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Mahl und Kanon

Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Jan Heilmann und Kevin Künzl

0905
2022
978-3-7720-5779-3
978-3-7720-8779-0
A. Francke Verlag 
Matthias Klinghardt
10.24053/9783772057793

Matthias Klinghardts gesammelte Aufsätze zum Thema "Mahl" sind wegweisende Beiträge zu den historischen und ritualgeschichtlichen Hintergründen des christlichen Abendmahls. Sie eröffnen völlig neue Deutungsansätze und eine adäquate kontextuelle Einordnung der sogenannten "Einsetzungsworte" im Neuen Testament. Die unter dem Stichwort "Kanon" zusammengestellten Aufsätze bieten eine neue Perspektive auf die Literaturgeschichte des frühen Christentums und stellen alte Überzeugungen in Frage.

<?page no="0"?> T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER Matthias Klinghardt Mahl und Kanon Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Jan Heilmann und Kevin Künzl <?page no="1"?> Mahl und Kanon <?page no="2"?> T A N Z TEXTE UND ARBEITEN ZUM NEUTESTAMENTLICHEN ZEITALTER 69 herausgegeben von Matthias Klinghardt, Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel <?page no="3"?> Matthias Klinghardt Mahl und Kanon Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag herausgegeben von Jan Heilmann und Kevin Künzl <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057793 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 0939-5199 ISBN 978-3-7720-8779-0 (Print) ISBN 978-3-7720-5779-3 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0219-9 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> Matthias Klinghardt zu seinem 65. Geburtstag als Dank für sein außergewöhnliches Werk und seine inspirierende Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses <?page no="7"?> 11 21 37 53 69 91 119 147 177 187 221 Inhalt Jan Heilmann / Kevin Künzl Mahl und Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Röhser Einheit und Vielfalt. Historische und hermeneutische Prozesse am Anfang des Christentums und ihre aktuelle Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Schwarke Im Anfang war - alles ein wenig anders. Überlegungen zu einigen Aspekten der exegetischen Arbeit von Matthias Klinghardt aus systematisch-theologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David Trobisch Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion, Dr. Watsons Sherlock Holmes und die Struktur des Ersten Johannesbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mahl The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations Sünde und Gericht von Christen bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ Mahl und Mahldeutung im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanz und Offenbarung. Praxis und Theologie des gottesdienstlichen Tanzes im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemeindeleib und Mahlritual. Sōma in den paulinischen Mahltexten . . . . . Bund und Sündenvergebung. Ritual und literarischer Kontext in Mt 26 . . . Der vergossene Becher. Ritual und Gemeinschaft im lukanischen Mahlbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 249 273 307 323 345 363 387 411 429 471 493 494 Kanon Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Gesetz“ bei Markion und Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürlich, eine alte Handschrift! Die Briefe des Apostels Paulus im Codex Boernerianus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1-20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext. Konstruktion und Begründung von Gemeinsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inspiration und Fälschung. Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft. Zur Textgeschichte der neutestamentlichen Handschriftenüberlieferung . . . . . Abraham als Element der Kanonischen Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellenregister Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt <?page no="9"?> © TUD, Jana Hartmann <?page no="10"?> Akademischer Werdegang 1957 geboren in Waldshut/ Hochrhein (Baden); verheiratet, drei Kinder 1976 bis 1982 Studium der Evangelischen Theologie in Wuppertal, Tübingen und Heidelberg; Erste Kirchliche Dienstprüfung bei der Evangelischen Landeskirche in Baden 1986 Promotion an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Heidelberg bei Klaus Berger mit einem Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes 1988 bis 1989 Assistant Professor am Deptartment of Religious Studies der Rice University, Houston, TX 1989 bis 1998 Wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent in Augsburg am Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Biblische Theologie 1994 Habilitation an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Heidel‐ berg für das Fach ‚Neues Testament‘ seit 1998 Professor für Biblische Theologie am Institut für Evangelische Theo‐ logie der TU Dresden <?page no="11"?> 1 Vgl. Männlich - Weiblich - Mannweiblich. Geschlechterkonstruktionen im frühen Christentum, Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden 52 (2003), 51-56; Andro‐ gyne Gleichheit - sexuelle Hierarchie. Die Kultur der Geschlechtskörper im frühen Christentum, in: ZNT 30 (2012), 3-11. 2 Vgl. Zeitenwende, Zeitenende und Millennium. Zum apokalyptischen Zeitverständnis im frühen Christentum, in: H. B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Zeitenwende - Zeitenende (Dresdner Hefte für Philosophie 3), Dresden 2001, 119-158. 3 Vgl. Himmlische Körper. Hintergrund und argumentative Funktion von 1Kor 15,40 f., in: ZNW 106 (2015), 216-244. 4 Vgl. The Ritual Dynamics of Inspiration. The Therapeutae’s Dance, in: S. Marks, H. E. Taussig (Hg.), Meals in Early Judaism. Social Formation at the Table, New York 2014, 139-161; A Typology of the Communal Meal, in: D. E. Smith, H. E. Taussig (Hg.), Meals in the Early Christian World. Social Formation, Experimentation, and Conflict at the Table, New York 2012, 9-22. Ein weiterer Beitrag zu diesem Themenkomplex ist wegen seines Charakters als Handbuchbeitrag ebenfalls nicht aufgenommen worden: Meals in the Gospel of Luke, in: S. Al-Suadi, P.-B. Smit (Hg.), Early Christian Meals in the Greco-Roman World, London/ New York 2019, 109-120. Mahl und Kanon Jan Heilmann / Kevin Künzl Der vorliegende Sammelband dient der Würdigung von Matthias Klinghardt und seines Beitrages für die Neutestamentliche Wissenschaft zu seinem 65. Ge‐ burtstag. Er vereint unter der Überschrift ‚Mahl und Kanon‘ 17 Aufsätze des Jubilars, die zwischen 1994 und 2019 erschienen sind. ‚Mahl und Kanon‘ benennen gewiss die beiden Hauptsäulen des Werkes von Matthias Klinghardt, auch wenn es sich freilich nicht in diesen beiden Themenbereichen erschöpft. Wichtige Aufsätze zu Sexualität und Geschlechtlichkeit im frühen Christentum, 1 zur Zeitdeutung der Apokalypse, 2 zur Auferstehung bei Paulus 3 und zu weiteren zentralen Fragen der biblischen Exegese bleiben wegen der bewusst gewählten thematischen Zuspitzung dieses Bandes außen vor, obgleich ihnen die gleiche Ehre eines Wiederabdrucks gebühren würde. Zwei Publikationen zum Themen‐ komplex ‚Mahl‘ konnten aufgrund von erheblichen Lizenzgebührforderungen durch Springer Nature ebenfalls nicht aufgenommen werden. 4 <?page no="12"?> 5 Vgl. Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristli‐ cher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996. Im Zuge des Wiederabdrucks wurden möglichst wenige Veränderungen an den Beiträgen vorgenommen. Die Seitenangaben der Ursprungspublikation werden jeweils in eckigen Klammern im Text angeführt. Sind Druckfehler während der Durchsicht aufgefallen, wurden diese stillschweigend korrigiert. Trotz aller Sorgfalt besteht jedoch die Gefahr, dass bei der Formatierung der Beiträge für den vorliegenden Sammelband neue Fehler entstanden sind und bei den Korrekturarbeiten übersehen wurden. Diese liegen in der Verantwortung der Herausgeber. Neben diesem Editorial sind den gesammelten Aufsätzen drei einleitende Beiträge vorangestellt, die das Klinghardtsche Werk zu Mahl und Kanon in je unterschiedlicher Perspektive in den Blick nehmen und dessen Implikationen nicht nur für die Exegese, sondern auch für die Theologie insgesamt aufzeigen. Günter Röhser erschließt unter dem Titel Einheit und Vielfalt. Historische und hermeneutische Prozesse am Anfang des Christentums und ihre aktuelle Bedeutung die Grundstrukturen des Werkes des Jubilars, indem er die wiederabgedruckten Aufsätze zu den drei großen Monographien als Ausgangs- und Kristallisations‐ punkte in Beziehung setzt. Christian Schwarke betrachtet unter dem Titel Im Anfang war - alles ein wenig anders zentrale Aspekte des Werkes von Matthias Klinghardt aus systematisch-theologischer Perspektive, führt aus, warum die Thesen Klinghardts im fachwissenschaftlichen Diskurs nur zögerlich aufgenommen werden, und ordnet die Bedeutung der Thesen für die Theologie im Gesamten ein. Der Beitrag von David Trobisch knüpft unter dem Titel Kling‐ hardts Begriff der Echtheitsfiktion, Dr. Watsons Sherlock Holmes und die Struktur des Ersten Johannesbriefes inhaltlich an die Überlegungen des Jubilars zum Metanarrativ der ‚Kanonischen Ausgabe‘ des NT an und arbeitet anhand der johanneischen Schriften unterschiedliche Ebenen literarischer Fiktion heraus. Seine Analysen münden in einem pointierten Fazit dazu, wer für die Herausgabe der editio princeps des NT im 2. Jh. verantwortlich sein könnte - und sie zeigen, was das Vorgehen der Herausgeber des NT mit Dr. Watson und Arthur Conan Doyle gemeinsam hat. Mahl In seinem ersten Aufsatz zum Mahl The Manual of Discipline in the Light of Statues of Hellenistic Associations, der noch vor der Habilitationsschrift „Gemein‐ schaftsmahl und Mahlgemeinschaft“ 5 erschien, zeigt der Jubilar an Hand von 12 Jan Heilmann / Kevin Künzl <?page no="13"?> Parallelen zwischen der Gemeinderegel (1QS) und den Statuten hellenistischer Vereine, dass die Gruppe im Hintergrund dieses Textes als antiker Verein zu verstehen sei; die These unterschiedlicher organisationaler Strukturen zwischen antiken Vereinen und der Gruppe hinter 1QS kann unter Berücksichtigung einer breiteren Quellenbasis zu antiken Vereinen nicht aufrecht erhalten werden. Daraus folgt: Statt als ‚Sekte‘ mit koinobitischer Lebensweise, die erst deutlich später in den Quellen fassbar wird, ist die Gruppe im Hintergrund von 1QS als Synagogengemeinde im palästinischen Raum zu verstehen. Bei Sünde und Gericht von Christen bei Paulus ist der Bezug zum Mahl zwar nicht unmittelbar ersichtlich, die große Bedeutung der Gerichtsthematik in 1Kor 11, die im Rahmen dieses Aufsatzes thematisiert wird, macht aber die Relevanz des Aufsatzes für den Themenkomplex deutlich. Der Aufsatz adressiert das Problem, wie sich mögliche Sünden von Christen bei Paulus einerseits zur Rechtfertigung und andererseits zu Gerichtsvorstellungen verhalten. Der Jubilar setzt sich hier kritisch mit zwei Modellen auseinander, die dieses Problem zu lösen versuchen: einer Sündlosigkeitstheorie, die von einer „faktischen Abwesenheit von Sünden bei Christen“ (57/ 93) ausgeht, und der lutherischen Position des simul iustus et peccator. Wie Klinghardt zeigt, werden beide Modelle dem Textbefund nicht gerecht. Anhand der Auslegung des Zusammenhangs von Verfehlungen von Christen einerseits und ihrem Gerichtet-Werden andererseits in 1Kor 3,5-15, 1Kor 5 und 1Kor 11 wird aufgezeigt, dass Paulus zwei Gerichts‐ instanzen unterscheidet: das Endgericht mit der Funktion der Verurteilung, das bis auf Apostaten nur die Heiden betrifft, und das Züchtigungsgericht mit erzieherischer Funktion für Juden und Christen, das durch „die Bestrafung in der Zeit vor der endgültigen Vernichtung im Endgericht“ (64/ 100) schützt. Eine ausführliche traditionsgeschichtliche Analyse, welche die Vorstellung eines Züchtigungsgerichtes nachweist und es erlaubt, Zorngericht und eschatologi‐ sche Rettung zu harmonisieren, unterstützt diese Deutung. Nehmt und eßt, dies ist mein Leib verdeutlicht, dass das christliche Mahl seinen Ursprung nicht in einem einmaligen Stiftungsakt Jesu hat oder einfach die Mahlpraxis Jesu fortsetzt, sondern im Rahmen der antiken hellenistisch-rö‐ mischen Mahlkultur zu verorten ist. Das antike Gemeinschaftsmahl war die einzig mögliche Sozialform, um sich als Gruppe zu treffen - auch im Judentum des hellenistischen Kulturraums. Der Beitrag skizziert die herausragenden Charakteristika der antiken Gemeinschaftsmahlpraxis: den besonderen Raum mit Liegen, die zumeist als Triklinium angeordnet waren; die Möglichkeit der Erweiterung des Mahles bei größeren Gruppen durch die Hinzufügung weiterer Triklinien; die distinkte dreiteilige Form bestehend aus Mahl (Deipnon), religiös aufgeladener Übergangszeremonie (Libation) und anschließendem Gelage bei 13 Mahl und Kanon <?page no="14"?> Wein mit Unterhaltung und Gespräch (Symposion); die mit dem Gemeinschafts‐ mahl verknüpften Werte (Friede, Eintracht, Freundschaft, Gleichheit), die es zu einer ‚konkreten Utopie‘ machten. Am Ende folgt eine knappe Interpretation der sog. ‚Einsetzungsworte‘ als Deuteworte des frühchristlichen Gemeinschafts‐ mahles, die in zwei weiteren Aufsätzen elaboriert wird (s. u.). In Tanz und Offenbarung plausibilisiert der Jubilar die Praxis des Tanzens im Kontext der frühchristlichen Mahlpraxis und weist die These eines späteren Eindringens des Tanzes in das Christentum zurück, der „mit dem Deprivations‐ schema vom reinen Ursprung hin zur Kontamination durch pagane Bräuche ein erkennbar unhistorisches Geschichtsbild“ (10/ 149) zugrundeliegt. Als wichtige Evidenz wertet er neben den Quellen zu antiken Symposien die bei Philo beschriebene Praxis des gottesdienstlich-sympotischen Tanzes der Therapeuten aus, die rezeptionsgeschichtlich von Euseb als christlich identifiziert wird, und die Johannesakten, die den engen Bezug von Hymnodie und Tanz bezeugen. Die besondere Bedeutung des Tanzes ist darin zu sehen, dass er „religiöse Erfahrung in besonderer Weise vermittelt und so Inspiration und Offenbarung bewirkt.“ (30/ 170) Die drei Aufsätze Gemeindeleib und Mahlritual, Bund und Sündenvergebung und Der vergossene Becher vertiefen und modifizieren die Deutung der sog. ‚Einsetzungsworte‘ und zeigen, dass deren unterschiedliche Fassungen inner‐ halb des NT nicht jeweils einfach das Gleiche mit leicht veränderten Worten aussagen, sondern in ihrem literarischen Kontext je ganz unterschiedlich zu verstehen sind. Gemeindeleib und Mahlritual plausibilisiert die ekklesiologische Deutung von τὸ σῶμα (Leib) in 1Kor 10 f. „Dies ist mein Leib“ referenziert nicht den Leib des Gekreuzigten, sondern bezieht sich auf die Austeilung des als Besteck dienenden Brotes nach dem einleitenden Mahlgebet. Mit τὸ σῶμα wird in diesem Zusammenhang die Gemeinschaft der Mahlteilnemer als ‚Leib Christi‘ gedeutet. Diese Deutung liegt einerseits nahe in Bezug auf das argumentative Gefälle in 1Kor 11, in dem das soziale Problem von Spaltungen in der Mahlgemeinschaft im Zentrum steht. Andererseits wird ‚Leib‘ auch sonst im 1Kor häufig ekklesi‐ ologisch verwendet (s. insb. 1Kor 12, aber auch in 1Kor 10). Bund und Sündenvergebung widmet sich dem matthäischen Becherwort (Mt 26,27-29), das als Teil des Mahldiskurses zu verstehen sei, nicht als Teil des Ri‐ tuals selbst, und interpretiert dessen einzelne Konstitutenten. Die Aufforderung „Trinkt alle daraus! “ zeigt laut Klinghardt, dass das matthäische Becherwort einen in sympotischem Rahmen getrunkenen Gemeinschaftsbecher deutet. Konkret handelt es sich um eine besondere Form des in den Quellen breit be‐ zeugten Proposis-Rituals, das üblicherweise aus mehreren Bechern, zur beson‐ 14 Jan Heilmann / Kevin Künzl <?page no="15"?> deren Betonung der Gemeinschaft, aber gelegentlich auch aus einem einzigen Becher getrunken werden konnte. Das Blut steht im matthäischen Becherwort (wie auch bei den anderen neutestamentlichen Deuteworten über dem Becher) nicht metonymisch für den Wein, sondern ist in Bezug auf Ex 24,8 zu verstehen: „Mein Blut des Bundes“ meint, dass Jesus seinen Bund analog zum Sinaibund schließt. „So, wie die Besprengung mit Blut die Israeliten zu Bundespartnern macht und sie als ein Volk konstituiert, so konstituiert das gemeinsame Trinken der Proposis eine Beziehung zwischen den Jüngern.“ (178/ 205, Herv. im Original). Das Partizip ἐκχυννόμενον referenziert nicht den gewaltsamen Tod Jesu, son‐ dern meint das Ausschenken des Bechers durch den matthäischen Jesus, wobei περὶ πολλῶν/ „für viele“ als ein Hinweis zu verstehen ist, „der die erzählte Zeit übersteigt und auf die Zeitebene der impliziten Leser verweist: Noch viele andere können dazukommen.“ (179/ 207). „Zur Vergebung der Sünden“ bedeutet entsprechend des matthäischen Konzeptes von Sündenvergebung als Vollmacht, die durch den Menschensohn von Gott zu den Menschen verlagert wird, die Vergebung der Sünden der Mahlteilnehmer untereinander. Der Proposis-Becher konstituiert dementsprechend eine „Sündenvergebungsgemeinschaft“. Der vergossene Becher untersucht das Becherwort im lukanischen Mahlbe‐ richt. Der Beitrag nimmt Beobachtungen zur Fehlübersetzung des Partizips ἐκχυννόμενον zum Ausgangspunkt, das sich, anders als zumeist angenommen wird, nicht auf das Blut bezieht, sondern grammatisch eindeutig auf den Becher. Vor dem Hintergrund ritualgeschichtlicher Analogien wird deutlich, dass im lukanischen Becherwort tatsächlich der Becher ausgegossen wird. Dies steht sowohl in struktureller Kongruenz zum Ablauf des antiken Gemeinschaftmahles als auch in thematischer Kongruenz zum Inhalt des Textes. Denn die Libation war in der Antike ein zentrales Vertragsabschlussritual. Kanon Im ersten Beitrag der Rubrik ‚Kanon‘ mit dem Titel Boot und Brot zeichnet der Jubilar zwei prominente Erzähllinien innerhalb des MkEv anhand der beiden titelgebenden Leitbegriffe nach. Für beide Leitbegriffe werden weitere, symbolische Konnotationen neben der eigentlichen denotativen Bedeutung plausibel gemacht: ‚Boot‘ steht in Mk 3,7-8,21 einerseits für den Rückzug von der Menge und die exklusive Gemeinschaft der Jünger mit Jesus, andererseits ist es mit Gefährdung konnotiert, die das Ergebnis des - tatsächlichen wie sprichwörtlichen - Aufbruchs zu neuen Ufern ist. ‚Brot‘ dient demgegenüber als Metapher für die Lehre Jesu sowie als Bild für soziale Einheit. Obwohl ‚Boot und Brot‘ kein Aufsatz zum Thema ‚Kanon‘ im eigentlichen Sinn ist, steht er 15 Mahl und Kanon <?page no="16"?> 6 Vgl. Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (TANZ 60), 2 Bde., Tübingen 2 2020, 80-102. exemplarisch für Klinghardts Ansatz, die neutestamentlichen Texte als bewusst und kunstvoll komponierte Literatur ernst zu nehmen: ein Ansatz, der gerade auch für seine Perspektive auf das Neue Testament als ‚Kanonische Ausgabe‘ bestimmend ist. „Gesetz“ bei Markion und Lukas ist der erste Aufsatz des vorliegenden Bandes, in dem der Jubilar explizit für die Priorität des für Marcion bezeugten Evangeliums gegenüber dem LkEv argumentiert. Der Beitrag stellt heraus, dass die klassischerweise für Marcion angenommene ‚antinomistische‘ Redaktion von Lk inkohärent ist: Auch im für Marcion bezeugten Evangelium finden sich positive Referenzen auf das Gesetz. Im LkEv sind die Hinweise auf ‚Gesetz und Propheten‘ allerdings zahlreicher. Zudem zeigen die zusätzlichen Stellen in Lk ein einheitliches Profil, das in auffälliger Weise mit der Apg kongruiert. Auf dieser Grundlage argumentiert Klinghardt, dass das für Marcion bezeugte Evangelium gerade nicht per se ‚antinomistisch‘ ist, das lukanische Doppelwerk dagegen sehr wohl ‚antimarcionitisch‘. Eine marcionitische Rezension des LkEv sei folglich deutlich unwahrscheinlicher als die umgekehrte Annahme einer lukanischen Rezension des für Marcion bezeugten Evangeliums. In Natürlich, eine alte Handschrift widmet der Jubilar sich einer der außer‐ gewöhnlichsten Handschriften in der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden: dem Codex Boernerianus (G 012). Auf prägnante Art referiert der Beitrag die wechselvolle Geschichte dieser Pau‐ lusbriefehandschrift, die überraschend viele Anekdoten bereithält. Aus der Perspektive von Klinghardts Forschungen zum Komplex ‚Kanon‘ ist der Codex Boernerianus besonders deshalb interessant, weil er einen der herausragenden Repräsentanten des sog. ‚Westlichen Textes‘ des NT darstellt (nach seinem Hauptzeugen auch ‚D-Text‘ genannt). Diese Textform, so eine These, die Kling‐ hardt anderswo ausführlich darlegt, 6 bewahre besonders viele ‚vorkanonische‘ Textvarianten, d. h. Lesarten, die vor die Entstehung der editio princeps des NT im 2. Jh. datieren. Auch der nächste Beitrag Legionsschweine in Gerasa befasst sich nicht unmit‐ telbar mit dem Thema ‚Kanon‘. Vielmehr bietet der Artikel eine Auslegung des ‚auffälligen‘ Exorzismus des Geraseners in Mk 5,1-20, dessen wildem, ‚Legion‘ genannten Dämon von Jesus bekanntlich gestattet wird, in eine Schweineherde zu fahren, die sich daraufhin spontan im See ertränkt. Klinghardt deutet diese Erzählung als Reflex auf die Truppenpräsenz der Legio X Fretensis in und um Gerasa, die wahrscheinlich für die späten 80er Jahre n. Chr. anzunehmen ist. 16 Jan Heilmann / Kevin Künzl <?page no="17"?> 7 Vgl. a. a. O., 410 f. In seiner Argumentation skizziert er, dass die Legio X Fretensis neben dem bekannten Legionseber auch diverse maritime Symbolik in Anspruch nahm, was den Bezug zu Mk 5,1-20 zusätzlich plausibilisiert. Hinsichtlich Klinghardts Arbeit zum neutestamentlichen Kanon - insbesondere zur Überlieferungsge‐ schichte der kanonischen Evangelien - ist wichtig, dass die Austreibung des Legionsdämons in Gerasa auch im für Marcion bezeugten Evangelium enthalten ist (*8,26-37). Im Rahmen seines überlieferungsgeschichtlichen Modells dient die Truppenpräsenz der X Fretensis in den späten 80er Jahre n. Chr. damit als terminus post quem der Entstehung des für Marcion bezeugten Evangeliums - und damit zugleich als terminus post quem für das Einsetzen jenes Überliefe‐ rungsprozesses, der im kanonischen Vier-Evangelien-Buch mündet. 7 In Erlesenes Verstehen fragt der Jubilar nach der „impliziten Didaktik“, mittels derer in den unterschiedlichen Evangelien bei den Lesern Verstehensprozesse angeregt und gesteuert werden sollen. Sein Hauptaugenmerk richtet Klinghardt auf die jeweiligen Konzepte von Mt und Mk: Während das MtEv auf Eindeutig‐ keit bedacht ist, die Autorität eines Jüngers (Matthäus) beansprucht und die Leser in eine „genau zugewiesene Hörerrolle“ (35/ 360) versetzt, gewährt das MkEv mit seinen Ambivalenzen und Unverständnisszenen deutlich mehr her‐ meneutischen Freiraum, verlangt aber auch mehr Kompetenz von seinen Lesern und ist auf mehrfache Lektüre hin angelegt. Da Mt und Mk handschriftlich indes durchweg als die ersten beiden Bücher des kanonischen Vier-Evangelien-Buchs überliefert sind, könnten, so Klinghardt, beide Konzepte allerdings erst im Gespräch miteinander angemessen gewürdigt werden. So zeige sich erst auf der Ebene der Lesersteurung der ‚Kanonischen Ausgabe‘ beispielsweise, dass der Geltungsanspruch und die Klarheit des MtEv „[…] als Propädeutik für die elitären Interpretationsaufgaben, die Mk den Lesern abverlangt,“ (35/ 360) dient. In Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext beschreibt der Jubilar Apg 15 als Text mit einer besonderen hermeneutischen Funktion für die ‚Kanonische Ausgabe‘ des NT. Ausschließlich die Darstellung des ‚Apostelkonzils‘ sowie des zugehörigen Dekrets in Apg 15 mache es möglich, das Zerwürfnis zwischen Paulus und Petrus/ Jakobus in Gal 2,11 ff. im kanonischen Rahmen lediglich als einen ‚Zwischenfall‘ zu deuten. Ohne die Apg bliebe die Spannung ungelöst. Einen spezifischen Gemeinsinn stifte das Dekret zudem nicht aufgrund seiner denkbar allgemein gehaltenen Forderungen an das christliche Sozialverhalten, sondern mittels seiner ausführlichen Begründungsstrukturen (Autorität der Apostel als historisch klar umrissene Größe; hermeneutische Funktion der Pneumatologie in Bezug auf das christologische Verständnis der jüdischen Schriften; Rekurs auf 17 Mahl und Kanon <?page no="18"?