelber Sonne“ (EDt, 41) 78 gedacht werden soll - er wolle kein „[…] protzige[s] Flitterwerk einer Rück‐ kehr aus dem Lande eines Negerkönigs“ (EDt, 112) 79 bieten. Im Zentrum seiner 115 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="116"?> 80 Vgl. Essai, 36: „[…] l’ayant dépouillée des scories innombrables, des bravures, des taches, des ferments et des moisissures qu’un si long usage […] lui avaient laissés.“ Wie wir sehen benutzt auch Segalen die Reinigungsmetapher. Vgl. Kap. 2.1.3 (Meier-Graefe). 81 Vgl. Essai, 36f. 82 s. Untertitel des Essai (Une esthétique du divers). 83 Im Weiteren wird für die Beschreibung beider Seiten der interkulturellen Interaktion aus praktischen Gründen die männliche Form verwendet. Segalens prototypische exo‐ tistische Konstellation ist jedoch eindeutig diejenige eines männlichen europäischen Reisenden/ Künstlers, der einer exotischen Frau gegenübersteht. Aufmerksamkeit stehen in Absetzung zu diesem imperialen Exotismusbegriff die Vorbedingungen und die Funktionsweise der interkulturellen Begegnung, die Konfrontation vor Ort. Segalen visiert die Vorgänge hinter der Begegnung mit der Exotin, dem Exoten respektive Exotischen sowie exotistischen Darstel‐ lungen an. Er schreibt, er wolle den Begriff des Exotismus von „Rückständen, Verunreinigungen und Flecken, vom Makel und Schimmel“ befreien (EDt, 41). 80 Aus dieser Arbeit der Negation und Rekonstruktion solle der Exotismus und das „Diverse“, das er dem Begriff des Exotischen vorzieht, als klare, universelle Begriffe wiederaufleben (EDt, 41 f.) 81 . Diese zwei Begriffe stehen im Zentrum seines Theoriefragments einer „Äs‐ thetik des Diversen“. 82 Segalens Exotismus-Konzept beruht auf der Erkenntnis, dass das exotische Gegenüber über eine eigene Perspektive verfügt, die sich insofern nicht von der Perspektive des/ der weissen Anwesenden unterscheidet, als dass das exotische Gegenüber seinerseits einem/ einer (exotischen! ) Fremden gegenüber steht. Er beschreibt die interkulturelle Situation als Folge von Blicken, als ein Spiel der gegenseitigen Betrachtung und Beeinflussung. Segalen spricht vom exotischen Schock, den der/ die Reisende und Beobachtende erfährt, und beschreibt diesen als Gewahrwerden des Blicks des/ der Anderen. 83 Dieses Gewahrwerden führt gemäss Segalen idealerweise zu einem neuen Bewusstsein der eigenen Perspektive. Auf dieser Umkehrung und Reflexion der eigenen Perspektive baut seine Theorie. Es ist ein Exotismus der zwischenmenschlichen Dimension, wie Laurence Cachot schreibt: Par ce regard réciproque, l’homme se désolidarise du paysage; il est ramené à sa dimension humaine. La conscience de la présence de l’autre induit la conscience de sa propre existence. De plus, le moi est contemplé en même temps qu’il contemple. 116 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="117"?> 84 Cachot, Laurence (1999). La femme et son image dans l’œuvre de Victor Segalen. Besançon Presses Universitaires Franc-Comtoises, 103: „Durch diesen wechselseitigen Blick entsolidarisiert sich der Mensch von der Landschaft; er wird auf seine menschliche Dimension zurückgeworfen. Das Bewusstsein der Gegenwart des Anderen ruft ihm seine eigene Existenz ins Bewusstsein. Außerdem wird das ich, in dem es betrachtet, zugleich selbst betrachtet. Der Schock, den der Reisende fühlt, geht aus dieser Selbst‐ entdeckung durch den Blick des Anderen hervor“ (Übersetzung Felix Bühlmann). 85 Vgl. EDt, 35f.: „Sie [Loti, Saint-Pol Roux, Claudel] haben gesagt, was sie in Gegenwart der unerwarteten Dinge [Herv. i. O.] und Menschen gefühlt haben, mit denen sie zusammenzustossen suchten. Haben sie auch aufgedeckt, was diese Dinge und Menschen in ihrem Innern und von ihnen dachten? [Herv. LF] Denn es gibt vielleicht vom Reisenden zu dem hin, was er sieht, einen Rückstoss, der das Geschehene erschüttert.“ 86 „Un exotisme au deuxième degré“, vgl. Schmidt-Linsenhoff 2010, 95. Le choc, que le voyageur exprime, naît de cette découverte de soi à travers le regard de l’autre. 84 Segalen will die fremde Perspektive mitsamt den Konsequenzen, die aus der interkulturellen Begegnung resultieren, begreifen. Er möchte den „Gegenein‐ druck“ [auch: „Widerhall“, „Rückstoß“ („choc en retour“)] aufzeigen und nicht den oberflächlichen sensationellen Schock der Wirkung des Exotischen auf sich selber wiedergeben: Ils [Loti, Saint-Pol Roux, Claudel] ont dit ce qu’ils ont vu, ce qu’ils ont senti en présence des choses [Herv. i. O.] et des gens inattendus dont ils allaient chercher le choc. Ont-ils révélé ce que ces choses et ces gens pensaient en eux-mêmes et d’eux? Car il y a peut-être, du voyageur au spectacle, un autre choc en retour dont vibre ce qu’il voit. (Essai, 31 f.) 85 [Herv. LF] Segalen setzt sich mit seinem Entwurf eines alternativen Exotismus vom selbst‐ bezüglichen Exotismus eines Pierre Loti ab. Sein „Exotismus zweiten Grades“ 86 beruht auf einer Inversion des europäischen Blicks und zielt auf das Erleben der Indigenen. Das Progressive an Segalens Theorie, respektive der interkulturellen Haltung dahinter ist nun, dass diese gerade nicht darauf gründet, die indigene Perspektive erfassen zu können. Die Frage nach der Enthüllung der Perspektive der Indigenen aus „ihrem Innern“ (s. o.) entlarvt Segalen als Wunschdenken. Im Zitat fragt er „Ont-ils [Loti u. a.] révélé ce que ces choses et ces gens pensaient en eux-mêmes et d’eux? “ Dies ist eine rhetorische, beziehungsweise utopische Frage, denn Segalen geht davon aus, dass die fremde Perspektive uneinnehmbar ist. Er spricht von der undurchdringlichen Individualität des Fremden, dessen „impénétrabilité“ und einem „ewigen Unverständnis“, das zwischen Kulturen und Individuen herrsche: 117 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="118"?> 87 Vgl. EDt, 44: „Der Exotismus ist also nicht jener kaleidoskopische Zustand des Touristen oder des gewöhnlichen Zuschauers, sondern die lebhafte und neugierige Reaktion einer starken Individualität auf den Zusammenstoß mit einer Objektivität, deren Distanz sie wahrnimmt und auskostet. (Das Gefühl des Exotismus und des Individualismus ergänzen sich [Herv. i. O.]). Der Exotismus ist also keine Anpassung [Herv. LF]; es ist also nicht das vollkommene Begreifen eines Nicht-Ich, das man sich einverleiben könnte, sondern die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit.“ 88 Die Forschung fasst Segalens Texte um Gauguin und den „Maori-Zyklus“ (Les Immémo‐ riaux und dazugehörige Texte) zum „cycle polynésien“ zusammen. Segalen verschränkt seine literarischen, ethnologischen, kulturtheoretischen und medizinisch-psychologi‐ schen Texte eng miteinander. Diese Interdisziplinarität treibt es zeitlebens weiter und erweitert den interkulturellen Reflexionsraum. Im „China-Zyklus“, insbesondere seinem Roman René Leys (1913/ 1914 verfasst, 1922 posthum publiziert), gibt er der „Ästhetik des Diversen“ weiter Form. L’exotisme n’est donc pas cet état kaléidoscopique du touriste et du médiocre spectateur, mais la réaction vive et curieuse au choc d’une individualité forte contre une objectivité dont elle perçoit et déguste la distance. (Les sensations d’Exotisme et d’Individualisme sont complémentaires) [Herv. i. O.]. L’Exotisme n’est donc pas une adaption; n’est donc pas la compréhension parfaite d’un hors du soi-même qu’on étreindrait en soi, mais la perception aiguë et immédiate d’une incompréhensibilité éternelle. (Essai, 38) 87 [Herv. LF] Segalen ist überzeugt, dass es keinen Exotismus gibt, der das Leben des Anderen authentisch zeigt und keine Möglichkeit der „Adaption“ oder der Grenzüber‐ schreitung im Nachleben (in der Übersetzung „Einverleiben“ [! ]) dieses Lebens. Er beschreibt das „Going native“ als unmögliche exotistische Utopie. Im Zitat ist nochmals ersichtlich, dass Segalens Gegenentwurf des Exotismus gerade auf dieser Erkenntnis gründet. Er redet der Distanz das Wort, der Bewahrung des interkulturellen Unverständnisses. Im Zentrum des „Exotismus zweiten Grades“ steht die Wahrnehmung und Auskostung des „Diversen“ respektive die Reflexion und künstlerische Umsetzung dieser „harten und unmittelbaren“ Empfindung. Und hierin nun erblickt er in Gauguin einen Meister. 2.2.2 Gauguin als Monster und „Exot“ Die Projektierung des Essai sur l’exotisme fällt in die Zeit von Segalens intensiver Auseinandersetzung mit Gauguin. Beide ,Stoffe’ bedingen einander, sie zeichnet ein gemeinsamer Reflexionsraum „Exotismus“ aus. 88 Segalen betrachtet Gau‐ guins Kunst unter seinen im Entstehen begriffenen theoretischen Prämissen, unter dem Vorzeichen der Problematisierung von Exotismus, Kolonialismus und Interkulturalität, beziehungsweise umgekehrt hilft ihm Gauguins Kunst, seine 118 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="119"?> 89 Im Essai bspw. sind die Verweise auf Gauguin mehr oder weniger explizit (s.v.). Sein Manuskript Journal des îles macht zudem sichtbar, wie Segalen Gauguins Arbeitstechnik adaptiert. Er imitiert dessen Collagetechnik der Arbeitsjournale und Tagebücher und klebt als Geste der Hommage das Porträt des Künstlers auf die erste Seite seines Notizbuches. Vgl. Segalen, Victor: Journal des Îles, illustriertes Manuskript, Paris Bibliothèque Nationale de France (Na fr 25786); Wiedergabe ohne Illustrationen in Œuvres complètes 1995, 396-479. Zu Gauguin als Schlüsselfigur der Exotismus-Theorie Segalens, vgl. Œuvres complètes 1995, VIII; Zinfert, Maria (2003). Über eine Poetik der Inversion. Die Romane von Victor Segalen. München: Judicium, 64 ff. Isabelle Cahn bemerkt: „[…] l’oeuvre de Gauguin irrigue et vivifie son inspiration littéraire“, vgl. Cahn 1995, 154f. 90 Brief an Monfreid vom 29. Nov. 1903. Segalen lernt de Monfreid nach seiner Rückkehr nach Frankreich kennen, später durch diesen auch den Kunsthändler Ambroise Vollard u. a., vgl. Cahn 1995, 154. 91 Vgl. Motto Kap. 2.2. 92 Vgl. Essai, 29 u. 58; EDt, 31 u. 72. Die Briefextrakte, die teilweise zum Kompendium hinzugefügt wurden, machen die Zusammenhänge evident. Im Brief aus China an theoretischen Begriffe auszubilden. 89 Ende 1903 beschreibt Segalen in einem Brief an Gauguins Freund de Monfreid den prägenden Einfluss des Künstlers mit folgendem vielzitierten Satz: „Je puis dire n’avoir rien vu [Herv. i. O.] du pays et de ses Maoris avant d’avoir parcouru et presque vécu [Herv. LF] les croquis de Gauguin.“ (Essai, 19 f.) 90 - „Ich kann behaupten, von diesem Land und den Maori nichts gesehen zu haben, bevor ich nicht Gauguins Skizzen durchgeblättert und gleichsam nacherlebt habe.“ Segalen präsentiert Gauguin und Gauguins Kunst in seinen Schriften als Prototypen eines „Exotismus zweiten Grades“. Wie wir im kurzen Abriss seiner Theorie der Interkulturalität gesehen haben, ist dieses exotistische Ideal direkt vom Dilemma des Exotisten beeinflusst. Die Lektüre von Gauguin dans son dernier décor wird dies exemplarisch aufzeigen. Mit Gauguin demonstriert er, dass die Annäherung an das Fremde misslingen muss, dass sich das Fremde dem Blick von Außen zu entziehen weiß und eine Begegnung außerhalb des kolonialen Rahmens nicht realisiert werden kann; gleichzeitig deutet er mit ihm die Möglichkeit der Überwindung der exotistischen Bedingungen. Er skizziert einen Schlupfwinkel an, von dem aus es gelingen kann, das Andere zu fassen, das heisst die eigene Stimme des Anderen zu vernehmen. Und dieser Schlupfwinkel ist die monströse, künstlerische Sonderposition. Wir erinnern uns an Gauguins Darstellung im Eingangszitat („Gauguin fut un monstre […]“), 91 an die ästhetische Sonderposition jenseits moralischer, intellektueller und sozialer Kategorien, die Segalen zu Anfang von Gauguin dans son dernier décor für Gauguin aufmacht. Auch wenn Segalen in seinen Notaten des Essai Gauguin nur zweimal namentlich und nur kursorisch erwähnt, 92 so ist offensichtlich, dass Gauguin 119 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="120"?> Henry Manceron vom 23. Sept. 1911 erwähnt Segalen bspw. Maître-du-Jouir, vgl. Essai, 69 ff.; EDt, 76ff. 93 Vgl. Essai, 35; 37; 42; 46; 51 f.; 56 ff.; EDt 39; 43; 49; 55; 61 f.; 70 f. Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2010, 97. 94 Vgl. Ebd., 95. 95 Vgl. Essai, 42: „Exote, celui-là qui, Voyageur-né, dans les mondes aux diversité merveil‐ leuses, sent toute la saveur du divers.“ 96 Vgl. Essai, 37: „[…] ceci, que l’on a posé, met en relief la saveur même du jeu de ses lois: l’ivresse du sujet à concevoir son objet; à se connaître différent du sujet; à se sentir le Divers.“ In diesem Zusammenhang nennt Segalen Arthur Schopenhauer und den französischen (an Nietzsche geschulten) Philosophen Jules de Gauthier als Referenzen für seine Theorie der Wahrnehmung: „Schopenhauers Gesetz der Vorstellung: jedes Objekt setzt ein Subjekt voraus. Jules de Gauthiers Gesetz des Bovarysmus: jedes sich begreifende Wesen begreift sich zwangsläufig anders als es ist.“ Und fährt fort: „Kann auch hier [im Falle des Exotismus] von einem Gesetz gesprochen werden? […] Sie werden eingestehen, dass unser Vorgehen, ohne den beiden obengenannten grundlegenden Gesetzen zu widersprechen, die den Menschen auf der ganzen Welt einengen, gerade erst den Reiz dieser Gesetze herauskehrt: […].“ 97 Bihan, René le (1995). Victor Segalen ou la quête de l’ailleurs. Exposition Brest 1994. In: Actes du Colloque de Brest, 354: „Il [Gauguin] devint une figure importante du „cycle maori“ de son œuvre, surtout dans Le Maître du Jouir, resté inachevé, dans lequel il dépeint une sorte de philosophe artiste assez puissant pour faire renaître un peuple en pleine agonie“ [Herv. LF]. dessen Leitfigur eines alternativen Exotisten ist. Er fungiert als Vorbild für den „Exoten“ 93 , wie Segalen den alternativen Exotisten im Essai begrifflich bestimmt. Der Begriff ist eine weitere programmatische Inversion Segalens: in seiner Neudefinition ist der „Exot“ nicht das exotische Gegenüber, sondern der Europäer, genauer das europäische, künstlerische Subjekt. Mit dem Begriff führt er seine auf Umkehrung der Perspektiven gründende „Ästhetik des Diversen“ 94 konsequent weiter, respektive setzt sie um. Segalen definiert den „Exoten“, um ein Beispiel zu nennen, als „[…] geborene[n] Reisende[n], der in den Welten der wundervollen Verschiedenheiten den ganzen Reiz des Diversen fühlt“ (EDt, 49) 95 . Und er bekennt, dass er nur für die „Exoten“ schreibe, nämlich für jene, welche den „Reiz des Spiels dieser Gesetze“ - der Gesetze der Wahrnehmung und im Spezifischen des Exotismus - erkennen und herausarbeiten würden. Für jene, die „[…] den Rausch des Subjekts, sein Objekt [zu] begreifen; sich als anderes-seiend [zu] erkennen; das Diverse [zu] fühlen“ (EDt, 42 f.) 96 . Mit seiner sich dem Diversen öffnenden (selbst-)reflexiven Kunst und Lebenspraxis erfüllt Gauguin als „philosophe artiste“ 97 alle Eigenschaften des „Exoten“. Er ist der „große Künstler“, der die Aufgabe des Exotismus im Gegensatz zu den Exotisten des 19. Jahrhunderts bewältigen kann: „Der Exotismus ist wirklich keine 120 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="121"?> 98 Vgl. Essai, 58: „L’exotisme n’est vraiment pas affaire de romanciers exotiques, mais de grands artistes“ [Herv. i. O.]. 99 Vgl. Essai, 50: „Chateaubriand, Senancour, ou Amiel, ces Narcisses des lettres, ont minutieusement noté les nuances de leur moi. Le Centaure, au contraire, nous présente une création autonome, objective“ [Herv. i. O.]. 100 Im Folgenden Dérnier décor, resp. DD und DDdt für die deutsche Übersetzung des Textes aus dem Jahr 2001. Angelegenheit von exotischen Romanautoren, sondern von großen Künstlern“ [Herv. i. O.] (EDt, 73) 98 , schreibt Segalen. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie Gauguin bereits in Gauguin dans son dernier décor (1904) als Monster die Botschaft der „Ästhetik des Diversen“ verkündet. Er agiert wie ein Zentaur, den Segalen im Essai erwähnt: „Chateau‐ briand, Senancour oder Amiel, jene narzistischen Schriftsteller, haben peinlich genau die Facetten ihres Ich beschrieben. Der Zentaur dagegen konfrontiert uns mit einer autonomen, objektiven Schöpfung“ (EDt, 60) 99 [Herv. i. O.]. 2.2.3 Gauguin dans son dernier décor (1904) Reisebericht, Nachruf, Essay, Manifest Gauguin dans son dernier décor 100 ist schwierig einzuordnen. Es handelt sich beim Text um einen journalistischen Reisebericht, er ist ein Nachruf auf Gauguin und hat Charakterzüge eines Essays und programmatischen Plädoyers. Vor allen Dingen aber ist er ein fein komponierter literarischer Text. Dernier décor erzählt von Gauguin und seiner pazifischen Wahlheimat, konkret vom Ort seines Sterbens auf Hiva Oa, von der Insel und seinen Bewohner: innen. Segalen rekonstruiert das letzte Atelier des Künstlers und skizziert Gauguins Kunst als Auseinandersetzung mit der fremden Welt und den fremden „Formen“ (s. u.). Über mehrere Ebenen gesehen widmet sich der Text der Erforschung von Fremdem: dem Fremden in der Gestalt der Südsee, der Indigenen, der exotischen oder „primitiven“ Kunst und vor allen Dingen dem Fremden in der Person Gauguins. Dernier décor ist die Erzählung einer vermittelten Begegnung, denn Segalen hat Gauguin wie gesagt nie getroffen. Die Metaphern um den mons‐ trösen Künstler lassen sich erzähltechnisch auch als Mittel der Annäherung an die ungekannte Person verstehen - an die Über-Persönlichkeit eines in seinem Mythos aufgegangenen Künstlers, von seiner Kunst und Aura überblendet und mit der fremden Südsee unauflöslich verbunden. Charles Forsdick beschreibt Gauguin im Text Segalens als „[…] fundamentally absent, mourned figure, known only at second hand through reminiscences and the associations of 121 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="122"?> 101 Vgl. Forsdick, Charles (2000). Victor Segalen and the Aesthetics of Diversity. Journeys between Cultures. Oxford: Oxford University Press, 5. 102 Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2010, 92. metonymic objects.” 101 Dass Segalen Gauguin als Monster und Fremder unter Fremden auftreten lässt, öffnet einem geheimnisvollen Alteritätsdiskurs Tür und Tor. Ce qu’ils donnèrent d’eux-mêmes à Gauguin, ces êtres-enfants? Des formes splen‐ dides, qu’il „osa déformer“; des motifs, aussi, à faire sonner à travers les vibrations bleues-humides de l’atmosphère, de chaudes notes ambrées, les chairs onctueuses aux reflets miroitants sur lesquelles pulvérulent, au grand soleil, des parcelles dorées; des attitudes [Herv. i. O.], enfin, dans lesquelles il schématisa la physiologie maori, qui contient peut-être toute leur philosophie. Il ne chercha point, derrière la belle enveloppe, d’improbables états d’âme canaque: peignant les indigènes, il sut être animalier. (DD, 290 f.) [Herv. LF] Was sie Gauguin von sich selber gaben, diese Kindwesen? Prächtige Formen, die er ‚umzuformen‘ wagte; auch Motive, durch die feucht-blauen Schwingungen der Atmosphäre warme Bernsteintöne ziehen zu lassen, die öligen Leiber mit funkelnden Lichtreflexen, auf denen in der prallen Sonne goldene Teilchen zerbröseln; schließlich Haltungen [Herv. i. O.], nach denen er die Maori-Physiognomie schematisierte, die vielleicht ihre gesamte Philosophie enthält. Hinter der schönen Hülle suchte er keine unwahrscheinlichen Zustände der Kanakenseele: beim Malen der Eingeborenen war er imstande, Tiermaler zu sein. (DDdt, 44) [Herv. LF] So beschreibt Segalen in Dernier décor die Beziehung Gauguins zu den Indigenen. Er zerteilt ihre „Gaben“ an Gauguin und will damit die verschiedenen Dimen‐ sionen des Exotischen und Fremden in der Kunst Gauguins fassen. Es ist ein seltsames Aufrechnen („Formen“, „Motive“, „Haltungen“, s. Hervorhebungen), das dem Prozess der Abstraktion verpflichtet scheint, welcher aus der Begeg‐ nung von Gauguin und der Südsee resultiert. An diesem Zitat ist sichtbar, dass Segalens Darstellung des/ der exotisch/ en Fremden von einer ähnlichen Wider‐ sprüchlichkeit geprägt ist wie bei Gauguin. Er bezeichnet das fremde Gegenüber fortschrittlich als „indigen“, fasst es jedoch auch mit dem klassisch kolonialen Wortschatz und Bildern der Animalisierung. Die TahitianerInnen sind Tiere, „Kanaken“ und „Kindwesen“, und dies ist Segalens reguläres Vokabular. Gerne benutzt er auch die zoologischen Begriffe „femelle“/ „mâle“, was in etwa dem deutschen „Weibchen“/ „Männchen“ entspricht. Was in der kolonialen Rhetorik despektierlich gemeint ist, wendet Segalen jedoch in eine Ehrenbezeugung. 102 In Hommage à Gauguin, dem Vorwort zur Briefausgabe Gauguin/ de Monfreid 122 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="123"?> 103 Segalen 1995, 359. 104 Segalen 1995, 359; vgl. Segalen 1920, XVIII: „Und anmutig vereinigen sich in ihr die verschiedenen animalischen Gaben. Ihre Glieder sind nicht aus Segmenten gemacht, die die Körper unserer Seelen, die man Schwester nennt, um uns kreisen lassen. Von der Schulter bis zu den Fingerspitzen zeichnet die Maorifrau, in Bewegung oder gebeugt, eine fortlaufende Linie. Die Form des Armes ist sehr elegant zur Spindel gedrechselt. Die Hüfte ist zart angedeutet und von Natur aus zwitterhaft. Die Hüften sind nicht das Aushängeschild der Bestimmung zur Fortpflanzung, der Daseinsberechtigung der Frau.“ 105 Vgl. Cachot 1999, insbes. 17. Bei Gauguin und Segalen nimmt die exotische Frau dieselbe ideale Mittlerfunktion ein für die Annäherung an die fremde Welt. Segalens Frauenbild ist wie bei Gauguin alles andere als frei von exotistischen Klischeebildern. Ein hochgradig sexuell-imperiales Klischeebild zeichnet er bspw. in einem Brief an Henry Manceron. Über seine Ankunft in Tahiti schreibt er: „Die ganze Insel gab sich mir hin wie eine Frau“ (Brief vom 23. 9. 1911, vgl. EDt, 76 ff.; Essai, 60 ff.). Segalen zeigt sich insbesondere fasziniert von ,geschlechtslosen‘ Frauen im Teenageralter und sakralisiert diese. Im Essai kann man beobachten, dass Segalen die zwischengeschlechtliche Ebene immer mitreflektiert, obwohl er auf die Gender-Thematik nicht ausführlich eingeht. Grundsätzlich ist seine Über-Exotisierung der exotischen Frau Teil eines ästhetischen Programmes (s.v.), vgl. Fessler 2013, 197-224. (1916/ 1919) wird Segalen schreiben: „[…] les divers dons animaux se sont incarnés en elle [la Maorie] avec grâce.“ 103 Diese spätere Textstelle lohnt sich weiter zu verfolgen, um das Verständnis von Segalens Konzept des „Tiermalers“ Gauguin („animalier“, s. o.) zu fassen. Segalen versucht sich dort, ohne einen direkten Bezug zu Gauguin und seinen Bildern herzustellen, an einer Physio‐ gnomie der Maori-Frau: Ses membres ne sont pas faites des segments que balancent autour de nous les corps de nos âmes dites sœurs. De l’épaule au bout des doigts, la Maorie dessine, mouvante ou courbée, une ligne continue. Le volume du bras est très élégamment fuselé. La hanche est discrète et naturellement androgyne. Les hanches ne s’affichent point comme une raison sociale de reproduction, la raison d’être de la femme. 104 Dies ist der gleiche ästhetisierende und abstrahierende Blick wie im Zitat über den „Tiermaler“ in Dernier décor. Der Vergleich macht sichtbar, wie Segalen die Gauguin zugeschriebene ästhetische Vision adaptiert und in allgemeingültige Aussagen umformt. Wie Laurence Cachot aufgezeigt hat, gilt diese Beobachtung im Besonderen für die Vision der exotischen Frau. 105 Im Zitat aus Hommage à Gauguin ist eines wichtig zu beobachten, nämlich wie die demonstrativ posi‐ tive Setzung und Ästhetisierung der Indigenen explizit jenseits des Sexuellen vorgenommen wird: „Les hanches ne s’affichent point comme raison sociale de reproduction, la raison d’être de la femme,“ - „Die Hüften sind nicht das Aus‐ hängeschild der Bestimmung zur Fortpflanzung, der Daseinsberechtigung der 123 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="124"?> 106 Segalen 1995, 294. Auf diese Stelle wurde bereits verwiesen, vgl. Kap. 1.1.1: „Il [Gauguin] contenait en lui-même une sorte de génie d’espèce, impérieux, orgueilleux et gauche, fécond et tumultueux, comme il s’en lève parfois aux temps des origines chez les peuples en formation. Lui le tenait dans son seul individu. Par sa puissance de créer, il équivalait une race entière.“ Auch diese Aussage ist eine eigentümliche Mischung aus Ernst und Parodie kolonialer (sowie schöpferischer) Konzepte. 107 Segalen 1995, 356; Segalen 1920, XIII. Frau.“ Dieser Satz, der bewusst steif formuliert erscheint und im französischen Original mit Wiederholungen spielt, ironisiert gleichsam den sexuellen Diskurs; jedenfalls ist die Idealisierung der polynesischen Schönheit im sexuellen Bereich gebrochen. Grundsätzlich kann man konstatieren, dass Segalen, und darauf weisen nicht nur die Brüche in den zwei Zitaten, eine losgelöste ästhetische Ebene anvisiert, für die er in Dernier décor unterstrichen wissen will, dass sie nicht darauf ziele, „unwahrscheinliche[n] Zustände der Kanakenseele“ (s. o.) hervorzubringen. Mit dieser Äußerung definiert er die Ästhetik des „Tiermalers“ Gauguin dezidiert kolonialkritisch. Er verweist auf die eurozentrische Anthro‐ pologie und Ethnopsychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts und kritisiert sie explizit. Die Einführung des Konzepts des „Tiermalers“ in Dernier décor ist geschickt arrangiert: Segalen strapaziert das koloniale Weltbild, das auf der Animalisierung der Indigenen beruht, indem er die (sprachlichen) Elemente des Codes bestehen lässt, diese aber in einen ‚neutralen‘ Bereich abkoppelt. Er hebt das Monster Gauguin auf eine Ebene jenseits moralischer, intellektueller und sozialer Kategorien und verhandelt ihn und seine Kunst auf der Ebene der Ästhetik und Kolonialkritik, die er später in seiner Kritik am Exotismus in Essai sur l’exotisme erprobt. Die beiden Texte Gauguin dans son dernier décor und Hommage à Gauguin sind hymnische Verklärungen Gauguins. Dies muss unbedingt berücksichtigt werden. Segalen beschreibt Gauguin als Genie und Meister, der durch seine Schöpfungskraft ein ganzes Volk, eine ganze Rasse aufwiegen würde. 106 Im Format des Essais operiert Segalen nicht in dieser Sphäre, die Notate sind größtenteils nüchtern. Das Hymnische der Texte zu Gauguin kann jedoch gerade als theoretische Notwendigkeit begriffen werden. Segalen schreibt in der Hommage, dass sich Gauguin aus genialem Instinkt dem Exotischen zugewandt, und dass sich erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden seine Meisterschaft gezeigt habe. 107 Dies ist eminent und zeigt sich auch schon in Dernier décor: Gauguin ist ein übermenschlicher „Exot“, dessen Kunst aller Unmöglichkeit zum Trotz auf einem emphatischen und grenzüberschreitenden Begriff von Interkulturalität beruht. 124 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="125"?> 108 Schüttpelz, Erhard (2005). Die Moderne im Spiegel des Primitiven. München: Wilhelm Fink Verlag, 382f. 109 EDt, 11. „[…] weil das poetische Bild für Segalen im Moment des Aufeinandertreffens der zwei unüberwindbaren Seiten des Diversen aufblitzt“ (Übersetzung Felix Bühl‐ mann). 110 Vgl. EDt, 61. 111 EDt, 99. Seinen Roman nennt er auch „Eingeborenenroman“ (Presseankündigung in Peintures, 1916), womit er auf sein Ziel anspricht, den Exotismus aus den Augen der Fremden, als Exotismus „des Objekts für das Subjekt“ (s. u. FN) zu fassen. Vor dem Close reading von Dernier décor rekapitulieren wir nochmals Sega‐ lens Standpunkt der „Ästhetik des Diversen“: Segalen setzt voraus, dass das Fremde weder angeeignet noch assimiliert werden kann, und dass sich die „unassimilierbare[n], fremde[n] Fremderfahrung“ 108 , wie Erhard Schüttpelz die Position absoluter Alterität beschreibt, nicht darstellen lässt. Der „Exot“, der die Stimme seines Gegenübers fassen will, ist auf sich selber zurückgeworfen und zur ästhetischen Distanznahme gezwungen. Diesen Zwang zur Distanz interpretiert Segalen nun aber positiv als ästhetische Befreiung, als Befreiung, die eben nicht in narzistischer Selbstbespiegelung endet. Er zielt auf das ästhe‐ tische Potential der interkulturellen Konfrontation unvereinbarer Perspektiven. Oder in Gilles Mancerons Worten: „[…] puisque c’est au moment ou se trouvent confrontés les deux versant irréductibles du divers que jaillit pour Segalen l’image poétique“. 109 Segalen hebt mehrmals die künstlerische Freiheit des „Exoten“ in der Dis‐ tanznahme hervor. Er schreibt beispielsweise: „Il se peut qu’un des charactères de l’Exote soit la liberté, soit d’être libre [Herv. i. O.] vis-à-vis de l’objet qu’il décrit ou ressent, du moins dans cette phase finale, quand il s’en est retiré“ (Essai, 51). 110 Hier redet er in der Möglichkeitsform von dieser künstlerischen Freiheit: „Möglicherweise ist einer der Charakterzüge des Exoten die Freiheit: die Freiheit [Herv. i. O.] gegenüber dem Objekt, das er beschreibt und empfindet, jedenfalls in jener letzten Phase, wenn er sich ihnen [sic! ] entzogen hat.“ Er beschreibt, wie sich der „Exot“ in der finalen Phase künstlerischer Arbeit dem „Objekt“, welches er darstellen will, entzieht, entziehen muss. Über seine eigene Arbeit als „Exot“ gibt Segalen Ähnliches zu Protokoll: Er habe sich, so Segalen bezüglich seiner Arbeit am Roman Les Immémoriaux 111 , zuerst von den Exotismen durchdringen lassen und hätte sich schliesslich von ihnen losgelöst, um sie „in ihrem ganzen objektiven Reiz“ [Herv. i. O.] hervortreten zu lassen: […] m’en imbiber d’abord, puis m’en extraire, afin de les laisser dans toute leur saveur objective (Comme les mêmes mots se retrouvent obstinément avec leur même force! Je dois aboutir à l’exotisme essentiel: celui de l’Objet pour le sujet! ) [Herv. i. O.] 125 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="126"?> 112 Essai, 49; vgl. EDt, 58. 113 Segalen lässt die Begriffe „Objekt“ und „Subjekt“ bewusst in der Schwebe und deutet auch hier eine neue Begriffsbestimmung an. 114 Vgl. EDt, 113: „Wenn auch universell, so ist es doch nur meine persönliche Sicht als Künstler: die Welt anschauen, um dann zu sagen, wie man sie sieht.“ 115 In der Übersetzung, die weder die Interpunktion noch die feine Begriffsarbeit überträgt, ist diese Bewegung nicht gut erkennbar. […] zunächst will ich mich von ihnen durchdringen lassen, mich dann von ihnen loslösen, um sie schließlich in ihrem ganzen objektiven Reiz hervortreten zu lassen (wie sich doch immer wieder dieselben Worte mit derselben Kraft wiederfinden! Ich muss zum grundlegenden Exotismus kommen, nämlich jenem des Objekts für das Subjekt! ) [Herv. i. O.] 112 Die „Objektivität“ - im obigen Zitat zielt er mit dem schillernden Begriff auf die indigene Perspektive 113 - sei nur aus der radikal subjektiven Distanz erreichbar. Auch den Essai beendet er mit einem ‚bescheidenen‘ ästhetischen Mantra, das in diese Richtung zielt: „[…] Ceci, universel, n’est que ma vision à moi : artiste : voir le monde, et puis dire sa vision du monde.“ [Herv. i. O.] (Essai, 85) 114 . Hier bringt er seine subjektive „Vision“ zwischen Bescheidenheit („que ma vision“) und selbstbewusster ,Objektivität‘ („sa vision du monde“) zum Ausdruck. 115 Doch wie bringt Segalen diese Position des Künstlers als „Exoten“ konkret zur Darstellung? Wie literarisiert er Gauguins „Going native“ als gelingende interkulturelle Vision? Ein close reading von Dernier décor gibt Aufschluss: Close reading Segalen schreibt in Dernier décor, dass ein einziges Bild den letzten Akt des Lebens von Gauguin versinnbildlichen und als „Vision“ seines gesamten Lebens und Schaffens erhellend wirken könne: Ce décor, il fut somptueux et funéraire, ainsi qu’il convenait à une telle agonie; il fut splendide et triste, paradoxal un peu, et entoura de tonalités justes le dernier acte lointain d’une vie vagabonde qui s’en commente. Mais par reflets, la personnalité forte de Gauguin illumine à son tour le cadre choisi, le séjour ultimement élu, le remplit, l’anime, le déborde; si bien qu’on peut comprendre dans une même vision d’œuvre scientifique: lui, premier rôle; ses comparses indigènes; le milieu décoratif. (DD, 287) [Herv. LF] Diese Umgebung war üppig und begräbnishaft, wie es zu einem solchen Sterben gehört; sie war glanzvoll und traurig zugleich, ein wenig widersprüchlich, und sie umgab diesen letzten Akt mit der angemessenen Stimmung, weit entfernt von einem unsteten Leben, auf das nun dieser letzte Akt sein erhellendes Licht wirft. Umgekehrt 126 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="127"?> 116 Die deutsche Übersetzung („in einem einzigen Bild“) ist wenig nuancenreich. Im Original verleiht Segalen mit „vision d’œuvre scientifique“ seiner Überzeugung über die Stichhaltigkeit seiner „Vision“ viel mehr Nachdruck. Mit dem Begriffsgebrauch schaltet er sich in den symbolistischen Kontext ein, in dem dieser eine grosse Rolle spielt. 117 Da der dokumentarische Charakter des Textes klar herausgestrichen wird (s.v.), wird im Folgenden nicht explizit zwischen Ich-Erzähler und Autor unterschieden - obwohl der Text die dokumentarische Ebene mehrfach bricht. 118 Vgl. bspwe. DD, 289: „Puis, deux silhouettes femelles nues, aux lignes grossières commes œuvre de préhistorique.“; vgl. DDdt, 41: „Dann zwei nackte weibliche Silhouetten mit groben Strichen wie ein prähistorisches Werk.“ beleuchtet auch die starke Persönlichkeit Gauguins den gewählten Rahmen, den zuletzt erwählten Ort, und füllt ihn, belebt ihn, überströmt ihn; so, dass sich in einem einzigen Bild zusammenfassen lässt: er in der Hauptrolle; die Eingeborenen als seine Komparsen; das dekorative Milieu. (DDdt, 379) [Herv. LF] Diese „Vision“ 116 Hiva Oa’s als Theaterkulisse, auf der Gauguin als (monströser) Meister und die Indigenen als Statisten erscheinen, nimmt den Raum des gesamten Textes ein. Theaterkulisse und Theatermetaphern prägen den Text auf allen Ebenen. Die theatrale Künstlichkeit wird gewissermassen zur „Vision“ des Textes erweitert. Mit dem Theater-Rahmen weist Segalen auf die Distanz zwi‐ schen den Kulturen und zeigt das (künstlerische) Bild der Südsee als Projektion; und vor allem demonstriert er damit die künstliche subjektive Perspektive, in die der Exotismus zwingt. Seine Vision von Exotismus ist zum Ausdruck gebracht, mit der er - indem er demonstrativ als Theatermaler und Bilderarrangeur agiert - die Perspektive Gauguins verspinnt. Die „Vision“ ist eine Annäherung an den Künstler als Person, eine Rekonstruktion von Gauguins künstlerischer Vision der Annäherung an die exotische Fremde und der Versuch der Aneignung dieser künstlerischen Vision. Segalen tritt als Ich-Erzähler als Dokumentarist in Erscheinung und be‐ schreibt seine Erfahrung auf Hiva Oa, seinen Eintritt in das charakteristische „letzte Dekor“ Gauguins. 117 Die Erkundungstour zur verlassenen Hütte des Künstlers erzählt er durchgehend im Modus seiner theatralen Vision, überträgt diese auf das weitere Setting und Personal. Konsequenterweise gelten die Theatermetaphern auch für die Kunstwerke Gauguins. Segalen inszeniert kurze und knappe Begegnungen mit einzelnen Werken 118 und widmet einer spezifi‐ schen Skulptur grössere Aufmerksamkeit. An dieser, einer kleinen Götterstatue („Atua“ = Gott), verdeutlicht er die Grundsätze der Kunst Gauguins: Et c’est bien une figuration de l’atua indéfini des jours passés; mais, issue des rêveries exégétiques de l’artiste, elle est étrangement composite. […] c’est un Bouddha qui serait né au pays maori. Gauguin se plut ainsi à revêtir de poses hiératiques diverses 127 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="128"?> 119 Vgl. DDdt, 39: „Und es ist sehr wohl eine Darstellung des unbestimmten atua der vergangenen Tage; doch, hervorgegangen aus den exegetischen Träumen des Künstlers, ist sie merkwürdig zusammengesetzt. […]es ist ein Buddha, wie er im Land der Maori geboren wäre. Gauguin gefiel sich dieser Art darin, die Helden der polynesischen Mythen mit verschiedenartigen hierarchischen Haltungen zu versehen. Er konnte sich dabei nur auf sein eigenes Wissen stützen, denn dieses Volk verschmähte es, seine Götter abzubilden.“ 120 Vgl. DDdt, 40: „Nur die Missionare waren so heidnisch, an den Anthropomorphismus der Eingeborenen zu glauben und ihnen abzuraten, die Götter aus Holz zu verehren.“ 121 An der Stelle ist wichtig zu wissen, dass Segalen die Authentizität der Szene bricht, indem er Kunstwerke beschreibt, die er zum Zeitpunkt des Besuchs der letzten Wohnstätte Gauguins dort gar nicht gesehen haben kann. Auch inszeniert er (sehr wahrscheinlich wider besseren Wissen) Gauguins Bild „Le village breton sous la neige“/ „Bretonisches Dorf im Winter“ (1888 od. 1895, nicht 1903) als symbolisches Bild der letzten Lebensjahre Gauguins. Damit verbildliche Segalen, so Victoria Schmidt-Lin‐ senhoff, den exotischen Schock des interkulturellen Zusammentreffens und die Orts‐ losigkeit des Exoten. Die Tatsache, dass das Bild in Europa entstanden ist, sei zu vernachlässigen. Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2010, 99; Zinfert 2003, 64ff. 122 Essai, 113 f.; vgl. Segalen 1920, XXI: „Vor ihm hatte sich kein auf Wahrheit Anspruch erhebendes Bild eines Maorimenschen, geschweige denn eines Maorigottes, in Europa sehen lassen“ [Herv. LF]. les héros des mythes polynésiens. Il pouvait, en cela, relever que de lui-même; car ces peuples dédaignèrent de figurer leurs dieux. (DD, 288) 119 Segalen betont mit dieser Statue das Zusammengesetzte, Nicht-Authentische der Gauguinschen Kunstwerke. Im Vorbeigehen erwähnt er dabei, dass die MarquesanerInnen Götterdarstellungen, wie sie Gauguin für sie geschaffen hat, nicht kennen. Er bemerkt lakonisch: „Les missionnaires seuls furent païens qui crurent à l’anthropomorphisme des indigènes, et les dissuadèrent d’adorer les ‚dieux de bois‘.“ (DD, 289). 120 Er deutet an, dass westliche Konzepte von Verkörperung und Authentizität dem Wesen indigener Kunst und Lebensart nicht gerecht werden, und dass Gauguin mit seiner „hieratischen“ Kunst diesem westlichen Diskurs explizit entsagt (wir erinnern uns an Segalens Zitat, dass Gauguin keine „unwahrscheinliche […] Kanakenseele“ darstellen wollte). Segalen beschreibt die Kunstwerke Gauguins als hochstilisierte Objekte, die ihre Zusammengesetztheit nicht verleugnen. 121 Er betont, dass es Visionen des Künstlers sind, und argumentiert in die Richtung, dass diese Visionen gerade qua ihrer monströsen Inter-, respektive Transkulturalität in ihrer Annäherung an die fremde Perspektive reüssieren. Er schreibt: „Avant lui, bien moins que des dieux, nulle image d’homme maori vraisemblable ne s’était montrée à l’Europe.“ 122 [Herv. LF], und benutzt einen Wahrheitsbegriff, der mit dem vorher rezipierten Objektivitäts-Begriff korrespondiert. Segalen arrangiert Gauguins 128 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="129"?> 123 Vgl. DDdt, 44. 124 Ebenda: „Und hier noch die Szeneanweisungen: ’In unserer Zeit, auf der Insel Hiva-Oa, im Distrikt von Atuana.‘“ 125 DD, 290 f. Vgl. Anfang dieses Kapitels. 126 Vgl. DD, 291. Segalen apostrophiert sowohl den Begriff des Wilden als auch des Zivilisierten (s. u.). 127 DD, 290: „Gauguin coryphée entonnait une complainte et révriminait, et les choristes dociles achevaient l’antistrophe.“; DDdt, 43: „Gauguin als Vorsänger stimmte ein Klagelied an und erhob die Gegenklage, und die gelehrigen Christen vollendeten den Gegengesang.“ Bezeichnenderweise beschreibt er nach dem Bild der „gelehrigen Christen“ im Folgenden individuelle Formen indigener Haltungen gegenüber Gauguin. Kunst als Paradox von Natürlichkeit und Nähe, die aus einer distanzierten Haltung erwächst. Auch auf der Ebene der erzählten Zeit wird der Text der theatralen Vision gerecht. Dernier décor ist doppelbödig konstruiert: Einerseits berichtet der Text vom Hier und Jetzt: Segalen datiert und verortet das Geschehen mit einem Eintrag, der an die Gepflogenheiten eines Reisejournals oder Tagebuchs erinnert - „(Îles Marquises - Tahiti, janvier 1904)“ (DD, 291) 123 , außerdem notiert er mitten im Text - „Et voici, enfin, la mise en scène: ’De nos jours, en l’île d’Hiva-Oa, au district d’Atuana‘“ (DD, 291). 124 Andererseits kreuzt er seine Do‐ kumentation mit einer zeitlich und auch örtlich höchst artifiziellen, ergänzenden Handlungsebene. An dieser Doppelkonstruktion ist bemerkenswert, dass der Bruch gerade mit dieser nochmaligen „mise en scène“ gekennzeichnet ist; und im weiteren, dass diese „Szeneanweisung“ auf die Stelle folgt, wo Segalen Gauguin attestiert, ein Tiermaler gewesen zu sein, der in der Umformung der Formen Objektivität erreichte. 125 Nach der Szenenanweisung folgt ein Zeit-, Stil- und Stimmenwechsel. Der Text mündet in eine kolonialkritische Klage des Untergangs der „‚Wilden‘“ (DDdt, 45) 126 [Herv. LF], in ein „Klagelied“ („complainte“) 127 , das Segalen gleichsam von Gauguin übernimmt und in eine Vision einer gespenstischen Apokalypse überführt. Es wird geschildert, wie in der nahen Zukunft die Natur von der Insel Besitz nimmt, nachdem auch die letzten Indigenen durch kolonialisationsbedingte Krankheiten, Alkohol und Drogen zu Grunde gegangen sind. Es wird erklärt: Car ils agonisent, ils meurent, les pâles Marquisiens élancées. Sans plaintes ni récris, ils s’acheminent vers l’épuisement prochain. Et là encore, à quoi serviraient de pompeux diagnostics? L’opium les a émaciés, les terribles jus fermentés les ont corrodés d’ivresses neuves; la phtisie creuse leurs poitrines, la syphilis les tare d’infécondité. 129 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="130"?> 128 DDdt, 45: „Denn die Menschen kämpfen mit dem Tod, sie sterben, die blassen, hoch aufgeschossenen Bewohner der Marquesas-Inseln. Ohne Bedauern, ohne Klage oder Einspruch gehen sie dem bevorstehenden Erlöschen entgegen. Und auch hierin, was sollten da hochtrabende Diagnosen? Das Opium hat sie ausgezehrt, die fürchterlichen gegorenen Säfte haben sie mit neuen Trunkenheiten zerfressen, die Schwindsucht höhlt ihre Brust aus, Syphilis schlägt sie mit Unfruchtbarkeit. Aber was ist das alles außer einzelnen Abarten jener anderen Plage: des Kontakts mit den ‚Zivilisierten‘“ [Herv. LF]. 129 Vgl. DDdt, 44f.: „Hier lebt das Meer und schlägt zu und nagt. […] Alles lebt, alles tritt hervor in dem lauen Duft der von Trockenheit kaum beeinträchtigten Sommer; alles ausser der Rasse der Menschen.“ 130 Vgl. DDdt, 46: „Der treue Tioka, sein eingeborener Freund, umkränzte ihn mit duftenden Blumen, bestrich ihn dem Brauch gemäss mit öligem Monoi und erklärte dann traurig: ‚Jetzt gibt es keine Menschen mehr‘“ [Herv. LF]. Mais qu’est-ce que tout cela sinon les modes diverses de cet autre fléau: le contact des ‚civilisés‘. (DD, 291) 128 [Herv. LF] Bewusst scheint hier der Text zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu changieren. Die Natur herrscht über die menschliche Zeit: „Ici la mer vit, et bat, et ronge […]. Tout vit, tout surgit, dans la tiédeur parfumée des étés à peine nuancés de sécheresse, tout: hormis la race des hommes. […]“ (DD, 291). 129 Gauguins Tod ist Teil, respektive Ausgangspunkt dieses apokalyptischen Endes. Mit dieser Darstellung wird die Stichhaltigkeit der kolonialkritischen Anklage Gauguins deutlich gemacht, für welche der Künstler, wie im Text dargelegt wird, die Indigenen zu mobilisieren vermochte. Und insbesondere unterstreicht diese Inszenierung Gauguins Verbundenheit mit den Indigenen. Schliesslich endet der Text damit, dass Gauguins tahitianischer Freund Tioka zu Wort kommt. Die Schlussworte sind gewissermassen der letzte Beweis der Wahrheit oder „Objektivität“ der künstlerischen Vision Gauguins, beziehungsweise der interkulturellen Kraft seiner Kunst. Der Indigene erklärt in direkter Rede, dass mit Gauguin der letzte Mensch gestorben sei: „Le fidèle Tioka, son ami indigène, le couronna de fleurs odorantes, l’enduisit, selon l’usage, du monoi onctueux, puis déclara tristement: ‚Maintenant, il n’y a plus d’hommes‘.“ (DD, 291) [Herv. LF]. 130 Diese Worte sind eine Krönung. Gauguin gelingt mit/ in diesen Worten Tiokas eine (fantastisch-apokalyptische) Assimilation an die Indigenen, mehr noch, eine Verkörperung einer universellen Menschheit. Segalen, der als Theoretiker die Möglichkeit eines „Going native“ verneint, zeigt Gauguin als zu einem „Going native“ fähig. Für Segalens Begriff des Exoten und seiner Einschätzung der Möglichkeiten des interkulturellen Kontakts dieses Exoten ist signifikant, wie in Dernier décor Vision und Klage aussagekräftig kombiniert sind. Dem prägenden Bild des ersten Teils des Textes - der künstlichen Vision eines Bühnenarrangements 130 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="131"?> 131 Essai, 81; vgl. EDt, 108, 106ff. 132 Ebenda: „Die heilen oder virtuellen Exotismen: die Frau, die Musik und ganz allgemein jegliches Gefühl für Kunst.“ mit hierarchischer Ordnung - wird im zweiten Teil ein ebenso prägendes und visionäres Bild der Klage und Apokalypse entgegengesetzt. Der theatrale Modus wird mit dem zweiten Teil weitergeführt und sichtlich gesteigert, die Klage und apokalyptische Szenerie bringt die Vision des ersten Teils jedoch kräftig durcheinander. Der Theaterrahmen zerfällt kontinuierlich - die Natur ist nicht mehr dekorativ, der Indigene kein Statist. Die klagenden Worte Tiokas bilden ein zweites Konzentrat des Textes, quasi eine Gegenvision, welche auf die Seite der Indigenen weist, auf die unerreichbare fremde Perspektive, welche der Künstler als Exot, respektive der Theoretiker Segalen im Blick hat. Nach der distanzierten Aussenperspektive, nach dem Blick von der Zuschauertribüne auf die Indigenen als Statisten und den Künstler als Monster, folgt ein (erklärender und öffnender) Blickwechsel. Der Blickwechsel im Modus der Apokalypse demonstriert das Dilemma des Exotismus, die Unmöglichkeit des „Going native“: Die Stimme des/ der Anderen und des Exoten Gauguin erklingt im Sterben. Und ein weiteres Dilemma, das das utopisch-apokalyptische Zusammentreffen von „‚Zivilisierten‘“ und „‚Wilden‘“ in Dernier décor anspricht: der apokalyptische Tod - respektive die Anerkennung Gauguins, das heisst das realisierte „Going native“ - ebnet das Diverse ein. In der apokalyptischen Menschwerdung des Künstlers wird die Klage über die Konsequenzen des europäischen Imperialismus geschickt mit der Frage nach dem Verlust des Diversen durch das (künstlerische) „Going native“ verknüpft. Der Text induziert gleichsam die komplexen Fragestellungen, welche für Segalens späteren Essai zentral sein werden. Wie bereits umrissen, propagiert Segalen im Essai eine Strategie künstle‐ rischer Distanznahme, um dem Verlust des „Diversen“ entgegenzuwirken. Seine Massnahme gegen den Verlust lautet Künstlichkeit: Segalen schreibt, man müsse sich den „heilen oder virtuellen Exotismen“ annehmen und müsse diese verherrlichen. 131 Aufschlussreich ist, was er unter diesen „heilen und virtuellen Exotismen“ versteht: „Les exotismes intacts ou en puissance: Femme, Musique et en général tout sentiment d’art“ 132 . Im Mittelpunkt seines Exotismus stehen die Frau und die Kunst. Grossangelegte Experimente der Umsetzung der bewussten künstlerischen Verherrlichung und Exotisierung sind Segalens Romane Les Immémoriaux (1907) oder René Leys (1913/ 14; 1922). Die explizit künstlichen Stimmen des/ der Anderen, die er dort erschafft, ma‐ 131 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="132"?> 133 Dass Segalens spezifische Strategie des Bewahrens durch Über-Ästhetisierung zwei‐ schneidig ist, zeigt die Fortsetzung des obigen Zitats aus dem Essai deutlich: „Die Frau (absolute Verurteilung des Feminismus, der eine abscheuliche soziale Umkehrung darstellt). Die wundervollen Tiefen der unbekannten Vergangenheit verherrlichen. [… ]“ [Herv. LF], vgl. EDt, 108. 134 Vgl. Victoria Schmidt-Linsenhoffs Konzept des „Kunstort des Primitivismus“ für Segalen und Gauguin. Vgl. Kap. 1.1.4. 135 Vgl. Kap. 2.2.3. 136 Vgl. Schmidt-Linsenhoff 2010, 92f. chen den Bruch zum traditionellen Exotismusbegriff evident. 133 Interessant ist zu sehen, wie Segalen jedoch bereits in Dernier décor mit einer demons‐ trativen Über-Ästhetisierung in diese Richtung arbeitet. Der Text kann als frühestes Experiment der Umsetzung seines alternativen Begriffs von Exo‐ tismus beschrieben werden. Er reflektiert die ästhetischen Möglichkeiten, die Stimme des/ der Anderen vor dem Untergang zu bewahren und erprobt eine Alternative zum verharmlosenden, dekorativen und gewalttätigen Zugang des Exotismus. Dernier décor zeigt die Segalensche interkulturelle Ästhetik als Utopie der Kunst - das heisst den Primitivismus als „Kunstort“. 134 Im Modus der Kunst, so lässt sich der Text über den monströsen Künstler lesen, ist ein „Going native“ möglich und die Stimme der Indigenen erfahrbar. Jedenfalls demonstriert Segalen, wie die Annäherung an die fremde Perspektive (und die Annäherung an diejenige des Künstlers als Bezugspunkt zur Reflexion des eigenen exotistischen Standpunkts) mittels konsequenter Ästhetisierung, einer „,Umformung‘ der Formen“, 135 möglich ist: in einem paradoxen Balan‐ ceakt zwischen Annäherung und Distanz. Es ist wichtig zu sehen, dass Segalen bei der Generierung der Stimme des Indigenen gemäss Schmidt-Linsenhoff nicht „verhehlt […], dass er selbst es ist, der Tioka das Wort in den Mund legt, so wie die umgedrehte Ethnologie der Aufklärung seit Montesquieus Perserbriefen indigene Protagonisten als Sprachrohr der Zivilisationskritik benutzt […]“. Schmidt-Linsenhoff redet von der Stimme des Indigenen als literarisch konstruierter „Diskursfigur eines indigenen Publikums“, einer im Kontext der Jahrhundertwende „bemerkens‐ werte[n] Ausnahme“, welche „[…] den Spielraum einer postkolonialen Kritik aus der Perspektive der Kolonialisierten“ eröffne. 136 2.2.4 Exotismuskritik und Utopie der Kunst Segalen erpobt seine interkulturelle Theorie in der literarischen Praxis. Dass die ästhetische Praxis dabei über die Theorie hinausweist, ist in der „Ästhetik des Diversen“ angelegt. In letzter Konsequenz, so gibt Segalen im Essai zu bedenken, 132 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="133"?> 137 Essai, 57. Mit solchen und ähnlichen Stellungnahmen, bekennt er, dass seine Theorie viele Fragen in Bezug auf die konkrete koloniale und soziale Dimension des Exotismus unbeantwortet lässt und bestätigt die ästhetische und ‚universale‘ Ausrichtung seiner Theorie. 138 Cordonier 1995, 232. 139 S. Titel des Aufsatzes von Cordonier: Par-delà l’Exotisme. In: Actes du Colloques de Brest 1995, 227-234. 140 Vgl. Maria Zinferts Titelgebung Über eine Poetik der Inversion. Die Romane von Victor Segalen (2003). übersteigen die ästhetischen Maßstäbe, welche er an den Exotismus heranführt, die Exotismusfrage: „Le principe esthétique est plus général que le principe de l’esthétique du Divers.“ 137 Mit dem kunstvoll gestalteten ethnographischen Roman Les Immémoriaux und später den Schriften des chinesischen Werkkreises realisiert Segalen eine (auf ausführlicher ethnographischer Arbeit basierende) interkulturelle, respektive transkulturell zu bezeichnende Ästhetik. Es sind selbstreflexive Kunstwelten, für die der „Kunstort“ zwischen Vision und Klage in Dernier décor wegweisend gewesen sein dürfte. Noël Cordonier charakterisiert Segalens literarische Praxis als konsequente Ablösung von einem romantischen und symbolistischen Kunst- und Künstlerverständnis, von dem seine Theorie noch zehren würde: „Par conséquent, il faut admettre que la théorie de Segalen retarde sur sa pratique puisqu’elle donne encore dans la conception romantique et symboliste de l’artist-voyant quand sa pratique postule un art sui generis“ 138 [Herv. LF]. Für die Konzeption seiner einzigartigen Praxis ist, wie man in Dernier décor besonders gut sieht, die Auseinandersetzung mit dem Künstler als Seher jedoch zentral. Hier kann man gleichsam die Genese seiner Ästhetik und seiner Grundüberlegungen zur exotistischen Künstler- und Autorschaft verfolgen. Die Figur des Künstlers ist in Dernier décor romantisch verklärt, zugleich persifliert Segalen mit dem monströsen Künstler den romantisch-exotistischen Zugriff. Mittels monströser Über-Ästhetisierung oder „Umformung“ greift er über die romantisch-symbolistischen Visionen hinaus. Seine Poetik eines „Par-delà l’E‐ xotisme“ (Cordonier) 139 verbindet programmatisch Gegensätze. Im Literarischen verharrt Segalen nicht bei Zuspitzungen wie in der Theorie (siehe beispielsweise seine Aussagen zum Feminismus), er vermittelt zwischen Fiktion und Doku‐ mentation, zwischen Subjektivität und Dialog, Hermetik und Offenheit. Maria Zinfert nennt die Poetik, die ständig die Gegenseite im Blick hat und Kritik und Neudefinition verbindet, eine „Poetik der Inversion“ 140 . Sie glaubt, dass Segalen mit dem transkulturellen ästhetischen Begriff des Diversen Segalen eine „Erlösung im Ästhetischen“ anvisiere. Sie fragt vorsichtig: 133 2.2 Paul Gauguin in Victor Segalens interkultureller Ästhetik <?page no="134"?> 141 Zinfert 2003, 207. 142 Essai, 85; EDt, 113. Vgl. 103. 143 Cordonier 1995, 230. 144 Ebd., 233. „Der Exotismus ist ein Mittel dazu, ein anderes Verhältnis mit der Sprache zu schaffen, um den Leser von seiner symbolischen Unzulänglichkeit zu kurieren und um ihn an einer Kommunikation teilnehmen zu lassen, welche die Vorteile einer vergangenen Religion birgt und wiederaufleben lässt“ [Übersetzung LF]. Ist es die Figur einer Erlösung im Ästhetischen, die Segalen als Autor, als Erneuerer des Exotismus, als Archäologe, als Ethnologe und als sexuelles Wesen sucht: Der Wechsel vom Subjekt zum Objekt, in dem Segalen in einer vollkommenen „présence à l’autre“ selbst zum Abwesenden wird? 141 Um die Entwicklung seines „Kunstorts“ oder künstlerischen „Going native“ mit dem Ziel einer „présence à l’autre“ zu beschreiben, zieht Zinfert die bereits zitierten Schlusszeilen des Essai heran: „Ceci, universel, n’est que ma vision à moi : artiste : voir le monde, et puis dire sa vision du monde“ 142 [Herv. i. O.]. Die bisherige Interpretation dieser Zeilen fokussierte auf die Beobachtung, dass die künstlerische Vision der Welt zuerst aus einer bescheidenen subjektiven Perspektive („que ma vision“) und dann einer selbstbewussten Perspektive („sa vision du monde“) geäussert wird. Maria Zinfert macht auf die Interpunktion im Satz aufmerksam (“: artiste : “). Diese konstruierte Stelle liest sie als kompakte Verdichtung der dialogischen, transsubjektiven Poetik Segalens. Die doppelte Setzung des Kolons markiere die Verengung des Künstlerbegriffs im Subjektiven und bedeute zugleich dessen programmatische Öffnung. Cordonier redet von einer „diaologischen Poetik“ 143 und unterstreicht, dass für Segalens Künstler- und Kunstbegriff die Ausrichtung auf ein vis-à-vis konstitutiv ist. Cordoniers Bezeichnung ist sinnvoll. Sie ist derjenigen der „interkulturellen Poetik“ vorzuziehen, denn wie wir gesehen haben, transfor‐ miert der universelle ästhetische Ansatz Segalens die konkrete interkulturelle Begegnung und zielt auf alle Formen des Diversen. Nicht zuletzt auch, so buchstabiert Cordonier zurück, steht im „Exotismus zweiten Grades“ der Dialog mit dem/ der Leser/ in im Zentrum. Segalens Exotismus beschreibt er als Mittel zur revolutionären Veränderung der Sprache und des poetischen Dialogs: „[…] l’exotisme est un moyen de créer un rapport autre avec la langue, afin de guérir le lecteur de son anémie symbolique, et pour le fair participer à une communication qui confisque et retraite les prérogatives de la religion d’autrefois.“ 144 - Ähnliches wird für die expressionistischen Querdenker des Primitivismus zu beobachten sein. 134 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="135"?> 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) Abb. 16: Ludwig Meidner: Porträt Carl Einstein (1913) 135 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="136"?> 145 Einstein, Carl. Materialien. Band 1. Zwischen Bebuquin und Negerplastik (1990). Baacke, Rolf-Peter (Hrsg.). Berlin: Silver und Goldstein, 138 ff. Im Folgenden unter der der Sigle EMat. 146 Das Königliche Museum für Zentralafrika in Tervuren ausserhalb Brüssels wurde 1897 von König Leopold II. für die Weltausstellung erbaut. Einstein hält sich von Anfang 1916 bis Ende 1917 in Brüssel auf. Sein Aufgabengebiet im Museum ist nach wie vor unklar, steht jedoch zweifelsfrei, so beschreibt es Wolfgang Struck, im Zusammenhang mit dem großen imperialen Traum eines deutschen „Tropisch-Afrika“. Struck hält fest: „Was von Brüssel aus vorbereitet werden sollte, war die Übernahme des belgischen Kolonialbesitzes - ein entscheidender Baustein des ‚zusammenhörenden mittelafrikanischen Kolonialreiches‘, das 1914 Reichskanzler Bethmann Hollweg als ein zentrales Kriegsziel vorgezeichnet hatte“, vgl. Struck, Wolfgang (2010). Brüssel 1916. Ein Museum des Imperialismus. In: Ders. 2010, 165-190. Hier 165 f.; Kiefer 1994, 187 ff. Roland, Hubert (1999). Die deutsche literarische „Kriegskolonie“ in Belgien, 1914-1918. