Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion
Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
0203
2025
978-3-7720-5775-5
978-3-7720-8775-2
A. Francke Verlag
Beatrice Occhini
10.24053/9783772057755
Das Buch untersucht den Literaturpreis Adelbert-von-Chamisso (1985-2017), eine der einflussreichsten sowie kontroversesten Auszeichnungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, deren kulturpolitische Tragweite weit über den Literaturbereich hinausreicht. Anhand einer Analyse originaler Archivunterlagen und literarischer Werke beleuchtet diese interdisziplinäre Arbeit innovativ die Reaktionsmechanismen des deutschen Kulturraums auf die Herausforderungen der soziokulturellen Transformationen durch Migration und Globalisierung. Die fünf Kapitel widmen sich dem Entstehungskontext, der Geschichte und Struktur des Preises, der Entwicklung und literaturwissenschaftlichen Rezeption der sogenannten ,Chamisso-Literatur' sowie der Poetik zweier Preisträgerinnen, Terézia Mora und Uljana Wolf, als Beispiele für die jüngsten Entwicklungen in der Chamisso-Literatur.
<?page no="0"?> L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M Der Adelbert-von- Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Beatrice Occhini <?page no="1"?> Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion <?page no="2"?> Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Genova) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 9 Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism <?page no="3"?> Beatrice Occhini Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der deutsch‐ sprachigen Gegenwartsliteratur <?page no="4"?> Die Archivrecherche für dieses Buch wurde durch zwei C.H.-Beck-Stipendien des Deutschen Literaturarchivs Marbach gefördert. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und des Dipartimento di Studi Uma‐ nistici (Dipsum) der Universität Salerno. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057755 © 2025 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Druck: Elanders Waiblingen GmbH ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8775-2 (Print) ISBN 978-3-7720-5775-5 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0253-3 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> An Stefan Nienhaus <?page no="7"?> 11 11 13 17 22 26 28 1 31 1.1 31 1.2 34 1.2.1 35 1.2.2 42 1.3 51 1.4 58 2 65 2.1 65 2.2 67 2.3 70 2.4 73 2.5 78 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Arbeitsmigration zum Einwanderungsland: Ein kurzer Überblick über ein langes Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Chamisso-Literatur aus literarischer, literatursoziologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bisherige Forschungsansätze und neue Perspektiven . . . . . . . . . . . . . Theoretisch-methodologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Struktur dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum konsultierten Archivmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) Hintergrund und frühe literarische Produktion . . . . . . . . . . . . Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen . . . . . Die Südwind-Schriftstellergruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinrich und das Institut für Deutsch als Fremdsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ersten literaturwissenschaftlichen Kodifizierungen Betroffenheit, Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur . . . . . . . Die ambivalente Verortung der Literatur zwischen Politisierung und Sensibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Struktur und Entwicklungsparabel des Chamisso-Preises . . . Die Robert Bosch Stiftung und die hybride Zielsetzung des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konsekrationsmechanismen des Chamisso-Preises . . . . . Aneignung eines Autors: Adelbert von Chamisso und seine Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chamisso-Autor werden, Chamisso-Literatur schaffen . . . . . . . <?page no="8"?> 3 83 3.1 83 3.2 97 3.3 106 3.4 108 4 113 4.1 113 4.2 114 4.3 126 4.4 133 4.5 136 4.6 141 5 143 5.1 143 5.2 147 5.2.1 150 5.2.2 157 5.3 160 5.3.1 165 5.3.2 168 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) . . . . . Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die literaturwissenschaftliche Rezeption jenseits der Betroffenheit: Das interkulturelle Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . Die literaturwissenschaftliche Rezeption vom Dazwischen zum Durchdringen: Das transkulturelle Paradigma . . . . . . . . . Mehrsprachiges Experimentieren in der Chamisso-Literatur: Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herkunft und Sprache: Die Konzeption und Neudefinition der Chamisso-Preisträger: innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Fremdsprache zur Mehrsprachigkeit: Das Sprachigkeitskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Abbau konzeptueller Grundlagen und die Transformation des Preises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Inklusion und Exklusion: Der Abschluss des Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variationen von ‚Germanness‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terézia Mora: das Minderheitendeutsch und die Autonomie der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . „[D]ie Grenze beugt sich, umflicht die Dörfer“: STILLE.mich.NACHT und Der See . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprache der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein „stummes Sprachgenie“: Die Fremdheit des Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Aber in Wahrheit war ich doch allzu oft ein Barbar“: Die Sprachen Abels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> 5.3.3 173 5.3.4 175 5.4 177 5.5 182 5.5.1 188 5.6 191 5.6.1 193 5.6.2 199 5.7 206 5.7.1 208 5.7.2 215 5.8 220 225 229 231 231 233 237 247 249 250 250 253 255 „Wo wann bin ich und wer bist du? “: Die Fremdheit des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Panik ist nicht ---, Panik ist --- “: das Verschwinden des Eigenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uljana Wolf: Translinguale Lyrik und mehrsprachiges Gedicht Über die Grenze hinweg: kochanie ich habe brot gekauft . . . . . Vom mehrsprachigen Gedicht zur translingualen Lyrik Innerhalb der Grenze: falsche freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polysemische Ablagerungen: dust bunnies und DICHTionary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzalphabete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch . . . . . . . Gedoppelte Sprachen und Geisterzwillinge . . . . . . . . . . Die Melodie Babels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terézia Mora und Uljana Wolf: Konstruktion und Dekonstruktion der Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstracts und Keywords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material aus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zu Terézia Mora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur zu Uljana Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wörterbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="11"?> 1 Unter dem Begriff „Pluralisierung der Lebensformen“ versteht Jürgen Habermas (1998: 91-169) den Prozess des kulturellen und demografischen Wandels sowie der Differen‐ zierung, der sich in den westeuropäischen Gesellschaften seit der Nachkriegszeit durch Migration und globale Mobilität vollzogen hat. 2 Sofern nicht anders angegeben, finden sich die in diesem Abschnitt aufgeführte Migrationsgeschichte sowie ihre rechtlichen Rahmenbedingungen in D’Amato (2000), Yano (2000) und Hoersch (2018: 221-300). Einleitung „Es [ist] offenbar leichter, einen neuen Staat als eine neue Literatur zu gründen“: Mit diesen Worten bezog sich Professor Harald Weinrich (1982: 9), der Gründer des Adelbert-von-Chamisso-Preises (1985-2017), auf die Schwie‐ rigkeiten, denen sein Projekt begegnen sollte, welches sich damals noch in der Anfangsphase befand und ein neues literarisches Phänomen erkundete. Von seiner Gründung im Jahr 1985 bis zu seiner Abschaffung 2017 erfasste und be‐ einflusste der Chamisso-Preis einen heterogenen Transformationsprozess: die Öffnung der deutschsprachigen Literatur für Autor: innen, die zwar auf Deutsch schreiben, aber einen vielfältigen kulturellen und sprachlichen Hintergrund haben, sowie die Anerkennung ihrer Werke als Bestandteil des deutschspra‐ chigen Raums. In der Tat ist diese Auszeichnung aufgrund ihrer Zielsetzung und kontroversen Laufbahn unter den mehr als 700 nachweisbaren Literaturpreisen des deutschsprachigen Literaturbetriebs (vgl. Jürgensen 2013: 287) als eine der relevantesten zu betrachten: An der Geschichte des Projekts - so die These des vorliegenden Buches - lassen sich nicht nur prägnante Entwicklungstendenzen und Debatten beobachten, sondern vor allem die Reaktionsmechanismen des deutschen Kulturraums auf die Herausforderungen der demografischen und soziokulturellen Pluralisierung 1 aufzeigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Migrationsbewegungen und Globalisierungsprozesse entstanden sind. Von der Arbeitsmigration zum Einwanderungsland: Ein kurzer Überblick über ein langes Phänomen Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und England lässt sich der Anfang der zeitgenössischen Migrationsbewegungen nach Westdeutschland nicht auf die Ankunft von Menschen aus den ehemaligen Kolonien zurückführen, sondern auf das Anwerben ausländischer Arbeitskräfte, das dem strukturellen Arbeits‐ kräftemangel der Nachkriegszeit entgegenwirken sollte. 2 Offiziell begann die <?page no="12"?> Arbeitsmigration im Jahr 1955 mit der Unterzeichnung des ersten Anwerbeab‐ kommens mit Italien, dem Griechenland und Spanien (1960), die Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und das ehemalige Jugosla‐ wien (1968) folgten. Damals war der Aufenthalt der angeworbenen Arbeits‐ kräfte, wie aus der terminologischen Wahl des Begriffs ‚Gastarbeiter‘ hervor‐ geht, als vorübergehend vorgesehen - mit unterschiedlichen Einschränkungen je nach Rahmenabkommen. Aus rechtlicher Sicht wurde neben den Rahmenab‐ kommen 1965 das erste Gesetz im Bereich der Einwanderung erlassen, das soge‐ nannte ‚Ausländergesetz‘. Im Grunde waren die Anwerbungen in der politischen Vision jener Zeit nämlich ausschließlich an den Arbeitskräftebedarf des Landes gebunden, sodass Rückführungen immer stärker gefördert wurden, bis hin zur offiziellen Beendigung der Rekrutierungen (dem sogenannten ‚Anwerbestopp‘) im Jahr 1973. Von den etwa 11 Millionen Gastarbeiter: innen, die von 1955 bis 1973 angeworben wurden, blieben drei Millionen auf deutschem Boden (vgl. Destatis 2024a). Zu diesen Zahlen müssen die ausländischen Staatsbürger: innen hinzugefügt werden, die über andere Kanäle gekommen sind, wie zum Beispiel durch internationale Schutzabkommen (die Genfer Flüchtlingskonvention trat 1954 in Kraft), sowie die (Spät-)Aussiedler: innen (1950-2020). Folglich betrug im Jahr 1980, bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen, die Zahl der Ausländer: innen in der BRD vier Millionen (vgl. Destatis 2024a). Nach dem Mauerfall begann eine neue Phase, die durch eine allmähliche Differenzierung der Ankünfte gekennzeichnet war: Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Kriege auf dem Balkan und die Menschenrechtslage in den kurdischen Gebieten der Türkei gehören zu den Ursachen für einen Anstieg der Anträge auf internationalen Schutz. Gleichzeitig ermöglichte die Eröffnung des europäischen Binnenmarktes im Jahr 1993 die freie Bewegung der EU- Bürger: innen. Bis zum Jahr 2015, dem Jahr der sogenannten ‚Migrationskrise‘, und erneut bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine im Jahr 2022, war Deutschland nicht mehr hauptsächlich ein Schauplatz von Ankünften, die durch spezifische und vorübergehende geopolitische Bedingungen ausgelöst wurden. Stattdessen ist Deutschland als eine der fortschrittlichsten Nationen Europas in Bezug auf kulturelle, wirtschaftliche und technologische Entwicklung zu einem Ziel für internationale Mobilität geworden, die von den vielfältigen Möglichkeiten des Landes angezogen wird, darunter Studierende sowie „Hoch‐ qualifizierte“ (Hoesch 2018: 46). Im Jahr 2022 hatten etwa 23,8 Millionen 12 Einleitung <?page no="13"?> 3 Nach der offiziellen Definition des Statistischen Bundesamtes hat eine Person „einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“ (Destatis 2024b). Menschen einen Migrationshintergrund in Deutschland, was 28,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht 3 (vgl. Destatis 2024b). Im öffentlichen Diskurs hat man sich jahrzehntelang geweigert, die Trans‐ formation der BRD und später des wiedervereinigten Deutschlands in ein ‚Ein‐ wanderungsland‘ anzuerkennen, also in eine Gesellschaft, deren Bevölkerung das Ergebnis von Migrationsprozessen ist - ähnlich wie „classical immigration countries“ wie die Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien (De Haas et al. 2020: 10). Dies wurde erstmals im sogenannten ‚Kühn-Memorandum‘ von 1979 suggeriert, in dem die Migrationsprozesse, die die BRD geprägt hatten, als strukturelle Prozesse der deutschen Gesellschaft bezeichnet wurden, die sich nicht auf die Bewegungen der Gastarbeiter: innen im Rahmen der Anwerbeab‐ kommen beschränken ließen. Offiziell wurde die Wandlung Deutschlands in ein Einwanderungsland erst mit der Veröffentlichung des Berichts der sogenannten ‚Süssmuth-Kommission‘ im Jahr 2001 anerkannt (Hoesch 2018: 268). Diese Perspektivenwandlung spiegelte sich unter anderem im Übergang vom ius sanguinis (Abstammungsprinzip) zum heutigen ius soli (Geburtsortsprinzip) in der Staatsangehörigkeitsreform im Jahr 2000 und im neuen ‚Aufenthaltsgesetz‘ (2005) wider. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Chamisso- Literatur aus literarischer, literatursoziologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht „[D]eterritorial, transnational, multilingual“: Anhand dieser drei Schlagwörter beschreibt Sandra Richter (2017: 432) das gegenwärtige Antlitz der deutsch‐ sprachigen Literatur. Diese Merkmale lassen sich in den im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen heterogenen soziodemografischen Transformations‐ prozessen einbetten, die den Literaturbetrieb in Bezug auf die Ebenen der Produktion, Verbreitung und Rezeption tiefgreifend verändert haben. Zum einen fingen ab Ende der 1960er allmählich mehr Schriftsteller: innen an, die aufgrund ihrer Familiengeschichte einen vielfältigen sprachlichen und kulturellen Hintergrund besaßen, auf Deutsch über Migration als gesellschaft‐ liche bzw. individuelle Erfahrungen literarisch zu reflektieren. In den letzten Jahrzehnten sind, wie Richter (2017: 432) betont, auf der literarischen Szene Deutschlands auch „[k]osmopolitische“ Autor: innen zu erkennen, die sich Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Chamisso-Literatur 13 <?page no="14"?> zwischen verschiedenen Sprachen und literarischen Räumen bewegen, was die zeitgenössischen transnationalen Mobilität widerspiegelt. Im Zuge derselben Veränderungen hat sich jedoch zum anderen auch die Dynamik verändert, durch die solche Werke und Persönlichkeiten im Literatur‐ betrieb rezipiert werden. Die Bewertungsdynamiken und Distributionskanäle der Literatur, die Formen ihrer Rezeption sowie die theoretischen Grundlagen, die entwickelt wurden, um diesen gerecht zu werden, haben sich im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte aufgrund dieser soziokulturellen Transformationen tiefgreifend verändert. Der letzte Aspekt bildet den Hauptfokus des vorliegenden Buches, denn der Adelbert-von-Chamisso-Preis stellt einen privilegierten Beobachtungspunkt für diese Veränderungen dar: Er lässt sich sowohl als deren Folge als auch als deren Anstoß verstehen. Der Preis wurde 1985 von Literaturwissenschaftler: innen des Instituts für Deutsch als Fremdsprache in München, insbesondere von Harald Weinrich und Irmgard Ackermann, in Zusammenarbeit mit der Robert Bosch Stiftung und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ins Leben gerufen und zielte darauf ab, „Beiträge ausländischer Autoren“ auszuzeichnen (HCP-K2-O3-85-1). Die ausgezeichneten Werke wurden kanonisiert und in einer literaturgeschichtlich nachträglich entdeckten und legitimierten Tradition verankert: derjenigen von Schriftsteller: innen, die sich der deutschen Sprache ‚von außen‘ bedienen (vgl. Weinrich 1983). In Adelbert von Chamisso, einem Schriftsteller französischer Herkunft, der dennoch zum deutschen Literatur‐ kanon gehört, wurde der Patron dieser Tradition erkannt. Es sei hervorzuheben, dass von Anfang an mit dem Chamisso-Preis eine klare zivile Intention ver‐ bunden war, denn die Auszeichnung sollte das öffentliche Bewusstsein für die konstitutive Rolle der Migration für die deutsche Gesellschaft, die vielfältigen Ausprägungen dieses Phänomens und die Lebensbedingungen der ‚Ausländer‘ schärfen. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine kulturelle Institution, die durch den literarischen Diskurs für die Anerkennung zunächst der BRD und dann des wiedervereinigten Deutschlands als Einwanderungsland plädieren wollte. Die Geschichte des Chamisso-Preises fand 2017 ein - zumindest vorläu‐ figes - Ende durch die Entscheidung seiner Förderinstitution, der Robert Bosch Stiftung. Diese kündigte nicht nur an, dass das ursprüngliche Ziel des Projekts, nämlich die Integration von „Autoren mit Migrationsgeschichte“ in die deutschsprachige Literatur, „erreicht“ worden seien (Robert Bosch Stiftung 2016a), sondern räumte auch ein, wie kontraproduktiv die Fortsetzung des Projekts für diese Integration wirken könnte (Robert Bosch Stiftung 2016b). Die Bekanntgabe der Beendung stieß auf viel Kritik, die jedoch während des 14 Einleitung <?page no="15"?> gesamten Bestehens des Chamisso-Preises ebenfalls präsent war, und führte im selben Jahr zur Neugründung des Projekts mit anderen Förderern und an einem anderen Standort. In diesem Buch wird der Chamisso-Preis und die damit verbundene ‚neue Literatur‘, bekannt als Chamisso-Literatur, aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet: literatursoziologisch, literarisch und kulturwissenschaftlich. Die literatursoziologische Perspektive ermöglicht die Einordnung des Projekts in‐ nerhalb des literarischen Feldes. Sie basiert auf der Analyse seiner Geschichte und seines Kontexts, der Positionen seiner Beteiligten sowie der zugrunde liegenden Struktur. Unter dieser Betrachtungsweise kann der Chamisso-Preis als derjenige Akteur im deutschen literarischen Feld angesehen werden, der maßgeblich zur Anerkennung von Autor: innen beigetragen hat, die nicht (nur) deutscher Herkunft bzw. deutscher Sprache sind. Aus literarischer Sicht erforscht das Buch gewisse Meilensteine der Chamisso- Literatur. Diese Etappen, die mit der Veröffentlichung bestimmter literarischer Werke oder mit den Profilen bestimmter Preisträger: innen zusammenhängen, gelten als bedeutend, da sie Momente des Wandels oder der Spannung im deutschen literarischen Feld hervorrufen oder dazu beitragen, einige seiner entscheidenden Merkmale zu erkennen. In diesem Zusammenhang war es besonders fruchtbar zu beobachten, wie die Mehrsprachigkeit von einigen Autor: innen literarisch umgesetzt wurde und vor allem, wie sie sowohl im institutionellen Diskurs des Preises als auch im Literaturbetrieb allgemein rezipiert wurde. Dabei handelt es sich, wie noch gezeigt wird, um ein komplexes ästhetisches Merkmal, das in dieser Studie nicht nur auf den formalen, sondern vor allem auf den ethisch-poetologischen Aspekt zurückgeführt wird, den der Chamisso-Preis im Laufe seiner Entwicklung zunehmend betont hat. Dies geschah, obwohl - darauf sei hingewiesen - der Preis offiziell nicht auf der Grundlage gemeinsamer ästhetischer Merkmale verliehen wurde. Wenn jedoch von der Entwicklung der Chamisso-Literatur die Rede ist, sollen die ästhetischen Unterschiede zwischen den Chamisso-Preisträger: innen keineswegs ignoriert werden. Hier werden sie als integraler Bestandteil der Cha‐ misso-Literatur betrachtet, denn das vorliegende Buch untersucht gerade die Dy‐ namiken, durch die sie zu diesem literarischen und soziokulturellen Phänomen gezählt wurden. Literatur entzieht sich Etikettierungen und Kategorisierungen, und dies gilt insbesondere für die Konsekrationshandlung des Chamisso-Preises, der im Laufe seiner Geschichte auch unvermeidliche Spannungen erzeugt hat. Es ging dabei um die Herausforderung, sehr unterschiedliche Autor: innen einem einzigen, wenn auch heterogenen literarischen Phänomen zuzuschreiben, das oft auf ihre - vermeintlich - nicht-deutsche Herkunft reduziert wurde. Es Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Chamisso-Literatur 15 <?page no="16"?> handelt sich um eine Identifizierung, die oft die Vielfalt ihrer literarischen Produktion ignoriert hat, was Kritik und gelegentlich auch den Protest der Preisträger: innen selbst hervorgerufen hat. Hier zeigt sich das kulturwissenschaftliche Interesse an der Erforschung des Chamisso-Preises und der Chamisso-Literatur, deren wissenschaftlicher Gewinn über den literarischen Bereich hinausgeht. Bei genauerer Betrachtung ist der Weg des Preises tatsächlich verschlungen und von Ambivalenzen geprägt, weit mehr, als seine Stifter: innen ahnen konnten. Im Verlauf seiner Geschichte wür‐ digte der Chamisso-Preis nicht primär den künstlerischen Wert der Autor: innen oder besondere ästhetische Nuancen in ihren Werken, sondern ihre ‚Zugehö‐ rigkeit‘ zur deutschsprachigen Literatur. Dadurch trennte der Preis letztlich ihr Profil vom restlichen literarischen Raum, indem er den Preisträger: innen das Etikett des ‚Ausländerseins‘ aufdrückte, das wiederum als eine Form des Ausschlusses diente. Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass der Chamisso-Preis einen fundamentalen Beitrag zur Öffnung der deutschsprachigen Literatur für kulturelle Vielfalt und zu ihrer Anerkennung geleistet hat. Diese Ambivalenz, die in diesem Buch eingehend untersucht wird, prägt den Weg, den der Preis beschreitet und der hier rekonstruiert wird, zwischen literarischer Inklusion und Exklusion: Daher auch der Titel dieser Arbeit. In diesem Buch führt kein Weg daran vorbei, den Begriff ‚Ausländer‘ sowie seine Ableitungen (‚ausländisch‘, ‚Ausländerliteratur‘, ‚Ausländerautoren‘ usw.) zu verwenden. Es handelt sich um einen ambivalenten Begriff, nicht zuletzt deshalb, weil er in verschiedenen Diskursen - im öffentlichen, rechtlichen, politischen, literarischen und kulturellen Bereich - verwendet wird und dort unterschiedliche Bedeutungen annimmt, die sich größtenteils im Laufe der Geschichte verändert haben. Zum Beispiel im rechtlichen Diskurs: Bis zur Staatsangehörigkeitsreform des Jahres 2000 und dem Übergang vom ius sangu‐ inis zum heutigen ius soli galten viele Menschen, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen waren, noch als ‚Ausländer‘ (vgl. Hoesch 2018: 259-274). In dieser Arbeit ist es aus zwei Gründen notwendig, diesen Begriff und seine Ableitungen zu verwenden. Erstens: aus historischer Verbundenheit, da er zu‐ mindest bis Mitte der 1990er Jahre zur Bezeichnung der literarischen Ausdrücke verwendet wurde, denen diese Studie gewidmet ist. Zweitens, weil sich um diesen und andere ähnliche Begriffe - wie ‚Fremdsprache‘, ‚Muttersprache‘, aber auch ‚Deutsch‘ - die Verhandlung von kultureller Zugehörigkeit und Nicht- Zugehörigkeit in dem engen, aber emblematischen Raum abgespielt hat, um den es auf den folgenden Seiten geht. In diesem Beitrag wird der Begriff in einfachen 16 Einleitung <?page no="17"?> 4 Aus denselben Kohärenzgründen werden diese Begriffe in der vorliegenden Studie nicht gegendert, wenn sie im literarischen Diskurs der Zeit nicht in einer genderneutralen Form verwendet wurden. Anführungszeichen verwendet, um seine Verwendung zur jeweiligen Zeit bei den Akteur: innen und in den Kontexten zu reflektieren 4 . Die Geschichte des Chamisso-Preises ist also auch die Geschichte der Begriff‐ lichkeit zur Kennzeichnung eines Phänomens, über das gesprochen werden sollte und über das häufig missverständlich gesprochen wurde. Doch gerade diese Schwierigkeiten und Irrtümer sind für die vorliegende Diskussion ent‐ scheidend. Bisherige Forschungsansätze und neue Perspektiven Die allmähliche Öffnung der Grenzen der deutschen Literatur ist Gegenstand zahlreicher kritischer Untersuchungen gewesen, die verschiedene theoretische und methodologische Ansätze übernommen haben, die sich auch in terminologi‐ schen Entscheidungen widerspiegeln: Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur, interkulturelle Literatur gehören zu den einflussreichsten. Es gibt zahlreiche kurze Beiträge, die sich der Verortung dieses Phänomens widmen, welche besonders in den 1980er Jahren zur Legitimierung des Phänomens beigetragen haben. Nicht zu vergessen sind die vielen Studien über einzelne Autor: innen, die mit der Chamisso-Literatur in Verbindung gebracht werden und sie in eine der genannten Kategorien einordnen. Diese und andere Kodifizierungen des hier als Chamisso-Literatur definierten Phänomens sind Gegenstand der Erörterung der vorliegenden Arbeit, da im ersten und dritten Kapitel auch die wissenschaftliche Rezeption dieses Phänomens als eine Form der Legitimation und Kanonisierung thematisiert wird, die eng mit der durch den Chamisso-Preis bewirkten Konsekration verbunden ist. Das vorliegende Buch schlägt einen Perspektivwechsel gegenüber den meisten früheren Studien vor, die sich mit Schriftsteller: innen nicht (nur) deutscher Herkunft und Sprache in der zeitgenössischen Literatur befasst haben. Anstatt von den Merkmalen auszugehen, die diese Veröffentlichungen zu Beispielen eines neuen literarischen Phänomens machen würden - eine problematische Wahl aufgrund der Überschneidung zwischen der Biographie der jeweiligen Autor: innen und ihrer literarischen Produktion -, beobachtet die vorliegende Studie, wie ihre Präsenz im deutschen literarischen Raum rezipiert und kanonisiert wurde. Bisherige Forschungsansätze und neue Perspektiven 17 <?page no="18"?> Die Perspektive, welche den Diskurs der Sekundärliteratur zu einem der Analyseobjekte macht, wurde von Immacolata Amodeo in den 1990er Jahren aufgegriffen, indem sie eine Untersuchung der diskursiven Konstruktionen vorschlug, durch die die Germanistik die „ausländischen Autoren“ bis dahin rezipiert hatte (1996: passim). Das von Amodeo (1996: 34-35) ausgearbeitete und auf Michel Foucault basierende Analysemodell war die Prämisse der vorlie‐ genden Arbeit. Was diese von derjenigen Amodeos unterscheidet, ist neben dem zeitlichen Abstand von fast drei Jahrzehnten, der einen breiteren analytischen Horizont garantiert, das besondere Forschungsterrain, auf das diese Perspektive gerichtet ist, nämlich die Einflusssphäre des Chamisso-Preises, sowie die bei ihrer Auswertung angewandte Methodik, die sich neben Foucault auch auf Pierre Bourdieu rekurriert. Noch wichtig für diese Arbeit sind die wenigen Studien, die versuchen, das Phänomen historisch zu rekonstruieren. Besonders pointiert ist die Arbeit von Sigrid Weigel, erschienen in der Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1992), die mit einem literatursoziologischen Ansatz den Beginn des Phänomens nicht so sehr im Schreiben in deutscher Sprache sieht, sondern in der Entstehung von Verlags- und Künstlergruppen, die diese literarische Produktion durch die Betonung der ausländischen Herkunft ihrer Autor: innen verbreiten. Dies ist ein interessanter Perspektivwechsel, den die vorliegende Arbeit teilt, der jedoch in diesem Forschungsbereich keine Nachfolge fand. Das von Gino Carmine Chiellino herausgegebene Handbuch zur Interkultu‐ rellen Literatur (2000) deckt einen weiten Zeitraum - von den 1950er Jahren bis zum Jahr 2000 - ab und stellt nach wie vor den umfassendsten Versuch dar, die in der deutschsprachigen Literatur tätigen Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft zu erfassen, welche nach Kulturräumen gegliedert sind. Zu den jüngsten Publikationen gehört der Band von Sandra Richter (2017), der eine Literaturgeschichte nachzeichnet, die auf wechselseitigen Einflüssen zwischen der deutschsprachigen Literaturlandschaft und anderen literarischen Räumen beruht und die konstitutiven Dynamiken der Weltliteratur zu identifi‐ zieren versucht. Das letzte Kapitel des Textes, „Nach 1989: Literatur deterritorial, transnational, multilingual“ (Richter 2017: 431-466), verweist mit den drei Adjektiven auf jene ästhetischen Tendenzen der Literaturszene, die sich nach ihrer Entstehung in der „interkulturellen Literatur“ (2017: 432) langsam als erfolgreiche und zentrale Aspekte des Literaturbetriebs etabliert haben. Was den Chamisso-Preis betrifft, scheint die diesbezügliche Forschung trotz seiner unbestrittenen Zentralität in der literarischen Landschaft der letzten vier Jahrzehnte ausgesprochen begrenzt zu sein. Mit Ausnahme der Magisterarbeit von Franziska Kegler (GCP 2: Kegler 2011) gibt es derzeit keine monographische 18 Einleitung <?page no="19"?> Studie, die sich dem Preis widmet. Tatsächlich hat erst der Abschluss des Projekts (2017) eine umfassende Perspektive auf seinen Verlauf ermöglicht, nach der sich fundierte Bilanzen ziehen lassen. Aspekte der Entwicklung der Auszeichnung werden nur in kurzen Artikeln behandelt, die zeitgleich mit ihrer Tätigkeit veröffentlicht wurden. Am umfas‐ sendsten sind aus historischer Sicht die retrospektiven Beiträge der Stifter: innen selbst: Karl Esselborn (2004; 2009), Ackermann (2004) und Weinrich (2008). Esselborn skizziert in seinen beiden Artikeln die wichtigsten Veränderungen in den Profilen der Preisträger: innen und betont dabei auch die Rolle des Projekts für die Verbreitung der Literatur „interkultureller“ Autor: innen. Ähnlich sieht es bei Ackermann aus, die den Impuls des Chamisso-Preises für die Schaffung eines Kanons interkultureller Literatur hervorhebt. Weinrichs Artikel bietet schließlich einen Rückblick auf die Pilotprojekte, die vor der Gründung des Preises entwickelt wurden, ordnet diese Aktivitäten in das kulturelle Szenario der damaligen Zeit ein und hebt ihre innovative Tragweite hervor. Gerade weil sie aus einer, wenn man so will, internen Perspektive und zeitgleich mit den Aktivitäten des Preises verfasst wurden, fehlt diesen Rekonstruktionen eine kritische Auseinandersetzung mit der Funktion, die der Preis im Literaturbetrieb ausübte. Eine erste Reflexion über die ambivalente Funktion des Preises im deutschen Literaturraum findet sich im Artikel von René Kegelmann (2010), der die Tätigkeit des Preises zwischen den beiden Extremen der „Etikettierungs“- und „Türöffner“-Funktion gegenüber den „Autoren anderskultureller Herkunft“ verortet (2010: 13). Wie Kegelmann feststellt, ermöglichte der Preis einerseits den Zugang zum deutschen Literaturbetrieb, andererseits drohte er jedoch auch, die Poetik der Preisträger: innen auf die bloße Repräsentation kultureller Vielfalt zu reduzieren. Diese Studie, die sieben Jahre vor der Einstellung des Preises veröffentlicht wurde, hat zweifelsohne ihre Grenzen, da ein umfassender Überblick über die Entwicklung des Preises fehlt. Dennoch bleibt Kegelmanns Artikel der einzige, der die Veränderungen der Symbolik des Chamisso-Preises im Verlauf seiner Existenz beleuchtet hat. Der Beitrag von Eszter Pabis (2018) befasst sich mit dem von Kegelmann her‐ vorgehobenen Widerspruch und betrachtet ihn aus einer kulturwissenschaft‐ lichen Perspektive. Der Artikel zeigt, dass das Ziel des Preises von Anfang an darin bestand, die Grenzen der deutschen Literatur auf Autor: innen zu erweitern, die als „Ausländer“ galten, d. h. ein Ziel der kulturellen Inklusion zu verfolgen. Um dieses Ziel zu erreichen, sahen sich die Initiatoren des Chamisso- Preises jedoch veranlasst, einen Literaturpreis zu gründen, der auf einer impli‐ ziten Differenz zwischen „‚ausländischen‘“ Autor: innen, d. h. den potenziellen Bisherige Forschungsansätze und neue Perspektiven 19 <?page no="20"?> Preisträgern, und ‚einheimischen‘ beruht, die den Preis nicht erhalten konnten. Der Grundwiderspruch des Projekts bestehe also darin, dass es eine explizite Inklusionsabsicht gibt, die jedoch von einem impliziten Akt der Exklusion ausgeht. Dieser Artikel hat den Schlüssel dazu geliefert, die Parabel des Preises in einer Dialektik zwischen diesen beiden Polen zu interpretieren, weshalb der Bezug auf Pabis Studie im Titel des Buches explizit gemacht wurde. Der Artikel von Anne Röhrborn (2021) vertieft Pabis’ Perspektive, indem er sich auf einige Dokumente im Marbacher Archiv bezieht und das Projekt im Hinblick auf seine Funktion als Literaturpreis betrachtet. Röhrborn skiz‐ ziert kurz die Veränderung der Programmatik des Chamisso-Preises sowie die kontroverse Beendigung des Projekts und verortet sie in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion. Die vorliegende Studie erweitert diese Arbeit, indem sie die Veränderungen in der Programmatik des Chamisso-Preises von seinen Pilotprojekten bis zu seinem Abschluss detailliert untersucht und dabei auch die Mechanismen in den Blick nimmt, die das Projekt in seiner Spezifik als Literaturpreis auszeichnen. In methodischer Hinsicht profitiert die vorliegende Studie von den Entwick‐ lungen in der Literaturpreisforschung, die durch Impulse aus Forschungspro‐ jekten, Forschungsgruppen, Tagungen, Büchern und Artikeln in jüngster Zeit entstanden sind. Neben der Übersicht über deutsche Literaturpreise von Burck‐ hard Dücker und Verena Neumann (2005) sind die von Dennis Borghardt, Sarah Maaß und Alexandra Pontzen herausgegebenen Bücher (2020a), sowie die Bände von Christoph Jürgensen und Antonius Weixler (2021a) und von Borghardt und Maaß (2022) zentrale Werke der Literaturpreisforschung in Deutschland. Diese Studien vertiefen ja einzelne Fälle, schlagen jedoch hauptsächlich methodische Einsichten vor, um die verschiedenen Facetten der Phänomenologie des Rituals von Literaturpreisen und ihrer Dynamiken der Valorisation zu erforschen. Sie teilen die Einschätzung, dass Literaturpreise Schnittstellen für literarische und soziokulturelle Diskurse darstellen und dass sie die Entwicklung von Wertordnungen nicht nur im Literaturbetrieb, sondern auch in der breiten Gesellschaft beeinflussen. Ein zentraler methodischer Bezugspunkt für diese Arbeit war der Beitrag von Christoph Jürgensen (2013) über die Konsekrationswirkung von Litera‐ turpreisen in der deutschen Gegenwartslandschaft. Nach Jürgensen erfüllen Literaturpreise drei Hauptfunktionen: eine „soziale Funktion“, die sich auf die Preisträger: innen bezieht und sie „mit ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital“ ausstattet; eine „kulturpolitische Funktion“, indem „li‐ terarische Werte“ sowie „außerliterarische Qualitäten“ gefördert werden; und eine „repräsentative Funktion“, durch welche die Preisträger: innen in gewisser 20 Einleitung <?page no="21"?> Weise die Literaturszene repräsentieren und die preisverleihende Institution selbst ein bestimmtes Image erhält. Alle diese Funktionen, insbesondere die erste und die dritte, sind für den Chamisso-Preis äußerst relevant. Die Chamisso-Literatur ist noch nicht als Gegenstand kritischer Studien be‐ trachtet worden. Die Bezeichnung wird oft als nicht wissenschaftlich fundierter Oberbegriff verwendet, um Studien zu vereinen, die verschiedenen Chamisso- Preisträger: innen gewidmet sind, wie in der von Nazli Hodaie und Simone Malaguti (2017) herausgegebenen thematischen Ausgabe der Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht oder in dem von Jörg Roche herausge‐ gebenen Band (2009) zur Entwicklung der Disziplin Deutsch als Fremdsprache nachgezeichnet wird. In beiden Studien wird die Chamisso-Literatur vor allem in Bezug auf ihr didaktisches Potenzial betrachtet, eine Perspektive, die auch Antonella Catone (2016) in ihrer Studie zum Deutschunterricht im italienischen Kontext einnimmt. Für Catone stellt die Chamisso-Literatur einen „Spiegel der Veränderungen in den europäischen Gesellschaften“ (2018: 18) dar. In der vorliegenden Arbeit wird diese Perspektive, wie erwähnt, geteilt, allerdings nur insofern, als dass die Kodifizierung selbst, die zur Entstehung der Chamisso- Literatur führt, ein Indikator für die Veränderungen in der deutschen Gegen‐ wartskultur ist. Die vorliegende Arbeit vereint die unterschiedlichen Perspektiven der hier genannten Studien, die den Chamisso-Preis jeweils aus literaturwissenschaft‐ licher, literatursoziologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht betrachten, und damit eine wichtige Lücke in der Forschung zur deutschsprachigen Gegen‐ wartsliteratur schließt. Letztendlich fügt sich diese Arbeit auch in die Forschung zur ‚literarischen Mehrsprachigkeit‘, speziell in die jüngste Richtung, die schwerpunktmäßig ihre kulturpolitische Natur jenseits der Textualität herausarbeitet. In der wichtigsten Veröffentlichung, die dieses Verständnis der literarischen Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum hervorbringt (Dembeck/ Parr 2017), wird darauf aufmerksam gemacht, dass sie aus dieser Perspektive als mehrschichtige Re‐ flexion der Kulturdifferenz betrachtet wird (Dembeck 2017: 17). Im selben Handbuch stellt Arvi Sepp (2017) fest, dass sich literarische Mehrsprachigkeit weder auf die Koexistenz bzw. Begegnung verschiedener Sprachen in einem Text noch auf eine realistische Darstellung der gesellschaftlichen Kommunika‐ tionsbedingungen beschränken lässt, und auch nicht auf die direkte Spiegelung der Mehrsprachigkeit der Autor: innen. Vielmehr sei ihre „Funktion“ der Haupt‐ punkt, und diese sei „nicht primär pragmatischer Natur, sondern vielmehr ästhetisch und ethisch bedingt. Ihr Ziel ist eher symbolisch als realistisch: Sie symbolisiert die Varietät, den Kontakt und die Vermischung von Kulturen Bisherige Forschungsansätze und neue Perspektiven 21 <?page no="22"?> 5 Besonders ausgeprägt ist dieses Denken bei Johann Gottfried Herder, wie in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 (vgl. Herder 1985) zu finden ist. und Sprachen“ (2017: 53). So verstanden gilt Mehrsprachigkeit also als eine ästhetische und ideologische Ausrichtung der Gesellschaft, die traditionelle Vorstellungen von Identität und Zugehörigkeit herausfordert. Denn im westeu‐ ropäischen „Sprachdenken“ steht die Mehrsprachigkeit, laut Trabant (2006), im Kontrast zur Einsprachigkeit, die die dominierende und grundlegende Sprachideologie dieser Gesellschaften repräsentiert. Einsprachigkeit gilt in diesem Sinne als konzeptioneller Baustein der symbolischen, diskursiven und institutionellen Konstruktion der Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert und wurde im sprachphilosophischen Diskurs der gleichen Epoche als ein Konzept von Einheit und Exklusivität entwickelt 5 (vgl. Trabant 2006; Yildiz 2012; Gramling 2016; Dembeck 2017). Nach dieser Perspektive lassen sich Sprachen scharf voneinander abgrenzen, und diese Unterscheidung wird nicht als künstlich betrachtet, sondern als ein inhärentes Merkmal ihrer Natur. Auf dieser Grundlage werden unabhängige nationale Räume durch verschiedene Nationalsprachen voneinander unterschieden, und die Zugehörigkeit jedes Individuums wird durch seine Muttersprache zu einer nationalen Gemeinschaft bestimmt, die gleichzeitig die privilegierte Dimension sowohl für die Entfaltung als auch für den Ausdruck der individuellen Identität darstellt (vgl. Dembeck 2017: 17-22). Folglich gehören zur literarischen Mehrsprachigkeit nicht nur formale Strategien der Sprachmischung bzw. -hybridisierung, sondern auch thematische und poetologische Überlegungen zum Kontrast zwischen einer mehrsprachigen und einer einsprachigen Vorstellung der individuellen und gesellschaftlichen Identitäten. Im vorliegenden Buch wurde von diesem breiten Konzept der literarischen Mehrsprachigkeit ausgegangen. Diese wird erstens in der Untersuchung der Entwicklung des Chamisso-Preises als prägnantestes Merkmal des durch seine Aktivitäten gezeichneten literarischen Raums, der Chamisso-Literatur, betrachtet. Zweitens wird sie als verhandeltes Thema der Inszenierung der Chamisso-Autoren erforscht. Und schließlich wird sie als Charakteristikum der einzelnen Werke betrachtet, die in dieser Studie berücksichtigt werden. Theoretisch-methodologische Überlegungen Der erste methodologische Bezugspunkt der Arbeit ist Michel Foucaults Dis‐ kursbegriff und seine Methode der ‚archäologischen‘ Beschreibung, die der Philosoph insbesondere in seinem Buch Archäologie des Wissens (1981, frz. 22 Einleitung <?page no="23"?> L’Archéologie du savoir, 1969) und in Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen (1987, frz. Histoire de la sexualité. La Volonté de savoir, 1976) entwickelte. Mit ‚Diskurs‘ meint Foucault das institutionalisierte verbale Netzwerk, das die Formulierung und Organisation von Wissen bestimmt. Foucault argumentiert, dass eine Gesellschaft über einen definierten epistemologischen Rahmen in Bezug auf ein bestimmtes diskursives Objekt verfügt, der nicht nur die Art und Weise beeinflusst, in der dieses Objekt verstanden und diskutiert werden kann, sondern auch a priori seine Entstehung als Wissensobjekt selbst bestimmt. Aus diesem Grund sollte die Bildung des Diskurses Gegenstand der Untersuchung sein: Man muß erneut jene völlig fertiggestellten Synthesen, jene Gruppierungen in Frage stellen, die man gewöhnlich vor jeder Prüfung anerkennt, jene Verbindungen, deren Gültigkeit ohne weiteres zugestanden wird. […] Man muß auch angesichts jener Unterteilungen und Gruppierungen unruhig werden, die uns vertraut geworden sind. (Foucault 1981: 34) Die Forschungsarbeit, die für das Verfassen des vorliegenden Buches unter‐ nommen wurde, untersuchte nicht nur, wann Autor: innen nicht (nur) deutscher Herkunft bzw. Sprache begannen, auf Deutsch zu publizieren. Die Fragestellung lautete vielmehr: Wann begann man von ‚ausländischen Autoren‘ zu sprechen, wann also hielt man es für notwendig, das Vorhandensein dieses Phänomens zu sanktionieren? Durch eine ‚archäologische‘ Beschreibung der Sekundärliteratur war es möglich, die Entstehung des Diskursgegenstandes ‚Ausländerliteratur‘ auf den Beginn der 1980er Jahre zu verlegen und die Einflusssphäre des Adelbert-von-Chamisso-Preises als seinen Artikulationsraum anzuerkennen. Um die Zusammensetzung des deutschen Literaturbetriebs in den Jahren dieser diskursiven Formierung zu analysieren und insbesondere die Funktion des Chamisso-Preises als schöpferische Institution eines neuen Kanons zu betrachten, war es erforderlich, die Foucault’sche Perspektive mit der Feldthe‐ orie zu verbinden, die Pierre Bourdieu besonders in seinem Werk Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1987, frz. La Distinction. Critique sociale du jugement, 1979) entwickelte und später im Werk Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Felds (2001, frz. Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, 1992) spezifisch auf den literarischen Bereich ausweitete. Die Feldtheorie ist eine Gesellschaftstheorie, nach der die Gesellschaft in verschiedene Bereiche aufgeteilt ist, die als ‚Felder‘ bezeichnet werden. Diese be‐ stehen aus einem Geflecht von Positionen, die im Dialog und im Kontrast zuein‐ ander stehen. Die Felder unterscheiden sich je nach ihrer Struktur und Dynamik; Theoretisch-methodologische Überlegungen 23 <?page no="24"?> zu den wichtigsten gehören das ökonomische, das politische, das kulturelle und das militärische Feld. Personen oder Institutionen, die zu einem Feld gehören, werden als ‚Akteure‘ bezeichnet. Im literarischen Feld umfassen die Akteure beispielsweise Schriftsteller: innen, Verleger: innen, Literaturkritiker: innen, aber auch literarische Institutionen. Innerhalb jedes Feldes entwickelt sich ein Kampf zwischen den Akteuren, der im Falle des literarischen Feldes um „symbolische Güter“ ausgetragen wird (vgl. Bourdieu 2001: 134-144). Dieser Kampf zielt darauf ab, neue Positionen einzuführen oder bestehende zu stärken. Zentral in Bourdieus Theorie ist die Ausweitung des marxistischen Konzepts des Kapitals über den rein ökonomisch-produktiven Sinn hinaus. Für Bourdieu ist Kapital der Wertbestand, den ein Akteur in einem beliebigen Feld besitzt und der seine Position, seine Bedeutung sowie die Bandbreite der möglichen Positionen, die er in dem Feld einnehmen kann, und die Aktionen, die er ausführen kann, bestimmt. Im literarischen Feld ist nicht nur das ökonomische Kapital, sondern vor allem das „symbolische Kapital“ zentral, das den immateriellen Wert eines Akteurs darstellt und die Qualität seiner Produktionen garantiert (Bourdieu 2001: passim; bes. 228-233; 413 ff; 422-431). Aus dem symbolischen Kapital, d. h. dem ‚Namen‘ der Akteure, leitet sich das „Konsekrationskapital“ ab, das „die Macht zur Konsekration von Objekten […] und von Personen […]“ beinhaltet, also die Macht, Wert zu verleihen, mit anderen Worten, ihr eigenes symbolisches Kapital zu übertragen (2001: passim, besonders 239, 360-365). „Konsekrationsinstanzen“ sind demnach Akteure im literarischen Feld, die über ein „Konsekrationskapital“ verfügen und „Konsekrationsmechanismen“ aktivieren. Daraus folgt, dass für Bourdieu der Wert literarischer Werke nicht primär aus ihrer intrinsischen ästhetischen Qualität entsteht, sondern vielmehr das Produkt der kontingenten Feldkonjunktur ist (Bourdieu 2001: 357 und 360-365). Darüber hinaus lassen sich nach Bourdieu die unterschiedlichen Konzep‐ tionen, die von den verschiedenen Akteuren im Feld verfolgt werden, als nomoi definieren. Unter nomos versteht der Soziologe das „grundlegende Gesetz“ eines sozialen Universums, das „zugleich in den objektiven Strukturen eines gesellschaftlichen Regelunterworfenen Universums begründet […], und in den mentalen Strukturen derjenigen, die sich darin aufhalten und von daher die der immanenten Logik seines Funktionierens einbeschriebenen Imperative als selbstverständlich hinnehmen tendieren“ (Bourdieu 2001: 104). Die Durchset‐ zung eines neuen nomos beinhaltet die Modifizierung der Grenzziehungsregeln im Feld und löst Definitionskämpfe aus: „Jeder versucht, die Grenzen des Feldes so abzustecken, dass ihr Verlauf den eigenen Interessen entgegenkommt, oder […] seine Definition der wahren Zugehörigkeit zum Feld […] durchzusetzen - 24 Einleitung <?page no="25"?> 6 Dieser Forschungsansatz wird im dritten Kapitel dieser Arbeit vertieft. die Definition also, die am geeignetsten ist, ihm selbst das Recht zu verleihen, so zu sein, wie er ist“ (Bourdieu 2001: 133). Bourdieu stellt zudem fest, dass sich ein neuer Raum im literarischen Feld durch die Konstruktion einer neuen Autorenfigur durchsetzt (Bourdieu 2001: 184; vgl. dazu auch 282-339). Ausgehend von Bourdieus Feldtheorie lässt sich der Chamisso-Preis als die erste und wichtigste ‚Konsekrationsinstanz‘ für ‚Ausländerautoren‘ betrachten, die in ihrem Einflussbereich einen neuen Diskursgegenstand definierte und einen neuen literarischen Raum umschrieb, der hier als Chamisso-Literatur bezeichnet wird. Im Zentrum dieses neuen Raums steht die Konstruktion der neuen Autorenfigur namens ‚Chamisso-Autor‘. Um die Konstruktion des neuen Autorenprofils der Chamisso-Autoren zu umreißen, wurde erneut auf eine dis‐ kursive und archäologische Analyse zurückgegriffen, die an der Dokumentation der Chamisso-Preis-Bestände des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar (DLA) durchgeführt wurde (vgl. nächster Abschnitt) und vom Konzept der Autorinszenierung ausgeht. Jürgensen und Kaiser (2011) verstehen darunter die Konstruktionspraktiken eines Autorenbildes, das sich von der realen Person dahinter unterscheidet und einer „sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Po‐ sition innerhalb des literarischen Feldes“ entspricht (2011: 10). Schließlich ergänzt die literatursoziologische bzw. kulturkritische Methodik dieser Arbeit ein literaturanalytischer Teil, der aus zwei Schwerpunkten besteht. Einerseits wurde die Entwicklung der Chamisso-Literatur rekonstruiert. Dabei wurden Wendepunkte bei ästhetischen Innovationen identifiziert, die bei ihrer Rezeption Debatten in Gang gesetzt haben. In diesem Zusammenhang spielt die literarische Mehrsprachigkeit im weiteren Sinne eine zentrale Rolle. Anderer‐ seits spiegeln sich viele der prägenden Themen des institutionellen Diskurses um den Chamisso-Preis als literarische Motive in den ausgezeichneten Texten wider: die Konstruktion von Subjekten, die als Fremde gelten, die Dynamiken ihrer kulturellen Inklusion und Exklusion, die Erfahrung der Fremdheit im Kontext von Migrationsbewegungen oder Grenzgebieten. Dieser komplexe Themencluster wird in diesem Buch anhand des Ansatzes der interkulturellen Literaturforschung (vgl. Mecklenburg 1987; Wierlacher/ Bogner 2003; Hoffmann 2006) 6 an Texten zweier Autorinnen näher untersucht, die als besonders bedeu‐ tend für den Chamisso-Preis und die Chamisso-Literatur gelten: Terézia Mora und Uljana Wolf. Dabei wird zunächst ihre Selbstinszenierung im Kontrast und im Dialog mit den durch den Preis inszenierten Profilen als Chamisso- Autorinnen präsentiert. Anschließend werden ihre bis zur Auszeichnung mit dem Chamisso-Preis veröffentlichten Werke hinsichtlich der Literarisierung Theoretisch-methodologische Überlegungen 25 <?page no="26"?> des Zwischenspiels zwischen dem Bereich des Fremden und dem des Eigenen untersucht. Zur Struktur dieses Buches Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel widmet sich der Entstehung des Phänomens der literarischen Produktion von Autor: innen nichtdeutscher (oder nicht nur deutscher) Herkunft. Es lässt sich in den 1980er Jahren verorten, obwohl die Existenz solcher Texte keine absolute Neuheit im deutschsprachigen Literaturraum darstellte. Bereits ab den 1960er Jahren wurden erste Werke veröffentlicht, die auf die Migrationsphänomene der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Diese Entwicklung ist auf zwei im literarischen Szenario eingetretene Veränderungen zurückzuführen, die eng miteinander verwoben sind: Einerseits wird im literarischen Diskurs die Herkunft der Autor: innen zu einem Kriterium der literarischen Einordnung, d. h. im Sinne von Foucault zeichnet sich ein neues Diskursobjekt ab. Andererseits beginnen im literarischen Feld zwei Gruppen von Akteuren aktiv zu werden: die Südwind-Schriftsteller und die Forschungsgruppe des Instituts für Deutsch als Fremdsprache in München. Diese Gruppen agierten auf der Ebene der Produktion, der Verbreitung und der Rezeption dieses Phänomens. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie sich dieser undifferenzierte und instabile literarische Raum mit der Einführung des Adelbert-von-Chamisso-Preises im Jahr 1985 stabilisierte, der in seiner Einflusssphäre die Geburt eines neuen Unterfeldes im literarischen Bereich sanktionierte. Hier werden die Geschichte des Preises, seine hybride Zielsetzung sowie seine Vergabe- und Konsekrati‐ onsmechanismen untersucht. Besondere Aufmerksamkeit wird die Wahl und Aneignung des Preispatrons Adelbert von Chamisso geschenkt. Zudem werden die Merkmale und Funktionen herausgearbeitet, die den Chamisso-Preis von anderen Literaturpreisen unterscheiden. Im dritten Kapitel wird die Entwicklung der Chamisso-Literatur über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten betrachtet. Die entscheidenden Wendepunkte dieser Entwicklung werden anhand der literarischen Erfahrungen einiger Preisträger: innen herausgearbeitet. Diese Wendepunkte betreffen jedoch nicht primär die ästhetische Ebene oder die formalen Innovationen im Schreiben der ausgewählten Autor: innen, sondern vor allem die Veränderungen in der Rezeption, d. h. die Auswirkungen ihrer literarischen Tätigkeit auf den Litera‐ turbetrieb. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der literarischen Mehrspra‐ chigkeit und ihrer Rezeption geschenkt, die sich von den 1980er Jahren bis heute drastisch verändert hat. Zudem wird hier die Frage nach der Zuschreibung 26 Einleitung <?page no="27"?> der ‚Ausländeridentität‘ als literarisches Interpretationskriterium, die bereits im ersten Kapitel aufgeworfen wurde, weiter vertieft. Ähnlich wie im ersten Kapitel nimmt daher die kritische Auseinandersetzung mit dem literaturwissenschaft‐ lichen Diskurs einen zentralen Platz in der Untersuchung ein. Das vorletzte Kapitel widmet sich der diachronen Rekonstruktion des Pro‐ zesses der Verhandlung von Repräsentation und Positionierung kultureller Andersartigkeit im Rahmen der Chamisso-Literatur, insbesondere durch die Inszenierung der Schriftsteller: innen als Chamisso-Autoren während der Preis‐ verleihungen. Die Rekonstruktion des Verlaufs des Preises zeigt allgemeine Trends auf, die jedoch nicht linear verlaufen. Wenn man den Preis aus an‐ deren Blickwinkeln betrachten würde, wie z. B. der Zusammensetzung der Jury, könnten die identifizierten Wendepunkte sicherlich anders aussehen. Der Weg, den der Chamisso-Preis eingeschlagen hat, ist offensichtlich von Widersprüchen und Ambivalenzen geprägt, die trotz veränderter Kriterien für die Auswahl der Autor: innen und ihrer diskursiven Inszenierung nie vollständig aufgelöst wurden. Obwohl der Chamisso-Preis sowohl auf die literarische als auch auf die zivilgesellschaftliche und kulturelle Inklusion von Autor: innen abzielt, löst er gleichzeitig Ausgrenzungsprozesse aus, die im Verlauf seiner Existenz wiederholt und in unterschiedlicher Form hervorgetreten sind. Dieses Kapitel widmet sich der Beschreibung und Diskussion dieser Entwicklungen. Die Dynamiken der Grenzziehung spiegeln sich ästhetisch und literarisch in den Texten der beiden Autorinnen wider, denen das fünfte Kapitel gewidmet ist, nämlich Terézia Mora und Uljana Wolf. Trotz erheblicher Unterschiede in ihren Poetiken stellen beide Autorinnen eine interessante Verbindung zwischen den beiden Diskursen, dem literarischen und dem institutionellen, innerhalb der Chamisso-Literatur dar. Erstens sind ihre Werke, die zur Verleihung des Chamisso-Preises geführt haben, durch eine komplexe Reflexion über den Begriff der ‚Fremdheit‘ und die Zuschreibung der Rolle des ‚Fremden‘ gekenn‐ zeichnet, insbesondere in ihrer sprachlichen Dimension. Zweitens markieren beide Autorinnen bedeutende Schritte auf dem Weg, den der Preis beschreitet: Mora ist die erste Autorin einer extraterritorialen deutschsprachigen Minderheit - sie wurde in Sopron innerhalb der deutschsprachigen ungarischen Minderheit der Donauschwaben geboren -, die den Chamisso-Preis erhielt, während Wolf die erste Preisträgerin ist, die allein aufgrund ihrer literarischen Produktion und nicht aufgrund ihrer Biographie ausgezeichnet wurde. Zur Struktur dieses Buches 27 <?page no="28"?> 7 Für die Konsultation und Veröffentlichung dieses Materials habe ich die Genehmi‐ gungen der jeweiligen Rechtinhaber: innen erhalten, wofür ich dankbar bin. Es sei darauf hingewiesen, dass ich die Urheberrechtsinhaber: innen von Irmgard Ackermann nicht ausfindig machen konnte. Berechtigte Ansprüche (sollten diese noch in Erschei‐ nung treten) werden auch nachträglich berücksichtigt. Zum konsultierten Archivmaterial Das Hauptmaterial, das dieser Studie zugrunde liegt, ist die zum Teil unveröf‐ fentlichte Dokumentation im Deutschen Literaturarchiv Marbach der Schiller- Gesellschaft. Diese wurde von Irmgard Ackermann zusammengetragen und deckt in ihren vier Beständen einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren ab (die Dokumente stammen aus den späten 1970er Jahren bis 2003): 7 1) A: Chamisso-Preis-Sammlung, bestehend aus 33 Ordnern, die nicht index‐ ierte Dokumente und Manuskripte der Pilotprojekte des Chamisso-Preises ent‐ halten. Es handelt um die Ausschreibungen, die eingereichten Manuskripte, die Anmeldeunterlagen der einzelnen Teilnehmer: innen, das redaktionelle Material und die Publikationsentwürfe sowie die umfangreiche Korrespondenz zwischen den Organisator: innen einerseits und dem Verlag dtv, den verschiedenen Teilnehmer: innen und den Partner: innen andererseits. Die Dokumente dieses Bestandes werden in dieser Arbeit durch die Abkürzung ‚ACP‘ gekennzeichnet, gefolgt von der offiziellen Ordnernummer (O: Ordner 1 bis 33) und einer von mir gewählten Nummer zur Identifizierung des jeweiligen Dokuments. 2) G: Chamisso-Preis-Sammlung bezieht sich auf verschiedene veröffentlichte Bände der Primärsowie Sekundärliteratur, die Ackermann als konstituierenden Teil der Geschichte des Chamisso-Preises betrachtete; dieser Fundus erwies sich als ein sehr nützlicher Ausgangspunkt für die Zusammenstellung des Korpus dieser Studie. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das Material hier überwiegend auch in anderen deutschen Bibliotheken vorhanden ist. Aus diesem Grund wird in der Bibliographie nur dann auf diesen Fonds Bezug genommen, wenn es sich um schwer zugängliche Veröffentlichungen handelt. 3) H: Chamisso-Preis-Sammlung, die aus 8 Kästen bestehende Sammlung enthält die verschiedenen Dokumente des Literaturpreises. Die wichtigsten Unterlagen sind dabei: die Pressemitteilungen, die das Projekt beschreiben und die seinen Umfang sowie die Vergabekriterien erkennen lassen; die Grußworte der verschiedenen Vertreter: innen der beteiligten Institutionen (Bayerische Akademie der Schönen Künste, Institut für Deutsch als Fremdsprache, Robert Bosch Stiftung); die Laudationes an die Preisträger: innen, die Dankesreden der ausgezeichneten Autor: innen; die Preisurkunden, die auf Aspekte der poe‐ tischen oder künstlerischen Profile der jeweiligen Preisträger: innen hinweisen, 28 Einleitung <?page no="29"?> die für die Verleihung des Preises entscheidend waren. In dieser Arbeit werden diese Dokumente durch die Abkürzung ‚HCP‘ gekennzeichnet, gefolgt von der offiziellen Kastennummer (K1 oder K2; Kasten 1: „Preisträger 90-2003“; Kasten 2: „Aug 94 - März 97 - Bibliographien - Preisträger 85-89“), der offiziellen Ordnernummer (O3: 1985-1990; O2: 1991-1995: O1: 1996-2003) und einer von mir gewählten Nummer zur Identifizierung des jeweiligen Dokuments (1: Pressemitteilung; 2: Grußworte; 3: Vortrag über Adelbert-von-Chamisso; 4: Urkunde; 5: Laudatio; 6: Dankerede; 7: Zeitungsartikel). 4) Schließlich gehört dazu auch die Z: Chamisso-Preis-Sammlung, die ver‐ schiedene Mediendokumentation umfasst. Obwohl sie für diese Arbeit konsul‐ tiert wurde, wurde sie als nicht besonders relevant befunden. Seit 2003 wurden die Unterlagen des Chamisso-Preises nicht mehr von Irmgard Ackermann, sondern von der Robert Bosch Stiftung gesammelt und waren teilweise bis etwa 2020 auf deren Website online zugänglich (Dokumente von 2013 bis 2017). Anderes Material befindet sich im Privatarchiv der Robert Bosch Stiftung (2004 bis 2012). Diese Unterlagen sind jedoch nicht so umfassend wie die Dokumentation in Marbach. Aus diesem Grund ist der Überblick über den jüngsten Teil der Geschichte des Preises notwendigerweise knapper gehalten als bei den vorangegangenen Jahren, was auch durch die zeitliche Nähe zur Gegenwart bedingt ist. Zum konsultierten Archivmaterial 29 <?page no="31"?> 8 Chamisso-Preisträger 1987. 9 Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Türkischen, die Ören selbst zusammen mit Hanspeter Achmed Schmiede und Johannes Schenk anfertigte. 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) 1.1 Hintergrund und frühe literarische Produktion Die Chamisso-Literatur wurzelt in der literarischen Darstellung der Arbeits‐ migration der Nachkriegszeit, insbesondere im Kontext der türkischen und italienischen Minderheiten. Daher wird im vorliegenden Buch das Jahr 1955, das Datum des ersten Anwerbeabkommens mit Italien, als Beginn ihrer Anfangs‐ phase betrachtet. In diesem Kontext kannte die von ‚Ausländern‘ geschriebene Literatur bis auf wenige Ausnahmen eine Verbreitung, die auf das Umfeld der ‚ausländischen‘ Schriftsteller: innen und die kulturellen Vereine der natio‐ nalen Minderheiten beschränkt war (vgl. Chiellino 2000b: 51-54). Das erste Beispiel für diese Literatur findet Gino Carmine Chiellino 8 (2000c: 63-65) in dem autobiographischen Roman Arrivederci, Deutschland! (1964), von Gianni Bertagnoli auf Deutsch verfasst wurde. Der Text folgt dem Protagonisten, einem Gastarbeiter, auf seinem Migrationsweg von der Anwerbung in Norditalien bis zur Arbeit als Maurer im Süden der BRD. Im Vordergrund des Romans steht die psychologische Befindlichkeit des Protagonisten, die durch Entfremdung sowie Identitätszersplitterung gekennzeichnet ist, zusammen mit der Schilderung und Anprangerung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Einwandernden. Die Arbeitsmigration als literarischer Stoff inspiriert auch das Schreiben Aras Örens, einem türkischen Intellektuellen im Exil in der BRD. Laut Sölçün (2000: 136-137) stellt er einen der ersten Schriftsteller türkischer Herkunft dar, der sich in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, zusammen mit Yüksel Pazarkaya und Güney Dal, Gehör verschaffen konnte. Ören veröffentlichte mehrere Kurz‐ geschichten und Gedichte, die den Migrationsphänomenen nach Europa und Westdeutschland gewidmet sind. Seine Geschichten spielen vor allem in den Berliner Einwanderervierteln - Kreuzberg und Neukölln -, die als Keimzellen des Multikulturalismus im Rahmen einer sich wandelnden europäischen Gesell‐ schaft beschrieben werden (vgl. Sölçün 2000: 136-137). Die Literarisierung des multikulturellen Zusammenlebens findet ebenfalls Ausdruck in Örens bekann‐ testem Werk, dem dreibändigen Gedicht Was will Niyazi in der Naunynstraße, das 1973 auf Deutsch erschien. 9 Örens Texte fanden bis in die 1980er Jahre hinein <?page no="32"?> 10 Chamisso-Preisträger 1987. 11 Chamisso-Preisträgerin 1999. 12 Chamisso-Preisträgerin 2005. nur eine begrenzte Verbreitung (vgl. Pazarkaya 1986: 16), als er 1985 zum ersten Chamisso-Preisträger ernannt wurde, eine Auszeichnung, die rückblickend die Vorreiterrolle des Schriftstellers in Bezug auf die literarischen Entwicklungen dieses Jahrzehnts bestätigte. In denselben Jahren können die literarischen Anfänge von Franco Biondi, 10 der 1965 im Alter von siebzehn Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kam, verortet werden. Biondis erste Gedichtsammlung, Nicht nur gastarbeiter‐ deutsch (1979), wurde im Selbstverlag veröffentlicht und ähnlich wie Örens frühzeitige Produktion hatte außerhalb der literarischen Kreise der in die BRD ausgewanderten Italiener: innen kaum Verbreitung. Die Sammlung besteht aus Gedichten, die in einem hybriden Deutsch geschrieben sind, das der Autor „gastarbeiterdeutsch“ nennt. Diese Sprache umfasst Formulierungen, die im damaligen Diskurs als ‚unkorrekt‘ wahrgenommen und den ‚ausländischen‘ Arbeiter: innen zugeschrieben wurden. Biondi wandelt sie in eine poetische Ausdrucksform, wie man im gleichnamigen Gedicht lesen kann: „mein gastar‐ beiterdeutsch ist eng wie das ausländergesetz/ / […] mein gastarbeiterdeutsch ist ein stempel geworden/ darauf steht: / ‚Made in Wesrgermany‘“ [sic! ] (Biondi 1979: 40). Durch die Korrosion der vorherrschenden Sprache emanzipiert sich diese Ausdrucksform von der Rolle des sozialen Stigmas hin zu einem kommunikativen Instrument und erlangt somit künstlerische Würde. Im Gast‐ arbeiterdeutsch lassen sich die Erfahrungen einer Minderheit zum Ausdruck bringen: Es geht um den Alltag zwischen Fabrikarbeit, dem Bahnhof und den gemeinsamen und klaustrophobischen Räumen der Wohnheime (wie in dem Gedicht das geschäft mit dem fick-fick); um die Ausbeutung durch deutsche Ar‐ beitgeber: innen (Deutsche Elegie); sowie die Ausgrenzung und Zurückweisung der Gastarbeiter: innen durch die einheimischen Kollegen (Nicht nur gastarbei‐ terdeutsch). Im Zusammenhang mit den späteren Entwicklungen der Chamisso- Literatur betrachtet, offenbart Biondis Sammlung in nuce ein Element, das in den folgenden Jahrzehnten immer zentraler werden sollte: das mehrsprachige Experimentieren. Es lässt sich behaupten, dass der Band den hybriden Stil von Emine Sevgi Özdamar 11 und die subversive Sprache von Feridun Zaimoğlu 12 um mehr als ein Jahrzehnt vorwegnimmt, nämlich zwei Schreibweisen, die im literarischen Feld der 1990er Jahre eine ganz andere Rezeption erfuhren. In denselben Jahren waren in der Literaturszene auch Schriftsteller: innen nicht-deutscher Herkunft aktiv, die sowohl biografisch als auch ästhetisch weit von der Arbeitsmigration entfernt waren. Das Werk von Pazarkaya, 32 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="33"?> 13 Chamisso-Preisträger 1986. 14 Chamisso-Preisträgerin 1991. einem türkischen Intellektuellen, der ähnlich wie Ören seit 1958 als Exilant in Westdeutschland lebte, fand zum Beispiel in der damaligen Landschaft eine gewisse Resonanz (vgl. Chiellino 2000: 469). In seinen Texten, Kurzgeschichten, Gedichten und Essays, thematisiert der Autor und Übersetzer vor allem seinen Zustand als Ausländer und reflektiert über Migrationsprozesse und die damit verbundenen Veränderungen der Gesellschaft (vgl. Sölçün 2000: 144-145). Im gleichen Zeitraum stellt Pazarkaya auch aufgrund seiner Tätigkeit als Förderer der Kultur eine Schlüsselfigur dar: Mit der Gründung der zweisprachigen Literaturzeitschrift Anadil (1980-1982) initiierte er einen der ersten Kanäle der literarischen Verbreitung innerhalb der türkischen Minderheit, der auch ein Publikum außerhalb ihrer Grenzen erreichen konnte (vgl. Sölçün 2000: 144-145). Neben den Autor: innen von Minderheiten, die gewöhnlich mit Arbeitsmi‐ gration in Verbindung gebracht werden, d. h. vor allem türkischen und italie‐ nischen, lassen sich auch literarische Erfahrungen von Autor: innen erkennen, deren kultureller Hintergrund das Wiederaufleben der mitteleuropäischen Kultur in Deutschland manifestiert. Zu den Erfahrungen, die den Beginn der neuen „Osterweiterung“ (Bürger-Koftis 2008) der kulturellen und literarischen Landschaft signalisieren, gehören die tschechischen Schriftsteller: innen Ota Filip 13 und Libuše Moníková 14 (vgl. Walter 2000: 194-195). Die bisher erwähnten Veröffentlichungen haben in einigen Fällen wenig oder gar keine Resonanz in der Literaturszene (wie im Fall von Biondis Gedicht‐ sammlung); in anderen Fällen erfahren sie eine gewisse Verbreitung, werden aber zunächst nicht als Werke ‚ausländischer‘ Autor: innen wahrgenommen (dies trifft auf Pazarkaya, Filip und Moníková zu). Mit anderen Worten, diese Werke werden zunächst nicht als repräsentativ für ein literarisches Phänomen betrachtet, das durch die nicht-deutsche Herkunft der auf Deutsch schreibenden Autor: innen bestimmt wird. All dies änderte sich im Laufe der 1980er Jahre, als zwei Gruppen mit sehr unterschiedlichen Koordinaten, aber ähnlichen Absichten, begannen, auf der Ebene der Produktion, der Diffusion und der Rezeption von Literatur tätig zu werden und zum ersten Mal von einem neuen literarischen Phänomen sprachen, das einer Kodifizierung und Legitimierung bedurfte. 1.1 Hintergrund und frühe literarische Produktion 33 <?page no="34"?> 15 Chamisso-Preisträger 1993. 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen Die Unzugänglichkeit ‚deutscher‘ Verlagskanäle für Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft motivierte einige Künstler: innen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren dazu, Kulturvereine und Verlagsgruppen zu etablieren, um ihnen eine breitere Verbreitung zu versichern. Franco Biondi, Gino Carmine Chiellino, Jusuf Naoum, Rafik Schami 15 und Suleman Taufiq gründeten 1980 den Polyna‐ tionaler Kunstverein (PoLikunst, 1980-1987) sowie eine Verlagsgruppe, die zwi‐ schen 1980 und 1987 unter dem Namen Südwind-Gastarbeiterdeutsch und dann Südwind-Literatur zwei gleichnamige Reihen herausgab, die dem Schreiben von ‚Ausländern‘ gewidmet waren (vgl. Teraoka 1987). Die Hauptaktivität dieser Gruppe bestand in der Veröffentlichung von Werken ‚ausländischer‘ Schriftsteller: innen, die der marginalisierten und ausbeuterischen Situation der Gastarbeiter: innen im Land gewidmet waren. Bei den Südwind-Autor: innen ging es um Anthologien, die im Rahmen thematischer Ausschreibungen produ‐ ziert wurden, sowie um Romane derselben Mitglieder. Im selben Zeitraum wurde ein weiteres Projekt mit einer ähnlichen Zielset‐ zung ins Leben gerufen. Zwischen 1979 und 1985 beabsichtigten Professor Harald Weinrich und seine Forschungsgruppe am Institut für Deutsch als Fremdsprache der Ludwig-Maximilians-Universität in München, das Schreiben von ‚Ausländern‘ in deutscher Sprache zu untersuchen. Zu diesem Zweck veranstalteten sie auch themenbezogene Literaturwettbewerbe, die sich an ‚Ausländer‘ und nicht-deutschsprachige Personen richteten und die zur Veröf‐ fentlichung mehrerer Anthologien führten. Ausgehend von diesem Material initiierte die Forschungsgruppe die erste wissenschaftliche Behandlung dessen, was als ein eigenständiges literarisches Phänomen angesehen wurde. Laut Thomas Ernst (2013: 286-287) entstand im Rahmen dieser beiden Projekte zum ersten Mal ein neuer diskursiver Raum, in dem das Schreiben von „Ausländern“ eine spezifische Kodifizierung erfuhr und als erkennbares und umschriebenes Phänomen innerhalb der deutschen Kunstlandschaft beob‐ achtet wurde. Es stimmt zwar, dass ‚ausländische‘ Autor: innen bereits vor dem Aufkommen dieser Projekte mehrere Werke veröffentlicht hatten, doch erst durch die Aktivitäten dieser Gruppen wurde die nicht-deutsche Herkunft der Schriftsteller: innen zum zentralen Merkmal ihrer Inszenierung, was auch ermöglichte, eine einheitliche literarische Produktion zu umschreiben. Aus einer feldanalytischen Perspektive heraus ist zu konstatieren, dass beide Gruppen, die zu dieser Zeit durchaus auch zusammen arbeiteten (siehe unten), um die 34 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="35"?> 16 Neben den Gründern von Südwind haben auch José F. Oliver, Tryphon Papastamatelos und Carmine Abate an dieser Anthologie mitgearbeitet (vgl. Werkkreis Literatur der Arbeitswelt 1981). jeweilige Kennzeichnung und Repräsentation dieses neuen Literaturphänomens konkurrierten, da sie alternative nomoi im Sinne Bourdieus vertraten. Im Folgenden werden einige beispielhafte Texte analysiert, die im Rahmen der Aktivitäten dieser Gruppen veröffentlicht wurden, und die jeweiligen Verständ‐ nisse von Literatur kontextuell definieren, wobei das programmatische Material der Projekte sowie die Struktur der veröffentlichten Anthologien und des peritextuellen Materials berücksichtigt werden. 1.2.1 Die Südwind-Schriftstellergruppe Der Hintergrund dieses künstlerischen und redaktionellen Projekts ist die Beteiligung von Biondi und Schami, damals ebenfalls Gastarbeiter, am Werk‐ kreis Literatur der Arbeitswelt in den 1970er Jahren. Innerhalb dieses Projekts förderten Autor: innen und Intellektuelle das Schreiben von Arbeiter: innen, um den Anliegen dieser sozialen Klasse eine poetische Form zu geben (vgl. Seibert 1984: 45). Tatsächlich erschienen Texte von Mitgliedern des Südwinds 16 in einer vom Werkkreis herausgegebenen Anthologie, Sehnsucht im Koffer, die dem Phänomen der Arbeitsmigration gewidmet wurde und vom Fischer Verlag 1981 veröffentlicht wurde. Biondi und Schami distanzierten sich jedoch von dem Projekt, wie ersterer mehrfach betont (vgl. Biondi 1985: 63-64; dazu auch HCP-K2-O3-87-7), da selbst in diesem Umfeld die Stimme der ‚Ausländern‘ der der Einheimischen untergeordnet bleibe. Gerade das Bedürfnis, sich als ‚Ausländer‘ und als ‚Schriftsteller‘ ohne Vermittlung im öffentlichen Diskurs in Deutschland zu Wort zu melden, motivierte Biondi, Chiellino, Naoum, Schami und Taufiq dazu, möglichst autonome Publikations- und Verbreitungskanäle zu schaffen, über die sie ihre eigenen Texte und diejenigen anderer ‚ausländischer‘ Autor: innen drucken konnten. Die Zielsetzung der Gruppe beseelt die Seiten ihres Manifests Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur, das 1981 von Biondi und Schami verfasst wurde. Unter dem Begriff Gastarbeiterliteratur definieren die Begründer des Projekts literarische Texte ‚ausländischer‘ Autoren, die dem untergeordneten Zustand der Ausländer literarische Form geben (vgl. Biondi/ Schami 1981: 128-132). Die Bezeichnung eignet sich eines im Grunde diskriminierenden Begriffs, den des ‚Gastarbeiters‘, an und zeigt dadurch dessen Widersprüche auf: „es [gab] noch nicht einmal Gäste, die gearbeitet haben. Die Vorläufigkeit, die durch das Wort Gast zum Ausdruck gebracht werden 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 35 <?page no="36"?> soll, zerbrach an der Realität; Gastarbeiter sind faktisch ein fester Bestandteil der bundesrepublikanischen Bevölkerung“ (Biondi/ Schami 1981: 134-135, in Fußnote Nr. 1). Ziel des Projekts sei es, dieser Literatur einen autonomen und unvermittelten Publikationskanal zu bieten, um die Unwahrheiten und Trivialisierungen zu überwinden, die den sozio-politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Zustand von ‚Ausländern‘ umgeben: Diese Reihe will dazu beitragen, diese zerstreute, vernachlässigte und unterdrückte Literatur zu erfassen. Dieser kulturelle Widerstand ist wichtig und möglich. […] Durch diese literarische Arbeit sagen die Gastarbeiter praktisch, daß sie keine Vermittler und keine Regisseure brauchen, die zwanzig und mehr Jahre nichts sahen und auf einmal entdecken, daß es sich lohnt, soviel Mist wie möglich an einem Tag zu fördern, damit die schon lange bekannte Tatsache der ‚Lösungsvorschläge‘ unter ihrem Namen patentiert wird. (Biondi/ Schami 1981: 133-134) In der Vision des Projekts falle diese Literatur mit der Thematisierung der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und existenziellen Bedingungen der ‚aus‐ ländischen‘ Arbeitskräfte zusammen und ziele darauf ab, den ‚Ausländern‘ die kollektive Tragweite ihrer Erfahrungen bewusst zu machen (vgl. Biondi/ Schami 1981: 124-126). Einerseits seien die Anwerbeabkommen, die Deutschland mit südeuropäischen und mediterranen Ländern geschlossen hat, Instrumente einer wirtschaftlichen Kolonisierung, die auf dem Rücken der Arbeiter: innen aus‐ getragen werde: Von ihren jeweiligen Regierungen als billige Arbeitskräfte verkauft und von den Deutschen diskriminiert, lebten die Gastarbeiter einen Alltag der Isolation und der Selbstentfremdung (vgl. Biondi/ Schami 1981: 124- 126). Andererseits seien die erfahrenen Ungerechtigkeiten der Gastarbeiter auf alle ‚Ausländer‘ in der BRD auszudehnen, da sie alle dem Ausländergesetz unterliegen, einem Gesetz, das speziell entwickelt wurde, um die Arbeitsmigra‐ tion zu regulieren. Das Ziel der Gastarbeiterliteratur sei es also, ein echtes Klassenbewusstsein und eine transnationale Solidarität unter allen ‚Ausländern‘ zu schaffen (vgl. Biondi/ Schami 1981: 124-126). Es ist anzunehmen, dass laut Biondi und Schami (vgl. 1981: 126-128, 132-134) die Figur des ‚Gastarbeiters‘ als der emblematische Ausdruck der historischen und sozialen Zusammenhänge identifiziert wird, die das Leben der ‚Ausländer‘ be‐ stimmen. Es ist also nicht notwendig, die Erfahrung der Arbeitsmigration zu teilen, aber es ist dennoch unerlässlich, sich im Status des ‚Ausländers‘ zu erkennen, da nur diejenigen, die diese untergeordnete Position und ihre soziopolitischen und wirtschaftlichen Folgen aus erster Hand erfahren haben, sich zu diesem Thema äußern können (vgl. Biondi/ Schami 1981: 124-126). Um die Ziele des kulturellen Widerstands zu verfolgen, muss die Gastarbeiterliteratur notwendigerweise auf 36 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="37"?> 17 Als Südwind-Gastarbeiterdeutsch für den CON-Verlag in Bremen: Im neuen Land (1980); Zwischen Fabrik und Bahnhof (1981); Annäherungen (1982); Wurzeln, hier/ Le radici, qui (1982); Nach dem Gestern/ Dopo ieri. Aus dem Alltag italienischer Emigranten (1983); Zwischen zwei Giganten. Prosa, Lyrik und Grafiken aus dem Gastarbeiteralter (1983). Als Südwind-Literatur für den Neuen Malik Verlag in Kiel: Das Unsichtbare sagen! Prosa und Lyrik aus dem Alltag des Gastarbeiters (1983); Freihändig auf dem Tandem. 30 Frauen aus 11 Ländern (1985). 18 Carmine Abates Den Koffer und weg! Erzählungen (1984); Chiellinos Mein fremder Alltag (1984) und Sehnsucht nach Sprache. Gedichte 1983 - 1985 (1987); Biondis Abschied der zerschellten Jahre. Eine Novelle (1984); Schamis Das letzte Wort der Wanderratte. Märchen, Fabeln und phantastische Geschichten (1984) und Der erste Ritt durchs Nadelöhr. Noch mehr Märchen, Fabeln & phantastische Geschichten (1985); Elena Torossis Tanz der Tintenfische. Gutenachtgeschichten nicht nur für Kinder (1986). Alle Texte sind im Neuen Malik Verlag erschienen. Deutsch geschrieben sein, ein Aspekt, dem das Projektmanifest nur wenige Zeilen widmet (vgl. Biondi/ Schami 1981: 134). Darüber hinaus sei die ästhetische Dimension nicht der Hauptaspekt der literarischen Reflexion dieser Autoren, die stets ihren politischen Absichten und ihrer Denunziation untergeordnet sei: „Es ist sicher, daß nur die wenigsten Autoren mehr oder weniger einen Überblick über Fragen der Ästhetik haben. […] Die Mehrheit der Autoren sind keine eingeweihten Literaten“ (Biondi/ Schami 1981: 134). Dieses Programm manifestierte sich in der Gründung einer Verlagsgruppe im Jahr 1980, die bis 1983 die Reihe Südwind-Gastarbeiterdeutsch mit dem CON Verlag in Bremen und dann bis 1987 die Reihe Südwind-Literatur mit dem Neuen Malik Verlag in Kiel herausgab (Chiellino 2000c: 65-67). Auf den folgenden Seiten werden einige der acht anthologischen Werke 17 und sieben veröffentlichte monographische Werke besprochen. 