> das Gesetz des Mose), die Klinghardt als dezidiert antimarcionitisch versteht. Demzufolge sei das Aposteldekret als ein Text der ‚Kanonischen Redaktion‘ des NT zu verstehen und datiere in die Mitte des 2. Jh. Auch in Inspiration und Fälschung knüpft Klinghardt an die These einer editio princeps des NT im 2. Jh. an, indem er die Inspirationsaussagen in 2Tim 3,16 und 2Petr 1,20 f. als einen Teil des Metanarrativs dieser Ausgabe deutet. Dieses ziele nämlich nicht allein auf die Konstruktion einer Geschichte der Entstehung der frühesten Kirche im Zeitalter der Apostel ab: Da die Inspirationsaussagen sich in erster Linie auf die Schriften Israels beziehen und die ‚Kanonische Ausgabe‘ das Alte Testament als ihren ‚ersten Band‘ mit beinhaltete, werde das ‚katholische‘ Christentum vor allem in eine bereits bestehende, umfassende Heilsgeschichte eingeschrieben. Als einen zentralen Gewinn der Verortung der Inspirationsaussagen des NT auf der Ebene der ‚Kanonischen Redaktion‘ im 2 Jh. formuliert Klinghardt, dass ihre Entstehung erst auf diese Weise als Teil christlicher Identitätsbildung historisch greifbar wird. In Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft setzt der Jubilar sich mit den oft impliziten text- und überlieferungsgeschichtlichen Prämissen der Textkritik auseinander. Besonders kritisiert wird das Fehler einer plausiblen Theorie zur Entstehung größerer, sinnverändernder Varianten. Das übliche Konzept einer endlosen Reihe einzelner und zufälliger ‚Textwucherungen‘ sei historisch nicht haltbar, da zahlreiche Hinweise auf größere, redaktionelle Eingriffe in den Text des NT diesem Bild widersprächen. Mit dem Modell einer editio princeps des NT im 2. Jh. stehe hingegen ein historisch plausibles Modell zur Verfügung, das die Aporien, vor denen das ‚Wucherungsmodell‘ insbesondere bei substantiellen Textvarianten steht, vermeidet. Es sei die Auf‐ gabe der Textkritik, so Klinghardt, ihre Methodologie unter diesen Vorzeichen zu erneuern. Der Aufsatz Abraham als Element der Kanonischen Redaktion nimmt die Unterscheidung einer für Marcion bezeugten Ausgabe von 10 Paulusbriefen und einem anonymen Evangelium und der ‚Kanonischen Ausgabe‘ des NT zum Ausgangspunkt. Anhand des Vergleichs der mentiones Abrahae in beiden Ausgaben plausibilisiert Klinghardt ein kohärentes redaktionelles Konzept der ‚Kanonischen Ausgabe‘ und zwar entlang der Motive ‚Abrahamskindschaft‘ und ‚Glaube/ Gerechtigkeit Abrahams‘. Die Ausführungen münden in die These, dass die Abrahamstraditionen in der ‚Kanonischen Ausgabe‘ ganz gezielt dazu genutzt werden, das historisch zerrüttete Verhältnis von Paulus und Jakobus auf der Ebene des kanonischen Metanarrativs einzuhegen. Einen Überblick über die synoptische Theorie unter der Annahme der Priorität des für Marcion bezeugten Evangeliums, die der Jubilar in seinem opus 18 Jan Heilmann / Kevin Künzl <?page no="19"?> 8 Vgl. a. a. O., 199-378. magnum ausführlich dargelegt hat, 8 bietet der Aufsatz Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien. In einem ersten Schritt wird die Marcion-Priorität anhand des Quellenbefundes bei Tertullian sowie anhand einer stichprobenar‐ tigen Analyse der Bearbeitungsrelation zwischen *Ev/ Mcn und Lk begründet. In einem zweiten Schritt folgt die Analyse der Bearbeitungsrelationen zu Mk und Mt sowie zu Joh. Am Ende des Beitrags stehen Schlussfolgerungen zur Leistungsfähigkeit des Modells, das Übereinstimmungen von Mt und Lk gegen Mk einfacher erklären kann, die Probleme der ‚Marcan Priority Without Q‘-Hypothese umgeht und Joh in das Modell mit integriert. Zudem werden grundsätzliche Konsequenzen mit Blick auf methodische Fragen, den schriftli‐ chen Charakter der Evangelienüberlieferung und theologische Implikationen gezogen. *** Ohne die Zuarbeit und Unterstützung von allen Seiten wäre der vorliegende Band nicht realisierbar gewesen. Unser Dank dafür gilt zuerst den Institutionen und Verlagen, die dem Wiederabdruck der bei ihnen erschienenen Aufsätze des Jubilars zugestimmt haben: der Theologischen Hochschule Friedensau, der Theologischen Fakultät der HU Berlin, der TU Dresden, der New York Academy of Sciences sowie den Verlagen De Gruyter, Mohr Siebeck, Vandenhoeck & Ruprecht und Penguin Random House. Gesondert hervorzuheben ist die Koope‐ ration mit Narr Francke Attempto, die nicht nur dem Wiederabdruck mehrerer Aufsätze zugestimmt haben, sondern auch der Publikation des vorliegenden Bandes in ihrem Haus. Besondere Erwähnung verdient die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit Stefan Selbmann, der die Realisierung des Buchprojektes begleitet hat. Weiterhin gebührt Dank den Herausgebern der Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ), Günter Röhser, Stefan Schreiber und Manuel Vogel, in deren Reihe sich der Band fraglos in angemessener Gesellschaft befindet. Bei Günter Röhser, David Trobisch und Christian Schwarke bedanken wir uns dafür, dass sie zu Ehren des Jubilars jeweils einen Beitrag für den Einleitungsteil dieses Sammelbandes beigesteuert haben. Zuletzt wären die zahlreichen Korrektur- und Formatierungsarbeiten, die bei einem so umfang‐ reichen Buchprojekt anfallen, nicht ohne die Unterstützung der Mitarbeiter und Hilfskräfte in Dresden, Lena Creutz und Adriana Zimmermann, und München, Fiodar Litvinau, Ulrike Meinhold und Nathalie Schuler, zu bewerkstelligen gewesen. Ihnen gilt ebenfalls unser ganz ausdrücklicher Dank. 19 Mahl und Kanon <?page no="21"?> 1 Gesetz und Volk Gottes (WUNT II 32), Tübingen 1988. 2 Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996. - Im Sinne der oben gewählten Überschrift könnte man den Titel wie folgt interpretieren: Im einheitlichen Rahmen eines Gemeinschaftsmahles konstituieren sich das Mahl je unterschiedlich (in bestimmtem Rahmen vielfältig) deutende Mahlgemeinschaften. 3 Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (TANZ 60), 2 Bde., Tübingen 2020 (2., überarbeitete und erweiterte Auflage; 1. Auflage 2015; englische Ausgabe: The Oldest Gospel and the Formation of the Canonical Gospels [BiTS 41], Leuven u. a. 2021). Einheit und Vielfalt Historische und hermeneutische Prozesse am Anfang des Christentums und ihre aktuelle Bedeutung Günter Röhser Unter dieser doppelten Überschrift soll im Folgenden versucht werden, das Werk von Matthias Klinghardt in seinen Grundstrukturen zu erschließen - und zwar unter besonderer Berücksichtigung der in diesem Band versammelten Aufsätze. Dazu reicht es nicht, nur diese Aufsätze zu betrachten, sondern man muss sie in Beziehung setzen zu Klinghardts drei großen Monographien (ich beziehe mich hier im Haupttext auf die jeweiligen Untertitel): die Dissertation über das „lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums“, 1 die Habilitationsschrift zur „Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern“ 2 und das zweibändige opus magnum, welches die Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Evangelien sowie das Evangelium des Marcion untersucht bzw. rekonstruiert. 3 Diese Arbeiten bilden Ausgangs- und Kristallisationspunkte der jeweiligen Fragestellungen und Themen, um die herum sich die Aufsätze gruppieren und in ein Verhältnis dazu - auch im Sinne von Entwicklungen (Korrekturen und Konkretisierungen) - setzen lassen. <?page no="22"?> 4 Das Syssition ist die gemeinsame Mahlzeit, bei der in der Regel nicht getrunken wurde (lat. cena), und das Symposion das anschließende gemeinsame Gespräch und Beisammensein (lat. convivium), bei dem Mischwein getrunken wurde (συσσιτέω = zusammen speisen; συμπίνω = zusammen trinken). 5 „Gerade die große Spannweite des Materials zeigt, dass die ritualisierte Praxis des Gemeinschaftsmahls mit seinen einzelnen Bestandteilen Ausdruck eines kulturellen Habitus ist, der die sozialen Konventionen prägt“ (Vergossener Becher 45 f.). 1 Frühchristliche Mahlfeiern: Einheit der Praxis - Vielfalt der Deutungen Am besten geht man von jener Einsicht aus, die Klinghardt als „fruchtbarstes Ergebnis“ seiner monographischen Untersuchung zu den frühchristlichen Mahlfeiern festgehalten hat: dass nämlich „Gemeinschaft in der hellenistisch-rö‐ mischen Antike - und so eben auch im frühen Christentum - auf der Ebene zwischen Familie … und den öffentlichen Institutionen der Stadt … ausschließ‐ lich in der Tischgemeinschaft einer zum Mahl versammelten Gruppe möglich und dementsprechend nur hier konkret erfahrbar war. Gemeinschaftsleben ist in der hellenistisch-römischen Antike grundsätzlich Mahlgemeinschaftsleben, Gruppen existieren in ihren Syssitien und Symposien“ (Gemeinschaftsmahl 523 f.). 4 Dementsprechend folgen auch die christliche Mahlfeier und Gemein‐ deversammlung dieser gemeinantiken Grundstruktur 5 und bauen auch in der Sinndeutung der Versammlung auf den antiken Mahlwerten (festliche Freude, Gleichheit, Frieden, Eintracht, Freundschaft und Harmonie) auf. Dies hat zur Folge, dass für diesen soziologischen Zugang zum Verständnis der frühchristli‐ chen Mahlfeier a. das Mahlritual, die äußere Mahlgestalt, der typische feste Ablauf das Primäre ist und die Mahltheologie und das religiöse Selbstverständnis der Gemeinschaft demgegenüber sekundär sind (Form vor Inhalt) - wiewohl sie natürlich darauf zurückwirken; b. die vielfältigen theologischen Deutungen sich nicht auf die Mahlelemente (Brot und Wein), sondern auf Teile des Mahlrituals beziehen und mit ihnen verbunden sind. Umgekehrt bedeutet das, dass die christliche Mahlfeier weder aus religionsge‐ schichtlichen Analogien oder christlichen Theologumena (z. B. Vorstellungen von göttlicher Präsenz beim Mahl bzw. in den Mahlgaben oder von einem stellvertretenden Sühnetod Jesu) „abgeleitet“ noch auf die punktuelle Einset‐ zung durch den historischen Jesus zurückgeführt wird. Vielmehr ist Letzteres 22 Günter Röhser <?page no="23"?> 6 Bester Überblick zum Ganzen: Nehmt und eßt; zur Problematik des Begriffs „Einset‐ zungsworte“: Bund 162 f.185. 7 Hier ist auch der Ort für Präsenzvorstellungen aufgrund der Anrufung des göttlichen Namens; vgl. dazu Vergossener Becher 53 ff.; Günter Röhser, Vorstellungen von der Präsenz Christi im Ritual nach 1Kor 11,17-34, in: M. Klinghardt/ H. Taussig (Hg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum (TANZ 56), Tübingen 2012, 131-158: 145 ff.153 ff. Schwierig ist die Frage, ob nur Gott oder auch Christus angerufen werden (und damit präsent sein) kann. 8 Dasselbe hat er für das Therapeutenmahl gezeigt in: Gemeinschaftsmahl 183 ff., sowie in einem hier nicht wieder abgedruckten Beitrag: The Ritual Dynamics of Inspiration. The Therapeutae’s Dance, in: S. Marks/ H. Taussig (Hg.), Meals in Early Judaism. Social Formation at the Table, New York 2014, 139-161. Höhepunkt des Rituals ist der gemischtgeschlechtliche Chortanz. methodisch unmöglich und eher umgekehrt Jesu mögliche eigene Mahlpraxis Teil des umfassenderen Phänomens. 6 Wie sieht nun diese gleichbleibende Grundstruktur des antiken Mahles aus? Sie besteht aus der Abfolge von Mahleröffnung (Austeilung des Brotes), gemeinsamer Mahlzeit, Libation als Abschluss und Übergang zum Folgenden, Symposion. Die Libation ist als Trankspende an die Götter religiös besonders ausgezeichnet (und mit Gebet verbunden) und steht genau an der Stelle, an der bei Paulus im Herrenmahl die Becherhandlung („Segensbecher“ 1Kor 10,16) steht - nämlich nach dem Essen (1Kor 11,25). Wenn Paulus in 1Kor 11,26 von der „Verkündigung des Todes des Herrn“ spricht, dann bezieht er sich damit auf den Vorgang des Essens und Trinkens, also auf das Mahlritual, und nicht auf die Mahlelemente. Der Ort solcher Mahldeutung sind die Gebete (über Brot und Becher). Durch sie wird die soteriologische Wirkung und pneumatische Qualität des Mahles sichergestellt. 7 Auch die sog. Einsetzungsworte deuten nicht die Mahlgaben bzw. eucharistischen Elemente (und werden überhaupt erst ab dem 3. Jahrhundert Teil der Mahlliturgie), sondern sind Teil von Mahldiskursen (d. h. von vielfältigen Argumentationen und Narrationen) zur Deutung des Mahlrituals („Deuteworte“): Die Becherhandlung steht z. B. für den Neuen Bund, das Austeilen des Brotes für die Konstitution der Gemeinschaft; zu deren Vergegenwärtigung und Erneuerung wird das Mahl weiterhin gefeiert bzw. soll das Ritual wiederholt werden. Bereits vor dem Erscheinen der Monographie hat Klinghardt in einem Aufsatz von 1994 gezeigt, dass dieser allgemeine ritualgeschichtliche Rahmen auch für die Gemeinschaftsmähler nach Qumran-Texten (1QS) gilt und deswegen keine grundlegende Differenz zu hellenistischen Vereinsmählern besteht (Manual of Discipline). 8 Die Bedeutung für die Qumran-Forschung besteht darin, dass die dahinterstehende(n) Gruppe(n) aus ihrer „sektenhaften“ Sonderrolle und Vereinzelung herausgeholt und in die Mitte der palästinischen Gesellschaft 23 Einheit und Vielfalt <?page no="24"?> 9 Dies ist eine deutliche Selbstkorrektur gegenüber Tanz und Offenbarung 13, wo es noch hieß: „Auch wenn Libationen in jüdischem und christlichem Kontext natürlich fehlen …“ Hingegen hat die Fortsetzung des Satzes ebd. Bestand: „… ist doch ein entsprechendes Gebet, das diese religiöse Handlung begleitet und auszeichnet, sehr gut belegt, nämlich das Dankgebet nach dem Essen“ (es gehört zur Becherhandlung). Außerdem werden jetzt Libation (wird vergossen) und Proposis (wird nicht vergossen, sondern getrunken) deutlicher unterschieden und nicht mehr wie in der Monographie (Gemeinschaftsmahl 105 f.) als Mahlabschluss- und Gelagelibation unter dem Oberbe‐ griff „Libation“ zusammengefasst (Bund 167 ff. m. Anm. 30; Vergossener Becher 41 ff. m. Anm. 34). gestellt wird/ werden. Damit wird auch die Möglichkeit offengehalten, dass es gar keine Qumran-Gruppe am Toten Meer gegeben hat und infolgedessen auch keine Verbindung derselben mit den Schriftrollen. Klinghardt hat diesen Ansatz später weiter ausgebaut und konkretisiert durch a. die Untersuchungen zum gottesdienstlichen Tanz - der auch im Neuen Tes‐ tament einen Anknüpfungspunkt hat (Kol 3,16; Eph 5,18 f.), da chorisches Singen in der Antike immer mit rhythmischen Bewegungen verbunden ist (Tanz und Offenbarung, Nehmt und eßt 50); b. die beiden Aufsätze von 2012 (Bund, Vergossener Becher). Dort wird deutlich, dass der Gemeinschaftsbecher von Mt und Mk (Mt 26,27: „Trinkt alle daraus“) nicht auf die Libation, sondern auf die Proposis nach der Libation (Kreisen-Lassen eines gemeinsamen Trinkgefäßes) zurückzuführen ist, während es sich in Lk 22,20b tatsächlich um eine (Deutung der) Libation handelt und dementsprechend auch „der Becher, der für euch ausgegossen wird“, zu übersetzen ist. 9 Die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu bei Matthäus ist überdies eingebunden in einen ganz speziellen Diskurs zum Thema „Sündenvergebung“, welches im MtEv eine hervorgehobene Rolle spielt. Durch das Trinken aus dem „für viele ausgeschenkten“ Becher konstituiert und reaktiviert sich die Jüngergruppe je neu als eine Sünden‐ vergebungsgemeinschaft, in der die einzelnen Mitglieder einander die Sünden vergeben und so ihre durch die Proposis gestiftete Gleichheit bewahren. „Der Tod Jesu kommt im Becherwort nicht vor“; vielmehr entspricht „das gemeinsame Trinken … der Bundesblutzeremonie von Ex 24“ (Bund 179 f.). Die allgemein-theologische Bedeutung dieser Aufstellungen besteht in Fol‐ gendem: 1. Die soziologisch-ritualgeschichtliche Deutung des Abendmahls nimmt den Fokus weg von den Fragen der Realpräsenz und der Sühnedeutung des 24 Günter Röhser <?page no="25"?> 10 Vgl. auch meinen Leserbrief „Erweiterte Deutungsmöglichkeiten des Abendmahls respektieren“, Deutsches Pfarrerblatt 118 (2018) 6, 356. 11 Dies hat Folgen bis in die theologische Ethik hinein (vgl. nur das wenig beachtete Werk von Klaus Berger, Von der Schönheit der Ethik, Frankfurt a.M./ Leipzig 2006). Todes Jesu. Dass der Tod Jesu Heilsbedeutung besitzt als Gründungser‐ eignis der Gemeinde Jesu, steht außer Frage (zumindest bei Paulus und Lukas). Die Schwäche dieses Ansatzes besteht darin, dass er den genauen Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und der durch die Mahlgebete sichergestellten soteriologischen Wirkung des Mahles nicht zu explizieren vermag (Gemeinschaftsmahl 317, Gemeindeleib 54, Vergossener Becher 53). Dies könnte sich jedoch auch als Stärke erweisen, insofern er die Abend‐ mahlstheologie und -praxis aus einer Engführung auf die stellvertretende Sühnefunktion des Todes Jesu und den individuellen Zuspruch der Sün‐ denvergebung befreien und für ein breiteres Spektrum von Mahldeutungen öffnen kann. Die „traditionellen“ Deutungen verlieren dadurch nicht ihre Berechtigung - sind sie doch bereits in der Alten Kirche wirkmächtig geworden (Vergossener Becher 56f: aufgrund der Veränderungen im Ritual‐ verlauf) und insofern sicherlich nicht ohne Anhalt an den Texten. Die ritualgeschichtliche Sichtweise kann jedoch „dazu verhelfen, Aspekte“ an ihnen „wahrzunehmen, die bislang durch andere Interpretationen verdeckt waren“ (Bund 163). 10 Neuere Formen des Feierabendmahls und des liturgi‐ schen Tanzes sind sicherlich nicht auf eine biblizistische Rechtfertigung aus der ritualtheoretischen Exegese angewiesen; trotzdem können entspre‐ chende Untersuchungen durchaus anregend wirken und die ästhetische Dimension des Heils ins Bewusstsein rufen. 11 Dies hängt aufs Engste mit einem zweiten Gesichtspunkt zusammen: 2. Mit dem regelmäßigen gemeinsamen Essen als der Existenzform antiken Gemeinschaftslebens ist der frühchristliche „Gottesdienst“ tief im Alltags‐ leben der Menschen verankert. Denn gemeinsames Essen ist ein Grund‐ vollzug menschlichen Lebens, und dieses Essen will nicht nur begangen, sondern auch organisiert, finanziert und in seinem Ablauf geregelt werden. Es ist die Daseinsform der privaten und halböffentlichen Vereine, und als solche muss man nicht nur die paganen Vereinigungen, sondern auch die christlichen Gemeinden und die jüdischen Synagogengemeinschaften sehen. Damit sind aber die religiösen Bezüge des Mahles und der Gemein‐ schaft in ganz anderer Weise im Alltag der Menschen verwurzelt als heute (wo eine religiöse Alltagskultur fast vollständig fehlt). Man kann von der Mahlfeier als einem „Alltagsphänomen“ und infolgedessen auch 25 Einheit und Vielfalt <?page no="26"?> 12 Vgl. Gemeinschaftsmahl 529.532. 13 Das Nüsschen-Knabbern beim charismatischen Psalmenvortrag in der Gemeindever‐ sammlung ist dafür nur ein besonders hübsches Beispiel (Nehmt und eßt 55 f.). von „Alltagsreligiosität“ sprechen 12 und - ganz anders als in der späteren Entwicklung - nur sehr begrenzt von einem kultisch-sakralen Charakter: Dieser dürfte nur für das Beten und das Singen, ggf. für das Tanzen, zutreffen und seinerseits nur begrenzt und punktuell als besonders „heilig“ empfunden worden sein. 13 Daraus ergibt sich das Dritte: 3. Die ritual- und sozialgeschichtliche Betrachtungsweise bewahrt davor, die spezifischen Differenzen („das unterscheidend Christliche“) an der falschen Stelle zu suchen. Was man aus der religionsgeschichtlichen Be‐ trachtungsweise schon immer lernen konnte, zeigt sich nun auch auf dem vorliegenden Feld: „Nur wer das Ganze kennt, kann die Verabsolutie‐ rung von individuellen Zügen vermeiden“ (Gemeinschaftsmahl 532). Die Vermeidung falscher Apologetik ist für die christliche Theologie im Ver‐ hältnis zum Judentum von besonderer, zentraler Bedeutung, aber darüber hinaus auch für das interreligiöse Gespräch wichtig. So hat sich aus den vergleichenden Untersuchungen ergeben, dass der Brotsegen zum Eingang des Mahles wohl eine jüdisch-christliche Besonderheit darstellt und so das „Brotbrechen“ unter Segensgebet zum unterscheidenden Merkmal von Christen im paganen Umfeld werden konnte. Ein Beispiel aus dem Grenzgebiet von Ritual- und Religionsgeschichte liefern die Kirchenväter selbst: Mit der zunehmenden Verurteilung des Tanzes suchen sie das Chris‐ tentum auf einem Gebiet zu profilieren, auf dem ursprünglich kein großer Unterschied bestanden zu haben scheint (vgl. Tanz und Offenbarung): Noch Euseb konnte Philos tanzende Therapeuten für christliche Mönche halten, und in den Johannesakten kann sogar Jesus selbst als Anführer eines Chorreigens der Jünger erscheinen. Wie der Rekurs auf (hier: jüdische) Traditionsgeschichte eine innerchristliche Diskussionslage zu entspannen vermag, zeigt auch der Aufsatz Sünde und Gericht von Christen bei Paulus. Zwischen den Extremen einer liberalen Sünd‐ losigkeitstheorie auf der einen und Luthers simul iustus ac peccator auf der an‐ deren Seite positioniert er Paulus ganz in frühjüdischen Gerichtsvorstellungen: Selbstverständlich ereilt auch Christusgläubige bei schweren Verfehlungen die Verurteilung im Endgericht, wenn sie nicht rechtzeitig vorher - wie im Falle des Blutschänders von 1Kor 5 oder der Missstände beim Herrenmahl gemäß 1Kor 11 - einem innergeschichtlichen Züchtigungsgericht unterworfen worden sind. In dieser Hinsicht gibt es keine christlich-jüdische Differenz. 26 Günter Röhser <?page no="27"?> 14 Aposteldekret 106 f. Vorausgesetzt ist dabei, dass Apg 15 und Gal 2,1-10 nicht dasselbe Ereignis wiedergeben, sondern Apg 15 auf den Bericht von Gal 2,11-14 reagiert (vgl. Gal 2,12 mit Apg 15,24 und dazu ebd. 97 f.). 