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-belgischen Literaturbeziehungen 1900-1920. Bern: Peter Lang, 67. 2.3.1 Auftakt: „Negrieren“ in Brüssel 1916/ 1917 „Ich negriere hier gänzlich, ein afrikanischer Excess.“ Carl Einstein an Franz Blei, Anfang 1916 Diese Worte, die mit grosser Wahrscheinlichkeit bewusst an Gauguin oder Rimbaud anknüpfen, richtet Carl Einstein 1916 aus der Etappe bei Brüssel an seinen Freund Franz Blei. 145 Als Unteroffizier der deutschen Besatzung, genauer der Zivilverwaltung des Generalgouvernements Brüssel, ist Einstein in bis heute ungeklärtem informationsdienstlichen Auftrag der Abteilung Kolonien zugeteilt und im Königlichen Museum für Zentralafrika tätig. 146 Die bibliothe‐ karische und archivarische Arbeit mit den Schätzen des Museums ermöglicht ihm den „afrikanischen Excess“. Wie ein zweiter Blick auf Einsteins Brief an Blei zeigt, ist der „afrikanische Excess“ zudem eng an die Kriegsgegenwart und die Stadterfahrung in Brüssel gekoppelt: Lieber Fr_Blei - zunächst schöne Grüsse. ich negriere hier gänzlich. ein afrikanischer Excess. Diese Bemühung entfernt mich mir - das nicht negride excedierte dann in Bars, im Bois und wo diese verfluchte Wärme hingeriet und mich traf [,] man musste zunächst die Plakate der Stadt benutzen; denn in jedem steckt noch commis voyageur 136 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="137"?> 147 Schreibweisen im Original, Kommasetzung durch Herausgeber. Anlass des Schreibens ist Folgender: Einstein erhoffte sich von Franz Blei, der ab 1914 als Zivilist im Kriegsbe‐ schaffungsamt postiert war, Vermittlungshilfe für eine Verbesserung seiner finanziellen Lage in Brüssel. Er plante über den Staatsekretär des Auswärtigen Amts [Wilhelm Solf, ehemals Gouverneur von Samoa (1900-1911)] bei seinem Vorgesetzten Geheimrat Brückner [Kolonialbeamter seit 1902, stv. Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika (1910/ 11)] zu intervenieren. 148 Aus heutiger Sicht ist Einsteins Verwendung des N-Wortes höchst problematisch. Die Künstlerinnen und Intellektuellen benutzten damals die rassistischen Begriffskomplexe und Stereotypisierung mit einer erschreckenden Arglosigkeit. 149 Rolf-Peter Baacke bemerkt zum Porträt des Kolonialministers: „In gewisser Weise nimmt dieser Entwurf hellsichtig Carl Einsteins Rolle zum Ende des Krieges in Brüssel vorweg.“ (Er spielt damit auf Einsteins prägende Rolle im Soldatenrat an). Ausserdem gemahnt Baacke die „Posse“ zu Recht an Carl Sternheims Komödien. Vgl. ebd., 141. 150 Einstein, Carl (1915). Negerplastik. Leipzig: Verlag der Weissen Bücher. Neuauflage 1920 im Verlag Kurt Wolff. Zum Verlagswechsel s. Baacke, Rolf-Peter (1990). Carl Einstein - Kunstagent. Eine biographische Spekulation. In: EMat, 9-26. Hier 13f. eine neue Stadt und man atavisiert. Jede Strassenecke behauptet - man habe sie vorher noch nie gesehen, jeder Wisky. 147 Nach diesen Eingangszeilen nehmen Einsteins Reflexionen über den Excess und den „Atavismus“ weiter Fahrt an. Er stellt das „Negrieren“ 148 in Zusammenhang mit seiner Tätigkeit und mit der „Primitivität“ des ihm vorgesetzten Kolonial‐ beamten, aus der er schliesslich literarische Inspiration schöpft: […] Neulich ass ich mit der Regierung Belgiens zusammen Der Litterat ist doch Mischung von letztem Proletarier und Despot [-] Hätten sie mich unter Exzellenzen gesehen - mit mein verfleckten Hemd, unrasiert, mein gefährlich dünnen Hosen‐ boden. Und nun sitze ich am Schreibtisch des seligen belgischen Kolonialministers. Lassen Sie so einen armen Teufel regieren und Sie haben eine nicht schlechte Komödie. Aber vollendete Manieren müsste das Subjekt haben. Er ist allem gewachsen - seiner Primitivität, seiner dressierten Respektlosigkeit hält keine Maquillage stand - er verwirrt. Er verliert alles mit einem Litteratenstreich. Titel. Die Macht. […] Ich glaube - hieraus wäre eine Komödie zu machen - es fiel mir während des Schreibens ein. (EMat, 138) 149 Es ist überliefert, dass Einstein seinen aussergewöhnlichen informationsdienst‐ lichen Kriegseinsatz seiner 1915 erschienenen und in den Jahren vor dem Krieg 1913/ 14 fertiggestellten Schrift Negerplastik 150 zu verdanken hatte. Mit dem bahnbrechenden, sowohl auf die afrikanische Kunst wie die neueste Ge‐ genwartskunst gerichteten Werk, empfahl sich Einstein nicht nur, und dies zum 137 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="138"?> 151 Zu Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912) dem Text, der Einstein den Ruf eines „deutschen Jarry“ einbrachte, vgl. Sorg, Reto (1998). Aus den „Gärten der Zeichen“. Zu Carl Einsteins „Bebuquin“. München: Wilhelm Fink Verlag. Haxthausen, Charles (2007). Eine fragmentierte Optik. „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“ (1912). In: Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Wellbery, David/ Ryan, Judith et al. (Hrsg.). Berlin, 851-857. Wiener, Oswald (1990). Beim Wiederlesen von Carl Einstein. In: EMat, 29-37. 152 Gottfried Benn charakterisiert im autobiographischen Text Doppelleben (1951) Einsteins damalige avantgardistische Position folgendermassen: „[…] der war weit an der Spitze“. Dahingehend porträtiert ihn beispielsweise Max Herrmann-Neisse 1916 in Die weissen Blätter: Er nennt ihn „[…] Organisator, Schrittmacher der Kommenden, eine Stirner-Natur mit Richtmass und Fernglas“. Diese Aussagen (vgl. EMat, 161 f.) müssen jedoch relativiert werden, denn es ist Tatsache, dass in den 1910er Jahren lautere avantgardistische Töne zu vernehmen waren (insbesondere vom Sturm-Kreis). Haarmann und Siebenhaar beschreiben Einstein als „[…] Protagonist[en] einer ganzen Generation von Revolteuren und Erneuerern“. Vgl. Werke. Berliner Ausgabe Bd. 1 (1907/ 1918). Haarmann, Hermann/ Siebenhaar, Klaus Siebenhaar (Hrsg.). Berlin: Fannei & Walz, 8 f. Im Folgenden wird für die 6-bändige Berliner Werkausgabe (1992/ 1996) die Sigle BA benutzt. 153 Zu den Umständen in Brüssel vgl. Struck 2010, 165 f. Einstein gewann gewisse Vorteile aus der privilegierten Stellung abseits der Front (u. a. Zugang zu Forschungsmaterial, Publikationsmöglichkeiten). Seine distanzierte und kritische Haltung ist jedoch zwei‐ fellos bezeugt. 154 Vgl. Kiefer 1994, 217 f. Das kunsthistorische Projekt (s. u.) lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Gegenüber Kurt Wolff spricht Einstein spezifischer von „Kunst der Kongovölker“. 155 Einstein publiziert 1916/ 1917 „Negermythen“, „Negerlieder“ und „Neger-Gebete“ in Die Aktion und Marsyas, s. BA, Bd. 1, 256 f., 270 f., 275-291. Er stützt sich dabei auf existierende Übertragungen (ethnologische und missionarische Quellen, grössten‐ teils aus dem Fundus der Bibliothek) und bearbeitet diese. Zur Übersetzungs- und Bearbeitungspraxis, d. h. der Verfremdungspraxis Einsteins, s. Simons, Oliver (2004). Schwarze Dichtung erobert Europa. In: Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturge‐ zweiten Mal nach Erscheinen seines „Anti-Romans“ Bebuquin 151 (1907/ 1912) der Avantgarde als Vordenker, 152 sondern offensichtlich auch der deutschen Verwaltung. 153 Einstein, der, wie er kolportiert, um 1907 - gleichzeitig wie die Pioniere unter den bildenden Künstlern der Avantgarde - für die afrikanische „primitive“ Kunst entbrannte, kann also nach der theoretischen Annäherung in der Negerplastik im Brüsseler Museum seine Auseinandersetzung gleichsam steigern und ein im Zusammenhang von Krieg und Kolonie entsprechend tragisch-bizarres „Going native“ erleben. Dieses „Going native“ ist, so sehen wir im Brief an Blei, äusserst ambivalent: es reicht von der Selbst- und Gesellschaftsdiagnose bis zum Komödienentwurf. Primär steht sein „Going native“ jedoch in dieser Zeitspanne im Zusammenhang mit seinem Projekt einer Kunstgeschichte Afrikas 154 sowie seinen Bemühungen um afrikanische Lyrik. 155 Diese Unternehmungen bleiben 138 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="139"?> schichte des Fremden in der Kolonialzeit. Scherpe, Klaus R./ Honold, Alexander (Hrsg.). Stuttgart/ Weimar: Metzler, 481-487. Hier 483 f. Pape, Marion (1993). Auf der Suche nach der dreidimensionalen Dichtung. Carl Einsteins „Afrikanische Legenden“. In: „Wahlverwandtschaften“. Tributes and Essays on Germanic and African Studies in Memory of Edith Ihekweazu. Feuser, Wilfried F./ Pape, Marion et al. (Hrsg.). Bayreuth: Boomerang Press, 125-144. Hier S. 136; 141ff. 156 Gegenüber Kurt Wolff begründet Einstein die Aufgabe seines Planes folgendermassen: „Die Kunst der Kongovölker schrieb ich nicht, da es mir peinlich wäre, aus der Okkupation Belgiens literarische oder pekuniäre Vorteile zu ziehen, zumal ich im Ausland noch einen anständigen Namen zu verlieren habe“, vgl. Kiefer 1994, 217. 157 Einsteins radikale experimentelle Kriegslyrik der Brüsseler Jahre, die als „kubistisch“ bezeichnet werden kann: Tötlicher Baum (Die Aktion 3/ 4, 1917); Der Leib des Armen (Die Aktion 13, 1917); Gedenken des André Derain (Die Aktion 20/ 21, 1917); Kränke (Die Aktion 27/ 28, 1917), s. Berning, Matthias (2015). Kubistische Lyrik? Carl Einsteins Gedichte in der Zeitschrift „Die Aktion“ 1916/ 17 im Kontext von Negerplastik, Negerliedern und kubistischer Kunsttheorie. In: Primitivismus intermedial, Colloquium Helveticum Nr. 44. Gess, Nicola/ Moser, Christian/ Winkler, Markus (Hrsg.). Bielefeld: Aisthesis, 115-130. In dieser Werkphase Einsteins finden sich auch hymnische, in Referenz an Hölderlin gestaltete Gedichte wie Heimkehr (Die Aktion, 9/ 10, 1917). Negergedichte, ku‐ bistische Lyrik und Hymnen beschreibt Matthias Berning als heterogene Ausprägungen desselben romantisch-utopischen Ideals. 158 Vgl. Kap. 3.1.; Kap. 3.3.1. Für Schlüsseltexte bei Benn, s. Berning 2015, Struck 2010. Weitere Literarisierungen Einsteins bei Franz Blei, Friedrich Eisenlohr und Hugo Ball [Bestiarum Literaricum (1920); Das gläserne Netz (1927), Die Flucht aus der Zeit (1931)], Dokumentarisches bei Walter Mehring, Emil Szittya, Hermann Kasack, John Höxter, Clément Pansaers, Ilja Ehrenburg, Wilhelm Klemm und Marie von Bunsen, s. EMat, 85-133. 159 Die Negerplastik umfasste 119 Reproduktionen, deren Qualität für damalige Verhält‐ nisse herausragend war. Einstein arbeitete mit der imposanten Skulpturen- und im Brief beide unerwähnt, es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Blei von den Projekten wusste und diese im „afrikanischen Excess“ implizierte. Das Vorhaben einer zweibändigen Kunstgeschichte Afrikas, für die er bereits von Kurt Wolff bevorschusst war, wird Einstein aus politisch-moralischen Gründen begraben. 156 Unmittelbarste Zeugnisse seines „Negrierens“ in Brüssel werden schliesslich die 1916/ 1917 veröffentlichten Negermythen und Negerlieder sowie die kubistische Kriegslyrik 157 sein, welche Einstein in demselben Zeitraum zur Publikation bringt. Einsteins mehrdimensionales „Going native“ in Brüssel steht nicht im Zen‐ trum der folgenden Ausführungen. Die Untersuchung fokussiert nicht auf dieses „Negrieren“, das bekanntlich Eingang in die Texte Sternheims und Benns gefunden hat, 158 sondern mit der Negerplastik auf die kunsttheoretische und -kritische Grundlage der schillernden „Verwilderung“. Analysiert wird der Textteil der Negerplastik, die Einleitung, welche Einstein den hochprofessionell reproduzierten Fotografien afrikanischer Plastiken vorstellte. 159 Am Text inter‐ 139 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="140"?> Bildersammlung seines Freundes, des Kunsthändlers Joseph Brummer. Vgl. EMat, 9 f.; 78; Kiefer 1994, 157 ff. Zum Verhältnis von Bild und Text (119 Abbildungen/ 20 Seiten): Ein ähnliches Verhältnis zeichnet auch Einsteins Kunst des 20. Jahrhunderts (1926/ 1928/ 1931) aus: hier stehen 600 Reproduktionen etwas mehr als 200 Seiten Text gegenüber. Vgl. Stavrinaki, Maria (2011). Le Blaue Reiter selon Carl Einstein: Lecture comparée (1926-1931). In: Gradhiva, Revue d’anthropologie et d’histoire des art Nr. 14. Carl Einstein et les primitives. Paris: Musée du quai Branly, 199-203. Hier 200. 160 In den 1910er-Jahren war er primär als Kunstkritiker und Autor diverser Kunst- und Kulturzeitschriften präsent (Herausgeber der Neuen Blätter, Mitarbeiter der Zeitschriften Die Aktion, Pan, Weissen Blätter, etc). Allgemein agiert er als „attraktive[r] ‚Mittelsmann‘ für Künstler, Sammler und den Kunsthandel“, vgl. Baacke 1990, 13. 161 Für die richtungsweisende Ausstellung im Dezember 1913 war Einstein gemäss Heike M. Neumeister als Ausstellungsorganisator tätig. 53 mehrheitlich kubistische zeitgenössische Bildwerke und 30 Zeichnungen von Picasso wurden bei Feldmann gemeinsam mit 19 afrikanischen Skulpturen gezeigt. Neumeister glaubt, dass Einstein die Ausstellung in Kollaboration mit Joseph Brummer konzipierte, der 1913 in der Stadt weilte. Jedenfalls ist die Mitarbeit Einsteins durch Ausstellungkatalogtexte bezeugt (s. u.). Mit Brummer, dem Freund seit den frühesten Aufenthalten in Paris (ab 1905) wird Einstein später die Negerplastik realisieren. Vgl. Neumeister, Heike M. (2008). Notes on the „ethnographic turn“ of the European Avant-Garde: Reading Carl Einstein’s „Negerplastik“ (1915) and Vladimir Markov’s „Iskusstvo Negrov“ (1919). In: Acta Historiae Artium 49, 172-185. 162 Einstein, Carl (1913). [ohne Titel]. In: Neue Galerie. Erste Ausstellung. Ausstellungskat., Berlin, o. S. [Dez.]; Frühjahr 1914: Einstein, Carl [ohne Jahr]. [ohne Titel]. In: Neue Secession. Sechste Ausstellung. Ausstellungskat. Neue Galerie, Berlin, o. S. Vgl. Manheim, Ron (1985). Carl Einstein zwischen Berliner-Sezession und Sturm-Galerie. Zu Einsteins Texten für zwei Ausstellungskataloge der Berliner Neuen Galerie aus den Jahren 1913 und 1914. In: Kritische Berichte. Bredekamp, Horst (Hrsg.). Jg. 13 Heft 4, 10-19. essiert allerdings besonders, wie Einstein darin die Fragen des „Negrierens“ oder des „Going native“ des europäischen Künstlers abhandelt. 2.3.2 Entstehungszusammenhang und Wirkung der Negerplastik Carl Einstein tritt als Literat, Kunstkritiker und Herausgeber, als Kunstagent, -sammler und -händler auf. 160 Gut vernetzt und auf allen Seiten des Kunstbetriebs tätig, bestimmt er bereits vor der Publikation der Negerplastik den Kunstbetrieb der frühen 1910er Jahre mit und trägt als Mitorganisator und Rezensent erster „inter‐ kultureller“ Ausstellungen zur Etablierung des primitivistischen Diskurses bei. Im Winter 1913/ 1914 ist er an zwei Ausstellungen in der Neuen Galerie Otto Feldmanns in Berlin beteiligt, wo erstmals afrikanische Stammeskunst neben französischer Gegenwartskunst gezeigt werden. 161 Im Zusammenhang mit diesen Ausstellungen ist weder eine explizite interkulturelle Reflexion noch eine tiefere Auseinanderset‐ zung mit der afrikanischen Kunst auszumachen. In seinem Katalogtext zur ersten Ausstellung in der Neuen Galerie fokussiert Einstein klar Picasso. 162 Wenige Monate 140 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="141"?> 163 Einstein, Carl (1914). Totalität. In: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst Jg. 4, Nr. 16, 345-347. 164 Haxthausen skizziert drei Katalysatoren bzw. richtungsweisende Etappen der Auseinan‐ dersetzung mit der „primitiven“ Kunst: die Ausstellung in der Neuen Galerie Ende 1913, Einsteins Essay Totalität in Die Aktion (1914) und die Negerplastik (1915), s. Haxthausen, Charles W. (2011). Art, agentivité et collectivité. In: Gradhiva. Revue d’anthropologie et d’histoire des arts 14: Carl Einstein et les primitives. Paris: Musée du quai Branly, 79-99. Hier 80. 165 Kiefer 1994, 134. 166 Ebd., 148. Kiefer gesteht Einstein diese Position zu, betont auf der anderen Seite als Verfechter der Dilettantismus-These (s. u.) jedoch den „Bluff“ hinter der Negerplastik als Theorie des Primitivismus. Er weist auf den konventionellen exotistischen Geschmack Einsteins in den frühen 1910er Jahre hin und betont die exotistische Dimension der Negerplastik (148ff.). Vgl. Dagen 2010, 178f. später ändert sich dies mit seinem Aufsatz Totalität, der im April 1914 in der Aktion erscheint. 163 Mit diesem Aufsatz und der Negerplastik, die er bald danach fertigstellt, unterstreicht Einstein seine Bemühungen um die afrikanische Kunst und treibt sie - mit nachhaltiger Wirkung - weiter. 164 Klaus H. Kiefer schreibt: „Einstein hat in einem Akt interkultureller Kommunikation bis dato ohnegleichen der Beschäftigung mit primitiver Kunst zur diskursiven Positivität verholfen“ [Herv. LF]. 165 Diesen „Akt interkultureller Kommunikation“ aus dem Einstein als der „theoretische[r] Begründer des modernen Primitivismus“ 166 hervorgeht, gilt es genauer anzuschauen. Abb. 17: Einstein, Carl (1915). Negerplastik. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher, 62f. 141 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="142"?> 167 Zeitgleich mit Einstein erarbeitet der russische Kunsttheoretiker Vladimir Markov (Vla‐ dimir Ivanovich Matvei, 1877-1914) eine Publikation über afrikanische Kunst (Iskusstvo Negrov, 1919, posthum nach dem Krieg erschienen). Erste Ausstellungen afrikanischer Stammeskunst sind in Europa um 1913/ 14 zu sehen, erste interkulturelle Settings: DE 1913, FR 1916, N.Y. 1915. Vgl. Küster, Bärbel (1999). Barbarei und Kunstkritik. Zur Rezeption der „art nègre“ in der französischen Kunstkritik 1900-1920. In: „Prenez garde à la peinture! “. Kunstkritik in Frankreich 1900-1945. Fleckner, Uwe/ Gaehtgens, Thomas (Hrsg.). Berlin: Akademie Verlag, 361-378. Hier 370. 168 Baacke, Rolf-Peter (1992). Rezeptionsgeschichtliche Anmerkungen zur „Negerplastik“. In: NP, 153. 169 Löhndorf, Marion. Der Essay wird zur Negerplastik. Und Gott zum ästhetischen Programm. Carl Einsteins berühmter Aufsatz über primitive Kunst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 3. 1993. 170 Strother, Z. S. (2011). À la recherche de l’Afrique dans „Negerplastik“ de Carl Einstein. In: Gradhiva. Revue d’anthropologie et d’histoire des arts, 14. Paris: Musée du quai Branly, 30-55. Hier, 30. 171 Untersuchungen von Ezio Bassani, Jean Paudrat u. a. ergaben, dass nicht alle Objekte der Negerplastik afrikanischen Ursprungs waren. Dies erstaunt nicht, denn es herrschte Abb. 18: Einstein, Carl (1915). Negerplastik. Leipzig: Verlag der Weißen Bücher, 70f. Wie kein anderes Werk repräsentiert die Negerplastik das neue interkulturelle Display des Primitivismus der 1910er-Jahre. 167 Es ist „epochal“ 168 , ein „Meilen‐ stein in der europäischen Rezeption schwarzafrikanischer Kunst“ 169 und wird als „Gründungsakt einer afrikanischen Kunstgeschichtsschreibung“ bezeichnet. Letzteres schreibt Z. S. Strother und relativiert dabei folgendermassen: „La pub‐ lication de Negerplastik de Carl Einstein constitua, pour le meilleur ou pour le pire, l’acte fondateur de l’histoire de l’art africain.“ 170 Im Guten wie im Schlechten habe die Negerplastik die Kanonisierung afrikanischer Kunst begründet und beeinflusst. Damit deutet Strother an, dass die avantgardistischen Bemühungen um die Aufwertung der afrikanischen 171 Plastiken, welche zuvor als Ethnogra‐ 142 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="143"?> zu dem Zeitpunkt große Unkenntnis über die afrikanische Kunst und das zählebige Primitivismus-Verständnis des 19. Jahrhunderts liess diese Vielfalt zu. Bassanis Gesamt‐ urteil über Einsteins Konvolut ist dennoch positiv. Seine Schlussfolgerung aus dem Vergleich mit den Arbeiten der anderen Pioniere auf dem Gebiet (Markov, de Zayas und Guillaume): „[…] la „Negerplastik“ è la fonte iconografica la piu ricca e più importante disponibile al suo tempo“, s. Bassani, Ezio (1985). Le opere illustrate in „Negerplastik“. In: Critica d’arte africana 2/ 2, 33-43. Auf Einsteins Auswahl der Skulpturen und die visuelle Strategie der Negerplastik kann hier nicht näher eingegangen werden. 172 Wie die postkoloniale Forschung zu Recht betonte und betont, ist dieses Fundament grundsätzlich unwissenschaftlich und eurozentrisch. 173 Rezensionen von Ernst Bloch, Hermann Hesse, Wilhelm Hausenstein, Friedrich Markus Huebner, Hedwig Fechheimer, Oskar Bie, Rosa Schapire, Hans Purrmann, etc., s. EMat, 87-133. 174 Struck 2010, 174. 175 EMat, 110. 176 Badenberg, Nana (1999). Art nègre, Picasso, Einstein und der Primitivismus. In: Zeit‐ schrift für Germanistik Beiheft 2: Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Honold, Alexander/ Scherpe, Klaus R. (Hrsg.). Bern: Peter Lang, 219-247. Hier 246. 177 Brief an Tony Simon-Wolfskehl, undatiert (Anfang 1923), vgl. BA, Bd. 1, 8. 178 Zeidler, Sebastian (2004). Introduction to Negro Sculpture. In: October, Nr. 107 (Carl Einstein). Cambrigde MA: MIT Press, 122-138. Hier 122. phica wahrgenommenen wurden, zweischneidig sind. Einsteins Negerplastik steht sowohl für die wissenschaftliche Erforschung afrikanischer Kunst als auch für das dilettantische avantgardistische Fundament einer Kunstgeschichte Afrikas. 172 Das grosse Echo, das die Negerplastik auslöst, belegen zahlreiche Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften und anderweitige schriftliche Äusserungen von Künstlern und Autoren. 173 Es ist bekannt, dass viele bildende Künstler das Buch als „Bilderatlas“ 174 oder Bilderarchiv rege benutzt haben. 175 Die Negerplastik hat ihnen die höchst aktuelle fremde Kunst in bester Qualität aufgefächert, sie war Hilfsmittel und Inspirationsquelle. Von Schmidt-Rotluff beispielsweise ist überliefert, dass er mit der Negerplastik im Tornister in den Krieg zog. 176 Detail‐ liert in den Blick genommen wurde der Textteil der Negerplastik von Einsteins Zeitgenossen jedoch kaum, was Einstein in einem vielzitierten Brief an Tony Simon-Wolfskehl bedauert. Das Buch hätte, so schreibt er, „ohne die Bilderchen keine Sau gelesen und kapiert [haben] sie nur ein paar Leute in Frankreich“. 177 Sebastian Zeidler rekapituliert die frühe Rezeption folgendermassen: In the decade following its publication, those images were eagerly adapted by scores of artists from the whole spectrum of European primitivism, from German Expressionism to French Post-Cubist „black deco“, adapted in ways Einstein’s text did not endorse. 178 143 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="144"?> 179 Goldwater 1986, 35. 180 s. Strätling, Regine (2015). Fetische intermedial. Die Zeitschrift „Documents“. In: Primitivismus intermedial. Colloquium Helveticum. Gess, Nicola et al. (Hrsg.). Bielefeld: Aisthesis, 183-212. 181 Kiefer 1994, 136. Die Negerplastik wurde nach ihrem Erscheinen zum Teil hellsichtig rezensiert und beispielsweise von Max Hermann-Neisse oder der Ägyptologin Hedwig Fechheimer als paradigmatischer „Akt interkultureller Kommunikation“ (Kiefer, s. o.) erkannt. Grundsätzlich, darauf deutet auch Zeidler hin, wurde die Refle‐ xionstiefe dieses Aktes jedoch nicht erfasst. Robert Goldwater hat Einstein in seiner frühen Primitivismus-Studie von 1938 den ersten und einflussreichsten unter den „champions of primitive art“ genannt. 179 Dieser Titel „Kämpfer für die primitive Kunst“ passt insofern sehr gut zu Einstein, da mit dieser Bezeichnung seine Bemühungen nicht konkretisiert werden; sie rückt weder den Kunsttheoretiker und -historiker, den Avantgardisten noch den Ethnologen ins Zentrum. Einstein hat diese Per‐ spektiven vereint und hat viele seiner Schriften scheinbar bewusst eindeutigen (gattungstechnischen, inhaltlichen und stilistischen) Einordnungen entzogen. Dies gilt nicht nur für die frühen Texte, die aus seiner Beschäftigung mit „primitiver“ Kunst erwachsen. Auch die späteren ethnologisch akzentuierten Arbeiten greifen über die klassische Kunstgeschichtsschreibung hinaus und sind polyvalent. 180 Einsteins Wissen über die „primitive“ Kunst war beschränkt. Diese Tatsache verschweigt er in der Negerplastik nicht, sie ist für seinen Zugriff geradezu konstitutiv. Einstein plädiert für eine Befreiung der Objekte aus ihrem ethno‐ logischen und historischen Kontext und erprobt einen neuen, kompromisslos ästhetischen Zugang. „Er macht die Negerplastik zum Thema eines ästheti‐ schen Diskurses, und dieser innovative Wissensrahmen stilisiert auch seinen Gegenstand, prägt ihn um“, 181 so Kiefer über das Vorgehen Einsteins und die Konsequenzen seines Zugriffs. Gemäss Kiefer bedeutet dieser Befund der Um‐ prägung, dass die Negerplastik als avantgardistisches Dokument, als Text über die europäische Avantgarde gelesen werden muss. Wie auch Sebastian Zeidler anmerkt und zuspitzt, erzählen die afrikanischen Skulpturen der Negerplastik von einem spezifischen historischen Subjekt: That object [the negro religious sculpture] is bound to be „sculpture as such“ - but to a very specific historical subject: a western subject ca. 1915, whose visual purview is here not extended to include new, „primitive“ objects, but whose very own optical naturalism is subjected to a primitivization by an alien perceptual modality, which, 144 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="145"?> 182 Zeidler 2004, 124. Zeidler definiert die Negerplastik als „modernist manifesto of primi‐ tivism“. Er führt aus: „Negro Sculpture is a theoretical exploration of sculpturality as a model of object experience in modernity, and by the same token it is a critique of certain definitions of subjectivity supported by other sculptural paradigms popular at the time“ (Hier 122). 183 Berning 2015, 122. Matthias Berning hat darauf hingewiesen, dass Einstein seinen Text mehrfach als Versuch deklariert. Er spricht von der Negerplastik darum auch von einem „Versuch einer Kubismustheorie“. Die Dilettantismus-These rekapituliert er zurückhaltend: „Man kann von einem originellen, geistreichen Dilettantismus sprechen.“ 184 Vgl. neuere Lektüren von Charles W. Haxthausen, Sebastian Zeidler, Matthias Berning, German Neundorfer, Johanna Dahm u.a. beyond its necessary negativity, holds out the premise of a future restructuring of vision. [Herv. i. O.] 182 Die Rehabilitierung der aussereuropäischen Kunst geht von einem spezifischen „westlichen Subjekt um 1915“ aus, welches die „Primitivierung“ - ein „Going native“ - der eigenen Kunst und Wahrnehmung im Visier hat. Aufgrund dieser avantgardistischen Ausrichtung hat die Forschung die Negerplastik als Manifest des Primitivismus oder Kubismus oder als Theorie der europäischen Skulptur bezeichnet. Den Akzent auf das Europäische, Avantgardistische und Dilettanti‐ sche verstärkte diese dabei dadurch, dass sie die Negerplastik als unausgereifte Vorstufe von Einsteins späteren Schriften zum Kubismus interpretierte. Die folgende Untersuchung will den avantgardistischen Diskurszusammen‐ hang nicht relativieren, will jedoch mit eindeutigen Zuordnungen zurückhal‐ tend sein. Es wird hier unterstrichen, dass Einsteins Text ein Versuch ist, und dass dieser Versuch nicht auf einen Gegenstand, ein Subjekt oder eine Richtung hin festgemacht werden kann. 183 Um eine reine Kubismus- oder Primitivismus-Theorie darzustellen, ist die Negerplastik zu sehr der „primitiven“ Kunst verpflichtet; auch verfolgt Einstein ein erkenntnis- und wahrnehmungs‐ theoretisches Interesse, das über eine strenge Theorie der (Gegenwarts-)Kunst hinausführt. Im Folgenden wird ergründet inwiefern die Polyvalenz des Textes, die die neuste Forschung vermehrt betont, 184 mit der interkulturellen Refle‐ xion Einsteins zusammenhängt. Um diese komplexe Reflexion zu fassen, wird sichtbar gemacht, wie die Negerplastik den interkulturellen Diskurs des Pri‐ mitivismus kommentiert. Es wird unterstrichen, dass Einstein mit der Neger‐ plastik grundsätzlich dreierlei leistet: eine Deutung afrikanischer Kunst, eine Positionsbestimmung der Gegenwartskunst und einen Beitrag zur Reflexion der Begegnung „primitiver“ und primitivistischer Kunst. Letzteres stellt die Abhandlung ins Zentrum. 145 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="146"?> 185 Berning, Matthias (2011). Carl Einstein und das neue Sehen: Entwurf einer Erkennt‐ nistheorie und politischen Moral in Carl Einsteins Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann. Fleckner 2006, 79 ff.; Müller-Tamm, Jutta (2005). Form als Erkenntnis. Zur Essayistik Carl Einsteins. In: Dies. Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in der Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i.B.: Rombach, 287-313. Wie schon erwähnt ist ein theoretischer Vorläufer der Negerplastik im Aufsatz Totalität zu suchen. Hier skizziert Einstein einen alternativen Transzendenz- und Wahrnehmungsbegriff, wobei der Konnex zu Kubismus und Primitivismus mit dem Titel des Entwurfs des Aufsatzes („Picasso“) gegeben ist. Vgl. Berning 2015, 118ff. 186 Vgl. Kap. 2.3.5. 187 Vgl. Negerplastik. In: BA, Bd. 1, 234-252 (Ferner NP). Hier 236. Besonders das Kapitel „Anmerkungen zur Methode“ (NP, 234-237) ist sehr vorsichtig formuliert. Einstein benutzt gehäuft defensive Formulierungen („vielleicht“; „gelten“; „glauben“; „möglich“ u.a.), s.v. der charakteristische Satz: „Vielleicht ergibt sich aus den Bildtafeln folgendes: der Neger ist kein nicht entwickelter Mensch.“ 188 Kiefer 1994, 136f.: Kiefer redet von einem produktiven Missverständnis und deutet dieses als Effekt des Diskurswandels: „Die ‚Unschärfe‘ - sprich: Primitivierung - die beim Diskurswandel zunächst entsteht, erweist sich bei aller Problematik als emanzipatorische Errungenschaft, als Zerbrechen von im Diskurs kristallisierten Machtstrukturen. […] Einsteins misreading, d. h. sein produktives Missverständnis primitiver Kunst ist daher nicht partiell zu falsifizieren.“ Zur Gestalt der primitivistischen Theorie Einsteins lässt sich vorerst Fol‐ gendes festhalten: die Negerplastik ist seriöser Versuch und dilettantische Theorie, seriöse Theorie und dilettantischer Versuch gleichzeitig. Einerseits wird mit der „primitiven“ Kunst ein anspruchsvolles Problem der Wahrneh‐ mungs- und Erkenntnistheorie abgehandelt. 185 Einstein setzt sich mit den kunst- und wahrnehmungstheoretischen Arbeiten von Wölfflin, Worringer, Hildebrand, Fiedler, Kant und Hegel auseinander und erarbeitet im Anschluss an diese wahrnehmungstheoretischen Referenzen eine Theorie des „formalen Realismus“. 186 Er präsentiert die „kubische Raumanschauung“ der afrikani‐ schen Plastik emphatisch als Alternative zur europäischen Kunsttradition und Wahrnehmungstechnik. Dies ist grob umrissen der Kern der primitivistischen Theorie, respektive das primitivistische Angebot der Negerplastik. Andererseits ist die Abhandlung Einsteins mehrfach als Versuch 187 deklariert und allem Anschein nach bewusst auf Dilettantismus und Widerspruch angelegt. Einstein macht offen eingestandenes Unwissen produktiv und spiegelt es im „paradoxen Sehen“ (Berning), welches er mit der afrikanischen Plastik propagiert. 188 Mat‐ thias Berning bringt die paradoxe Struktur und Utopie hinter der „kubischen Raumanschauung“ der Negerplastik folgendermassen auf den Punkt: Einstein fordert ein Paradox des Sehens, das er jedoch in den afrikanischen Skulpturen verwirklicht sieht: Die vollständige Form muss von allen Seiten jederzeit sichtbar sein. 146 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="147"?> 189 Berning 2015, 120 ff. Die Widersprüchlichkeit ist insbesondere auch in Einsteins „kriti‐ scher Aneignung“ (Rainer Rumold) zeitgenössischer theoretischer Positionen ablesbar. Zu Einsteins Auseinandersetzung mit Adolf von Hildebrands kinästhetischer Theorie der Skulptur in Das Problem der Form in Malerei und Plastik (1893) vgl. Rumold, Rainer (2009). Seeing African Sculpture: Carl Einstein’s „ethnographie du blanc“. In: Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent. Bru, Sascha/ Bae‐ tens, Jan (Hrsg.). Berlin: de Gruyter, 408-422. Hier 416. Oder Jutta Müller-Tamm für Einsteins Auseinandersetzung mit Worringers Abstraktion und Einfühlung: sie konstatiert ein „eigentümliche[s] Verhältnis von Entsprechung und Gegensatz“ der beiden Texte, vgl. Müller-Tamm 2005, 289ff. 190 Vgl. Rumold 2009, 411 f. Wolfgang Struck redet von einer „Identität von Sinnlichem und Unsinnlichem“, vgl. Struck 2010, 173. 191 Vgl. Berning 2015, 122. 192 Neumeister 2008, 181. 193 Rumold 2009, 414. Dies ist einem einzelnen realen Betrachter eigentlich nicht möglich. Aber ihm geht es eben auch nicht um den einzelnen subjektiven Betrachter, mithin das Ich Descartes’ oder Kants, das sich der Sinnenwelt gegenübergestellt sieht, sondern um die vom Subjekt unabhängige objektive Realität. 189 Dieses „Paradox des Sehens“ findet in einem gleichzeitig materiell/ visuell realen und unsinnlichen oder transvisuellen Raum statt. 190 Der seriöse Dilet‐ tantismus seiner Theorie kulminiert schliesslich im Bild eines unsichtbaren Kunstwerks beziehungsweise blinden Betrachters (s. NP, 241). 191 Für unseren Zusammenhang ist wichtig zu sehen, dass dieses paradoxe imaginäre Sehen der Einsteinschen primitivistischen Theorie (welches Segalens „Kunstort“ in Erinnerung ruft) auf der Basis von Erläuterungen zur Interkulturalität skiz‐ ziert wird. Ausgehend von den „Anmerkungen zur Methode“ (NP, 234-237, ferner „Anmerkungen“) im ersten Kapitel der Negerplastik formuliert Einstein gleichsam eine interkulturelle Theorie. Er reflektiert in den „Anmerkungen“ die historischen und ethnographischen Probleme des Schreibens über afrikanische Kunst, legt die Grundsätze seiner Herangehensweise dar und äussert sich zum Verhältnis „primitiver“ und moderner Kunst. Im Folgenden wird argumentiert, dass diese Beziehungsreflexion der entscheidende Angelpunkt der Negerplastik ist. Dass Einsteins Text als Theorie der Interkulturalität verstanden werden kann, haben Heike Neumeister, Rainer Rumold und Andere andiskutiert, die die Ne‐ gerplastik als „poetics of alterity“ (Neumeister) 192 oder „anthropological poetics“ (Rumold) 193 bezeichneten. Beide Forschende bringen für die Charakterisierung 147 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="148"?> 194 Hierzu s.a. Müller-Tamm 2005 und Badenberg 1999, 247. Müller-Tamm arbeitet mit der Kategorie „experimentelle Reflexionsprosa“. Badenberg bezeichnet die Negerplastik als „kunstliterarisch“. 195 Vgl. Smith, Kimberly A. (2014). The Expressionist Turn in Art History: A Critical Anthology. Studies in Art Historiography. Burlington Vt.: Ashgate. Vgl. Kap. 2.4. 196 Carl Einstein (1934). George Braque. In: BA, Bd. 4, 259. Vgl. Müller-Tamm 2005, 296ff. 197 Müller-Tamm 2005, 294 ff.; Müller-Tamm, Jutta (2016). Nachträglichkeit. Carl Einstein als Historiograf. In: Historiografie der Moderne. Carl Einstein, Paul Klee, Robert Walser und die wechselseitige Erhellung der Künste. Baumgartner, Michael/ Michel, Andreas et al. (Hrsg.). Paderborn: Wilhelm Fink, 19-28. der Interkulturalität die Literarizität des Textes ins Spiel. 194 Sie fokussieren die Inversionsbewegungen des Textes und beschreiben die Negerplastik als ästhetisches Konstrukt auf anthropologisch-phänomenologischer Basis. Im Folgenden werden auch hier auch die Umkehrbewegungen des Textes in den Blick genommen. Dies ist unabdingbar, um die Positionierung der Negerplastik im und gegenüber dem interkulturellen Diskurs des Primitivismus zu verstehen. Dabei ist wichtig, die Komplexität der interkulturellen und ästhetischen Inversionsbewegungen im Text festzuhalten: Für die „primitive“ Kunst als Vorbild der Umkehrung gilt in der Negerplastik, dass sie zwar als ästhetisches Ideal präsentiert wird, jedoch nicht als solches, das eins zu eins übernommen werden kann oder übernommen werden muss. In der Negerplastik wird keine einfache gemeinsame Folie für die „primitive“ und avantgardistische Kunst entworfen, keine Übernahme und Inversion propagiert. Dies läuft den populären Vorstellungen eines primitivistischen „Going native“, respektive derjenigen einer Wahlverwandtschaft zwischen „primitiver“ und moderner Kunst entgegen. Einstein präsentiert mit der Negerplastik ein primitivistisches Ziel und agiert auf mehreren Ebenen primitivistisch, weist aber gleichzeitig auf fundamentale Grenzen des Primitivismus hin. 2.3.3 Grundlagen der Kunstkritik Einsteins in den 1910er Jahren Es ist notwendig, Einsteins Negerplastik als Teil einer expressionistischen Wende in der Kunstgeschichte zu lesen. 195 Eine Wende, die sich vor allem darin auszeichnet, Kunstgeschichte vom eigenen Standpunkt aus zu denken. „[…] Ge‐ schichtsbildung ist Perspektive, aus dem Augenpunkt des Heute entworfen“ 196 - Was Einstein in seiner Monographie zu George Braque (George Braque, 1934) programmatisch festhält, gilt bereits für seine frühen Schriften. Sein an Nietzsche und Simmel geschulter Geschichtsbegriff ist radikal selbstreflexiv. 197 In der nachgelassenen Skizze Antike und Moderne (zwischen 1912 und 1914 entstanden) hält er beispielsweise fest: „Nicht eine zur Ideologie erstarrte 148 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="149"?> 198 BA, Bd. 4, 141. 199 Max Hermann-Neisse hat in seiner Rezension zur Negerplastik diese Haltung fein registriert. Bei Einstein sei von einem Geist (und der Kunst) als einem „Agens zur Zukunft“ auszugehen. Hermann-Neisse Max (1916). Carl Einstein. In: Die weissen Blätter 3. Jg., 2. Quartal April/ Juni. Leipzig, 88-90. Vgl. EMat, 161f. 200 Stavrinaki 2011, 199. Geschichte beherrscht unsere Gegenwart, sondern diese selbst bildet und formt die Anschauung des Historischen.“ 198 Einstein rückt zur effektiven Gegenwartskunst vor und behandelt diese mit einer Gravität, welche bis anhin der Kunst der Vergangenheit vorbe‐ halten war. Seine Radikalität liegt nun insbesondere aber darin, dass er von der Kunst und Geschichte der Gegenwart ausgehend nicht nur über die Vergangenheit urteilt, sondern auch die Zukunft anvisiert. Dies unter‐ scheidet ihn nicht nur von der modernistischen Kunstgeschichtsschreibung Meier-Graefes, sondern auch von den anderen Exponenten einer expressio‐ nistischen Kunstgeschichte. Grundsätzlich beurteilt er Kunst mit einem radikal aus der Gegenwart und in die Zukunft gerichteten Blick. 199 Gemäss Maria Stavrinaki zielt dieser Blick in die Zukunft auf ein „futur passé“, auf ein Paradox einer „vergangenen Zukunft“: Le régime oxymore du temps qu’Einstein investissait en tant qu’historien était finalement celui d’un „futur passé“. Mais ce futur passé était bien différent de celui théorisé plus tard par Reinhart Koselleck, aux prises avec une histoire en éternelle transition parce qu’en éternelle attente. Si Einstein préjugeait du futur et le traitatit comme s’il était déjà passé, c’est parce qu’il s’efforçait d’évaluer les expériences artistiques de son temps comme autant de défaites avérées, de victories momentanées ou de promesses dans cette lutte du „sujet“ et de l’„objet“ qu’était, selon lui, l’histoire. 200 Einsteins Modus der Beurteilung der Gegenwartskunst ist nicht ahistorisch zu wenden. Stavrinaki unterstreicht, dass er diese als „vergangene Zukunft“ betrachte, als Schritte auf dem Weg zu einer neuen Kunst, die die Bezie‐ hung zwischen Objekt und Subjekt neu denke. An die Gegenwartskunst richte Einstein einen spezifischen historisch-selbstreflexiven Auftrag einer Neuermessung der Beziehung von Subjekt und Objekt. Stavrinaki stellt folgende Zeilen aus Einsteins nachgelassenen Schriften ins Zentrum ihrer Argumentation: 149 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="150"?> 201 BA, Bd. 4, 182. Text ohne Titel, unpubliziert, um 1928 entstanden (frz. redigiert, wahrscheinlich für Konferenz vorgesehen). 202 Dahm, Johanna (2004). Der Blick des Hermaphroditen. Carl Einstein und die Kunst des 20. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann, 33-35. Einstein operiert mit der Raumauffassung Henri Bergsons. Tektonik versteht er als „konstruktives Element des Bildes, […] kraft derer der Bildraum visualisiert werden kann, indem sie die Wesensbestandteile der dargestellten Bildkörper bezeichnet“ (35). Mit dem Begriff, in Kunst- und Architekturgeschichte der Zeit gebräuchlich, bezieht er sich auf Adolf von Hildebrand, Heinrich Wölfflin u. a. Zu diesen Bezügen Einsteins s.a. Fleckner 2006, 28ff. 203 Stavrinaki 2011, 199. 204 Vgl. Dahm 2004, 131. In Bezug auf Einsteins Kunst des 20. Jahrhunderts bemerkt Dahm: „Die ins Ironische reichende Intensität, mit der sich Einstein gegen die akademische (Kunst-)Geschichtsschreibung auflehnt, findet nicht nur auf semantischer Ebene statt, sondern reicht unter Einsatz von Tropen bis zur Persiflage […]. Das Postulat einer Veränderung der Wirklichkeit betrifft also auch die Realität wissenschaftlicher Rezep‐ tion.“ L’histoire de toute la philosophie, c’est l’histoire de la bataille entre le moi et l’objet, et l’homme, pour maintenir un rien de liberté et pour sortir d’un déterminisme fatal, est forcé à anéantir [vernichten] le monde donné par ses forces imaginatives. 201 Einstein spricht hier von der „fatalen Determiniertheit“ der Kunst innerhalb eines Bezugssystems von Subjekt und Objekt. Um diese Determiniertheit zu fassen, hat Einstein früh mit den Begriffen der „Tektonik“ und des „Halluzinato‐ rischen“ gearbeitet. 202 Sie dienen ihm sowohl zum Verständnis der Bipolarität der künstlerischen Produktionen zwischen Subjekt/ Objekt und Geist und Materie und sind zentrales epistemologisches Prinzip seiner Kunstkritik. Richtmass für die Gegenwartskunst ist die Überwindung der prägenden Bezugssysteme. Wie es Einstein im obigen Zitat formuliert, ist der einzige Weg in die Freiheit die Vernichtung der gegebenen Welt - durch den Einsatz imaginativer Kräfte. Die kunstkritische Arbeit bedeutet nach diesem Verständnis die Überprüfung des anspruchsvollen Richtmasses. Und sie erwächst aus der Ergründung und Beschreibung der Tektonik und Halluzinationen der Gegenwart. Stavrinaki schreibt: „[…] Il s’éfforçait de discerner la ‚tectonique‘ qui agençait les ‚halluci‐ nations’ de son époque, et qui étaient en grande partie aussi les siennes.“ 203 Mit letzter Bemerkung im Nebensatz hält Stavrinaki fest, dass Einstein als Kind der Zeit die Halluzinationen und Visionen der Epoche teilte und relativiert damit die Möglichkeiten seiner Kritik und seines Kunstbegriffs. Wie Johanna Dahm und Andere aufgezeigt haben, ist Einstein, der mit seiner Begriffsarbeit oft ins Parodistische abgleitet, sich der eigenen Verstrickung und der Möglichkeiten seines Kunst- und Kritikbegriffs jedoch durchaus bewusst. 204 Mit der afrikanischen Kunst bekommt Einsteins utopischer Bestimmungsort einer Kunst der Zukunft ab 1912/ 1913 einen konkreten Bezugspunkt und 150 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="151"?> 205 Vgl. Haxthausen 2011, 80. 206 Stavrinaki macht den Begriff der „Zwischenwelt“ („entremonde“) in Bezug auf Paul Klee und Franz Marc für Einstein fruchtbar („Cette idée d’‚entremonde‘ séparait Klee de son ami Marc. Et cela n’avait pas échapé à Einstein“). Sie fokussiert die in Bezug auf eine Revolution des Sehens euphorische Phase Einsteins um die dritte Auflage der Kunst des 20. Jahrhunderts (1931), in der er mit der „romantischen Generation“ der Surrealisten (inkl. Klee und Picasso) sein Ideal einer „Zwischenwelt“ erreicht sah. Vgl. Stavrinaki 2011, 201ff. 207 Schultz, Joachim (2001). „Öffentliche Unfälle“ - Anmerkungen zu Carl Einsteins kunst‐ theoretischer Terminologie in den Jahren 1912-1915. In: Carl-Einstein-Kolloquium 1998. Baumann, Roland/ Roland, Hubert (Hrsg.). Frankfurt a.M.: Peter Lang, 65-70. Hier 70. 208 Wichtige Aufsätze: 1912: Anmerkungen zur neueren französischen Malerei (s. u.), Bemer‐ kungen zum heutigen Kunstbetrieb (beide in Neue Blätter); 1913: Ausstellungskritik für Neue Galerie und Kritik zur Herbstausstellung am Kurfürstendamm der Berliner Secession (in Die Aktion, s. u.). Zum Konkurrenzunternehmen der Cassirerschen Herbst‐ austellung, dem Ersten Deutschen Herbstsalon der Sturm-Galerie äussert sich Einstein nicht, was die Forschung mit Einsteins Konzentration auf Picasso erklärt, der in der Sturm-Galerie nicht ausstellte. Katalysator. 205 Mit ihr ergründet er die Möglichkeit einer künstlerischen „Zwi‐ schenwelt“ 206 (Stavrinaki) jenseits von Bipolaritäten. Logik und Kontinuität seiner Bestrebungen vor der Negerplastik lassen sich nach Joachim Schultz folgendermassen beschreiben: Schon in den Jahren vor der Negerplastik vertrat Einstein eine Position, die den Idealen einer von ihm gepriesenen Negerkunst sehr nahe kommt, zum Teil verwendet er dieselben oder ähnliche Begriffe. Er fordert einfache, reine Linien, elementares Schaffen, nüchtern fanatische Reinheit, eine Kunst mit ethischem Wert, basierend auf einem ursprünglichen Gedanken, einem einheitlichen Sinn; all dies fern von Theorieabhängigkeit, Dekorativem und Kunstgewerbe. Alles muss von innen, nicht von aussen kommen, unmittelbar, nicht mittelbar. 207 Tatsächlich äussert Einstein diese Anforderungen in den Kunstkritiken der frühen 1910er (s. Ausstellungskritik für Neue Galerie etc.) mehr oder weniger direkt. 208 An der obigen Beschreibung des Einsteinschen künstlerischen Ideals gilt es jedoch Eines anzumerken: Von einem - expressionistischen - Ideal eines künstlerischen Schaffens aus dem Innern kann man bei Einstein nur bedingt sprechen. Sein Programm ist die Auflösung des „Kampfes zwischen Subjekt und Objekt“; mit den Möglichkeiten des Aus-sich-selbst-Schaffens, der Selbstwahrnehmung und -erkenntnis hat sich Einstein bereits vor den Kunst‐ kritiken (prominent in Bebuquin) äusserst kritisch auseinandergesetzt. Einstein visiert explizit anti-subjektive Kunst an, welche er in der Gegenwartskunst 151 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="152"?> 209 Vgl. Zeidler 2004, 4 f. Einstein agiert gemäss Zeidler „against subjective experience as identification“. Zum Anti-Subjektivismus des Primitivismus allgemein (Primiti‐ vismus-Definition Worringers: „auf das Zeitalter des ,Subjektiv-Willkürlichen und nur Individuell-Bedingten‘ folge eine neue, zugleich gesetzgebende Kunst“), bzw. der Kritik am oberflächlichen Anti-Subjektivismus der expressionistischen Primitivisten bei Hans Arp und Max Ernst, s. Ubl, Ralph (2002). Wilhelm Worringer, Hans Arp und Max Ernst bei den Müttern. Überlegungen zum Primitivismus der deutschen Avantgarde. In: Wilhelm Worringers Kunstgeschichte. Böhringer, Hannes/ Söntgen, Beate (Hrsg.). München: Wilhelm Fink, 119-140. Hier 135. 210 In der Rezension zur Herbstausstellung der Berliner Secession kritisiert Einstein den „Solipsisten“ Kandinsky. Sein allgemeines Urteil über die deutsche Gegenwartskunst (mit Ausnahme Kokoschka) ist heftig abwertend, positive Äusserungen macht er einzig über Picasso. Vgl. Einstein, Carl (1913). Herbstausstellung am Kurfürstendamm. In: Die Aktion, 3. Jg., Nr. 51, 1186-1189. Vgl. BA, Bd. 1, 170. Vgl. Fleckner, Uwe (2001). Le solipsiste et son critique. L’œuvre de Kandinsky jugé par Carl Einstein. In: Kandinsky. Retour en Russie. 1914-1921. Derouet, Christian/ Hergott, Fabrice (Hrsg.). Ausst.kat. Musée d’art moderne et contemporain Strassbourg, 38-46. 211 S. Titel Anmerkungen zur neueren französischen Malerei (s. u.), später auch in Neger‐ plastik, vgl. NP, 235. 212 Einstein, Carl (1912). Anmerkungen zur neueren französischen Malerei. In Neue Blätter 1. Jg. H.3, 19-22, vgl. BA, Bd. 1, 134-139. Einstein äußert 1912 weltmännisch Kritik, bevor die neuen Tendenzen mit den Herbstausstellungen 1913 ein grosses Forum bekommen. 213 BA, Bd. 1, 134. 214 Ebd., 136. vergeblich sucht. 209 Seine Kritik an der neuesten Kunst zielt zuvorderst auf deren Subjektivismus oder „Solipsismus“. 210 In den Kritiken der 1910er-Jahre urteilt Einstein vorwiegend negativ über die „neuere Kunst“. 211 Anhand des Aufsatzes Anmerkungen zur neueren franzö‐ sischen Malerei, den er 1912 in Neue Blätter schaltet, lässt sich gut zeigen, dass dieses Urteil insbesondere auf den Primitivismus der Gegenwartskunst zielt. 212 Im Aufsatz prüft er die Entwicklungen in der neueren französischen Kunst und äussert sich zu deren Tendenzen der Abstraktion und des Primitivismus. Die Kritikpunkte des künftigen Theoretikers von Primitivismus und Kubismus sind bemerkenswert: Erstens moniert er ein „Übergewicht der Theorie“ (was er als Nachwehen des Postimpressionismus deutet), zweitens den Sensualismus der „neueren Kunst“. Einstein sieht eine „gewaltsame[r] Stilisierung“ aus der sensualistisch-subjektiven Perspektive entstehen: „Mehr und mehr hat die innere Empfindung sich zur Dominante gebildet und oft sogar zum Gegenstand selber gemacht. Die Entfernung von einem gewohnten Gegenstand wird immer grösser. Seine Stilisierung immer gewaltsamer.“ 213 Den Primitivismus bezeichnet Einstein als Modeerscheinung. Er redet von „Primitivenrummel“ 214 und erklärt den Erfolg Henri Rousseaus, den er indessen positiv darstellt, als Ausdruck 152 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="153"?> 215 Ebd., 138. 216 Ebd., 135f. 217 Ebd., 137. 218 Gemäss German Neundorfer ist Einsteins Primitivismusbegriff der frühen 1910er Jahre eine „wirre[n] Melange“, vgl. Neundorfer, German (2003). Kritik an Anschauung: Bildbeschreibung im kunstkritischen Werk Carl Einsteins. Würzburg, 45 ff. Diese ist der Permanenz der weit gespannten historischen Begriffsdefinitionen des 19. Jahrhun‐ derts geschuldet und signalisiert Einsteins Verhaftung im zeitgenössischen Diskurs. Neundorfer: „Gotik, Barock, ägyptische oder afrikanische Plastik: was als wirre Melange erscheint, ist doch […] in ihren wesentlichen Teilen im Gefolge Worringers Diskurs“ (hier 45). Vgl. Kiefer 1994, 146ff. bürgerlichen Snobismus. Haarmann und Siebenhaar halten dazu fest: „Einstein sieht den Erfolg der naiv-realistischen Malerei Rousseaus als symptomatisch für die Kunstrezeption in einer Gesellschaft an, die sich im Zuge der Entdeckung der Formsprache primitiver Kulturen allzuleicht von gefälligen Bildern ansprechen lässt.“ 215 Entlang dieser Grundkritik - von Theorielastigkeit, Sensualismus, „Stilisierung“ und gefälligem Primitivismus - handelt Einstein im Aufsatz einzelne Künstler ab. Dies klingt so: Picasso. Matisse betonte die dekorativen und sensuellen Eigenschaften des Cézanne; wir beobachten hier, dass die Folgen des Primitiven eine noch grössere Primitivität war. Der Beschauer wird gezwungen, nur auf bestimmte konventionelle Momente sich einzustellen. Picasso wählte aus den Lehren des Cézanne die vom Modelé, der er wesentlich Neues hinzufügte. Er betrachtet jedes Ding auf seinen plastischen Anregungswert. […]. 216 [Herv. LF] An dieser Passage lässt sich nachvollziehen, wie Einstein den Primitivismus‐ begriff ausdifferenziert. Matisse’ Kunst beschreibt er als wenig konsequent und redet geringschätzig von reaktionärem Sensualismus und flacher Selbst‐ bezüglichkeit. Wie in den Beobachtungen zu Rousseau skizziert er hier den Primitivismus als Selbstläufer und weist auf die Funktion des Publikums hin. Sein Urteil zu Matisse verallgemeinert er dahingehend: „Man gelangte zu einer reinen, sich selbst genügsamen Kunst, die sich im allgemeinen selbst aufisst. Ich dachte oft an Böcklin, natürlich, diese Leute haben eine starke Logik im Kopf. Vor allen Dingen gibt man sich primitiv.“ 217 [Herv. LF]. Wie wir oben gesehen haben, stellt Einstein im Falle Picassos dieselben stilistischen Bezüge zu Cézanne her, er sieht aber bei ihm einen neuen Weg eingeschlagen. Im Kontrast leuchtet Picasso als möglicher Weg der Bewältigung der Probleme des Primitivismus auf. Obwohl Einstein im Artikel über große Strecken auch für Picasso mit einem konventionellen Primitivismusbegriff operiert (er spricht von „komplizierte[r] Gotik“ und zieht den Vergleich zu spanischer Architektur, etc.) 218 , kündigt 153 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="154"?> 219 Einsteins Rezeption von Picasso ist zu Beginn der 1910er Jahre ambivalent. 1912 äussert er sich in Bemerkungen zum heutigen Kunstbetrieb (Neue Blätter) noch äußerst kritisch über ihn, es folgen die Anmerkungen zur neueren französischen Malerei und darauf die positiven Äußerungen im Zuge der Herbstausstellung 1913, 1914 schliesslich die positive kunsttheoretische Projektion in Totalität. Allgemeine Stoßrichtung: Inter‐ pretation des Kubismus als [primitiv(istisch)e] Revolution gegen die abendländische Kunsttradition und Metaphysik, gegen die „bequeme Grammatik des Sehens“, vgl. Hoffmann, Gabriele (1998). Sehen und Wahrnehmen in der Kunsttheorie von Carl Einstein. In: Etudes Germaniques Bd. 53 (1), 171-185. Hier 179. 220 Es ist wichtig festzuhalten, dass Einstein bis in die 1930er Jahre im Kubismus sein Ideal einer Kunst der „kollektiven Form“ nicht realisiert sieht. Im Kubismus beobachtet er lediglich (mit Charles W. Haxthausen gesprochen) die „vision alternative des modalités d’existence d’une telle forme“. Mit der Schrift über George Braque kommt es darauf zu einer Neueinschätzung. Vgl. Haxthausen 2011, 88f. In seiner Monographie über Einstein und Braque zeigt Uwe Fleckner auf, wie in gewissen früheren Texten Einsteins (bspwe. „Gerettete Malerei, enttäuschte Pompiers“, in Das Kunstblatt, 1923) diese Neueinschätzung bereits antizipiert ist. Vgl. Fleckner, Uwe (2013). Das Glück der Halluzination. Carl Einstein über die Kunst von Georges Braque. In: Ders. (Hrsg.). Einstein, Carl: Über Georges Braque und den Kubismus. Zürich: Diaphanes, 208ff. 221 Einstein redet von (malerischen) „Kunstkonventionen“, von „unsere[r] Kunst“ und gebraucht vielfach die dritte Person Singular „man“ sowie das Präteritum zur Beschrei‐ bung der europäischen Tradition. Vgl. NP, 238. sich hier bereits an, in welche Richtung sich Einsteins Primtivismusbegriff entwickeln wird. 219 Diese negative Grundsatzkritik an der primitivistischen Kunst - in die ein ebenso grundsätzlicher Zukunftsglaube eingeblendet ist 220 - bildet das Funda‐ ment für die Positionierung der Gegenwartskunst in der Negerplastik. Was nun an der Präsentation der Gegenwartskunst in der Negerplastik auffällt, ist, dass Einstein diese weiterhin auffällig unbestimmt darstellt. Er katalogisiert sie nicht und nennt keine Namen. Trotzdem macht er die „neuere Kunst“ (NP, 235), wie er sie auch hier bezeichnet, durch ihre Annäherung an die „primitive“ Kunst als primitivistische Kunst erkennbar. Mit dieser Darstellung gelingt es Einstein, den Primitivismus als Leerstelle zwischen der Negativfolie europäischer Kunst‐ tradition 221 und dem Ideal „primitiver“ Kunst zu positionieren. Diese Strategie spricht für sich: die Negerplastik zeichnet grosse Bogen, ist Grundsatzdiskussion und radikale Kunsttheorie. 2.3.4 Einsteins „primitives“ Kunstprogramm Ab 1912 wird die Beschäftigung mit aussereuropäischer Stammeskunst eine grosse Konstante in Einsteins Leben und Werk sein. Die Entwicklung seiner kunstkritischen Position ist eng an die Auseinandersetzung mit der „primitiven“ 154 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="155"?> 222 Vgl. Haxthausen 2011, 88. „Même dans les années 1920, où Einstein consacra l’essentiel de ses écrits à l’art moderne, le modèle d’un art intégré dans les pratiques de la vie, dont les cultures primitives africaines représentaient pour lui l’exemple par excellence, semblait tourjours présent à son ésprit.“ 223 Einstein, Carl (1938). Carl Einstein habla de la guerra atomizida y los planes bélicos des nazifascismo. In: La Vanguarida, s. BA, Bd. 3, 46, zit. n. Quigley, David (2007). Carl Einstein: A defense of the real. Wien: Schlebrügge, 216. 224 Haxthausen 2011, 80. 225 Stavrinaki fasst in Bezug auf Subjekt/ Objekt-Problematik zusammen: „L’archaïque était précieux pour Einstein: il lui offrait aussi bien un pont entre le collectif et le subjectif que la possibilité d’une révolution réfractaire [widerspenstig] à la notion du progrès“, Stavrinaki 2011, 203. 226 Einstein im Manuskript zu unvollendetem Projekt Bebuquin II [1934]: CEA, microforme 43, feuillet de correction 21, Akademie der Wissenschaften, Berlin. Zit. n. Haxthausen 2011, 79 f. Seine Selbstreflexion als „ewiger Pseudo-Revolutionär“: „L’éternel pseudo-ré‐ voulutionaire devient complètement stérile et reste désespérément à la traîne des Kunst gebunden. Die Grundlagen seines radikalen Kunstverständnisses ent‐ stehen in der Auseinandersetzung mit der „primitiven“ Kunst, beziehungsweise versichert er sich immer wieder dieser Grundlagen über die „primitive“ Kunst. 