18 Noch deutlicher als im Manifest schreiben die Herausgeber im Vorwort des ersten Sammelbandes, Im neuen Land (1980), der Literatur eine emanzipatori‐ sche Funktion zu, sowohl gegenüber der Zerstörung der Identität, die mit der Zuschreibung von Etiketten wie ‚Ausländer‘ einhergeht, als auch gegenüber jeglichen folkloristischen Darstellungen: Es leben ca. 4 Millionen Menschen in der Bundesrepublik […], die in der Regel als Ausländer, Gastarbeiter, Arbeitsmigranten bezeichnet werden. Sie arbeiten nicht nur, sondern betätigen sich auch im kulturellen Bereich. Gezeigt wird bis jetzt jedoch nur das Exotische und das Folkloristische. Ist das eigentlich alles, was diese Menschen zu bieten haben? Gewiß nicht. Die vorliegende Anthologie ist der erste Versuch, gemeinsam eine Antwort darauf zu geben. (Biondi et al. 1980: 2) Die veröffentlichten Texte sind also nicht so sehr aus biographischen Gründen in die Erfahrungen der Arbeitsmigration eingebettet, sondern aus Gründen 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 37 <?page no="38"?> 19 Aus den biographischen Notizen am Ende des Bandes geht hervor, dass einige Autor: innen Gastarbeiter: innen waren, während einige aus anderen Gründen, vor allem dem zu studieren, nach Deutschland gekommen waren (siehe Biondi et al. 1980). des politischen Kampfes und der ideologischen Zugehörigkeit: Die Autoren inszenieren sich selbst als Gastarbeiterautoren und treten als Wortführer für die Forderungen der ‚Ausländer‘ auf. 19 Die thematischen Knotenpunkte, die am häufigsten wiederkehren, sind: die kapitalistische Ausbeutung der Gastar‐ beiter: innen und die am Arbeitsplatz erlittenen Misshandlungen (Naoum, So einen Chef haben, 6-29; Chiellino, Der hausgemachte Gastarbeiter, 30-32; An‐ tonio Hernado, Das Gastspiel eines Gastarbeiters, 109-114), sowie die soziale und rechtliche Prekarität, in der sich ‚ausländische‘ Arbeitnehmer: innen und ihre Familien befinden (Tryphon Papastamatelos, Zweite Generation und Dauerau‐ fenthaltsland, 136; Biondi, Und nun schieben sie ab, 137) sowohl der typische Tag eines Gastarbeiters (Schami, Zwischen Traum und Straßenbahn, 33-46). Andere Themen betreffen den Zustand der Entwurzelung durch die Migration, der sowohl in Bezug auf das Herkunftsland als auch auf Deutschland zum Ausdruck kommt (z. B. Chiellino, Gastarbeiter in Italien, 5, sowie Wie kannst du hier leben, 79; Taufiq, Ein Brief aus meiner Stadt, 115, sowie Segel der Sehnsucht, 121-122); sowie die soziale Marginalisierung der Gastarbeiter, die sich in einigen Fällen in Sprachschwierigkeiten niederschlägt (Papastamatelos, Sprach-Barriere, 76, und Warum Water, 134); letztlich die fehlende Solidarität seitens der deutschen Arbeiter (Biondi, So ein Tag, so wunderschön wie heute, 92-99). Die letztgenannte Kurzgeschichte beginnt mit einer Reflexion des Protago‐ nisten Franco über die Schwierigkeiten, die er beim Aufbau von Beziehungen zu deutschen Kollegen erfährt. Alle Elemente der Geschichte finden im Textanfang Ausdruck: Im Betrieb komme ich mit den deutschen Kollegen recht gut aus, tue meine Arbeit und rede nur mit ihnen, wenn ich merke, daß sie in guter Laune sind. […] Abgesehen von einigen Eskapaden, wie „Scheißitakas“ oder „Schlappenficker“ und ähnlichem, die mich in mein Schneckenhaus hineinkriechen lassen, sind sie freundlich und entgegenkommend. Ich kann auch nicht klagen […]. Es ist jedoch merkwürdig, sobald wir den Waschraum verlassen und das Betriebstor hinter uns haben, wandeln sich ihre Gesichter: sie werden kühl, abweisend, meistens aber gleichgültig. Sie wollen von uns nichts wissen. Der ‚Gast‘ ist gut nur für die Drecksarbeit, nicht aber in der Wohnung. (Biondi 1980a: 92) Es geht um die Distanz zwischen ‚Ausländern‘ und Deutschen, die zwar in der begrenzten und verborgenen Umgebung der Fabrik verringert wird, aber dennoch alle Räume des gesellschaftlichen Lebens prägt, sowie die Asymmetrie 38 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="39"?> der wenigen und kurzen Beziehungen, die unter deutschen und ‚ausländischen‘ Arbeiter: innen entstehen. Der Protagonist reagiert zweideutig auf diesen Zu‐ stand: Franco versucht, die Situation zu akzeptieren, ohne sich zu beschweren, kann aber gleichzeitig sein Unbehagen nicht verbergen. Das einleitende „Ich kann auch nicht klagen“ wird zunächst durch das ironische „Es ist jedoch merkwürdig“ und dann durch den Schluss ausgeglichen: „Sie wollen von uns nichts wissen. Der ‚Gast‘ ist gut nur für die Drecksarbeit, nicht aber in der Wohnung“. Von Anfang an wird also ein eindeutiger und unmissverständlicher Interpretationsschlüssel angeboten. Es folgt eine Episode, welche in der Vergan‐ genheitsform beschrieben wird und welche die in dieser einleitenden Passage dargestellten Elemente dekliniert: Am Ende seiner Schicht in der Fabrik wartet Franco in einer Kneipe auf seinen sizilianischen Freund Gelsomino, ebenfalls ein Gastarbeiter, der gute Beziehungen zu einigen Einheimischen zu haben scheint. In der Kneipe sitzen drei deutsche Arbeiter, die ebenfalls am Ende ihrer Schicht sind. Etwas beschwipst tauschen sie fremdenfeindliche Witze aus und beschweren sich über die Anwesenheit von Ausländern in der BRD: „Und der Witz vom Spaghetti-Fresser, kennst Du ihn? […] Da war ein Itaker, der kein Deutsch konnte.“ „Wie konnte es auch anders sein. Die wollen noch nicht mal die Sprache lernen.“ […] „Der Itaker wollte Hackfleischsoße für seine Spaghettis machen und ist zu Edeka gegangen. Vor den Regalen hat er eine Zeitlang gestanden und hat nur Bahnhof verstanden. Da ist der Kerl gekommen und hat eine Chappi-Dose für seinen Fifi geholt. Der Itaker fragt: Fleisch gut? […].“ „Scheißkanaken, Maffiatypen. Die kommen her, klauen uns die Arbeit, machen krank und sind an der Krise schuld.“ […] „Schön durchklopfen sollte man sie und alle in einen Waggon, und ab nach Dachau! “ (Biondi 1980a: 93-94) Aus Angst, angegriffen zu werden, beschließt Franco zu gehen und fragt nach der Rechnung, in der Hoffnung, dass sein Akzent, der durch die Anspannung noch deutlicher wird, ihn nicht verrät: „Ich übte die deutsche Sprache: das Wort ‚Zahlen‘ wollte ich so korrekt und unauffällig wie möglich aussprechen. […] Dieses Scheiß-‚z‘, das ich wie ein ‚ts‘ ausspreche. Schon bricht mir noch die Zunge. […] ‚Ich nix bestellt‘ stotterte ich“ (Biondi 1980a: 94). Bevor er die Kneipe verlassen kann, wird der Erzähler jedoch durch die Ankunft von Gelsomino aufgehalten, der die drei Arbeiter kennt und beschließt, sich an deren Tisch zu setzen. Gegenwillig begleitet der Protagonist seinen Freund und beginnt sich nach anfänglicher Zurückhaltung, zu amüsieren: Plötzlich empfand ich sie als prima Kerle, Menschen wie Du und ich; es war mir so, als ob ich sie vorher durch die Ritzen einer Jalousie gesehen hatte. Jetzt waren sie mir zugänglich, direkt; und ich wünschte, ihr Freund zu bleiben. Ich verspürte auch, 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 39 <?page no="40"?> 20 In den 1980er Jahren basierte der Erwerb der Staatsangehörigkeit noch auf dem Abstammungsprinzip (vgl. D’Amato 2000). dass sie im Grunde nichts gegen uns haben könnten und mir war unerklärlich, wie sie überhaupt dazu kamen, so über Gastarbeiter zu reden. Ich bildete mir ein, daß ich wohl geträumt haben mußte, als ich die Sachen mit den „Kanaken und Dachau“ hörte. (Biondi 1980a: 97) Diese Episode nährt die Hoffnungen des Protagonisten, der sich einbildet, auf dem richtigen Weg zu sein, sich mit den Deutschen anzufreunden. Am folgenden Sonntag trifft der Erzähler zufällig zwei der drei Männer, die mit ihren Familien im Park spazieren gehen: Als ich den Dicken lachend grüßte, wandte er sein unverändertes Gesicht in Richtung Rhein. Ich war gerade vorbeigelaufen, als seine Frau fragte: „Der Mann hat eben gegrüßt, wer ist denn das? “, „Ach, was weiß ich. Er scheint einer von den Kanaken zu sein, ich kenn‘ den nicht“ antwortete der Dicke […]. Unruhe kroch wieder in meine Glieder und wieder das komische Gefühl wie an jenem Abend. Aber ich schlenderte weiter. Ich bin einer von den ängstlichen Typen. Bloß kein Ärger, Mann. (Biondi 1980a: 98) Jede Freundschaft zwischen ‚Ausländern‘ und Deutschen erweist sich daher als illusorisch. Die Wut der Gastarbeiter kann nur unausgesprochen bleiben, wie der Protagonist ein paar Seiten zuvor andeutet: Das Risiko, den Job zu verlieren und abgeschoben zu werden, ist zu groß. Wie man sich denken kann, geht es in So ein Tag nicht darum, die Erfahrungen eines Einzelnen und einer einzelnen Perspektive zu schildern, sondern vielmehr darum, einer psychologi‐ schen Situation und einem als kollektiv und gemeinsam empfundenen sozialen Zustand eine Stimme zu geben. Die Erzählung ist eine klare Anprangerung der institutionalisierten Asymmetrien, die ‚Ausländer‘ und ‚Deutsche‘ voneinander trennen und die weder durch das Handeln Einzelner noch durch deren guten Willen überwunden werden können: Dies ist eine ideologische Prämisse, die alle im Rahmen dieses Projekts veröffentlichten Texte bestimmt. Ein weiteres Beispiel für die engagierte Natur der Gastarbeiterliteratur findet sich in einem anderen Text von Biondi, nämlich der Novelle Abschied der zerschellten Jahre (1984). Das Thema der Kurzgeschichte, die für „alle inländi‐ schen Ausländer deutscher und nichtdeutscher Herkunft“ (Biondi 1984: o.S.) geschrieben wurde, ist die Geschichte von Mamo, dem Sohn von Gastarbeitern und damit Vertreter der sogenannten ‚zweiten Generation‘. Der Junge, der am Anfang der Erzählung gerade volljährig geworden ist, wird durch die Abschiebung in das Land seiner Eltern bedroht, das einzige Heimatland, das die geltenden Gesetze für ihn anerkennen, 20 obwohl er in Deutschland geboren 40 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="41"?> und aufgewachsen ist und die ihm zugewiesene Heimat nie gesehen hat. Die Situation veranlasst ihn, über sein Leben nachzudenken und vor allem über die Unmöglichkeit, seine Identität in einer Gesellschaft zu verorten, die scharf zwischen Deutschen und ‚Ausländern‘ gespalten ist. Die Novelle endet mit einer bewaffneten Konfrontation zwischen Mamo und den mit der Abschiebung beauftragten Polizisten, bei der der Protagonist einen von ihnen tötet. Die wutsowie verzweiflungsgeladenen Worte, die er an die auf der Straße versammelte Menge richtet, bringt die Figur die dramatische Situation der ‚zweiten Genera‐ tion‘ zum Ausdruck: „Ich bin kein Ausländer! Ich will kein Ausländer sein! nicht nur, weil ich hier geboren bin und diese Sprache spreche, bin ich kein Ausländer! […] Nicht zweite Generation, kein Problem, keine Belastung! Ich bin Mensch, Mensch, Mensch! “ (Biondi 1984: 122-123). Zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung wurde Abschied der zerschellten Jahre viel kritisiert, sowohl wegen der Gewalt, mit der die Geschichte endet, als auch wegen des von Biondi verwendeten Deutsch. In der Rezension von Maria Frise, die die sprachliche Schwäche des Textes auf die mangelhafte Arbeit der Lektoren des Verlags zurückführt, ist ein Beispiel der frühen Rezeption vom Südwind- Projekt zu finden: Die Novelle […] gehört zur Reihe Südwind-Literatur, in der der Neue Malik Verlag Texte ausländischer Autoren veröffentlicht. Ein lobenswertes Vorhaben; es setzt allerdings ein ausgezeichnetes Lektorat voraus, denn selbstverständlich sind Texte, die nicht in der Muttersprache geschrieben wurden, mehr als andere korrekturbedürftig. […] Leider haben Jo Hauberg und Maria Künn-Ludewig vom Verlag wenig Sprachge‐ fühl und Sorgfalt bewiesen. […] [L]eider wimmeln die Seiten von falschen Bildern, falschen Konjunktiven, lächerlichen Stilblüten. (Frise 1984; Hervorhebungen von mir) Die Rezensentin scheint auszuschließen, erstens dass es sich bei den „falschen Bildern, falschen Konjunktiven, lächerlichen Stilblüten“ um bewusste stilisti‐ sche Entscheidungen handelt, die der Schriftsteller Biondi getroffen hat. Mit anderen Worten sollten laut Frise beide genannten muttersprachlichen Redak‐ teure die Korrektheit bewahren, an die sich Biondi als ‚ausländischer Autor‘ anpassen sollte. Zweitens berücksichtigt sie nicht, dass das Vorhandensein von Abweichungen von der grammatikalischen Norm beabsichtigt sein kann und daher nicht zwingend sanktioniert werden muss. An dieser Stelle ist es notwendig, noch einmal vor Augen zu führen, dass die sprachlichen Experi‐ mente von Nicht nur gastarbeiterdeutsch in den 1980er Jahren im literarischen Bereich keine Resonanz gefunden hatten. Jetzt ist zu entnehmen, dass dank der Verlagsarbeit von Südwind die ‚deutschen‘ Kritiker: innen auf die Produktion ‚ausländischer‘ Autor: innen aufmerksam geworden waren, was den Erfolg des 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 41 <?page no="42"?> 21 Zu dieser Zeit entstand die Dringlichkeit, die deutsche Sprache nicht nur unter den eingewanderten Erwachsenen, sondern vor allem unter den Jugendlichen im Schulalter zu verbreiten, was die Notwendigkeit einer Erforschung dieses Bereichs auch aus wissenschaftlicher Sicht implizierte (vgl. Röhrborn 2021: 306-308). Projekts beweist. Die Überlegungen in dieser Rezension werfen auch eine Frage auf, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Chamisso- Literatur zieht: Ein experimenteller Sprachgebrauch setzt einen Akt der eigen‐ ständigen Aneignung voraus und steht daher in direktem Zusammenhang mit der Position, die nicht-deutsche Autor: innen innerhalb des literarischen Raums einnehmen. Kein Wunder also, dass sich dieser rote Faden, nämlich die Freiheit des Experimentierens in der deutschen Sprache, auch durch das zweite Projekt zieht, das wir betrachten, und im Fall des Chamisso-Preises von grundlegender Bedeutung ist. 1.2.2 Harald Weinrich und das Institut für Deutsch als Fremdsprache Im Gegensatz zum Südwind-Verlagsprojekt handelt es sich bei der hier als zweite zu behandelnden Gruppe nicht um einen Schriftstellervereinigung, sondern von einer Forschungsgruppe von Akademiker: innen, die nicht nur als Fördernde der literarischen Aktivitäten von ‚Ausländern‘ auftraten, sondern auch die ersten wissenschaftlichen Studien über sie initiierten. Die wichtigste Figur in diesem Projekt war Harald Weinrich, damals Professor an der Ludwig-Maximilians- Universität in München, der sich im Laufe seiner Karriere mit Bereichen be‐ schäftigte, die von der romanischen Sprachwissenschaft bis zur vergleichenden Literaturwissenschaft, von der deutschen Literatur- und Sprachwissenschaft bis zur Sprachdidaktik reichten. Insbesondere leitete Weinrich damals das Münchner Institut für Deutsch als Fremdsprache, das bei seiner Gründung im Jahr 1978 als eins der ersten wissenschaftlichen Zentren für die neue Disziplin des Deutschen als Fremdsprache (fortan IDF) war. 21 Das anfängliche Interesse von Weinrich und seiner Forschungsgruppe, zu der auch Irmgard Ackermann gehörte, richtete sich auf den sprachlichen Aspekt, das heißt auf die Formen, die das Deutsche als Literatursprache durch ‚Ausländer‘ annimmt (vgl. Röhrborn 2021: 305-308). Zwischen 1979 und 1985 organisierten Weinrich und seine Forschungsgruppe am IDF mit Unterstützung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und des Auswärtigen Amts vier thematische Literaturwettbewerbe mit Geld‐ preisen (und deutschen Wörterbüchern! ) für „Personen, die deutsche Sprache als Fremdsprache gelernt haben“ (ACP-O2-1). Jede der Ausschreibungen be‐ 42 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="43"?> 22 Als Fremder in Deutschland. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern (1982); In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern (1983); Türken deutscher Sprache. Berichte, Erzählungen, Gedichte (1984); Über Grenzen. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern (1987). Der erste Band versammelt die Texte der ersten beiden Wettbewerbe; die Anthologie von 1984 veröffentlichte die Texte türkischer Autor: innen, die beim zweiten Wettbewerb eingereicht wurden. Diese waren sehr zahlreich - 120 Manuskripte von insgesamt 340 - und wurden von den Organisator: innen als besonders interessant angesehen (siehe ACP-O17-1). fasst sich mit einem Aspekt, der als konstitutiv für die Migrationserfahrung betrachtet wurde: Die ersten beiden, Deutschland - Fremdes Land (1979) und Als Fremder in Deutschland (1980), fokussieren die Entfremdung und die Inte‐ grationsschwierigkeiten der ‚Ausländer‘; die dritte, In zwei Sprachen leben (1982), rahmt die existenzielle Dichotomie, die die ‚Ausländer‘ erleben, durch die Linse der sprachlichen Dimension ein. Die letzte, Über Grenzen (1985), befasst sich schließlich mit dem Reichtum, der dieser existenziellen Situation innewohnt. Wie aus den unveröffentlichten Projektunterlagen hervorgeht, wurden die Ausschreibungen an verschiedene Institutionen in der BRD und im Ausland (z. B. den Goethe-Instituten, Ausländerämtern, Sprachinstituten und Universitäten) sowie an Zeitungen, Zeitschriften und Radiosender (z. B. der Deutschen Welle) zur Verbreitung geschickt. Voraussetzung für die Teilnahme war die Originalität der Texte und das Erlernen von Deutsch als Fremdsprache, ein Lernprozess, der in dem beizufügenden Teilnahmeformular nachgewiesen werden musste. Infolge der großen Beteiligung an den ersten beiden Ausschrei‐ bungen begann das Projekt mit der Veröffentlichung der besten Texte in Anthologien zwischen 1982 und 1987 im Deutschen Taschenbuch Verlag. 22 Ein Blick auf die im DLA-Bestand aufbewahrten Briefe sowie auf die ver‐ öffentlichten Texte zeigt, dass diese Projekte als Kontaktpunkt für viele der wichtigsten Persönlichkeiten, die damals an der Produktion, Diffusion und Rezeption der Literatur der ‚Ausländer‘ beteiligt waren, diente. So nahmen bei‐ spielsweise Schrifsteller: innen wie SAID, Alev Tekinay, Taufiq, Biondi, Naoum, Sinasi Dikmen und José F. A. Oliver an den Wettbewerben 1979 und 1980 teil und so begann zwischen ihnen, Ackermann und Weinrich eine intensive Korrespon‐ denz. Parallel zu den Preisausschreibungen und Anthologie-Veröffentlichungen organisierte das IDF in München ebenfalls Buchpräsentationen, Symposien und Treffen und lud dazu die Autor: innen ein, die in einigen Fällen sogar von Acker‐ mann persönlich in ihrem Haus empfangen wurden. Ferner zeigen die Briefe, wie sich verschiedene Personen, Studierende, Professor: innen, Forscher: innen, Journalist: innen, für das Leben der ‚Ausländer: innen‘ in der BRD und in einigen Fällen auch für deren literarische Produktionen interessierten und in den Aktivitäten des IDF in München einen wichtigen Bezugspunkt und in Weinrich 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 43 <?page no="44"?> 23 Ein Beispiel ist der Briefwechsel zwischen Ackermann und einem Privatdozenten einer Universität zwischen November und Dezember 1983. Der Dozent, der Deutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik lehrte, bat Ackermann darum, ihm die Texte der Teilnehmer: innen zur Verfügung zu stellen (siehe ACP-O22-1, 2, 3 und 4). und Ackermann kompetente und hilfreiche Gesprächspartner: innen fanden. 23 Und nicht nur das: Ackermanns Engagement geht weit über die Projekte der IDF hinaus. Bei der Lektüre der Briefe wird deutlich, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund sich an die IDF wendeten, um Unterstützung bei ihrem Werdegang als aufstrebende Schriftsteller: innen zu erhalten. In ihren Ant‐ worten tut Ackermann ihr Möglichstes, um Ratschläge zu geben, Autor: innen zu ermutigen und sie mit anderen Verleger: innen und Wissenschaftler: innen in Kontakt zu setzen. Ein Beispiel dafür ist der Briefwechsel zwischen einem Teilnehmer und Ackermann zwischen November und Dezember 1981, in dessen Verlauf Ackermann, die den vom Teilnehmer vorgeschlagenen Text wegen seiner Länge nicht in der Anthologie von 1982 veröffentlichen konnte, ver‐ sprach, das Manuskript bei der Zeitschrift für Poesie in München einzureichen (siehe ACP-O2-2 und ACP-O2-3). Dass das IDF-Projekt einen dialogischen und kollektiven Charakter hatte, wird an zwei Beispielen deutlich, die wiederum aus dem Briefwechsel zwischen Ackermann und den Teilnehmer: innen an den Ausschreibungen stammen. Wie aus dem Briefwechsel zwischen Ackermann und Biondi zwischen Februar und Mai 1981 hervorgeht, war der erste Verlag, an den sich das IDF für die Veröffentlichung der Anthologien gewandt hatte nicht bereit, den Autor: innen ein Honorar zu zahlen. Das wurde von Franco Biondi (der beim Wettbewerb 1980 den zweiten Platz belegt hatte) scharf kritisiert. In der Folge ging das Verlags‐ projekt an den Deutschen Taschenbuchverlag über, der allen veröffentlichten Autor: innen ein Honorar bezahlte (vgl. ACP-O8-1 und ACP-O8-2). Aus diesen Elementen lässt sich ableiten, dass in nur wenigen Jahren das In‐ stitut zum Bezugspunkt und Katalysator für verlegerische, kulturelle und soziale Aktivitäten und Initiativen wurde, die unabhängig voneinander stattfanden und neben den offiziellen Aktivitäten sogar parallele und länger andauernde Unterstützungsinitiativen für einzelne Personen durchführten. Fener ist auch leicht erkennbar, dass noch vor der ästhetischen Forschung die philanthropische Tätigkeit und das zivile Engagement im Vordergrund dieses Projekts standen. Während das Manifest der Südwind-Gruppe ihre programmatischen Ziele festlegte, finden sich Spuren der Absichten der Organisator: innenen dieses zweiten Projekts in den Wettbewerbsunterlagen sowie in den Vor- und Nach‐ worten der Sammelbände, die unter anderem den allmählichen Perspektiv‐ wechsel zeigen, der dem Projekt zugrunde liegt. So ändern sich Ziele und 44 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="45"?> Umfang des Projekts im Laufe der Zeit erheblich, da sich die Organisator: innen der sozialen, kulturellen und künstlerischen Tragweite des Phänomens, das sie untersuchen und fördern, bewusst werden. Im Vorwort des ersten Sam‐ melbandes beschreibt Weinrich (1982: 9-10), wie das ursprüngliche Ziel des Projekts - den Zusammenhang zwischen Schreiben und Fremdsprachenerwerb zu untersuchen - eine unerwartete künstlerische Absicht von ‚Ausländern‘ ans Licht brachte. Die Qualität und Zahl der Teilnahme lasse auf die Existenz einer noch umfangreicheren literarischen Produktion ‚ausländischer‘ Autoren in deutscher Sprache schließen. Bereits in diesen Zeilen ist die Tendenz zu erkennen, das Thema durch die Brille der Literaturwissenschaft zu betrachten, was eindeutig der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Publikationen ist, die Weinrich und Ackermann in den frühen 1980er Jahren verfassten. Zum Vor‐ wort zurückkehrend, versucht Weinrich (1982: 9) zunächst das Phänomen zu verorten: Obwohl es von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert wurde, würde es sicherlich keine Neuheit darstellen, weder international (Länder wie England oder Frankreich sind seiner Ansicht nach mit der Literatur aus den ehemaligen Kolonien schon vertraut); noch national, da es in der deutschen Literatur schon Beispiele dafür gibt, z. B. Adelbert von Chamisso und Elias Canetti. Von letzterem entlehnt Weinrich (1982: 9) die allererste Definition des Phänomens, nämlich eine „deutsche Gastliteratur“: „Und spät erst haben wir Elias Canetti als großen deutschen Schriftsteller entdeckt, der von sich gesagt hat: ‚Ich bin nur ein Gast in der deutschen Sprache‘“. Tatsächlich verankert Weinrich (1982: 9) den Schreibdrang der Teilnehmer: innen in den von ihnen erfahrenen Sprachwechsel: Die Literatur beginnt, wo ein elementarer Formtrieb sich des Schreibens bemächtigt und den pragmatischen Antrieben die Alleingültigkeit bestreitet. Es gibt Anzeichen dafür, daß dies durch die Bedingungen der Distanz und Fremdheit, denen Ausländer beim Gebrauch der deutschen Sprache als einer Fremdsprache unterworfen sind, nicht unbedingt verhindert, sondern eher befördert wird. Aus diesem Grund identifiziert Weinrich (1982: 10-11) als gemeinsames Merkmal dieser Literatur die „Verfremdung“. Diese bezieht sich auf die exis‐ tenzielle Position der Autor: innen als Fremde in Deutschland sowie auf die ästhetische Wirkung, durch die die deutsche Leserschaft Deutschland durch die Augen von Fremden wahrnimmt: [Die ausgewählten Texte können] einen ersten Eindruck von der Art und Weise geben, wie die Autoren und die Autorinnen Deutschland als ein fremdes Land und sich selbst als Fremde unter Deutschen erfahren und in welchen literarischen Formen sie diese Verfremdung ausgedrückt haben. 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 45 <?page no="46"?> Zusammen mit der Sprache sei also die verfremdende Perspektive das andere charakteristische Element der Produktion der ‚Ausländer‘, die an den - thema‐ tischen - IDF-Ausschreibungen teilnahmen. Dies wird durch das Nachwort von Dieter Krusche hervorgehoben, das den ausschlaggebenden Titel trägt: Die Deutschen und die Fremden. Zu einem durch fremde Augen ‚gebrochenen‘ Deutschlandbild. Ihm zufolge ermögliche diese Literatur, sich der deutschen Leserschaft an einer endlich symmetrischen Debatte über Integration und multikulturelles Zusammenleben zu beteiligen: Die meisten Texte des vorliegenden Bandes belegen kein „Glück“ auch keine „Zufrie‐ denheit“, sondern Fremdsein, oft sogar das Leiden an der erfahrenen Fremde. Und das scheint nicht nur damit zu tun zu haben, daß es in jeder Fremde schlecht ist, daß Fremde immer und überall „Elend“ bedeutet. Es liegt, so erweisen es diese Texte, auch an der ganz besonderen deutschen Fremde, die eine besonders schwierige, heikle Art der Fremde zu sein scheint. Die Lage vieler Ausländer in Deutschland scheint ein speziell „deutsches Elend“ zu sein. (Krusche 1982: 190) Ein Blick auf die Struktur des Bandes zeigt die Vielfalt der Behandlungen des Themas, die die Organisator: innen ausgewählt haben. Der Sammelband ist in sieben Abschnitte unterteilt, darunter: Gast oder Arbeiter? (99-132), Im Labyrinth der Behörden (133-164) und Das gelobte Land (165-188). Die Herkunft der Teilnehmer: innen erscheint im Inhaltsverzeichnis neben dem jeweiligen Beitrag und wird auch in den Kurzbiographien am Ende des Bandes wiederholt. Auf diese Weise wird die Vielfalt der verschiedenen individuellen Wege, welche die Autor: innen zur deutschen Sprache und zum deutschen Land geführt haben, hervorgehoben. Im Vergleich zu den Veröffentlichungen von Südwind erweist sich der Sammelband sowohl in anagraphischer als auch in themati‐ scher Hinsicht als abwechslungsreicher: Die Autor: innen stammen sowohl aus Ländern, mit denen Deutschland bilaterale Abkommen geschlossen hatte, als auch aus den Vereinigten Staaten, Australien, Frankreich und Neuseeland. Unter den Beiträgern sind viele Schüler: innen und Studierende, Lehrer: innen, Übersetzer: innen und einige wenige Gastarbeiter: innen. Um die Vielfalt der Texte dieser Anthologie hervorzuheben wird im Fol‐ genden Şinasi Dikmens Text Kein Geburtstag, keine Integration (51-62) einge‐ führt. Dikmen, der bereits an den Aktivitäten des PoLiKunst-Projekts mitge‐ wirkt hatte, stand damals am Anfang seiner literarischen Karriere, die ihn einige Jahre später dazu brachte, sich als erster satirischer Schriftsteller türkischer 46 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="47"?> 24 Dikmen gründete 1985 zusammen mit dem Karikaturisten Muhsin Omurca das Knobi- Bonbon, das erste deutschsprachige Migrantenkabarett in Ulm (vgl. Şölçün 2000: 141- 142). Herkunft in der deutschen Kunstszene zu etablieren. 24 Die Geschichte zeichnet in einem ironischen Ton die krampfhafte Suche des Protagonisten Sinasi nach seinem wahren Geburtsdatum nach, das als fehlendes Stück für seine vollständige Integration in die BRD gilt. Wie bei vielen anderen Türken aus armen Dörfern trägt in der Tat auch der Pass des Protagonisten ein gefälschtes Datum, das nur gewählt wurde, um die deutsche Bürokratie zu umgehen: Nach jeder Geburtstagsfeier in Deutschland, zu der ich eingeladen worden bin, ist es das gleiche Theater. […] „Warum feierst du denn deinen Geburtstag nicht? “ […] Wird in der Türkei kein Geburtstag gefeiert? Warum nicht? “ […] Ich habe gesagt, „Geburtstagfeiern ist eine Erfindung der Konsumgesellschaft […].“ Es hat alles nichts genützt. Ich weiß schon, daß meine deutschen Bekannten mich in ihrer Gesellschaft voll integriert sehen wollen. Es fehlt mir nur dieser Scheiß-Geburtstag. (Dikmen 1982: 51) Um dieses heikle Problem zu lösen, kehrt Sinasi in sein Dorf in der Türkei zurück und interviewt Mitglieder seiner Familie und seiner Gemeinde. Die Beschrei‐ bung dieses Umfelds erfolgt anhand der im öffentlichen Diskurs in Deutschland vorherrschenden Stereotypen: Familien mit einer unüberschaubaren Anzahl von Kindern, die Unterdrückung der Frauen und die Frauenfeindlichkeit der Männer, kulturelle Rückständigkeit. Doch dabei bleibt es nicht: Die Personen, denen er begegnet - der Mutter, der Schwester, dem Schwager, dem Onkel, dem Schulmeister, dem Dorfälteste - bringen ihrerseits die Vorurteile zum Ausdruck, die über die Deutschen kursieren, und Sinasi fügt ihnen weitere Stereotypen hinzu, die nicht weniger problematisch sind. Ein Beispiel dafür ist die folgende Passage, in der Sinasi sich mit seinem Onkel über die politische Lage und die türkische Migration nach Deutschland unterhält: „Die Parteien in Deutschland sind ganz vernünftig, Onkel,“ habe ich gesagt. „Die scheinen unter sich ausgemacht zu haben, daß jede alle zwanzig Jahre an die Macht kommt.“ „Das ist typisch deutsch. Die Deutschen planen alles voraus, und sie sind sehr diszipliniert. […]“ „Nein, Onkel, sie sind lascher geworden, seit die Türken in Deutschland arbeiten. Die Türken haben sie verdorben.“ „Schade um das deutsche Volk“. (Dikmen 1982: 57) Die diskursive Konstruktion der ‚Deutschen‘ kennzeichnet auch das Gespräch mit dem ältesten Mann im Dorf: 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 47 <?page no="48"?> Meine letzte Hoffnung war der Dorfälteste. Wir nennen ihn Alaman Tüfegi, was auf deutsch Deutsches Gewehr heißt, weil er in Galizien mit den Deutschen gekämpft hat, worauf er immer noch stolz ist. […] „Sinasi, seit wann bist du wieder im Lande? Was ist mit meinen Freunden? Haben sie noch nicht vor, wieder einen Krieg zu führen? “ „Nein, Dede[…], jetzt machen deine Freunde Geschäfte, die Juden machen Krieg.“ (Dikmen 1982: 59) Das Ergebnis ist eine Verflechtung paradoxer Erzählungen, die dem Protago‐ nisten nur ungenaue und unbrauchbare Daten anbieten: Am Ende der Erzählung beschließt Sinasi, die Suche nach seinem Geburtstag aufzugeben. Der satirische Blick, den Dikmen in dieser Erzählung konstruiert, steht außerhalb der beiden genannten kulturellen Systeme. Er wird auf stilisierte Weise konstruiert, um die Dynamik der stereotypen Darstellung von Kulturen zu zeigen. Gleichzeitig wird deutlich, dass das unbedeutende Detail des Geburtsdatums die Aspekte der Herkunftskultur symbolisiert, die ‚Ausländer‘ daran hindern, sich in die deutsche Gesellschaft zu ‚integrieren‘. Zwischen den Zeilen kritisiert Sinasi daher die Verwendung eines Begriffs wie Integration, bei dem es stattdessen eher um die Beschränkung der kulturellen Vielfalt geht: Trotz aller meiner Bemühungen ist es mir nicht gelungen herauszufinden, wann ich geboren wurde. Ich bin wie alle Deutschen auch von einer Mutter geboren worden. Ich hoffe, daß das reicht, um integriert zu werden. Geburtstag zu feiern, wie die Deutschen das tun, habe ich sowieso keine Lust. (Dikmen 1982: 61) Unter den für die Anthologie ausgewählten Beiträgen finden sich auch Texte, die eher einen dokumentarischen als literarischen Charakter aufweisen. Ein Beispiel sind die Berichte von fünf Schüler: innen einer italienischen Schule in Köln, die unter dem Titel Fünfmal deutscher Alltag - Italienische Schüler und Schülerinnen berichten (N. N. 1982: 80-86) veröffentlicht wurden. Mit einer Ausnahme sind die Autor: innen der Beiträge in Italien geboren und als Kinder nach Deutschland gezogen. Die Texte sind kurze Berichte über ihre Erfahrungen in diesem Land und behandeln dieselben Punkte, da sie aus einer von der Lehrerin erteilten Klassenarbeit entstanden sind: ihre Ankunft in Deutschland und ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache, ihre Wirkung auf ihre Klassenkameraden bei der Ankunft in der Schule, ihre Beziehungen zur italienischen Gemeinschaft und zu anderen ‚Ausländern‘, ihre Verbindungen zu Italien und Deutschland und schließlich ihre persönlichen Ansichten über die Dynamik des Zusammenlebens zwischen Deutschen und ‚Ausländern‘ (vgl. ACP-O2-4). Belege dieser Art, die die individuellen Migrationserfahrungen der Autor: innen mit zum Ausdruck bringen, ohne sie ästhetisch aufzuarbeiten, 48 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="49"?> 25 Beispiele der Abschnitte des Bandes sind: Wohin gehöre ich? (12-34), Maine doitsch nix gut (83-98), In zwei Sprachen lieben (143-160) und In zwei Sprachen leiden (161-190). sind in der zweiten Anthologie, In zwei Sprachen leben (1983), nicht zu finden. Diese betrachtet speziell das Thema der sprachlichen Fremdheit, 25 was ein Perspektivwechsel im Vergleich zu dem vorherigen Sammelband zeigt: Das in der Veröffentlichung von 1983 gewählte Thema stellt nämlich den sozialen Aspekt der Einwanderung nach Deutschland fast in den Hintergrund, eine Perspektive, die stattdessen in Als Fremder in Deutschland vorherrscht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele der veröffentlichten Autor: innen Deutsch als Fremdsprache lehren oder lernen, wie ein Blick auf die Biographien am Ende des Bandes zeigt. Im peritextuellen Material des Bandes ist zudem ein paralleler Versuch zu erkennen, die ästhetische Dimension und die literari‐ sche Position des Phänomens, das die Texte darstellen, aus der sprachlichen Erfahrung der Autor: innen heraus zu konzeptualisieren. Zwischen den beiden Veröffentlichungen lässt sich also eine klare Entwicklung des Projekts in Bezug auf die literarischen Forschungsziele feststellen. Weinrich (1983a: 9) eröffnet das Vorwort mit der Frage: „Wann lebt man in zwei Sprachen? “ und verweilt bei einem der beiden prominenten literarischen Beispiele, auf die er im Vorwort der vorherigen Anthologie angespielt hatte: Adelbert von Chamisso. Der IDF-Gründer betont, dass der in Frankreich geborene und als Junge nach Preußen gezogene Autor trotz seiner ausländischen Herkunft zum Kanon der deutschen Literatur, zur „deutschen ‚Meisterdichtung‘“ (Weinrich 1983a: 9) gehört. Doch trotz seiner unbestrittenen kulturellen Integration hat Chamisso, so Weinrich (1983a: 9), die schwierige existenzielle Situation erlebt, sich zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen zu befinden: Es ist jedoch anzunehmen, daß Adelbert von Chamisso seinen Ort zwischen zwei Sprachen und zwischen zwei Kulturen nicht mit der leichtsinnigen Virtuosität des polyglotten Kulturbummlers eingenommen hat. In einem Brief an Frau von Staël […] schreibt er einmal: „Ich bin Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich. […] Ich bin nirgends am Platz, ich bin überall fremd“. Während zu Chamissos Zeiten dieser existentielle, kulturelle sowie sprachliche Zustand eine seltene Erfahrung darstellte, so Weinrich weiter (1983a: 10), sind heute Millionen von Menschen damit konfrontiert. In ihrem Nachwort erkennt Ackermann (1983a: 247-248) widerum eine Wende bei dem IDF-Projekt, das anfänglich nur erzielte, die ‚Ausländer‘ zum Schreiben auf Deutsch anzuregen, heute hingegen eher das literarische Niveau der Beiträge in Betrachtung nimmt. Dies ist der erste Hinweis auf den ästhetischen Wert dieser literarischen 1.2 Projekte für die Förderung ‚ausländischer‘ Autor: innen 49 <?page no="50"?> Produktion nicht nur im Rahmen des IDF-Projekts, sondern auch in Bezug auf das Projekt von Südwind. Entsprechend geht Ackermann (1983a: 250) auf den Stil der veröffentlichten Schriften sowie auf das Ausmaß und Art der Bearbeitung der Texte seitens der Herausgeber: innen ein: Das hohe sprachliche Niveau der Beiträge rechtfertigt es auch, daß, von Korrek‐ turen gelegentlicher evidenter Grammatik- oder Rechtschreibfehler abgesehen, keine sprachlichen Korrekturen vorgenommen wurden, das besondere Kolorit dessen, der nicht in der Muttersprache schreibt, also auch dann beibehalten wurde, wenn es ungewohnte oder eigenwillige Wendungen und Konstruktionen hervorbringt. Dies ist eine sehr bedeutsame Klarstellung, denn Ackermann und die anderen Herausgeber haben also zwischen grammatikalischer Korrektheit und der Verwendung von Nicht-Standardformulierungen unterschieden, was auch von der unveröffentlichten Dokumentation hervorgeht: Am Rand der Fahnen des Nachworts von Ackermann zur zweiten Anthologie, neben einer zitierten Textstelle aus dem Begleitschreiben einer Teilnehmerin (Ackermann 1983a: 251), kann man die handschriftliche Notiz: „Normaler Druck. Fehler nicht korrigieren“ (ACPO21-1) erkennen. Man soll nicht vergessen, dass genau zur selben Zeit die Novelle Abschied der zerschellten Jahre aufgrund ihrer Abwei‐ chungen von den sprachlichen Normen kritisiert wurde (siehe oben). Die IDF- Herausgeber: innen setzen hingegen voraus, dass der Stil der ‚ausländischen‘ Autor: innen als Ergebnis bewusster sprachlicher Entscheidungen betrachtet werden kann. Einmal mehr taucht in diesem Kontext also das Thema der Freiheit und des sprachlichen Experimentierens auf. Die letzte im Rahmen des IDF-Projekts veröffentlichte Anthologie Über Grenzen, die 1987 erschien, signalisiert die Entwicklung, die in der deutschen Literaturszene und in der Wahrnehmung des Phänomens der Chamisso-Literatur in den acht Jahren seit der ersten Ausschreibung stattgefunden hat. Karl Essel‐ born (1987: 262), der nun zur Forschungsgruppe von Weinrich gehörte, verweist im Nachwort auf die gestiegene Präsenz in der Literaturszene - durch Vorträge, Publikationen und Rezensionen - der Gastarbeiterbzw. Ausländerliteratur. Dabei bezeichnet er sie als Literatur, die von „nicht-deutschen Autoren in deutscher Sprache“ verfasst wurde. Weiter behauptet Esselborn (1987: 263-264), dass: [b]ei den vorliegenden Einsendungen [für die 1985 ausgeschriebenen Preis „Über Grenzen“] ein starkes Interesse an Professionalisierung […] auffällig [war]. Dies entspricht auch dem neuen Selbstverständnis der Ausländerliteratur, die sich zuneh‐ mend als eigenständiger Beitrag zur deutschen Literatur versteht und das Kriterium literarischer Qualität betont. 50 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="51"?> 26 Zu diesem neuen Interesse gehören Gerhard Kromschröders Als ich Türke war, das am 4. November 1982 im Stern erschien, Günter Wallraffs Ganz Unten (1985), das im ersten Jahr 1,6 Millionen Mal verkaufte, und Mein Name Keskin, das im selben Jahr von Marlene Schuly veröffentlicht wurde (vgl. Weigel 1992: 186). 27 Der Artikel von Werner Schiffauer untersucht den kulturellen Hintergrund der Jungen und ihre Vorstellung der Beziehung zwischen den Geschlechtern (siehe Schiffauer 1980). Es ist offensichtlich, dass es an dieser Stelle nicht mehr erforderlich war, die Existenz des literarischen Phänomens der von ‚ausländischer‘ Autor: innen auf Deutsch verfassten Werke zu rechtfertigen, denn Esselborn spricht von ihm als einer Selbstverständlichkeit. Nicht nur das, sondern es wird nun von dieser Literatur anhand zwei Bezeichnungen (Gastarbeiterliteratur bzw. Ausländerlite‐ ratur) besprochen. Mit anderen Worten vollzog sich zwischen 1979 und 1987 die wissenschaftliche Legitimierung eines neuen literarischen Raums. Diese Systematisierung fand hauptsächlich in den Publikationen statt, die zu dieser Zeit von den Wissenschaftler: innen des IDF verfasst wurden. Nicht nur stellt die wissenschaftliche Arbeit von Weinrich und Ackermann bereits 1982 die erste kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Schreiben von ‚Ausländern‘ dar, sondern sie gilt auch als die einflussreichste, da sie die Bedingungen des kritischen Diskurses maßgeblich beeinflusst hat, die bis in die 1990er Jahre vorherrschend blieben. 1.3 Die ersten literaturwissenschaftlichen Kodifizierungen Betroffenheit, Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur Volker Dörr (2009: 59) zufolge wurden die Texte ‚ausländischer‘ Autor: innen in den 1980er Jahren nicht in erster Linie in der literarischen Diskussion rezipiert, sondern vielmehr in der soziologischen und pädagogischen. Wie Sigrid Weigel behauptet (1992: 186), begannen viele literarische Texte in sozio‐ logischen Publikationen zu zirkulieren, was als ein Zeichen des zunehmenden Interesses der deutschen öffentlichen Debatte in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren gegenüber dem Migrationsphänomen anzusehen ist. 26 In der 62. Ausgabe des Kursbuchs (1980) ist zum Beispiel neben der Debatte über das Gerichtsverfahren wegen Vergewaltigung, die von einer Gruppe türkischer Jungen an einem deutschen Mädchen verübt wurde, 27 die erste Fassung von Biondis Novelle Abschied der zerschellten Jahre (vgl. Biondi 1980b). Ein weiteres ähnliches Beispiel ist das Ausländerbuch für Inländer. Bausteine zum Begreifen der Ausländer-Probleme, veröffentlicht 1981 bei Fischer. Neben Beiträgen, die 1.3 Die ersten literaturwissenschaftlichen Kodifizierungen 51 <?page no="52"?> sich mit den Wohn- und Schulbedingungen von Einwandernden befassten, veröffentlichte hier der damalige Pädagogikprofessor Hans H. Reich drei Texte, die durch eine seiner türkischstämmigen Studentinnen, Filiz Erkiner, verfasst wurden. Im einleitenden Absatz macht Reich (Erkiner/ Reich 1981: 214) die Leser: innen auf die zahlreichen türkischen Wörter in der deutschen Prosa der Autorin aufmerksam, die seiner Meinung nach auf eine schwierige Situation des „Bikulturalismus“, der sozialen Ausgrenzung und mangelnden Integration hinweisen. Die erste literarische Kodifizierung einer literarischen Produktion der ‚Aus‐ länder‘ stammt entsprechend nicht aus der wissenschaftlichen Rezeption, sondern, wie schon eingehend dargelegt, aus dem Manifest des Südwind- Projekts. Diese Perspektive muss man im Auge behalten, um die Unterschiede zur wissenschaftlichen Rezeption zu erkennen: Die Gastarbeiterliteratur ist in diesem Kontext nicht als eine Reihe von Veröffentlichungen von Autor: innen zu verstehen, die im Rahmen der Arbeitsmigration in die BRD kamen, sondern vielmehr als eine Wahl der ideologischen Positionierung und der Teilnahme an der Situation, die ‚Ausländer‘ in der BRD erleben. Die Autoren erkennen sich als Gastarbeiter an, auch wenn sie aus rein anagraphischer Sicht nicht unbedingt als solche tätig sein - oder gewesen sein - müssen. Aus diesem Grund und nur aus diesem Grund bezeichnen sie sich selbst als „Betroffene“ und ihre literarische Produktion als „Literatur der Betroffenheit“: Das Ausmaß der Betroffenheit wird deutlich, wenn man sich überlegt, daß sich ein Italiener mit einem Türken mit nicht mehr als 100 Wörtern oft besser verständigen kann als mit einem Deutschen, obwohl er ihm ebenfalls fremd ist. […] Gerade die Betroffenheit ist aber unentbehrlich für die Solidarität. (Biondi/ Schami 1981: 134) Diese der Betroffenheit ist keine kausale terminologische Wahl. Mit Meuser (2006: 142) lässt sich die Betroffenheit als eine Interpretationskategorie auffassen, die aus einer Verlagskategorie im Literaturbetrieb der 1970er Jahre entwickelt wurde (die ‚Verständigungstexte‘ des Suhrkamp Verlags), und diente der Be‐ schreibung autobiographischer Texte von Autor: innen, die als Fürsprecher von unterrepräsentierten Minderheiten und sozialen Gruppen - z. B. Homosexuelle, Gefangene, Immigranten - auftraten. Nach Joseph Jurt (2006: 224-225) setzte sich diese Kategorie in den 80er Jahren als Hauptperspektive in der Rezep‐ tion der Ausländerliteratur zum Nachteil ihrer stilistischen und ästhetischen Dimension durch. Die Werke wurden in der ersten Linie aufgrund der - oft vermeintlichen - Authentizität der Geschichten geschätzt, die durch die Tatsache garantiert wurde, dass die Autor: innen selbst Betroffene waren: 52 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="53"?> Die Öffentlichkeit im „Zentrum“ reagiert mit letztlich unpolitischer emotionaler Betroffenheit, […], wertet die Aussagen als authentische Zeugnisse, bei denen sich die Frage ästhetischer Qualität nicht stellt, was wiederum ein hierarchisierendes Urteil impliziert. […] Über die Kategorie Betroffenheit […] wurde diese Literatur in der Tat in dem herrschenden deutschen Diskurs eingeschrieben, die Werke wurden als Auslöser von Emotionen oder als soziale Dokumente, nicht aber als Literatur wahrgenommen. ( Jurt 2006: 225) Dieses Konzept der Betroffenheit impliziert Passivität, denn die soziale Benach‐ teiligung wird nicht von dem Subjekt gewählt, sondern vom Außen durch die sozioökonomischen Umstände. Für die Gastarbeiterautoren stellt meines Erachtens die Bezugnahme auf Betroffenheit hingegen einen Akt der Aneignung und Subversion einer im Grunde diskriminierenden Bezeichnung dar, der auf mehreren Ebenen spielt. Erstens lässt sich in dieser Begriffsaneignung seitens der Südwind-Autoren ein indirekter und möglicherweise ironischer Verwies auf die Veröffentlichungsrealität der Zeit erkennen: Um als ‚Ausländer‘ einen ‚deutschen‘ Veröffentlichungskanal zu erreichen, musste man die zugeschrie‐ bene Rolle des Opfers einnehmen. Zweitens verstehen sie das Betroffensein als eine programmatische Stellungnahme und nicht als eine direkte Konsequenz ihrer biographischen Erfahrungen. Die Legitimation, das Wort im öffentlichen Diskurs zu ergreifen, ergibt sich also aus der gemeinsamen ideologischen Positionierung und klassenspezifischen Solidarität. Nur in diesem hochpoliti‐ schen Sinne lässt sich die Betroffenheit als das Kernmerkmal der literarischen Produktion der Gastarbeiterautoren der Südwind-Gruppe verstehen. Die Dimension der Betroffenheit - hier traditionell interpretiert - kenn‐ zeichnet auch die erste wissenschaftliche Rezeption, die von den Forscher: innen der IDF-Gruppe ausgearbeitet wurde. Ihre bewussten Kodifizierungs- und Kanonisierungsbemühungen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, insbesondere von Ackermann und Weinrich, liegt der zunehmend erkennbare Wunsch zu‐ grunde, die literarische Produktion ‚ausländischer‘ Schriftsteller: innen als ein einheitliches, wenn auch heterogenes, unabhängiges, und jedoch der deutschen Literatur zugehöriges Phänomen zu identifizieren, das daher einer spezifischen Bezeichnung bedarf. Diese schwierige Absicht lässt sich in den Worten von Weinrich selbst treffend zusammenfassen: „Es [ist] offenbar leichter, einen neuen Staat als eine neue Literatur zu gründen […]. Es gibt eine deutsche Lite‐ ratur oder wenigstens einen starken literarischen Ausdruckswillen in deutscher Sprache auch bei vielen Angehörigen anderer Nationen“ (1982: 9). In seiner 1982 auf der Jahresfeier der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gehaltenen Rede unterscheidet Weinrich (1983b: 915) zwischen Gastar‐ beiterliteratur und Ausländerliteratur. Einerseits bilden seiner Ansicht nach die 1.3 Die ersten literaturwissenschaftlichen Kodifizierungen 53 <?page no="54"?> 28 Für eine eingehendere Behandlung der kulturellen Bedeutung dieses Austauschs siehe auch Röhrborn (2021: 312-314). Publikationen der Südwind-Gruppe eine Literatur, die sich vor allem durch die ästhetische Erfahrung der Betroffenheit auszeichne, die wiederum durch die Authentizität der Autorenerfahrung erzeugt werde. Da es sich um authentische Berichte über ein soziales Phänomen handelt - die Anwerbeabkommen -, ist diese Literatur als rein ‚deutsch‘ zu betrachten, abgesehen von der ‚ausländi‐ schen‘ Herkunft der Schriftsteller: innen: „Es scheint mir bemerkenswert, wie sehr die Gastarbeiterliteratur, wenn sie eine ‚Literatur der Betroffenheit‘ zu sein anstrebt, bereits in ihrer innersten Substanz, zu ihrem Vor- oder Nachteil, deutsch ist“ (Weinrich 1983b: 916). Andererseits verwendet er anfänglich den Begriff Ausländerliteratur, wenn er sich auf die gesamten Werke der Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft bezieht, deren Spuren in den IDF-Anthologien zu erkennen seien. Die Bezeichnung ersetzte den 1982 entwickelten Begriff der „deutsche[n] Gastliteratur“, der u. a. im Vorwort der ersten Anthologie vor‐ kommt (vgl. Weinrich 1982: 9). Der Hintergrund dieser Veränderung lässt sich anhand eines Briefwechsels gewinnen, der zwischen Februar und Oktober 1983 im Rahmen der IDF-Preisverleihungen zwischen einem jungen Teilnehmer der ersten Preisausschreibung, Ackermann und Weinrich stattfand. 28 In einem an letzteren gerichteten Brief kritisiert der Teilnehmer (ACP-O20-1) die Verwen‐ dung des Ausdrucks, da er, wie der Begriff ‚Gastarbeiter‘, die Prekarität und Nichtzugehörigkeit der Schriftsteller zur deutschen Kultur suggeriere: Ich las Ihr Vorwort in dem Band Als Fremder in Deutschland, in dem Sie die Bezeich‐ nung „deutsche Gastliteratur“ benutzen und empfand dieses Wort als diskriminierend. Wie Sie wissen, ist der große Teil davon Ausländern, die sich in deutscher Sprache literarisch betätigen, ausländische Arbeitnehmer oder ihre Angehörigen. Die Bezeich‐ nung „Gastliteratur“ ist genauso irreführend wie das Wort „Gastarbeiter“. Wir kamen hierher und wurden nicht als Gäste behandelt. Wir haben gearbeitet und die deutsche Industrie konkurrenzfähig gemacht. Als Alternative schlägt der Teilnehmer gerade den Begriff „Ausländerliteratur“ vor: Ich frage mich in letzter Zeit, warum man nicht schlicht und einfach von „Auslän‐ derliteratur“ sprechen soll. Das ist für mich die richtige Bezichnung [sic! ], daß sie bescheiden ist, spielt keine Rolle, denn die Texte selbst sollen ja über die Qualität dieser Literatur entscheiden. (ACP-O20-2) 54 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="55"?> 1983 entwarf Weinrich (1983b: 917) tatsächlich unter der Bezeichnung „Aus‐ länderliteratur“ ein Phänomen, das umfangreicher als das der „Gastarbeiterlite‐ ratur“ sei, da es auch durch die Stimmen und Erfahrungen von Asylbewerbern, Exilanten, Studierenden konstituiert werde. Das Hauptmerkmal dieser Schriften sei laut Weinrich jene sprachliche „Fremdheit“, auf die im Vorwort der ersten Anthologie eingegangen wurde und die hier als der Kern der Literatur im Sinne des russischen Formalismus weiter präzisiert wird: „Mit einem irreduktiblen Rest Fremdheit macht die Sprache hier auf sich selbst aufmerksam […]. Diese Ausländer sprechen und schreiben bisweilen sogar ein besseres Deutsch als manche Deutsche“ (Weinrich 1983b: 918-919). Es lässt sich ebenfalls schluss‐ folgern, dass in Weinrichs Verständnis der Ausländerliteratur der von den Autor: innen erfahrene Sprachwechsel zentral ist. In ihrem Artikel ‚Gastarbeiter‘literatur als Herausforderung erkennt Acker‐ mann (1983b: 59) in der Gesamtheit dieser Texte „eine eigenständige Literatur‐ form“. Dazu zählt sie nicht nur die IDF-Anthologien und die von Südwind herausgegebenen Bände, sondern auch die literarischen Werke von Pazarkaya, die in nationalen Zeitschriften in anderen Sprachen als Deutsch veröffentlichten Texte, die aus dem Türkischen übersetzten Schriften von Ören und andere Werke, die nicht direkt die Lage der ‚Ausländer‘ thematisieren, aber von nichtdeutschen Autor: innen veröffentlicht wurden. Nach Ackermann (1983b: 56- 60) ist dieses neue literarische Phänomen durch die ästhetische Dimension des ‚Dazwischen‘ gekennzeichnet: „aus der Zwischenposition zwischen zwei Kulturen entwickelt sich eine neue, eigenständige Aussageform, eine Misch‐ kultur“. Schließlich identifiziert auch Ackermann (1983b: 60), wie Weinrich, die sprachliche Dimension der Texte als konstitutives Merkmal dieser Literatur und betont ihren experimentellen Charakter: In den auf Deutsch verfassten Werken finden sich bewusste Verstöße gegen das Standarddeutsch, „ungewohnte Wort‐ schöpfungen“ sowie „bildhafte Ausdrücke“. Es ist das Jahr 1983 und zum ersten Mal wird in der Germanistik die Existenz eines literarischen Phänomens, das mit dem Schreiben von ‚Ausländern‘ zusam‐ menfällt, explizit gemacht. Es handelt sich um ein breites Phänomen, das jedoch durch seine eigenen Merkmale umschrieben wird und für das ein Korpus und ein Kanon ausgearbeitet werden. Die Kriterien für die Auswahl der einbezogenen Werke sind jedoch nicht eindeutig: Alle Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft, die auf Deutsch publizieren, werden in diese Kategorie aufgenommen, und zwar auf der Grundlage eines nicht expliziten biographischen Kriteriums - das auf jeden Fall mit Rückgriff auf die Kategorie der Betroffenheit ableitbar ist, die hier als anagraphische Kategorie verstanden wird, gewiss nicht als ideologischpolitische. 1.3 Die ersten literaturwissenschaftlichen Kodifizierungen 55 <?page no="56"?> 29 Neben Beiträgen und Aufsätzen finden sich die ersten Bibliographien von Sekundärli‐ teratur in dem Sammelband Zu Hause in der Fremde (siehe Schaffernicht/ Sevgi Atasayar 1981) und in den im Studienjahr 1985/ 1986 im Rahmen des Pädagogikkurses für Ausländer an der Universität Münster herausgegebenen Studienmaterialien, die sich in der Sammlung G: Chamisso-Preis-Sammlung des DLA befinden, vgl. GCP-2-Krüger- Potratz 1985. Diese Position der IDF-Wissenschaftler: innen fand in der Germanistik der damaligen Zeit viel Widerhall. 1983 erarbeitet Karin Meißenburg eine Kodi‐ fizierung der literarischen Produktion ethnischer Minderheiten und geht be‐ wusst vom selben Textkorpus Ackermanns aus, deren ersten Artikel (siehe Ackermann 1983c) sie mehrmals zitiert. Zwei alternative Definitionen werden hier vorgeschlagen, die den Erfahrungsabstand zwischen der „ersten“ und der „zweiten Generation“ berücksichtigen, nämlich „Migrantenliteratur“ und „Minderheitsliteratur“ (vgl. Meißenburg 1983: 61-62). Darüber hinaus stellt die Wissenschaftlerin einen Unterschied zwischen den ‚ausländischen‘ und deut‐ schen Schriftstellern fest, obwohl sie dessen Grundlage nie explizit behandelt. 1984 erschien mit Heimke Schierloh die erste Monographie über die Literatur rund um das „Gastarbeiterdasein“ - wie der Titel der Arbeit lautet -, deren Korpus, wie im Fall von Meißenburg, aus den Publikationen von Südwind und der IDF besteht. Nach Ansicht der Wissenschaftlerin liege der Hauptantrieb der literarischen Produktion von ‚Ausländern‘, die sie „Migrantenliteratur“ nennt, im Erkennen sowie Überwinden des als Folge der Emigration erlebten Kultur‐ schocks (vgl. Schierloh 1984: 17-18). Aufgrund dieser gemeinsamen Inspiration besitze die Migrantenliteratur eine kollektive Dimension: „Der Schreibakt, der damit eine wegweisende Funktion bekommt, ist auch nicht nur Ausdruck des persönlichen Dringens des Autors, sondern ein im weitesten Sinne sozialer Akt, da er als Mittler zwischen den Kulturen, deren Zusammentreffen den Kultur‐ schock ausgelöst hat, wirkt“ (Schierloh 1984: 18). Mehr noch als Weinrich und Ackermann betont Schierloh (1984: 22) den Zeugnischarakter der Texte, deren Betrachtung den psychologischen Zustand der Migranten für das deutschen Publikum enthüllt: „Der durch die Wanderung ausgelöste Kulturschock hat die meisten Migranten zu offenen und kritischen Individuen werden lassen“. Dies ist, wie man sich denken kann, eine zumindest kühne Ausweitung der Perspektive der Betroffenheit von der psychologischen Dimension der einzelnen Schriftsteller: innen auf alle Migranten. Auf jeden Fall zeigen sowohl das Beispiel von Meißenburg als auch das von Schierloh, wie sich zu diesem Zeitpunkt auch in der Sekundärliteratur 29 eine Art Kanon entwickelte. Wie auch Immacolata Amodeo (1996: 14-16) feststellt, ist ein grundlegendes Moment für die Etablierung dieses Kanons und für die kritische 56 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="57"?> 30 Die erste war die von der Evangelischen Akademie in Iserlohn vom 10. bis 12. Mai 1985 organisierte Konferenz; die zweite von der IDF in der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg am 17. und 18. Mai 1985 mit dem Titel Eine nicht nur deutsche Literatur. Bei dieser zweiten Veranstaltung lud die IDF ‚ausländische‘ Schriftsteller: innen und Wis‐ senschaftler: innen, Literaturkritiker: innen und deutsche Kulturvermittler: innen ein, um über das Thema „Deutsche Literatur von Autoren nichtdeutscher Muttersprache“ zu sprechen (siehe ACP-O33-1). Beide Konferenzen wurden von Schriftstellern wie Biondi, Taufiq, Schami und Pazarkaya besucht. Die Beiträge beider Konferenzen erschienen in zwei Sammlungen: Evangelische Akademie Iserlohn (1985); Ackermann/ Weinrich (1986). Diskussion die Veröffentlichung der 56. Heft der Zeitschrift LiLi. Literatur und Linguistik im Jahr 1984, herausgegeben von Helmut Kreuzer und Peter Seibert, das sich ganz dem Thema „Gastarbeiterliteratur“ widmet (siehe Kreuzer/ Seibert 1984). Alle Artikel des Hefts, zu denen auch Beiträge von Ackermann, Biondi, Pazarkaya und Weinrich gehören, gehen von der Existenz einer literarischen Kategorie aus, die alle ‚ausländischen‘ Autor: innen umfasst, und hinterfragen die verschiedenen Perspektiven, die man einnehmen kann, um ihre Grenzen abzustecken und ihre Hauptmerkmale zu profilieren. Wie Kreuzer (1984: 7) in der Einleitung erklärt, wird in den Beiträgen den Begriff „Ausländerliteratur“ verwendet, um die Gesamtheit der von ‚Ausländern‘ in deutscher Sprache verfassten literarischen Texte zu bezeichnen, und „Gastarbeiterliteratur“, um eine bestimmte Typologie von ersterer zu definieren. Daraus lässt sich ableiten, dass sich innerhalb der Germanistik eine Forschungsrichtung bereits etabliert hatte und dass die Perspektive, die dabei eingenommen wurde, die von den IDF-Wissenschaftler: innen vorgeschlagene ist. Die Voraussetzungen für die Entstehung dieses neuen literarischen Phänomens und das entsprechende For‐ schungsfeld werden in nur einem Beitrag des Bandes problematisiert, nämlich in dem von Seibert, auf den später näher eingegangen wird. Ein weiteres Schlüsselmoment sind die ersten Konferenzen, die beide im Mai 1985 stattfanden und an denen ebenfalls ‚ausländische‘ Wissenschaftler: innen und Schriftsteller: innen teilnahmen. 30 In ihrem Beitrag, der im Tagungsband der ersten Konferenz veröffentlicht wurde, schlägt Ackermann (1985: 34-37) die erste chronologische Entwicklung des Phänomens vor und deklariert die Überwindung der Kategorie der Betroffenheit. Der Wissenschaftlerin zufolge fällt eine erste Phase der Entstehung von der Ausländerliteratur mit Texten zu‐ sammen, die in den verschiedenen Minderheitensprachen veröffentlicht wurden - und die eine begrenzte Verbreitung und ein begrenztes Publikum hatten. Darauf folge eine zweite Phase, die durch die ersten Anthologie-Veröffentli‐ chungen in deutscher Sprache gekennzeichnet war und Ausdruck des Wunsches der Autor: innen - vor allem der italienischen und türkischen Minderheiten - 1.3 Die ersten literaturwissenschaftlichen Kodifizierungen 57 <?page no="58"?> war, über die Grenzen der ethnischen und nationalen Minderheiten hinaus zu kommunizieren. Diese beiden Phasen wurden laut Ackermann von einer dritten abgelöst, in der die Autor: innen individuellere künstlerische Wege verfolgten, die auf die Entwicklung eines ästhetischen Diskurses ausgerichtet waren, der über die Betroffenheit hinausging: Während man vor einigen Jahren geneigt war (und ich schließe mich selbst auch nicht aus! ), jeden Text, der Ausdruck von Betroffenheit aus der Ausländerperspektive war, dieser Literatur zuzuzählen, […] muß man wohl inzwischen die Ansprüche und Kriterien der literarischen Qualität viel stärker mit einbeziehen […]. Literatur ist mehr als bloßer Ausdruck der Betroffenheit. (Ackermann 1985: 38) „Literatur ist mehr als bloßer Ausdruck der Betroffenheit“: Mit diesen Worten schlägt Ackermann eine primär theoretische Wende vor, indem sie Wissen‐ schaftler: innen und Kritiker: innen auffordert, sich auf die ästhetisch-literarische Dimension von Texten statt auf ihren soziokulturellen Wert zu konzentrieren. Folgerichtig kann die Ausländerliteratur in dieser letzten Phase, so Ackermann (1985: 32) weiter, als „deutsche Literatur von Autoren nichtdeutscher Mutter‐ sprache“ verstanden werden: „die Themen beschränken sich nicht mehr auf die Ausländerproblematik […]. Der Ausländer wird als Außenseiter zu einem Träger von Erfahrungen, die auch andere betreffen“. Aber ist es wirklich so einfach zu behaupten, dass es die Texte und ihre ästhetischen Positionen sind, die sich im Laufe der Jahre entwickelt haben, und nicht vielmehr die theoretischen Ansätze, durch die sie analysiert wurden? Dies - und mehr - muss noch diskutiert werden, bevor das Kapitel endet. 1.4 Die ambivalente Verortung der Literatur zwischen Politisierung und Sensibilisierung Ausgehend von dem bisher Gesagten, lässt sich behaupten, dass die literari‐ sche Produktion von Autor: innen nicht-deutscher (oder nicht ausschließlich deutscher) Herkunft zwar keine absolute Neuheit im deutschsprachigen Lite‐ raturraum darstellte, die Entstehung dieses Phänomens jedoch erst in den 1980er Jahren zu verorten ist. In der Tat wurde im literarischen Diskurs dieser Zeit die Herkunft der Autor: innen zu einem Kriterium der literarischen Einordnung, d. h. im Sinne Foucaults zeichnet sich ein neues Diskursobjekt ab. Aus einer Bourdieu’schen Perspektive nimmt andererseits die Aktivität der beiden untersuchten Akteursgruppen im literarischen Feld ihren Anfang. Somit entwickelte sich im deutschsprachigen literarischen Feld der 1980er Jahre ein neuer literarischer Raum, zu dem die Werke von ‚ausländischen‘ 58 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="59"?> Autor: innen, ihre literaturkritische und -wissenschaftliche Rezeption sowie ihre Verbreitungskanäle gehören. In diesem Zusammenhang zeigten die beiden oben genannten Gruppen - auf unterschiedliche Weise, in unterschiedlicher Intensität und mit unterschied‐ lichen Motivationen - ein kodifizierendes Interesse für ein als eigenständig wahrgenommenes literarisches Phänomen. Um es abzugrenzen, schlugen sie unterschiedliche Definitionen vor, die ihren jeweiligen nomoi widerspiegeln: die Gastarbeiterliteratur und die Ausländerliteratur. Die entscheidenden Diffe‐ renzen unter ihnen sind: der Umfang des Korpus, die Rolle der deutschen Literatursprache, die unterschiedlichen Auffassungen von Betroffenheit, sowie insbesondere die Funktion, die der Literatur zugeschrieben wird. Während das Konzept von Gastarbeiterliteratur den durch Südwind hergestellten Werken entspricht, wurden unter die Kategorie der Ausländerliteratur nicht nur die in den Anthologien veröffentlichten Texte gezählt, sondern auch die literarische Produktion aller Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft. Im ideologischen An‐ satz von Südwind ist die Wahl des Deutschen als Literatursprache nicht in erster Linie auf ästhetische Ambitionen zurückzuführen, sondern auf die Notwen‐ digkeit, mit Einheimischen und anderen ‚Ausländern‘ zu kommunizieren. Im Gegenteil steht in den IDF-Anthologien nicht nur das Schreiben auf Deutsch als Fremdsprache im Mittelpunkt des Interesses, sondern der Sprachwechsel wird als entscheidender Auslöser der literarischen Kreativität bei ‚Auslanderautoren‘ angesehen. Die Betroffenheit der Gastarbeiterautoren stellt in der Südwind- Programmatik einen wichtigen und entscheidenden Legitimationsaspekt dar, weil lediglich diejenigen, die Migrationserfahrungen sowie Diskriminierungen aufgrund ihrer Herkunft erlebt haben, sich über die Lage der ‚Ausländer‘ äußern sollten (vgl. Biondi/ Schami 1981: 124-126). Bei den (IDF-)Ausländerautoren entspricht die Betroffenheit eher der existenziellen Position, aus welcher sie ihrem Fremdsein eine ästhetische Form geben konnten. Letztlich fällt die Gastarbeiterliteratur mit den Veröffentlichungen von Autor: innen zusammen, die eine klare literarische und politische Haltung einnehmen und ihr Schreiben der Anprangerung der wirtschaftlichen und existenziellen Bedingungen von ‚Ausländern‘ widmen, indem sie sich in der emblematischen Position des Gast‐ arbeiters wiedererkennen. Das Konzept der Ausländerliteratur der IDF-Wissen‐ schaftler: innen hingegen umfasst die literarischen Produktionen ‚ausländischer‘ Autor: innen, die durch die Erfahrung der existenziellen, sprachlichen und ästhetischen Verfremdung vereint sind. Im Gegensatz zum Südwind-Manifest finden sich in den Vor- und Nach‐ worten der IDF-Anthologien keine Hinweise auf die deutsche Gesetzgebung oder auf die wirtschaftliche Konjunktur, die das Phänomen der Arbeitsmigration 1.4 Die ambivalente Verortung der Literatur zwischen Politisierung und Sensibilisierung 59 <?page no="60"?> bestimmt hat. Weinrich und seine Mitarbeiter: innen stellten die Frage nicht in politischer, sondern in psychologischer, kultureller und sprachlicher Hinsicht, also unter Aspekten, die in erster Linie eine Frage des individuellen Verhaltens sind. Dies geht unter anderem aus dem Incipit von Krusches Nachwort (1982: 189) hervor: Wir bemühen uns. Wir wollen verstehen - und verstanden werden. Wir geben uns, „wie wir sind“. Wir versuchen, die Fremden in unserem Land als „Menschen wie du und ich“ zu nehmen. Wir versuchen, „nett zu sein“. […] Wir wollen es den Fremden bei uns „gemütlich“ machen. Sie sollen sich „heimisch“ bei uns fühlen. Freilich sind wir erstaunt […], wenn die anderen unsere Gemütlichkeit nicht ebenso gemütlich finden wie wir selbst, wir sind enttäuscht, wenn sie sich nicht heimisch fühlen in unserer „schönen Heimat“. Nicht der Widerstand, sondern das Verständnis leitet die Aktivitäten der IDF-Wissenschaftler: innen. Um diese Unterscheidung besser zu verstehen, ist es nützlich, einen Artikel von Weinrich aus dem Jahr 1972 heranzuziehen, der sich zwar nicht auf die Ausländerliteratur konzentriert, dessen Perspektive aber dennoch eingenommen werden kann, um den Unterschied zwischen den beiden Gruppen zu systematisieren. Im Vergleich zu literarischen Horizonten wie dem französischen oder dem britischen, in denen Stimmen aus den ehemaligen Ko‐ lonien mitschwingen, fehle dem deutschen literarischen Szenario laut Weinrich (1972: 86-88) eine „naive Literatur“, die sich für den ungefilterten Ausdruck von Minderheiten und oppositionellen gesellschaftlichen Positionen und Erfah‐ rungen eignet. Zeitgenössische Literaturprojekte von unten, wie der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, erweisen sich, so Weinrich weiter, nicht als geeignet, diese Rolle zu erfüllen, da das Hauptziel solcher Projekte die „Politisierung“ des Lesers sei, was die authentische Berufung des literarischen Werks, nämlich die Erweiterung des individuellen Horizonts, die „Sensibilisierung“, behindere: Gleichzeitig lassen diese interessanten Versuche […] die Risiken […] nicht-profes‐ sionellen Schreibens erkennen […]. [Sie können] immer häufiger der Versuchung nachgeben, den langen Marsch durch die Literatur aktivistisch abzukürzen und die Gesellschaft durch direkte Agitation oder Aktion verändern zu wollen. (Weinrich 1972: 88) Geht man von dieser Unterscheidung aus, so kann man feststellen, dass Weinrichs Projekt zwar von der Absicht der Sensibilisierung der deutschen Leserschaft geleitet wurde, während die Gastarbeiterautoren eher die Politisie‐ rung, insbesondere der Ausländer: innen, verfolgten. Dies lässt sich anhand von Seiberts Beobachtungen aus dem LiLi-Band von 1984 näher untersuchen: „Die 60 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="61"?> 31 Mit „Gastliteratur“ bezieht sich Seibert auf Weinrichs erste Definition, die in der Anthologie von 1982 vorgeschlagen wurde (vgl. Weinrich 1982). literarischen Traditionen, auf die sich beide Konzeptionen berufen, müssen auseinanderstreben. ‚Gastliteratur‘ 31 und Gastarbeiterliteratur lassen sich in vielfacher Hinsicht als kontradiktorische Konzeptionen von Ausländerliteratur beschreiben“ (Seibert 1984: 60). Als Seibert dies schrieb, konnte er sich noch auf die gegensätzlichen Konzeptionen der beiden Gruppen beziehen. In den darauffolgenden Jahren sollte jedoch die von den IDF-Wissenschaftler: innen vorgeschlagene Perspektive die Rezeption dieser Schriften dominieren: Auf‐ grund ihrer akademischen Position verfügten sie in der Tat über ein größeres symbolisches Kapital sowie über einen Zugang zu viel umfangreicheren Ver‐ breitungskanälen, wie ihre Zusammenarbeit mit dem Deutschen Taschenbuch Verlag zeigte (vgl. dazu Teraoka 1987: 92-94). Neben den Ebenen der Produktion und Diffusion von Texten kommt im Fall des IDF-Projekts also auch den Bereich ihrer Kodifizierung und akademischen Legitimierung ins Spiel. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre profilierte sich dann das Konzept der IDF-Ausländerlite‐ ratur als der Hauptrepräsentant der neuen Feldposition und fand darüber hinaus auch entsprechenden Widerhall in der Germanistik. Die dezidiert politische Funktion, die die Gastarbeiterliteratur laut ihrer Gründer erfüllen sollte, setzte sich in der Rezeption ihrer Texte indes nicht in größerem Umfang durch. Mitte der 1980er Jahre war der literarische Raum der Ausländerliteratur daher bereits abgesteckt, so dass es nicht mehr nötig war, seine Existenz zu rechtfertigen, was bis dahin noch unvermeidlich gewesen war (siehe Esselborns Nachwort aus dem Jahr 1985). Mit anderen Worten, Mitte der 1980er Jahre wurden ein neues Feld und ein neuer Gegenstand des Diskurses geboren: Es wurde der erste Schritt in einem Prozess getan, der Weinrich mühsamer erschien als die Gründung eines Staates. Es dürfte kaum entgangen sein, dass diesem Prozess zwei tiefe Ambivalenzen zugrunde liegen, die auch wesentliche Konsequenzen für die Geschichte des Adelbert-von-Chamisso-Preises haben werden. Erstens: Die beiden wichtigsten Konzepte der frühen 1980er Jahre, Gastarbeiterliteratur (Südwind) und Aus‐ länderliteratur (IDF), gehen auf Verlagsprojekte zurück, die auf die Veröffent‐ lichung von Anthologien abzielten, die aus thematischen Ausschreibungen hervorgegangen waren. Es ist offensichtlich, dass beide Visionen die literarische Produktion von ‚Ausländern‘ eher vorausgingen als folgten, da ihre nomoi die Verlagsaktivitäten von Südwind und IDF lenkten, d. h. sie bestimmten die Themen, denen die Anthologien gewidmet waren, und die Art der beteiligten Autor: innen. Die Aktivitäten der beiden Gruppen - so die Hypothese des 1.4 Die ambivalente Verortung der Literatur zwischen Politisierung und Sensibilisierung 61 <?page no="62"?> vorliegenden Buches - betrafen also nicht nur die Diffusion von der Auslän‐ derliteratur, sondern auch ihre Produktion, denn beide gaben Anthologien heraus und forderten ‚Ausländer‘ faktisch auf, nach thematischen Vorgaben zu schreiben, welche die eigene Vorstellung von Literatur widerspiegelten. Dies führte zu einem Bild der thematischen Einheit innerhalb der literarischen Produktion, das im Grunde genommen falsch war und das in späteren Jahren auch in der wissenschaftlichen Rezeption als typisch für die Ausländerliteratur galt. Dies gilt insbesondere für die IDF-Gruppe, die als Bezugspunkt für die Autor: innen auf ihrem Werdegang fungierte. Ackermann schlug sogar Ände‐ rungen an den Texten vor, damit sie besser zu den Themen der Ausschreibungen oder Anthologien passten. Ein Beispiel dafür ist der Austausch mit einem der Teilnehmer: innen des Wettbewerbs von 1982, der gebeten wird, Änderungen am Text vorzunehmen, die meines Erachtens den Text in Richtung interkulturellen Kontakts und Austauschs lenken (vgl. ACP-O20-3). In einem Brief aus dem Jahr 1985 antwortet Ackermann zudem einer Autorin, die ihr Manuskript zur Beratung geschickt hatte, und informiert sie über den bevorstehenden Preisausschreibung „Über Grenzen“ (vgl. ACP-O24-1). Die Wissenschaftlerin behauptet hier, das Manuskript behandle das Thema nur teilweise und schlägt vor, dass die Autorin dies deutlicher machen sollte, um sich für den Preis bewerben zu können. Diese sind emblematische Belege für den Einfluss, den die IDF-Gruppe auf die Produktion ihres eigenen Korpus ausübte. Die einzige kritische Stimme, die auf diesen Widerspruch hinweist, ist die von Seibert, der in der oben erwähnten LiLi-Ausgabe argumentiert, dass die Ähnlichkeiten, die sich zwischen den veröffentlichten Texten finden lassen und die das Kriterium für die Entwicklung der Kategorien selbst darstellen, vor allem aus dem thematischen Grundgedanken der Anthologien herrühren. Aber wenn dies für die Gastarbeiterliteratur kein Widerspruch ist, so Seibert (1984: 44), so ist es das für die Ausländerliteratur zweifellos: Von der Existenz einer Literatur wurde ausgegangen, deren Eigenschaften und Gemeinsamkeiten, die diese Literatur als neuen Komplex konstituieren, aus dem besonderen Verhältnis der Autoren zum Immigrationsland resultierten: dem der Arbeitsmigration. Dies ließ ein Literatur- und Autorenselbstverständnis unter jenen Schriftstellern entstehen, die für sich die Klassifizierung als ‚Gastarbeiterautoren‘ akzeptierten, das sich weniger an literarischen und ästhetischen als an politischen Prämissen orientierte. (Hervorhebung von mir) Es ist wichtig zu bedenken, dass die Gastarbeiterliteratur in der Definition Südwinds durch Autor: innen gestaltet und gefördert wurde, die sich bewusst 62 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="63"?> 32 Eine Ausnahme ist die Rede, die Hans-Dieter Grünefeld auf der Konferenz in Iserlohn hielt (siehe Grünefeld 1985). und unabhängig für die Teilnahme an einer gemeinsamen politischen Mission entschieden haben. Im Falle des IDF-Projekts hingegen handelt es sich um Wissenschaftler: innen, welche die Themen der Ausschreibungen aus ihren eigenen Forschungsinteressen heraus definieren und damit einen Korpus um‐ schreiben, der später zur Grundlage ihrer wissenschaftlichen Studien wird und der sie davon überzeugt, dass sie es mit einer neuen Literatur zu tun haben (siehe dazu Seibert 1984: 58-59). Die Identifizierung eines einheitlichen literarischen Phänomens ergibt sich an dieser Stelle nicht aus einer von den Autor: innen gewählten Positionierung, sondern aus der Anerkennung einer un‐ bestimmten Dimension der Fremdheit in der ästhetischen Dimension der Texte: „Bei einer solchen Heterogenität des ‚Fremdseins‘ in der deutschen Sprache wird dieses als hinlängliches Kriterium einer einheitlichen Literaturkategorie fraglich“ (Seibert 1984: 59). So akzeptiert Seibert (1984: 59) nur die Kategorie der Gastarbeiterliteratur, wie sie von den Südwind-Autoren definiert wurde. Solche Überlegungen finden bis in den 1990er Jahren kein Echo in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion, 32 die stattdessen die theoretischen Positionen der IDF-Gruppe propagiert (siehe dazu Amodeo 1996; Pabis 2018: 194). Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Mitglieder der IDF-Gruppe wählten als Organisator: innen einerseits die Themen der Preisausschreiben aus und entschied darüber, welche Texte für die Anthologien am geeig‐ netsten waren. Anderseits untersuchten sie als Sprach- und Literaturwissen‐ schaftler: innen eben jene Texte, die von ihnen selbst publiziert wurden. Folglich beziehen sich ihre Studien auf die Merkmale eines Textkorpus, den sie selbst anhand von thematischen Preisausschreiben zusammengestellt hatten. Aus dieser Doppelfunktion entsteht eine Kollision zwischen Produktion, Distribu‐ tion und Rezeption der Texte, die man als eine Art funktionsgeschichtlichen Interessenkonflikt bezeichnen könnte. Entgegen der selbst stets konstatierten Heterogenität der Texte (siehe z. B. Weinrich 1982: 10) zeichnen sich die von den Projektmitarbeiter: innen in ihrer Doppelfunktion ausgewählten und veröffentlichten Texte vielmehr durch eine nicht geringe Homogenität aus. Eine ähnliche Überlappung der Ebenen Produktion, Diffusion und Rezeption lässt sich auch bei den Südwind-Akteuren konstatieren, hat aber aufgrund der größeren Symbolkraft der IDF-Gruppe nicht die gleichen Konsequenzen. Des Weiteren verwandelt sich die Betroffenheit in ihrem Literaturverständnis von einer im Wesentlichen redaktionellen Kategorie in ein Legitimationskrite‐ rium für die Autor: innen sowie in ein Interpretationsschema ihrer Werke. Ob‐ 1.4 Die ambivalente Verortung der Literatur zwischen Politisierung und Sensibilisierung 63 <?page no="64"?