2 Das Neue Testament: Einheit des Kanons - Vielfalt der Schriften und ihrer Rezeption Eine stärkere Weiterentwicklung und Selbstkorrektur als bei der Mahlthematik zeigt Klinghardts Position in der Kanonsfrage und der Beurteilung des Lukasevangeliums. In seiner ersten Monographie hat Klinghardt gegenüber der traditionellen, dezidiert heidenchristlichen Verortung des Lukas erfolgreich die Bedeutung jüdisch-judenchristlicher Toratraditionen für die lukanische Theologie und ihre Adressaten zur Geltung gebracht. Er hat überdies jedoch auch eine historische und soziologische Verortung des lukanischen Gesetzes‐ verständnisses (und damit auch eines seiner zentralen Texte: des Aposteldekrets von Apg 15) in der Situation der lukanischen Gemeinde versucht (unter der Voraussetzung der traditionellen Datierung des Lukasevangeliums in das letzte Viertel des 1. Jahrhunderts). Dies hat sich im Laufe der Entwicklung radikal geändert: Das lukanische Doppelwerk wird jetzt um die Mitte des 2. Jahrhun‐ derts angesetzt und mit der Entstehung der sog. Kanonischen Ausgabe (des Neuen Testaments) in Zusammenhang gebracht. Diese ist ihrerseits vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit Marcion und seiner Theologie zu verstehen. Wie sich das auf das Verständnis des Aposteldekrets ausgewirkt hat, zeigt der entsprechende Aufsatz in der vorliegenden Sammlung (Aposteldekret). Ein Vergleich mit der Monographie lohnt sich und zeigt die Verschiebungen in der Einschätzung, die zwischenzeitlich stattgefunden haben. Gemeinsam ist die ekklesiologische Funktion des Gesetzes für die Darstellung der heilsgeschichtlichen Kontinuität der Kirche mit Israel, und in beiden Ar‐ beiten wird auch das Aposteldekret als „Integrationstext“ bezeichnet. Im ersten Fall dient es der Darstellung und Herstellung von Einheit durch rituelle Gebote vor dem immer noch (gegen Ende des 1. Jahrhunderts) aktuellen Hintergrund der Auseinandersetzung um die Legitimität der Heidenmission in der lukani‐ schen Gemeinde (Gesetz und Volk Gottes 204 f.221.307); außerdem dient es als historische Quelle für das tatsächliche Apostelkonzil (es sei für die petrinische Heidenmission bestimmt gewesen). Anders im vorliegenden Aufsatz: Hier wird es als „kanonischer“ Integrationstext bezeichnet, d. h. es entfaltet eine innerkanonische Funktion zur Integration verschiedener Positionen bzw. Texte zum Problem der Grenzen der christlichen Tischgemeinschaft und damit auch der Kontrahenten im antiochenischen Streit (Gal 2,11-14; vgl. Apg 15,1-5). 14 Es hat damit keinen Quellenwert für das historische Apostelkonzil mehr (auch das 27 Einheit und Vielfalt <?page no="28"?> ganze Kapitel Apg 15 nicht). Vor allem aber haben die Dekretsforderungen durch den „argumentative(n) Overkill der Begründungsstrukturen“ (Aposteldekret 109) eine integrative Funktion: Jakobus, die Apostel, die Ältesten und „Mose … als Teil eines Buches, das gelesen und interpretiert wird“ (15,21; Aposteldekret 105) gleichen im Verein mit dem Heiligen Geist divergierende Positionen aus und verweisen damit aus der Sicht der Rezipienten der lukanischen Darstellung auf die sog. Kanonische Ausgabe (des Alten und Neuen Testaments). Offenkundig liegt hier eine einschneidende Revision der früheren Thesen vor. Der Grund dafür ist in dem Aufsatz „Gesetz“ bei Markion und Lukas dargestellt und liegt in der Erkenntnis, dass die Bearbeitungsrichtung beim Thema „Gesetz“ und zwischen den beiden Schriften insgesamt nicht von Lukas zu Marcion (so weithin auch heute noch angenommen), sondern von Marcion zu Lukas verläuft: Das Lukasevangelium stellt eine erweiternde redaktionelle Bearbeitung des für Marcion bezeugten Evangeliums dar. Wäre es andersherum, hätte Marcion nur redaktionell gekürzt und keinerlei Ergänzungen vorgenommen (was allen sonstigen Beobachtungen zur Überlieferungsgeschichte der Evangelien wider‐ spricht). Von besonderer Bedeutung ist für die lukanische Bearbeitung (neben Prolog und Vorgeschichte) die Emmausperikope in Lk 24: Hier begründet Jesus die Zusammengehörigkeit aller Schriften theologisch („Gesetz“ 123) und damit die grundlegende Bedeutung des schriftgestützten Verstehens der Christusbot‐ schaft - womit wir uns auf einer Ebene mit der Begründungsstruktur des Aposteldekrets befinden. Die folgenden Publikationen arbeiten nun diese grundlegende Entdeckung aus und ziehen die Konsequenzen für weite Bereiche der neutestamentlichen Wissenschaft. Im Übrigen nimmt die Annahme der Marcion-Priorität eine bereits im 18./ 19. Jahrhundert entwickelte These wieder auf, die damals er‐ staunlicherweise zu keinem Zeitpunkt zur synoptischen Frage in Beziehung gesetzt wurde und demzufolge in der Gegenwart angesichts zunehmender Infragestellungen der Zwei-Quellen-Theorie ihrerseits an Bedeutung gewinnt. Die weitere Annahme, dass die lukanische Redaktion auf einer Ebene mit der Entstehung des Gesamtkanons liegt, konvergiert überdies mit dem erstmals von David Trobisch geführten Nachweis einer redaktionellen Bearbeitung des gesamten Neuen Testaments im Zuge der Herausgabe einer sog. Kanonischen Ausgabe der ganzen Bibel um die Mitte des 2. Jahrhunderts. Abschluss und bisheriger Höhepunkt dieser Forschungsleistung war die Rekonstruktion des für Marcion bezeugten Evangeliums aus den Kirchenväterzitaten und -referaten des 3./ 4. Jahrhunderts in Verbindung mit einer neuen Gesamtdarstellung der 28 Günter Röhser <?page no="29"?> 15 S. o. Anm. 3. - Das „älteste Evangelium“ ist als „Teil der marcionitischen Schriften‐ sammlung“ zu sehen, „ohne damit Marcions Autorschaft oder auch nur seine aktive Rolle bei der Zusammenstellung oder Promulgation dieser Sammlung zu implizieren“ (Ältestes Evangelium, 2. Aufl., Band I, 27 f.; weiter dazu 421 ff.). 16 Zum Thema vgl. zuletzt die Kontroverse „Markus: Autor oder Erinnerungsfigur? “ zwischen Sandra Huebenthal und Eve-Marie Becker, in: ZNT 47 (2021) 87-106. Entstehungsgeschichte der (fünf) Evangelien. 15 Es sei gleich hinzugefügt, dass die Aufgabe der Rekonstruktion der Textgeschichte natürlich nicht nur die Evangelien, sondern das ganze Neue Testament betrifft. Dies ist allerdings nur in unterschiedlichem Maße möglich, da neben dem marcionitischen für das Lu‐ kasevangelium sich nur für die Sammlung der Paulusbriefe eine vorkanonische Stufe, nämlich der seinerseits marcionitische Apostolos, rekonstruieren lässt. Die innovativen Gesichtspunkte betreffen vor allem folgende Bereiche: 1. Überlieferungsgeschichte der Evangelien: Seit hundert Jahren, seit der äl‐ teren Formgeschichte sieht die neutestamentliche Wissenschaft die münd‐ liche Überlieferung als prägend für die Jesusüberlieferung der Evangelien an. Daran hat auch die Methode der Redaktionskritik nichts Grundsätzli‐ ches geändert. Neuere gedächtnishermeneutische Theorien untersuchen selbst sog. Autorenliteratur wie die Evangelien im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion für eine Überlieferungsgemeinschaft, etwa mit Hilfe des Konzepts vom sozialen oder kollektiven Gedächtnis. 16 Demge‐ genüber hat Klinghardt einen Paradigmenwechsel vorgenommen: Nach ihm ist die Entstehung der Evangelien hinreichend und ausschließlich als ein literarisch-textueller Vorgang zu erklären, bei dem die einzelnen Evangelisten jeweils immer ihre(n) jeweilige(n) Vorgänger - beginnend mit dem Evangelium des Marcion - aufnehmen, kritisch ergänzen und fortschreiben. Der Vorgang erstreckt sich über ca. 50 Jahre (zwischen den 90er Jahren und um 144 n. Chr.) und spielt sich entweder in Rom oder im kleinasiatischen Raum ab. Am Ende steht jene „kohärente Vielstimmigkeit“ (Überlieferungsgeschichte 57) im Rahmen der sog. Kanonischen Ausgabe, die nur ein anderer Begriff für das komplexe Verhältnis von Einheit und Vielfalt ist. Die Kategorie der Mündlichkeit benötigt man für deren Erklärung nicht. Die gewiesene Methode dafür ist vielmehr die klassische Literar- und Redaktionskritik mit ihrer Fragestellung: Wer hat wen als Quelle benutzt und wie bearbeitet? 2. Textkritik: Auch für die neutestamentliche Textkritik nimmt Klinghardt eine grundlegende Neubestimmung vor. Herkömmlicherweise ist sie damit beschäftigt, die älteste erreichbare Textgestalt der neutestamentlichen 29 Einheit und Vielfalt <?page no="30"?> 17 Jüngstes Beispiel: Alexander Goldmann, Über die Textgeschichte des Römerbriefs (TANZ 63), Tübingen 2020. Umfassend jetzt: Jan Heilmann, Lesen in Antike und frühem Christentum (TANZ 66), Tübingen 2021. Schriften zu rekonstruieren. Klinghardt wirft ihr vor, dass sie nur auf einzelne Textstellen bzw. Handschriften bezogen sei und die Verände‐ rungen deswegen anonym und historisch kaum bestimmbar und ohne Konturen seien (Schrift 95 f.). Demgegenüber stellt Klinghardt ihr die Aufgabe, aus den Handschriften die Textgestalt der Kanonischen Aus‐ gabe aus der Mitte des 2. Jahrhunderts zu ermitteln, da diese ein klares antimarcionitisches Profil (vor allem im Lukasevangelium) habe und des‐ wegen historisch bestimmbar sei. Ein Beispiel dafür, welche Konsequenzen dies für die Auslegung neutestamentlicher Schriften haben kann, liefert der Aufsatz Abraham als Element der Kanonischen Redaktion, der alle mentiones Abrahae im Neuen Testament daraufhin untersucht, Teil der kanonisch-redaktionellen Bearbeitung zu sein, d. h. nicht in den vorkano‐ nischen Ursprungsschriften vorhanden gewesen ( Joh 8, Gal 3, Röm 4) bzw. überhaupt erst als Schrift im Zusammenhang mit der Kanonischen Ausgabe entstanden zu sein ( Jak). Außerdem wird es immer wichtiger, die Eigenarten neutestamentlicher Handschriften in ihrer materiellen und (para-)textuellen Beschaffenheit zu untersuchen und im Hinblick auf die antike Lesepraxis und die Textgeschichte auszuwerten (Handschrift). 17 3. Biblische Hermeneutik: Es ist deutlich, dass bei Klinghardt alle exegeti‐ schen Methoden in ihrer Aufgabenstellung dahingehend konvergieren, dass sie der Rekonstruktion und Interpretation der Kanonischen Ausgabe dienen. Damit ist aber auch die Aufgabe des Textverstehens auf eine neue Grundlage gestellt - und zwar nicht nur des heutigen Verstehens und Vermittelns der Schrift, sondern bereits in der Ursprungssituation des 2. Jahrhunderts. Die Kanonische Ausgabe bzw. die hinter ihr liegenden editorischen und theologischen Intentionen liefern gewissermaßen die historische Begründung und Legitimation für die Notwendigkeit einer Theologie des Neuen Testaments (und letztlich der ganzen Bibel), die nicht nur die Vielfalt der Einzelschriften, sondern vor allem auch die Einheit des Gesamtkanons in den Blick nimmt. Es genügt nicht, wie die klassische Einleitungswissenschaft hauptsächlich die Entstehung der Einzelschriften und die Intentionen der jeweiligen Einzelverfasser zu erforschen, sondern durch die Zusammenstellung der Einzelschriften entsteht ein Meta-Nar‐ rativ, welches das Verständnis des Gesamtzusammenhangs und der Einzel‐ schriften in ihm bestimmt und welches in seiner theologischen Pragmatik 30 Günter Röhser <?page no="31"?> 18 Vgl. dazu ausführlich: Günter Röhser, Kanonische Ausgabe und neutestamentliche Theologie, in: J. Heilmann/ M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 259-284. 19 S. (bei) Anm. 17. - Dem rezipierenden Lesen entspricht auf der anderen Seite das produzierende Schreiben von Literatur und nicht die „oral culture“ (vgl. Abraham 258: „Die früheste Ausbildung von Theologie geschieht durchweg im Rahmen einer ‚New Testament literary culture‘“ [der Begriff in Weiterführung von Margaret Mitchell]). wahrgenommen werden will (Inspiration 347: das „Transzendenznarrativ der Kanonischen Ausgabe“). 18 Auf vier Ebenen hat Klinghardt in vier Aufsätzen beispielhaft und zusam‐ menfassend diese theologische Verstehensaufgabe dargestellt: auf der Ebene eines Einzeltextes (Mk 5,1-20: Legionsschweine), eines Abschnittes aus dem Markusevangelium (Boot und Brot), zwei verschiedener (Mt und Mk) und aller vier Evangelien (Erlesenes Verstehen) sowie der ganzen Bibel (Inspiration). Ich wähle den Ausdruck „erlesenes Verstehen“, um deutlich zu machen, um was es bei dieser - historischen wie heutigen - Verstehensaufgabe geht: Es ist ein Verstehen, das er-lesen wird, also durch Lesen entsteht. Primäre Aufgabe und Voraussetzung für das Verstehen ist also nicht das Hören (wie bei mündlicher Weitergabe und Verkündigung), sondern das Lesen von Geschriebenem. Das Verstehen des Neuen Testaments wird damit zu einem Beispiel antiker Lese‐ kultur, die erst in jüngster Zeit die gebührende Aufmerksamkeit findet. 19 In einem anderen Sinne „erlesen“ ist dieses Verstehen aber auch, weil es besondere Ansprüche an die Lesenden und ihre Kreativität stellt und auch besonderen Gewinn verspricht. Verfolgen wir die Lektürekonzepte auf den verschiedenen Ebenen: 1. Mk 5,1-20 „geht … völlig auf das literarische Konto des Mk“ (Legions‐ schweine 45). Und zwar geht es ihm nicht um das Thema Heidenmission, sondern um den „Grund für den Misserfolg“ der Mission: Die Menschen bitten Jesus wegzugehen, weil ihnen die „Folgekosten“ seines Wirkens zu hoch sind (ebd. 43 f.). Im Rahmen dieser Zielsetzung sind die Exor‐ zismus-Erzählung und deren militärische Implikation als bewusste, sym‐ bolisch zu verstehende Gestaltung aufzufassen, die auf die verstärkte römische Präsenz in Gerasa (seit etwa 80 n. Chr. = terminus post quem für die Entstehung des MkEv) sowie die in Judäa stationierte legio X Fretensis und deren Legions-Hauptsymbol, den Eber, zu beziehen ist. Thema ist also das gespaltene Verhältnis der lokalen Bevölkerung gegenüber der römischen Besatzungsmacht und die daraus resultierenden Probleme für die christliche Mission. 31 Einheit und Vielfalt <?page no="32"?> 2. Dieses durchaus komplexe Lektürekonzept (das der zeitgenössische Leser sicherlich leichter entschlüsseln kann als der heutige) fügt sich nahtlos in das Lektürekonzept der größeren Einheit Mk 3,7-8,21 ein, in der es um die Charakterisierung der Jüngerexistenz geht (Boot und Brot). Diese besteht aus den beiden Polen „mit Jesus sein“ und „Aussendung und Einübung in die Mission“ (einschließlich Misserfolgen, s. o.; Ausgangspunkt: Mk 3,14 f.). In ihrer Tiefendimension werden die erzählten Ereignisse durch die beiden Symbole „Boot“ (für das Zusammensein und den Aufbruch mit Jesus) und „Brot“ (für die missionarische Lehre und „Sättigung“ der Menschen) und deren innere Zusammengehörigkeit erschlossen (vgl. besonders 6,51 f. und 8,13-21). Die literarische Komplexität stellt erhebliche Ansprüche an die Lesenden und zeigt nebenbei, dass symbolische Leseweisen neutesta‐ mentlicher Wundererzählungen keine Verlegenheitslösung neuzeitlicher Wunderhermeneutik darstellen, sondern bereits zum Lektürekonzept der Evangelisten selbst gehören. 3. Auf der Ebene der vier kanonischen Evangelien treten dann mit Mt und Mk zwei sehr unterschiedliche rezeptionsästhetische Konzepte nebeneinander, oder besser: sie folgen aufeinander, sodass das MtEv als „Lehrbuch“ mit eindeutiger Lehre Jesu für die Lesenden (Erlesenes Verstehen 29) - mit einem der zwölf Jünger Jesu als fiktivem Autor - seinem „genaue(n) Ge‐ genstück“, dem MkEv, das die Aufgabe der Sinnkonstitution den Lesenden überlässt - und von einem Apostelschüler stammen soll -, vorausgeht und dessen Lektüre vorbereitet (ebd. 30.34f). Lukasprolog und Johannesepilog begründen dann zusammengenommen die begrenzte und abgeschlossene Vielfalt bzw. „Vierfalt“ der Evangelien (ebd. 36) - wiederum ein komplexes Phänomen von Einheit und Vielfalt, welches die intratextuelle (innerhalb des Gesamttextes des NT) Zusammenschau der vier Evangelien zu einer bis heute bestehenden Daueraufgabe gemacht hat. Dieser Aufgabe sollte man sich nicht entziehen, indem man sich wie traditionelle Einleitungswissen‐ schaft hauptsächlich mit den Einzelschriften befasst. 4. Damit sind wir endgültig auf der Ebene des Gesamtkanons angelangt. Durch das editorische Konzept der Kanonischen Ausgabe entsteht ein über‐ greifender (heils)geschichtlicher Gesamtzusammenhang, der nicht nur alle einzelnen Schriften und ihre Abfassung, sondern auch die dargestellten und besprochenen Sachverhalte und Ereignisse zu einer Einheit integriert. Es bleibt also auch aus dieser Sicht die Aufgabe, sowohl den Reichtum der Schrift und ihre „ökumenische Weite“ (Überlieferungsgeschichte 60) als auch ihre Zusammengehörigkeit und spannungsvolle Einheit (aufgrund der heilsgeschichtlichen Metaerzählung) bei der Auslegung zu berücksichtigen 32 Günter Röhser <?page no="33"?> 20 Vgl. Röhser, Kanonische Ausgabe, 266. 21 Wie das aussehen könnte, habe ich zu skizzieren versucht in: Günter Röhser, Kanoni‐ sche Schriftauslegung und sola scriptura heute, ZNT 39/ 40 (2017) 173-194. 22 S. dazu jetzt: Jan Heilmann/ Kevin Künzl, Das Problem von Kurz- und Langtext in Lk 22,17-20 und das für Marcion bezeugte Evangelium. Zugleich ein Beitrag zur methodischen Kritik an bisherigen Rekonstruktionen desselben, NT 62 (2020) 117-138. und zu wahren. Doch noch auf einer weiteren Ebene zeigt sich das Phä‐ nomen von Einheit und Vielfalt, nämlich auf der Ebene der Rezeption durch die Lesenden: Da der innere Zusammenhang zwar behauptet und durch bestimmte Textmerkmale signalisiert wird, aber nicht ausformuliert vorge‐ geben ist, ergeben sich verschiedene und immer wieder anders akzentuierte und je neue Möglichkeiten der Aneignung. Diese Rezeptionen sind frei und unverfügbar (unmittelbar evident) und müssen von den Rezipierenden je und je selbst geleistet werden (Inspiration 348 f.) - individuell oder gemeinschaftlich -, sind aber anschlussfähig für eine theologische Deutung als Selbsterschließung (auctoritas) der Schrift. 20 Dadurch ergibt sich erneut die Aufgabe, sowohl die notwendige und legitime Vielfalt der Rezeptionen zu respektieren als auch immer wieder an ihren einheitlichen Bezugspunkt und die Notwendigkeit der Verständigung über eine - in gewissen Grenzen - „einheitliche“ Schriftauslegung und -anwendung zu erinnern. 21 3 Vergleichende und übergreifende Gesichtspunkte Man kann sagen, dass Klinghardt in der Lukas- und Kanon-Frage einen ein‐ schneidenden Positionswechsel vollzogen hat, während beim Thema „Mahl“ der allgemeine soziologische und ritualgeschichtliche Diskussionsrahmen un‐ verändert geblieben ist. Gleichwohl gibt es - abgesehen von gelegentlichen inhaltlichen Überschneidungen, z. B. beim sog. „Kurztext“ im lukanischen Mahl‐ bericht (Schrift 93 ff.) 22 - tiefere Zusammenhänge zwischen beiden Bereichen: Beide dienen der Konstitution und Behauptung von Gemeinschaft und Einheit. Soziologisch wie historisch grundlegend für das frühe Christentum ist dabei die Mahlfeier, die trotz aller Unterschiede und Krisen doch einen gewissen einheitlichen Rahmen für die Selbstverständigung und -vergewisserung der christusgläubigen Gemeinden bot. Hingegen reagiert die „Gemeinsinnsbehaup‐ tung“ des Kanons (Aposteldekret 110) auf eine schwere Krise des 2. Jahrhunderts angesichts der Herausforderung durch „Häresien“ wie diejenige Marcions. Ge‐ meinsam ist beiden Gemeinsinnsbehauptungen, dass der mit ihnen verbundene „Geltungsanspruch“ (ebd.) bis heute fortdauert und für das Selbstverständnis aller christlichen Kirchen von grundlegender Bedeutung ist (Schriftbezug, Wort 33 Einheit und Vielfalt <?page no="34"?> 23 Zu dessen Datierung s. Klinghardt, Ältestes Evangelium I 410 f. (terminus post quem: Ende der 80er Jahre des 1. Jh.s). und Sakrament). Für die Mahlfeier ist charakteristisch, dass die theologische Dimension „nachgelagert“ ist: Spezifisch christlich-religiöse Erfahrungen ver‐ binden sich mit bestimmten Teilen des gemeinantiken Mahlrituals. Hingegen entsteht das „Transzendenznarrativ“ des Kanons und die dadurch ermöglichte „Authentifikation der christlichen Bibel als ‚Wort Gottes‘“ (Inspiration 349) bereits durch die Zusammenstellung maßgeblicher Schriften in einem Buch bzw. in mehreren Teilsammlungen konzeptionell eines Buches (was als solches bereits einen religiös und theologisch bedeutsamen Vorgang darstellt). Aber am Ende haben wir es in beiden Fällen mit grundlegenden Konstitutionsbedingungen der Alten Kirche zu tun. Und in beiden Fällen muss es zu denken geben, wie weit wir heute - wenn auch sicherlich mit guten Gründen - von den damaligen Bedingungen in Theorie und Praxis entfernt sind - ich nenne nur die fehlende Verankerung des Abendmahls in einer religiösen Alltagskultur oder die historisch-kritische Auflösung des Kanons. Gemeinsam ist beiden Bereichen auch, was ich „die Krise des historischen Jesus“ nennen möchte: Die bei der Erforschung der Mahltexte angewandten exegetischen Methoden erlauben es nicht, die Einsetzung des Abendmahls his‐ torisch stringent auf Jesus zurückzuführen. Sie schließen eine solche Einsetzung („Stiftung“) nicht aus, aber können sie weder nachweisen noch auch irgendwie plausibel machen. Dasselbe gilt im Blick auf den Kanon: Die Jesusüberlieferung der Evangelien beginnt mit dem für Marcion bezeugten Evangelium 23 - von dort gibt es keinen methodisch gesicherten Weg zum historischen Jesus. Es mag eine mündliche Überlieferung gegeben haben - von ihr kann man aber nichts sagen oder feststellen außer ein paar sehr allgemeinen Schwerpunkten und Entwicklungslinien (z. B. Wirksamkeit als Lehrer und Heiler, Auseinander‐ setzung mit Gegnern, Tod am Kreuz). Was man aber durch Klinghardts For‐ schung vielleicht gewinnt, ist eine breitere historische Verankerung bestimmter Grundzüge des historischen Jesus-Phänomens. Ich nenne zwei Beispiele: 1) Angesichts der gemeinantiken (und damit auch gemeinjüdischen) Praxis von Gemeinschaftsmählern in jeglichen Formen von Vereinigungen ist es umso wahrscheinlicher, dass Jesus und seine Gruppe Mahlgemeinschaft praktiziert haben. - 2) Angesichts der fast überall zu beobachtenden Bedeutung des sog. Alten Testaments im sog. Neuen Testament ist es umso wahrscheinlicher, dass Jesus selbst auch mit den heiligen Schriften des Judentums argumentiert hat (wenn dies nicht schon aus anderen Gründen historisch wahrscheinlich ist). Aber die Rückführung einzelner Begebenheiten oder Logien (gar in ihrem 34 Günter Röhser <?page no="35"?> 24 Auch sinnvoll: „Im Matthäusevangelium sagt Jesus“. - „Matthäus lässt Jesus sagen“ ist hingegen Exegeten- und keine Verkündigungssprache. Wortlaut) auf Jesus ist (nach dem Ausfall der Logienquelle Q als Teil der Überlieferungsgeschichte der Evangelien) endgültig unmöglich. Wie soll man nun in der theologischen Praxis damit umgehen? - Eine Studentin fragte mich kürzlich, ob man denn in der Verkündigung oder im Unterricht überhaupt noch von Jesus erzählen oder die Formulierung „Jesus sagte“ verwenden könne. Meine Antwort: Ja, man kann es (auch in den liturgischen Formularen beziehen wir uns auf den irdischen Jesus, z. B. Abendmahlsliturgie; Vaterunser: „wie Jesus uns zu beten gelehrt hat“). Auf jeden Fall kann man allgemeine Formulierungen verwenden. Ich wähle ein Beispiel aus dem Weltgebetstagsgottesdienst dieses Jahres (Zukunftsplan: Hoffnung, S. 9): „so leben und lieben …, wie Jesus es uns gezeigt hat“. Puristen wählen vielleicht lieber die Formulierung „Christus spricht“ statt (wie ebd. S. 15 zu Joh 8,12) „Jesus sagt“, da erstere Formel auf den kerygmatischen und nicht auf den historischen Charakter der Aussage abhebt. 