222 Die Stammeskunst ist Ausgangspunkt für seine grundsätzlichen Fragen an die Kunst und Modell für die Erörterung der Möglichkeiten von Kunst. Für Einstein, für den gilt, dass die „[…] Frage der Kunst identisch [ist] mit der Frage nach der menschlichen Freiheit, nicht mehr und nicht weniger“, 223 ist sie das Richtmass für die Frage nach der Freiheit von Kunst. Die „primitive“ Kunst bietet nämlich über das Vermögen ihrer Darstellung hinaus das Potential kollektiver Handlungsmächtigkeit, darin nach Einsteins Vorstellung die Freiheit der Kunst schliesslich gipfeln sollte. Charles W. Haxt‐ hausen beschreibt diese Vorstellung von handlungsmächtiger Kunst wie folgt als Konnex von Einsteins früher Kunstkritik (Totalität) und der Negerplastik: La notion d’agentivité, telle qu’elle s’exprime dans l’un et dans l’autre [„Totalität“/ Ne‐ gerplastik], peut permettre de nouer un lien visible entre ces deux textes par ailleurs très différents. Ce qui comptait dans l’art, du point du vue d’Einstein, ce n’était pas sa valeur esthétique, symbolique ou expressive, et moins encore son sujet. C’était sa capacité à renouveler les représentations visuelles des sujets humains, et par là, à transformer leur subjectivité et leur construction de sa realité. 224 Einsteins Ideal ist eine Kunst, welche das Sehen verändert, handlungsmächtig auf Subjekt, Gemeinschaft und Realität einwirkt. 225 Dieses „primitive“ Kunst‐ programm wird er zeitlebens verhandeln und in der Gegenwartskunst suchen. Handlungsmacht und Kollektivität („agentivité“/ „collectivité“ bei Haxthausen) stehen im Zentrum dieser „revolutionären Utopie“ 226 der Kunst, wie Einstein 155 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="156"?> changements qui affectent son temps parce qu’il lutte toujours pour la même utopie révolutionnaire qu’il tente d’atteindre par un changement de la forme artistique.“ 227 Haxthausen verweist in dem Zusammenhang auf die anthropologische Theorie Alfred Gells über symbolische Kommunikation und Kunst als Agens, vgl. Haxthausen 2011, 81f. 228 Autoren wie German Neundorfer widersprechen dieser Kontinuitäts-These im Hinblick auf die konkreten Entwicklungsschritte des Einsteinschen Werkes, sie schränken die primitivistische Phase klar zeitlich ein. Gemäß Neundorfer läuft die „Ethnologisierung“ und Akademisierung seiner Schriften zur außereuropäischer Kunst nach dem Krieg dem „primitiven“ Kunstprogramm entgegen. Vgl. Neundorfer 2003, 279. Die Kunst des zwan‐ zigsten Jahrhunderts beschreibt Neundorfer als „Versuch […], ästhetische, vor allem mit der Negerplastik formulierte Vorkriegspositionen als Zentrum einer Historisierung der zeitgenössischen Moderne zu etablieren“ und relativiert diese Konstanz dahingehend: „Primitivismus und ein als Exotismus in Erscheinung getretener Dandyismus konnten kaum die Folie bilden, vor der eine Kunstgeschichte des Gegenwärtigen zu entwerfen war […].“ 229 Einstein war ein eminent politischer Autor, dies darf nicht vergessen werden. In seinem Œuvre wechseln sich politische und kunsttheoretisch/ literarische Phasen ab, die sich jeweils auszuschliessen scheinen. Mit Haxthausen muss jedoch festgehalten werden, dass es unsinnig ist, diese Phasentrennung zu forcieren: „Lorsque Einstein s’engagea dans l’activité politique - durant la révolution allemande avortée de 1918-1919 et la guerre espagnole de 1936-1939 -, il ne poublia qu’un court texte sur l’art. Inversement, dans les périodes où il se consacra essentiellement à ses publications sur l’art, comme seinen Kunstbegriff im Rückblick charakterisiert. Seine aktionistische Vorstel‐ lung von Kunst ist animistisch geprägt: Einstein denkt das Kunstwerk als wesenhafte Präsenz. 227 Schöpfer, Kunstwerk und Betrachter verbindet im Ideal‐ fall eine utopische „mythische Realität“ (s. u.). Dies ist die Grundlage seines Schreibens über „primitive“ Kunst in der Negerplastik - ein Ideal absoluter Geschlossenheit und Totalität, wie er es zuvor im Frühjahr 1914 im Essay Totalität skizziert hatte. In der Negerplastik schreibt er: Sie [das Negerkunstwerk] bedeutet nichts, es symbolisiert nicht; es ist der Gott, der seine abgeschlosssende mythische Realität bewahrt, worein er den Adoranten einbezieht und auch ihn zu einem Mythischen verwandelt und seine menschliche Existenz aufhebt. (NP, 242) Charles W. Haxthausen zeigt auf, wie dieses utopische Programm einer „pri‐ mitiven“ transformatorischen Kunst relativ stabil bleibt, obwohl Einsteins Kunsttheorie verschiedene Phasen durchläuft. 228 Mit politischem Nachdruck formuliert er seine Vision insbesondere in den Jahren 1918 und 1919 (Solda‐ tenrat/ Spartakusaufstand) und zwischen 1936 und 1939 (Spanischer Bürger‐ krieg): Höhepunkt der Politisierung seines Begriffs „primitiver“ Kunst ist der Aufsatz Zur primitiven Kunst, der 1919 in Ludwig Rubiners Die Gemeinschaft erscheint. 229 Mit „primitiver Kunst“ zielt Einstein hier nicht auf afrikanische 156 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="157"?> en 1913-1914 et de 1921 à 1933, il ne publia presque aucun texte sur la politique, du moins sur un mode explicite. […] il serait cependant erroné de penser à un divorce entre les textes d’Einstein sur l’art et ses textes politiques […]“ [Herv. LF]. Vgl. Haxthausen 2011, 79. 230 Ebd., 82 ff. Einstein nimmt nur für sehr kurze Zeit Partei für kommunistische Belange. Ab 1920 verweigert sich der Anarchist Einstein direkter linker Politik. Vgl. Haxthausen, Charles W. (2003). Bloody Serious: Two Texts by Carl Einstein. In: October Nr. 105. Cambridge: MIT Press, 105-118. Hier 112ff. 231 Das Ideal verkörpern einzelne Künstler (Braque, Picasso, Klee), die er dem Surrealismus, bzw. einer „romantischen Generation“ zurechnet. Vgl. Haxthausen 2011, 91. 232 Ebenda. 233 Die Künstler sind Schöpfer „[…] mythischer, unbeweisbarer, immanenter Gestalten“. Vgl. Fleckner, Uwe/ Gaehtgens, Thomas W. (Hrsg.) (1996). „Schauend ändert man Menschen und Welt“. Carl Einstein und die Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Carl Einstein. Kunst des 20. Jahrhunderts. BA, Bd. 5, 7-32. Hier 12. Kunst ab, sondern auf eine europäische Kunst der Arbeiterklasse im Dienst der Revolution. Der anti-subjektive Impetus seines Kunstprogramms, hier bewusst als „primitives“ und nicht primitivistisches Programm verkauft, ist in diesen politischen Phasen gross. 230 Der positive Höhepunkt von Einsteins Abgleich seines „primitiven“ Kunst‐ programms mit der Gegenwartskunst folgt schliesslich Anfang 1930er Jahre: Bei gewissen Künstlern und Werken der surrealistischen Bewegung macht Einstein eine „primitive“ Handlungs- und Transformationskraft aus und spricht erstmals von einer Umsetzung seines Ideals der „Primitivierung“. 231 Haxthausen hält dies folgendermassen fest: Au début des années 1930, sous l’influence de ce qu’on a appelé le „surrealismé ethnographique“, Einstein pensa que le fossé entre l’art de l’avant-garde européenne qu’il défendait et les pratiques artistiques des cultures primitives et archaïques était désormais comblé; l’art pouvait jouer un rôle dans le processus auquel il donnait le nom de „primitivisation“, pour désigner un phénomène de retour à une vision du monde collective et mythique. 232 Dies ist ein fundamentaler Wandel, wenn man bedenkt, dass Einstein gegenüber dem revolutionären Kubismus nur von einer Annäherung an ein Ideal sprach. Haarmann und Siebenhaar geben Einsteins Urteil dahingehend wieder: Die Bilder waren nicht mehr Metaphern einer diktierenden Wirklichkeit und somit keine Fiktion mehr, sondern selber Zeichen unmittelbarer menschlicher Wirklichkeit. [Herv. LF] 233 Soweit zur Programmatik und zu den grundlegenden Entwicklungsschritten des „primitiven“ Kunstprogramms von Einstein. Über die konkrete Realisierung des 157 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="158"?> 234 Vgl. Haxthausen 2011, 80. 235 Für die Negerplastik sind diese beiden Begründungen evident. Zentral ist der anti-psy‐ chologische, formalistische Impetus des Textes, aber auch der animistische, der letz‐ terem teilweise diametral entgegenläuft. 236 Einstein, Carl. Correspondance 1921-1939 (1993). Meffre, Lilian (Hrsg.). Marseille: A. Dimanche, 139. idealen Kunstwerkes als „Zeichen unmittelbarer menschlicher Wirklichkeit“, über die Funktionsweisen handlungsmächtiger Kunst und zu den Übertragungs‐ mechanismen der Kunst ins Kollektive äussert sich Einstein zeitlebens nur vage. 234 Das rührt einerseits daher, dass er mit seinem Fokus auf Anschauung, Form und Raum die historische, personelle und psychologische Funktion von Kunst wegzudenken versucht, andererseits daher, dass er bei der Beschreibung der Um- und Übersetzungsprozesse der Kunst in der animistisch-mythischen Konzipierung vage bleiben muss. 235 Grundsätzlich operiert Einstein mit einem weiten Begriff von intersubjektiver Handlungsmacht: vergleichbar mit Victor Segalens Exotismus-Begriff führt sein Kunstbegriff über das konkrete künstle‐ rische Objekt und die bildende Kunst hinaus. Dies verdeutlicht prominent der „Kahnweilerbrief “ (1923), in dem Einstein seine Vision einer „Umbildung des Sehens“ auf die Sprache überträgt, und nicht zuletzt die „Zwischenwelt“ seiner kunstkritischen und literarischen Texte selber, die Sprachexperimente zwischen Dichtung und Wissenschaft sind. Im Kahnweilerbrief urteilt er folgenderweise über Sprache und Literatur: Die Litteraten hinken ja so jammerhaft mit ihrer Lyrik und den kleinen Kinosug‐ gestionen hinter Malerei und Wissenschaft her. Ich weiss schon sehr lange, dass nicht nur eine Umbildung des Sehens möglich ist, sondern auch eine Umbildung des sprachlichen Aequivalents und der Empfindungen. […] Der einzige meiner Kollegen, der instinktiv an ähnliches herangeht ist vielleicht mein Freund Gottfried Benn. Nur ist da die Sache noch nicht rausgepellt. 236 158 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="159"?> 237 Eigentlich Little Galleries, 291 Fifth Avenue, Galerie der von Stieglitz gegründeten Photo Secession. Stieglitz war als Fotograf, Kunsthändler, Galerist, Publizist und Verleger tätig. Zeitgleich zu seiner Ausstellung zeigte 1914 auch Robert J. Coady (Washington Square Gallery) afrikanische Kunst. 238 Statuary in Wood by African Savages: The Root of Modern Art, 3. Nov.-8. Dez. 1914. Die Werke kamen ausschliesslich aus dem Bestand des Pariser Kunsthändlers Paul Guillaume. 239 Alfred Stieglitz an Arthur Dove, 5. November 1914. Vgl. www.metmuseum.org/ exhibi tions/ listings/ 2012/ african-art/ america-discovers-african-art. (Stand: 02. 02. 2022). Vor der Ausstellung afrikanischer Kunst zeigte Stieglitz folgende europäische Avantgarde‐ kunst: Matisse (ab 1908), Rodin (ab 1908), Cézanne (ab 1910), Rousseau (1910), Picasso (1911), Picabia (1913), Brancusi (1914). 2.3.5 Die Negerplastik als interkulturelle Kunsttheorie „The Negro artist has been to us a revelator and an innovator. Negro sculpture has been the stepping stone for a fecund evolution in our art.“ Marius de Zayas, African Negro Wood Sculp‐ ture, 1918 „Einige Probleme der neueren Kunst ver‐ anlassten ein weniger leichtfertiges Ein‐ dringen in die Kunst afrikanischer Völker; wie immer verursachte auch hier ein aktu‐ elles Kunstgeschehen, dass man eine ent‐ sprechende Geschichte bilde: in ihrer Mitte erhob sich die Kunst der afrikanischen Völker.“ Carl Einstein, Negerplastik, 1915 Kurzer Szenewechsel - New York November 1914: Der Galerist und Fotograf Alfred Stieglitz bekundet in einem Brief an seinen Freund Arthur Dove, dass die soeben in seiner Galerie 291 237 eröffnete Ausstellung afrikanischer Kunst, welche von Marius de Zayas (s. Motto) konzipiert wurde und die erste seiner Art in Amerika war, 238 die wichtigste Schau seit Gründung seiner Galerie sei. 239 Mit dieser Einschätzung sollte er recht behalten, selbst wenn man die späteren Erfolge der Galerie mit europäischer Avantgardekunst berücksichtigt: Die Ausstellung schafft - zusammen mit der gleich darauffolgenden zu Picasso und Braque, die Stieglitz gemeinsam mit mexikanischer Keramikkunst zeigt - die Voraussetzung für den Blick, mit welchem fortan „primitive“ sowie 159 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="160"?> 240 Vgl. Ebd. Zum Paradigma der Wahlverwandtschaft, resp. der universalistischen Alle‐ gorie der modernistischen „Family of Art“ s. Clifford 1988, 190. primitivistische Kunst, das heisst nach populärer Vorstellung gleichsam jede der Abstraktion verpflichtete Gegenwartskunst, wahrgenommen wurde. Sie ist der richtungsweisende Ausgangspunkt für den amerikanischen interkulturellen Diskurs, der unter dem Paradigma der Wahlverwandtschaft geführt wird. Der amerikanische Diskurs unterscheidet sich insofern deutlich vom europäischen, als dass die Gegenüberstellung aussereuropäischer und avantgardistischer Kunst weniger an den kolonialen und ethnographischen Kontext gebunden ist. Abb. 19: Alfred Stieglitz, Galerie 291, oben: Ausstellung afrikanischer Skulpturen, No‐ vember 1914; unten: Brancusi-Ausstellung, März 1914 […] while the European avant-garde was first exposed to African artifacts in ethno‐ graphic displays tied to colonialism, its counterpart in New York first saw such objects within contexts that underscored their association with abstract art. In New York more than anywhere else, juxtapositions of African art with works by Picasso, Constantin Brancusi, and Francis Picabia, in both galleries and private salons, were systematic, impacting until today the popular imagination to the point of obliterating its original context. 240 160 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="161"?> 241 Kiefer 1994, 183f. Diesen Diskurs der Wahlverwandtschaft vermag eine Fotomontage gut zu illustrieren, die als Echo auf die bahnbrechende Ausstellung von Ende 1914 in der Zeitung The World erscheint (Abb. 20). Die in der in der Galerie 291 alleine gezeigten afrikanischen Objekte werden in dieser Montage nicht losgelöst in ihrer Einzigartigkeit thematisiert. Unter dem Titel „African savages the first futurists“ bringt die Illustration die „primitive“ Kunst gemeinsam mit dem Futurismus als Stellvertreter primitivistischer europäischer Avantgardekunst aufs Parkett: Abb. 20: „African Savages the First Futurists“, Fotomontage zur Ausstellung afrikani‐ scher Kunst in der Galerie 291, The World Magazine, 24. 1. 1915 Erst 1918, vier Jahre nach dieser ersten Bühne für die afrikanische Kunst wird im US-Kontext die erste gewichtige Abhandlung über afrikanische Kunst erscheinen, Marius de Zayas‘ African Negro Wood Sculpture, eine wie Klaus H. Kiefer und andere aufzeigten, konservative und völkisch argumentierende Schrift. 241 Das Zitat aus Zayas Schrift, das als Motto in dieses Kapitel einführt, vermag diese Färbung gut anzuzeigen („[…] Negro sculpture has been the stepping stone for a fecund evolution in our art“). Einsteins Ton in der Negerplastik, so lässt die Gegenüberstellung gut erahnen, ist ein ganz anderer. Bereits zum Zeitpunkt der Ausstellung in New York 1914 hatte er seinen wichtigen Beitrag über die afrikanische Kunst verfasst und darin, wie auch im Zitat sichtbar wird, die Beziehung zwischen den Kunstsprachen mehr oder weniger direkt reflektiert. Inwiefern er in der Negerplastik die Wahlverwandtschaftsfrage diskutiert und die Möglichkeiten des europäischen 161 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="162"?> Künstlers und der „Primitivisierung“ darstellt, soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Versuch, Manifest, „Kunstnachdenken“ Im Zentrum der folgenden Analyse steht das bereits erwähnte, mit „Anmerkung zur Methode“ überschriebene erste von fünf Kapiteln der Negerplastik. Einstein rekapituliert darin primär den europäischen Umgang mit afrikanischer Kunst abseits des „aktuelle[n] Kunstgeschehen[s]“, welches die afrikanische Kunst in ihre Mitte gestellt hat (s. Motto). Nichtwissen, Nichtachtung, Vorurteile und eine verneinende Terminologie bestimmten und bestimmen gemäss Einstein die Beziehung zu Kunst und Kultur Afrikas. Dies sei keine Grundlage für eine Annäherung an die „primitive“ Kunst: Dieser Abstand und die Vorurteile erschweren jegliche ästhetische Einschätzung, ja verhindern sie gänzlich, denn eine solche setzt zunächst ein Angenähert-sein voraus. Der Neger jedoch gilt von Beginn an als der inferiore Teil, der rücksichtslos zu bearbeiten ist, und das von ihm Gebotene wird a priori als Manko verurteilt. (NP, 234) Einstein kritisiert die „unbedingte, geradezu phantastische Überlegenheit“ (NP, 235) des Europäers und konstatiert, dass der „Neger“ und die afrikanische Kunst zu „leichtfertigen Evolutionshypothesen“ (NP, 234) und „bequemen Theorie[n]“ (NP, 235) missbraucht wurden: […] er [der Neger] musste dem einen sich ausliefern, um einen Fehlbegriff von Primi‐ tivität abzugeben, andere wiederum putzten an dem hilflosen Objekt so überzeugend falsche Phrasen auf, wie Völker ewiger Urzeit und so fort. Man hoffte im Neger so etwas von Beginn zu fassen, einen Zustand, der aus dem Anfangen nie herausgelangt. (NP, 234) In diesem letzten Satz erhebt Einstein gleichsam direkt Einspruch gegen einen Primvitivitätsbegriff des „Anfangens“ (Hans Jürgens Heinrichs). Das westliche Urteil über afrikanische Kunst entlarvt er als rassentheoretische Wertung und weist einen rassenbiologischen und -psychologischen Zugang klar zurück. Seine Untersuchung ist der Versuch einer Inversion der eurozentrischen, kolonialen Perspektive. Er verspricht eine kompromisslose Annäherung (s. o., er redet davon, dass die „ästhetische Einschätzung“ ein „Angenähert-Sein“ voraussetze). Bevor Einstein über die „neuere Kunst“ und deren Zugang zur afrikanischen Kunst reflektiert, verortet er die Negerplastik folgendermassen als Gegenbewe‐ gung zu den Theorien, die eine phantastische Überlegenheit des Europäers festschreiben: 162 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="163"?> 242 Einsteins Zaghaftigkeit ist Programm. Er redet von der Negerplastik als einem „Versuch“ (NP, 236) und benutzt Formulierungen wie „er glaube […]“ (NP, 235; 236), „man müsse annehmen […]“ (NP, 235; 235 f.) und „vielleicht“ (NP, 235; 237) etc. 243 Neundorfer, German (2001). Ekphrasis in Carl Einsteins Negerplastik. In: Carl-Ein‐ stein-Colloquium 1998. Carl Einstein in Brüssel: Dialoge über Grenzen. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 49-64. Hier 61. 244 Die Vollkommenheit der afrikanischen Plastik fasst er weiter über folgende Wortfelder: „abgeschlossen“ (NP, 242), „selbständig“ (NP, 240; 241; 242; 246; 247), „rein“ (NP, 245), „unabhängig“ (NP, 247; 251), „unmittelbar“ (NP, 237; 238; 240; 241; 242; 244; 245; 247; 248; 249; 250), wohingegen er die europäische Kunst als „genetisch“. „relativ“, vom Betrachter abhängig etc. bezeichnet. Für exemplarische Gegenüberstellung s. NP, 245. De facto entspricht unser Nichtachtung des Negers lediglich einem Nichtwissen über ihn, das ihn nur zu Unrecht belastet. Vielleicht ergibt sich aus den Bildtafeln folgendes: der Neger ist kein nicht entwickelter Mensch; es ging eine bedeutsame afrikanische Kultur zu Grunde; der heutige Neger entspricht einem möglichen „antiken“ vielleicht wie der Fellache dem alten Ägypter […]. (NP, 237) [Herv. LF] Dies ist aus dem Negativen und wie schon erwähnt äusserst zaghaft formuliert, was mit weiteren Aussagen in der Einleitung korrespondiert. 242 Im weiteren Verlauf des Textes wird Einstein diese Vorsicht aufgeben. Seine Deutungen der Plastik in den Kapiteln „Religion und afrikanische Kunst“ (3), „Kubische Raum‐ anschauung“ (4) und „Maske und Verwandtes“ (5) sind danach eindeutig positiv formuliert - diese Kapitel prägen den Manifestcharakter der Negerplastik. Hier schafft Einstein das Bild der „primitiven“ Kunst als „kategorische[n] Imperativ [der Plastik]“ 243 (German Neundorfer). Das „vollkommene“ (NP, 241; 245) 244 Ideal wird er folgendermassen beschreiben: Der Künstler erarbeitet ein Werk, das selbständig, transzendent und unverwoben bleibt. Dieser Transzendenz entspricht eine räumliche Anschauung, die jede Funktion des Beschauers ausschliesst; ein vollständig erschöpfter, totaler und unfragmentari‐ scher Raum muss gegeben und verbürgt sein. (NP, 241) Oder wie bereits im Zusammenhang mit dem Essay Totalität erwähnt: Es [das Negerkunstwerk] bedeutet nichts, es symbolisiert nicht; es ist der Gott, der seine abgeschlossene mythische Realität bewahrt, worein er den Adoranten einbezieht und auch ihn zu einem Mythischen verwandelt und seine menschliche Existenz aufhebt. […] Das religiöse Negerkunstwerk ist kategorisch und besitzt prägnantes Sein, das jede Einschränkung ausschliesst. (NP, 242) Der „formale Realismus“ (NP, 242), so stellt es Einstein dar, ist das Ideal einer vom Subjekt unabhängigen absoluten und „objektiven“ Kunst. Die Zitate sind 163 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="164"?> 245 Kiefer 1994, 147. Kiefer legt dieses „aufs Ganze“ gehen folgendermaßen dar: „Weil er [der Exotismus] das Eigene nicht wirklich ‚verfremden‘ kann und will, es nur ‚verkleidet‘, kommt es notwendigerweise zu ‚halben‘ Lösungen. Primitivismus dagegen […] nimmt vom Eigenen Abstand, so dass das Fremde tiefer in die kulturelle Substanz eindringt, ja sie transformieren kann. […] Man kann Primitivismus als Niedergang oder Verfall oder aber als Reinigung oder Erneuerung werten und beschreibt damit in beiden Fällen einen Strukturwandel, der im Mikrobereich mit Archaismen und Barbarismen ansetzt, mit ,einfachen Formen’ aller Art. […] Entscheidend ist jedoch, dass Primitivismus ,aufs Ganze‘ geht, dass er epochenbildend wirkt oder wirken will.“ 246 Vgl. bspw. Einsteins Argumentation NP, 243, wo er die religiöse Dimension der afrikanischen Skulpturen abhandelt. Nachdem er in äusserster Knappheit beschreibt er, dass die afrikanische Plastik religiös bestimmt sei, schreibt er: „Zunächst ist die formale Beschaffenheit der Anschauung, die afrikanischer Plastik zugrunde liegt, zu untersuchen. Wir können nun gänzlich von dem metaphysischen Korrelat absehen, da wir es als selbstverständlichen Mitfaktor auszeichneten und wissen, dass gerade aus dem Religiösen eine abgelöste Form gefolgert werden muss.“ exemplarisch für den Modus, in den Einsteins Text einbiegt: denjenigen einer radikalen Durchsetzung seiner Versuchsanordnung der Inversion. Nach Einfüh‐ rung und erstem Kapitel wagt er eine Darstellung ex positivo, welche in ihrer Eindeutigkeit und Ausschliesslichkeit den Vorgaben und Vorbehalten der „An‐ merkungen“ widerspricht. In den „Anmerkungen“ schreibt Einstein: „[…] Drum erscheint der Versuch, etwas über afrikanische Kunst auszusagen, als ziemlich hoffnungslos“ (NP, 236). Dessen ungeachtet folgt nach der Konstatierung der Unmöglichkeit seines Unternehmens sein Versuch - welcher ganz klar nach Klaus H. Kiefers Definition als primitivistischer Akt „,auf ’s Ganze‘“ zu gehen beschrieben werden kann. 245 Einstein präsentiert nun die Skulpturen ihrerseits als phantastisch überlegen. Sie sind das Ideal seines utopischen „Paradoxen Sehens“ (Berning). Die Grundlage für seinen Versuch des ,trotzdem’ oder ,trotz allem‘ sind die Skulpturen selbst: „Ich glaube, sicherer als alle mögliche Kenntnis ethnogra‐ phischer usw. Art gilt die Tatsache: die afrikanischen Skulpturen! “ (NP, 236), schreibt Einstein. Die Beweisführung über deren ästhetischen Wert, welche zum Teil sehr abenteuerlich angelegt ist 246 , führt er über die Werke selbst, über die Analyse ihrer Form und der „Gesetze der Anschauung“ (NP, 237). Seine Erklä‐ rungen, die er im Anschluss an obiges Zitat („die afrikanischen Skulpturen! “) liefert, geben einen guten Eindruck davon, wie er seine Perspektive versteht und sein Verfahren rechtfertigt: Man wird das Gegenständliche, respektive die Gegenstände der Umgebungsassozia‐ tionen ausschalten und diese Bildungen als Gebilde analysieren. Man wird versuchen, ob sich aus dem Formalen der Skulpturen die Gesamtvorstellung einer Form ergibt, die denen über Kunstformen homogen ist. Eines jedoch wird unbedingt zu befolgen, 164 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="165"?> 247 Konsequenterweise legt Einstein seine Position, wie hier besonders gut beobachtet werden kann, in der unbestimmten dritten Person Singular dar. 248 Zur Gesetzmäßigkeit zwischen Anschauung und Einzelwerk konkretisiert Einstein: „[…] die Einzelform umschließt die gültigen Elemente der Anschauung, ja sie stellt sie dar, da diese nur als Form vorgestellt werden können. Der Einzelfall hingegen berührt das Eigentümliche des Begriffs nicht, vielmehr verhalten sich beide dualistisch zueinander. Gerade die wesentliche Übereinstimmung der allgemeinen Anschauung und der Realisierung machen eben das Kunstwerk aus. Weiter bedenke man: das Kunstschaffen ist ebenso ‚willkürlich‘ wie die notwendige Neigung die einzelnen Formen der Anschauung zu Gesetzen zu verknüpfen; denn in beiden Fällen wurde ein Organisieren angestrebt und erreicht“ (NP, 237). Hier ist die abstrakte „Zwischenwelt“ des Einsteinschen Analysemodus gut sichtbar. In der Beschreibung der Übertragung der Anschauung auf das Einzelwerk und der Mechanismen von Sinnlichem und Unsinnlichen bleibt Einstein auch hier vage, respektive muss es zwangsläufig sein. eines zu vermeiden sein: man halte sich an die Anschauung und schreite innerhalb ihrer spezifischen Gesetze fort; nirgendwo aber unterschiebe man der Anschauung oder dem aufgespürten Schöpferischen die Struktur der eigenen Überlegung: man unterlasse das Interpolieren bequemer Evolutionen und stelle den Denkvorgang nicht dem schöpferischen Kunstgeschehen gleich; man begebe sich des Vorurteils, seelische Vorgänge könnten einfach mit umgekehrten Vorzeichen versehen werden, und Kunstnachdenken kontrastiere einfach dem Kunstschaffen; vielmehr ist jenes ein generell verschiedener Vorgang, der gerade die Form und ihre Welt überschreitet, um das Kunstwerk dem allgemeinen Geschehen einzuordnen. (NP, 236 f.) [Herv. LF] Einstein liefert hier die Dos and Don’ts seiner Strategie der Annäherung an die afrikanischen Kunstwerke. Er skizziert eine entpersonalisierte und - psychologisierte, von der „Anschauung“ geleitete Analyse. 247 Er formuliert auch hier wiederum ex negativo: man solle innerhalb der „spezifischen Gesetze“ dieser Kunst fortschreiten und das „Kunstnachdenken“ diesen unterstellen und nicht umgekehrt; die „Gesetze der Anschauung“ hätten nichts mit seelischen Vorgängen und Vorurteilen des Betrachters zu tun, sie seien jedoch auch unabhängig von den Normen und Funktionsweisen des konkreten materiellen Kunstschaffens, denn sie bezögen sich nicht auf ein Einzelwerk. 248 Einsteins auf Form und Anschauung ausgerichtete Leitmarken der Analyse sind streng und klar formuliert. Und dennoch sind sie nicht eng gesteckt, wie vor allem sein ambivalenter Gebrauch des „Kunstnachdenkens“ nahelegt. In der Anleitung aus dem Negativen werden die Fallstricke dieses Kunstnachdenkens deutlich gemacht und dieses gleichsam negativ gezeichnet, doch ist ebenfalls klar, dass die Analyse der Anschauung der afrikanischen Kunst ein solches Kunstnach‐ denken bedeutet. Der letzte Abschnitt des Zitats macht jedenfalls deutlich, dass Kunstnachdenken zwangsläufig nicht eng abgesteckt werden kann: Mit der 165 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="166"?> 249 Da die Gegenwartskunst explizit über deren Rezeption afrikanischer Kunst anvisiert wird, ist der Gebrauch des Oberbegriff Primitivismus gerechtfertigt. Definition von „Kunstnachdenken“ als einem „Vorgang, der gerade die Form und ihre Welt überschreitet, um das Kunstwerk dem allgemeinen Geschehen einzuordnen“ ist schliesslich die Analyse der Anschauung und der Form weit gefasst. Die Ausschaltung der „Umgebungsassoziationen“ heisst nicht, dass eine Einordnung im „allgemeinen Geschehen“ ausbleiben muss. Mit Sicherheit lässt sich diese Bemerkung auch als Rechtfertigung des einordnenden Methodenka‐ pitels („Anmerkungen“) verstehen. Im Folgenden interessiert uns ein spezifischer Quotient dieser Einordnungen Einsteins ins allgemeine Geschehen: seine Gegenüberstellung von „primitiver“ und primitivistischer Kunst. Seine Darstellung des „formalen Realismus“ der afrikanischen Plastik hingegen kann im Weiteren nur noch indirekt thematisiert werden. „Nicht durch Vergleiche stören“. Primitivismuskritik und idealer Primitivismus Die Negerplastik ist ein Mischwesen: beim Versuch, die afrikanische Kunst aus dem Positiven zu charakterisieren, muss Einstein immer wieder aus dem Nega‐ tiven argumentieren. Grundsätzlich nimmt die Theorie afrikanischer Plastik ihre Konturen aus der Gegenüberstellung mit der „malerischen“ europäischen Tradition an. Einsteins Argumentation: Die europäische Kunst ist qua ihrer Konzentration auf die mimetische Abbildung und den Betrachter nicht mehr fähig, Raum und Form nach Art der afrikanischen Plastik wahrzunehmen und darzustellen. Diese historische und ,personelle’ Ausgangslage (hier die europäi‐ sche Kunsttradition dort die afrikanische Plastik) verkompliziert sich mit Blick auf den Primitivismus als Dritter Partei im Bund. Wie schon erwähnt sind die „neuen Tendenzen“ in der Gegenwartskunst im Text nirgends begrifflich geschärft und trotzdem anspielungsreich ausdifferenziert. Aus den „Anmer‐ kungen“ geht hervor, dass die „neue Beziehung“ der „neueren Kunst“ (NP, 235) zur afrikanischen Kunst der Anhaltspunkt seines Versuchs über die afrikanische Plastik bildet. Die Überlegungen zur neuen interkulturellen Beziehung dieser Generation, die im Folgenden bewusst unter dem Stichwort „Primitivismus“ ge‐ fasst wird, 249 sind wie die Grundsatzüberlegungen zur Problematik der negativen Bewertung afrikanischer Kunst kein blosses Vorgeplänkel und nicht von der formalistischen Analyse zu trennen. Einstein schreibt: „Die kurze Darstellung afrikanischer Kunst wird sich den Erfahrnissen neuerer Kunst nicht entziehen dürfen, zumal das geschichtlich Wirkende stets Folge der unmittelbaren Gegen‐ 166 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="167"?> wart ist“ (NP, 235). Hier macht er seine Vorstellung einer von der Gegenwart aus in den Blick genommenen Geschichte explizit. Indem er versucht, die Folgen des gegenwärtigen Zugriffs auf die afrikanische Kunst abzumessen, argumentiert Einstein von diesem geschichtsphilosophischen Standpunkt aus. Er impliziert dabei, dass die neue Beziehung der Gegenwartskunst seine Darstellung beein‐ flusst und formuliert seine Theorie als selbstreflexive Positionierungsarbeit. Dennoch hält er vorerst nach der obigen Bemerkung fest: „Jedoch sollen diese Beziehungen erst später entwickelt werden, um auf einem Gegenstand zu verharren und nicht durch Vergleiche zu stören.“ Einsteins formalistisches Programm verträgt sich nicht mit der historisch-kritischen Beziehungsanalyse. Mit dieser Aussage trennt er die Reflexion der interkulturellen Beziehung vom Gegenstand seiner Untersuchung ab. Doch Einstein hält diesen Fahrplan zwangsläufig nicht ein, er wartet nicht auf später. Die Negativfolie der europäi‐ schen künstlerischen Konvention sowie der primitivistische Zusammenhang sind immer präsent. Das Gebot „nicht durch Vergleiche zu stören“ bezeichnet aber wiederum den idealen Raum, in die das „Kunstnachdenken“ münden soll. Die Entwicklung der neuen Beziehung zwischen Gegenwartskunst und afrikanischer Kunst schildert Einstein in den „Anmerkungen“ zu Beginn wie folgt: Einige Probleme der neueren Kunst veranlassten ein weniger leichtfertiges Eindringen in die Kunst afrikanischer Völker; wie immer verursachte auch hier ein aktuelles Kunstgeschehen, dass man eine entsprechende Geschichte bilde: in ihrer Mitte erhob sich die Kunst der afrikanischen Völker. Was vorher sinnlos erschien, gewann in den jüngsten Bestrebungen des bildenden Künstlers Bedeutung; man erriet, dass kaum irgendwo bestimmte Raumprobleme und eine besondere Weise des Kunstschaffens in dieser Reinheit gebildet waren, wie bei den Negern. Es ergab sich; das bisher gefällte Urteil über den Neger und seine Kunst bezeichnete eher den Richtenden als das Objekt. Der neuen Beziehung entsprach alsbald eine neue Leidenschaft; man sammelte Negerkunst als Kunst; passioniert, das ist: in berechtigter Aktivität bildete man aus den alten Materialien ein neu gedeutetes Objekt. (NP, 235) [Herv. LF] Mit einem ironischen, grob skizzierenden und an Märchen gemahnenden Tonfall [Personalpronomen, leicht überbetonte Präteritumformen („erhob sich“, „es ergab sich“)] erzählt Einstein von der Neudeutung der Objekte. Er besteht auf einer vagen Grundsatzdiskussion und fokussiert auf das „Raumproblem“ als Scharnier für die neue Beziehung. Den Bruch gegenüber den kolonialen Begriffen von „primitiver“ Kunst und Kultur unterstreicht er, hält jedoch lakonisch fest, dass man sich „wie immer“ eine „entsprechende Geschichte bilde“ und die Neudeutung afrikanischer Kunst mehr über den Richtenden als das 167 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="168"?> Objekt aussage. Über die konkrete Aneignung schreibt Einstein: „in berechtigter Aktivität bildete man aus den alten Materialien ein neu gedeutetes Objekt“. An diese Beobachtung wird er später anschliessen, wenn er zum Ende des zweiten Kapitels („Das Malerische“) nochmals auf die neuesten Entwicklungen eingeht. Hier wird Einstein ein wenig konkreter und formuliert vor allem positiver: Vor wenigen Jahren erlebten wir in Frankreich die neubestimmende Krisis. Durch eine ungeheure Anstrengung des Bewusstseins erkannte man die unsachliche Fraglichkeit des Verfahrens [einer auf den Betrachter ausgerichteten Raumkonstruktion]. Einige Maler verfügten über genügende Kraft vom mechanisch weiterrutschenden Hand‐ werk abzusehen; losgelöst von den üblichen Mitteln untersuchten sie die Elemente der Raumanschauung, was denn diese erzeuge und bestimme. Die Ergebnisse dieser wichtigen Mühe sind hinreichend bekannt. Zugleich entdeckte man notwendig die Negerplastik und erkannte, dass sie isoliert die reinen plastischen Formen gezüchtet hat. (NP, 239 f.) [Herv. LF] Er unterstreicht die aufklärerischen und erkenntnistheoretischen Aspekte der anti-mimetischen Bestrebungen der primitivistischen Gegenwartskunst und betont den Bruch zur Tradition. Doch auf diese Zeilen folgt eine erstaunliche Relativierung der Heldengeschichte: Üblicherweise bezeichnet man die Bemühungen dieser Maler als Abstraktion, wie‐ wohl sich nicht leugnen lässt, dass nur mit einer ungeheuren Kritik der verirrten Umschreibungen man sich einer unmittelbaren Raumauffassung nähern konnte. Dies jedoch ist wesentlich und scheidet die Negerplastik kräftig von solcher Kunst, die an ihr sich orientierte und ihr Bewusstsein gewann; was hier als Abstraktion erscheint, ist dort unmittelbar gegebene Natur. Die Negerplastik wird sich im formalen Sinn als stärkster Realismus erweisen. Der heutige Künstler agiert nicht nur für die reine Form, er spürt diese noch als Opposition seiner Vorgeschichte und verwebt seinem Streben das allzu Reaktive; seine nötige Kritik verstärkt das Analytische. (NP, 240) [Herv. LF] Hier spitzt sich die Aneignungsfrage und Frage nach der interkulturellen Beziehung zu. Einstein redet von „Orientierung“ an der afrikanischen Kunst und davon, dass die neuere Kunst „ihr Bewusstsein gewinnen“ konnte. Diese Formulierung ist der Höhepunkt der positiven Formulierungen in der Verhält‐ nisanalyse. Einstein unterstreicht, dass eine gelungene Annäherung jenseits von Physis, Raum und Form im Bewusstsein gründet und Kritikbereitschaft voraussetzt. Er fährt eine zweigleisige Analyse: verwirrend und geschickt kombiniert er die Beziehungsanalyse mit einer Kritik am Abstraktionsbegriff der Kunstkritik. Dieser mangelt es gemäss Einstein im Gegensatz zur primitivisti‐ schen Gegenwartskunst an Bewusstsein für den „Realismus“ der afrikanischen 168 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="169"?> Plastik. Doch wie fährt Einstein fort? Er operiert nichtsdestotrotz mit dem Abstraktionsbegriff und weist den Primitivismus in die Schranken: „[…] was hier als Abstraktion erscheint, ist dort unmittelbar gegebene Natur“, schreibt er. Einstein argumentiert, dass der Primitivismus nicht „reine Form“ sein könne. Er sei zwangsläufig „nicht nur“ reine Form, da er sich „analytisch“ und „allzu reaktiv“ aus einer Oppositionshaltung manifestiere. Die Unmittelbarkeit der afrikanischen Plastik, welche Einstein in den darauffolgenden Kapiteln (3-5) beschreibt, ist unerreichbar. Einsteins Bemühung um Begriffsklärung und Beziehungsdefinition kulmi‐ niert hier also in einer klassischen Gegenüberstellung von Natur und Kultur. Es ist auffällig, dass er dieses polare Schema an keiner Stelle so stark macht wie hier, wo er im Anschluss an die „Anmerkungen“ und den polemischen Parcours durch die europäische Kunsttradition des ersten Kapitels abschliessend die Frage der Möglichkeit der Annäherung und Anverwandlung „primitiver“ Kunst im Primitivismus klärt. Einstein unterstreicht, dass der primitivistische Standpunkt keine Assimilation, kein „Going native“ erlaube. Die Bemühungen um die „reine Form“ würden zwangsläufig über das Ziel hinausschiessen. Aus der Passage um Natur und Kultur spricht letztlich dieselbe Primitivismuskritik wie in den Kunstkritiken der Vorkriegszeit. Einstein redet von einem „allzu [r]eaktive[n] Streben“, einer oberflächlichen, simplifizierenden Haltung, die von einer notwendigen Kritikbereitschaft zeugt, aber fehlschlägt. Einstein umkreist hier also die Möglichkeiten und Perspektiven des Primitivismus und rückt (neben den technischen Fragen nach Aufgabe der Zentralperspektive und Be‐ trachterfixierung) die Justierung von Nähe und Distanz zur „primitiven“ Kunst - die interkulturelle Reflexion - ins Zentrum. Zugespitzt lässt sich sagen, dass Einstein mit den weiteren Kapiteln der Negerplastik, in denen er seine Theorie und Praxis des „Paradoxen Sehens“ zwischen Nähe und Distanz entwickelt - ähnlich wie Segalen für den Exotismus - mit einer positiven Neudefinierung der Vorgaben des Primitivismus experimentiert. Zum Vorwurf der kolonialistischen avantgardistischen Aneignung afrikani‐ scher Kunst, spezifisch zur Naturalisierung der afrikanischen Plastik in der Negerplastik sei im Hinblick auf diesen künstlichen Primitivismus eines „Pa‐ radoxen Sehens“ nochmals unterstrichen, dass Einstein zwar den klassisch primitivistischen Kunstmythos bedient, der Natur gegen Kultur erhebt, ihn aber konstant unterläuft. Forscher: innen wie Kimberly A. Smith präzisieren beispielsweise: „[…] the primitive in Einstein’s schema promises not so much a nostalgic return to atavistic origins as a radical refiguring of a communal 169 2.3 Primitivismuskritik und Utopie der Kunst - Carl Einsteins Negerplastik (1915) <?page no="170"?> 250 Smith 2014, 19. 251 Schon in der Negerplastik ist Einsteins Syntheseleistung eines kritischen Primitivismus angelegt, den Wolfgang Struck für Einsteins Afrikanische Plastik folgendermassen beschreibt: „Es [Afrikanische Plastik] ist eine vorsichtige Synthese aus Ethnologie, Kunstwissenschaft und ästhetischer Anschauung, auf die Einstein nun eine schwache Hoffnung setzt, dem Phänomen der afrikanischen Kunst gerecht zu werden, und das heisst den Fragmenten eines verschwundenen Lebens - genauer: eines gewaltsam zerstörten, und zwar durch eben die Kräfte zerstörten, die jetzt zu seiner Restitution aufgeboten werden sollen - wieder einen Resonanzboden zu verschaffen“, vgl. Struck 2010, 187. 252 S.o., vgl. Kap. 2.3.4. 253 BA, Bd. 2, 62. present“ 250 . Bei der Negerplastik handelt es sich um einen kritischen Primiti‐ vismus, einer Syntheseleistung ähnlich der ethnologisch angelegten späteren Afrikanischen Plastik, 251 welche jedoch tatsächlich primär auf eine Theorie der Gegenwartskunst fokussiert. Sie ist ein theoretischer Beitrag zur Beurteilung des europäischen Primitivismus und der Versuch, die primitivistische Kunst über die interkulturelle Frage neu zu denken. Wenn Einstein im vierten Teil der Negerplastik („kubische Raumanschauung“) schreibt, Form ist eine Gleichung, wie unsere Vorstellung; diese Gleichung gilt künstlerisch, wenn sie ohne Beziehung auf Fremdes und unbedingt aufgefasst wird. (NP, 245) oder: […] als ginge Kunst irgendwie vom Modell aus und abstrahiere davon. (NP, 248) so hallen in diesen auf den ersten Blick harmlosen formtechnischen Abhand‐ lungen die grundlegenden - primitivistischen - Fragen nach interkultureller Anverwandlung und Aneigung aus dem Methodenteil nach. Auch in diesen Passagen zeigt sich: Einsteins ästhetisches sowie interkulturelles Programm baut auf einer Haltung radikaler analytischer Differenz. Einstein arbeitet mit ähnlichen Strategien wie Segalen, er übersteigert das Exotische respektive „Primitive“ und experimentiert gleichsam mit einem monströsen Kunstnach‐ denken. Letzten Endes ragt auch bei ihm die ästhetische, universelle Ebene (der Formdiskussion) über die interkulturelle Ebene hinaus. Davon zeugt nicht nur Einsteins Kopplung von Kunst und Freiheitsbegriff, welche mit dem Zitat „Die Frage der Kunst ist identisch mit der Frage nach der menschlichen Freiheit, nicht mehr und nicht weniger“ 252 illustriert wurde, sondern auch seine berühmte Primitivismuskritik aus den 1930er Jahren, die häufig mit dem Satz „Hilflos negert der Unoriginelle“ 253 auf den Punkt gebracht wird. Positiv gewendet (etwa: „Souverän negert der Originelle“) zeigt der Satz an: Künstlerische Originalität 170 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="171"?> 254 Bezüglich der Bezeichnungs- und Generalisierungsproblematik halte ich mich an Kimberly A. Smith, die mehrfach betont, dass der Begriff des Expressionismus und im Besonderen derjenige der „expressionistischen Wende“ in der Kunstgeschichtsschrei‐ bung „slippery but potentially instructive“ sind. 255 Die Schriften Worringers (Abstraktion und Einfühlung, 1908; Formprobleme der Gotik, 1911), Raphaels (Von Monet zu Picasso, 1913), Burgers (Cézanne und Hodler. Einführung in die Probleme der Malerei der Gegenwart, 1913) u. a. prägen das expressionistische Kunstschaffen direkt. Erstmals in akademische Curricula aufgenommen werden die Expressionisten 1912 bei Fritz Burger. als Eigenständigkeit und Souveränität verstanden entscheidet über den Wert der Kunst und nicht Originalität, die aus einer Situation der Abhängigkeit entsteht und auf Originalität als Ursprünglichkeit zielt. Von dieser Überzeugung geprägt ist auch der monströse primitivistische Entwurf des „Paradoxe Sehens“ in der Negerplastik. Wichtig ist: Mit seinem Ansatz einer differenzierten interkultu‐ rellen Analyse der Anverwandlung im Primitivismus überflügelt Einstein die wahlverwandtschaftlichen Synthesen zu Primitivismus und „primitiver“ Kunst seiner Zeit bei weitem. 2.4 Rückblick und Ausgangspunkt für die Analyse der literarischen Texte Nachdem im ersten Kapitel mit dem Blick auf Gauguins „Going native“ der „Ursprung der primitiven Präsenz“ (Heinrichs) in der Kunst Anfang des 20. Jahr‐ hunderts analysiert und das Dilemma und die Tragweite des „Going native“ zwi‐ schen wirklichkeitsferner Projektion, Kolonialismus und künstlerischer inter‐ kultureller Utopie aufmerksam gemacht wurde, hatte das darauffolgende zweite Kapitel zum Ziel, dem Zentrum dieser Studie entgegenzuarbeiten: den literari‐ schen primitivistischen Künstlerfiguren des Expressionismus. Der Exkurs zu Ju‐ lius Meier-Graefe diente dazu, die Voraussetzungen einer neuen Kunstkritik und die populäre Rezeption primitivistischer Kunst zu verdeutlichen. Anstelle darauf sogleich den Blick auf die Kunsthistoriker der expressionistischen Generation 254 und auf deren Auseinandersetzung mit der primitivistischen Gegenwartskunst zu richten - auf Einstein und gemässigtere und konventioneller agierende Kunsthistoriker, die das expressionistische Jahrzehnt prägten (etwa Wilhelm Worringer, Max Raphael oder Fritz Burger) 255 - wurde mit der Ästhetik des Diversen von Victor Segalen direkt der Weg einer alternativen Kunstkritik ein‐ geschlagen. Die Ästhetik des Diversen wurde als Kunstkritik vorgestellt, für die die Frage nach der Unterscheidung zwischen Exotismus und Primitivismus und die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen „Going native“ zentral ist. Ver‐ 171 2.4 Rückblick und Ausgangspunkt für die Analyse der literarischen Texte <?page no="172"?> 256 Lethen, Helmut (1998). Masken der Authentizität. Der Diskurs des „Primitivismus“ in Manifesten der Avantgarde. In: Manifeste: Intentionalität. Van den Berg, Hubert (Hrsg.). Avantgarde Nr. 11. Amsterdam, 227-258. S. 250. Lethen fokussiert Picasso und Einstein, in deren künstlerischer bzw. literarisch-kritischer interkultureller Praxis er eine neue Dimension des primitivistischen Diskurses jenseits einer konventionellen primitivis‐ tischen „normativen Inversion“ ( Jan Assmann) ausmacht. Picassos Demoiselles liest er mit Klaus Herding als Bild, das „mit den Mythen der Artisten, so auch mit dem Kult der Primitiven [spielt]. Das sind die Folgen: - der Hunger nach archaischen Tiefenstrukturen - sei es ursprüngliche Vitalität, sei es barbarischer Ritus - trifft im Bordellbild: auf Flächen! “ (Hier 254). 257 Vgl. Archer-Straw 2000, 60ff. 258 Vgl. Lethen 1998, 250. wandt damit zeigte sich im Folgenden die Kunstkritik Einsteins. Die Negerplastik ist ein expressionistischer Text, der eine primitivistische Ästhetik propagiert und dies entsprechend der Segalenschen Strategie mit einer grundsätzlichen Exotismus- und Primitivismuskritik tut. Die Frage nach der Möglichkeit eines „Going native“ des europäischen Künstlers wird in der Negerplastik zentral verhandelt und als unmögliches Ziel beschrieben. Vergleichbar mit Segalens Neubesetzung des Exotismusbegriffs, so wurde argumentiert, kann auch die Negerplastik als primitivistischer Gegenentwurf, gleichsam als Versuch eines „Going native“ ,trotz allem‘ gelesen werden. Im Weiteren geht es darum, einen Ausgangspunkt für den spezifischen kunstkritischen Diskurs in der expressionistischen Literatur zu markieren. Hierfür werden die wichtigsten Eckpunkte der Ausdifferenzierung des primi‐ tivistischen Diskurses zwischen Bildender Kunst, Kunstgeschichte und (litera‐ rischer) Kunstkritik nochmals anhand einer Zusammenfassung von Einsteins Zwischenposition nachgezeichnet. Einstein und die Autoren der expressionistischen Künstlertexte sind Teil eines Primitivismus-Diskurses, der über die Bemühungen der Wegbereiter des Primitivismus in der Bildenden Kunst hinausgeht. Sie sind Teil eines Diskurses, der sich grundsätzlich von der künstlerischen Praxis in die Kunstkritik ver‐ schiebt. Helmut Lethen redet davon, dass bereits ab 1906 „Experimente[n] in der Kunstwelt“ gezeigt hätten, „[…] dass der Primitivismus-Diskurs sich länger in der Kunstkritik hielt als in der künstlerischen Praxis. Der Diskurs war schon in Picassos Bildern vor 1914 zerbrochen.“ 256 Während der Primitivismus nach dem Krieg primär in der Populärkultur (und dort meist ins Exotische zurückbuchs‐ tabiert) weiterlebt (Variété, Musik, etc.) 257 und von der Kunstgeschichte nur sehr langsam ins Blickfeld genommen wird, prägen die Kunstkritik und die Literatur die Reflexion über die Voraussetzungen des Primitivismus. 258 172 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="173"?> 259 Meffre, Liliane (2002). Carl Einstein 1885-1940. Itinéraires d’une pensée moderne. Paris: Presses de l’Université de Paris Sorbonne, 56. 260 Smith 2014, 28. 261 Smith 2014, 23. Diese Skepsis, die er in den frühen Kunstkritiken und auch der Negerplastik deutlich ausspricht, zieht sich durch das gesamte kunsthistorisch-kritische Werk Einsteins. Auf seinem „champ d’action“ 259 der Kunstkritik verhandelt Einstein über expressionistische und primitivistische Kunst und steht eigentümlich quer zum prägenden expressionistischen Netzwerk in bildender Kunst, Literatur und Kunstgeschichte der 1910/ 1920er Jahre. Die Mechanismen und den Kitt dieses Netzwerkes beschreibt Kimberly Smith in ihrer Studie zur expressionistischen Wende in der Kunstgeschichte folgendermassen - mit dem Fokus auf die Sinergien zwischen Kunstgeschichte und bildender Kunst: Reviewing the relationship between Expressionist art and an expressionist turn in art history, then, a network of connections was at play between these two modern modes of understanding the spiritual expressive content of form. Sometimes it seems that the theories of abstraction or Geistesgeschichte proposted by art historians shored up an Expressionist artistic practice that would otherwise have been largely unitelligible and indefensible in the eyes of the contemporary beholder. But the relationship worked in reverse as well, with the art or the Expressionists providing a lens that scholars could turn back onto the art of the past, urging them to reconsider styles that might previously have been dismissed as failed art, and to look for signs of a spiritual drive that could explain those forms that strayed from the classically mimetic directives of both idealized and realist illusionism. 260 Smith präsentiert die expressionistische bildende Kunst und Kunstgeschichts‐ schreibung als zwei Seiten eines modernen Verständnisses „spirituell expres‐ siver“ und unmimetisch-abstrakter Kunstformen der Gegenwart und Vergan‐ genheit. Zu diesem sich gegenseitig stützenden und verbalisierenden Netzwerk trägt die Literatur das ihrige bei, gerade Einsteins Beispiel macht dies deutlich. Mit seiner sich zwischen Analyse, Praxis, Literatur und Theorie bewegenden Kunstkritik hält er jedoch Distanz zum Diskurs. Grundsätzlich steht er den zeitgenössischen Strömungen, insbesondere den Entwürfen auf spiritueller Basis, zutiefst skeptisch gegenüber. 261 Zu Einsteins kritischem Urteil über den Expressionismus, das eng an seine primitivistische Grundsatzkritik gebunden ist: Er wirft den expressionistischen Künstlern leeren Mystizismus vor und zielt explizit auf deren Vision und Adap‐ tion „primitiver“ Kunst. Wiederholt verkündet er das Ende des Expressionismus und verlautet 1921 im Publikationsjahr seiner Afrikanischen Plastik polemisch, 173 2.4 Rückblick und Ausgangspunkt für die Analyse der literarischen Texte <?page no="174"?> 262 BA, Bd. 2, 452. Bei Einstein ist das Ende des Expressionismus ein wiederkehrender Topos, vgl. bspwe. Einstein, Carl (1923). Otto Dix, in: Das Kunstblatt 4, 97-99, s. ebd., 264-267. Autoren wie Paul Westheim oder George Grosz, mit dem Einstein 1920 das Zeitschriftprojekt Der blutige Ernst verfolgt, bedienen sich ebenfalls dieses Topos. 263 BA, Bd. 5, 241. 264 Zur positiven Lesart dieser Passage trägt insbesondere massiv bei, dass Einstein Paul Klee, den er in der Schrift später singulär behandelt, als Richtungsweiser und Vermittler zur Gruppe hinzuzählt. dass die „Afrikanologie“ als „Dependance des verstorbenen Expressionismus“ 262 ausgespielt habe. Sein Todesurteil für einen wohl nicht nur auf die bildende Kunst bezogenen Expressionismus bindet er hier explizit an einen ironisch als „Afrikanologie“ bezeichneten Primitivismus. Diese Aussage bedeutet keines‐ wegs ein Todesurteil für den kritischen Primitivismus Einsteinscher Prägung. Im Gegenteil lässt sich die Aussage auch als Anzeige der Übernahme des primitivistischen Diskurses lesen. Betrachten wir einen Ausschnitt aus der dritten Auflage der Kunst des 20. Jahrhunderts, zehn Jahre nach diesem Urteil über den Expressionismus, so wird Einsteins konstante kunstkritische Position gegenüber der expres‐ sionistisch/ primitivistischen Gegenwartskunst deutlicher. Hier bezeichnet er rückblickend den Expressionismus des Blauen Reiters als „Mitte der neueren Kunstgeschichte“ und schreibt wie folgt über die wesentlichen expressionisti‐ schen Errungenschaften: Endlich stellen die Deutschen das Problem der autonomen Malerei und der frei entwickelten, halluzinativen Prozesse. […]: der „blaue Reiter“ war eine Gemeinschaft von Männern, die der deutschen Kunst ein durchaus neues Ziel setzten und begriffen hatten, dass Malerei, wenn überhaupt sie Berechtigung besitze, anderes und mehr sein sollte als pures Handwerk und Geschicklichkeit der Superaffen. Nun war der Expressionismus, der mit feigem Zierat, überkommener Ordnung und unzureichender Variante sich begnügt hatte, beendet. […] Rücksichtsloser als die anderen Deutschen versuchten Marc, Kandinsky und Klee in die Bilder eine abgeänderte menschliche Hal‐ tung zu tragen. Endlich fasste man Mut, hemmende und verbrauchte Übereinkünfte zu zerstören, und wagte entdeckte Gesichte rückhaltlos aufzuzeichnen. Man versuchte das Prozesshafte des inneren Sehens festzuhalten, dynamisierte das Bild, damit ein visionäres Geschehen unmittelbar im Bild selber handle. Der Maler war nicht mehr Darsteller oder Arrangeur, sondern pures Medium der Gesichte.“ [Herv. LF] 263 Einstein urteilt hier erstaunlich milde über die subjektive, emotionale und psy‐ chologische Dimension expressionistischer Kunst. Die Milde dieses Resümées, das Einstein für die dritte Überarbeitung der Kunst des 20. Jahrhunderts neu ver‐ fasst, lässt sich mit seiner damaligen surrealistischen Phase erklären. 264 Doch die 174 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="175"?> 265 Smith 2014, 26f. 266 BA, Bd. 5, 248. „Die Primitiven lebten in vorgeformter geistiger Welt. Maler wie Marc und Kandinsky wollen diese aus plötzlichem Ich erschaffen und erschöpfen sich bereits im geistigen Vorspiel.“ 267 Ebd., 250. 268 Smith 2014, 29; 21ff. Leser: innen dieses Resümées realisieren bald, dass dieser weite und freundliche historische Bogen, den Einstein hier zeichnet, keineswegs eine Neubeurteilung des Expressionismus bedeutet. Einstein lässt seine grundsätzliche Kritik am Expressionismus nicht fallen und ändert sein negatives Urteil über die einzelnen Künstler nicht. Smith schreibt zu dieser Einführungspassage: Einstein softens his earlier attitude towards Expressionism here, recognizing the Blaue Reiter’s desire to make painting of authentic spiritual content that moved beyond the mechanics of mimeticism, yet not even at this point could he called a convert to the cause. 265 Mit der Entdeckung eines alternativen Sehens und mit der Dynamisierung des Bildes weist der Expressionismus in die richtige Richtung entgegen Konvention und Tradition, zeigt aber, so die wiederholte Grundsatzkritik Einsteins, keine konsequente Haltung. Dass der Künstler nicht mehr als „Darsteller“ oder „Arrangeur“, sondern als „pures Medium der Gesichte“ agiert, ist, wie er schreibt, ein Fortschritt, jedoch unzureichend. Die primitivistischen Visionen oder eben „Gesichte“ der Expressionisten schlagen fehl, „[…] erschöpfen sich bereits im geistigen Vorspiel“, 266 so Einstein über Marc und Kandinsky. Im Kapitel über Marc schreibt er: „Denkerisch hatte man sich - alte Gänge beschreitend - von der Welt erlöst [! ]; im Malen schwankt man lange zwischen imaginativer Form und überliefertem Gegenstand; das Ergebnis ist pathetische Ornamentik.“ 267 Aller Kritik zum Trotz ist Einsteins Schreiben stilistisch und inhaltlich im Expressionismus verhaftet. Seine Stimme im Einsatz für ein neues Sehen unterscheidet sich (zumindest auf den ersten Blick) wenig von denjenigen der emphatisch für den Expressionismus eintretenden Kunsthistoriker, deren Schriften Smith als „partisan and poetic“ bezeichnet. They [the expressionist art historians] all directed their attention towards styles whose ugliness (according to the terms of the day) they deemed expressiv, whose distortions they described as spiritual, whose spatial compressions they viewed as transcendant. Partisan and poetic […] their descriptions of these works often seem to adopt the voice of acolyte or advocate rather than mere analyst. 268 175 2.4 Rückblick und Ausgangspunkt für die Analyse der literarischen Texte <?page no="176"?> 269 Williams, Rhys W. (1987). Carl Einstein’s „Negerplastik“ and the Aesthetics of Expres‐ sionism. In: Sheppard, Richard (Hrsg.). Expressionism in Focus. Blairgowries: Lochee, 73-92. Hier 86f. 270 Smith redet in Bezug auf Matthias Müller-Lendrodt vom Expressionismus als einer Kunstbewegung „eager for revival“, vgl. Smith 2014, 17. 