> wohl laut Ackermann selbst (1985: 38) diese kritische Perspektive für die frühen Entwicklungsphasen der Ausländerliteratur geeignet sei, blieb die Betroffenheit bis in die 1990er Jahre eine zentrale Kategorie in der Rezeption dieser Texte. Aber der Kernpunkt ist ein anderer: Sie bleibt das eigentliche, unausgesprochene Definitionskriterium des Korpus der Ausländerliteratur. Trotz aller Versuche weiterer ästhetischer Definitionen scheint die Ausländerliteratur eher anagra‐ phisch und biographisch bestimmt zu sein. Sie war schlichtweg die Literatur, die von ‚Ausländern‘ geschrieben wurde. In diesem Kontext findet erst die Konzeption und dann die Einrichtung des neuen literarischen und kulturellen Projekts des Adelbert-von-Chamisso- Preises statt. Die erste Preisverleihung erschien 1985, ein Datum, das eine veritable Schwelle darstellt. 64 1 Die Anfänge: Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur (1955-1985) <?page no="65"?> 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur 2.1 Struktur und Entwicklungsparabel des Chamisso-Preises In ihrer Beschreibung des bereits von der IDF initiierten Projekts zur Förderung der Ausländerliteratur spricht sich Ackermann 1983 für die Einrichtung „eines Literaturpreises für deutschsprachige Literatur von Ausländern“ aus (1983a: 253). Ziel des Projekts wäre, so Ackermann weiter, zum einen die Förderung und Verbreitung der „Ausländerkultur“ unter den Deutschen und zum anderen die Einbeziehung von „Ausländerautoren“ in den deutschen Literaturraum. Auf diesen beiden Schienen lief das neue Kulturprojekt des Adelbert-von-Chamisso- Preises, der von 1985 bis 2017 vergeben wurde. Der Preis entsprang ebenso einer Idee von Harald Weinrich und beruhte auf der Zusammenarbeit zwischen dem Münchner IDF und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, die beide bereits an den im vorherigen Kapitel behandelten Pilotprojekten Weinrichs beteiligt waren. Eine besonders entscheidende Rolle spielte hierbei die Robert Bosch Stiftung (fortan RBS). Wie Weinrich selbst (2008: 15) hervorhebt, hatte ein Vertreter dieser Stiftung ihm tatsächlich finanzielle Unterstützung für die Schaffung eines umfassenderen Preises zur Förderung der „Migrantenliteratur“ angeboten, was zur Gründung des Chamisso-Preises führte. Das Interesse der RBS an diesem Vorhaben war laut Weinrich direkt auf die Initiativen des IDF zurückzuführen. Die RBS übernahm daher einen Großteil der Dotierung des Chamisso-Preises. Diese verteilte sich auf zwei Auszeichnungen: den mit 15.000 DM (später 15.000 Euro) dotierten Hauptpreis, der jährlich an eine: n einzelne: n Autor: in für das gesamte literarische Schaffen vergeben wurde, sowie einen mit 7.000 DM (später 7.000 Euro) dotierten Förderpreis für junge Autor: innen, der in manchen Jahren an zwei Schriftsteller: innen vergeben wurde. Das Projekt stand in idealer Kontinuität nicht nur zu den IDF-Ausschrei‐ bungen, sondern in gewissem Sinne auch zu den Erfahrungen der Südwind- Initiativen. Die Kontinuität zeigt sich in der gemeinsamen Verleihung des Chamisso-Preises an Biondi und Chiellino im Jahr 1987, dem Jahr, in dem die Aktivitäten von Südwind zu Ende gingen. Diese Konvergenz scheint nicht zufällig zu sein: Es ist denkbar, dass die Gastarbeiterautoren nicht mehr die Notwendigkeit verspürten, die Veröffentlichung ihrer Texte eigenständig zu organisieren. Dies könnte daran liegen, dass sowohl die IDF-Ausschreibungen <?page no="66"?> als auch das Chamisso-Preis-Projekt umfassendere und prestigeträchtigere Plattformen für die Verbreitung der sogenannten ‚Ausländerliteratur‘ institu‐ tionalisiert hatten. Die Fortsetzung dieser Projekte geht jedoch mit deutlichen Veränderungen in Bezug auf die verfolgten Ziele sowie das Profil der Preisempfänger: innen und deren Auswahlmethoden einher. Erstens wurden keine thematischen Aus‐ schreibungen mehr veröffentlicht, um ‚Ausländer‘ zum Schreiben und Teilen ihrer Texte einzuladen. Zweitens richtete sich der Chamisso-Preis nicht mehr an „Personen […], die Deutsch als Fremdsprache gelernt haben“ (Weinrich 1983a: 9), wie im Falle der IDF-Ausschreibungen, sondern, wie es in der ersten Pressemitteilung heißt, an „ausländische Autoren“ (HCP-K2-O3-85-1). Der Cha‐ misso-Preis richtet sich also an Schriftsteller: innen, die bereits veröffentlicht wurden, und gibt das nicht-professionelle Profil auf, das bei den IDF-Projekten im Mittelpunkt stand. Die in die engere Wahl kommenden Autor: innen wurden nämlich von Literaturkritiker: innen und Verlagen empfohlen und dann von einer Jury ausgewählt, der bis 1996 Irmgard Ackermann, Dietrich Krusche, Al‐ bert von Schirnding, Harald Weinrich und Friedrich Winterscheid angehörten. Der Förderpreis hingegen wurde auch an debütierende Autor: innen für unver‐ öffentlichte Texte vergeben. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass bei den IDF-Ausschreibungen die Biographie der Autor: innen im Entscheidungsprozess im Mittelpunkt stand, während der Chamisso-Preis vor allem für ihr Schriftstel‐ lerprofil vergeben wurde: Das Auswahlverfahren gab die wichtigste Publikation an, stützte sich jedoch auf das Gesamtwerk der Preisträger: innen. Die offizielle Preisverleihung fand in München zunächst am Sitz der Bayeri‐ schen Akademie der Schönen Künste und ab 2005 in der Allerheiligen-Hofkirche der Münchener Residenz statt. Ab 1996 zog sich die IDF aus dem Projekt zurück, was mit der Pensionierung von Weinrich und kurz darauf von Ackermann einherging. Diese organisatorische Veränderung glich einer Stabübergabe: Von nun an wurde die Rolle der RBS bei der Verwaltung des Chamisso-Preises immer zentraler. Dies wird deutlich, wenn man den Wandel in der Zusammensetzung der Jury (die mit leichten Änderungen dieselbe geblieben war wie 1985) beob‐ achtet. Ab 1996 wechselten die Mitglieder schneller und vor allem änderte sich ihr Profil: Anstelle der Literaturwissenschaftler: innen traten Journalist: innen (wie Mira Beham, eine Expertin für die Situation auf dem Balkan, Mariam Lau), Literaturkritiker: innen und Schriftsteller: innen ein (allen voran Pazarkaya, der etwa ein Jahrzehnt lang in der Jury blieb; oder noch Sten Nadolny, Karl Corino, Joachim Sartorius, Walter Helmut Fritz). Zur gleichen Zeit wurde ein Beirat gegründet, dem Ackermann und Weinrich angehörten. Im Jahre 2006 stieg die Bayerische Akademie der Schönen Künste aus dem Projekt aus und 66 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="67"?> der Chamisso-Preis wurde folglich in den letzten 12 Jahren seines Bestehens ausschließlich von der RBS verwaltet. In der Tat war die 2017 bekannt gegebene Entscheidung, dem Projekt die Finanzierung zu entziehen und damit sein Ende zu verkünden, eine Entscheidung der Stiftung. In einer Mitteilung mit dem bezeichnenden Titel Ziel erreicht begründete die RBS den Beschluss wie folgt: „Die Werke der ausgezeichneten Autoren, auf Deutsch schreibende Schriftsteller mit Migrati‐ onsgeschichte, sind heute selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestand‐ teil deutscher Gegenwartsliteratur. Damit hat der Preis seine Zielsetzung erreicht“ (Robert Bosch Stiftung 2016). Diese Entscheidung stieß auf viel Kritik, die unter anderem die Notwendigkeit des Preises angesichts der aktuellen Migrationsphänomene betonte und darauf hinwies, dass das geistige Eigentum des Projekts bei Weinrich lag und nicht bei der Stiftung, weshalb diese eigentlich nicht befugt gewesen wäre, über die Beendigung des Preises zu entscheiden (vgl. Trojanow/ Oliver 2016). Angesichts des Aufruhrs, den die Wahl der Stiftung ausgelöst hat, wird es nicht überraschen, dass 2018 ein neuer Chamisso-Preis ins Leben gerufen wurde. Es handelt sich um den Chamisso-Preis/ Hellerau, der vom Forschungszentrum Mittleres und Östliches Europa der Universität Dresden (FAZ 2019) gegründet wurde, einer Institution, die mindestens seit den 1990er Jahren, insbesondere in Gestalt des Germanisten Walter Schmitz, mehrere Verbindungen zu dem Projekt hat. Aus dem kurzen Artikel, der die Neugründung des Preises ankündigt, sowie aus der Auswahl der preisgekrönten Autor: innen der ersten Jahre lässt sich die programmatische Kontinuität ableiten, die mit dem ursprünglichen Projekt beibehalten wurde. Die erste Preisträgerin war nämlich Cecilia Barbetta, Cha‐ misso-Förderpreisträgerin 2009, womit die Tradition des Chamisso-Preises fortgesetzt wurde, den Hauptpreis an Autor: innen zu vergeben, die zuvor den Nachwuchspreis erhalten hatten. Die offiziellen Gründe für die Schließung des Preises, die Proteste und die Wiederaufnahme des Projekts sind eng mit den Ambivalenzen dieses Projekts verbunden und werden in Kapitel vier erörtert. Um sie in ihrer Komplexität zu verstehen, ist es zunächst notwendig, die Merkmale des Projekts, die Veränderungen in seinem Profil und die daraus resultierenden Veränderungen im literarischen Szenario zu betrachten. 2.2 Die Robert Bosch Stiftung und die hybride Zielsetzung des Projekts Die 1964 gegründete Robert Bosch Stiftung fungiert als Organisation des dritten Sektors, die Projekte zur Förderung von Gerechtigkeit und sozialem Frieden 2.2 Die Robert Bosch Stiftung und die hybride Zielsetzung des Projekts 67 <?page no="68"?> sowohl national als auch international organisiert und finanziert, wie auf ihrer Website zu lesen ist. Dieser Handlungsbereich umfasst die Bewältigung der vielschichtigen Folgen der Migration. Die Interessen, die die RBS bei der Beteiligung an Weinrichs Projekt leiteten, waren daher im Wesentlichen sozialer Natur. Sie stellen einen bedeutenden Aspekt ihres Engagements dar, das darauf abzielt, den Austausch zwischen verschiedenen Kulturen zu fördern und das gegenseitige Verständnis zwischen den in Deutschland lebenden Minderheiten zu stärken. Die Zielsetzung des Chamisso-Preises lässt sich aufgrund der Mitwirkung einer solchen Institution und der engagierten Beschaffenheit seiner Pilotpro‐ jekte als hybrid beschreiben, was seine besondere Natur ausmacht. Einerseits zielte der Preis darauf ab, literarische Werke aufzuwerten, die von ‚ausländi‐ schen‘ Autoren und nicht-deutschsprachigen Personen auf Deutsch verfasst wurden. Daraus lässt sich ableiten, dass im Gegensatz zu den Pilotprojekten nicht primär die Produktion dieser Werke gefördert werden sollte, sondern viel‐ mehr ihre Verbreitung als wertvolle literarische Werke und integrale Bestand‐ teile der zeitgenössischen deutschen Kultur. Dies wird in der Pressemitteilung, in der die Verleihung des Preises an Aras Ören im Jahr 1985 angekündigt wird, programmatisch deutlich gemacht: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis für Beiträge ausländischer Autoren zur deutschen Literatur geht 1985 an den Türken Aras Ören. Der Preis […] soll Schriftsteller aus‐ zeichnen, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, deren Werke aber von ihren Themen, Zielgruppen und Publikationsformen her der deutschen Literatur zuzurechnen sind. (HCP-K2-O3-85-1) Mit anderen Worten: Der Chamisso-Preis verfolgte das Ziel, auf Deutsch ver‐ fasste literarische Werke von „ausländischen Autoren“ und nicht-deutschspra‐ chigen Personen in den deutschen Kanon aufzunehmen. Dies stellte Weinrich bereits 1986 fest: Die Schaffung des Adelbert-von-Chamisso-Preises […] für Autoren nichtdeutscher Muttersprache soll ein Zeichen dafür sein, dass uns Deutschen diese Literatur, die von außen kommt, willkommen ist und dass wir sie als Bereicherung unserer eigenen Literatur und als ein konkretes Stück Weltliteratur zu schätzen wissen. (Weinrich 1986: 11) Gleichzeitig erkannten die Organisator: innen in den literarischen Aktivitäten der Autor: innen eine Spiegelung der multikulturellen Beschaffenheit der Ge‐ genwartsgesellschaft und ihrer Herausforderungen, wie es bereits in der ersten Pressemitteilung zu lesen ist: 68 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="69"?> Der diesjährige Preisträger Aras Ören […] hat als einer der ersten ausländischen Au‐ toren die neue, durch die Arbeitsmigration bedingte Realität des Zusammenlebens von Ausländern und Deutschen literarisch dargestellt. Seine Berlin-Poeme […] zeigen in einer großen Zahl von Einzelschicksalen ein gesellschaftliches Beziehungsgefüge, in dem die Berliner Türken ebenso in einem Wandlungsprozeß stehen wie ihre deutsche Umgebung. Dabei kristallisiert sich eine neue Wirklichkeit heraus, in der langsam aus dem beziehungslosen Nebeneinader ein multikulturelles Miteinander wird. Auch die weiteren Gedicht- und Erzählungsbände sind poetische Zeichen für die Probleme, Nöte und Hoffnungen der unter uns lebenden Ausländern. Sie bringen durch ihre Bilder, ihre oft ungewohnte Sprachgebung und die dargestellten Erfahrungen neue und eigene Akzente in die deutsche Literatur (HCP-K2-O3-85-1, Kursiv von mir) Die Hauptintention des Chamisso-Preises lässt sich daher in dieser Formel zu‐ sammenfassen: vom „beziehungslosen Nebeneinander“ zum „multikulturellen Miteinander“. Das bedeutet, dass die Literatur dazu beitragen könne, den Über‐ gang von einer Gesellschaft zu gestalten, die durch das bloße Nebeneinander von Kulturen geprägt ist, die nicht miteinander kommunizieren, zu einem Zusammenleben, das auf multikulturellen Begegnungen beruht. Darüber hinaus war in den Absichten der RBS die Verbesserung der Lebensbedingungen von ‚Ausländern‘ das langfristige Ziel des Projekts, wie der damalige Verwaltungs‐ leiter Peter Payer in seinem Grußwort anlässlich der ersten Preisverleihung verkündete. Dabei verwies er auch auf die früheren IDF-Projekte: Mögen bei diesen Beispielen [de IDF-Preisverleihungen] in erster Linie humanitäre, literarische, verlegerische oder wissenschaftliche Motive im Spiel gewesen sein, so ist das Substrat, aus dem die Idee der Stiftung hervorgegangen ist, zunächst sozialer Natur. […] [D]ie Bedeutung dieses Preises liegt in der Erweiterung unserer Betrachtungsweise und unseres Bewußtseins für das sogenannte „Ausländerproblem“ in der Bundesrepublik. (HCP-K2-O3-85-2) Diese Programmatik blieb entlang der gesamten Parabel des Chamisso-Preises relativ unverändert, wie die Beteiligten selbst im Rückblick betonen. Wie Esselborn (2004: 319) veranschaulicht, wollte der Preis durch die Aufwertung der literarischen Verdienste ‚ausländischer‘ Autor: innen eine negative Vorstellung von der Präsenz der ‚Ausländer‘ in Deutschland zurückweisen, die vor allem mit Integrationsproblemen in Verbindung gebracht wurden: „Literarische Preise, die für eine begrenzte Zielgruppe eingerichtet wurden, werden (und sollen) auch das Bild dieser Gruppe in der literarischen Öffentlichkeit (positiv) mitbe‐ stimmen“. Auch Weinrich (2008: 18) betont wie Esselborn, wie der Chamisso- Preis die Heterogenität der verschiedenen fremden Kulturen und Biographien in Deutschland verstärken konnte. Es ging also darum, der Tendenz entge‐ 2.2 Die Robert Bosch Stiftung und die hybride Zielsetzung des Projekts 69 <?page no="70"?> genzuwirken, extrem unterschiedliche Realitäten hinter Bezeichnungen wie ‚Ausländer‘ oder ‚Migranten‘ zu verstecken und pauschalisieren. Gerade auf‐ grund dieser Vielfalt würden solche heterogenen Erfahrungen eine vielfältige kulturelle Bereicherung für das Land durch seine Literatursprache darstellen (Weinrich 2008: 18-19). Auch 2009 weist die RBS darauf hin (durch Michael Schwarz, Leiter der Kommunikationsabteilung), dass das Projekt zwar die hohe literarische Qualität der ausgewählten Werke würdigte, die Kultur und damit die Literatur aber vor allem als „Instrument“ zur Verfolgung anderer Ziele des bürgerschaftlichen Engagements betrachtete: Die Robert Bosch Stiftung setzt […] immer wieder Kultur als Instrument ein, um ihre zentralen Themen wie Völkerverständigung, Bildung oder auch Wissenschaft voranzubringen. […] Wir sind überzeugt, dass die künstlerische Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher kultureller und sprachlicher Herkunft ein geeigneter Weg zur Verständigung ist. […] Literatur ermöglicht den Zugang zu anderen Kulturen jenseits oberflächlicher Klischees und Stereotypen. […] [Der Chamisso-Preis] doku‐ mentiert, dass Sprache und Literatur der Verständigung zwischen den Kulturen dient - in Deutschland, in Europa und darüber hinaus. (Schwarz 2009: 30) Die Zielsetzung des neuen Preisprojekts wurde also von zwei Impulsen unter‐ schiedlicher Natur beseelt, die jedoch eng miteinander verflochten waren: Der rein literarische und ästhetische Anspruch war zwar viel wichtiger als bei den IDF-Projekten, blieb jedoch untrennbar mit den Zielen der soziokulturellen Intervention verbunden, die mit dem Eintritt der RBS in das Projekt ebenfalls verstärkt wurde. Diese Ziele wurden vornehmlich durch die Verbreitungs- und Konsekrationskanäle des Chamisso-Preises verfolgt, die überwiegend von der RBS verwaltet wurden. 2.3 Die Konsekrationsmechanismen des Chamisso-Preises Laut René Kegelmann (2010: 17) stellten die von der RBS in Gang gesetzten Konsekrationsmechanismen zur Verfolgung der Ziele des Chamisso-Preises eine der Besonderheiten des Projekts dar, das sich gerade durch die Kapillarität seiner Verbreitungskanäle von anderen Literaturpreisen unterschied: Eine Besonderheit des Chamisso-Preises ist es wohl, dass die Preisträger nicht nur den Preis und die damit verbundene öffentliche Anerkennung erhalten, sondern auch in ihrem weiteren Werdegang, z. B. durch die Organisation von Lesungen und Veranstal‐ tungen an Schulen und in Bibliotheken oder durch Arbeitsstipendien und Symposien 70 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="71"?> von der Bosch-Stiftung unterstützt werden. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass die AutorInnen als Kulturvermittler weiterhin im Sinne der Preisstatuten wirken. (Hervorhebungen von mir) Die Autor: innen werden nicht nur in traditionelle Veranstaltungen einge‐ bunden, wie Reden, Lesungen, Interviews und ähnliche öffentliche Auftritte - sowohl in Deutschland als auch im Ausland durch die Einbindung der Niederlassungen des Goethe-Instituts (vgl. Ackermann 2004: 48) -, sondern sie treten auch vor allem als Repräsentanten des Preises auf, nämlich der durch ihn ausgezeichneten Literatur und seiner zivilen Mission. Dies wurde vom RBS-Kommunikationsleiter Schwarz selbst bekräftigt, insbesondere wenn er sich indirekt auf eines der RBS-Projekte bezog, an dem die Chamisso- Preisträger: innen beteiligt waren, nämlich das Schulprogramm: „Die Chamisso- Preisträger können im Idealfall noch mehr - sie können zu Vorbildern werden, insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund“ (2009: 30). Die andere Seite der Stiftungsaktivitäten betraf den Bereich der Literatur‐ wissenschaft und -kritik. Die Förderung der akademischen Forschung setzte die Verbindung zwischen der kanonisierenden Tätigkeit des Preises und dem Prozess der wissenschaftlichen Konsekration fort, der auch den Kontext der IDF-Pilotprojekte prägte. Die Stiftung organisierte zahlreiche Konferenzen, auf denen Preisträger: innen, Literaturkritiker: innen sowie -wissenschaftler: innen und andere Mitglieder der kulturellen Welt - von Klaus Hübner als „Chamisso- Experten“ bezeichnet (2010: 18) - das Projekt feierten, sich über seine Reich‐ weite und Bedeutung austauschten, sowie theoretische Perspektiven oder die ästhetische Positionierung des vom Preis untersuchten literarischen Phänomens diskutierten. So wurde beispielsweise vom 5. Oktober bis 15. November 1998 in Stuttgart eine Veranstaltungsreihe mit den Preisträger: innen organisiert. Die Ergebnisse dieser Veranstaltung wurden in einem von der RBS herausgegebenen Band veröffentlicht (siehe Robert Bosch Stiftung 1999). Im Jahr 2000 wurde anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Projekts im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ein Symposium mit dem Titel Chamisso - wohin? Über die deutsch‐ sprachige Literatur von Autoren aus aller Welt abgehalten. Ähnlich wie 1986 in Bad Homburg wurden hier erneut die Entwicklungsperspektiven dieses literarischen Phänomens diskutiert. Es wurden theoretisch-methodologische Ansätze für den Umgang mit „literarischen Werken in deutscher Sprache“, die „von Autoren, deren Muttersprache nicht die deutsche ist“, in Betracht gezogen, sowie weitere Aspekte und Facetten des Themas (Hübner 2010: 18). Das Interesse an der Stärkung eines akademischen Feldes, das sich der literarischen Produktion von ‚ausländischen Autoren‘ bzw. den mit dem Cha‐ misso-Preis ausgezeichneten Autor: innen widmete, zeigt sich auch in der 2.3 Die Konsekrationsmechanismen des Chamisso-Preises 71 <?page no="72"?> 33 Die Texte, die auch in gedruckter Form vorliegen, sind weiterhin in der Rubrik Publikationen auf der Website der RBS verfügbar, siehe Robert Bosch Stiftung (2009- 2017). Unterstützung von langfristigen akademischen Forschungsinitiativen wie den Poetikdozenturen, die von 2001 bis 2011 an der Technischen Universität Dresden veranstaltet wurden. In dieser Perspektive erweisen sich die Gründung eines interdisziplinären Forschungszentrums an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2014, das Internationale Forschungszentrum Chamisso, sowie die Gestaltung einer Gastprofessur als besonders bedeutsam. Auf der Homepage des Forschungszentrums wird seine Zielsetzung wie folgt skizziert: Mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung wurde 2014 das IFC eingerichtet, um der literarisch hoch wirksamen Literatur von Chamisso-Preisträgerinnen und -Preisträgern in Forschung und Lehre zu stärkerer wissenschaftlicher Geltung zu verhelfen. Das Zentrum wird durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser interkulturellen und tendenziell mehrsprachigen Literatur, ihren Autorinnen und Autoren sowie den internationalen Rezeptionsbedingungen deren genuin kulturen‐ übergreifende Perspektiven abbilden, auch unterschiedlichen interdisziplinären und interkulturellen wissenschaftlichen Blickrichtungen Raum geben. (Internationales Forschungszentrum Chamisso) Die Verbindung des Zentrums zum Chamisso-Preis-Projekt ist offensichtlich und wird durch mehrere Faktoren untermauert. Zum einen werden vor allem, aber nicht ausschließlich, die mit dem Chamisso-Preis ausgezeichneten Schrift‐ steller: innen zu den jährlichen Poetikdozenturen an der LMU eingeladen, die Vorträge, Seminare und öffentliche Lesungen umfassen. Zum anderen waren die beiden wichtigsten Institutionen, die den Preis von Anfang an unterstützt haben (die RBS und das IDF) an den Aktivitäten des Zentrums beteiligt und der emeritierte Vorsitzende des Wissenschaftlichen Rats ist lang Weinrich gewesen. Um diesen Überblick über die durch die RBS in Gang gesetzten Konsekrati‐ onsmechanismen zu vervollständigen, ist noch das Magazin Chamisso. Viele Kulturen - Eine Sprache zu nennen, das die Aktivitäten des Chamisso-Preises weitgehend popularisierte. 33 Die Publikation, die halbjährlich von der RBS von 2009 bis 2017 herausgegeben wurde, beinhaltete durch Kritiker: innen, Wissenschaftler: innen, Schriftsteller: innen sowie Kulturarbeitende Kommen‐ tare, Artikel und Berichte zu den Preisträger: innen, dem Chamisso-Preis im Allgemeinen, mit der von ihm ausgezeichneten literarischen Produktion, sowie mit der Geschichte und Zukunft des Projekts. Zusammenfassend erwies sich die Einflusssphäre des Chamisso-Preises als besonders weitreichend, sowohl aufgrund seiner aktiven Rolle als auch seiner 72 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="73"?> 34 Zum Leben Chamissos siehe Feudel (1971). Konsekrationsmechanismen, die dem Projekt eine breite Resonanz verliehen. Darüber hinaus stellte der Preis zu dieser Zeit die einzige Konsekrationsinstanz für die Literatur der ‚Ausländerautoren‘ dar, eine Rolle, die hauptsächlich auf‐ grund seiner Verbindung mit wissenschaftlicher Forschung anerkannt wurde. 2.4 Aneignung eines Autors: Adelbert von Chamisso und seine Schatten Die Schaffung des Chamisso-Preises als Konsekrationsinstanz einer neuen Literaturtypologie ist wesentlich durch die Auswahl und Inszenierung des Preispatrons geprägt - des romantischen Schriftstellers Adelbert von Chamisso. Diese Gestaltung erstreckt sich über den gesamten Verlauf des Projekts und beginnt sogar vor seiner offiziellen Gründung. Bereits in den IDF-Anthologien verweist Weinrich auf Autoren aus dem deutschen Literaturkanon, die nicht wirklich ‚deutsch‘ sind, deren Erfahrungen also als Ausdruck einer „deutschen Gastliteratur“ zu betrachten sei, deren Fremdheit für die Öffentlichkeit lange Zeit unsichtbar geblieben sei: „Wir Deutschen […] scheinen vergessen zu haben, daß Adelbert von Chamisso ein deutscher Schriftsteller geworden ist, obwohl er die deutsche Sprache als Fremdsprache lernen mußte“ (Weinrich 1982: 9). Die Wahl von Chamisso als Namensgeber des Preises basiert auf seinen bio‐ grafischen und sprachlichen Erfahrungen sowie seinem literarischen Schaffen - genauer gesagt, auf seinem bekanntesten Text. Er wurde 1781 in Frankreich geboren und entstammte einer Adelsfamilie, die nach der Revolution das Land verlassen musste. Vor seinem Umzug nach Berlin im Jahr 1792 trug der Autor den Namen Adelbert Charles Louis Adeläide Chamissot de Boncourt. Nach seiner Ankunft in Preußen wurde Chamissot de Boncourt zu von Chamisso, erlernte Deutsch, verkehrte in romantischen Kreisen und begann, Gedichte und Geschichten in seiner neuen Sprache zu verfassen. Darüber hinaus nahm er als Naturforscher an einer Expedition um die Welt teil, die ihn u. a. nach Alaska, Hawaii und Polynesien führte. Dabei verfasste er Studien und Reiseberichte, die sich sowohl mit der lokalen Flora als auch mit der Bevölkerung, die er traf, befassten. 34 Unter seinen literarischen Werken ist zweifellos Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) das bekannteste, das auch im Kontext der Namensgebung des Preises eine entscheidende Rolle spielte. Das Kunstmärchen erzählt die Geschichte von Peter Schlemihl, der bei seiner Rückkehr von einer Seereise den unglücklichen Entschluss fasst, seinen Schatten an einen mysteriösen Herrn 2.4 Aneignung eines Autors: Adelbert von Chamisso und seine Schatten 73 <?page no="74"?> 35 Die konsultierten Texte sind die Originalversionen der bei der Preisverleihung gehal‐ tenen Reden; aktualisierte Fassungen dieser Reden wurden in Krusche/ Domin (1993) veröffentlicht. 36 Siehe: Bienert (2009a), (2009b), (2011), (2013), (2015), (2017). zu verkaufen. Im Austausch erhält er einen Beutel voller Gold, dessen Inhalt sich niemals erschöpft. Der Verlust seines Schattens hat zur Folge, dass der Protagonist von der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Seine unvollständige Natur wird in verschiedenen Situationen offenbart, was Menschen erschreckt und entfremdet. Als der Graue Herr wieder erscheint und sich als Teufel ent‐ puppt, versucht der Protagonist vergeblich, seinen Schatten zurückzugewinnen. Schlemihl sieht sich gezwungen zu fliehen, vom Grauen Herrn verfolgt, bis er schließlich den Beutel mit dem Gold entsorgt. Infolgedessen erwirbt der Protagonist, der nun für immer ohne Schatten ist, ein Paar magische Stiefel. Diese ermöglichen es ihm, die Welt mit großer Geschwindigkeit zu erkunden, wenn auch einsam (vgl. Chamisso 1981). Diese Merkmale prädestinieren den romantischen Schriftsteller als Namens‐ geber des Chamisso-Preises und bilden die Grundlage für seinen schrittweisen Anpassungsprozess im Einflussbereich des Projekts. Dieser Prozess manifestiert sich diskursiv insbesondere im ersten Jahrzehnt seines Bestehens: Bei jeder Zeremonie der Preisverleihung wurden Vorträge gehalten, welche die Aspekte des biographischen und künstlerischen Profils des romantischen Schriftstellers umreißen. Zum Beispiel: Bei der Preisverleihung 1985 hielt Werner Ross den Vortrag Adelbert von Chamisso, Emigrant und Wanderer (HCP-K2-O3-85-3); im folgenden Jahr war der Beitrag Adelbert von Chamisso in der Südsee (HCP- K2-O3-86-3) von Els Oksaar; 1987 trug der lectio magistralis von Volker Hoff‐ mann den Titel Peter Schlemihl und der Graue - Fremdverführung als teuflische Selbstverführung (HCP-K2-O3-87-3); 1988 hielt Werner Feudel den Vortrag Adelbert von Chamisso. Französischer Emigrant und deutscher Dichter (HCP- K2-O3-88-3). 35 Diese Tradition wurde 1996 - zeitgleich mit dem Ausstieg der IDF aus dem Projekt - unterbrochen und dann 2009 in veränderter Form mit der Veröffentlichung des Magazins Chamisso: Viele Kulturen - Eine Sprache wieder aufgenommen. In diesem Zusammenhang wurden Kurzkommentare veröffentlicht, die alle von Michael Bienert verfasst wurden und sich weniger mit der Figur Chamisso als vielmehr mit seiner Rezeption befassen. 36 In einem von diesen Artikeln räumt Bienert (2009a: 26) ein, dass die Wiedereinführung der Figur Chamissos als Preispatrons zum Entstehen eines neuen Interesses an ihm beitrug, insbesondere auf dem Gebiet der interkulturellen Studien: 74 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="75"?> Große Umbrüche in der Gesellschaft verändern die Lektüre. Vertraute Werke liest man dann auf einmal anders, sie setzen neue Assoziationsketten frei. So kann es an einem dieser Tage mit Schriften Adelbert von Chamissos gehen. Vor allem als erfolgreicher Einwanderer in die deutsche Kulturgeschichte wurde er in den letzten Jahren wahr‐ genommen, sein Weg vom politischen Flüchtling aus Frankreich zum anerkannten deutschen Dichter, Übersetzer und Naturforscher bleibt eine Orientierung für viele, die mit den Themen Einwanderung und Kulturaustausch zu tun haben. An dieser Stelle ist es sinnvoll, auf den Diskurs einzugehen, der sich im Rahmen des Preises um die Figur des Chamisso entwickelt hat, und zwar darauf, wie er während der Preisverleihungen inszeniert wurde. Zunächst einmal knüpfe der romantische Schriftsteller eine biographische Verbindung zu den mit dem Chamisso-Preis ausgezeichneten Autor: innen, die auf ihrem gemeinsamen Schicksal der Emigration und des Exils beruhe: „Von den Wechselbädern der Isolation und Integration, die stets so viele Emigrantenschicksale begleiten, [bleibt] auch er nicht verschont“ (HCP-K2-O3-86-3: 3). Die Dimension, die die Preisträger: innen zum Ausdruck bringen würden, sei die gleiche wie die, die in der Figur des Peter Schlemihl kodifiziert ist, der als Alter Ego seines Autors gilt: Es sei die „Fremdheit“, die aus dem Verlust der Heimat und der Fragmentierung der Identität resultiere (vgl. HCP-K2-O3-87-3: 4). Hinter der Metapher vom Verlust des Schattens erkenne man in der Tat einen Verweis auf den Zustand des Fremden und Unbekannten, den der wandernde Protagonist erlebt (vgl. HCP-K2-O3-87-3: 2). In jedem Fall löse der Verlust der Identität und der daraus resultierende Zustand des „Fremden“ für das Subjekt, sei es Chamisso, Schlemihl oder die preisgekrönten Autor: innen, einen Prozess der Identitätssuche aus. Dieser Prozess werde für den Einzelnen zu einer Bereicherung, da er einem dazu veranlasse, Gewissheiten in Frage zu stellen, die man sonst für unumstößlich gehalten hätte: „diese Identität [erschließt] sich erst Schritt für Schritt dem, der sie tastend, horchend, planend, nachdenkend, wagend und wägend, als großes Lebensziel verfolgt“ (HCP-K2-O3-85-3: 4). Der romantische Schriftsteller ist tatsächlich auch ein Naturwissenschaftler, ein Entdecker, der entlegene Orte bereist, angetrieben von einem starken Interesse an noch nicht bekannten Spezies und bisher nicht erforschten Kulturen (vgl. HCP-K2-O3-85-3: 1). Schließlich präge diese Verortung zwischen zwei Kulturen und Sprachen, zu der das Schicksal den romantischen Autor zwingt und die er selbst annimmt, den Charakter seiner Poetik, ebenso wie bei den mit dem Preis ausgezeichneten Schriftsteller: innen: „die Eigenart und Einzigartigkeit seiner [Chamissos] Dichtung [erwuchs] gerade aus seiner Verbundenheit mit zwei Kulturen“ (HCP-K2-O3-85-3: 4). Aus diesen Hinweisen lässt sich ableiten, dass die zeitgenössischen Autor: innen und Chamisso in dem vom Preis entwickelten 2.4 Aneignung eines Autors: Adelbert von Chamisso und seine Schatten 75 <?page no="76"?> 37 Der Text stellt eine Überarbeitung des Vortrags dar, den Weinrich im Rahmen der Leip‐ ziger Chamisso-Tage 2001 gehalten hat. Diese Veranstaltung war dem romantischen Schriftsteller sowie den Chamisso-Preisträger: innen gewidmet. Diskurs die gemeinsame Erfahrung der Traumata von der Migration und Exil teilen, die sie in wertvolle Erfahrungen für die individuelle und künstlerische Identität zu verwandeln vermögen. Die anschaulichste und umfassendste Darstellung der Figur Chamissos als Patron des Chamisso-Preises stammt von Weinrich aus dem Jahr 2002. 37 Dem Stifter des Preises zufolge (Weinrich 2002: 4-6) hat Chamissos kosmopolitisches kulturelles Erbe, das aus seiner Biographie im Spannungsfeld zwischen sprach‐ lichen, literarischen, kulturellen, geographischen sowie religiösen Dimensionen entstammt, einen deutlichen Einfluss auf das Schreiben des Autors. Das gelte insbesondere in Bezug auf sein Verhältnis zur literarischen Sprache. Weinrich (2002: 8) erinnert, dass der romantische Schriftsteller eine drastische Wahl traf: Behielt er das Französische als Sprache seiner wissenschaftlichen Prosa - in der er seine Reise- und Studienprotokolle ausarbeitete -, so wählte er jedoch für seine literarische Tätigkeit ausschließlich die deutsche Sprache. Dank dieser Wahl, so Weinrich (2002: 9), zeichneten sich Chamissos Prosa und Lyrik durch ein gewisses Maß an „Fremdheit“ aus, die ihn von anderen Autor: innen seiner Zeit unterscheide: Es handele sich um eine „Erfahrung erlebter Andersheit und Fremdheit“. Laut dem Gründer des Preises liegt das charakteristische Merkmal von Chamissos künstlerischem Erbe nicht so sehr in seiner Biographie, sondern vielmehr in der sprachlichen Dimension seiner Werke. Das Gleiche lasse sich hinsichtlich der zeitgenössischen Schriftsteller: innen behaupten. Aufgrund ihrer sprach- und kulturübergreifenden Identität brachten die Preisträger: innen, oder besser gesagt die „Chamisso-Autoren“, als „Mitgift“ für die deutsche Literatur die Erfahrung der sprachlichen „Verfremdung“ mit, die das Deutsche vom Alltagsregister entfernt: Literatursprache auf diese Weise [erhält] die größere Chance, beim literarischen Schaffensprozeß […] nicht in der Routine des alltäglichen Sprachgebrauchs aufzu‐ gehen. Daher stehen die Chamisso-Autoren vielleicht, wenn sie bisweilen auch nach vielen Jahren in deutschsprachiger Umgebung noch fremdeln, dem Geist der Literatur um ein gewisses Maß näher als manche einheimischen Autoren, die ihre Verfremdung willentlich erzeugen müssen. (Weinrich 2002: 8-9, Hervorhebung von mir) Die Originalität dieser ästhetischen Position, die sich in diesem entfremdeten und entfremdenden Deutsch ausdrückte, trug dazu bei, dass Chamisso Teil eines literarischen Kanons wurde, der in der deutschen Tradition eine stiftende Rolle für die nationale literarische Identität spielte, nämlich des romantischen Kanons. 76 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="77"?> Darüber hinaus hinderte nicht nur seine ausländische Herkunft diese Anerken‐ nung nicht, sondern, wie Weinrich (2002: 9) betont, wurde seine französische Herkunft bei der Rezeption weitgehend ignoriert. Schließlich erkennt der Pro‐ jektgründer in Chamissos Position in Bezug auf die deutsche Sprache und Kultur einen „Vorläufer der Globalisierung“ (2002: 10). Auf diese Weise beschränkt Weinrich die Literatur, die der Preis umschrieben hat, nicht auf den Ausdruck einer individuellen Erfahrung - des Exils bzw. der Migration - oder auf die Darstellung vorübergehender sozialer Phänomene - wie der Arbeitsmigration. Vielmehr interpretiert der Wissenschaftler sie als künstlerischen Ausdruck einer Entwicklung, die erst seit den 1990er Jahren deutlich wurde, nämlich des mul‐ tidirektionalen Transits, der unsere globalisierten Gesellschaften kennzeichnet. Schließlich, wenn man die Konstruktion des Preispatrons im Einflussbereich des Preises mit den hybriden Zielen des Projekts vergleicht, erkennt man, dass die Figur mehrere Funktionen übernimmt - oder anders gesagt dass sich Chamissos ‚Schatten‘ in verschiedene Richtungen erstrecken. Aus biografischer Sicht verkörpere Chamisso die Erfahrung der Emigration - die Flucht nach Preußen - und des Lebens zwischen mehreren Kulturen und Sprachen - Franzö‐ sisch und Deutsch: Er fungiert somit als ‚Emigrantenautor‘. Gleichzeitig agiere Chamisso als ‚kosmopolitischer Entdecker‘, der die Trauer über den Verlust seiner Heimat in eine Haltung der Offenheit und Neugier gegenüber anderen Kulturen verwandle. Die kulturelle Vielfalt, die Chamissos Leben kennzeich‐ nete, findet Ausdruck und Verbreitung in seinen Reiseberichten, Tagebüchern sowie in seiner literarischen und wissenschaftlichen Produktion. Somit lässt sich Chamisso als ‚Vermittler‘ zwischen Kulturen betrachten. Von literarischer Perspektive aus gebe der Autor der in der ersten Person erlebten kulturellen, sprachlichen und existenziellen Fremdheit - verkörpert durch Schlemihl und den Verlust seines Schattens - in einer Sprache, die nicht seine Muttersprache ist, eine künstlerische Form. Durch die Verwendung des Deutschen von einem externen Standpunkt aus sei seine Sprache mit einer entfremdenden Qualität aufgeladen, die auch die Leseerfahrung durchdringe. Chamisso zeigt sich somit als ein ‚mehrsprachiger Schriftsteller‘. Schließlich sei die literarische Dimension, die Chamisso hier repräsentiert - diese Fremdheit, diese verfremdende Sprache - bereits in die deutsche literarische Tradition eingeschrieben und Teil des Kanons. Chamisso wird als ‚deutscher Schriftsteller‘ anerkannt, und diese Anerkennung erstreckt sich auch auf die Chamisso-Autoren. Es liegt auf der Hand, dass die Anwesenheit einer Figur ‚ausländischer‘ Herkunft und Muttersprache, die dem Kanon und insbesondere dem romanti‐ schen Kanon angehört, es den Veranstalter: innen ermöglichte, in der Literatur‐ geschichte einen Vorläufer aufzuspüren, in dessen Nachfolge sich die Erfahrung 2.4 Aneignung eines Autors: Adelbert von Chamisso und seine Schatten 77 <?page no="78"?> zeitgenössischer ‚ausländischer‘ und nicht muttersprachlicher Autor: innen nahtlos einfügen lässt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die zentralen Ziele des Projekts in der Figur des Chamisso als Preispatron widerspiegeln und dass das Profil der Preisträger: innen, nämlich der Chamisso-Autoren, vor allem durch die romantische Figur des Schriftstellers und weniger durch ihre ästhetischen Pro‐ file geprägt wird, wobei auch ihre biographischen Erfahrungen teilweise eine Rolle spielen. Durch ihre Assoziation mit Chamisso werden die ausgezeichneten Schriftsteller: innen in die deutsche Tradition eingebettet, die in der diskursiven Einflusssphäre des Preises als durch ihren Beitrag innoviert präsentiert wird. Die Innovation, die sie einbringen, manifestiere sich in der sprachlichen Ver‐ fremdung, die mit ihrer kulturellen Position der Nichtzugehörigkeit einhergehe. Erscheint die Konstruktion der Chamisso-Autoren künstlich, so ist es wichtig zu bemerken, dass selbst das skizzierte Bild von Chamisso letztlich eine Projek‐ tion darstellt. Man sollte nicht irrtümlich annehmen, dass das Projekt einfach Eigenschaften im romantischen Autor erkannt hat, die ihn für die Rolle des Patrons geeignet machten. Vielmehr wird die Figur des Adelbert von Chamisso im Rahmen des durch den Preis eröffneten Raums als Vorfahre auch ad hoc inszeniert. Chamisso wird auf gewisse Weise als eine Figur präsentiert, welche die literarischen Entwicklungen vorwegnimmt, auf die das Chamisso-Preis- Projekt Resonanz verleiht. Der soeben dargestellte diskursive Prozess passt Chamisso diese Eigenschaften an, was als Aneignungsprozess nach Bourdieu definiert werden kann. Paradoxerweise findet hier eine Transformation von Adelbert von Chamisso in einen Chamisso-Autor statt, wie Weinrich selbst indirekt feststellt (2002: 8): „Chamisso hat sich […] als deutscher Autor fremder Herkunft, sagen wir als Chamisso-Autor, einer ständigen Anfechtung und Herausforderung durch seine Zweisprachigkeit ausgesetzt“. 2.5 Chamisso-Autor werden, Chamisso-Literatur schaffen „[S]agen wir als Chamisso-Autor“: An dieser Stelle der Diskussion wird deutlich, dass der Kern der konsekrierenden Aktion des Chamisso-Preises darin bestand, ein neues Autorenprofil zu schaffen - einen neuen Typ der Autorschaft, für den sogar eine Definition geprägt wurde: Chamisso-Autor. Die genaue Entstehungs‐ geschichte dieses Begriffs ist nicht nachzuvollziehen, denn dessen Erscheinen im diskursiven System des Preises fast polygenetisch wirkt. Ursprünglich nicht als wissenschaftliche Kategorie konzipiert, entwickelte sich der Begriff im Laufe der Zeit zum Hauptbegriff für die Bezeichnung der mit dem Chamisso-Preis 78 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="79"?> ausgezeichneten Autor: innen - und all jener, die ihn möglicherweise hätten erhalten können. Die Konsekrationsmechanismen des Preises zielen nicht nur darauf ab, das Werk und die Persönlichkeit der Preisträger: innen bekannt zu machen, sondern in erster Linie darauf, diese Schrifsteller: innen als Chamisso-Autoren ‚agieren‘ und ‚auftreten‘ zu lassen. Bei den im Kapitel genannten Veranstaltungen traten die Autor: innen nicht lediglich als Individuen und Vertreter: innen ihrer eigenen Poetik auf, sondern vielmehr als Chamisso-Preisträger: innen, als Repräsen‐ tanten dieses Autorprofils. Der Fokus lag dabei darauf, dass ihre poetischen und ästhetischen Positionen nicht nur als individuelle Perspektiven betrachtet wurden, sondern als verschiedene Facetten bzw. Standpunkte einer einzigen, wenn auch vielfältigen Tradition, die seit den 80er Jahren unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt ist. Aus einer Bourdieu’schen Perspektive gilt der Chamisso-Autor als eine neu geschaffene Position im deutschen literarischen Feld, die durch den Chamisso- Preis ausgehend von seinen Pilotprojekten entwickelt, verbreitet und etabliert wurde. Die Bestimmung einer neuen Autorenfigur ist nach Bourdieu grundle‐ gend für die Durchsetzung einer neuen Typologie der Literatur - eines neuen diskursiven Raums, eines neuen (Unter-)felds -, die sich von den bestehenden abhebt und den neuen nomos dieser Literatur verkörpert (vgl. 2001: 104; 184; 282-339). Der Preis lässt sich folglich als die wichtigste Konsekrationsinstanz einer neuen Feldposition betrachten, die durch die Autorschaft der Schrift‐ steller: innen zwischen mehreren Kulturen besetzt wurde, und eines neuen literarischen Raums, der um dieses neue Autorenprofil entstand. Dank des symbolischen und ökonomischen Kapitals der am Projekt Beteiligten, mittels der durch die in Gang gesetzten Konsekrationsmechanismen und entlang der Entwicklung der Auszeichnung während der Laufzeit des Projekts wurde ein neuer literarischer Raum eröffnet, die sogenannte ‚Chamisso-Literatur‘. Mit anderen Worten, das Ziel, das Weinrich 1982 mühsamer erschien als die Gründung eines neuen Staates, fand mit der Einrichtung des Preises und seinem allmählichen Wachstum im deutschen Literaturbetrieb statt: Eine ‚neue‘ Literatur wurde gegründet. Auch die Genese des Begriffs ‚Chamisso-Literatur‘ lässt sich nicht rekonstru‐ ieren. Wie der Literaturkritiker Klaus Hübner (zitiert nach GCP-1-Kegler 2011: 42), Mitglied des Sekretariats des Preises von 2003 bis zu seiner Schließung, argumentiert, ist der Ausdruck im Kontext der Rezeption des Chamisso-Preises entstanden, entbehrt einer angemessenen wissenschaftlichen Konzeptualisie‐ rung und hat keine Urheberschaft. Hübner verwendet die Bezeichnung in einem Artikel im Chamisso-Magazin, mit dem ausschlaggebenden Titel Chamisso 2.5 Chamisso-Autor werden, Chamisso-Literatur schaffen 79 <?page no="80"?> 38 Vgl. Roche (2009); Hodaie/ Malaguti (2017); Catone (2018). Literatur? Chamisso Literatur! , um nicht so sehr die Texte der mit dem gleich‐ namigen Preis ausgezeichneten Autor: innen zu bezeichnen, sondern vielmehr die Art von Literatur, die der Chamisso-Preis im Rahmen seiner Aktivitäten dem literarischen Szenario ausdifferenziert (vgl. Hübner 2009: 22). Und nicht nur das: Ebenso wie im Fall der Bezeichnung ‚Chamisso-Autor‘ verlässt auch ‚Chamisso-Literatur‘ die Grenzen des Preises und wird in anderen Kontexten außerhalb des Preisprojekts verwendet, auch im wissenschaftlichen Bereich. 38 Im vorliegenden Buch wird die Chamisso-Literatur nicht als ein Raum betrachtet, der sich aus ästhetischer Perspektive auf der Ebene der literarischen Produktion definieren lässt, sondern vielmehr als ein Konstrukt der Rezeption der Profile der Schriftsteller: innen - und nicht primär ihrer literarischen Werke -, die als potenzielle Chamisso-Autoren identifiziert wurden. An dieser Stelle lässt sich eine Grundfrage stellen: Wenn die Chamisso- Literatur im Wirkungskreis des Preises eine neue Typologie der Literatur darstellt, worin liegt ihr neuer nomos? Wenn das Profil des Chamisso-Autors das Rückgrat dieser konzeptionellen Architektur bildet, was sind dann die literarischen Merkmale dieses Raumes? Eine weitere Frage, die auf den voran‐ gegangenen Seiten noch nicht gestellt oder beantwortet wurde und die, wäre der Chamisso-Preis ein traditionellerer Literaturpreis gewesen, die ersten Zeilen dieses Kapitels eingenommen hätte, lautet: Was sind die literarischen Aspekte, die der Preis auszeichnen will? Oder anders gesagt: Was macht einen Autor zu einem Chamisso-Autor? Hat dies alles ausschließlich mit dem oft einfach angenommenen und zu selten hinterfragten nicht-deutschen Ursprung der Preisträger: innen zu tun? Die Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten und signalisieren auf‐ grund der Schwierigkeit, eine klare Antwort zu finden, die emblematische Natur des Chamisso-Preises im Literaturbetrieb Deutschlands der letzten vierzig Jahre - wie das vierte Kapitel dieses Buches genauer untersucht. Hier genügt es, zu betonen, dass in der Preisdokumentation sich keine Definition der - biographi‐ schen oder ästhetischen - Eigenschaften findet, die bei den auszuzeichnenden Autor: innen gesucht werden. Darüber hinaus unterliegt die Präsentation der entscheidenden Aspekte der Poetik und Biographie im Verlauf der 33 Preisver‐ leihungen erheblichen Veränderungen. Ähnliches lässt sich für die Kategorie der Chamisso-Literatur behaupten. Während Ausländerliteratur oder Gastarbeiterli‐ teratur trotz ihrer Beschränkungen versuchten, die Produktion anhand von ex‐ pliziten Kriterien zu definieren, die sie kategorisieren wollten, beruht Chamisso- Literatur auf keine solide wissenschaftliche Grundlage. Das konzeptionelle 80 2 Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Entstehung der Chamisso-Literatur <?page no="81"?> Zentrum des Projekts bleibt also dynamisch: Das Profil der Chamisso-Autoren steht fortwährend im Fokus von Diskussionen, sowohl auf der synchronen Ebene - zwischen den Organisator: innen und den Preisträger: innen - als auch auf der diachronen Ebene. Im nächsten Kapitel werden die Veränderungen im Literaturbetrieb als Folge des Wirkens des Chamisso-Preises behandelt. Das Kapitel verfolgt die Jahre nach der Einrichtung des Chamisso-Preises und fokus‐ siert dabei auf die Produktion und Rezeption emblematischer Preisträger: innen. In Rahmen der vorliegenden Studie werden diese hauptsächlich deshalb aus dem breiten Raum der deutschen Literaturszene identifiziert, weil sie mit den Chamisso-Preis ausgezeichnet wurden. Aus dieser Perspektive lässt sich zeigen, inwieweit das hier untersuchte literarische Phänomen, das im Laufe der letzten vier Jahrzehnte verschiedene Kodifizierungen erfahren hat, nicht als Phänomen der Produktionssphäre, sondern der Literaturrezeption zu beobachten ist: Die Chamisso-Autoren sind nicht deshalb solche, weil sie bestimmte biografische, ästhetische oder poetologische Merkmale teilen, sondern weil sie vom Cha‐ misso-Preis als Teil des von ihm aufgespürten literarischen Raums konsekriert wurden. Mit anderen Worten, weil sie durch die Wirkung des Preises und seines Einflussbereiches als Teil der Chamisso-Literatur anerkannt wurden. 2.5 Chamisso-Autor werden, Chamisso-Literatur schaffen 81 <?page no="83"?> 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) 3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) Seit Ende der 1980er Jahre, insbesondere Anfang der 1990er Jahre, verlor das Thema der Arbeitsmigration als künstlerische Inspirationsquelle an Bedeutung und wurde durch einen Fokus über die Entwicklung komplexer Identitäten jenseits nationaler, kultureller und sprachlicher Grenzen ersetzt. Diese Ver‐ schiebung des literarischen Schwerpunkts zeigt sich auch in den Werken der Gastarbeiterautoren selbst, die nach dem Abschluss des Südwind-Projekts allmählich zu einer Differenzierung und vor allem zu einer Abkehr vom literarischen Engagement tendierten. Ein Beispiel hierfür ist der künstlerische Werdegang von Gino Carmine Chiellino. In den sieben Zyklen seines zweiten Gedichtbandes Sehnsucht nach Sprache (1987) führt das lyrische Ich Kindheits‐ erinnerungen aus dem Herkunftsland, verankert in der Muttersprache, mit den neuen Erfahrungen in Deutschland und der Fremdsprache zusammen. Be‐ sonders bedeutend für die mehrsprachige Entwicklung der Chamisso-Literatur ist der fünfte Abschnitt, der dem Band seinen Titel verleiht. Dieser Zyklus besteht aus Texten in drei Sprachen: Deutsch, Italienisch und dem Dialekt der Stadt Cosenza in der süditalienischen Region Kalabrien. Diese drei Sprachen repräsentieren verschiedene Stimmen, welche die Identität des Subjekts prägen - jeweils die des lyrischen Ichs, der Eltern und der Großeltern - und weisen laut Chiellino selbst (2000a: 77-78) auf seine innere Heterogenität hin, da die Identität nicht starr ist und nicht ausschließlich mit einer einzigen Sprache oder einem einzigen Heimatland verbunden sein kann. Zudem knüpfen diese drei Sprachen und die kulturellen Räume, die sie repräsentieren, symmetrische Verbindungen innerhalb der individuellen Identität auf und untergraben dabei sowohl die untergeordnete Position der südlichen dialektalen Sprache und Kultur im Vergleich zum Italienischen als auch die des Italienischen als Sprache der Einwandernden im Vergleich zum Deutschen. Eine ähnliche Verschiebung zu einer intimistischen Dimension kennzeichnet Biondis ersten Roman, Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinth der Herkunft (1991). Hier verlässt der Autor den Ton der politischen Denunziation seines vorherigen Werks zugunsten einer psychologischen Analyse des Protagonisten Dario Binachi, eines Sozialarbeiters und emigrierten Schriftstellers italienischer Herkunft. Binachi beschließt, in sein Heimatland zurückzukehren, um seine <?page no="84"?> 39 Chamisso-Preisträgerin 1999. 40 Zu Özdamars weiteren Werken gehören die drei Romane der Trilogie Sonne auf halbem Weg, auch bekannt als Berlin-Istanbul-Trilogie: Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus (1992), Die Brücke vom goldenen Horn (1998) und Seltsame Sterne starren zur Erde. Wedding - Pankow 1976/ 77 (2003). Hinzu kommen der Kurzgeschichtenband Der Hof im Spiegel (2001), das Theaterstück Perikızı - ein Traumspiel (2010) und der jüngste Roman Ein von Schatten begrenzter Raum (2021). 41 Für die Unterscheidung zwischen „latenter“ und „manifester Mehrsprachigkeit“ siehe das Kapitel 2.3 von Radaelli (2011). Wurzeln wiederzuentdecken. Heidi Rösch (1992: 149-150) stellt fest, dass für die Figur, die zwischen ihrer italienischen Vergangenheit und ihrer Gegenwart in Deutschland gespalten ist, die einzige Möglichkeit der Versöhnung darin besteht, auf Deutsch zu schreiben. Dies ermöglicht es dem Protagonisten am Ende des Romans, die Erinnerung an seine Herkunft in einer neuen Identität zu verankern. Auf diesem existenziellen Weg überwindet der Protagonist laut Rösch die illusorische Suche nach einer eindeutigen und räumlich abgegrenzten Heimat und akzeptiert seine eigene vielfältige Identität. Ein Beispiel für einen Autor, der sich entschieden von den Formen der Gastarbeiterliteratur und ihrem politischen Engagement entfernt hat, ist Rafik Schami, der 1981 das Manifest des Südwindprojekts zusammen mit Biondi verfasst hatte. Ab 1985 widmete er sich mit der Sammlung Der fliegende Baum der Märchenform und wurde zu einem äußerst erfolgreichen Autor. Diese und andere Veränderungen in der deutschen Literaturlandschaft in‐ nerhalb weniger Jahre sind besonders in Emine Sevgi Özdamars literarischem Debüt spürbar. 39 Obwohl ihre Werke teilweise immer noch mit den Erfahrungen der Arbeitsmigration verbunden sind, signalisieren sie gleichzeitig einen deut‐ lichen Schritt über diese literarische Dimension hinaus. Seit ihrem ersten Erzählband Mutterzunge (1990) 40 thematisiert Özdamar die Identitätsbildung von Subjekten in einer multikulturellen Gesellschaft sowie die Zusammenhänge zwischen Identitätsverlust und politischer Unterdrückung und die sprachlichen Auswirkungen dieser Prozesse. Dies geschieht nicht nur durch die Beschreibung von Migrationsrouten bzw. -Milieus, sondern vor allem durch die Hybridisie‐ rung zwischen der deutschen und der türkischen Sprache, die sich in den Werken auf unterschiedliche Weise ausdrückt. Es handelt sich um ein bewusst naives, einfaches und zuweilen ‚gebrochenes‘ Deutsch, das von manifester und latenter Mehrsprachigkeit 41 geprägt ist und bereits vielfach untersucht wurde (siehe u. a. Yildiz 2012: 143-168; Weber 2009; Allocca 2016; Yücel 2017: 211-230). Tatsächlich ist das Hauptmerkmal ihres Schreibens die Verwendung der wörtlichen Übersetzung als ästhetische Strategie, wobei die deutsche Ober‐ 84 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="85"?> fläche durch unterschwellige türkische Elemente wie idiomatische Ausdrücke, Gedichte und Volkslieder in Unruhe versetzt wird. Auf diese Weise entfaltet sich die Sprache laut Angela Weber (2009: 206) zu einem „Palimpsest“, bestehend aus Spuren von Idiomen, Kulturen und Geschichten. Die Auseinandersetzung mit einem Text von Özdamar stellt somit für die deutsch- oder türkischsprachige Leserschaft eine befremdliche Erfahrung dar, da dieser Stil „sowohl in deutschen als auch in türkischen Ohren vertraut und fremd zugleich“ klingt (Weber 2009: 207). Der Auslöser für diese Schreibweise ist in der diegetischen Welt der Verlust der Muttersprache, den die Erzählerinnen der Texte laut Yildiz (2012: 161-165) nicht als direkte Folge der Migration erleben, sondern vielmehr als Ergebnis der politischen, religiösen und patriarchalischen Unterdrückung in der Türkei. Der Umzug nach Deutschland wird in diesem Zusammenhang folglich als befreiende Erfahrung dargestellt, die durch den Erwerb der deutschen Sprache und die Auseinandersetzung mit dem Türkischen beschrieben wird. Dadurch wird eine Sprache wiedergewonnen, die sowohl die türkische Vergangenheit als auch die europäische und deutsche Gegenwart aufnehmen kann. Zur Zeit von Özdamars Debüt stellte diese Perspektive eine Neuheit in der Darstellung der Migration in der deutschsprachigen Literatur dar und schlug sich als eine der Kernthemen von Özdamars Werken seit der Sammlung Mutterzunge nieder. Hier kristallisiert sich Özdamars Poetik hinsichtlich der Darstellung der sprachlichen Identität bereits im Titel des Werks heraus. ‚Mut‐ terzunge‘ ist bekanntlich eine wörtliche Übersetzung des türkischen Begriffs ‚ana dil‘ (Muttersprache). Anders als im Deutschen hat der Begriff ‚dil‘ zwei Referenten, ‚Sprache‘ und ‚Zunge‘ (vgl. Yildiz 2012: 143). Özdamar überträgt diese semantische Mehrdeutigkeit des Türkischen auf das Deutsche, indem sie das Wort ‚Sprache‘ mit ‚Zunge‘ ersetzt. Dadurch entsteht ein neuer Begriff, der weder mit Muttersprache noch mit ‚ana dil‘ übereinstimmt. Die ‚Mutterzunge‘ bildet daher eine neue Hybridsprache, die sich vor den Augen der Leser: innen formt und durch den Verweis auf eines der Hauptorgane des sprachlichen Ausdrucks eine physische und körperliche Verankerung gewinnt. Spracherwerb, Migrationsprozesse und politisches Engagement stehen auch im Mittelpunkt des zweiten Romans der Autorin, Die Brücke vom Goldenen Horn (1998), dessen Protagonistin eine Gastarbeiterin im noch geteilten Berlin der späten 1960er Jahre ist. Neben ihrem Prozess des Spracherlernens taucht auch das Deutsch anderer ‚Ausländer‘ auf den Seiten auf, beginnend mit der Integration ihrer ‚Fehler‘, wie Özdamar selbst erinnert: [D]iese Fehler habe ich sehr gemocht, weil ich gemerkt habe, daß das eigentlich eine neue Sprache ist, die von ca. fünf Millionen Gastarbeitern gesprochen wird, und daß 3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) 85 <?page no="86"?> die Fehler, die wir in dieser Sprache machen, in der deutschen Sprache, unsere Identität ist. (Özdamar zitiert in Wierschke 1996: 267) Obwohl die autobiografische Komponente in Özdamars Werk weitgehend präsent ist, ist es nicht zulässig, ihre mehrsprachigen Experimente auf ein rein realistisches oder mimetisches Mittel zu reduzieren. Durch die Schaffung ihrer neuen Sprache gewinnen die ‚ausländischen‘ Figuren nicht nur einen Raum zur Selbstbehauptung in der neuen Gesellschaft, sondern sie üben auf diesem Weg auch mit der für Özdamar typischen Ironie Kritik an der untergeordneten Stel‐ lung der ‚Ausländer‘ in der BDR. Ein Beispiel dafür sind die folgenden Auszüge: „Der Fabrikchef hieß Herr Schering. Sherin sagten die Frauen, Sher sagten sie auch. Dann klebten sie Herrn an Sher, so hieß er in manchen Frauenmündern Herschering oder Herscher. […] Der Herscher wollte, daß wir am 10. November […] um fünf nach neun ein paar Minuten für Atatürk aufstehen“ (Özdamar 1998: 16); „Auch die neuen Arbeiter, die noch kein Deutsch sprachen, lernten bald von mir das Wort ‚Entschuldigung‘ und sagten ‚Ensuldugu‘ […], wenn sie den Meister etwas fragen wollten, riefen sie laut ‚Ensuldugu‘, als ob es der Name des Meisters wäre“ (Özdamar 1998: 112). Die Nähe von Özdamars Stil zu Biondis Nicht nur gastarbeiterdeutsch und Chiellinos Sehnsucht nach Sprache ist offensichtlich. Doch nur im Fall der Autorin fand diese mehrsprachige Poetik eine wirkliche Resonanz im Literatur‐ betrieb. Ein Jahr nach dem Erscheinen von Mutterzunge gewann Özdamar für ihren ersten Roman, den damals noch unveröffentlichten Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus (1992), als erste nicht-deutschsprachige Autorin den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Entscheidung der Jury stieß auf heftige Kritik, die sich vor allem auf den Stil des Romans bezog, dessen experimentelle Matrix in einigen Fällen als sprachliche und ästhetische Inkompetenz miss‐ verstanden wurde. Diese Begebenheit hat aus verschiedenen Gründen einen großen symbolischen Wert: Erstens hat die Auszeichnung unmittelbar aufgrund der entstandenen Polemik ein Schlaglicht auf das breitere Phänomen der von ‚ausländischen‘ Autor: innen verfassten Literatur geworfen (vgl. Esselborn 1997: 4; Göktürk 1999: 527-528). Zweitens war es das erste Mal, dass eine ‚ausländische‘ Schriftstellerin einen Preis erhielt, der traditionell nicht nur für ‚Ausländer‘ vorgesehen war - wie den Chamisso-Preis. In diesem Sinne ist Jens Jessens Kommentar, der unmittelbar nach der Bekanntgabe von Özdamars Auszeichnung im Feuilleton der FAZ erschien, besonders ausschlaggebend. Hier bezeichnet Jessen (1991) den Bachmann-Preis aufgrund der Auswahl der Jury als „so gut wie beerdigt“. Weiter drückt er sein Urteil wie folgt aus: „[…] die Jury wählte die Flucht in die Unglaubwürdigkeit und nominierte den hilflosen 86 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="87"?> Text einer deutsch schreibenden Türkin, der mit folkloristischen Elementen aus der Märchentradition ihrer Heimat spielt, die von den Juroren gutmütiger‐ weise für Surrealismus gehalten wurden“. Nicht nur wird in apokalyptischen Tönen einer einzigen Auszeichnung die ästhetische Abwertung eines soliden und bedeutenden Preises wie dem Ingeborg-Bachmann-Preis zugeschrieben, sondern auch die verwendeten Begriffe zur Beschreibung von Özdamars Werk („Unglaubwürdigkeit“, „hilflosen Text“) lassen ein unerbittliches Urteil über Özdamars Schreiben sowie möglicherweise eine begrenzte Kenntnis der tür‐ kischen literarischen Tradition durchscheinen. Vor allem wirkt jedoch der Wortlaut äußerst beleidigend: Özdamar wird nicht als Schriftstellerin genannt, sondern nur als „Türkin“, ein Wort, das hier zweifellos negative Konnotationen annimmt. Der Begriff „Türkin“ ersetzt hier und - zwischen den Zeilen - leugnet ‚Schriftstellerin‘, also die Möglichkeit selbst, dass ‚Ausländer‘ in deutscher Sprache auch Schriftsteller: innen sein können. Die Tatsache, dass derlei - und andere - Kritiken (siehe dazu Jankowsky 1997) sich auf Özdamars Sprachgebrauch konzentrieren, ist ebenfalls bedeutsam. Zunächst einmal literarisiert die Schriftstellerin, wie bereits erwähnt, gerade die Verwendung des Deutschen als Fremdsprache und führt dabei eine feine und innovative Arbeit der mehrsprachigen Hybridisierung durch. Dass gerade die sprachliche Dimension angegriffen wird, hat nicht nur mit Özdamars Schreiben zu tun. Um diesen komplexen Punkt zu reflektieren, können die Worte von Libuše Moníková herangezogen werden. Im selben Jahr und auch im Kontext einer Preisverleihung, also anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Chamisso- Preis, spricht Moníková das Fehlen der sprachlichen Experimentierfreiheit für ‚ausländische‘ Schriftsteller: innen an. Sie betont wie Kritiker, wenn sie Ausdrücke aus meinen Büchern, die ihnen nicht geläufig sind, als meine Eigenwilligkeit interpretieren, die einem nichtdeutschen Autor nicht zusteht […]. Wenn Arno Schmidt schreibt: „der schneeweiße Spitz….boll sehr“ […] wird er als innovativ, witzig, originell ästimiert. Wenn ich so etwas versuchte, würde es heißen: Die Ausländerin kann nicht einmal deutsch. (HCP-K1-O2-91-6: 122) Es ist klar, dass die sprachliche Dimension gewissermaßen die ‚Schwäche‘ der ‚ausländischen‘ Schriftsteller: innen ist: Als Nicht-Muttersprachler: innen sind sie auf dieser Ebene leicht angreifbar. Zurückkehrend zur Auszeichnung von Özdamar mit dem Bachmann-Preis, sie soll nicht laut Karen Jankowsky (1997: 262-264) als Anzeichen für eine uneingeschränkte Öffnung des Literaturbetriebs für ‚ausländische‘ Schrift‐ steller: innen interpretiert werden. Jankowsky erinnert daran, dass die Jury auch andere Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft zur Teilnahme einlud, was 3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) 87 <?page no="88"?> 42 Chamisso-Förderpreisträger 1988. verdeutlicht, dass das programmatische Ziel der Auszeichnung von 1991 darin bestand, die Präsenz nicht-Deutscher Schriftsteller: innen in der zeitgenössi‐ schen deutschen Literatur zu zeigen und zu legitimieren. Ein solcher Ansatz sei jedoch problematisch, denn diese scheinbare Offenheit tatsächlich auf einem Akt der Unterscheidung beruhe, was Marginalisierung nur weiter bestätige: [This perspective] emphasizes differences, but does so without necessarily investiga‐ ting relationships between those cultures labeled as different and those which are not thus marked. When such relationships between the margins and the center are not questioned, the cultivation of knowledge about disparate cultures legitimates the dominant group’s hegemony […]. In this way, accentuating the ‚Turkishness‘ of Özdamar’s text emphasizes differences between Turkey and Germany. ( Jankowsky 1997: 263) Eine ähnliche Perspektive lässt sich aus den Äußerungen des Schriftstellers, Dichters und Essayisten Zafer Şenocak 42 gewinnen, der seit Ende der 1980er Jahre mehrfach die Positionierung von Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft im Literaturbetrieb behandelt hat. In seiner 1993 veröffentlichten Essayssammlung Atlas des tropischen Deutschland betrachtet Şenocak (1993: 64) die Rezeption der „in Deutschland entstehenden Kunst von Einwanderern“ als Spiegelbild der Haltung von Politik und Gesellschaft im Allgemeinen. Dabei betont er insbesondere, dass trotz der langjährigen Anwesenheit von „Einwanderern“ in Deutschland - damals über dreißig Jahre - die Regierung weiterhin darauf bestand, dass „Deutschland kein Einwanderungsland“ sei (1993: 65): Doch betrachtet man die mangelhafte Rezeption der Kunst von Einwanderern durch deutsche Medien, dann fällt auf, daß die deutsche kulturelle Szene ein Spiegelbild der politischen ist, wenn es darum geht, die Anwesenheit von Einwanderern in Deutschland zu ignorieren. In dieser Szene haben sich Inseln gebildet, von denen aus manche, wenige Kulturvermittler quasi als Botschafter mit den ausländischen Künstlern, die sich am Rande der Kulturszene befinden, verkehren. Hier ein Professor, dort ein Kritiker, hier und da einige Kleinverleger, alle im schönen Gefühl, durch die Entdeckung multikulturellen Lebens etwas Avantgardistisches zu tun. (Şenocak 1993: 66) Die „ausländischen Schriftsteller und Intellektuellen“ werden nur in wenigen Fällen dazu ermutigt, sich zu „allen Zeit- und Lebensfragen“ zu äußern und nicht nur „zu Fragen der Migration“ (Şenocak 1993: 66). Es wird betont, dass die Anwesenheit „von gut und einflussreichen deutschsprechenden und schreibenden Einwanderern“ noch nicht als „Selbstverständlichkeit“ angesehen 88 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="89"?> wird, sondern eher als etwas „Feierliches“, eine unerwartete Begebenheit. Mit anderen Worten: Von ‚Ausländern‘ werde erwartet, dass sie sich vorrangig mit Angelegenheiten beschäftigen würden, die mit ihrem ‚Ausländerdasein‘ zu‐ sammenhängen. Şenocak verweilt daher bei den vereinzelten Erfolgsfällen von Schriftsteller: innen ‚ausländischer‘ Herkunft, die fälschlicherweise angeführt werden könnten, um eine Offenheit der Gesellschaft und des Literaturbetriebs - der Aspekt, auf den sich der Autor am meisten konzentriert - gegenüber ‚Ausländern‘ zu suggerieren. In diesem Zusammenhang nennt er sowohl Öz‐ damar als auch Schami. Tatsächlich haben ‚ausländische‘ Autor: innen nur dann Zugang zum Verlagsmarkt - so führt Şenocak fort -, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Das erste: die „Bestätigung der Bilder über den Fremden und seine Kultur, die in den Köpfen vorherrschen“ (Şenocak 1993: 69), das zweite: der „deutschen Literatur neues Blut zuführen“ (Şenocak 1993: 70), das dritte: „Anspruchslosigkeit“ (Şenocak 1993: 71). Und hier kommen Özdamar und Schami ins Spiel. Erstere bestätigt nach Ansicht des Essayisten die in der deutschen Gesellschaft bereits vorhandenen Erwartungen und Bilder von der Türkei, wodurch ihre Texte unproblematisch akzeptiert und geschätzt werden können: Die Türkei ist beispielsweise ein rückständiges, halbfeudales, muslimisches, auch orientalisches Land. Folglich müssen Autoren der Gegenwart exotische Bilder von einer fremden, fernen Welt liefern […], wie sie z. B. im Werk der Ingeborg-Bachmann- Preisträgerin von 1991 Emine Sevgi Özdamar zu finden sind. (Şenocak 1993: 69) Zur Veranschaulichung des zweiten Punktes, nämlich der Erwartung an die ästhetische Andersartigkeit ‚ausländischer‘ Schriftsteller: innen, verweist Şe‐ nocak auf Schami, der die Erzählweise des Märchens als exotisierende Gattung schlechthin gekonnt einsetzt: In der Andersartigkeit und Marginalität der Minderheit sucht die herrschende Kultur der Mehrheit eine Projektionsebene, auf die sie durch Aufklärung und Rationalität verlorengegangene eigene mythische Anteile projiziert: Erfolgsstrategie Nummer eins ist dabei die Wiederbelebung der mündlichen Tradition, auch Märchen zu erzählen. Sie wird vor allem von arabischen Autoren wie von dem Syrer Rafik Schami, der seine Märchen nicht vorliest, sondern sie auf zahlreichen Veranstaltungen „authentisch“ mündlich vorträgt, mit Erfolg praktiziert. (Şenocak 1993: 70-71) An Şenocaks Überlegungen lässt sich meiner Ansicht nach der Wandel im deutschen Literaturbetrieb hinsichtlich der Chamisso-Literatur ablesen, der in den frühen 1990er Jahren anzusiedeln ist. Tatsächlich wurde die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schreiben von ‚Ausländern‘, die das vorangegangene Jahrzehnt 3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) 89 <?page no="90"?> kennzeichnete, durch eine zunehmende Nachfrage nach multikulturellen Ge‐ schichten und Autorprofilen ersetzt. Wie Amodeo (1996: 21) und Ernst (2013: 285, 288) anmerken, begannen sich die großen Verlage bereits Anfang der 1990er Jahre für diese Sphäre zu interessieren und förderten Verlagskategorien, die in der zeitgenössischen literarischen Diskussion eher in der Kritik standen - wie Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur, Migrantenliteratur. Für Şenocak gilt dies keineswegs als Indiz für eine allmähliche politische, gesellschaftliche oder kulturelle Öffnung Deutschlands gegenüber kultureller Vielfalt, sondern eher als einen weiteren Rückgang ihrer Marginalisierung: Im Vergleich zu früher erfreuten sich die Werke ‚ausländischer‘ Autor: innen zwar zunehmender Beliebtheit, jedoch unter der Bedingung, dass sie am Rand des kulturellen Lebens verblieben und den Erwartungen der Verlagswelt, insbesondere der Suche nach einer unproblematischen Exotik, entsprachen. Şenocak kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Kultur sich durch die Kunst der ‚Ausländern‘ nur so bereichern lassen kann, wenn diese „richtig entdeckt“ wird (1993: 74). Das sind also die kritischen Elemente, welche die allmähliche Ausdifferen‐ zierung des deutschsprachigen literarischen Raums begleiteten: Im Laufe der 1990er Jahre fand die Produktion von Autor: innen ‚ausländischer‘ Herkunft im Zuge der Projekte der 1980er Jahre zwar Verbreitungs- und Rezeptionswege im literarischen Raum, musste sich aber oft mit der Gefahr ihrer Exotisierung aus‐ einandersetzen. Es handelt sich um einen Prozess, der aus einer unentwirrbaren Dynamik von Inklusion und Exklusion besteht. Zurück zu Özdamar: Nach anfänglicher Kritik hat sich die Autorin als eine der repräsentativsten Stimmen der zeitgenössischen Szene etabliert, was beispielsweise durch die Verleihung des Büchner-Preises im Jahr 2022 bestätigt wurde. Laut der Jury ist Özdamar eine herausragende Autorin […], der die deutsche Sprache und Literatur neue Hori‐ zonte, Themen und einen hochpoetischen Sound verdankt. Einst aus der Türkei ins geteilte Berlin gekommen, bereichert Özdamar seit über drei Jahrzehnten die deutsch‐ sprachige Literaturszene mit ihren Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, zuletzt mit dem Opus magnum „Ein von Schatten begrenzter Raum“. Ungewohnte literarische Stilmittel und aus dem Türkischen inspirierte Sprechweisen prägen ihre multiperspektivischen Texte, die neben intimen persönlichen Erfahrungen ein breites Panorama deutsch-türkischer Geschichte entfalten - vom Ersten Weltkrieg über die Aufbruchstimmung der sechziger und siebziger Jahre bis in unsere Gegenwart. Emine Sevgi Özdamars Werk eröffnet einen zugleich intellektuellen wie poetischen Dialog zwischen verschiedenen Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen, an dem wir lesend teilhaben dürfen. (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 2022) 90 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="91"?> 43 Chamisso-Preisträger 2005. 44 Für eine Analyse der Konstruktion vom Kanakischen als Ausdruck von oppositionellen Instanzen der Minderheit aus dem türkisch-deutschen Ghetto siehe Ernst (2013: 302- 394) und Yildiz (2012: 169-202). Gerade Özdamars ‚skandalöser‘ Stil wird hier als wichtiger Meilenstein in der Entwicklung und Öffnung der deutschsprachigen Literatur hervorgehoben. Im gleichen Kontext wie Özdamars Debüt, bzw. einige Jahre später, ist der Anfang von Feridun Zaimoğlus literarischer Laufbahn anzusiedeln. 43 Sein provokatives Werk Kanak Sprak (1995) bedient und untergräbt genau den Exotismus-Hunger des damaligen Literaturbetriebs. Der Text besteht aus einer Sammlung von vierundzwanzig Interviews mit Vertreter: innen der verschie‐ denen Realitäten des türkisch-deutschen Großstadtghettos, Stimmen, die sich in einem hybriden Jargon, dem „Kanakisch“, ausdrücken: ’n kanake als Freund rangiert ganz unten auf der multikultiliste, besser is’n jamai‐ kanigger mit ner zottelperücke, noch besser’n schmalzlatino, und die ganze heiße oberfesche krone is denn’n yankee-nigger, auf den das ganze einheimische mösen‐ monopol abfährt. (Zaimoğlu 1995: 22) Ursprünglich wurde der Text als Reportage präsentiert und als solche enthu‐ siastisch aufgenommen. Damit begab sich Zaimoğlu in den Windschatten deutscher Journalisten, die in den 1980er Jahren mit beachtlichem Erfolg die Lebensbedingungen von ‚Ausländern‘ untersucht hatten (z. B. Günter Wallraffs Ganz Unten). In der Tat handelt es sich jedoch bei Kanak Sprak um ein fiktives Werk, in dem Zaimoğlu nicht nur die Figuren der Befragten, sondern auch deren Sprache erfunden hat. Das Kanakisch wurde zunächst für eine quasiethnographische Direktaufnahme der Sprache der türkisch-deutschen Jugend der großstädtischen Subkultur gehalten. Allerdings handelt es sich vielmehr um eine künstlerische Konstruktion, ähnlich wie Bionds gastarbeiterdeutsch. 44 Dass Kanak Sprak in diesem Kontext verpuffte, liegt auf der Hand. Denn es gelang dem Werk, sich dank seiner simulierten, beruhigenden dokumentarischen Hal‐ tung in die Falten des Literaturbetriebs einzuschleichen und die Erwartungen der damaligen Rezeption, insbesondere die nach Authentizität, zu verhöhnen. Vielleicht aufgrund der ethnographischen Rahmung wurde Zaimoğlus Stil nicht wegen mangelnder Beherrschung der deutschen Sprache kritisiert, wie es bei Özdamar der Fall war. Laut Richter (2017: 435) sei Kanak Sprak ein Werk der sprachlichen Hybridi‐ sierung und Prekarisierung, und als solches setze es Özdamars Mutterzunge fort: „Beide Texte zeichnen eines aus: ihre entschiedene Reflexion der Sprache. Sie thematisieren Sprachverlust, sprachliche Unsicherheit, vergleichen Sprachen, 3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) 91 <?page no="92"?> 45 Unter den zahlreichen Studien zu Tawada siehe Ivanovic (2010); Heinz et al. (2011); Schickhaus (2017). 46 Tawadas Debüt als Schriftstellerin erfolgte mit dem Erscheinen von Nur da wo du bist, da ist nichts - Anata no iru tokoro dake nani mo nai im Jahr 1987. Das erste direkt auf Deutsch veröffentlichte Buch war jedoch die bereits 1988 entstandene Kurzgeschichtensammlung Wo Europa anfängt (1991). nehmen Sprache als beweglich und unfertig wahr, entwickeln neue Ausdrucks‐ formen“. Während jedoch in den literarischen Erfahrungen beider Autor: innen durchaus eine gemeinsame Kritik an monokulturellen Paradigmen in ihrer einsprachigen Ausdrucksweise erkennbar ist (vgl. dazu Yildiz 2012: 143-168), führt ihre Gegenüberstellung meines Erachtens eher dazu, ihre Unterschiede zu verdeutlichen, anstatt die Kontinuität ihres sprachlichen und kulturellen Experimentierens zu betonen. Wie bereits erwähnt, erfährt die sprachliche Hybridisierung bei Özdamar eine befreiende Dimension. Auf der anderen Seite zielt Zaimoğlus sprachliche Manipulation darauf ab, einen Ausdruckskodex für eine Subkultur zu schaffen. Diese Subkultur ist das Ergebnis vergangener Migrationsphänomene und bildet heute eine Gemeinschaft, die zwar zur deut‐ schen Gesellschaft gehört, sich jedoch an ihren Rändern befindet. Somit de‐ konstruieren die Stimmen der ‚Befragten‘ die multikulturelle Darstellung der deutschen Gesellschaft und offenbaren stattdessen die Dynamik der Margina‐ lisierung, die sie durchzieht. Obwohl kaum fünf Jahre zwischen den beiden Veröffentlichungen liegen, scheint die Gesellschaft, die Özdamar und Zaimoğlu zu Wort kommen lassen, Jahrzehnte voneinander entfernt zu sein. Tatsächlich umrahmen die Texte der Schriftstellerin eine Parabel, die in den 1970er Jahren beginnt und noch vor dem Fall der Mauer endet - Jahre, die Özdamar zunächst als Gastarbeiterin und später als Mitarbeiterin am Berliner Ensemble erlebte. Zaimoğlu hingegen gehört künstlerisch - wie auch biografisch - einer späteren Generation an: Sein Blick richtet sich auf die unmittelbare Zeitgenossenschaft der türkischen Ghettos, die wiederum das Ergebnis eben jener demografischen und sozialen Prozesse sind, wie sie von Özdamar beschrieben wurden. Diese Erkundung der 1990er Jahre lenkt nun unsere Aufmerksamkeit auf das Debüt einer Autorin, die auch in den folgenden zwei Jahrzehnten im Rampen‐ licht des Literaturbetriebs stand und immer noch steht: Yoko Tawada. 45 Bekannt‐ lich zog die japanische Schriftstellerin 1982 nach Hamburg und promovierte anschließend bei der Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel. In Japan war sie bereits zwischen den späten 80er und den frühen 90er Jahren bekannt geworden, als ihre frühen Werke Beachtung fanden. 46 Ihr internationaler Durchbruch er‐ folgte jedoch später, insbesondere nachdem sie begann, verstärkt auf Deutsch zu schreiben. Tawadas Schreibstil zeichnet sich durch eine kreative Verschmelzung 92 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="93"?> 47 Original: „percezione visuale della lingua tedesca“ (Übersetzung von mir). 48 Für Tawadas Übersetzungen von Celan ins Japanische sowie den Kontext dieses Übergangs zwischen verschiedenen kulturellen Polysystemen siehe Sgambati (2013). 