24 Wir sollten (uns und anderen) aber bei jeder Gelegenheit bewusst machen, dass wir für historische Aussagen (ob sie nun Jesus, Petrus, Paulus oder wen und was auch immer betreffen), auch wenn sie auf der Bibel gründen, keinen Wahrheitsanspruch erheben können. Was wir anbieten, sind Symbolbilder und Geschichten, die das Gemeinte veranschaulichen und vermitteln sollen (und können! ). Auch die Evangelien liefern keine zuverlässigen Berichte über Jesus (das ist keine neue Erkenntnis! ), sondern (fünf) verschiedene Jesusbilder - möglicherweise erst aus der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts. Es führt dann kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Die eigentliche Formationsphase des Christentums (und vor allem des Kanons) ist das 2. Jahrhundert (weswegen es auch keinen Sinn mehr macht, zwischen neutestamentlicher und patristischer Forschung zu unterscheiden), und ein historischer Weg dahinter zurück zu den ältesten Anfängen ist allenfalls über Paulus und seine (authentischen) Briefe möglich - aber auch dieser Weg führt nicht wirklich zur Urgemeinde und zum historischen Jesus, sondern vor allem zum paulinischen Christus. Die eigentliche theologische Herausforderung liegt woanders: Wenn der Kanon weniger historische Überlieferung als vielmehr theologische Literatur darstellt, liegt die Aufgabe der Konsistenz- und theologischen Urteilsbildung in hohem Maße bei den Lesenden. Dies ist zwar, wie gezeigt, eine anspruchsvolle Aufgabe (nicht nur bei den argumentierenden Briefen, sondern gerade auch bei den erzählenden Lektürekonzepten der Evangelien), aber es setzt auch eine große Fülle an existenziellen Aneignungsmöglichkeiten frei. Denn Literatur ist 35 Einheit und Vielfalt <?page no="36"?> auf wiederholte und vertiefende Lektüre hin angelegt (Möglichkeit des Zurück‐ blätterns) und auf die Entdeckung neuer Zusammenhänge und Entsprechungen - und damit auch auf das wechselseitige Gespräch in Kirche und Gesellschaft. Diesem literarisch-textuellen Charakter der biblischen Überlieferung gerecht zu werden, ist gerade im digitalen Zeitalter eine große Herausforderung - und Chance, da dieses in jeder Hinsicht Kreativität verlangt (was eine ureigene Aufgabe theologischer Arbeit ist). „Was unverfügbare Geltung besitzt, steht nicht einfach unverrückbar da, sodass man es einfach (aus den biblischen Schriften) ablesen könnte. Wahr‐ heit ergibt sich vielmehr nur aus der Sinnkonstitution der (individuellen und gemeinschaftlichen) Auslegung, von der sie in gleicher Weise Freiheit und Verpflichtung bezieht“ (Überlieferungsgeschichte 60; Klammerzusätze G.R.). 36 Günter Röhser <?page no="37"?> Im Anfang war - alles ein wenig anders Überlegungen zu einigen Aspekten der exegetischen Arbeit von Matthias Klinghardt aus systematisch-theologischer Perspektive Christian Schwarke Wissenschaft ist eine zutiefst konservative Veranstaltung. Zwar gibt es eine breite Übereinstimmung zwischen dem Selbstbild der Wissenschaft und der an sie gestellten Erwartung, dass die Wissenschaft Neues hervorbringen solle. Dies bezieht sich jedoch meist auf das im Grunde Erwartbare. Dort, wo man bereits eine gewisse Strecke des Weges gegangen ist, möge man den Wagen der Wissenschaft noch einen Meter weiterschieben. Tatsächlich neue Wege zu gehen, war und ist in der Wissenschaft jedoch meist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Dort, wo der Rahmen, innerhalb dessen in einer bestimmten Wissenschaft gedacht und geforscht wird, verlassen wird, ernten die Ergebnisse häufig ganz unwissenschaftliche Reaktionen. Das hat zum einen etwas damit zu tun, dass eingespielte und breit akzeptierte Theorien ihren Status als Theorien verlieren und zum Gegenstand des common sense werden. Fragt man etwa studierte Theologinnen und Theologen, wie der Kanon der neutestamentlichen Schriften entstanden sei, erhält man stets die Antwort, dass sich die kanonischen Bücher zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert schrittweise durchgesetzt hätten. Das Bemerkenswerte an dieser theologischen Allgemein‐ bildung ist, dass im Gegensatz zur Gewissheit über die vermeintliche Tatsache dieses Entstehungsprozesses niemand auf die Rückfrage zu antworten vermag, woher wir denn dies so genau wüssten. Es ist eben einfach Teil des common sense, dass der Kanon eine langsam gereifte Entscheidung war. Wer das infrage stellt, erntet zunächst und vor aller argumentativen Auseinandersetzung: Unglauben. Das zweite Hindernis, das tatsächlich neuartige Forschungsergebnisse zu überwinden haben, um - unabhängig davon, ob sie zutreffend oder unzutreffend sind - akzeptiert zu werden, besteht in den impliziten Axiomen (Dietrich Ritschl), von denen die bis dahin anerkannten Leittheorien getragen werden. Will man daher den Gang oder Untergang von Theorien verstehen, tut man <?page no="38"?> gut daran, sich zu vergegenwärtigen, welche Hintergrundannahmen Theorien beliebt oder unbeliebt machen könnten. Solange man etwa eine breite Bezeu‐ gung eines Sachverhaltes für tendenziell wahrheitsförderlich hält, wird alles unbeliebt sein, was diese Breite einschränkt oder gar auf einen Punkt zusam‐ menschrumpfen lässt. Ist man dagegen davon überzeugt, dass vor allem Indivi‐ duen (in Gestalt der metaphorisch großen Männer) Adressaten von göttlicher oder weltlicher Illumination sind, wird man umgekehrt alles kritisch sehen, was die Singularität dieser Offenbarungsträger infrage stellt. Da man sich über die impliziten Axiome, die man voraussetzt, aber eben keine Gedanken macht, kann man zugleich höchst widersprüchliche Axiome anwenden: Paulus und Luther sollen meist möglichst einsame Genies gewesen sein, während das Neue Testament eine letztlich von einer großen Wolke der Zeugen getroffene Auswahl „Best of …“ der urchristlichen Schriften sein möge. Beide Axiome dienen der Vergewisserung, auch wenn sie sich widersprechen. Die folgenden Überlegungen zu einigen Aspekten der historisch-kriti‐ schen Exegese Klinghardtscher Provenienz suchen aus systematisch-theolo‐ gischer Perspektive nach Voraussetzungen und Folgen dieser exegetischen Forschungen. Meine Bemerkungen orientieren sich dabei an drei Leitbegriffen: Erstens geht es in der neutestamentlichen Wissenschaft um Autorität (1). Denn in jeder Behandlung eines biblischen Textes wie der Bibel als Ganzer geht es (implizit oder explizit) stets um die Autorität des Textes als normative Grundlage für das Christsein. Ebenso wird in kirchlichen und theologischen Diskussionen immer dann auf das Neue Testament Bezug genommen, wenn man der eigenen Position die Dignität des Biblischen verleihen möchte. Dieser Autoritätsschatten verzerrt jedoch leicht die Wahrnehmung des Gegenstandes. Die Autorität des Textes stützt sich nun seit der Aufklärung zunehmend auf die Historizität (2) des Textes und des in ihm Berichteten. Dies gilt für liberale wie konservative, historisch-kritische wie fundamentalistische Theologien! Histo‐ rizität aber ist, worauf schon Ernst Troeltsch aufmerksam machte, ein höchst komplexes Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bei dem man sich entscheiden muss, wieviel Nähe und wieviel Distanz man zur eigenen Gegenwart wie zur vermeintlichen Vergangenheit aufzubringen gewillt ist. Dies ist dann eine Frage, über die man sich im Rahmen einer Methodologie (3) Klarheit zu verschaffen versucht. Eben diese Methodologie ist unglücklicherweise jedoch zugleich die Bedingung der Möglichkeit für die Wissenschaft wie der Grund für ihre Beschränktheit. Alle Aspekte greifen selbstverständlich ineinander, müssen aber aus Gründen der Handhabbarkeit getrennt behandelt werden. Sachlogisch kehren wir die Reihenfolge um und beginnen mit dem dritten Aspekt der Methodologie. 38 Christian Schwarke <?page no="39"?> 1 Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Lit‐ urgie frühchristlicher Mahlfeiern, Tübingen/ Basel 1996, 10. 2 Matthias Klinghardt, Der vergossene Becher. Ritual und Gemeinschaft im lukanischen Mahlbericht, in: EC 3 (2012), 33-58. Vgl. S. 221-246 in diesem Band. 1. Methodologie - Quellen und Kohärenz „Es bedarf also keiner neuen Methodologie, sondern nur der konsequenten Anwen‐ dung des Bekannten und Erprobten.“ 1 Methoden sorgen in der Wissenschaft nicht nur für die Nachvollziehbarkeit des Erkenntnisweges. Vielmehr bestimmen sie auch, was man überhaupt zu sehen bekommt. Dabei geht es der schönen, und mit dem NT in hohem Maße kompatiblen Metapher des Physikers Hans-Peter Dürr vom „Netz des Physikers“ wiederum nicht allein um die Weite der Maschen des Netzes und damit um die Größe der Fische, die der Wissenschaft ins Netz gehen. Denn die Struktur des Netzes bestimmt auch, ob man - um im Bilde zu bleiben - überhaupt Fische fängt oder vielleicht Bären. Liest man als neutestamentlicher Laie die Texte des vorliegenden Bandes, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die darin vorgetragenen Ergebnisse von dem im eigenen Proseminar vor 40 Jahren Gelernten nicht nur der Neuigkeit halber abweichen, sondern auch aufgrund des gewählten methodischen Zugangs. Dass Klinghardt betont, methodisch nichts Neues zu bieten, scheint mir dabei ebenso richtig zu sein, wie es doch auch ein Understatement ist. Das Verfahren hat berühmte Vorläufer. So behauptete auch Friedrich Schleiermacher, dass er nur darstelle, was von der Kirchengesellschaft zu seiner Zeit geglaubt würde, obwohl er tatsächlich die Theologie neu erfand. Nun scheinen es weniger die einzelnen methodischen Schritte zu sein, die in Klinghardts Arbeiten neu sind, als vielmehr die Art, wie sie angewendet, miteinander verbunden und fruchtbar gemacht werden. Dies beginnt schon bei der schlichten Lektüre des Textes. Ein Beispiel dafür ist Klinghardts Behandlung des Becherwortes beim letzten Abendmahl nach Lukas: 2 Die grammatikalischen Beziehungen in diesem Text sind nicht erst für Klinghardt einer Rückfrage wert. Aber dem (scheinbar unklaren) Text den Vorrang vor der (scheinbar klaren) Tradition zu geben, ist an diesem Punkt doch neu. Dass jegliche Textlektüre am Vorverständnis hängt, ist eine hermeneutische Binsenwahrheit und seit Rudolf Bultmann auch in der Theologie nicht neu. Kaum jedoch wurde jemals infrage gestellt, dass auch gegen die Grammatik „das“ Kelchwort auf das (blutige) Opfer hinweise, welches dann jedoch im zweiten Atemzug mit einigem Aufwand wiederum als nicht-opfriges Opfer konstruiert werden musste, da es sich bei 39 Im Anfang war - alles ein wenig anders <?page no="40"?> 3 Matthias Klinghardt, „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ Mahl und Mahldeutung im frühen Christentum, in: P. Schmidt-Leukel (Hg.), Die Religionen und das Essen: Das Heilige im Alltag, München 2000, 37-69. Vgl. S. 119-145 in diesem Band. - Ders., A Typology of the Communal Meal, in: D. E. Smith, H. E. Taussig (Hg.), Meals in the Early Christian World. Social Formation, Experimentation, and Conflict at the Table, New York 2012, 9-22. Jesu Tod selbstverständlich nicht einfach um die Adaption antiken Opferkultes handeln könne. Den Knoten der Differenz zwischen Text und Tradition löst Klinghardt im Fall des „Abendmahls“ neben einer genauen Lektüre auch mit einer intensiven Nutzung außerbiblischer Evidenzen. 3 Auch das ist nicht neu, wenn auch in der neutestamentlichen Wissenschaft weniger verbreitet als in der alttestamentli‐ chen. Auch ist der Versuch nicht neu, Text und Umwelt des Textes so aufeinander zu beziehen, dass sie sich gegenseitig erschließen. Dies kann aber nur dann wirklich neue Erkenntnisse zu Tage fördern, wenn die Umwelt des Textes wirklich als solche und methodisch unabhängig von ihm erschlossen wird. Aus dem einen schlicht auf das andere zu schließen, ist methodisch fragwürdig. Und das bleibt es auch dann, wenn man den Versuch „mirror reading“ nennt und methodisch ausfeilt. Zumal eine Argumentation, die wie in der Paulusexegese von einem Brief auf die adressierte Gemeinde schließt und dann aus der so erschlossenen Gemeindesituation wieder auf Paulus zurück, eher einem Stehen zwischen zwei Spiegeln vergleichbar ist, bei dem man bekanntlich nur sich selbst in unendlicher Vervielfältigung sieht. Anders sieht der Weg aus, wenn man tatsächlich vom biblischen Text unabhängige Quellen heranzieht. In Bezug auf das Mahl kann Klinghardt zeigen, dass Gruppenzusammenkünfte in der Antike nur Mahlzusammenkünfte sein konnten. Damit erschließt sich tatsächlich ein neuer Zugang zu den biblischen Passagen zum Abendmahl mit wichtigen inhaltlichen Konsequenzen. Das Abendmahl liefert auch ein Beispiel für divergierende implizite Axiome zwischen der Vergangenheit neutestamentlicher Forschung und den in diesem Band versammelten Texten. Das Neue besteht in der eigentlich schlichten Annahme, dass auch die ersten Christen nicht vom Himmel gefallen sind und folglich nicht von ihrer Umwelt getrennt werden können. Dies wird uns im nächsten Anschnitt beschäftigen. Im Blick auf das Mahl ist der Erkenntnisweg freilich noch durch eine andere Besonderheit bestimmt: Denn Klinghardt beschäftigt sich zunächst mit der Form des antiken Mahls, um dann Erkenntnisse zum Inhalt der neutestamentlichen Texte zu gewinnen. Dass es im Abendmahl zunächst um Gemeinschaft gehe, und dass auch jede Form von Vergebung mit solcher Gemeinschaft zu tun habe, 40 Christian Schwarke <?page no="41"?> 4 Matthias Klinghardt, Bund und Sündenvergebung. Ritual und literarischer Kontext in Mt 26, in: M. Klinghardt, H. Taussig (Hg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum. Meals and Religious Identity in Early Christianity (TANZ 56), Tübingen 2012, 159-190. Vgl. S. 187-220 in diesem Band. 5 Matthias Klinghardt, Abraham als Element der Kanonischen Redaktion, in: J. Heilmann, M. Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jh. (TANZ 61), Tübingen 2017, 223-258. Vgl. S. 429-470 in diesem Band. 6 Matthias Klinghardt, Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext. Konstruktion und Begründung von Gemeinsinn, in: M. Öhler (Hg.), Aposteldekret und antikes Vereinswesen. Gemeinschaft und ihre Ordnung (WUNT 280), Tübingen 2011, 91-112. Vgl. S. 463-485 in diesem Band. ist eine Erkenntnis aus der Form, die sich dann jedoch am Inhalt bewährt. 4 Für die Tradition des Abendmahls bringt dies freilich auf den ersten Blick erhebliche Probleme mit sich. Die gewissermaßen medizinisch gedachte Vorstellung der Sündenvergebung müsste als ein Produkt des 3. Jahrhunderts akzeptiert werden, die mitnichten „am Anfang“ stand. Wenn die Klinghardtsche Interpretation zutrifft, dann muss das Abendmahl neu gedacht werden - vorausgesetzt, man ist an dem Ursprung interessiert. Auch dieser Frage wird im nächsten Abschnitt nachgegangen. Zunächst aber soll nach einigen methodischen Aspekten der Arbeiten Klinghardts zum Kanon gefragt werden. Es ist offenkundig und wird von Klinghardt immer wieder betont, dass sich die Forschungen zu den Problemen des Kanons wie auch zu einzelnen Aussagekomplexen im Kanon (wie die Hinweise auf Abraham) 5 einer Lektüre verdanken, die den Kanon als Gesamtschrift in den Blick nimmt. Auch hier mischen sich bekannte und neue Aspekte. Die Redaktionskritik ist keine neue Methode. Entschieden neu aber ist die Anwendung des mehr oder minder impliziten Axioms, dass die Redaktoren der Bibel äußerst planvoll gehandelt haben. Brüche werden nun nicht mehr mit einer unterstellten Ehrfurcht der Redaktoren vor dem heiligen Bestand eines Vorgängertextes erklärt. Vielmehr werden sie zu einem Bestandteil eines Konzepts, das die widerstreitenden Interessen einer in sich pluralen Gruppe zu einem Ausgleich zu bringen versucht. 6 Die Klinghardtschen Erkenntnisse machen viele Elemente der neutestamentli‐ chen Schriften plausibel und fügen sie zu einem Bild. Die Texte gewinnen einen Sitz im Leben und erweisen sich als eminent vernünftig, auch wenn dieser Ort christlicher Vernunft im 2. Jahrhundert liegt. Eng verbunden mit der Behandlung der neutestamentlichen Texte auf der Ebene der kanonischen Redaktion ist die offenbar gar nicht so selbstverständ‐ liche Annahme, dass es sich um Texte handelt. So wie die kulturwissenschaft‐ liche Analyse von Filmen oft an der Tatsache vorbeigeht, dass es sich bei ihrem Gegenstand um einen Film, also um bewegte Bilder handelt, nicht um 41 Im Anfang war - alles ein wenig anders <?page no="42"?> 7 „Das Wirksame solcher Bücher aber besteht darin, daß kein Gedanke uns so ernsthaft überzeugen und so lebendig durchdringen kann wie jener, den uns niemand hat aussprechen müssen, den wir für den unseren halten, nur weil er nicht auf dem Papier steht.“ Max Frisch, „Beim Lesen“ [1946], in: Tagebuch 1946-1949, Frankfurt a. M. (1950) 1981, 117-122. Hier S. 118. 8 Vgl. Matthias Klinghardt, Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, in: ZNT 21 (2008), 27-37. Vgl. S. 345-363 in diesem Band. 9 Vgl. Klinghardt, Aposteldekret (s. o. Anm. 6). einen schriftlichen Text, scheint die neutestamentliche Exegese in ihrem Gegen‐ stand nicht selten eine verhinderte Verkündigung zu sehen. Selbstverständlich ist die Textlichkeit des Neuen Testaments, zumal der Briefe, stets bewusst gewesen. Und doch machen die Klinghardtschen Arbeiten einen Unterschied deutlich: Bis heute gehen viele davon aus, dass am Anfang die mündliche Überlieferung stand, und dass irgendwann mehr oder minder begabte Menschen diese Überlieferung aufgeschrieben haben, sie aber eigentlich weiter gehört werden sollte. Klinghardt nimmt dagegen das zunächst Näherliegende an, wenn man einen Text vorfindet: Ein Text wird geschrieben, um gelesen zu werden. Dies impliziert zweierlei: Zum einen rechnen Schreibende damit, dass man ihren Text wiederholt und auch langsamer als Gehörtes wahrnehmen kann. Daher sind Texte in der Regel dichter. Zum anderen ist auch der Produktions‐ prozess langsamer und durchdachter. Dass zum Beispiel der Autor des Textes, den wir das Markusevangelium nennen, sein Evangelium nach Maßgabe der Erkenntnis Max Frischs konzipieren konnte, derzufolge ein gelungener Text seinen Leserinnen das Gefühl gibt, dass sie selbst auf den Gedanken (des Autors) gekommen sind, 7 zeugt von einiger gedanklicher und literarischer Finesse. Im Kanon begegnet Theologie als Literatur und Literatur als Theologie. 8 Eine Lektüre des Neuen Testaments auf der Ebene der Kanonischen Redak‐ tion entdeckt viele Einzelheiten und Bezüge, die einer unhistorisch-traditio‐ nellen Lektüre vergangener Jahrhunderte nicht unbekannt waren. 9 Allerdings geschieht diese Aufnahme auch vorkritisch wahrnehmbarer Zusammenhänge mit einem potenzierten historisch-kritischen Akzent. Und dies hat Folgen. Denn alles das, was Literalisten für die Wahrheit halten, wird nun durchsichtig als das, was sie aus Sicht der Autoren des Kanons für die Wahrheit halten sollen. Ein Beispiel ist die Inspiration der Schrift: An sie kann man glauben oder nicht. Da jede Form der Inspirationslehre, wenn sie sich selbst denn ernst nimmt und konsequent ist, ohnehin nicht an einem bestimmten Autor hängen darf, könnte man leicht die Redaktoren der Kanonischen Ausgabe z. B. anstelle von Markus oder Petrus für inspiriert halten. Wie Klinghardts Aufsatz zur Frage von „Inspiration und Fälschung“ freilich deutlich macht, ist das Konzept der 42 Christian Schwarke <?page no="43"?> 10 Matthias Klinghardt, Tanz und Offenbarung. Praxis und Theologie des gottesdienstli‐ chen Tanzes im frühen Christentum, in: Spes Christiana 15/ 16 (2004/ 05), 11-34. Vgl. S. 147-175 in diesem Band. 11 Matthias Klinghardt, Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hinter‐ grund von Mk 5,1-20, in: ZNW 98 (2007), 28-48. Vgl. S. 323-344 in diesem Band. 12 Matthias Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, in: BThZ 19 (2002), 183-202. Vgl. S. 249-271 in diesem Band. 13 Klinghardt, Nehmt (s. o. Anm. 3), 69. Vgl. S. 144 in diesem Band. 14 Ernst Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1922, 729-753. Inspiration selbst eine wissentliche, wenn auch kluge List. Dies wird uns im dritten Abschnitt beschäftigen. Die dargestellten methodischen Aspekte ließen sich an anderen Texten ebenfalls zeigen: 1. Dass ein Christ im ersten Jahrhundert auch „normal“ sein konnte, belegt der Aufsatz über den Tanz. 10 2. Dass man gut daran tut, wirklich außerbiblische Quellen zu suchen, zeigt der Aufsatz über die Legionsschweine. 11 Darüber hinaus ist er ein Beispiel dafür, dass historisch-kritische Exegese, indem sie ein Wunder dekonstruiert, bei einem viel unwahrscheinlicheren und in diesem Sinne wunderbareren Ereignis ankommen kann. 3. Dass die antiken Autoren nicht dümmer waren als wir, zeigt der Aufsatz Boot und Brot, indem er belegt, dass man biblische Texte nicht nur metaphorisch verstehen kann, sondern dass sie vielmehr sehr gezielt so gedacht waren! 12 Dies führt zum nächsten Schritt. 2. Historizität - Nähe und Distanz „Das frühchristliche Mahl ist also vollständig als Bestandteil der umfassenden Sym‐ posienkultur der griechisch-römischen Antike zu verstehen: Sowohl der Ursprung der einheitlichen Mahlpraxis der Christen […] als auch die unterschiedlichen Deutungen werden auf diesem Hintergrund verständlich.“ 13 Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass Historizität ein Wechselspiel zwi‐ schen Vergangenheit und Gegenwart sei. Man kann sich diesen Zusammenhang an Ernst Troeltschs berühmter Bestimmung der historischen Methode verdeut‐ lichen. Bekanntlich besteht diese Methode für Troeltsch in den drei zentralen Zugängen: Kritik, Analogie und Korrelation. 14 Keines der drei Elemente ist ohne Gegenwart denkbar. Für die Analogie ist das offensichtlich. Historische Erkenntnis ist nur möglich durch die Annahme, dass es Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt, die ein Verstehen erst ermöglichen. Aber auch die Kritik lebt letztlich davon, dass es einen Standpunkt außerhalb der 43 Im Anfang war - alles ein wenig anders <?page no="44"?> Vergangenheit gibt, von dem aus etwas überhaupt unterschieden werden kann. Die Korrelation allen Geschehens schließlich macht explizit, dass man der un‐ lösbaren Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht entkommt. Dies vorausgesetzt gibt es aber sehr wohl Unterschiede in der Orientierung an verschiedenen Polen des Kontinuums. Man kann etwa, wie es Troeltsch tat, Ge‐ schichte schreiben, um die Entwicklung hin zur Gegenwart zu rekonstruieren. Man kann auch Geschichtsschreibung betreiben, um die eigene Position in der Gegenwart zu legitimieren. Solche Bemühungen sind naheliegenderweise interessiert daran, die Nähe der Vergangenheit zur Gegenwart zu thematisieren. Der Gewinn an gegenwartstauglichen Aussagen, einer „usable past“, wird erkauft mit einem Defizit an Genauigkeit der Rekonstruktion. Klinghardt wählt hier einen anderen Weg. Sollte man eine Positionierung „seines“ Christentums in der Antike nennen, so läge diese vermutlich in der größtmöglichen Distanz zur Gegenwart. Gleichzeitig wird das Bemühen deut‐ lich, die Christen der Antike im Kontext der normalen Lebensvollzüge ihrer Zeit zu verstehen. Während die erste Seite der Medaille, d. i. das Fremde zu betonen, vielleicht aufgrund der immer auch kirchlichen Dimension der Theologie nicht so weit verbreitet ist, wie es für historische Forschung erwartbar wäre, würden die meisten exegetisch Forschenden die andere Seite der Medaille, d. i. das Christentum strikt in seiner Zeit zu verstehen, sicher als eigene Zielperspektive ansehen. Allerdings scheint mir diese Kontextualisierung immer durch eine bestimmte Einschränkung qualifiziert zu sein. Diese besteht darin, dass es sich beim Christentum um etwas Besonderes handeln müsse. Ob sich dieses Vorurteil eigenen biographischen Erfahrungen verdankt oder ob man der Polemik der Kirchenväter auf den Leim geht, ist vermutlich sekundär. Wichtig aber ist, dass eine im Grunde nur in der Negation der Zeitgenossenschaft rekonstruierte Historizität eigentlich keine ist. Was aber wäre, wenn Christen tatsächlich getanzt hätten? Was wäre, wenn die „christliche“ Ethik sich tatsächlich am allgemein Geforderten orientiert hätte? Was wäre, wenn es keine Verfallsge‐ schichte gäbe, sondern die Christen schon immer so waren wie wir: ziemlich normal. Legt man sich diese Fragen vor, erkennt man sofort, dass das Problem von Nähe und Distanz in der Historizität zum einen ein normatives Problem ist. Es geht um die Frage, ob ich das mir Fremde aus der Vergangenheit als für mein Leben leitend akzeptieren kann. Deshalb haben es diejenigen Rekonstruktionen der Vergangenheit, die sich an die durch Tradition erreichte Anpassung christlicher Theologie anlehnen, meist so viel leichter akzeptiert zu werden als eine abständige Vergangenheit. Im Blick auf die Historizität rütteln die Texte Klinghardts noch an mindestens zwei weiteren Punkten an den Fundamenten insbesondere der lutherischen 44 Christian Schwarke <?page no="45"?