271 Lethen, Helmut (2006). Der Sound der Väter: Gottfried Benn und seine Zeit. Berlin: Rowohlt, 13. Mit dem „Elementarreich“ verweist Lethen an dieser Stelle auf den deutschen Ethnologen Adolf Bastian. 272 Schüttpelz 2013, 24. Vgl. Einleitung („Ökumene der Menschheit“ als Alternative zum europäischen Exklusivitätsdenken). Rhys Williams urteilt in dieselbe Richtung in Bezug auf die expressionistische - hier im spezifischen der dramatischen - Literatur: „[…] The Pathos of expressionist dramatic language is the equivalent of the ,fixierte Extase‘ which Einstein defined as the essence of the African mask“. 269 Einsteins Kunstkritik ist geprägt vom Pathos der expressionistischen Gene‐ ration und deren Vorstellungen eines transzendenten Kunstraumes, sie ist ein spezifisches Kapitel einer Kunstbewegung der „Erweckung“. 270 Grundsätzlich, so kann man abstrahieren, teilen Einstein wie auch die später zur Diskussion stehenden expressionistischen Literaten diese Utopie einer Wiederbelebung der Kunst. Die künstlerischen Visionen und die Ziele der Wiederbelebung oder Erweckung formulieren diese jedoch ohne Frage ganz unterschiedlich. Die lite‐ rarischen Visionen entstehen auf unterschiedlichen „primitiven“ Grundlagen, die der Fokus der Studie auf die Darstellung der primitivistischen Künstler gut enthüllen helfen kann. Zeichnen die literarischen Expressionisten das „Going native“ des Künstlers als Regression in ein „Elementarreich“ 271 ? Ist es einer körperbetonten Lebensideologie verhaftet oder durch die Vorstellung einer „primitiven Ökumene der Menschheit“ 272 grundiert? Mit welcher Macht und Möglichkeiten zur Belebung „primitiver“ Quellen sind die Künstlerfiguren in den Texten ausgestattet? Wie die Analyse der Negerplastik hat gezeigt, lässt sich mit dem Fokus auf die Kritik am bildkünstlerischen „Going native“ das jeweilige primitivistische Kunstprogramm gut fassen lassen. Wie bereits in der Einleitung projektiert, fällt der Fokus der Ausführungen zu den literarischen Künstlerfiguren auf die Kriegsjahre. Mit Carl Sternheim wird zudem die Nachkriegsära tangiert, die zu einem sozialrevolutionären 176 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="177"?> 273 Dieses gebräuchliche Etikett des „Messianismus“ spitzt Peter Rühmkorf in seiner Abhandlung über die expressionistische Lyrik in den 1970er Jahren zu, indem er vom „[…] messianische Expressionismus“ spricht, „der aus der verkanteten Persönlichkeit eine Erlösungskerze zu drehen versuchte, dann jene künstlich ‚gesteilten‘ Formen produzierte, die mit der Wirklichkeit nicht mehr viel, die mit Kunst, Stil und Form aber überhaupt nichts mehr zu tun hatten.“ Vgl. Expressionistische Gedichte [1976]. Rühmkorf, Peter (Hrsg.). Berlin: Wagenbach 2010, 20. 274 Ebd. 275 BA, Bd. 2, 20; vgl. Williams 1983, 253. 276 In Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders gestaltet er den Maler Heinrich Lippen‐ knabe und lässt für den abgründigen Protagonisten Giorgio Bebuquin diverse Künst‐ lerbezüge zu (de Chirico, Stefan George, Beau Brummel), vgl. Handbuch der Kunstzitate 2011, 171-174; Kiefer 1994, 68 ff. Künstlerfiguren und -verweise in der Kurzprosa: G.F.R.G. (1913); Freie Bahn dem Tüchtigen (1919); Schulze (1919); Die schlimme Botschaft (1921); Brockenhaus (1925); Schweissfuss klagt gegen Pfurz in trüber Nacht (1930). „messianische[n] Expressionismus“ 273 neigte, zu „Neuschöpfungsphantasien“, 274 in denen nicht selten der neue Mensch als Künstler eine Rolle spielt. Im Zentrum des Interesses liegt jedoch mit den frühen literarischen Thematisierungen des Primitivismus der eigentümlich spröde Utopismus der Kriegsjahre. Den im folgenden besprochenen expressionistischen Texten ist gemeinsam, dass in ihnen die heroische Künstlergestalt gerade zur Diskussion steht. Die Frage ist nun: Inszenieren die Autoren eine ähnliche Kunst- und Künstlerkritik wie Einstein? Wie reagieren sie, insbesondere Benn und Sternheim, die in direktem Kontakt mit Einstein stehen, auf dessen paradoxes Angebot, in die Kunstkritik, welche in ihrer anti-subjektiven und anti-psychologischen Konzi‐ pierung kein Platz für eine Erlöserfigur vorsieht (und kein „Going native“ dieser Erlöserfigur), trotzdem die Möglichkeit einer utopischen Annäherung einzu‐ bauen? Der Künstler ist bei Einstein keine Erlöserfigur und doch „Voraussetzung jedes Neuen“, wie er 1919 in seiner aktivistischen Phase der Nachkriegsjahre betont. Er schreibt: […] Europäische Mittelbarkeit und Überlieferung muss zerstört, das Ende der for‐ malen Fiktionen festgestellt werden. Sprengen wir die Ideologie des Kapitalismus, so finden wir darunter den einzigen wertvollen Überrest des zerkrachten Erdteils, die Voraussetzung jedes Neuen, die einfache Masse, die heute noch im Leiden befangen ist. Sie ist der Künstler. 275 Ein letzter Nachtrag zu Einstein: Es wurde hier darauf verzichtet, Einsteins literarische Texte zu analysieren, da er keine raumgreifenden primitivistischen Künstlerfiguren gestaltet hat. Es finden sich in seinem Werk lediglich kurze Prosatexte und Essays mit Künstlergestalten und Verweisen auf den primitivis‐ tischen Diskurs der bildenden Kunst. 276 Hierbei ist interessant zu beobachten, 177 2.4 Rückblick und Ausgangspunkt für die Analyse der literarischen Texte <?page no="178"?> 277 Einstein, Carl (1919). Freie Bahn dem Tüchtigen, in: Der blutige Ernst, 1. Jg. Nr. 4 („Die Schieber“), X; XIV. Vgl. BA, Bd. 1, 37-42. Der Text erschien anonym. 1924 Wiederabdruck (Auszug) in: Der Querschnitt, 4. Jg., H. 6, 448, darauf 1925 in Einsteins gemeinsam mit Paul Westheim herausgegebenem Europa-Almanach, vgl. Europa Al‐ manach. Literatur, Musik, Architektur, Plastik, Bühne, Film, Mode [1925]. Westheim, Paul/ Einstein, Carl (Hrsg.). Leipzig/ Weimar 1984, 234. 278 Einstein, Carl (1923). Gerettete Malerei, Enttäuschte Pompiers, in: Das Kunstblatt, 7. Jg., 47-52. Diese Darstellung entspricht ziemlich genau der Präsentation Gauguins in der Kunst des 20. Jahrhunderts, vgl. bspwe. BA, Bd. 5, 60f.: „Die simple Optik dieser „Fauves“ wie die Deklamationen dieser Prediger sind rasch durchschaut. Das Negative dieser Bilder zeigt die Flucht vor einer vielfältig verwirrenden Zivilisation, die Gauguin bereits vorher mit einer berechnenden Archäologie der kolonialen Halbwelt und zweifelhafter Exotik erschlagen wollte.“ dass die Referenz auf Gauguin mehrfach die Darstellungen trägt. Gauguin ist als zentraler Bezugspunkt der Primitivisten eingesetzt und ist, was mit der Darstel‐ lung in der Kunst des 20. Jahrhunderts korrespondiert, als erstaunlich positiver Ausgangspunkt einer negativen Entwicklung gezeichnet - siehe beispielsweise in Freie Bahn dem Tüchtigen, 277 einem Text, den er 1919 in Der blutige Ernst publiziert. Das folgende Zitat aus Einsteins Essay Gerettete Malerei, enttäuschte Pompiers demonstriert den Tenor seines Schreibens über Gauguin: „Gewiss war es der Kubism, der die Malerei aus der kommunen Vertroddelung und dem Kulissenpathos der Übervangoghs und Hinten-Gauguins gerettet hat.“ 278 Gauguin ist einerseits eindimensionaler, nie ausführlich behandelter und auf die Kolonialformel reduzierter Ausgangspunkt, andererseits ist er eine äusserst vieldeutige, ins Positive wendbare Leerstelle. 178 2 Gauguin und die Rezeption des Primitivismus nach 1900 <?page no="179"?> 1 Benn, Gottfried [1919]. Der Vermessungsdirigent. Erkenntnistheoretisches Drama. In: Sämtliche Werke Stuttgarter Ausgabe Bd. VII/ 1-7 (2003). Hof, Holger (Hrsg.). Stuttgart: Klett Cotta, 35-67. Im Folgenden mit der Sigle V gekennzeichnet. 2 Gess, Nicola (2013). Gottfried Benns anthropogenetischer Primitivismus. In: Dies. Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin). München Wilhelm Fink Verlag, 281-364. Nicola Gess behauptet, die Forschung hätte „noch nie die äußerst naheliegende Verbindung zu Pablo Picasso geschlagen“, s. Gess 2013, 326. Diese Aussage muss relativiert werden. Aber tatsächlich wurde die Verbindung noch nicht ausführlich untersucht. Gess liest Picasso als Chiffre für den Kubismus: In ihrer diskursanalytischen Lektüre weist sie auf die Verschränkungen des Psychiatrie- und Kunstdiskurses hin und führt aus, wie Benn die Dekomposition in der Bildkunst mit der medizinischen Sezierungstechnik und den Theorien psychischer Depersonalisation zusammenbringt. 3 Ebd., 327. 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus Bei Carl Sternheim ist Gauguin anderweitig in Szene gesetzt. In der Erzählung Ulrike (1917) ist er als zentrale Referenz der primitivistischen Künstlerfigur Posinsky mehr als eine vieldeutige Leerstelle, obwohl er nur durch den Titel eines Werkes mit Posinsky in Verbindung gebracht wird. Als zentrale Relation des körperlich und gewalttätig gezeichneten primitivistischen Künstlers ist Gauguin seinerseits als monströser Primitivist herausgestellt. Dieser Verbin‐ dungslinie Posinksy/ Gauguin und dem damit transportierten körperlichen Primitivismusbegriff gilt es nachzugehen, ebenfalls der Erweiterung der Verbin‐ dungslinie in Sternheim’s Text Gauguin und van Gogh der frühen 1920er-Jahre (Posinsky/ Gauguin/ van Gogh). Wichtig ist dabei insbesondere, den Eigentüm‐ lichkeiten der Darstellung des primitivistischen Künstlers als Monster weiter auf die Spur zu kommen. Denn auch in Robert Müllers Tropen-Roman werden wir es mit monströsen künstlerischen Regressionen zu tun haben, die ihrerseits in Bezug auf Gauguin ausgestaltet sind. Vorerst jedoch zu einem besonders plakativen Beispiel einer Darstellung einer künstlerischen Regression ins Monströse, welche nicht über die Vaterfigur des Primitivismus läuft: Gottfried Benns dramatischer Text Der Vermessungsdi‐ rigent (1916). 1 Hier tritt eine Künstlerfigur namens „Picasso“ auf. Dass diese of‐ fensichtlich unverschlüsselte Referenzfigur 2 „Affinitäten zum Primitiven“ 3 habe, wie Nicola Gess schreibt, ist untertrieben. Picasso ist als Verfechter regressiver Kunst- und Lebenskonzepte gezeichnet und mit „primitiven“ Vorlieben und <?page no="180"?> 4 Benn, Gottfried (1922). Epilog. In: Gesammelte Schriften. Berlin: Erich Reiss. Vgl. Benn, Gottfried. Sämtliche Werke Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3, Prosa I (1987). Schuster, Gerhard (Hrsg.). Stuttgart: Klett-Cotta, 127-133. Hier 128. Im Folgenden bezeichnet die Sigle SW die Werkausgabe. 5 Benn hält sich zwischen 1915-1917 in Brüssel auf, Einstein 1916/ 17. Benn war als Sanitätsoffizier bei der Belagerung Antwerpens, Einstein als Unteroffizier im Oberelsass stationiert, vgl. Lethen 2006, 16. Der ältere Carl Sternheim war dienstuntauglich gemeldet - die Untauglichkeit wurde später angezweifelt, was seine Flucht (mit Hilfe Benns) in die Niederlanden zur Folge hatte, s. Lethen 2006, 25; Dyck, Joachim (2009). Gottfried Benn. Einführung in Leben und Werk. Berlin: De Gruyter, 45ff. Merkmalen ausgestattet. Seinen Wunsch, einen Zustand zu erreichen, in dem „Hirne horizontal kr[ie]chen“ (V, 44), versucht er durch körperliche Mutation zum Tier zu erlangen: Picasso lässt sich ein Pferdeauge implantieren. Das im Übrigen wenig exotisch gestaltete „Going native“ des primitivistischen Künst‐ lers findet in der Realisierung dieses körperlichen Aktes der Anverwandlung, im Bild des (künstlichen) monströsen Mischwesens seinen Höhepunkt. Das „Primitivieren“ des Künstlers ist im Text an die körperliche Mutierung einer zweiten Figur gekoppelt. Der Arzt Pameelen, die ‚zerebrale‘ Gegenfigur zu Picasso - welche die Forschung immer wieder als Alter Ego Benns bezeichnete - blendet sich. Im Gegensatz zur kentaurischen künstlerischen Entgrenzung oder Entformung steht Pameelens Mutation für Begrenzung, für eine selbstbe‐ zügliche Regression. Solchen Doppelfiguren und -strukturen wie in Benns Text werden wir im Verlauf dieses Kapitels immer wieder begegnen. Die Autoren erkunden das „Primitive“ mittels Modellanlagen und (meist mehr oder weniger plakativen) Gegenüberstellungen von Körper und Geist, Natur und Kultur, Sexualität und Intellekt oder Mann und Frau. 3.1 Brüssel 1916/ 1917 „Ich lebte am Rande, wo das Dasein fällt und das Ich beginnt.“ Gottfried Benn: Epilog 1922 4 Gottfried Benns Vermessungsdirigent entsteht 1916/ 1917 in Brüssel, wo er seit 1915 als Arzt in einem Prostituiertenkrankenhaus der deutschen Armee tätig ist. Zeitgleich mit Carl Einstein steht er im Dienst der Zivilverwaltung, nachdem er wie letzterer nach freiwilligem Kriegseintritt zuvor einen Fronteinsatz leistete. 5 Er ist einer von vielen Literaten, Künstlern und Intellektuellen, die ab August 180 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="181"?> 6 Erich Heckel, Max Beckmann, Erwin Piscator, Ludwig Renn oder Wieland Herzfelde sind unweit von Brüssel im Einsatz. Vgl. Lethen 2006, 26 f. Vgl. 1914. Die Avantgarden im Kampf (2013). Schneede, Uwe M. (Hrsg.) (2013) Ausst.kat. Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn 2013/ 14. Köln: Snoeck, 96ff. 7 Benn, Gottfried (1928). Wie Miss Cavell erschossen wurde. In: SW, Bd. 3, Prosa I, 180- 187. Hier 182 f. „Eine schwache inaktive Truppe hielt die Hauptstadt, die schöne impul‐ sive aufgeregte hasserfüllte Hauptstadt; an ihrer Spitze ein Oberbürgermeister, der offen gegen die Verordnungen des deutschen Kommandanten handelte; die Bevölkerung von absolut unverdeckter Feindschaft.“ Von Brüssel im Krieg darf man sich, so deutet auch dieses Zitat an, ein nicht zu harmloses Bild machen. Brüssel ist Spionagezentrum, täglich werden Überfälle, Sabotageakte und Attentate verübt. Vgl. Lethen 2006, 18f. 8 Dyck hält fest, Benn hätte „sein Leben lang von der Zeit in Brüssel geschwärmt“, vgl. Dyck 2009, 47. 9 Auch als „belgische Phase des deutschen Expressionismus“ beschrieben, s. Roland 1999, 304. Benn und Sternheim treffen erstmals in Brüssel aufeinander, Einstein hatte Benn bereits vor dem Krieg kennengelernt. Häufig wird eine gemeinsame Lesung der Aktion im März 1914 in Berlin als Anlass genannt, Klaus H. Kiefer jedoch glaubt, dass die beiden sich schon zwei, drei Jahre zuvor erstmals begegneten. Vgl. Kiefer, Klaus H. (2015). Primitivismus und Avantgarde - Carl Einstein und Gottfried Benn. In: Colloquium Helveticum Nr. 44. Gess, Nicola et al. (Hrsg.). Bielefeld, 131-168. Hier 138. Im Rückblick sieht sich Benn nicht zur „Kriegskolonie“ zugehörig. Vgl. Holthusen, Hans Egon (1986). Gottfried Benn. Leben und Werk Widerspruch 1886-1922. Stuttgart: Klett-Cotta, 209, zit. n. Lethen 2006, 25. 1914 in der Etappe leben. Alfred Flechtheim, Rudolf Alexander Schröder, Hermann von Wedderkop, Ferdinand Bruckner alias Theodor Tagger, Otto Flake, Wilhelm Hausenstein und Andere befinden sich in Brüssel. Während an der Front gekämpft wird, 6 lässt sich in der von direkten Kriegshandlungen verschonten Stadt ein relativ gutes Leben führen. In der „schöne[n] impul‐ sive[n] aufgeregte[n] hasserfüllte[n] Hauptstadt“ 7 bewohnt Benn mit einem Bediensteten ein von den deutschen Behörden requiriertes Herrenhaus und findet mitten im Krieg zu einer nie gelebten Ruhe und Sicherheit, die seinem Schreiben förderlich ist. 8 Zu dieser Situation trägt der bereits seit 1912 in Belgien wohnhafte Carl Sternheim bei. In Carl und Thea Sternheims grossbürgerlicher Villa in La Hulpe bei Brüssel treffen sich Künstler und Intellektuelle der Berliner und Münchner Bohème, und es entsteht das lose literarische Netzwerk um Sternheim, Carl Einstein und Gottfried Benn, das unter der Bezeichnung „deut‐ sche literarische ,Kriegskolonie‘“ in die deutsche Literaturgeschichte eingehen wird. 9 Helmut Lethen skizziert die Gesellschaft, die in der Villa „Clairecolline“ aufeinandertrifft, folgendermassen: […] kaum wehrdiensttaugliche Literaten, ein zur Archivarbeit befohlener Kunsthis‐ toriker und Ethnologe, ein Dramatiker, der den Ruf hatte, notorischer Querulant 181 3.1 Brüssel 1916/ 1917 <?page no="182"?> 10 Lethen 2006, 18. Hubert Roland teilt die sehr heterogene Brüsseler „Kriegskolonie“ anhand ihrer (kultur-)politischen Machtposition in zwei Gruppen ein: Auf der einen Seite die Personen, die aktiv in die politische Abteilung der Zivilverwaltung involviert war, wie etwa Alfred Flechtheim, Wilhelm Hausenstein und Rudolf Alexander Schröder sowie auch die Verwaltungsbeamten und Literaten, welche die offizielle kulturpoli‐ tische Flamenpolitik mitverantworteten (Einstein bezeichnet Letztere als „écrivains occupants“ und meidet Friedrich Markus Huebner, Rudolf Alexander Schröder, Anton Kippenberg u. a.). Auf der anderen Seite der innere Kreis um Sternheim (Einstein und Benn). Vgl. Roland 1999, 7 ff; 20ff. 11 Für Furore sorgte insbesondere der Dramenzyklus Aus dem bürgerlichen Heldenleben [Trilogie Die Hose (1911), Der Snob (1914), 1913 (1915/ 1919)]. Moritz Bassler nennt Sternheim einen „revolutionäre[n] Bürgerschreck[s] im Aristokratenmantel“. Die Aus‐ zeichnung des Bürgerschrecks oder Querulanten haftet fest an Sternheim und seinen Werken. Die zahlreichen machtpolitischen Deutungen seines Werkes sind ein Echo dieses früh gefestigten Rufs. 12 So Sternheim in Lutetia. Berichte über Europäische Politik Kunst und Volksleben (1926), vgl. Gesamtwerk Bd. 6. Emrich, Wilhelm/ Linke, Manfred Linke (Hrsg.). Neuwied am Rhein: Luchterhand 1966, 343-412. Hier 381, zit. n. Roland 1999, 31. Roland u. a. relativieren diese positive Darstellung und interpretieren diese Distanznahme als Flucht nach dem Skandal um die Hose. 13 Vgl. Dyck 2009, 42. 14 Moritz Bassler über Einstein und Benn in: Ders. (2007). „Ewigkeit der Accent“. Benns und Einsteins Widmungsgedichte „Meer- und Wandersagen“ und „Die Uhr“. In: Gott‐ fried Benn - Wechselspiele zwischen Biographie und Werk. Martínez, Matías (Hrsg.). Göttingen: Wallstein, 71-84. des Kaiserreichs zu sein, mondäne Existenzen aus der politischen Verwaltung der Besatzungsmacht, Liebhaber der flandrischen Literatur und viele mehr. 10 Mit „Kunsthistoriker und Ethnologe“ ist Einstein charakterisiert, der wie bereits erwähnt 1916/ 1917 im Dienst der Kolonialabteilung der Militärverwaltung stand. Der „notorische Querulant des Kaiserreichs“ ist der Gastgeber Carl Sternheim, dessen Dramen vor dem Krieg für Furore sorgten, 11 und der nach dem Skandal um sein Drama Die Hose seinen Wohnsitz nach Belgien verlegte, um, wie Sternheim es im Rückblick darstellt, sein „merkwürdiges Vaterland zwecks Sichtbarmachung seiner Zustände von weitem besser ansehen und beurteilen zu können“ 12 . Alle drei Autoren haben vor ihrem Aufeinandertreffen eigenständige und wirkungsvolle Werke geschaffen. Einstein und Benn haben sich im „kleinen Kreis der führenden Geister der neuen Kunstbewegung“ 13 einen Namen gemacht: Einsteins Bebuquin war 1912 erschienen, als zweite Publikation folgte Negerplastik bald nach Kriegsbeginn, Benns Gedichtbände Morgue und andere Gedichte und Söhne. Neue Gedichte wurden 1912/ 1913 veröffentlicht. Sternheim, ähnlich „hochideosynkratische Autorpersönlichkeit“ 14 wie Einstein und Benn, hatte bereits zuvor ab 1908 mit seinem Dramen-Zyklus Aus dem 182 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="183"?> 15 Vgl. Grimm, Reinhold (1992). Im Auge des Hurrikans. Brüssel 1915: Benns Urerlebnis. In: Neue Rundschau 103 Heft 4, 121-137. 16 Lethen 2006, 17 f. Helmut Lethens Überlegungen zum Zusammenhang von Zentrum und Peripherie im Werke Benns sind beeinflusst von den Thesen Reinhold Grimms und Hanspeter Brodes. Brüssel beschreibt er als „Wunschort insularer Vereinzelung“, als „vom Dröhnen des Geschichtsprozesses umhüllt[er]“ Ort oder er redet von der „Windstille im Auge des Hurrikans“. Lethen beschreibt, dass das obskure Phänomen der Neurasthenie in der Etappe omnipräsent war, währenddessen es unter den Front‐ soldaten abnahm. Plakativ bezeichnet er Brüssel als „Endmoräne des Zeitalters der Nervosität“, vgl. Lethen 2006, 12. 17 Ebd., 18. 18 Hier nach der Terminologie Wolfgang Riedels in Homo Natura (1996), die Regine Ana‐ cker u. a. wiederaufnahmen, vgl. Anacker, Regine (2004). Aspekte einer Anthropologie der Kunst in Gottfried Benns Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann. bürgerlichen Heldenleben ein grösseres Publikum erreicht. Der Austausch der Literaten in Brüssel oder La Hulpe trägt Früchte und fördert nicht nur bei Benn die Produktivität. Wie Helmut Lethen es beschreibt, wird „im Auge des Hurrikans“ 15 in der Etappe ein „Laboratorium der Moderne“ möglich: Nur in einer von direkten Kriegshandlungen der Front verschonten Etappe konnte die Arbeit des Fin de Siècle im Laboratorium der Moderne fortgesetzt werden. Hier überlebte die Sprachskepsis der Jahrhundertwende, die in der Befehlsstruktur der Front keine Chance hatte. […] In der von Frontsoldaten einhellig verachteten Etappe ist das wilhelminische Zeitalter der Nervosität gut konserviert, und dort erodiert es. 16 Am Rand des Brandherds bewegen sich die Autoren, wie Lethen es verbildlicht, unter einer konservierenden Glocke. Brüssel ist der ideale Ort, um von der oben beschriebenen Erosion eines Zeitalters, der allmählichen Zersetzung der Gesellschaft zu berichten. Sternheim, Einstein und Benn dokumentieren, illus‐ trieren und ergründen die Erosionsvorgänge in der Kriegssituation und sind, wie Lethen es treffend darlegt, „Mittler“ 17 dieser Vorgänge, die ein ganzes Zeitalter zum Verschwinden bringen. Dies lässt sich gleichsam als Basis des Primitivismus der Autoren beschreiben: In ihren Texten konstatieren und dokumentieren sie die Zersetzung in Richtung eines „primitiven“ Zustands und treiben aktiv diese Zersetzung oder eben „Primitivierung“ voran (wir erinnern uns an Einsteins „ich negriere“, an das vielschichtige „Going native“ in seinem Brief an Franz Blei). Allgemein gilt, dass ihre Darstellungen von „Primitivierung“ immer eine selbstbezügliche Komponente haben: Der Zerfall des wilhelminischen Zeitalters wird in der spezifischen Situation der Etappe und des Künstlermilieus gespiegelt. Die Reflexion über das Zutun des Künstlers/ des Autors an den Mechanismen von Konservierung und Erosion nimmt in den Typenstudien Sternheims und der „Anthropologie“ 18 Benns einen grossen Raum ein. Die 183 3.1 Brüssel 1916/ 1917 <?page no="184"?> 19 Alexandra Pignol redet in Bezug auf die gegenseitigen Referenzen bei Sternheim und Benn von einem „double discours, absurde et hyperréférencé“, vgl. Pignol, Alexandra (2010). Gottfried Benn. Art, poésie, politique. Paris: L’Harmattan, 65. 20 Benn, Gottfried [1917]. Karandasch. Rapides Drama. In: SW, Bd. 7/ I, 68-99. Hier 82-86. Die in der ursprünglichen Fassung als „Der Dramatiker“ bezeichnete Figur wird später „Sternheim“ genannt, vgl. Roland 1999, 230. Ein Auszug (SW, Bd. 7/ I, 82): PAMEELEN: „[…] Angriff und Widerstand als die Formen unserer Betrachtungsweise populär erkannt - Was tut der Dramatiker? “ DER DRAMATIKER: „Er lässt frühstücken“ PAMEELEN: „Unter welchem Gesichtspunkt? “ DER DRAMATIKER: „Das Publikum will Frühstück sehen.“ PAMEELEN: „Behaglichkeit? “ DER DRAMATIKER „tout comme chez nous! “ PAMEELEN: „Und afterdinner? “ DER DRAMATIKER: „Er formiert den Angriff.“ PAMEELEN: „Gegen? “ DER DRAMATIKER: „Den Widerstand.“ PAMEELEN: „Reich und Arm? “ DER DRAMATIKER: „Bürger und Genie“. Alexandra Pignol spricht von einer „Parodie sympa(thé)tique de Sternheim“, bei der man schlussendlich nicht wisse, ob sie zur Belustigung diene oder eine verkleidete Hommage sei. Zur Verknüpfung der Personen und Figuren hält sie fest: „C’est dans la répétition indéfinie des mêmes motifs ou es mêmes personnages, qui pourtant n’ont pas vraiment de lien entre eux (d’une pièce à l’autre) que se trouve son principe formel expressionistique“, vgl. Pignol 2010, 64ff. 21 Sternheim, Carl. Europa. Roman. In: Gesamtwerk, Bd. 5 Prosa II. Emrich, Wilhelm (Hrsg.), Berlin/ Neuwied: Luchterhand, 159-476. Hier 365ff. 22 Einstein, Carl (1919). Schulze, in: Der blutige Ernst, 1. Jg., Nr. 6, 4; BA, Bd. 2, 48-52. Einstein wirft Sternheim vor, ein konservativer Geist im Gewand eines Revolutionärs zu sein. Dies ist eine wiederkehrende Kritik an Sternheim (s. o.). Wir erinnern uns: Die Publikation dieses Prosatexts fällt in die hochpolitische Phase Einsteins, in der Auseinandersetzung mit dem bildkünstlerischen Primitivismus ist spezifischer Teil dieser Reflexion. Sie ist an die Analyse der (eigenen) „Primitivierung“ und Erosion im Krieg gekoppelt und die damit in Zusammenhang stehenden universellen historisch-anthropologischen Reflexionen über die Prozesse der Zivilisierung, über die Entwicklungsgeschichte der Kunst und die Mechanismen von Macht und Gewalt. Vom gemeinsamen Diskurs der Autoren über die Möglichkeiten und Ge‐ fahren der (künstlerischen) „Primitivierung“ zeugen neben den überlieferten Lebensdokumenten sowie dem gemeinsamen Projekt einer Encyclopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie (s.v.) insbesondere die gegenseitigen literarischen Referenzen. 19 Benn gestaltet in Karandasch (1917), seinem zweiten dramatischen Text dieser Jahre, eine (primitivistische, pseudorevolutionäre und opportunis‐ tische) Dramatikerfigur in Bezug auf Sternheim (1917); 20 Sternheim verweist mit seiner primitivistischen Künstlerfigur „Posinsky“ in den drei Erzählungen Ulrike, Posinsky und Der Anschluss (1918) sowie nach dem Krieg mit der Figur „Dr. Rank“ in Europa (1919/ 20) auf Einstein 21 und Einstein wiederum porträtiert im satirischen Text Schulze (1919) Sternheim (ähnlich Benn als Pseudorevo‐ luzzer) 22 . Im essayistischen Bereich geben vor allem Sternheims Text Kampf 184 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="185"?> er polemisch-propagandistische Artikel verfasst (Mitarbeit bei Die Pleite, Aufsatz Zur primitiven Kunst, etc.). 23 Spekulationen über die Gründe dieser gegenseitigen Ausklammerung entfachen die Diskussion über die Gemeinsamkeiten der primitivistischen Kunstprogrammatik der ungleichen Freunde immer wieder neu. Moritz Bassler redet von einer gegenseitigen rücksichtsvollen „Verschonung“: „Wie jedoch Benn seine Pfeile gegen einen dilettanti‐ schen Avantgardismus gegenüber Einstein im Köcher lässt, so verschont auch dieser den Freund mit seiner in anderen Fällen gnadenlosen Polemik gegen jede Art von Exotismus“, vgl. Bassler 2007, 81. Vgl. Kiefer 1986, 73. 24 Vgl. Bassler 2007, 71 f. Die Verweise betreffen meist poetologische und verfahrenstech‐ nische Fragen. 25 Benn, Gottfried (1925). Meer- und Wandersagen. In: SW, Bd., 62 f.; 376 (Widmung „für Carl Einstein“). 26 BA, Bd. 4, Texte aus dem Nachlass I, 45-47 (Widmung: „Für Gottfried Benn. Dem Freunde gewidmet.“) Diese Dedikation ersetzt Einstein später durch eine weniger persönliche, vgl. Kiefer 1986, 77. 27 Vgl. Kap. 2.3.4. Dort hält Einstein u. a. fest: „Der einzige meiner Kollegen, der instinktiv an ähnliches herangeht ist vielleicht mein Freund Gottfried Benn. Nur ist die Sache noch nicht rausgepellt“, vgl. Meffre 1993, 139. 28 Einstein, Carl (1927). Gottfried Benns Gesammelte Gedichte. In: BA, Bd. 2 (1919-1928), 369-372. 29 Auch Theodor Tagger (Ferdinand Bruckner), in dessen Zeitschrift Marsyas Einstein seine afrikanischen Legenden publizierte, soll in das Projekt involviert gewesen sein. Vgl. Czucka, Eckehard (1994). Carl Sternheim. In: Deutsche Dichter des 20. Jahrhun‐ derts. Steinecke, Hartmut (Hrsg.). Berlin: Erich Schmidt, 186-196. Hier 192. Roland 1999, 67 f. Allgemein gibt es divergierende Aussagen über das Projekt und die jeweilige Art der Beteiligung, vgl. Bassler 2007, 81; Williams Rhys W. (1981). From Painting into der Metapher (1917) und Einsteins Aufsatz An die Geistigen (1919) Auskunft über die intensive Auseinandersetzung. Die gegenseitigen Darstellungen sind geradlinig und meist ins Ordinäre überzeichnet gestaltet, von Streitlust und Selbstreflexivität geprägt. Eine Ausnahme bildet Sternheims obengenannter Essay Kampf der Metapher, in dem er Benn als Retter der expressionistischen Gegenwartsliteratur anpreist. Auffallend ist zudem, dass Einstein und Benn sich der gegenseitigen Kritik und literarischen Darstellung enthalten. 23 Von Benn, der zwar immer wieder auf den hochgeachteten Einstein verwiesen hat, 24 existiert lediglich ein Widmungsgedicht aus den 1920er Jahren [Meer- und Wandersagen (1925)]. 25 Einstein seinerseits eignete Benn ein vor der Brüsseler Zeit verfasstes Gedicht zu [Die Uhr (1915)]. 26 Ausserhalb von Lebensdokumenten wie dem berühmten Kahnweilerbrief, 27 von dem schon die Rede war, äussert sich Einstein lediglich 1927 zum Anlass des Erscheinens von Benns Gesammelten Gedichten in einer Rezension über den Kollegen. 28 Zur mythisch gefärbten, konkreten Zusammenarbeit der Autoren am lite‐ rarischen Projekt der Encyclopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie: 29 Das 185 3.1 Brüssel 1916/ 1917 <?page no="186"?> Literature: Carl Sternheim’s Prose Style. In: Oxford German Studies 12, 139-157. Hier 145f. 30 Sternheim, Carl (1918). Prosa. Berlin: Verlag Die Aktion, 28-30. Einträge unter den Stichworten „Abart“, „Abbau“, „Abbruch“; Einstein, Carl (1919). Abhängigkeit. In: Der Blutige Ernst Nr. 6, 7. Vgl. Carl Sternheim. Gesamtwerk, Bd. 4, Essays (1973). Emrich, Wilhelm/ Linke, Manfred (Hrsg.), Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand, 27-29. Im Folgenden wird mit der Sigle GW auf Sternheims Gesamtwerk verwiesen. gemeinsam skizzierte Projekt gelangt nicht zur Ausführung; es entstehen ledig‐ lich drei gemeinsame Einträge von Sternheim und Einstein, welche Sternheim im Prosaband von 1918 publiziert (Verlag Die Aktion, s. Abb. 21) und ausserdem ein Beitrag Einsteins, den dieser in Der blutige Ernst schaltet. 30 Abb. 21: Einträge zum Projekt „Encyclopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie“, in: Sternheim, Carl (1918). Prosa. Bücherei der rote Hahn, Bd. 12. Berlin: Verlag Die Aktion, 28f Geistesverwandt mit Victor Segalens Exotismus-Schrift ist die Encyclopädie als Begriffsarbeit an der korrumpierten Gegenwartssprache angelegt. „Fast täglich kamen von allen Seiten gelungene Destruktionen und Konstruktionen 186 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="187"?> 31 Sternheim in Europa (1919/ 20), s. GW, Bd. 5, Prosa II, 159-409. Hier 378. 32 Vgl. Roland 1999, 222. Das revolutionäre Ziel beschreibt Roland als „innere Wandlung der Mentalitäten“. Sternheim war bekanntlich inspiriert von Lenin und Trotzkys Appell an die kriegsführenden Parteien (1917). Weiter wirkten Nietzsches Schriften prägend sowie Flauberts Dictionnaire des idées réçues (1911/ 1913 aus dem Nachlass publiziert). Sternheim stellt auch seine Essays über das „Juste Millieu“ in den Zusammenhang mit der Encyklopädie (Berlin oder Juste milieu, 1920; Tasso oder die Kunst des Juste milieu, 1921). Vgl. Williams 1981, 144ff. 33 Gess 2013, 345. 34 Das Projekt ist wohl nicht zuletzt aufgrund seiner Überdimensionierung gescheitert. Sternheims Worte über das Projekt in Morgenröte (1922) machen weitere Gründe des Scheiterns sichtbar (arrogante Haltung Sternheims, Mitarbeit Einsteins verschweigend, etc.), vgl. GW, Bd. 6, 256f. 35 Vgl. Meffre 2002, 9. 36 Mauthner, Fritz (1901/ 02). Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung; zum literarischen futuristischen Programm der „parolé in libertà“ s. Filippo Tommaso Marinettis Manifeste Manifesto tecnico della letteratura futurista (11. Mai 1912), Distruzione della sintassi-immaginazione senza fili-parole in libertà (11. Mai 1913), bzw. dessen Zeitschrift Poesia (ab 1905). Rhys W. Williams spricht von der Sprachkritik als „fashoniable theory“, vgl. Williams 1981, 141. 37 Die anti-positivistische, wissenschaftskritische Haltung ist den Autoren gemein. Vgl. Williams 1983, 252. Zu Sternheims Auseinandersetzung mit der Philosophie Rickerts und der neo-kantianischen Philosophie der Badischen Schule (ab 1906), vgl. Ders. 1981, 139 ff. Rickerts Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1896) beschreibt Williams als Meilenstein der Positivismuskritik; dessen Ziel als „[…] to free an area of knowledge appriopriate to what he liked to call the ,historische Wissenschaften‘ or ,Kulturwissenschaften’.“ Sternheims Suche nach, wie Williams es nennt „artistic pre‐ cision which language by its very nature, seemed to call into doubt“ (142), zielt ebenfalls auf eine Befreiung von tradierten sprachlichen und wissenschaftlichen Koordinaten. lebenswichtiger Begriffe“, 31 so berichtet Sternheim im Rückblick über das sprachkritische, sozialpolitische Unterfangen. 32 Das überdimensioniert ange‐ legte Projekt kündet von der gemeinsamen künstlerischen Strategie der Au‐ toren - der sprachlichen Destruktion/ Dekonstruktion und Neu-Konstruktion - oder was Nicola Gess auf Benn gewandt als „unaufhörliche Dynamik von De- und Rekomposition“ 33 bezeichnet. 34 Die Generation der „enfants perdus“ arbeitet grundsätzlich unter vergleichbaren Bedingungen und mit ähnlichen Strategien. 35 Die Spracharbeit und -kritik wird jedoch wenig derart explizit gemacht und reflektiert wie im Brüsseler Projekt, das von der sprachkritischen Theorie und Kunstpraxis der Vorkriegszeit, etwa derjenigen Fritz Mauthners oder der „parole in libertà“ der Futuristen, direkt beeinflusst ist. 36 Mit hinein fliesst parallel dazu etwa die Wissenschaftskritik eines Heinrich Rickert, auf den besonders Sternheim rekurriert. 37 In ihrer Spracharbeit, die grundsätzlich regressiv orientiert ist - Benn redet von „Regressionstendenzen mit Hilfe 187 3.1 Brüssel 1916/ 1917 <?page no="188"?> 38 Benn, Gottfried im „Epilog“ zu seinen Gesammelten Schriften von 1922, s. SW, Bd. 3 Prosa I, 133. Vgl. Hoffmann, Dieter (2007). Totalität und totalitär. Gottfried Benn und die Expressionismusdebatte. In: Gottfried Benn. Studien zum Werk. Delabar, Walter/ Kocher, Ursula (Hrsg.). Bielefeld, 37-50. Hier 38. Das Ziel der Regression formuliert Benn in obigem „Epilog“ folgendermassen: Sie soll den Einzelnen zu einem „präexistenziellen, chaotischen Urzustand zurückführen und ihn so die ,Antithese‘ zu seiner eigenen ‚Hinfälligkeit‘ erfahren lassen: ,das kosmologische Sein.’“ 39 Williams 1981, 141. des Wortes“ 38 - greifen die Autoren im Besonderen auf die Strategien der sprachskeptischen Literatur der Jahrhundertwende zurück und überprüfen deren Tauglichkeit. Mit den primitivistischen Künstlerfiguren nehmen sie einen konkreten Erben jener kritischen Bewegungen in Kunst und Theorie ins Visier, was bei der Gauguin-Referenz offensichtlich ist. Die Autoren rekapitulieren mit ihnen das europäische kulturkritische Erbe und spiegeln darin das eigene „primitive“ Schreiben. Wo die Sprachkritik der Autoren in Kunstkritik übergeht (und umgekehrt) wird das poetologische und „primitivistische“ Potential ihres Schreibens beson‐ ders deutlich. Sternheim beispielsweise macht explizit, dass sein Experiment auf sprachlicher Ebene und seine Auseinandersetzung mit der Bildkunst von zwei Seiten auf eine neue Bildsprache und ein neues Sehen (wir erinnern uns an Einsteins Bemühungen) zielen. Gemäss Williams ist bei ihm von einem unbedingten Glauben an die Kunst auszugehen. Sternheim wolle „[d]urch das Bild […] die begriffliche Unklarheit“ und „durch die Form die begriffliche Unsicherheit des Inhalts“ 39 überwinden. Sternheim ist der Meinung, dass über Bilder die korrumpierte Sprache kuriert und der Kontakt zur Wirklichkeit hergestellt werden kann, oder mit dem Vokabular Einsteins ausgedrückt: dass der Graben zwischen Objekt und Subjekt, respektive Subjekt und Subjekt wiederhergestellt werden kann. Wie sich die expressionistischen Literaten in ihrer (bild-)poetischen Praxis zu den zeitgenössischen bildkünstlerischen primitivistischen Strategien verhalten und sich in ihren Darstellungen ein konstruktiver Begriff von Primitivismus zeigt, offenbaren im Folgenden die konzentrierten Einzellektüren. 188 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="189"?> 40 Das Drama wird im Folgenden mit der Sigle V bezeichnet. Benn schreibt den Text im Jahr 1916 nieder. Im Rückblick hält er über die Zeit an der Rue St. Bernard Nr. 1 in Brüssel (wo vor dem Vermessungsdirigenten der berühmte Rönne-Zyklus entstand) folgendes fest: „Dort in der 1. Etage waren meine Wohn- und Arbeitszimmer. Dort wirkte Rönne in Hochblüte, wollte nach Antwerpen reisen u. kam nur bis zur Bahn aus Müdigkeit u. weil alles so schwer u. sinnlos war, da entstand die ‚Reise‘. Vor allem aber - Ende April, Anfang Mai 1916 - ‚geschah‘ ihm der ‚Geburtstag‘. Die ,Karyatide’ und vieles von dem schönen, sinnlosen, überlebten Zeug entstand da“, vgl. Dyck 2009, 47. Pameelen wird in der Forschung immer wieder als dramatisches Alter Ego von Rönne bezeichnet. Vgl. Roland 1999, 229. 41 Das Stück ist lediglich 30 Seiten lang und umfasst drei Akte von unterschiedlicher Länge. Der letzte Akt ist nur 5 Seiten lang. Neben Picasso und Pameelen treten drei weitere Personen auf: „Mieze“, Pameelens ehemalige Geliebte, „eine Frau“ und „Pamee‐ lens Vater“ (auch: „der alte Pameelen“). Im Vorspiel, das in einem „Hurenkrankenhaus“ [! ] spielt, kommen zudem kurz „eine Stimme“ und „ein Arzt“ zum Einsatz. 42 Die Darstellung des Arztes Pameelen ist unmissverständlich wissenschaftskritisch an‐ gelegt, Benn führt die Wissenschaftskritik des Rönne-Zyklus weiter. Zum wissenschaft‐ lichen, im Spezifischen dem medizinischen Diskurs bei Benn s. Hahn, Marcus (2011). Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. Göttingen: Wallstein. Zum anatomischen Diskurs, der die Brüsseler Texte beherrscht, hält Ursula Kirchdörfer-Bossmann fest: „Die wisssenschaftliche Sektion von menschlichen Körpern wird zur Voraussetzung für die Konstruktion eines Menschenbildes in der Kunst, das die traditionelle religiöse Deutung ersetzt und ihre Transzendenzforderung einlöst“. Vgl. Kirchdörfer-Bossmann, Ursula (2003). „Eine Pranke in den Nacken der Erkenntnis“. Zur Beziehung von 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) Dass Benns „erkenntnistheoretisches Drama“ Der Vermessungsdirigent 40 Fragen des Primitivismus erörtert, ist bereits am Motto „Immer hinter dem Fremden her“ (V, 35) zu erkennen, welches der überinstruktiven „Zusammenfassung“ zu Beginn des Dramas voranstellt ist. Das Motto ist nicht nur auf die primitivisti‐ sche Künstlerfigur des Dramas und deren Regression zum Tiermenschen (wir erinnern uns an das implantierte Pferdeauge) zugeschnitten, sondern auch auf den titelgebenden Protagonisten, den Arzt Jef Pameelen, der „mit der ganzen foudroyanten Methodik naturwissenschaftlicher Betrachtung, mit kausaler Analyse, mit Transplantationen, mit allen derniers cris aller Psychologien“ sein Ich „[…] experimentell zu revidieren“, „seine Grenzen […] abzutasten“ versucht (V, 35), so die Darstellung in der Zusammenfassung. 41 Jener Raum des „diskursive[n] Ich“ (V, 48) ist als gegenbildliches - ebenfalls fremdes - Territorium zu demjenigen gezeichnet, das der Künstler mit der Transplantation des Tierauges erreichen will. Der Protagonist des Dramas, das „Gehirntier“ (V, 48) [Herv. LF], so Pameelens Selbstbezeichnung, ist mit dem Fremden in der Gestalt des eigenen (kranken, depersonalisierten) Hirns beschäftigt; er unternimmt wenn man so will ein „Going native“ in psychische Untiefen. 42 Im 189 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) <?page no="190"?> Dichtung und Naturwissenschaft im Frühwerk Gottfried Benns. St. Ingbert: Röhrig, 103. Rhys W. Williams bezeichnet den Vermessungsdirigenten als „epistemologisches Drama“. Williams 1983, 262. 43 Zur Orientierung ein knapper Abriss der Handlung: Vorspiel („Hurenkrankenhaus“, Pameelen und „Die Stimme“): Krankheitsbefund, Einführung; 1. Akt (Untersuchungs‐ zimmer eines Arztes) 1. Szene (Pameelen und Picasso): Picasso konsultiert Pameelen für eine „Rückverlegung des Brennpunktes“, 2. Szene (Pameelen, Mieze): Behandlung Miezes, Pameelen treibt das (gemeinsame? ) Kind ab, 3. Szene (Picasso, der alte Pa‐ meelen): Unterredung; 2. Akt (Hütte im Hochgebirge), ohne Szenentrennung: Pameelen als Dionysos im Gebirge; Auftritt Frau und Kind, Vergiftung des Kindes, Vergewaltigung der Frau; Auftritt wiehernder Picasso; 3. Akt (Hochgebirge) 1. Szene (Pameelen): Jagd, Blendung, 2. Szene (Pameelen): kurzes Selbstgespräch, 3. Szene (Pameelen, Picasso): Pameelen im Sterben, Auftritt Picasso (Losung). 44 Gess 2013, 320. 45 Zit. n. Anz, Thomas (2010). Die Seele zum Vibrieren bringen! Konzepte des Gesamt‐ kunstwerks in der Zeit des Expressionismus. In: Gesamtkunstwerk Expressionismus. Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905-1925. Ausst.kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Beil, Ralf/ Dillmann, Katja (Hrsg.). Ostfildern: Hatje Cantz, 50-67. Hier 55. Laufe der Handlung entzieht sich der Arzt, über dessen Tätigkeit und Zustand der Leser/ die Leserin von Beginn an im Unklaren gelassen wird, kontinuierlich der Aussenwelt. 43 Mit Gewalt dämmt er sie ein und zeigt insbesondere dann höchste Gewaltbereitschaft, wenn die Aussenwelt in Gestalt von weiblichen Mitmenschen in sein Gesichtsfeld rückt. Die Stationen der Gewalt sind eine Abtreibung, die er in seiner Praxis vornimmt, ein Kindsmord, eine Vergewalti‐ gung und ein weiterer Mord. Im zweiten Akt flieht Pameelen in die Einsamkeit der Berge. Dies illustriert die extreme, monströse Selbstbezüglichkeit seiner Konfrontation mit dem eigenen Ich. Diese Selbstbezüglichkeit offenbaren die jeweils beiläufig begangenen und inszenierten Gewaltakten und schliesslich der Akt der Selbstblendung. Die Blendung ist das Finale dieses „Going native“ in der Form eines selbstbezüglichen Rückzugs und „Abdichten gegen die Welt“. 44 In welcher Verbindung steht nun dieses „Going native“ zu demjenigen von Picasso? Ist die „Verwilderung“ der Künstlerfigur im Vergleich zu derjenigen Pameelens harmlos? Wie sind die überexplizit komplementären Figuren insze‐ niert? 3.2.1 Pameelen. Scheiternde Regression des Vermessungsdirigenten Lothar Schreyer erklärt 1917 im Sturm: „Das Drama ist tot. Es lebe das Drama“: „Das neue Werk ist das Bühnenkunstwerk. Es ist die Einheit und die Gestalt der Kunstmittel Form und Farbe und Bewegung und Ton.“ 45 Benns Dramen Der 190 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="191"?> 46 Vgl. Angaben Kap. 3; 3.2. Benn hat nur sechs Theaterstücke geschaffen und bezeichnet einzig den Vermessungsdirigenten und Karandasch als Dramen. Auch in Letzterem hat der Arzt Pameelen einen Auftritt. 47 Der Gesamtkunstwerkgedanke wird etwa prominent von Kandinsky im Blauen Reiter verhandelt [Bühnenkomposition (1912), dann Der gelbe Klang]; er ist für die Experi‐ mente von Wedekind oder Ball zentral, für Schwitters [An alle Bühnen der Welt (1919), aber auch Max Reinhardt oder im architektonischen Bereich bei Walter Gropius, vgl. Anz 2010, 150 ff.; Expressionismus - Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur (1990). Anz, Thomas/ Stark, Michael (Hrsg.). Stuttgart: Metzler, 543-558. 48 Für explizite Sprachanalysen der Hauptpersonen s. V, 35 f., 46, 52, 54, 61, 63. In der „Zusammenfassung“ wird bezüglich Sprache Folgendes skizziert: „[…] Einstürzt jede Fragestellung, die mit Erkenntnis rechnet, denn schon die Syntax läuft über in das Du, und der Kausalsatz herrscht in der Holunderlaube, in der sich abends was begibt“ (V, 35 f.). Pameelens Kritik an der naturwissenschaftlich-technischen Moderne wird über die Sprachkritik sichtbar gemacht. Seine Kritik am „Kausaltrieb“ (V, 39) äussert sich sprachlich und körperlich. Er sagt den Kausal- und Konditionalsätzen den Kampf an und spricht in Ausrufungssätzen. Die Dekomposition der Sprache, die auch die Syntax betrifft [„Mar-mor-stufe“ (V, 62) u. a.] ist in Benns Karandasch nochmals ausgebaut. Vermessungsdirigent und Karandasch, 46 welche im selben Jahr entstehen, sind eigenständige Beiträge zu diesem revolutionären Diskurs in der Bühnenkunst. Anders als vielen expressionistischen Zeitgenossen geht es Benn dabei weniger um Fragen eines transmedialen synästhetischen Gesamtkunstwerks, 47 respek‐ tive um konkrete Fragen der Verbindung der Kunstmittel, sondern primär um ein Sprachexperiment. Die komplementären „Going native“ von Picasso und Pameelen im Vermessungsdirigenten sind Teil eines - erzähltechnisch kühnen - regressiven Sprachexperiments. Auf der Figurenebene bringen die beiden als Bruderfiguren präsentierten Protagonisten eine Dekomposition der Sprache in Bewegung, deren Höhepunkt Picassos Wiehern nach der Transplantation ist (V, 60). 48 Körperliche und sprach‐ liche „Primitivierung“ der Protagonisten sind jeweils parallel geschaltet und verdeutlichen radikale Verkörperungen. Picassos „Primitivierung“ im Bereich der Sprache wird als Angleichung an den Ausdruck Pameelens beschrieben. Der Künstler beginnt gleichsam inspiriert von Pameelen in „primitiven“ Ausru‐ fungssätzen zu reden, was folgendermassen klingt: PICASSO (unsicher): Pameelen, haben Sie kürzlich mal - Pameelen, ich muss es ihnen gestehen, ich habe plötzlich eine so große Liebe zu den Ausrufungssätzen bekommen. Sie schliesslich sind doch primitiv, spargelförmig, unassoziiert. - 191 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) <?page no="192"?> 49 In diesem kurzen Zitat ist erkennbar, wie die Protagonisten sich gegenseitig antreiben. Wichtig ist festzuhalten, dass Picasso schon vor Pameelens konkretem Anschub der Ex‐ perimente Sprachkritik übt. Im Gespräch mit dem Alten Pameelen sagt er bspw.: „Lassen Sie doch diese unanständigen Kausalsätze“ und weist diesen nach Bemerkungen im Small Talk-Modus auf die Sinnlosigkeit des „Konventionalsatzes“ hin (V, 52). Seine Zivilisations- und Wissenschaftskritik konzentriert sich in diesem Gespräch, vgl. V, 54. („Die Logik von der Art als der intellektuelle Schaukelstuhl des Schamträgers gedacht, er [der kaukasische Knabe] betrieb sie als das offene Laster.“) 50 Zur Dialektik von Logik und Primitivierung, vgl. Riedel, Wolfgang: (2005). Endogene Bilder. Anthropologie und Poetik bei Gottfried Benn. In: Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Pfotenhauer, Helmut/ Schneider, Sabine/ Riedel, Wolfgang (Hrsg.). Würzburg: Königshausen & Neumann, 163-201. Hier 180 ff. Bzw. vgl. Benns theoretische Texte, zuvorderst Das moderne Ich (In: Tribüne der Kunst und Zeit, hrsg. v. Kasimir Edschmid, 1920), in dem er die verschiedenen (unvereinbaren) Dimensionen des Individuums (soziales Ich, selbständiges Individuum) darlegt. Ein Schlüsseltext im Bereich der Prosa: Benns Garten von Arles (1920), vgl. Reents, Friederike (2009). „Ein Schauern in den Hirnen“: Gottfried Benns „Der Garten von Arles“ als Paradigma der Moderne. Göttingen: Wallstein. PAMEELEN (kommt aus dem Hintergrund gestürzt): Picasso! ! (erschüttert) Eisatem, weisses Blut - ! PICASSO: Scheibenhonig! Euter! Geträufe! Radau! Gestänke! (V, 61) 49 Wie Pameelen im Gespräch mit Mieze, seiner ehemaligen Geliebten, bekundet, ist das Ziel seiner Sprachpraxis eine „schlanke Logik“ (V, 48). Eine Sprache, die entsprechend Pameelens allgemeinem Wunsch nach einer „mythische[n] Selbstverständlichkeit in der Ableitung des Psychischen in die Bewegung“ (V, 40) „mythische Selbstverständlichkeit“ oder „Ursprünglichkeit“ bedeutet und zu den Dingen zurückführt. „Primitivierung“ und „Logik“ (s. o.) konvergieren in dieser Vorstellung von Regression. Die besondere Beschaffenheit, das Programm seiner Regression erklärt Pameelen im ebengenannten Gespräch mit Mieze folgendermassen: „Programm: Entgeschlechtlichung des Gedächtnisses oder Verhirnung des Geschlechts. Projekte: Unterwühlung des Euters, Einkreisung des Nabels, Abbau der Eierstocksatavismen - schlanke Logik“ (V, 48) Hier wird die Dialektik der Regression sichtbar - Die „Verhirnung“ und „schlanke Logik“ ist eine Regression, die auf dem „Abbau der […] Atavismen“ beruht, auf der Ausklammerung des Geschlechts und des Gegenübers. 50 Das Scheitern dieser Regression wird in Bezug auf die Sprache insbesondere in der Jagdszene zu Beginn des 3. Aktes ersichtlich. Die Ausklammerung des Du (V, 35; 48; 54) führt zu leerer Mechanik, Verlust von Realität und Konvention, zum Zusammenbruch. 192 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="193"?> 51 Zu den dionysischen (Selbst-)Referenzen Pameelens s.u. 52 Der Bezug auf das Massentöten im Weltkrieg ist evident. Jagd- und Schießszenen finden sich auch bei Sternheim und Müller. 53 Eingangsszene: Explizit gemachter Wechsel ins Epische in (Selbst-)Gespräch mit „Stimme“, darauf kontinuierliche Lyrisierung (im 3. Akt unmissverständlich). Gess 2013, 331: „Aus der Dramatik der Selbsterkenntnis wird [so] eine hermeneutische Dramatik, die sich aufgrund ihres Verzichts auf Handlung, Kommunikation, Semantik und Syntax auf eine andere Gattung, die moderne Lyrik, zu bewegt.“ Pameelen, gealtert, im Schurzfell eine Weintonne behämmernd. 51 PAMEELEN: Dies ist der Reifen: Sprengung: Hingeströme. Dies ist der Reifen: Sammlung: Ichgefühl - (blickt auf) Ein Hüttendach, ein Schnee, - (zögert): es träuft, es klirrt, vom Dachfirst an die Erde […] Es - rinnt - : Du hebst die ganze Erde an: Die Wärmeschwankung, Perihel; die Folgerung: Föhn, Lawine, Verschüttung, Hilfskorps, Familienunglück, Zeitungsnotiz. Liegt deinerseits dazu Bekennung vor? […] (sieht auf) Zwei Gemsen! schattig auf dem Hügel! Umbrannt vom Licht! : Berggemse - mittelgrosse Ziegenart - langlebig, - Heribovre -, Feistzeit im Juli - , Brunst im Januar […] (stürzt zu einem Stutzen an der Wand) Herabnahme! alter guter Stutzen! Anlegen! Entfernungsschätzen! Zielen! Kimme! (stürzt überwältigt in die Knie, der Stutzen entfällt ihm, schluchzend) Gewollt! Gewollt! Zieleinheit! Tätigkeitsdrang! Willenszusammenschluss! Zieleinheit! Zieleinheit! Dinge! ! Dinge! ! Dinge! ! (Bebt lange in Erschütterungen.) […] Pause. Der Welten leises Bröckeln, der sanfte Zweifel, das Gefälle; am Hirn selbst: stiller Aufschluss, Flut, versagender Zerfall, - nur Ich: Erstarrung, Gültigkeit. (V, 63) 52 Dies der Zustand der „primitiven“ Sprache Pameelens kurz vor der Selbst-Blen‐ dung. Wie Nicola Gess aufgezeigt hat, zeichnet die „primitive“ Sprache der Protagonisten eine zunehmende Lyrisierung aus. Die Lyrisierung folgt auf eine zuvor episierte dramatische Sprache. 53 Wie die Forscherin plausibel macht, entsprechen die Gattungswechsel den Stationen der narrativen Selbstvergewis‐ serung des regressiven Ichs. Sie verdeutlichen die Grundtendenzen der sprach‐ lichen De- und Rekompositionsbewegungen, welche Ausdruck regressiver Depersonalisation, Abbild der (medizinischen) Kontroll-Disposition und Mittel der Selbstvergewisserung sind. In letzter Konsequenz, so Gess‘ These, würden die Gattungswechsel auch erklären, warum Benn nach dem Vermessungsdiri‐ 193 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) <?page no="194"?> 54 Gess 2013, 51. Vgl. Reents 2009, 37 ff. Friederike Reents beschreibt einen solchen Durchbruch des Lyrischen bspw. auch für Benns Garten von Arles. Die Lyrisierung dieses Prosatextes ist unter anderem an die Inszenierung der Kunst und Person van Goghs gebunden. Dies ist ein Befund, der im Zusammenhang mit vorliegender Arbeit eigentlich äusserst wichtig ist; es kann ihm jedoch nicht nachgegangen werden, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde. 55 Gess 2013, 332. 56 Picasso deutet im ersten Akt an, dass er sich vor der Transplantation einer Hirnopera‐ tion unterzog: „Operiert von Dr. Krause. Rechte Stirnwindung, zwischen Broca und Wernicke“ (V, 45). genten und Karandasch auf weitere „primitivistische“ Versuche im dramatischen Bereich verzichtete und sich auf Lyrik und (lyrische) Prosa konzentrierte. 54 Zurück zur Handlung und der Gegenüberstellung von Pameelen und Picasso: Pameelens „Going native“ misslingt. Die Dinge bleiben stumm, in monströser Selbstbezüglichkeit stellt sich keine erwünschte Formgebung ein: „Ein armes Luder ohne Formel und Sich-Umfassung ist bald von stillen Dingen zugedeckt, dreimasternd im Teifun des Unbewussten“ (V, 66), so beschreibt es der ster‐ bende Pameelen. Picasso hingegen reüssiert. Seine Strategien eines „primitiven“ Sehens oder „lyrischer Malerei“ - Gess benutzt diesen Begriff Guillaume Apol‐ linaires, um die Anspielungen des Textes auf die Kunstsprache des Kubismus zu unterstreichen - trägt Früchte. „Mit Picasso“, so schreibt Gess, werde damit Pameelen „eine Figur an die Seite gestellt, die die Depersonalisation nicht als Defekt, sondern Chance für ein neues Sehen empfindet und produktiv wendet, indem es die maximale Disparatheit in Kunst übersetzt.“ 55 3.2.2 Picasso. Die Regression des primitivistischen Künstlers Die produktive Übersetzung von „Disparatheit in Kunst“ gelingt Picasso, und zwar mit, respektive über den Flächenblick, den er nach Gehirnoperation 56 und Transplantation des Tierauges erlangt. Die Transformation ist als positiver Realitäts- und Selbstverlust gezeichnet: PICASSO: Gar kein Atomgewicht mehr, Schwerkraft ist Unfug, nur noch bunte Kurven; von euch beiden sehe ich augenblicklich nur zwei Hohlkörper, reflexbespren‐ kelt. - - PAMEELEN (aus dem Hintergrund): Das Tierorgan! PICASSO (zögernd): Der Flächenblick. - PAMEELEN: Das Schaumauge! Diese Regression Picassos ist anders zu kategorisieren als Pameelens, die dieser selbst mehrfach in Bezug zu „Dionysos“ (V, 56 ff.; 63 ff.; 66) oder „Don Juan“ (V, 194 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="195"?> 57 Der Name Schulze wird im Verlauf des Gespräches zur Chiffre, ja zum „Programm“: PICASSO: „Bedenken? Sie? Wer ist das? Schulze stand am Schild unten! “ PAMEELEN: „Ein Programm! “ (V, 44; s.a. V, 46). Pameelen ist nicht weiter in die Transplantation involviert, sie wird in der zweiten Szene der Begegnung von Pameelen und Picasso ein Fait accompli sein (II. Akt). Wie bereits erwähnt fungiert der Name Schulze auch bei Einstein als Chiffre. Vgl. Kap. 3.1; 3.3. 58 PAMEELEN: „Sie wollen mich konsultieren wegen? ….? “ PICASSO: „….der Gehirnebene. Wenn dies (mit der Hand) die allgemeine staatlich-logisch fixierte Ebene ist, bitte ich, eine leichte Drehung erwirken zu wollen, um eine Kleinigkeit, vielleicht um fünf Grad. Nur dass das Reizpotential eben überschritten ist. Kokain habe ich genommen, bis mir die Schenkel zitterten; Koffein, dass mich das Herz an die Pariete warf, bitte etwas dauerhaft Wirksameres, vielleicht Kurare? “ PAMEELEN: „Ich glaube, Sie verkennen…….“ PICASSO: „Ich verkenne nichts. Was ich erbitte, ist die Rückverlegung des Brennpunktes, sozusagen; eine Korrektion der Myopie.“ PAMEELEN: „Aber es gibt Normalsichtigkeit.“ PICASSO: „Aber kein Regulativ für Associationen. Ich erhebe vor Ihnen den Anspruch auf freie Gehirnebene, denn Sie sind kein Staatsbeamter […]“ (V, 42). 59 Dies, obwohl die Eingangsszene suggeriert, dass Picasso Pameelen zuvor kein grosser Begriff ist. PAMEELEN (eine Visitenkarte in der Hand): „Sie sind Picasso? “ PICASSO: „Ich bin so krank.“ […]. 35; 59) setzt. Sie führt paradoxerweise weg vom Körperlich/ Geschlechtlichen - auf eine Ebene, die Picasso selbst im Gegensatz zu Pameelen nicht mit einer antik-mythologischen Verbindung auflädt. Die Idee zur Transplantation eines Tierauges hat Picasso im Zuge der Konsultation Pameelens, den er für „Dr. Schulze“ (V, 44 ff.) hält. 57 Picasso bittet den Arzt um eine „Verlegung des Brennpunktes“ (V, 42), fordert eine Operation oder ein Mittel, das zu „freie[r] Gehirnebene“ (V, 42) führt. 58 Picasso klagt, dass nach einer ersten Hirnoperation seine körperliche Malerei nicht mehr funktioniere und verlangt nach einem radikalen zweiten Schritt („bitte etwas dauerhaft Wirksameres“): PAMEELEN: Wir wollen nicht abschweifen. Sie wünschen..? PICASSO: Dass die Schenkel einfielen und die Hirne horizontal kröchen […] Sie kennen die häufigen Rote auf meinen Bildern? Wie stürzte ich sie hin von Lippen über Brüste in den Schoss; hart lag das Fleisch, Stück neben Stück, und der Flaum vor den Schatten. Aber wenn ich sie jetzt erblicke, vollziehen sich die übelsten Kondensationen gerade in Stirnhöhe, es kräuselt sich etwas unter dem Schädel, als wolle jemand Makronen backen - (V, 44) Bereits vor der Transplantation diagnostiziert respektive visioniert Pameelen in seiner Funktion als Arzt nach der Selbstdiagnose Picassos die beispielslose künstlerische Entfaltung des genialen Künstlers. 59 Er stellt Picasso neben Beet‐ hoven und Nietzsche [! ] und assoziiert: „Beethoven, Nietzsche, Picasso. Freies 195 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) <?page no="196"?