49 Beispielweise die Essays- und Kurzgeschichtensammlungen Talisman (1996), Verwand‐ lungen: Tübinger Poetik Vorlesungen (1998), Überseezungen (2002), oder die in Sprachpo‐ lizei und Spielpolyglotte (2007) erschienenen Aufsätze. verschiedener Sprachen und Kulturen aus, hauptsächlich des Japanischen und des Deutschen, die, wie Gabriella Sgambati behauptet (2013: 109), aus einer ‚visuellen Wahrnehmung der deutschen Sprache‘ 47 abstammt, was auch ihrer Übersetzungsarbeit zugrunde liegt. Bekanntlich ist Tawada nicht nur eine der bedeutendsten Forscher: innen und Übersetzer: innen von Paul Celan, 48 sondern ihre literarische Erfahrung bringt die Tätigkeit der Selbstübersetzung wieder in die deutsche Szene ein. Gerade das Übersetzen als Schreibprinzip stellt eine der innovativsten ästhetischen Züge in Tawadas mehrsprachigem Schreiben dar, ein Thema, dem sie mehrere Aufsätze gewidmet hat. 49 Die Verleihung des Chamisso-Preises im Jahr 1996 war die erste Anerkennung der Autorin im deutschen Literaturraum. Es folgten weitere bedeutende Preise, darunter der Kleist-Preis im Jahr 2016. Bis heute zählt Tawada zu den meistbeachteten und geschätzten Autor: innen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ihre Rezeption wird seit ihrem Debüt weniger mit Migration als vielmehr mit einer interkulturellen Öffnung der Literatur in Deutschland in Verbindung gebracht. Tatsächlich ist sie nicht Teil eines klar definierten Migrationsphänomens, wie etwa der durch die Anwerbeabkommen der 1950er und 1960er Jahre bzw. die internationalen Schutzabkommen ab 1953 geregelten Ankünfte. Darüber hinaus konzentriert sich ihre Arbeit nicht auf eine einzelne Migrationserfahrung, die in einem spezifischen historisch-legislativen Kontext verwurzelt ist (wie im Fall der Gastarbeiterautoren oder auch in gewissem Maße bei Özdamar). Seit der Jahrtausendwende lassen sich weitreichende Veränderungen im deutschen Literaturbetrieb und entsprechend innerhalb der Chamisso-Literatur beobachten. Deutschland und insbesondere Berlin üben eine zentripetale Kraft aus, die zahlreiche internationale „kosmopolitische Autoren“ anzieht, deren Produktionssprache nicht unbedingt Deutsch ist: „Kosmopolitische Autoren können weiterziehen, in andere Kulturräume, die reizvoller sind als das flache Land der deutschen Hauptstadt. Solche Autoren nutzen den deutschsprachigen Kulturraum nur als einen Arbeits-, Inspirations- und Resonanzraum unter anderen“ (Richter 2017: 434). Dabei handelt es sich um Erfahrungen, die nicht auf spezifische Migrationsphänomene zurückzuführen sind, sondern die sich als Ausdrücke der kulturellen Pluralität der deutschen Gesellschaft beobachten lassen. Schließlich ist die Chamisso-Literatur zu Beginn des neuen Jahrtausends 3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) 93 <?page no="94"?> 50 Chamisso-Preisträgerin 2010. nicht mehr ein Randphänomen, sondern ein etablierter literarischer Raum, der ebenfalls eine etablierte Literaturrezeption hat. Wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, hängt dies auch mit den Verän‐ derungen in der kanonisierenden Wirkung des Chamisso-Preises zusammen, der laut Kegelmann (2010) nicht mehr als „Türöffner“ für Schriftsteller: innen fungiert, sondern vielmehr als Bestätigung einer bereits begonnenen und legitimierten literarischen Tätigkeit. Das Bedürfnis nach Kodifizierung, Legiti‐ mierung und Kanonisierung ist somit obsolet geworden, und dieser Raum ist heute von Verästelungen geprägt, die sich nicht wirklich auf gängige Matrizen zurückführen lassen. Gerade aufgrund der Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte, die zu einer weiteren Dispersion im Literaturbetrieb geführt haben, gilt die Abgrenzung eines literarischen Raums, wie es durch die Bezeichnungen Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur angestrebt wurde, als nicht mehr angemessen. Im Folgenden wird ausschließlich auf die Erfahrungen zweier Autorinnen eingegangen, die aus verschiedenen Gründen als emblematisch für die Entwick‐ lung der Chamisso-Literatur sowie, wie im nächsten Kapitel erläutert wird, für den Chamisso-Preis gelten: Terézia Mora und Uljana Wolf. Hier werden sie nur kurz vorgestellt und später im fünften Abschnitt einer eingehenden textuellen Analyse unterzogen. Die in Sopron geborene Terézia Mora, 50 die aus der deutschsprachigen Minderheit Westungarns stammt, erweitert perspektivisch den Zustand der Verwirrung und des Prekariats, der in der zeitgenössischen Literaturlandschaft vor allem in Bezug auf das Leben von ‚Ausländern‘ kodifiziert worden war. Seit ihrer ersten Veröffentlichung, der Kurzgeschichtensammlung Seltsame Materie (1999), stehen Figuren von Flüchtlingen, Migranten und marginalisierten Indi‐ viduen im Mittelpunkt vieler ihrer Werke. Diese Figuren gelten als Archetypen der Subjektivität in der globalisierten Gesellschaft, wobei die Erfahrung der Fremdheit nicht an bestimmte sprachliche, nationale, geografische oder histo‐ rische Kontingenzen gebunden ist. Für die Entwicklung der Chamisso-Literatur ist das Profil dieser Autorin von besonderer Bedeutung, wie aus einer Reflexion von Kegelmann (2010) hervorgeht. Nachdem er die verschiedenen Positionen skizziert hat, die der Chamisso-Preis im Laufe seiner Geschichte eingenommen hat, zieht Kegelmann den Schluss, dass die erfasste Literatur erst dann als vollständig in die deutsche Literaturlandschaft integriert gelten konnte, wenn ein Chamisso-Preisträger den renommierten Georg-Büchner-Preis erhalten würde (Kegelmann 2010: 28). 94 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="95"?> Zehn Jahre später geschah dies mit der Auszeichnung Moras. Die Jury des Büchner-Preises erkannte neben der poetischen Kraft von Moras Prosa den Ausdruck existentieller gegenwärtiger Entwurzelung: In ihren Romanen und Erzählungen widmet sich Terézia Mora Außenseitern und Heimatlosen, prekären Existenzen und Menschen auf der Suche und trifft damit schmerzlich den Nerv unserer Zeit. Schonungslos nimmt sie die Verlorenheit von Großstadtnomaden in den Blick und lotet die Abgründe innerer und äußerer Fremd‐ heit aus. (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 2018) Mora war die erste unter den Chamisso-Autoren, die eine Auszeichnung dieser Größenordnung erhielt, und dieses Ereignis besitzt aufgrund seiner Parado‐ xien einen ebenso hohen Stellenwert wie Özdamars Verleihung des Ingeborg- Bachmann-Preises 1991. Einerseits kann man diese Episode als Krönung der Öffnung des deutschsprachigen literarischen Raums im multikulturellen Sinne interpretieren, wie es auch in der Presserezeption nach der Bekanntgabe des Preises zum Ausdruck kam: Nun definieren auch die Stimmen der mit der Chamisso-Literatur verbundenen Autor: innen das Zentrum des deutschen Literaturbetriebs. In diesem Sinne gelte die Verleihung des Nobelpreises an Herta Müller (2009) ebenfalls als ein Signal dafür, wie sehr die deutschsprachige Literatur auch im Ausland durch ihre interkulturellen Stimmen identifiziert wird (vgl. Richter 2017: 433). Diese Lesart des Geschehens beruht zwar auf einem Faktum der Realität und ist durchaus vertretbar, besitzt aber zugleich eine starke problematische Aufladung. Um dies zu umreißen, kann man den Worten von Mora aus ihrer Dankesrede Raum geben. Darin bezieht sich die Autorin auf Artikel, die ihre Auszeichnung als Symbol der Öffnung des Literaturbetriebs hervorgehoben hatten: [I]ch habe vermieden, sie [die Artikel] ganz zu lesen, aber ich habe Überschriften gelesen, und dort stand ein ums andere Mal, dass ich Ausländer und eine Frau sei, auch Ausländerin, und die Preisvergabe an mich deswegen ein Signal. Und ich dachte, das sei öffentliche Anerkennung jedes Mal. Natürlich verstehe ich, warum das mit den Ausländern und den Frauen gesagt werden muss, dass die, die es sagen, Gutes damit wollen, aber Tatsache ist auch, dass dadurch ein spezielles (um nicht zu sagen: seltsames) Licht auf den schönen, freien Menschen fällt. Er sieht anders geworden darin aus, und das ist im eigentlichen Sinne des Wortes: merkwürdig. Ich weiß, das ist schwierig, und natürlich geht es nicht um Einzelne, sondern um Teilhabe, darum, wer, was, wie die Rede wert ist - auch ist es wohl richtig, diese Themen wenigstens anzudeuten. Dass niemand, der kategorisiert wird, ob nun einhergehend mit dem Hervorheben seiner Verdienste oder dem Gegenteil, sich dabei schön oder frei fühlt, damit muss der Mensch wohl leben. (Mora 2018, Hervorhebung von mir) 3.1 Zwischen Arbeitsmigration und kultureller Vielfalt (1985-2000) 95 <?page no="96"?> 51 Chamisso-Preisträgerin 2016. Mora kritisiert sowohl die Verallgemeinerung ihrer Identität, die stellvertretend für alle ‚ausländischen‘ Autorinnen steht, als auch die Überschneidung zwischen der künstlerischen und der biografischen Dimension, durch welche die Figur der Schriftstellerin und nicht ihr Schreiben im Vordergrund gerückt wird. In dieser Stellungnahme lässt sich eine ähnliche Kritik erkennen, wie sie Şenocak fünfzehn Jahre zuvor formuliert hatte. Dieser äußerte sich zu einer Zeit, als die Position ‚ausländischer‘ Autor: innen innerhalb des Literaturbetriebs langsam aufgewertet wurde. Die heutige Situation, in der sich Mora befindet, ist eine an‐ dere, die Richter in der Formel „The Other sells“ (2017: 444) zusammenfasst: Das kulturelle Anderssein ist nicht nur ein integrierter Bestandteil des deutschen Literaturbetriebs, sondern stellt auch einen potenziell höchst einträglichen Aspekt der künstlerischen Produktion dar. Ein exemplarisches Zeugnis für diese Entwicklung ist der Werdegang von Uljana Wolf. 51 Wolf, eine in Ost-Berlin geborene Autorin und Übersetzerin, zeigte bereits in ihrem ersten Gedichtband kochanie ich habe brot gekauft (2005) Interesse am poetischen Potenzial des mehrsprachigen Experimentierens und an der literarischen Konstruktion des Zwischenspiels des Fremden und des Eigenen. Sie stellt ein herausragendes Beispiel für die tiefgreifenden Verände‐ rungen dar, die der deutsche Literaturbetrieb in den letzten vierzig Jahren durchlaufen hat: Zum einen erstreckt sich die Chamisso-Literatur, wie sie durch den Aktionsradius des Chamisso-Preises definiert ist, nicht mehr ausschließlich auf Autor: innen mit ‚ausländischer‘ Herkunft oder einer familiären Migrations‐ geschichte. Dies signalisiert zwar das unausweichliche Ende des Chamisso- Preises, wie im folgenden Kapitel dargelegt wird, deutet jedoch gleichzeitig darauf hin, dass der Raum der Chamisso-Literatur nicht mehr am Rand der litera‐ rischen Landschaft verortet ist, sondern sich innerhalb des gesamten deutschen Literaturraums fragmentiert und verbreitet hat. Die drei Tendenzen, die nach Richter (2017: 432) das literarische Szenario prägen („deterritorial, transnational, multilingual“) sind im begrenzten Kontext der Ausländerliteratur entstanden und da vor allem legitimiert und kanonisiert worden. Innerhalb von drei Jahrzehnten haben sie sich zu wesentlichen Merkmalen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur entwickelt. Dennoch ist dieser Kontext von erheblicher Ambivalenz geprägt: Trotz dieser Entwicklung warnen die Autor: innen immer noch vor der Gefahr, auf das Etikett des ‚Fremden‘ reduziert zu werden. Die obengenannten Entwicklungen innerhalb der Chamisso-Literatur gehen mit einer Verschiebung der theoretischen und kritischen Perspektive einher, wie im Folgenden dargelegt wird. 96 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="97"?> 52 Besonders bedeutend ist die Rezeption der wegweisenden Forschungen von Clifford Geertz (The interpretation of cultures, 1973), Gayatri Chakravorty Spivak (Can the Subaltern Speak? 1983), Homi K. Bhabha (1990, 1994) sowie Louise Pratt (Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation, 1992). 53 Für einen ausführlichen Forschungsbericht zu den maßgeblichsten Studien, die dem interkulturellen Ansatz beigetragen haben, siehe Wierlacher (2003: 9-13). 54 Für einen diachronischen Überblick des Fachentwicklung siehe Wierlacher (2003: 1-13). 3.2 Die literaturwissenschaftliche Rezeption jenseits der Betroffenheit: Das interkulturelle Paradigma In Korrespondenz zu diesen literarischen Entwicklungen prägten weitere Ver‐ änderungen das Feld der Germanistik, die von denselben Impulsen ausgingen, welche die Disziplin Deutsch als Fremdsprache initiiert hatten. Ab den 1980er Jahren begann sich die deutsche Wissenschaft für die theoretischen und prakti‐ schen Impulse des cultural turn der USA-amerikanischen Anthropologie und der Postcolonial Studies zu öffnen (vgl. Dörr 2009: 62; Wierlacher 2003: 16 ff.; Essel‐ born 2009: 43; Ernst 2013: 161-162, 292). 52 Diese theoretischen Ansätze streben danach, die unvermeidlichen Unterschiede kultureller Ausdrucksformen zu betonen, anstatt nach Möglichkeiten zu suchen, sie zu vereinheitlichen. Seit den frühen 1980er Jahren haben Heinz Göhring, Dieter Krusche und besonders Alois Wierlacher im Bereich der Germanistik das Prinzip der Inter‐ kulturalität aufgegriffen, erweitert und den erkenntnistheoretischen Ansatz der Interkulturellen Germanistik entwickelt. 53 Dieser äußerst interdisziplinäre An‐ satz hatte ab den 1990er Jahren erhebliche Auswirkungen auf den literarischen Bereich im Allgemeinen und insbesondere auf das neue Gebiet der Chamisso- Literatur. Das Ziel war es, aus erkenntnistheoretischer Perspektive einen theo‐ retischen und praktischen Ansatz zu entwickeln, der das Gewicht kultureller Unterschiede betonte und den interkulturellen Dialog förderte. Disziplinär sollte ein neues Feld etabliert werden, das eine Germanistik einschloss, welche nicht mehr ausschließlich „deutschen Prinzipien“ folgte, sondern vielmehr die Vielfalt der Kulturen einbezog (Wierlacher 2003: 4). Die theoretischen Bemühungen aus fachgeschichtlicher Sicht verliefen pa‐ rallel zur Gründung der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik an der Universität Heidelberg im Jahr 1984. Diese Gesellschaft leitet sich pragmatisch auch von Deutsch als Fremdsprache ab, denn ihr Entstehungskontext liegt in der vierten Internationalen Sommerkonferenz Deutsch als Fremdsprache, die vom 11. bis 13. Juli 1984 stattfand, wie Wierlacher, der erste Vorsitzende, hervorhebt (1985b: IX; 2003: 6-7). 54 In der Einleitung der ersten Publikation der Gesellschaft von 1985, die gleichzeitig ihr Manifest ist, wird die Interkultu‐ relle Germanistik als eine „Forschungsgemeinschaft, die eine praxisorientierte, 3.2 Die literaturwisschenschaftliche Rezeption: Das interkulturelle Paradigma 97 <?page no="98"?> 55 Wierlacher reflektiert, wie er durch seine ersten Annäherungen an die Lerninteressen bzw. -bedingungen „ausländischer Studierender“ (2003: 2) auf die „Probleme der Verdeutlichung deutscher Kultur(en) und der Erforschung ihrer Rezeptionen und deren Funktionen im Prozess der interkulturellen Kommunikation“ erst aufmerksam wurde (2003: 13). um Fragestellungen einer regionalen und vergleichenden Kulturwissenschaft erweiterte Philologie des Deutschen anstrebt“ beschrieben (Wierlacher 1985b: IX). In seinen wichtigsten theoretischen Arbeiten definiert Wierlacher (u. a. 2001; als Herausgeber: 1980, 1993, 1985a, 1987 mit Krusche 1990, mit Bogner 2003) 55 den begrifflichen Kern dieser Fachrichtung als einen Verstehensbegriff im an‐ thropologischen Sinne, der auf Gadamers Universalhermeneutik basiert. Beson‐ deres Augenmerk liegt dabei auf der Annahme, dass „Verstehen grundsätzlich ‚anders verstehen‘ heißt“ (Gadamer zitiert in Wierlacher 2003: 30). Zugleich wird jedoch eine Kritik an der Universalhermeneutik geäußert: Der Horizont des Verstehens soll, so Wierlacher, nicht wie bei Gadamer auf Einverständnis, sondern auf Differenz ausgerichtet sein. Die interkulturelle Hermeneutik favorisiert infolge ihrer xenologischen Akzentuierung nicht Gadamers Verstehens‐ konzept der Horizontverschmelzung, sondern Helmuth Plessners der xenologischen Bestimmung des Fremdheitsbegriffs korrespondierende Definition des Verstehens als „Vertrautwerden in der Distanz“, das „das Andere als das Andere und Fremde zugleich sehen lässt“ (1983, 91). (Wierlacher 2003: 30) Dieser Ansatz ermöglicht es, die Notwendigkeit zu erkennen, eine eurozentri‐ sche Sichtweise zu überwinden und auch die Vielfalt im Verstehensprozess zu berücksichtigen (vgl. Wierlacher 1985c). Tatsächlich, wie Wierlacher betont, „tradiert“ Gadamers Perspektive „[i]n höchst bedenklichem Maße […] Denk‐ muster europäischen Kolonialverhaltens; sie überschätzt die Möglichkeit der Aneignung, weil sie die Spannung zwischen Eigenem und Fremdem übergeht“ (Wierlacher 1985c: 11). Gerade diese beiden Bezeichnungen, das Eigene und das Fremde, zusammen mit dem Konzept der Fremdheit, bilden entscheidende Dimensionen für die interkulturelle Hermeneutik. Wie Albrecht (2003: 233) und Hofmann (2006: 14-15) betonen, ist das deutsche Adjektiv ‚fremd‘ ein polysemischer, relationaler und deiktischer Begriff, der je nach Kontext unterschiedliche Nuancen annimmt. Albrecht beginnt damit, die Polysemie des Begriffs zu erklären, indem sie seine Hauptbedeutungen darlegt: 98 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="99"?> 1. einem anderen Land, Volk, Ort, einer anderen Gegend, Stadt, Familie angehörend, aus einem anderen Land, Volk, Ort, einer anderen Gegend etc. stammend, von anderer Herkunft; 2. einem anderen gehörend, einen anderen angehend, betreffend, anderer Leute; 3. nicht bekannt, nicht vertraut, unbekannt, unvertraut, ungewohnt, andersgeartet, neu, ungeläufig; 4. nicht zu etwas, jemandem passend, andersartig, fremdartig, seltsam. (Albrecht 2003: 234) Hofmann (2006: 14-15) schlägt Definitionen des Begriffs vor, die nicht unmit‐ telbar mit denen Albrechts übereinstimmen. Er zieht auch die Übersetzung in andere Sprachen heran, um die Bedeutungsnuancen zu verdeutlichen: So drückt der Begriff ‚foreigner‘ (was einem Teil von Albrechts Bedeutung Nr. 1 ent‐ spricht) die Fremdheitserfahrungen aus, die „mit dem Auszug aus der vertrauten Umgebung, mit Reise, Eroberung“ zu tun haben; der Bezeichnung ‚strange‘ (entsprechend Albrechts Bedeutungen Nr. 2 und 3) wird die Erscheinung oder die Betrachtung von etwas zugeschrieben, das sich „auch in seinem Wesen grundsätzlich vom Subjekt unterscheidet“; schließlich umfasst der Begriff ‚alien‘ (was Albrechts Bedeutung Nr. 4 und den restlichen Teil Nr. 1 wiederspiegelt) die Begegnung mit etwas, das „einem anderen gehört“. Dieser Exkurs zum Wort ‚fremd‘ und seiner Ableitung ‚Fremdheit‘ zeigt zunächst, wie sehr sie sich einer präzisen begrifflichen Bestimmung entziehen. Wie Albrecht (2003: 234) feststellt, zeigt sich etwas als ‚fremd‘ immer nur für jemanden, an einem Ort, mit Bezug auf etwas und in einer bestimmten Hinsicht. Diese Beziehung ist in der Regel die Negation von etwas anderem, oft des Gegensatzes, durch den sich das Fremde wechselseitig definiert: das Eigene. Für Albrecht ist es daher zulässig, von einer „Dialektik von Eigenem und Fremdem“ zu sprechen: Von Fremdem kann nur dort die Rede sein, wo es gleichzeitig auch die Vorstellung eines Eigenen gibt. Das Fremde und das Eigene begründen sich wechselseitig. Erst über die Interpretation einer Person, Sache oder Situation als fremd wird das jeweils Eigene konturiert, und umgekehrt wird das Verhältnis zu einer anderen Person oder Situation nur als Fremde bezeichnet werden können, wenn es vom Eigenen als unterschieden wahrgenommen oder bewertet wird. (Albrecht 2003: 236) Es ist an dieser Stelle prägnant zu betonen, dass es diese Dialektik ermöglicht, Grenzen zu ziehen, welche die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit von Individuen zu einer sozialen, kulturellen oder nationalen Gruppe definieren. 3.2 Die literaturwisschenschaftliche Rezeption: Das interkulturelle Paradigma 99 <?page no="100"?> 56 Für den „mehrdimensionalen[n] Kulturbegriff interkultureller Germanistik“ siehe Wierlacher (2003: 24-25). 57 Für diese Konzeption bezieht sich Hofmann auf Homi K. Bhabhas berühmten Begriff des ‚dritten Raums‘. Bhabha betrachtet kulturelle Konflikte als Zusammenstöße von Narrativen, innerhalb derer subalterne Subjekte Widerstandspraktiken entwickeln können, indem sie einen neuen interstitiellen Raum schaffen, den „third space“, der als „hybrid […] enunciative site“ verstanden wird. Hier kann „the social articulation of difference, from the minority perspective“ stattfinden (Bhabha 1994: 242). Es ist daher offensichtlich, dass Kultur 56 in diesem Zusammenhang als ein Komplex von Codes, Werten, Bräuchen, Überzeugungen und Praktiken verstanden wird, die Bedeutungsnetze bilden, durch die Individuen ihrer Umge‐ bung einen Sinn geben (vgl. Hofmann 2006: 9-10). Dieser Bedeutungskomplex basiert auf der Koexistenz von Unterschieden und nicht von Gemeinsamkeiten, wie es eine homogene Darstellung kultureller Identitäten vermuten ließe. Die Interkulturalität stellt somit eine klare Überwindung des multikulturellen Konzepts dar, da sie die kulturelle Identität von Gruppen und vor allem von Individuen nicht statisch, sondern dynamisch ansieht - das Ergebnis eines fortlaufenden Prozesses, in dem Menschen ihrer Umwelt neue Bedeutungen zuschreiben. In diesem Sinne existieren kulturelle Unterschiede nicht a priori, sondern sie sind das Produkt dieser Begegnungen, die in einem neuen „Zwi‐ schenraum“ (Hofmann 2006: 12) stattfinden, der mit keiner der bereits beste‐ henden kulturellen Grenzen übereinstimmt. 57 Die Anwendung des interkulturellen Ansatzes auf die Germanistik enthält die Untersuchung der individuellen bzw. sozialen Konstruktionen des Fremden, des Eigenen und der relativen Fremdheitserfahrung im Verstehensprozess. Dies erfolgt in unterschiedlichen Kontexten und spiegelt sich somit in verschiedenen Ausprägungen der Disziplin wider. Die interkulturelle Germanistik strebt in diesem Sinne danach, ihren Gegenstand aus einer fremden Perspektive zu betrachten, und dabei den Erkenntnisgewinn zu identifizieren, der aus kultu‐ reller Differenz erwächst: „[Die interkulturelle Germanistik] bezeichnet eine Germanistik, die sich in Forschung und Lehre als germanistische Fremdkul‐ turwissenschaft mit Eigenschaften einer vergleichenden Kulturanthropologie versteht“ (Wierlacher 2003: 1). Somit steht die Differenz in all ihren Facetten im Mittelpunkt des interkulturellen epistemischen Ansatzes, der sich deutlich von der multikulturellen Perspektive unterscheidet, wie Hofmann treffend feststellt, insbesondere im Hinblick auf die Identität der sogenannten ‚zweiten‘ und ‚dritten Generation‘, deren individuelle kulturelle Prägung nicht auf die einfache Dichotomie zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur reduziert werden kann: 100 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="101"?> Kritisch zu befragen sind in diesem Kontext aber auch Begriffe wie „kulturelle Vielfalt“ oder „multikulturelle Gesellschaft“. Zwar werden diese Begriffe mit der Absicht verwendet, beispielweise die Kulturen von Migranten anzuerkennen […]. Es besteht bei ihnen aber auch die Tendenz, etwa die Migranten auf eine kulturelle Identität als „Türken“ oder „Afrikaner“ festzulegen und die kulturelle Vielfalt gewis‐ sermaßen additiv zu verstehen, das heißt als Hinzufügung weiterer (statistisch und homogener verstandener) Kulturen zu einer (ebenso homogenen) Mehrheitskultur. […] Begegnung der Kulturen bestünde in diesem Denkmodell in einer eigentlich abs‐ trakten gegenseitigen Anerkennung verschiedener homogener kultureller Einheiten. (Hofmann 2006: 12-13) Seit den 1980er Jahren wird der interkulturelle Ansatz daher auch auf den litera‐ rischen Bereich angewendet (Krusche 1981, 1985; Mecklenburg 1987, 2008), der sich als der privilegierte Horizont der interkulturellen Germanistik unter ihren verschiedenen disziplinären Deklinationen erweist (vgl. Wierlacher 2003: 33). Denn in diesem Zusammenhang zeigt die Literatur, wie Hofmann argumentiert, die Möglichkeit, „multiperspektivische, ambivalente und vieldeutige Texte zu erzeugen und damit der Komplexität einer polyzentrischen Welt gerecht zu werden“ (2006: 13). Mit anderen Worten ist die literarische Erfindung in der Lage, die Phänomene und Prozesse der Kultur zu reflektieren. Interkulturelle Prozesse werden somit in der Literatur nicht nur als Gegenstand dargestellt, sondern auch kritisch reflektiert, wobei die literarische Form ein wesentliches Moment [sic! ] dieser Reflexion darstellt, das die Vieldeutigkeit und Komplexität der zugrunde liegenden Konstellation unterstreicht. Literatur identifiziert nicht; sie öffnet Reflexionsräume. (Hofmann 2006: 14, Hervorhebung von mir) Entsprechend erkannte Wierlacher bereits 1985 der Literatur eine besondere Rolle bei der „Ausbildung interkultureller Verstehenskompetenzen“ zu (Wier‐ lacher 1985b: X). Der interkulturelle Ansatz wird somit zu einer Möglichkeit, die Literaturgeschichte neu zu lesen, um die Rolle kultureller Unterschiede und ihrer Austauschprozesse sowohl bei der Konstruktion von Texten als auch bei ihrer Diffusion und Rezeption zu berücksichtigen. Dieser Ansatz wird zunehmend zentral, um die Heterogenität der von Globalisierungsprozessen betroffenen westlichen Gesellschaften zu untersuchen (vgl. H. Schmitz 2009b: 8- 9). Ernst (2013: 292) zufolge lädt das interkulturelle Paradigma im literarischen Bereich erstmals dazu ein, die Übereinstimmung zwischen nationalen und literarischen Grenzen zu hinterfragen. Im Laufe der 1990er Jahre wurde dieser Ansatz vor allem in Bezug auf die literarische Produktion von Autor: innen angewandt, die in jenen Jahren noch der Ausländerliteratur zugerechnet wurden, 3.2 Die literaturwisschenschaftliche Rezeption: Das interkulturelle Paradigma 101 <?page no="102"?> was dennoch einen Perspektivwechsel bedeutete: Es ging nicht mehr darum, einen bestimmten Zweig des literarischen Raums abzugrenzen, der durch die - tatsächliche oder vermeintliche - Biographie der Autor: innen definiert ist (z. B. die Ausländerliteratur), sondern in bestimmten Texten die deutlichste Präsenz einer Tendenz - thematisch bzw. formal - zu erkennen, die der gesamten Literatur jenseits der Herkunft der Schriftsteller: innen eigen ist. Die vom Konzept der Interkulturalität inspirierten Studien lösten nach und nach die auf Betroffenheit basierenden Perspektiven der 1980er Jahre ab (vgl. Esselborn 2009: 43), die in den ersten Jahren des neuen Jahrzehnts stark kritisiert wurden, wobei ihre Theoretiker: innen (wie Ackermann) bereits seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre für ihre Überwindung eintraten. Die größte konzeptionelle Anstrengung in dieser Richtung ist Immacolata Amodeo zu verdanken, die in ihrer Studie Die Heimat heißt Babylon. Zur Literatur der ausländischen Autoren in der BRD (1996) ausführlich auf die diskursiven Tendenzen eingeht, die die akademische Rezeption der „Literatur der ausländischen Autoren“ begleiteten. Amodeo erkennt, dass der literarische Raum, der mit diesen Publikationen zusammenfällt, vor allem ein diskursives Konstrukt ist und dass er vor allem der akademischen Rezeption entspringt. Für Amodeo (1996: 22-32) steht die Dringlichkeit im Vordergrund, Ansätze zu entwickeln, die die kulturelle Vielfalt angemessen berücksichtigen. Sie beobachtet, dass Kategorien wie Gastarbeiterliteratur, Ausländerliteratur und Migrationsliteratur, die auf dem ästhetischen Prinzip der Betroffenheit basieren, lediglich den autobiographischen und dokumentarischen Aspekt der Werke „ausländischer Autoren“ betonen und dabei die Werke auf bloße Zeugnisse sozialer Konstellationen reduzieren. Amodeo bezieht sich auf Ackermanns Forschung und eine damit verbundenen Tradition, spezifisch auf das im ersten Kapitel dieser Arbeit behandelte Werk von Schierloh (1984). Schierlohs Studie sei laut Amodeo beispielsweise von den Tendenzen der „Psychologisierung“ und „Stereotypisierung“ geprägt: „[Die Psychologisierung] geht meistens von der Identität zwischen Leben des Autors und der in einem Text beschriebenen Wirk‐ lichkeit aus“ (Amodeo 1996: 42); und: „Die undifferenzierte und unreflektierte Übernahme stereotyper lebensweltlicher Kategorien […] ist in […] Schierlohs Arbeit schon aus dem programmatischen Titel […] ersichtlich“ (Amodeo 1996: 45). In solchen Studien würden laut Amodeo literarische Werke daher oft in bloße Dokumentationen umgewandelt, bei denen nur die thematischen Aspekte berücksichtigt werden, ohne dass ihre Form Beachtung finde. Die anderen Tendenzen, die Amodeo in der wissenschaftlichen Rezeption feststellt, sind daher die „Entfiktionalisierung“ von literarischen Texten (1996: 41) und die Erzeugung einer „Inhalt-Form-Dichotomie“ (1996: 42). Diese Dichotomie sei 102 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="103"?> vor allem dadurch motiviert, dass Kritiker: innen und Forscher: innen dazu neigen, ‚ausländische‘ Publikationen aus jeder ästhetisch-formalen Analyse auszuschließen, weil sie - zu Recht oder zu Unrecht - glauben, dass die Werke diese Analyse nicht überstehen können. Diese Haltung kodifiziert Amodeo (1996: 42) mit dem Begriff ‚Ausländerbonus‘: Die Motivation dafür, dass eine sachliche Begründung des Urteils oder ein ausführli‐ cher textanalytischer Kommentar ausbleiben, kann der ‚Ausländerbonus‘ sein, der gerne verteilt wird und vielleicht auch durch die tatsächlich schlechte Qualität der Texte begründet sein mag. So sei die ästhetische und redaktionelle Kategorie der Betroffenheit sowohl Ursache als auch Wirkung eines Prozesses der kulturellen „Marginalisierung“ (Amodeo 1996: 32). Laut Amodeo kategorisieren viele wissenschaftliche Studien die Werke der „ausländischen Autoren“ aus diesen Gründen als ein einziges literarisches Phänomen, wobei sie sich auf die Biographie der Schriftsteller: innen und den parallelen Rückgriff auf die Kategorie der Betroffenheit stützen, ohne dass es ästhetische Anhaltspunkte gebe, die eine gemeinsame Behandlung rechtfertigen (vgl. Amodeo 1996: 35-40). Mit anderen Worten: Amodeo stellt fest, dass der hegemoniale akademische Diskurs, der den öffentlichen und institutionellen Diskurs widerspiegelt, von der Annahme ausgeht, dass nicht nur eine klare Un‐ terscheidung zwischen deutschen und ‚ausländischen‘ Minderheitenkulturen getroffen werden kann, sondern dass sich die ‚ausländischen‘ Minderheiten‐ kulturen nicht so sehr voneinander unterscheiden, sondern vielmehr ein unbe‐ stimmtes Ganzes bilden, das allein durch seinen nicht-deutschen Charakter gekennzeichnet ist. Entgegen dieser wissenschaftlichen Haltung und um die Heterogenität und nicht die Uniformität dieses literarischen Phänomens zu betonen, identifiziert Amodeo (1996: 107-193) das rhizomatische Modell und das Konzept der Minderheitenliteratur, die Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer Studie Kafka. Pour une littérature mineure (1975) entwickelt haben, als analytische Linse, um die Heterogenität sowie Zentrumlosigkeit der Literatur „ausländischer Autoren“ hervorzuheben. Die erste Untersuchung, die das interkulturelle Paradigma aufgreift, um einen diachronen, systematischen und ausführlichen Überblick über die Literatur der ‚Ausländer‘ zu erarbeiten, ist das Handbuch Interkulturelle Literatur in Deutschland von Chiellino (2000a), das eine entscheidende Etappe sowohl in der konzeptionellen Entwicklung in Bezug auf dieses Phänomen als auch im Prozess der wissenschaftlichen Kanonisierung dieser Werke darstellt. Chiellino bezieht in diese „kulturübergreifende und vielsprachige Literaturbewegung“ 3.2 Die literaturwisschenschaftliche Rezeption: Das interkulturelle Paradigma 103 <?page no="104"?> (Chiellino 2000b: 51) Schriftsteller: innen ein, die selbst oder in ihren Familien Migrationserfahrungen erlebt haben, und ordnet sie nach nationalen bzw. sprachlichen Kriterien ein. Charakteristisch für diese künstlerische Produktion sei laut Chiellino einem interkulturellen Gedächtnis Ausdruck zu verleihen, das mit der Erfahrung der Migration verbunden ist: Wieso die zentrale Kategorie dieser Literatur die interkulturelle Authentizität zu sein hat, liegt auf der Hand. Aus den vorliegenden deutschsowie muttersprachlichen Werken geht deutlich hervor: Sollte die deutschsprachige Literatur jemals monokul‐ turell gewesen sein, spätestens ab 1964 kann dies nicht mehr behauptet werden. Mit der Aufhebung der Monokulturalität im Bereich der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart ist zugleich der erste Stein zur Entstehung eines interkulturellen Gedächtnisses innerhalb jeder kultur-ethnischen Minderheit gelegt worden. Da dieses Gedächtnis der einzelnen Minderheiten in der deutschen Sprache verankert ist, ist eine Erweiterung des Kulturgedächtnisses der gesamten Republik längst in Gang gesetzt worden. (Chiellino 2000d: 396) Diese literarische Produktion lasse sich als künstlerischer Ausdruck persön‐ licher Erlebnisse verstehen, die wiederum der durch Migrationsprozesse ge‐ prägten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Phänomene widerspiegeln: [D]ie Auseinandersetzung mit der persönlichen Vorgeschichte, die zu Auswanderung, Exil oder Repatriierung geführt hat; die Reise in die Fremde; die Begegnung mit einer fremden Kultur, Gesellschaft und Sprache; das Projekt einer neuen paritätischen Identität zwischen Inländer/ innen und Ausländer/ innen; die Eingliederung in die Arbeitswelt und in den Alltag des Aufnahmelandes, bzw. der alten und neuen Heimat; die Auseinander‐ setzung mit der politischen Entwicklung im Herkunftsland; die geschlechtsspezifische Wahrnehmung der eigenen Anwesenheit innerhalb eines ethischen Wertesystems mit anderen Prioritäten und Zielsetzungen. (Chiellino 2000b: 58) In jedem Fall ist anzumerken, dass das interkulturelle Paradigma in Chiellinos Ausarbeitung nicht als Interpretationslinse für die Textarchitekturen der zi‐ tierten Werke dient, sondern vielmehr als Instrument zur Systematisierung des Phänomens, das von der Biografie der Autor: innen und nicht von einer gemeinsamen ästhetischen Grundlage ausgeht. Angesichts der bisherigen Be‐ obachtungen und der Merkmale des interkulturellen Paradigmas könnte das Kompositionsprinzip der Studie kritisiert werden. Denn ihr Ausgangspunkt bleibt weiterhin die Biografie der Autor: innen, wobei sie darüber hinaus die nationale Unterscheidung mit dem interkulturellen Ansatz zusammenbringt. Gerade die Bestimmung von Identität und kulturellen Unterschieden auf natio‐ naler Basis wird jedoch durch den interkulturellen Ansatz in Frage gestellt. 104 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="105"?> 58 Der Autor behandelt unterschiedliche Etappen der literarischen Geschichte: Goethes West-östlicher Diwan, das Interesse an die indische bzw. afrikanische Kultur zur Zeit der Romantik sowie der Avantgarde, er setzt sich mit der Narrative über die Kolonialzeit (Uwe Timms Roman Morenga) auseinander und schließt den Band mit einer Analyse der „türkisch-deutschen Literatur“ (Özdamar und Zaimoğlu) ab. Die Einordnung eines literarischen Raums nach dem Kriterium der erlebten Migrationserfahrungen birgt meines Erachtens das Risiko, eine wesentliche Unterscheidung zwischen Autor: innen mit Migrationserfahrung und den ‚an‐ deren‘ Schriftsteller: innen - den ‚Einheimischen‘? - weiter vorzunehmen. Diese Aporien entstehen gerade durch den Versuch, einen literarischen Raum abzustecken, wobei sich das interkulturelle Paradigma dafür nicht eignet, da Interkulturalität als ein Element verstanden werden kann, das in gewissem Maße jedem literarischen Werk - und jeder Biografie - zugrunde liegt. Im Gegensatz dazu zeigt das interkulturelle Paradigma in Studien wie denen von Hofmann 58 einen breiteren Anwendungsbereich, der mit den Intentionen seiner frühen Theoretiker aus den 1980er Jahren übereinstimmt und im Gegensatz zu Chiellinos Studie keinen Anspruch auf eine literarische Einordnung zeigt. Im Verlauf der 1990er Jahre wurden die Perspektiven der 1980er Jahre end‐ gültig durch den interkulturellen Ansatz abgelöst, was zu einer Verschiebung des Schwerpunkts auf die Dynamik der Konstruktion von Fremdheit in Texten führte. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass die problematischen Aspekte, die im Zusammenhang mit Chiellinos Arbeit festgestellt wurden, in einigen Studien zu unüberwindbaren Einschränkungen führen. Meiner Meinung nach wird das Konzept der interkulturellen Literatur oft unkritisch angewandt und endet damit, dass es zu einem bloßen Ersatz für die Bezeichnung Ausländerliteratur wird. Dies geschieht, indem Analysen erstellt werden, die weiterhin aufgrund der Migrationserfahrungen der Autor: innen zusammenge‐ stellt werden. In diesem Rahmen wird ihre literarische Produktion auf den bloßen Ausdruck von Migrationsdynamiken und kulturellen Unterschieden reduziert, wobei sowohl die Heterogenität und Fluidität des Kulturbegriffs selbst - der die Grundlage des interkulturellen Paradigmas bildet - als auch der grundlegende Aspekt der literarischen Arbeit, nämlich ihre Form, vergessen werden. 3.2 Die literaturwisschenschaftliche Rezeption: Das interkulturelle Paradigma 105 <?page no="106"?> 3.3 Die literaturwissenschaftliche Rezeption vom Dazwischen zum Durchdringen: Das transkulturelle Paradigma Der Philosoph Wolfgang Welsch (1994, 2000, 2012) schlug ein alternatives Paradigma zum interkulturellen Ansatz vor, um die Beschaffenheit kultureller Räume und ihres Austauschs in der heutigen Zeit zu konzeptualisieren. Nach Welschs Ansicht birgt der interkulturelle Ansatz den Nachteil in sich, dass er ein Konzept aufrechterhält, welches kulturelle Räume als geschlossen und autonom betrachtet, ähnlich wie Inseln oder Sphären: Das Konzept der Interkulturalität schleppt die Prämisse des traditionellen Kulturbe‐ griffs - die Unterstellung einer Insel- oder kugelartigen Verfassung der Kulturen - unverändert mit sich fort. Es erkennt zwar, daß diese Verfassung notwendig zu interkulturellen Konflikten führt. Denn wie sollten Kulturen, die wie Inseln oder Kugeln verfaßt sind, sich gegenseitig verständigen und austauschen können? Der Logik ihres Begriffs gemäß können sie sich nur voneinander absetzen, voreinander bewahren, sich gegenseitig ignorieren, verkennen, diffamieren, bekämpfen. Das hat Herder konsequent zum Ausdruck gebracht, als er sagte, daß solche Kugeln „sich stoßen“ können und daß ihr Vorurteil gegenüber anderen Kulturen eine Bedingung ihres Glücks ist. (Welsch 1994) Zudem erfasse nach Welsch (2012: 33-34) der interkulturelle Ansatz nicht die vielschichtigen kulturellen Erfahrungen jedes Individuums, sondern assimiliere sie mit der nationalen Zugehörigkeit. Diese Perspektive führe dazu, dass die kulturellen Durchdringungen, die jede Gesellschaft seit jeher und besonders in der heutigen Zeit prägen, ignoriert werden. In Welschs Überlegungen und seinem vorgeschlagenen neuen Ansatz der Transkulturalität steht das Verb ‚durchdringen‘ im Mittelpunkt. Dieses verweist auf die Durchlässigkeit - ein weiterer zentraler Begriff in seinen Überlegungen - kultureller Räume sowie auf die Dynamik ihrer Bestandteile, die sich in ständiger Bewegung befinden, aufeinandertreffen und kontinuierlich neue und instabile kulturelle Formen hervorbringen (Welsch 2012: 26-30). Dieser Perspektivwechsel manifestiert sich auch in der Ersetzung des Präfixes ‚inter-‘, das hauptsächlich das Bestehen „zwischen zwei oder mehreren“ ausdrückt, durch ‚trans-‘, das als „quer durch, durch…hindurch“ eine Idee der Überschreitung und des Übergangs vermittelt (DUDEN 1985). Es liegt auf der Hand, dass aus diesem Ansatz heraus die Unterscheidung zwischen den Bereichen des Fremden und des Eigenen, die die interkulturelle Hermeneutik geprägt hat, nicht als treffend angesehen werden kann. 106 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="107"?> 59 Erstmals im Jahr 2001 in den USA auf Englisch als Against Between: A manifesto veröffentlicht, erschien die Studie 2006 in einer aktualisierten, deutschsprachigen Fassung unter dem Titel Against Between - Ein Manifest gegen das Dazwischen. Hier wird es aus der zweiten Fassung zitiert. Auf diese Weise formuliert, scheint die Transkulturalität die Konzeption von Bhabhas hybridity-Begriff zu übernehmen, von der das Konzept der Interkultu‐ ralität selbst seinen Ausgang nimmt: „the process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new era of negotiation of meaning and representation“ (Bhabha 1990: 221). Bhabhas renommierte Auffassung vom third space - die ihrerseits auch der transkultu‐ rellen Perspektive zugrunde liegt - entsteht nicht durch die bloße Begegnung zweier Kulturen, sondern durch einen Prozess der Kontamination, dessen ur‐ sprüngliche Elemente nicht zurückverfolgbar sind. Diese sind keineswegs ‚rein‘, da sie selbst vorläufige Ergebnisse vorangegangener Hybridisierungsprozesse darstellen. Die Anwendung dieses theoretischen Paradigmas auf die literarische Ebene hat seit der Jahrtausendwende zu kritischen Beiträgen geführt, die die künstleri‐ schen Ausdrucksformen der kulturellen Kontamination betonen. Leslie Adelson (2006) zufolge ist die interkulturelle Perspektive nicht dazu geeignet, den pluralen Charakter der zeitgenössischen Literatur zu erfassen. Dies liegt daran, dass diese Texte nicht als etwas betrachtet werden können, das außerhalb der deutschen Gesellschaft liegt und somit fremd ist. Der Kontakt könne nicht als interkulturell angesehen werden, da er innerhalb der Gesellschaft - und der Sprache - stattfindet: Anstatt andere Kulturen als grundsätzlich fremd darzustellen, müssen wir Kultur selbst anders begreifen. Kultureller Kontakt ist heute keine „interkulturelle Begegnung“ zwischen der deutschen Kultur und etwas, was sich außerhalb von ihr befindet. Dieser Kontakt ist eher etwas, das innerhalb der deutschen Kultur stattfindet, nämlich zwischen der deutschen Vergangenheit und der deutschen Gegenwart. (Adelson 2006: 39) In diesem Sinne ist Adelsons Text ein „Manifest“ gegen die Kategorie des „Da‐ zwischen“, 59 welche die Zwischenposition von Individuen zwischen Kulturen darstellt. Ihrer Ansicht nach kann ein solches Konzept nur dann entwickelt werden, wenn man eine Vorstellung von Kultur mit klaren und abgrenzbaren Grenzen akzeptiert, die einen dialektischen Austausch ermöglichen. Die gleiche kritische Haltung wie die von Adelson findet sich bei Helmut Schmitz (2009b: 11), der argumentiert, dass das konstitutive Element, auf dem das Konzept einer interkulturellen Literatur beruht - nämlich die Erfahrung der Fremdheit - in Wirklichkeit immer jeglicher literarischen Dimension immanent ist. An dieser 3.3 Die literaturwissenschaftliche Rezeption: Das transkulturelle Paradigma 107 <?page no="108"?> 60 Für einen knappen, jedoch ausführlichen Überblick über neuere Überarbeitungen des interkulturellen Paradigmas, insbesondere in Bezug auf die oben genannten Kritik‐ punkte, siehe: Leggewie/ Zifonun (2010). Stelle stellt sich Schmitz die Frage, ob der Blick des Fremden nicht vielleicht der Ausgangspunkt allen literarischen Schreibens sei (2009b: 11). In der deutschsprachigen Kultur- und Literaturwissenschaft befinden sich die interkulturelle und die transkulturelle Perspektive in einem fortwährenden Dialog und einem kontinuierlichen Prozess der Erneuerung. 60 In diesem Zusam‐ menhang zielt man darauf ab, die Dimension der Macht in diesen Perspektiven zu integrieren, um die soeben diskutierte Ambivalenz zu überwinden. Tatsäch‐ lich erkennt Schmitz (2009b: 10-11) eine gemeinsame Einschränkung beider Perspektiven, da beide von einer falschen Annahme der Symmetrie zwischen kulturellen Räumen und Ausdrucksformen ausgehen würden, während diese im Gegenteil in Hierarchien angeordnet sind, welche die internationalen wirt‐ schaftlichen und geopolitischen Beziehungen widerspiegeln. Beide Paradigmen würden die Asymmetrie der Machtverhältnisse übersehen, die den kulturellen Austausch in der globalen Welt bestimmen. Die Notwendigkeit, die Konfliktdynamik hervorzuheben, um der politischen Dimension, die der Austausch zwischen den Kulturen immer mit sich bringt, Rechnung zu tragen, wird am deutlichsten in der Forschung, die sich mit mehr‐ sprachigen literarischen Praktiken beschäftigt. Die zentrale Bedeutung dieser Schreibstile im zeitgenössischen Kontext hat mehrere Wissenschaftler: innen veranlasst (vgl. Bürger-Koftis et al. 2010; Lennon 2010; Dembeck/ Parr 2017; Sturm-Trigonakis 2017; Acker et al. 2019), die Gründe für diese neuen Entwick‐ lungen zu hinterfragen und diese Dimension sowohl synchron zu untersuchen, indem die Mehrsprachigkeit im zeitgenössischen globalisierten Kontext verortet wird, als auch diachron, indem Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit kultu‐ rellen und literarischen Kontexten im mitteleuropäischen und weltweiten Raum aufgezeigt werden. 3.4 Mehrsprachiges Experimentieren in der Chamisso-Literatur: Eine Bilanz Die von Richter in der Formel „deterritorial, transnational, multilingual“ (2017: 431-466) beschriebenen Entwicklungen der zeitgenössischen Literatur haben sich im Kontext der Chamisso-Literatur entfaltet und sind innerhalb weniger Jahrzehnte zu weit verbreiteten und zentralen Strömungen in der deutschspra‐ chigen Literatur geworden. Sie können als literarische Manifestationen dessen, 108 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="109"?> 61 Shermin Langhoff ist die Gründerin und Leiterin des Berliner Theaters Ballhaus Naunynstraße. So erklärt sie den Begriff „postmigrantisch“ als Kunstrichtung ihres Theaters: „[Es] geht […] um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kol‐ lektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht ‚postmigrantisch‘ in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft“ (Langhoff/ Donath 2011). was in jüngster Zeit durch einige Wissenschaftler: innen (vgl. E. Yildiz/ Hill 2014; Foroutan 2019) ausgehend vom Konzept des „postmigrantischen Thea‐ ters“ von Shermin Langhoff 61 als „postmigrantische Gesellschaft“ bezeichnet wurde. Diesem Ansatz nach stelle Migration kein Ausnahmephänomen dar, das nur einige Menschen, nämlich die ‚Migranten‘, betrifft, sondern eher die grundlegende Erfahrung zeitgenössischer Gesellschaften, die zeitliche, soziale und räumliche Begrenzungen überschreite. Wie Regina Römhild behauptet, handle es sich dabei um eine „gesamtgesellschaftliche“ und nicht mehr um eine „gruppenspezifische“ Erfahrung, da die Gegenwartsgesellschaft „überall und dauerhaft von den Erfahrungen und Wirkungen des Kommens, Gehens und Bleibens geprägt ist“ (2014: 37). Ausgehend von dieser Perspektive lässt sich feststellen, dass auch die künstlerischen Tendenzen, die einst einen begrenzten Raum der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur charakterisiert haben, heute zentrale Strömungen der Kunstszene bilden. Die unterschiedliche Rezeption, die mehrsprachige Schreibstile im Laufe der Jahrzehnte erfahren haben, kann als Maßstab genutzt werden, um die Veränderungen zu beobachten, die sich nicht nur innerhalb der Chamisso- Literatur selbst, sondern auch im deutschen Literaturraum, der mit seiner eigenen fortschreitenden kulturellen Pluralisierung konfrontiert ist, vollzogen haben. Diesem Thema widmen sich die folgenden Zeilen und - unter dem Blickwinkel der konzeptionellen und diskursiven Entwicklung des Chamisso- Preis - auch das nächste Kapitel. Zunächst ist festzuhalten, dass, wie führende Theoretiker: innen der zeitge‐ nössischen literarischen Mehrsprachigkeit betonen (u. a. Yildiz 2012), mehrspra‐ chige Experimente zwar kein neuer Trend in der deutschsprachigen Literatur‐ szene sind, jedoch in den letzten Jahren eine zunehmende Aufmerksamkeit auf diese Schreibformen zu verzeichnen ist. Dies gilt auch für die Chamisso- Literatur, deren mehrsprachige Werke im Laufe der Jahre eine ganz andere Rezeption erfahren haben, die nur zum Teil durch ihre formalen und ästheti‐ schen Unterschiede erklärt werden kann. Die literarische Mehrsprachigkeit von Biondi und Chiellino traf auf einen kulturellen Boden, der nicht bereit war, sie zu verarbeiten. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens lösten ihre Werke 3.4 Mehrsprachiges Experimentieren in der Chamisso-Literatur: Eine Bilanz 109 <?page no="110"?> keine Reflexion über diese Formen aus, mit Ausnahme der im ersten Kapitel bereits behandelten Kritiken an Biondis Abschied der zerschellten Jahre. Doch selbst diese negative Kritik fand keinen Widerhall. Anders war es bei Özdamar: Das anfängliche Misstrauen gegenüber ihrer Schreibweise, das von vielen Seiten unmittelbar nach der Verleihung des Bachmann-Preises ausgedrückt wurde, signalisiert das parallele Misstrauen gegenüber ‚ausländischen‘ Schrift‐ steller: innen, wenn sie sich mit ihren künstlerischen Experimenten von den etablierten Pfaden entfernen. Besonders wenn diese Abweichung die Form sprachlichen Experimentierens annimmt, wird ihre Marginalisierung besonders evident, wie Moníková anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Chamisso-Preis formulierte. Zaimoğlus Erfolg im Jahr 1995 bekräftigt diese Interpretation, denn die literarische Mehrsprachigkeit seines ersten Werks wurde als unpro‐ blematisch empfunden, weil sie noch das absichtlich irreführende Gewand der Authentizität trug. Zu dieser Zeit kann die Eröffnung einer neuen Phase der Produktion und Rezeption mehrsprachigen Schreibens verortet werden, denn in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde die literarische Mehrsprachigkeit zum Ausdruck einer kultivierten und kosmopolitischen Polyglossie, deren erste renommierte Stimme Tawada war. Heutzutage gilt mehrsprachiges Schreiben nicht mehr in erster Linie als Vehikel für die Forderungen von Minderheiten oder für den Aus‐ druck von Migrationsgedächtnis, sondern vielmehr als eine der Schreibweisen der zeitgenössischen globalisierten Gesellschaft. Prominent gilt Wolfs Dichtung als Vertreterin dieser Tendenz. Entsprechend haben sich die Sprachen, die hier ins Spiel kommen, verändert: Waren es anfangs die hybriden, mit Italienisch, Türkisch und Griechisch durchsetzten Gastarbeitersprachen, so taucht nun bei Tawada das Japanische oder bei Wolf das US-amerikanische Englisch auf. Meines Erachtens ist festzustellen, dass diese spätere Deklination des mehr‐ sprachigen Schreibens, die u. a. bei Tawada und Wolf zu erkennen ist, ohne Biondi, Chiellino, Özdamar und Zaimoğlu nicht stattgefunden hätte. Durch ihr literarisches Handeln eröffneten Letztere dem deutschen Literaturbetrieb die Möglichkeit, Mehrsprachigkeit als Ausdrucksmittel zeitgenössischer deutsch‐ sprachiger Literatur zu betrachten. Es war also gerade die ungeachtete mehr‐ sprachige Poetik der 1980er und die kritisierte und skandalöse mehrsprachige Poetik der 1990er Jahre, die den Widerstand des Literaturbetriebs brach. An diesem Punkt lässt sich jedoch eine Frage stellen: Warum entfacht lite‐ rarische Mehrsprachigkeit Debatten und ruft so widersprüchliche Reaktionen hervor? Um dies zu verstehen, kann man sich auf die Überlegungen von Yasemin Yildiz (2012) über den ‚postmonolingualen Zustand‘ (postmonolingual condition) beziehen, die in der jüngsten Forschungsrichtung zur ‚literarischen Mehrspra‐ 110 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="111"?> chigkeit‘ als kulturpolitisches Verfassungsprinzip der Werke jenseits der reinen Textualität einzuordnen sind, welche in der Einleitung des vorliegenden Buches behandelt wurden. Laut Yildiz (2012: 6-12) gilt das mehrsprachige Experimentieren von Natur aus als subversiv, da es an einem der Elemente rüttelt, die als grundlegend für die nationale Identität gelten: die Einzigartigkeit der Muttersowie der Nationalsprache. Die Mehrsprachigkeit fungiert als Vehikel zur Artikulation von Protesten seitens Gruppen, die von der imaginären und künstlichen Einheit der Mehrheit ausgeschlossen sind und somit als skandalöse Träger einer frei‐ willig gewählten bzw. erlittenen Nicht-Zugehörigkeit erscheinen. Laut Yildiz gilt als postmonolingual condition die Spannung, die durch den Zusammenstoß zwischen solchen mehrsprachigen Praktiken und den auf dem monolingual paradigm basierenden gesellschaftlichen Regeln und Institutionen ausgelöst wird: „‚postmonolingual‘ in this study refers to a field of tension in which the monolingual paradigm continues to assert itself and multilingual practices per‐ sist or reemerge“ (2012: 5). Tatsächlich hat das mehrsprachige Experimentieren im Kontext der Chamisso-Literatur von Anfang an eine kritische Auseinander‐ setzung mit soziokultureller Unterdrückung und Marginalisierung erfahren, die sich auch in den sprachlichen Verhältnissen manifestiert und insbesondere gegenüber kulturellen Minderheiten ausgeübt werden. Da dieses einsprachige Paradigma die dominierende und konstituierende Sprachideologie unserer westlichen Gesellschaften ist (Yildiz 2012: 6-10), stellt das mehrsprachige Experimentieren seine identitätsstiftende Kraft in Frage (Yildiz 2012: 1-21). Der postmonolinguale Zustand kommt laut Yildiz zum Ausdruck, wenn im öffent‐ lichen Diskurs der Kontrast zwischen Einsprachigkeit und Mehrsprachigkeit sowie kultureller Uniformität und Pluralität besonders ausgeprägt ist (2012: 1-6). Folglich lässt sich die Chamisso-Literatur anhand dieses theoretischen Rahmens als einen kulturellen Raum betrachten, in welchem die Spannungen des postmonolingualen Zustandes ausgelöst werden: Seine widersprüchlichen Dynamiken der Inklusion und Exklusion entfalten sich um den Gebrauch - und den Besitz - der deutschen Sprache als Literatursprache und als Mittel zum Eintritt in die nationale Gemeinschaft. Dadurch gewinnt die am deutlichsten erkennbare literarische Dimension dieses neuen Raums der deutschsprachigen Literatur, nämlich die literarische Mehrsprachigkeit, politische und soziokultu‐ relle Signifikanz. Die Öffnung des deutschsprachigen literarischen Raums in einem kulturell pluralen und mehrsprachigen Sinne sowie die damit verbundenen Ambiva‐ lenzen finden ihren Ausdruck in den Veränderungen, die sich in der Position des Chamisso-Preises, seiner Programmatik und seines konzeptionellen sowie dis‐ 3.4 Mehrsprachiges Experimentieren in der Chamisso-Literatur: Eine Bilanz 111 <?page no="112"?> kursiven Apparats vollzogen haben. Gerade innerhalb der beiden Richtungen, postmigrantisch und postmonolingual, kann die Parabel, die der Chamisso-Preis gezogen hat, im nächsten Kapitel verfolgt werden. Insbesondere die Aspekte der Inszenierung der Preisträger: innen und der Abgrenzung der Chamisso- Literatur erweisen sich in der diskursiven Entwicklung des Preises als zentrale Vektoren einer Neudefinition, die nicht nur den deutschen literarischen Raum, sondern auch den Literaturbegriff im Allgemeinen im Hinblick auf nationale Zugehörigkeiten betrifft. In diesem Zusammenhang profiliert sich die Frage der Sprache und der Mehrsprachigkeit, oder besser gesagt der ‚Sprachigkeit‘, als einer der Hauptaspekte. 112 3 Entwicklung und Rezeption der Chamisso-Literatur (1985-heute) <?page no="113"?> 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts 4.1 Herkunft und Sprache: Die Konzeption und Neudefinition der Chamisso-Preisträger: innen „Wohin hat sich die Grenzlinie für die Preisverleihung verschoben? “: Anhand einer Grenzmetapher verweist René Kegelmann (2010: 14) auf die Schwierigkeit, die folgende Frage zu beantworten: Was sind die Hauptmerkmale, die den Chamisso-Preisträger: innen gemeinsam sind? Die erste Frage, die man sich bei der Analyse eines Preises, nicht nur eines Literarischen, stellt, bezieht sich auf das Profil seiner Adressaten sowie die Kriterien ihrer Auswahl. Diese Kriterien sind zwar bei keinem Literaturpreis ohne Verwischung definierbar. Im Falle des Chamisso-Preises ist diese Frage jedoch nicht nur umstritten, sondern stellt das wissenschaftliche Hauptproblem seiner Geschichte und Funktionsweise dar. Denn das Bestreben, die Heterogenität der kulturellen Konfiguration der deutschen Gegenwartsgesellschaft anhand der Literatur zu erfassen und aufzuwerten, hat sich in den 33 Laufjahren des Chamisso-Preises in einer ständigen Neudefinition der Grenzen seines Wirkungskreises und der Kriterien für die Auswahl der Autor: innen realisiert. Dichotom konzipierte Parameter, die den anfänglich konzeptionellen Rahmen untermauerten, wie ‚Ausländer‘/ ‚Deutsche‘ sowie ‚Muttersprache‘/ ‚Fremdsprache‘, haben sich im Laufe der Zeit als unzureichend erwiesen, um die labyrinthische Verflechtung von Sprachen, Richtungen und Ursprüngen der zeitgenössischen Landschaft konzeptionell zu erfassen. Es ist daher klar, dass die Typologie der preisge‐ krönten Autor: innen entlang des Projektverlaufs tiefgreifenden Veränderungen unterworfen ist, die sowohl den soziokulturellen Wandel in der Gesellschaft als auch die Perspektiven widerspiegeln, die zur Konzeptualisierung dieses selben Wandels entwickelt wurden. Die erste Pressemitteilung des Chamisso-Preises, die die Auszeichnung von Aras Ören im Jahre 1985 ankündigte, enthält die beiden wesentlichen Parameter der Inszenierung der Chamisso-Autoren: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis für Beiträge ausländischer Autoren zur deutschen Literatur geht 1985 an den Türken Aras Ören. Der Preis […] soll Schriftsteller aus‐ zeichnen, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, deren Werke aber von ihren Themen, Zielgruppen und Publikationsformen her der deutschen Literatur zuzurechnen sind. (HCP-K2-O3-85-1, Hervorhebungen von mir) <?page no="114"?> 62 Obwohl die beiden Kriterien eng miteinander verbunden sind, werden sie im Folgenden aus Gründen der Übersichtlichkeit separat diskutiert. Die Differenzierung der Preisträger: innen und ihrer literarischen Produktion im deutschen literarischen Feld, d. h. die Konstruktion des neuen Autorenprofils sowie die Definition des neuen literarischen Raums, den der Chamisso-Preis nachzeichnet, erfolgt hauptsächlich anhand eines biographischen Kriteriums, das auf nationale Herkunft („ausländische Autoren“) und Sprache („für die Deutsch eine Fremdsprache ist“) beruht. Die dadurch inszenierte kulturelle Nichtzugehörigkeit der „ausländischen Autoren […], für die Deutsch eine Fremdsprache ist“ wird jedoch in den folgenden Zeilen der Mitteilung durch die Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zum Literaturbetrieb ausgeglichen: „deren Werke aber von ihren Themen, Zielgruppen und Publikationsformen her der deutschen Literatur zuzurechnen sind“. In diesen wenigen Worten finden sich also alle Elemente wieder, die sich aus der vorangegangenen Diskussion um die Programmatik des Chamisso-Preises herauskristallisiert haben. Die zentralen Begriffe, auf denen die Konstruktion dieses besonderen Autorenprofils aufbaut, das zur deutschsprachigen Literatur gehört und zugleich nicht gehört, sind also vor allem zwei: das Herkunftskriterium und das ‚Sprachigkeitskriterium‘. Beide als die konzeptionellen Bezugspunkte der Chamisso-Preis-Programmatik seit der ersten Preisverleihung vorhanden, werden sie im Laufe der Jahrzehnte, insbesondere ab Anfang der 1990er Jahre, hinterfragt und in ihren Eigenschaften umgebaut. Je weiter man auf der Parabel des Preises voranschreitet, desto begrenzter erscheint die Tragweite der beiden Kriterien: Dies zeigt die Schwie‐ rigkeit, im literarischen Raum die gleiche klare Trennlinie zwischen den ‚aus‐ ländischen‘ Autor: innen und denjenigen zu ziehen, die nicht als solche gelten und die nie explizit genannt werden, d.-h. den ‚deutschen‘ Autor: innen. 4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium Unter dem Herkunftskriterium 62 ist die Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen dem/ der ausgezeichneten Autor: in und seiner/ ihrer Herkunft sowie seiner/ ihrer - eventuellen - Migrationserfahrung zu verstehen. Es bezieht sich darauf, wie das ‚Ausländersein‘ der ausgezeichneten Autor: innen definiert wird, aufgrund dessen sie den Chamisso-Preis erhalten können. Aus dieser Perspektive betrachtet bediente sich die diskursive Inszenierung in den frühen Jahren zweier Hauptkategorien: der Arbeitsmigration und des Exils. Zur Arbeitsmigration und der Darstellung ihrer Folgen zählen in erster Linie 114 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="115"?> Ören und Schami, die ersten Preisträger - letzterer gewann den Förderpreis - sowie Chiellino und Biondi, die ausnahmsweise beide 1987 den Hauptpreis erhielten. In Fortsetzung der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Pressemitteilung zur Bekanntgabe von Örens Auszeichnung heißt es dann: „Der diesjährige Preisträger Aras Ören […] hat als einer der ersten ausländischen Autoren die neue, durch die Arbeitsmigration bedingte Realität des Zusammenlebens von Ausländern und Deutschen literarisch dargestellt“ (HCP-K2-O3-85-1). In Übereinstimmung mit den ursprünglichen Zielen des Projekts wird Ören damit als Wegbereiter ausgewählt, da er als einer der ersten ‚ausländischen‘ Schrift‐ steller: innen gilt, der dem Zusammenleben von „Ausländern und Deutschen“ literarischen Ausdruck verliehen hat, wie auch auf seiner Preisurkunde hervor‐ gehoben wird: In Deutschland lebend und von Deutschland als ein türkisches Märchen schreibend, hat Aras Ören das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern […] literarisch dargestellt und damit der deutschen Literatur einen neuen und wesentlichen Erfah‐ rungsraum erschlossen. (HCP-K2-O3-85-4) Auch die gemeinsame Verleihung des Preises an Chiellino und Biondi im Jahr 1987 ist auf das Phänomen der Arbeitsmigration zurückzuführen, so die Pressemitteilung: Die Preisträger des Jahres 1987 sind beide als Arbeitsmigranten nach Deutschland gekommen. Franco Biondi […] hat seit 1965 als Gastarbeiter in verschiedenen Industriebetrieben der Bundesrepublik gearbeitet […]. Er hat in seinen deutsch geschriebenen Gedichten und Erzählungen charakteristische Migrantenschicksale dargestellt und mit diesen Texten wesentlich dazu beigetragen, das Bewußtsein derer, die in zwei Ländern Fremde sind, von innen her erfahrbar zu machen. Gino Carmine Chiellino […] hat in seinen deutsch geschriebenen Gedichten und Essays den „fremden Alltag“ der in Deutschland lebenden Ausländer literarisch zur Sprache gebracht und durch seine Schriften wesentlich dazu beigetragen, das kulturelle Bewußtsein der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik zu wecken und zu verstärken. (HCP-K2-O3-87-1, Hervorhebung von mir) Beide Autoren werden als Arbeitsmigranten bezeichnet, obwohl Chiellino nicht über die Kanäle der Arbeitsmigration nach Deutschland gekommen war. Diese Zuordnung lässt sich vielleicht auf den Wunsch zurückführen, das Südwind- Projekt und sein literarisches Engagement zu legitimieren. Dies lässt sich auch in dem Hinweis auf den Beitrag erkennen, den beide zur Stärkung des „Bewußtseins derer, die in zwei Ländern Fremde sind“ sowie „der ausländischen Arbeitnehmer“ leisteten. Diese Formulierungen greifen die Kerngedanken von 4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium 115 <?page no="116"?> ihrem frühen Projekt auf, wie sie im Manifest der Gastarbeiterliteratur zum Ausdruck kommen: das Ziel, durch die literarische Darstellung der Situation von ‚Ausländern‘ in der BRD ein breites klassenspezifisches Bewusstsein zu schaffen. Ein besonders wichtiger Aspekt der diskursiven Inszenierung der Gastarbei‐ terautoren lässt sich aus der Laudatio ableiten, die Erich Fried für Chiellino hielt: Für Chiellino […] war es offenbar lebenswichtig, in der fremden Sprache zu schreiben, er hatte zuerst auch nicht oder kaum in seiner Muttersprache gedichtet. Er wollte am allerwenigsten nur sein eigenes Leid als Fremder in der Bundesrepublik klagen. Auch nicht nur das seiner italienischen Landsleute […]. Es ging ihm auch um Ermutigung, Protest, wechselseitiges Verständnis, Befreiung aus dem Ghetto und vieles mehr. (HCP-K2-O3-87-5: 4) Der Hauptimpuls für Chiellinos Schreiben, so Fried, ergebe sich aus der Einwanderung in die BRD, d. h. aus der Entscheidung, „sein eigenes Leid als Fremder“ zusammen mit den bereits behandelten Protestzielen zu teilen. Der Haupttreib seiner literarischen Inspiration bestehe also in der gelebten Erfahrung der Fremdheit, die sich aus der Entscheidung zur Emigration ergibt und die das künstlerische Bedürfnis bestimme, der eigenen Situation und der von ‚Ausländern‘ im Allgemeinen eine Stimme zu verleihen. Dieses Schema, mit einigen Variationen, die mit den biografischen und künst‐ lerischen Besonderheiten der jeweiligen Preisträger: innen zusammenhängen, kennzeichnet die Verleihung von Preisen an Autor: innen, die zwei der ersten nationalen Minderheiten repräsentieren, die sich durch die Anwerbeabkommen auf deutschem Boden gebildet haben: die türkische (Ören, Şenocak, der den Förderpreis 1988 erhielt, Pazarkaya und Zehra Çırak, die 1989 ausgezeichnet wurden) und die italienische (Biondi und Chiellino). Neben den Erfahrungen der Arbeitsmigration stellte der Chamisso-Preis in seiner Anfangsphase auch die Werke von Intellektuellen im Exil, vor allem - aber nicht nur - aus Osteuropa, in den Vordergrund: Der tschechoslowakische Schriftsteller Ota Filip (1986), der Teheraner Cyrus Atabay (1990), die Prager Autorin Moníková (1991) und der Iraner SAID (der 1991 den Förderpreis erhielt) sowie die ungarischen Schriftsteller György Dalos und László Csiba (1995). Die Inszenierung dieser Autor: innen weist andere Merkmale auf als die von Ören, Biondi und Chiellino. Hier wird nicht die Migrationserfahrung als die treibende Kraft des literarischen Schaffens dargestellt: Das Schreiben des Exils knüpfe nahtlos an das vorangegangene intellektuelle, politische und literarische Engagement an, erfordere jedoch den - schwierigen und erlittenen - Sprachen‐ wechsel - auf den im Zusammenhang mit dem ‚Sprachigkeitskriterium‘ noch 116 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="117"?> näher eingegangen werden soll. Siehe dazu z. B. die Pressemitteilung zur Verleihung des Preises an Filip im Jahr 1986: Der Preisträger des Jahres 1986, Ota Filip, wurde im Jahre 1930 in Ostrava/ Tschecho‐ slowakei geboren. Nach mehrfacher Haft und Zwangsarbeit in den Jahren 1960-1970 wurde er 1974 ausgebürgert und lebt seitdem als freier Schriftsteller in München. Nachdem er schon durch seine tschechisch geschriebenen Werke in seiner Heimat ein angesehener Autor geworden war, hat er durch seine in den letzten Jahren deutsch geschriebenen Romane der großen Erzählkunst seines Landes in der deutschen Literatur eine zweite Heimat gegeben. (HCP-K2-O3-86-1) Ebenso wie Filip, der in der Laudatio von Horst Bienek als Beispiel für die drama‐ tische Zeit der Unterdrückung osteuropäischer Intellektueller beschrieben wird (HCP-K2-O3-86-5), wird auch das Profil von Moníková in der Pressemitteilung durch ihre Exilerfahrung gezeichnet, die in ihrer literarischen Produktion direkten Ausdruck finde: Ihre ersten Erzählungen Eine Schädigung (1981) und Pavane für eine gestorbene Infantin (1983) beschreiben in genauer und sensibler Sprache ein beschädigtes und gefährdetes Leben in einem Klima der Überwachung und latenten Bedrohung bzw. in der Isolation der Fremde mit dem Leiden an der verlassenen Heimat. (HCP-K1-O2-91-1) Um den Verlust von Heimat und Exil kreist auch die anschließende Preisver‐ leihung, die sich den literarischen Erfahrungen der DDR öffnet. 1992 wurden erneut zwei Hauptpreise vergeben, diesmal an Adel Karasholi, einen Exilanten aus Syrien, und Galsan Tschinag, der von einem Nomadenstamm in der Mon‐ golei herkommt: „Der Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung geht 1992 zu gleichen Teilen an den seit 1961 in Leipzig lebenden syrischen Lyriker Adel Karasholi und an den tuwinischen Erzähler, Galsan Tschinag, der in Leipzig studierte und jetzt wieder in der Mongolei lebt“ (HCP-K1-O2-92-1). Meines Erachtens zielt die Krönung dieser Autoren vor allem darauf ab, den li‐ terarischen Horizont der DDR rückwirkend in den Raum der Chamisso-Literatur einzubeziehen, natürlich durch die Migrationserfahrungen, die ihn prägten. Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass keiner der beiden in der Zeit der Verleihung des Chamisso-Preises literarisch aktiv war: Karasholis letzte Veröffentlichung vor der Verleihung des Chamisso-Preises stammte aus dem Jahr 1984, während Tschinag erst im Jahr der Preisverleihung seinen zweiten Prosaband veröffentlichte. Es ist also offensichtlich, dass beide Preisträger des Jahres 1992 als Repräsentanten des kulturellen Raums der DDR ausgewählt wurden, was sich auch an der offensichtlichen Zentralität zeigt, die die Stadt Leipzig in der erwähnten Pressemitteilung einnimmt. Diese Lesart wird zudem 4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium 117 <?page no="118"?> im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung bestätigt, die über die Preisverleihung wie folgt berichtet: „Wir haben es gleichzeitig mit einem wichtigen Kapitel der DDR-Literaturgeschichte zu tun. […] Die diesjährige Preisverleihung könnte dazu beitragen, daß ostdeutsche Wahrheiten nicht ausschließlich in Aktenno‐ tizen, sondern auch wieder in Gedichten gesucht werden“ (HCP-K1-O2-92-7). Karasholis Laudatio wurde zudem von dem ostdeutschen Dichter Heinz Czechowski gehalten, der den Zusammenhang zwischen der Exilerfahrung des syrischen Schriftstellers und der Erfahrung des Heimatverlustes der Intellektu‐ ellen in der DDR deutlich macht. Für Czechowski stellte das Exil das Instrument dar, mit dem die fortschreitende Auflösung der Hoffnungen und ideologischen Überzeugungen derjenigen, die an das DDR-Projekt geglaubt hatten, kodifiziert wurde. So beschreibe Karasholi in seinen Gedichten nicht nur die Entfernung von seiner Heimat Syrien, sondern auch den allmählichen Zerfall der DDR. Zweimal, als syrischer Exilant und als ostdeutscher Dichter, lasse Karasholi den Verlust seiner Heimat auferstehen: „Steht er jetzt, wie wir, vor den Trümmern der Hoffnung? Was ist geschehen? Wir fragen uns […], was aus der deutschen Revolution geworden ist, die wir doch so enthusiastisch begrüßten“ (HCP- K1-O2-92-5: 165). Zusammenfassend zeigte der Preis mit der Auszeichnung von osteuropäi‐ schen Intellektuellen und der Einbeziehung der Migration in die DDR konkret die kulturellen Folgen des Mauerfalls, nämlich die neue Offenheit des Landes für Erfahrungen aus Kulturräumen, mit denen ein Dialog bis dahin ausgeschlossen war - Ostdeutschland, die ehemaligen Sowjetrepubliken, die mit der UdSSR verbündeten Länder. Ähnlich verhält es sich mit den Auszeichnungen für Autor: innen aus dem ehemaligen Jugoslawien, Dragica Rajčić (1994) und Marian Nakitsch (Förderpreis 1996), sowie die bereits erwähnten ungarischen Autoren. Darüber hinaus lässt sich in diesen frühen Jahren ein konzeptioneller Ansatz erkennen, der sich auf die gleichaltrige Perspektive der Ausländerliteratur und speziell auf die Kategorie der Betroffenheit zurückführen lässt: Die Autor: innen schaffen Erfahrungsräumen Platz, die aus primär geopolitischer Sicht von Bedeutung seien, weil sie von diesen Phänomenen unmittelbar betroffen seien (Arbeitsmigration, politische Unterdrückung im Sowjetblock und in einigen Ländern des Nahen Ostens, Mauerfall und Wiedervereinigung, Balkankriege). Ab Anfang der 1990er Jahre wichen die in der Gastarbeiter- und Auslän‐ derliteratur kodifizierten Perspektiven zugunsten eines Ansatzes, der dem interkulturellen Paradigma zuzuordnen ist: Der Blick richtete sich nun auf die Konstruktion von kultur- und sprachübergreifenden Identitäten, kodifiziert in den Dimensionen des Fremden und des Eigenen. Dies wird deutlich, wenn man die beiden Preisverleihungen vergleicht, mit denen Rafik Schami 1985 118 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="119"?> den Förderpreis und 1993 den Hauptpreis erhielt: In der ersten Urkunde wird die Gesellschaftskritik als ein Hauptbestandteil seiner literarischen Produktion beschrieben: „In seinen Märchen und Erzählungen hat Rafik Schami arabische Erzähltradition mit westlicher Gesellschaftskritik verbunden und orientalischer Fabulierkunst in der deutschen Literatur eine neue Sprache gegeben“ (HCP- K2-O3-85-4b). Bei der Preisverleihung 1993 kommen jedoch ganz andere As‐ pekte zum Vorschein: Er hat die Tradition des orientalischen Märchenerzählens nach Deutschland gebracht und sie unter den Kunstbedingungen Europas weiterentwickelt. […] Mit seinem Werk, in dem zwei Kulturräume einander durchdringen, hat Rafik Schami die deutsche Lite‐ ratur um neue Motive und Erzählformen erweitert und bereichert. (HCP-K1-O2-93-4, Hervorhebung von mir) Die Unterschiede sind sicherlich durch den Werdegang des syrischen Autors motiviert, der sich bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre von Süd‐ wind und der engagierten Literatur der Arbeitsmigration entfernte, so dass in der zweiten Urkunde der Bezug zur gesellschaftskritischen Komponente fehlt. Stattdessen, und das ist das Auffällige, betont die zweite Urkunde den Synkretismus, den Schami zwischen Elementen verschiedener literarischer Traditionen betreibe, eine Dimension, die die beiden kulturellen Räume, auf die sie sich bezieht, in einen Dialog bringe. Dies gilt als ein neuer Hinweis im Kontext des Chamisso-Diskurses. Auch in den anderen Dokumenten der gleichen Preisverleihung, etwa in den Grußworten, wird bekräftigt, dass die Rolle der Chamisso-Autoren darin besteht, einen Dialog zwischen den beiden Kategorien der Fremden und der Eigenen zu konstruieren - hier mit leicht unterschiedlichen Formulierungen, aber mit gleichen Sinnkern: Diese Autoren verdienen es, gehört und gelesen zu werden, denn sie schaffen uns auf den vertrauten Wegen unserer Muttersprache Zutritt zu dem Fremden und Un‐ vertrauten, sie lassen uns teilhaben an den existentiellen Erfahrungen von Emigration und Exil, sie verbinden Orient und Okzident und sie schenken uns im Spiegel ihrer Werke manche Erkenntnis unserer selbst, die wir beim Blick in den eigenen Spiegel kaum entdecken würden. (HCP-K1-O2-93-2: 4) Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass die Preisverleihung von 1993 die Übernahme einer neuen interkulturellen Perspektive signalisiert, welche die auf das interne Zeugnis der Minderheiten in Deutschland fokussierte Perspektive (die mit der Betroffenheit zusammenfällt) ablöst und auch die auktoriale Darstel‐ lung der Preisträger: innen verändert. Dies spiegelte sich auch im folgenden Jahr 4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium 119 <?page no="120"?> 63 Vor Franzetti: Zafer Şenocak (1988) und Zehra Çırak (Förderpreis 1989). in den Grußworten wider, in denen der damalige Präsident der Akademie der Schönen Künste, Heinz Friedrich, das multikulturelle Konzept problematisierte: Was bedeutet denn dieses Wort „Toleranz“? […] Zu deutsch: „tolerantia“ bezeichnet nicht etwa die Geduld im Umgang mit einer Sache oder mit Menschen, sondern […] was erduldet wird. […] Toleranz wäre auch ein passives Hinnehmen des Fremden […]. Ob auf solchem Toleranz-, auf solchem Erduldungsweg Annährungen und Verständnis erreicht werden können, ist sehr die Frage. Vielleicht krankt unser Verhältnis zum Fremden gerade an diesem Aufruf zur sentimentalen Toleranz, anstatt die kulturelle Herausforderung durch das Fremde zu akzeptieren und sich mit ihm auseinanderzusetzen. […] Deshalb ist auch der Begriff „multikulturell“ problematisch […]. Kultur zieht an, sie verlangt nach Dialog und nach Annäherung. Kultur will das Gespräch, und zwar nicht zum Zweck der Absonderung oder auch nur der Duldung, sondern der Aneignung und Übereinstimmung. (HCP-K1-O2-94-2) Diese Auszeichnung, mit der der Schweizer Autor italienischer Herkunft Dante Andrea Franzetti geehrt wird, markiert auch aus anderen Gründen einen Mei‐ lenstein in der Geschichte des Preises. Seit Beginn der 1990er Jahre hatte nämlich die Auseinandersetzung mit Persönlichkeiten begonnen, die der so genannten ‚zweiten Generation‘ zuzurechnen sind, 63 Autor: innen, die in Deutschland geboren bzw. aufgewachsen waren und deren Erfahrungen sich von denen der Preisträger: innen, die auf Exil oder Arbeitsmigration im Erwachsenenalter zurückzuführen sind, nur unterscheiden können. Dieser Perspektivenwechsel wird in der Dokumentation der Preisverleihung bei Franzetti sichtbar: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis geht 1994 an den Schweizer Autor italienischer Herkunft Dante Andrea Franzetti. Der […] Preis wird für bedeutende Beiträge zur deutschen Literatur an Autoren verliehen, für die das Deutsche Fremd- oder Zweit‐ sprache ist, deren Werke aber von ihren Themen, Adressaten und Publikationsformen her der deutschsprachigen Literatur zugehören. (HCP-K1-O2-94-1, Hervorhebung von mir) Zunächst fällt in der Pressemitteilung die leichte, aber grundlegende Änderung in der Beschreibung des Preises auf: Von dem Ausdruck „bedeutende Beiträge ausländischer Autoren“, der die Dokumente seit 1985 kennzeichnete, bleibt nur der erste Teil übrig. Das heißt, der Begriff ‚ausländisch‘ verschwindet, was durch eine parallele Bereicherung des Spektrums der sprachlichen und kulturellen Biographien der Preisträger: innen („Deutsche Fremd- oder Zweitsprache“) ausgeglichen wird. So heißt es im Dokument weiter: „Dante Andrea Franzetti, 120 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="121"?