> 15 Vgl. Klinghardt, Abraham (s. o. Anm. 5). Theologie. Denn dass Luther mit Paulus das „wahre“ Christentum wiederent‐ deckt habe, gehört zum Gründungsmythos des Protestantismus. Wenn Luther Paulus aber im Grunde missverstanden hat, 15 wird aus dem Luthertum das, was Paulus nun gerade nicht wollte: eine Parteiung. Dass dies Missverständnis, wie Klinghardt sagt, produktiv gewesen sei, kann eigentlich nur ein schwacher Trost sein. Es sei denn, man ginge als guter Hermeneutiker davon aus, dass Luther Paulus besser verstanden habe als dieser sich selbst. Das aber kann man bei der Weite der Differenz getrost ausschließen. Denn für Paulus ging es, so Klinghardt, um die Werke des Gesetzes (z. B. die Beschneidung), nicht aber um unsere Handlungen überhaupt (wie bei Luther). Zudem geht es Paulus um die Möglichkeit der Erwählung für Heiden, ohne dass die Erwählung der Juden dadurch relativiert würde, nicht um die Rechtfertigung des Sünders. Erst die Kanonische Redaktion hat durch Zusätze den Begriff des Werkes ethisch umgedeutet und verallgemeinert. Wenn Luther aber im Grunde an die kanonische Popularisierung des paulinischen Werkbegriffs anknüpft, braucht man ein weites Konzept der Wirkungsgeschichte, um alles in eine Tradition zu bringen. Wenn man nicht so genau hinschaut, ist das alles aber noch systematisch auffangbar. Denn man könnte ja auf eine Wirkungsgeschichte setzen, die eine Verwandlung der „Werke des Gesetzes“ in (alle) „Werke“ für zwingend hielte. Gravierender ist ein zweites Problem: Sowohl das Christentum als auch die historisch-kritische Methode folgen in gewissem Sinne einem Ursprungsmy‐ thos. Für das Christentum ist das mit dem Rekurs auf Jesus evident. Im Blick auf die historisch-kritische Methode gilt aber, dass sie stets darum bemüht war und ist, eine möglichst authentische, dem historischen Ursprung eines Textes oder der Person Jesu von Nazareth möglichst nahekommende Wirklichkeit zu beschreiben. Was geschieht, wenn dieser Ursprung entweder gar nicht existiert, oder aber normativ diskreditiert ist? Den ersten Fall haben wir in der Klinghardt‐ schen Rekonstruktion des christlichen Mahls vor uns. Das, was wir Abendmahl nennen, ist wie in anderer Weise die Trinitätslehre ein relativ spätes Produkt der Geschichte des Christentums und hat mit einem wie auch immer rekonstru‐ ierbaren Bezug zu Jesus mindestens wenig zu tun. Für eine am Ursprung als Wahrheitskriterium (auch dies ist ein implizites Axiom) orientierte Theologie ist das problematisch. Fragt man nach den Folgen der Klinghardtschen Exegese an diesem Punkt, bestünde sie also darin, vor eine Wahl gestellt zu werden: Entweder verabschiedet man sich von der Illusion, Jesus habe das Abendmahl als sakramentalen Versöhnungsakt (durch den eigenen Opfertod) eingesetzt 45 Im Anfang war - alles ein wenig anders <?page no="46"?> 16 Matthias Klinghardt, Überlieferungsgeschichte der kanonischen Evangelien, in: ZNT 43/ 44 (2019), 39-60. Vgl. S. 471-492 in diesem Band. 17 Matthias Klinghardt, Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft. Zur Textgeschichte der neutestamentlichen Handschriftenüberlieferung, in: ZNT 39/ 40 (2017), 87-104. Vgl. S. 411-428 in diesem Band. und schreibt dann die zeitgenössische Liturgie um, oder man verzichtet auf die Annahme, dass man sich immer am bestmöglich erkennbaren Ursprung orientieren müsse. Die kirchliche Praxis der Gegenwart kennt etwas vereinfacht zwei Varianten: Die eine Option setzt auf das exegetisch Falsche und behauptet das Abendmahl weiter als eine von Anfang an vorhandene (blutige) Operation am offenen Herzen des Sünders. Die andere Option wähnt sich modern und will das Abendmahl ohne Sündenfixierung als Gemeinschaftsmahl feiern. Dabei ist sie diejenige mit der größten Treue zu den biblisch erkennbaren Ursprüngen. Im Blick auf den Kanon ist die Situation nicht viel besser. Wenn die Kanoni‐ sche Redaktion neben einigen Paulusbriefen und neben den eigenen Zutaten auf dem von Markion verwendeten Evangelium fußt, 16 dann basiert das Neue Testament auf einem Werk, dass die Theologiegeschichte von Tertullian bis in die moderne Kirchengeschichtsschreibung mit einigem Schaum vor dem Mund einem Erzketzer zuschreibt. Das Problem besteht in unserem Zusammenhang darin, dass man den normativ bindenden Stand der Dinge dann nicht am Anfang, sondern an einem bestimmten Punkt der Wirkungsgeschichte verankern muss, wenn man die bis in die Gegenwart verbreitete Lesart des kanonisch Gültigen aufrechterhalten will. Auch hier sieht man sich also gezwungen, entweder die Ursprungsfixierung zu relativieren, oder auf weitgehend hypothetische Ursprünge zu bauen. Eine dritte Möglichkeit bestünde darin, die erste greifbare Gestalt eines Kanons, d. h. Markions Buch, zur Richtschnur zu machen. Das aber sei ganz bestimmt ferne! Das Problem verschärft sich, wenn man an die Schrift auch noch die „hellen Gründe der textkritischen Vernunft“ anlegt. 17 Denn nun wiederholt sich die Frage, welcher Bearbeitungsstufe eines Textes man eigentlich die normative Kraft, die gültige zu sein, zubilligen kann und will. Es ist eine Frage, die vergleichbar der Frage nach dem Beginn des Lebens keine tatsächliche, sondern nur eine definitorische Antwort finden kann. Denn Prozesse sind ihrer Natur nach fließend, auch wenn sie in Etappen fließen. Solche systematischen Fallstricke lauern freilich nicht an jeder Ecke. Viel‐ mehr entfernt die Orientierung der Klinghardtschen Exegese an der Vergangen‐ heit und die Inkaufnahme einer Distanz zur Gegenwart an jeder Ecke die Patina, die auf den Texten der Bibel lastet. Distanz aber ist notwendige Bedingung für Erkenntnis. Und so fremd wie die Fresken der Capella Sistina nach ihrer 46 Christian Schwarke <?page no="47"?> 18 Matthias Klinghardt, Inspiration und Fälschung. Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel, in: H. Vorländer (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin/ New York 2013, 331-355. Hier S. 346. Vgl. S. 402 in diesem Band. Restaurierung vor Jahren auf einmal erschienen, so sieht man nun doch deutlich klarer, was sich dort an der Decke und der Rückwand befindet. Wie das Beispiel gegenwärtiger Abendmahlspraxis zeigt (s. o.), findet man sich gerade durch das Ernstnehmen der historischen Distanz, also einer Restaurierung der kanonischen Texte, in der Gegenwart wieder. Und wenn das Neue Testament tatsächlich als Vermittlungsschrift zwischen konkurrierenden Konzepten von Christentum gedacht war, ist das historisch Fremde in Wirklichkeit eminent aktuell. Die Annahme einer Kanonischen Ausgabe - das sei nicht verschwiegen - erweist sich daher auch homiletisch als ungemein fruchtbar. Denn viele Texte erfordern keine dialektischen oder existentialistischen Pirouetten mehr, um mit dogmatischen Leerformeln die Texte letztlich unerklärt zu lassen. Vielmehr erlaubt der Kanon nun einen Blick in den „fernen Spiegel“ des 2. Jahrhunderts, als diese „Verfassung“ des Christentums geschrieben wurde. Das ist weder der „Anfang“, als Quirinius Statthalter in Syrien war, noch ist es die Gegenwart. Aber jene formative years halten genug Leben und Lehren für viele Predigtreihen bereit. 3. Autorität - Macht und Legitimation „So ergibt sich das einigermaßen erstaunliche Phänomen: Gerade die programmati‐ schen Transzendenzbehauptungen, dass ‚die ganze Schrift von Gott eingehaucht‘ sei und dass noch nie ein ‚Mensch aus eigenem Willen eine Prophetie erhalten‘ habe, sind gezielte Fälschungen des Herausgebers der Kanonischen Ausgabe.“ 18 Von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hat die historisch-kritische Exegese mit dem Problem zu kämpfen, dass sie scheinbar den Charakter der Schrift als Wort Gottes, als Offenbarung destruiert. Die Beispiele sind Legion. Syste‐ matisch aufgefangen wurden „gefährliche“ Ergebnisse mit unterschiedlichen Instrumenten. Von Lessing bis in die Zeit um 1900 war eines dieser Instrumente die Akkomodationstheorie. Auch die Vorstellung der Pseudepigraphie dient diesem Interesse. Gemeinsam ist allen systematischen Auffangbemühungen, dass sie hinter einem dubiosen Ergebnis eine ehrenvolle Absicht vermuten, oder aber wie im Fall der Pseudepigraphie die heute als abusus geltende Praxis zu einem in der Vergangenheit allgemein geübten usus zu erklären. Die Klinghardtsche Annahme, dass neben einigen Schriften des Neuen Tes‐ taments und zahlreichen Interpolationen auch die Inspirationsaussagen auf die 47 Im Anfang war - alles ein wenig anders <?page no="48"?> 19 Ebd. Herausgeber des Neuen Testaments zurückgehen, verbindet sich nun gegen alle Auffangbemühungen mit der These, dass die Verfasser diese Aussagen gezielt und wissentlich „gefälscht“ haben, um ihr Konzept beim Leser durchzusetzen. 19 Von guter Absicht kann in einem solchen Fall nur mittelbar die Rede sein. Zwar kann man, wie Klinghardt es ja auch tut, das Ziel dennoch positiv bewerten, aber der Weg, gleichsam vermummt für die gute Sache der Eintracht des Christentums zu kämpfen, bleibt halbseiden. Was bleibt in einer solchen Konstellation von der Autorität der Schrift übrig? Haben Biblizisten am Ende doch Recht mit der Behauptung, dass die historisch-kritische Exegese unvereinbar ist mit einem Verständnis der Bibel als Gottes Wort? Zur Annäherung an diese Frage muss man sich zunächst das Interesse an der Inspiration ansehen und daran anschließend fragen, was eigentlich inspiriert sein soll. Inspiration dient an beiden prominenten Orten ihrer „Erfindung“, dem Neuen Testament und der Theologie des Barockzeitalters, der Absicherung vorgängiger Aussagen und eigener Legitimation. Im Fall des Neuen Testaments hat Kling‐ hardt die Intentionen im Einzelnen herausgearbeitet. In der Zweitverwertung der Inspiration in der Altprotestantischen Orthodoxie dient diese eigentlich nicht der Absicherung des Wortes Gottes, sondern der These von der alleinigen Autorität der Schrift in der Frage, was denn als Wort Gottes gelten kann. Und die Geschichte der Theologie in der Neuzeit zeigt, dass diese Inspirationslehre in dem Maße radikalisiert wird, in dem die anderen Attribute der Schrift, wie die claritas, ihre Evidenz verlieren. Damit einher geht jedoch die Tendenz, Inspiration als Ersatz für Evidenz zu funktionalisieren. Mit anderen Worten: Was inspiriert ist, muss geglaubt werden, auch wenn es ohne diesen Zusatz offenkundig Unsinn wäre. Inspiration ist daher in der Neuzeit mehr und mehr zu einem sekundären, wenn nicht tertiären Ersatzargument verkommen. Durch Inspiration soll eine Aussage durch die Inanspruchnahme einer transzendenten Macht Autorität gewinnen. Warum könnte das nicht mit einer Fälschung einhergehen? Die Antwort auf diese Frage hängt an dem besonderen normativen Gefälle des Gegenstandes der Inspiration: Wenn ein Text als Wort Gottes markiert werden soll, muss er selbstverständlich die dem Wort Gottes zugeschriebenen Attribute aufweisen, z. B. Wahrheit, Güte etc. Eine Fälschung ist aber per definitionem unwahr, könnte also nicht direkt Wort Gottes sein, es sei denn, man billigte dem Wort Gottes einen größeren Spielraum im Umgang mit unseren Vorstellungen von Wahrheit zu. 48 Christian Schwarke <?page no="49"?> 20 Heinrich A. W. Meyer, Kritisch exegetisches Handbuch über das Evangelium des Matthäus (KEK, 1. Abt., 1. Hälfte), 2. verbesserte und vermehrte Auflage, Göttingen 1844, XIIf. Dass die Fälschung der Inspirationsaussagen transparent wird, kann - anders als Biblizisten es vermuten - jedoch sehr wohl zu einer Erkenntnis des Wortes Gottes führen: Dann nämlich, wenn man sich daran erinnert, dass es im Chris‐ tentum nicht um den Glauben an die Bibel geht, sondern an Gott. Die damit ein‐ hergehende Unsicherheit ist unaufhebbar, auch wenn bereits die Herausgeber der Bibel (dann doch wieder in wahrscheinlich guter Absicht) damit beschäftigt waren, Unsicherheit in vermeintliche Sicherheit zu überführen. Während es für die Herausgeber der Bibel aber um die Integration der Pluralität des Alten und Neuen Testaments in das Christentum ging, versucht die heutige Inanspruch‐ nahme der Inspiration Pluralität auszuschließen. Autorität muss aber heute - auch theologisch - anders begründet werden. Es gehört zu den besonderen Vorzügen der Klinghardtschen Exegese, dass sie gerade in ihrer Betonung des historisch Fremden das Abständige sehr präsent macht. Auch biblische Texte leuchten ohne Patina deutlich heller. Die im 2. Abschnitt behandelten Probleme der Historizität führen jedoch dazu, dass Christen und die Kirchen ohnehin abwägen und entscheiden müssen, welche Überlieferungsstufe sie für normativ bindend halten. Dem fremden „Anfang“ (der kanonischen Texte) zu folgen, hat jedoch, das zeigen die Arbeiten Klinghardts, enorme Verheißungen. Dabei gilt, was schon Heinrich August Wilhelm Meyer im 19. Jahrhundert wusste: „[D]en Inhalt der Schrift nach kirchlicher Voraussetzung zu ermitteln, ist und bleibt, so viel man auch dagegen excipiere und clausuliere, eine schon von vorne herein bestochene Procedur, bei welcher man hat, ehe man sucht, und findet, was man hat.“ 20 Dieser Bestechung entzieht sich Klinghardt methodisch konsequent. Den Stand der Dinge am biblischen Anfang wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, auch und gerade wenn er sich von kirchlich eingespielten Gewiss‐ heiten unterscheidet, ist nach evangelischem Schriftverständnis Pflicht. Ob man den dann zu Tage geförderten Ergebnissen folgt und sie als verbindlich annimmt, ist damit noch weder ausgemacht noch zwingend. An vielen Stellen - auch dies wird in den hier versammelten Aufsätzen deutlich - wäre es heilsam. Folgt man der Exegese nicht, müsste man freilich zugestehen, dass man sich die Freiheit nimmt, vermeintliche Anfänge nicht als einzige Richtschnur zu behandeln. 49 Im Anfang war - alles ein wenig anders <?page no="50"?> 21 Christoph Burchard, zit. nach Matthias Klinghardt, „Gesetz“ bei Markion und Lukas, in: D. Sänger, M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS Chr. Burchard), NTOA 57, Göttingen/ Fribourg 2006, 99-128. Hier S. 99. Vgl. S. 273-305 in diesem Band (Zitat auf S. 273). 22 Ebd. Coda Mit einer gewissen Freude berichtet Herr K. in einem seiner Aufsätze von der Bemerkung eines Gutachters zu seiner Dissertation, „daß K. manchmal Probleme löst, die es ohne ihn gar nicht gäbe.“ 21 Wie beim anthropischen Prinzip und bei der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ lässt sich auch diese Gutachteräußerung in einer schwachen und einer starken Variante lesen. In der schwachen Lesart (1) besagt der Satz, dass eine wissenschaftliche Arbeit (im guten Fall) die Fragen löst, die sie in der Einleitung aufgeworfen hat. So gelesen wäre der Satz so richtig wie trivial und träfe in gleichem Maße auf Paulus und Luther zu. In der starken Lesart (2) behauptet der Satz jedoch, dass die Person und Arbeit des Autors für das Erkennen des Problems schlicht konstitutiv sei. Träfe das zu, wäre es alles andere als trivial. Denn der Satz behauptete dann zum einen eine gewisse Kontingenz des Problems, zum anderen - und wichtiger - aber eine direkte Abhängigkeit von Problem (und Lösung) von der Person des Autors. Würde man also ein Problem nach dessen „Entdeckung“ doch als sachlich notwendig erkennen, müsste man behaupten, dass das Universum notwendig auf die Produktion eben dieses forschenden Individuums zugesteuert sei, damit ein Problem erkannt werde, dass eben nur von diesem Individuum erkannt werden konnte. Solche Erkenntnis kann man dann zusätzlich noch positiv (a) oder aber negativ (b) finden. Manchmal schläft man ja selbst in der Wissenschaft ruhiger ohne das Wissen um Probleme. Die oben angestellten Überlegungen gehen erkennbar davon aus, dass der Satz - unbeschadet der Intention des Gutachters - in der Variante 2a gelesen werden muss. Dies umso mehr, als es Herr K. vermocht hat, das ursprüngliche Bezugs‐ objekt der Aussage - nach Herrn Ks. Auskunft: „diverse Aberrationen und Phantastereien“ 22 - in zentrale Aussagen zu verwandeln, deren Übergang in den common sense allein eine Frage der Zeit ist. Wem mit Gotthold Ephraim Lessing und Herrn K. an der Unterscheidung von „zufälligen Geschichtswahrheiten“ und „notwendigen Vernunftswahrheiten“ [sic] gelegen ist, wird hier fündig. Aus systematisch-theologischer und aus homiletischer Perspektive hat es wenig exegetische Forschung gegeben, die so produktiv ist wie die hier in Aufsätzen vorliegenden Kostproben der Forschung von Herrn K. Das in der literarischen Vorlage der Figur obligate und überraschte „Oh“, das Herrn K. selbst bei seiner 50 Christian Schwarke <?page no="51"?> Forschung an einigen Punkten entfahren sein soll, wird sich auch im Kopf der Leserinnen und Leser einstellen. Und wie sich schon die Autoren des Neuen Testaments dachten: Lesen bildet! 51 Im Anfang war - alles ein wenig anders <?page no="53"?> 1 Erstveröffentlichung: Strand Magazine, April 1892. 2 Dies ist auch die Gattungsbezeichnung, die Justinus für die Evangelien verwendet, „Erinnerungen der Apostel“ (1Apol. 66). Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion, Dr. Watsons Sherlock Holmes und die Struktur des Ersten Johannesbriefes David Trobisch Ouverture Eine Tafel neben dem Eingang zum Sherlock Holmes Museum in der Baker Street in London lautet „221b Sherlock Holmes Consulting Detective 1881- 1904“. Wenn man das Gebäude betritt und am Museumsshop vorbei die enge Treppe in den ersten Stock erklimmt, gelangt man in das Wohnzimmer, in dem die meisten Erzählungen ihren Anfang nehmen, zum Beispiel The Adventure of the Noble Bachelor. 1 The Lord St. Simon marriage, and its curious termination, have long ceased to be a subject of interest in those exalted circles in which the unfortunate bridegroom moves. Fresh scandals have eclipsed it, and their more piquant details have drawn the gossips away from this four-year-old drama. As I have reason to believe, however, that the full facts have never been revealed to the general public, and as my friend Sherlock Holmes had a considerable share in clearing the matter up, I feel that no memoir of him would be complete without some little sketch of this remarkable episode. Der Erzähler stellt sich in der ersten Person Singular vor, ohne aber seinen Namen zu nennen, und verweist auf Ereignisse, die vier Jahre zuvor stattge‐ funden hatten. Er möchte nun die Hintergründe darstellen, die, wie er glaubt, bis zu diesem Zeitpunkt nicht an die Öffentlichkeit gedrungen waren und zu deren Klärung sein Freund Sherlock Holmes erheblich beigetragen hatte. Das Genre, das der Erzähler für seine Veröffentlichung wählt, bezeichnet er als „memoir“ und charakterisiert es als episodisch. 2 Er berichtet über das schlechte Wetter und dass ihm seine Kriegsverletzung aus Afghanistan zu <?page no="54"?> schaffen machte. Aus diesem Grunde hatte er die Wohnung den ganzen Tag nicht verlassen und aus lauter Langeweile alle Ausgaben der aktuellen Tages‐ zeitungen von vorne bis hinten gelesen. Als er auch damit fertig war, entdeckte er auf dem gemeinsamen Tisch einen Brief, der an Holmes adressiert war und dessen Umschlag ein großes Wappen und Monogramm zierte. Als Holmes endlich in die gemeinschaftliche Wohnung zurückkehrt, nimmt er den Brief und liest ihn dem Erzähler vor. The letter which I hold in my hand is from Lord St. Simon. I will read it to you, and in return you must turn over these papers and let me have whatever bears upon the matter. This is what he says: ‘MY DEAR MR. SHERLOCK HOLMES — Lord Backwater tells me that I may place implicit reliance upon your judgment and discretion. I have determined, therefore, to call upon you and to consult you in reference to the very painful event which has occurred in connection with my wedding. Mr. Lestrade, of Scotland Yard, is acting already in the matter, but he assures me that he sees no objection to your cooperation, and that he even thinks that it might be of some assistance. I will call at four o’clock in the afternoon, and, should you have any other engagement at that time, I hope that you will postpone it, as this matter is of paramount importance. Yours faithfully, ST. SIMON.’ It is dated from Grosvenor Mansions, written with a quill pen, and the noble lord has had the misfortune to get a smear of ink upon the outer side of his right little finger,” remarked Holmes as he folded up the epistle. Der Erzähler macht deutlich, dass er den Text des Briefes, den Holmes in der Hand hielt, wörtlich zitiert. Dass es sich dabei um ein Autograph handelt, also um ein Schriftstück, das eine Person mit eigener Hand verfasst hatte, wird durch Holmes‘ Analyse deutlich: „Written with a quill pen, and the noble lord has had the misfortune to get a smear of ink upon the outer side of his right little finger.“ Es ist für die Sherlock-Holmes-Erzählungen typisch, dass in den einleitenden Abschnitten datierbare historische Quellen vorgestellt werden. Es kann sich dabei um Artikel aus Tageszeitungen handeln, die damals mehrfach am Tag erschienen, oder um Notizen und Zeichnungen, Testamente, technische Pläne, eidesstattliche Aussagen oder, wie in diesem Beispiel, um einen handgeschrie‐ benen Brief. Ereignisse der Zeitgeschichte wie der deutsch-französische Krieg oder der Erste Weltkrieg, Namen bekannter Adeliger und Politiker, ungewöhn‐ liche Wetterereignisse, konkrete Jahresangaben und biographische Anhalts‐ punkte aus dem Leben des Erzählers und seines Helden Holmes erlauben es, das chronologische Verhältnis dieser Geschichte zu anderen Geschichten zu bestimmen. Im Falle der eben zitierten Erzählung gibt es folgende Hilfestellung: 54 David Trobisch <?page no="55"?> 3 Vgl. Michael Dirda, On Conan Doyle or, The Whole Art of Storytelling, Princeton/ Ox‐ ford 2012, 142-143. 4 Matthias Klinghardt, Inspiration und Fälschung. Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel, in: H. Vorländer (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin/ New York 2013, 331-355, 352. Vgl. S. 387-410, 408 in diesem Band. 5 A.a.O., 339/ 395. It was a few weeks before my own marriage, during the days when I was still sharing rooms with Holmes in Baker Street, that he came home from an afternoon stroll to find a letter on the table waiting for him. Auch wenn der Name des Erzählers nicht sofort genannt wird, weiß man aus anderen Geschichten, dass es sich um Dr. Watson handelt, den Holmes immer nur als „Watson“ anspricht. Der Erzähler, Watson, geht also davon aus, dass die Leserinnen und Leser mit anderen Sherlock-Holmes-Geschichten vertraut sind. Durch diese Querverweise entsteht eine redaktionelle Rahmenerzählung (editorial narrative), der die Episoden zu einem literarischen Ganzen vereinigt. Interpreten sprechen gerne vom Sherlock-Holmes-Kanon, der aus vier Romanen und 56 Kurzgeschichten besteht. 3 In der Einleitung erklärt Watson, dass er diese Geschichte gewählt hat, um zu enthüllen, was bisher verborgen war. Und dazu gehört der handgeschriebene Brief. Es kann also mit guten Gründen behauptet werden, dass der historische Autor, Arthur Conan Doyle, von seinen Leserinnen und Lesern erwartet, dass sie zwischen der Stimme von Watson und Holmes auf der einen Seite und dem Inhalt der historischen Dokumente auf der anderen Seite unterscheiden können. Diese Geschichte lebt davon, dass Watson und Holmes den Text des Briefes von Lord St. Simon nicht verfasst haben. Cappricio Matthias Klinghardt hat in seinem Aufsatz Inspiration und Fälschung: Die Trans‐ zendenzkonstitution des Neuen Testaments den Begriff der „Echtheitsfiktion“ verwendet. 4 Den Ausgangspunkt bildet die Erkenntnis, dass die Kanonische Ausgabe des Neuen Testamentes durch Querverweise eine Geschichte erzählt. „Diese kleinen, verstreuten Informationen konstituieren eine Metaerzählung jenseits der Einzeltexte.“ 5 Als Beispiel führt er die Autorenangabe für das zweite Evangelium, Markus, auf. Die Metaerzählung über „Markus“ gibt zu erkennen, dass Paulus durchaus Grund hatte, Markus und seinem Vetter Barnabas zu zürnen (Act 15,27 ff.), ihm aber später offensichtlich verziehen hat: Er findet hohes Lob für seine treue Hilfe (2Tim 4,11). 55 Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion <?page no="56"?> 6 Ebd. 7 Beispiele: Daniel Defoe, Robinson Crusoe (1719); Mary Shelley, Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818); Bram Stoker, Dracula (1897), Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (1774). 8 Vgl. David Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Göttingen 1996. 9 Vgl. Barbara Aland/ Kurt Aland, Text des Neuen Testaments, Stuttgart 2 1989, 91. 10 „Οὐδʼ αὐτὸν οἶμαι τὸν κόσμον χωρῆσαι τὰ γραφόμενα βιβλία“ ( Joh 21,25). Dieses Beispiel zeigt, auf welche Weise der Herausgeber die Einzelschriften mit den darin sichtbar werdenden, teilweise stark divergierenden Positionen und den antagonistischen Handlungsträgern zu einer Einheit verbunden hat. 6 Petrus und Barnabas standen im antiochenischen Konflikt auf der einen Seite, Paulus auf der anderen Seite (Gal 2,11-14). Klinghardt weist darauf hin, dass die redaktionelle Rahmenhandlung des Neuen Testamentes als Sammlung von Einzelschriften nur funktioniert, wenn die Einzelschriften echt sind oder - im Sinne von Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten - Echtheitsfiktionen darstellen. Redigierte Sammlungen sind aber zugleich Erzählungen. Der redaktionelle Rahmen erzählt eine Geschichte. Dabei wechselt die Stimme des Herausgebers mit der Stimme der Autoren ab, die die herausgegebenen Quellen verfasst haben. 7 Menuett Die redaktionelle Rahmenerzählung der Kanonischen Ausgabe kann man in einem Satz zusammenfassen: Das Doppelwerk des Lukas ist seinem Heraus‐ geber Theophilus gewidmet, der zum ersten Band zwei Evangelien und zum zweiten Band die Briefe der Jerusalemer ergänzt, in einem dritten Band die Paulusbriefe herausgibt, und dann die fünf johanneischen Schriften, die er selbst beisteuert, an der passenden Stelle in die drei Bände einordnet, wobei er aber die Offenbarung als Einzelschrift veröffentlicht. Und so entsteht ein literarisches Werk in vier Bänden, auf das sich die gesamte handschriftliche Überlieferung der Kanonischen Ausgabe zurückführen lässt. 8 Die Bände sind das Vier-Evangelienbuch, der Praxapostolos (Apostelgeschichte kombiniert mit den katholischen Briefen), die Paulusbriefsammlung und die Offenbarung des Johannes. 9 Am Ende des Vier-Evangelienbuches meldet sich der Herausgeber, Theophilus, in der ersten Person Singular zu Wort und meint, dass Jesus noch sehr viel mehr getan habe, als in seiner Ausgabe dokumentiert ist. 10 56 David Trobisch <?page no="57"?> 11 Der Herausgeber der Johannesoffenbarung spricht zunächst über das Manuskript (Offb 1,1-3) und zitiert dann aus dem Manuskript des Johannes, das in erster Person Singular formuliert ist (Offb 1,4 ff). 3Joh 13 stellt sich als Autograph des Johannes dar: „οὐ θέλω διὰ μέλανος καὶ καλάμου σοι γράφειν”; vgl. 2Joh 12. 12 Die Überschrift des 1Joh ist in den Handschriften uneinheitlich überliefert. Zu „Iωαν(ν)ου πρωτη“ (A B 2 ) wird gerne „επιστολη“ ergänzt ( א 1 ). 13 „Ταῦτα γράφω“ 1Joh 2,1. Vgl. „Seht, wie große Buchstaben ich schreibe, wenn ich mit meiner eigenen Hand schreibe (Ἴδετε πηλίκοις ὑμῖν γράμμασιν ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί)“ (Gal 6,11). 14 Das Manuskript des Johannes, das im Johannesevangelium herausgegeben wird, be‐ ginnt wohl in Joh 1,19 mit der Überschrift „Καὶ αὕτη ἐστὶν ἡ μαρτυρία τοῦ Ἰωάννου…“. Der vorausgehende Prolog Joh 1,1-18 ist redaktionell. Während Theophilus im Evangelium von einem Autorenmanuskript spricht, das der im Titel erwähnte Jünger Johannes „bezeugt und aufgeschrieben hat“ ( Joh 21,24), und auch bei der Johannesoffenbarung und im 2. und 3. Jo‐ hannesbrief deutlich zwischen seiner Stimme und der Stimme des Johannes unterscheidet, ist die Situation beim 1. Johannesbrief keineswegs so klar. 11 Der literarische Kontext der anderen vier Johannesschriften legt allerdings nahe, dass Leserinnen und Leser auch beim 1. Johannesbrief die Edition eines Autographs vermuten dürfen. 12 Formulierungen in der ersten Person Singular, „Ich schreibe …“ verbunden mit der Angabe im Titel, dass dieses „Schreiben“ von Johannes stammt, bestärken die Annahme. Es darf also davon ausgegangen werden, dass der Herausgeber auch im Falle des 1. Johannesbriefes ein Autograph des Johannes in den Mittelpunkt seiner Ausgabe stellte, unge‐ achtet dessen, ob dieses echt war oder im Rahmen der Echtheitsfiktion nur so erscheinen sollte. Passepied Der sogenannte 1. Johannesbrief ist im Gegensatz zum 2. und 3. Johannesbrief kein Brief. Die typischen formalen Elemente fehlen. Die einleitenden Sätze nennen weder den Briefschreiber noch den Adressaten, noch enthalten sie einen Gruß. Mehrmals wendet sich der Autor, Johannes, jedoch direkt an die Leser und verwendet die erste Person Singular, „Dies schreibe ich euch“, was gut zu einem Autograph passt. 13 Die einleitenden Passagen des Johannesevangeliums und der Johannesoffen‐ barung sind von Theophilus formuliert. 14 Warum sollte sich also der Heraus‐ geber nicht auch in der Einleitung des 1. Johannes zu Worte melden? Die 57 Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion <?page no="58"?> 15 Die Zahlen markieren wiederkehrende Formulierungen und Motive. 16 Die Aussage des Herausgebers, nur das weiterzugeben, was „wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir uns angesehen und mit unseren Händen berührt haben“, beschreibt auf sehr konkreter Ebene seinen Anspruch, autographische Manuskripte des Johannes zu veröffentlichen. Parallelen zwischen der Eröffnung des 1. Johannesbriefes und dem Prolog des Evangeliums sind frappierend: 15 1Joh 1,1-5 Wir verkünden euch, was ❶von Anfang an war, was ❷wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir mit unseren Händen betrachtet und berührt haben, in Bezug auf das ❸Wort des Lebens - dieses Leben wurde offenbart, und wir haben es gesehen und bezeugen es, und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde - wir verkünden euch, ❷was wir gesehen und gehört haben, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt; und wahrlich, unsere ❹Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. ❺Wir schreiben diese Dinge auf, damit unsere Freude vollkommen sein kann. Das ist die Botschaft, ❷die wir von ihm gehört haben und ❻euch verkünden, dass ❼Gott Licht ist und in ihm überhaupt keine Finsternis ist. Joh 1,1.3-5.12-13 ❶Im Anfang war das ❸Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Er war am Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch ihn entstanden, und ohne ihn ist nicht eine Sache entstanden. Was in ihm entstanden ist, war ❸das Leben, und das Leben war das Licht aller Men‐ schen. ❼Das Licht scheint in der Dunkel‐ heit, und die Dunkelheit hat es nicht über‐ wunden … Aber allen, die ihn aufnahmen, die an seinen Namen glaubten, ❹gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden, die geboren wurden, nicht aus Blut oder dem Willen des Fleisches oder dem Willen des Menschen, sondern Gottes. Joh 21,24: Das ist der Jünger, der alles bezeugt und ❺aufgeschrieben hat, und ❻wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. Theophilus setzt voraus, dass Leserinnen und Leser der Kanonischen Ausgabe mit beiden Texten vertraut sind, und arbeitet mit Querverweisen. Das Wort ist in Jesus von Nazareth Fleisch geworden, es ist mehr als nur „was wir gehört haben“, es schließt auch ein „was wir mit unseren Augen gesehen haben, was wir betrachtet und unsere Hände betastet haben“ (1Joh 1,1). 16 Und „das Wort des Lebens“ im 1. Johannes (1Joh 1,1) erinnert die Leserschaft kurz und prägnant an die Ausführungen zur Schöpfungserzählung im Evangelium: Was durch Gottes Wort „entstanden ist, war das Leben“ ( Joh 1,4). Und schließlich beteuert der Herausgeber der drei Briefe, des Evangeliums und der Offenbarung des Johannes: „Das ist die Botschaft, die wir (Theophilus 58 David Trobisch <?page no="59"?> und seine Mitarbeiter) von ihm ( Johannes) gehört haben und euch verkünden“ (1Joh 1,5; vgl. Joh 21,23). Die Einleitung des 1. Johannes kann folglich als redaktioneller Prolog ver‐ standen werden. Sarabande Auf die Einleitung (1,1-10) folgt ein Abschnitt, der mit der Formulierung „Dies schreibe ich …“ beginnt und aus einem Autograph stammen könnte (2,1-27). Dieser Satz in der ersten Person Singular wechselt abrupt in die erste Person Plural zum „wir“, das den Leserinnen und Lesern des Prologs als Stimme des Herausgebers und seiner Mitarbeiter vertraut ist. Folgt man dieser Analyse, so erschließt sich ein Autograph des Johannes, der mit sechs Anmerkungen des Herausgebers, die im Folgenden mit „*“ versehen sind, durchsetzt ist. Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. *1 Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er selbst ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. / Und daran merken wir, dass wir ihn erkannt haben, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich habe ihn erkannt, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll so leben, wie er gelebt hat. Meine Lieben, ich schreibe euch nicht ein neues Gebot, sondern das alte Gebot, das ihr von Anfang an gehabt habt. *2 Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. Und doch schreibe ich euch ein neues Gebot, das wahr ist in ihm und in euch; denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint schon. *3 Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und durch ihn kommt niemand zu Fall. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet. Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. Ich schreibe euch Vätern; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt den Bösen überwunden. 59 Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion <?page no="60"?> 17 Versteht man auch das Johannesevangelium als Edition eines Autographs, so sind die redaktionellen Anmerkungen dort formal sehr ähnlich. David Trobisch, The Voice of John in the Canonical Edition, in: D. Collett et al. (Hg.), The Identity of Israel’s God in Christian Scripture, Atlanta 2020, 305-322. Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr habt den Vater erkannt. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden. *4 Habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit. - Kinder, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, sind jetzt viele Widersacher Christi aufgetreten; daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns. Denn wenn sie von uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns geblieben; aber es sollte offenbar werden, dass sie nicht alle von uns sind. Doch ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und habt alle das Wissen. Ich habe euch nicht geschrieben, als wüsstet ihr die Wahrheit nicht, sondern ihr wisst sie und wisst, dass keine Lüge aus der Wahrheit kommt. *5 Wer ist ein Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Das ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, der hat auch den Vater. - Was ihr gehört habt von Anfang an, das bleibe in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang an gehört habt, so werdet ihr auch im Sohn und im Vater bleiben. Und das ist die Verheißung, die er uns verheißen hat: das ewige Leben. Dies habe ich euch geschrieben von denen, die euch verführen. *6 Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehre; sondern wie euch seine Salbung alles lehrt, so ist's wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt in ihm. Jede dieser Anmerkungen nimmt auf ein Wort oder auf eine Aussage des Auto‐ graphs Bezug. 17 In der ersten Anmerkung beziehen sich die Kommentatoren auf das Wort „sündigt“ im Text des Johannes und wechseln vom Singular in die erste Person Plural: „Wir haben einen Fürsprecher beim Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.“ Diese Bemerkung ist allgemein und zeitlos. Die 60 David Trobisch <?page no="61"?> 18 Im Johannesevangelium enthält der redaktionelle Epilog auch ein Zitat aus dem Manuskript des Johannes ( Joh 21,2-23), durchsetzt von mehreren redaktionellen Anmerkungen ( Joh 21,19.21.23), und schließt mit persönlichen Bemerkungen des Herausgebers, der von der ersten Person Plural ( Joh 21,24) in den Singular ( Joh 21,25) wechselt. Die Offenbarung endet auch mit Zitaten aus dem Manuskript des Johannes und redaktionellen Kommentaren, und auch dort verwendet der Herausgeber zweite redaktionelle Anmerkung bezieht sich auf den Ausdruck „das alte Gebot“ im Text des Johannes. Die dritte bezieht sich auf das Wort „Licht“. Unter Bezugnahme auf „den Bösen“ interpretiert die vierte Notiz die Formulierungen des Johannes „von Anfang an“ und „das Wort Gottes“ aus dem Kontext der ersten Schöpfungserzählung in Genesis. Die böse Welt verwandelt die Unerleuchteten in Sklaven des sexuellen Verlangens und der Gier. Nur der Mensch, der den Willen Gottes tut, wird das ewige Leben empfangen. Die fünfte Notiz knüpft an das Wort „Lüge“ an und interpretiert es als Warnung vor dem Antichristen. Die sechste Anmerkung bezieht sich auf „die euch verführen“ und verkündet, dass die Salbung, die Leserinnen und Leser empfangen haben, „keine Lüge ist“. Polonaise Auf die Edition des Autographs folgt eine Homilie des Herausgebers in der vertrauten ersten Person Plural (2,28-5,12). Sehr wichtig sind dabei zwei Aussagen: dass Jesus ein Mensch und kein Geist war und dass Gott unsichtbar ist, aber in der Gemeinschaft der Gläubigen durch Liebe erfahren werden kann (1Joh 4,2.12). Der Schlussteil (5,13-21), der im Evangelium und der Offenbarung seine Parallelen hat, wird durch ein letztes Zitat aus dem Autograph eingeleitet, auf das eine redaktionelle Anmerkung folgt. Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt, euch, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes. * Und das ist die Zuversicht, mit der wir vor ihm reden: Wenn wir um etwas bitten nach seinem Willen, so hört er uns. Und wenn wir wissen, dass er uns hört, worum wir auch bitten, so wissen wir, dass wir erhalten, was wir von ihm erbeten haben. Im Folgenden spricht der Herausgeber in der ersten Person Singular, wie er es auch am Ende des Johannesevangeliums und der Johannesoffenbarung getan hatte: „Es gibt Sünde, die sterblich ist; Ich sage nicht, dass du darüber beten sollst“ (1Joh 5,16). 18 61 Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion <?page no="62"?> einmal die erste Person Singular: „Μαρτυρῶ ἐγὼ παντὶ τῷ ἀκούοντι τοὺς λόγους τῆς προφητείας τοῦ βιβλίου τούτου“ (Offb 22,18). 19 Beispiele: Horatius, ep. 1, der als Einleitungsbrief seinem Sammelband von Kunstbriefen vorangestellt wird. Cyprians ep. 73, die die beigefügten Briefe ep. 71 und 70 vorstellt (vgl. Hans von Soden, Die Cyprianische Briefsammlung. Geschichte ihrer Entstehung und Überlieferung, Leipzig 1904). Polykarps Brief an die Philipper, der die beigefügte bearbeitete Sammlung von Ignatiusbriefen vorstellt: „Sie sind diesem Brief beigefügt” (PolPhil. 13,2). Meiner Ansicht nach verwendet Theophilus das gleiche Genre im Heb‐ räerbrief, wo Paulus in seiner autographischen Subskription die Homilie eines unge‐ nannten Autors empfiehlt. Ebenso dient das handgeschriebene Empfehlungsschreiben für Phoebe als Beglaubigung der beigefügten Kopie eines Briefes nach Rom (Röm 16). Den 1. Johannes beschließt der Herausgeber, Theophilus, mit der zentralen christologischen Aussage der Kanonischen Ausgabe: „Und wir wissen, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns Verständnis gegeben hat, damit wir den erkennen, der wahr ist; und wir sind in dem, der wahr ist, in seinem Sohn Jesus Christus. Er ist der wahre Gott und das ewige Leben. Kinder, hütet euch vor den Götzen! “ (1Joh 5,21). Diese Struktur, die aus Leseanweisungen im literarischen Kontext der Kano‐ nischen Ausgabe entwickelt wurde, bestätigt die redaktionelle Rahmenerzäh‐ lung, indem sie erzählt, dass Theophilus, der Herausgeber des Johannesevange‐ liums und der Offenbarung, auch im 1. Johannes ein Autograph des Johannes mit redaktionellen Anmerkungen versehen und durch einen Prolog, eine Homilie und einen Epilog für die Veröffentlichung vorbereitet hat. Die Funktion eines zitierten Autographs besteht darin, die Leserschaft der Publikation von der Echtheit einer Schrift zu überzeugen. Die autographische Subskription des 2. Thessalonicherbriefs verdeutlicht dies. Paulus wehrt sich gegen einen gefälschten Brief „als wäre er von uns“ (2Thess 2,2) und schreibt deshalb am Ende: „Ich grüße mit eigener Hand. Paulus. Es ist das Echtheitszei‐ chen in jedem Brief. So schreibe ich“ (2Thess 3,17). Durch klare Kennzeichnung des Autographs suggeriert der Herausgeber, dass er das Original benutzt hat. Johannes erwähnt im Autograph des 1. Johannesbriefs, wem er schreibt und spricht sie als Kinder, Väter und junge Männer an, die eigentlich keine weitere Belehrung brauchen, nur Bestätigung und Ermunterung. Er spricht von seiner schriftstellerischen Tätigkeit, ohne ein bestimmtes Werk zu erwähnen. Im Rahmen der redaktionellen Erzählung der Kanonischen Ausgabe ist die Frage, welches Werk er meint, leicht zu beantworten. Das Autograph spricht von allen johanneischen Schriften: Evangelium, Offenbarung, 2. und 3. Johannesbrief. Die literarische Gattung des 1. Johannesbriefs wird dadurch bestimmbar als ein Begleitschreiben zu einer Veröffentlichung, so etwas wie ein Vorwort des Herausgebers zur Kanonischen Ausgabe. 19 62 David Trobisch <?page no="63"?> Und auch 3Joh lässt sich als Begleitschreiben verstehen, dem der 2Joh beigelegt war, auf den verwiesen wird mit: „Ἔγραψά τι τῇ ἐκκλησίᾳ.“ 20 Vgl. die Identifizierung des Herausgebers der Apostolischen Konstitutionen als den Arianer Julian in: Olympiodorus, Kommentar zu Hiob (PTS 24), hg. v. U. Hagedorn/ D. Hagedorn, Berlin 1984. 21 Der Ausdruck Antichrist wird im Neuen Testament sonst noch in 1Joh 2,18.22 ver‐ wendet, die laut obiger Analyse in redaktionellen Abschnitten stehen. Auch die Erwäh‐ nung in 2Joh 7 steht in einem Abschnitt, der nach denselben Kriterien als redaktionelle Anmerkung gesehen werden sollte (6-11): Er nimmt das Stichwort „lieben“ aus dem Autograph auf und kommentiert es. 22 Die Überlieferungskette der Kanonischen Ausgabe, deren redaktionelle Rahmenerzäh‐ lung Irenäus referiert (Adv. Haer. 3,1,1), beginnt nach Irenäus mit Linus (1Tim 4,21) und führt von dort über Polykarp und Anicetus in die Zeit des Irenäus (Adv. Haer. 3,3,3 f.). Gigue Wie Dr. Watson im Sherlock-Holmes-Kanon ist auch Theophilus nur eine literarische Figur. Pseudonyme Herausgeber von redigierten Sammlungen und Autoren lassen sich identifizieren, wenn es gelingt, Schriften zu finden, die die Person unter eigenem Namen veröffentlicht hat und die dieselben individuellen Formulie‐ rungen und Überzeugungen enthalten. 20 Übernimmt man die oben ausgeführte Strukturanalyse, so stehen außer der Einleitung und dem Epilog auch noch der Text der ausgedehnten Homilie zur Auswertung zur Verfügung. Und hier zeigt sich an einer Stelle eine eindrucksvolle Übereinstimmung zwischen dem 1. Johannesbrief und dem Brief des Polykarp an die Philipper, nämlich die Aussage zum Antichristen. 21 Polykarp schreibt in seinem Brief an die Philipper (7,1): „Jeder, der nicht bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, ist Antichrist.“ Der 1. Johannes enthält dieselbe Aussage: „Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der ist von Gott; und ein jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, der ist nicht von Gott. Und das ist der Geist des Antichrists, von dem ihr gehört habt, dass er kommen werde, und er ist jetzt schon in der Welt“ (1Joh 4,2-3). Wenn es um die Provenienz der Kanonischen Ausgabe geht, ist Polykarp von Smyrna kein Unbekannter. Irenäus überliefert, dass die Kanonische Ausgabe des Neuen Testaments unverändert von den Kirchen Asiens aufbewahrt worden war und Mitte des zweiten Jahrhunderts von Polykarp nach Rom gebracht wurde. 22 In seiner Beschreibung Polykarps hebt Irenäus drei Beobachtungen hervor, die in der redaktionellen Rahmenerzählung der Kanonischen Ausgabe zum Ausdruck kommen: Polykarp bewahrte die Worte des Johannes und der 63 Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion <?page no="64"?> 23 Eusebius, h.e. 5,20,5-6. 24 Vgl. Tertullian, Adv. Marc. 4,4. 25 Matthias Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (TANZ 60), 2 Bde., Tübingen 2 2020. - Polykarp erwähnt Crescens dankbar als seinen Sekretär, der den Brief an die Philipper niederschreibt (PolPhil 14,1). Sollte Crescens auch bei der Erweiterung der Marcionitischen Ausgabe zur Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments „federführend“ gewesen sein, so hat er sich und seinem Bischof wahrscheinlich ein literarisches Denkmal gesetzt in dem Satz des Paulus: „Den Mantel, den ich in Troas ließ bei [Poly-]Karpus, bringe mit, wenn du kommst, und die Bücher, besonders die Pergamente (τὰ βιβλία μάλιστα τὰς μεμβράνας).“ Die Autographen, die Theophilus in Rom veröffentlicht, stammen aus einem wunderbaren Fund in Troas. Crescens bringt seinen eigenen Namen im vorhergehenden Satz unter (2Tim 4,10). Zeugen, die Jesus mit eigenen Augen gesehen hatten, und er deutete die Bücher als Erfüllung der heiligen jüdischen Schriften. 