> 60 Bekanntlich exerziert Benn zur Entstehungszeit des Vermessungdirigenten in vielen Texten durch, wie Rauschzustände den Schöpfergeist und die künstlerische Lebens‐ weise beleben. Berühmtestes Textbeispiel ist das Gedicht Cocain (1917). Rausch bedeutet „Ich-Zerfall“, ein Zustand, der (scheinbaren) Aufhebung der Trennung von Ich und Welt. Feld, Gewitterstimmung“ (V, 45). Mit dem „Schaumauge“ erfüllt sich später, wie gesagt ohne Pameelens Zutun, gleichermassen dessen Vision. Die Regres‐ sion verläuft positiv, Picasso erreicht sein Ziel eines neuen Sehens respektive „freier Gehirnebene“. Er erlangt einen schöpferischen Modus, welcher über das Materiell/ Körperliche sowie, wie Picasso dies ausdrückt, eine Beziehung „funktionelle[r] Differenzen“ (V, 45) hinausweist. In letzter (logischer) Konsequenz bleibt unklar und offen, was Picassos Operation bedeutet und wer sie bewerkstelligt. Im zweiten Akt tritt Picasso jedenfalls wieder in Erscheinung und wiehert, als er im Gebirge auf Pameelen trifft. Pameelen macht eine Bemerkung über Picassos „eigentümliches Lachen“ worauf Picasso („beleidigt“ [! ]) entgegnet: „Ich habe doch jetzt rechts das Tier‐ auge! “. Pameelen antwortet darauf: „Ach so, das Tierauge! “ (V, 61). Daraufhin berichtet er über sein schwereloses neues Sehen. In der dritten Szene des dritten Akts treffen Pameelen und Picasso schliesslich ein drittes und letztes Mal aufeinander. Am Ende stirbt Pameelen und Picasso bricht endgültig in neue (künstlerische) Welten auf, wie die euphorische Zeich‐ nung des Künstlers suggeriert. Drogen und andere Hilfsmittel sind nun nicht mehr im Spiel: 60 PICASSO: Pameelen! PAMEELEN: Welche Stimme? PICASSO (von aussen): Ich muss Sie… PAMEELEN: Ich kann nicht…. PICASSO: (von aussen) Ich muss, ich muss, (bricht Tür ein) Pameelen! das neue, das grosse Glück! (tritt an Pameelens Bett) Pameelen, Sie müssen es noch hören: die Taunacht! die Erlösung - ! PAMEELEN: Ich ….? PICASSO: Pameelen, wir werden nicht geboren, wir erschaffen uns - PAMEELEN: Wir erschaffen uns? PICASSO: (überwältigt)….wir sind zugelassen zu einem Schicksal - PAMEELEN: .. Wir? (Wendet sein erblindetes, schmutziges, sterbendes Gesicht ihm zu.) PICASSO: Und wenn es die letzte Stunde ist, Ihr Augenbrechen, Ihre letzte Brunst: wir erschaffen uns und ich gehe, mich zu erschaffen. - PAMEELEN (schwer röchelnd, letzten Atems): Mit Kurare oder ohne Kurare? 196 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="197"?> 61 Kirchdörfer-Bossmann 2003, 199. 62 Im zweiten und dritten Akt wendet sich die im ersten Akt etablierte Arzt-Patient-Be‐ ziehung, Picasso nimmt sich dem Nervenkranken an. PICASSO: Kurare - was war das doch? PAMEELEN: Picasso! PICASSO: Ach so! Ende. (67) 3.2.3 Erodierende Gegenfiguren, verschränkte Monströsitäten Die karge, aber anspielungsreiche dramatische Handlung des Vermessungsdiri‐ genten ist schwer zu fassen. Dies trifft in besonderem Masse auch auf die Figurenzeichnung zu, und dies, obwohl die Protagonisten unmissverständlich gegenbildlich gestaltet sind - wie gerade die obige Schlusspassage überdeutlich macht. Wie tragfähig ist diese Doppelstruktur des Textes, die in dieser Schlusspas‐ sage ihren Höhepunkt findet, in der Gegenüberstellung grossen Glücks und qualvollen Sterbens? Haben wir es tatsächlich mit einer simplen Struktur zu tun, hier die gewalttätige Monströsität einer Regression, die Rationalismus und Wis‐ senschaft hervorbringt, dort die harmlose monströse Regression des Künstlers als eines „alter deus“, der sich und die Welt selbst erschafft? Hier die destruktive Regression und Degeneration Pameelens, dort ein (schematischer) Ausblick auf eine konstruktive Regression als Erneuerung? Ursula Kirchdörfer-Bossmann beschreibt die Figurenkonstellation des Vermessungsdirigenten mit der Haupt‐ person Pameelen und dem gegenbildlichen ,Sidekick‘ Picasso (Gess, s.o) folgen‐ dermassen: „Der konstruktive, kunstfähige Teil der Persönlichkeit erscheint in Der Vermessungsdirigent auf die Figur Picasso ausgelagert.“ 61 Mit dieser Formulierung ist die Gegenbildlichkeit und Verschränkung der Figuren gut getroffen. Ihre These der Verschränkung der Figuren zu einer Persönlichkeit erscheint plausibel, denn wie die zitierten Passagen mit den gemeinsamen Auftritten deutlich gemacht haben, leben die Figuren von der gegenseitigen Kommentierung und erschaffen sich gleichsam gegenseitig. Zu den Verschränkungen und Spiegelungen, mit denen der Text gesättigt ist: Die Protagonisten sind sich gegenseitig zugleich Arzt und Patient 62 und sind zum Brüderpaar hochstilisiert (V, 52 ff.; 62). Die Handlungen des Einen sind direkt vom Anderen beeinflusst - Pameelen bringt Picasso auf die Idee einer Transplantation (V, 46), Picasso seinerseits Pameelen zum Rückzug ins Gebirge (V, 54). Von einer Bruderschaft reden beide Protagonisten sowie der Vater Pameelens, der eine weitere Spiegelfigur des Textes darstellt. Der alte 197 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) <?page no="198"?> 63 Der Ernsthaftigkeit der Spiegelung wird immer wieder durch komische Szenen gebro‐ chen, bspw. mit dem Slapstick, dass Picasso Pameelen eine Visitenkarte zeigt (s. o.). Die Antwort Picassos auf Pameelens Frage - PAMEELEN (eine Visitenkarte in der Hand): „Sie sind Picasso? “ (V, 42) - zielt allerdings wieder ins Herz des multidimensionalen Bezugssystems: PICASSO: „Ich bin so krank.“ Ein weiteres Beispiel für Slapstick, resp. Sprachwitz ist der Schlussdialog zwischen dem sterbenden Pameelen und Picasso: PAMEELEN (schwer röchelnd): „Mit oder ohne Kurare? “ PICASSO: „Kurare - was war das doch? “ PAMEELEN: „Picasso! “ PICASSO: „Ach so! “ (V, 67) [Herv. LF]. 64 Wortfelder um Befruchtung (V, 35; 44; 54) prägen die Auseinandersetzung zwischen den Hauptfiguren [Begattung (V, 53; 59), Zeugungsfähigkeit (V, 43), etc.]. Die Abtreibung (1. Akt, 2. Szene) und die Tötung des Kindes (2. Akt, 2. Szene) sind die entsprechenden Gewalthandlungen Pameelens. Pameelen spricht Picasso als Sohn an, worauf Picasso folgendermassen eingeht: „Dass zwischen uns Relationen bestehen, bestreite ich nicht; aber nur als Sonderfall eines Systems von Relationen zwischen weit allgemeineren Begriffen und Beziehungen“ (V, 52). Im Gespräch präzisiert Picasso diesen „Sonderfall“ und redet von „Bezugsgebiete[n] völlig gleichen Ranges“ [! ] (V, 55). Der Hö‐ hepunkt der Spiegelung bildet die Aussage Vater Pameelens, dass Pameelen und Picasso gleich aussehen würden. Die Protagonisten, so die Stossrichtung, verkörpern das Nämliche, beziehungsweise verkörpern die Verschränkung von Gegenbildern oder „archimedischer Punkte“ (Pameelen, V, 55). Zentral für die Engführung der beiden Figuren ist, dass diese im Text - bewusst - offengelassen wird. Es ist ausschlaggebend, dass die Bruderschaft nicht fassbar ist. Es kann nicht entschieden werden, ob sie der Pathologie der Figuren geschuldet ist, ob sie als grosser Slapstick 63 funktioniert oder poetologische Gründe hat. Die tiefgehende Verflechtung der Figuren macht deutlich, dass die Disposition einer negativen (einwärts gerichteten) und einer positiven Regression (nach aussen) problematisch ist. Dies, obschon der Schluss des Dramas und die Losung Picassos nach Selbsterschaffung zwar für eine solche Auftrennung und klare Gegenbildlichkeit spricht. Picassos Losung stellt der Desillusionierung und Krankheit Zukunftsträchtiges entgegen und löst insofern die Spiegelung auf. Der entscheidende Faktor für eine Abgrenzung der Protagonisten und ihrer Regression ist jedoch klar in der Gewalt zu suchen. Doch im Zuge des Dramas wird die Verschränkung der Protagonisten fortwäh‐ rend ausgebaut. Zentral sind dabei die ideologischen Berührungsflächen der Regressionen. Sowohl den Arzt als auch den Künstler treibt die Desillusionie‐ rung über den sozialen Austausch an und nicht nur Pameelen, auch Picasso verurteilt einen körperlich-sexuellen Realitätsbezug. Beide verweigern sich einer Öffnung auf ein Du hin und wollen eine „Befruchtung“ von Aussen verhindern. 64 Picasso redet davon, einer „Spermatothantatos-Pille“ zu bedürfen 198 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="199"?> 65 Vgl. V, 44: PICASSO [! ]: „[…] ich meinerseits dichte die Öffnungen ab; vielleicht sitzt doch irgendwo ein Stück versprengter Eierstock und es erfolgt Befruchtung.“ 66 Gess 2013, 345. 67 Wie Gess und Andere aufgezeigt haben, ist das Ende des Textes intertextuell mit demjenigen des Einakters Ithaka aus dem Rönne-Komplex verschränkt. Ithaka endet mit dem Satz „Man wird gelebt“, einer im Gegensatz zum Vermessungsdirigenten zukunftslosen Determination. Vgl. Ebd., 49; Liedtke, Anja (2006). Auf nach Ithaka? Nur fort aus der Gegenwart und keine Zukunft in Sicht. In: Text und Kritik Heft 44, Neuauflage. Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.). München: Boorberg, 58-70. und sagt „Ich möchte nichts hinter meinem Rücken befruchten“ (V, 54). 65 Dem alten Pameelen antwortet er auf die Frage „[…] Kann ich bei dir wohnen? “ - „Bei mir kann niemand wohnen, meine physische Voraussetzung“ (V, 52). Denselben Standpunkt bringt Pameelen beispielsweise im Gespräch mit Mieze vor: „[…] Ich kann nicht Nicht-ich werden. Das widerspräche dem Satz von der Identität und das wäre die Auflösung“ (V, 48). Obgleich Picasso für physische und geistige Öffnung steht ist auch seine Regression eine Regression der Selbstkontrolle, in gewisser Hinsicht feiert er wie Pameelen eine „Brautnacht mit [sich selbst]“ (V, 59). Beide Protagonisten sind im Dilemma des „Going native“ gefangen, sind komisch-dramatische Figuren im Drama um (künstlerische) Regression zwischen Selbstauflösung und Selbstbezug. Die Gegensätzlichkeit der Regressionen Picassos und Pameelens relativiert schliesslich ebenfalls nicht nur, dass Pameelen die Unmöglichkeit des Rückbezugs auf sein Ich eingesteht und von Entformung (V, 64; 66) redet, sondern insbesondere auch, dass sein „Rückzugsgefecht“ (V, 46) ebenfalls eine schöpferische Dimension hat. Die Sprachexperimente gehen wie gesagt gröss‐ tenteils von ihm aus, auch greift Pameelen zweimal zu Stift und Papier und schreibt (V, 56; 59). So gesehen spitzt sich das Drama tatsächlich auf eine - doppelte - „Apotheose eines Schöpfer-Ichs“ 66 hin zu. Doch wohin zielt eigentlich die einfache, kann man sagen „primitive“ Er‐ kenntnis über das schöpferische Ich, die Picasso in der Schlussszene aus der radikalen Regression zwischen Selbstbezug und Selbstauflösung zieht? Die Erkenntnis „wir erschaffen uns“ ist als ,nüchterne’ Bilanz der Regressionsbewe‐ gungen in Szene gesetzt. Ist sie mehr als das? Und schliesslich: Welchen Kunstbe‐ griff impliziert die Erkenntnis der Selbsterschaffung? 67 Alle diese Fragen bleiben offen. Hinweise auf das in Entwicklung stehende Kunst- und Selbstdenken liefern einzig Picassos kryptische Aussagen über das neue Sehen, respektive seine Visionen einer neuen Welt. Im Gespräch mit Pameelen zeichnet er diese wie folgt: 199 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) <?page no="200"?> 68 Vgl. Benn, Gottfried (1932). Akademie-Rede, in: SW, Bd. 3 Prosa I, 386-393. Hier 390. In dieser rückblickenden Rede kommentiert Benn den bildkünstlerischen Expressio‐ nismus, im Spezifischen den „Südsee-Einbruch“ durch die expressionistische Kunst (er nennt Klee, Kandinsky, Léger). Dies geschieht am Rande, im Zentrum stehen abstrakt-theoretische ästhetische und anthropologische Fragen. 69 In der Lyrik vor dem 1. Weltkrieg ist diese Sehnsucht nach „primitiven“ exotischen Welten bspwe. in Gesänge (SW, Bd. 1 Gedichte I, 25) oder Untergrundbahn (ebd., 31, beide 1913) ausgedrückt; in der Novelle Die Insel aus dem Rönne-Zyklus [SW, Bd. 3 Prosa I, 62-71 (1916)] oder den Südseegedichten der 1920er Jahre: Palau [SW, Bd. 1 Gedichte I, 62 f. (1922)], Meer- und Wandersagen [Einstein gewidmet, Ebd., 66 f. (1925)]. [Ostafrika (Ebd., 94 f., 1925)], Osterinsel [ebd., 66 f. (1927)]. Struck deutet die Südsee-Lyrik Benns als Abschied und Neuorientierung vom deutschen Südseetraum. Das Gedicht Ostafrika nennt er ein ad absurdum geführtes „Satyrspiel [einer] Kombination aus kolonialem Machttraum und abenteuerndem Exotismus“, vgl. Struck 2010, 181. Vgl. Bassler 2007, 81ff. Darum nehmen Sie ihre Tasche und gehen Sie zurück aufs Land, aber ich sage Ihnen, es kommt eine Zeit, da haben die Hunde keine Schwänze mehr und die Dorfbewohner keine Koordinaten. Da sind wir alle nackt, stille Wüste. Wüste ist trockenes, heisses, staubiges Land; unfruchtbar, mit Abendröten, Teifunen und Karawanen, lesen Sie unter Gobi nach! Und witterten Sie eben in diesem Ausklangssatz die schliessliche Läuterung, das schlichte „und dennoch“ und - zumal das Komma abrupt zwischen den beiden Vorstellungskomplexen stand, - einen gewissen Firnenschnee und das bekannte große Leuchten? (V, 54) Es bietet sich an, die Losung der Selbstschöpfung mit diesen Zeilen zusammen zu lesen, denn das Gespräch hält die ausführlichsten Erklärungen zum „primiti‐ vistischen“ Ziel Picassos bereit. Bedeutet der offene Schluss des Dramas in Bezug auf diese Fährte eine Fortsetzung der Regression in eine Kunstwelt „unfrucht‐ barer“ - absoluter - Schönheit? Insofern in Picassos „primitiver“ Vision einer „nackten stillen Wüste“ Benns späterer Primitivismusbegriff anklingt, erscheint diese Interpretation nicht abwegig. Benns „Rauschreich“ Kunst, 68 welches in den 1910er und 20er Jahren exotistisch-mediteran geprägt ist, was insbesondere in der Lyrik der Brüsseler Zeit und auch prominent im Widmungsgedicht an Einstein evident ist, 69 wandelt sich in den 1930er Jahren. Wie zahlreiche Forscher: innen beschrieben haben, propagiert Benn nun eine künstlerische „Primitivität“ oder einen Primitivismus „kalte[r] Reserven“. In Lebensweg eines Intellektualisten (1934) hält er fest: Was aber gehalten und erkämpft werden muss, das ist: der Ausdruck, denn ein neuer Mensch schiebt sich herein, nicht mehr der Mensch als affektives Wesen, als Religiosität, Humanität, kosmische Paraphrase, sondern der Mensch als nackte formale Trächtigkeit. Eine neue Welt hebt an, es ist die Ausdruckswelt. Das ist 200 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="201"?> 70 SW, Bd. 4 Prosa II, 154-197. Hier 175. Helmut Lethen fragt, auf Benns Engagement für die Nationalsozialisten bezogen: „War es die Sehnsucht nach der ‚kalten Form‘ aus dem Zeitalter der Nervosität, die ihn [Benn - in den 30er Jahren] verführte? “, s. Lethen 2006, 13. Vgl. Ders. (1994). Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M: Suhrkamp. 71 Gerade in oben genannter Akademie-Rede - Benns Rede zur Aufnahme in die Preussische Akademie der Künste ein Jahr vor der Machtergreifung Hitlers - ist dieser heroische Nihilismus evident. Oder etwa im programmatischen Essay Nach dem Nihilismus (1932), dort skizziert Benn eine Überwindung des Nietzscheanischen Nihilismus hin zu einem neuen heroischen nihilistischen Ethos. Vgl. Michael Ansels Kommentar zum Essay: Ansel, Michael (2016). Nach dem Nihilismus. In: Benn-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung, Hanna, Christian M./ Reents, Friedericke (Hrsg.). Stuttgart: Metzler Verlag, 189-191. 72 Akademie-Rede, SW, Bd. III Prosa 1, 392. eine Welt klar verzahnter Beziehungen, des Ineinandergreifens von abgeschliffenen Aussenkräften, gestählter und gestillter Oberflächen - ; Nichts, aber darüber Glasur; Hades, aber statt der Fähre Pontons; Unerinnerlichkeit an das letzte Europäische: Primitivität, das sind die kalten Reserven. 70 [Herv. LF] Der wenig exotisch ausgestaltete monströse Nihilismus der Protagonisten des Vermessungsdirigenten offenbart jedenfalls durchaus Züge dieses späteren Benn‐ schen „heroischen Nihilismus“. 71 Das offene Ende des Vermessungsdirigenten zielt auf einen absoluten und nihilistischen Begriff von Kunst und Künstler‐ schaft. Picasso nimmt, so kann der Schluss interpretiert werden, heroisch die „formfordernde[n] Gewalt des Nichts“ 72 an. Und diese künstlerische Aufgabe ist nur bedingt harmlos. 201 3.2 Gottfried Benns Vermessungsdirigent (1919) <?page no="202"?> 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) Abb. 22: Conrad Felixmüller: Porträt Carl Sternheim (1925) Carl Sternheims Künstlertexte setzen sich ebenfalls mit den Möglichkeiten künstlerischer Primitivierung auseinander, wobei auch für seine Figuren die 202 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="203"?> 73 Einstein, Carl (1919). An die Geistigen, in: Die Pleite 1, 2. Vgl. BA, Bd. 2, 18. 74 Sternheim entwickelt ab 1917 eine Theorie der „eigenen Nuance“, den Begriff braucht er auch in literarischen Texten, so z. B. in der Erzählung Heidenstam, s. Gesamtwerk, Bd. 4, Prosa I (1964). Emrich, Wilhelm (Hrsg.). Neuwied: Luchterhand, 182. Vgl. Williams, Rhys W. (1985). Kampf der Metapher. Ideologiekritik in Sternheims Nachkriegskomödien am Beispiel des „Nebbich“. In: Text und Kritik Nr. 87. Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.). München: Edition Text und Kritik, 35-48. Hier 35 ff. Dedner, Burghard (1980). Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik bei Carl Sternheim. In: Carl Sternheim Material‐ ienbuch. Wendler, Wolfgang (Hrsg.). Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand, 164-187. Hier 170-175. Roland 1999, 225ff. 75 Einstein, Carl (1919). Schulze, in: BA, Bd. 2, 48-52. Einsteins Text ist gespickt mit di‐ rekten und indirekten Verweisen auf Literaten und Künstler, anhand derer er „Schulze“ charakterisiert und seine „Dichterschelte“ (s. u.) strukturiert. Er nennt Liebermann, Rilke, Maeterlinck, Kraus, Strindberg, Wedekind, Pechstein, Matisse, Schröder, Zech, Hoetger, Frank, Cassirer, Renoir, Meier-Graefe, Nietzsche, Rubiner. „Schöpferchen: geschmeidige Hilfstruppen des Bürgers. Schulze bürgert ins Höhere. Erschiebt sich Hierarchie; jenseits des Übermenschen und Obergefreiten.“ 76 Ebd., 48. körperliche Dimension von Primitivierung zentral ist. Die Auseinandersetzung mit dem Primitivismus führt Sternheim mit einem engeren Realitätsbezug als Benn. Eine körperliche Veränderung im Stil des Vermessungsdirienten, eine Mu‐ tation, die in ein körperloses Idealreich führt, scheint bei Sternheim undenkbar. Zieht diese Realitätsverhaftung nach sich, dass man bei Sternheim anstelle eines ,harmlosen‘ Künstlers auf einen primitivistischen Künstler trifft, welcher selbst gewalttätig wird? Die Implikationen des Realitätsbezugs werden im Laufe dieses Kapitels unter anderem an der Erzählung Gauguin und van Gogh (1924) überprüft, die auf die realen Künstlerbiographien Gauguins und van Goghs referiert. Eines vorweggenommen: gerade auf diese Wirklichkeitsverhaftung Sternheims und seinem in diesem Realitätsbezug gründenden Blick für den Künstler als Individuum zielt die Kritik seiner artistisch radikaleren Freunde. „Eure vielfältige Nüanciertheit steht uns nicht an“, 73 antwortet Carl Einstein auf Sternheims Theorie der „eigenen Nuance“, 74 welche auf die Individualität und den Charakter einer Einzelperson jenseits von Geschlecht, Stand oder Typus zielt. Gnadenlos charakterisiert Einstein Sternheim als bürgerlichen Künstler des Typus „Schulze“ [! ] als „Ausbeuter“ von Wirklichkeit, als „Schöp‐ ferchen“ [s. Prosatext Schulze (1919)]. 75 Dieser hätte vor allem seine eigene Inszenierung im Blick: „Lebenszweck Schulzens: Nichtschulzen darzustellen. Eine etwas germanische Art, drall und blond sich zu bejahen.“ 76 Die Faszination für „Nichtschulze“, den Kleinbürger, den randständigen Künstler oder in der Übertragung den „Primitiven“ als dem Fremden par excellence nennt Einstein 203 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="204"?> 77 Konstanze Fliedl nennt Schulze treffend eine „Spiessbürgersatire“, vgl. Handbuch der Kunstzitate Bd. 1 2011, 173. 78 Williams, Rhys W. 1981, 139-157. Hier 143. 79 Schulze, BA, Bd. 2, 51. 80 Richard Huelsenbeck in Brief an George Grosz, undatiert (November 1919): „Dieser Mann hat die Stirn, sich als unliterarisch aufzutun, seitdem er mit seiner Literatur ins Wasser gefallen ist“, zit. n. Fleckner 2006, 438. 81 Sternheim kommt als Student nach München. Nach der Heirat mit seiner zweiten Frau Thea Loewenstein, geb. Bauer (1883-1971), einer wohlhabenden rheinischen Industriellentochter wird ihre Villa „Bellemaison“ in Münchens Süden Treffpunkt einer örtlichen Kunstszene: Hugo von Tschudi, Rupprecht Prinz von Bayern, Heinrich Mann, Julius Meier-Graefe [! ], Alexeij von Jawlensky, Max Reinhardt, Tilly Wedekind, Paul Cassirer, Tilla Durieux, Eberhard von Bodenhausen, Rudolf von Simolin, Anette Kolb, Hugo von Hofmannsthal und Andere treffen hier aufeinander. 82 Die Kunstsammlung von Carl und Thea Sternheim umfasste Werke von van Gogh (besondere Vorliebe beider), Gauguin, Renoir, Daumier, Géricault, Denis, Matisse, Greuze, Altdorfer etc., vgl. Pophanken, Andrea (2001). „Auf den ersten Kennerblick hin“. Die Sammlung Carl und Thea Sternheim in München. In: Die Moderne und ihre Sammler. Französische Kunst in deutschem Privatbesitz vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Pophanken, Andrea/ Billeter, Felix (Hrsg.). Berlin: Akademie Verlag, 251-266. Bambi, Andrea (2009). „Van Gogh ist bei mir! Das ist ein lieber Gast“. Die Sammlerin Thea Sternheim. In: Kunstsammlerinnen. Peggy Guggenheim bis Ingvild Goetz. Wimmer, Dorothee/ Feilchenfeldt, Christina/ Tasch, Stephanie. Berlin: Reimer, 45-57. Hier 47; 56. Sternheim schreibt sich in seinen Memoiren einen „Kennerblick“ eine spiessbürgerliche Faszination. 77 Er spottet Sternheims Glauben an das „Wesentliche“ und „Eigentliche“ 78 und betrachtet ihn von diesem Standpunkt als Erbe Meier-Graefes 79 , von dem sich dieser jedoch abzusetzen trachtete (wie Einstein wohl wusste). Richard Huelsenbeck vermutete, dass die scharfe Kritik Einsteins, er redet allgemein von einer „Dichterschelte“, im eigenen literarischen Scheitern grün‐ dete. 80 Diese Auslegung steht hier nicht weiter zur Diskussion. Eindeutig scheint allemal, dass Einstein mit Schulze einen Punkt setzt. Der Prosatext (wie auch sein Essay An die Geistigen) ist als Abschluss einer Phase lesbar, als Text, der die Brüsseler Gemeinschaft Revue passieren lässt. Und er ist Einsteins Antwort auf das literarische Porträt von sich selbst in Sternheims Erzählung Ulrike. Diesen Beitrag Sternheims zur primitivistischen Künstlertypologie des Expressionismus gilt es im Folgenden genauer anzuschauen. 3.3.1 Kunsteuphorie und -programmatik. Die Künstlererzählungen Carl Sternheim ist in Belangen bildender Kunst gut informiert. Er ist seit den Münchner Tagen (1907-1912) freundschaftlich mit wichtigen Figuren der Kunstszene verbunden 81 und tritt als Sammler 82 in Erscheinung. Neben den 204 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="205"?> zu, vgl. bspw. Vorkriegseuropa (1936): „Meine Hingabe an die Malerei trug Früchte; ich hatte auf den ersten Kennerblick hin aus dem Schaufenster eines Kunsthändlers in der Maximilianstrasse die Arlésienne van Goghs für 13000 Mark gekauft […]“, s. MS Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, 107, zit. n. Pophanken 2001, 251. 83 Sternheim, Carl. [1918]. Ulrike. Eine Erzählung. In: Gesamtwerk, Bd. 4 Prosa I (1964). Emrich, Wilhelm (Hrsg.). Berlin/ Neuwied: Luchterhand, 139-159. Niederschrift ab 1916, Erstpublikation 1918 in zweibändiger Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn bei Kurt Wolff. Im Folgenden verwende ich die Sigle GW für die zehnbändige Gesamtausgabe Wilhelm Emrichs und Manfred Linkes und verweise später bei den Einzellektüren mit der Sigle U auf Textstellen aus Ulrike. Zur Genese der Erzählung und Rezeptionsgeschichte - die Erzählung wurde nach ihrem Erscheinen beschlagnahmt - vgl. GW Bd. 6, 50 f.; 520 f.; GW Bd. 4, Prosa 1 (1964) 429-433. 84 Sternheim, Carl [1924]. Gauguin und van Gogh. In: GW Bd. 5 Prosa II, 63-145. 85 Aufsätze über Malerfreund Felixmüller (Vgl. Kap. 3.3.2), über Masereel, etc.; daneben vielfältige und intensive Kunstbetrachtungen und -kritik in Tagebüchern und Briefen, s. frühe Briefe an Thea Sternheim (1904-1910), bspw. GW Bd. 6, 466 ff. Paradigmatisch äussert sich Sternheim bspw. im Artikel Guter Prosastil für Die Aktion (Nr. 51/ 52, 1921) zu seiner intermedialen Poetik, s. GW Bd. 6, 214: „Bevor ich den Satz endgültig niederschreibe, muss das Niederzuschreibende plastisch wie ein Bild, Statue in mir selbst auf seine prägnanteste […] Formel gebracht sein“, vgl. Williams 1981, 156f. 86 Sternheim, Carl (1936). Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens. In: GW Bd. 10, zit. n. Pophanken 2001, 251. 87 Beispiele von Inszenierungen einzelner Bilder: Frans Hals’ „The Lady Governess of the Old Men’s Alms House in Haarlem“ in Meta (1916); Rogier van der Weyden’s „Portrait of a Young Lady with Coif “ in Europa (1919/ 1920), vgl. Williams 1981, 156. Williams redet von einem „quest for the expressive ‚Bild‘“ und nennt in dem Zusammenhang auch Gauguin und van Gogh. 88 Williams 1981, 156. 89 14 Prosatexte gehören zum Kontext der Chronik: Busekow; Napoleon; Schuhlin; Meta; Die Schwestern Stork; Ulrike; Posinsky; Heidenstam; Der Anschluss; Die Hinrichtung; literarischen Texten mit bildkünstlerischen Zusammenhängen wie die für die folgende Analyse zentralen Texte Ulrike 83 (1918) und Gauguin und van Gogh 84 (1924) verfasst Sternheim auch kunsttheoretische Texte. 85 Im Literarischen entwickelt sich seine „Hingabe an die Malerei“, wie Sternheim seine Kunst‐ affinität in der autobiographischen Schrift Vorkriegseuropa in Worte fasst, 86 kontinuierlich zum Programm: Er experimentiert mit Verweisstrategien auf konkrete Bildkunst 87 und mit einer Sprache, die sich an den bildkünstlerischen Vorbildern (insbesondere van Gogh) orientiert; und er verknüpft mit diesen Kunstinszenierungen seine sprachtheoretischen und wissenschaftskritischen Anliegen. Das Resultat seines bildstrategischen Erzählens sind Prosatexte und Theaterstücke, die sich gemäss Rhys W. Williams als „gallery of sharply con‐ trasting pictures“ 88 beschreiben lassen. Williams macht diese Aussage in Bezug auf den Textkomplex der Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn 89 , zu dem auch die Erzählung Ulrike, sowie 205 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="206"?> Vanderbilt; Yvette; Die Poularde; Die Laus. Die Texte sind in unterschiedlichen Publi‐ kationskonstellationen (Einzel- und Sammelpublikationen) erschienen und existieren z.T. in verschiedenen Überarbeitungen. Sternheim benutzt unterschiedliche Genrebe‐ zeichnungen, Ulrike kennzeichnet er als Erzählung, Posinsky als Novelle. Vgl. Brecht, Christoph (1999). Mädchen für alles. Enzyklopädisches Erzählen in Carl Sternheims Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn. In: Konzepte der Moderne. Graevenitz, Gerhart von (Hrsg.). Stuttgart/ Weimar: Metzler, 268-283; Dedner, Burghard (1985). „Nun war’s um ihn wie auf einem Jahrmarkt bunt“. Sternheims Erzählungen 1912 bis 1918. In: Text und Kritik Nr. 87. 90 Sternheim, Carl [1918]. Posinsky. Eine Novelle. In: GW, Bd. 4, 215-242. 91 Sternheim, Carl [1918]. Der Anschluss. In: Ebd., 269-295. 92 Ich führe diese Etikette für die drei Erzählungen Ulrike, Posinsky und Der Anschluss ein - dies, obwohl die Künstlerfigur jeweils nicht im Zentrum der Erzählungen steht und diese schwerlich auf die Künstlerfigur reduziert werden können. 93 Vgl. Feilchenfeldt, Walter/ Veenenbos, Han (Hrsg.) (1988). Vincent van Gogh [and] Paul Cassirer, Berlin. The Reception of Van Gogh in Germany from 1901 to 1914. Cahier Vincent. Zwolle: Uitgeverij Waanders, 73 f.; 157. Der Gauguin-Bestand in Sternheims Besitz ist im Vergleich zu diesem Bestand schmal. Kurze Angaben zum Werkverzeichnis bei Pophanken 2001, 265; Bambi 2009, S. 56. 94 Zur Textgenese: GW Bd. 5, 482-499; bzw. GW Bd. 10/ 2, 1066-1073. deren ,Schwester-Erzählungen‘ Posinsky 90 und Der Anschluss 91 gehören. Die drei hier heuristisch als Künstlererzählungen 92 eingeführten Texte verbindet die primitivistische Künstlerfigur Posinsky. Sie entstehen alle zwischen 1916 (Ulrike) und 1917 (Posinsky/ Der Anschluss) in Brüssel und werden 1918 publi‐ ziert. Zentral an der primitivistischen Künstlerfigur Posinsky ist, dass sie, wie wir sehen werden, erstens punkto exotischer „Primitivität“ keine Wünsche offenlässt, und zweitens, dass sie im Bezug auf Paul Gauguin gestaltet ist. Für die Auseinandersetzung mit dem Primitivismus ist diese Nachfolgerschaft zentral. Allgemein fungiert Gauguin im Schaffen Sternheims der 1910er und 1920er-Jahre als primitivistische Schaltstelle, wie im Folgenden nachgezeichnet werden kann. Sternheims literarische Auseinandersetzung mit Gauguin ist an die Beschäfti‐ gung mit Leben und Werk Vincent van Goghs gebunden, sie erwächst sozusagen aus dieser. Sternheim - bis 1919 mit 13 Werken der grösste deutsche Sammler van Goghs [! ] 93 - verfasst erstmals 1910 einen Aufsatz über den Künstler in Hyperion (Vincent van Gogh), 1916 folgt in Brüssel für die Aktion die Legende von Vincent und Paul. Dieser Text ist eine Vorstufe der hier besprochenen umfangreichen Prosaarbeit Gauguin und van Gogh, welche erst 1924 zur Pu‐ blikation gelangt. 94 Diese drei Texte um Gauguin und van Gogh hat Rhys W. Williams zur Illustration der kunsttheoretischen Entwicklung Sternheims herbeigezogen. Er systematisiert folgendermassen: Vincent van Gogh (1910) liege ein naturmystisches und wissenschaftskritisches Kunstkonzept zugrunde, 206 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="207"?> 95 Williams 1981, 139-157. 96 Diese Typenarbeit zeichnet Sternheims Chronik allgemein aus. Busekow (1913) bspw. handelt vom Typus des kaisertreuen Beamten, Vanderbilt (1917) vom Typus des mittelbürgerlichen Dandys, etc., vgl. Brecht 1999. aus diesem sich in den Jahren vor dem Weltkrieg ein phänomenologisch-revo‐ lutionärer Zugang entwickle (Legende, 1916); schliesslich operiere Sternheim, so Williams im Zusammenhang mit Gauguin und van Gogh (1924), weiterhin phänomenologisch, verstärke jedoch nochmals den eingeschlagenen Kurs der Säkularisierung. 95 Im Folgenden wird mit der Gegenüberstellung von Ulrike und Gauguin und van Gogh Sternheims Blick auf die Bildkunst respektive sein bildtechnisches Erzählen auf neue Weise analysiert. Der Fokus wird von van Gogh auf Gauguin umgeleitet, in den Mittelpunkt rückt der Primitivist Posinsky. Wie ist die Erzählung Ulrike um den fiktiven Gegenwartskünstler mit dem Erzählkomplex um die primitivistischen Künstlerfiguren van Gogh/ Gauguin verbunden? Mit dem Komplex, der aus zeitlicher Perspektive gleichsam doppelt historisch angelegt ist, auf das ausgehende 19. Jahrundert bezogen und konkret in der Kunstgeschichte verhaftet? Wie gezeigt werden wird, kann Ulrike, in der Gauguin als bedeutendste Referenz des Künstlers und diskursiver Angelpunkt angelegt ist, als Antwort auf den zeitgenössischen populären primitivistischen Diskurs gelesen werden, ja die Erzählung entpuppt sich als Schlüsseltext zum kunsttheoretischen Diskurs der Brüsseler Jahre. Eine Bemerkung noch zum Zusammenhang der Chronik: Wie wir sehen werden, schöpft Sternheim das historisch-kritische Potential einer Chronik, Geschichte eines größeren Zeitraumes als Gesellschafts- und Typenanalyse zu erzählen, in Ulrike bewusst aus. Mit dem Verweis auf Gauguin erhält Posinsky innerhalb des wilhelminischen Figurenensembles, welches nach Sternheims Prinzip der „eigenen Nuance“ individualistische Typen kennzeichnet, 96 einen größeren historischen Echoraum und konkretes kritisches Potential. Ulrike. Eine Erzählung Ulrike erzählt die Biographie einer märkischen Grafentochter namens Ulrike von Bolz. Dies im typischen Duktus des Autors: auktorial, mit streng kompo‐ nierten Schnitten, kurzen Sätzen und großen Bögen. Es ist eine stark pointierte Erzählung eines von ihrem Milieu geformten weiblichen Selbst und dessen kontinuierlicher Demontage. Die Erzählung fasst Ulrikes gesamte Lebenszeit, fokussiert auf die Kriegsjahre und endet mit ihrem frühen Tod. Im parabelartig gestalteten letzten Teil der Erzählung, welcher ebenfalls in der Kriegszeit spielt, trifft die Protagonistin, vom Krieg und unmoralischen Männern zerrüttet, auf den Künstler Posinsky. Die sich zur zweiten Hauptfigur entwickelnde 207 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="208"?> 97 Der Atheist Einstein stand bekanntlich im Dienst der Zivilverwaltung und entstammte einer jüdischen Familie. Alle Diskursstränge dieser ersten Charakterisierung werden in der Erzählung ausgebaut, sowohl der religiöse als auch der politisch-ökonomische Diskurs, Posinsky ist bspw. nicht der einzige Jude der Erzählung. Mit dem jüdischen „wilden“ Künstler verweist der Erzähler allgemein auf das Klischee des jüdischen Kubismus bzw. stellt eine spezifische Stereotypisierung des primitivistischen Diskurses dar. Dass in der Schlüsseltext-Lektüre der primitivistische Theoretiker Einstein zum bildenden Künstler wird, scheint dem Verkörperungsprinzip des avantgardistischen Primitivismus geschuldet. Das Klischee des jüdischen Kubismus/ Primitivismus hat Ein‐ stein übrigens selbst aufgenommen und kommentiert. Er äusserte sich beispielsweise dahingehend, dass der Kubismus in Paris von Ausländern durchgesetzt worden sei, die dort die Rolle der Juden im Bolschewismus gespielt hätten, vgl. Kröger, Marianne (2009). „Jüdische Ethik“ und Anarchismus im Spanischen Bürgerkrieg: Simone Weil - Carl Einstein - Etta Federn. Frankfurt a.M: Peter Lang, 101. 98 Ulrikes Herkunft, Familie und gewisse andere Charakterisierungen bringen die adlige Aga von Hagen (1872-1949) ins Spiel, Einsteins Freundin der Brüsseler und späteren Berliner Jahre. Zu diesen vielfältigen Anspielungen s. Meffre 2002, 63; GW Bd. 4, 432 f.; Roland 1999, 65ff. 99 Kurzer Abriss der gerafft und suggestiv erzählten Biographie Ulrikes, die vor dem Auftritt Posinskys wenig konkrete Begebenheiten auszeichnet: preussisch-protestanti‐ sches Elternhaus (Schloss Miltitz), Unterdrückung durch Vater von Bolz [„Auf seine Person war alles Begreifen gedrillt“ (U, 141)], Ulrike als gehorsame, fromme und angsterfüllte Tochter, kleiner Personenkreis (Brüder, Pastor); Berlinaufenthalt der Eltern von Bolz mit ihrer Tochter, Demonstration einer anderen Welt [„des Daseins Reize“. Kino, Theater, „Elektrizität und brausende[r] Eile“, Vaters Geschäft mit einem Juden (U, 143-146)]; Rückkehr, Bestätigung der kleinen Welt, Rückzug, religöser Eifer und Armendienst („Jungfrau Märtyrerin“ (U, 147), kurze fruchtlose Episode einer „milde[n] Neigung“ für den blassen Geistlichen „Kandidat Kittel“; Ulrike äussert den Wunsch unverheiratet zu bleiben und weiter im Dienst Anderer zu stehen. Letzteren demaskiert die Erzählstimme als perversen Kriegswunsch: [„[…] was zu hoffen blieb, sei, durch höhere Ereignisse möchte das Mass des durch sie [Ulrike] zu lindernden Elends gesteigert werden“ (U, 148)]. Wunscherfüllung, Erster Weltkrieg. Einsatz als Krankenschwester, Schockbilder der Kriegsversehrung (Rausch, Panik, „faulige Jauche der Blutströme der massenhaft Amputierten“, dann Aufgehen in Arbeit, „Engel“ Ulrike, liebestolle Versehrte; Desillusionierung durch verstümmelten „Unhold“ Soldat „August Bäslack“ (U, 150 f.), Bekehrungseifer Ulrikes, Bäslack Verteidigung seines „feindliche[n] Verhältnis[ses] zur Menschheit“ (U, 150), Zweifel und Angst bei Ulrike, findet jedoch immer wieder Mut, „[…] bis des Mannes Gewalt aller geschändeten Kadaver Gesamtheit vor sie hintürmte, ihr seelisches Gleichgewicht stürzte, dass ihr als Pfeil im Herzen aufrecht ein Finsteres stand“ (U, 151), körperliches Grauen, das später mit dem körper‐ Künstlerfigur wird als „Maler, Hilfsarbeiter im Gouvernement und Jude“ (U, 154) eingeführt. Diese Charakterisierung Posinskys weist auf Carl Einstein als Vorbild für die Figur hin. 97 Örtlich ist in der Erzählung die Verbindung zu Brüssel gewährleistet (s. U, 152f. „Etappe“/ „besetzte[r] Hauptstadt“) und es wird auch über Ulrike auf Einstein angespielt. 98 Posinsky ist die letzte Station im Leben der Tochter aus gutem Hause. 99 Er muss, so die Anlage der Erzählung, 208 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="209"?> lichen Glück mit Posinsky parallelisiert wird; obszöner Bäslack, der ihr im Moment seines Todes mit „letztem Schwung sein Gesäss entgegen [warf]“ (U, 152). Versetzung in die Etappe, mechanische Pflichterfüllung [„entrundet“, „in zwei Wesen zersprengt“ seit Bäslack (U, 153)], kein Gehör mehr für Kriegsbegeisterung des Kandidaten Kittel, Zerstreuung im Kino (Indianer und Wilde! ), „Sucht nach eines Herzens Umgang“ (U, 154), Menetekel „Plastik“ des verstümmelten Körpers Bäslack - Auftritt Posinsky. 100 Der Erzählrahmen des Krieges wie auch der Komplex um die Psychiatrie oder jüdische Assimilation können hier nur am Rande in die Ausführungen miteinbezogen werden. 101 Mit dem Orang-Utan ist der große Bilderkomplex um die Animalität des Primitiven aktiviert. Die Tier-/ Maschinen-Gestalt birgt Anspielungen auf den futuristischen Pri‐ mitivismus oder etwa auch die fantastische Darstellung des Elementaren bei Alfred Döblin. lediglich andocken an ihre bereits „offenen Schleusen“ (U, 155), um sie in seine primitivistische Welt zu ziehen. Für Ulrike bedeutet der Eintritt in diese Welt die totale Selbstaufgabe und paradoxerweise auch Selbstfindung. Die folgende Analyse fokussiert auf diesen letzten Teil der Erzählung und bleibt in ihrer Ausrichtung auf den künstlerischen Primitivismus zwangsläufig einseitig. 100 Eine letzte Anmerkung vor der Lektüre: es ist überaus wichtig festzuhalten, dass in der Erzählung der Primitivismus aus der Perspektive des Künstlermodells in den Blick genommen wird. Im Mittelpunkt steht das „Going native“ Ulrikes; ihre extreme Assimilation vermittelt die Künstlerper‐ pektive. Diese Perspektive der Außenschau erweist sich als Kunstgriff: Im Kleinen scheint hier mit der Beziehung Ulrike/ Posinsky ausformuliert, was die Erzählung im Großen (besonders mit dem Bezug auf Gauguin) andeutet: Der Primitivismus ist ein mehrdimensionaler Prozess der Übertragung, ein authentisches „Going native“ unmöglich. Doch folgen wir dem Text: Extreme Verkörperungen Der primitivistische Künstler wird nach der obigen ersten Vorstellung („Maler, Hilfsarbeiter im Gouvernement und Jude“) als unmenschliches Wesen zwischen Tier und Maschine eingeführt: „Mächtige Schlucke und Bissen tilgte er und schwang aus stählernen Gewinden“ (U, 154 f.), oder: „Als einen Orang-Utan sah sie [Ulrike] ihn, doch nicht, ohne dass sie wie vor solchem Tier Schauer kühner Gewalt und urfremd elementarer Art bewehten“ (U, 155). 101 Die Suche, beziehungsweise wie der Erzähler expliziert, die „Sucht“ Ulrikes nach „eines Herzens Umgang“ (U, 154), nach etwas „Lebendigem“ (U, 155) führt sie vor dieses „urfremde“ Wesen. Posinsky, auch als „männliche Bestie“ (ebd.) beschrieben, bedeutet ihr (und dies ist nachdrücklich ausgearbeitet) die 209 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="210"?> 102 Diese Einführung des primitivistischen Künstlers deutet bereits an, dass der Primiti‐ vismusdiskurs des Textes über die exotistische „Afrika-Mode“ hinausgeht. Vgl. Struck 2010, 176 f. Posinsky bedeutet für Ulrike Rettung in eine Welt der Schöpfung jenseits der Zivilisation, bzw. Rettung vor der Urgewalt des Krieges, der diese Zivilisation zum Erodieren bringt. In der Erzählung gibt es dieser „elementaren“ Diskussion entsprechend mehrere elementare Parallelfiguren zu Posinsky (angefangen beim Vater Ulrikes, dem alten Juden, und vor allem den kriegsversehrten Soldaten). 103 Das Kaffeehaus ist wichtiger Schauplatz des exotistisch-primitivistischen Kontexts. Zur Exotik des Kaffeehauses s. bspw. Polgar, Alfred (1927). Theorie des Café Central. In: An den Rand geschrieben, Berlin: Rowohlt, 86f. Schöpfung: „Mit schärfstem Mikroskop in der seelischen Brille stand sie vor der Schöpfung, erbrach ihrer Erziehung frommen Betrug“ (ebd.). 102 Diese Einführung Posinskys, so zeigt sich, steht ganz im Zeichen einer Überformung des populären Bildes des primitivistischen Künstlers. In vollem Umfange prägt Posinsky das „Urfremd-Elementare“, er verkörpert es. Ulrike reagiert auf diese Verkörperung auf plakative Weise ebenfalls körperlich (Er‐ brechen). Mit dem Bild des Orang-Utans ist dem exotischen Kosmos bereits Vorschub geleistet, auch sind gewisse Anspielungen auf den Diskurs der primitivistischen Kunstbewegung gemacht (beispielsweise mit dem von den Theoretikern des Primitivismus häufig benutzten Stichwort der „Schöpfung“, oder dem Präfix „Ur-“). Die Erzählung wartet jedoch mit der wahren Fülle an Exotismen und Primitivismen noch auf. Später folgt ausdrücklich der ge‐ samte Katalog: Posinsky „buchstabiert den schwarzen Kanon“ (U, 156). Im Kaffeehaus 103 erzählt er von seinen Reisen nach Afrika und spricht sich für eine „wilde“ Lebensweise aus, darauf zeigt er Ulrike seine Sammlung „primitiver“ Skulpturen und „afrikanische[r] Skizzen“ (U, 157). Auf Ulrike wirkt Posinskys Welt als Offenbarung - Dies, während gleichsam gleichzeitig die unbestimmte, heterodiegetische Erzählerstimme Posinskys Afrikabild mit ironisch-kritischen Untertönen untermalt. Ein Beispiel: Das war Posinkys Trumpf, des Negers klassische Beständigkeit in jahrtausendelanger Reibung mit dem Weissen zu zeigen. Aus ihrem Blut allen Lockungen der Zivilisation trotzend, erhielten sie [die Neger] sich der Götter zauberisch parfümiertes Eiland, um das ein Wall von Eis, dörrender Glut, Wüste, dichten Wäldern gekeilt, sie vor eiliger Beweglichkeit schützte. (U, 156) Das primitivistische Afrika Posinskys ist ein irreales Ideal von märchenhafter Zeit- und Ortslosigkeit. Sein Primitivismus allgemein ist als überbordender Exotismus gezeichnet. Die Blume, die Ulrike zum Zeichen des neuen Lebens‐ sinns aus der Brust wächst, illustriert diese überdrehte Romantik: „Aus Ulrikes Brust schoss groß und dunkel [! ] eine Blume, die sie mit Lebenssaft begoss, als 210 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="211"?> 104 Diese Zeilen bringen uns kompakt die multidimensionale Konstellation des primitivis‐ tischen Begehrens im Text nahe. 105 Die verführerische und manipulative Kraft der Kunst und des Künstlers diskutiert Sternheim u. a. auch in seiner berühmten Komödie Die Kassette (1911). Vgl. Schürer, Ernst (1996). Photographie und Kunst im „bürgerlichen Heldenleben“ um die Jahrhun‐ dertwende. Carl Sternheims „Die Kasette“. In: Sozusagen. Eine Festschrift für Helmut Müssener. Biedermann, Edelgard et al. (Hrsg.). Stockholm: Schriften des Germanisti‐ schen Instituts, 209-229. deren Schöpfer sie Posinsky ohne sein Wissen, wie man das sich Offenbarende verehrt, liebte“ (U, 156). 104 Das überzeichnete Bild, mit dem in der Erzählung die primitivistische Mode sowie in demselben Moment die populäre Kritik am Primitivismus karikiert wird, wird schliesslich damit gekrönt, dass sich Ulrikes „Primitivierung“ auf der sexuellen Ebene entwickelt. 105 Nach den phantastischen anthropologischen Exkursen im Kaffeehaus wird Posinskys Primitivismus [in der Nachfolge Gauguins (s.v.)] handfest. Der Text bringt dies mit zahlreichen Verben zum Ausdruck: im Anschluss an den Atelierbesuch wird getastet, ge‐ griffen, getreten, geleckt und getaucht und schliesslich geboren. Das Körperliche beherrscht Raum und Zeit: Modell und Geliebte war sie ihm, wie er sie wollte. Aus allem sonst war sie in ihn auf eine Spirale gerollt, aus der er sie schnellte und sich ducken liess. Bald stand sie hoch auf Podien, er renkte ihre Masse in seines Bildes Erfordernisse, dass Getast unter seinen Griffen bäumte, Gesait zu spitzen Tönen schrie oder in Geheul verseufzte. Pedal war sie, von ihm getreten, englische Stimme, durch ihn gelockt. Doch gebar sie ihm in raumloser zeitloser Fülle fortwährend Himmlisches. (U, 157 f.) Ulrike wartet, selbst animalisch „primitives“ Wesen geworden [„berauschte Äffin“ (U, 158)] im afrikanisch geschmückten Atelier den ganzen Tag verdäm‐ mernd auf ihren „behaarten Affen“ und erwartet die Stunde der sexuellen körperlichen Entschränkung. Dieses „Going native“ hat befreiende Wirkung: Von Entwicklungen tropfte Ulrike sich frei, schabte Ursprüngliches, in Geschlechtern verschüttet, aus sich heraus, bis sie blank und ihr dichtestes Ich war. Jahrtausende hatte sie rückwärts eingeholt und wünschte das späte Paradies nicht herrlicher. (Ebd.) Gauguin als Schaltstelle zwischen exotistischem Primitivismus und Gegendiskurs Permanente Einschreibungen in den Körper sind die logische Entwicklung der körperlichen „Primitivierung“. Ulrike lässt sich von Posinsky peitschen und die „Zitzen“ [! ] tätowieren. Schließlich findet die körperlich-gewaltsame primitivistische Glückseligkeit der Protagonisten in der Schlussszene ihren 211 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="212"?> 106 Es ist überliefert, dass die Sternheims Gauguins Nevermore gerne in ihre Sammlung aufgenommen hätten. Vgl. Pophanken 2001, 261. 107 Vgl. Kap. 1.1.2. Höhepunkt. Ulrike stirbt im Kindsbett und zwar „mit verzückten Grimassen“ (s. u.). Diese Szene birgt die Gauguin-Referenz: Oft kam er [Posinsky] sich erhaben vor, schleifte das berückte Fleisch vor ihm, das eine deutsche Gräfin war. Manchmal war er traurig und wusste nicht warum. Immerhin schien er nicht unglücklich, als Ulrike einen Knaben entband und in der Geburt mit verzückten Grimassen starb. Da ihm das Kind mit aufgekippten Lippen widerlich schien, gab er es an ein Findelhaus, nicht ohne seine Umrisse auf der Leinwand der unter Palmen schlafenden Ulrike in den Schoss gemalt zu haben. Das Bild heißt „Never more“ und hängt in öffentlicher Sammlung. (U, 159) Gauguin wird über den Bildtitel „Never more“ der einzigen konkreten Bild‐ schöpfung der Erzählung ins Spiel gebracht. Nevermore (1897) ist bekanntlich eines der berühmtesten Bilder des Gauguinschen Tahiti-Zyklus. 106 Abb. 23: Paul Gauguin: Nevermore (1897) Es zeigt einen exotischen weiblichen Akt in einem archaisch ornamentierten Raum. Im Bildhintergrund sind weitere exotische Frauenfiguren und ein Rabe zu erkennen. Das Bild ist motivisch eng mit Mana’o tupapa’u (1892) verbunden, dem repräsentativen Bild des ersten Tahiti-Aufenthalts Gauguins. 107 Mit dem Titel des Bildes, dem Raben sowie der Inschrift verweist der Künstler auf 212 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="213"?> 108 Poe, Edgar Allan [1845]. The Raven. In: Collected Works I (1969). Mabbott, Thomas O. (Hrsg.). Cambridge: Harvard University Press, 364-369. In Poes Gedicht aus dem Jahr 1844 ist „Nevermore“ mehrfach wiederholtes Schlüsselwort. 109 Zur Palme als „Kollektivsymbol exotischer Erotik“, vgl. Schwarz, Thomas (2006). Robert Müllers Tropen. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus. Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 52. Edgar Allan Poes Gedicht The Raven. 108 Diese Referenz seiner Referenz Gauguin scheint unwichtig für Posinskys Bildschöpfung. Und doch: sie ist in dem Sinne von Belang, als dass Posinsky mit der toten Ulrike den Totengesang Poes sozusagen wörtlich in Szene setzt. Die kurze Beschreibung des Bildes suggeriert allgemein eine wenig tiefgreifende Bezugnahme. Posinskys bizarres Memento mori mit Kind und Palme scheint keinen Bezug zu Nevermore zu haben. Sein Primitivismus, so wird angedeutet, ist exotischer und (schauer-)romantischer als sein Vorbild. 109 Vordergründig wird mit dem Schluss der Erzählung demnach einerseits nochmals die Plakativität seines Primitivismus hervorgehoben und andererseits die Anlage der Erzählung als Parabel ausgereizt (,Märtyrertod‘ Ulrikes, Ikonographie einer Madonna mit Kind). Zudem, und dies ist für unseren Zusammenhang wichtig, bündelt das Ende der Erzählung mit der Gegenüberstellung von Posinskys und Gauguins Nevermore die Geschichte hinsichtlich der Problematik von Anverwandlung und Assimilation. Die Ver‐ bindung Posinsky-Gauguin funktioniert als Schablone, in der sich die Szenen der Anverwandlung und „Primitivierung“ des Textes zusammenfassen lassen. Und schliesslich wird mit der Bezugnahme Posinsky-Gauguin der Primitivismus als avantgardistisches Netzwerk und Verweissystem in Szene gesetzt. Dieses Verweissystem gilt es genauer anzuschauen. Die Erzählung zeigt den Primitivismus als zeitbedingtes europäisches Phä‐ nomen, heruntergebrochen auf eine naive, eskapistische Umsetzung (oder „Going native“) eines einzelnen Künstlers und seiner Adeptin. Aus der bio‐ graphischen Erzählperspektive sind der Erste Weltkrieg und der Zeitgeist ver‐ antwortlich für das (künstlerische) „Primitivieren“ der Protagonisten. Grund‐ sätzlich lässt sich nun beobachten, wie diesem Gewicht der Gegenwart der historische Referenzraum, welcher mit Gauguin aufgefächert wird, entgegen‐ arbeitet. Gauguin, so die These, ist ein diskurstechnischer Kanal, der einerseits Vereinfachung und Plakativität bedeutet, andererseits einen Gegendiskurs in der Erzählung verankert. Dies kann am Körperdiskurs der Erzählung nachvoll‐ zogen werden: Die Erzählung dreht sich demonstrativ weniger um die Kunst als um das Künstlerleben und an diesem interessiert weniger das „Primitive“ als dessen Inszenierung. Für diesen Rahmen des ‚Leben vor Werk‘, der Verkörperung und 213 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="214"?> 110 Man achte auf den Schlusssatz der Erzählung. Hier wird erwähnt, dass Posinskys „Never more“ in „öffentlicher Sammlung“ hängen würde. 111 Auf diesen theoretischen Körper- und Formdiskurs wird vor allem über einzelne Begriffe angespielt [„Kubisches“ (U, 157), „Schöpfung“ (U, 155), „entformen“ (U, 151), „raumlose zeitlose Fülle“ (U, 157), Plastik des Kriegsversehrten (U, 154), etc.]. Die abstrakte Typenanlage (s.v.), allgemein die strenge Umsetzung der Thematik um Verkörperung und Einschreiben weisen ebenfalls auf einen Gegendiskurs. 112 Vgl. bspw. U, 152 f. (Kriegskritik); U, 154 f. (Sprachkritik): „Durch die Gassen lief sie [Ulrike], stöberte im Gesindel nach kühnen Visagen, drängte in des Mobs Zusammen‐ rottungen und fand auch da zu Brei gewälzte Phrasen, denen die Druckerschwärze vom Morgen nachstank.“ Allgemein rüttelt der Revolutionär Posinsky „erbarmungslos in das Gerüst der Welt“, schlägt mit „besessener Kraft und besserem Wissen“ zu (U, 155). 113 GW Bd. 4, 225f. des Inszenatorischen ist der später zentral angesprochene Gauguin der große Referenzpunkt. Gauguins „Going native“, so macht der Schluss der Erzählung klar, ist die - institutionalisierte (159) 110 - Bezugsgröße, gleichsam nicht nur des Protagonisten, sondern auch des Erzählers, der die populären Vorstellungen des Primitivismus zurückhaltend aber effektiv auf das mythische „Going native“ Gauguins zurückbindet. Dadurch, dass in der Schlussszene die Unterschiede zwischen Posinskys und Gauguins primitivistischer Bildkunst evident gemacht werden, erhärten sich jedoch die den Text durchziehenden Hinweise auf die historisch-theoretischen Verankerungen dieses Körperdiskurses; die Anspie‐ lungen auf einen avantgardistischen Gegendiskurs zu diesem populären Diskurs werden gebündelt. Mit den Hinweisen auf einen alternativen kunsttheoreti‐ schen Diskurs 111 und den individuellen - individualistischen - Umsetzungen der „Primitivierung“ der Figuren wird die dominante sexuell-körperliche Per‐ spektive aufgebrochen. Auch die Ansätze von Gesellschafts-, Sprach-, und Kriegskritik, welche die Figuren üben, weisen auf einen Primitivismus abseits des Körperlichen. 112 Im Endeffekt überzieht jedoch die karnevaleske Afrika-Ima‐ gination Posinskys die Hinweise auf den Primitivismus als heterogenes Phä‐ nomen. Es wird ein schematischer naiv-gewalttätiger Primitivismus gezeigt. Dem Kritikpotential dieser Überzeichnung des Primitivismus wird im Folgenden nachgegangen. Vergrössert die Übersteigerung den Raum eines kritischen primitivistischen Gegendiskurses? Und was bedeutet sie für das Verständnis des Primitivismus als extreme Verkörperung („Going native“)? Auch die zweite Künstlererzählung Posinsky böte für die Diskussion dieser Fragen genügend Stoff, denn darin treibt Sternheim die Überzeichnung eines Primitivismus des Körpers auf die Spitze. Posinsky führt in der Erzählung eine nochmals radikalere Praxis und Theorie des Körpers vor. Unter dem Motto „bibo et edo ergo sum“ 113 mästet er sich nach Ulrikes Tod durch die letzten Kriegsjahre. Er lebt und zelebriert den Rückzug aus der Gesellschaft, ein tierisches, auf primäre 214 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="215"?> 114 Posinskys (ehemaliges) Künstlertum wird in der Erzählung nicht vorgebracht. Lediglich in der expliziten Verbindung zu Ulrike bleibt der Bezug zu Kunst und künstlerischem Primitivismus bestehen. Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Typus des vom Krieg verschonten Rentiers, Posinsky verkörpert diesen als „besonders üppiges Exemplar der Gattung zu Hause Gebliebener“ (GW Bd. 4, 217). Die Verbindung zu Ulrike besteht jedoch nicht nur im direkten zeitlichen Anschluss der Erzählung. Trotz Distanzierung vom Kunstdiskurs schließt die Erzählung thematisch eng an die Vorgängererzählung an. Mit dem Rückzug Posinskys in die eigene Wohnung (als tierischer Bau inszeniert) wird der Primitivsmusdiskurs gezielt weitergeführt. Der extreme körperliche Primiti‐ vismus endet damit, dass Posinsky sein Gegenbild, einen künstlerisch-intellektuellen Nachbarn, ermordet. 115 Linke, Manfred (1979). Carl Sternheim. Reinbek: Rowohlt, 68. 116 GW Bd. 10/ 1, 533. 117 Vereinfacht gesagt ergeben sich durch die changierenden politischen und theoretischen Standpunkte Sternheims lediglich jeweils neue Gewichtungen innerhalb dieses poeti‐ schen Systems, d. h. in der Darstellung des Abhängigkeitsverhältnisses der Figuren. Zur politischen Haltung Sternheims, insbesondere dem Zeitraum 1913-1923 in intensivem Austausch mit linksradikalen Kreisen s. Dedner 1980, 179ff. Bedürfnisse reduziertes Dasein. 114 Die Erzählung karikiert wie Ulrike regressive Kultur- und Kunstkonzepte der Jahrhundertwende, führt aber explizit auf ein Gebiet jenseits von Kunst und Exotik. Diese Entwicklung in der Darstellung des Primitivismus kann später auch in der Erzählung Gauguin und van Gogh nachvollzogen werden. Ambivalente Verkörperungen Die Beobachtung Manfred Linkes, dass die Gestalten aus Sternheims dramati‐ schen Werken sowohl Typen wie Charaktere sind, gilt auch für die Chronik. 115 Sternheim bringt die Gesellschaft des „[…] zwanzigsten Jahrhunderts Beginn“ mit kantigen Einzelfiguren zur Darstellung, welche die Fesseln und Konven‐ tionen von Stand, Gruppe und Typus und die Möglichkeiten der Sprengung derselben zur Diskussion stellen. Er fokussiert die Schnittstellen zwischen Gesellschaft/ Konvention und dem Einzelnen und dessen „Nuance“. Über die Chronik verlautet Sternheim in seiner Autobiographie Vorkriegseuropa (1936): […] Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, mir je meines Werkes Held oder Heldin zu „erfinden“. Ich gab den noch reichlich original vorhandenen irgendwie wesentlichen Begegneten einfach ihr eigenes höheres Gleichnis aus erschüttertem Anblick der Welt als „bürgerliche Helden eines bürgerlichen Zeitalters“. 116 Gemäss dieser Vorstellung formt der Einzelne das Gleichnis, der Charakter den Typus und umgekehrt. Wie schon erwähnt, hat Sternheim mit diesem poetischen Prinzip, das auch in Gauguin und van Gogh Anwendung findet, und sich durch sein gesamtes Werk zieht, 117 die Kritik seiner Freunde provoziert. Im 215 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="216"?> 118 Diese Kritik am romantischen Idealismus Sternheims hallt lange nach. Die Polarisie‐ rung der germanistischen Rezeption Sternheims entspringt gleichsam dieser Kritik. Vgl. insbesondere W.G. Sebalds Monographie zu Sternheim Ende 1960er Jahre und die Repliken darauf (Sebald, W.G. (1969). Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära. Stuttgart: Kohlhammer). Sebald warf Sternheim einen hohlen neuromantischen Ästhetizismus vor und pathologisierte ihn als schizoiden Neurotiker. Tendenziell gilt für Sternheims Rezeption, dass er bis in die 1960er Jahre hinein als Kritiker überhöht wurde, und danach kritische Abhandlungen folgten, bzw. Jahrzehnte der Nichtbeachtung. Zuletzt überwiegen positive Lesarten, gerade auch in Bezug auf die Typenarbeit Sternheims, s. bspw. Behrs, Jan (2013). Der Dichter und sein Denker. Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in Realismus und Expressionismus. Stuttgart: Hirzel, 140-145. 