> geboren 1959 in Zürich, wuchs als Sohn eines Italieners und einer Mutter aus der romanischen Schweiz zweisprachig auf, mit den Erfahrungen zweier Kulturen, wie er sie in seinen ersten Romanen beschreibt“. In dieser kurzen Autorenbio‐ grafie werden die Geschichten von Emigration und Exil durch die Beschreibung eines multikulturellen und mehrsprachigen Familienumfelds ersetzt. Nicht das ‚Ausländersein‘ wird hervorgehoben, sondern das Nebeneinander zweier nationaler und kultureller Herkünfte im Profil des Autors. Seit 1994 wird das Herkunftskriterium also nicht mehr durch den Verweis auf die Fremdheit der Schriftsteller: innen dekliniert, sondern durch die gleich‐ zeitige Präsenz mehrerer Sprachen und Kulturen in ihrer biographischen und literarischen Erfahrung. Es beruht also nicht mehr auf impliziten Mängeln (der Staatsangehörigkeit, und weiter der deutschen Muttersprache), sondern auf dem kulturellen und sprachlichen Reichtum, über den sie verfügen. Damit werden die Autor: innen auch nicht mehr als Vertreter: innen bestimmter sozialer Gruppen inszeniert. Dieser Wandel spiegelt sich im folgenden Jahr in der Auswahl von Tawada wider. Wie bereits erklärt, waren es keine spezifischen geopolitischen Phäno‐ mene, die Tawada zur Übersiedlung nach Deutschland motivierten, sondern eine individuelle Entscheidung: Die Autorin lässt sich folglich weder auf Mas‐ senmigrationsphänomene noch auf eine nationale Minderheit zurückführen, sie ist nicht aufgrund der politischen Situation gezwungen, ihr Land zu verlassen, sie ist keine Vertreterin der wie auch immer konzipierten ‚zweiten Generation‘. Entsprechend ändert sich die Beschreibung des literarischen Raums, der durch den Preis abgezeichnet wird: Für bedeutende Beiträge zur deutschen Literatur werden seit 1985 Autoren geehrt, die selbst nicht deutscher Sprachherkunft sind oder aus einer anderen kulturellen Umge‐ bung kommen. Von den Themen, Adressaten oder Publikationsformen her werden ihre Werke aber der deutschsprachigen Literatur zugerechnet. (HCP-K1-O1-96-1, Hervorhebung von mir) In dieser Formulierung wird das sprachliche Kriterium zum wichtigsten Unter‐ scheidungsmerkmal, während der Hinweis auf eine nicht-deutsche Herkunft, auf eine Migrationserfahrung, aber auch auf das Nebeneinander zweier natio‐ naler Herkünfte durch den Hinweis auf eine „andere kulturelle Umgebung“ ersetzt wird. Die Herkunft der Autor: innen tritt also nicht nur offiziell in den Hintergrund, sondern verliert auch jeden Bezug zu einer nationalen Zugehörig‐ keit. Um diese Verschiebung zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, einige Schritte weiterzugehen und die beiden Urkunden zu vergleichen, die dem Dichter SAID 4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium 121 <?page no="122"?> 1991 bzw. 2002 verliehen wurden. Bei der Verleihung des Förderpreises war der Preis „An den syrischen Autor“ gerichtet (HCP-K1-O2-91-4b). Elf Jahre später ist die Urkunde an den „Lyriker“ adressiert (HCP-K1-O1-02-4). Damit verschwindet die einschränkende nationale Bestimmung als Bestandteil der inszenierten Autorschaft der Preisträger: innen. Stellt Tawada noch einen Einzelfall in der Geschichte des Chamisso-Preises dar, so vollzieht sich die deutlichste Wendung in die eben skizzierte Richtung ab den 2000er Jahren. Die Schwächung des Herkunftskriteriums und - im Rahmen seiner Systematisierung - eine eindeutige, direkt an eine nationale Zugehörigkeit gebundene Vorstellung von Herkunft wird durch die Auswahl von Autor: innen überwunden, die als kosmopolitisch inszeniert werden und in mehreren Sprachen und Kulturräumen tätig sind. Als Beispiel sei hier die Verleihung des Preises an Ilja Trojanow im Jahr 2000 genannt: Ilja Trojanow wurde 1965 in Sofia geboren. Er lebt heute in München und Bombay. In seinem Romanerstling Die Welt ist groß und Rettung lauert überall (1996) gestaltete Trojanow in Anlehnung an die eigene Biographie ein bewegtes Emigrantenschicksal. Spielerisch-phantasievoll, traurig und witzig zugleich erzählt er von einer Kindheit auf dem Balkan, von der Flucht in den Westen, den Wirren in einem italienischen Flüchtlingslager und die Ankunft im gelobten Land - Heimatverlust und Exil, Fremdheit und Mut. (HCP- K1-O1-00-1) Die Laudatio von Wolfram Schrütte beschreibt den Autor weiterhin in diesem Sinne: [D]ieser Tatbestand des Exils ist für ihn nur dessen Anfang, die Ausgangslage - bevor das Spiel beginnt, das andere „Existenzkampf “ nennen. Er nicht - obwohl er weiß, daß der auf sich gestellte Emigrant kämpfen muß, aber, bitte schön, nicht verbissen, sondern mit Wagemut, Witz und Selbstvertrauen. (HCP-K1-O1-00-5: 827) Hier wird die biographische Erfahrung des Exils von der politischen Dimension getrennt und als Möglichkeit der kulturellen und sprachlichen Horizonterwei‐ terung gelesen („Kindheit auf dem Balkan, von der Flucht in den Westen, den Wirren in einem italienischen Flüchtlingslager und die Ankunft im gelobten Land“). Vor allem - das lässt sich an diesen Beschreibungen des Autorenpro‐ fils ablesen - sei die Weite der Horizonte, in denen sich Trojanow bewegt, nicht ausschließlich auf die mit seiner Familie gelebte Emigrationserfahrung zurückzuführen, sondern vielmehr auf eine bewusste individuelle Entscheidung für ein Leben zwischen mehreren Ländern und mehreren Sprachen, ein Leben unter dem Banner des Kosmopolitismus. Diese Sichtweise unterscheidet sich deutlich von der Konzeption des Exils in den 1980er Jahren. Die verschiedenen 122 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="123"?> 64 Der Wunsch, wichtige Meilensteine der europäischen Geschichte rückblickend zu dokumentieren, kennzeichnet meines Erachtens auch die Verleihung des Preises an Marica Bodrožić (Förderpreis 2003) und Saša Stanišić (2008). Schattierungen, mit denen dieses literarische Profil dargestellt wird, lassen sich meiner Meinung nach auf den Wunsch zurückführen, die Möglichkeiten der transnationalen Bewegung anzudeuten, die den europäischen Kontinent in dieser historischen Phase kennzeichneten, nämlich nach dem Vertrag von Maastricht, dem Ende der Balkankriege und der Wiederaufnahme des Aus‐ tauschs mit den Ländern des ehemaligen Sowjetblocks. Dieser Faden zieht sich auch durch die Laudatio auf Mora, die Autorin, die im selben Jahr wie Trojanow mit dem Förderpreis ausgezeichnet wurde. Der Laudator war der ungarische Schriftsteller György Dalos, der 1995 selber Chamisso-Preisträger gewesen war. Anlässlich Moras Auszeichnung begrüßt er aus seiner Position als Intellektueller, der einst aus Ungarn vertrieben wurde, den neuen geopolitischen Kontext Europas 64 mit Freude: Noch mehr wäre er [Chamisso] mit der Tatsache zufrieden, daß die Grundsituation, in der sich ein Talent des Ausmaßes von Terézia Mora entfaltet, nicht mehr unbedingt das Exil, die Vertreibung, das Hausverbot in der eigenen Literatur oder das Minder‐ heitenschicksal ist. Es geschieht das Wundervolle und das Allernatürlichste: Jemand wächst in der Nähe von Sopron auf, zieht als freie Bürgerin nach Berlin, nimmt ihr geistiges Gepäck zollfrei in das neue Land mit und findet das Medium, wodurch sie ihren Stoff authentisch und für die Leser im anderen Lande allgemeinverständlich mitteilen kann. (HCP-K1-O1-00-5b: 63) Ähnliche Elemente sind auch in der Auszeichnung von Ilma Rakusa aus dem Jahr 2003 zu erkennen. Auch ihre Biografie entzieht sich angesichts der Vielzahl von Orten, die die Autorin durchlaufen hat, jedem Versuch, eine nationale Herkunft und Zugehörigkeit eindeutig zu definieren. Daher wird ihr Profil unter dem Aspekt der kulturellen, nationalen und sprachlichen Vielfalt inszeniert. Wie bei Trojanows Preis stehen nicht die Gründe, die Rakusa und ihre Familie zu einem Leben in der Entwurzelung getrieben - und in gewisser Weise auch gezwungen - haben, im Mittelpunkt des Interesses der Jury, sondern der persönliche und künstlerische Gewinn, der wiederum als Ergebnis einer individuellen Leistung dargestellt wird: Ilma Rakusa, geboren 1946 in der Ostslowakei als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter, wuchs in Budapest, Ljubljana, Triest und seit 1951 in Zürich auf. Sie studierte Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und Leningrad. Neben Veröffentlichungen zur russischen und französischen Literatur legte sie zahl‐ 4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium 123 <?page no="124"?> reiche Übersetzungen aus dem Russischen, Serbokroatischen, Französischen und Ungarischen vor. (HCP-K1-O1-03-1) Darüber hinaus spiegele sich Rakusas Weltoffenheit auch in ihrer Tätigkeit als Übersetzerin wider, eine Tätigkeit, die von mehreren Preisträger: innen geteilt wird und die seit Anfang der 2000er Jahre verstärkt in den Preisdokumenten hervorgehoben wird. Was die Dimension der Repräsentativität der geopoliti‐ schen Landschaft betrifft, so wird das Zusammenkommen von Kulturen, das das Schreiben und Leben der Schriftstellerin begründe, nicht als Folge von Migrationsphänomenen skizziert, sondern als ein prägnantes Merkmal des europäischen Raums: Als Dichterin und Übersetzerin ungarisch-slowenischer Herkunft, früh schon in der deutschen Sprache heimisch geworden, trägt Ilma Rakusa dazu bei, Literaturen und Kulturen Ost- und Westeuropas einander zuzuführen und die Begegnung mit dem Anderen zur Normalität im neuen Europa werden zu lassen. Ihren Standort „Daheim im Dazwischen“ nutzt sie für den Dialog. (HCP-K1-O1-03-4, Hervorhebung von mir) Der abschließende Teil des Preisverlaufs scheint keine erkennbaren Entwick‐ lungslinien aufzuweisen, außer der Ablösung der Grenzen der Chamisso-Lite‐ ratur im Sinne einer Foucault’schen „Dispersion“ (1981: 51) aufgrund der fort‐ schreitenden Lockerung der definierenden Parameter des Projekts. So beschrieb der Präsident der Robert Bosch Stiftung, Dieter Berg, 2009 in seinem Grußwort anlässlich der Preisverleihung an Artur Becker die Chamisso-Autoren wie folgt: „Schnell liegt einem hier der Begriff der ‚Brückenbauer zwischen den Kulturen‘ auf der Zunge. Er beschreibt etwas durchaus Richtiges und Wichtiges. Viele Chamisso-Autoren transportieren Bilder und Figuren aus ihren Heimatkulturen in die deutsche Literatur“ (Robert Bosch Stiftung 2009: 1). Es wird deutlich, dass der hier verwendete Kulturbegriff, sogar in der Pluralform, extrem weit gefasst ist. Diese Ersetzung eines Hinweises auf die nationale Herkunft durch Verweise auf eine allgemeinere und - vermutlich bewusst - unbestimmte Vorstellung von kultureller Herkunft kennzeichnet die letzte Phase der Entwicklung des Preises. So heißt es beispielsweise in der Pressemitteilung 2016 zur Verleihung an Esther Kinsky und Uljana Wolf: Mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ehrt die Robert Bosch Stiftung herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist. Die Preisträger verbindet zudem ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur 124 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="125"?> 65 Die Website der Robert Bosch Stiftung listet nicht mehr alle Pressemitteilungen ab 2004 auf; die vollständigen Texte einiger Pressemitteilung sind jedoch auf anderen Kanälen verfügbar. bereichernder Umgang mit Sprache. Damit ist der Preis der einzige seiner Art in Deutschland. 2016 wird er zum 32. Mal verliehen. (Robert Bosch Stiftung (2016a) 65 Es wird deutlich, dass der Geltungsbereich des Preises im Vergleich zu seinen Anfängen nur noch sehr weit gefasst ist, wie auch die Formulierungen „ein Kulturwechsel“ und „außergewöhnlicher“ zeigen. Derselbe Wortlaut des Preises findet sich im darauffolgenden Jahr wieder, als sowohl die Auszeichnung für den im Irak geborenen Schriftsteller Abbas Khider bekannt gegeben wurde als auch der Abschluss des Projekts. Gerade in den letzten Jahren des Preises lassen sich die Anfänge einer neuen Tendenz erkennen, die aufgrund seines Auslaufens nicht vollständig verwirklicht wurden. Mit der gemeinsamen Verleihung der Preise an Kinsky und Wolf im Jahr 2016 wird eine biografische Differenzierung zwischen den Chamisso-Autoren und dem übrigen deutschen Literaturbetrieb ein für alle Mal aufgehoben. Nicht nur weil beide Autorinnen tatsächlich in Deutschland geboren wurden, sondern auch weil in ihrer künstlerischen Produktion der Darstellung von Migrationsgeschichten kein privilegierter Raum eingeräumt wird. Insbesondere in Wolfs Profil ist kein Migrationshintergrund erkennbar, da die in Berlin lebende Autorin aus Studien- und Berufsgründen längere Zeit zwischen Deutschland und den USA gelebt hat. Wenn überhaupt, dann ist Wolfs Migrationsbewegung also von Deutschland zu anderen Ländern und nicht andersherum. Das zentrale Element, das die beiden Autorinnen verbindet, ist vielmehr die Übersetzungstätigkeit, die in ihrem Schreiben auch die Rolle eines ästhetischen Prinzips einnimmt. Während in Rakusas Profil das Leben zwischen mehreren Sprachen noch als biografisches Merkmal hervorgehoben wird, wird es bei ihnen als formales Unterscheidungsmerkmal ihres Schreibens anerkannt. So heißt es in der Pressemitteilung: „Ihre [Wolfs] Annäherungen an das Fremde durch spielerische Reflexion sprachlich vermittelter Realität sind gelungene Beispiele für eine zukunftsweisende kosmopolitische Literatur“ (Robert Bosch Stiftung 2016a). Schließlich erfolgte im Verlauf des Projekts eine Verschiebung weg vom rein biografischen Profil der Autor: innen hin zur Analyse ihrer Poetik als Ausdruck einer Literatur, deren zeitgenössische Relevanz sich in ihrer kosmopolitischen Natur manifestiert. 4.2 Vom Ausländersein zum Kosmopolitismus: Das Herkunftskriterium 125 <?page no="126"?> 4.3 Von der Fremdsprache zur Mehrsprachigkeit: Das Sprachigkeitskriterium Das zweite Kriterium, anhand dessen die ‚Chamisso-Autorschaft‘ definiert wird, um sie vom Rest des literarischen Feldes abzugrenzen, ist die sprachliche Dimension, hier definiert als ‚Sprachigkeit‘. Laut Niku Dorostkar gilt „Sprachig‐ keit“ als „Überbegriff für sämtliche Formen von Sprachfähigkeit, -verwendung, -verbreitung und -verfügbarkeit“ sowie für ihre „Thematisierung“ auf eine nationale und supranationale Ebene, und umfasst „sowohl Einsprachigkeit als auch Mehrsprachigkeit“ (2014: 15-16). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff verwendet, um die Konzeptualisierung der individuellen Formen der Sprachfähigkeit und -verwendung bei den Chamisso-Autoren, so wie sie anläss‐ lich der jeweiligen Chamisso-Preisverleihungen diskursiv inszeniert werden, zu bezeichnen. Die Hauptelemente der so konzipierten Sprachigkeit bestehen in der Art von Sprachen, die in den Dokumenten der Preisverleihungen genannt werden, in ihrer Rolle in Bezug auf die literarische Produktion, und, wenn mehrere Sprachen berücksichtigt werden, in den repräsentierten Verhältnissen zwischen ihnen - ob hierarchisch oder nicht. Besonders wichtig ist dann die Weise, wie das Deutsche als literarische Sprache und sein Verhältnis zu den anderen Sprachen der Schriftsteller: innen dargestellt wird. Schließlich wird anhand der Verwendung des Begriffs ‚Sprachigkeit‘ die affektgeladene Bezeichnung der Sprachidentität vermieden und der Fokus auf die Ebene der diskursiven Konstruktion gelenkt. In den ersten Jahren zeigte sich in der Inszenierung der Chamisso-Autoren die Verwurzelung des Preises in den IDF-Projekten und damit in der Forschung zu Deutsch als Fremdsprache. Man beachte z. B. die erste Begrüßung des bereits erwähnten Friedrich, Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der an die Pilotprojekte des Chamisso-Preises und die innovative Arbeit von Harald Weinrich erinnert: Er [Weinrich] hat nämlich entdeckt, herausgefunden oder ist darauf gekommen, daß in dem, was Menschen, die nicht in dieser deutschen Sprache aufgewachsen sind, schreiben, eine befruchtende Kraft für unser eigenes und doch ins „Verschludern“ gekommenes Sprachgefühl hineingekommen sein könnte und de facto auch hineinge‐ kommen ist. […] Er hat die Herausforderung der deutschen Sprache durch diejenigen, die sich ihrer als Ausländer bedienen, dargestellt. (HCP-K2-O3-85-2b) Das Verhältnis zur Sprache wird in Form von Distanz konstruiert: Die „Aus‐ länder bedienen“ sich einer Sprache, in der sie nicht „aufgewachsen“ sind. In der Laudatio der 1980er Jahre beruht die Sprachigkeit der Preisträger: innen auf dem Sprachenwechsel, d. h., auf dem Übergang von der Muttersprache zum 126 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="127"?> Deutschen als literarische Sprache. Dies wird als eine regelrechte Migration be‐ schrieben, an deren Ende die Chamisso-Autoren nicht nur erstmals eine Stimme finden oder wiederfinden, sondern in der deutschen Sprache agieren können. In seiner Laudatio auf Ota Filip widmet Horst Bienek mehrere Zeilen dem Erwerb der deutschen Sprache durch den tschechoslowakischen Autor: „[I]ch möchte hier vor allem hinweisen auf die deutsche Sprachleistung, auf seine [Filips] schmiegsame, durchleuchtete, alle Valeurs und Schattierungen ausnutzende deutsche Sprache“ (HCP-K2-O3-86-5: 3). Für den Laudator bedeutet dies, dass Filip „jetzt ein deutscher Schriftsteller [ist].“ Wem das zu pathetisch klingt: ein deutsch schreibender Autor“ (HCP-K2-O3-86-5: 3-4). Das Verhältnis zwischen den Autor: innen und der deutschen Sprache wird im Sinne eines gelungenen Integrationsprozesses kodifiziert. Einmal mehr sind beide Hauptkonzepte des programmatischen Diskurses des Preises präsent: Fremdheit und Zugehörigkeit. In diesem Rahmen ist ein Unterschied in der Darstellung des Sprachwechsels zu erkennen, der die beiden nach dem Herkunftskriterium beschriebenen Autorentypen widerspiegelt, d. h., zwischen den auf die Arbeitsmigration zurückgehenden Preisträger: innen und den exilierten Intellektuellen. Nach der Dokumentation der ersten Preisverleihungen fällt der Übergang ins Deut‐ sche bei Schami, Biondi und Chiellino mit dem Beginn ihrer literarischen Tätigkeit zusammen. Ähnlich wie bei den IDF-Preisverleihungen wird hier zwischen den Zeilen suggeriert, dass die Gastarbeiter zu Schriftstellern erst in deutscher Sprache und durch ihre Migrationserfahrung bewegt wurden. Im Gegensatz dazu wird das deutschsprachige Schreiben der Exilautor: innen - Filip, Moníková, SAID, Karasholi - zwar als Ergebnis politischer Umstände, aber hauptsächlich als bewusste Wahl der kulturellen Zugehörigkeit beschrieben. Tatsächlich geht, wie oft betont wird, die Begegnung mit der deutschen Sprache dem Verlassen des Heimatlandes voraus. Um wieder auf die Laudatio an Filip zurückzukommen: [A]lles begann mit einem Brief. […] In gebrochenem, aber durchaus verständlichem Deutsch stellte sich da ein Tscheche aus Ostrava vor. […] Er [Ota Filip] fühle sich inzwischen als Schriftsteller und habe nach der Arbeit, in den Nächten und zum Wochenende einen ersten Roman fertiggeschrieben. Und dann folgte ein Hilferuf: […] [E]r wolle nichts anderes als mit einem deutschen Schriftsteller in Briefwechsel treten, einen Gedankenaustausch über wirkliche Literatur haben und deutsche Bücher lesen. Daraus entwickelte sich […] eine lebhafte Korrespondenz. Ich schickte deutsche Bücher […] nach Slavic […]. Das Ergebnis war, daß die Briefe in einem immer besseren, ja flüssigen Deutsch abgefaßt waren. (HCP-K2-O3-86-5: 4) 4.3 Von der Fremdsprache zur Mehrsprachigkeit: Das Sprachigkeitskriterium 127 <?page no="128"?> Exilautoren, die bereits in ihrer Muttersprache tätig gewesen sind, entschieden sich dafür, ihr politisches, intellektuelles und künstlerisches Wirken außerhalb ihres Heimatlandes - und ihrer Sprache - zu verorten, indem sie Deutsch als ihre neue Heimat wählten (vgl. HCP-K1-O2-91-2). Durch diese Wahl werde es den Schriftsteller: innen möglich, das Schweigen, das sie bedroht, zu überwinden. Ohne die Schwierigkeiten zu verkleinern, mit denen Adel Karasholi in deutsch denken und dichten gelernt hat, kann er heute, sich auf Peter Weiss berufend, von sich sagen, daß er sich in der neuen Sprache ansiedeln mußte, um nicht in der Sprachlosigkeit unterzugehen. (HCP-K1-O2-92-5: 167) In gewissem Sinne ist es die Wahl der deutschen Sprache, die den Umzug nach Deutschland bestimmt, und nicht umgekehrt. Angesichts dieser entscheidenden Unterschiede lässt sich ein grundlegender gemeinsamer Nenner zwischen den beiden behandelten Erstautorenprofilen ausmachen. Die bisher beobachteten Auszeichnungen, mit Ausnahme der von Moníková, grenzen die Beherrschung der deutschen Sprache im Sinne von ‚Korrektheit‘ auf Seiten der ‚ausländischen‘ Autor: innen ab: Es wird ein Weg der allmählichen Verfeinerung beschrieben, der sich von einem anfänglich unpräzisen, „gebrochenen“ (HCP-K2-O3-86-5: 1) Schreiben zu einer außeror‐ dentlichen poetischen Beherrschung des Idioms entwickelt. Diese klare Di‐ chotomie zwischen Fremdsprache und Muttersprache, die der Sprachwechsel- Perspektive entspricht, geriet Anfang der 1990er Jahre in der Konfrontation mit den Schreibenden der ‚zweiten Generation‘ in die Krise. Auch im Fall des Sprachigkeitskriteriums stellt das Jahr 1994 also einen Wendepunkt dar. Man betrachte erneut Franzettis Preisverleihung: Der Adelbert-von-Chamisso-Preis wird für bedeutende Beiträge zur deutschen Li‐ teratur an Autoren verliehen, für die das Deutsche Fremd- oder Zweitsprache ist, deren Werke aber von ihren Themen, Adressaten und Publikationsformen her der deutschsprachigen Literatur zugehören. […] Dante Andrea Franzetti, geboren 1959 in Zürich, wuchs als Sohn eines Italieners und einer Mutter aus der romanischen Schweiz zweisprachig auf, mit den Erfahrungen zweier Kulturen, wie er sie in seinen ersten Romanen beschreibt. (HCP-K1-O2-94-1, Hervorhebung von mir) Im Spektrum der sprachlichen Biografien der Autor: innen taucht neben der im Begriff „Fremdsprache“ kodierten Fremdheit auch die Möglichkeit einer engeren Beziehung zur deutschen Sprache auf, die im Begriff „Zweitsprache“ zum Ausdruck kommt. Angesichts des Profils des ausgezeichneten Autors steht hinter dieser Begriffspassage die Absicht, die Erfahrung eines Menschen zu legitimieren, der keinen Sprachwechsel erlebt hat, sondern aufgrund seiner 128 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="129"?> Biografie mit einem vielfältigen sprachlichen Hintergrund aufgewachsen ist. Im Zusammenhang mit der Überwindung der Kategorie von ‚Ausländer‘ wurde auch die Exklusivität der Definition von Fremdsprache abgelegt, welche die Chamisso-Autoren nach wie vor außerhalb der deutschen Sprache positioniert. Bei der Preisverleihung im Jahr 1995, anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Projekts, wurde eine Wende in der konzeptionellen Konfiguration des Preises deutlich, die sich von der Grundlage des Deutschen als Fremdsprache entfernte. Dies geschah parallel zum Ausstieg der IDF aus dem Projekt, dem Rücktritt Ackermanns und der Emeritierung Weinrichs: Zehn Jahre Chamisso-Preis, zehn Jahre praktische Arbeit im Dienst der Sprache und des Sprachbrückenbaus. Jetzt […] erfolgt eine Zäsur. Sie ist zwar nur eine äußere, organisatorische, aber sie signalisiert darüber hinaus eine breitere Ausfächerung des ursprünglichen Vorhabens. […] Das Institut nicht mehr in der Lage die Arbeit im Vorfeld der Preisverleihungen, insbesondere die Arbeit für die Jury zu übernehmen. […] [I]n Zukunft [sollte] der Chamisso-Preis nicht mehr so eindeutig wie bisher an die Voraussetzung „Deutsch als Fremdsprache“ gebunden sein […]. Sein Auszeichnungs‐ radius sollte vielmehr verschiedene Tätigkeiten im Dienst internationalen Sprachaus‐ tausches und internationaler Sprachbegegnung erfassen. (HCP-K1-O2-95-2: 3) In seiner neuen Ausrichtung ziele das Projekt darauf ab, einen Sprachgebrauch im Sinne eines internationalen, also symmetrischen Austauschs zwischen kul‐ turellen Dimensionen zu betonen, und nicht mehr im Sinne des Fokussierens auf die Lebensbedingungen der Minderheiten. Dieser Richtungswechsel rechtfertigt die Verleihung des Preises an eine Autorin wie Tawada, deren Profil sich so sehr von den bisherigen unterscheidet. In der Pressemitteilung wird die Sprachigkeit der Chamisso-Autoren nun wie folgt formuliert: Für bedeutende Beiträge zur deutschen Literatur werden seit 1985 Autoren geehrt, die selbst nicht deutscher Sprachherkunft sind oder aus einer anderen kulturellen Umge‐ bung kommen. Von den Themen, Adressaten oder Publikationsformen her werden ihre Werke aber der deutschsprachigen Literatur zugerechnet. (HCP-K1-O1-96-1) Erstens geht in dieser Formulierung das Sprachigkeitskriterium dem Herkunfts‐ kriterium voraus, das, wie bereits erläutert, an diesem Punkt in der Entwicklung des Chamisso-Preis an Zentralität verliert. Die Formulierung „für die das Deut‐ sche Fremd- oder Zweitsprache ist“ wird also durch einen allgemeineren Ver‐ weis auf die „nicht-deutsche“ Sprachherkunft ersetzt. Solche Beschreibungen, die ex negativo gebildet sind, verraten ohnehin die Schwierigkeit, das Profil der Preisträger: innen schon allein aus sprachlicher Sicht klar abzugrenzen. Des Weiteren ist der Verzicht auf eine dichotome Darstellung der Sprachigkeit der 4.3 Von der Fremdsprache zur Mehrsprachigkeit: Das Sprachigkeitskriterium 129 <?page no="130"?> Autor: innen erkennbar, d. h., es wird Raum gelassen für die Möglichkeit, dass sie aus mehreren Sprachen besteht und nicht ‚nur‘ aus dem Deutschen und einer weiteren Sprache. Die Preisverleihung an Emine Sevgi Özdamar im Jahr 1999 ist diesem Kontext zuzuordnen, da das Projekt nicht mehr die sprachliche Integration, also den Erwerb von korrektem Deutsch, in den Vordergrund stellt, sondern vielmehr einen kreativen Umgang mit Zweisprachigkeit betont - noch nicht jedoch Mehrsprachigkeit. Dies lässt sich anhand der Eröffnungsrede von Hans Maier, dem Nachfolger von Friedrich als Direktor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, erläutern: [D]er Preis zielt auf das Eigentümliche eines Sprachgebrauchs, der die Spuren vorheriger Aneignung nicht verwischt, sondern betont. Das kann auf vielerlei Weise geschehen: in jener lockeren Gewandtheit, die dem muttersprachlich Redenden und Schreibenden herausfordernd vorführt […]; oder aber im Offenlegen der Risse und Schründe […]; oder wiederum im Sprechen mit dem Unvergorenen, Alogischen, Merkwürdigen und zum Lachen Reizenden, das jede Sprache in sich hat. (HCP-K1-O1-99-2: 2, Hervorhebung von mir) In dieser Bewegung zwischen Erst- und Zweitsprache wird ein Unterschied zwischen den Chamisso-Preisträger: innen und dem Preispatron hervorgehoben, der die Abkehr von der ersten Phase des Projekts betonen soll. Während zu Cha‐ missos Zeiten die Einhaltung sprachlicher Normen unabdingbar gewesen sei, sei in der heutigen deutschen Literaturlandschaft noch mehr Experimentierfreude erwünscht. Das Deutsche wird also nicht mehr als Instrument der Integration dargestellt, und die nicht-muttersprachliche Schriftsteller: innen müssen sich nicht an einen ‚richtigen‘ Sprachgebrauch anpassen. So äußerte sich Maier weiter: So sehe ich auch die Zukunft des Chamisso-Preises und der von ihm geförderten und begleiteten Literatur nicht in der Annährung an eine wie immer verstandene Sprach-Einheit, sondern in einem entschiedenen literarischen Pluralismus. Was für die deutschen Schriftsteller in unserem Land recht ist, das muß auch für die deutsch‐ schreibenden Mitbürger aus anderen Ländern billig sein. (HCP-K1-O1-99-2: 4) In diesem Rahmen wird sich der Chamisso-Preis als ein Vorposten der Freiheit des Experimentierens zwischen den Sprachen innerhalb des Literaturbetriebs abgehoben, eine Freiheit, die, so Maier fort, von allen Autor: innen geteilt werden muss, seien sie „deutsche Schriftsteller“ oder „deutschschreibende Mitbürger“. Die Singularität von Özdamar als Chamisso-Autorin bestehe darin, dass ihre 130 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="131"?> Muttersprache im deutschen Schreiben weiterlebt, wie in der Pressemitteilung zu lesen ist: An die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar. Die Autorin erzählt vom Leben in der Türkei und Deutschland in einem Stil, in dem die Bilderwelten ihrer „Mutterzunge“ und die Semantik ihrer Wahlheimat eine beredte Synthese eingehen. In der neuen Sprache, die sie entwickelt hat, haben ihre Wörter zwar „keine Kindheit“, aber eine pralle Gegenwart und eine vitale Zukunft. (HCP-K1-O1-99-4) Sigrid Löffler konzentriert sich in der Laudatio vor allem auf die Literatur‐ sprache der Autorin, in der eine wechselseitige Hybridisierung von Deutsch und Türkisch stattfinde: „Ihre [Özdamars] türkische Muttersprache hat sich verwestlicht, ihr Deutsch hat sich orientalisiert und mit türkischen Denk- und Sprachmustern angereichert“ (HCP-K1-O1-99-5: 1). Die Mehrsprachigkeit der Autor: innen stellt bis zum Abschluss des Projekts ein zentrales Element der Inszenierung der Schriftsteller: innen dar, das nun das immer weniger zentrale Herkunftskriterium fast vollständig ablöst. Es hat sich bereits gezeigt, dass bei den seit den 2000er Jahren untersuchten kosmopolitischen und polyglotten Autor: innen nicht mehr so sehr die bereits erwähnte Migrationserfahrung nach Deutschland im Vordergrund steht, son‐ dern die freie und bewusste Entscheidung für das Deutsche als Literatursprache unter den vielen verfügbaren Sprachen: „[N]icht nur hat Trojanow sich da freigeschrieben von seinen Erinnerungen und bedrängenden Phantasien; er ist damit zur Sprache gekommen, die er sich zum Ausdruck gewählt hat: in der der mehrsprachige Nomade seine Zelte aufgeschlagen hat“ (HCP-K1-O1-00-5: 830). Trojanows Ankunft im deutschen Kulturraum wird nicht im Sinne einer geographischen Verschiebung, sondern im Sinne einer sprachlichen Wahl for‐ muliert: „Ja, angekommen ist er: in der deutschen Sprache; in ihr wird er bleiben, zum Glück“ (HCP-K1-O1-00-5: 830). Diese Klarstellung, die in gewisser Weise an das Profil der Exilautor: innen der ersten Phase erinnert, wird jedoch durch ein weiteres Element bereichert: Sowohl Trojanow als auch Rakusa gelten in der Tat als Beispiele für polyglotte Schreibenden, für die Deutsch nur eine der in ihrem Repertoire verfügbaren Sprachen darstellt. Das bedeutet, dass ihre Präsenz im Deutschen nicht unbedingt endgültig sei und dass die Autor: innen auch in anderen Sprachen leben: „[Trojanow] ist […] ein ‚Go-between‘ zwischen Kulturen und Sprachen“ (HCP-K1-O1-00-5: 829). In ähnlicher Weise wird Rakusas Beherrschung von sechs „verschiedenen Mutter- und Vatersprachen“ und drei „Arbeitssprachen“ (HCP-K1-O1-03-5: 3) hervorgehoben. Das Deutsche treffe im Schreiben dieser Autorin auf eine Pluralität von Sprachen, die ihrerseits miteinander kommunizieren. Anders 4.3 Von der Fremdsprache zur Mehrsprachigkeit: Das Sprachigkeitskriterium 131 <?page no="132"?> als etwa Özdamar wird Rakusas Schreiben nicht als Dialog zwischen Mutter‐ sprache und Deutschen beschrieben, sondern als Verflechtung innerhalb eines mehrsprachigen Netzwerks: „‚Exerzitium‘ der Sprachspiele und des Wechsel‐ spiels von Sprachen“ (HCP-K1-O1-03-5: 4). Dass das Charakteristikum der Vertreter: innen der Chamisso-Literatur darin besteht, dass sie sich für Deutsch als Literatursprache entscheiden und nicht für eine andere der ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen, unterstreicht Dieter Berg der Robert Bosch Stiftung in seinem Grußwort aus dem Jahr 2009: Alle Preisträger der vergangenen 25 Jahre wurden für ihre herausragenden Beiträge zur deutschen Literatur ausgezeichnet. Aber für den Chamisso-Preis genügt es nicht, nur ein überdurchschnittlicher Schriftsteller zu sein. Alle Preisträger haben sich ir‐ gendwann in ihrem literarischen Leben für die Literatursprache Deutsch entschieden, was in der Regel auch mit einem alltagssprachlichen Wechsel in die deutsche Sprache verbunden war. (Robert Bosch Stiftung 2009: 1) An diesem Punkt besteht die Sprachigkeit also nicht mehr nur aus Mutter‐ sprache und Fremdsprache, sondern aus einer Vielzahl von Sprachen, die zueinander in einem nicht-hierarchischen Verhältnis stehen. Diese Perspektive erlaubt es also, in der Chamisso-Literatur nicht nur in Deutschland geborene Schriftsteller: innen aufzunehmen, für die Deutsch gewiss keine Fremdsprache war, sondern auch Autor: innen aus Gebieten, in denen Deutsch eine Minderhei‐ tensprache und nicht die Sprache der Mehrheit ist. Ein Beispiel hierfür ist Terézia Mora, die bereits 2000 mit dem Förderpreis und 2010 als Hauptpreisträgerin ausgezeichnet wurde, sowie Eleonora Hummel (2006). Wie bereits erwähnt, wird der Chamisso-Preis in seinen letzten Jahren an Autor: innen jenseits ihrer Herkunft und auch jenseits ihrer Sprachigkeit ver‐ liehen: Wolf, deren persönliche Mehrsprachigkeit ein Ergebnis ihres Studiums und ihrer beruflichen Laufbahn ist, wird in erster Linie für die Mehrsprachig‐ keit ihrer Texte ausgezeichnet, die Reflexionen über den Umgang mit dem Fremden vermitteln, so die Begründung für den Preis. Bereits in Özdamars Preisverleihung lässt sich ein Interesse an der Mehrsprachigkeit erkennen, aber 1999 war dieser formale Aspekt noch untrennbar mit dem biographischen verbunden. Dies bedeutet, dass der Chamisso-Preis ein ästhetisches und nicht mehr ein biografisches Element in den Mittelpunkt stellt und beide Kriterien, das Sprachlichkeitskriterium und das Herkunftskriterium, übertrifft. 132 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="133"?> 4.4 Der Abbau konzeptueller Grundlagen und die Transformation des Preises Ausgehend von der Untersuchung der Dokumentation des Preises lassen sich Transformationen hinsichtlich seiner Programmatik und konzeptuellen Struktur sowie seiner Rolle als Konsekrationsinstanz im Literaturfeld erkennen. In der ersten Phase seiner Entwicklung war die Repräsentation von Autor: innen durch eindeutige Dichotomien konstruiert, die auf der unhinterfragten An‐ nahme beruhten, im literarischen Bereich zwischen den ‚ausländischen Au‐ toren‘ und denjenigen zu unterscheiden, die nicht direkt genannt wurden, aber immer in diesen Diskurs einbezogen waren: ‚die Deutschen‘. Die Programmatik des Preises inszenierte dabei eine Art von Fremdheit, die eng mit nationaler Zugehörigkeit - oder besser gesagt Nicht-Zugehörigkeit - verbunden war. In Bezug auf das Kriterium der Sprachigkeit wurde eine weitere Unterscheidung zugelassen, die ihrerseits auf einem Akt der Ausgrenzung beruhte, nämlich die zwischen ‚Fremdsprache‘ und ‚Muttersprache‘. Laut Elke Sturm-Trigonakis ver‐ rate diese Einstellung eine prospektive vollständige sprachliche Assimilation, die der Muttersprache der ausgezeichneten Autor: innen keine Rolle einräume - sie wurde sogar nie erwähnt - und die den Nationalcharakter der Literatur verstärke: Nachdem die anfängliche Euphorie über diesen Preis mittlerweile etwas abgeebbt ist, er‐ staunt aus heutiger Perspektive, mit welcher Selbstverständlichkeit das Primat der deut‐ schen Sprache zur Hauptsache deklariert wurde und der komplette Sprachenwechsel ins Deutsche zur Grundvoraussetzung für die Teilnehmer avancierte. […N]ationale Zugehörigkeit lassen sich nur binär und konsekutiv denken. Für Bastardisierungen, Verunreinigungen, Sprach- und Kulturmischungen aller Arten, kurz Hybridität, war [damals] offenbar kein Raum in Deutschland. (Sturm-Trigonakis 2007: 48) Diese kulturelle Auffassung wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass einige Schriftsteller: innen, die in dieser Anfangsphase mit dem Chamisso-Preis ausgezeichnet wurden, bereits mehrsprachige Texte veröffentlicht hatten - wie z. B. Biondi und Chiellino. Dieser Aspekt ihrer Poetik wurde jedoch anlässlich der Auszeichnung nicht erwähnt. Diese Anfangsjahre des Preises lassen sich folglich als ideologisch ‚einsprachig‘ beschreiben. Nach Esselborn (2004: 319-320) und Röhricht (2016: 39-40) zeigen diese differenzierenden Definitionen, d. h. die Dichotomien ‚Ausländer‘/ ‚Deutsche‘ und ‚Fremdsprache‘/ ‚Muttersprache‘, durch den Vergleich mit Autor: innen der ‚zweiten Generation‘ in den 1990er Jahren und mit deutschsprachigen Minderheitsschriftsteller: innen seit den 2000er Jahren ihre Unzulänglichkeit, um das Nebeneinander verschiedener Herkünfte und Sprachen in den Autor‐ 4.4 Der Abbau konzeptueller Grundlagen und die Transformation des Preises 133 <?page no="134"?> profilen zu beschreiben. Diese Dimensionen begründeten jedoch von Anfang an die konzeptionelle Architektur des Preises, und der Verzicht auf sie setzte einen Prozess der Neudefinition seiner Auswahlkriterien und damit seines Wirkungskreises in Gang. Dieser Prozess ist nie zum Stillstand gekommen und hat zum Teil sogar zum Abschluss des Projekts geführt. Nach und nach wurde die nichtdeutsche oder nicht-nur-deutsche Staatsangehörigkeit der Autor: innen immer weniger erwähnt, bis sie verschwand, ebenso wie die Hinweise auf die Migrationsbiographien der Preisträger: innen - oder ihrer Familien - abge‐ schwächt wurden. Das Herkunftskriterium, das immer noch vorhanden war, stützte sich nicht mehr auf die Bezeichnung ‚Ausländer‘, sondern auf ‚Kultur‘, einen schweren zu umschreibenden Begriff, wie seine zahlreichen Definitionen aus den Kulturwissenschaften zeigen (vgl. Bausinger 2003). Die Programmatik des Preises basierte also weiterhin auf der Zuwendung zu extraliterarischen Diskursen, nun freilich inklusiver - wie die Auswahl von Autor: innen aus dem extraterritorialen deutschsprachigen Raum seit den 2000er Jahren zeigt. Solider erscheint das Sprachigkeitskriterium, das in der Tat ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre das Herkunftskriterium ablöste. Während in den Anfängen des Projekts das Interesse am Gebrauch des Deutschen als Fremd‐ sprache und der Vorrang dieser Sprache im Vordergrund standen, wurde das Deutsche danach durch die Auseinandersetzung mit den Schriftsteller: innen der ‚zweiten Generation‘ zunehmend zu nur einer der vielen Sprachen, die den Preisträger: innen zur Verfügung stehen. In diesem Rahmen wurde das Konzept der Muttersprache als singuläre und privilegierte Dimension für die Identitäts‐ ausdruck sowie -Enfaltung des Individuums in Frage gestellt: Die in diesen Jahren erarbeitete Perspektive ist somit zunehmend ideologisch ‚mehrsprachig‘. In diesem Rahmen fand ein entscheidender Schritt in der Geschichte des Preises kurz vor seiner Schließung statt: Das sprachliche Experimentieren wurde nicht mehr als Vorrecht derjenigen betrachtet, die selbst oder in ihrer Familiengeschichte Migrationserfahrungen gemacht haben. Diese Zäsur eröff‐ nete den Horizont einer neuen Phase, nämlich der Zählung des Phänomens der literarischen Mehrsprachigkeit unabhängig von der individuellen Herkunft, die jedoch aufgrund der Schließung des Preises nicht weiterentwickelt wurde (siehe dazu Trojanow/ Oliver 2016; Wolf 2018). Neben dem Abbau der konzeptuellen Grundpfeiler des Projekts sind wei‐ tere Veränderungen in den Preisprogrammatik zu erkennen, die das Projekt von seiner Ausgangskonfiguration wegführten. Nach Kegelmann (2010: 14) wurden die Autorprofile bei den ersten Preisverleihungen aus ihrem repräsen‐ tativen Wert für Migrationsphänomene im Allgemeinen und für Minderheiten in Deutschland im Besonderen konstruiert. Ab den 2000er Jahren wurden 134 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="135"?> sie dagegen immer weniger als Vertreter: innen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen inszeniert. Es ist jedoch notwendig hinzuzufügen, die Literatur in der Programmatik des Chamisso-Preises weiterhin die Rolle einer Widerspiege‐ lung für soziokulturelle Veränderungen hatte, denn die ausgewählten Schrift‐ steller: innen weiterhin als repräsentativ für das neue Antlitz des europäischen Kontinents galten. Der Unterschied besteht auch darin, dass während zu Be‐ ginn die Migrationsbewegungen nach Deutschland erfasst wurden, es jetzt eine der möglichen Zwischenstationen im globalen Transit kosmopolitischer Autor: innen darstellt. In jedem Fall blieb das Bestreben, die soziokulturellen Ver‐ änderungen der Gesellschaft zunächst in der BRD, dann im wiedervereinigten Deutschland und schließlich auf dem europäischen Kontinent literarisch zu dokumentieren, evident. Entsprechend ist eine deutliche Transformation in der Konsekrationstätigkeit der Auszeichnung zu erkennen. In den Anfangsjahren tendierte die Konsekra‐ tion des Chamisso-Preises mit wenigen Ausnahmen dazu, eher Nischenphäno‐ mene zu umfassen, wie die Südwind-Literatur und andere ähnliche Projekte - wie die verlegerische Tätigkeit von Pazarkaya, der 1989 den Preis erhielt und als Laudator für Ören eingeladen wurde. Wie Kegelmann (2010: 18-21) feststellt, wurde der Preis seit Anfang der 2000er Jahre immer häufiger auch an Persönlichkeiten verliehen, die in der deutschsprachigen Literaturszene bereits bekannt waren. So wurde Özdamar beispielsweise nun fast zehn Jahre nach ihrem literarischen Debüt im Jahr 1999 ausgezeichnet, Trojanow und Rakusa waren, als sie den Chamisso-Preis erhielten, bereits bekannt, und auch Zaimoğlu war zum Zeitpunkt seiner Auszeichnung im Jahr 2005 bereits ein Kultautor (vgl. Kegelmann 2010: 19). Dies bildet eine bedeutende Veränderung, die meiner Meinung nach vor allem zwei Gründe hat. Zum einen spiegelt sie einen Wandel im Literaturbetrieb wider, den der Preis selbst mit herbei‐ geführt hat. Wie bereits im dritten Teil der vorliegenden Arbeit angemerkt, ist das kulturelle Anderssein seit den 1990er Jahren zu einem erfolgreichen literarischen Trend geworden, der auch die problematische Spezialisierung von als ‚Fremden‘ wahrgenommenen Autor: innen auf Themen der kulturellen Differenz und Migration auslöste (siehe dazu Şenocak 1993). Ein Wandel, zu dem auch der Chamisso-Preis beigetragen hat, der vor allem bis Ende der 1990er Jahre als wichtigste Konsekrationsinstanz dieses neuen Literaturbereichs fungierte. Zweitens: Ging es in den vergangenen Jahren vor allem um die Aufnahme von Schrifsteller: innen, die sich am Rande des deutschen Literaturraums befanden, sowie um die Legitimation einer neuen literarischen Sphäre, so scheint der Chamisso-Preis ab den Jahren 2000 das Prestige der neuen Chamisso-Autoren 4.4 Der Abbau konzeptueller Grundlagen und die Transformation des Preises 135 <?page no="136"?> 66 Das soll nicht heißen, dass sich unter den Chamisso-Preisträger: innen der Anfangszeit nicht auch Persönlichkeiten befanden, die im literarischen Raum bereits bekannt waren: Filip und Moníková zum Beispiel wurden schon lange vor der Verleihung des Chamisso- Preises geschätzt. auf die bereits konsekrierte Sphäre übertragen zu wollen. 66 Im Grunde zeigt sich ein Wandel in der Zielsetzung des Preises, der sich notwendigerweise den Veränderungen im literarischen Feld anpasst: Nun zielte das Projekt nicht mehr darauf ab, einen literarischen Raum abzuzeichnen, der auf die Produktion einer bestimmten Autorenkategorie beschränkt ist, sondern auf die Anerkennung allgemeiner literarischer Tendenzen, die in Sprachexperimenten als literarische Reflexion der kulturellen Pluralität westeuropäischer Gesellschaften ihren pri‐ vilegierten Ausdruck finden. Dies motiviert auch die Breite der Definitionen im letzten Abschnitt der Projektparabel sowie die Verwendung von Kulturbezügen seit Ende der 1990er Jahre. Es ging nicht mehr darum, eine von bestimmten ästhetischen Dimensionen durchzogene Nische abzugrenzen - Weinrichs ‚neue Literatur‘ (1982: 9) -, sondern aufzuzeigen, wie die Veränderungen, die vom Preis erstmals erfasst wurden, nun den gesamten literarischen Raum betreffen. 4.5 Zwischen Inklusion und Exklusion: Der Abschluss des Projekts Als 2016 die Robert Bosch Stiftung die Schließung des Preises ankündigte, kamen alle Widersprüche des Projekts, die bisher erläutert wurden, erneut ans Licht. Einerseits titulierte die Stiftung die Kommunikation zwar triumphierend als Ziel erreicht, erkannte jedoch offiziell die Ambivalenz der Funktion des Chamisso-Preises an: Den Preis vergeben wir 2017 letztmalig. Die Chamisso-Autoren werden schon lange für ihre literarischen Werke anerkannt. Sie benötigen keine besondere Auszeichnung mit dem Stempel „Eingewanderte“ oder „Autoren mit besonderen Fremdheitserfah‐ rungen“. Wir befürchten im Gegenteil, dass der Preis kontraproduktiv wird, wenn er die Abstammung von Autoren heraushebt, während diese im gesellschaftlichen Alltag und im Literaturbetrieb immer weniger eine Rolle spielt. […] Die Werke der ausgezeichneten Autoren, auf Deutsch schreibende Schriftsteller mit Migrationsge‐ schichte, sind heute selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur. Damit hat der Preis seine Zielsetzung erreicht. (Robert Bosch Stiftung 2016) 136 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="137"?> In der Tat begleitete dieser Widerspruch die gesamte Geschichte des Chamisso- Preises und wurde keineswegs erst auf seinem letzten Weg sichtbar, sondern trat nur noch deutlicher zutage. Die Gefahr, dass ein Literaturpreis, der sich ausschließlich an bestimmte ‚ausländische‘ Autor: innen richtet, deren Margina‐ lisierung eher vertieft anstatt ihre Eingliederung in den literarischen Raum zu erleichtern, war den Initiator: innen bereits 1983, als sich das Preisprojekt noch im Entwurfsstadium befand, zumindest teilweise bewusst. Ackermann deutete diese Möglichkeit an, betrachtete sie jedoch als ein einzugehendes Risiko, um das vorrangige zivilgesellschaftliche und kulturelle Ziel zu erreichen, das die IDF-Forscher: innen verfolgten: Aber dabei wäre dafür Sorge zu tragen, daß die Ausländerkultur nicht ins Ghetto gedrängt wird, sich nicht nur unter Ausländern und Kennern abspielt, sondern als integrierter, weil dazugehöriger und die deutsche Kulturlandschaft bereichernder und mitprägender Bestandteil der deutschen Kultur angesehen wird. (Ackermann 1983a: 253-254) Die erste, die das Mitwirken des Chamisso-Preises an der Marginalisierung ‚ausländischer‘ Schriftsteller: innen explizit ansprach, war Moníková, und zwar während ihrer Dankesrede bei der Preisverleihung im Jahr 1991: Der Preis ist für Schriftsteller nichtdeutscher Muttersprache bestimmt und erinnert mich daran, daß ich Ausländerin bin. Daran erinnern mich auch Kritiker, wenn sie Ausdrücke aus meinen Büchern, die ihnen nicht geläufig sind, als meine Eigenwillig‐ keit interpretieren, die einem nichtdeutschen Autor nicht zusteht: „jäsige Wunden“/ Rilke, das Adjektiv „hausmachern“/ Arno Schmidt, oder weniger gebräuchliche Kon‐ junktivformen: „er löge“ […]. Oft habe ich Lust, Karl Kraus‘ Vorschlag „er häbe“ auszuprobieren. Wenn Arno Schmidt schreibt: „der schneeweiße Spitz….boll sehr“ (Die Germanisten sollen nachschlagen, wo), wird er als innovativ, witzig, originell ästimiert. Wenn ich so etwas versuchte, würde es heißen: Die Ausländerin kann nicht einmal deutsch. (HCP-K1-O2-91-6: 122) Moníková, der auch empfohlen wurde, ein deutsch klingendes Pseudonym an‐ zunehmen, um dem Misstrauen des Literaturbetriebs zu begegnen, verdeutlicht das komplexere Problem der kulturellen Marginalisierung, das hinter der Exis‐ tenz des Preises stand. Sie betont, inwieweit die ideologischen Prämissen dieser Auszeichnung die gleichzeitigen Ausschlussmechanismen des Literaturbetriebs und der deutschen Kultur im Allgemeinen widerspiegelten. Wie zur selben Zeit Şenocak (1993) feststellte, treten diese Mechanismen auch dann zutage, wenn ‚Ausländer‘ vorgeblich inkludiert werden, d.-h. wenn sie zwar zum Wort kommen, aber nur solange sie sich in dem ihnen zugewiesenen Raum als ‚Aus‐ 4.5 Zwischen Inklusion und Exklusion: Der Abschluss des Projekts 137 <?page no="138"?> länder‘ aufhalten, in einem „Reservat“, in dem „andere Beurteilungskriterien als jene, die für alle gelten“ (Hofmann 2006: 199) angewendet werden. Diese Ambiguität der Wirkung des Chamisso-Preises als Konsekrationsinstanz wird prägnant von Kegelmann (2010) herausgearbeitet, der sie auf einem Konti‐ nuum zwischen den beiden Polen der „Etikettierung“ und der „Türöffnung“ ver‐ ortet. Ihm zufolge ermöglichte zwar der Preis ‚ausländischen‘ Schriftsteller: innen den Zugang zu den Hauptkanälen des deutschen Literaturmarktes, insbesondere jenen, die aus den Erfahrungen der Arbeitsmigration stammten - wie Ören, Biondi und Chiellino - und den Gewinnern des Förderpreises (vgl. Kegelmann 2010: 18-21). Andererseits berge der Chamisso-Preis jedoch in der Konfrontation mit bereits renommierten Autorinnen und Autoren die Gefahr, ihnen das Etikett des ‚Ausländerseins‘ aufzudrücken und damit ihre künstlerische Entwicklung eher einzuschränken als zu fördern (vgl. Kegelmann 2010: 18-21). Volker Dörr (2008: 17-20) argumentiert zudem, dass das Projekt dazu beigetragen habe, die Erwartung zu verstärken, dass Schreibende ‚ausländischer‘ Herkunft - oder mit Migrationsgeschichte in ihrer Familie - sich mit migrationsbezogenen Themen oder dem Dialog zwischen den Kulturen auseinandersetzen. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass der Ausschluss „ausländischer Autoren“ bei gleichzeitiger Einbeziehung nicht nur ein Risiko war, in das sich der Preis in bestimmten Phasen seiner Entwicklung begeben hat. Vielmehr lag diese Ambiguität in seiner Funktion im deutschen Literaturbetrieb begründet, die sich gerade in dieser Widersprüchlichkeit entfaltet und als solche unauflösbar ist, trotz des Umdenkensprozesses und der konzeptionellen Neuverhandlungen, die im Laufe seiner 33-jährigen Geschichte stattgefunden haben. Sehr pointiert fasst Eszter Pabis es als Folgendem zusammen: Der exklusive Akt der Distinktion der Literatur bzw. der Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Herkunft als Adressaten eines Förderpreises […] diente des Weiteren ihrer Inklusion und führte auch zur Öffnung des Literaturkanons hinsichtlich der „Chamisso-Literatur“, deren prinzipielle Ununterscheidbarkeit von der „deutschen“ Literatur - paradoxerweise zwecks der Erfüllung der Zielsetzung - ab ovo ange‐ nommen wurde. Das Paradox bestehe laut Pabis darin, dass es die Zielsetzung der Initiator: innen des Preises war, den ‚Ausländerautoren‘ aufgrund ihrer - wenn auch teilweise vermeintlichen - nicht-deutschen Herkunft einen Sonderbereich einzurichten, der zugleich ihrer Inklusion in die deutschsprachige Literatur dienen sollte. Die Parabel des Preises oszilliere also zwischen diesen beiden Extremen: dem Einschluss und dem Ausschluss dieser Autor: innen, den beiden Enden eines einzigen Konsekrationsprozesses. Gerade deshalb deutet Dörr (2008: 20) an, dass 138 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="139"?> die Variationen in der Begrifflichkeit in der Geschichte des Preises als bloße terminologische Veränderungen betrachtet werden könnten, die dazu dienen, das Fortbestehen einer Perspektive zu verschleiern, die nach wie vor auf einer Unterscheidung beruhe: „Sollte man unterstellen: [Handelt es sich] von Autoren mit fremdländisch klingenden Namen, deren Bücher gleichwohl nicht aus einer fremdländischen Sprache übersetzt sind? “. Schließlich führte der Abbau der Bestimmungskriterien der Chamisso-Au‐ toren zu einem allzu unscharfen Autorenprofil, denn die literarische Differen‐ zierung zwischen ‚deutschen‘ und ‚ausländischen‘ Schriftsteller: innen, auf der die Existenz des Preises letztlich beruht, konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. Als die RBS den Preis beendete, war es de facto nicht mehr möglich, das Spezifische am Chamisso-Preis zu beschreiben. Nichtsdestotrotz ist die Entscheidung der Stiftung eher umstritten gewesen. Trojanow und Oliver (2016), beide Chamisso-Preisträger, beziehen sich auf die von der RBS angegebenen Gründe für die Schließung und widerlegen sie einen nach dem anderen. Die Auszeichnung ‚ausländischer‘ Autor: innen sei keineswegs das einzige Ziel gewesen, das mit dem Preis verfolgt wurde. Die Funktion, die der Chamisso-Preis im Laufe seiner Geschichte erfüllt habe, sei viel umfassender und bedeutender: [D]ie Entscheidung [wird] damit begründet, der Preis habe „seine ursprüngliche Ziel‐ setzung vollständig erfüllt: Autoren mit Migrationsgeschichte haben heute grundsätz‐ lich die Möglichkeit, jeden in Deutschland existierenden Literaturpreis zu gewinnen“. Da bleibt einem die Spucke weg. Weil der Literaturbetrieb anfängliche Ressentiments gegen eingewanderte Autorinnen und Autoren abgelegt hat, soll dieses Phänomen nicht mehr beleuchtet werden? Mit anderen Worten: Das Bestreben der Bosch- Stiftung war offenbar von vornherein eher ein diakonisches, die Migrationsliteratur ein Mündel, das es aufzupäppeln galt, und nun, da es wohlgenährt scheint und zu jedem Bankett eingeladen wird, kann es verabschiedet werden. Diese Haltung ist eine paternalistische, also genau das, was Migranten und Geflüchtete auf den Tod nicht ausstehen können. (Trojanow/ Oliver 2016) Aus diesem Grund ist das Ziel des Chamisso-Preises nicht nur einmalig er‐ reichbar, sondern fortwährend aktuell, wie die sogenannte ‚Migrationskrise‘ von 2015 inzwischen verdeutlicht habe: Die Fragen der mehrkulturellen Pluralität, die Konflikte zwischen Essentialismus und Kosmopolitismus, sind keineswegs ausgestanden, im Gegenteil. […] [D]er Zeitpunkt ist schlecht gewählt. Die mehr als eine Million Geflüchteten, die nach Deutschland eingewandert sind, werden eine eigene Literatur erzeugen. […] Es kommen Ge‐ schichten und Erfahrungen, Sprechweisen und Schreibformen ins Land, die ungehört, 4.5 Zwischen Inklusion und Exklusion: Der Abschluss des Projekts 139 <?page no="140"?> 67 Vgl. die offizielle Website: Chamisso-Preis Dresden. 68 Die erste Preisträgerin ist Cecilia Barbetta, die wiederum 2009 den Chamisso-Förder‐ preis erhalten hatte. Damit wird die Tradition des Chamisso-Preises fortgesetzt, den Hauptpreis an Schriftsteller: innen zu verleihen, die zuvor mit dem Förderpreis ausge‐ zeichnet wurden. Unter anderem haben folgende Autor: innen zuerst den Förderpreis ja unerhört sind. […] Was treibt auch eine extrem angesehene (und wohlhabende) Stiftung dazu, ein derart negativ verwirrendes Signal in Zeiten der Erhitzung und Verhärtung zu setzen? (Trojanow/ Oliver 2016) Zudem relativieren beide Autoren die Risiken der Marginalisierung, die ihrer Meinung nach auch bei anderen Preisen erkannt werden könnten, und fügen hinzu, dass der Chamisso-Preis diese in den letzten Jahren überwunden habe: […Der Preis] hat sich […] in letzter Zeit auch dem literarischen Phänomen der Mehr‐ sprachigkeit, unabhängig von der Herkunft der Autoren, geöffnet und insofern zum Ausdruck gebracht, dass zwischen Migration und dynamischer kultureller Identität fließende Übergänge bestehen. (Trojanow/ Oliver 2016, Hervorhebung von mir) Ganz im Gegenteil dazu betrachtet Chiellino den späten Verlauf des Preises als eine Bestätigung der dominanten Rolle der deutschen Sprache in der deutschen Gesellschaft. Der Fokus auf Mehrsprachigkeit stelle dabei nur den Schein eines Projekts dar, das sich allmählich von seinen ursprünglichen Ansprüchen entfernt hat, indem er die eigentliche sprachliche und kulturelle Vielfalt der deutschen Gesellschaft verberge: Der Preis wurde tatsächlich auf den Weg zu einer selbstschädigenden, widersprüchlichen Germanophonie ge‐ bracht. Die Chamisso-Preis-Jury [hatte] […] kaum sprachlichen Zugang zu den vielen Sprachen […], die in der Republik heute noch geschrieben werden. Daher war es einfacher, deutschsprachige Preisträger zu bestimmen, anstelle sich an die Vielfalt der interkulturellen Literatur in Deutschland heranzuarbeiten […]. (Chiellino o.-J.) Der Artikel von Trojanow und Oliver endet mit der Aufforderung, dem Projekt neue Energie zuzuführen. Sie erinnern daran, dass es nicht das geistige Eigentum der RBS ist, sondern von den damals noch lebenden Harald Weinrich und Irmgard Ackermann. Diese Einladung wurde bald angenommen: Im Jahr 2019 gründete das Forschungszentrum MitteleuropaZentrum an der Universität Dresden eine neue Auszeichnung, den Chamisso-Preis/ Hellerau. Dieser wurde 2023 zum Chamisso-Preis Dresden umbenannt und wird durch neue Förderer zusammen mit der Chamisso-Poetikdozentur gestiftet. 67 Obwohl es in Konti‐ nuität mit dem Chamisso-Preis in München steht, schlägt das Projekt eine neue, davon unabhängige Seite auf. 68 140 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="141"?> und dann den Hauptpreis erhalten: Rafik Schami (1985, 1993), SAID (1991, 2002), Terézia Mora (2000, 2010), Abbas Khider (2010, 2017). 4.6 Variationen von ‚Germanness‘ Die Rolle, die der Chamisso-Preis als erste und einflussreichste Konsekrations‐ instanz für ‚ausländische‘ Autor: innen gespielt hat, ist unbestreitbar, ebenso wie die innovative und vielleicht sogar aufgeklärte Perspektive seiner In‐ itiator: innen. Die Funktion des Preises besteht also zum einen darin, Akzente zu setzen, Tendenzen und Experimente zu fördern und einen Raum zu schaffen, der zuvor kaum Aufmerksamkeit gewann. Die ästhetischen Tendenzen, die sich in diesem Raum entwickelt haben, sind im Laufe der Zeit von Randerscheinungen zu zentralen Merkmalen des deutschsprachigen Literaturszenarios geworden. Ebenso prägnant sind die Konflikte, die im Verlauf des Projekts ans Licht ge‐ kommen sind. Die gleichzeitige Koexistenz zweier widersprüchlicher Impulse, eine spiralförmige Bewegung zwischen Inklusion und Exklusion: Das ist das wesentliche Merkmal des Projekts, das als solches nicht überwunden werden kann. Die Kontroversen, die das Projekt auslöste und die es sogar überdauert haben, bestätigen nur, wie viel im Literaturbetrieb auf dem Spiel stand - und immer noch steht. Die Verwirklichung der Ziele, die auf die Einbeziehung ‚ausländischer‘ Autor: innen im Sinne einer Symmetrie mit den Einheimischen abzielten, brachte nämlich die Auseinandersetzung mit Konzepten mit sich, die gerade aufgrund ihrer Funktion in der konzeptionellen Architektur des Preises ihre Problematik offenbarten. Bei näherer Betrachtung bot der Chamisso-Preis nicht nur die Möglichkeit, die komplexen Fragen der kulturellen Inklusion und Exklusion im literarischen Bereich eingehend zu diskutieren, sondern er bot auch den Raum für dieselbe Debatte: von den Preisverleihungen, deren diskur‐ siver Verlauf beobachtet wurde, bis zu den Veröffentlichungen des Chamisso- Magazins, über die Konferenzen, Lesungen und Begegnungen. Um diesen Aspekt zu vertiefen, kann auf das Konzept des „Germanness“ von Rebecca Braun (2014) zurückgegriffen werden. Laut Braun prägt jeder Litera‐ turpreis ein Bild der deutschsprachigen Literatur, das durch die künstlerischen Merkmale, die er hervorhebt, kontinuierlich neu definiert wird: „My starting premise is that the act of appropriating both living and dead authors inherent in the literary award can tell us something about a much wider attempt to curate ‚Germanness‘ on the part of domestic German literary and political institution“ (2014: 39). Literaturpreise weisen laut Braun (2014: 37-39) eine kulturpolitische Bedeutung auf, weil sie zur Definition von „Germanness“ beitragen, also dazu, was in der deutschsprachigen Literatur als wirklich ‚deutsch‘ empfunden wird. 4.6 Variationen von ‚Germanness‘ 141 <?page no="142"?> Davon ausgehend wird deutlich, dass der Adelbert-von-Chamisso-Preis im Gegensatz zu anderen Literaturpreisen nicht so einen oder mehrere Aspekte dieses ‚Germanness‘ im literarischen Raum kollateral einrahmt, sondern dies explizit hinterfragt. Die Frage danach, was ‚deutsch‘ an der deutschsprachigen Literatur ist, was dazu gehört bzw. nicht gehört, steht im Mittelpunkt der diskursiven und paradigmatischen Verhandlungen des Chamisso-Preises. Die Frage, die das Projekt aufwirft, betrifft die Grenzen der deutschsprachigen Literatur selbst: Was gehört zur deutschsprachigen Literatur und wo werden ihre Grenzen gezogen? Der Preis war also nicht nur eine Plattform oder ein Forum für Debatten, sondern auch eine Gelegenheit, die Dynamik sichtbar zu machen, durch die sich die deutsche Kultur selbst inszeniert und als homogen konstruiert. In der durch den Chamisso-Preis skizzierten Dialektik zwischen Inklusion und Exklusion im Sinne von Pabis lässt sich also ein kultureller Prozess erahnen, der den Raum der Chamisso-Literatur, aber auch den weiteren Raum des Literaturbe‐ triebs transzendiert: Die durch das Projekt ausgelöste Dynamik von Inklusion und Exklusion ausgezeichneter Autor: innen verdeutlicht Prozesse der Schaffung und Neuverhandlung kultureller Grenzen sowie der damit verbundenen Definition bzw. Neudefinition von Andersartigkeit. Nun lässt sich endlich die Frage beantworten, die bereits am Ende des zweiten Kapitels gestellt wurde: Welchen neuen nomos im Sinne Bourdieus setzt der Chamisso-Preis im zeitgenössischen deutschsprachigen Literaturfeld durch? Es betrifft die Kriterien für den Zugang zum literarischen Raum in Bezug auf die kulturelle und sprachliche Differenz. Der Verzicht auf den Begriff ‚Ausländer‘ und seine Derivate sowie die weitere Entwicklung hin zur Überwindung jeglicher Hinweise auf eine oder mehrere nationale Herkünfte (Muttersprache, Fremdsprache usw.) verdeutlichen die Überwältigung des Konzepts literarischer Zugehörigkeit, die auf Nationalität basiert. Die grundlegende Rolle, die der Chamisso-Preis innerhalb der deutschspra‐ chigen Gegenwartsliteratur spielt, ist sicherlich auf die Legitimation kultureller Pluralität in der Literaturlandschaft zurückzuführen. Darüber hinaus verdankt man ihm, genau diese Aushandlungsprozesse, die dem gesamten Kulturraum zugrunde liegen, ans Licht befördert zu haben, was eine intensive und teilweise noch immer andauernde Debatte um sie ermöglicht hat. 142 4 Aushandlung und Hinterfragung der konzeptuellen Architektur des Projekts <?page no="143"?> 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf 5.1 Terézia Mora: das Minderheitendeutsch und die Autonomie der Literatur Ich ärgere mich häufig darüber, wieviel Kraft es mich kostet, die Person, die ich bin, von dem Text, der ich bin, fernzuhalten […]. Wenn es nach mir ginge, würde ich es ganz gerne so sehen: Terézia Mora ist ein Text. So. Das würde mir sehr gefallen, denn in Wahrheit heiße ich auch gar nicht Terézia Mora. (Mora/ Soergel 2009) So erinnert die Schriftstellerin, die wir unter dem Pseudonym Terézia Mora kennen, daran, wie zentral es für sie ist, in ihrer beruflichen Erfahrung eine klare Trennlinie zwischen der biografischen und der künstlerischen Dimension zu ziehen (dazu vgl. Propszt 2022). Diese Verteidigung der Autonomie der Literatur ergibt sich auch aus ihrer Ablehnung der Rolle, die der Literaturbetrieb ihr seit den Anfängen zuzuschreiben drohte: Fremd - verglichen womit? Wer oder was ist da der Maßstab? Ich habe nichts dagegen, Ungarin zu sein - zur Hälfte -, aber ich habe etwas dagegen, in Deutschland bis ans Ende meines Lebens die Berufs-Fremde geben zu müssen. Weil das nicht mich als Person, aber schon gar nicht das beschreibt, was ich mache - meine Arbeit. (Mora et al. 2005) In ähnlicher Weise lehnte Mora in der bereits erwähnten Dankesrede für den Büchner-Preis jede Lesart ab, die eine Perspektive außerhalb der ästhetischen und textlichen Sphäre einführen würde. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Moras Haltung gegenüber einer Auszeichnung wie dem Chamisso-Preis, der gerade auf der engen Verbindung von Werk und (nicht nur deutschen) Biographie beruht, sicher nicht von begeisterter Zustimmung geprägt ist. Das zeigt sich an dem unorthodoxen Dank, mit dem Mora den Förderpreis im Jahr 2000 entgegennahm. Bei dieser Gelegenheit beleuchtet sie die problematische Verbindung zwischen Sprache und Land, die das Projekt in seiner Anfangsphase strukturierte: Offenbar nimmt man an, daß ich es (aus bekannten Gründen) besonders gut wüßte, wie es ist, fremd zu sein. Nun, ich weiß es, aber ich weiß es nicht deswegen, weil ich nicht in meiner Muttersprache schreibe. In meiner Muttersprache war ich stumm. Und ohne diese „fremde“ Sprache, die deutsche, wäre ich es immer noch, nicht gedoppelt zwar, aber dennoch fremder als fremd, denn erst dadurch, was man (anders als die <?page no="144"?> 69 Es handelt sich um Durst, der vorletzten Geschichte aus Seltsame Materie, vgl. Mora (1999f). Herkunft) wählen kann, bin ich schließlich geworden, was ich bin: ein freier Mensch. Eine, die sich äußern kann, Schriftstellerin. Dafür bin ich dankbar. (HCP-K1-O1-00-6b: 839) Fast zehn Jahre später beschreibt Mora mit dem Begriff „erschrocken“ ihren Gemütszustand nach der Bekanntgabe ihrer Auszeichnung mit dem Chamisso- Förderpreis: Literaturen: Eine Abschlussfrage. Seit zwanzig Jahren wird von der Robert Bosch Stiftung der Chamisso-Preis zur Förderung der so genannten Migrationsliteratur ver‐ liehen. Ausgezeichnet werden Autoren nicht-deutscher Herkunft und Muttersprache für wichtige Beiträge zur deutschen Literatur. Würden Sie den Chamisso-Preis annehmen oder ablehnen? Kermani: 15.000 Euro! Mora: Das ist auch mein Kommentar. Als ich den Förderpreis zum Chamisso-Preis bekam, war ich zuerst erschrocken, aber dann habe ich ihn angenommen. Es ist ja keine Schande, diesen Preis zu bekommen. (Mora et al. 2005) In einem jüngeren Interview bestätigte Mora jedenfalls, dass die Verleihung des Chamisso-Preises im Jahr 2010 sie nicht „verletzt“ habe und ihr keine Etiketten aufgezwungen habe, denn sie „[war] schon weit genug und […] [hatte] keine Sorge mehr, in irgendeine Exotenecke gedrängt zu werden“ (Mora/ Sales Prado 2021). Die Gründe, warum Terézia Mora die Zuschreibung der Rolle der ‚Berufs- Fremden‘ riskiert, liegen offensichtlich in ihrer Biographie. Die Schriftstellerin wurde in der deutschsprachigen Minderheit von Sopron, Ungarn, geboren und verbrachte ihre Kindheit in Petöhàza, einem „500-Seelen-Dorf ” (Mora zitiert in Kramatscheck o. J.) nahe der Grenze zu Österreich, einer Gemeinde, in der sie vor allem aufgrund ihrer Zweisprachigkeit ein „Außenseiterleben“ führte (Mora zitiert in Weidermann 2004). Im Alter von neunzehn Jahren verließ sie Ungarn und ging nach Berlin, wo sie an der Humboldt Universität Ungarologie und Theaterwissenschaften studierte. Wie Mora selbst erinnert (2015: 15-16), brachte ihr die erste öffentliche Lesung einer Kurzgeschichte 69 beim Open-Mike-Wettbewerb der Berliner Lite‐ raturwerkstatt 1997 einen Vertrag mit Rowohlt für die Veröffentlichung einer Sammlung ein, die 1999 unter dem Titel Seltsame Materie erschien. Im selben Jahr gewann Mora den Ingeborg-Bachmann-Preis für einen weiteren Text aus derselben Sammlung, Der Fall Ophelia. In diesen Geschichten lässt Mora genau 144 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="145"?> die Prozesse der Ausgrenzung und der Konstruktion des Andersseins zu Wort kommen, die sie im ersten Teil ihres Lebens beobachtet hat, Das entspringt schon meiner Biographie, denn dieses Anderssein habe ich immer deutlich gespürt; als Kind eher als große Belastung - erst später habe ich es als Chance erkannt, weil einer, der außen steht, eine umfassendere, zumindest aber eine andere Perspektive hat. (Mora zitiert in Kramatscheck o.-J.) Mora entwickelt ihre Überlegungen zur Konstruktion von Fremdheit und insbesondere deren Verbindung zur sprachlichen Dimension in ihrem Roman Alle Tage (2004) weiter. Die Inspiration für diesen Roman entspringt dem Bruch zwischen Sprache und Territorium, zwischen Muttersprache und Identität, den die Autorin Anfang der 1990er Jahre in Berlin aus erster Hand erleben und beobachten konnte: Als ich - 1990, im Alter von 19 Jahren - nach Deutschland, genauer, nach Berlin, kam, konnte ich bereits etwas, das man eine deutsche Sprache nennen konnte. Aber zum einen stammte diese Sprache aus einem anderen Territorium: Minderheitendeutsch aus dem ländlichen Ungarn vs. Nachwende-Ostberlinerisch vs. Nachwende-Westberlinerisch vs. Humboldt-Universitätshochdeutsch vs. so weiter. Sie kommen mit Ihrer Sprache, die von vornherein deterritorialisiert worden wäre, in eine Situation, in der auch in der Sprache der bereits anwesenden Mehrheit gerade eine starke Wandlung vor sich geht. Sie können dem Schock, den sie gerade parallel erlebt, keinen Namen geben, und sie ebenso wenig. Ganz zu schweigen von all jenen anderen Nicht-Deutsch-alserste-Sprache-Sprechenden, die sich ebenfalls hier tummeln wie auf einem großen Umsteigbahnhof, und nicht alle sind freiwillig gekommen. 10 Jahre später wirst du einen Roman über sie schreiben, aber jetzt noch nicht. (Mora 2015: 12-13) Mora verweist hier zum einen auf die besondere Verortung ‚ihrer‘ deutschen Sprache: Von Anfang an als Sprache einer Minderheitengemeinschaft in einem Land, in dem die Muttersprache der Mehrheit eine andere war, und nun wieder übergesetzt durch die Migration des Subjekts, erweist sich Moras Deutsch als zweimal „deterritorialisiert“. Mit dieser Sprache kam die Autorin im Berlin der Wiedervereinigung an, wo sich die Veränderungsprozesse, die die deutsche Ge‐ sellschaft durchzogen, auch in der Prekarität der Sprache widerspiegelten. Um auf die Preisverleihung im Jahr 2000 und ihre Dankesrede zurückzukommen, ist es gerade die sprachliche Dimension, an der Mora ihre Kritik an dem Preis ansetzt, die eines seiner konstituierenden Elemente untergräbt. Hier wird die automatische Assoziation zwischen ‚Ausländersein‘ und ‚Fremdsein‘ auf der Grundlage von Moras sprachlicher Erfahrung umgestoßen: Für die Autorin war Deutsch keine ‚Fremdsprache‘, sondern eine ‚fremde Sprache‘, da es als etwas 5.1 Terézia Mora: das Minderheitendeutsch und die Autonomie der Literatur 145 <?page no="146"?> 70 Zu den verschiedenen übersetzten Werken von Mora gehört auch Péter Esterházys mo‐ numentalem Roman Harmonia Calestis, die im Jahr 2002 mit dem Jane-Scatcherd-Über‐ setzerpreis ausgezeichnet wurde. 71 Der Roman konzentriert sich auf den Trauerprozess, den der Protagonist Darius nach dem Selbstmord seiner Frau Flora durchläuft, deren ungarische Herkunft seit Der einzige Mann auf dem Kontinent bekannt ist. Aber erst in der zweiten Episode der Trilogie wird Floras Geschichte und Individualität ans Licht, und zwar auf zweierlei Weise: durch die Reise, die Darius von Berlin nach Ungarn unternimmt, und durch die Auszüge aus Floras Tagebuch, die ab dem zweiten Kapitel den unteren Teil jeder Seite des Textes einnehmen. In der diegetischen Fiktion liest Darius den Text, der eine deutsche Übersetzung des originalen Tagebuchs ist. Äußerliches für das Land galt, in dem Mora aufgewachsen ist. Folglich grenzte das Deutsche sie von ihrer Gemeinschaft ab und erzeugte dabei Fremdheit. Es ist in der Tat kein Zufall, dass sich Mora bei der Beschreibung ihrer eigenen Position innerhalb der literarischen Landschaft genau mit Kafka in Verbindung bringt: „Ich bin genauso deutsch wie Kafka. Ich komme ungefähr aus derselben Gegend“ (Mora/ Soergel 2009). Die Veröffentlichung von Alle Tage markierte den Beginn von Moras Ruhm im deutschsprachigen Literaturraum, was auch durch die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse im selben Jahr bewiesen wurde. Ihr nächstes Werk war Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009), der erste Band der dem Darius Kopp gewidmeten Trilogie, nach dem Mora den Chamisso-Preis erhielt. Trotzdem ist dieser Roman derjenige von Moras Werken, der am weitesten von der Literatur entfernt ist, die der Preis traditionell würdigte. Wie es in der Pressemitteilung zur Preisverleihung heißt, nennt Sigrid Löffler die Autorin in ihrer Laudatio eine „Grenzüberschreiterin“, die den Preis sowohl für ihr literarisches Schaffen als auch für ihre Arbeit als Übersetzerin 70 aus dem Ungarischen verdient (vgl. Robert Bosch Stiftung 2010). Der zweite Teil der Trilogie, Das Ungeheuer, kam 2013 heraus und wurde im selben Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Wie Anne Fleig feststellt (2019: 67-68), nimmt der ungarische Kultur- und Sprachraum bis zu diesem Band keine herausragende Stellung in Moras Produktion ein. Vielmehr neigt sie dazu, jeden expliziten Bezug zu geografischen Räumen, Sprachen oder Ursprüngen zu unterlassen. Im zweiten Teil der Kopp-Trilogie hingegen nehmen die ungarische Sprache und der osteu‐ ropäische Raum eine zentrale Stellung ein, insbesondere in Bezug auf die Figur der Flora, Übersetzerin und Ungarin. 71 Hinter dieser Figur verbirgt sich ein klarer autobiografischer Hintergrund. Diese künstlerische Entscheidung wurde nicht ohne Schwierigkeiten getroffen: Gab es wenigstens ein kurzes Zögern, es nicht zu tun? Warum muss sie unbedingt Ausländerin und warum unbedingt Ungarin sein? Doch, ja, natürlich, aber keiner 146 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="147"?> 72 Von nun an SM, im Literaturverzeichnis: Mora (1999). Aus den in der Analyse be‐ handenten Erzählungen wird als folgt zitiert: Seltsame Materie, SelMa, im Literatur‐ verzeichnis: Mora (1999a); STILLE.mich.NACHT, Stil, im Literaturverzeichnis: Mora (1999b); Der See, See, im Literaturverzeichnis: Mora (1999c); Der Fall Ophelia, Oph, im Literaturverzeichnis: Mora (1999d); Die Sanduhr, Sand, im Literaturverzeichnis: Mora (1999e); Ein Schloss, Schl, im Literaturverzeichnis: Mora (1999g). der Gründe dafür lag innerhalb des Textes. Außerhalb des Textes, ja, klar. […] Ich werde sowieso immer die Ausländerin sein. […] Dann kann ich ebenso gut auch sagen: Ich arbeite mit dem, was ich gut kenne. Mehr noch, ich kann mir sogar den nicht zwingenden Gag erlauben zu sagen: ab jetzt wird einfach immer jemand eine Ungarin oder ein Ungar in meinen Büchern sein. In Der einzige Mann auf dem Kontinent wird das noch nicht so eine große Rolle spielen, aber später, im zweiten Teil […] in dem das Ungarische eine Rolle spielen wird. (Mora 2015: 90-91) Diese Aussagen sind entscheidend, um zu verstehen, wie groß das Risiko für die Autorin ist, dass ihre Biografie zum Filter wird, durch den ihre Werke gelesen, verbreitet und erforscht werden. Laut Fleig (2019: 67-68) stellt die Einbeziehung von Floras Tagebuch in Das Ungeheuer eine echte Herausforderung für die psy‐ chologisierenden und autobiografischen Lesarten dar, denen die „Migrationsli‐ teratur“ traditionell unterworfen ist. Es ist, so die Wissenschaftlerin weiter, eine künstlerische Entscheidung, die Mora auch dank ihrer inzwischen geweihten - und etikettenfreien - Position in der deutschsprachigen Literaturszene treffen kann. Die Verleihung des Büchner-Preises folgt auf die Veröffentlichung der Kurz‐ geschichtensammlung Die Liebe unter Aliens (2016) und geht dem letzten Teil der Darius-Kopp-Trilogie, Auf der Seil (2019), der Reihe der Beobachtungen Flecken‐ verlauf. Ein Tage- und Arbeitsbuch (2021) und dem letzten bisher veröffentlichten Roman, Muna oder Die Hälfte des Lebens (2023) voraus. 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie Eines der Merkmale der zehn Kurzgeschichten, aus denen die Sammlung Seltsame Materie 72 besteht, ist die Stilisierung des Raums, die durch das Fehlen expliziter geografischer Angaben bewusst anonym gehalten wird, abgesehen von dem Verweis auf die drei Grenzen, an denen die beschriebenen Gemeinden angesiedelt sind: „Die Stadt ist an drei Seiten von Grenze umgeben. […] In der Umgebung unserer Stadt gibt es viele Burgen und Aussichtstürme, denn diese steigenden, fallenden Wälder waren immer schon die Grenze zu irgend etwas“ (Sanduhr 194). Das Erzählte wird von der Präsenz der drei Grenzen überlagert, 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie 147 <?page no="148"?> die den Raum auszufüllen scheinen und die Hauptfiguren darin gefangen halten. Wie man in der Geschichte Der See liest: „Alles ist hier Grenze“ (See 58). Es ist offensichtlich, dass die Geschichten den gleichen Schauplatz teilen, dank zahlreicher interner Verweise und der Wiederkehr von beschreibenden Elementen der Landschaft. Es ist Mora (2015: 21-22) selbst, die auf die wesent‐ lichen Bestandteile der Landschaft hinweist: das Schilf, der Schneematsch und das Wasser, die leeren, vom dünnen Regen aufgeweichten Straßen, die Akazi‐ enbäume, die zu überquerende Wege und die Melassefabrik. Die unvollständigen Beschreibungen werden durch die Fokussierung der Perspektiven auf dieselben Merkmale der Umgebung ausgeglichen, alle Elemente ihrer ‚seltsamen Materie‘: „Wenn man aus der Stadt kommt und aus dem Bus auf sie hinausblickt, scheint meine Heimat wie aus einer einzigen zusammengegorenen Materie zu sein“ (SelMa 19). Die von diesen Grenzen umgebene Gemeinschaft wird durch Figuren an ihrem Rande beobachtet: Die meist namenlosen autodiegetischen Erzähler‐ stimmen sind größtenteils junge Frauen und in zwei Fällen Jungen, die nicht nur aufgrund ihres Alters, sondern auch aufgrund ihrer ausländischen Herkunft, des sozialen oder ethnischen Hintergrunds ihrer Familie und aufgrund ihres Geschlechts von der Erwachsenengesellschaft ausgeschlossen sind. Die Neben‐ figuren werden in der Regel durch die Funktionen identifiziert, die sie in Bezug auf die Protagonist: innen ausüben („Mutter“, „Großvater“, „mein schöner Bruder“ und so weiter) oder entsprechend ihrer Rolle in der Gemeinschaft („Priester“, „Lehrer“ und „Lehrerin“). Insbesondere sind sie oft Ausdruck der Unterdrückungsdynamik, die das soziale Universum strukturiert und auf die Mora selbst in ihren Poetikvorlesungen Nicht sterben verweist: Meine ersten Narrative waren die der Repression. […] Oberflächlich betrachtet, war der real existierende Sozialismus die Ursache für die Enge in allem, doch hinter/ unter/ neben dieser Tyrannei wirkte ein ganzer Komplex mehrerer durchweg autoritärer Systeme, die älter waren als der real existierende. Zusammengefasst, vereinfacht und verkürzt: bäuerliche Lebensweise, katholische Religionsausübung sowie (…) die Zugehörigkeit zu einer ethnischen (genauer: sprachlichen) Minderheit. Jedes dieser Systeme befand sich zu meiner Zeit bereits in der Auflösung bzw. war mitten in dieser erstarrt. Von der traditionellen Lebensweise katholischer Bauern ist der Gemüsegarten geblieben, der Kirchgang zu besonderen Anlässen sowie die Generaltugend Arbeitsasketismus mit den dazu gehörigen Sünden: Vernachlässigung des körperlichen Wohlergehens, Misstrauen gegenüber jeder Form von Intellektua‐ lität, sexuelle Frustration, gelebte Vorurteile, weit reichende seelische Verwahrlosung, Alkoholismus, Härte des Herzens und Gewalttätigkeit. (Mora 2015: 10) 148 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="149"?