23 Der Polykarpbrief zeigt außerdem formale Parallelen zum 1. Johannesbrief. Er ist ein Begleitschreiben zu einer Ausgabe der Ignatiusbriefe, die Polykarp herausgegeben hat und für deren Echtheit sich Polykarp persönlich verbürgt, und er enthält ebenfalls eine Homilie des Autors an die implizierten Empfänger in Philippi. Außerdem war Polykarp ein prominenter Gegenspieler Marcions, was die anti-marcionitische Tendenz der Kanonischen Ausgabe erklären könnte. Polykarp selbst darf allerdings nicht namentlich erwähnt werden, da sich die Kanonische Ausgabe sonst in die Reihe der vielen zeitgenössischen Publika‐ tionen des zweiten Jahrhunderts einordnen müsste, gegen die die ersten doku‐ mentierten Leser polemisieren. 24 Es wäre also denkbar, dass sich Polykarp hinter dem Pseudonym Theophilus, des fiktiven Zeitgenossen des Lukas, verbirgt. Vor dem Hintergrund der von Matthias Klinghardt sorgfältig dargestellten Theorie der Marcionpriorität ergibt sich daraus, dass die vielen kanonischen Interpola‐ tionen und die zur Marcionitischen Ausgabe ergänzten sechzehn Schriften aus dem Umkreis des Polykarp und seines Sekretärs Crescens stammen. Crescens hatte dem Bischof schon bei der Ausgabe der Ignatiusbriefe und der Abfassung des Briefes an die Philipper beigestanden. 25 Wenn die Identifizierung von Polykarp als Herausgeber der Johanneischen Schriften korrekt ist, sind die Konsequenzen für die historische Platzierung der Kanonischen Ausgabe kaum zu überschätzen. Man hätte nicht nur den Herausgeber der fünf johanneischen Schriften gefunden, sondern auch den Herausgeber der interpolierten Version des Marcionitischen Evangeliums, den Herausgeber des Markus- und Matthäusevangeliums, den Herausgeber der katholischen Briefsammlung und den Herausgeber der interpolierten und um 64 David Trobisch <?page no="65"?> 26 Adv. Haer. 3,1,1; 3,3,3. 27 Als anschauliches Beispiel mögen die gefälschten Tagebücher Adolf Hitlers dienen. Siehe: Adam Sisman, An Honourable Englishman. The Life of Hugh Trevor-Roper, New York 2011. 28 Damit hätte auch die merkwürdige Information in einigen Handschriften der Kanoni‐ schen Ausgabe, dass sich Crescens nach Gallien abgesetzt hat, eine Erklärung gefunden: Crescens ist (symbolisch) zu Irenäus nach Lyon gezogen. Diese Lesart wird in 2Tim 4,10 von א C 81. 104. 326 vg st.ww sa bo pt ; Eus Epiph bezeugt. vier Briefe erweiterten Paulusbriefsammlung, deren Vorform durch Marcion belegt ist. So verlockend diese historische Einordnung klingen mag, so kann sie aber auch eine falsche Fährte sein, die von jemandem ausgelegt wurde, der Poly‐ karp nur als Bewahrer und nicht als Herausgeber der Kanonischen Ausgabe darstellen wollte. Es ist zunächst auffällig, dass die wichtigste Quelle sowohl für die redaktionelle Rahmenerzählung der Kanonischen Ausgabe als auch für das Provenienznarrativ aus derselben Feder stammt, nämlich der Feder des Irenäus von Lyon. 26 Wenn die erste Bezeugung eines Autographs und auch das scheinbar völlig unabhängige Provenienznarrativ aus der gleichen Hand kommen, ist auf dem Kunstmarkt große Vorsicht geboten. Bei nachgewiesenen Fälschungen wurden nur allzu oft sowohl das Kunstobjekt als auch das Provenienznarrativ von derselben Person geschaffen. 27 Sollte also die Kanonische Ausgabe von Irenäus stammen, der maßgeblich dazu beitrug, dass sie in der katholischen christlichen Bewegung autoritative Bedeutung erlangte, so wird Polykarp, der sich hinter dem Namen Theophilus verbirgt, zu Dr. Watson, der von Sherlock Holmes berichtet. Der Brief von Lord St. Simon entspricht dann den Autographen der Kanonischen Ausgabe. Die Rolle von Arthur Conan Doyle, der Dr. Watson erfunden und die Rahmen‐ erzählung geschaffen und veröffentlicht hat, entspricht Irenäus von Lyon, der die Gemeinden in Asien als Bewahrer und ihren Bischof Polykarp von Smyrna als historischen Zeugen stilisiert hat. 28 Zwei Meister der Echtheitsfiktion. 65 Klinghardts Begriff der Echtheitsfiktion <?page no="67"?> Mahl Ἀνδρὶ δὲ κεκμηῶτι μένος μέγα οἶνος ἀέξει. (Homer, Ilias 6,261) <?page no="69"?> 1 Examples of general surveys of an academic nature include S C H Ü R E R (1979), 575-590, and B I E T E N H A R D (1979). 2 R E N G S T O R F (1960); G O L B (1980; 1985; 1989). The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S . 1994. The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations. In Methods of Investigation of the Dead Sea Scrolls and the Khirbet Qumran Site: Present Realities and Future Prospects, M. O. W I S E , N. G O L B E T . A L . Eds. Ann NY Acad Sci 722: 251-267. Research on the Dead Sea Scrolls and related problems over the past 40 years has achieved a far-reaching communis opinio about their origin and general background: It is widely acknowledged that the scrolls stem from a somewhat sectarian, probably Essene, community that lived in a community center in the Judean desert, thus separating itself from the Jerusalem Temple and its priesthood and leading a cenobitic life in a monastery-like setting. This basic view which, of course, has taken a variety of forms, is derived first of all from the sectarian character of the Manual of Discipline (1QS) and related texts, such as the Order of the Congregation (1QSa) and the Damascus Covenant (CD). 1 Even the archaeological identification of the Khirbet Qumran site as a monastery-like community center with a refectorium, a scriptorium and so on, is primarily based on these texts. Given the great importance the sectarian character of these texts had for establishing the general view on the scrolls and the archaeological data, it is surprising how little effort has been made to seek historical analogies to those texts that might explain their genre as well as their contents. On the other hand, any criticism of the communis opinio about the origin of the Qumran scrolls, for example, the suggestion of a Jerusalem origin as claimed by K.-H. Rengstorf and, more recently, by Norman Golb, 2 must be able to explain to what sort of group these alleged “sectarian” texts could possibly apply. It is the purpose of this article to shed some light on this problem. Owing to the limited space available I will concentrate on the Manual of Discipline only, providing parallels to its genre as well as to its contents. I will present [252] my thesis first and then discuss it and draw some conclusions. The thesis is: The closest parallels to the Manual of Discipline in regard to genre and contents are Statutes of Hellenistic associations. The similarities between those statutes and <?page no="70"?> 3 Cf. H E N G E L (1988). 4 E.g., S C H N E I D E R (1963): H E N G E L (1978). 5 Cf. B A R D T K E (1961); T Y L O C H (1967); D O M B R O W S K I (1966); K O F F M A H N (1961); W E R N ‐ B E R G -M Ø L L E R (1969). 6 W E I N F E L D (1986). 1QS make it most likely that the group to which 1QS applies was such a religious association, rather than a cenobitic “sect.” I presume that it was a synagogue community. 1QS as a Statute of an Association It is widely acknowledged that Jewish life, culture, and religion not only in the Diaspora but also in Palestine was deeply influenced by Hellenistic culture in the aftermath of the Greek conquest. 3 In contrast to the vast literature on Qumran and its problems, only little has been said about the Greek influence on the Dead Sea Scrolls in general 4 and about the organizational similarities between Hellenistic associations and the yachad as described in 1QS. 5 In regard to this latter aspect of the organization, the recent and highly instructive study by Moshe Weinfeld on The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Sect represents a decisive improvement. 6 Weinfeld provides detailed analogies to most of the organizational and penal regulations of 1QS and CD from several Hellenistic associations. The analogies stated by Weinfeld relate to the following issues: 1. Procedure of admission, which includes prescriptions about a probationary period for the initiate, about the examination of the candidate (dokimasia), about his registration and an entrance-fee (eisēlysion) and about an initia‐ tion oath. 2. Disciplinary regulations about the gatherings, such as: disloyalty, seating and speaking in fixed order, disturbances of various kinds during the gatherings, insults and violence against members and priests, and absence from the assembly. 3. Many issues of the more general ethical teaching are paralleled by statutes of Hellenistic associations, such as: the prohibition against appealing to an outside court; the obligation of mutual aid between the members of the association (in CD); the general reqirement of purity. 4. Regulations of jurisdiction within the group, pertaining to such matters as: membership in the court of the association, witnesses and proof, the 70 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="71"?> 7 The co-existence of religious (priests, Levites) and “secular” (president, treasurer, elders) functionaries is typical for pagan associations as well as for 1QS. 8 The Hebrew term yachad and ha-rabbîm are paralleled by the Greek koinon and hoi polloi/ hoi pleinones: W E I N F E L D (1986), 10-19; D O M B R O W S K I (1966). 9 W E I N F E L D (1986), 7 f. Cf. also his summary, p. 104: “All these formalities common to the religious guilds and associations of the Hellenistic and Roman period do not affect the nature of the Judeo-Christian sects which was altogether different from its contemporaneous sects.” 10 Differences listed in W E I N F E L D (1986), 46 f. His list of pagan statutes being compared to 1QS contains several Demotic and Greek statutes from Upper Egypt, and only three codes from Greece (among them the famous code of the Athenian Iobacchi). Thus, he completely neglects the Roman texts and almost completely the Greek texts (cf. below, n. 23). modality of re-applying for apostates and reconciliation, different kinds of penalties, and so on. [253] Thus Weinfeld not only proved that most of the detailed regulations contained in 1QS have close analogies in the statutes of pagan associations, but also demonstrated that the whole organizational structure of the yachad was nearly identical to those associations: the structure of offices and officeholders is identical 7 as is the groups’ self-designation. 8 Yet, Weinfeld did not draw the one necessary conclusion: the identity between the statutes of Hellenistic associations and the groups represented by 1QS and CD did not lead him to the obvious suggestion of identical kinds of groups. He limits the similarities to the “external form and structure” and claims a uniqueness of the “sect’s” basic ideology and nature. 9 For Weinfeld, the group to which 1QS applies remains a “sect” and does not become an association. Weinfeld supports this clearly ideological refusal to identify the community of 1QS as an association by stating several differences. It is worthwhile to discuss at least those differences related to matters of organization, because, in my opinion, these differences are due to the fact that Weinfeld takes only very few pagan statutes into account for his comparison, thus neglecting the majority of Greek and Roman material. 10 1. Sacrifices, obligations and gatherings in temples are mentioned in pagan statutes, but not in 1QS or CD. Weinfeld explains this absence with the commonly acknowledged hypothesis of the “Qumranites’” separation from the Jerusalem Temple and its sacrificial cult. But I think one does not have to go so far. There existed many associations - actually, probably the majority - which obviously did not perform any sacrifices, although a libation in honor of the eponymous deity was usually connected with the communal gathering that followed the 71 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="72"?> 11 I give only a few of the well-known examples: The code of the Zeus Hypsistos association only mentions a posis, a drinking party, but no sacrifices (for text and commentary see R O B E R T S , S K E A T & N O C K 1936). The famous statutes of the worshippers of Diana and Antinous, a collegium funeraticium from Lanuvium in Italy, mention various kinds of gatherings; but even on festive days they only have a symposium which is accompanied by the libation “ture et vino,” without sacrifices, although the gatherings take place in the temple of Diana and Antinous: D E S S A U (1892 ff.), no. 7212 (col. II, lines 23-30). 12 W E I N F E L D (1986), 46: “… in a sect whose members live within a common framework, in the same place, there is no need to propound and encourage participation in mourning rites and their like” (my italics). 13 E.g., the statutes of a private association in Philadelphia/ Lydia: S O K O L O W S K I (1955), no. 20; the code of the Zeus-Hypsistos association (P.Lond. 2710): R O B E R T S , S K E A T & N O C K (1936); the Milesian Molpoi: S O K O L O W S K I (1955), no. 50. This list could easily be expanded. 14 Cf. B Ö M E R (1957), 466. communal meal and preceded the symposium. 11 Almost no association in Hellenistic-Roman times existed without some kind of religious ceremony, but sacrifices (combined with sacrificial meals) were performed primarily by public rather than private cult-associations, which usually had a social rather than a particular cultic function. Although communal meals were a regular [254] part of the life of pagan associations, they were not necessarily linked to sacrifices. The fact that the yachad obviously did not perform any sacrifices is therefore not a “Qumranite” peculiarity to be explained by the opposition to the Jerusalem Temple. 2. No mention of burial and funeral regulations is made in 1QS, whereas such ordinances were an important part of pagan statutes. Again, Weinfeld explains this difference by invoking the remote, cenobitic situation of the sect in the Judean desert. 12 At first glance this is an important argument, since not only the Demotic statutes from the Fayyûm mentioned by Weinfeld have specific burial regulations, but also the major part of private collegia from Rome, the so-called collegia funeraticia. But again many statutes of private associations do not mention burial regulations at all. 13 Whether an association took care of its member’s burials or not was primarily dependent on its social level: only people of a low social level, who could not privately secure their own burial for financial reasons, were in need of support for funerals provided by an association. 14 The Roman collegia funeraticia are found among the collegia tenuiorum which were formed completely, or at least to a great part, of slaves and libertini of a low social level. Therefore, the lack of burial regulations in 1QS is rather an indication of the yachad’s social level than an argument for its sectarian character. 72 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="73"?> 15 E.g., the association of Epicteta in Thera (H I L L E R V O N G A E R T I N G E N [1907] no. 330); the association of Diomedon in Kos (D I T T E N B E R G E R [1898/ 1901], no. 734); the deed of foundation of the association of Antistheros in Thera provides that the interest of the endowment should pay for the costs of assemblies (synagōgai! ): H I L L E R V O N G A E R T I N G E N [1907], no. 329, line 15. See in general L A U M (1914). 16 E.g., Milesian Molpoi: S O K O L O W S K I (1955), no. 50; for details and further examples cf. the instructive commentary by von W I L A M O W I T Z -M O L L E N D O R F F (1904), ad loc. 17 This is the case with accounts for the supply of assemblies of associations: There is a wax tablet (M O M M S E N [1873], p. 953 [tab. cerat. XV]) mentioning different kinds of food. Tebtunis Papyri 118 177 224 (G R E N F E L L , H U N T , S M Y L Y & G O O D S P E E D : 1902/ 07) are accounts for the supply of assemblies of associations from Tebtunis, containing the amounts of individual contributions; these texts are accounts, but not the statutes of those associations. 18 Cf. C A P P E R (1986). In this respect, it is interesting to see that the obligation of mutual aid (i.e. financial support) does not appear in 1QS, whereas the statutes of the Damascus Document include such regulations (VI 20 ff.; XIV 12 ff.). At least one difference between the yachad of 1QS and the “people of the camp” in CD seems to be the social level of their members. 3. The lack of ordinances concerning the payment of membership fees and pecuniary fines in 1QS is explained as the result of the sect’s joint participation in property and thus serves as an argument for the sectarian, cenobitic character of the Qumran yachad. But the suggestion that there ever existed joint partici‐ pation in all possessions - be it in 1QS and pagan antiquity - must be seriously doubted. I give only a few hints: a. There existed many occasions whose members did not have to pay regular fees. This is not only true for those associations that were based on an endowment, 15 but for many others too, for in many cases the entrance-fee [255] was sufficicnt to provide for further expenses. 16 But it is not necessary to assume that regular fees besides the entrance-fee had to be mentioned in the statutes proper. Prescriptions about regular fees are mentioned only in statutes that were valid for one year only, as is the case with most of the Egyptian associations. The lack of such regulations in 1QS and many other Greek and Roman statutes does not necessarily mean that there were no such regular fees; there might have been further documents settling this matter. 17 b. Since the submission of private property to the yachad is mentioned only in connection with the initiation, this is most likely what is called in Greek associations the “eisēlysion”, the entrance fee. There is a famous early Christian parallel for this submission of property to the community at the occasion of conversion: The story of Ananias in Acts 5 does not deal with the problem that he retained part of his property, 18 but that he lied about it: this is exactly the problem 73 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="74"?> 19 Cf. K L A U C K (1982). 20 Plato, Leg 739C; Rep 424A; Aristotle, EthNic 1159B; 1186B; Diogenes Laertius, VIII 10; X 11; Jamblichus, Vita Pythag. 30,167 ff.; Diodorus Siculus V 9,4 and so on. 21 One example among many is the designation chous (pitcher for wine), which was used in various ways: In the association of the Attic eranistai of Men it means the monthly payment (cf. Hegesander, in: Athenaeus, Deipnosophists VIII 365D; P O L A N D [1909], 263 etc.); in the statutes of the Milesian Molpoi, chous is used for the public support for the association (S O K O L O W S K I [1955], no. 50, line 21); in the statutes of the Orgeones of Amynos from Piraios, chous means the regular fee, from which members of merit are exempt (ateleia tou chou: D I T T E N B E R G E R [1898/ 1901], no. 725, line 11). In none of those cases is it clear whether chous means money or wine. - For the exemption from regular payments (ateleia) cf. P O L A N D (1909), index s.v. of the ordinance 1QS VI 24 f. (in a modern context, it is like lying about one’s tax report). lt is very unlikely that the initiate had to submit all his possessions to the yachad, because otherwise the regulation about financial liability for damages (1QS VII 6-8) would make no sense at all. Besides, there exists no reference whatsoever that supports the idea that everything was submitted to the community. The very common ideal of sharing possessions, the famous “koina ta philōn” 19 does not mean submitting everything to the community. The especially numerous instances of this ideal relating to philosophers sharing possessions 20 make clear that it is realized as communal property of an association, in this case of philosophical circles. There does not exist a hint that even Pythagorean associations, which served as the exemplum par excellence for very close friendship and relation in Hellenistic-Roman antiquity, understood the ideal of sharing possessions other than putting together part of their private money. c. The lack of pecuniary fines sanctioning disciplinary offences in 1QS, as can be found in many pagan associations, is not quite as clear as maintained. The penalties of the laws on communal judgment (1QS VI 24 ff.) designate different periods of time that are usually understood as temporary (or, in severe cases, absolute) exclusion from the community. Yet, the first of these regulations sanctioning lying about property to be submitted to the community [256] (VI 24 f.) names a temporary exclusion from the purities of the “many” and besides that a reduction of a quarter of the portions of the meal. The following regulations only stipulate a temporary fine; it is not clear whether this is related to an exclusion or to a diminution of meal portions. If the latter is the case, this would come very close to the pecuniary fines of pagan associations, because in many statutes money is equated with naturals (e.g., wine, bread, and oil) both in regard to the contributions for the assemblies or to the honors granted to members of merit. 21 Therefore, the diminution of portions of the communal meal in 1QS as a disciplinary sanction is very similar to pecuniary fines. 74 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="75"?> 22 Cf. S A N N I C O L O , M. (1972). 23 For Egyptian associations cf. D E C E N I V A L (1972); S A N N I C O L O (1927); S A N N I C O L O (1972). For Greek associations cf. P O L A N D (1909); Z I E A R T H (1896). For Roman associations cf. L I E B E N A M (1890); W A L T Z I N G (1895/ 1900). - A more recent summary of research on Greek and Roman associations is H E R R M A N N , W A S Z I N K , C O L P E & K Ö T T I N G (1978). A more thoroughgoing description of Hellenistic associations that takes into account the evidence published in the last 70 years is still a desideratum. 24 Of course, not only Weinfeld made this claim; the same is true for B A R D T K E (1961), K O F F M A H N (1961), S C H N E I D E R (1963), H E N G E L (1978), and many others. 25 This is, by the way, another analogy to the Greek associations in particular: The general structure of Hellenistic-Greek associations (different functionaries in contrast to the whole body of the assembly) reflects the political structures of the polis; although this adaption of polis-structures by the associations reaches back to the earliest examples, an enormous increase can be observed in Hellenistic times, when the polis had lost its predominant importance for structuring public life, cf. L E V I N E (1985). So far, the differences in organizational structure between 1QS and the statutes of Hellenistic associations as stated by Weinfeld are not convincing. His concentration on only a few Egyptian associations has misled him into assuming an overall uniformity concerning even details which at least partially are due to the very peculiar organization of Egyptian associations. 