119 Vgl. Brecht 1999, 273. Christoph Brecht unterscheidet klar zwischen Figuren- und Erzählperspektive. Die Anlage der Erzählungen sei grundsätzlich folgende: eine relative Beweglichkeit und „Individualität“ auf Figurenebene würde von der Erzählstimme unterbunden. Mit kritischem Blick auf die Forschungsdiskussion fasst er die Figuren‐ technik folgendermaßen zusammen: „[…] er [der Erzähler] musste darum fast not‐ wendig in die falsch gestellte Alternative zwischen Satire hier und einem authentischen Individuellen da geraten“ (Brecht 1999, 281). 120 Vgl. Struck 2010, 182 f. Hier 183. 121 Ebd. Gegensatz zu Einstein und anderen avantgardistischen literarischen Stimmen der Zeit, die sich von heroischen Gesten distanzieren, insistiert Sternheim darauf, von seinen Figuren als „Helden“ zu sprechen und verfolgt, wie obiges Zitat belegt, einen Wahrheitsanspruch. 118 Als „Helden“ zwischen Individuum und Typus sind Ulrike und Posinsky keine Identifikationsfiguren. Mit ihnen ist kein Anspruch verbunden, authentische Individuen zu präsentieren. Ebensowenig sind sie reine Typenzeichnungen oder hölzerne Schachbrett- oder Thesenfiguren, obwohl sie, wie Christoph Brecht beschreibt, vom Erzähler wie Pawlow’sche Hunde durch den Versuchsaufbau der Erzählung getrieben werden. 119 Der Primitivismus, und damit die extreme Verkörperung eines „primitiv(istisch)en“ Ideals wird in den Erzählungen ironi‐ siert und kritisiert und ist der relativen Beweglichkeit der Figuren gemäß aber keineswegs eindimensional. Ulrike findet im Prozess der „Primitivierung“ zu sich selbst und dies bedeutet die Möglichkeit eines positiven Blicks auf den Primitivismus jenseits von Körperlichkeit, Gewalt und männlicher Definitions‐ macht. Mit ihrer „Primitivierung“ - Wolfgang Struck spricht von einem „maso‐ chistisch-primitivistische[n] Rausch“ - erreicht Ulrike einen „Zustand grösserer Authentizität“. 120 Diese Authentizität hat Bestand, obwohl sie die Erzählung mehrfach in Frage stellt, sie allgemein durch „viele Einschränkunge[n] und Selbstwidersprüche“ 121 gekennzeichnet ist. Ulrikes „Primitivierung“ lässt sich als ,konstruktives‘ „Vexierbild“ lesen. Struck bemüht folgende Bezugssetzung 216 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="217"?> 122 Ebd., zit. Einstein, Carl (1921). Afrikanische Plastik, BA, Bd. 2, 65. 123 Dedner 1985, 66f. 124 Struck 2010, 175. 125 Ebd., 178. 126 Ebd., 182. von Sternheim und Einstein über diese Offenheit der Figurengestaltung Ulrikes: „Nicht eine vermeintliche Primitivität, sondern allein diese Vieldeutigkeit teilt Ulrike mit einem Afrika, von dem Carl Einstein zugleich frustriert und begeistert sagen kann, es ‚entzieht sich mit glatter Haut europäischer Wissbegier‘.“ 122 Auch die Erzählung Posinksy erlaubt eine ähnliche Lesart, respektive posi‐ tiven Entwurf von „Primitivierung“. Posinskys „Primitivierung“ funktioniert ebenfalls als Vexierbild. Gerade in seiner Radikalität kann eine positive Interpre‐ tation des Primitivismus gründen: Auch hier entwickelt das Individuum aus der radikalen Zuspitzung des Typus seine Konturen, durch die radikale Zuspitzung werden gesellschaftliche Mechanismen, insbesondere das Körperregime des Krieges offengelegt und subversive Kritik angestossen. 123 Für die nachfolgenden Überlegungen bleibt festzuhalten: Der Primitivismus als Kunstdiskurs scheint in den Künstlererzählungen bewusst an den Rand gesetzt. Ein Primitivismus des Körpers trübt die Sicht auf die Anliegen der Kunst und macht diese aber in der Referenz auf Gauguin sichtbar. Die Konstellation, die Sternheim mit der Schlussszene aus Ulrike heraufbeschwört - die Gegenüber‐ stellung der Kunstwerke von Posinsky und Gauguin - kann als Kommentar dazu gelesen werden: Gauguin, respektive sein Werk, welches unangetastet durch die oberflächliche Aneignung Posinskys für sich spricht, stellt gewissermassen eine ‚neutrale‘ Folie des künstlerischen Primitivismus vor. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ulrikes glückliches „Going native“ sowie der in der Bilderinszenierung gebündelte Gegendiskurs die karne‐ valeske, ironisierte Primitivismuskritik der Erzählung grundlegend relativiert. Am Ende des tödlichen körperzentrierten „Going Native“ von Ulrike steht schliesslich aussagekräftig die Kunst. Wolfgang Struck interpretiert dahinge‐ hend: „Am Ende der durch Kunst inspirierten Simulation primitiven Lebens steht wiederum die Kunst: Was bleibt, ist die unter Palmen schlafende Ulrike auf einem Gemälde Posinskys.“ 124 Und diese Bewegung ist nicht nur ein Zirkel‐ schluss, der einen manipulativen und institutionalisierten Primitivismus weiter unterstreicht, sondern eben auch positiv wendbar. Die primitivistische Kunst führt Ulrike in Strucks Worten auf die „andere[n] Seite“: 125 „in eine Welt, in der ihr nicht einmal der Erzähler zu folgen vermag“. 126 Dieser konstruktive Teil des Sternheimschen Blicks auf den Primitivismus soll in Gauguin und van Gogh weiter analysiert werden. Inwiefern ist darin die 217 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="218"?> 127 Vgl. Angaben Kap. 3.3.1. Im Folgenden benutze ich die Sigle GvG. 128 Der Fokus auf diesen Zeitraum ist der Anlage der Erzählung als Doppelporträt ge‐ schuldet. Zur Paarung der Künstler, s. Bismarck 2010, 43-56. 129 Sternheim hatte die deutsche Übersetzung der Briefe van Goghs zur Hand [Mauthner (1911), van Gogh-Bonger (1914)] sowie die deutsche Übertragung von Avant et après (Schwabach, 1920). Via Kurt Wolff, der 1918 eine Faksimile-Ausgabe von Avant et après realisierte, hatte er zudem direkten Zugang zum Originalmanuskript Gauguins [! ], vgl. Williams 1977, 113 f.; 116; 120ff. 130 Zur Auseinandersetzung mit Meier-Graefe, vgl. Williams 1977, 114, 116 f., 120 f.; zu F.M. Huebner, dessen Aufsatz 1922 in der Tribüne der Zeit erschien, ebd., 121 f., weiter im Zusammenhang mit dem Ende des Textes, 193ff. Vision einer Synthese (in) der Kunst weiterentwickelt und das primitivistische historische Verweissystem ausgebaut? 3.3.2 Gauguin und van Gogh In Gauguin und van Gogh 127 hält Gauguin - zumal auf den ersten Blick - keine neutralisierende Funktion inne. Die Erzählung handelt vom historisch verbürgten Zusammentreffen der beiden Künstler und propagiert mit dem Fokus auf Vincent van Gogh einen nicht-exotischen Primitivismus, welcher aus der Negation des exotischen Primitivismus Gauguin’scher Prägung seine Gestalt annimmt. Die Erzählung ist ein grelles Doppelporträt. Sie ist, so die fol‐ gende Beurteilung, das Resultat einer Ausdifferenzierung des primitivistischen Komplex‘ der Brüsseler Erzählungen. In zehn Kapiteln und über eine stattliche Länge von knapp 100 Seiten erzählt Sternheim die letzten eineinhalb Jahre im Leben van Goghs: von Februar 1888, dem Zeitpunkt der Ankunft des Künstlers in Arles bis zu seinem Tod im Sommer 1890 in Auvers-sur-Oise. 128 Er tut dies, wie Rhys W. Williams aufgezeigt hat, mit Hilfe wenig bis gar nicht kaschierter Paraphrasen seiner Quellen zu dieser Zeitspanne (Gauguins Avant et après und van Goghs Briefe) 129 und in explizitem Bezug auf aktuelle kunstkritische Texte, insbesondere Julius Meier-Graefes Texte zu van Gogh und Friedrich Markus Huebners Essay Die Belebung des Nichts. 130 Ein Beispiel: Zu Beginn des vierten Kapitels von Gauguin und van Gogh heisst es: „Manchmal meinte er, sein Blut finge mit der neuen Lebensart wieder zu kreisen an, was in Paris nicht mehr der Fall gewesen war.“ Dies entspricht folgender Passage im Lebensdokument van Goghs: „Zeitweise glaube ich, dass mein Blut wieder anfangen will, richtig zu zirkulieren, was in der letzten Zeit in Paris nicht mehr der Fall war.“ (Briefausgabe von 1914, herausgegeben von Johanna van Gogh-Bonger, übersetzt von Leo Klein-Diepold und Carl Einstein 218 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="219"?> 131 Vincent van Gogh. Briefe an seinen Bruder 2 Bd. (1914). Van Gogh-Bonger, Johanna (Hrsg.). Berlin, 312, zit. n. Williams 1977, 116. Die ersten drei Kapitel des Textes sind relativ frei von Paraphrasen und direkteren Entlehnungen, vom vierten Kapitel an häufen sich diese jedoch: „Large sections consist of translation, verbal echoes, and unattributed quotation form several sources […] while the first three chapters are relatively free from borrowings, from the fourth chapter onwards Sternheim’s text is often simply a rephrasing of the sources“. vgl. ebd. 132 Sternheim erzählt historisch korrekt, die inneren Motive der Figuren gestaltet er jedoch an‐ hand seiner soziopolitischen Sichtweise und ästhetischen Theorie. Beispielsweise zeichnet er eine ideale Dorfgemeinschaft in Arles, und zwar bis zum Zeitpunkt der Einweisung van Goghs, danach erscheinen die Dorfbewohner als Sternheimsche „Spiessbürger“. Besonders evident ist der Eingriff bei der Ausgestaltung der Gründe für den Streit mit Gauguin und der Motive für van Goghs Suizid. Grundsätzlich gilt, wie Williams festhält: „He [Sternheim] selects from Van Gogh’s life incidents and theories which concide with his own concerns, ignoring what does not.“ Vgl. Williams 1977, 117; 133. 133 „Primitiv“ und „barbarisch“ werden synonym benutzt. Dies entspricht sowohl Gauguins Usus als auch dem populären Sprachgebrauch der Jahrhundertwende. Vgl. bspw. GvG, 82f. 134 Vgl. GvG, 78; 95; 99; 195; 119 f. Zur imaginierten Künstlergemeinschaft und dem konkreten Kunstschaffen der Künstler in Arles, beziehungsweise dem Mythos des „Atelier du Midi”/ „Atelier des Südens“ vgl. Van Gogh und Gauguin. Das Atelier des Südens (2002). Ausst.kat. The Art Institute of Chicago/ Van Gogh Museum Amsterdam. Druick, Douglas W./ Zegers, Peter Kort. Stuttgart: Belser. [! ]). 131 In Sternheims Doppelporträt, so zeigt sich schnell, gehen biographische Korrektheit und ästhetische Programmatik Hand in Hand. 132 Arles ist als Wendepunkt auf dem Weg zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck (einer „eigenen Nuance“) van Goghs in Szene gesetzt. In intensiver Auseinandersetzung mit der Natur findet er zu primitiver/ barbarischer 133 Ma‐ lerei: Hier aber in Arles brach Kraft der Natur von allen Seiten, durch keine menschliche Aufmachung verschönt, in sein entzücktes Gesicht […] Hier war’s mit Phrase und Umschweif vorbei, brüllte Urtümlichkeit Kreatur auf Schritt und Tritt […] Und wie Natur wild auf sich beharrt, wünscht Vincent nicht nur Zeitgenossen gegenüber spröder Barbar zu sein, doch sich in seinen Bildern als solcher zu beweisen. (GvG, 83) Mit zahlreichen ähnlichen Passagen wird verdeutlicht, dass van Gogh eine neue Kunst lebt und ein primitivistisches „Going native“ verkörpert. Aus seiner materiell trostlosen, vom Bruder abhängigen Situation heraus visioniert van Gogh eine soziale wie ideelle Künstlergemeinschaft. 134 In ihr hat Gauguin eine wichtige Funktion inne: Für van Gogh ist klar, dass Gauguin als einziges maßgebliches Vorbild unter den zeitgenössischen Künstlern die Führung der Ge‐ meinschaft übernehmen muss: „Das Haupt dieses mönchischen Vereins müsste 219 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="220"?> 135 Vgl. GvG, 71; 76; 109 ff.; 121. Eine solche ausschliessliche Position Gauguins im Denken van Goghs ist historisch nicht belegt. Sternheim übertreibt hier und konstruiert allgemein eine radikale Loslösung van Goghs von historischen Vorbildern, wohingegen er für Gauguin das Bedürfnis nach Vorbildern voraussetzt. 136 Es heisst hier: „Sie spielten wie Mann und Mädchen im Augenblick, da das Fleisch sich rötet, Entjungferung naht, Katze und Maus“. Offensichtlich wird auch in dieser Erzählung die sexuelle Komponente bemüht. Zur sexuellen, voyeuristischen und damit einhergehenden aggressiven Komponente im Werk Sternheims s. Williams 1977, 117 f. Sebald 1969, 64-66. 137 Griselda Pollock hat das Spiel der Zuschreibungen als konstitutives Element der Avantgarden des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet. Sie spricht von „Avant-garde Gambits“ („the play of reference, deference and difference“), s. Pollock 1992. Hierbei wäre nun aufschlussreich genauer zu untersuchen, wie Sternheim die intertextuellen natürlich Paul Gauguin heißen“ (GvG, 78). 135 Diese Gauguin-Nachfolge nun ist das zentrale Verbindungsglied der Erzählung zu den Künstlererzählungen. Die Auseinandersetzung mit der Utopie und Realität einer Künstlergemeinschaft, respektive mit der Utopie und Realität eines primitiv(istisch)en künstlerischen Ausdrucks wird auch hier über die Beziehung zu Gauguin gebündelt. Van Gogh lädt Gauguin zu sich nach Arles ein, um die utopische Gemein‐ schaft zu realisieren. Nach mehrmaligem Rufen erscheint der „Meister“, „[…] ein toller Kerl, über das Durchschnittsgesindel erhaben“ (GvG, 110). Das Aufeinan‐ dertreffen der Künstler ist in der Folge als ein explosiver Zusammenstoß elemen‐ tarer primitivistischer Kräfte gestaltet, die verwandt und doch gegensätzlich sind. Gauguin und van Gogh realisieren keine mönchische Gemeinschaft, sondern streiten sich heftig. Van Gogh konfrontiert Gauguin mit seinem Kunst‐ konzept, das in den Hauptzügen in einem ‚Gerechtwerden‘ an der Wirklichkeit fußt (GvG, 85; 114; 119 f.; 127), und eine umfassende Lebensphilosophie (ähnlich Posinskys Körper-Theorie in Posinsky) bedeutet. Im Gegensatz zu Posinsky heißt es bei van Gogh jedoch, einen „geistige[n] Befreiungskrieg“ [Herv. LF] (GvG, 100) zu führen. Für diesen Befreiungskrieg, so die Darstellung, fehlt Gauguin das Verständnis. Er hat kein Verständnis für van Goghs neueste Kunst und ist nicht an dessen Grundsatzdiskussionen interessiert, an einem „Vergleichen großer beiderseitiger Erkenntnisse“ (GvG, 95). Diese Zurückweisung bedeutet für van Gogh nicht nur künstlerische Kritik, sondern Vertrauensbruch, Verrat am Projekt primitivistischer Künstlergemeinschaft und Preisgabe des moralischen Auftrags des Künstlers, seiner „menschlichen Pflicht“ (GvG, 136). Primitivismus zwischen Zuschreibung und Selbstermächtigung Sternheim inszeniert ein „Katze und Maus”-Spiel (GvG, 113) 136 zwischen Gau‐ guin und van Gogh - einen unablässigen Zuschreibungsprozess, in dem sich die Spielräume der beteiligten Personen immer mehr verengen. 137 Mit den Mitteln 220 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="221"?> Bezüge für die Inszenierung dieses Zuschreibungsprozesses einsetzt. Die Struktur ist folgende: Sternheim legt bspw. Argumente für eine anti-naturalistische Kunst (die er bspw. bei F.M. Huebner findet) Gauguin in den Mund und lässt van Gogh darauf kontern. Vgl. Williams 1977, 122. 138 Vgl. GvG, 94; 111 ff.; 114 ff. Die Auseinandersetzung kulminiert in der Frage „Wer endlich bist du, Paul Gauguin? “ (GvG, 120 ff.). 139 Die Erklärung für die Selbstverstümmelung in der Erzählung: Die Tat geschah, so van Gogh: „[…] um Gauguin, dem ewigen Arrangeur und Verklärer des Daseins ein einziges Mal ein saftiges Stück Schicksal […] zu schmettern […]“, vgl. GvG, 128. 140 Der Teufel steht dem Propheten gegenüber. Vgl. GvG, 127: „Teufel“ Gauguin vs. „Asket”/ „Prophet“ van Gogh, bspw. GvG, 94: „ein Asket Illusionen gegenüber, Prophet der Redlichkeit“ - wobei diese Zeilen hier eine Selbstbeschreibung van Goghs darstellen und damit nicht zuletzt auch auf die Künstlergruppe der Nabis (Propheten) angespielt wird. Zur religiösen Dimension: Grundsätzlich ist diese in der Erzählung im Vergleich zu den Vorgängertexten Sternheims zurückgenommen. Sternheim stellt van Goghs Weg als kontinuierliche Befreiung vom Religiösen dar, was besonders mit dem Schluss evident wird, s. GvG, 141 ff.; 144 f. Sternheim inszeniert van Goghs Schrecken über die religiöse Deutung seiner Werke als Grund für den finalen Zusammenbruch. Vgl. Williams, 113; 115f. 141 „Paul musste in Samt und Seide, strahlenden Spiralen, Vincent im Arbeitskleid fürbass nehmen.“ Die polare Darstellung wird mit dem positiven Psychiatrie-Diskurs auf die Spitze getrieben. Sternheim stellt dabei die Psychiatrie als utopischen Ort der Selbstverwirklichung dar. Vergleichbares (radikalisiertes) Setting realisiert der Autor der Überzeichnung (und expliziten Benennung, s. o.) umgesetzt, zielt dieser Zuschreibungsprozess hinter die Kulisse des primitivistischen Doppelporträts. Die Verfestigung zweier primitivistischer Verkörperungen wird vorgeführt, gleichsam das Verfertigen des Bildes des primitivistischen Künstlers ins Zen‐ trum gerückt. Das Bild nimmt über die Kontrastierung Gestalt an: Van Gogh steht für Wirklichkeit, Redlichkeit und für eine „dissonante“ Kunstauffassung, Gauguin für „das Allmögliche“, Verführung/ Illusion und eine Kunst der Syn‐ these. 138 Die Erzählung ist, wie zuvor prominent die Erzählung Posinsky, als Verhandlung über den Gegensatz von Natur und Kultur angelegt, wobei die explizite Sichtbarmachung der Zuschreibungsprozesse dieser Polarisierung entgegengearbeitet. Die Gegenüberstellung der Künstler gipfelt in Gauguins Charakterisierung van Goghs als „Barbaren“ und „Wahnsinnigen“ (GvG, 122 f.) und van Goghs Beschimpfung Gauguins als „Blender“, „Pfuscher“ und „Teufel“ (GvG, 127). Auch hier, so wird sichtbar, lädt christliche Ikonographie das ‚Gleichnis‘ um die beiden Künstler auf, das bekanntermaßen mit der Selbstver‐ stümmelung 139 van Goghs und dessen Einweisung in die Psychiatrie endet. 140 Die letzten zwei Kapitel erzählen gestrafft vom letzten Lebensjahr in der Klinik. Die Gegensätze zwischen den beiden Künstlern werden weiter ausge‐ baut, van Gogh ist das „primitive Tier“ (GvG, 138), Gauguin das „raffinierte Sonntagskind“ (GvG, 136 f.). 141 Van Gogh wird als bewusster, einsichtiger Pa‐ 221 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="222"?> in der Erzählung Heidenstam (1917). Zum Psychiatrie-Diskurs vgl. Dedner 1980, 177 f.; Dedner 1985, 65 f.; 70. 142 Vgl. GvG, 133; 137. 143 Gauguin unternimmt seine erste Südsee-Reise erst 1892 nach dem Tod Vincent van Goghs. Seinen Tropentraum hat er aber bekanntermaßen schon früher geäußert. Hier ist demnach wiederum in nuce sichtbar, wie Sternheim bei den Tatsachen bleibt und diese gleichzeitig umformt. 144 Vgl. GvG, 76. Vgl. Williams 1977, 117. tient gezeichnet. Die Anstalt bietet ihm geklärte Lebensumstände, die seinem radikalen Kunst- und Wirklichkeitskonzept förderlich sind. 142 Mild gestimmt hält er an seiner alten Verehrung für Gauguin fest und bedauert nachsichtig dessen Flucht aus der Wirklichkeit. Visionär lässt die Erzählung van Gogh in die Zukunft blicken: 143 Und entliefe er [Gauguin], wie er wollte, zu den Wilden der Südsee, Rohes, Allzu‐ natürliches würde er an ihnen hassen; nur das Raffinement, das aus dem Aroma des Gegensatzes zwischen seiner gegipfelten Kultur und ihrer Primitivität verwegen steigen würde, möchte seine verwöhnten Fühler reizen. Hatte er vor dem ersten Wilden und dessen unbeherrschtem Ausdruck, vor ihm Vincent, doch ein hastiges Kehrt, schmähliches Reißaus sich geleistet, weil der im entscheidenden Moment vermutlich schlecht gerochen, in keine ästhetische Reihe gepasst habe. (GvG, 136 f.) [Herv. LF] Mit diesem Schlussplädoyer aus dem Mund der für die expressionistische Bilderwelt überaus wichtigen Figur des psychisch Kranken endet die Erzählung. Es demonstriert, wie van Gogh in der Klinik die Geschehnisse ordnet und seine ‚kunsthistorische‘ Deutung der Dinge gibt. In einem finalen Akt der Selbstermächtigung skizziert er sich als ersten Primitivisten, respektive „ersten Wilden“. Diese Selbstcharakterisierung ist zugleich ein Akt der Befreiung und Festschreibung der vorhergehenden Zuschreibungen, welche durch den Rahmen der Psychiatrie gespiegelt und unterstrichen werden. Van Gogh dis‐ tanziert sich von der Gauguin-Nachfolge (von jedwelcher Nachfolge) 144 und schreibt gleichzeitig seine Rolle in der Geschichte der Gegensätze fest. Was bedeutet diese Interpretation der Geschichte des Primitivismus durch van Gogh, die im Hinblick auf die Texte der Chronik einem Umschreiben der Geschichte des Primitivismus gleichkommt? Vereinfacht kann man Gauguin und van Gogh mit der eindeutigen Begünsti‐ gung van Goghs und der Kritik an Gauguin - einer Bilanz, die der privaten Parteinahme des Autors entspricht - als weitere Distanzierung von einem exotischen Primitivismus lesen. Im Hinblick auf den Gegendiskurs, der durch Gauguin in Ulrike aufgespannt ist, und den Spielraum, der sich für die Primiti‐ vismus-Kritik in der enthüllenden antithetischen Darstellung in Gauguin und 222 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="223"?> 145 Bereits im frühen Aufsatz zu van Gogh von 1910 zeichnet sich diese Intellektualisierung ab, dort stellt er van Gogh als „Begriffsbildner“ vor, vgl. Williams 1981, 142. Wo Posinsky die Befreiung über den Körper imaginiert, kämpft van Gogh in der Erzählung von 1924 wie erwähnt einen „geistige[n] Befreiungskrieg“. Dies ist beispielsweise in seiner intellektuellen Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte explizit gemacht - die Loslösung von den Vorbildern geht nicht ohne intellektuelle Auseinandersetzung vonstatten (s.v.). 146 Die Bezeichnung „intellektueller Primitivismus“ führt Robert Goldwater in seiner berühmten Studie von 1938 für den Primitivismus des Kubismus ein. Vgl. Goldwater 1986, 143-177. Seine Einteilung des Primitivismus in „Romantic Primitivism“ (Gau‐ guin/ Fauves), „Emotional Primitivism“, Brücke/ Blauer Reiter), „Intellectual Primiti‐ vism“ (Picasso) und „Primitivism of the Subconscious“ (Art Brut) prägte die primitivis‐ tische Forschung jahrzehntelang. van Gogh eröffnet, wird hier entgegen dieser einfachen Lesart argumentiert, dass auch die positive Setzung van Goghs die Ambivalenz des Primitivismus-Be‐ griffs von Sternheim nicht auflöst. Der anti-exotische Primitivismus van Goghs funktioniert über die Opposition zu Gauguin und ist mit diesem unauflöslich verbunden. Die Texte bieten eine panoramatische und konstruktive Auseinan‐ dersetzung mit dem primitivierenden Künstler. „Intellektueller Primitivismus“ avant la lettre? Die Kritik an Gauguin und dem exotischen Primitivismus wird in Gauguin und van Gogh über eine Intellektualisierung van Goghs entwickelt. 145 Im Unterschied zur Intellektualisierung des Künstlers in der Chronik ist diejenige van Goghs nicht satirisch angelegt. Dies sorgt für weiteren Abstand zum körperlichen Primitivismus der Chronik, wobei wie schon gezeigt wurde die Verkörperungen jener Figuren durchaus ambivalente Züge kennzeichnen und die Intellektualität von van Goghs Primitivismus ‚naturgemäß‘ ebenfalls aus seiner Nähe zur Natur, dem Kreatürlichen und Materiellen konzipiert ist. Sternheim skizziert für van Goghs Kunst in Gauguin und van Gogh gewis‐ sermassen einen Primitivismus nach dem Konzept des „intellektuellen Primiti‐ vismus“, das Robert Goldwater in den späten Dreissiger Jahren entwickelt. 146 Wo Gauguin die Gegenwart und ihr unreflektierter Drang in die Zukunft symbolisiert, steht van Gogh mit seinem „profunden“ Wirklichkeitsbegriff für einen wahren Primitivismus der Zukunft: Doch blieb das Ergebnis: Gauguin wie der zeitgenössische Mensch überhaupt lebte von Überraschungen. Und das war der springende Punkt, nicht von solchen, die profunde Wirklichkeit und die auf ihr ruhende verantwortete Verbundenheit mit dem Weltganzen verbürgte, sondern vom Menschen infolge seiner Unbildung willkürlich ohne Kenntnis der Ursachen und Folgen sensationslüstern angerichteten. (GvG, 119) 223 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="224"?> 147 Vgl. Williams 1977, 119. 148 Sternheim, Carl (1917). Kampf der Metapher. In: GW Bd. 6, 32-36. Das Motto „Kampf der Metapher“ gebraucht Sternheim erstmals in der Erzählung Posinsky, später wird es, so Hubert Roland „zum Leitmotiv in der Zeitkritik Sternheims, ohne an irgendeiner Stelle genau definiert zu werden. Prinzipiell scheint der Begriff ,Metapher‘ linguistische und rhetorische Stilmittel zu bezeichnen: ,[d]ie Metapher dient der Verzerrung der Wirklichkeit, dem bewussten Ablenken vom eigentlichen Zustand’“, vgl. Roland 1999, 225ff. Hier 226. 149 Wie Rhys Williams betont, ist für dieses Wirklichkeits- und Kunstverständnis Heinrich Rickerts Schrift Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902) zentral. In dieser hier über das Negativ Gauguin erfahrbaren Intellektualisierung van Goghs liegt der Schlüssel zum konstruktiven Primitivismus Sternheims. Der grosse Unterschied zu Einstein, Müller und auch Benn, die diese Strategie der In‐ tellektualisierung des Primitivismus ebenfalls anwenden: Sternheim propagiert mit van Gogh eine ‚unzeitgemäße‘ Lösung des Dilemmas des Primitivismus, wohingegen Obengenannte das Zukunftspotential des Primitivismus mit zeit‐ genössischen Künstlerfiguren in Szene setzen. Intellektualität erlangt van Gogh in Gauguin und van Gogh aus der be‐ wussten und kontinuierlichen phänomenologischen Auseinandersetzung mit der nicht-exotischen Wirklichkeit. Aus „demütige[r] Hingabe an das Vorhan‐ dene“ (GvG, 103) generiert er Wissen. Wie in der Erzählung betont wird, kann die exotische Variante des Primitivismus dies nicht leisten. 147 Van Gogh ergründet Wahrnehmungsprozesse, erforscht die Wirkung von Körpern und insbesondere auch des Unbewussten (GvG, 119) und ist dabei - ebensowenig wie Gauguin - an einem Abbilden der Realität orientiert. Dies geht beinahe unter im plakativen Spiel der Gegensätze, das den Realitätsbezug seines Primi‐ tivismus unterstreicht. Das Spiel der Gegensätze gibt vor: Einzig der alternative, anti-exotische Primitivismus, der tiefer gräbt, kann den Primitivismus als bloßen Stil überwinden und vermag zu den grundsätzlichen Fragen der Kunst und des Menschseins vorzudringen. Van Gogh wird als einzig massgebliche Referenz in Belangen solch elementarer Fragen inszeniert. Dies ist die inversive Hauptbewegung des Textes: der Text dreht die Hierarchie auf der Figurenebene um, und dies nicht nur auf der Ebene der Selbsterkenntnis des tragischen intellektuellen Helden. Als Wegweiser für ein nicht-exotisches, intellektuelles „Going native“ ist van Gogh in Sternheims Text als spiritus rector eines primitivistischen Expressio‐ nismus stilisiert. Diese Beobachtung bestätigt sich mit Blick auf die kunst- und kulturpolitischen Aufsätze Sternheims. Im zeitgleich mit den Erzählungen der Chronik entwickelten programmatischen Aufsatz Kampf der Metapher 148 zeigt sich dabei besonders deutlich, wie Sternheim ein Wirklichkeitsverständnis vom Zuschnitt seiner fiktiven Künstlerfigur propagiert. 149 Wie schon erwähnt nimmt 224 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="225"?> Sternheim überträgt Rickerts Lösungsansatz zur Bewältigung der unendlichen empirischen Welt über eine „Überwindung der Mannigfaltigkeit“ auf die künstlerische Ebene, vgl. Williams 1977, 112ff. 150 GW, Bd. 6, S. 34 151 Pignol 2010, 64-70. Alexandra Pignol redet von einer vernichtenden Kritik: „Il [Benn] veut détruire le concept sternheimien de vouloir d’art, qu’il juge trop idéaliste“ (64). Gleichzeitig spricht sie aber von einer versteckten Hommage an Sternheim [„hommage déguisé“ (66)]. Pignol bezeichnet schliesslich die Debatte als leer, denn Sternheim fungiere nur als Material für Benns Stück, er sei „[…] que du matériaux brut pour la pièce […]“ (70). 152 Wolfgang Wendler spricht von „,Wirklichkeitsenthusiasmus’“, s. Wendler, Wolfgang (1966). Carl Sternheim. Weltvorstellung und Kunstprinzipien. Frankfurt a.M.: Athenaeum, 61. Vgl. Linke 1979, 61. In seinem Europa-Roman (1919) redet Sternheim vom künstlerischen Auftrag einer „abgöttischen Idolatrie der Schöpfung, wie sie jeden Augenblick ist“ [Herv. i. O.], GW Bd. 5, 254. Vgl. Williams 1977, 114, Williams 1985, 37f. 153 Zugespitzte Kritik bei W.G Sebald als Antwort auf die positive Darstellung der Poetik Sternheims bei Wolfgang Wendler (Vgl. Wendler 1966, 82f.; 192-229), etwa: „Nicht einmal da, wo er es ausdrücklich proklamiert, hält sich Sternheim an das ‚Wesentliche‘; vielmehr scheint er ein rätselhaftes Vergnügen an der Produktion ‚blödsinniger Zutaten‘ Sternheim darin Partei für Gottfried Benn. Er wendet sich gegen einen oberfläch‐ lichen (primitivistischen) Expressionismus der neueren Generation und legt seine Vorstellungen einer „Ästhetik der Dissonanz“ dar, welche der Wirklichkeit gerecht wird: „[…] Benn ist der wahrhaft Aufständische. Aus den Atomen heraus, nicht an der Oberfläche revoltiert er; erschüttert Begriffe von innen her, dass Sprache wankt und alle Bürger platt auf Bauch und Nase liegen” 150 , so Sternheim. Dieselbe Polarisierung des Primitivismus liegt später Gauguin und van Gogh zu Grunde. Im Vergleich zum Aufsatz, wo die Pole relativ klar abgesteckt sind und der Primitivismus primär über die Sprache problematisiert wird, ist die Ausgangslage und Primitivismuskritik in der Chronik und Gauguin und van Gogh komplexer. Die Polarisierung scheint gar auf dem Prüfstand. Doch von dieser Komplexität sehen Sternheims Brüsseler Weggefährten ab. Sie beurteilen Sternheim in erster Linie über seine programmatischen Äusserungen; seinen primitivistischen Ex‐ pressionismus reduzieren sie auf einen idealistischen Wirklichkeitsbegriff und kritisieren Sternheims programmatische Stellungnahmen als pseudopolitische Polemik. Benns Antwort auf Sternheims euphorische Poetik in Kampf der Metapher ist die boshafte Parodie 151 eines aktivistischen Dramatikers/ Künstlers: Der Drama‐ tiker in Karandasch schlägt aus der Revolte, aus dem hehren primitivistischen Kunstkonzept beim bürgerlichen Publikum Kapital und produziert leere Formeln. Die spätere Forschung knüpft an diese Schiene der Kritik an und äussert sich gegenüber Sternheims „Verherrlichung der Wirklichkeit” 152 kritisch, dies ohne Zweifel mitbeeinflusst vom Expressionismus-Streit der 1930er Jahre. Die literarisch stilisierte und ästhetisierte Umsetzung der Wirklichkeits-Programmatik registriert man als grosses Dilemma des Expressionismus. 153 Gauguin und van Gogh wie 225 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="226"?> zu haben“, vgl. Sebald 1969 74-79. Hier 75. Wichtiger Ausgangspunkt dieser Kritik am Expressionismus ist eine Rede Wilhelm Worringers von 1921, die Georg Lukács als „Grabrede des Expressionismus“ bezeichnet. Worringer spricht darin vom „Fiktionentrug“ des Expressionismus. Vgl. Ubl 2002, 119-140. auch die Künstlererzählungen der Chronik, so kann man aber gerade beobachten, präsentieren sich als bewusste Auseinandersetzungen mit dieser Paradoxie der expressionistischen und primitivistischen Mittel und Ziele. In den Erzählungen stehen mit den primitivistischen Künstlerfiguren die Möglichkeiten und Grenzen der Verkörperung eines radikalen Wirklichkeitsverständnisses und die Möglich‐ keit der Annäherung an die Wirklichkeit mit den Mitteln der Abstraktion und expressionistischer Erzähltechnik zur Diskussion. Prinzipiell unterscheidet sich Sternheims selbstreflexive literarische Strategie der Verbindung von Realismus und Idealismus nicht von derjenigen Einstein’s in der Negerplastik. Auch für van Gogh, nicht nur für Ulrike und Posinsky gilt: Das Dilemma des primitivierenden Künstlers ist ungelöst, die Konsequenzen einer extremen Assimilation vorgezeichnet - der Weg in die elementare Wirklichkeit endet tödlich. Die Verkörperungspraktiken der primitivistischen Figuren haben den Ausschluss aus der Gesellschaft zur Folge. Der Weg hin zur Natur, der konse‐ quenterweise weg von Kunst und Kultur führt, das heißt ein auf Verkörperung und extremer Assimilation basierter künstlerischer Primitivismus ist nicht umsetzbar. Die plakativ gestaltete Verkettung von Gauguin und van Gogh zeigt: Das Ideal eines „ersten Wilden“ vor der Wirklichkeit existiert nicht. Und trotzdem demonstriert Sternheims Beharren auf Polarität und an der klischiierten Alternative van Gogh, der ja auf radikale Weise reüssiert, das Gegenteil - dass das künstlerische Ideal eines Primitivismus nicht vom Tisch ist. Am demonstrativ überzeichneten Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Künstlern und den verschiedenen Ebenen der Gegenüberstellungen von Ideal und Wirklichkeit in Gauguin und van Gogh ist aufgefallen, dass die vielen Hinweise auf einen intellektuellen Primitivismus dem Bild des „primitiven“ Naturburschen [auch Bauern und Arbeiter (GvG, 128; 138)] van Gogh entgegen‐ laufen. Die Hinweise begleiten als Fußnoten die allzu konsistente Geschichte einer extremen Verkörperung. Sie sprengen die Geschichte der Gegensätze und die konventionellen Bilder, die für die „primitive“ Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit immer wieder gezeichnet werden. Gerade die intensive Auseinandersetzung van Goghs mit der Kunstgeschichte und zeitgenössischen Kunst und Literatur, so wird angedeutet, ist die Grundlage für die Befreiung 226 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="227"?> 154 Vgl. GvG, 75 f.; 78; 81; 85 f.; 91; 94; 102; 120 ff.; 137. Hier stimme ich nicht mit Rhys W. Williams überein, der van Goghs Loslösung von der Kunstgeschichte unterstreicht. Die kunsthistorischen Passagen des Textes (s. o.) relativieren die Negierung der Kunstgeschichte. Ihre Häufung, explikatorische Ausführung und Verschränkung mit dem sich auflösenden Diskurs der Gegensätze macht diese Relativierung deutlich. 155 Sternheim inszeniert an dieser Stelle zwei Werke aus seiner Sammlung (beide in Arles entstanden - und beide zeitweilig in Sternheims Besitz): van Goghs Stilleben mit Kaffeekrug (1888) und Gauguins Stilleben mit drei Hündchen (1888). Vgl. Williams 1977, 120. 156 Dies ist eine Beobachtung, die auch für Ulrike gemacht wurde. 157 Williams 1977, 123. von Vorbildern. 154 Auch dass van Goghs Primitivismus seiner Radikalität zum Trotz als nicht ausschließend dargestellt wird, lässt einen intellektuellen Primi‐ tivismus erahnen. Van Gogh hält unablässig an Gauguin fest, und zwar nicht nur an dessen Werken, für die angedeutet ist, dass sie grundsätzlich über alle Zweifel erhaben sind [„Hier war grosses Kunstwerk - darüber kein Streit, doch auch - Blitz fuhr die Erkenntnis in Vincent, masslose Verführung“ (GvG, 120 f.) 155 ]. Der „vorsätzliche[n] Aufeinanderprall“ (GvG, 112) der Gegensätze in der Erzählung begräbt absichtlich die leisen Zwischentöne, macht sie aber umso wichtiger. 156 Letzten Endes repräsentieren Gauguin und van Gogh zwei Seiten einer Medaille, oder wie Williams es ausdrückt: „The debate between Gauguin and van Gogh is not […] a conflict between mutually exclusive points of view, with Sternheim coming down heavily on one side. Rather it is an exploration of two tendencies inherent in Sternheim’s own work.“ 157 Radikalität und Fragilität. Der Primitivist als Held Das grosse Paradox des Primitivismuskonzepts von Sternheim ist, dass es sowohl Kritik an den extremen Verkörperungspraktiken des Primitivismus und an der heroischen Künstlerrezeption bietet und gleichzeitig die Heldenge‐ schichte fortführt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch besonders gut in folgender Äusserung über van Gogh, die Sternheim im selben Jahr wie Gauguin und van Gogh in einem Aufsatz über seinen Künstlerfreund Felixmüller macht: So konnte van Gogh, das wirklich größte Maleringenium, das die Welt seit Jahrhun‐ derten beglückte, der anerkannte Malergott vieler Rassen und Massen werden, weil eine Armee Kunstkritiker, deutsche voran, an ihm all die Eigenschaften immer wieder gegipfelt bewiesen, die ein so vollkommener Mensch und Künstler niemals haben konnte und natürlich nie gehabt hat. Seine Bürgerverachtung, maßlosen sozialen Aufstand, Hass gegen alles Hergebrachte, Verbriefte haben sie ihm genommen, ihn seine splendid isolation, seinen Ursprünglichkeitsglauben geraubt, aus seinem Werk, der Darstellung seines Lebens und Begräbnisses spießbürgerlichen Kitsch und das 227 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="228"?> 158 Vgl. Der Cicerone (1924). In: GW Bd. 5, 496. 159 Vgl. Williams 1977, 120f. 160 Vgl. GW, 143f. Der kunstkritische Text ist das: „erste große, kritische Gutachten, das schon in die Presse vieler Länder weitergeflogen war“ (GvG, 144). In den Manuskript-Versionen von Gauguin und van Gogh ist der Bezug zu Meier-Graefe noch expliziter. In der publizierten Version integriert Sternheim den Verweis auf F.M. Huebner und erweitert damit die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen kunstkritischen Diskurs. vollkommene Gleichnis eines angepassten kollektivbewussten Trottels gemacht, das dem Bourgeois der ganzen Welt die Schlagsahne der Wollust über einen Liebling auf den Lippen schäumen lässt. [Herv. LF] 158 Hier macht Sternheim explizit, was er mit dem Ende van Goghs in der Erzählung - mit zum Teil gleichlautenden Worten (s. u.) - literarisch gestaltet. Die bürgerliche Kunstkritik, die den Primitivismus in „spiessbürgerliche[n] Kitsch“ verkehrt, ist in Gauguin und van Gogh für den endgültigen Zusammenbruch des Künstlers verantwortlich. Es ist dies die zentrale Fiktionalisierung des Textes: die Kunstkritik als Auslöser für den Zusammenbruch, respektive als innere Motivation des Selbstmords van Goghs. Wichtig ist für unseren Zusammenhang Folgendes: Die tödliche Kunstkritik ist deutlich als Kunstkritik Meier-Graefe’‐ scher Prägung gekennzeichnet. Was bedeutet, dass mit dem Ende des Textes der Angelpunkt für die Anbindung an den zeitgenössischen primitivistischen Dis‐ kurs offenbart wird. Es wird sichtbar, wie Sternheims ,unzeitgemäße‘ Analyse des Primitivismus der Vätergeneration in die Gegenwart zielt. Die Argumentation im Text: Die Kritik macht van Gogh zum „neue[n] Pro‐ phet[en] der Malerei“, zum „heilig[en] Blinde[n]“ (GvG, 144). Sie macht ihn zum weltenschöpfenden Genie, das heisst nach der Logik der Erzählung zum Gegenteil und Gegenbild des wahren primitivistischen Künstlers - zu einem Primitivisten nach Manier Gauguins. Mit diesen Charakterisierungen van Goghs spielt Stern‐ heim deutlich auf Meier-Graefe an. 159 Der Konnex ist tatsächlich evident: Der Urheber des „Gutachtens“, das van Gogh vor seinem Zusammenbruch liest, wird als der „[…] berühmte Kunstgelehrte, der durch seine glorreiche Wiedererweckung des El Greco gerade grösstes Aufsehen gemacht hatte“ (GvG, 143) bezeichnet. 160 Die spiessbürgerliche Verklärung seiner selbst im Blick, stirbt van Gogh: „Vincent, Erlösung fühlend, erlosch in der Gewissheit: wie schon aus seinem Werk, würde man aus seinem Begräbnis und Andenken gigantischen bürgerlichen Kitsch machen“ [GvG, 145, vgl. mit dem Zitat oben aus Der Cicerone]. Mit dem Bild des unkorrumpierbaren van Gogh, der sich bewusst endgültig für die „splendid isolation“ (s. o.) entscheidet und sich aus dem Katze-und-Maus-Spiel ausklinkt, aus dem Spiel, dessen Konsequenzen er voraussieht, ist das Paradox des „Going native“ der Erzählung, respektive das Paradox des intellektuellen Primitivisten perfekt. Der 228 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="229"?> 161 GW Bd. 6, 171. Oder siehe GW Bd. 6, 201 für folgende Definition seines Kunstbegriffs: „Die nicht für Sittliches oder Vernünftiges voreingenommene, über tatsächlichen Ereig‐ nissen stehende Sichtbarmachung der zwischen beiden Kräften des wirklichen Seins, Vernunft und Sitte, ewig stattfindenden Zusammenstösse mittels eigener künstlerischer Massgesetze.“ 162 Ebd., 171. Preis, den van Gogh für seine Freiheit zahlt, ist die Verklärung zum mythischen Helden bürgerlicher Kunstgeschichte. Und mit dieser Verklärung, so schwingt bei dieser demonstrativen Zuspitzung des zeitgenössischen Primitivismusdiskurses mit, muss sich auch der Autor bei seiner Formulierung eines positiven Primitivis‐ musbegriffs arrangieren. Es ist ein positiver Primitivismusbegriff zwischen Radikalität und Fragilität, der mittels Überkonstruktion und Ästhetisierung der Gegensätze in der Erzählung freigelegt wird. Van Gogh entzieht sich letztlich einer eindeutigen Lektüre, er bleibt fremd. Zielt Sternheim mit dieser Künstlerdarstellung auf einen Primitivismus respektive einen primitivistischen Werkbegriff, der dieser Ambivalenz entspricht? Darauf weist jedenfalls die ins Poetologische gewendete Untersuchung der Prot‐ agonisten zwischen Typus und Individuum und die offene Konfrontation der Gegensätze. Wie Sternheim in Juste Milieu zusammenfasst, ist das Ziel seiner Dar‐ stellung das prekäre Gleichgewicht der Gegensätze. Er wolle zwischen „wirklicher“ und „möglicher Welt“ vermitteln: „Aus beider Seiten Gleichgewicht allein, indem man abwechselnd von wirklicher Welt besessen und mögliche Welt besitzend ist, kann man lebendig funktionieren“ [Herv. i. O.], 161 formuliert er dort. Die auf dieser Überzeugung fussende Poetologie Sternheims ist innovativ, besonders da, wo sie die Prekarität des Gleichgewichts thematisiert und das Changieren der Register zwischen wirklichen und möglichen Welten ausreizt. Doch bleibt Sternheim mit seinem alternativen Primitivismus zwischen Radikalität und Fragilität überaus konventionell, wo er in ikonischer, neo-romantischer Manier von der „Wahrhaf‐ tigkeit“ seiner Gleichnisse redet. Dichtung aber erscheint als die uns erschütternde untendenziöse und darum einzig wahrhaftige Aufzeichnung dieser immer wieder neue Kombinationen ergebenden Wechselwirkung beider schaffenden Gewalten [Freiheit des Schicksals/ Diktatur der Notwendigkeit] […] aber der Dichter und sein Werk der erschütternden Epoche reinstes Gleichnis bleibt. 162 Sternheim hat den Anspruch, dem Wesen und Konfliktlinien eines Individuums, im Spezifischen des künstlerischen Individuums, gerecht zu werden. Dies ist, wie wir sehen werden, bei Robert Müller nicht der Fall. 229 3.3 Carl Sternheims Ulrike (1917) und Gauguin und van Gogh (1924) <?page no="230"?> 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) Abb. 24: Egon Schiele: Porträt Robert Müller (1918) 230 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="231"?> 163 Gardian, Christoph (2014). Sprachvisionen. Poetik und Mediologie der inneren Bilder bei Robert Müller und Gottfried Benn. Zürich: Chronos, 136 ff. Hier 137. 164 Müller, Robert. Kosmoromantik. In: Kritische Schriften II. Werkausgabe Bd. 10 (1995). Fischer, Ernst (Hrsg.). Paderborn: Igel Verlag Literatur, 449-451. Hier 449. Vgl. Gardian 2014, 137. 165 Ebenda. Vgl. Gardian 2014, 136. 166 Müller, Robert [1915]. Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Herausgegeben von Robert Müller anno 1915. Werkausgabe Bd. 1 (1990). Helmes, Günter (Hrsg.). Paderborn/ Hamburg: Igel Verlag Literatur. Bei der Lektüre benutze ich im Folgenden für den Tropen-Roman die Sigle T, für die Werkausgabe im Igel-Verlag die Sigle MW. 167 Den literarischen Schauplatz hat Müller gemäss Thomas Schwarz sorgfältig ausge‐ wählt. Das Gebiet hat für deutsche Forschungsreisende eine grosse Bedeutung (Alex‐ ander von Humboldt, Robert Hermann Schomburgk, Carl Ferdinand Appun, Ernst Ule u. a. haben es erforscht und beschrieben). Wichtigste intertextuelle Bezugsgrösse sind die Forschungsreisen Theodor Koch-Grünbergs von 1903/ 04 und 1911-1913 (Expeditionen ins nordwestl. Grenzgebiet Brasiliens und in „gänzlich unbekanntes Gebiet“ zw. Roraima-Gebirge und dem mittleren Orinoko), die in den mehrbändigen Reiseberichten Zwei Jahre unter den Indianern […] (1909/ 10, 2 Bde.) und Vom Roraima zum Orinoko […] (erschienen nach Müllers Tropen-Roman zwischen 1916 und 1928, 5 Bde.) festgehalten wurden. Vgl. Schwarz 2006. Hier S. 89-100. 3.4.1 Künstlerfiguren und „neues Sehen“ im Tropen-Roman Individualität im bürgerlichen Sinne interessiert Robert Müller nicht. Ihn be‐ schäftigt im Gegenteil die „Auflösung der Logik der Identität“, wie man mit Christoph Gardian festhalten kann. 163 Exemplarisch zeigt Gardian dies unter anderem an Robert Müllers Text über den Prager Expressionisten Paul Adler, in dem Müller seine eigene poetische Praxis spiegelt. Das Personal von Adlers Zauberflöte, so Müller, stelle eine einzige „kosmische Person“ dar, Kategorien von Figur, Raum und Zeit würden in der Erzählung aufgehoben: „Es gibt in der Erzählung keine Verläufe, sondern nur Lauf, ein in sich selbst vergliederndes Teleskop in den Kosmos hinaus.“ 164 Auch in Bezug auf Adlers Erzählung Nämlich gebraucht er die kosmologische Metapher. Hier redet Müller von der metalep‐ tischen Struktur einer Fächerung, die in den Kosmos ausgreift und bezeichnet die Erzählung als „Fächererzählung der Kosmoromantik (Expressionismus)“. 165 Eine solche expressionistische „Fächererzählung“ hat auch Müller mit seinem Roman Tropen (1915) 166 geschaffen. Der Roman erzählt eine Abenteuer- und Kolonialgeschichte und spielt im Quellgebiet des Amazonas, wo um 1900 drei Europäer auf das (vom Autor Müller frei erfundene) Volk der „Dumara“ treffen. 167 Die Romanstruktur ist komplex verschachtelt oder eben „vergliedert“ (s. o.) und dies zeigt sich insbesondere beim Personal, das jeweils ins Unentschiedene und Unendliche hinaus mitein‐ ander vernetzt und aufeinander bezogen ist. Müller, der ähnlich Sternheim 231 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="232"?> 168 Müller in Aufsatz Macht: Psychopolitische Grundlagen des gegenwärtigen atlantischen Krieges, der im Publikationsjahr des Tropen-Romans erscheint. Vgl. MW Bd. 9. Gesam‐ melte Essays (1995), 83-140. Hier 121. Vgl. Willemsen, Roger (1984). Die sentimentale Gesellschaft. Zur Begründung einer aktivistischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils und Robert Müllers. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 58 Nr. 2, 289-316. Hier 296f. 169 Ebd., 298. 170 Thomas Köster versucht, diese ausgreifende, auf die moderne Großstadterfahrung rekurrierende Konstruktion des Werkes mit dem Hinweis auf die Spezialeffekte an Jahrmärkten, mit „Kolossalpanoramen, Vergnügungsparks, Looping-Bahnen usw.“ zu untermauern. Vgl. Köster, Thomas (1995). Bilderschrift Grossstadt. Studien zum Werk Robert Müllers. Paderborn: Igel Verlag Wissenschaft. Michaela Holdenried verweist auf Virilio und dessen Studie zu Krieg und Kino (1989) und entwickelt dessen Beobach‐ tungen medientheoretisch weiter. Vgl. Holdenried, Michaela (2000). Der technisierte Barbar. Magie und Mimesis in Robert Müllers „Tropen“. In: Zeitschrift für Germanistik Beiheft 2: Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Honold, Alexander/ Scherpe, Klaus R. (Hrsg.). Bern: Peter Lang, 303-319. Hier 311. 171 Die Namenskongruenz bedeutet natürlich nicht, dass Herausgeberfigur und Autor iden‐ tisch sind, vgl. Schwarz 2006, 99. Thomas Schwarz bemerkt zu Recht, dass Müller mit dieser Herausgeberfiktion die Illusion verstärkt, es mit einem dokumentarischen autobio‐ graphischen Text (s. u.) zu tun zu haben. Das Vorwort nennt er mit Blick auf Genet einen „fingierten allographen Paratext“. festhält „[…] Für das Ich aber gibt es keine Formel, nur das Gleichnis“, 168 treibt die Sternheimsche Gleichnissetzung um einige Drehungen weiter. Roger Willemsen kommentierte in den 1980er Jahren in Bezug auf die Figurenpraxis Müllers wie folgt: „Die höchste Individualisierung“ der Müllerschen „Poetik der Unmittelbarkeit“ würde „kraft ihres expansiven Prinzips in reine Allgemeinheit [umschlagen]“. 169 Die Auseinandersetzung mit den Mechanismen zwischen Individuum und Allgemeinheit - oder Charakter und Typus respektive um Selbstbezug und Selbstauflösung - war in allen bisher besprochenen literari‐ schen wie theoretischen Texten zum primitivistischen Künstler zentral. Die Art und Weise, wie Müller die Erkundung dieser Bewegungen überspannt und eine Expansion ins Unendliche und Kosmologische hinein betreibt und auch poetologisch wendet, sucht jedoch ihresgleichen. 170 Im Tropen-Roman mit dem Untertitel Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs und dem Zusatz zur Herausgabe herausgegeben von Robert Müller Anno 1915 171 gibt es keine primitivistische Künstlerfigur von der Statur Posinskys. Man hat es vielmehr mit einem Konglomerat an primitivistischen Künstlerfiguren auf verschiedenen Erzähl- und Fiktionsstufen zu tun. Die meisten der nicht als bildende Künstler eingeführten Figuren beteiligen sich ebenfalls an einem ästhetischen Diskurs und sind über die Verschachtelungsstruktur in die Künstlerproblematik eingewoben. Allen voran können die beiden Protagonisten 232 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="233"?> 172 Im allographen Paratext berichtet der Herausgeber Robert Müller von der Wiederentde‐ ckung des Manuskripts des ehemaligen Ingenieurs Hans Brandlberger (er datiert diese Entdeckung auf 1907). Der Herausgeber schildert, er hätte das „vor langer Zeit persönlich übergeben[e]“ Manuskript in seiner damaligen Funktion als Redaktor der Zeitschrift „Three Worlds“ (einer „internationale[n] Monatsschrift, die philanthropischen Zwecken gewidmet war und in Peking, Frisko und Berlin […] erschien“) trotz stilistischer Bedenken zum Druck empfohlen, das Manuskript sei jedoch vom Herausgeber der Zeitschrift „wegen inhaltlicher Bedenken“ zurückgewiesen worden - „Es widersprach in seinen Ideen und Beweisführungen den philanthropischen Grundsätzen der von ausbeuterischen Millionären geförderten Zeitschrift“ (T, 6). Zum Spiel der Herausgeberfiktion gehört, dass auch im ,Binnentext‘ Anspielungen auf den Herausgeber resp. Autoren Müller zu finden sind. Der Protagonist Slim berichtet bspw. davon, er lasse sich „Die ganze Geschichte von einem erzählen, der gar nie in den Tropen gewesen ist. […]“ (T, 202). 173 Wir erinnern uns hier an Sternheims Gauguin und van Gogh, wo der Primitivist van Gogh auf der Folie des Durchschnittseuropäers respektive des typischen Zeitgenossen (dem auch Gauguin zugerechnet wird) verhandelt wird. Vgl. Kap. 3.3.2. 174 Zum Schluss spricht auch van den Dusen von einem solchen Vorhaben. Brandlberger und Slim geben den Büchern folgende Titel: „Zana“, „Tropen“, „Fieber“, „Irrsinn“, van den Dusen spricht von „Jägerlatein“ und „Die Goten“, vgl. T, 24; 35; 56; 110; 117; 140; 176; 184ff.; 189f.; 193; 198ff.; 202ff.; 206-211; 221; 241. - der Ich-Erzähler/ Autor 172 des Textes, der Deutsche Hans Brandlberger und sein Reisebegleiter respektive Hauptperson seines Tropenromans, der Amerikaner Jack Slim - als Künstlerfiguren bezeichnet werden. Den dritten Weissen im Verbund, den Holländer van den Dusen, der den „Typus des Durchschnittseuropäers“ 173 (T, 113) vertritt, betrifft dies nicht. Die künstlerischen Ambitionen Brandlbergers und Slims sind in erster Linie literarische und kunsttheoretische: Brandlberger und Slim wollen über ihre Erfahrungen in den Tropen Romane respektive Berichte dokumentarischen und theoretischen Charakters verfassen. 174 Es zeigt sich jedoch, unter anderem durch den häufigen Vergleich der literarischen mit der bildkünstler‐ ischen Tätigkeit, dass die bildkünstlerische Dimension immer mitgedacht werden muss. „Malend und farbensuchend in meinen Worten […]“ (T, 62), versucht der Ich-Erzähler Brandlberger dem synästhetischen Erlebnis in den Tropen gerecht zu werden. Allgemein beschreibt Brandlberger das Erlebnis der Tropen mit Meta‐ phern der Malerei, er spricht vom „Djungle“ als einem „Phantom von prächtigen intensiven Farben“ oder von der Erfahrung einer „Explosion einer Malerpalette“ (T, 26). Für das Erzählen von Slim, das für Brandlbergers Darstellung der Tropen zentral ist, gilt gemäß Brandlberger: „Er erzählte singend und weitschweifig, stieg eine unendliche steile Leiter von Bildern hinan […]“ (T, 110). Auch die negativen Erfahrungen beschreiben die Protagonisten mit bildkünstlerischen Metaphern. Der Ich-Erzähler fasst beispielsweise die Erfahrung von Fremdheit in folgendes Bild: 233 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="234"?> 175 Gewalt prägt die gesamte Handlung des Romans. (Sexuelle) Gewalt wird als Grundlage der indigenen Kultur und Kunst thematisiert und diese „primitive“ Grundlage prägt die neurasthenische Kunsttheorie der Euro-Amerikaner. Mehrere Personen kommen im Text gewaltsam zu Tode, zum Schluss des Textes eine grosse Gruppe Indigener sowie Slim und van den Dusen. Einzig der Ich-Erzähler überlebt zusammen mit der Häuptlingstochter Zana. Im Folgenden wird vereinfacht mit dem Begriff Europäer gearbeitet, obwohl die Progagonisten strenggenommen nicht als solche bezeichnet werden dürften. Zur Herkunft Slims, s.u. 176 Ausschnitt: „Nachdem wir bereits alles reformiert, verändert und renasziert haben, gilt es noch, unsere Augen, die letzte Zuflucht der Konvention, zum Teufel zu jagen und eine wieder unbefangene Netzhaut an ihre Stelle einzusetzen.“ […] die Landschaft stand, mit bitterem Realismus in diese schräge angegilbte Wand vor unseren Stirnen hineingesetzt, da. Fluch allen Malern und Fälschern! Das Leben war eine Zeichnung, und Bitterkeit steigt aus den trockenen zähen Stengeln auf, die eng und planlos zusammengepackt, den Djungle darstellen. (T, 173) Dieser malerischen Wahrnehmung und Strategie entsprechend ist folglich vom „wilden Künstlergemüt“ (T, 23) von Slim die Rede oder von Brandlberger als dem „Scharfschütze[n] unter den Künstlern“: „Es galt einen neuen Standpunkt einzuführen, das Auge zu verbessern, und dazu war ich sozusagen als der Scharfschütze unter den Künstlern gerade der richtige Mann.“ (T, 84) Diese Passage zeigt deutlich: Auch dieser Text dreht sich um ein neues Sehen. Die Protagonisten propagieren als Künstler/ Theoretiker beide einen „neuen Stand‐ punkt“, eine primitivistische „neue Rauschart zu sehen“ (T, 70 f.). Das Sehen ist Gegenstand der Gespräche der Protagonisten, ist Gegenstand ihrer geplanten Buchprojekte, das heisst in Konsequenz des Berichts von Brandlberger. Sein Bericht ist Dokumentation, Tropenroman, Wahrnehmungstheorie, Lehre eines „neuen Sehens“. Die Protagonisten verfolgen mit dem „neuen Sehen“ grundsätzlich dasselbe Ziel wie die literarischen primitivistischen Künstlerfiguren, die hier schon behandelt wurden, und wie es Einstein in seiner Negerplastik entworfen hat. Brandlberger und Slim legen für dieses Ziel, das obige Zitat deutet es an, grosse Kampfbereitschaft zu Tage. Entsprechend den Figuren von Sternheim und Benn sind sie gewalttätige und monströse Figuren. 175 Brandlberger redet beispielsweise davon, der Menschheit den Grauen Star zu stechen, damit sie nach Art der Indigenen eine „unbefangene Netzhaut“ wiedererlangten (T, 84 f.). 176 Dies ist eine evidente Übereinstimmung zur Verstümmelung respektive Mutation im Vermessungsdirigenten. Das „neue Sehen“ wird, wie wir schon in der stimmungsabhängigen Schil‐ derung des Urwaldes gesehen haben, im Laufe des Textes unterschiedlich beschrieben. Was sich aber durch den Text hindurchzieht ist eine schöpferische 234 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="235"?> 177 Vgl. Holdenried 1999, 310. Müller referiert deutlich auf James George Frazers Animis‐ mustheorie, bzw. knüpft an Sigmund Freuds Totem und Tabu an, der seinerseits Frazer rezipierte. 178 Brandlberger charakterisiert die Tropen zu Beginn des Berichts auf diese Weise. Dieser Metaphernstrang einer unergründlichen, unaufhaltsam wachsenden Natur zieht sich danach durch den ganzen Text. 179 Diese Passage findet zeitlich vor Eintritt in das Dumara-Dorf statt. Wahrnehmungstheorie. Das „neue Sehen“ wird als „schöpferische Betrachtung“ (T, 112) charaktierisiert, als produktives Schaffen: „Sehen und Produzieren ist das Gleiche“ (T, 203) bemerkt beispielsweise Slim. Oder Brandlberger: „Beob‐ achtung, bitte, das ist mein Haupttrumpf, ist Postulat. Der Schöpferische sieht, hört, schmeckt, riecht und tastet in die Weltdinge hinein, und siehe da, sie werden unter seinen Sinnen wirklich“ (T, 116). Brandlbergers Glauben an ein wirklichkeitsgenerierendes Sehen und ebensolches Denken hat binnentextuell künstlerische Vorbilder, wie wir sehen werden. Dieses Sehen ist jedoch auch klar intertextuell auf den ethnologisch-anthropologischen Diskurs der Jahrhun‐ dertwende bezogen, ein Echo der Beschreibungen und Theorien indigenen Animismus. 177 Im Gegensatz zu Benn und Sternheim prägt bei Müller die koloniale Matrix das „neue Sehen“ grundlegend. Einerseits hat es utopische Qualität: die beiden Protagonisten trotzen mit ihrer Praxis und Theorie des „neuen Sehens“ dem Fieber, der Lethargie und dem kolonialen Furor, der sie in den Tropen ergreift, andererseits ist es Teil und Resultat des „Zustands der Tropen“: eines „willen‐ losen Wachsens“ (T, 15) 178 und kolonialer Gewalt. Die Kunst ist Bestandteil des Abenteuer- und Kolonialisierungsprojekts der Hauptfiguren und alles andere als harmlos. Die Ironie, mit der die Machtdemonstrationen der Weissen geschildert werden, vermag die koloniale Gewalt nicht zu schmälern. Im Gegenteil, sie macht die im Laufe des Textes vielfach dementierte Hierarchie zwischen den Kulturen nur sichtbarer: Ich wählte eine Kartusche und hing sie malerisch über die Schulter. Ein Khakihelm vervollständigte die Absichten. Fertig. Marsch! Wir erobern dieses Land! Wir sind die Vertreter der allerneusten Zustände auf dem Gebiete der Kultur, wir ergreifen Besitz von der Schönheit dieses Erdstrichs und wollen nebenbei eine Landkarte verfassen! Respekt vor unserem Wissen, unserer abstrakten Tiefe, unserer Humanität, andernfalls wird geschossen! Punkt; Amen. Wir sind ein Geschlecht von Herren. (T, 42) 179 Die Ironie, Überzeichnung und Distanz in der kolonialen Erzählstimme Brand‐ lbergers (und Slims), so will es die Grundstruktur des Textes, führt aus der großstädtischen Konstitution und Künstlerdisposition der Protagonisten her. 235 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="236"?