> Obwohl stilisiert und auf ihre minimalen Bestandteile reduziert, ist jede dieser Formen der Unterdrückung ein integraler Bestandteil des Lebens der Protagonist: innen: Nie direkt von Mora benannt, die auf jede psychologische Abschweifung und sozio-historische Kontextualisierung verzichtet, sind sie der echte Stoff, aus dem Land und Gemeinschaft bestehen. Die zehn Geschichten sind somit als Kapitel einer einzigen chorischen Erzählung um denselben Ort zu verstehen. Zudem lassen sie sich als Variationen des Themas „Fremdsein“ interpretieren (Kegelmann 2010: 25). Wie eine unsichtbare Kraft ist diese Fremdheit eng mit der Gewalt verbunden, welche die ganze Luft der Gegend zu durchdringen scheint, zusammen mit dem süßlichen Geruch der Melassefabrik: „Um mich herum war alles Gewalt“ (Schl 246). Ein Beispiel hierfür ist die Kurzgeschichte Der Fall Ophelia, in der der stig‐ matisierende Blick der Dorfbewohner eine zentrale Rolle spielt. Die Familie der gebrechlichen Protagonistin, die von ihrem Schwimmlehrer „Ophelia“ genannt wird, ist vor kurzem in das Dorf gezogen und gehört der deutschsprachigen Minderheit an. Die mehrsprachige Kompetenz der Familie, die Abwesenheit der Männer (die Mutter und die Großmutter sind beide geschieden) und das hohe Bildungsniveau der Frauen machen sie in den Augen der Gemeinschaft verdächtig. So äußert sich Ophelias Mutter: Mach dir nichts daraus. Wir sind die einzige fremde Familie im Dorf, wenn man das eine Familie nennen kann, diese drei Generationen Frauen, und alle geschieden, erzählt man sich, kommen hierher, Kommunisten wahrscheinlich, christlich auf keinen Fall. Sprechen Sie fremd und beten Sie nicht. (Oph 117) In der Erzählung treten die unterdrückerischen Strukturen der Gesellschaft, repräsentiert durch Bildungseinrichtungen und die Kirche, in ihren jeweiligen Inkarnationen, nämlich der Lehrerin und dem Priester, sehr deutlich hervor: Guten Tag, sage ich zu Herrn Priester, aus Versehen in unserer Sprache. Er versteht es trotzdem, bleibt stehen, über mir. Und fragt mich, warum ich ihn denn nicht lobe, anstatt ihm einen guten Tag zu wünschen. Ich stehe vor ihm, mein Badeanzug ausländisch und lila, seine Soutane schwarz und schwer. (Oph 117) Dieselbe Figur sagt zu Ophelias Familie, die sich in der Kirche nicht an die Gebete in der Landessprache erinnert: „Zur Hölle […], zur Hölle werdet ihr alle fahren“ (Oph 122). Obwohl es im Universum von SM nicht möglich ist, eine klare Unterscheidung zwischen Opfern und Täter: innen zu treffen, werden die Erzähler: innen dennoch von den Nebenfiguren unterschieden, da sie von dieser Ausgrenzungsdynamik direkter betroffen sind. Als „Dauergäste“ der Grenze 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie 149 <?page no="150"?> (Propszt 2012: 78) sind sie nicht wirklich integriert, aber gleichzeitig können sie die Dörfer nicht verlassen. Neben der Gewalt, die sie erdulden - und an der sie jedoch oft beteiligt sind -, werden diese Figuren „als Andere“ stigmatisiert (Kegelmann 2009a: 101). Folglich beschäftigen sie sich mit Ausbruchsfantasien, die sich jedoch nur selten verwirklichen. Anstatt jemanden draußen zu halten, scheinen die drei Grenzen der Geschichten also eher die Funktion zu erfüllen, die Figuren in einer Schwellenposition zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit drinnen zu halten. Die beiden wichtigsten Leitgedanken, um die sich die Geschichten drehen, sind also die durch die Präsenz der Grenzen aufgezwungene Unbeweglichkeit und die subversive Aktion des imaginierten Fortgehens, die von allen Hauptfi‐ guren geplant, verfolgt oder gefürchtet wird. In der üblichen Frage-und-Antwort- Formel, welche ihre Poetikvorlesung Nicht sterben charakterisiert, beschreibt Mora den thematischen Komplex der Sammlung folgendermaßen: [D]iese Geschichte [berichtet] nicht über ein isoliertes Phänomen […], sondern [gehört] zu einem Komplex mit mehreren verwandten Geschichten […]. Inwiefern verwandt? Insofern, dass sie alle vom Fortgehen handeln. Fortgehen, von wo? Von dort, wo ich herstamme, Wo kommen Sie her? Aus einem Dorf in Mitteleuropa, umgeben von Grenzen. (Mora 2015: 20) Durch die Flucht hoffen die Protagonist: innen, dem Schicksal des Verfalls zu entkommen, das über dem Land und seinen Bewohner: innen schwebt - Alkoholismus, Wahnsinn, Selbstverlust, Gewalt. Dies ist jedoch eine ganz individuelle und einsame Rettung. 5.2.1 „[D]ie Grenze beugt sich, umflicht die Dörfer“: STILLE.mich.NACHT und Der See Ein Blick auf die verschiedenen Geschichten lässt die Merkmale erkennen, mit denen der Raum strukturiert ist: „Die Felder, durch die wir waten, sind matschig. Elementar. Von Mutter habe ich gelernt, immer ein zweites Paar Schuhe mitzunehmen, wenn ich in die Stadt gehe“ (SelMa 11-12); „Und sie wissen, daß das Schilf Geräusche macht, sie wissen, daß die Bäume Geräusche machen, das sich durchbiegende Laub, der Weißdorn, die Klettenblüten, sie wissen, daß die aufgepflügte Erde Geräusche macht wie Säuglingsschmatzen. Sie wissen, es gibt Wassergräben“ (Stil 22); „Der See streckt sich wie eine lange 150 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="151"?> 73 Ein Beleg für diese Interpretationsrichtung ist das, was der Protagonist von Der See im Zusammenhang mit der Lockerung der Grenzkontrollen sagt: „Der Weg bis zum Dorf ist seit einiger Zeit wieder frei. Die Grenzhüter haben sich zurückgezogen, unsichtbar in die Wiesen, ins Moor, und es kommen immer mehr ausweislose Fremde über die Mauer zu unserer Backstube geklettert“ (See 57-58). Zunge über die Grenze. Wie nennen ihn See, obwohl uns nur der unterste Zipfel von ihm gehört, wo er eigentlich kein See mehr ist, sondern nur noch Schlamm und Schilf “ (See 56). Bei näherer Betrachtung sind diese minimalen Elemente vor allem Attribute der eigentlichen Grenzlinie, während die Straßen, die ebenfalls häufig in den Geschichten auftauchen, die Möglichkeit eines Aufbruchs in Aussicht stellen, den die Figuren jedoch nicht unternehmen können: Die Grenze umfasst das gesamte Territorium sowie das Leben der Figuren bereits in den minimalen Beschreibungen des Raums. Die Dimension der Liminalität charakterisiert also nicht nur in geografischer Hinsicht, sondern auch das gesamte diegetische Universum. Obwohl Mora keine konkreten zeitlichen Angaben teilt, kann man aus bestimmten textlichen Details schließen, dass die Handlungen in Osteuropa um den Kollaps der Sowjetunion und den Fall der Berliner Mauer spielen. 73 Außerdem teilen die Protagonist: innen einen existentiellen Grenzraum, denn sie sind alle Jugend‐ liche oder junge Erwachsene. Diese grenzwertige Dimension ist besonders in den Geschichten relevant, in denen man sich den Grenzlinien direkter nähert, d. h. in der zweiten, STILLE.mich.NACHT („Die Verwahrung ist noch näher an der Grenze als unser Posten draußen vor dem Moor“, 27), und in der dritten, Der See („Der See streckt sich wie eine lange Zunge über die Grenze“, 56). Der Protagonist von STILLE.mich.NACHT arbeitet als Grenzhüter. Er ist ein ahnungsloses, gleichgültiges Individuum, dessen Unbeweglichkeit sowohl mit seiner Freundin Hanna kontrastiert, die Fotografin werden und das Land verlassen möchte, als auch mit Fisch, einem anderen Grenzhüter, der sich der Absurdität der Präsenz der Grenze und ihrer menschlichen Kosten viel be‐ wusster zu sein scheint. Der Protagonist hingegen misst die Erfahrungen seines eigenen Lebens durch die Perspektive der Grenze. So erinnert beispielweise das Schlafen in Hannas Bett in völliger Stille, um nicht von ihrer Familie entdeckt zu werden, an die Routine der Nachtpatrouille: Als es wieder ruhig geworden ist, denke ich daran, wie wir regungslos im Ufergras liegen und lauschen, ob nicht jemand kommt. Und dass wir es noch nie in diesem Bett gemacht haben, weil ich ja eigentlich gar nicht anwesend bin im Haus ohne Schlüssel (Stil 26-27). 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie 151 <?page no="152"?> Ein weiteres Beispiel: Unter den vielen Bildern, die in der Silvesternacht im Fernsehen laufen und die Feierlichkeiten auf der ganzen Welt zeigen, ist die Aufnahme der anderen Grenze, der Ostgrenze dasjenige, das den Protagonisten am meisten beeindruckt: „Die Kamera zeigt wieder die Sektflasche, die zwischen den Luftblasen tanzt. […] Dann ein kahlköpfiger Soldat in einem Häuschen. Ein Lkw zieht vor seinem Gesicht vorbei. Jetzt endlich sehe ich, wie es da aussieht“ (Stil 47). Die Figur hat keine anderen Vergleichsmaße, er kann sich nichts anderes als die Grenze vorstellen: „Ich stelle mir vor, wie es an der anderen, der Ostgrenze wäre, und, merkwürdig, ich stelle es mir dunkel vor“ (Stil 24). Die meisten Hauptfiguren spüren den Ruf des Fortgehens, kommen ihm jedoch nicht immer nach. In der Tat gelingt es nur wenigen von ihnen, ihn zu verwirklichen, und infolgedessen verschwinden sie aus der diegetischen Welt. In Durst besteht ein Bruch zwischen der Grenzüberquerung der Protagonistin und ihrer Rückkehr anlässlich der Beerdigung ihres geliebten Großvaters. Ebenso geht die Erzählerstimme von Ein Schloss kurz vor ihrem Fortgehen aus den Augen verloren. Daher lässt sich behaupten, dass in der Welt von SM nichts jenseits der Grenze existiert, und dass auch die Figuren verschwinden, die diese Grenze überschreiten. Die Erzählungen sind daher durch die Gegenüberstellung von Stillstand und Bewegung gestaltet, was oft anhand der Figurenkonstel‐ lation erzeugt wird. Wie Propszt (2012: 78) hervorhebt, spiegeln sich die Erzähler: innen aufgrund ihres ausdrücklichen oder unbewussten Strebens nach dem Fortgehen in den Figuren der Flüchtlinge wider, welche im Laufe der Geschichten versuchen, das Land zu durchqueren und seine Grenzen illegal zu überschreiten. Bei ihrer stummen Überquerung des diegetischen Raums von einer Geschichte zur nächsten manifestieren sich diese Gestalten als Geister, ohne Ursprung oder Ziel. Diese Verbindung wird in der bereits eingeführten Geschichte STILLE.mich.NACHT deutlich. In der Erzählung wird ein Mann beim Versuch der illegalen Grenzüber‐ schreitung in Gefangenschaft genommen und der Protagonist soll aufgrund seiner Mehrsprachigkeit für ihn als Dolmetscher fungieren. Ausgehend von der sprachlichen Kompetenz des Erzählers deutet Fisch in diesem Zusammenhang eine Verbindung zwischen ihm und dem Flüchtling an: „Fisch fragt mich, was ich denn bei der Maulwurftruppe zu suchen hätte, mein Platz sei drinnen bei den Flüchtlingen, wozu könnte ich schließlich die ganzen Fremdsprachen […]“ (Stil 24). Die Herstellung solcher Verbindung setzt sich im weiteren Verlauf der Geschichte fort: Das Gesicht des fremden Mannes wird als „regungslos“ beschrieben, ein Adjektiv, das häufig in Bezug auf den Protagonisten verwendet wird. Außerdem weist der Mann Ähnlichkeiten mit dem Vater des Erzählers 152 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="153"?> auf: „Der Vater ist auch einmal geflüchtet. Aber wohin und woher? “ (Stil 37). Die Kontinuität zwischen Flüchtling und dem Vater wird vor allem durch ein physisches Detail angedeutet: Als der Erzähler den Mann zum ersten Mal sieht, beschreibt er seine Füße wie folgt: „Aus dem linken [Turnschuh] bricht sein großer Zeh durch den Stoff, er ist merkwürdig nach oben gestellt, sieht steif aus. […] Ich muss schon wieder zu diesem Zeh schauen. Diesem steil aufgestellten Gegenstück eines Daumens“ (Stil 31, Hervorhebung von mir). Ein paar Seiten später führt der Erzähler die Figur des Vaters ein: „An der verkrüppelten Hand steht der Daumen, dieses Gegenstück zu einem großen Zeh, steif ab“ (Stil 35, Hervorhebung von mir). Die Weigerung des Protagonisten, diese Verhält‐ nisse anzuerkennen, entspricht der Ablehnung seines eigenen Wunsches zu entkommen, dem Ruf der Außenwelt. Während der Neujahrspatrouille, klettern Gestalten auf die Wachtürme und feiern fröhlich mit Alkohol und Knallern. So reagiert der Protagonist: Dort drüben! […] Nicht sperren lassen. Ich denke an Hanna. Ich denke an meine Schwester. Meine Schwester, die an mich nicht denkt. Die es eiliger hat als ich. Die drüben ist. […] Sie können mich nicht locken. Nicht mit der Sektflasche kichernd über die Grenze. (Stil 44-45) Neben den Flüchtlingen verkörpern auch andere Nebenfiguren die Aussicht des Grenzenüberschreitens, beispielsweise diejenigen, die das Land bereits verlassen haben. Ob vor der Erzählzeit oder in der Erzählgegenwart, die Flucht wird nie beschrieben und in der Folge weiß man nichts mehr von den Fortgegangenen: „Mein schöner Bruder ist fort. Er ist letzten Herbst mit drei anderen Männern nach drüben geschwommen. Seitdem gibt es keine Nachricht von ihm. Man sagt, er sei tot, aber wer weiß, ob das stimmt“ (See 68). In STILLE.mich.NACHT wird diese Spannung zwischen Bewegung und Stillstand sprachlich in der Weihnachtskarte dargestellt, welche die längst ausgewanderte Schwester des Protagonisten an die Familie schickt. Dieses Element führt zwar die Außenwelt in die Geschichte hinein, artikuliert jedoch zugleich den Drang nach Stillstand des Protagonisten: Auf der Karte steht das Weihnachtslied Stille Nacht, das im Titel der Geschichte zu „STILLE. mich. NACHT“ wird, wobei das Verb ‚stillen‘ nicht so sehr in seiner Bedeutung von ‚säugen‘ und dem damit verbundenen Sattsein zu verstehen ist, sondern in der von ‚besänftigen‘ und ‚beschwichtigen‘. Dass die Bewegungslosigkeit bzw. -Panik durch den Protago‐ nisten personifiziert wird, lässt sich zudem in der Beziehung zwischen ihm und Hanna ablesen, denn letztere ist vom Bewegungsbedürfnis gekennzeichnet, das der junge Mann immer wieder zu ‚stillen‘ versucht: „Sie wisse auch nicht warum […], aber manchmal wünscht sie sich, unbotmäßig zu sein. […] Lärm machen, 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie 153 <?page no="154"?> sagt sie. Bewegungen. Und Schläge empfangen“. (Stil 26); „Ich liege regungslos, das Bett unter mir bleibt stumm. Ich liege auf der Seite, mit den Händen umfasse ich Hannas breite Schultern […], halte sie zurück […]“ (Stil 26, Hervorhebung von mir). Die Flüchtlinge, Hanna, die Feiernden auf der anderen Seite der Grenze: Sie alle sind opake Spiegelungen des Wunsches des Protagonisten zu fliehen, den er nicht zu akzeptieren wagt, geschweige denn in die Tat umzusetzen. In der Silvesterszene, die die Geschichte abschließt, wandern einige feierwütige Menschen furchtlos, fröhlich und unbeschwert an der Grenze entlang, trotz der Anwesenheit bewaffneter Soldaten: Gehen Sie zurück, sage ich und zeige mit dem Gewehr die Richtung. Sie lachen. Sie tragen die Schilfgarben vor sich her wie ein Banner. Ich sehe ihre Spitzen lange durch die Felder tänzeln. Nicht ablenken lassen, denke ich […]. Und Halali, sie stehen auf dem Aussichtsturm. Dort drüben! , und sie zeigen in meine Richtung. […] Hey, höre ich Fisch rufen hey! Beim Turm lassen sie Rakete hochgehen. (Stil 44-45) Kurz darauf versucht eine große Anzahl von Personen, die dem Erzähler in der verwirrenden Dunkelheit der schlammigen Grenze wie eine regelrechte Horde erscheinen, die Kontrollen zu passieren. In der darauffolgenden Aufregung er‐ öffnen die Grenzhüter das Feuer und töten Fisch. Daneben liegt der Protagonist, der sich zu Boden geworfen hat, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Die Verteidigung der Grenze ist also nicht durch eine äußere Gefahr motiviert: Sie hat vielmehr die Funktion, die Figuren zu zwingen, in dem Gebiet zu bleiben und Teil einer Gemeinschaft zu sein, die dank eben dieser Grenze weiterbesteht. Die Anwesenheit der Grenze ermöglicht die Aufrechterhaltung einer Trennung zwischen einem ‚wir‘, diesseits des Schilfs, des Schlamms und des Stacheldrahts, und einem ‚sie‘, denjenigen, die auf der anderen Seite sind oder auf die andere Seite zu gehen versuchen: Ich weiß nicht, woher sie es wissen, aber sie wissen es. Oder sie wissen es nicht, aber es ist ihnen egal. […] Die Nacht ist ein Kübel mit geteerten Wänden und reicht bis weit hinauf. Wir stehen darin. Sie waten darin. […] Ich weiß nicht woher sie es wissen, aber sie wissen es. Wir stehen im Zweihundert-Meter-Abstand, wir sehen einander nicht. (Stil 21) Die komplexe Trennungsfunktion der Grenze wird in Der See besonders evident. Die Familie der jungen Erzählerin wohnt an der durch die Grenze zweigeteilten Wasserfläche, die ihre einzige Einnahmequelle darstellt, denn neben dem Fischfang kommt sie über die Runden durch den illegalen Flüchtlingshandel, der vom Großvater der Protagonistin betrieben wird. Auch deswegen gelten 154 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="155"?> die Familienmitglieder in der Gemeinde als Ausgestoßene, was sich in ihrer räumlichen Verortung widerspiegelt. Nicht nur liegt ihr Haus am See, sondern es ist auch durch nicht weniger als zwei Betonmauern vom Dorf getrennt, was bedeutet, dass die Familie von allen Seiten durch Grenzen abgesondert wird (vgl. Kegelmann 2009a: 102-103). Aus diesem Grund verwechselt der Flüchtling, der in der Erzählung als „der Fremde“ genannt wird (See 53), die Grenze und denkt, sie schon überquert zu haben: „Er weiß nicht, wo er gelandet ist. Er begreift erst nach einiger Zeit, daß sich diese mehlbestäubten Menschen immer noch im falschen Land befinden. Oder vielmehr: daß er selbst sich im falschen Land befindet“ (See 55). Auch in den anderen Geschichten ziehen sich Trennlinien gerade durch die Dorfgemeinschaften: Die eine sondert die Zigeuner ab, deren Stigmatisierung in mehreren Geschichten im Hintergrund durchläuft; die andere die deutschsprachige Minderheit, die durch Ophelias Familie repräsentiert wird; eine weitere wird zwischen den oft unterworfenen Frauen und häufig gewalttätigen Männern gezogen. Zusammenfassend lässt sich die Funktion dieser Grenzen als vielschichtig verstehen. Einerseits handelt es sich dabei um konkrete Grenzen: Es gibt Soldaten, die sie verteidigen, Flüchtlinge, die versuchen, sie zu überqueren, und Menschenhändler, die ihnen dabei helfen und davon profitieren. Andererseits ist jedoch nicht klar, was oder wen genau diese Grenze trennt und, noch wichtiger, warum diese Trennung notwendig ist. Darauf macht auch Mora selbst aufmerksam: Was für Grenze? Physische (es ist eine vollständige und eine teilweise geschlossene Landesgrenze […]) und ideelle. […] Erstere sind leicht, sie sind so, wie man sie kennt, Stacheldraht und so weiter. Letztere sind schwierig. Ich überblicke sie auch noch nicht ganz […]. (Mora 2015: 20) Laut Propszt (2012: 78) besteht die narrative Funktion der materiellen Grenze darin, die gesellschaftliche Trennungslinie und die Mechanismen ihrer Kon‐ struktion zu verdeutlichen. Kurz gesagt, der Kern der Geschichten sind die Pro‐ zesse der Konstruktion des Außenseiterseins, der Fremden, die Art und Weise, wie das ‚wir‘ im Gegensatz zur Bildung eines ‚sie‘ entsteht. So wird die Grenze in Moras Werk zu einem ‚Zeichen‘, das die Dynamik der Marginalisierung anzeigt, die die Individuen innerhalb der Gemeinschaft betrifft (vgl. Kegelmann 2009a: 105). Die Dimension der Grenze hat also sowohl einen konkreten als auch einen metaphorischen Wert und ist laut Mora auf die Darstellung der Trennung zwischen Ost und West nicht zu reduzieren: „Noch einmal: welche Grenze? […] Diejenige, die dieses rohe, armselige Leben von einem geheimnisvollen ‚Drüben‘ trennt, wobei das ‚Hier‘ nicht der ‚Osten‘ ist und das ‚Drüben‘ nicht der Westen, 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie 155 <?page no="156"?> 74 Nichtsdestotrotz identifizieren die Umschlagrückseite und die erläuternde Passage am Ende des Bandes in der Ausgabe von 1999 den Schauplatz der Geschichten mit ungarischen Dörfern an der österreichischen Grenze - also der Gegend, in der Mora ihre Kindheit verbrachte. Ebenso finden sich zahlreiche Hinweise auf Ungarn in frühen Rezensionen (z.B. siehe Der Spiegel 1999), in verschiedenen Studien sowie in der Pressemitteilung der Robert Bosch Stiftung, in der die Verleihung des Förderpreises an Mora angekündigt wurde (vgl. HCP-K1-O1-00-1). Laut Propszt (2012: 75-76) stellt die Identifizierung der Standorte der Sammlung eine Einschränkung des Potenzials der Geschichten dar. Hier lassen sich meines Erachtens die Risiken der automatischen Vermischung von Biografie und Schreiben erkennen, die Mora von Beginn ihrer Karriere an ablehnte. das wäre zu banal“ (2015: 27). 74 Es lässt sich folglich behaupten, dass die Grenzen auch kulturelle bzw. soziale Züge aufweisen. Zudem fungiert die Grenze auch als eine psychologische Hemmung: Alle Figuren haben ihre Dynamik, d. h. die allgegenwärtige Möglichkeit ihrer Entstehung, introjiziert, und diese Art von metaphorischer Grenze behindert die Entwicklung ihrer Individualität: Die Grenze verläuft zwischen Freiheit und Gefangenschaft, zwischen Macht und Ohnmacht. So kann man das natürlich in einem erzählenden Text nicht hinschreiben, auch werde ich hier wieder zu den konkreten Dingen zurückkehren und über die konkrete Grenze zwischen Schilf und Schlamm in der Dunkelheit erzählen. (Mora 2015: 27) Das Überschreiten der Grenze erfordert daher einen Akt der Selbstbestimmung, der die Unterwerfung unter oppressive soziale Strukturen ablehnt, Dynamiken, die für das Überleben der Hauptfiguren als Individuen gefährlich sind, wie Propszt (2012: 82) argumentiert: „Mit der Überschreitung der äußeren Grenze, der Grenze des Landes, ist für sie die Überschreitung einer inneren Grenze verbunden, der Grenze der Abhängigkeit […]“. Es lässt sich behaupten, dass die Erzählungssammlung die verschiedenen Deklinationen und Mittel dieses agierten, gewünschten oder abgelehnten Übergangs von der Unbeweglichkeit zum Handeln untersucht und dass dieser Übergang am Ende symbolisch end‐ gültig vollzogen wird. Da in der letzten Geschichte, Ein Schloss, die Protagonistin der ersten Geschichte wieder auftritt und die Umgebung verlässt, schließt sich die Bewegung der gesamten Sammlung kreisförmig, chronologisch und zentrifugal ab. Im Folgenden wird schließlich das Instrument „des Aufbruchs“ untersucht, das Mora selbst als sein Hauptmittel beschreibt, und zwar „die 156 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="157"?> 75 Jede Aktivität, die Einsamkeit und individuelle Entwicklung ermöglicht, dient als Instrument des Widerstands: zum Beispiel das Schwimmen für Ophelia, das Boxen für den Protagonisten von Die Lücke (Mora 1999d). Sprache. Entweder in Form von Sprachkenntnis oder indem die Stimme benutzt wird“ (Mora 2015: 26). 75 5.2.2 Die Sprache der Grenze In den Geschichten zeichnen sich mehrere Figuren durch einen besonderen Akzent oder eine andere Muttersprache als die der Gemeinschaft aus. Ihre Artikulationsschwierigkeiten entsprechen der Unmöglichkeit, sich in den Dör‐ fern zu integrieren: Die Sprache ist eines der Elemente, die ihre Randstellung signalisieren. Beispielsweise strebt die Protagonistin der ersten Geschichte, Seltsame Materie, danach, Schauspielerin zu werden und macht sich Gedanken über ihre von der Norm abweichende Aussprache: Ein Lehrer sagte einmal zu mir, ich würde lispeln, und er zeigte mir auch gleich, wie man das S bildet: mit der Zunge hinter den Zähnen. Er sagte dann aber auch: Dieses A wird man in seinem Leben nicht mehr los. Ich sage zu meinem Bruder, es würde nichts nützen zu sagen, ich käme woanders her. Sie würden sowieso hören, woher ich komme. (Stil 13) In STILLE.mich.NACHT agiert die Mehrsprachigkeit des Protagonisten als Fremdheitszeichen und hindert ihn daran, sich in die Gemeinschaft zu inte‐ grieren, wie es sich aus dem folgenden Dialog zwischen ihm und Fisch schließen lässt: Warum haben Sie die Schule geschmissen? […] Ich sage: Ich habe nichts verstanden von dem, was da vor sich ging. Ich habe die Worte nicht verstanden. Ein einziges Chaos. Das geht mir nicht ins Gehirn. Ich erzähle ihm, ich habe im Ausland gelebt. Und als ich hierherkam, als mich unser Vater einfach wieder hierherbrachte, hatte ich das Gefühl, ich verstehe meine eigene Vatersprache nicht. Ich spreche fünf Sprachen. Und ich habe nicht eine verstanden. Und nach einer Pause: Ich hab’s aufgegeben. (Stil 23-24) Als er jedoch anstelle des Dolmetschers gerufen wird, der seinerseits vom Flüchtling an der Lippe verletzt wird, scheint der Protagonist trotz seiner enormen Sprachkenntnisse nicht in der Lage zu sein, mit dem Fremden zu kommunizieren. Im Laufe des Textes spricht der Junge den Mann zwar auf Französisch, Englisch, Russisch und Italienisch an, was sich jedoch als ver‐ 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie 157 <?page no="158"?> 76 Bei den meisten Einträgen im Glossar am Ende des Bandes (251-252) handelt es sich um Übersetzungen der Sätze in den verschiedenen Sprachen, die der Protagonist von STILLE.mich.NACHT während des Gesprächs mit dem Flüchtling ausprobiert. Zwei weitere Einträge erläutern hingegen Bezüge, die den Leser: innen entgehen könnten, da geblich erweist, da der Gefangene ausschließlich Rumänisch kennt, was ein schuldbeladenes Unbehagen beim Protagonisten erweckt: Schließlich sage ich, und die Stimme zittert mir, weil was, wenn das die einzige Sprache ist, die er kann und ich nicht […]. Hat der Befragte es verstanden? fragt der Diensthabende betont formell. Laut Vorschrift müßte ich dem Mann jetzt dieselbe Frage stellen, aber ich tue es nicht. Ich weiß einfach nicht, was ich machen würde, wenn er auch darauf nicht reagiert. […] Ich zittere […]. Dabei ist das alles nicht meine Schuld. Ich spreche fünf Sprachen. Rumänisch gehört nicht dazu. (Stil 32-33) Wie in Der See deutlich wird, fungieren die fremden Sprachen als weiterer Aussonderungsmechanismus für die Figuren: „Großvater zog immer alleine ins Schilf und sprach nie, mit niemandem, und wenn, dann hatte er einen Akzent. Großvaters Muttersprache wird auch jenseits des offenen Wassers gesprochen. Das machte ihn verdächtig“ (See 57). Besonders wird dies in Der Fall Ophelia thematisiert: „In der Geschichtsstunde drehen sich alle um und starren mich an. Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist“ (Oph 116). Um sich zu integrieren, beschließen die Frauen - Ophelia, ihre Mutter und Großmutter - zur Messe zu gehen, aber auch hier verrät sie ihre Sprache: „Aber die Worte kehren sich im Mund, wir verfehlen das Gebet. Unter dem Kanariengelben Turm drehen sich alle um und starren uns an“ (Oph 121). Es ist klar, dass angesichts der Trennung zwischen den beschriebenen Ge‐ meinschaften und der Außenwelt die sprachliche Vielfalt und Mehrsprachigkeit der Figuren die Einheit der kollektiven Dimension untergräbt. Andere Sprachen, die „jenseits des offenen Wassers“ (See 57) gesprochen werden, wie das Idiom des Großvaters in Der See, signalisieren die Anwesenheit anderer Gemeinschaften jenseits der Grenzen und erweisen sich daher als gefährliche Erinnerungen an die Außenwelt. Angesichts des Vorhandenseins mehrerer Fremdsprachen im Text ist eine grundlegende Tatsache festzustellen: In dieser Sprachpalette fehlt die Sprache des Ortes, die theoretisch die Muttersprache der Gemeinschaft wäre. Im Gegen‐ teil, es werden Sprachen genannt, die als ‚andere‘ wahrgenommen werden - Rumänisch, Deutsch, Französisch. Sie erscheinen entweder im Original, getrennt vom Text in Kursivschrift und mit einer Übersetzung im Glossar am Ende der Sammlung 76 oder, im Falle des Deutschen, werden sie angegeben 158 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="159"?> sie Teil der ungarischen Sprachtradition sind. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es in Moras erstem Roman keine Übersetzungen der fremdsprachlichen Ausdrücke gibt, die im Text vorkommen. und fiktiv übersetzt. Letzteres erzeugt eine Art simulierten Verfremdungseffekt, wenn man bedenkt, dass der Originaltext auf Deutsch verfasst wurde. Aus diesen Gründen darf man sich fragen, in welcher Sprache sich die Figuren an der Grenze ausdrücken. Eine auf Moras Biographie beruhende Antwort wäre kurzgreifend, denn trotz der deutlichen Analogien verhindert die Aufhebung der räumlichen Angaben im Text gezielt die Identifizierung des diegetischen Settings mit Moras Ursprungsgegend. Entsprechend wäre meines Erachtens die Identifizierung der Dorfsprache mit dem Ungarischen grundsätzlich falsch. Es lässt sich vielmehr behaupten, dass die den Dörfern zugehörige Sprache eigentlich kein Element der ‚seltsamen Materie‘ bildet, welche diese Gemeinschaften an der Grenze Gestalt gibt. In der Tat fehlt hier eine Sprache, die als verbindendes Mittel der Gemeinschaft fungiert, das heißt eine Muttersprache der Gemeinde. An ihrer Stelle ist eine Sprache, die Andersartigkeit signalisiert bzw. schafft, eine ‚fremde Sprache‘. Der einzige Hinweis auf eine Sprache, die ‚eigen‘ ist, findet sich in der ersten Erzählung, in der die Protagonistin und ihr Bruder einen privaten Kommuni‐ kationscode benutzen, den sie ausgehend der Mendelejew’schen Tabelle der Elemente entwickelten: Die Elemente in der Tabelle Mendelejews, die mein Bruder, als er noch zur Grund‐ schule ging, auswendig lernte. Die Tabelle hing über meinem Bett, weil ich sie lernen sollte. Mein Bruder lernt aber nicht die vollen Namen, auch Wasserstoff, Helium usw., sondern nur die Zeichen […]. Manchmal sang er sie […] vor sich hin. Ha-He-Li-Be […]. Den Tanten, die ihn unter ihren Kopftüchern hervor mißtrauisch beäugten, sagte er, das sei die Sprache der Wissenschaft […]. Die Tanten mit den Kopftüchern sahen nun mich an, und ich sagte in einem ernsten Ton zu meinem Bruder: Na-MgAl-Sip! (SelMa 11) Durch diese Ausdrucksweise nehmen die Protagonistin und ihr Bruder die ihnen auferlegte Position der Fremden willig an: Als individueller Code der Selbstdar‐ stellung dient diese Sprache potenziell als Instrument des Widerstands sowie der Befreiung. Gerade die Tabelle der Elemente rezitiert die Protagonistin anlässlich ihres erfolgreichen Interviews bei der Schauspielschule, die Zulassung zu derer ihr Fortgehen aus dem Dorf Anlass gibt - wie in der letzten Geschichte zu erfahren ist: 5.2 „Alles ist hier Grenze“: Seltsame Materie 159 <?page no="160"?> 77 Von nun an AT; im Literaturverzeichnis: Mora (2004). Während der Prüfung achte ich auf das A, ich spreche es, so offen kann ich. Einer der Männer sagt schließlich: Sie haben einen Dialekt. Ja, sage ich. Warum ich Schauspielerin werden will. Ich sage, ich komme von einem Gehöft. Die Männer machen gar kein Gesicht. Dann schaut sich ein anderer Mann meine Liste an und fragt: „Das Periodensystem der Elemente? Ich nicke. Ich atme die Luft in meine Sarastro-Lungen und singe: Ha-He-Li-Be-Ce-NeO-Fe-Ne-Na-MgAl-Si-Pe-Se-ClAr… Sag es einfach. Wort für Wort“. (SelMa 19) Dieselbe Geschichte und damit der gesamten Erzählungszyklus beginnt mit einem Schweigegebot („Erzähl ja niemandem, wie es passiert ist. Und erzähl auch sonst nichts von hier“, SelMa 6), das jedoch missachtet wird. Darauf macht Mora in ihren Poetikvorlesungen aufmerksam: „Woraufhin die Hauptfigur: erzählt“ (Mora 2015: 12). Damit ist einer der wichtigsten Knotenpunkte der Sammlung kodifiziert, nämlich der Gegensatz zwischen dem Erzählbzw. Sprechverbot, das gegen die Protagonistin der ersten Geschichte - und sym‐ bolische allen Erzähler: innen - durch die Gemeinschaft ausgesprochen wird, und ihrer entschlossenen Nutzung ihrer eigenen Sprache. Wie Mora selbst behauptet, indem diese Außenseiter-Figuren in der Sprache „handlungsfähig“ werden, mit anderen Worten, ihre eigene Geschichte erzählen können, wirken sie dem exklusionserzeugenden Unterdrückungserzählen der Gemeinschaft entgegen (vgl. 2015: 6-11). Somit transformieren sie im Akt des Erzählens ihre eigene Position: In ihrer selbstbestimmenden Erzählung wird die feuchte und elende Materie der Landschaft zum Bestandteil ihres individuellen, sich behaup‐ tenden Ausdrucks, und verliert schließlich ihre unterdrückerische Wirkung: „Es gibt nichts, das mich abhalten könnte. Ich werde die seltsame Materie aus mir herausbringen“ (Mora 2015: 28). 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage Wird in der Sammlung Seltsame Materie eine Gegenüberstellung zwischen den Hauptfiguren und den Flüchtlingen vorgeschlagen, so tritt ein Flüchtling, Abel Nema, als Protagonist im ersten Roman Moras, Alle Tage (2004), 77 auf. Es lässt sich ebenfalls ein Unterschied in der Erzählungsbewegung feststellen: Ist sie in Seltsame Materie zentrifugal, wenn sie nicht durch die erstickende Unbeweglichkeit der Grenze negiert wird, zeigt sie sich in AT hingegen als zentripetal. 160 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="161"?> 78 Für eine detaillierte Analyse der narrativen Struktur des Romans siehe Müller-Dann‐ hausen (2006: 201-203), welche die Konstruktion des Syuzhet vom AT und die Erzählersowie Figurenreden als Beispiele der Montagetechnik beschreibt. Die Handlung dreht sich um die Figur des Abel Nema, eines Flüchtlings aus Osteuropa, vermutlich dem Balkan, der auf der ersten Seite des Romans von einigen Passantinnen auf einem Spielplatz kopfüber hängend aufgefunden wird: „An einem Samstagmorgen zu Herbstbeginn fanden drei Arbeiterinnen auf einem verwahrlosten Spielplatz im Bahnhofsbezirk den Übersetzer Abel Nema kopfüber von einem Klettergerüst baumelnd“ (AT 10). Es folgt eine wirbelnde Erzählung der Ereignisse, die direkt oder indirekt zu diesem Punkt geführt haben, Fragmente, die durch die Augen von Abel und den anderen Figuren betrachtet werden. Diese „Wegbegleiter“ (Mora 2015: 56) des Protagonisten erscheinen auf der Szene durch ihre Worte und ohne eine Einführung, die ihre Rolle im Leben der mysteriösen Figur erklärt. Das Ergebnis ist eine chorische Erzählung, die immer wieder zu sich selbst zurückkehrt, um sich selbst zu präzisieren, zu vervollständigen und zu widerlegen. In der Tat versuchen die Figuren - und die Leser: innen - etwas über Abels Geschichte zu erfahren und ihm näher zu kommen, finden sich aber in einer Umlaufbahn um ein leeres Zentrum wieder (vgl. Hammer 2010: 525). Dieser Effekt wird durch mehrere Merkmale des Romans erzielt. Erstens durch die labyrinthische Erzählstruktur, die in ihren neun Kapiteln zwischen verschiedenen Perspektiven, Orten und Zeitebenen springt, Elementen, die durch eine assoziative Logik verbunden sind, die die Leser: innen selbst rekonstruiren müssen. 78 Des Weiteren verschleiert der Roman, ähnlich wie Seltsame Materie, durch verschiedene Strategien jegliche räumlichen und zeitlichen Bezüge, sodass nicht nur Abels Herkunft, sondern auch jeder Ort und jede Zeit in der Geschichte ambivalent und polysemisch erscheinen. Auch der Diskurs der Figuren formt einen vielschichtigen Chor, ein Effekt, der sowohl durch den wechselnden Fokus des Erzählers in der dritten Person als auch durch die erlebten Reden der Ne‐ benfiguren erreicht wird. Doch in diesem verwirrenden und widersprüchlichen Chor fehlt Abels Stimme. Während die Handlung der präsenten Erzählebene hauptsächlich durch die Augen des Protagonisten verfolgt wird, gewährt der Erzähler keinen Zugang zu seinem Inneren. Die fragmentarische und labyrinthi‐ sche Struktur des Romans spiegelt Abels ebenso fragmentarisches Inneres wider, das erst im vorletzten Kapitel ZENTRUM - Delirium neu zusammengesetzt wird, in dem die Stimme des Protagonisten nach der Einnahme einiger Drogen in den Mittelpunkt rückt. Am Ende des Romans ist es möglich, die Bestandteile der Geschichte Abels rückwärts zu rekonstruieren, die Mora geschickt über die Seiten verstreut hat. 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 161 <?page no="162"?> Somit kann man verstehen, dass Abel in seinem Heimatland bis zu seinem Schulabschluss lebte und dass er abreiste, als sein bester Freund, Ilja Bor, seine Liebeserklärung zurückwies. Dies löste Abels erste dissoziative Episode aus: „Dieser Moment, wenn dir alles fremd wird. Bis er irgendwann nicht mehr wusste, wo er war“ (AT 55). Symbolisch beginnt hier die Zersplitterung der Identität des Protagonisten, als Abel nachts vor Iljas Haus vorbeigeht und, als er sein eigenes Spiegelbild im Fenster sieht, das Glas zerschlägt: Er […] ging um das Theater herum, stand vor dem Fenster. Die nackte Lampe über dem Künstlereingang schien ihm auf den Rücken, er sah sich als Silhouette in der dunklen Scheibe. […] Er wartete eine Weile, dann trat er sein Spiegelbild ein. Zuerst die linke, dann die rechte Scheibe. Die Scherben prasselten nach innen, aufs Bett. (AT 57) Nach der Abreise wird der Protagonist in eine Gasexplosion verwickelt und fällt für einige Tage ins Koma. Ähnlich wie der Heilige Geist, der den Aposteln zu Pfingsten die Glossolalie als Gabe bringt (Apostelgeschichte 2: 1-21), erscheint Abel im Traum ein Engel, der ihm die Fähigkeit verleiht, sich alle sprachlichen Ereignisse zu merken: „weil er ab jetzt nichts, was Sprache und memorierbar ist, jemals wieder vergessen würde“ (AT 85). Diese Episode wird als „Wunder“ bezeichnet (so lautet auch der Titel des jeweiligen Unterkapitels). In der Zwischenzeit bricht in seinem Heimatland ein Bürgerkrieg aus, und Abel beschließt, seine Reise fortzusetzen, wodurch er zum Flüchtling, zum De‐ serteur und später, aufgrund der Zersplitterung seines Heimats in verschiedenen Ländern infolge des Krieges, auch zum Staatenlosen wird. Der Protagonist lässt sich dann für die nächsten zehn Jahre in der westlichen Metropole B. nieder. Hier begegnet er Migrant: innen, Flüchtlingen oder Nomaden, die sich wie Abel in der babylonischen Metropole von B. verirrt haben (z. B. der Mitbewohner Konstantin oder Kinga und ihre Gruppe), und die unter soziale Ausgrenzung, die ständige Suche nach Arbeit, begrenzte Sprachkenntnisse leiden. Während dieses Jahrzehnts in B. verfeinert Abel sein Sprachtalent, indem er im Labor übt und mit der Zeit dazu gelangt, nicht weniger als zehn Sprachen zu beherrschen. Diese Fähigkeit ermöglicht ihm, seinen Lebensunterhalt als Übersetzer und Dolmetscher zu verdienen. In B. lernt er zudem einen Mitbürger, Tibor B., kennen, der sein Mentor wird und ihm ein Stipendium für eine Doktorarbeit in vergleichender Sprachwissenschaft gibt - dessen Thema Abels Sprachfähigkeit selbst ist. Somit lässt er sich neurolinguistischen Experimenten unterziehen, um die Natur des Wunders und seine Folgen zu untersuchen. In der Tat scheint es so, als ob sich ‚seine‘ zehn Sprachen in einem Gehirnraum installiert haben, der sozusagen anderen Aspekte seiner Person entnommen wurde: 162 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="163"?> So organisierte sich das Labyrinth in Abel Nemas bis dahin in allen Schulfächern gleichermaßen begabten und desinteressierten Verstand so lange um, was bis dahin eine Rolle gespielt hatte, das Gewusel von Erinnerung und Projektion, Vergangenheit und Zukunft, das die Gänge verstopfte und in den Zimmern lärmte, irgendwo verstaut war, in geheimen Wandschränken, und er, nun leer, bereit war zur Aufnahme einer einzigen Art von Wissen: von Sprache. (AT 75) Abel hat die meisten Erinnerungen an seine Vergangenheit verloren, besitzt keinen Tast-, Geschmackssowie Orientierungssinn mehr. Und obwohl dieser Zusammenhang im Text nie hergestellt wird, könnte die Episode auch die Ursache für seine Impotenz sein. Das offensichtlichste Zeichen des Wunders liegt jedoch darin, dass Abels Diktion völlig akzentfrei ist. Durch Tibor B. trifft Abel auch dessen junge Frau Mercedes sowie ihr Kind, dessen Vater nicht anwesend ist. Das Kind, das Omar heißt, auf einem Auge blind ist wie Odin („Das andere habe ich für Weisheit hingegeben“, AT 165) und von Maike Albath als „eine der schönsten Kindergestalten der jüngeren deutschen Literatur“ (2019: 40) bezeichnet wurde, ist das einzige Individuum im Roman, mit dem Abel einen menschlichen Kontakt hat. Tatsächlich scheint das Wunder auch eine Barriere zwischen Abel und der Außenwelt geschaffen zu haben, die weit über die erwähnten körperlichen Beeinträchtigungen hinausgeht: Der Protagonist ist eine leere Hülle, ohne Gefühle oder Empathie, zu der die anderen Figuren entweder eine unerklärliche Anziehung oder eine starke Abstoßung empfinden, oder beides: „seine eigentliche Spezialität ist es, dass sich Menschen für ihn interessieren, und zwar ohne dass er auch nur das Geringste dafür tut“ (AT 14). Nach dem Tod von Tibor schlägt Mercedes Abel eine „Scheinehe“ (AT 13) vor, um ihm eine Aufenthaltsgenehmigung zu verschaffen, was auch durch ihre Gefühle für den Protagonisten motiviert ist. Nachdem er von Iljas Tod erfahren hat („nun kann ich wirklich aufhören, dich zu suchen“, AT 342), wird er von Mercedes bei intimen Beziehungen mit einem Jungen erwischt. Sie leitet das Scheidungsverfahren ein, das jedoch nie stattfinden wird, da Abel weiterhin nicht zu den Anhörungen erscheint oder da er seine Ausweispapiere ständig vergisst. Darauffolgend kommt der Protagonist in den Besitz einiger Drogen seines Nachbars, des Chaosforschers Halldor Rose, der einiger Zeit vorher verschwunden war. Im Incipit des Romans - also in der präsenten Erzählebene - tauchte er wieder auf, indem er eine Friedensbotschaft überbrachte, die von keinem Geringeren als dem Herrn Gott empfangen hatte und die als Gegenmittel gegen die Panik und das Chaos der Welt fungieren sollte: „Panik ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand dieser Welt“ (AT 19). Die Einnahme dieser Drogen versetzt den Protagonisten in einen halluzinatorischen Zustand, der in einem langen inneren Monolog entwickelt wird, der das einzige 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 163 <?page no="164"?> nicht nummerierte Kapitel, ZENTRUM - Delirium einnimmt. Dabei offenbart der Protagonist ungefiltert und ausführlich den Leser: innen das erste und letzte Mal sein Inneres. Im Laufe dieses Eintauchens in das Ich, das mit der bedeutsamen Wiederholung des Personalpronomens „Und ich - also: Ich -“ (AT 359) beginnt, trifft Abel auf Figuren aus seiner Vergangenheit (seine Großmutter und seine Mutter, seinen Vater, Ilja), auf imaginäre Gestalten, durchlebt Momente aus seiner Jugend und erklärt bisher dunkle narrative Knotenpunkte. Auf diese Weise rekonstruiert der Protagonist seine eigene Identität aus den Bruchstü‐ cken, in die sie zerlegt worden war: Sibirische Schamanen beschreiben es: als läge man in Brocken zerteilt. Wo ist mein Bein, mein Kopf, meine Hand. Ist dieses versteinerte Glied meins? Dieser anarchische Torso? […] Gott allein weiß um das Ganze. Das ist nicht meine Wade, das sind nicht meine Hoden, diese Brüste nehme ich gern. […] Überall Risse. I’m puzzled. (AT 359) Bilder von statuarischer Kälte, von Lähmung folgen auf den anderen Seiten, auf denen Abel langsam an Selbstbewusstsein gewinnt, seine Scham überwindet, seine Identität im Angesicht der Figuren seiner Vergangenheit bejaht („Um ehr‐ lich zu sein, bin ich schwul, sage ich zu meinem Vater, als ich ihn nach zwanzig Jahren wiedersehe. Ich lerne die Knaben in einem gewissen Etablissement kennen oder auf der Straße“, AT 369). Als Abel erwacht, hat er sein Gedächtnis, seinen Akzent und, wie man folgern kann, seine Identität wiedergefunden: Angekommen bin ich nun in der vollkommenen Windstille. Ich seufze, um sie zu spüren: die Leichtigkeit im Rippenkorb. Alles ist leicht jetzt. Nicht mehr in Gips gegossen, auch nicht in Beton […]. Ich spüre und sage es: Nun wird mein Leiden bald ein Ende haben. Mein Jahrzehnt in der Hölle ist um. (AT 410) Doch der beschriebene Augenblick der Auferstehung, die Rückkehr in die Welt nach einem Jahrzehnt, endet in einer weiteren Tragödie: Im abschließenden Ka‐ pitel, AUSGANG -Verwandlungen, wird Abel von einer Gruppe junger Zigeuner angegriffen, an denen Abel oft im Park in der Nähe seines Hauses vorbeikam und die ihn für das Verschwinden ihres Freundes Danko verantwortlich halten. Der Protagonist wird abgeschlachtet, kopfüber aufgehängt und fällt ins Koma. An diesem Punkt spult das Erzählband und kehrt zur Erzählzeit des ersten Kapitels zurück: Aufgrund einer schweren Hirnverletzung hat Abel eine Aphasie in allen zehn Sprachen und einen vollständigen Gedächtnisverlust erlitten. Das einzige Überbleibsel seiner Identität ist sein Name. Das Ende des Romans spielt einige Jahre später und zeigt das ehemalige Sprachgenie im Park mit Omar und der Tochter, die er mit Mercedes hatte. Die aphasischen Störungen haben sich 164 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="165"?> 79 Wie der biblische Abel ist der Protagonist das Opfer einer ursprünglichen Gewalt, nämlich der seines ‚Bruders‘ Ilja; Nema rückwärts gelesen ist Amen. verbessert: Abel ist nun in der Lage, ein paar einfache Sätze auszusprechen, allerdings ausschließlich in der „Landessprache“: Entgegen der Erwartungen hat sich nur eine einzige Sprache, die Landessprache, soweit regeneriert, dass er einfache Sätze sprechen kann. Er kann sagen, ob er etwas zu essen haben will vom nahen Kiosk, und kann auch die Kinder fragen, ob sie etwas möchten. […] Am liebsten sagt er immer noch: Das ist gut. Die Erleichterung, ja, das Glück, diesen Satz aussprechen zu können, ist ihm so deutlich anzusehen, dass ihm die, die ihn lieben, jede Gelegenheit dazu bieten. Er spricht es denkbar aus: Das ist gut. Ein letztes Wort. Es ist gut. (AT 430) „Es ist gut“: das sind die letzten Worte vom verbalen Wirbel von Alle Tage. 5.3.1 Ein „stummes Sprachgenie“: Die Fremdheit des Protagonisten Aus dieser verkürzten Handlungssowie Strukturerläuterung geht hervor, dass der Kern vom Roman - sein „epische[r] Salze“, um Walter Benjamins zu zitieren (1972: 235) - in die konstitutive Fremdheit seines Protagonisten liegt, die sowohl von den Nebenfiguren als auch den Leser: innen wahrgenommen wird (vgl. Czeglédy 2008; Propszt 2008; Kegelmann 2009b: 251-263). Abels erste Auftritt in der Geschichte erfolgt im rückblickenden Bericht, den die drei Arbeiterinnen, die ihn kopfüber hängend auf dem Spielplatz gefunden haben, der Polizei erstatten: „Der Mann habe auch irgendwie wie ein Vogel ausgesehen, oder eine Fledermaus, aber eine riesige, wie er da hing, seine schwarzen Mantelflügel zuckten manchmal im Wind“ (AT 9). Die Figur wird also mit einem Satz im Konjunktiv I eingeführt, der die Schwierigkeit, seine Identität zu definieren, deutlich macht. Von der ersten Seite an entwickeln die Figuren sowie die Leser: innen also Hypothesen über Abels Identität, ohne sich ein vollständiges Bild von ihm machen zu können (vgl. Propszt 2008: 307-309). In seinem Namen, oder besser gesagt, in seinen Namen, ist das Geheimnis seiner Identität ebenfalls verschlüsselt: Neben anderen Bedeutungen 79 entspricht der Begriff ‚nema‘ dem kroatischen ‚ist nicht da‘, dem hebräischen ‚Atem‘ (vgl. Allocca 2016: 125-126) sowie dem ungarischen ‚stumm‘ (vgl. Propszt 2008: 308). Im Laufe des Textes wickelt sich Abels Identität in anderen Anagrammen um sich selbst: „Name ist: 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 165 <?page no="166"?> 80 „Jitoi steht für jeden Menschen auf dem Weg durch das Labyrinth seines Lebens“ (Mora 2015: 57). Jitoi. 80 Anel Nema alias El-Kantarah alias Varga alias Alegre alias Floer alias des Prados alias ich: nicke. Jawohl, sage ich. Amen leba“ (AT 409). Die Fremdheit umgibt Abel wie eine Aura und wird von allen Figuren als etwas Allgegenwärtiges und Unbeschreibliches wahrgenommen, so sehr, dass Mercedes sie sich nur als eine Art Geruch vorstellen kann: […] [W]as wirklich wesentlich war in dem Moment, war etwas, was die Braut Mercedes nicht hätte benennen können, das wie ein Wartezimmer roch, wie Holz‐ bänke, Kohleofen, verzogenen Schienen, ein in die Böschung geworfener Pappesack mit den Resten von Zement, Salz und Asche auf einer eisigen Straße, Essigbäume, Messinghähne und pechschwarzes Kakaopulver, und überhaupt: Essen, wie sie es noch nie gegessen hatte, und so weiter, etwas Endloses, wofür sie gar keine Worte mehr hat, stieg aus ihm hoch, als trüge er ihn in den Taschen: den Geruch der Fremde. Sie roch Fremdheit an ihm. (AT 17) Auch Bora, die ehemalige Geliebte von Abels Vater, bezieht sich auf diesen Geruch der Fremdheit, den der Protagonist nach dem Verlassen seiner Heimat‐ stadt angenommen zu haben scheint: „Er hat diesen Geruch angenommen, den Geruch des Zuges, er wird ihn nie wieder ganz loswerden“ (AT 67). So wie im diegetischen Universum die Nebenfiguren nicht in der Lage sind, sich dem Protagonisten zu nähern, da sie seine Geschichte nicht kennen und er sich ihren Blicken entzieht, so wird auch in der Leseerfahrung Abels Innerlichkeit durch die Erzählstruktur verdeckt: „In Alle Tage wollte ich eine Erzählweise haben, die so wenig ‚heimatlich‘ wie möglich war, damit es dem Leser mit Abel Nema genau so ging, wie es den Nebenfiguren mit ihm ging“ (Mora 2015: 76). Diese Erzählweise besteht aus einer Erzählerrede in der dritten Person mit wechselnder Fokalisierung sowie aus einer Figurenrede, die sich als ein Fluss von Dialogen und erlebten Reden zeigt. Folglich lässt sich das diegetische Universum als ein „polytonales System“ (Propszt 2008: 306), eine chorische und vielstimmige Erzählung im Sinne Michail Bachtins (1971), definieren. Auffallend ist jedoch, dass die Stimme des Protagonisten in diesen ‚Chören‘ nicht vorkommt. Abel ist also im Roman fast immer stumm und bloß das Objekt der Worte anderer Figuren. Wenn seine Gedanken in der Erzählung Raum gewinnen, sind sie kurz und lakonisch, worauf im Text metanarrativ oft hingedeutet wird: Er [Kostantin] quartierte weitere Leute ein. Wenn er mit seinen Sprachrudimenten nicht weiterkam, klopfte er an Abels Tür. Da sei jemand, dessen Sprache er nicht 166 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="167"?> spreche, was ist das, Polnisch? […] Abel kann weder Polnisch noch Tschechisch. Stell dich nicht so an, sagte Kostantin im Sinne des panslawischen Gedankens. Der panslawische Gedanke kann mich mit hundert Zungen am After lecken. Sieh an, wenn es darauf ankommt, kann ich Gedanken haben. Aber das war nur ein kurzer Moment. Gleich danach funktionierte Abels Gehirn wieder normal, und er begann einzelne Wörter, Syntagmen, später ganze Sätze zu verstehen. (AT 114, Hervorhebungen von mir) Ebenso rar sind die Textstellen, an denen die Fokalisierung auf dem Protago‐ nisten liegt, wie im folgenden Beispiel, in dem Abel hinter Danko her rennt, der seinen Computer gestohlen hat: Danko […] rennt wie der Teufel, arbeitet mit dem freien Arm, sein stechender Ellbogen. Und Abel? Er macht, was er noch nie gemacht hat. Täuscht rechts an und läuft links am Bullen vorbei. Was hat mich geritten, wann bin ich das letzte Mal so gerannt, noch nie. Danko schaut zurück, schüttelt den Kopf, rennt noch schneller. Passanten, Hindernisse. Er wird ihn bald abgehängt haben, keine Frage […]. Es ist längst nicht mehr der Laptop, obwohl es auch der Laptop ist, aber vor allem ist es dieses sinnlose, freundliche Laufen. Er fixiert sich längst nicht mehr auf den Rücken des Jungen, er schaut jetzt überallhin, die Welt im Laufen sehen, den Himmel, gerade hätte er sogar fast laut zu lachen angefangen, als ihm etwas zwischen die Beine gerät, eine Strippe oder was, eine Hand rauscht im Fallen an ihm vorbei, er kann sie nicht mehr greifen, er stürzt durch einen Knäuel niedriger Leiber hindurch auf den harten, schmutzigen Asphalt. (AT 213-214, Hervorhebungen von mir) Diese Stelle kommt etwa in der Mitte des Romans vor, und an diesem Punkt wird die Präsenz des Protagonisten allmählich sichtbarer, bis sie im Kapitel ZENTRUM - Delirium ihren Höhepunkt erreicht. Anita Czeglédy zufolge stellen diese und andere Strategien „Formen der Entsubjektivierung“ (2009: 292, 300) dar, nämlich erzählerische Entscheidungen, die Abels Identität aus dem Text entfernen. Wenn es also stimmt, dass die Figur erst am Ende des Romans in einen aphasischen Zustand verfällt, so ist es dennoch möglich, Abel von Beginn des Romans an als „stummes Sprachgenie“ (Propszt 2008: 309) zu beschreiben, exis‐ tentiell stumm trotz seines außergewöhnlichen mehrsprachigen Talents. Abels Fremdheit findet also eine unmittelbare Kodifizierung in der kommunikativen Dimension, sie zeigt sich aber hauptsächlich in seiner ‚Sprachigkeit‘, wie im Folgenden näher erläutert wird. 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 167 <?page no="168"?> 5.3.2 „Aber in Wahrheit war ich doch allzu oft ein Barbar“: Die Sprachen Abels Unmittelbar nach der Gasexplosion, die das Wunder ausgelöst hat, kann Abel ausschließlich Lexeme in verschiedenen Sprachen aneinanderreihen, weshalb das, was er sagt, für andere unverständlich ist: „Prime bjen esasa ndeo, sagt der Junge, Prime. Was? Songo. Nekom kipleimi fatoje. Pleida pjanolö […] Man denkt, man versteht, was er sagt, und dann versteht man’s doch nicht“ (AT 72-73); „Er dacht: Semmel, zsemle, roll, petit pain, bulotschka. Dachte vaj, Butter, butter, maslo, buerre. Dachte…ein großes Durcheinander“ (AT 90). Im Laufe der Zeit, dank des Studiums im Sprachlabor, führt dieses „große Durch‐ einander“ zur Beherrschung von zehn Sprachen. Die sprachliche Dimension bleibt jedoch die Ebene, auf der die Distanz zwischen der Welt und Abel am unmittelbarsten sichtbar wird, beginnend mit dem außergewöhnlichen Fehlen jeglichen Akzents, der die Sprechweise des Protagonisten kennzeichnet. Es ist klar, dass dieses Detail die Herkunft der Figur vor den anderen Figuren sowie den Leser: innen verbirgt. Nichtsdestotrotz wird Professor Tibor B. zu Abels Mentor, weil er sein Landsmann ist, so wie Kinga auch aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft eine spontane Zuneigung für den Protagonisten empfindet. In der diegetischen Welt ist Abels Heimat also zwar nicht für alle Figuren unbekannt, und in dieser Hinsicht wissen die Figuren anscheinend mehr als die Leser: innen. Folglich muss meines Erachtens die Abwesenheit des Akzents in diesem Roman das Zeichen für etwas anderes darstellen. Dies lässt sich durch eine Analyse der Merkmale der ‚Sprachigkeit‘ des Protagonisten ableiten. Zunächst einmal werden die sprachlichen Funktionen, die Abel durch das Wunder verliert, nur scheinbar durch Laborstudien wiederhergestellt: Er hat die gleichen Probleme wie jeder Emigrant: er braucht Papiere und er braucht Sprache […]. Letzteres hat er so gelöst, dass er einfach perfekt geworden ist, und das gleich zehnmal, und zwar so, das glaubt man einfach nicht, dass er den Großteil seiner Kenntnisse im Sprachlabor erworben hat […]: von Tonbändern. Es würde mich nicht wundern, wenn er nie mit einem einzigen lebendigen Portugiesen oder Finnen gesprochen hätte. (AT 13) Losgelöst von jeglichem kommunikativen Kontext und gleichrangig mit mathe‐ matischen Formeln erlernt, lassen sich die vom Protagonisten gesprochenen Sprachen lediglich als „Sprachklonen“ begreifen (Propszt 2008: 309). Obwohl die durch die Gasexplosion hervorgerufene Unkommunizierbarkeit vorübergehend scheint, entwickelt sie sich zu einem prägenden Merkmal der Welterfahrung des Protagonisten: ‚Seine‘ Sprachen sind kalt, ohne Tonalität und damit ortlos, genau wie Abel, der seine Heimat aufgrund des Bürgerkriegs offiziell und de 168 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="169"?> facto verloren hat, da sie aus den Karten verschwunden ist. Wie Abel haben also seine Sprachen keinen Ursprung, denn sie durch keinen Akzent, kein Signal des Lebens gekennzeichnet sind. Und vielleicht liegt es an ihrer Artefakthaftigkeit, dass die Nebenfiguren des Romans den Protagonisten genauso als einen kalten Automaten erleben. Abel erscheint für die Leser: innen wie ein reaktionsloses Gefäß für Erfahrungen, eine Wirkung, die Mora durch den Verzicht auf die Fokussierung auf den Protagonisten erzielt. Gleichzeitig stehen auch die Neben‐ figuren aufgrund der Lebenslosigkeit in seiner Sprache vor einer leeren Hülle: Man macht sich Gedanken über ihn und ärgert sich hinterher, weil sich herausstellt, dass er einem die ganze Zeit, während man auf ihn eingeredet hat, nur auf den Mund geschaut hat, als besäße allein die Art und Weise, wie man die Frikative bildet, Wichtigkeit für ihn. Der ganze Rest, die Welt, mit Mann und Maus, interessiert ihn nicht die Bohne. In der Welt leben und nicht in der Welt leben. So einer ist er. (AT 14) Im Roman ist es Kinga, welche die sprachliche, psychologische sowie juris‐ tische Fremdheit Abels mittels einer einzigen Bezeichnung, die von Abels Nachnamen ausgeht, zusammenfasst: „[D]u täuscht mich nicht, dein Name verrät dich: Nema, der Stumme, verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für: der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt, den Barbaren. Abel, der Barbar […]. Das bist du“ (AT 14). Wie Tzvetan Todorov feststellt (2012: 28-30), hatte der Begriff ‚βάρβαρος‘ im alten Griechenland eine doppelte Bedeutung: Sprachlich gesehen bezeichnete ‚Barbar‘ jemanden, der das Griechische nicht beherrschte; kulturell gesehen diente diese Bezeichnung dazu, die Grenzen der griechischen Kultur zu bestimmen, die als Synonym für die Zivilisation schlechthin angesehen wurde. Barbarei war alles, was nicht griechisch war, und folglich wurde es als nicht zivilisiert und unmenschlich betrachtet. Abel ist daher ein Barbar, nicht hauptsächlich, weil er ein Ausländer ist und die Landessprache nicht gut beherrscht: Beide Aspekte treffen nicht hundertprozentig zu, denn Abels perfekte Aussprache verbirgt seine ausländische Herkunft. Abel ist ein Barbar, da seine besondere ‚Sprachigkeit‘ - akzentfrei, automatenhaft, ortlos - eher Unmenschlichkeit manifestiert. In der Tat haben mehrere Studien (vgl. Hammer 2010: 522-525; Czeglédy 2008) festgestellt, dass Abels ‚Sprachigkeit‘ aufgrund des Verlusts zweier grundlegender Funktionen zutiefst unmenschlich sei. Die erste betreffe die kommunikative Funktion, die es dem Individuum ermöglicht, sich anderen gegenüber auszudrücken: So funktionieren Fremdsprachen bei ihm [Abel] als mögliche Kommunikationsmittel kaum, als Mittel zum Ausdruck unterdrückter Gefühle, wiederum nicht. Fremdsprache als soziale Markierung oder als Mittel der Herrschaft auch nicht, Fremdsprache als 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 169 <?page no="170"?> Mittel der Individualisierung, Fremdsprache als neue Erkenntnisperspektive erscheint im Buch auch nicht. Es wundert sich daher nicht, dass Abel im Buch kaum redet. (Czeglédy 2008: 302, Fußnote Nr.-12) Die zweite sei die performative Funktion, die für die Identitätskonstruktion des Subjekts notwendig ist: „Im Falle von Abel Nema [verschwinden] alle möglichen identitätsstiftenden oder -sichernden Funktionen der Sprache […]“ (Czeglédy 2008: 296). Abels Sprachen sind also wesentlich fremd, da sie artifiziell sind, und zugleich dem Protagonisten genauso fremd, denn sie drücken seine Subjektivität nicht aus; sie sind vielmehr ein Vehikel seiner Entfremdung von sich selbst und können seine Fremdheit nur vervielfältigen. In ihnen kann Abel nicht in der diegetischen Welt existieren. Wie auch im Fall von SM besitzt Mehrsprachigkeit in AT eher eine „isolierende“ Funktion, was Fleig zufolge ein Kennzeichen von Moras Schreiben bildet: In ihren Romanen ermögliche „die Mehrsprachigkeit ihrer Figuren keineswegs mehr Verständigung […] - Mehrsprachigkeit ist vielmehr Teil der Erfahrung von Flucht, Migration und globalisierter Ökonomie und kann dadurch sogar isolierend wirken“ (2019: 56). Mehrsprachigkeit im Roman wird an einigen Stellen zwar hingedeutet, fungiert jedoch als Katalysator des entfremdenden Bruches der referentiellen Bezüge zwischen der diegetischen Welt und der realen Welt. In der folgenden Passage stellt sich Abel beispielsweise vor, dass er Omar Russischunterricht geben würde: Abel hätte den Satz auf Russisch niedergeschrieben und ihn vorgesprochen, Omar hätte ihn wiederholt. Willst du verreisen? Niet, ja ne chatschu ujechatj Nein, ich will nicht verreisen. Wolltest du jemanden abholen? Wolltest du jemanden abholen? Nein. Was wolltest du dann dort? Was wolltest du dann dort? Ich wohne in der Nähe. Ich wohne in der Nähe. (AT 260) Anstatt den Wechsel der Sprachen auf mimetische Weise zu schildern, ent‐ scheidet sich Mora für eine iterative Darstellung des Deutschen. Ein weiteres Beispiel ist eine Szene, in der Abel als Dolmetscher arbeitet: 170 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="171"?> Irgendwann im Laufe des Frühlings war Abel, vermutlich auf Vermittlung von jemandem aus Tibors Kreis, zu einem weiteren Job gekommen. Synchrondolmetschen in einem nahen Kongresszentrum, wenn auch nur als Aushilfe mit Notfalltelefon in der Fleischerei. Sie sind ein Skandal! Brüllte der Ire. Sie sind ein Skandal, sagte die kleine Frau mit dem Pagenschnitt in der Kabine nebenan. Sie sind ein Skandal! brüllte der Serbe zurück. Sie sind ein Skandal, sagte Abel ins Mikrophon. (AT 183) Es ist also kein Zufall, dass die Wiederauferstehung der Identität im Kapitel ZENTRUM - Delirium von der sprachlichen Dimension ausgeht: Mehr als zehn Jahre hat man kaum einen Mucks von mir gehört. Ich klage und fordere nicht, wie es sonst die Art von Leuten in meiner Situation ist. Ich habe mich darauf verlegt zu lernen. […] Heute weiß ich nahezu alles über die Bereiche, in denen sich Sprachen berühren, und auch über die, wo sie sich niemals berühren […]. Fünftausend allgemeinsprachliche Wörter pro Sprache hin oder her. Später bekam ich im Rahmen von Untersuchungen die Möglichkeit, vieles, was man als Laie wissen kann, über mein Gehirn zu erfahren. […] Als Kind machte ich mir Gedanken um Großes wie das Weltall und die Liebe, heute denke ich praktisch über nichts mehr nach. Ich lebe wie die Amöbe, eine widerstandsfähige, ökonomische Lebensform, der Platz, den ich auf der Erde einnehme, ist nicht größer als meine Fußsohlen […]. Und ich praktiziere alle Tage den Frieden. […] Ich wiederhole, was mir in der einen Sprache vorgesagt wird, in einer beliebigen anderen. […] Die Zeichen der Zeit sind Kommunikation. Jeder, der sich äußert, ist willkommen, wir sprechen, also sind wir, bilden Laute, die sich zu Gruppen zusammenfügen. (AT 402-404) Die Wiedererlangung der Erinnerung und des Selbstbewusstseins wird in der Tat durch die Rückkehr des Akzents in der Sprechweise des Protagonisten signalisiert, was auf das unterirdische Wiederauftauchen seiner Muttersprache und all dessen, was sie repräsentiert, hinweist: Erinnerung, Herkunft, die synchrone und diachrone Einheit des Subjekts. Dennoch lauert eine neue Explosion der Gewalt bei der nächsten Textwendung: Dankos Freunde greifen Abel an, versetzen ihn ins Koma und verursachen seine Aphasie, d. h. den endgültigen Verlust seiner Muttersprache - der Sprache, in der man nicht als Barbar gilt. Seine Gedanken und Erinnerungen werden durch die absolute Fremdheit ausgelöscht, die im deiktischen Begriff der ‚Landessprache‘ kodiert ist, die die ‚Muttersprache‘ ersetzt. Diese Aggression scheint in demselben Kapitel in einem Moment der Mehrsprachigkeit vorwegzunehmen: „Min bánat engele for. Ki häret sillalla tur. On vér quio vivír. Mu kor arga kun tier“ (AT 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 171 <?page no="172"?> 81 Das dritte Epigraph des Romans stellt Abel und Christus deutlich gegenüber: „Einer, der aussieht wie Christus ohne Bart, kann kein Lügner sein, was? “. Der gesamte Text deckt sich auch symbolisch mit dem Warten auf die Ankunft des Protagonisten. Schließlich verbüßt Abel, wie mehrere Märtyrer, seine Strafe, indem er kopfüber aufgehängt wird. 82 Dies sind die ersten Zeilen von Bachmanns Gedicht: „Der Krieg wird nicht mehr er‐ klärt/ sondern fortgesetzt. Das Unerhörte/ ist alltäglich geworden“ (Bachmann 1978: 46). 407), wobei, wie Bianca Burka anmerkt, der Ausdruck „bánat engele“ eine Hybridisierung von Ungarisch und Deutsch ist, die mit „Engel der Trauer“ übersetzt werden kann (vgl. Burka 2016). Die Funktion der Mehrsprachigkeit im Buch lässt sich durch andere Beobach‐ tungen näher erläutern. Die psychologische Zersplitterung von Abels Identität spiegelt sich also in der Vermehrung der Fremdsprachen des Protagonisten wider. Dies entspricht der Zersplitterung seines eigenen Landes in verschiedene Sprachen und neue Länder, was einen Bezug zur Strafe von Babel darstellt. Laut Allocca (2016: 134-135) wird Abel, den der Begriff ‚Wunder‘ mit Pfingsten as‐ soziiert und der auch in messianischen Tönen beschrieben wird, 81 im Gegensatz zur apostolischen Glossolalie, in der die göttliche Friedensbotschaft vervielfäl‐ tigt wird, in der Tat eher mit der babylonischen Unmitteilbarkeit der Genesis (11: 1-9) in Verbindung gebracht. So wie Abel in seinen Sprachen zersplittert ist - und darin vergleichbar mit Nemrod, dem Erbauer des Turms von Babel -, so werde auch die Welt des Romans, die westliche Metropole B., ein Labyrinth von Ursprüngen und Sprachen, in dem keine Kommunikation möglich ist, zu Babel (vgl. Allocca 2016: 135-136). Der Protagonist und seine Welt sind folglich von einer tiefen, auf das Wesen einwirkenden Unkommunizierbarkeit geprägt, die mit dem babylonischen Chaos einhergeht und durch den Ausbruch des Krieges in Abels Heimatland ausgelöst wurde. Obwohl er diesen Krieg, der zehn Jahre lang durch sein Heimatland fegte, nie miterlebt hat, leidet Abel, der Staatenlose, der Barbar, dennoch unter Panikattacken, die Mora als typische Symptome von Kriegsflüchtlingen versteht (vgl. 2015: 50). Abel wird so zum Zeichen dieser durch den Krieg verursachten Zersplitterung: Während der Protagonist in seiner „Anwesenheit abwesend“ (Bucheli 2019: 28) ist, erweist sich der Krieg trotz seiner scheinbaren Abwesenheit immer präsent. Der Titel des Romans ist in der Tat eine Anspielung auf das gleichnamige Gedicht von Ingeborg Bachmann (vgl. Allocca 2016: 128), in dem die Präsenz der faschistischen Gewalt auch in der Nachkriegsgesellschaft kodifiziert wird, eine Präsenz, die sich nicht mehr in plakativen Gesten zeigt, sondern allgegenwärtig und daher unmerklich geworden ist, eben weil sie alltäglich ist. 82 Die antimimetische, stumme Mehrsprachigkeit der Figur ist also eine der Manifestationen dieser ewigen, unterschwelligen Konfliktsituation, die sich in der ganzen diegetischen 172 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="173"?> Welt ausgebreitet hat und sie zu einem panikgeladenen, entfremdeten Raum gemacht hat. 5.3.3 „Wo wann bin ich und wer bist du? “: Die Fremdheit des Romans Abel ist also das Zentrum, um der Roman AT kreist, wie der Titel des Kapitels ZENTRUM - Delirium verrät. Obwohl er während dieses Deliriums endlich seine Innerlichkeit offenbart, wird er jedoch am Ende des Romans zu einem leeren Zentrum: „Wo wann bin ich und wer bist du? “ (AT 333). Diese Frage, die sich der Protagonist stellt, ist dieselbe Frage, die auch die Leseerfahrung des Romans aufwirft. Es wurde bereits angedeutet, wie die Fremdheit der Figur auch in der formalen Dimension des Textes konstruiert wird. Es ist nun wichtig zu betonen, dass sich bei näherer Betrachtung nicht nur die Figur, sondern das gesamte erzählerische Universum als inhärent fremd, „wenig ‚heimatlich‘“ (Mora 2015: 76) erweist, denn es genauso wie sein Protagonist seine eigenen Identitätsmerkmale verloren hat. Zunächst einmal ist die Erzählstruktur fragmentarisch, labyrinthisch, was mit der fragmentarischen Situation der Identität und Erinnerung des Protagonisten zusammenfällt. Mora beschreibt das Ordnungsprinzip des Romans mit den Begriffen „Irrgarten“ und „Labyrinth“: In beiden Fällen gilt, dass der, der dort unterwegs ist, nicht weiß, wo er genau ist, weiter vorausschauen als die nächsten Ecken, der nächsten Biegung steht, und das ist genau so, wie auf uneinsehbaren Pfaden durch ein Dickicht zu gehen, das ist, wie Abel Nemas Situation ist und wie er sich fühlt, die Art und Weise, wie die Erzählung sich im Raum bewegt, ist so, wie sich das innere Problem des Abel Nema […] bewegt. (Mora 2015: 56) Und so wie Abel die chronologische Einheit seiner Identität - d.-h. die Abfolge der Ereignisse in seinem Leben - sowie seine Heimat verloren hat, so verwurzelt das Chronotop des Romans die Geschichte in einem unbestimmten Hier und Jetzt. So beginnt der Roman: „Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier“ (AT 9). Im Text wird nie eine konkrete Ortsangabe erstattet, sondern stattdessen werden Ausdrücke wie „die Stadt B.“, die westliche Metropole, in der sich ein Großteil der Geschichte abspielt, oder „die Stadt S.“, die Stadt des Protagonisten, verwendet. Auch andere Orte, die im Text genannt werden, erleiden das gleiche Schicksal, obwohl sie nicht den Rahmen der Handlung darstellen: „Der schiefe Turm von P. wird immer schiefer“ (AT 102). In ähnlicher Weise wird jeder Hinweis, der zu einem eindeutigen geografischen Datum 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 173 <?page no="174"?> 83 Siehe dazu Mora (2015: 59). 84 Albath (2019: 38) hat eine Analogie zwischen der U-Bahn-Linien, die Abel bei seiner Ankunft in der Stadt nimmt, und der Struktur der U-Bahnen in den Berliner Bezirken Dahlem und Kreuzberg in den frühen 1990er Jahren festgestellt. 85 Siehe zum Beispiel die Reden des akademischen Zirkels von Professor Tibor - den Mora gerne ins Lächerliche zieht - sowie Konstantins Ausschweifungen, in denen Anspielungen auf Neuanfänge, neue Möglichkeiten der Wiedervereinigung und die Jugend auftauchen: „Im Übrigen […] ist das eine fabelhafte Stadt. […] [H]ier kannst du bleiben und mit mir zusammen in zehn, zwanzig Jahren sagen: Weißt du noch, damals, als wir in der pulsierendsten Metropole ihrer Hemisphäre lebten? “ (AT 96). führen könnte, aus dem Text gestrichen: Die von den Figuren gesprochenen Sprachen werden nie explizit gemacht und stattdessen durch ähnlich deiktische Konstrukte wie ‚Fremdsprache‘, ‚Muttersprache‘, ‚Landessprache‘ ersetzt, Be‐ griffe, die angesichts des Fehlens eines spezifischen geografischen Kontextes leere Behälter darstellen. Eine ähnliche Strategie wird für die zeitlichen Angaben angewandt, die viel begrenzter sind als die Räumlichen. Ein Beispiel ist die Silvesternacht, die Abel mit der Gruppe von Kinga verbracht hat. Sein Bericht endet mit einem indirekten Zitat von Nabokov: 83 „Das war in der letzten Nacht des Jahres 199x“ (AT 139). Wie Allocca (2016: 128-140) feststellt, ermöglicht die besondere Konstruktion des Chronotops von AT die Koexistenz mehrerer räumlicher und zeitlicher Ebenen, sodass sich die Leser: innen trotzdem im Laufe der Geschichte ein Bild von den durchlaufenen Räumen und Zeiten schaffen können. Am selben textuellen Ort, „B.“, finden wir mehrere räumliche Koordinaten: sowohl Berlin als auch den Balkan, aber auch Babel, wie in der vorherigen Sektion erläutert wurde. Zunächst einmal besitzt die Metropole B. die Merkmale des Berlins nach dem Fall der Mauer. Darauf deuten verschiedene Elemente hin. Erstens lassen Hinweise auf das Nachtleben, insbesondere auf den von Abel besuchten Club, Rückschlüsse zu. Zweitens wird die Metropole durch ein Labyrinth von Herkünften und Lebensstilen charakterisiert, die alle durch die Figuren reprä‐ sentiert werden. Drittens befindet sich die Stadt an der Grenze zwischen Ost und West, und viertens wird mehrmals auf ihre unberechenbare Ausdehnung hingewiesen. Schließlich wird Berlin durch die Struktur des Verkehrsmittels erkennbar. 84 Dass „B.“ auch Berlin ist, wird schließlich durch die Atmosphäre der Aufregung wahrgenommen, die einige der Charaktere zum Ausdruck bringen, jenes elektrische Vertrauen in die Zukunft, das Berlin in den 1990er Jahren unmittelbar nach der Wende prägte und auf das Mora auch in Der einzige Mann auf dem Kontinent Bezug nimmt. 85 Wie Berlin wird auch die Heimat des Protagonisten im Text, der Balkan, sowohl enthüllt als auch nicht enthüllt. Es ist Abel, der die Frage nach seiner Herkunft für Mercedes und Omar - und 174 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="175"?> die Leser: innen - aufklärt. Dies wird durch den Filter von Mercedes’ Blick in Konjunktiv 1 wiedergegeben: Die Sache sei simpel, sagte Abel. Der Staat, in dem er geboren worden sei und den er vor fast zehn Jahren verlassen habe, sei in der Zwischenzeit in drei bis fünf Staaten gespalten worden. Und keiner dieser drei bis fünf sei der Meinung, jemandem wie ihm eine Staatsbürgerschaft schuldig zu sein. Dasselbe gelte für seine Mutter, die nun zur Minderheit gehöre und ebenfalls keinen Paß bekomme. Er könne hier nicht weg, sie könne von dort nicht weg. […] Ach so, und da er selbst einer Einberufung nicht Folge geleistet habe, gelte er bis auf weiteres als Deserteur. (AT 41) Der Hinweis auf die Auflösung von Abels Heimatland, das einst ein sehr großer Staat war, und der Krieg hier erinnern an das ehemalige Jugoslawien, das 1990 aufgelöst wurde, und die verschiedenen nachfolgenden Konflikte, die den Balkan verwüsteten (1991-2001). Es ist zu schlussfolgern, dass ein solcher „deiktischer Realismus“ (Taylor 2013: 24) nicht daran hindern soll, raum-zeitliche Koordinaten zu erkennen, sondern er vielmehr abzielt, sie zu problematisieren und auf ihre Konstruktion aufmerksam zu machen. Diese deiktische Struktur fügt sich in der Tat den zahlreichen metanarrativen Kommentaren des Erzählers hinzu, was laut Maike Hammer AT zu einem „autoreflexiven Architext“ macht, d. h. zu einem Text, der die Konstruktion des Subjekts durch die Dekonstruktion narrativer Modelle problematisiert (2010: 514). Diese zwei Schienen laufen im Roman parallel, da der Verlust von Abels Identitätsmerkmalen sich in dem Verlust der konstituierenden Elemente der diegetischen Welt widerspiegelt. Wie Abel Nema hat der Roman keinen definierten Ort und keine definierte Zeit; die Fremdheit des Protagonisten erstreckt sich auf die gesamte diegetische Welt. Abschließend führen all diese antimemetischen, antireferentiellen und metanarrativen Textstrategien, die die entfremdende Dimension des Romans erzeugen, zu einer abschließenden Interpretation, die im nächsten Teil entwi‐ ckelt wird. 5.3.4 „Panik ist nicht ---, Panik ist --- “: das Verschwinden des Eigenen Der zentrale Knotenpunkt von AT ist die Dekonstruktion der beiden Gründungs‐ kategorien des Fremdheitsdiskurses und der interkulturellen Literatur, d. h. der Dimensionen des Eigenen und des Fremden (vgl. Czeglédy 2008: 293). So wie der verborgene „P.“ in Bezug auf den „schiefen Turm von P.“ offensichtlich Pisa ist, aber gleichzeitig es nicht sein kann, so ist die Stadt, in der die Geschichte 5.3 „Gutes, altes Babylon“: Alle Tage 175 <?page no="176"?> spielt, gleichzeitig Berlin, der Balkan, Babel, und gleichzeitig ist sie es auch nicht. Orte, Zeiten und historische Ereignisse, die sich dort abgespielt haben - der Balkankrieg und die Migration von Flüchtlingen nach Westdeutschland, das Ende des Kalten Krieges - existieren im Text in einer ständig verfremdeten Gegenwart. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Konflikt, der den Roman durchdringt, sicherlich auf die Balkankriege, die, wie Mora einräumt, die erste Inspiration für Abels Geschichte sind. Der Schreibprozess des Romans habe jedoch nach dem 11. September mit dem Ausbruch anderer Kriege, dem in Afghanistan und dem im Irak, eine andere Wendung genommen: Zwischen dem 11. September und dem 7. Oktober 2001 […] dachte ich nicht über meinen Roman nach. Ich dachte viel über Leute mit Namen Bush, Rumsfeld, Rice, Powell nach, und dann, vielleicht war es der 7. Oktober […] hatte ich es: das Monster, nach dem du suchst, ist „mein neues Vaterland, die Scham“. Die ein Mensch empfindet angesichts des Scheiterns der Humanität. Das Trauma, das der Krieg ist. (Mora 2015: 42-43) Andererseits habe in einer frühen Version des Romans das Thema der Migra‐ tionsbewegungen von Osteuropa nach Berlin sowie die Integrationsschwie‐ rigkeiten der Flüchtlinge ein viel größeres Gewicht, das die Autorin in der endgültigen Fassung deutlich abschwächte: „Ich glaube, es wurde vielleicht einmal nebenher erwähnt, dass Abel halb Ungar, halb ‚Jugo‘ (! ) war, aber nicht einmal dessen bin ich sicher“ (Mora 2015: 36-41). Folglich lässt sich feststellen: Während der Verlust der Muttersprache und der Heimat, den ein Flüchtling erlebt, in einem Rahmen kodifiziert wird, der viele Elemente mit der mitteleuropäischen Situation der 1990er Jahre teilt, bezieht sich der Konfliktzustand von AT nicht mehr auf einen bestimmten geografischen Ort oder eine bestimmte Zeit, sondern ist permanent. Er findet an allen Orten und zu allen Zeiten statt, im Hier und im Jetzt, ‚alle Tage‘. Der Panikzustand, nämlich die Auswirkung des Konflikts, betrifft also nicht ein einzelnes Individuum, Abel, sondern die ganze Welt. So wird Halldor Roses Plädoyer für den Frieden gegen Ende der Erzählung vom Protagonisten teilweise wiederholt, wenn er sich im Griff einer Panikattacke befindet: „Panik ist nicht ---, Panik ist ---“ (AT 337). Abels Fremdheit, die sich im Verlust seiner Sprache und seiner Heimat ausdrückt, verschlüsselt also eigentlich den Verlust aller Herkunft, aller Sprache. So zieht Abel die anderen Figuren - wie auch die Leser: innen - an und stößt sie gleichzeitig ab, so zieht er die Gewalt, die den Roman durchdringt, auf sich: Er verkörpert den Verlust des Eigenen, des Ortes, der Muttersprache, der Identität: 176 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="177"?> Worum geht es? Um Abel Nema. Wer ist Abel Nema? Ein Lehrer. Ein verschwiegener Typ. Ein Ausländer. Was heißt das: Ausländer? Einer, der nicht dort lebt, wo er geboren worden ist. Warum lebt er nicht dort, wo er geboren worden ist? Er ist fort. (Mora 2015: 41) AT erzählt also nicht nur die Geschichte eines Flüchtlings, eines Migranten, der vor dem Krieg auf dem Balkan flieht (vgl. Taylor 2013: 24), sondern will einen Code konstruieren, der die Fremdheit, die sich aus der Potenzialität des Konflikts ergibt, sprachlich darstellt (vgl. Albath 2019: 36). Schließlich fungiert Abel Nema, der Staatenlose, der Flüchtling, der Migrant, als Archetyp für die absolute Fremdheit der zeitgenössischen babylonischen Welt - eine Welt ohne Zentrum, in ständiger synchroner Bewegung, durchdrungen von Panik, in der der Krieg immer präsent ist. 5.4 Uljana Wolf: Translinguale Lyrik und mehrsprachiges Gedicht Seit ihrem Debüt im Jahr 2005 mit dem Gedichtband kochanie ich habe brot gekauft gilt Uljana Wolf als eine der am meisten geschätzten Persönlichkeiten der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik, was bereits 2006 durch die Verleihung des renommierten Peter-Huchel-Preises belegt wurde. In ihren beiden nachfolgenden Sammlungen, falsche freunde (2009) und meine schönste lengevitch (2013), entwickelte sich Wolfs leichtes, minimalistisches Schreiben zu einem mehrsprachigen Stil, der Deutsch mit dem Englischen hybridisiert. Schließlich stehen im Mittelpunkt ihres neuesten Texts, muttertask (2023), die Mutterschaft und die Mutter-Tochter-Beziehung, die erneut unter dem Aspekt der Sprache untersucht werden. Hauptsächlich aufgrund ihres mehrsprachigen Stils erhielt Wolf 2016 den Chamisso-Preis, was wie folgt begründet wurde: Ihre Annäherungen an das Fremde durch spielerische Reflexion sprachlich vermit‐ telter Realität sind gelungene Beispiele für eine zukunftsweisende kosmopolitische Literatur. […] Als Dichterin, Herausgeberin und Übersetzerin ist Uljana Wolf eine ungewöhnlich aufmerksame Grenzgängerin zwischen den Kulturen […]. Die in ihrem Gedichtband ‚meine schönste lengevitch‘ versammelten Prosapoeme wirbeln 5.4 Uljana Wolf: Translinguale Lyrik und mehrsprachiges Gedicht 177 <?page no="178"?> 86 Zu Wolfs verschiedenen Übersetzungswerken zählen die erasures von Elizabeth Barrett Brownings Sonnets from the Portuguese und ihren deutschen Versionen von Rainer Maria Rilke (Wolf/ Hawkey 2012), sowie die englische Übersetzung von Ilse Aichingers Schlechte Wörter (vgl. Aichinger 2018). Wolf übersetzte unter anderen auch Texte von Matthea Harvey, Eugene Ostashevsky, M. NourbeSe Philip. 87 Unter Wolfs umfangreicher essayistischer Produktion sind insbesondere Box Office (Wolf 2009b) und Etymologischer Gossip (Wolf 2021) hervorzuheben. Letzteres wurde 2022 mit dem renommierten Verlagspreis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet. 88 Ein Beispiel für die Förderung von internationaler, translingualer Lyrik ist die Veran‐ staltung Freily ausgefranst. Translingual Poetics (17-18.06.2019), die von der Autorin und Christian Hawkey im Rahmen des 20. poesiefestivals im Haus für Poesie in Berlin kuratiert wurde. Vgl. Wolf/ Hawkey (2019) sowie Freily ausgefranst (2019). verschiedene Sprachen phantasievoll durcheinander und stellen damit scheinbar eindeutige Identitäten produktiv in Frage. (Robert Bosch Stiftung 2016a) Wolf, die ihre theoretischen Positionen durch die Ausarbeitung einer sich auf dem Deutschen und dem Englischen beruhenden Terminologie zum Ausdruck bringt, definiert diesen Stil als „translinguale Lyrik“ (2021a) und fügt ihn in eine poetische Tradition ein, zu deren Einschreibung in den deutschen Kulturraum sie selbst beiträgt. Und zwar durch ihre Aktivitäten als Übersetzerin 86 und Essayistin 87 sowie durch die Förderung eines künstlerischen und kulturellen Diskurses rund um die Themen der literarischen Mehrsprachigkeit und der Übersetzung. 88 Was ihre Übersetzungstätigkeit betrifft, so umfassen Wolfs preisgekrönte Werke häufig englischsprachige Dichter: innen, die wie sie selbst das mehrsprachige Experimentieren oder die polysemische Sedimentation zum Ausgangspunkt ihres Schreibens machen. Nicht umsonst hat sich Wolf erstmals 2007 im Zusammenhang mit ihrer Arbeit an der Übersetzung des Gedichtbandes O Cadoiro der kanadischen Schriftstellerin Erìn Moure mit den Merkmalen der translingualen Lyrik auseinandergesetzt: Es könnte gar nicht darum gehen, mehrsprachige Äquivalenzen herzustellen, da bei translingualer - das heißt hier spezifisch: durch Mehrsprachigkeit und Übersetzungs‐ prozesse hergestellter - Lyrik häufig schon die Machtbeziehungen und historischen oder linguistischen Abstände zwischen den verwendeten Sprachen kaum übertragen werden können. (Wolf 2016: 91) In diesem Zitat werden zwei grundlegende Aspekte der von Wolf theoretisierten Poetik deutlich: Erstens wird sie nicht auf das Nebeneinander verschiedener Sprachen reduziert, das Wolf als „mehrsprachig“ bezeichnet, sondern entsteht vielmehr aus deren Kontamination mittels Übersetzungsprozessen: 178 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="179"?> 89 Im Folgenden werden Zitate aus beiden Versionen angeführt. [Moures Englisch] befindet sich […] von Anfang an […] im Austausch mit anderen Sprachen. Ihre erste Sprache, das hegemoniale Englisch, wird als Übersetzungssprache und Reservoirsprache mit durchlässigen Grenzen ausgestattet, wird von anderen Sprachen durchquert und poetisch dekolonisiert. (Wolf 2016: 88) Dieses Englisch von „durchlässigen Grenzen“ diene, so Wolf, als nützliches Vergrößerungsglas, um die Hegemonieverhältnisse zwischen den Kulturen zu erkennen, die auch in den Beziehungen zwischen den Sprachen immer anwesend sind. Diese Eigenschaft der translingualen Lyrik, so fährt Wolf fort (2016: 88-89), macht sie übersetzungsresistent, da die Beziehungen zwischen den kulturellen Räumen, die in die Kontaminationen zwischen den Sprachen, aus denen sie besteht, eingeschrieben sind, nicht direkt in anderen sprachlichen und kulturellen Dimensionen reproduzierbar sind. Diese Rolle der Dichtung, die hier nur angedeutet wird, erkundet Wolf in ihrer Eröffnungsrede beim vierten Berliner Festival für internationale und mehrsprachige Literatur PARATAXE im Jahr 2018, die später mit einigen Ände‐ rungen in der Essaysammlung Etymologische Gossip im Jahr 2021 veröffentlicht wurde. 89 Hier bezeichnet Wolf ihr eigenes Schreiben als „translantisch“ und „translingual“ und unterscheidet es deutlich von „mehrsprachiger“ Lyrik: Ein mehrsprachiges Gedicht ist nicht notwendigerweise ein translinguales Gedicht. […] Ein mehrsprachiges Gedicht kann in seinem Denken einsprachig sein. […] Wenn wir von translingualer Lyrik sprechen, heißt das keineswegs zwangsläufig, dass wir nur von einer quantitativ messbaren Präsenz mehrerer Sprachen im Gedicht sprechen müssen. Im Gegenteil, ein mehrsprachiges Gedicht kann in seinem Denken nach wie vor einsprachig sein. […] Dies trifft beispielsweise zu, wenn ein Gedicht fremd‐ sprachige Namen oder Äußerungen quasi touristisch verwendet, um Authentizität oder Verortung in anderssprachiger Wirklichkeit auszustellen. […] Wir hätten es dann zu tun mit einem Nebeneinander von Sprachen, die auf dem Paradigma von klar geschiedenen Einzelsprachen aufbauen, zwischen deren Bedeutung hin und her übersetzt werden kann. Die beteiligten Sprachen aber werden vom Fremdsprechen wenig affiziert, sie bleiben stabil, Träger von Bedeutung. Die Differenz zwischen Sprachen ergibt zwar eine mehrsprachige Polyfonie, nicht aber eine Polysemie. (Wolf 2021a: 131) Das Hauptkennzeichen der ‚translingualen Lyrik‘ sei kein formales Merkmal, sondern die Auffassung von Sprachen, auf der sie beruht: Die Grenzen zwischen den Sprachen seien willkürlich, sie bilden Räume, die von kontinuierlichen Bewegungen durchquert werden. Eine ‚einsprachige‘ Vorstellung von Spra‐ 5.4 Uljana Wolf: Translinguale Lyrik und mehrsprachiges Gedicht 179 <?page no="180"?> chen hingegen basiere auf der Trennung zwischen Sprachräumen, deren Bezie‐ hungen in Form von Übersetzungsäquivalenzen beschrieben werden können („zwischen denen Bedeutung hin und her übersetzt werden kann“). Die Dimen‐ sion, auf die Wolf abzielt, ist vielmehr die mehrsprachige Polysemie, welche die Grenzen zwischen Sprachen ununterscheidbar macht. Diese ästhetische Di‐ mension der Kontamination spiegelt Wolf zufolge die zeitgenössische kulturelle Pluralität wider, die ihren offensichtlichen Ausdruck in der Mehrsprachigkeit findet, die als Sozialisationserfahrung der gesamten Gemeinschaft verstanden wird, denn diasporische Erfahrungen seien keine Ausnahme, sondern die Regel der heutigen Gesellschaften: Wir leben in einer Welt, […] in der unterbrochene Vergangenheiten und diasporische Zukünfte zu grundlegenden Erfahrungen gehören. Damit einher geht die Ausbildung verschiedenster Sprachkompetenzen - von fließender Mehrsprachigkeit über Hol‐ pern der Lernsprachen zu Kiez-Kreol oder fröhlich gebrochener Literatursprache. Immer mehr Menschen wachsen polyglott auf. Andererseits navigieren auch solche Menschen, deren Alltag einsprachig bleibt, zunehmend heterogene linguistische Zonen und lernen, auf Verstehen und Nichtverstehen sprachlich zu reagieren - nicht nur mit Unverständnis. (Wolf 2021a: 128) Die Anerkennung dieser pluralen Konstellation geht einher mit einem Bewusst‐ sein für die reaktionären Kräfte, die sich ihr entgegenstellen: Ich erinnere daran, wie der Bundesvorsitzende der FDP, Christian Lindner, 2018 die Brötchenbestellung in gebrochenem Deutsch beim Bäcker mit mangelnder Recht‐ schaffenheit oder Illegalität in Verbindung gebracht hat. Dass immer öfter Politiker aller Parteien mit solch zündelnden Verknüpfungen öffentlich diesem Sprachdenken Vorschub leisten, lässt für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Gefragt sind gegendefini‐ torische Unterwanderungsarbeiten des nomadischen Denkens. Im Gedicht? Ja, im Gedicht. (Wolf 2021a: 128) In mehreren Gedichten fordert Wolf einen konservativen politischen Diskurs heraus, der die Einsprachigkeit zu einem Bollwerk für eine essentialistische Auffassung von Kultur erhebt und der zu diskriminierenden Maßnahmen und fremdenfeindlichen Strömungen gegen diejenigen führt, die sich nicht mit einer einzigen Sprache oder Nation identifizieren lassen. Solche konservativen Positionen fließen durch intertextuelle Bezüge in Wolfs Lyrik ein und werden hier konterkariert und unterlaufen. Ziel ist es, eine systematische „poetische Verstörung der Muttersprache oder Einzelsprache und der damit verknüpften Identitätsdiskurse“ (Wolf 2021a: 129) zu bewirken. Es ist zu schlussfolgern, dass Dichtung für Wolf inhärent politisch ist, da sie mit der Identitätsbestimmung des 180 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="181"?> 90 Wolf zitiert Yildiz’ Studie in der obengenannten Rede, wenn sie sich auf Celans Sprachpraxis bezieht: „Hier wird […] das monolinguale Postulat unterwandert, die deutsche Mutter- und Mördersprache minorisiert“ (2021: 131, Fußnote Nr.-106). Einzelnen in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einem Staat oder einem kulturellen Raum verbunden ist. Des Weiteren lässt sich Wolfs Poetik in diesem Sinne der Kategorie der „postmonolingual condition“ zugeordnet werden, wie sie von Yasmin Yildiz (2012) formuliert wurde. Yildiz’ Konzept des monolingualen Paradigmas hat deutliche politische Auswirkungen, denn durch die sprachliche Zugehörigkeit des Einzelnen zur ‚eigenen‘ Muttersprache wird eine andere, ebenso organische, physische und exklusive Zugehörigkeit abgeleitet, nämlich die zu „ethnicity, culture and nation“ (Yildiz 2012: 2). 90 Schließlich geben Wolfs Bemühungen um Selbstlegitimation Aufschluss über die Verbindung zwischen literarischer Mehrsprachigkeit und Autorenbio‐ graphie in der Gegenwartsliteratur Deutschlands. In mehreren Fällen betont sie, dass „[translinguale Literatur] auch von einsprachigen oder einmutter‐ sprachigen Autoren durch verschiedene Schreibstrategien erzeugt werden [kann], um festgefügte Sprachordnungen zu verunsichern“ (2021a: 129). Ihre Worte zeigen, dass sich diese ästhetischen Merkmale in der deutschsprachigen Literatur zwar durchgesetzt haben, jedoch hauptsächlich in Bezug auf ein bestimmtes Autorenprofil, nämlich Schriftsteller: innen, die mit Migrationsphä‐ nomenen in Verbindung gebracht werden. Die Ausprägung dieses Autorenpro‐ fils lässt sich auf die 33-jährige Aktivität des Chamisso-Preises zurückführen. Deswegen markiert die Verleihung des Preises an Wolf im Jahr 2016 einen Wendepunkt in der Geschichte dieser Auszeichnung, da die programmatische Verbindung zwischen Biografie und Poetik überwunden wurde. So findet sich auch bei Wolf: (Für einen kurzen Moment übrigens schien es, als ob die Robert-Bosch-Stiftung bei der überraschenden Vergabe des Chamisso-Preises 2016 an Esther Kinsky und mich selbst in diese Richtung zielte: Ein Literaturpreis für Autor*innen jedweder Herkunft, deutsch-muttersprachlich eingeschlossen, die Sprach- und Kulturwechsel thematisieren und ästhetisch durchspielen. Dann wurde er abgeschafft). (Wolf 2018) Wolfs translinguale Lyrik bildet die Grundlage für ihren zweiten und dritten Gedichtband. In den folgenden Seiten wird daher ihre Debütsammlung nur in Hinblick auf die allerersten Merkmale ihres späteren mehrsprachigen Stils analysiert. 5.4 Uljana Wolf: Translinguale Lyrik und mehrsprachiges Gedicht 181 <?page no="182"?> 91 Von nun an kihbg. 92 Die kleinen Stimmungsminiaturen des ersten Zyklus, die verschiebung des mundes, sind durch synästhetische Gegenüberstellung von Bildern aus verschiedenen Erfahrungs‐ bereichen konstruiert. Sie schildern poetisch Transformationen von einem Zustand in einen anderen, also die Formen der Verschiebung, auf die der Titel anspielt. Die 21 Kompositionen des zweiten Zyklus, flurstücke, die variieren in Länge und Struktur und entfalten eine Reflexion über die Ausdrucksmöglichkeiten von Frauen innerhalb einer patriarchalischen Welt. Dies ist ein Thema, das Wolf sehr am Herzen liegt und dem sie sich auch in den nächsten beiden Sammlungen widmet. flurstücke geht vor allem aus einem intertextuellen Dialog mit einer der umstrittensten Tragödien Shakespeares hervor, dem Titus Andronicus (1594), insbesondere aus der Auseinandersetzung mit der Figur von Lavinia. Der letzte Zyklus, krzyżowa, gefährten, wurde anlässlich einer poetischen Residenz in Kreisau verfasst. 5.5 Über die Grenze hinweg: kochanie ich habe brot gekauft Die vier Zyklen der Sammlung kochanie ich habe brot gekauft 91 bestehen aus einer variablen Anzahl von Gedichten mit unterschiedlichen rhythmischen und formalen Strukturen: die verschiebung des mundes (9-13), flurstücke (17-35), kochanie ich habe brot gekauft (39-56) und krzyżowa, gefährten (59-61). 92 Der Band endet mit der Sektion Anmerkungen (65-67), die Übersetzungen der in den Texten vorkommenden fremdsprachigen Begriffe bzw. Wörter (meistens auf Polnisch und Englisch) liefert, manche Stellen der Gedichte veranschaulicht, sowie die intertextuellen Referenzen angibt. Die vier Zyklen sind zwar unab‐ hängig voneinander, teilen jedoch zwei Hauptaussichten. Erstens untersuchen sie nach Cornelia Jentzsch (2006) die kommunikative bzw. formelle Ambivalenz der Sprache, spezifisch inwiefern sie potenziell als Instrument sowohl der Selbst‐ behauptung bzw. -befreiung als auch der Unterdrückung und des Betrugs dienen kann. Zweitens steht der Austausch zwischen den komplementären Sphären des interkulturellen Erkennens, dem Eigenen und dem Fremden, im Mittelpunkt. Dies zeigt sich in der lyrischen Annäherung an Polen und die polnische Sprache, die im mehrsprachigen Titel des Buches in den Vordergrund gerückt wird. In den alltäglichen Ausdruck „ich habe brot gekauft“ bricht das Fremde in Form der intimen Bezeichnung ‚kochanie‘ ein, die in den Anmerkungen als „Liebste, -r, -s“ übersetzt ist (kihbg 66). Auf den folgenden Seiten wird der dritte Zyklus, der dem Band seinen Namen gibt, analysiert, insbesondere die poetische Konstruktion des Motivs der Grenze und ihrer Überschreitung, welches als historische, sprachliche und kulturelle Annäherung an den Bereich des Fremden verstanden wird. Der Fokus der 13 Gedichte des Zyklus ist nach Jentzsch die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten und dem Anderssein, sei es kulturell, historisch oder sprachlich 182 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="183"?> konzipiert: „Es ist erst das Unverständliche, Andersartige und Unbekannte, das die heutige Generation zum Sprechen treibt. Drang und Bedürfnis wachsen, sich zu übersetzen, auf die andere Seite hinüberzusetzen - um sich verständlich zu machen und um gehört zu werden“ ( Jentzsch 2006). Stilistisch gesehen zeigt das mehrsprachige Experimentieren, das für den späteren Stil der Autorin so typisch ist, hier nur die allerersten Wurzeln, wie Wolf selbst in einem Interview einräumt (vgl. Wolf/ Hagerup 2021c: 101-103). Im ersten Gedicht, schliefen die öfen (kihbg 39-43), durchquert der poetische Diskurs die Gebiete an der Grenze zwischen Deutschland und Polen: Jeder der fünf Abschnitte entspricht einer Zugstation, die von Berlin über die Tschechi‐ sche Republik nach Legnica (Polen) führt: berlin; glachau; malczyce / maltsch; Die kleinen Bahnhöfe ohne einen Ort; legnica / liegnitz. Es handelt sich um Städte, deren Geschichte untrennbar mit einer oder mehreren Grenzen verbunden ist, die in verschiedenen Epochen und auf unterschiedlichen Wegen zwischen deutschen und polnischen Gebieten verliefen (vgl. Patrut/ Bauer 2017: 69). Diese bewegliche Grenze hat in der sprachlichen Dimension Spuren hinterlassen, wie die durch einen Schrägstrich getrennten Doppelnamen der Städte zeigen. Die Auseinandersetzung mit Polen, diesen Orten und dieser Grenze zielt haupt‐ sächlich darauf ab, historische Erinnerungen wieder zu verarbeiten und ihre transgenerationale Verdrängung zu bekämpfen. So Wolf: [I]ch [habe] irgendwann gemerkt, was mich an Spurensuche, Geschichtssuche inte‐ ressiert. Viele Gedichte in dem Band handeln von Deutschland und Polen. Das ist vor allen Dingen die Vätergeneration und das ist vor allen Dingen die Generation, die eigentlich nicht so viel über das spricht, was sie getan hat oder was da los war. […] Diese Väter sind sehr schweigsame Väter in diesem Buch und mit dieser Kommunikation oder Möglichkeit von Kommunikation, damit beschäftigen sich die Gedichte. (Wolf/ König 2006) Das Gedicht bildet somit die „Zeit-Raum-Reise“ (Patrut/ Bauer 2017: 69) eines kollektiven Subjekts („wir“), das eine Grenze überquert, welche die geopoli‐ tischen Veränderungen und Ereignisse des Kontinents signalisiert. Das Ziel ist, die kollektive Erinnerung wiederzuerlangen, indem das Schweigen der „väter“ überwunden wird. In diesem Schweigen verschleiert sich die Verant‐ wortung für die Gewalt des Zweiten Weltkriegs und seiner Nachwirkungen: in erster Linie für den Holocaust, aber auch die Geschichten der Vertriebenen sowie die Teilung Deutschlands. Der Titel des Gedichts, schliefen die öfen, kann sowohl als Verweis auf die Hochöfen der Stahlindustrie, die industrielle Basis der militärischen Aufrüstung und des Eisenbahnbaus, als auch auf die in den Konzentrationslagern betriebenen Krematorien gedeutet werden. Die 5.5 Über die Grenze hinweg: kochanie ich habe brot gekauft 183 <?page no="184"?> Todeszüge durchquerten gerade dieses Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen, und dieselbe Route in die entgegengesetzte Richtung wurde auch von den Vertriebenen aus osteuropäischen Ländern während der Nachkriegszeit genutzt, was der Biographie von Wolfs Großeltern väterlicherseits entspricht, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien vertrieben wurden (vgl. Jentzsch 2006). Die erste Etappe der Reise ist berlin (kihbg 39): als wir aufwachten mit nestern im haar die wir nacht nannten. schlugen die genesenden väter schaufelhändig alle klappen zu schliefen die öfen ohne uns in ihr vergessen zu nehmen Im ersten Abschnitt erwacht das lyrische Wir und spürt das Bedürfnis, die Verwirrung der Nacht zu klären, und nähert sich daher den Figuren der „väter“. Die darauffolgende Begegnung führt jedoch nicht zu mehr Verständnis, sondern zeigt vielmehr eine Distanz zwischen dem alltäglichen Handeln der älteren Generation und dem Blick des kollektiven Subjekts auf. Die „klappen“, also die Türen, die von den Vätern gewaltsam geschlossen wurden, stoppen die industrielle Produktion der Höfe sowie der Züge und verbergen gleichzeitig die Leichen der Deportierten, sodass sie aus dem Gedächtnis verschwinden. Der Begriff „klappe“ lässt sich auch in seiner umgangssprachlichen Bedeutung von ‚Mund‘ interpretieren, indem er sich dadurch auf das Schweigen der Väter bezieht. Die Erinnerung an den Holocaust wird in der Tat verborgen und verdrängt, zusammen mit der Verantwortung der Generationen, die durch die „väter“ repräsentiert werden (vgl. Patrut/ Bauer 2017: 69-70). Im zweiten Teil, glachau (kihbg 40), übernimmt die Figur der „großväter“ die Führung und verweist auf ein weiteres Instrument des Holocausts: die Züge, die Häftlinge aus Deutschland in die Konzentrationslager auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik und Polens transportierten: als wir krank waren von ruß und schüttgut aus archiven zogen wir mit den großvätern ins geschlossne stellwerk ein sahn die alten gleisbewacher ihre hände an die hebel legen 184 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="185"?> durch die tote weichenleitung ging ein zittern wie auf reisen Beginnend mit der Archivrecherche erlangt das kollektive Subjekt langsam ein Bewusstsein für die Beteiligung der Vorfahren an den historischen Ereignissen, was am Ende des Abschnitts bestätigt wird. Darüber hinaus sei laut Patrut und Bauer (2017: 69-70) im ersten Zweizeiler auch ein Hinweis auf die Öffnung der Archive der DDR in den 1990er Jahren und den Wunsch der jüngeren Generation erkennbar, historische Ereignisse wiederzuerlangen, die sie persönlich betroffen haben. Symbolischerweise stiehlt das Subjekt im dritten Teil (malczyce/ maltsch, kihbg 41) einen „waggon“, der nun in Vergessenheit geraten ist, um den Prozess der Wiederherstellung des kollektiven Gedächtnisses fortzusetzen: „als die ausrangierten wagen/ auf dem nebengleis träumten/ / […] stahlen wir einen trägen waggon/ aus seinem gleis aus seinem bett“. An der letzten Station, der polnischen legnica/ liegnitz (kihbg 43), trifft das lyrische Wir auf andere Gesprächspartner, „männer die nicht unsre väter warn“, mit denen das Subjekt in Kommunikation treten zu können scheint, wie der letzte Zweizeiler des Gedichts andeutet: „der rauch aus ihren mündern hing/ wie nacht uns lange noch im haar“. Im nächsten Gedicht, legnica północna (kihbg 44), verweilt die Sprechinstanz länger an einem dieser Bahnhöfe, und zwar an der nördlichen Endstation der Stadt Legnica. Der Begriff ‚północ‘ bedeutet eigentlich ‚Norden‘, kann aber auch ‚Mitternacht‘ bedeuten (vgl. Langenscheidt Polnisch 2024). Die erste Strophe des Gedichts übersetzt diese verschiedenen Bedeutungen ins Deutsche: „legnica deine richtung spricht sich: nacht halbnacht“. Im weiteren Verlauf des Gedichts kann man einen ähnlichen Übersetzungsprozess als treibende Kraft hinter der poetischen Schöpfung erkennen, da die späteren Strophen, wenn auch indirekt, auf die semantische Komplexität und Mehrdeutigkeit des polnischen Wortes eingehen. In einer anderen Gruppe von Texten erfolgt die Annäherung an das Fremde aus einer primär individuellen sowie metapoetischen Perspektive. Die Grenze und ihre Überschreitung werden als eine Begegnung zwischen Sprachen kon‐ struiert, die in Form von Übersetzungen und Liebesbegegnungen beschrieben werden, wie im Gedicht übersetzen (kihbg 46): mein freund: das ist unsere schlaglochliebe unser kleiner grenzverkehr holprig unter zungen 5.5 Über die Grenze hinweg: kochanie ich habe brot gekauft 185 <?page no="186"?> unser zischgebet und jetzt streichel mich auf diesem stempelkissen bis der zoll kommt mein freund: oder wir schmuggeln flügge geschmacksknospen gazeta wyborcza und münzen münzen in einem flüchtigen mundhöhle randvoll zur stoßzeit Dieses Gedicht zeigt eine komplexe, vielschichtige metaphorische Struktur: Auf den ersten Blick scheint es eine erotische Begegnung zwischen dem Subjekt und dem lyrischen Gesprächspartner, der als „mein freund“ apostrophiert wird, zu beschreiben. Ihre Begegnung wird als „grenzverkehr“ definiert, ein Neologismus Wolfs, der an den ‚Geschlechtsverkehr‘ erinnert, und der an eine kommerzielle, vielleicht sogar an die Illegalität grenzende Tätigkeit, welche die Form eines Grenzübertritts annimmt und gleichzeitig auf eine erotische Begegnung anspielt, evoziert. Diese Überschneidung mehrerer semantischer Bereiche - ein charakteristischer Aspekt von Wolfs Schreiben - wird durch weitere Bilder erreicht: die Zungen und ihre Bewegung in der ersten Strophe, oder das „stempelkissen“ der zweiten, das durch Metonymie sich auf das Bett bezieht und somit wieder eine erotische Begegnung impliziert. Diese wird in der dritten Strophe durch eine Zollkontrolle unterbrochen und die Instanzen sind gezwungen, ihre Schmuggelware zu verstecken. An dieser Stelle taucht ein polnisches Wort in dem Gedicht auf, nämlich „gazeta wyborcza“ - eine polnische Zeitung, wie Wolf in den Anmerkungen am Ende des Buches erklärt - in Verbindung mit einem deutschen Wort, das ebenso deplatziert erscheinen könnte, „geschmacksknospen“. Angesichts der Stellung der beiden Wörter könnte man meinen, dass es sich um die Waren handelt, die während dieses (Liebes-)Handels geschmuggelt werden. Während dies in Bezug auf eine Zeitung noch vernünftig erscheinen mag - wenn man sich Zensurprobleme vorstellt -, klingt die Idee des Schmuggels von Geschmacksknospen gelinde gesagt bizarr. Das Gedicht schließt mit dem Bild von frisch geprägten „münzen münzen“, die im Mund versteckt werden, um über die Grenze transportiert zu werden. Um den Sinn der letzten beiden Strophen zu verstehen, ist die dritte Interpretationslinie erforderlich, die sich aus dem Titel des Gedichts ergibt. 186 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="187"?> 93 Wolf mobilisiert die Polysemie dieses Worts ebenfalls in ihrem Essay Sichtbarmachen ist eine Form des Übersetzens. Zu M. NourbeSe Philips Zong! (Wolf 2021b). Der Begriff ‚übersetzen‘ ist zwar polysemisch, denn die Akzentstellung unterscheidet zwischen dem physischen Überschreiten oder einem Übergang von einem Ufer zum anderen - der Akzent liegt auf der Vorsilbe - und der Umwandlung einer Sprache in eine andere - wenn er auf den Wortstamm fällt (vgl. Duden 1979). 93 Im Kontext der Grenze, die das Gedicht bewohnt, werden Schmuggelwaren von einer Seite auf die andere übertragen (d. h. ‚übergesetzt‘); diese Schmuggeltätigkeit scheint jedoch im Mund selbst stattzufinden („unter zungen“), d. h., sie werden ‚übersetzt‘. Schmuggelware sind also nichts anderes als Wörter, wie „gazeta wyborcza“ oder „geschmacksknospen“, die leicht im Mund transportierbar sind. Wenn sie gelernt werden, können sie Lücken füllen - jene semantischen Leerstellen, die neue Wörter aufnehmen („mundhöhle“). Da die Gedichte in diesem Zyklus von Wolf zur Zeit ihres Aufenthalts in Polen geschrieben wurden, könnte man sich diese Übersetzungsakte auch als den schwierigen Erwerb einer Fremdsprache vorstellen, die Wolf anhand der tradi‐ tionellen Metapher der Übersetzung als Grenzübertritt ästhetisch reflektiert hat. Die physische Dimension der interlingualen Begegnung wird noch im Ge‐ dicht kochanie ich habe brot gekauft (kihbg 48) weiter dargestellt. Auch hier tritt das Thema der Zweisprachigkeit des Subjekts deutlich zutage: so bildet die fremde gespräche aus ich erkenne sie mit warmem rücken mit geschlossenen augen in einem doppelbett immer noch ohne muster ohne richtige antwort nur die gewöhnung an berg und tal wie sich was zu hälften fügt auf einer übersetzbaren matratze 5.5 Über die Grenze hinweg: kochanie ich habe brot gekauft 187 <?page no="188"?> Die Koexistenz zweier Sprachen im Subjekt erscheint metaphorisch in Form einer Wärme auf dem Rücken, einem Zeichen der Anwesenheit eines anderen in dem „doppelbett“, in dem sich das lyrische Ich befindet. Die unvollkommene Beherrschung der Fremdsprache impliziert eine schwankende Dialogfähigkeit, die Wolf mit dem Ausdruck „berg und tal“ auf eine Berg-und-Tal-Fahrt, also eine Achterbahn, assoziiert, denn sie aus Höhen und Tiefen besteht. In den letzten beiden Zweizeilern taucht das Bild des Bettes wieder metonymisch auf, in dem die sprachliche Sphäre mit der erotisch-liebenden verflochten ist: Die Sprachen ergänzen sich auf einer Matratze, die „übersetzbar“ ist, da sie den Sitz kontinuierlicher Übersetzungsprozesse (mit beweglicher Akzentsetzung) darstellt. Mit Bezug auf das Gedicht übersetzen lässt sich behaupten, dass sich auf dieser Matratze der „grenzverkehr“ zwischen den beiden Sprachen vollzieht. Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass das Thema der Annäherung an das Fremde in diesem Zyklus durch die Metapher der geographischen, histori‐ schen und sprachlichen Grenzüberschreitung dargestellt wird, die wiederum in einigen Gedichten die Gestaltung des physisch-erotischen Sprachaustauschs annimmt. Dennoch lässt sich behaupten, dass die poetische Annäherung an das Fremde hauptsächlich die thematische Dimension der Gedichte betrifft, d. h. die konstruierten Bilder, und nicht ihre formale Ebene. Das wird besonders deutlich, wenn man den poetischen Diskurs von kihbg in Bezug auf die spätere Entwicklung von Wolfs Stil betrachtet. 5.5.1 Vom mehrsprachigen Gedicht zur translingualen Lyrik In übersetzen und kochanie ich habe brot gekauft kommen polnische Wörter als sprachliche Marker der Andersartigkeit vor, die deutsche Texte unterbre‐ chen und auf eine unsichere Erkundung fremder Territorien hinweisen. Diese Erkundung findet stets in Form einer sprachlichen Begegnung durch Überset‐ zungsprozesse statt, die durch poetische Bilder wie den „grenzverkehr“ und die „übersetzbare matratze“ hervorgerufen werden. Die einzelnen Worte auf Polnisch, welche die Gedichte untermalen, werden jedoch - zusammen mit anderen Ausdrücken auf Englisch aus anderen Gedichten - in den Anmerkungen am Ende des Bandes übersetzt. Was aber noch wichtiger ist: Zwischen den Sprachen erfolgt formell keine Kontamination, denn die Fremdwörter und der deutsche Sprachfluss bleiben voneinander getrennt. Wie in den Städten, die in dem Gedicht schliefen die öfen vorkommen, erscheinen Deutsch und Polnisch nebeneinander, bleiben aber durch einen Schrägstrich auseinander, der eine sehr reale sprachliche Grenze darstellt. Selbst im Gedicht legnica północna sind die sprachlichen Grenzen nicht überschritten, denn die semanti‐ 188 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="189"?> sche Mehrdeutigkeit kennzeichnet bereits den polnischen Begriff, während das Deutsche lediglich als Vehikelsprache fungiert, um sie zu veranschaulichen, aber nicht, um sie in Gang zu setzen. Mit anderen Worten, die beiden Sprachen treffen aufeinander, beeinflussen sich aber nicht gegenseitig: Ihre Individualität bleibt vom Moment der Begegnung an unangetastet. Das Gleiche gilt für die englische Sprache, die im Zyklus flurstücke auftaucht und eine noch stärker abgegrenzte Position einnimmt als das Polnische. Zitate im Original aus der intertextuellen Referenz des Zyklus, Shakespeares Tragödie Titus Andronicus, werden in kursiver Form vom Textkörper abgehoben und sind in der Sektion Anmerkungen übersetzt. Die von Wolf beabsichtigte „poetische Verstörung der Muttersprache oder Einzelsprache“ findet in diesem Band daher keine formelle Wiederspiegelung. Schließlich wird die Möglichkeit, sich frei von einer Sprache in eine andere zu bewegen, von einer Kultur in eine andere, nicht durch formale Hybridisierungen realisiert. Im Vergleich zu den späteren Gedichtsammlungen und ausgehend von Wolfs reifen Überlegungen, scheint kihbg daher als ein mehrsprachiges Gedicht und nicht als translinguale Lyrik einzuordnen zu sein: Die Unterscheidung zwischen Sprachen, die bestimmte kulturelle und nationale Räume nachzeichnen, wird durch die Mehrsprachigkeit dieses Textes verstärkt, und die Machtverhältnisse, die bei dieser sprachlichen und kulturellen Auseinandersetzung infrage kommen, finden in diesem ersten Band kaum Beachtung. Um die Auswirkungen dieses poetischen Ansatzes und den Unterschied zu Wolfs späterer Dichtung zu verstehen, können die Überlegungen von Doris Bachmann-Medick und Emily Apter zu dem Verhältnis zwischen Übersetzen, Kulturaustausch und Grenzüberschreitung herangezogen werden. Ausgehend von einer Erweiterung des Übersetzungsbegriffs über die reine Textualität hinweg versteht Bachmann-Medick (vgl. 1997, 2006, 2008, 2012) das Übersetzen als interpretativen Schlüssel der Prozesse des Austauschs, der Hybridisierung und des Konflikts zwischen kulturellen Räumen im Zeitalter der Globalisierung. In diesem Zusammenhang ruft die Translationswissenschaftlerin dazu auf, die Metapher der Übersetzung als Grenzüberschreitung zugunsten eines Überset‐ zungsdenkens als „border-thinking“ beiseitezulegen (Bachmann-Medick 2012: 32). In der globalen Ära zeigen die Kontakte zwischen kulturellen Räumen eine im Wesentlichen konfliktreiche Natur, die durch oft unvereinbare Differenzen entsteht (vgl. Bachmann-Medick 2008: 142): „[Cultures are not] unified givens that, like objects, could be transferred and translated; they are constituted only through multifarious overlaps and transferences, by histories of entanglement under the unequal power conditions of world society“ (2012: 31). In der Tat lassen sich diese Differenzen und die von ihnen ausgehenden Konflikte 5.5 Über die Grenze hinweg: kochanie ich habe brot gekauft 189 <?page no="190"?> in vielen Fällen als Manifestation von unterdrückten Kräften verstehen, die sich gegen neokoloniale Hegemonieprozesse wehren (vgl. Bachmann-Medick 2008: 142-151). Hinsichtlich der asymmetrischen Beziehungen zwischen den Kulturen zeigt sich die Rolle der „Übersetzung in der Weltgesellschaft“ laut Bachmann-Medick als problematisch, denn die Überwältigung der kulturellen Differenzen, die in den Metaphern der Übersetzung als „Grenzüberschreitung“ und „Brückenschlag“ kristallisiert wird, impliziert auch die Unterdrückung sowie Abschwächung der Konflikte (vgl. Bachmann-Medick 2008: 142-151). Wenn das Übersetzen als eine assimilierende Kraft agiert, lässt es sich laut Bach‐ mann-Medick als „globalisierungsgängige[r] Typ von Übersetzung in der Welt‐ gesellschaft“ (Bachmann-Medick 2008: 144-145) bezeichnen. Im diametralen Gegensatz dazu stehe die Übersetzung, die sich der politischen Implikationen der Prozesse des Kulturaustauschs und damit ihrer eigenen Rolle bewusst ist, nämlich das „kritische […] Übersetzen in der Weltgesellschaft“ (Bachmann- Medick 2008: 152). Diese Form der Übersetzung ziele nicht darauf ab, Analogien und Äquivalenzen herzustellen, sondern verstärkt vielmehr die Divergenzen, Konflikte und Diskrepanzen, die die Komplexität der globalen Welt ausmachen (vgl. Bachmann-Medick 2012: 31). Emily Apter (2013) schlägt eine ähnliche metaphorische Wende vor, die die hierarchischen Unterschiede zwischen den Kulturen und die daraus entste‐ henden Konflikte anerkennt, anstatt sie zu ignorieren. In Apters Überlegungen (2013: 111-115) wird der Grenzraum als privilegierter Ort zur Beobachtung der Machtausübung in der globalen Welt betrachtet. Aus diesem Grund sollten Übersetzungsprozesse nicht dazu auffordern, diesen Raum zu überschreiten, sondern ihn zu erkunden. Zu diesem Zweck können kulturelle „check-points“ in Form von Momenten der Unübersetzbarkeit eingerichtet werden, die Reibungen und Brüche in den Prozessen des kulturellen Kontakts offenlegen: Work by a number of artists has proved crucial to understanding how a translational checkpoint may be mobilized as a kind of ‚antiborder border‘, […] a critique of the way in which translation theory has used ‚border-crossing‘ as a prime metaphor of general equivalence, ready meaning-exchange, and interdisciplinarity. (Apter 2013: 14) Zurück zu kihbg: In dieser ersten Sammlung wird die Grenze während ihrer Überquerung betrachtet: In schliefen die öfen bildet sie das Setting der Gedichte, wir beobachten die verschiedenen Stationen in Form der Städte, an denen der poetische Zug haltmacht. In übersetzen und kochanie, ich habe brot gekauft ermöglichen Übersetzungsprozesse einen reibungslosen Übergang von einer Sprache zur anderen. In dieser Sammlung erkennt Wolf zwar das poetische Potenzial der Grenze, betrachtet sie jedoch noch nicht von innen heraus, und 190 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="191"?> 94 Von nun an ff. vor allem trägt ihre poetische Sprache kaum Spuren dieser Überschreitung. Ihre frühen Texte können daher noch als Beispiele eines „mehrsprachigen Gedichts“ im Sinne Wolfs (vgl. 2021a) betrachtet werden, da die Begegnungen zwischen den Sprachen keine Unruhe in die Stabilität und Unabhängigkeit der nationalen Sprachen bringen; genauso können sie einer Vorstellung von Übersetzung als Metapher und Werkzeug zur Überquerung von Grenzen zugeordnet werden. Im Gegensatz dazu stehen in ihrer zweiten Sammlung die Machtverhältnisse im Mittelpunkt, die bei Migrationsprozessen sowie beim transnationalen globalen Transit eine Rolle spielen. Entsprechend kann die poetische Sprache dieser Überlegungen als translinguale Lyrik beschrieben werden. 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde In Kontinuität mit kihbg steht im Mittelpunkt des 2009 erschienenen Bandes falsche freunde 94 eine Reflexion über die Doppeldeutigkeit der Sprache, die sowohl als Instrument der Unterdrückung und der Aufrechterhaltung des Status quo dienen kann, als auch als Ort, an dem marginale Identitäten Gegennarrative entwickeln. Wenn dieses Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit der Sprache auch dem vorherigen Band zugrunde lag, so stützt es doch in ff auf einem innova‐ tiven ästhetischen Prinzip, das in der poetischen bzw. poeitischen Rolle von Übersetzungsprozessen wurzelt und in der Hybridisierung des Deutschen mit dem Englischen realisiert wird: „[Wolf] hat […] in ihrem zweiten Gedichtband falsche freunde den Vorgang des Übersetzens selbst zur Grundlage des Dichtens erhoben. Das ist neu“ (Brüning 2012). Diese Übersetzungsprozesse sind jedoch abweichend von der Norm, wie bereits im Titel des Bandes angedeutet wird. Der Ausdruck ‚falsche freunde‘ bildet eine wörtliche Übersetzung des eng‐ lischen ‚false friends‘, das in der Linguistik zwei Begriffe aus ebenso vielen Sprachen bezeichnet, die akustische oder grafische Ähnlichkeiten, aber unter‐ schiedliche Bedeutungen haben (vgl. Crystal Dictionary 2008). Der Titel der Sammlung ist also theoretisch ein ‚Übersetzungsfehler‘ und kristallisiert genau aus diesem Grund die poetische Haltung dieser Sammlung heraus. Solche ‚fal‐ sche Freundschaften‘ werden in der Tat zu einem poetischen Prinzip, denn durch sie ist es möglich, das polysemische Potenzial von Wörtern freizusetzen. Die Figur ist also an sich ein Akt der Befreiung, der durch einen nicht-normativen Übersetzungsprozess aktiviert wird. Strukturell betrachtet, weisen die fünf Abschnitte eine beachtliche thema‐ tische Geschlossenheit auf. Der Band wird von zwei kurzen Gedichten einge‐ 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 191 <?page no="192"?> 95 subsisters, der einzige Zyklus, der in dieser Analyse nicht behandelt wird, lässt Holly‐ wood-Diven der 1940er und 1950er Jahre zu Wort kommen. Die Gedichte bestehen aus der Gegenüberstellung eines stereotypenbestätigenden Textes und eines anderen, der die gewohnten Vorstellungen von Weiblichkeit und Berühmtheit in Frage stellt und somit als eine Art subversiver Untertitel dient. rahmt, die als Einleitung und Abschluss dienen, dust bunnies (5) und look on my card (85). Dazwischen folgen drei Zyklen aufeinander: DICHTionary (7-35), sub‐ sisters (37-51) und aliens (53-82). 95 dust bunnies fungiert als programmatische Einführung in die Sammlung, da es die Leser: innen bei der Interpretation des Folgenden anleitet. DICHTionary ist ein poetisches Wörterbuch von Wolfs Stil, das in 26 Prosagedichten die Verbindungen zwischen ebenso vielen Gruppen von ‚falschen Freunden‘, eine für jeden Buchstaben des englischen/ deutschen Alphabets, deutlich macht. Der letzte Zyklus, aliens, ist in zwei Teile gegliedert, die beide im Sprachraum der Grenze spielen: Im ersten, aliens I: eine insel (55-72), erklingen die Stimmen von Einwanderer: innen auf Ellis Island, der Insel vor New York, auf welcher die US-Migrationskontrollen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert stattfanden. Im zweiten, aliens II: liquid life (73-82), werden die Dokumente, welche die heutigen biometrischen Grenzkontrollen begleiten, neu geschrieben. In diesem Rahmen erscheint das US-amerikanische Englisch als die Sprache der Grenzkontrolle, beides auf Ellis Island und heutzutage. Wolfs Beziehung zur englischen Sprache geht auf ihr Studium der Anglistik an der Humboldt- Universität zurück, das sie auf den Weg der Übersetzung brachte. Später, nach ihrer Heirat mit dem US-amerikanischen Dichter Christian Hawkey, lebte Wolf konkret zwischen Berlin und New York (vgl. Lehmkuhl 2009). Schließlich ist dieser Band durch eine neue poetische Form gekennzeichnet, die Wolf kohärent in allen Zyklen - mit der Ausnahme von aliens II - an‐ wendet, und zwar das Prosagedicht. In ihrem Essay über diese Form, Box Office (2009), führt Wolf ihre Annährung zum Prosagedicht auf den Einfluss der US-amerikanischen Dichtung zurück - spezifisch von Ralph Waldo Emerson, Matthea Harvey, Rosmarie Waldrop und John Ashbery. Hier kommentiert Wolf ein Prosagedicht von Harvey, in dessen Mittelpunkt die Beschreibung eines Zentauren steht. Darauffolgend erklärt Wolf den Gewinn dieser Form, und zwar ihre hybride Verortung zwischen der Lautdimension der Dichtung und dem freien Erzählfluss der Prosa: Er [Harveys Text] ist ja selbst ein Zwitterwesen. Er hält sich wie ein Gedicht, hat rhythmische Sentenzen, genau ausgearbeitete Lautstrukturen, Alliterationen, sogar Reime. Doch fehlt ihm etwas Entscheidendes, Scheidendes, nämlich Verse, oder 192 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="193"?> 96 Wolf teilte diese Informationen während des ihr gewidmeten Seminars (am 30.01.2019) im Rahmen des Kurses über Gegenwartslyrik von Professorin Jutta Müller-Tamm (Wintersemester 2018/ 2019, Freien Universität Berlin). sagen wir umgebrochene Zeilen. Statt dessen finden wir ungebrochene Zeilen, einen kompakten Textblock, Absatz, eine Box - ein Prosagedicht. […] Es geht um […] Gebundenes-Ungebundenes, Ungebärdiges in einer Box. Den fehlenden Vers, eine fehlende Fest-Stelle. Um Bewegung, Gegenrede. (Wolf 2009b: 8) Wie Wolf in einem anderen Fall behauptete, 96 wandte sie sich dieser poetischen Form während der Verfassung des Zyklus DICHTionary zu, d. h. als sie bei der Herstellung ihrer ‚falschen Freundschaften‘ Raum für akustische und semanti‐ sche Gegenüberstellungen benötigte. In Wolfs Prosagedichten ist der minimale Bestandteil der Dichtung nicht der Satz, nicht der Vers, sondern das Wort in seiner im Wesentlichen polysemischen Natur und seiner morphologischen Struktur, wie es im Gedicht dust bunnies und in Zyklus DICHTionary besonders zu Tage tritt. Schließlich ist diese Form ohne Form, das Zusammentreffen von Gegensätzen laut Wolf ideal, um geschlossene Definitionen von Identität abzulehnen: „Ein Übermaß an poetischer Energie, herbeigeführt durch die Zu‐ sammenschau von Anfang und Ende, Offenheit und Geschlossenheit, der Kollaps identitätsstiftender Grenzen in einem Augenblick durchlässigster Gleichzeitigkeit“ (Wolf 2009b: 15, Hervorhebung von mir). 5.6.1 Polysemische Ablagerungen: dust bunnies und DICHTionary Als Titel für die einleitende Komposition des Bandes entlehnt Wolf den Aus‐ druck ‚dust bunnies‘ aus dem Englischen, der die sich in den Ecken von Räumen abgelagerten Staubhaufen bezeichnet (vgl. Oxford 2005) und auf Deutsch auch ‚Staubmäuse‘ genannt wird (vgl. Oxford German 2008). In Wolfs Gedicht erhalten diese Wesen einerseits ihre wörtliche Bedeutung zurück, indem sie zu hüpfenden Tierchen werden, und andererseits kommt ihnen eine symbolische Dimension zu, da sie als Beispiele für die vielschichtige Anreicherung der Poesie gelten: wir wollten über kleine tiere sprechen, wollte auf die knie gehen für die kleinen tiere, jene aus staub und schlieren, in ritzen und dielen, jene, die in grauen fellen frieren, unsere tiere aus nichts. wir wollten auch ganz nah in deiner sprache und in meiner hauchen, sag mir liebes, hast du heute schon gesaugt. nein, wir wollten unsere tieren nicht erschrecken, klein wie flecken, sind das 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 193 <?page no="194"?> flecken, haben sie nicht puschelschwänze, lange löffel, oder lange schwänze, tuschelohren, wollten wir nicht weniger rauchen, weniger husten, weniger entweder oder sein. gestern war die zimmerecke einsam in ihrer knarzenden öde. heute ist sie hort, heute zärtlichen hodern ein port, wir wollen also stille sein, auf den knien lauschen: unsere kleinen tiere, wie sie ihre wollenen, mondgrauen namen tauschen. (ff 5) Der im gesamten Text vorherrschende Rhythmus ist aufgrund des jambischen Fußes aufsteigend und wird durch Wiederholungen („kleine tiere“), Reime („tiere“, „schlieren“, „frieren“) und Alliterationen („staub“, „grauen“, „aus“, „auf “; „fellen“, „frieren“) noch kadenzierter. Nicht nur reproduziert diese akustische Struktur das Hüpfen der dust bunnies, sondern sie assoziiert auch antithetische Elemente, die durch eine allmähliche Sedimentation diese zitternden Tierchen bilden: „staub“, „schlieren“, „ritzen“, „dielen“ und „nichts“. Diese Wesen, die sowohl mit „puschelschwänzen“ als auch mit „langen schwänzen“ ausgestattet sind, lassen Gegensätze nebeneinander bestehen, sie sind Gebilde der Akkumu‐ lation, die in Wolfs poetischem Stil vorkommen. Das Gedicht gewinnt bei der Auseinandersetzung mit diesen kleinen Tieren ein emanzipatorisches Potenzial, denn die Vorstellung von den dust bunnies erfordert freie Assoziationen, die es der Phantasie erlauben, zwischen mehreren semantischen Sphären zu verweilen und sie zusammenzuhalten („weniger entweder oder sein“). Tatsächlich haben diese Entitäten einen direkten Bezug zur Sprache und zum Zuhören: Das Gedicht beginnt mit dem Wunsch zu sprechen, konjugiert in der Vergangenheitsform („wir wollten über kleine tiere sprechen“), es fährt fort, indem es die Notwen‐ digkeit einer Annäherung an die wesentlichere Dimension der Sprache erläutert („wir wollten auch ganz nah in deiner sprache und in meiner hauchen“) und schließt in der Gegenwartsform mit einer Entscheidung für das Schweigen. Die Warnung besteht darin, dem Austausch von baumwollartigen Namen zu lauschen, der sich zwischen diesen kleinen Tieren in einem mondähnlichen Grau abspielt. Bei näherer Betrachtung ist es nicht das Gedicht, das die dust bunnies ins Leben hervorruft, sondern wiederum, es sind die dust bunnies, die dem Gedicht Gestalt verleihen, da sie seine wesentlichen Bestandteile sind. Sie bilden das polysemische Wort von Wolfs Stil, seine minimale begriffliche Einheit, deren subversives Potenzial einen gnoseologischen und kognitiven Wert hat, da diese Figuren die Grundlage einer Sprache bilden, die logische und dichotome Verbindungen ablehnt und sich für das Zusammentreffen von Gegensätzen öffnet. In dem freien Raum dieses Prosagedichts lässt sich die Entwicklung 194 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="195"?> von Wolfs poetischem polysemischem Wort in der Gestaltung der dust bunnies beobachten. Dieses polysemische Wort entwickelt sich mehrsprachig im nächsten Ab‐ schnitt, und wird zu den falschen freunden, aus denen DICHTionary zusam‐ mensetzt ist. Das eröffnende Zitat von Erín Moure liefert einen Interpretations‐ schlüssel: „At the moment of translation there is a synapse. The uncrossable that will be crossed“ (ff 7). Dadurch wird auf die zentrale Rolle der Übersetzung in diesen Gedichten hingedeutet, die als Auslöser neuer neuronale Verbindungen verstanden wird. Es handelt sich also um einen kreativen Akt, der das kognitive Potenzial des Wortes vervielfacht. Des Weiteren kündigt die Verwendung des Futurs („will be crossed“) eine Überquerung an, die nicht bereits ein Ergebnis, sondern noch ein Prozess ist: Der übersetzerische Moment bleibt immer in einem potentiellen Zustand und regeneriert sich aus diesem Grund kontinuierlich. Auf das Zitat von Moure folgt eine weitere Seite, die das DICHTionary wie folgt illustriert: ein deutsch - englisches wörterbuch für falsche freunde verstreute cognates und andere verwandte (ff 9) Ähnlich wie „falsche freunde“ stammt „cognates“ aus dem Bereich der Lingu‐ istik, wo es Begriffe aus verschiedenen Sprachen bezeichnet, die denselben etymologischen Ursprung haben (vgl. Crystal Dictionary 2008). Hier sind solche entfernten Verwandten „verstreut“, so dass es notwendig ist, ihre Verbindungen anzuerkennen oder vielleicht neue Verwandtschaften zu schaffen („andere verwandte“). Das ist genau der Vorgang, der sich hinter dem Titel des Zyklus verbirgt. DICHTionary ist eine Kreuzung zwischen dem deutschen polysemi‐ schen Begriff ‚dichten‘ („dicht machen“ oder „ein sprachliches Kunstwerk verfassen“, vgl. Duden 1979) und dem englischen ‚dictionary‘. In seiner zweiten Bedeutung hat der deutsche Begriff dieselbe lateinische etymologische Wurzel wie ‚dictionary‘: Ersterer leitet sich von ‚dictāre‘ ab, der Intensivform von ‚dicere‘ (vgl. Kluge 1989), die wiederum die Grundlage für das lateinische Wort ‚dictionarium‘ (vgl. Partridge 1990) bildet, von dem sich die englische Form ableitet. Beim Wiedertreffen dieser entfernten Verwandten entsteht ein neues Konzept, das ‚DICHTionary‘, nämlich ein poetisches Wörterbuch der akustischen Verknüpfungen zwischen Sprachen, die grammatikalischen Normen missachtet. In diesem Zusammenhang verweist Wolfs Neologismus auf eine Dichtung, die die Dichte der Sprache dank mehrsprachiger Verknüpfungen 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 195 <?page no="196"?> erhöht: Dank der Fragmentierung normativer semantischer Bindungen und der Schaffung neuer Verwandtschaften entwickeln Wörter ihr polysemisches Potenzial über den Raum einer einzigen Sprache hinaus. So veranschaulicht Andreas Degen die Wirkungsweise der Polysemie in diesem Gedichtband: Durch die Aktivierung zweier Sprachcodes beim Lesen einer Graphemfolge [werden] zwei (lexikalisch, grammatikalisch und semantisch unähnliche) Wörter überlagert […] und - in Interaktion mit dem manifesten textuellen wie latenten intertextuellen Kontext - es [kann] dadurch zu einer semantischen Komplexitätserhöhung kommen […]. (Degen 2016: 212) falsche fruende ist also ein subversiver Band in Bezug auf grammatikalische und etymologische Normen. Üblicherweise sind Wörterbücher alphabetisch aufgebaut und beruhen auf der Möglichkeit, die beiden Sprachen, deren termi‐ nologische Äquivalenzen sie aufzeigen, klar zu unterscheiden. Im Gegensatz dazu besteht Wolfs DICHTionary aus rhizomatischen Beziehungen zwischen den Wörtern, aus denen sich die untrennbare Verbindung der beiden Sprachen ergibt. Jede Seite dieses Wörterbuchs ist in zwei Teile gegliedert: Oben finden wir eine grafische Darstellung von falschen freunden, d. h. durch Linien verbundene Wortgruppen, die an semantische Bäume, an „Matrizen“ (Metz 2018: 29) erinnern, aus denen unten ein Prosagedicht entspringt. Jeder Text befasst sich mit einem Thema, indem er die terminologischen Verbindungen der Matrix weiterentwickelt, weitere hinzufügt und stets metapoetisch über die Dichtung selbst reflektiert. Das erste Prosagedicht entwickelt beispielweise die Matrize art/ apart und fo‐ kussiert die physische Dimension der Sprache, verstanden als die Verflechtung ihrer akustischen und körperlichen Natur: am anfang war, oder zu beginn, welche art laut, oder leise: listen, when they begin the beguine, und wann ist das. und muss, wer a sagt, gar nichts, wer b sagt, der lippen sich gewiss (gebiss erst etwas später) und sein: sei sprechen dann die art of falling auseinander, der stille, dem rahmen, immer apart, so ausgefallen wie nur eben ein. (ff 10) Der erste poetische Akt, der die Welt erzeugt („am anfang war“), findet nicht in der Schrift statt, sondern in der akustischen Dimension („welche art laut“). Eines der Wörter in der Matrize, „art“, das sich im deutschen Sprachkontext auf die ‚Art‘ des hervorgerufenen Klangs bezieht, wird hier ins Spiel gebracht. Durch den Gegensatz zwischen „laut“ und „leise“ ergänzt der nächste Satz die soeben konstruierte Bedeutung, wobei die Begriffe die Intensität des Klangs bezeichnen. 196 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="197"?> 97 Es handelt sich um eine Anspielung auf einen Jazz-Song von Cole Porter: So don’t let them begin the Beguine. Es ist zu bemerken, dass die semantische Dichte mit der syntaktischen Freiheit korrespondiert: Indem Wolf auf Artikel und die Deklinationsmarkierungen verzichtet sowie die Kleinschreibung bevorzugt, erhöht sie die Kombinations‐ möglichkeiten der Wörter. Durch die zahlreichen Alliterationen wird am Ende der Zeile das englische Wort „listen“ evoziert. Der Doppelpunkt unterbricht den Verlauf des Textes und verstärkt die Aufforderung zum Zuhören über die semantische Dimension hinaus. Mittels der Ritze, die „listen“ in das Gedicht einbringt, geht die zweite Zeile auf Englisch weiter. Rückblickend könnte „art“ also Englisch sein und sich auf die künstlerische Verwendung von Klang im poetischen Schreiben beziehen. Weiter erinnert „begin“ tatsächlich an das deutsche „beginn“ der ersten Zeile und stellt eine fast perfekte Homophonie mit „beguine“ 97 dar, einem Begriff, dessen Unklarheit durch die folgende Frage noch verstärkt wird: „und wann ist das“. Wenn die Frage umformuliert wird, entsteht ein Kurzschluss zwischen den beiden Sprachen, den Anfang bzw. oder Beginn der Beguine. Dieser akustische Wirbel ermöglicht es dem Deutschen, wieder in das Gedicht einzutreten, ohne dass eine Reibung zwischen den beiden Sprachen zu spüren sei. Der nächste Satz beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie die Laute erzeugt werden: / a/ ist ein freier Luftstrom, um / b/ zu erzeugen, muss man die Lippen in Bewegung setzen, aber noch nicht auf sie beißen - was bei labiodentalen Lauten wie / f/ , / θ/ , / v/ geschieht. Jenseits der verschiedenen grafischen Umsetzungen gehören Klänge zu keiner einzigen Sprache: Sie sind freier als die geschriebene Sprache. So fährt das Gedicht fort: „sei sprechen dann die art of falling aus-/ einander, der stille, dem rahmen, immer apart, so ausgefallen wie nur eben ein“. Der Akt des Sprechens soll als eine befreiende Ablehnung des Nexus begriffen, als eine Verherrlichung der Fremdheit, die sich der Norm entzieht. „die art of falling auseinander“ ist ein hybrider mehrsprachiger Ausdruck: Die „art“ der Matrize kann auf beide Sprachen zurückgeführt werden, der Artikel „die“ und das Adverb „auseinander“ gehören zum Deutschen, während „of falling“ Englisch ist. Indem sie zusammengesetzt werden, löst sich ein semantischer Kurzschluss aufgrund der kombinatorischen Möglichkeiten aus, die diese einfache Nebeneinander‐ stellung im hybriden Kontext des Satzes hervorruft. Erstens besteht „falling auseinander“ aus zwei in einer Übersetzungsbeziehung verbundene Verben, nämlich der Englische ‚to fall apart‘ und der Deutsche ‚auseinanderfallen‘ (vgl. Oxford German 2008). Die Ersetzung des englischen Adverbs durch ‚aus‐ 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 197 <?page no="198"?> 98 Gerade die Entfaltung des kompositorischen Prinzips des Textes steht im Kern der Übersetzung bzw. Nachdichtung, die die Künstlerin Sophie Seita von Auszügen aus ff durchgeführt hat (siehe Wolf 2017). einander‘ bzw. des deutschen Verbs durch das englische ‚falling‘ verlangsamt den Entschlüsselungsprozess, so dass die Aufmerksamkeit auf diesen hybriden Ausdruck gelenkt wird. Schließlich vermittelt das Enjambement visuell die Bedeutung des Ausdrucks: Sprechen bedeutet, Bezüge zu brechen, aus dem Schweigen herauszutreten und sich von normativen Rahmen zu lösen. Die Analyse dieses ersten Prosagedichts zeigt, dass Wolfs Dichtung von den Übersetzungsverbindungen zwischen den Wörtern abhängt und aus diesem Grund unübersetzbar wird, so paradox dies auch erscheinen mag. Wollte man nämlich „die art of falling aus-einander“ wiederherstellen, müsste man ähnliche Prozesse der polysemischen mehrsprachigen Sedimentation nachbilden, ihr Kompositionsprinzip reproduzieren, nicht aber die Bedeutung der einzelnen Wörter. 98 Die zweite Matrize, die hier analysiert wird, ist kau/ kind/ kiss~en (ff 20), wobei die Tilde die Verwandlung des Englischen ‚kiss‘ (‚Kuss‘) in das deutsche ‚Kissen‘ markiert. Wie im vorangegangenen Prosagedicht setzt Wolf auch hier ihre Forderung fort, der schriftlichen Dimension der Sprache Vorrang einzuräumen: sei ein kind, lieber freund, und höre was du hier nicht siehst: kau, genau, als wüchse über diese zeilen gras, eine art saftige güte, und grübeln wär erlaubt wie grasen oder lesen mit dem magen: ruminate, illuminate. und wirst du müd, und wollen deine lippen anderes wissen, bau ich uns aus heu ein kissen. am morgen liegt auf unserer grünen lektüre wieder tau, genauer: lauter lupen. (ff 20) Der Incipit des Textes lädt einen Gesprächspartner dazu ein, sich auf die akustische Dimension der Sprache zu verlassen und in ihr wie ein Kind zu entdecken, was ihm sonst entgehen würde: In der Aufforderung zum Kauen („kau“) verbirgt sich in der Tat über die Homophonie eine englische Kuh, ‚cow‘ (deren Aussprache / kaʊ/ ist, vgl. Oxford 2005). In der zweiten und dritten Zeile konstruiert Wolf einen Gegensatz zwischen einer abstrakten und einer physischen Vorstellung der Sprache, beginnend mit der Gegenüberstellung beider Verben, „grübeln“ („graben, herumstochern; nachforschen, nachdenken“, Duden 1979) und „grasen“ („Gras abfressen; weiden“, Duden 1979). Wenn Gras auf den Zeilen wachsen würde, dann würden wir sie abgrasen, wie die Kuh in der ersten Zeile, die sie liest und verdaut. Es ist ein besonders suggestiver Satz, dank des Rhythmus und der Alliteration, insbesondere des Lautes / g/ , der die wichtigsten Wörter von Wolfs Argumentation verbindet: „gras“, „sanftige güte“, 198 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="199"?> 99 Das Verb ‚to ruminate‘ heißt u.a.: „turn over in the mind; meditate deeply on; […] chew the cud, turn over in the mouth again“ (Shorter Oxford 2007). „grübeln“, „grasen“, „magen“. Die klare Trennung zwischen einer begrifflichen Erfahrung der Welt und dem Körperlichen wird nun durch die Einbeziehung der englischen Sprache überwunden. In der Tat tendiert der gesamte Satz zu der Auflösung, die nach dem Doppelpunkt erreicht wird; daraufhin verlangsamt er sich und stoppt durch den Wechsel des Rhythmus, die Einführung des Reims, den Übergang zum Englischen und die Interpunktion. Der neue alliterative Nexus des Lautes / m/ verbindet „magen“ mit „ruminate“ und „illuminate“, d.-h. das Verdauen mit dem Denken. In der Tat enthält das polyseme englische Verb ‚to ruminate‘ durch eine Übersetzungsbeziehung sowohl die deutschen Verben ‚grübeln‘ als auch ‚grasen‘ in sich, d. h. beide Vorstellungen von Sprache, die in diesem Gedicht in ihnen ihren Ausdruck finden: Der Begriff bezeichnet sowohl den Akt des Grübelns, als auch die typische Fressweise von Wiederkäuern, d. h. ‚grasen‘. 99 Die Kluft zwischen den beiden Dimensionen der Sprache wird hier zunächst aufgedeckt und anschließend durch Übersetzungsprozesse über‐ wunden. Das Ergebnis ist die Entwicklung einer Denkweise, die auf akustischen und assoziativen Aspekten der Sprache basiert und in dem Wort „illuminate“ - ‚leuchten‘, ‚beleuchten‘ (vgl. Oxford German 2008) - gipfelt. Dies kommt in der letzten Sequenz des Gedichts zum Ausdruck, in dem aus dem Nexus „kiss~en“ der Matrize ein Kissen aus Heu quellt, das gleichzeitig ein Kuss ist und auf den Lippen ruht. Diese Prosagedichte zeigen, wie Übersetzung als Schreibprinzip in diesem Band funktioniert: Als potenziell unendlicher Prozess verdünnt sie die Grenzen zwischen den beiden Sprachen, deren Material ununterscheidbar wird. 5.6.2 Grenzalphabete Im letzten Zyklus des Bandes, aliens, kommen Grenzübertritte in ihrer Konkret‐ heit als Migrationsereignisse zu Wort, die in erster Linie auf einer körperlichen Ebene erlebt werden. Der Zyklus beginnt mit einer Wörterbuchdefinition des englischen Begriffs ‚alien‘ (ff 54), wobei die drei Hauptbedeutungen aufgelistet werden: „strange“, „foreign“ und „extraterrestrial“. Von der Andersartigkeit in Bezug auf das Subjekt geht man zur nationalen und kulturellen Zugehörigkeit über und schließlich zur absoluten Fremdartigkeit derjenigen, die Lichtjahre von unserer Welt entfernt sind. Der gesamte Zyklus ist also eine Reflexion über die Art und Weise, wie dieser Begriff zugeschrieben wird, seine Bedeutung und seine Folgen. Die terminologische Wahl von ‚alien‘ anstelle des Verweises auf den ‚Fremden‘, der 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 199 <?page no="200"?> im Mittelpunkt von Wolfs erstem Band stand, ist entscheidend. In kihbg wird die Beziehung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten in der Dimension der Reise, sowohl geographisch als auch zeitlich, und in der Begegnung zwi‐ schen den Sprachen erlebt. In aliens hingegen wird diese existenzielle Fremdheit durch eine Andersartigkeit ersetzt, die als Produkt von Kontrollmechanismen verstanden wird, die wiederum in wirtschaftliche und geopolitische Konstella‐ tionen eingebettet werden können. Der ‚Fremde‘ wird also durch den ‚alien‘ ersetzt, eine Zuschreibung, die nicht nur identitär, sondern vor allem biopoli‐ tisch ist. Der Raum der Fremde, in dem sich Wolfs erstes Gedicht bewegte, wird durch ein Grenzgebiet ersetzt, das nicht mehr überschritten, sondern von innen aus betrachtet wird. Das Setting des Zyklus ist in der Tat eine spezifische Grenze, nämlich die von Ellis Island (aliens I), sowie die Sprache der biometrischen Kontrollen (aliens II), die für alle Grenzen stehen, an denen Dynamiken der Erschaffung von ‚aliens‘ und deren unmittelbarer Ausschluss aus der Gemeinschaft produziert werden. Im Zusammenhang mit den Kontrollen, die an den Grenzen stattfinden, spielt die Sprache für Wolf also die Rolle eines biopolitischen Kontrollinstruments. Dieser Interpretationsschlüssel wird dann zu Beginn des ersten Teils präzisiert, dem ein Zitat aus George Perecs und Robert Bohrs Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht vorausgeht (ff 55): [A]uch auf Ellis Island hatte das Schicksal die Gestalt eines Alphabets. Sanitätsoffiziere untersuchten rasch und zügig die Ankömmlinge und zeichneten diejenigen, die sie für verdächtig hielten, mit Kreide einen Buchstaben auf die Schulter, der für die Krankheit oder das Gebrechen stand, die sie ausgemacht zu haben glaubten. Schauplatz dieses ersten Teils ist also die Insel vor New York City, auf der zwischen 1892 und 1954 etwa 12 Millionen Einwandernden (vgl. M. Schmitz 2009) eilig medizinischen Untersuchungen unterzogen wurden, von deren Urteil ihre Einreise ins Land abhing. Wie Wolf betont (zitiert in M. Schmitz 2009), war das Ergebnis der Untersuchung anhand der Buchstaben des Alphabets angekündigt, welche die Beamten mit Kreide auf die Kleidung der Menschen malten, um die festgestellten Krankheiten oder die Körperteile, die Probleme bereiteten, zu kennzeichnen: xsuspected mental defect; bback; cconjunctivitis; ggoiter und so weiter. An diesem vom Rest der Welt abgetrennten Ort schreibt dieses Alphabet den Untersuchten eine eindeutige Identität zu und übt dabei biopolitische Macht auf die Körper der Grenzüberquerenden aus: „Das eben an mit xsuspected mental defect, vermutliche Geisteskrankheit, bis hin zu Füßen, Schwangerschaft, Kropf, Gesicht, fface war auch einfach ein Begriff. Und so wurde der ganze Körper abgearbeitet“ (Wolf zitiert in M. Schmitz 2009). Jede der 200 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="201"?> 100 Die konsultierten Texte sind auf der letzten Seite des Bandes (ff 86) angegeben. Für aliens I, werden historische Quellen und Zeugnisse zusammen mit Büchern über historische Einwanderungen in die Vereinigten Staaten aufgelistet. Die Geschichte von Ellis Island ist übrigens gut dokumentiert, beispielsweise im National Museum of Immigration, das heute in den Gebäuden untergebracht ist, die einst die Einwanderungsstation beherbergten. 17 Texte der Sektion ist einem der Ellis Island Codes und den damit verbundenen individuellen Identitäten gewidmet, die Wolf anhand von Zeugenaussagen und historischen Dokumenten über Ellis Island herausarbeitete. 100 Wolf schafft somit dramatische Momentaufnahmen der Urteilswarte: Die erneute Überquerung des Atlantiks in Richtung Europa bedeutete für viele den sicheren Tod und für Familien eine endgültige Trennung. Ähnlich wie die Struktur des vorherigen Zyklus ist jede Seite in zwei Abschnitte unterteilt: Oben befindet sich eine Liste der von den Inspektoren verwendeten Buchstaben mit den entsprechenden Pathologien, unten ist das Prosagedicht einer kollektiven Sprechinstanz. Jeder Eintrag kommentiert das Urteil der Offiziere, bekräftigt die Komplexität der Geschichte und der Identität der Subjekte, die auf Ellis Island auf diese Codes reduziert wurden. Der Zyklus beginnt mit x-suspected mental defect (ff 56): x marks the spot? und ob. wir, überführt allein durchs irre hiersein, auf der stelle, am kopf der steilen treppe, in sechs sekunden ist alles entdeckt: wir sind die stelle selbst. stinkende inseln. in tücher gehüllt, üble see im leib, imbecile, labil, im besten fall bloß durch den wind. ein flatternder zettel zwischen den zähnen, name, passage, die schatzkarte. selbst ausgegraben, selbst hergetragen. in der gepäckstation: „ein blick auf die bündel, ich weiß alles. die knoten verraten den knüpfer, seine zitternde hand“. Das Incipit im Englischen bezieht sich auf die Markierung auf einer Karte, möglicherweise sogar auf eine Schatzkarte, die den genauen Ort angibt, den man suchen oder finden soll. Die Komposition dreht sich um die vielfältige Bedeutung dieses Zeichens. Die kollektive Stimme begibt sich auf eine Reise, die von dem abenteuerlichen Wunsch getrieben wird, nach anderen Möglichkeiten, d. h. nach einem Schatz, zu suchen. Durch diese Suche findet sich das lyrische Wir in der vorliegenden Erzählung am oberen Ende der Treppe wieder, die den Bereich der medizinischen Untersuchungen mit demjenigen verbindet, in dem über die eigene Zukunft entschieden wird. Die Erfahrung der Überfahrt sowie der gegenwärtige Zustand, den die Subjekte auf Ellis Island erleben, sind totalisierend: In diesem „irre[s] hier-sein“ verbirgt sich nicht nur die chaotische 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 201 <?page no="202"?> Situation, die allen Berichten zufolge die Insel kennzeichnete, sondern vor allem die Kraft eines ontologischen Zustands, da das Individuum, das auf dieser Treppe schwebt, völlig mit seinem Zustand als Einwanderer und mit dem auf die eigene Kleidung aufgedruckten Buchstaben zusammenfällt. Und in der Tat, wenn das „x“ Ellis Island als Schatzinsel, als das gelobte Land der Vereinigten Staaten zu identifizieren scheint, so ist die Entdeckung, die die Personen oben auf der Treppe erwartet, eine ganz andere. Während der unzureichenden medizinischen Untersuchung findet eine Art Übersetzung statt: Der Ort, den das „x“ markiert, ist nicht Ellis Island, sondern der Körper der ‚aliens‘, die damit verdinglicht werden. Die Verwandlung in „stinkende Inseln“ ist eine Anspielung auf das Gefühl der Einsamkeit, das diese Personen empfinden, die durch dieses Zeichen auch von ihren Begleiter: innen getrennt sind. Der Rest des Prosagedichts enthüllt weiterhin die Unmenschlichkeit des Pro‐ zesses, dem diese Einwanderer: innen unterworfen waren. Die Verbindungen, die durch Alliterationen und Reime zwischen „üble see im leib“, dem engli‐ schen „imbecile“ und „labil“ unterstreichen die Verwandlung des von Übelkeit geplagten Körpers in ein Zeichen von Geisteskrankheit: In den sechs Sekunden des Besuchs könnte das durch die Überfahrt erzeugte Unwohlsein für eine kognitive Retardierung gehalten werden. In der nächsten Zeile wird diese Störung ironisch durch „im besten fall bloß durch den wind“ begrenzt, was einen doppelten Bezug hat. Der idiomatische Ausdruck ‚durch den Wind sein‘ („verwirrt, aufgeregt sein; unkonzentriert, zerstreut, gedanklich abwesend sein“, DWDS 2024) bezeichnet den Zustand der Verwirrung bzw. Inkohärenz, der auf ein traumatisches oder extrem anstrengendes Ereignis folgt. Dieser Ausdruck stammt aus dem Nautikjargon und beschreibt auf zwei Ebenen die schreckliche Überfahrt, die die Menschen gerade hinter sich gebracht hatten und die sie fröstelnd, immer noch mit Übelkeit und vor allem erschöpft zurückließ. In der folgenden Passage kehren wir in den Raum zurück, in dem sich alle Besitztümer der Einwanderer: innen stapelten. Die folgenden Texte beschäftigen sich mit anderen Identitätszuschreibungen aus diesem Alphabet der Grenze. Der zweite Teil des Zyklus aliens II: liquid life verdankt seinen Namen dem Konzept der „liquid modernity“ von Zygmunt Bauman (2000). Der Begriff weist auf die Abwesenheit von festen Punkten, also von Solidität hin, welche die heutige Gesellschaft kennzeichnet, in der das Leben jedes Einzelnen von Unsicherheit und Prekarität durchzogen ist. Zwei Zitate leiten den zweiten Teil des Zyklus ein. Das erste stammt von Bauman selbst und fasst das Kon‐ zept der Liquidität zusammen: „In short: liquid life is a precarious life, lived under conditions of constant uncertainty“ (ff 73). Die nächsten neun Seiten sind Überarbeitungen des sprachlichen Materials, das biometrische Kontrollen 202 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="203"?> strukturiert, d. h. solche, die die Weitergabe persönlicher Daten über die Lebensfunktionen einer Person erfordern, wie z. B. die Netzhauterkennung oder den Fingerabdruck. Solche Texte - von denen Wolf am Ende des Bandes eine Liste erstellt - sind von größter Bedeutung für die Strukturen der biopolitischen Kontrolle, welche die zulässigen Bewegungen in der heutigen Gesellschaft bestimmen, wie Wolf selbst behauptet: Mir war dieser Begriff deshalb wichtig, weil, ja weil er sehr gut angebracht ist, auch um die Grenzerfahrung, die wir heute haben, beim Einwandern oder beim Überschreiten der Grenze zu beschreiben. Der Körper […] ist flüssig geworden, er ist ein Datenpaket, dass uns sozusagen vorausreist und dann mit uns abgeglichen wird, wenn wir die Grenze überschreiten: Fingerabdruck, Iris-Scan und so weiter und so fort. Und das sozusagen als Beispiel für die prekäre oder ständige Unsicherheit, die Baumann [sic! ] beschreibt. (Wolf zitiert in M. Schmitz 2009) In aliens II werden die Originalquellen gelöscht und verschoben, so dass die neun Texte in der Sektion - drei auf Englisch, der Rest auf Deutsch - als fragmentierte verbale Lockangebote erscheinen, die auf den ersten Blick keinen kommunikativen Inhalt haben. Die Entleerung der Semantik der Sprache spielt auf die alltägliche Entfremdung an, die man bei der Auseinandersetzung mit diesem sprachlichen Material empfindet. In der Tat wird bei sorgfältiger Lektüre deutlich, wie die verschiedenen Wörter neue Bedeutungen erzeugen, sowohl durch lineare Nebeneinanderstellungen als auch durch die in ihrer verstreuten Anordnung hergestellten Verbindungen. So erkennt man beispielweise in einem Text (ff 82) folgenden Sprachbrocken: „you are property of “ „US“; „There is no“ „privacy“; „Us“ „alters damages destroy us“. Die Originaltexte zu fragmentieren bedeutet, ihnen die normative Kraft zu entnehmen, die sie ausüben. Auch wenn die in diesem Abschnitt beschriebene Erfahrung des Überschrei‐ tens realer und digitaler Grenzen sicherlich die biografischen Erfahrungen der Autorin widerspiegelt, die mehrere Jahre lang zwischen Berlin und New York lebte, ist die Gegenüberstellung der beiden Abschnitte, aus denen sich der Zyklus zusammensetzt, besonders bedeutsam. Die medizinischen Untersu‐ chungen, denen sich die Überquerer: innen des Atlantiks unterzogen haben, weisen in ihrer unmenschlichen Dimension, die Wolf immer wieder betont, Ana‐ logien zu unserer heutigen, alltäglichen und daher normalisierten Erfahrung auf. Zunächst einmal fällt auf, dass die Abgrenzung von Ellis Island heute allge‐ genwärtiger ist: Wenn sie noch eine materielle Dimension besitzt, erscheint sie auf unseren Bildschirmen als Pop-up. Im Gegensatz zu den ‚aliens‘ auf der New Yorker Insel ist der heutige Mensch ständig Kontrollen ausgesetzt, angetrieben von der Sicherheitsparanoia, welche die heutige Gesellschaft kennzeichnet. Dies 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 203 <?page no="204"?> ist keine außergewöhnliche Erfahrung, sondern für viele Menschen Normalität, der Preis, den sie für die globale Freiheit des Transits zahlen müssen. Diese Interpretationslinien werden im abschließende Prosagedicht, look on my card (ff 85), wieder bestätigt. Der Text, der dust bunnies entspricht und einen ähnlichen Incipit aufweist, ist eine Reflexion über den Weg, den das poetische Schreiben in diesem Band aufgeschlagen hat: wir wollten über diesen satz wie eine stadt uns beugen, punkt erzeugen, mundraum, traum von hören, oder sagen: hier, in diesem netz aus zungen, ist ein weg gelungen, ein versehen, verstehen. auf unseren stirnen, die sich fast berührten, klebte lingua franca, schon legende: you are here, i am who, ein routenspiel, doch was wir sprachen, kam nicht an. die roten linien schnalzten, rollten sich zurück in ihrer eigenen namen, raunten mit dem griechen chartis, carta aus italien und karte, also mir: sieht aus, als wären wir hier. almost true friends. so fanden wir, mit falschem wort, den ort, und falteten den rest der stadt, nach art des landes, wie man sagt, in mappen ein. Ist der Kern des ersten Textes das Wort, so ist die Bezugsdimension hier der Satz, d. h. die kombinatorischen Möglichkeiten, die im Laufe der Sammlung erkundet wurden. Es ist möglich, diese Prosagedichte zu durchqueren, indem man sie mit dem Band in Beziehung setzt, wie eine Karte der erkundeten Orte. Ähnlich wie dust bunnies verkündet das Gedicht ein Ziel, das sich auf eine vergangene Zeit bezieht: die Schaffung eines neuen Sprachraums - „erzeugen, mundraum“ -, der ausdrücken kann, was nur in der akustischen Dimension möglich ist. Der Prozess, durch den der poetische Diskurs enträtselt wird, wird durch das Bild des Netzwerks dargestellt: kein linearer Weg, der aus aufeinan‐ derfolgenden Etappen besteht, sondern die Ko-Präsenz verschiedener Zentren, verschiedener ‚hier‘, zwischen denen viele multidirektionale Verbindungen gewebt werden. Es handelt sich um dieselbe Operation von DICHTionary, wo die Fragmentierung der grammatikalischen und etymologischen Beziehungen das akustische und polysemische Potenzial freigesetzt hat, das durch die Begegnung zwischen zwei Sprachen entsteht, die in ihrer Körperlichkeit als „zungen“ verstanden werden. Dieser Prozess des wirklichen Verstehens ist auch einer der Ablehnung normativer Bedeutungen, die stattdessen durch jene sinnstif‐ tenden Missverständnisse ersetzt werden, die durch ‚falsche freunde‘ („ein versehen, verstehen“) entstehen. Wolfs poetisches Schreiben wird so als eine „lingua franca“ im Sinne eines Kreolischen verstanden, das aus der physischen Begegnung verschiedener Individuen entsteht, die sich so nahe kommen, dass 204 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="205"?