> 180 Der Begriff der Avantgarde macht für Slim und Brandlberger nicht nur aus dem Kontext der Gewalt, d. h. in seiner ursprünglichen militärischen Bedeutung Sinn. Im Text ist zwar nie explizit von Avantgarde die Rede, jedoch orientieren die Protagonisten sich am Menschen der Zukunft, der sich vom Bürger und auch vom Bohémien absetzt. Vgl. bspw. T, 57; 70. Einmal konzipiert Brandlberger diesen neuen Menschen in Absetzung von der „Arriere-garde“: der „tanzende[n] Phalanx der Bürger“ inklusive ihren „frigiden Dichtern“ (T, 112). 181 Weitere Bezeichnungen: „Schildermaler“ (T, 47); „Pinselnovellist“ (T, 47); der „große reinmenschliche Künstler“ (T, 84 f.) oder „nette Pflanze von einem Künstler“ (T, 48). Daneben weitere, nicht direkt mit seiner Profession in Verbindung gebrachte Benen‐ nungen, z. B. „Wurzelexistenz“ (T, 124). Die Abenteuer- und Kolonialgeschichte ist explizit aus einem interkulturellen Blickwinkel erzählt. Brandlbergers Hauptanliegen ist es, aufzuzeigen was ge‐ schieht, wenn großstädtische Neurastheniker in der Begegnung mit Indigenen und indigener Kunst auf ihre eigenen Spiegelbilder treffen. „Du zielst auf eine Sache ausser dir, auf einen schönen roten Fetisch, auf ein rotes Ideal, und zuletzt hast du doch dich gemeint“ (T, 186). Die Wirklichkeit des „Djungles“ spiegelt diejenige der Großstadt, und zwar mit dem Resultat, dass die Großstadt in punkto Exotik dem Dschungel den Rang abläuft. Mit den indianischen Djunglen ist es nämlich nichts. Es gibt sie kaum. Ich rate Ihnen zu irgendeinem Kohlenweiler, oder doch zu einem Kaffeehause. Man hat Ihnen die Tropen in einer falschen Tonung zur Kenntnis gebracht. Bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten dort auf die Pantherjagd gehen; dort erdrosselt man das Raubtier genau mit einer Kette von Treibern, und das kommt auch bei uns in den besten Familien vor. Die Gefahren werden aufgerieben, und unter dem südlichen Kreuze hausen Sie langweiliger als unter der elektrischen Birne Ihres Hotelzimmers. (T, 121) Das „neue Sehen“ nimmt auf der Grundlage der Entdeckung der Tropen in sich Gestalt an. Die Protagonisten demonstrieren diese Interkulturalität und erarbeiten eine interkulturelle Theorie nach Art der Exotismustheorie Segalens. Neben den beiden schiesswütigen, avantgardistischen 180 Hauptfiguren gibt es eine indigene Künstlerfigur, den Maler Kelwa. Er wird als „Djungleartist[en]“ (T, 124) oder „Urmaler“ (T, 237) beschrieben. 181 Dieser zentralen Künstlergestalt sind weitere europäische Künstlerfiguren zur Seite gestellt. Jene erscheinen alle nicht auf der Handlungsebene des Romans, spielen jedoch in der Theorie des „neuen Sehens“, die die Protagonisten formulieren, eine grosse Rolle. Die primitivistische Künstlerfigur Roroschkin ist hier zu nennen, die ohne direkten historischen Bezug gestaltet ist. Und dann werden Paul Gauguin und andere historisch authentische Persönlichkeiten europäischer Kunst und Kultur 236 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="237"?> 182 Der Herausgeber verweist hier auf Zusammenhänge, die Brandlberger im Text/ Roman thematisiert. Für Gauguin vgl. T, 69, Altenberg T, 63, etc. 183 Vgl. T, 7 f. Grossvater Araber, Grossmutter Deutsche, Vater Jack Slim d. Ältere in Diensten der amerikanischen Kriegs- und Handelsmarine in Peru, Mutter: von „in jeder Beziehung dunk[len]“ Herkunft. Der Herausgeber redet zudem von einem „semitischen Element, von dem er einen guten Teil in sich trug“ (T, 9). 184 „Vertreter einer neuen Menschlichkeit“ (T, 70); „ein kapitaler Mensch, ein seltenes und gelungenes Exemplar von einem Manne“ (T, 182). 185 „In ihm lag jene Universalität, die auf die tiefsten menschlichen Gründe zurückgeht. Sein Nervensystem war ein Rest Tropen, in ihm war der Geist des Boulevards wieder mit seiner Urform, der animalischen Tiefe des Lebens, eins geworden“ (T, 69 f.). Diese Beschreibung Brandlbergers entspricht der Selbstbeschreibung Slims, s. bspw.: „Ich bringe jede, auch die heterogenste Saite in mir zu einem Klingen. Ich bin ein Urweltmensch in einem Londoner Hotel erster Klasse“ (T, 200). genannt. Teilweise finden diese bereits im Vorwort Erwähnung. Robert Müller als fingierter Herausgeber des Romans schreibt dort: „Er [Slim] war berüchtigt durch seine politische Exzentrizität, seine unmöglichen Prophezeiungen über die Entwicklung des menschlichen Geschlechts und seine theosophischen Bestrebungen. Er hatte Verbindungen an allen Ecken der Welt, war ein Freund Tolstois, kannte als Student Gauguin, sass in Wiener Kaffeehäusern an der Tafelrunde Altenbergs und beriet den deutschen Kaiser […]“ (T, 8) [Herv. LF] Slim wird also im Zusammenhang mit diesen gewichtigen Namen vorgestellt. Er ist gleichsam das Verbindungsglied zwischen Paul Gauguin, den Literaten Leo Tolstoi und Peter Altenberg sowie dem deutschen Kaiser. 182 Qua seiner multinationalen Herkunft - Slim ist Amerikaner mit sowohl afrikanischen, südamerikanischen als auch europäischen Wurzeln 183 - und diesen persönlichen Verbindungen in die Bereiche der Kunst und Politik, die ihm, wie der Text suggeriert, seine multinationale Herkunft ermöglichte, ist Slim der Mann für ins „Kosmische“ ausgreifende Aktionen und Visionen. Er ist der „reife Typus“ [! ] (T, 9), der „Prototyp des zukünftigen Menschen“ (T, 28), oder „Weltmann“ (T, 115), 184 in dem „Eigenschaften aus einer modernen Kultur, eine zerebrale Spannung […] mit der eigentümlichen Relaxation des Urmenschen [gemischt]“ sind (T, 28) [Herv. LF]. Er ist eine Integrationsfigur, ein Vermittler zwischen den Kulturen. 185 Auf dieser personellen und kulturpolitischen Grundlage beruht der Bericht von Brandlberger: der vom interkulturellen Mann der Zukunft eingenommene Ich-Erzähler verschreibt sich den Ideen Slims und zielt auf den Prototypen Slim, auf Slim als „repräsentativen Typus“ (T, 199). Im Vorwort wird dieses Gerüst der Erzählung vom fingierten Herausgeber also bereits nacherzählt und bestätigt. Der seinerseits in interkulturellen Zusammenhängen tätige 237 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="238"?> 186 Hier ist nicht nur das europäische Netzwerk gemeint - auch die Priesterin Zana ist bspw. als Künstlerin gezeichnet, vgl. T, 94; 111; 121, etc. 187 Vgl. T, 8 f. Zur Broschüre über die Zukunft Österreichs: Hier erwähnt der Herausgeber, Slim vertrete die Idee, mit der Verlegung des Papstsitzes in die österreichische Provinz eine „vollständige Umwälzung der geistigen Richtung; worauf es nach seiner Meinung in dem von Liberalismus zersetzten Österreich ankam.“ Der Herausgeber Müller fasst zusammen: „Es geschieht das Eigentümliche, dass wir hier einen Mann, dessen geistige Erfahrung, Blutzusammensetzung und Bildung ihn zu einem Nihilisten bestimmen, als konservativen Typus wirken sehen“ [Herv. LF]. 188 Darstellungen als malende Dichter, s. bspw. T, 45; 57 f.; 62; 64; 86; 122; 131; 136. Wie sich zeigt, hat die Biographie des Künstlers Slim viele Ähnlichkeiten mit derjenigen seines Bekannten Paul Gauguin (Peruanische Ursprünge, Marine, Tahiti-Aufenthalt, Todeszeitpunkt, etc.), vgl. Kap. 3.4.3. Zeitungsredakteur Müller [„Three Worlds“ (T, 197)] unterstreicht dabei die rassenpolitische Dimension des Textes. Er betont, dass Slim mit seinen politi‐ schen (exzentrischen bis theosophischen) Projekten (s. o.) auf die „Zukunft des Deutschtums“ hingearbeitet habe und schlägt vor, den Text als Typenstudie zu lesen - hier Bandlberger, der „junge[r] Mann vom Beginn des 20. Jahrhunderts“, der „Durchschnittsdeutsche[r]“ (entsprechend zu van den Dusen im Text, s.v.) „[…] ein Mann ohne eigentliche Begabung und ohne Charakter, ja, kaum ein Mann von Geist […]“ (T, 7), dort der „seltsamste Mensch“ der Zukunft, der Kosmopolit Slim, der eben spezifisch die „Zukunft des Deutschtums“ bedeute (T, 8). Diese soziopolitische Lesart des Textes hat eine Ausklammerung des Kunstdiskurses zur Folge. Die Künstlerbekanntschaften Slims werden im Vor‐ wort zwar erwähnt, die Bedeutung dieses Netzwerkes für den Bericht jedoch ignoriert. Der Herausgeber Müller gibt vor, sich nicht für Brandlbergers „neues Sehen“, für die verschiedenen künstlerischen Ambitionen der Figuren sowie den weiteren Ausbau des Netzwerkes (Roroschkin, u. a.) 186 in der Diskussion mit Slim zu interessieren. Darauf, dass der Herausgeber auf Slim als politischen Avant‐ gardist konservativer Ordnung zuhält, deutet insbesondere die Auflistung der politischen Projekte Slims hin, die im Text von Brandlberger interessanterweise nicht erwähnt werden (Slim als Befürworter eines deutschen Kolonialreichs in Arabien, als Verfasser einer Broschüre über die Zukunft Österreichs, als Unterstützer des Zionismus, etc.). 187 Brandlberger jedoch charakterisiert Slim und sich selbst abwechselnd als Avantgardisten im künstlerischen Bereich. 188 Die gleichartigen Buchprojekte, die die Protagonisten beschäftigen und deren gemeinsame Formulierung der Text immer wieder simuliert, sind kunsttheo‐ retisch angelegt. In der Manier avantgardistischer Manifeste skizzieren Brand‐ lberger und Slim diese gleichsam als ästhetisch-theoretische Umsetzung ihrer Erkenntnisse um das „neue Sehen“. Dies ist die logische Konsequenz der Theorie des „neuen Sehens“, die darin gründet, dass Wahrnehmung als künstlerische 238 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="239"?> 189 Slim bezeichnet das Gehirn als „Lustspeicher“ (T, 66); seiner Meinung nach ist die Kultur des Gehirns nicht genug bunt und übertrieben (Ebenda). Allgemein fordert er die Annahme einer körperlich/ sexuellen „Linkserkultur“. Sein Auftrag für Brandlberger: „Nehmen sie sich dieser links liegengelassener Kultur an, Sie sind ein junger Mann, Sie haben vielleicht Zukunft“, vgl. T, 67 f. Mit dieser Zweiteilung des Denkens wird intertextuell auf die zeitgenössischen Theorien Lévy-Bruhls oder Tylors, aber auch auf Nietzsche verwiesen. 190 Dies betrifft insbesondere die Texte, die zwischen 1915 und 1917 in vier Publikationen erschienen: Was erwartet Österreich von seinem jungen Thronfolger? (Hugo Schmidt Verlag München 1914); Macht. Psychologische Grundlagen des gegenwärtigen Atlanti‐ schen Krieges von Robert Müller (Hugo Schmidt Verlag München 1915); Österreich und der Mensch. Eine Mythik des Donau-Alpen-Menschen von Robert Müller (S. Fischer Berlin 1916); Europäische Wege. Im Kampf um den Typus. Essays von Robert Müller (S. Fischer Praxis [„Sehen und Produzieren ist das Gleiche“ (T, 203)] verstanden wird: die kolonialistischen Abenteurer mutieren zu Künstlerfiguren, sie verkörpern und propagieren eine neue Kultur des Sehens und Gehirns. 189 Doch der Heraus‐ geber der Schrift Brandlbergers unterstreicht: Der Text ist in erster Linie ein Dokument und kein Kunstwerk. Er nennt die Schrift zwar eine „freie[n] und unabhängige[n] Schöpfung“, gesteht ihr aber keinen ästhetischen Wert zu: Ich habe mich nun, angestachelt vielleicht durch die Leichtfertigkeit, mit der von den Redaktionen dogmatische Einwände gegen oft wenig geprüfte Werke einer freien und unabhängigen Schöpfung geltend gemacht werden, entschlossen, das herrenlose Manuskript als Buch zu veröffentlichen. Ich bin mir vollständig darüber klar, dass ich durch diese Tat kaum Literaturgeschichte, aber vielleicht die Geschichte der Mensch‐ heit um einen wertvollen Beitrag bereichere. Irgendwelche andere künstlerischen Absichten, als scharf und umfassend zu beschreiben, treten darin nicht zutage, wie es von einem Manne, der naturwissenschaftliche und technische Studien betrieben hat, auch nicht anders zu erwarten ist. […] Es war keineswegs ein klarer und in seinen Absichten ausgesprochener Mensch; dies geht aus seinen Schriften nur allzu deutlich hervor; er wollte vielleicht, während er Zeugenschaft ablegte, zu vieles zugleich, denn er besass eine einzige Tugend: er war gründlich! So dass man seiner Arbeit zwar nicht die eines Kunstwerkes, aber immerhin die eines Dokumentes zuweisen kann. (T, 6f.) [Herv. LF] Diese Charakterisierung als „Urkunde“ kann als Versuch gelesen werden, Ordnung in den ausufernden (hier „umfassend[en]“) Text zu bringen. Interes‐ santerweise manifestiert sich hier zwischen dem Vorwort des Herausgebers und dem Romantext/ Manuskript ein intertextuelles Verhältnis ähnlich demjenigen zwischen den rassenpolitischen Essays des Autors Robert Müller und seinen literarischen Texten. 190 In den Essays übt der Ideologe Müller rassenbiologische 239 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="240"?> Berlin 1917). Vgl. MW Bd. 9. Gesammelte Essays (1995). Schardt, Michael Matthias (Hrsg.). Paderborn: Igel Verlag Literatur. 191 Die Haltung hinter diesen Essays fasst Hans Heinz Hahnl folgendermaßen zusammen: „Die politischen Essays Müllers sind vom Widerspruch zwischen der Ausarbeitung einer auf die Autonomie des Subjekts und ein relativistisches Weltbild rekurrierenden, die Forderung nach einer ethisch und sozial engagierten Literatur proklamierenden aktivistischen Handlungstheorie einerseits und dem Entwurf einer obskuren, zum Teil mit antisemitischen Stereotypien operierenden Rassentypik andererseits geprägt.“ Vgl. Hahnl, Hans Heinz (1995). Atlantische Verlockungen. In: MW Bd. 9, 292-306. 192 Hahnl 1995, 293f. 193 Die Flussfahrt-Szene, mit der der Roman beginnt (T, 13-18), ist in diesem Zusammenhang besonders interessant. Brandlberger feiert „Wiedersehen“ (T, 15 ff.) mit seinem früheren Ich, äußert sich bspw. dahingehend: „Dieses träge dumpfe Glück war mir ein alter lieber Freund, mir, der ich aus einer nervösen, in jeder Minute fatalen, aus einer so unbeschau‐ lichen Stadt kam! “ (T, 15). In der Folge zieht sich nach dieser Initiation auf dem Fluss die Selbstdarstellung der Protagonisten als „vielfach verbesserte[r] Tropenlandschaft“ leitmotivisch durch den Text. Beim späteren Eintreten in den Dschungel kann er nach der Flussfahrt verkünden, er lasse Jahrtausende hinter sich zurück (T, 151). 194 Vgl. Holdenried, Michaela (2004). Künstliche Horizonte: Alterität in literarischen Repräsentationen Südamerikas, Berlin: Erich Schmidt Verlag, 268f. und -psychologische Systematiken und Typisierungen ein, diese werden in der Literatur zwar (wie im Romantext) rezipiert, entwickeln dort aber ein augenfälliges Eigenleben. 191 Hans Heinz Hahnl deutet diese Zusammensetzung als Konflikt zwischen Ideologie und Utopie und formuliert im Hinblick auf Müllers Entwicklung folgendermassen: Die Entwicklung von einem in Vorurteilen befangenen Ideologen zu einem vorurteils‐ freien Utopisten hat sich so rasch vollzogen, dass es einem den Atem verschlägt. Aber es ist nicht (nur) die Wandlung einer Anpassung es ist die Wandlung eines nur gelegentlich durch stilistische Versuchungen aus dem Konzept gebrachten Denkers. 192 Zur verwickelten Verknüpfung der Figuren und ihrer interdiskursiven und poetologischen Anlage folgende grundsätzliche Bemerkungen: Die verwirrende Verschränkung der Protagonisten, so macht der Text klar, resultiert einerseits aus dem „Zustand der Tropen“ (T, 15). Die fremde Natur und die Begegnung mit den Indigenen provozieren die persönlichkeitsverändernden Öffnungen und Transformation. Der Europäer entdeckt wie schon erwähnt sein früheres Ich, Spuren seiner (gar vorgeburtlichen) Vergangenheit 193 und universeller Menschlichkeit. Das Ich löst sich auf und tritt in einen anderen Zustand, in dem die Kategorien wie Raum und Zeit aufgehoben sind. Die in europäischen Projektionen des „Primitiven“ inhärente Zeitlosigkeit wird im Text dadurch potenziert, dass die Protagonisten das Paradox eines „rasenden Stillstands“ (T, 32 ff.) thematisieren. 194 Doch nicht nur die Indigenen und der Urwald haben 240 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="241"?> 195 Zu Slim als Imagination Brandlbergers, s. Willemsen 1984, 307. 196 Beispiele für die Selbstthematisierung der gegenseitigen Durchdringung (aus Brand‐ lbergers Perspektive): „Sein war die Tat, die kräftige Aktion, mein aber waren Spürsinn und das aufgeweckte Bewusstsein. Er hatte eine Menge Ideen geäussert, die von mir waren […]“ (T, 130); „Mein Kopf war während dieser Tage nichts als eine Filiale des phänomenalen Denkorganismus, den Slim in seinem Schädel barg“ (T, 142); „Er schien mir wie ein Vampir, der die Gedanken und Ideen der anderen an sich saugte“ (T, 136). Diese gegenseitige Durchdringung wird mit den/ m Buchprojekt(en) [„unser Buch“ (z. B. T, 206)] auf die Spitze getrieben, hierzu vgl. insbes. T, 110: Brandlberger hat während einer Fieberphase die Vision einer höchst symbolischen Erzählszene. Er visioniert Slim, der „ein einziges langes, wildes Lied“ erzählt: „Wer war ich in seiner Erzählung? Wer war er selbst? War er ausserhalb seiner Erzählung? Und ich gewahrte, dass er nur ein Stück seiner Erzählung war. Er war die Gestalt eines Buches, das ich las. Während ich es aber las, schrieb ich es, und ich schreib es ab von meiner Seele mit Schaudern und Staunen und Neugier.“ diese Wirkung: Slim als Fremder und Reisender zwischen den Kulturen hat auf Brandlberger und den dritten Weissen van den Dusen dieselbe Wirkung. Brandlberger spiegelt sich im fremden primitivistischen Genie Slim, in dem wiederum Gauguin gespiegelt wird, wie gezeigt werden wird. In der Einführung hält der Herausgeber über das Verhältnis Brandlbergers zu Slim Folgendes fest: Sein [Brandlbergers] Verhältnis zu Jack Slim, dem Amerikaner, wurde ihm zum Problem. Er geriet so ausserordentlich unter den Einfluss dieses Mannes, arbeitete sich so gründlich an dieser ihm ganz entgegengesetzten und darum seiner Sehnsucht kaum fremden Natur zu einer Art Nachfolgerschaft durch, dass es beinahe scheinen möchte, als sei sie eine freie Erfindung seines spekulativen Dranges, seines heftig monologisierenden Innenlebens. [Herv. LF] (T, 7) 195 Die Verschränkung der Figuren resultiert jedoch vor allem auch aus der unauf‐ hörlichen (Selbst-)Thematisierung und Inszenierung der Spiegelbeziehungen durch die Protagonisten. 196 Diese Spiegelungen werden mit den restlichen Künstlerfiguren des Textes weitergezogen. Der Ich-Erzähler Brandlberger fügt Slim und sich selbst in ein Verweissystem - in ein Verweissystem, über dessen Symbolkraft der begriffsstutzige van der Dusen zum Schluss des Textes bemerkt: „Der neue Mensch und der Urmensch. - Sie. Sie - - Das ist Symbolismus.“ (T, 228). Die Verwirrung auf der Ebene der Figuren wird mit der Erzählanlage der He‐ rausgeberfiktion gesteigert. Und die geschickte Genre-Montage - Holdenried be‐ schreibt den Text als „exotistischen Abenteuerroman“, „Detektiv- oder Kriminal‐ roman“, „Romanessay“ („mit kulturtheoretischer und -kritischer Akzentuierung“), „Novelle“ („[…] mit mehreren, sich […] gegenseitig entwertenden unerhörten 241 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="242"?> 197 Vgl. Holdenried 1999, 304. Frank Werner Raepke beschreibt die Verschachtelung der Gattungen als „fiktionskritische Strategie“, s. Raepke, Frank Werner (1994). Auf Liebe und Tod. Symbolische Mythologie bei Robert Müller, Hermann Broch, Robert Musil. Münster: LIT Verlag, 126. Michaela Holdenried hält dem entgegen, dass dieser Fiktionskritik durch exzessive Anwendung (sie redet von „ironisch überdeterminierten“ Gattungen) der Boden entzogen werde. Zu den rezeptionsästhetischen Konsequenzen der Gattungsverschach‐ telung, zur „Zwangslage“ des Lesers, vgl. weiter Holdenried 1999, 303; Schwarz 2006, 190. 198 Slim führt weiter aus, dass in seinem Buch die Personen alle „vorübergehend“ Nummern besetzen würden, um diese Tatsache zu illustrieren (T, 209). Dass die „Theorie der elastischen Beziehungen“ in Bezug auf die Relativitätstheorie Albert Einsteins Gestaltung findet, suggeriert Müller in der expliziten Bezugsetzung von Tropen-Roman und Relativi‐ tätstheorie in seinem Essay Die Zeitrasse, s. Müller, Robert (1917/ 18). Die Zeitrasse. In: Der Anbruch 1, H. 1, 2; H. 2, 2. Vgl. MW Bd. 10 Kritische Schriften II, 21-25. Begebenheiten“) und „Psychogramm“ 197 - tut ihr Übriges. Die Netzwerk- und Fächerstruktur bildet sich zum eigentlichen Gegenstand des Romans heraus. Und dies spiegelt sich wiederum in der Lehre der „Gravitation der Intellekte“, die Slim für sein Buchprojekt unter dem Titel „Irrsinn“ entwickelt (T, 198 ff.). Das Buch ist den intersubjektiven und interkulturellen Beziehungen gewidmet, dem „Gesetz von der Durchdringlichkeit der Realität“ (T, 203). Er demonstriere darin, so Slim, dass es kein Individuum (hier spricht er von „Charakter“) gäbe: „[…] es gibt nur Situationen, es gibt nur diese Beziehungen zwischen den Menschen […]“; „Er [der Einzelne] entsteht eigentlich immer erst durch die Disposition der anderen“ 198 (T, 209). Dieses Buch im Buch ist gleichsam Slims letzter Versuch der theoretischen Vermessung der Tropen und des „neuen Sehens“ vor seinem mysteriösen Tod, der Abschluss seiner Proklamationen und Transzendierungen der exoti(sti)sch-pri‐ mitiv(istisch)en Beziehungen. Hier klärt er seine Kunsttheorie: der neue Mensch, der ihn beschäftigt (und in Folge ihrer „geniale[n] Assimilationsfähigkeit[en]“ [! ] (T, 175) auch Brandlberger und letztendlich van den Dusen), ist von diesem „Gesetz der Durchdringung der Realitäten“ her gedacht: er ist eine Kunst- und Künstlerfigur, der die Tropen verkörpert. Auf die Frage Brandlbergers hin, ob Slim denn die Resultate seiner „Wissenschaft“ der „Gravitation der Intellekte“ nicht einfach hinschreiben könne, antwortet Slim: Nein das geht nicht. Man muss erfinderisch Rechenschaft ablegen, heimtückisch motivieren, die seelischen Vorgänge im Fluss erstarren lassen und dennoch nie das Ge‐ frorene daran zur Empfindung bringen. Man muss die logischen Verbindungsglieder vernachlässigen, wie sie die Wirklichkeit vernachlässigt, und die Verlaufskette erst nachträglich lückenlos schliessen. Ein Kunstwerk soll es nun nicht eben sein, blosse Kunstwerke sind zwar sehr erfreulich, aber doch auch recht unwesentlich für die Menschheit. Aber eine Geschichte soll doch wirksam und überzeugend sein und nur das Gute hat diese Eigenschaften. Man muss also gestalten. Und ich muss also den 242 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="243"?> 199 Holdenried 1999, 303. Der Gefahr, der laut Holdenried thematische Einzelstudien zu Müllers Roman ausgesetzt sind, nämlich durch „Verabsolutierung“ eines bestimmten Bezugs, die „als verstörend empfundene Ambiguität des Textes in ein widerspruchfreies Konstrukt auf[zulösen]“, ist diese Arbeit bewusst. 200 Kurt Hiller in der Vorbemerkung zu Müllers Essay Die Geist-Rasse. Müller, Robert (1920). Die Geist-Rasse. In: Das Ziel - Jahrbuch für geistige Politik Bd. 4. Hiller, Kurt (Hrsg.). München/ Berlin, 49. neuen Menschen höchsteigens auftreten lassen, es muss sich so beiläufig herausstellen, dass er es ist, den ich meine. Er soll nicht nur rezensiert werden, er soll auch singen und handeln. Ich muss die Verbindungslinien zu den anderen ziehen, auch die ganz zarten. (T, 207) [Herv. LF] Slims Theorie des „neuen Sehens“ zielt auf den neuen Menschen und zeigt diesen als Schöpfer. Der neue Mensch agiert als Künstler und schafft interpersonelle Kunstwerke von der Gestalt des Tropen-Romans (der Tropenromane in der Mehrzahl). Der Tropen-Roman ist poetische Umsetzung der Tropen-Theorie: ein offenes Kunstwerk, das die Bewegungen zwischen den Realitäten - dem „verschränkte[n] System von Spiegeln“ (T, 125) - und ihrer künstlerischen Erzeugung einfängt, offenlegt und generiert. Mit der Analyse des Künstlernetzwerks im Close reading kann dieser un‐ ergründliche künstlerische Primitivismus genauer in den Blick genommen werden. Im Gegensatz zum kolonialen Feld ist das Feld der Kunst im Tropen-Roman noch wenig erforscht. 3.4.2 Rezeptionsgeschichte des Romans Michaela Holdenried konstatierte 1999, dass Müllers Tropen-Roman als „offenes Kunstwerk par excellence“ noch keineswegs ausgeschöpft sei. 199 Dies kann man von diesem elastischen Text, der zu jedem Kolonialklischee oder misogynen Ausspruch seiner Protagonisten, zu jeder Beobachtung und jedem Argument ein Gegenbild und Gegenargument bereithält, immer noch behaupten. Der Roman lässt einen weiten Interpretationsraum offen und inszeniert dies selbstgewiss mit seiner Hauptfigur, die sich als Kolonialist, Abenteurer, Künstler und Denker als (Über-)Projektionsfläche anbietet: „[…] Und das Beste war, man konnte ihn hinstellen, wo man wollte, er passte überall hinein“ (T, 219) heisst es zum Schluss des Textes über Slim. Kurt Hillers berühmt gewordene Zeilen über den Tropen-Roman haben ihre Gültigkeit. Er nannte den Roman eine „unerhörte Kreuzung aus Gauguin und einem Über-Freud, mit pantrigem Sportboy-Ein‐ schlag: oder aus Nietzsche und Karl May“. 200 243 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="244"?> 201 Monographien der 2000er: Liederer (2004); Schwarz (2006); Pflaum (2008); Heckner (2012); Gardian (2014); kleinere Untersuchungen bei Holdenried (1999/ 2004); Jacobs (2004); Müller-Tamm (2005); Michel (2007), Lubrich (2009); Gisi (2010); Gess (2013). 202 Müller nahm als kriegsbegeisterter Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, erlitt Mitte 1915 am Isonzo bei einem Granatenangriff einen Nervenschock und wurde vom Waffen‐ dienst suspendiert. Darauf Tätigkeit als Redaktor der Belgrader Nachrichten und im Wiener Kriegspressezentrum, Anschluss ans pazifistische Lager. Ab 1917 Propagandist des literarischen Aktivismus, 1918 Gründung der kulturrevolutionären aktivistischen Geheimgesellschaft Katakombe, 1919 Bund der geistig Thätigen (mit Zeitschrift Der Strahl), später buchhändlerisches Unternehmen Literaria und Atlantischer Verlag. 203 Müller-Tamm (2005). „Künstliche Paradiese“ und „künstliche Realitäten“: Robert Müllers „Tropen“. In: Dies. Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in der Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg i.B.: Rombach, 346-380. Hier 346. 204 Vgl. Müllers Klassifizierung zweier Typen von Aktivismus in Aus Deutschösterreich (1919). In: Der neue Merkur 3, 236-243. Hier S. 241 (Vgl. MW Bd. 10 Kritische Schriften II, 377-384. Hier 384): „[…] deren einer marxistisch denkt und empfindet und den Aktivismus nur als eine salonmässigere Form der Sozialdemokratie, zumindestens als eine intellektuelle Spielart betrachtet; während der andere, über den wirtschaftlichen Materialismus des marxistischen Programms hinausgehend, mehr eine biologische Variation des schon erreichten Menschentyps dadurch hervorbringen will, dass er in den Vertretern des kulturschöpferischen Individualismus die soziale Verantwortung, aber ohne, ja eventuell gegen den Marxismus grossziehen will.“ Müller zählt sich zum zweiten Typus. Allgemein war und ist Müllers Aktivismus ideologisch schwer einschätzbar, er ist nicht marxistisch und auch nicht praktisch-politisch angelegt. Wie er selbst schreibt, befürwortete er eine Haltung, „die ihm von seichten Kritikern den Vorwurf der Gegenrevolution eingetragen hat“ (s. u.). Zum utopischen österreichischen Aktivismus allgemein, s. Fischer, Ernst (1994). Expressionismus - Aktivismus - Revolution. Die österreichischen Schriftsteller zwischen Geistpolitik und Roter Garde. In: Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. Wallas, Armin A./ Amann, Klaus (Hrsg.). Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau, 19-48. Hier 33ff. (34: zit. Müller, Robert (1918). Die neue Erregung. Aktivismus. In: Die Waage, 21.Jg. H. 38, 615-619. Hier 617). 205 Die kolonialen Phantasien des in den frühen 1910er-Jahren kriegsbegeisterten Autors haben deutliche Spuren im Tropen-Roman hinterlassen. Ein eindeutiges kolonial- oder In den letzten Jahren hat sich die Forschung zu Robert Müller und im Besonderen zum Tropen-Roman stark intensiviert. 201 Aus dem Kanon zum literarischen Primiti‐ vismus ist der Roman nicht mehr wegzudenken. Die Wiederentdeckung des Textes in den 1970er-Jahren stand unter dem Zeichen eines politischen Expressionismus/ Aktivismus. 202 Wie es Jutta Müller-Tamm auf den Punkt bringt, verlief die wissen‐ schaftliche Beschäftigung mit Müller allgemein, „sofern sie überhaupt stattfand - lange Zeit in den eingefahrenen Bahnen der Ideologiekritik.“ 203 Müller galt als ausserordentlicher Ideologe, als präfaschistischer Irrationalist (frühe publizistische Texte) und Aktivist eigenen radikalen Formats (Nachkriegsjahre); 204 seinen literari‐ schen Exotismus und Utopismus interpretierte man vorwiegend aus ideologischer Perspektive. 205 Prägend war die erste Monographie von Günter Helmes (1986), 244 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="245"?> rassenpolitisches Programm ist im Text jedoch schwerlich greifbar. Inwiefern dies mit Müllers späten Eingriffen in den Text zusammenhängt, ist unklar (gemäss eigener Aussage hat Müller den Roman unter dem Eindruck der Kriegserfahrung nach seiner Kriegsverlet‐ zung 1915 umgearbeitet). Zum Exotismus im Werk Müllers: Der Tropen-Roman und die Novelle Das Inselmädchen (1919) sind die beiden (räumlich) exotischsten Werke Müllers. Die Themenkreise Kolonialismus, Primitivismus und Interkulturalität sind jedoch auch für andere Texte Müllers zentral. Camera Obscura (1921, in dem Jack Slim aus dem Tropen-Roman wieder auftritt) oder Der Barbar (1920) sind hier besonders hervorzuheben. Die Texte können jedoch nicht in die Argumentation aufgenommen werden. 206 Helmes, Günter (1986). Robert Müller. Themen und Tendenzen seiner publizistischen Schriften. Mit Exkursen zur Biographie und zur Interpretation der fiktionalen Texte. Frankfurt am Main: Peter Lang; davor Aufsatzsammlung: Expressionismus, Aktivismus, Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1981). Kreuzer, Helmut/ Helmes, Günter (Hrsg.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981. Vgl. Köster 1995, 15. Thomas Köster spricht von Helmes Faschismusthese als von einer „sicher nicht ganz unberechtigte[n] Einschätzung“, diese würde aber ins Spekulative abgleiten. Roger Willemsen differenzierte in diesen Belangen zeitgleich zu Helmes in seiner Studie zum Aktivismus der Nachkriegsjahre, vgl. Willemsen 1984. 207 Müllers literarische Figuren sind durchweg rassenideologisch konturiert, in Wolfgang Reifs Worten sind sie „mit rassenideologischen Konstellationen in Beziehung gesetzt, wobei dem nordischen Typus ganz im Sinne Jensens [Joh. Vilhelm Jensen] der Löwenanteil an positiven Eigenschaften zufällt.“ Die rassenideologischen Vorstellungen eines Gobineau oder Chamberlain (und Nietzsche) steigert er ins Mythische und „transponiert sie ins Exotische“. Vgl. Reif, Wolfgang (1981). Robert Müllers „Tropen“. In: Helmes/ Kreuzer 1981, 39-85. Hier 45f. 208 Heckner, Stephanie (2012). Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers. Wien/ Köln: Böhlau. Köster 1995 etc. (s. o.). Die Monographie von Thomas Schwarz ist in diesem Kontext besonders hervorzuheben. 209 Müller-Tamm 2005, 247. 210 Die Bezeichnung „Poetik des Fiebers“ ist im Hinblick auf die Differenzierung zwischen Exotismus und Primitivismus, bzw. im Hinblick auf die Absetzung des Textes gegenüber der exotistischen Kolonialliteratur besonders ergiebig. Im Gegensatz zur Koloniallite‐ ratur, der es um die Überwindung des Fiebers, des sogenannten Tropenkollers ging, geht insbesondere dessen Einschätzung, dass Müller, hätte er länger gelebt, sich auf die Seite der Faschisten gestellt hätte. 206 Mit den diskurshistorisch, wissenspoetologisch sowie postkolonial angelegten Analysen der letzten zwei Jahrzehnte folgte eine Blickerweiterung und Umorientierung. Stefanie Heckner, Thomas Köster und Andere, welche Müllers vielstimmigen Diskurs über Dschungel und Großstadt erforschten und dessen Rasse-Begriff 207 als nicht-biologistische Bewusstseinstypo‐ logie beschrieben, 208 entwarfen, so Müller-Tamm im Rückblick „das differenzierte Bild eines zwar nicht unproblematischen, aber hochreflektierten, ironischen und entschieden urbanen Literaten“. 209 Für den Tropen-Roman sind bereits zahlreiche Etikettierungen in Umlauf ge‐ kommen: Es war die Rede von einem „urbane[n]“ oder „utopische[n] Exotismus“ (Köster, Magill); Müller betreibe eine „Poetik des Fiebers“ (Besser), 210 er generiere 245 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="246"?> es Müller in seiner assoziativen synästhetischen „Poetik des Fiebers“ um „Infektion“ (und Hybridität), die „hier nicht überwunden, sondern herbeigewünscht [wird]“, s. Besser, Stephan (2000). Tropische Infektionsphantasmen. Zur kulturellen Typologie der Malaria um die Jahrhundertwende. In: Zeitschrift für Germanistik, Beiheft 2 1999: Das Fremde: Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Honold, Alexander/ Scherpe, Klaus R. (Hrsg.). Bern: Peter Lang, 175-195. Hier 192. 211 Holdenried 1999, 311. 212 Ebd. Zuletzt in dieser Linie: Gardian 2014. 213 Hahnl 1995, 293f. 214 Schwarz 2006, 319. eine „tropische Mythologie“ (Raepke). Qua seines „wilden Denkens“ (Riedel) wurde der Roman als „anthropologischer Roman“ (Schüttpelz) klassifiziert. Michaela Holdenried zufolge zeichnet sich der Text durch einen „subtilen Hy‐ perrealismus“ aus, der durch „magische[e] Techniken“ erzeugt sei. 211 Die selbst‐ reflexive, medientheoretische und ins Kosmologische ausgreifende Struktur des Romans motivierte Bezeichnungen wie „Denkroman“ (Müller-Tamm) oder „essayistischer Roman“ (Reif). Für die neuesten Studien, die vor allem die poetologisch-performative Qualität des Textes interessiert, gab Holdenried die Richtung vor: sie redet mit Köster von einer „Kinästhetik der Moderne“ im Tropen-Roman und differenziert, dass diese Kinästhetik „weit über die expres‐ sionistische Oberflächenlektüre der Großstadtzeichen hinaus deren bewusst‐ seinsverändernde Wirkung zum eigentlichen Agens des Romangeschehens macht“. 212 Wie oben angedeutet erlaubte eine solche auf die Inversionssystematik zie‐ lende Lektüre auch, Müllers Entwicklung vom Kriegsbefürworter und Ideologen zum „vorurteilsfreien Utopisten“ (s. o.) von neuem nachzuvollziehen. 1995 weist Hans Heinz Hahnl mit seinem Nachsatz zur konventionellen Einschätzung der Fortentwicklung des Autors bereits in diese Richtung. Nochmals Hahnl: Die Entwicklung von einem in Vorurteilen befangenen Ideologen zu einem vorurteils‐ freien Utopisten hat sich so rasch vollzogen, dass es einem den Atem verschlägt. Aber es ist nicht (nur) die Wandlung einer Anpassung es ist die Wandlung eines nur gelegentlich durch stilistische Versuchungen aus dem Konzept gebrachten Denkers. [Herv. LF] 213 Besonders anschaulich hat Thomas Schwarz auf diese konstante Seite des Schreibens von Müller hingewiesen. In seiner wichtigen Monographie von 2005 ergründet er diese Kontinuität anhand Müllers „Hypriditätsphantasie“, seiner zeitlebenden Besessenheit „[…] von der Vision, ein Imperium und eine hybride Rasse zu gründen“. 214 Schwarz argumentiert nun, die Subversivität dieser Vision Müllers betonend, nicht ideologisch relativierend in Richtung einer apolitischen utopischen Literatur, sondern zeigt auf, wie der Autor auch als „vorteilsfreier 246 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="247"?> 215 Robert Müller [1919]. Das Inselmädchen. Novelle. MW Bd. 8. Vgl. Schwarz 2006, 295- 304. 216 Schwarz 2006, 319. Im Tropen-Roman, der vor Müllers Wandlung zum Pazifisten entsteht, haben wir es primär mit einem nietzscheanischen Entwurf eines Barbaren zu tun. 217 Schwarz bezeichnet den Diskurs einer „nervösen Hyperästhesie“ als Metadiskurs des Romans, vgl. Schwarz 2006, 319. Ich fokussiere hier mit dem Künstlernetzwerk einen konkreten Teil dieses ästhetischen Diskurses. 218 Michaela Holdenried, Jutta Müller-Tamm oder Thomas Schwarz argumentieren in diese Richtung und ziehen die Verbindung zwischen Segalen und Müller. Utopist“ imperialistische Entwürfe macht. Müllers Novelle Das Inselmädchen, 215 1919 nach dem Krieg und dem aktivistischen Umbruch publiziert, liest er als Erfüllung eines kolonialpolitischen Traums. Die Handlung des Prosatextes: Auf einer Insel im Pazifik übernehmen Österreicher und Schweden, welche unter der Fahne einer „Internationalen Staatenliga für Kolonialkultur“ agieren, nach der Entlassung der korrupten portugiesisch-amerikanischen Kolonialregierung das Kommando. Schwarz‘ differenzierte Studie betreibt weder Verharmlosung noch Verteufelung. Er benennt die kolonialpolitische und rassenideologische Verblendung Müllers und unterstreicht gleichzeitig die Eigenheiten seiner Vision, seine Distanznahme zum offiziellen Diskurs. Müllers Entwicklung fasst er schliesslich wie folgt zusammen: „Die kulturelle Bühne Wiens hat er als ein ,Barbar des 20. Jahrhunderts‘ im Sinne Nietzsches betreten, als ein ‚neuer Barbar‘ im Sinne Walter Benjamins hat er sie wieder verlassen.“ 216 Insofern die folgende Analyse des Künstlernetzwerkes im Tropen-Roman die Zusammenhänge der imperialistischen und schöpferischen Vision Müllers aufzeigt, leistet sie einen Beitrag zu dieser ideologischen Diskussion. Einführend zu diesem Komplex von Imperialismus und Kunst im Tropen-Roman hier Hans Brandlbergers Worte zum nietzscheanischen Menschen der Zukunft: […] ich gründe nicht bloss ein Reich, ich gründe eine neue Rasse, ich erfinde ihr eine eigene moderne Seele nach dem neuesten Schnitte, ich kreiere einen brasilianischen und menschlichen Erztypus, in dem die Talente aller Organismen vereinigt sind. [Herv. LF] (T, 83 f.) Dieses Zitat vermag gut zu illustrieren, wie der Kunstdiskurs den imperialen Diskurs des Romans auf einer Metaebene kommentiert. 217 Auf der Grundbeo‐ bachtung dieser Kommentarfunktion der Kunst entstand die in der Einführung dieses Kapitels bereits formulierte These: der Tropen-Roman betreibt eine avantgardistische interkulturelle Ästhetik und Poetik, die derjenigen der Sega‐ lenschen „Ästhetik des Diversen“ ähnlich ist. 218 Wie bereits erwähnt, wurde der Kunstdiskurs des Romans bislang nicht gesondert erforscht. In den Monographien zu Müller wurden die wichtigsten 247 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="248"?> 219 Raepke 1994, 103. 220 Schwarz 2006, 54; Weiter Ebd., 52-54; 178. 221 Ebd., 178. 222 Ebd., 54. 223 Schwarz fokussiert allgemein auf den sexuellen Diskurs. Müllers „Poetik der Paradoxe“, so beschreibt er, sei „im Kern ein Diskurs der Blutschande, sei sie nun inzestuös, euro‐ päisch-indianisch oder deutsch-jüdisch eingefärbt. Dieser infame Diskurs demontiert festgefahrene Identitäten und löst sie in tropischer Hybridität auf “, vgl. Schwarz 2006, 319. Referenzen auf die bildende Kunst erwähnt, der bildkünstlerische primitivis‐ tische Referenzkreis des Romans war jedoch noch nicht Gegenstand einer eingehenden Analyse. Wichtige Beobachtungen zum Kunstdiskurs machte in den 1990er-Jahren Frank Werner Raepke. Er ist insbesondere den Verweisen auf Oskar Kokoschka nachgegangen, den Müller persönlich kannte (s.v.). 219 Raepke skizzierte den Kunstdiskurs als Sonderdiskurs, der sich von den multidimen‐ sionalen thematischen Bezügen und Referenzen des Textes insofern absetzt, als dass die Anspielungen, interkulturellen Missverständnisse und Irritationen im Bereich der Kunst spezifischer und fassbarer seien. Dies ist eine wichtige Beobachtung, die insbesondere auf das Künstlernetzwerk zutrifft. Raepkes Erkenntnisse zu den Verweisen auf Kokoschka werden im Folgenden über Thomas Schwarz rezipiert. Schwarz hat in seiner wichtigen Studie mehrere Exkurse zum Kunstdiskurs eingeflochten. Ihn interessiert insbesondere die Bezugnahme auf Gauguin. Einleuchtend zeigt er auf, dass Müller Gauguin dazu benutzt, „um seinen eigenen Bestrebungen, einen anderen Exotismus zu entwickeln, mehr Autorität zu verleihen“. 220 Diesen „anderen Exotismus“ im Tropen-Roman interpretiert Schwarz vor allem körperlich-sexuell. Er liest Gauguin als Pate einer „Ästhetik der Existenz“, einer vitalistischen Poetik, die auszeichnet, dass sie abjekte Praktiken, insbesondere „sadomasochistische, in der Zivilisation pathologisierte Praktiken“ feiere. 221 Er schreibt: „Gauguins Gewaltphantasien im Geschlechter‐ verhältnis könnten Müller einen direkten Anknüpfungspunkt geboten haben.“ 222 Wie Schwarz vor allem in der Darstellung des „Djungleartisten“ Kelwa bestätigt sieht, baut der Kunstdiskurs des Romans auf diesem „Diskurs der Blutschande“ 223 auf. Kelwas Bilder zeigen - aus der Sicht des Europäers - pathologisierte Praktiken, Praktiken, die der indigene Künstler auslebt (er misshandelt bei‐ spielsweise seine unterwürfige Frau Rulc). Im Rückgriff auf Raepke erwähnt nun Schwarz, dass Kelwas abjekte Kunst in Bezug auf die Künstler der Brücke und im Spezifischen auf Oskar Kokoschka gestaltet ist. Explizit wird die Referenz dort, wo der Ich-Erzähler Brandlberger mit der Beschreibung eines Werkes des indigenen Künstlers auf ein spezifisches Werk Kokoschkas verweist. Und zwar 248 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="249"?> 224 Christoph Gardian unterstreicht diese Verbindung durch den Hinweis, dass auch die Darstellung der Frau des indigenen Künstlers auf eine Zeichnung Kokoschkas verweist, vgl. T, 132. Die Referenz wird hier über die Beschreibung der Tätowierung Rulcs und ihre in der Szene erlittene physische Deformation offenbar. Die Tätowierung fesselt Brandlbergers Aufmerksamkeit, er betrachtet und berührt sie, was einen hysterischen Anfall Rulcs auslöst. Mit ihren physischen Deformationen führt sie gewissermaßen die Kunst ihres Mannes performativ vor. auf Kokoschkas Illustration zu seinem dramatischen Text Mörder, Hoffnung der Frauen, einem Holzschnitt, der unter anderem im Kontext des Sturm erschien (s. u.). 224 Die Bildbeschreibung der „primitiven“ Kunst unter primitivistischen Vorzeichen lautet im Tropen-Roman folgendermassen: Brüste klafften steil vor Lust und nervige Schenkel bäumten sich aus Knäueln. Eins der Gemälde duftete von Liebespracht und Liebesaufwand, und ein Hundevieh lief darauf hinzu und schnupperte flüchtig zu dem Paare. (T, 56) Abb. 25: Oskar Kokoschka: Zeichnung zu Mörder, Hoffnung der Frauen, in: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und Künste, 1. Jg., Nr. 20, 14. Juli 1910 249 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="250"?> 225 Erstpublikation 1910 in: Der Sturm 1. Jg. Nr. 20, 155-156. Später u. a. in Anthologie Der Jüngste Tag. Bücherei einer Epoche, Verlag Kurt Wolff 1917 (mit Drama Der brennende Dornbusch) - Kokoschka erscheint in dieser für den Expressionismus außerordentlich wichtigen Buchreihe, in der Kafka, Schickele, Rubiner, Sternheim, Meyrink, Werfel, Walser u. a. vertreten sind. Kokoschkas verfasst ab 1907 elf dramatische Texte, Lyrik und Essays. Zu seinen für die expressionistische Ästhetik bahnbrechenden frühen Dramen s. Steiner, Carl (1995). „Am Anfang war Kokoschka“. In: Ders. Aus alter und neuer Welt. Wien: Braumüller, 63-72. 226 Neben der hier abgebildeten Illustration für den Sturm existieren auch Plakate zur Uraufführung (1909) sowie jüngere Szenebilder zum Stück. 227 Albert Ehrensteins Bezeichnung für Kokoschka, vgl. Ehrenstein, Albert (1914/ 1915). Oskar Kokoschka. In: Zeit-Echo Jg.1, H. 20, 304 ff., s. Werke Bd. 5, 69-77. 228 Kokoschkas bildkünstlerische und literarische Werke ernteten allgemein große Kritik und Ablehnung. Beispielsweise wurde der Raum, der an der Wiener Kunstschau 1908 Kokoschkas Werke beherberte, die „Schreckenskammer“ genannt. Die Aufführungen seiner ersten (manchmal improvisierten) Stücke provozierte Skandale, auch Mörder, Hoffnung der Frauen, vgl. Heinz Schöffler in Faksimile-Ausgabe Der Jüngste Tag: Der Jüngste Tag Bd. 41. Faksimile-Ausgabe (1970). Schöffler, Heinz (Hrsg.). Frankfurt a.M: Scheffler 1673f. 229 Vgl. Heckner 2012, 30. Kokoschka stand mit dem Akademischen Verband für Literatur und Musik in Kontakt, dessen literarischer Bereich Robert Müller zwischen 1912 und 1914 leitete. Für 1912 ist bspw. eine vom Verband organisierte Veranstaltung mit Ko‐ koschka belegt (s. Abb. 26). Müller ist als umtriebige kultur(-politische) Persönlichkeit in Kontakt mit zahlreichen Literaten und Künstlern, unter anderen Schiele, Loos, Friedell, Altenberg und Ehrenstein. Kokoschkas 1907 entstandenes Kurzdrama Mörder, Hoffnung der Frauen 225 und die dazugehörigen Illustrationen hat die expressionistische Gemeinde sehr geprägt. 226 Mit dem rohen, Gewalt heroisierenden, archaisch-„primitiven“ Text, oftmals als erstes expressionistisches Drama bezeichnet, löste der „Ex‐ plosionist“ 227 Kokoschka einen Skandal aus. Als Bezugspunkt für die abjekte „primitive“ und primitivistische Praxis des Romans empfahl sich dieses Stück also zweifelsfrei. 228 Von Müller ist bekannt, dass er sich früh mit Kokoschka beschäftigt hat, ihn persönlich gekannt haben dürfte und sich insbesondere für dessen „primitiven“ Themenkreise und Formexperimente interessiert hat. 229 250 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="251"?> 230 Erstpublikation mit acht Farblithographien im Verlag der Wiener Werkstätte (1908); Nachdrucke 1917 und 1920 (teilweise ohne Illustrationen), vgl. Kokoschka, Oskar (1996). Berichte aus einer eingebildeten Welt. Erinnerungen und Erzählungen. Trenkler, Gerhard (Hrsg.). Graz/ Wien/ Köln: Styria, 9-19. Das Werk wird oftmals als Werk der Jugendstilkunst verkauft, tatsächlich ist der Konnex zu den französischen Symbolisten um Bernard u. Co. offensichtlich („Ein Märchenbuch, aber nicht für Philisterkinder“ nennt es der Kunstkritiker Ludwig Hevesi 1908). 231 Müller, Robert [1916]. Österreich und der Mensch. Eine Mythik des Donau-Alpenmen‐ schen. In: MW Bd. 9, 162 ff. Hier 164. Abb. 26: Oskar Kokoschka: Selbstporträt, Hand auf der Brust (1911/ 12) Kokoschkas frühe intermediale Arbeit Die träumenden Knaben 230 (Lyrik/ Litho‐ graphie, 1907/ 08) bewog Robert Müller beispielsweise zu folgender Aussage: […] van Gogh malt aus Trieb, aus innerem „Gesicht“ nahezu lauter Negerschädel, afrikanische Landschaften und Farben. Was über Gauguin zu sagen ist, der vielleicht im Pazifik die ideale Negerrasse kennengelernt hatte, ergibt sich von selbst. Kokoschka malt Figuren wie von indianischen Totems. Seine „träumenden Knaben“ könnten eine südamerikanische Bilderschrift darstellen. [Herv. LF] 231 251 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="252"?> 232 Ebd., 163. 233 Ebd., 162. Abb. 27: Oskar Kokoschka: Titelvignette zu den Träumenden Knaben [1907/ 08] Leipzig: Kurt Wolff 1917 Diese im Hinblick auf den kunsthistorischen Diskurs des Tropen-Romans sehr aufschlussreichen Zeilen äussert Müller im Essay Österreich und der Mensch. Eine Mythik des Donau-Alpenmenschen, den er 1916, ein Jahr nach dem Roman publiziert. Darin verknüpft er auf typische Weise Rassenideologie und Kunsttheorie. Müller zitiert die Rassenlehren des „genialen Gobineau“ 232 und Chamberlain und handelt unter anderem seine Musiktheorie einer „asiatischen Urmusik“ ab: „Musik und Kunst sind kein ursprüngliches Gewächs germani‐ scher Herkunft. Sie werden erst dadurch so ausserordentlich entfaltet, dass die Sinnlichkeit von Aug und Ohr fremdrassischer Völker in die Organisations‐ wirkung des Germanen geriet.“ 233 Die obigen Zeilen über van Gogh, Gauguin und Kokoschka folgen auf diese interkulturellen musiktheoretischen Äusse‐ rungen. Die Nennung der Künstler ist kurz und knapp, jedoch systematisch und programmatisch: die Künstler scheinen als Dreischritt einer primitivistischen Typologie gezeichnet - der innerliche van Gogh, der nach aussen gewandte Gauguin, der sich von selbst erklärt und Kokoschka als „primitiver“ Formtech‐ niker. Wie eine Blaupause passt diese Typologie (mit Ausnahme van Gogh) zum bildkünstlerischen Referenzsystem des Tropen-Romans. Auch im Roman 252 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="253"?> 234 Gardian 2014, 138, zit. n. Dietrich, Stephan (1997). Poetik der Paradoxie. Zu Robert Mül‐ lers fiktionaler Prosa. Siegen: Carl Böschen, 110 f. Dietrichs Bezeichnung der Bildkunst als „expressionistischem Primitivismus“ und der Sprachkunst als „primitivistischem Expressionismus“ veranschaulicht natürlich ihrerseits die Verflechtung. 235 Ebd. 236 Vgl. Abstract der Arbeit Gardians auf der Homepage des Nationalfondsprojekts NCCR Mediality. Abrufbar unter: www.mediality.ch/ galerie.php? id=2 (Stand: 02. 02. 2022). 237 Gardian 2014, 139f. wird Gauguin als Primitivist eingeführt, der sich selber erklärt und Kokoschka direkt mit der indigenen Bildkunst in Verbindung gebracht. Im Folgenden soll genauer hingeschaut werden: Welcher Primitivismus Gauguin’scher Prägung „ergibt sich“ im Tropen-Roman „von selbst“? Und inwiefern entwickelt sich das primitivistische Kunstsystem in Bezug auf Kelwas Kunst? Welche Rolle spielt dabei die ebenfalls mit Kokoschka in Verbindung stehende Künstlerfigur Roroschkin? Ein Nachtrag zur neuesten Forschung, der für die nachfolgende Untersu‐ chung des Künstlernetzwerks relevant ist: Christoph Gardian beschreibt in seiner Studie zum Visionären im Tropen-Roman Müllers ästhetisches Ziel als das Formulieren einer eigenständigen Antwort auf die Strategien zeitgenössi‐ scher bildender Kunst. Müllers Verwertung bildkünstlerischer Referenzen und dessen ästhetische Strategie allgemein bringt er im Zusammenhang mit dessen Roman Das Inselmädchen wie folgt auf den Punkt: Der Text realisiere sich über die Verschränkung von Bild- und Sprachkunst, über die Verschränkung von „expressionistischem Primitivismus und primitivistischen Expressionismus“ 234 als „selbstreflexive Rede über das eigene Verfahren“. 235 Für den Tropen-Roman beobachtet Gardian: Das Spannungsverhältnis zwischen medialen Übertragungen und ihrer Theoretisie‐ rung einerseits und Strategien der Erzeugung visionären Erlebens andererseits äußert sich in Präsenzeffekten - in Kippbewegungen zwischen einer Vorstellungs- und einer Reflexionsebene der Lektüre. Der Roman Tropen kann unter einer solchen Perspektive als Metatheorie des Medialen gelesen werden. 236 Diese „Metatheorie des Medialen“ generiert der Text gemäss Gardian unter anderem über das „Sichtbarmachen unterschiedlicher Standpunkte“, respektive durch „Auflösungen des Gegenstandes in ein Beziehungsnetz“. 237 Dieses Auf‐ lösen und Sichtbarmachen der Bewegungen zwischen Bild, Sprache und Theorie lässt sich anhand des Künstlernetzwerkes des Romans gut ergründen und verbildlichen. 253 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="254"?> 238 Nennungen Kelwas: T, 43; 47 f.; 51; 55; 78; 84; 128 ff.; 136 ff.; 153. 239 Grundsätzliches zum anthropologisch-ethnologischen Diskurs im Text: Dem kolo‐ nialen Projekt der Europäer, das sowohl der Ich-Erzähler wie auch der Herausgeber skizziert, fehlt von Beginn weg die Kontur. Die koloniale Basis der Reise ist diffus, es wird vielmehr eine Abenteuergeschichte kolportiert und auf anthropologisch-ethnolo‐ gischer Ebene erzählt. Wichtig im Hinblick auf Letzteres ist, dass die interkulturelle Begegnung eine Inversion auslöst. Die Europäer analysieren anstelle des indigenen Lebens wie erwähnt ihre eigene Urgeschichte. Auch erweisen sich die Indigenen nicht als ,Studienobjekte‘, sondern als Subjekte, die sich der Bemächtigung durch die Weissen widersetzen. Sie blicken zurück und grenzen die Europäer als Fremde aus (Vgl. bspw. T, 41 f.; 45 f.) Die Europäer nehmen „primitive“ Lebensformen an, was Brandlberger als ausgleichende Handlung, als Kompensation ihres Verlusts gesellschaftlicher Achtung beschreibt. Die sich im Laufe des Textes kontinuierlich steigernde Theoretisierung der interkulturellen Begegnung kann als alternative Machtergreifung gelesen werden. Zur Anbindung des Textes an den zeitgenössischen wissenschaftlichen anthropolo‐ gisch-ethnologischen Diskurs, vgl. Raepke 1994, 118-130. Frank Werner Raepke spricht von einer „Doppelstruktur von mythenkritischer Ironie und symbolisch potenzierte[r] Mythologie“ im Tropen-Roman. Eine solche Doppelstruktur zwischen Kritik und posi‐ tiver symbolischer Potenzierung zeichnet auch den anthropologisch-ethnologischen Diskurs aus. 3.4.3 Exotismus, Anti-Primitivismus und „neues Sehen“ Es ist unmissverständlich, dass der Roman den bildkünstlerischen Exotismus und Primitivismus der Jahrhundertwende verhandelt. „Primitive“ und exotis‐ tisch-primitivistische Kunst und Künstlerfiguren strukturieren den Text. Aus der Masse der Indigenen stechen der Künstler Kelwa und seine Frau heraus. Neben der Priesterin Zana sind sie die wichtigsten handlungsmächtigen Indi‐ genen des Textes. Mit der Malerei von Kelwa beginnt und endet die Schilderung des langen Aufenthalts der Europäer im Indianerdorf. 238 Die bildende Kunst steht im Mittelpunkt des Interesses des Ich-Erzählers, der die Indigenen grundsätzlich über ihre Kulturformen in den Blick nimmt. Der Text gibt sich gleichsam als kulturanthropologische Studie; neben den Beobachtungen und Theorien zur Bildenden Kunst stehen solche zu Musik und Tanz oder Körperkunst. 239 Wie der folgende Kommentar Brandlbergers zu einer Tanzszene zeigt, deuten die Europäer die indigenen Kulturformen durchweg als „geradlinige“ Verkör‐ perungspraktiken, als Ausdrucksformen eines ursprünglichen, körperlich-sexu‐ ellen Verhältnisses zur Welt: In diesen gesunden Leibern war die Musik noch so geradlinig erhalten wie der Übergang vom Bedürfnis zum Genuss, erfolgte so wenig systematisch wie die Lust, 254 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="255"?> 240 Dieser Verkörperungs-Befund gilt speziell für den indigenen Tanz und Musik (Rhythmus). Brandlberger beschreibt den Tanz als Verkörperungs- und Transformati‐ onspraxis, die Priesterin Zana ist im Tanz „ganz Weib“, „ganz Tier“ (oder: „hündischster Hund“ [! ]), und verkörpert die Gottheit. Den „musikalischen Urtakt“ theoretisiert Brandlberger als „körperliche Paarung“. Vgl. T, 86-97; 151. 241 Köster 1995, 136f. 242 Die Beschreibung des indigenen Tanzes wird mit spezifischen Bildern avantgardisti‐ schen Tanzes überblendet. Der Text referiert auf Tänzerinnen wie Isadora Duncan oder die Schwestern Wiesenthal, gemäß Raepke ruft er bis ins Detail zeitgenössische Tanzfotografien auf. Als mögliche Bildvorlagen nennt Raepke die Fotografien aus Hans Brandenburgs Der moderne Tanz (1913), vgl. Raepke 1994, 92. Die besagte Szene wird vom Ich-Erzähler aus der Distanz geschildert, später folgt eine weitere Tanzszene, die von der Überbrückung dieser Distanz erzählt. Die Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst folgt nach einem ähnlichen Grundmuster. 243 Hier wird die Reichweite der medialen Verschränkungen im Text sichtbar: Den ,malen‐ den’ Dichtern/ Theoretikern Brandlberger und Slim steht der dichtende Maler Kelwa auf die sich das ganze Weltgeschehen hin zuspitzte, die nur in der Einkleidung der Kultur bei avancierten Rassen Ereignis wird. […]. (T, 87) 240 Solche anthropologischen Einschätzungen des Ich-Erzählers folgen auf die spärlichen handlungsreichen Passagen des Textes, woraufhin meist nahtlos die theoretischen Gespräche und Monologe der Protagonisten anschliessen. Demonstrativ wird damit strukturell die Auseinandersetzung mit den indi‐ genen Kulturformen als europäische Erzählung kenntlich gemacht. Dass kon‐ sequent innerhalb der Koordinaten einer europäischen (urbanen) „Illusion von Fremde“ 241 erzählt wird, wird schliesslich dort am deutlichsten, wo der Ich-Er‐ zähler mit der „primitiven“ Kunst direkt auf die europäische Gegenwartskunst verweist. Über Kelwa kommt Kokoschka ins Bild und in oben erwähnter Tanzszene (T, 86-97) wird beispielsweise mit Anspielungen auf den avantgar‐ distischen Tanz gespielt. 