> ihre Stirnen aneinander stoßen, während sie sich bücken, um die Karte dieser Sprache zu betrachten und ihren eigenen Standort zu suchen und zu finden. Durch die Aktivierung der Polysemie des Begriffs „legende“ („kurze, erbauliche religiöse Erzählung […]; erklärender Text zu den auf Abbildungen, Karten, o.ä. verwendeten Zeichen“; Duden 1979) verweist Wolf auf die Reaktualisierung der inzwischen legendären historischen Erinnerung an Ellis Island, um sich in der Gegenwart der biometrischen Kontrollen zu orientieren. Diese Orientierung führt jedoch nicht zu einer bestimmten Affirmation - „doch was wir sprachen, kam nicht an“ - sondern eher zu einer Gewohnheit, endgültige Identität und geografische Auferlegungen abzulehnen. Die Norma‐ tivität der Karte („you are here“) wird durch eine Frage beantwortet („i am who“), wobei „who“ dank der Interferenz mit dem deutschen falsche freunde ‚wo‘ mit einem dichteren semantischen Wert aufgeladen wird. Das „here“ wird also durch eine Frage nach ‚wem‘ und ‚wo‘ beantwortet. Die Beziehungen zwischen dem griechischen „chartis“, dem italienischen „carta“ und dem deutschen „karte“ scheinen einen Ankunftspunkt zu suggerieren, die Möglichkeit eines perfekten Übersetzungsprozesses als Funktion der Orientierung: „sieht aus, als wären wir hier. almost true friends“. Das Gedicht und der gesamte Band schließen jedoch mit der Ankündigung des unerschöpflichen kreativen Potenzials des Nexus der falschen freunde, der zwischen den Zeilen und zwischen den Falten der Worte die Funktion der Karte selbst zurückweist. Es ist das ‚falsche‘, irrende Wort, das den von Anfang an gesuchten Ort in sich trägt: „so fanden wir, mit falschem Wort, den Ort“. Die Überlappung zwischen den Begriffen „Mappe“/ „map“ stützt sich auf die geteilte Etymologie (vgl. Kluge 1990) und zusammen mit ‚karte‘/ ‚card‘ fordert sie dazu auf, die Oberfläche der „karte“ zwischen den Falten der „mappen“ beiseitezulegen. So schließen das Gedicht und der gesamte Band mit einer Zelebration des Sich-Verlierens im poetischen und poeitischen Potenzial der Fehlübersetzungen und unübersetzbaren Übersetzungen. Abschließend lässt sich das, was Wolf in Bezug auf die Form der Prosagedichte behauptet, als Motto auf den gesamten Band ausbreiten: „Dass man zuerst von Dichotomien sprechen muss, von den Grenzen. Dass diese Dichotomien im selben Atemzug aufgelöst werden“ (Wolf 2009b: 11). So wie die Grenzen den Ort des Zyklus aliens bilden, so verlassen wir auch im Rest der Sammlung diese Dimension nie, denn sie ist der Raum, in dem das poetische Schreiben der Au‐ torin entsteht. Die Entscheidung, die Grenze von innen zu betrachten, spiegelt sich auch und vor allem in Wolfs Stil wider, der sich im Vergleich zu kihbg stark verändert. Dieses Schreiben geht von Wörtern aus, deren Zugehörigkeit zu den beiden beteiligten Sprachen, Englisch und Deutsch, nicht definierbar ist, da sie sich in experimentellen Verflechtungen entlang der Grenzen zwischen 5.6 Innerhalb der Grenze: falsche freunde 205 <?page no="206"?> 101 Von nun an: msl. 102 Wie Wolf während des oben erwähnten Seminars an der Freien Universität Berlin feststellte. 103 In den fünf Gedichten des zweiten Zyklus, mittens, greift Wolf die Versstruktur wieder auf, spezifisch in Form von Zweizeilern. Die Beschreibungen von Naturskizzen reflektieren einerseits die Position des Subjekts, die Idee des festen Wohnsitzes und der geographischen Zugehörigkeit, andererseits die Beziehung des Individuums zur Sprache. Der Titel des dritten Zyklus, kalte küche, bezieht sich auf die Erzählung Meine Sprache und Ich von Ilse Aichinger, auf die in dem Band mehrfach Bezug genommen wird. Der erste Abschnitt dieses, drei bögen: böbrach, bezieht sich auf das bayerische Flüchtlingslager Böbrach, das 2013 im Mittelpunkt einer hitzigen öffentlichen Debatte in Deutschland stand (siehe: Süddeutsche Zeitung 2013). Vor diesem Hintergrund reflektiert Wolf über die Grenzen der Freizügigkeit und die Annahmemechanismen im den beiden Idiomen auflösen. Die Übersetzungsprozesse, die im ersten Band das Bildrepertoire und die Erfahrungssphäre des Textes betrafen, nehmen in der zweiten Sammlung den Charakter einer übersetzerischen Hybridisierung an, insofern unter Übersetzung nicht die Anerkennung semantischer Äquivalenzen zwischen Begriffen verstanden wird, die in Wörterbüchern stehen, sondern vielmehr die Schaffung unerwarteter und ‚ungenauer‘ Verbindungen, die neue Bedeutungen erzeugen: [Das] Nachdenken über das Eigene und das Fremde [ist] einfach eine gute Möglichkeit […], Identität als solche infrage zu stellen, Authentizität. Das ist ja auch der Punkt, warum Übersetzung so spannend ist, weil das irgendwann infrage stellen kann, was ist das Original, was ist die Übersetzung, woran binden wir eigentlich unsere Auffassung von eigen und fremd und so weiter. (Wolf zitiert in M. Schmitz 2009) Die nächste Sammlung konzentriert sich auf ein Thema, das in den ersten beiden Bänden noch nicht beleuchtet wurde: die poetische und individuelle Mehrspra‐ chigkeit in Bezug auf die Konzepte der Muttersprache und Nationalsprache. Sie stellt somit eine weitere Etappe in Wolfs mehrsprachiger Reflexion dar. 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch Ähnlich wie kihbg ist Wolfs dritte Sammlung meine schönste lengevitch 101 (2013) heterogen strukturiert und besteht aus sechs Zyklen, die sich inhaltlich und formal stark unterscheiden und die unabhängig voneinander realisiert wurden: 102 bricklebrit (7-17), mittens (21-25), kalte küche (29-36), method acting mit anna o. (38-64), bougainville (67-70) und babeltrack. notizien zu einem lengevitch (73-84). 103 Gemeinsam ist diesen Abschnitten jedoch die poetische 206 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="207"?> Land. Der zweite Teil von kalte küche besteht aus fünf Miniaturen, die mit fabelhaftem Ton Erinnerungen an die Kindheit in der DDR und Bilder aus dem Märchen Tischlein deck dich, Esel streck dich und Knüppel aus dem Sack verweben. Im Mittelpunkt steht wieder die Beziehung zwischen dem Individuum und der Sprache: Das goldene Zeitalter, in dem die Sprache eine direkte Beziehung zur Außenwelt hatte - „eine art direkte verbindung mit dem ding“ (msl 32) - verwandelt sich in ein Zeitalter des Chaos, in dem die referentiellen Bindungen der Wörter zerbrochen sind. Die Zauberformel erlaubt es nicht mehr, die Welt zu verändern, „tischlein: no more“ (msl 33). Im vierten Zyklus, method acting mit anna o. lässt Wolf Sigmund Freuds und Josef Breuers Patientin Berta Pappenheim, besser bekannt als Anna O., in freier direkter Rede zu Wort kommen. Nach Angaben von den Psychoanalytikern litt die Patientin an einer Art aphasischer Störung, die sie dazu brachte, ihre Muttersprache, das Deutsche, und das Englische zu vermischen. In dem Zyklus präsentiert Wolf zwei Monologe mit dem Titel annaloge , in denen Vorstellungen von Weiblichkeit und geistiger Gesundheit durch diese melodische „aphasische“ und intertextuelle Sprache untergraben werden. Dieser Zyklus endet mit dem Abschnitt spitzen, in dem Wolf erneut mit dem Layout des Textes experimentiert, indem sie einige Stickmuster reproduziert (Berta Pappenheim sammelte Spitzen und Spitzenstoffe). Das Gedicht bougainville, der vorletzte Teil von msl, erscheint als eine Übung im akustischen Stil, die natürliche Bilder und Interferenzspiele zwischen Wörtern und Sprachen kombiniert, ohne einen konzeptionellen Faden zu entwirren. Aufgrund dieser klanglichen Qualität wurde der Text von AGF & Dalibor in eine Performance verwandelt, die online zur Verfügung steht (siehe AGF & Dalibor, 2011). Reflexion über das polysemische Potenzial des mehrsprachigen Wortes. Die sechs Zyklen zeigen verschiedene Blickwinkel dieser künstlerischen Forschung, die mit einer extrem selbstreflexiven Dimension aufgeladen ist: Es ist nun die Sprache selbst, die nun zum Material, Raum und Instrument von Wolfs Dichtung wird. Für den Titel dieses letzten Textes greift Wolf erneut auf die Erfahrungen der Migration in die Vereinigten Staaten zurück, aber diesmal nicht auf Zeugenaus‐ sagen oder dokumentarische Quellen wie im Fall des Zyklus aliens I, sondern auf eine Gedichtsammlung, Die schönste lengevitch, die 1925 von Kurt M. Stein veröffentlicht wurde. Die poetische Produktion Steins, der die Vereinigten Staaten erreicht hatte, indem er sein Heimatland Deutschland verließ, gibt den Slang seiner eingewanderten Landsleute wieder. In diesem sowohl ‚broken‘ als auch ‚gebrochenen‘ Schreiben verleiht der Autor alltäglichen Themen von Migrantengemeinschaften Ausdruck. In Steins Titelgedicht (1986: 11-12) begegnet das lyrische Ich, ein „alter Siedler“, einem neuen Einwandererpaar auf der Straße einer US-amerikanischen Stadt. Das unvollkommene Englisch der Neuankömmlinge wird vom lyrischen Ich verspottet. Der Text ist ironisch, denn der Protagonist, der sich als Verfechter der sprachlichen Reinheit aufspielt, merkt nicht, dass er selbst in einem Wirr‐ warr aus Englisch und Deutsch spricht: 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch 207 <?page no="208"?> „Pardong, Sir, holds ze tramway here? “ „In English,“ sag ich, „oder Deutsch. Da kann ich fluent rede, But die Sprach wo du talke tuhst Die musst du mir translehteh.“ „Sie sprechen Deutsch? Na, lieber Mann, Wo hält denn hier die Straßenbahn? “ „Ah, wo die street-car stoppeh tut! “ Sag ich, „das willst du wisse’! […] By gosh, es iss zum Lache’. In vierzehn Tag’ vergisst der fool Sei eig’ne Muttersprache. Wenn’s net for uns old Settlers wär Gäb’s bald kei schönste Lengevitch mehr. Das „schönste Lengevitch“, als dessen Verfechter sich der „Alte Siedler“ auf‐ spielt, ist nicht die „Muttersprache“, wie er meint, sondern die kreolisierte Sprache, die als solche keine ‚Sprache‘ ist, sondern ihre durch die deutsche Aussprache verbogene Version: eine „lengevitch“. Und aufgrund dieser Hybri‐ disierung ist sie auch „die schönste“. Diese intertextuelle Referenz präzisiert die Perspektive von Wolfs Sammlung: Prozesse der sprachlichen Kreolisierung sind unterirdisch und finden, auch wenn sie offiziell geleugnet werden, dort statt, wo sie nicht sichtbar sind. Darüber hinaus stellt Mirijam Gebauer (2019: 180) fest, dass Steins Text auf die Mehrsprachigkeit verweist, die selbst innerhalb von Nationalsprachen besteht, und die hierarchische Unterscheidung zwischen Amtssprache und Dialekt in Frage stellt, da bei Stein in der Kontamination mit dem Englischen oft deutsche Dialektformen eingeschlossen sind. Diese Reflexion findet vor allem im ersten und letzten Zyklus des Bandes, also in bricklebrit und babeltrack, poetischen Ausdruck. Die gemeinsame Lektüre der beiden Sektionen ist auch von ihrer akustischen Nähe sowie gespiegelten Position im Band suggeriert. 5.7.1 Gedoppelte Sprachen und Geisterzwillinge Der rätselhafte Titel von bricklebrit ist eine der drei Zauberformeln des Mär‐ chens Tischlein deck dich, Esel streck dich und Knüppel aus dem Sack der Brüder Grimm und ermöglicht dem Zauberesel, Gold herzustellen. Im Vergleich zu den 208 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="209"?> beiden anderen Zauberformeln ist bricklebrit die Einzige, die nicht beschreibend und daher semantisch bedeutungsvoll ist. Innerhalb von diesem Rahmen setzt sich Wolf in neun metapoetischen Prosagedichten, von denen sieben als „reden“ bezeichnet werden, mit ihrem eigenen poetischen Schreiben auseinander und dekonstruiert den Begriff der Muttersprache und der einsprachigen Dichtung. Meines Erachtens leitet sich der Begriff „rede“ aus der wichtigsten intertextu‐ ellen Referenz der ersten vier Texte ab, nämlich Friedrich Schleiermachers Essay Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813). Mit ‚Rede‘ bezieht sich der Philosoph auf die sprachlichen Produktionen von Individuen. Die von Schleiermacher in diesem Aufsatz vertretenen Positionen bilden das Material, von dem Wolf ausgeht, um ihre Idee einer mehrsprachigen Poesie auszuarbeiten, die über das normative Konzept der Muttersprache hinausgeht. Im Rahmen der breiteren Konzeptualisierung der Übersetzungspraxis schleu‐ dert Schleiermacher eine lange Invektive gegen das „Produciren“ (1963: 63) in einer Fremdsprache, da seiner Ansicht nach die Ausarbeitung komplexer Inhalte - wissenschaftlicher, künstlerischer und philosophischer - nur in der Muttersprache stattfinden kann: Ist aber jemand gegen Natur und Sitte förmlich ein Ueberläufer geworden von der Muttersprache, und hat sich einem andern ergeben: so ist es nicht etwa gezierter und angedichteter Hohn, wenn er versichert, er könne sich in jener nun gar nicht mehr bewegen; sondern es ist nur eine Rechtfertigung, die er sich selbst schuldig ist, daß seine Natur wirklich ein Naturwunder ist gegen alle Ordnung und Regel, und eine Beruhigung für die andern, daß er wenigstens nicht doppelt geht wie ein Gespenst. (Schleiermacher 1963: 64, Hervorhebung von mir) Gegen eine solche unauflösliche und eindeutige Verbindung zwischen Indi‐ viduum und Muttersprache richtet sich das zweite Gedicht des Zyklus, dop‐ pelgeherrede (msl 9), die ihren Titel genau von dem letzten Ausdruck des Schleiermacher-Zitats übernimmt. Es handelt sich um jemanden, „der doppelt geht“, und als solche auf dem Motiv des Doppelgängers, der Wiederholung und der Redundanz aufgebaut ist: ich ging ins tingeltangel, lengevitch angeln. an der garderobe bekam jede eine zweitsprache mit identischen klamotten, leicht gemoppeltes doppel. die spiegel aber zeigten nur eine von uns, ich schluckte: kalte spucke, spuk. hinten hoppelten wortkaninchen aus ashberys hut. zum ballsaal dann, mit meinem zwilling zirkumstanzen, am tresen ein köpfchen kaffee mit mrs stein. dass ich gespenster seh! , rief plötzlich aus der nische, wo das denken dunkeldeutsch blieb, mr. veilmaker 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch 209 <?page no="210"?> im schlafanzug der philosophen. ein kressekästchen vor der brust, verblüfft: wächst auf einem weißen blatte! ohne alle erde! wurzellos! ich wollte nach paar samen fragen, doch mein zwilling sprang, ging schwofen mit dem mann. wer schatten hat, muss für die spots nicht sorgen, sagte mrs stein, packte ihre knöpfe ein. (msl 9) Die ersten Zeilen initiieren einen akustischen Prozess der Verdoppelung: Wir befinden uns in einem ikonischen „tingeltangel“, das durch die Alliteration der Konsonanten / ŋ/ und / l/ in den nächsten beiden Begriffen widerhallt. Das lyrische Ich ist auf der Suche nach einem „lengevitch“ und erhält dafür eine „zweitsprache“. Dadurch wird die Verdoppelung exponentiell gesteigert: Sogar die Gewänder werden wiederholt, und in der Paronomasie von „gemoppeltes Doppel“ finden wir die Umkehrung des üblichen ‚doppelt gemoppelt‘ (im Sinne von ‚überflüssig‘). Die „wortkaninchen“, die hinter dem Rücken des lyrischen Ichs schweben sind vielleicht ein Echo der dust bunnies aus ff, sprießen aus einem „ashberys hut“, was auf den Dichters John Ashbery hindeutet. In den Ballsaal, wo das lyrische Ichs und der Zwilling eingetreten sind, ist auch Gertrude Stein zu finden. Der verängstigte „mr. veilmaker“ ist kein anderer als Schleiermacher, der hier durch eine wörtliche Übersetzung seines Namens ins Englische heraufbeschworen wird, wodurch die sprechende Dimension seines Namens wiederhergestellt wird: Derjenige, der einen Schleier erzeugt, also die Wirklichkeit verbirgt. Hier begegnet mr. veilmaker dem „doppelgeher“, d. h. dem Wesen, dem er in der oben zitierten Passage seines Essays Existenz und Würde abgesprochen hatte („daß er wenigstens nicht doppelt geht wie ein Gespenst“). Es geht also um eine zwischen dem Fantastischen und dem Dämo‐ nischen schwebende Erscheinung. Schleiermacher seinerseits tritt in einem unvorteilhaften Pyjama aus einer Ecke des „tingeltangels“ auf, wo das „denken dunkeldeutsch“ bleibt, undurchsichtig, weil in eine Nische der Szene verbannt, aber auch blind, weil auf die Präsenz einer einzigen Sprache, des Deutschen, ausgerichtet. Das Gedicht fährt mit einem weiteren intertextuellen Verweis auf den Essay des Philosophen fort, der ein botanisches Gleichnis verwendet hatte, um auf die Oberflächlichkeit der Verbindung zwischen Individuum und Fremdsprache hinzuweisen: Allein diese Reden sind auch freilich nicht aus dem Gebiet, wo die Gedanken kräftig aus der tiefen Wurzel einer eigentümlichen Sprache hervortreiben, sondern wie die Kresse, die ein künstlicher Mann ohne alle Erde auf dem weißen Tuche wachsen lässt. (Schleiermacher 1963: 62, Hervorhebung von mir) 210 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="211"?> 104 Dies ist eine Tradition des deutschen sprachphilosophischen Denkens aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die sich bis zu Johann Gottfried Herder zurückverfolgen lässt und mit der Schaffung eines Diskurses der nationalen Einheit auf der Grundlage der Einheitlichkeit der deutschen Sprache einhergeht (siehe dazu Dembeck 2020: 20-22; Trabant 2006: 226-229, 260-267). Die Kresse kann in der Tat mit sehr wenig Erde keimen, da sie kurze Wurzeln hat. Wolf greift dieses Bild mit einem ironischen Gestus auf: Das Kressekästchen ist heute eine Art handlicher Behälter für den Kresseanbau, den man für wenig Geld in Supermärkten kaufen kann: Was für Schleiermacher eine Abscheulichkeit ist, stellt den banalen Alltag in der heutigen Welt dar. Jetzt herrscht Chaos in diesem Prosagedicht zwischen Wortkaninchen, die aus Hüten experimenteller Dichter hierhin und dorthin hüpfen, dem lyrischen Ich, das versucht, den immer noch verstörten mr. veilmaker um Samen zu bitten, der von einem Gespenst in den Tanz geschleppt wird, das in seinem inhärenten Doppelwesen nicht nur gehen, sondern sogar tanzen kann. Das Gedicht endet mit einem zweideutigen Satz von „mrs stein“, die alle ihre Knöpfe wieder einsammelt - hier wird auf Gertrude Steins Sammlung Tender Buttons (1914) verwiesen - und die Party mit einem ironischen Satz beendet, der aus der Interferenz zwischen Englisch und Deutsch entstammt: „wer schatten hat, muss für die spots nicht sorgen“. Der metaliterarische Charakter des Textes, der als ein Manifest von Wolfs Poetik betrachtet werden kann, ist nicht zu übersehen: Das ‚lengevitch‘ stellt nichts anderes dar als eine Dichtung, die wesentlich bzw. prinzipiell mehrspra‐ chig ist, und die daher durch mehrsprachige Polysemie, akustische Assozia‐ tionen und Übersetzungsprozesse in Gang gesetzt wird. Die Bezugnahme auf Ashbery und Gertrude Stein ist eine klare poetische Selbstverortung, denn beide haben Wolfs Stil stark beeinflusst. Diese poetische Aussage lehnt eine monolinguale Konzeption des sprachlichen und insbesondere des poetischen Handelns ab, die in mr. veilmaker verkörpert ist. Schleiermacher steht hier als Vertreter eines sprachphilosophischen Diskurses, der die exklusive Beziehung zwischen Muttersprache und Individuum hervorhebt. 104 Ein weiteres Charakteristikum von Wolfs Dichtung ist ihre Verkörperung in poetischen Figuren: Ähnlich wie die dust bunnies in ff erscheinen hier weitere Darstellungen mehrsprachiger Poesie: die lengevitch, der doppelgeher, die wortkaninchen und andere Gestalten bilden ein reiches Bestiarium, das sich in den späteren Gedichten weiter ausdehnt, wie beispielsweise im Prosagedicht zweite rede mit koppelzwilling (msl 11). Der Begriff ‚Koppel‘ bezieht sich auf den semantischen Bereich der Tier‐ zucht, während ‚Zwilling‘ die Koexistenz zweier nah verwandter, aber auch unterschiedlicher Identitäten beschreibt. Die Neuschöpfung ‚koppelzwilling‘ 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch 211 <?page no="212"?> evoziert daher doppelte, tierähnliche Wesen, die in einem abgegrenzten Bereich angebunden sind, und verstärkt die Verdoppelungsprozesse, indem sie klanglich an das „gemoppelte doppel“ des vorherigen Textes erinnert. Diese Figur weist auf das Vorhandensein von zwei Sprachen in einem Subjekt hin, das somit zwei Köpfe hat und aus diesem Grund als Kuriosität behandelt wird: ich wunder, ob die koppelbrüder nachts, wenn sie nicht schlafen konnten, weil einem das bein juckte, dem andern das gleiche bein im gengenüberkopf nicht, wenn einem die milz stieg in des andern übervolles kummersieb - ob sie einander übersetzen, am zackenkranz des dämmerns ihre fälle wetzen? ob der könig sie als sprachmaschine auf den marktplatz karrte, morgens, die tribüne knarzte, gegenüber die frühe fische, --------the fish, --------poisson, --------poison, und ob von der klinge der fischfrau skalen sprangen, kleine, kopflose reigen oder regen, wenn man hinüberschaute, erst das glänzen, das benennen, dann die luft verschwand. (msl 11) Hier scheinen die Zwillinge, die der König auf den Markt gebracht hat, um sie als Missgeburten zur Schau zu stellen, sich in die Fische zu verwandeln, die zum Verkauf angeboten werden. Ausgehend vom deutschen Wort „fisch“ und über das Englische, Französische und wieder zum englischen „poison“, entsteht eine Art Wortspiel, das wie die Waren an einem Marktstand aufgereiht ist. Auf den Messern der Fischhändlerin oder des Fischhändlers - einen Messer, der auch ein Klang ist, aufgrund der akustischen Nähe zwischen „klinge“ und ‚Klang‘ - werden metrische Skalen freigesetzt, die sich zugleich wie Schuppen anfühlen. Das Wort „skale“ vereint in der Tat das deutsche ‚Skala‘/ ‚Skale‘ (vgl. Duden 1979) mit seiner englischen Entsprechung ‚scale‘, die jedoch auch ‚Schuppe‘ bedeuten kann (vgl. Oxford 2005). Das mehrsprachige Subjekt erscheint hier wie eine ungewöhnliche Bestie, die in einer Koppel gefangen ist, aber im Verlauf dieser Reden allmählich an Stärke und Freiheit gewinnt. Folglich entwickelt sich der Stil zu einer translingualen Form, wobei das Englische von innen heraus das Deutsche beeinflusst. In der rede mit langen leinen (msl 12) wird dieser Prozess deutlicher, da der Text auf ein anderes experimentelles Gedicht verweist, also auf einen Hypotext, dessen Kompositionsprinzip in der Polysemie liegt: Charles Bernsteins Of Time and Line (1991). Der US-amerikanische Dichter, der stark von Ludwig Witt‐ 212 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="213"?> gensteins und Stanley Cavells Sprachphilosophie beeinflusst ist, erforscht und erweitert das polysemische Potenzial des englischen Wortes ‚line‘. Dieses wird in seinen etymologischen und morphosyntaktischen Kombinationen dekliniert. Das Ziel besteht darin, das Wort von seiner Referenzialität zu befreien und gleichzeitig das Gedicht von metrischen und formalen Regeln zu lösen. Im Folgenden ist ein Auszug aus Bernsteins Gedicht (1991: 42): --------------------[…] the prestige of the iambic line has recently suffered decline, since it’s no longer so clear who “I” am, much less who you are. When making a line, better be double sure what you’re lining in & what you’re lining out & which side of the line you’re on; the world is made up so (Adam didn’t so much name as delineate). Wolfs Prosagedicht beginnt wie folgt: märzlese: charles bernstein schreibt sich von den zeilen des gedichts (lines) zur fütterung eins mantels (lining). the lining kann man nicht übersetzen, aber übertragen, wers zu lange trägt. lining ist also, was man im frühling abnehmen sollte. folgt revolte: die dem gedicht angeborene fütterung ist nicht angeboren. ein gedicht ohne lining bleibt weiter ein gedicht. es trottet eben vorbei, sogar ohne strümpfe. ich rufe es in meiner futtersprache, im übergangsüberzug: he da, leichtfuß, wo aber nähst du dein feuer ein: gewissheit, gewissheit, wo versteckst du den plözlichen scheit? stocken, keine regung. dann zeigt es auf tulpen, ihr zwiebliges noch-nicht, auf osterglocken, ausgestülpt, im gelben rock. (msl 12) Die Autorin geht von zwei Bedeutungen des Worts aus, die eine scheinbare übersetzerische Linearität, wenn man so will, verstellen: „lines“ als „zeilen des/ gedichts“ und „lining“, als „fütterung eins mantels“. Tatsächlich behauptet Wolf weiterhin die Unübersetzbarkeit der von Bernstein durchgeführten Ope‐ ration: „the lining/ kann man nicht übersetzen, aber übertragen“. Hier bezieht sich das englische „the lining“ auf das Kompositionsprinzip des Hypotexts, also auf seinen Kern, der metaphorisch auch als eine Art Fütterung verstanden werden kann. Es handelt sich grundsätzlich um eine fortschreitende Entfaltung der vielen Bedeutungen der Wörter durch Assoziation und Akkumulation. 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch 213 <?page no="214"?> 105 Steinbach ist eine konservative Politikerin der CDU und Mitglied des Vereins Deutsche Sprache. Zu den Anhängern des Vereins gehört auch die rechtsextreme Partei Alterna‐ tive für Deutschland (AfD). Wie es auf der Website des Vereins heißt, ziele dieser darauf ab, die deutsche Sprache vor äußeren Einflüssen zu schützen. Für die Mitglieder des Vereins bedeutet der Schutz der Sprache, die Identität der Völker und Nationen in Zeiten der Globalisierung zu bewahren (vgl. Verein Deutsche Sprache). Allerdings, wenn „the lining“ die Versstruktur des Gedichts bedeutet, muss sie wie die schwere Fütterung, die im Frühjahr zu entfernen ist, loswerden. Dieses Zusammentreffen der beiden Bedeutungen ist direkt aus Bernsteins Text übernommen: „Every poem’s got/ a prosodic lining, some of which will/ unzip for summer wear“ (Bernstein 1991: 43). Hat Wolf bis diesen Punkt grundsätzlich die englische Polysemie des Worts erläutert, so erweitert die Schriftstellerin sie nun mehrsprachig, indem eine Interferenzkette aus wortwörtlichen, ‚korrekten‘ und ‚fehlerhaften‘ Überset‐ zungen sowie akustischen bzw. etymologischen Assoziationen abgespult wird. Beispielsweise teilen das englische ‚line‘ und das deutsche ‚Leine‘, welches im Titel des Gedichts vorkommt, dieselbe Aussprache sowie den etymologischen Ursprung (vgl. Partridge 1990). Das Letztere bedeutet jedoch auch eine die ‚Leine‘ zur Führung eines Tiers (wie bei ‚Hundeleine‘) und der Titel des Gedichts, rede mit langen leinen, entsteht aus Konsktruktionen wie ‚an langen/ kurzen Leinen halten‘ (vgl. Duden 1979). Das ursprüngliche Wortpaar wird hier durch diese Bedeutung des deutschen ‚Leine‘ ergänzt, wobei die Liniierung - seine ‚lines‘ und ‚lining‘ - des Gedichts zu einer (Hunde)Leine wird, die ihre Bewegungsfreiheit stört. Dadurch wird wieder eine Art Tier evoziert, das die Dichtung verkörpert, und das aufgrund der langen Leine herumtrottet kann - es ist aber noch nicht ganz frei: „ein gedicht ohne lining bleibt weiter ein gedicht. es/ trottet eben vorbei, sogar ohne strümpfe. ich rufe es in meiner futtersprache, im übergangsüberzug: he da, leichtfuß“, wobei „futtersprache“ von „fütter“ via frei Klangassoziation hervorgerufen wird und zum Semantischen des Tiers beiträgt. Auch in den folgenden Reden wird der Dialog mit der polysemischen und translingualen Dichtung fortgesetzt, die immer wieder neue Gestalt annimmt und sich hartnäckig gegen eine einsprachige Gedichtvorstellung wehrt. In der kleinen sternmullrede (msl 13) wird ein aktueller sprachpolitischer Diskurs aufgegriffen, der offensichtlich reaktionär ist. Am Seitenfuß wird eine Äußerung der Politikerin Erika Steinbach vom Verein Deutsche Sprache zitiert: 105 „Pro‐ dukte, die in Deutschland verkauft werden, müssen auch deutsch beschriftet sein“. Obwohl die Frage der Etikettierung von Produkten auf den ersten Blick wenig mit Wolfs Gedichten zu tun zu haben vermag und trivial erscheint, weist 214 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="215"?> das Zitat tatsächlich auf die gesamte sprachpolitische Haltung des Vereins hin und auf ähnliche konservative Positionen, die Deutsch als einzige Amtssprache Deutschlands anerkennen und Einflüsse anderer Sprachen - auch aus anderen Kulturräumen - als bedrohlich ansehen. Wie Gebauer (2019: 188) feststellt: The statement claims something that seems plausible and the majority of people would probably agree with it. However, […] [it draws] attention on the ways a practical requirement, such as to print labels in a certain language might be used for certain political purposes and to claim a certain cultural hegemony. Erika Steinbach […] is known for her national conservative positions. […] Analysis of the politics pursed by the German Language Association […] show that the association’s language policy is paired with national conservative claims which greatly exceed the area of language. Wie im Fall der Figur von mr. veilmaker bezieht Wolf in ihren Gedichten diesen kulturpolitischen Diskurs mit ein und dekonstruiert ihn in ihrer Dichtung. Die poetische sowie theoretische Entwicklung einer translingualen Lyrik wird in diesen Reden verfolgt. In ihnen tauchen die unterschiedlichen Erscheinungen des lyrischen Bestiariums Wolfs auf, um Einsprachigkeit nicht nur als ein kompositorisches Prinzip, sondern hauptsächlich als sprachpolitische Ideologie zu bekämpfen. Die Vorstellung, dass das Individuum sich ausschließlich in der eigenen Muttersprache entwickeln und behaupten könnte, impliziert wiederum, dass man keine Dichtung in einer Fremdsprache verfassen könnte. Dies wird in den Prosagedichten dieses Zyklus ironisch dekonstruiert. Des Weiteren wird gezeigt, wie dieses exklusive Verständnis der Muttersprache mit der Vorstellung einhergeht, dass auch Staaten eine einzige und eigene Sprache haben können, nämlich eine Nationalsprache. Eine solche sprachliche Einstellung verbirgt einen allgemeinen konservativen und reaktionären Umgang mit kultureller Vielfalt, wie der Verweis auf den Verein Deutsche Sprache zeigt. Im Zyklus babeltrack wird die Vorstellung der Muttersprache als ursprüng‐ licher Hort der Individualität dekonstruiert und an ihrer Stelle ein goldenes Zeitalter der Mehrsprachigkeit gesetzt. 5.7.2 Die Melodie Babels Der letzte Zyklus nimmt den Titel von der englischen ‚soundtrack‘ und besteht aus sechs Stücken, die ähnlich wie in einem Tagebuch vom 16. bis 21. Februar datiert sind. Die zeitlichen Bezüge führen zurück zu Wolfs Aufenthalt auf der spanischen Insel La Gomera in Begleitung ihrer neugeborenen Tochter. Der Ausgangspunkt des Zyklus ist erneut eine intertextuelle Referenz. In diesem Fall handelt es sich um die berühmte Studie von Roman Jakobson, 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch 215 <?page no="216"?> Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetzte (1941), die ebenfalls dem Zyklus method acting mit anna o. zugrunde liegt. In der Studie beschäftigt sich der Linguist hauptsächlich mit der phonetischen und artikulatorischen Dimension der Sprache, indem er die Sprachbildung bei Kindern als Spiegel der Prozesse der aphasischen Dekonstruktion der Sprache analysiert. Wenn bricklebrit die Möglichkeit und das Potenzial eines translingualen Gedichts reflektiert, untersucht babeltrack ausgehend von der Lehre Jakobsons die Natur der Kindersprache als Prototyp einer babelischen Melodie, die noch nicht in den Grenzen einer Muttersprache eingeschlossen ist. Diese Überlegungen sind mit der autobiografischen Erfahrung der Mutterschaft verwoben, die hier in sehr zarten Bildern geschildert wird. Die ersten Töne dieser Melodie sind auf den 16. Februar datiert (msl 73-75): 16. februar. weißer ballon, weißer milchiger mit wabenartigen tagen, stille in allem, brust- und tragetage, ein kind im kopf, das keine sprache, falsch, ein kind im kopf, das sprache hat, die nicht geschrieben, keine niederkunft für dieses sprachenkind, wabenartige tage, tragetage, verwebtes weiß und weiß mit mäusezähnen am rand, gehäkeltes material, schlingen und blasen im speichel gebildet, gebubbelt, gebabelt, also z.b. luftblasensprache, jauchzen und schnalzen, ballonartig, ohne stränge, für die keine notation, konnotation […]. (msl 73) Dieser erste Abschnitt zeigt einen einlullenden Rhythmus, aufgrund des tro‐ chäischen Fußes, der Alliterationen, der zahlreichen Wiederholungen sowie des Vorhandenseins einer Art Refrain („wabenartige tage, tragetage“). Die Hauptfigur des Gedichts ist erneut ein poetisches Wesen aus Sprache und Laut, ein „sprachenkind“, das auf Jakobsons Begriff ‚Kindersprache‘ anspielt. Entgegen der gemeinplatzmäßigen Meinung, wonach das Kind noch keine Sprache habe („ein kind im kopf, das keine sprache“), verfügt es stattdessen über die Sprache schlechthin, was durch die Verwendung der Singularform ohne Artikel angedeutet wird („die sprache hat“). Diese Sprache unterliegt keinen Regeln („die nicht geschrieben“) und besteht aus den unterschiedlichsten Materialien: „verwebtes weiß und weiß mit mäusezähnen am rand, gehäkeltes material, schlingen und blasen“. Der Dreiklang „gebildet, gebubbelt, gebabelt“ stellt den Höhepunkt in der Konstruktion der Dichtungssprache, der ‚lengevitch‘, dar: Die sprachliche Konstruktion, was „gebildet“ wird, geschieht mehrsprachig dadurch, dass das englische Wort ‚bubble‘ in eine deutsche Verbalform dekliniert wird, zusammen mit dem Substantiv ‚Babel‘, das sowohl Deutsch als auch Englisch sein könnte. 216 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="217"?> Diese Sprachschöpfung nimmt keine stabile und geordnete Form an, sondern eher die leichte und unsichere einer Speichelblase, die das Kind beim Erforschen der Vielfalt der Laute, die es ausstoßen kann, bildet. Diese Laute gehören noch zu keiner abgegrenzten und definierbaren Sprache; entsprechend, während sie ausgesprochen werden („gebubbelt“), werden sie auch „gebabelt“. In diesen Zeilen kommt eine paradoxe Unmöglichkeit zum Ausdruck: Es ist eine Sprache, die nicht aufgeschrieben, sondern nur wiedergegeben werden kann („keine Notation, Konnotation“), sie hat keinen festen Platz („keine Notherkunft, keine Ankunft“). Das Gedicht, das wir lesen, kann also nicht riskieren, andere Verbin‐ dungen - syntaktische, semantische, referentielle - zu schaffen, indem es sich dieses wilde sprachliche Gebilde, das immer noch „ohne Stränge“ ist, zunutze macht. Es kann nur durch assoziative, alliterative Bilder sowie Reime evoziert werden: „Notherkunft“/ „Ankunft“; „Abende“, „Talabende“, „landen“. Die Perspektive der Mutterschaft taucht in der Intimität mit dem Kind auf, mit dem man „brust- und tragetage“ teilt. Der zweite Teil des ersten Tages knüpft an diese Perspektive an (msl 74): auf einer insel sitzen, ein kind haben, schreiben, kindhaben das gegenteil von verinselung, nämlich archipel werden, die ränder schwemmen auf, werden durchlässig, bilden neue festländer für versorgungen - fähren unterwegs bis in den morgen, ziehen milchbahnen hinter sich her […] - […] und in der sprache der insel macht es warm, in der sprache des kindes macht es noch sauglaut bald sprachlaut […] […] steht in einer blase jakobson, sagt: die kinder mit ihren wilden lauten, mit dem ersten blusteren lallen, sind sie in der lage, alle denklichen laute aller sprachen zu erzeugen, blase steigt auf, welche sie dann vergessen, blase schwebt bedeutungsschwanger überm mittag, wenn sie ihre muttersprache lernen, platzt Ausgehend von dem Schauplatz des Gedichtes, der Insel La Gomera, wird die Mutterschaft mit dem eindrucksvollen Bild der Verwandlung in einen Archipel evoziert: Die Isolation wird durch die symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind ersetzt, zwischen denen es keine körperlichen Grenzen gibt. In dieser Szene tritt der intertextuelle Bezug des Zyklus leibhaftig in Erscheinung. Aus einer Sprechblase, die möglicherweise von dem Kind erzeugt wird, verkündet Jakobson seine Theorie des Spracherwerbs, wobei im Gedicht auch direkte Zitate enthalten sind. Beispielweise stammt der Ausdruck „wilden lauten“ aus dem folgenden Abschnitt des Essays von Jakobson: „An Stelle der phonetischen 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch 217 <?page no="218"?> Fülle des Lallens tritt die phonematische Kargheit der ersten Sprachstufe, eine Art Deflation, welche die sogen. ‚wilden Laute‘ der Lallperiode in sprachliche Werte umbildet“ (2002: 338). Mit diesem Verweis stellt Wolf den Erwerb einer Muttersprache als Entbehrung dar - mit Jakobson: Deflation. Inwiefern das so ist, wird im folgenden Teil der ersten Notizen erläutert (msl 75): dem wildwechsel oder lautwechsel liegen gründe zu gründe, die kriterien zu wald der ethnischen identität oder zufriedenheit oder zweifel an der ethnischen zugehörigkeit oder zufriedenheit wären schmerzen beim zahnen, phantomartiges bahnen, nicht ausgebildetes, nicht sichtbares ziehen und zerren im gaumen, riffel im munddach, öffnung auf mundhimmel zu, aufbau und gleichzeitiger abbau von was, es fehlt mir, das ringding, tingeling, welches das wechselt, wild und nicht in der spur, fehlt mir das noch nicht gewusste, aber schon wahrgenommene wort, auch das gewusste und wieder vergessene fort, das summende womm, das leere hinterlassende snort, das darum andere worte einladende of sort, wo sie dann übereinander herfallen, die andere sorte, wild und nicht kind fremde frohlockende faltenwürde, falta heißt fehlen in der sprache dieser insel, fala sprich in einer andern, machen im kopf gemeinsame sache, fehlentwürfe, ein entfachen, unruhe falterndes schwanken, verwringen sich Ausgehend vom Begriff ‚lautwechsel‘, der eine Verschiebung in der Aussprache von Vokalen bezeichnet und oft zur Unterscheidung zwischen verwandten Sprachen verwendet wird, prägt Wolf den Begriff „wildwechsel“, wobei sie ‚Laut‘ durch das Adjektiv ‚wild‘ ersetzt, das wiederum der oben zitierten Formulierung von Jakobson entnommen ist. Im nächsten Satz „aufbau und gleichzeitiger abbau“ bezieht sich Wolf erneut auf Jakobsons Studie und insbesondere auf die Verwendung der gegensätzlichen Begriffe „Aufbau des Phonemsystems“ (2002: 340), der sich auf den Erwerb von Lauten als signifikante Elemente einer Sprachkonstruktion bezieht, und „Abbau des Sprachlautsystems“ (2002: 344), der den entgegengesetzten Prozess des Verlusts des phonologischen Systems bei aphasischen Subjekten bezeichnet. In den folgenden Zeilen beschreibt Wolf den schmerzhaften Prozess der Zahnbildung im Mund des Kindes („wären schmerzen beim zahnen, phantomartiges bahnen, nicht ausgebildetes, nicht sichtbares ziehen und zerren im gaumen“), der physisch dem Aufbau der Muttersprache entspricht. 218 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="219"?> Auf diese Weise gelingt es Wolf, zwei verschiedene Diskurse zu entwickeln und sie miteinander zu verweben: Nach Jakobsons Theorie schrumpfen die artikulatorischen Fähigkeiten des Kindes beim Heranwachsen, indem es unter den unzähligen Lauten, die es potenziell aussprechen kann, ausschließlich diejenigen seiner Sprachumgebung zu reproduzieren lernt. Entsprechend gelte der Erwerb einer Muttersprache als ein Verlustprozess, denn das Kind lerne eigentlich nicht so sehr, sondern verlerne, Laute zu produzieren. In Wolfs Gedicht lässt sich daher ablesen, dass die Verbindung zwischen ethnischer Bestimmung und Muttersprache („ethnische identität“, „zugehörigkeit“) als willkürlich zu betrachten ist, denn die Muttersprache sei laut Jakobson dem Individuum nicht angeboren, sondern werde langsam durch einen Prozess des Verlustes erworben. Wenn es etwas gibt, das dem Individuum ursprünglich inhärent ist, dann ist es der babeltrack, eine Melodie, die aus allen Lauten der Welt besteht. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts bedauert das lyrische Ich den Verlust des babelischen Sprachzustands, der reinen und freien Klangdimension („wild und nicht in der spur“), da es noch nicht in die vorgegebenen Grenzen des Wortes gezwängt ist („es […] fehlt mir das noch nicht gewusste, aber schon wahrgenommene wort, auch das gewusste und wieder vergessene fort“). Wäh‐ rend das Gedicht die Entfernung von diesem goldenen Zeitalter beklagt, zeigt es, wie dieses zumindest teilweise in einer Sprache reproduziert werden kann, die auf akustischen Assoziationen über mehrere Sprachen hinweg beruht: „wort“ erinnert zunächst an „fort“ und überschreitet dann die Grenzen der deutschen Sprache, indem es „snort“ und „of sort“ einlädt, bevor es zu „sorte“ zurückkehrt. Die Wörter gelten als „wild und nicht kind“, ein Ausdruck, der eine raffinierte sprachliche Sedimentierung erzeugt. Das Wort „wild“ könnte sowohl im Englischen als auch im Deutschen vorkommen und eine ähnliche Bedeutung haben, wenn auch mit Unterschieden in der Aussprache (/ aɪ/ im Englischen und / ɪ/ im Deutschen). Eine ähnliche phonetische Beziehung besteht zwischen den beiden sprachlichen Identitäten des Wortes „kind“, mit dem Unterschied, dass es auch eine semantische Distanz zwischen ihnen gibt: Neben dem deutschen ‚Kind‘, ist das englische ‚kind‘, mit / aɪ/ ausgesprochen, das Adjektiv ‚freundlich‘, ‚nett‘, aber auch ‚artig‘ impliziert (vgl. Oxford German 2008). So können sich die beiden Begriffe „wild“ und „kind“ in zwei Sprachen in einer Assonanzbeziehung aufeinander beziehen. In den folgenden Zeilen geht Wolfs poetisches Schreiben durch eine Anhäufung von Wörtern, die übereinander fallen und sich in Falten auftürmen, wie wenn man einen Stoff auf dem Boden verrutschen lässt („faltenwürde“). 5.7 Jenseits der Muttersprache: meine schönste lengevitch 219 <?page no="220"?> Sobald dieses Bild erzeugt wird, ruft es weitere Assoziationen in anderen Sprachen hervor: So bedeutet das spanische Wort „falta“, das vom deutschen „falten“ hervorgerufen wird, das deutsche ‚es fehlt‘ (vgl. Langenscheidt Spa‐ nisch 2023); beide evozieren das portugiesische „fala“, Imperativ des Verbs ‚sprechen‘ (vgl. Langenscheidt Portugiesisch 2022). In Wolfs Sprache sind diese assoziativen Beziehungen vollkommen plausibel: Diese Wörter treffen sich im Kopf, sie gehören zu keiner einzigen Sprache, sondern zur ‚Sprachigkeit‘ des Einzelnen. Aus ihrem Zusammentreffen entstehen die „fehlentwürfe“, ein wei‐ teres Produkt dieser Assoziationskette. In dieser hybriden Schrift rekonstruiert Wolf programmatisch die Freiheit der babelischen Sprache der Kindheit, indem sie ihre Abgeschiedenheit trauert. In den anschließenden Notizen setzt sich der Text in einer Spirale fort und erweitert diese Argumentation mit anderen thematischen und akustischen Verbindungen, anderen Interferenzen zwischen Sprachen und Reflexionen über die Klänge, aus denen die babelische Spur besteht, die nicht endet, sondern in einer Endlosschleife weiterläuft. Wie es bei der letzte Vers des Gedichts lautet: „für babeltrack im bahnental, repeat, repeat“ (msl 84). Mit diesem Zyklus vollendet Wolf die konzeptuelle Dekonstruktion der Ideologie der Muttersprache, die sie bereits in brickelbrit begonnen hat, und treibt die mehrsprachige Form ihrer Poesie auf die Spitze. Dabei entsteht eine wirklich translinguale Lyrik, die nicht nur auf der Vermischung von Sprachen beruht, sondern auch auf dem grundsätzlichen Verzicht auf ihre kulturelle oder politische Unterscheidung. 5.8 Terézia Mora und Uljana Wolf: Konstruktion und Dekonstruktion der Fremdheit Die analysierten Texte bilden in sehr unterschiedlichen Weisen eine Reflexion über die Konstruktion von Fremdheit, über derer Funktion, über die Orte sowie die Sprache ihrer Zuschreibung. Sie ist kein Attribut der Figuren, welche die Seiten dieser Autorinnen durchqueren, aber sie ist auch kein Produkt kultureller Unterschiede, die es zu entdecken und zu überwinden gilt. Es ist ein vom Außen zugeschriebene Attribut und zugleich Teil der marginalen Geschichte der Gesellschaft und potenziell ein Schlüssel zu ihrem Verständnis. Die Fremdheit der Erzähler: innen von Seltsame Materie sowie des Protago‐ nisten von Alle Tage ergibt sich nicht in erster Linie aus den subjektiven Eigenschaften dieser Figuren, sondern vielmehr aus den Orten, die sie bewohnen und den historischen Umständen, in denen sie sich bewegen. Es ist die Präsenz der Grenze in den Geschichten sowie der Einfluss der unterdrückerischen 220 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="221"?> Strukturen ihrer Gemeinschaften, die das Anderssein der Figuren konstruieren. Im Roman ist es die verdrängte Präsenz des Krieges auf dem europäischen Kontinent, der physisch weit von der Metropole entfernt ist, in der Abel sich befindet, der aber dennoch seine Spuren hinterlässt: in den Figuren der verlorenen Fremden, die dort stranden, und in der Gewalt, die gerade um Abel herum ausbricht. Nachdem sie in kochanie ich habe brot gekauft die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden noch auf duale und traditionelle Weise konstruiert hat, entwickelte Wolf in ihrer reiferen Lyrik eine poetische Stimme, die das polysemische Potenzial des Deutschen durch die Hybridisierung mit dem Englischen freisetzt. Eine solche Stimme wird zum Ausdrucksweg hybrider Identitäten in Auseinandersetzung mit der Unterdrückungsdynamik, die sie nicht nur zu Fremden, sondern vor allem zu ‚aliens‘ macht, die durch Formen der geopolitischen Kontrolle an die Grenzen verwiesen oder durch eine einspra‐ chige und konservative Denkweise zum Schweigen gebracht werden. Beide Autorinnen verorten einen Teil ihrer Werke in dem Grenzbereich, der zur Bühne der Fremdheitszuschreibung wird, was ermöglicht, die Formen der Kontrolle und Unterwerfung der Subjekte zu beobachten, seien sie Flücht‐ linge, Einheimische oder Migranten. Diese Figuren, zusammen mit den Durch‐ gangsorten, die sie passieren, werden nicht als Vertreter: innen bestimmter Migrationsphänomene oder historischer Ereignisse betrachtet, sondern stellen einen privilegierten Beobachtungspunkt für die zeitgenössische Gesellschaft dar, die gerade in ihrer entwurzelten Prekarität eine ihrer charakteristischsten Ausdrucksformen findet. Dies entspricht einer ästhetischen Position, die dem theoretischen Paradigma des ‚Postmigrantischen‘ und der ‚postmigrantischen Gesellschaften‘ (vgl. Langhoff 2011; E. Yildiz/ Hill 2014; Foroutan 2019) zuge‐ ordnet werden kann. Die Protagonisten der Migration, die in Moras und Wolfs Werken lebendig werden, profilieren sich als Archetypen der globalisierten Gegenwartsgesellschaft. In diesem Kontext spielt die sprachliche Dimension, sowohl der Gemeinschaft als auch des Individuums, eine entscheidende Rolle in den Überlegungen der Autorinnen, und vielleicht sind hier gerade die größten Unterschiede in den Perspektiven der beiden zu erkennen. In Seltsame Materie wird die sprachliche Dimension zu einem weiteren Zeichen der Ausgrenzung, da die Hauptfiguren oft eine andere Sprache als die ihrer Gemeinschaft sprechen. Obwohl diese Sprache ihre Muttersprache ist, wirkt sie als Quelle der Fremdheit. Darüber hinaus wird die Distanz von Abel zur diegetischen Welt hauptsächlich durch seine ‚Sprachigkeit‘ konstruiert. Diese macht ihn zum Inbegriff des Barbaren, nicht so sehr, weil er ein Fremder ist - 5.8 Terézia Mora und Uljana Wolf: Konstruktion und Dekonstruktion der Fremdheit 221 <?page no="222"?> denn in dem eigenlosen Chronotop von Alle Tage sind alle Figuren im Grunde genommen fremd -, sondern weil Abels Mehrsprachigkeit ein Zeichen seiner unheilbaren Identitätsfragmentierung und der allgegenwärtigen Präsenz des Krieges ist. In beiden Texten spielt das Verschwinden der Muttersprache eine Rolle, da es ein Zeichen für die Entfremdung der Subjekte sowie der Welt ist, in der sie leben. Aus diesem Grund kann Sprachvielfalt nur das Merkmal der Fremdheit, der Ausgrenzung und der Gewalt tragen. Für Wolf ist die Sprache nicht nur ein Schauplatz, auf dem sich diametral entgegengesetzte politische Konzepte zur kulturellen Vielfalt entfalten, sondern auch ein Instrument, um die rückwärtsgewandtesten und unterdrückendsten Positionen zu entlarven und zu bekämpfen. In ihrer Vorstellung von translin‐ gualer Lyrik strebt sie daher nach einer politischen Positionierung, genauer gesagt nach einer sprachpolitischen Ausrichtung. Untrennbar damit verbunden ist die poeitische Rolle der Mehrsprachigkeit und der Übersetzungsprozesse, die als Kompositionsprinzip der Dichtung agieren. Der Unterschied in den Sprachkonzepten der beiden Autorinnen - zumindest in Bezug auf die hier analysierten Werke - wird besonders deutlich, wenn man die Rolle betrachtet, die der Mythos von Babel in ihren Texten spielt. In Alle Tage wird das Bild von Babel als Ausdruck des Verlusts der Herkunft, als Chaos der Unkommunizierbarkeit zwischen Individuen, als Unsicherheit der Identität und als Zeichen der latenten Präsenz von Konflikt und Krieg verstanden. In diesem Zusammenhang bringt der Archetyp des staatenlosen Flüchtlings das Gefühl der Verwirrung der Gegenwart auf den Punkt. Im Gegensatz dazu trägt das Bild des ursprünglichen sprachlichen Babels, das meine schönste lengevitch abschließt, feierliche Züge: Es ist eine Ode an die Mehrspra‐ chigkeit, deren emanzipatorische Komponente hervorgehoben wird, da sie die Ablehnung mononationaler und monokultureller Festlegungen vermittelt und zur Stimme hybrider und beweglicher Identitäten wird. Des Weiteren verkörpern beide Autorinnen, wenn auch aus unterschied‐ lichen Gründen, entscheidende Etappen in der Entwicklung des Chamisso- Preises, indem ihre Auswahl eingetretene Veränderungen in der konzeptuellen Struktur des Projekts signalisiert. Im Laufe ihrer Karriere hat Terézia Mora ihr schriftstellerisches Profil energisch gegen das Etikett der ‚Ausländerin‘, der ‚Berufs-Fremden‘, verteidigt. Zu Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn spiegelte sich dies auch in der Verschleierung von Textelementen wider, die biografisch interpretiert werden könnten, wie etwa das Fehlen der ungarischen Sprache in ihrer künstlerischen Produktion. Darüber hinaus bringt Mora in den Chamisso- Preis-Diskurs eine Konzeption der deutschen Sprache als Minderheitensprache ein, die deterritorialisiert ist und Fremdheit erzeugt, obwohl sie die Funktion 222 5 Grenzziehung, Fremdheit und Sprachigkeit bei Terézia Mora und Uljana Wolf <?page no="223"?> einer Muttersprache hat. Die konzeptionelle Überschneidung zwischen Mutter‐ sprache/ Eigenes einerseits und Fremdsprache/ Fremdes andererseits, die mit dem Preis einherging, wird durch die Auswahl dieser Autorin unterbrochen. Wolfs poetische Laufbahn stellt einen interessanten Wendepunkt innerhalb des Phänomens der Chamisso-Literatur dar, denn sie signalisiert den Bruch, der zwischen Biographie und poetischem Schreiben stattgefunden hat. Ihre mehrsprachige Schreibweise, die Themen wie historische Migrationsphäno‐ mene sowie den gegenwärtigen globalen Transit schildert, ist nicht so sehr eine Reflexion ihrer persönlichen oder familiären Erfahrungen. Es ist kein Zufall, dass diese ästhetische Einstellung von präzisen Legitimationsstrategien begleitet wird, auf die Wolf zurückgreift, um eine neue Autorschaft im deutschen Literaturfeld zu etablieren. Schließlich könnte die Hypothese aufgestellt werden, dass hinter die beob‐ achteten gegensätzlichen Verwendung des babelischen Topos sich die unter‐ schiedliche Rolle verbirgt, die Mora und Wolf der Dimension der Muttersprache in ihrer jeweiligen schriftstellerischen Laufbahn sowie Selbstinszenierung zu‐ weisen. Erstere lehnt die automatische Verbindung zwischen ‚ausländischer‘ Herkunft und Fremdsprache ab und behauptet die Zugehörigkeit ihres „Min‐ derheitendeutsch“ zur deutschsprachigen Literatur. Die Berliner Autorin Wolf hingegen beansprucht die Möglichkeit, neben ihrer Muttersprache auch andere Sprachen zu verwenden, um eine poetische Aktivität zu gestalten, die program‐ matisch transnational und mehrsprachig sein will. Der Poetik beider Autorinnen liegt jedoch ein gemeinsamer künstlerischer Anspruch zugrunde: der Anspruch, als Schriftstellerin in erster Linie in der sprachlichen Dimension zu leben, frei von geografischen, nationalen oder kulturellen Grenzen. Dies ist in der Tat die Hauptverbindung, die sich bei der Analyse der Chamisso-Literatur und des Chamisso-Preises herauskristallisiert: Dieses kulturelle Phänomen dreht sich um den Anspruch auf einen autonomen poetischen Gebrauch der Sprache, eine Form des literarischen Ausdrucks, die ständig mit den verschiedenen Akzenten konfrontiert wird, welche die Dynamik der Inklusion und des Exklusions im Literaturbetrieb annimmt. 5.8 Terézia Mora und Uljana Wolf: Konstruktion und Dekonstruktion der Fremdheit 223 <?page no="225"?> Schlussbemerkungen Die vorliegende Forschungsarbeit wurde begonnen, um ein neues Licht auf ein zentrales und viel erforschtes Phänomen des zeitgenössischen deutschspra‐ chigen Literaturraums zu bieten, nämlich auf die Öffnung dieses Raums für Autor: innen, die nicht (nur) deutsch und nicht (nur) deutschsprachig sind. Einige Jahrzehnte nach Beginn der ersten Forschungen zu diesem Thema war ein Perspektivenwechsel erforderlich, um die bisherigen Studien zu ergänzen. Bisher wurde tatsächlich meistens eine ‚interne‘ Perspektive verwendet, wobei man von der Vorstellung ausging, dass es unter den literarischen Texten von Schriftsteller: innen, die aufgrund ihrer persönlichen oder familiären Ge‐ schichten als potentielle Vertreter: innen dieses Phänomens betrachtet wurden, poetologische, inhaltliche, strukturelle bzw. formelle Ähnlichkeiten zu finden gäbe. Diese Herangehensweise, die in manchen Fällen durchaus zutreffen mag, war für das vorliegende Buch nicht von Bedeutung. Das Aufkommen zahlreicher Bezeichnungen zur Definition dieses Phänomens im Laufe der Jahrzehnte ist zudem zweifellos ein Hinweis darauf, wie schwierig es ist, äußerst unterschiedliche poetische Ansätze und biografische Profile miteinander in Verbindung zu bringen. Das verbindende Element - so die Ausgangsüberlegung dieser Arbeit - konnte daher nicht in den Texten selbst verankert sein, sondern musste anderswo liegen. In diesem Zusammenhang stellte sich die relevante Ausgangsfrage, welche kulturellen und literarischen Mechanismen zur Entstehung dieses Phänomens als Diskursobjekt im gegenwärtigen deutschsprachigen literarischen Feld ge‐ führt hatten. Dies ermöglichte die Erarbeitung neuer Aspekte, die nicht nur die Funktionsweise des untersuchten Fallbeispiels, des Adelbert-von-Chamisso- Preises, und des dadurch eröffneten literarischen Raums, der Chamisso-Lite‐ ratur, betreffen, sondern auch die Art und Weise beleuchten, wie sich der deutsche Literaturbetrieb im weiteren Sinne mit dem Thema der kulturellen Differenz auseinandergesetzt hat. Um den roten Faden des Buches wieder aufzunehmen, lässt sich sagen, dass die Rekonstruktion der Geschichte des kontroversen Adelbert-von-Chamisso- Preises - beginnend mit seinem institutionellen Kontext bis hin zu seiner Beendigung - sowie die Analyse seiner Rolle als Konsekrationsinstanz - ein‐ schließlich der Standpunkte der Projektbeteiligten, seiner hybriden Zielsetzung und der Struktur der Preisverleihungen - das Ausmaß des Einflusses dieser literarischen Institution im deutschsprachigen Literaturbetrieb der letzten vier Jahrzehnte verdeutlicht haben. Seine Wirkung entfaltete sich an der Schnitt‐ <?page no="226"?> stelle der drei Ebenen, auf denen sich die Transformationen des Literaturbetriebs vollziehen: der Produktion, Diffusion und Rezeption von Literatur. Unter ‚Pro‐ duktion‘ wird in diesem Zusammenhang das Auftreten von Autor: innen auf der literarischen Bühne verstanden, welche die deutsche Sprache als literarische Sprache und den literarischen Imaginationsraum kulturell ‚pluralisiert‘ haben. Der Chamisso-Preis stellt eine der Veränderungen dar, die der Literaturbetrieb als Folge dieses Phänomens erfuhr und zugleich eine der Institutionen, die zu diesen selben Veränderungen beigetragen hat. Die Autor: innen, die in den 1980er Jahren als ‚Ausländer‘ bezeichnet wurden, erhielten in der Tat durch die Anerkennung des Chamisso-Preises Zugang zu Verlagskanälen, die ihnen eine viel weitreichendere ‚Diffusion‘ ermöglichten als zuvor. Auf diese Weise entzogen sie sich jener Vergessenheit, die oft als unvermeidliches Schicksal im Kontext der Projektgründung galt. Schließlich hat der Preis hauptsächlich auf der dritten Ebene, der der ‚Rezeption‘, seinen größten Einfluss ausgeübt. Unter diesem Begriff wird weniger der Aspekt des Verlagswesens verstanden - was übrigens ein neues und interessantes Forschungsfeld im Zusammenhang mit der Chamisso-Literatur darstellen würde - sondern vielmehr der Prozess der allmählichen Anerkennung und Kanonisierung dieser Autor: innen und ihrer neuen literarischen Position, den der Preis vor allem durch das Verflechten seiner Geschichte mit der akademisch-wissenschaftlichen Rezeption bewirkt hat. Laut Jürgensen und Weixler (2020: 3) ist es immer „schwierig zu bestimmen, […] wann und wo der Handlungszusammenhang ‚Literaturpreis‘ seinen Anfang nimmt bzw. was oder wer ihn initiiert - und mindestens ebenso heikel ist die Festlegung seines Endes sowie seiner Reichweite“. Während der Beginn des Handlungszusammenhangs des Chamisso-Preises im vorliegenden Buch deutlich lokalisiert wurde, gestaltet sich dagegen die Bestimmung seines Endes und seiner Reichweite als schwierig. Dies liegt weniger an seinem kontroversen Ende im Jahr 2017, das übrigens mit einer Wiedergeburt zusammenfiel, sondern vielmehr daran, dass die Einflüsse der Chamisso-Literatur im deutschsprachigen literarischen Gegenwartsfeld weit über das Projekt Chamisso-Preis hinausrei‐ chen. Einerseits wurden innerhalb dieses Rahmens die Produktion und Rezeption von Themen und Merkmalen unterstützt, die verschiedene Ausprägungen kultureller Differenz aus einer zeitgenössischen Perspektive betrachten und literarisch umsetzen. Einige dieser literarischen Elemente haben sich allmählich als grundlegende Merkmale der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur etabliert. Darunter zählt die literarische Mehrsprachigkeit als besonders präg‐ nantes Merkmal, obwohl ihre Ausgestaltung stark variiert je nach Autor: in. 226 Schlussbemerkungen <?page no="227"?> Darüber hinaus wurde ihre Rezeption im Laufe der Jahrzehnte immer positiver und Experimente in diesem Bereich wurden zunehmend akzeptiert, während dies zu Beginn nicht der Fall war. Andererseits bietet die Geschichte des Chamisso-Preises und seiner Ein‐ flusssphäre paradigmatisch einen privilegierten Ausblick auf die allmähliche Öffnung der deutschsprachigen Literatur für kulturelle Unterschiede, gerade wegen der Konflikte, die er hervorgerufen hat. Die Veränderungen im offiziellen Profil der Chamisso-Preisträger: innen, also die Entwicklung der Merkmale, die Schriftsteller: innen zu ‚Chamisso-Autoren‘ machten, reflektieren einen fortschreitenden Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit den konzep‐ tionellen Grundlagen des Projekts im Umgang mit den mannigfachen Formen kultureller Vielfalt, die das Projekt selbst erfassen wollte. Das hat einen Über‐ gang von einem Verständnis von Literatur bedeutet, das noch grundsätzlich als monokulturell und einsprachig angesehen wurde, zu einem Verständnis, das interkulturell und mehrsprachig konzipiert war. Ein Übergang, der auch die Schließung des Projekts als unausweichliche Konsequenz hatte. Genau aus diesem Grund erweisen sich die Worte Weinrichs („Es [ist] offenbar leichter, einen neuen Staat als eine neue Literatur zu gründen“), mit denen dieses Buch vor vielen Seiten begonnen hat, als bedeutend: Sie verdeut‐ lichen, dass es notwendig war, sich den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen und eine neue Literatur zu entwickeln, die auf anderen Grundlagen beruht - nämlich ein neues nomos. In der Chamisso-Literatur wurden die Zugangsvoraussetzungen - in diesem Buch als ‚Herkunft‘ und ‚Sprachigkeit‘ konzeptualisiert - desselben literarischen Raums besonders deutlich sichtbar, und durch diese Sichtbarkeit konnten sie zum einem Verhandlungsobjekt gemacht werden. Der Weg des Preises lässt sich daher im Licht der beiden Paradigmen interpretieren, mit denen die zeitgenössische deutschsprachige Gesellschaft beschrieben wurde, nämlich der postmigrantischen und postmo‐ nolingualen Ausrichtungen. Dies ist der zentrale Aspekt, der die Geschichte des Preises aus kultureller Sicht so bedeutsam macht: Die im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen, einschließlich der Kontroverse um seine Schließung, resultieren einerseits aus der Anerkennung der Vielfalt literarischer Werke, die er erfassen wollte, und andererseits aus dem wachsenden Bewusstsein für die Unzulänglichkeit der kulturellen Repräsentationskonzepte, die das theoretische Fundament des Projekts bildeten. Der unbestreitbare Verdienst des Chamisso-Preises liegt darin, einen kritischen Raum eröffnet zu haben, in dem diese zentralen Fragen sichtbar und diskutierbar wurden. Aus diesen Gründen reflektiert die Geschichte des Preises sämtliche Probleme und Ambivalenzen, denen Deutschland bei der Schlussbemerkungen 227 <?page no="228"?> Inklusion - und Exklusion - der ‚Fremdheit‘ als Bestandteil seiner vielfaltigen Kultur begegnet ist. Und um es abschließend mit den Worten Tzvetan Todorovs zu sagen: „Die Trennungslinie verläuft nicht zwischen multikulturellen und monokultu‐ rellen Gesellschaften, sondern zwischen solchen, die ihrem Selbstverständnis nach ihre innere Vielfalt akzeptieren und schätzen, und solchen, die sie aus‐ blenden und abwerten“ (2010: 96). 228 Schlussbemerkungen <?page no="229"?> Abstracts und Keywords Die Migrationsbewegungen und komplexen Globalisierungsdynamiken seit der Nachkriegszeit haben einen tiefgreifenden Einfluss auf das deutschsprachige literarische Feld ausgeübt. Mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (1985-2017) beleuchtet dieses Buch eine zentrale Ausdrucksform dieser Veränderungen sowie eine der umstrittensten Auszeichnungen der deutschsprachigen Litera‐ turwelt. Indem der Preis einen durch Mehrsprachigkeit und Interkulturalität gekennzeichneten Literaturraum eröffnete, stieß er auf den paradoxen Zusam‐ menhang zwischen der Etikettierung und Exklusion selbiger Autor: innen, deren Integration das Ziel war. Durch die umfassende Analyse des verfügbaren Archivmaterials und eine Untersuchung ausgewählter literarischer Werke be‐ leuchtet dieses Buch, wie im Kontext des Chamisso-Preises und der Chamisso- Literatur Begriffe wie Muttersprache und Fremdsprache, Herkunft und Natio‐ nalität, Ausländersein und Deutschsein sich als mächtige Instrumente der kulturellen Ein- und Ausgrenzung entpuppen. Die fünf Kapitel des Buches untersuchen den Entstehungskontext, die Geschichte und Struktur des Preises, die Entwicklung und Vertreter: innen der ‚Chamisso-Literatur‘ sowie die Poetik der Preisträgerinnen Terézia Mora und Uljana Wolf. Keywords: Adelbert-von-Chamisso-Preis, Mehrsprachigkeit, Interkulturelle Literatur, Terézia Mora, Uljana Wolf Migration phenomena and the complex dynamics of globalization since the postwar period have had a profound impact on the German-speaking literary field. This book spotlights the Adelbert von Chamisso Prize (1985-2017), a key reflection of these shifts and one of the most debated awards in the German-speaking literary world. By creating a literary space defined by multilingualism and interculturality, the prize exposed the paradox of labeling Through an in-depth analysis of archival material and selected literary works, this book reveals how, within the context of the Chamisso Prize and Chamisso Literature, notions such as mother tongue and foreign language, origin and nationality, foreignness and Germanness become powerful instruments of cultural inclusion and exclusion. and excluding the very authors it sought to integrate. The book’s five chapters delve into the context, history, and structure of the prize, the evolution and key figures of Chamisso Literature, and the poetics of Chamisso Prize winners Terézia Mora and Uljana Wolf. Keywords: Adelbert-von-Chamisso-Preis, Multilingualism, Intercultural Lite‐ rature, Terézia Mora, Uljana Wolf <?page no="231"?> Literaturverzeichnis Primärliteratur Ackermann, Irmgard (Hrsg.) (1982). Als Fremder in Deutschland. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. München: dtv. Ackermann, Irmgard (Hrsg.) (1983). In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. München: dtv. Aichinger, Ilse (2018). Bad Words. Übers. von Uljana Wolf und Christian Hawkey. Calcutta: The Seagull Books; dt. Schlechte Wörter (1976). Bachmann, Ingeborg (1978). Werke. Band 1: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen. Hrsg. von Christine Koschel/ Inge von Weidenbaum/ Clemens Münster. München: Piper Verlag. Bernstein, Charles (1991). Of Time and the Line. In: Bernstein, Charles. Rough Trades. Los Angeles: Sun & Moon Press, 42-43. Biondi, Franco (1979). Nicht nur gastarbeiterdeutsch, Klein-Winternheim: Selbstverl. Biondi, Franco (1980a). So ein Tag, so wunderschön wie heute. In: Biondi, Franco et al. (Hrsg.), 92-98. Biondi, Franco (1980b). Das ist meine Heimat, Mann! Kursbuch 62. Berlin: Rotbuch, 91-99. Biondi, Franco (1984). Abschied der zerschellten Jahre. Eine Novelle. Kiel: Neuer Malik Verlag. Biondi, Franco (1991). Die Unversöhnlichen oder Im Labyrinth der Herkunft. Tübingen: Heliopolis. Biondi, Franco et al. (Hrsg.) (1980). Im neuen Land. Bremen: CON. Biondi, Franco/ Schami, Rafik (1981). Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur. In: Schaffernicht, Christian/ Atasayar, Sevgi (Hrsg.). Zu Hause in der Fremde. Ein bundesdeutsches Ausländer-Lesebuch. Fischerhude: Verlag Atelier im Bauernhaus, 124-136. Chamisso, Adelbert von (1981). Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813). In: Büttner, Erich (Hrsg.). 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Bertagnoli, Gianni-31 Bhabha, Homi K.-97, 100, 107 Bienek, Horst-117, 127 Bienert, Michael-74 Biondi, Franco-32-35, 37 f., 40 f., 43 f., 51, 57, 65, 83 f., 86, 109 f., 115 f., 127, 133, 138 Bodrožić, Marica-123 Bourdieu, Pierre-18, 23 ff., 35, 58, 78 f., 142 Breuer, Josef-207 Cavell, Stanley-213 Chamisso, Adelbert von 14, 26, 45, 49, 73- 78, 130 Chiellino, Gino Carmine-18, 31, 34 f., 37 f., 65, 83, 86, 103 ff., 109 f., 115 f., 127, 133, 138, 140 Çırak, Zehra-116, 120 Csiba, László-116 Czechowski, Heinz-118 Dalos, György-116, 123 Deleuze, Gilles-103 Dikmen, Sinasi-43, 46 ff. Emerson, Ralph Waldo-192 Esselborn, Karl-19, 51, 61, 102 Feudel, Werner-74 Filip, Ota-33, 116 f., 127, 136 Foucault, Michel-18, 22 f., 26, 58, 124 Franzetti, Dante Andrea-120, 128 Freud, Sigmund-207 Fried, Erich-116 Frise, Maria-41 Guattari, Félix-103 Harvey, Matthea-178, 192 Hawkey, Christian-178, 192 Herder, Johann Gottfried-106, 211 Hernado, Antonio-38 Hoffmann, Volker-74 Hübner, Klaus-71, 79 Institut für Deutsch als Fremdsprache-28, 34, 42 ff., 46, 49 ff., 53-57, 59-63, 65 f., 69-74, 126 f., 129, 137 Jakobson, Roman-215-219 Jessen, Jens-86 Karasholi, Adel-117 f., 127 f. Khider, Abbas-141 Krusche, Dieter-46, 60, 66, 74, 97 Löffler, Sigrid-131, 146 Maier, Hans-130 Moníková, Libuše-33, 87, 110, 116 f., 127 f., 136 f. Mora, Terézia-25, 27, 94 ff., 123, 132, 141, 143-151, 155 f., 159 ff., 169 f., 172 ff., <?page no="254"?> 176, 220-223 Moure, Erìn-178 f., 195 Nakitsch, Marian-118 Naoum, Jusuf-34 f., 38, 43 Oksaar, Els-74 Oliver, José F. A.-35, 43, 134, 139 f. Ören, Aras-31 ff., 55, 68 f., 113, 115 f., 135, 138 Ostashevsky, Eugene-178 Özdamar, Emine Sevgi-32, 84-91, 93, 95, 105, 110, 130 ff., 135 Papastamatelos, Tryphon-35, 38 Pappenheim, Berta-207 Pazarkaya, Yüksel 31 ff., 55, 57, 66, 116, 135 Philip, NourbeSe M.-178 Rajčić, Dragica-118 Rakusa, Ilma-123 f., 131, 135 Rilke, Rainer Maria-137, 178 Robert Bosch Stiftung-14, 28 f., 65 ff., 69- 72, 117, 124 f., 132, 136, 139 f., 144, 156 Ross, Werner-74 SAID-43, 116, 121, 127, 141 Schami, Rafik-34 f., 38, 57, 84, 89, 115, 118 f., 127, 141 Schleiermacher, Friedrich-209 ff. Schrütte, Wolfram-122 Schwarz, Michael-70 f. Seita, Sophie-198 Şenocak, Zafer-88 f., 96, 116, 120, 137 Stanišić, Saša-123 Stein, Gertrude-210 f. Stein, Kurt M.-207 f. Steinbach, Erika-214 f. Taufiq, Suleman-34 f., 38, 43, 57 Tawada, Yoko-92 f., 110, 121 f., 129 Todorov, Tzvetan-169, 228 Trojanow, Ilja-122, 131, 134 f., 139 f. Tschinag, Galsan-117 Weinrich, Harald-11, 14, 19, 34, 42 f., 45, 49 ff., 53, 55 ff., 60 f., 65-68, 72 f., 76, 78 f., 126, 129, 136, 140, 227 Welsch, Wolfgang-106 Wierlacher, Alois-97 f., 101 Wittgenstein, Ludwig-213 Wolf, Uljana-25, 27, 94, 96, 110, 124 f., 132, 134, 177-184, 186-198, 200, 203-209, 211, 213 ff., 218-223 Yildiz, Yasemin-91, 110 f., 181 Zaimoğlu, Feridun-32, 91 f., 105, 110, 135 254 Personenregister <?page no="255"?> Dank Dieses Buch ist eine erweiterte und überarbeitete Version meiner Dissertations‐ schrift, die ich im Juli 2020 an der Universität Neapel „L’Orientale“ verteidigt habe. Ein Projekt, das mich über Jahre hinweg begleitet und an verschiedene Orte geführt hat. Ohne den Beistand und die Unterstützung zahlreicher Men‐ schen und Institutionen hätte diese Arbeit nicht entstehen, sich entwickeln und in gedruckter Form erscheinen können. Deshalb erscheinen mir umfangreiche Danksagungen angemessen. Zunächst möchte ich meiner Betreuerin Valentina di Rosa meinen Dank aussprechen. Indem sie dieses Projekt in seiner Entwicklung angeleitet und seine Unwuchten mit ihrem methodisch-konzeptionellen Rigor eingedämmt hat, hat sie mir gezeigt, wie man zeitgenössische Literatur erforscht. Leider kann ich Stefan Nienhaus, dem dieses Buch gewidmet ist, nur auf dem Papier danken. Er hat mir das Vertrauen, den Raum und die Zeit gegeben, die ich benötigte, um diese Arbeit zu vollenden. Mein Dank gilt auch dem Dipartimento di Studi Umanistici der Universität Salerno für seine Unterstützung, insbeson‐ dere Nicoletta Gagliardi, Paola Gheri, Daniela Liguori, Valentina Schettino, Beatrice Wilke und Luisa Zullo, in deren Gesellschaft die schwierigen Momente der letzten Monate auch zu Gelegenheiten herzlichen Lachens wurden. Die Forschungsarbeit nahm auch während der Zusammenkünfte des Pro‐ jekts scrittureletturetedesche (slt) Gestalt an, das von Valentina di Rosa und Sergio Corrado an der Universität Neapel „L’Orientale“ betreut wurde. Die Diskurse und jener Jahre sind in verschiedenen Formen in die Seiten dieses Buches eingeflossen. Besonders möchte ich Rosa Coppola danken, mit der ich unzählige Stunden mit Abstracts, Tagungen, Forschungsfragen, Kontroversen, „Unbehagen“ und Enthusiasmus vollständig geteilt habe. Mein Dank gilt auch Daniela Allocca und Gabriella Sgambati für die vielen wertvollen Ratschläge, für ihre Zuneigung und ständige Präsenz sowie für die Projekte, für die uns im Grunde immer die Zeit fehlte und die wir trotzdem möglich machten. Des Weiteren danke ich Anne Fleig von der Freien Universität für ihre intellektuelle und praktische Unterstützung während und nach meinem DAAD- Forschungsaufenthalt im Sommer 2019 in Berlin. Die Gespräche mit ihr und ihrem Kolloquium haben dazu beigetragen, dass das Projekt wachsen konnte und haben mir die Zuversicht gegeben, dass ich auf dem richtigen Weg war. Während der vielen Jahre meiner Beschäftigung mit der Chamisso-Literatur konnte ich mich mit vielen Schriftsteller: innen und Wissenschaftler: innen austauschen. Jede Interaktion mit ihnen war entscheidend und ist in dieser <?page no="256"?> Arbeit präsent. Unter ihnen möchte ich insbesondere danken: Daria Biagi, Franco Biondi, Gino Carmine Chiellino, Thomas Ernst, Serena Grazzini, Sandro Moraldo, Brigitte Rath, Michele Sisto, Arata Takeda, Uljana Wolf. Ein besonderer Dank gebührt dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und seinem Team, das mir durch die Vergabe zweier C.H. Beck Stipendien ermöglicht hat, die Archivalien zu konsultieren, die diesem Buch zugrunde liegt. Um auf die Dokumente zugreifen und sie veröffentlichen zu können, habe ich Genehmigungen von vielen Personen und Institutionen erhalten: Es sind zu viele, um sie alle namentlich zu nennen, aber ich danke ihnen von Herzen für ihre Bereitschaft und Unterstützung. Ein besonderer Dank gilt Harald Weinrich und seiner Familie für ihre Großzügigkeit und Hilfebereitschaft. Ebenso wertvoll war die Unterstützung der Robert Bosch Stiftung durch Julia Teek, die immer schnell und präzise auf meine zahlreichen Fragen zum Chamisso-Preis geant‐ wortet hat. Die ersten Schritte dieser Idee wurden während meiner Masterarbeit un‐ ternommen, die ich 2014 an der Universität Pisa verteidigt habe. Für ihre anfänglichen Hinweise, strengen Korrekturen und Bemühungen - sowie für ihre Unterstützung in den folgenden Jahren - danke ich von Herzen Giovanna Cermelli und Raffaele Donnarumma. Des Weiteren möchte ich Till Dembeck von Herzen danken, dass er die Ver‐ öffentlichung in der Reihe Literarische Mehrsprachigkeit des Narr Francke At‐ tempto Verlags unterstützt hat. Auch an den Verlag gehen meine Dankesworte, insbesondere an Tillmann Bub, der die Fertigstellung des Werkes geduldig begleitet hat. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Sabine Schild-Vitale für die sorgfältige Korrektur der Manuskripte dieses Buches bedanken. Infine, necessariamente in italiano, ringrazio: i miei genitori, tutti e tre, per la cura, il sostegno e il riconoscimento dato al mio studio e al mio lavoro, sebbene i tanti interrogativi su cosa faccia, e soprattutto dove, restino insoluti; Rossella Catanese, per le risate condivise e per tutti i consigli che mi ha dato, soprattutto per quelli che non ho seguito; Marta Vero, che potrei ringraziare in tante lingue e in tanti luoghi, e comunque non sarebbe abbastanza, perciò mi limito a un “Ciao, Marta”; infine, gli Amici e i Casucci tutti, sesti e ufficiali, alcuni dei quali (soprattutto Irene) con gli anni sono divenuti, loro malgrado, esperti della Chamisso-Literatur. 256 Dank <?page no="257"?> Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg), Rolf Parr (Duisburg-Essen) Bisher sind erschienen: Band 1 Marion Acker / Anne Fleig / Matthias Lüthjohann (Hrsg.) Affektivität und Mehrsprachigkeit Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2019, 286 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8657-1 Band 2 Andreas Leben / Alenka Koron (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext 2019, 317 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8676-2 Band 3 Marko Pajević (Hrsg.) Mehrsprachigkeit und das Politische Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur 2020, 320 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8712-7 Band 4 Marion Acker Schreiben im Widerspruch Nicht-/ Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa 2022, 337 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8776-9 Band 5 Áine McMurtry / Barbara Siller / Sandra Vlasta (Hrsg.) Mehrsprachigkeit in der Literatur Das probeweise Einführen neuer Spielregeln 2023, 278 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8783-7 Band 6 Nazli Hodaie / Heidi Rösch / Lisa Theresa Treiber (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik 2024, 283 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8780-6 In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung ist das Interesse an Fragen der Mehrsprachigkeit in jüngerer Zeit international gestiegen. Das schließt an einen Trend an, der in der sprachwissenschaftlichen Forschung schon länger zu beobachten ist. Die Grenzen der ehemaligen Nationalphilologien werden unter Stichworten wie Hybridität, Inter- und Transkulturalität zunehmend geöffnet. Zu konstatieren ist dabei auch eine gesteigerte methodische und theoretische Eigenständigkeit philologischer oder kulturphilologischer Ansätze, die sich durch eine besondere Aufmerksamkeit für das Zusammenwirken von unterschiedlichen Formen sprachlicher Varianz in konkreten Texten auszeichnen. Dem damit sich konstituierenden Feld einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung bietet die Reihe einen Publikationsort. Dies geschieht auch mit dem Ziel, die vielfältige Forschung auf diesem Gebiet an einem Ort sichtbar zu machen und so den weiteren wissenschaftlichen Austausch zu fördern. - Ihrem Gegenstand entsprechend umfasst die Reihe die Einzelphilologien, das gesamte Spektrum der Kulturwissenschaften und punktuell auch die Sprachwissenschaften. <?page no="258"?> Band 7 Anja Burghardt / Eva Hausbacher (Hrsg.) Vielsprachigkeit der Sprache Mehrsprachigkeit in den slavischen Literaturen 2025, ca. 240 Seiten, €[D] 58,- ISBN 978-3-7720-8793-6 Band 8 Dirk Weissmann Wortöffnungen Zur Mehrsprachigkeit Paul Celans 2024, 511 Seiten, €[D] 88,- ISBN 978-3-381-11981-3 Band 9 Beatrice Occhini Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 2025, 256 Seiten, €[D] 78,- ISBN 978-3-7720-8775-2 <?page no="259"?> ISBN 978-3-7720-8775-2 www.narr.de Das Buch untersucht den Literaturpreis Adelbert-von-Chamisso (1985-2017), eine der einflussreichsten sowie kontroversesten Auszeichnungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, deren kulturpolitische Tragweite weit über den Literaturbereich hinausreicht. Anhand einer Analyse originaler Archivunterlagen und literarischer Werke beleuchtet diese interdisziplinäre Arbeit innovativ die Reaktionsmechanismen des deutschen Kulturraums auf die Herausforderungen der soziokulturellen Transformationen durch Migration und Globalisierung. Die fünf Kapitel widmen sich dem Entstehungskontext, der Geschichte und Struktur des Preises, der Entwicklung und literaturwissenschaftlichen Rezeption der sogenannten ‚Chamisso-Literatur‘ sowie der Poetik zweier Preisträgerinnen, Terézia Mora und Uljana Wolf, als Beispiele für die jüngsten Entwicklungen in der Chamisso-Literatur.