242 Doch wie genau entwickelt sich die Erzählung im bildkünstlerischen Bereich und nimmt das Künstlernetzwerk Gestalt an? Der Ausgangspunkt ist exotistisch und anti-primitivistisch. Die erste Be‐ gegnung Brandlbergers mit der „primitiven“ Kunst macht dies deutlich. Der „Durchschnittseuropäer“ Brandlberger begegnet Kelwas Kunst mit durch‐ schnittseuropäischem Unverständnis. Er bezeichnet sie als „naive Kunst“ (T, 43), „Krippenkult“ (T, 43) oder „lumpigsten Kitsch“ (T, 47). Diesem Urteil der Minderwertigkeit entsprechend nennt er den Künstler eine „Pflanze von einem Künstler“ (T, 47). Sein Urteil fällt Brandlberger auch hier in Bezug auf Entwicklungen in der europäischen Kunst - hier jedoch ohne einen einzelnen Künstler im Blick zu haben. Er sagt zu Kelwa: „Du könntest, wie du bist, auch in Europa vorkommen, du Pharisäer, du besserer Mensch - Dichter - Spitzbube… Spitzbube, verdammter roter malender Spitzbube“ (T, 47 f.). 243 Dies 255 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="256"?> (bzw. der europäische dichtende bildende Künstler) gegenüber (Vgl. bspw. T, 47: „Pinselnovellist“ Kelwa). 244 Brandlberger redet abschätzig über die „Boulevardkünstler“, auch bezeichnet er Kelwas Atelier abwertend als „Bohemewirtschaft“ (T, 138). In letzterer Passage nimmt Brand‐ lberger auch die Bezeichnung „Spitzbube“ für Kelwa wieder auf, diesmal positiv konnotiert [Bezeichnung Slims als „sublimer Spitzbube“]. 245 Robert Müller war mit Adolf Loos befreundet und mit Sicherheit mit dessen Ornament und Verbrechen (1910) vertraut. Dass Brandlberger seinen ornamentalen Sinnesrausch als „krankhaft“ (T, 33) bezeichnet, spricht jedenfalls für eine intertextuelle Verbindung. Ob und wie der als manieristisch zu bezeichnende Roman Müllers mit seinem Ästheti‐ zismus der Gewalt als Antwort auf Loos Schrift gelesen werden kann, bedürfte einer gesonderten Analyse. ist eine beachtenswerte anti-primitivistische Äusserung. Brandlberger gibt eine doppelte Kritik von sich: am „primitiven“ Künstler wie seinem ebenfalls infe‐ rioren europäischen Pendant, dem „primitivierenden“ Gegenwartskünstler der erzählten Zeit. 244 Im Hinblick auf diese hier vor der Kunst Kelwas artikulierten Kritik am europäischen Künstler gilt es rückwirkend festzuhalten, dass auch der Beginn des Romans auf exotistischer und anti-primitivistischer Grundlage steht. Wie bereits skizziert setzt der Text mit der Verwilderung des Ich-Erzählers ein. Brandlberger erzählt, wie er sich während der Flussfahrt, die ihn zum Dorf der Dumara führen wird, auf ein „Going native“ einlässt. Er erzählt explizit malerisch und entdeckt gleichsam den „primitivierenden“ Künstler in sich. Auch in den Beschreibungen dieser ersten tropischen Seh-Erfahrungen spiegelt sich die europäische Kunst der Moderne: Brandlberger feiert den „manierierten Rausch des Sehens“ (T, 30), die „Explosion der Malerpalette“ (T, 26) oder das „Ringelreihen der Ornamente“ (T, 33). 245 Seine Äusserungen sind euphorisch, eine Kritik an der Gegenwartskunst - hier einer rauschhaften mo‐ dernistisch-exotischen Variante der Kunst der Moderne - ist auf der Oberfläche nicht erkennbar. Infolge seiner späteren Kritik ist es jedoch naheliegend, dass Brandlberger seine primitivistischen Erfahrungen kleinredet. Tatsächlich redet er davon, dass ihn die Auflösung in eine „unendliche, von keiner bewussten Einheit zusammengehaltene Empfindlichkeit für das heftige selbstische Leben ringsherum“ (T, 25), die mit dem malerischen „Going native“ einhergeht, langweile. Er bemerkt: Weise wie ein alter Inder in die Einzelheit verloren, dem Ursein gewonnen, sah ich mit tausend Augen und verfing mich mit tausend Sinnen, die Gott besass - und während all dieser Augenblicke wurde ich elend von Langeweile geplagt. (T, 25) Diese Passage vermag schön den distanzierten exotistischen Standpunkt Brand‐ lbergers zu illustrieren. Er analysiert seine Verwilderung und wägt Verlust 256 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="257"?> 246 Das exotistische Dilemma beschreibt Brandlberger später im Dschungel u. a. folgender‐ massen (als Problem der „kulturellen Annexion“): „Ich war bettelarm, ich stand mitten im Bankerott. Ein grosses Unglück, welches, hätte ich nicht auf deutsch sagen können, war geschehen. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass es einen Platz in der Welt geben könnte, den ich nicht auszufüllen vermögen würde. Wo waren meine Projekte geblieben, wo blieb die kulturelle Annexion dieses Landes, die wir uns in riesengrossen Hirngespinsten ausgemalt hatten? “ (T, 54). 247 Grundsätzliche Bewegung: Zuerst Skepsis gegenüber „neuer Rauschart zu sehen“, exotistische Haltung Brandlbergers (T, 30), dann Propagierung eines „neuen Sehens“, Überwindung von Exotismus und Impressionismus (T, 71, etc.) (s. u.). 248 Vgl. Kap. 3.4.2. Brandlberger bekennt nach dem ersten Gespräch mit Slim (s. u.): „Mit der Exotik war ich fertig. Dies war ein veralteter Standpunkt. Impressionismus? Er war falsch; er war ein Defekt der Beobachtung“ (T, 71). 249 Gauguin wird wie erwähnt als Freund des Protagonisten bezeichnet. Die Biographie Slims korrespondiert mit derjenigen Gauguins, vgl. bspwe. die kursorisch erzählte Le‐ bensgeschichte Slims (T, 139). Mit seiner interkulturellen Haltung und synästhetischen Kunsttheorie referiert er explizit auf Gauguin. 250 Als Lehrer des „neuen Sehens“ nimmt Slim für Brandlberger die Rolle ein, die Gauguin für Segalen spielte Vgl. Kap. 2.2.2, Segalen: „Je puis dire n’avoir rien vu [Herv. i. O.] du pays et de ses Maoris avant d’avoir parcouru et presque vécu les croquis de Gauguin.“ 251 Die beiden Gespräche heben sich durch ihre Länge, ihre Form [konkrete strukturelle Absetzung im Text: „‚Erzählen! ‘ verlangte ich“ (T, 62)] und auch thematisch gegenüber den restlichen Gesprächen ab: dort konzentrieren sich die theoretischen Abhandlungen und Gewinn ab. Seine Langeweile ist Ausdruck zivilisierter Distanznahme respektive des primitivistischen Dilemmas 246 des Exotisten und deutet zudem auf seine spätere Kritik am Primitivismus. 247 Brandlbergers Einschätzung „primitiver“ Kunst ändert sich im Verlauf des Textes. Die neue Einschätzung der Kunst Kelwas zieht einen neuen Blick auf die primitivistische europäische Kunst nach sich. Die Entwicklungsschritte hin zu einem, nennen wir es alternativen Konzept von Exotismus und Primitivismus - Thomas Schwarz redet bekanntlich von einem „anderen Exotismus“ 248 - werden jeweils durch die Vermittlung Slims in Gang gestossen. Dies ist wichtig, verkörpert ja Slim die Gauguin-Figur des Romans. 249 Brandlberger bekennt: „In der Tat, schon lehrte mich Slim sehen“ 250 (T, 56) [Herv. LF]. Wie gezeigt werden wird, entwickelt er zusammen mit Slim und mit Slim im Zentrum ein Netzwerk des Primitivismus. Mit ihrer Anbindung an die Künstler Gauguin, Altenberg, Kokoschka und Roroschkin legen die Protagonisten ihre spezifische Vision „primitiver“ Kunst und eines alternativen Primitivismus respektive eines „anderen Exotismus“ offen. Die Auseinandersetzungen um das „neue Sehen“ konzentrieren sich in zwei grossen Gesprächen, die Brandlberger mit Slim führt und die Slim jeweils klar dominiert. 251 Beide Gespräche folgen auf neue Wahrnehmungserfahrungen 257 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="258"?> über die Tropen und die Kunst. Ein drittes grosses Gespräch mit Slim (T, 193-211) dreht sich primär um die „Gravitation der Intellekte“ (T, 198 f.). 252 Erstes einer Reihe von Fieberdelirien, von Beginn weg verknüpft mit dem Rausch des „neuens Sehens“ [Vgl. „Poetik des Fiebers“ (Besser), „nervöse Hyperästhesie“ (Schwarz)] 253 Allgemein wird im Roman die Verschränkung geistiger und körperlicher Entschrän‐ kung gezeigt. Die gewaltsamen sexuellen Akte zwischen Europäern und Indigenen, die die Europäer symbolisch erhöhen, sind die Höhepunkte dieser Verschränkung. Zu diesem sexuellen, absolut ambivalenten „Going native“, s. Schwarz 2006, 189ff. 254 Auf die physische „Akzentverdrehung“ des Sturzes (T, 100) folgt hier ganz konkret die geistige Akzentverschiebung im Delirium. Brandlberger findet im Fieber zu sich selbst und spricht von einer geistigen Befreiung: „Ich war geistig frei, mein Körper war gebannt“ (T, 133). Brandlbergers. Das erste Gespräch (T, 62-70) findet nach einem weiteren Besuch des Erzählers beim indigenen Künstler statt, wo sich Brandlberger dessen Kunst erstmals offenbart: „Niemals war Liebreiz so flötend, niemals Gewalt süsser dargestellt worden“ (T, 56) bescheinigt Brandlberger nun, oder: „Die Männer waren verzückte Heldengestalten, mit Oberkörpern wie edle Champagnerkelche […]“ (T, 56), wo zuvor trocken von „Oberkörper, lang und walzenförmig“ oder „mageren Büsten“ mit „hervorgetriebenen Rippen“ (T, 43) die Rede war. Kelwa, so konstatiert er, zeige „ergreifende[r] Fleischlichkeit“ (T, 56), reinste und umfassendste Lebensformen. Im Falle des Bildes, das mit Kokoschka in Verbindung gebracht werden kann und das er während dieser Begegnung zum ersten Mal sieht, redet Brandlberger vom „Hündischeste[n], das je an Hundetum geleistet worden war“ (T, 56). Das heisst er spricht von einer to‐ talen Verkörperung. Über die aus einem Pinselstrich gefertigte Hundeschnauze sagt er: „In dieser Schnauze lag ein ganzes Hundeleben“ (T, 56). Das zweite Ge‐ spräch (T, 135-145) folgt in der Chronologie auf Brandlbergers synästhetisches Fieberdelirium (T, 101-125) 252 und ist verschränkt mit dessen Besuch bei der Frau des Künstlers, die ihm Lust und Gewalt der neuen künstlerischen Erfahrung in die Realität übersetzt. 253 Nach einer missglückten Machtdemonstration von Seiten der Europäer, die mit Brandlbergers Sturz ins Lagerfeuer endet, fiebert dieser tagelang. Im Delirium erlebt er eine weitere „Akzentverdrehung“ (T, 100) und laboriert in der Folge an seiner interkulturellen Wahrnehmungstheorie. 254 Die Entwicklung der Theorie des „neuen Sehens“ ist durch folgende Struktur geprägt: Slim erschliesst Brandlberger jeweils den theoretischen Überbau und die kunsthistorische Anbindung der „primitivistischen“ Erfahrungen. „Ich habe Ihnen eine Theorie an die Hand gegeben […], die sie glücklich machen könnte“ (T, 67), kommentiert Slim diese Sachlage am Ende des ersten Gesprächs. In der Folge baut Slim die Theoretisierung der „primitiv(istisch)en“ Erfahrung und Wahrnehmung aus und beglaubigt seine Theorie mittels seines Beziehungs‐ 258 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="259"?> 255 Vgl. T, 64; 69; 71; 84; 192 ff.; 201 f. etc. netzes des „anderen Exotismus“ um seine Vorbilder und Freunde Gauguin und Altenberg. Dabei ist wichtig zu sehen, dass Slim sich selbst als Kunsttheoretiker im Beeinflussungsschema den gleichen Rang wie die Künstler zuschreibt. In der Rezeption Brandlbergers erreicht Slims multireferentielle Theorie schliesslich bezeichnenderweise ihre Klimax in der Gegenüberstellung von Kelwa und Slim. Brandlberger spitzt die Auseinandersetzung auf die Frage zu, wer denn nun der eigentliche Künstler sei - Slim oder Kelwa: Wer war nun der eigentliche Maler? Dieser internationale und raffiniert erfahrende Abenteurer, der das Bewusstsein dieser Anschauungsformen motivierte und sich eigentlich schon auf einer Retourkutsche befand, oder Kelwa, der Eingeborene, der einfach malte, vermöge des Kontaktes zwischen seinem Hirn und seinem Hand‐ muskel? (T, 131) [Herv. LF] Wer war hier der eigentliche Maler? Kelwa, das naive Genie, oder Slim, dem es vermöge seiner eigenen Durchdringungssphäre seines vielrassigen Ichs möglich war, in die Gedankenläufe anderer einzubiegen? (T, 136) Der Abenteurer und kunsttheoretische Primitivist Slim steht dem „primitiven“ Künstler gegenüber. Um diese Konstellation zu erfassen, muss die Anlage des Künstlernetzwerks von Slim und Brandlberger eingehender betrachtet werden. 3.4.4 Exklusive primitivistische Künstlergemeinschaft und Roroschkin der „Malererfinder“ Slim komponiert kontinuierlich seine Theorie, die er für und auf eine exklusive Gemeinschaft hin entwickelt. Von dieser Gemeinschaft spricht er jeweils in der zweiten Person Plural. 255 Sie zeichnet aus, dass sie die indigene Seele, das heisst den gesunden „von keiner Moral verschnittenen“ (T, 63) Menschen erkennt und ein Bewusstsein für den Wert indigener Kunst erlangt (s. o.). Durch Gauguin und Altenberg, die Slim in die Gemeinschaft integriert (T, 63 ff.; T, 69), richtet er diese als künstlerische Gemeinschaft aus. Er präsentiert die Künstler als gewichtige Vorgänger in Belangen der Erkundung des gesunden Menschen jenseits der europäischen Kultur (T, 68), welche er als „Rechtser-Kultur“ (T, 64 ff.) bezeichnet. Aus der Perspektive des „Wir“ entspricht die „Rechtser-Kultur“ dem „Sie“, respektive dem „Euch“ einer ignoranten Masse, zu welcher Slim zum Zeitpunkt seiner aufklärenden Worte auch Brandlberger zählt. Auf Brandlbergers Frage, warum er stets von „Euch“ reden würde, antwortet Slim: „Weil wir hier eben andere Menschen sind. Unser Sinn ist anders. Unsere Wirklichkeit ist gesünder. 259 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="260"?> 256 Zur politischen Dimension s. bspw. T, 137f.: „Künstler schaffen Rassigkeiten, sind sozusagen das Ahnungsorgan einer Rasse“ (Herv. i. O.); Allgemein überdrehte Theorien zur Überlegenheit der deutschen Rasse, s. bspw. T, 142 f. Grundsätzlich werden im Text ideologische Rassenbegriffe und Kunst- und Kulturkonzepte gleichzeitig reproduziert und dekonstruiert. Zur psychologischen Dimension: Die Gemeinschaft des „Wir“ wird zeitweise als Gemeinschaft der „Irren“ zugespitzt, s. bspw. T, 192: „Wir sind irrsinnig, überlegte ich. […] Wir armen Seelen, wie hoch standen wir über dem gesunden Durchschnittsmass. […] Ja, wir Irre sind ein schlaues Volk. Wir sind doppelt so schlau als die Klügsten unter den Menschen.“ 257 Der wirren Gestalt der theoretischen Gespräche und deren Inhalt entsprechend (insbe‐ sondere dem „Gesetz von der Durchdringung der Realität“) changiert die Besetzung der Gemeinschaft. Brandlberger engt die exklusive Gruppe mehrfach auf Slim und sich selbst ein: „Ha, Slim und ich, wir beide sind die modernen Menschen“ (T, 71). Wir sind eine Drohung für euch - oh, die Künstler unter euch ahnen es“ (T, 69) [Herv. LF]. Das Bild des „anderen Menschen“ im Fokus der (künstlerischen) Gemeinschaft entwickelt Slim hier primär aus dem Negativ einer zum „Extrem“ neigenden „Rechtser-Kultur“: Nun, die Kultur, die sich als einzig bestehende und gegenwärtige dünkt, ist eine Rechtser-Kultur. Sie neigt zum Extrem, sie ist unausgeglichen, sie ist in ihren Wer‐ tungen ungesund. Die Atrophie ihrer einen Seite dient ihr als Bezeichnung des Abfälligen, sie meint das „linkisch“ böse und heisst alles, was ihr passt, nach der bevorzugten Seite. In allen zivilisierten Sprachen ist rechts und richtig gleich an Urteils- und Spruchkraft. Es gibt aber kein Links oder Rechts mit Bezug auf die Güte einer abstrakten Fähigkeit. Der körperliche Linkser gilt als Abnormität und besitzt doch nichts anderes als die komplette, gesunde Konstitution. - Verstehen Sie mich? (T, 64) Diese Passage zeigt deutlich die Inversionsbewegung, die dem Rückbezug der Protagonisten auf den „anderen Menschen“ und eine „gesündere Wirklichkeit“ inhärent ist. Die Künstler, die Slim zur Gemeinschaft zählt, vermögen das aus der Sicht der „Rechtser-Kultur“ extreme Andere zu entradikalisieren, ja umgekehrt das „Extrem[e]“ auf die „Rechtser-Kultur“ selbst anzuwenden. Das interessante an obiger Passage ist, dass Slim hier von einer „abstrakten“ - künstlerischen? - „Fähigkeit“ redet, die er jenseits der Polaritäten von links und rechts ansiedelt. Bald nach dem ersten aufklärenden Gespräch rechnet Slim Brandlberger zur exklusiven Gemeinschaft „anderer Menschen“ hinzu. Im Laufe der Handlung konturiert Slim die Gemeinschaft weiter (kultur-)politisch oder psychologisch 256 und macht sie mehr und mehr auf eine künstlerische avantgardistische Gemein‐ schaft hin lesbar. 257 Den undurchschaubaren Gesetzen der Anlage der Figuren als Doppelgänger entsprechend, übernimmt Brandlberger mehr und mehr diese Theoretisierung des Menschen der Zukunft von Slim und empfiehlt diesen 260 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="261"?> 258 Brandlberger gibt den wohlinformierten Schüler; den Namen des Künstlers kann er hier (als noch nicht Eingeweihter) jedoch nicht liefern. Zu Altenbergs „Going native“ bei den Ashantees im Wiener Prater bzw. der Grenzüberschreitung Altenbergs im Literarischen, s. Honold, Alexander (2001). Peter Altenbergs „Ashantee“: Eine impres‐ sionistische cross-over-Phantasie im Kontext exotistischer Völkerschauen. In: Grenz‐ überschreitungen um 1900. Östereichische Literatur im Übergang. Eicher, Thomas (Hrsg.). Oberhausen: Athena, 135-156. schliesslich als Mann/ Maler der Zukunft. Schliesslich erweitert Brandlberger die exklusive Künstlergemeinschaft um den Künstler Roroschkin und führt die Kunsttheorie nach dem Tod von Slim gewissermassen in der Praxis fort. Doch zurück zur ersten Gesprächssequenz, in der Slim Gauguin und Al‐ tenberg als Vaterfiguren der avantgardistischen Künstlergemeinschaft bezie‐ hungsweise des Menschen der Zukunft präsentiert. Slim doziert über die „Rechtser-Kultur“ und den Ausnahmestatus des Wiener „Weisen“: „[…] In den europäischen und deren Tochterzivilisationen aber fehlt es an physiolo‐ gischer Aufklärung; die Menschen wissen nicht, was das ist: ‚gesund‘. Den Urbegriff verstehen sie nicht, sie sind trotz jahrtausendelangen Denkens und systematischen Wertens noch zu keinem blutigen Bilde von dieser Angelegenheit gelangt. Einen ein‐ zigen Mann habe ich unter ihnen gefunden, einen Weisen in einem Wiener Kaffeehause. Er hat ein Ashanteebuch geschrieben, in dem er die Seele Afrikas - “ „Ach ja“ sagte ich, „den kenne ich. Er heisst, warten Sie mal, er ist ein grosser Dichter - er war aber nie dort --- „Ppp…“ machte Slim und blies Luft aus den Backen. „Aber gewusst, was zu wissen ist, und was man nur in Afrika lernen kann, hat er doch. Er sagte, ich erinnere mich nurmehr des Sinnes, ungefähr das: ein richtiger Kranker ist wertvoller als ein falscher Gesunder.“ (T, 63) 258 [Herv. LF] Bemerkenswert an dieser Passage über Altenberg ist vor allen Dingen, dass die Protagonisten sich hier einig darüber sind, dass die Überwindung der „Rechtser-Kultur“ unabhängig von einem „Going native“ vor Ort möglich ist [vgl. „Die Künstler unter euch ahnen es“]. Im Laufe des Gespräches bringt Slim darauf Gauguin ins Spiel. Hier konkretisiert sich seine Auffassung der (bild-)künstlerischen Dimension des „anderen Menschen“: Das Bewusstsein für die „gesündere Wirklichkeit“ (s. o.) hat eine „eigene Anschauung“ zur Folge: Zu der Zeit, als ich als junger Student mich in Paris herumtrieb, habe ich die Bekanntschaft eines merkwürdigen Menschen gemacht. Er war ein Maler und hatte seine eigene Anschauung - Anschauung, sage ich. Er begann zu malen, legte es hin, und eines Tages machte er sich davon und tauchte irgendwo im Archipel auf. Ich habe ihn später in Tahiti wiedergetroffen. Er studierte von den Eingeborenen Farbenauffassung 261 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="262"?> 259 Vgl. Kap. 3.4.1. 260 Im Text ist von der „modernen Kunst“ die Rede (T, 84). Im Zusammenhang mit der Akademie suggeriert diese Formulierung eine Einschränkung des diskursiven Bezugsrahmens auf die erzählte Zeit (um 1900, vgl. Kap. 3.4.1). Diese Einschränkung relativieren später Roroschkin, respektive Kokoschka (s.u). und die Fläche und gab sich auch mit dem lustvollen paradiesischen Käferdasein dieser Insulaner ab.“ (T, 69) [Herv. LF] Diese „Anschauung“ seines Freundes Gauguin, die auf eine „Verwilderung“ (vor Ort) hinausläuft, präsentiert Slim als Richtmass seiner Theorie und Praxis des „neuen Sehens“. Angeleitet durch diese Verweise Slims (und gemäss der Figurenanlage doch auch eigenmächtig) gewinnt Brandlberger in der Folge immer grösseres Be‐ wusstsein für die Kunst Kelwas. Wie bereits skizziert redet er nun von deren „artistischen und vitalen Wahrheit“ (T, 84) und malt sich aus, wie er mit Kelwa als dessen „Impressario“ durch Europa zieht, um der „europäischen Kunst einen grossen Dienst [zu] erweis[en]“ 259 - das heisst er stellt sich vor, wie er selbst aktiv in die europäische Gegenwartskunst eingreift. Brandlberger behauptet, so modern wie der Indigene hätte noch kein Pariser Akademiker gemalt: Jawohl ja, die artistische und vitale Wahrheit Kelwascher Figuren war durchdringend, peinigend und erlösend. So wie er hatte noch kein Pariser Akademiker Menschen gemalt, die modern waren aus dem Effeff, ja ganz Jäger, ganz Beobachter, ganz sinnliche Lebensfreude waren bis in die infamsten Regungen ihrer Seele. (T, 84) Mit Kelwa will Brandlberger die von der Akademie geprägte moderne europäi‐ sche Kunst in die wahre Moderne führen. 260 Er will - wenn nötig gewaltsam [wir erinnern uns an die Wendung, dass er der Menschheit den grauen Star stechen will (T, 84)] den Weg zu einer Kunst weisen, die in geradliniger, schmerzhafter und erlösender Verkörperung gründet. Brandlbergers spätere Antwort auf die Frage nach dem „eigentlichen Künstler“ [Slim oder Kelwa (T, 131; 136)] scheint klar vorgezeichnet. Tatsächlich „votiert“ er für den „primitiven“ Künstler und gegen Slim: Wer war nun der eigentliche Maler? Dieser internationale und raffiniert erfahrende Abenteurer, der das Bewusstsein dieser Anschauungsformen motivierte und sich eigentlich schon auf einer Retourkutsche befand, oder Kelwa, der Eingeborene, der einfach malte, vermöge des Kontaktes zwischen seinem Hirn und seinem Hand‐ muskel? Ich starrte auf dieses Nebeneinander von Farben, das sich wie ein Rätsel im letzten Augenblicke, da man’s zu fassen glaubt, verwirrte. Und plötzlich schien es zu meinen 262 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="263"?> 261 Sperrung im Original. 262 Brandlbergers Vorstellung einer Kunst, die in ihrer Wesenhaftigkeit und Authentizität die Natur übertrifft, konvergiert mit der Abstraktionstheorie Wilhelm Worringers oder Arthur Schopenhauers. Vgl. Liederer, Christian (2004). Der Mensch und seine Realität. Anthropologie und Wirklichkeit im poetischen Werk des Expressionisten Robert Müller. Würzburg: Königshausen & Neumann, 290ff. 263 Die Erzählung dieser Flucht zieht sich über einen Drittel des gesamten Romans hin (T, Kap. XXII-XXXII; 152-244). Im Verlaufe der Flucht, während der die Europäer eine ursprünglich geplante Expedition durchführen können (eine nebulöse Schatz‐ suche), treibt der Hunger die Indigenen dazu, ihre Kameraden aufzuspiessen und zu verspeisen. „Merkwürdige rotrünstige Lappen und Stücke“ liegen am Lagerfeuer, es stinkt „nach Blut wie auf einer Schlachtbank“ (T, 229 ff.). Fieberwahn und „Extase“ des Hungerdeliriums und eine aufgestaute Lust auf Zana führen zu einem gewaltsamen Liebesakt, respektive der Vision eines solchen (T, 230 ff; „Ich inszenierte eine regelrechte Entführung, rekonstruierte gleichsam das Urbild aller Liebesehen“, hier T, 234) und zuletzt zu einer kannibalistischen Orgie Brandlbergers und Zanas an van den Dusen (T, S. 235f.). 264 Hier ein Auszug der (selbstreflexiv und demonstrativ) erzählten sadistischen Orgie der Ermordung van den Dusen, einer halluzinierten, sadistischen Wunscherfüllung: „Wie anmutig ist sie damals gewesen, als wir unseren Freund van den Dusen mit allem Pomp der Zärtlichkeit für seine sinnige Art, auf uns zu schiessen, durch brausende Gunsten verschoben. Der Eindruck von Wirklichem schnellte aus der Tafel, und als ich soweit gekommen war, hatte ich zum zweiten Male das Gefühl von Wandlung. Sah ich mit dem Rassenbewusstsein eines Indianers? Eine Formenwelt eröffnete sich mir, die technisch tief stehen musste. Aber in ihrer Deutung war das Walten der Wesen nicht weniger erklärt, denn in der verwickeltesten plastischen Gruppe. Hier war alles entsprechend und befriedigend, restloser denn je ein Versuch der Natur, heroischer gleichsam als das Urbild. Alles war: B il d. […] Wohlan, ich votiere für Kelwas Sehen. […] Kelwas Leben ist ein vollständiges System - eine Kultur. (T, 131 f.) [Herv. LF] 261 Hier ist Brandlbergers gewandeltes Verständnis zur „primitiven“ Kunst gut fassbar. Auch zeichnet sich deutlich ab, welche umfassenden ästhetischen Syste‐ matisierungen die Verhandlungen über das „neue Sehen“ und die Verkörperung nach sich ziehen. Brandlberger nennt die „primitive“ Kunst „heroisch“, in ihr findet eine „befriedigende“ Antwort auf die unfassbare fremde Wirklichkeit, in der er und seine Mitstreiter alles andere als reüssieren. Sie ist tröstlich, da „restloser denn je ein Versuch der Natur“. 262 Diese Erfüllung, ja Erlösung (s. o.) im Ästhetischen wird mit dem Schluss des Romans in extremis vorgeführt werden. Nach dem gewaltsamen Tod einer Indigenen flüchten die Europäer aus dem Indianerdorf. Diese Flucht bedeutet eine kontinuierliche Steigerung der „Verwilderung“ und Ästhetisierung derselben. 263 Der Ich-Erzähler zelebriert sadistische und kannibalistische Exzesse, Wahnsinn und Tod als ästhetische Erlebnisse. 264 Brandlberger bestätigt gleichsam seine Erkenntnis vor der Kunst 263 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="264"?> Gunstbezeugung glücklich machten! Ich schoss ihm eine Kugel durch und durch und traf ihn an der kitzlichen Stelle in die Eingeweide, wo die Liebe wohnt. Aber dann hättet ihr Zana sehen sollen! Ich entbrannte lichterloh, ich fand sie reizend wie nie, als sie ihm die Nase abschnitt und nichts zurückblieb, als ein merkwürdiges Gehäuse, das einer entkernten Pflaume ähnlich sah. Ich war verliebt bis um Wahnsinn, als sie mit den Füssen auf den Bauch trat, und ich tat mein möglichstes, ihr darin beizustehen. Aber du mein Gott, mein Talent dazu erwies sich als gering, ich war europäisch verzärtelt, und ausserdem war es ja nur ein Traum, in dem allerlei Hemmungen die Tätigkeit zu beschweren pflegen - - -“ Die Bemerkung Brandlbergers, dass Zana zum Zeitpunkt dieser monströsen Handlungen „reizend wie nie“ gewesen sein, erinnert an die Szene des Begehrens zwischen Gauguin und Teha’amana in Noa Noa (Grundlage für Mana’o tupapa’u). Jedenfalls ist diese Szene der absolute Höhepunkt der Inversion des kolonialliterarischen exotistischen Liebesidylls. 265 Die Tropenneurasthenie ist Voraussetzung, um das unsagbare, abjekte Geschehen überhaupt schildern zu können. Vgl. Schwarz 2006, 189ff. Kelwas „alles war: Bild“ (s. o.). Die im synästhetischen Fieberwahn gewon‐ nene schöpferische Wahrnehmungstheorie ist wirksam; der Sinnen- und Bil‐ derrausch umfassend: die Bilder, respektive das Bild überformt und übertrifft die Wirklichkeit. Die Grenzen zwischen Realität, Traum und Theorie sind aufgelöst, das Verkörperungsverhältnis zwischen Anschauung/ Bild und Rea‐ lität vollkommen. 265 Das konventionellen europäischen ästhetischen Begriffen gänzlich widersprechende monströse Geschehen und die unfassbar grausamen (indigenen wie europäischen) Protagonisten sind als ästhetisches Experiment lesbar: als „primitiv(istisch)es“ Experiment der Abbildung des Lebens als „voll‐ ständiges System“ (s. o.) - nach Kelwas, respektive Kokoschkas Vorgaben. Das heisst als Demonstration Brandlbergers, der „modernen Kunst einen grossen Dienst zu erweisen“ und der „Menschheit den grauen Star [zu] stechen“ (T, 84). Wichtig für den Zusammenhang zwischen „primitiver“ Kunst und Primiti‐ vismus ist nun aber Folgendes: Bevor Brandlberger für Kelwa votiert und mit dem „Rassebewusstsein des Indianers“ (T, 131) sieht, bringt er mit Roroschkin eine weitere Künstlerfigur ins Spiel. Ihn führt er zum Schluss seines Fieberde‐ liriums nach dem Sturz ins Feuer als „Künstler jener letzten und jüngsten Dimension, in die wir eben eingetreten sind“ (T, 124) in die Gleichung und das Netzwerk des Primitivismus ein. Diese zeitliche Erweiterung, die mit dieser Figur einhergeht, ist signifikant, denn nach dem Verweis auf Kokoschka wird vor dieser Nennung Roroschkins die Gegenwartskunst eingeschränkt auf die akademische Moderne bezogen. Einen Augenblick bitte. Ich muss zurückgreifen, um Sie mitzunehmen. - Was erlebt der moderne Reisende? Nicht nur die wunderbaren und abenteuerlichen Exzesse seines sensiblen Nervensystems, sondern auch die Worte und das Bewusstsein hierzu. 264 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="265"?> 266 Der Abschnitt beginnt mit „Meine Damen und Herren, es tut mir leid, dass ich Sie werde enttäuschen müssen. Mit dem indianischen Djungle ist es nämlich nichts. Es gibt sie kaum. Ich rate Ihnen zu irgendeinem Kohleweiler, oder doch zu einem Kaffeehause.“ Die direkte Anrede wird daraufhin mehrfach wiederholt. 267 Raepke 1994, 103. Kokoschka bleibt auch insofern präsent, als das beispielsweise mit dem Lob auf den „Hundegenius“ Kelwa (T, 131) erneut auf die Szene mit der Referenz auf Mörder, Hoffnung der Frauen verwiesen wird. Kommen Sie aber davon ab, gehen Sie noch um einen Grad weiter in Ihrem Denken, nehmen Sie eine Umstülpung, eine Inversion des zeitlichen Denkens in die fünfte Dimension vor und denken Sie sich zu diesem kolossalen verantwortungsvollen Bewusst‐ sein einen bildnerischen Gesichtssinn, so haben Sie einen Maler, der scheinbar zu den Ursprüngen der Malerei zurückgekehrt ist, und der Malerei gibt, was ihrer ist: die Fläche - und der trotz seiner Betonung des Physischen, trotz seiner urhaften Ausdeutung des Beobachtenden im Menschen als des Grausamen, der geistigste, wissenschaftlichste und ichgewandteste Figureur aller bisher gewesenen Künstler ist. Und sie verstehen, dass ich somit wiederum nicht etwa Kelwa meine, den Djungleartisten, von dem ich Ihnen ein paar Brocken hingeworfen haben dürfte, sondern unseren verehrten Malererfinder und Freund: ich erhebe mich von meinem Sitze und toaste auf unseren Roroschkin, diesen Lionardo unserer Rasse, das gotische Genie, den Künstler jener letzten und jüngsten Dimension, in die wir eben eingetreten sind. Wir die Beweger und Überwinder von Zeit, Logik und Denken ins höhere Denken! Vivat Roroschkin! “ (T, 124) [Herv. LF] Diese euphorische Parteinahme für den europäischen Künstler überrascht. Kurz darauf wird sich Brandlberger wie gesagt auf die Seite Kelwas schlagen. Diesen jüngsten europäischen Primitivisten, den er hier mit Superlativen überhäuft, wird er später auch gar nicht mehr aufführen. Beim Wettstreit nach dem „eigentlichen Maler“ bleiben Slim und Kelwa ausser Konkurrenz. Dennoch ist die Figur mehr als eine Episode zum Ende des Deliriums von Brandlberger, was unter anderem durch den Modus der direkten Anrede angezeigt wird (Vgl. T, 120 ff.). 266 Roroschkin hat, ähnlich wie Gauguin in Sternheims Ulrike, eine Scharnierfunktion inne. Er ist der Wegweiser für den exklusiven Primitivismus der Gemeinschaft des „Wir“, für den Primitivismus, der sich programmatisch zunehmend klärt und gleichzeitig verwirrt. Der Umschlag mit Roroschkin zum Zeitpunkt der zweiten Wandlung Brand‐ lbergers im Delirium ist geschickt platziert. Roroschkin bedeutet eine weitere Hommage an Kokoschka, denn mit dem anagrammatisch-russifizierten Namen wird wiederum der Wiener Bekannte und Maler indianischer Totems aufge‐ rufen. 267 Vor der kompetitiven Gegenüberstellung von Kelwa und Slim wird also mit Roroschkin die Vermengung der Perspektiven forciert. Über Kokoschka ist 265 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="266"?> 268 Nachdem das Delirium mit dem neuen Bezugspunkt Roroschkin geendet hat, folgt die Parteinahme für Kelwa. Im zweiten grossen Gespräch mit Slim werden darauf wiederum verstärkt kulturalistische Entwicklungstheorien formuliert und der primitive Künstler wird in seine Schranken gewiesen (T, 136 ff.). Brandlberger äussert sich beispielsweise: „Aber ich bemerkte, dass ich doch sehr gegen Kelwa war […]“ (T, 137). 269 Vgl. bspw. T, 164: „Ich bin wieder ich selbst“. Das Delirium bedeutet (ähnlich der sexuellen Entgrenzung Ulrikes bei Sternheim) Selbstverlust und Selbstermächtigung. Das Paradox des „Going native“ wird durch die wirre Theoretisierung überdeutlich gemacht. 270 Die Protagonisten konstatieren wiederholt ein grundsätzliches Unverständnis zwi‐ schen den Kulturen. Sie reden von einem unerreichbaren „grundverschiedenen Phan‐ toplasma“ der Indigenen: „Wer konnte denn diesem Seelenleben, diesem so grundver‐ schiedenen Phantoplasma, dieser nach schweren Umwälzungen überlebten Art von Anschauung in die Nähe kommen? “ (T, 131). 271 Wir erinnern uns an die Beschreibung Slims als: „[…] Abenteurer, der das Bewusstsein dieser Anschauungsformen motivierte […]“ (T, 131). Roroschkin mit Kelwa verschränkt. Roroschkin steht allgemein für die Verbin‐ dung der primitiven und primitivistischen Perspektive, für eine Vermengung, die die Gegenüberstellung zwischen dem indigenen Maler und Slim schliesslich tangiert und unterläuft. Damit korrespondieren die kontinuierlichen Neukon‐ figurationen des „Wir“ im Laufe des Textes und auch die Tatsache, dass sich das Ergebnis auf die Frage nach dem „eigentlichen Maler“ mehrmals verschiebt. 268 Roroschkin steht für die Vermischung und Verwirrung der Perspektiven, aber auch für Klärung, denn mit ihm wird unterstrichen, dass auch zum Zeitpunkt der grössten Annäherung an den „primitiven“ Künstler die Ausdifferenzierung und Konkretisierung der primitivistischen Perspektive im Fokus steht. Roroschkin erscheint zum Zeitpunkt auf der Bühne, als Brandlberger sich auf die eigene Perspektive rückbesinnt. Im Delirium gewinnt er seine Seele wieder: „Ich hatte meine Seele verloren, sozusagen um eine Djungleseele willen aufgegeben; nun hatte ich sie wiedergewonnen. Ich hatte meine Pace in mir […]“ (T, 126). 269 Diese Tendenz zur Bewahrung des Eigenen und Ausrichtung auf die europäische (künstlerische) Perspektive wird später laufend ausgebaut. Nach dem zweiten Gespräch mit Slim steigern die Protagonisten beispielsweise die Frequenz kulturrelativistischer eurozentrischen Äusserungen deutlich und relativieren das Vorbild Kelwa. 270 Überdies symbolisiert Roroschkin das bildkünstlerische Pendant zu Slim und Brandlberger. Er verkörpert den „bildnerischen Gesichtssinn“ zum Bewusstsein und der Anschauung, die die Gemeinschaft und insbesondere Slim auszeichnet [„[…] denken Sie sich zu diesem kolossalen verantwortungsvollen Bewusst‐ sein einen bildnerischen Gesichtssinn […].“ (T, 124)]. 271 Roroschkin ist „nur scheinbar[e]“ auf der Rückkehr „zu den Ursprüngen“ (s. o., T, 124), was dem 266 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="267"?> 272 Mit dieser Passage kann die avantgardistische Distanz, die der Perspektive des Ich-Er‐ zählers eingeschrieben ist, gut sichtbar gemacht werden. Brandlbergers Dimensionen‐ lehre führt den anthropologischen, rassenbiologischen Diskurs der Zeit ad absurdum und potenziert ihn symbolisch und ästhetisch. Er bekennt, die fünfte hochzivilisatori‐ sche (avantgardistische) Dimension sei von ihm selbst erfunden. 273 Vgl. Kap. 3.4.1. Der „Malererfinder“ ist gleichsam die logische Konsequenz aus der Erkenntnis der Protagonisten, dass es keine Realitäten gebe. Vgl. T, 194: „Wir haben’s als erste herausbekommen, dass es keine Realität gibt, und wir sind auch die ersten, die alle jeweils neuen erfinden! “ Standpunkt Slims entspricht, der sich „schon auf der Retourkutsche“ befindet (s. o., 131). Auch Brandlberger, der zuvor von seiner „Djungleseele“ (s. o., T, 126) redete, positioniert sich auf ähnliche Weise: „Kehre ich in der von mir erfundenen fünften Dimension gelegentlich zu ihm [Kelwa] zurück, gut, so ist mir das Leben nach dreissig Generationen wieder einmal Jagd“ (T, 132) [Herv. i. O.]. 272 Roroschkin ist ein weiteres - ein ausserordentliches - Mitglied der exklu‐ siven primitivistischen Gemeinschaft. Neben beziehungsweise „trotz“ seiner „Primitivität“, wie es in der Passage zu ihm heisst, trotz seiner „Primitivität“, die in einer grausamen Beobachterposition festgemacht wird, ist er der „[…] geistigste, wissenschaftlichste und ichgewandteste Figureur, aller bisher gewe‐ senen Künstler“ (T, 124). Mit dem Rassenzusammenhang in seiner Bezeichnung „Lionardo unserer Rasse“ oder auch seiner Bezeichnung als „gotisches Genie“ (T, 124) deutet Brandlberger eine breitere Definition von Gemeinschaft an, allerdings relativiert sich diese völkerpsychologische und rassentheoretische Dimension dadurch, dass er Roroschkin wie zuvor Altenberg und Gauguin als Freund kennzeichnet. Das Bemerkenswerteste an der Figur Roroschkin ist, dass er, obwohl explizit als Maler gezeichnet, „unser[en] verehrt[er] Malererfinder“ (ebd., Herv. LF) genannt wird. Brandlberger, der das „neue Sehen“ und den neuen Menschen als Künstler imaginiert, und insofern auch als „Malererfinder“ agiert, 273 beschreibt das jüngste und enggesehen einzige Vorbild eines primitivistischen Künstlers im Roman einen „Malererfinder“. Dies ist für die Formulierung des positiven Primitivismus des Romans substanziell. Mit „Malererfinder“ wird die reflexive und imaginative Leistung des exklusiven Primitivismus des Tropen-Romans auf den Punkt gebracht: die Überwindung „von Zeit Logik und Denken ins höhere Denken“. Dieser Primitivismus der Zukunft, so wird mit der Beschreibung des „Malererfinders“ angedeutet, zieht eine neue Verkörperungspraxis des bildenden Künstlers nach sich. Roroschkin vereinigt Bewusstsein und „Gesichts‐ sinn“, die grausame Beobachterposition, den Praktiker und Theoretiker und 267 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="268"?> 274 In Brandlbergers Charakterisierungen ist Slim der grossartige Mann der Zukunft und gleichzeitig immer ein (zu überholender) „Prototyp“ und „Vorläufer“. Er nennt ihn bspw. „pittoresk“ (T, 12) und bezeichnet ihn als Renaissance-Figur (T, 30) oder „gotische[n] Prototyp“ (T, 221). Das Vorwort unterstützt diese relativierende Einschätzung des Avantgardisten Slim mit der konservativen Lesart Slims (Vgl. Kap. 3.4.1). so fort. Er steht für die Potenzierung und Flexibilisierung der „geradlinigen“ „primitiven“ und primitivistischen Verkörperungsphantasien. In dieser Hinsicht ist Roroschkin/ Kokoschka als Erbe und Überwinder Gau‐ guins inszeniert. Über Gauguins im Text tatsächlich auf die körperlich-sexuelle Dimension beschränkte Form von Primitivismus geht Roroschkins hinaus. Dafür spricht beispielsweise auch, dass in seinem Falle eine Verortung des Primitivismus nicht mehr notwendig ist. Es wird nicht mehr diskutiert, ob er wie Gauguin oder Altenberg seinen Primitivismus vor Ort oder im Kaffeehaus entwickelt. Gemeinsam mit Brandlberger steht Roroschkin schliesslich für die Weiterentwicklung und Überwindung Slims als zentralem Bezugspunkt der Gemeinschaft und „Prototypen des zukünftigen Menschen“ (T, 28). 274 Obwohl der Herausgeber bescheinigt, dass Brandlbergers „neuem Exotismus“ (Schwarz) keine Zukunft beschieden ist - der einzige Überlebende der Tropenreise schei‐ tert gemäss Vorwort sowohl im kolonialpraktischen als auch im künstlerischen Bereich (die Wirkung seiner Aufzeichnungen sind beschränkt) - auf Binnen‐ textebene steht der Erzähler am Ende gleichsam gemeinsam mit Roroschkin der utopischen Figur des „neuen Menschen“ einen Schritt näher als Slim. Als „Malererfinder“ stehen Brandlberger und Roroschkin (jenseits einer überholten Typengeschichte? ) für die „Figur, die vielleicht erst in hundert Jahren mit beiden Beinen im Leben stehen wird“ (T, 118). Dies ist das Netzwerk der primitivistischen Künstlerfiguren, mit dem der bildkünstlerische Diskurs komprimiert zur Darstellung gebracht wird und das den vielschichtigen Primitivismusdiskurs des Romans bündelt. Die Systemati‐ sierung, die die Protagonisten mit dem Netzwerk betreiben, zielt auf eine Theoretisierung des „Going native“, auf eine Theorie und Praxis der künst‐ lerischen „Verwilderung“. Entsprechend der extensiven und selbstreflexiven Theoretisierung des „Going native“ und des dehnbaren Netzwerkes ist dieses künstlerische „Going native“ ebenfalls umfassend und dehnbar. Das Netzwerk dient den Protagonisten zur Justierung des „Going native“ vor Ort und als künstlerisches Richtmass. Allgemein wirkt es als Korrektiv nach exotistischen und rassistischen Ausfällen. Mit ihm wird die primitivis‐ muskritische und exotistische Ausgangslage des Textes korrigiert. Zur zeitli‐ chen Konstruktion des Künstlernetzwerkes noch folgender wichtiger Nachtrag: Grundsätzlich gewähren die Künstlerfiguren des Textes einen doppelten Blick 268 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="269"?> 275 T, 5. Der Herausgeber berichtet im Vorwort (das mit den Worten „Im Jahre 1907 […]“ beginnt), wie er sich 1907 durch die Nachricht eines Indianeraufstands an das Manu‐ skript Brandlbergers erinnert, das ihm „vor langer Zeit“ (T, 6) persönlich übergeben wurde. Der Binnentext selber beginnt mit folgender zeitlichen Auslassung: „Das Jahr 19.. fand mich in Curaçao […]“ (T, 11). 276 Respektive das Entstehungsjahr von Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen. auf das historische Phänomen des Primitivismus. Müller arbeitet mit den Be‐ zügen zu Gauguin, Altenberg, Pierre Loti und Anderen einerseits historisierend, andererseits mit Verweisen auf einen engeren zeitgenössischen Diskurs, der vor allem über die Figur Roroschkin und den Bezug zu Kokoschka Gestalt annimmt. Einer zeitlichen Auflösung des Netzwerkes läuft die Herausgeber‐ fiktion mit dem Hinweis auf die erzählte Zeit um 1900 entgegen. Sie macht gleichsam alle Künstlerfiguren zu Zeitgenossen. Roroschkin ist gemäss dieser Anlage ein sehr früher Primitivist, respektive Frühexpressionist. Selbst für die Erzählzeit Brandlbergers, für die der Herausgeber die grobe Datierung vor 1907 zulässt, gilt dieser Befund. Mit diesem einzigen zeitlichen Anhaltspunkt 1907 275 ruft der Roman gleichsam das Initial des kubistischen Primitivismus auf - das Entstehungsjahr von Picassos Desmoiselles 276 - und unterbietet es. In die kunstfern gezeichnete Gegenwart des Herausgebers (1915), respektive in die expressionistisch-primitivistische Verfassungszeit des Romans, weist als einziger Künstler Roroschkin hinein. Die zeitliche Straffung und Verschiebung des künstlerischen Primitivismus‐ diskurses verstärkt den universalistischen Diskurs des Romans. Die kulturrela‐ tivistischen Ideen, die die Protagonisten für die Entwicklung ihrer Theorie des hybriden „zukünftigen Menschen“ rezipieren [„Unter [sic] Libertinern will ich die Ansicht vertreten, dass wir alle Menschen sind […]“ (T, 30) u. a.] werden unterstrichen und eine „primitive“ Gleichzeitigkeit und Gleichheit konstruiert, die suggeriert, dass bei der zentralen Frage des Romans nach dem „eigentlichen“ Künstler beide Seiten gleich lange Spiesse haben. Jedenfalls wird mit der Bünde‐ lung der Künstlerfiguren ein transkultureller Primitivismusbegriff transportiert. Dieser mündet jedoch eben in den absurden Wettstreit, den die Protagonisten als Kunsttheoretiker entscheiden - und qua Anlage für sich entscheiden. Der zeitliche Filter über dem Künstlernetzwerk komprimiert die Geschichte des Primitivismus. Der Primitivismus wird als Geschichte der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen der Jahrhundertwende erzählt. Zugleich fokussiert der Text eine spezifische Geschichte der Avantgarde. Das avantgardistische Künst‐ lernetzwerk wird durch die höchst symbolische zeitliche und personelle Vermi‐ schung nur beschränkt beschädigt. Der Text fokussiert einen spezifischen avant‐ gardistischen Primitivismus, der die Möglichkeiten eines radikalen Aufbruchs 269 3.4 Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise (1915) <?page no="270"?> und „Going native“ ernsthaft angeht. Der Maler Roroschkin/ Kokoschka sowie Brandlberger als kannibalistischer Ästhet und Autor des Textes demonstrieren eine radikale Kursänderung. Sie verkörpern ein radikales Kunstverständnis, inkorporieren radikale „Ideen, um eine ganze Generation neu einzurichten“ (T, 201). 270 3 Primitivistische Künstlerfiguren des literarischen Expressionismus <?page no="271"?> 4 Schluss Eine ausführliche Zitation der Gesprächspassage, aus der obiger Teilsatz stammt, eignet sich gut für die abschliessende kurze Schlussbetrachtung. Diese Passage aus dem dritten Gespräch zwischen Brandlberger und Slim macht besonders gut deutlich, was allen in dieser Studie besprochenen primitivisti‐ schen Künstlerfiguren zu Eigen ist: sie sind Figurationen des Abschieds und Neubeginns. Hier die abermals höchstprogrammatischen Worte Slims über den neuen Künstlermenschen: Wir sind ein neues Geschlecht. Wir haben die Sehnsucht überwunden. Wir verstehen unsere Vorgänger, die wir selbst einmal gewesen sind, nicht mehr. Wir lesen diese Bücher. Nein, wir verstehen sie nicht. Sie ärgern uns. Es ist eine vorstädtische Noblesse, den guten Geschmack, nach dem sie sich so sehr sehnten, besassen sie nie, denn nie besassen sie ihren eigenen. Sie waren zu wenig hart und trainiert. Diese Menschen haben wir aus Instinkt und bewußtermaßen überholt. Wir stellen einen neuen Typus auf, wir tragen Sorge für einen neuen Geschmack. Wir schreien Zeter und Mordio über die alte Eleganz, wir schreien uns heiser und lassen uns als irrsinnig auf der Gasse auspfeifen, aber weil wir ohne Sehnsucht sind und aus praktischen Motiven handeln, weinen wir nicht nachts in unsere Polster und machen Gedichte; sondern wir schlafen gut und stehen am Morgen mit gestautem Blut in den Fäusten auf. Wir sind Handwerker, Meister und Zimmerleute; wir haben Ideen, um eine ganze Generation neu einzurichten. (T, 201) Slim beschreibt in der charakteristischen zweiten Person Plural den primitivis‐ tischen „neuen Typus“, auf dem der Tropendiskurs und gesamte Tropen-Roman basiert. Die Passage ist als Manifest des Primitivismus lesbar. In der Posi‐ tionierung seines primitivistischen Typus gibt sich der Protagonist äusserst selbstreflexiv, er nimmt historische Einordnungen vor und beschreibt sein Ideal eines neuen Menschen, respektive einer Gemeinschaft abermals gezielt und suggestiv. Er wendet sich gegen den bürgerlichen Künstlerbegriff und setzt ihm einen neuen schöpferischen Typus entgegen. Bemerkenswert ist im Hinblick auf die intermediale Erzählpraxis und -konstruktion des Romans, dass Slim den proto-aktivistischen Künstler hier dem bürgerlichen Literaten entgegensetzt. Der lebenspraktische Künstler als Handwerker lässt den romantischen Literaten hinter sich. Zentral für den neuen schöpferischen Menschen des Tropen-Roman, der eine ganze Generation „neu einzurichten“ vermag, ist, dass er als Überwinder <?page no="272"?> seiner selbst auftritt. Eine solche primitivistische Neuerfindung, respektive „Malererfindung“ betreiben alle in dieser Studie besprochenen Künstlerfiguren. Sternheims Posinsky, Ulrike und van Gogh, Benns Picasso und Müllers Primi‐ tivisten üben sich allesamt in (künstlerischer) Selbstüberwindung und Selbst‐ ermächtigung. Der interkulturelle Kontext ist dabei das perfekte Vehikel zur Diskussion und Illustration der Fragen nach einem neuen künstlerischen Selbst‐ verständnis. Der zeitgenössische Künstler, der im Kontakt mit „primitiver“ Kunst eine monströse „Verwilderung“ oder ein „Going native“ eingeht, bietet ein verlockendes Klischee- und Modellbild des Abschieds und Neubeginns. So unterschiedlich die interkulturelle Dimensionierung der Künstlerfiguren in den besprochenen Texten auch ist, so verschieden die Auseinandersetzung mit dem fremden Blick auf die eigene Kultur, gemeinsam ist ihnen die Untersuchung der Möglichkeiten eines radikalen künstlerischen Aufbruchs. Mit den primitivisti‐ schen Künstlerfiguren stehen die Gesten des Neuanfangs zur Diskussion, das romantische Ideal des Künstlers, der an die Grenzen geht, wird geprüft. Die expressionistischen Künstlertexte formulieren Kritik am romantischen Exotismus und Primitivismus der Gegenwartskunst - bei Sternheim wird diese Kritik etwa im Afrikabild Posinskys deutlich oder im Tropen-Roman Müllers in der Darstellung der exotistischen akademischen Moderne - und diskutieren gleichzeitig einen positiven Begriff von Primitivismus. Die wenig selbstkri‐ tischen Anwandlungsstrategien und Verkörperungsphantasien eines naiven Primitivismus (insbesondere der Kunstkritik) werden in den Texten entlarvt, und gleichzeitig wird in ihnen nach neuen Anverwandlungsstrategien gesucht. Die primitivistischen Künstlerfiguren und Figurengruppen untersuchen die Möglichkeiten des „Going native“ und der Inversion und sind als Figurationen eines „Going native“ ‚trotz allem‘ lesbar. Die grosse Gemeinsamkeit der Texte ist die musterhaft gezeichnete extreme „Verwilderung“ der Künstler. Die Künstlerfiguren scheinen gleichsam nach dem Muster des monströsen „Exoten“ bei Victor Segalen geformt. Sie sind Monster und „Exoten“ nach dem Vorbild Paul Gauguin, für welche die Kategorien geöffnet und neu abgesteckt werden müssen. Es ist natürlich kein Zufall, dass die fiktiven Künstlerfiguren der Expressionisten auf das berühmte Vorbild Gauguin referieren. Er ist der zum „wilden“ Genie stilisierte Künstler, der sich als Vorbild eines neuen Exotismus, beziehungsweise eines „Going native“ ,trotz allem’ anbietet. Im Nachhall Carl Einsteins, der auf die Eindämmung des „Primitiven“, Fremdartigen und Monströsen bei Julius Meier-Graefe mit einem monströsen subversiven Kunstnachdenken antwortete, kreieren die zu Sprache gekommenen Autoren monströse ungezähmte Künstlergestalten. Es sind pa‐ radoxe Figuren des Abschieds und Neuanfangs: Figuren, mit denen Kritik 272 4 Schluss <?page no="273"?> am (bildkünstlerischen) Exotismus und Primitivismus geäussert wird, die im exotistischen Dilemma verhaftet bleiben und darüber hinausweisen. 273 4 Schluss <?page no="275"?> Literaturverzeichnis Siglenverzeichnis NN: Gauguin, Paul [1893, unpubl.; 1954]. Noa Noa. Petit, Pierre (Hrsg.). München: Metamorphosis 1992. Oviri: Gauguin, Paul. Oviri, écrits d’un sauvage (1974). Guérin, Daniel (Hrsg.). Paris: Gallimard. DD: Segalen, Victor (1904). Gauguin dans son dernier décor. In: Mercure de France, Nr. 174/ 6, 679-685. In: Œuvres complètes (1995). Bouillier, Henry (Hrsg.). Paris, 287- 291. DDdt ——— [1904]. Gauguin in seiner letzten Umgebung. In: „Neger im Louvre“. Texte zu Kunstethnographie und moderner Kunst (2001). Prussat, Margrit/ Till, Wolfgang (Hrsg.). Amsterdam/ Dresden: Verlag der Kunst, 37-46. Essai: ——— [1904/ 1919]. 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Abb. 3: Franz Marc: Holzträger, 1911, Öl auf Leinwand, 141x109cm, Sammlung Gregory Callimanopulos. Ausst.kat. Basel (2015), 38. Abb. 4: Paul Gauguin: Mana’o tupapa’u (Der Geist der Toten wacht), 1892, Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm, Buffalo NY, Albright-Nox Art Gallery. Ausst.kat. Basel (2015), 25. Abb. 5: Paul Gauguin: Te nave nave fenua (Terre délicieuse) 1892, Öl auf Leinwand, 92 x 73,5 cm, Ohara Museum of Art, Kurashiki, Japan. Gauguin’s Paradise Remembered. The Noa Noa Prints. Ausst.kat. Princeton University Art Museum. New Haven/ London: Yale University Press, 69. Abb. 6: Paul Gauguin: Te nave nave fenua, 1892/ 94, Tusche, Aquarell und Gouache auf Velin, 40 x 32,0 cm, Musée de Grenoble. Wright 2010, 71. Abb. 7: Isidore van Kinsbergen: Relief at the Temple of Borobudur, 1874, Albumen Fotografie von Glasplattennegativ, 25,5 x 30 cm, Collection Musée de Tahiti et des îles, Tahiti. Wright 2010, 79. Abb. 8: Charles Georges Spitz: Tahitier, von einem Wasserfall trinkend (um 1888), Abzug auf Albuminpapier in einer Duplex-Gillotagereproduktion, 22 x 17 cm, vermutlich aus einer 1889 auf der Pariser Weltausstellung Veröffentlichung des Botanikers Édouard Raoul (dort unter dem Titel Fontaine dans la roche aux Samoa). Ausst.kat. Basel (2015), 27. Abb. 9: Paul Gauguin: Pape Moe (Eau mystérieuse; Source mystérieuse), 1893, Öl auf Leinwand, 99 x 75 cm, Privatsammlung. Ausst.kat. Basel (2015), 27. <?page no="296"?> Abb. 10: Paul Gauguin: Soyez amoureuses vous serez heureuses, 1889, polychromes. Polychromes Lindenholzrelief, 95 x 72 x 6.4 cm; Boston, Museum of Fine Arts. Gauguin Tahiti. The Studio of the South Seas (2004). Ausst.kat. Museum of Fine Arts Boston/ Galeries nationales du Grand Palais Paris. Frèches-Thory, Claire/ Shackelford, George T.M. (Hrsg.). Boston: MFA Publications, 10. Abb. 11: Paul Gauguin: Pot anthropomorphe, 1889, emaillierter Sandstein, Höhe 28,4 cm, 21,5cm Ø, Musée d’Orsay, Paris. Ausst.kat. Boston/ Paris (2004), 7. Abb. 12: Paul Gauguin: L’Univers est créé, Noa Noa Folge, 1894, Farbholzschnitt, gedruckt von Louis Roy (zwei separate Drucke in Ocker und Schwarz mit einem Hauch von Rot auf dünnem beigem Velin), 25,4 x 47,6 cm, The Metropolitain Museum of Art, New York, Harris Brisbane Dick Fund. Wright 2010, 23. Abb. 13: Paul Gauguin: L’Univers est créé, Noa Noa Folge, 1894, Farbholzschnitt, gedruckt von Louis Roy (Druck mit gemischten Schwarz- und Brauntönen, Aquarell- und Gouachetupfern in Rosa, Orange, Grün, Blau und Gelb auf cremefarbenem Japanpa‐ pier), 20,6 x 35,6 cm, The Art Institute of Chicago, Clarence Buckingham Collection. Wright 2010, 24. Abb. 14: Paul Gauguin: L’Univers est créé, Noa Noa Folge, 1894, Farbholzschnitt gedruckt von Louis Roy (Druck in Schwarz, rötlichem Orange und Rot auf schwerem creme‐ farbenen imitiertem Japanpapier), Block 20,3 x 35,5 cm, National Gallery of Art, Washington, Rosenwald Collection. Wright 2010, 25. Abb. 15: Paul Gauguin [1893]. Noa Noa. Erstes Manuskript aus Gauguins Hand, 40 x 26,5 cm. Research Library, Getty Research Institute, Los Angeles, 24-25. Wright 2010, 18. Abb. 16: Ludwig Meidner: Porträt Carl Einstein, 1913. Tusche, schwarze Kreide und Deckweiss, 59,0 x 45,5cm, © Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Sammlung Hans Kinkel, Foto: Monika Runge/ Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main. Abb. 17: Einstein, Carl (1915). Negerplastik. Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, 62 f. (Foto: Ladina Fessler) Abb. 18: Einstein, Carl (1915). Negerplastik. Verlag der Weißen Bücher, Leipzig, 70 f. (Foto: Ladina Fessler) Abb. 19: „African Savages the First Futurists“, Fotomontage zur Ausstellung afrikanischer Kunst in der Galerie 291, The World Magazine, 24. 1. 1915. Primitivism and Twen‐ tieth-Century Art: A Documentary History (2003). Flam, Jack/ Deutch, Miriam (Hrsg.). Berkley: University of California Press, 70. 296 Abbildungsverzeichnis <?page no="297"?> Abb. 20: Alfred Stieglitz: Galerie 291, Ausstellung afrikanischer Skulpturen, New York November 1914; Brancusi Ausstellung, März 1914. Library of Congress, Prints and Photographs Division, Washington. Abb. 21: Einträge zum Projekt „Encyclopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie“. In: Sternheim, Carl (1918). Prosa. Bücherei der rote Hahn Bd. 12. Pfemfert, Franz (Hrsg.). Berlin: Verlag Die Aktion, 28 f. (Foto: Ladina Fessler) Abb. 22: Conrad Felixmüller: Porträt Carl Sternheim, 1925, Holzschnitt auf Bütten, 68,5 x 45 cm, Museum Kunstpalast Düsseldorf. © Foto: Kunstpalast, Horst Kolberg; Artothek/ Pro Litteris. Abb. 23: Paul Gauguin: Nevermore, 1897, Öl auf Leinwand, 61 x 116 cm, Courtauld Gallery, London. Ausst.kat. Basel (2015), 26. Abb. 24: Egon Schiele: Porträt Robert Müller, 1918, Kreide auf Papier, 47,3 x 30,1 cm. Wien Museum. © Imagno/ picturedesk.com. Abb. 25: Oskar Kokoschka: Zeichnung zu „Mörder, Hoffnung der Frauen“, in: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und Künste, 1.Jg., Nr. 20, 14. Juli 1910. 20,5 x 16,6 cm. © Fondation Kokoschka/ 2021, Pro Litteris. Abb. 26: Oskar Kokoschka: Selbstporträt, Hand auf der Brust, 1911/ 12, Plakat Akademi‐ scher Verband für Literatur und Musik, Wien, Lithographie auf Papier, 94,6 x 63,2 cm. Kunsthaus Zug, Stiftung Sammlung Kamm. © Foto: Kunsthaus Zug, Alfred Frommenwiler; Fondation Kokoschka/ Pro Litteris. Abb. 27: Oskar Kokoschka: Titelvignette Die Träumenden Knaben (1907/ 08). Leipzig: Kurt Wolff 1917, Lithographie, 10,5 x 0,89cm. MoMA, The Louis E. Stern Collection. © Fondation Kokoschka/ 2021, Pro Litteris. 297 Abbildungsverzeichnis <?page no="298"?> ISBN 978-3-7720-8762-2 www.narr.de Gottfried Benns Künstlerfigur lässt sich ein Pferdeauge implantieren, um neue Kunst zu schaffen. Robert Müllers Protagonisten „verwildern“ im guyanischen Urwald und bringen im Delirium eine Kunsttheorie hervor, die Gewalt und Tod ästhetisiert. Carl Einstein propagiert die unerreichbare „Negerplastik“, bei deren Imitation die zeitgenössischen primitivistischen Künstler: innen nur scheitern können. Die vorliegende Studie analysiert das „Going native“ von Paul Gauguin in der Südsee und die Künstlerfiguren und theoretischen Texte der expressionistischen Generation, die diesem grossen Vorbild Tribut zollen. Die Texte diskutieren das Dilemma des „Verwilderns“ und die Möglichkeiten künstlerischer Grenzgänge. N° 101