22 But if one takes into account the abundant epigraphal evidence for Hellenistic associations in general 23 (of which the statutes form only a very small part) it is evident that the description of the communal life in 1QS perfectly fits into the general structure of those associations. Clearly the group to which the serekh of 1QS applied was organized exactly like an association. That means that the so-called “sect” was a private association in a legal sense. The accuracy with which the statutes, the serekh, are formulated does not allow any doubt that its members understood themselves to be anything other than members of an association, not of a cenobitic sect (if this social form can be determined at all). The often claimed religious uniqueness of the so-called Qumran sect, that would diminish its compatibility with Hellenistic associations, 24 must therefore be understood differently: the particular Israelite theological (and social! ) concepts, such as covenant, purity, holiness, etc. were, under the altered circumstances of the Hellenistic culture, realized in the categories of [257] religious associations and thus achieved innovative social concretion in a new political and social setting. 25 Before turning to the question of what kind of association the yachad might have been, it may be useful to add two conclusions at this point: 1. The first conclusion is of methodological importance. Taking seriously the Hellenistic culture as the all-encompassing area in which comparative study with the Qumran texts must be done, one has to take early Christian instances into account as well. The fact that early Christian congregations were 75 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="76"?> 26 The proof of the identical organizational structure of early Christian communities and pagan associations is a desideratum, although important preliminary work was done more than 100 years ago: H E I N R I C I (1876; 1881). See also K Ö T T I N G (1978). 27 W E I N F E L D (1986), 47. 28 W E I N F E L D (1986), 47. 29 Characteristically, both 1Cor and the Did end with an eschatological outlook (1Cor 15; Did 16) that serves as a motivation to obey the regulations of the statutes given before. 30 E.g., M U R P H Y -O ’ C O N N O R (1979); S T E G E M A N N (1988) etc. organized like pagan associations has been well known for more than 100 years, although recent research does not pursue this lead. This organizational analogy must imply sharing the same cultural and economic world, rather than simply depending on earlier ( Jewish or pagan) congregations. In this respect, Paul’s first letter to the Corinthians (1Cor) can be seen as a first attempt to give this community an organization similar to other associations. 26 The Didache (Did), a church order from the 1 st century C.E., appears to be the earliest instance of a fully formulated nomos or code of a Christian association. If one takes early Christian congregational rules as further examples of Hellenistic-Roman statutes, other first-glance differences between 1QS and Hellenistic associations as stated by Weinfeld lose their significance. One of them is the “religious-moralistic rhetoric” 27 adjoining the ordinances in 1QS and CD, a feature which is not found in pagan statutes. The existence of such theological legitimation for ordinances in 1QS marks the difference between Jewish-Christian associations on the one hand and pagan ones on the other, but it is certainly not a “Qumranic” particularity. The early Christian statutes (i.e., 1Cor and the Didache) certainly contain “religious-moralistic rhetoric” along with ordinances, and the dualistic teaching about the two ways in Did 1-6 is clearly similar to the passage about the two spirits in 1QS (paralleled, for instance, by the prayers provided by Did 9 f.) and the eschatological character (i.e., the formulation of the code “not only for the present but also for the ideal future” 28 ): eschatology is certainly no Qumranic peculiarity, but a feature common to all Jewish and Christian apocalyptic groups. 29 [258] 2. A second conclusion is related to the Qumran texts: The non-uniform lite‐ rary character of 1QS has often been stated. 30 Indeed, not only the teaching about the two spirits (1QS III 13-IV 26) seems to be a later, originally independent interpolation, but also the repetition of many single regulations and the clearly recognizable sections beginning with “these are the regulations” etc. disprove the literary integrity of 1QS; the same is true for CD. Without going into details, it is worth noting that many of the statutes of associations show the same literary non-uniformity, which results from changes that have been made through the 76 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="77"?> 31 P. Dem. Cairo 30605; 30606 in: S P I E G E L B E R G (1906/ 1908). 32 E.g., P. Dem. Berlin 3115: D E C E N I V A L (1972), 103-131. 33 Next to the statutes of the Delphic Labyades (D I T T E N B E R G E R [1898/ 1901], no. 438) see in particular the Roman fratres Arvalium, for whom statutes of several years are preserved that contained their culzic calendar: H E N Z E N (1874). 34 This is clear from the completely different groups of people participating in this meal, cf. 1QSa II 17 ff. to 1QS VI 4 ff. 35 K R A U S S (1922); S A F R A I (1976); S C H Ü R E R (1979), 423-463. 36 K R A U S S (1922); G O O D E N O U G H (1953/ 1969), vol. II, 70-100; A P P L E B A U M (1974). The great amount of epigraphal evidence from Rome permits a more detailed reconstruction of the local circumstances, cf. L E O N (1960). 37 Cf. the guild of barbers (synagōgē tōn koyreōn) near Heraclea Pontica from the first century C . E .: W A L T Z I N G (1895/ 1900), vol. III, no. 208, line 5 f. There are many more references for synagōgē designating the assemblies of pagan associations rather than the group itself, only a few of which are listed in S C H Ü R E R (1979), 430 n. 13; see further the indices s.v. συναγωγή in P O L A N D (1909) and W A L T Z I N G (1895/ 1900), and above, n. 15. years. There exist, for instance, several statutes of the Suchos-association of Tebtunis, 31 where later versions replace earlier ones that were valid for one year. In the case of this Suchos-association, the annual statutes were single documents, but there exist other examples where the replacing statutes are redactionally connected with the earlier ones. 32 In other cases, replacements and enlargements of earlier stages of the statutes are not due to the principle of annuity, but to changes concerning the contents of the statutes. 33 Likewise, it seems to imply that 1QS consists of several originally independent statutes or parts of statutes. This would apply not only to the different parts within 1QS, but also to the relationship between 1QS and 1QSa: 1QSa is certainly not simply an “appendix” to 1QS with an eschatological motivation for communal meals, but a completely different code. 34 The Yachad as a Synagogue Community In a second step we turn to the question of what kind of association the yachad of 1QS might have been. As I stated in the beginning, I assume it was a synagogue community. Unfortunately, our knowledge of the organization of Palestinian synagogue communities of the Hellenistic period is very meager and limited either to later (Rabbinic) sources or to archaeological evidence. 35 On the other hand, we know quite a bit about the organization of Diaspora synagogues. 36 [259] It is obvious that Diaspora synagogues were organized in very much the same way as pagan associations. The designation “synagogue” is not limited to Jewish communities, but also occurs for pagan associations. 37 Titles, offices 77 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="78"?> 38 For officers in pagan association cf. P O L A N D (1909), 337-423 and the index for the titles mentioned above; for Jewish references cf. the brief sketch in S C H Ü R E R (1979), 433-439. 39 I refer to the list of unpublished texts by T O V (1992). 40 Some readings in the preliminary publication of parts of 4QS b and 4QS d (V E R M E S , 1991) differ significantly from 1QS. Further disciplinary texts from cave 4 (4Q265 266 270), briefly discussed by B A U M G A R T E N (1992), show the same kind of differences regarding the penalties for disciplinary cases. The synopsis of penalties given by B A U M G A R T E N (ibid. 275-276) does not permit a final conclusion about the reltionship between 4Q265 266 270 and 1QS; the analogies, however, concern problems that are typical for disciplinary regulations of associations. Since these topics are unspecific for the yachad, it seems to be more likely that, in view of the differences, those new texts from cave 4 relate to different groups. 41 4Q513 514 = Ord b c : B A I L L E T (1982), 287 ff. 42 Athough the texts are fragmentary, the regulations about amount of money (4Q513, fr. 1), purity of food and eating (513 fr. 2; 514 fr. 1) together with a dating on a Sabbath (513 fr. 3/ 4), mentioning a memorial (ibid.), oil and incense (513 frs. 12/ 13) could be understood a spart of a statute of an association; for parallels cf. P. Dem. Cairo 30605 30606 31179 31178 30619 (S P I E G E L B E R G , 1906/ 1908), P. Dem. Prague (E R I C H S E N 1959) and many Greek and Roman references. The same could be true for 4Q477, labeled “Decrees of Sect” by T O V (1992) and recently published by E I S E N M A N & W I S E (1992), 269-273. and functions that are known from synagogue communities occur in pagan associations as well, first of all the archisynagōgos (which is exactly the same as the Hebrew ro’sh ha-knesset), but also titles like archōn, phrontistēs, hyperetēs, diakonos and so on. 38 In fact, it is impossible to distinguish between Jewish and pagan references to associations only on the basis of titles; Jewish origin of synagogue inscriptions can very often be ascertained only by particular Jewish names or by symbols such as the menorah or the shofar. Since pagan associations form the general social and organizational back‐ ground for both the yachad of 1QS and for synagogue communities, the most obvious suggestion is to identify the yachad as a Palestinian synagogue community. This has several consequences among which I will mention only a few. It has already been stated that 1QS, being a code of an association, can be seen as a composition of several originally independent statutes. If so, other texts and fragments from the Qumran caves can be interpreted in the very same way. This relates not only to CD and 1QSa, but also to further texts and fragments from the Qumran caves: 4Q255-263 (= 4QS a-j ) 39 are not necessarily (fragments of) copies of 1QS, but may as well represent similar statutes of different groups. 40 The same is true for the halakhic texts 4Q513 and 514, 41 since the regulations given in those texts would fit perfectly into the setting of the communal meal of an association. 42 78 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="79"?> 43 Pliny the Elder, Nat. Hist. V 73: “gens sola et in toto orbe praeter cetera mira.” Gens sola means that the Essens’ moral or ethical standards in regard to marriage and possessions are unique in the ancient world. [260] But even if the 4QOrd texts do not belong to such a social setting, and even if the alleged copies (4Q255-263) are indeed copies of one original, the suggestion that the yachad of 1QS was a synagogue community rather than a “sect” permits a determination of the relationship between this yachad and similar groups mentioned by Josephus and Philo: Both the Essenes (especially in Josephus’ description: Bell. II 119-161) and the Therapeutae (Philo, De Vita Contemplativa) have been seen as sectarian movements similar to the “Qum‐ ranic” yachad. But the similarity between those groups, which is basically their close community, can be explained more easily as characteristics of synagogue communities, even if the Essenes and the Therapeutae had some special features not common to other synagogues. The organizational features of the Essenes, such as their initiation ceremony with a probationary period, their assemblies and communal meals, the judgments and disciplinary regulations, are paralleled not only by the yachad of 1QS, but by many pagan associations as well. The same is true for Philo's description of the Therapeutae. The comprehensive and harsh apologetic sections about pagan symposia (VitCont 40-63) are necessary exactly because the Therapeutic assemblies and meals are so similar to their pagan counterparts. What Philo’s Therapeutae and Josephus’ Essenes have in common is not a particular sectarian character, but the typical characteristics of religious associations, which most probably were synagogue communities. There is one important objection to this perspective I must deal with: It can be - and it has been - claimed that these three groups - the yachad, the Essenes, and the Therapeutae - share not only a similar organizational pattern, but also the cenobitic life in some sort of community center which, in the case of the yachad, would be the Khirbet Qumran site. As far as the Therapeutae are concerned, it is worth noting that they did not live together; instead, Philo stresses the point that they lived solitary each in a house of his or her own and that they gathered only on Sabbaths for their assemblies (VitCont 21-24). Since Josephus nowhere mentions a center of cenobitic life for the Essenes, only Pliny’s statement remains that the Essenes near En-Gedi are a “solitary tribe.” 43 I cannot see that gens sola should mean that they lived in a monastery-like, cenobitic center. It might be important to recall the fact that, except for the claim that has been made for the “Qumranites,” there exists no reference whatsoever to cenobitic life in antiquity prior to the Egyptian monks of the 4th century C . E . And even those earliest forms of cenobitism did not emerge from a group that retreated to 79 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="80"?> 44 Cf. B A C H T (1956); S C H N E E M E L C H E R (1964). 45 For the Greek cults cf. S T E N G E L (1920); for Rome: L A T T E (1960). For Palmyra cf. M I L I K (1972) and the inscription of the association of Bêl-priests published by T E I X I D O R (1981). For the Semitic institution of the marzeah cf. B R Y A N (1980). 46 E.g., the private Lydian cult at Philadelphia: S O K O L O W S K I (1955), no. 20. 47 One could consider 1QSa and 4QOrd a (= 4Q159: A L L E G R O [1968], 6-9) as being related to the Jerusalem Temple. 48 For the mishmarôt and maᵉamadôt cf. S C H Ü R E R (1979), 237-313 (with bibliography). 49 S C H I F F M A N (1983), 191. seclusion as a group. Instead, this cenobitism was the result of a unification of many solitary hermits that, gradually, led to a communal [261] cenobitic life. 44 In this perspective, the suggestion of the existence of any cenobitic community in pre-Christian Judaism is against all historical probability. Once the possibility is granted that texts such as 1QS are statutes of associations, it would be possible to expand the range within which such associations could have existed. We know from countless Greek, Roman, and even Palmyrenian references that religious associations often were attached to temples and were entrusted with service and maintenance of the cult. 45 In those associations that were cult-associations in a narrow sense usually the priests of the cult were organized, but there were others that included laymen as well. 46 Without going into any detail, I want to point to the possibility that statutes found in the Qumran caves might possibly belong to assemblies of priests or Levites attached to the Jerusalem Temple. 47 If that could be proved, we would have first-hand evidence about the priestly organization in mishmarôt and maᵉamadôt.  48 Although highly hypothetical, this idea is of importance in view of the many references to cultic language, concepts, and matters in the Qumran scrolls. If it could be affirmed, those references would not have to be interpreted as a “spiritualization” of cultic ideas, but could indeed relate to the real cult. A final and more tangible conclusion I want to draw from this understanding of 1QS is related to the communal meal mentioned in 1QS VI 2 f., which has attracted a lot of attention among scholars of Christianity because of its similarity to the early Christian eucharist. The claim has been made that the three references to communal activities - “together they shall eat, together they shall bless, together they shall take counsel” - relate to three different kinds of gatherings. 49 If the group behind 1QS is an association or a synagogue community, this is very unlikely, because what all associations of the Helle‐ nistic-Roman world have in common is the way they assemble: this is probably the steadiest feature of all in the life of associations. The assemblies always consist of three parts: they begin with a communal meal (Gr. deipnon, Lat. 80 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="81"?> 50 Still the most instructive study is S A N N I C O L O ’s description of disciplinary jurisdiction of associations in Ptolemaic Egypt (1927). 51 E.g., S C H I F F M A N (1983), 191 ff. 52 Cf. F O E R S T E R (1982); N E T Z E R (1982); Y A D I N (1982). The same could be said about some of the older Diaspora synagogues, e. g., in Delos. 53 M A R T I N (1931); S T E I N (1957). cena) that was followed by the libation. The religious ceremony of the libation, originally the concluding part of the meal, was usually accompanied by the paian, a religious hymn that was sung in unison. What followed was the symposium proper, a drinking party. This was generally the most important part of the meeting in which the actual life of the community took place. The [262] symposium provided the opportunity for honoring members of merit, for counseling disciplinary cases (actually a very important part of communal life), 50 and for entertainment, which often consisted of learned conversation and teaching. It is obvious that the three communal activities of 1QS VI - even in correct order - relate to this very kind of assembly. The particular character of the “Qumran meal” must be determined in this perspective: it is “sacral,” meaning it is not an everyday meal. The requirements of purity, of priestly domination, of certain disciplinary prescriptions do fit perfectly into the setting of the meal of any religious association. It is, therefore, not even necessary to determine the religious character of this meal in the light of the messianic meal of 1QSa, although this religious aspect cannot be excluded for certain. 51 The question is then: Can it be that those activities of eating, blessing and taking counsel refer to the worship service of the yachad synagogue? There are some hints that this might be true. It is well known that the architecture of Second Temple synagogues is very similar to the triclinium, the assembly hall for common meals and symposia; the synagogue in Masada was actually built in a triclinium.  52 The architectural resemblance between triclinia and synagogue buildings is not at all surprising, if synagogue communities not only shared the organizational form of associations, but also led a similar life, which took place in the triclinia. Besides, it is not surprising that scriptural readings could have taken place in such a setting. I already mentioned the conversation at the occasion of the symposium. This conversation was such an important feature that a whole literary genre emerged from it, the symposia literature. This literature, which existed from Plato to the Middle Ages, was primarily a didactic genre, often in the form of the erotapocrisis - that is, questions and answers. 53 If these questions and answers were related to biblical writings, as is the case with Philo’s Quaestiones in Genesim and in Exodum, the result would be exactly what Philo says about 81 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="82"?> 54 Aulus Gellius states several times that interpretation of texts and discussion of exege‐ tical problems took place at symposia: These are the symposiaka zētēmata (NoctAtt II 22; II 27; III 19 etc.). the teaching in the assemblies of the Therapeutae - an allegorical interpretation or exegesis in the setting of a symposium-meeting. 54 I will stop here, since proving these suggestions is beyond the scope of this paper. But it is important to recognize their possibility, as it could shed light on the pre-Rabbinic origin and history of synagogue worship. Let me finally point to the general importance of interpreting 1QS and the group to which it applies in the light of Hellenistic associations. Although there is no question about the intensive encounter of Greek and Jewish religion [263] and culture in Hellenistic Palestine in general, it has not yet been spelled out what consequences this could have. The Qumran writings must be seen much more in the light of Greek-Hellenistic culture than has been done so far because this is the only reasonable way to provide productive historical parallels to them that are able to break up the isolation of a “sectarian” setting. Comparing 1QS to statutes of pagan-Hellenistic associations is of great methodological importance: these analogies are the only ones relating to the organization of the yachad we have so far - no matter how convincing they are in particular. In my opinion, the burden of proof lies with the critics of this perspective: any criticism must provide historical analogies that are more convincing than the statutes of Hellenistic associations. If, however, the Qumran texts are put into this wider context of Hellenistic culture, they might seem to lose the outstanding singularity partially responsible for the attention they have attracted. But this is not true. It is only Hellenism as the historical and cultural context of the Qumran writings that provides the means for understanding and evaluating 1QS. For if 1QS is seen in this cultural context of Hellenism - and if the statutes of Hellenistic associations are acknowleged to be the closest analogies - then 1QS gains a unique importance: It is the only documentary testimony about the organization of a Palestinian synagogue community in the second Temple period, thus shedding some light upon the crucial questions of origin and early history of synagogue communities in general. Beyond that, 1QS illuminates the way in which Hellenistic Judaism realized traditional religious values (such as purity, election, priestly orientation, etc.) in an altered cultural situation by adopting the social form of associations, thus bearing witness to the vital powers of Hellenistic Judaism and to its ability to accommodate itself to a new cultural and political situation without abandoning its religious identity. 82 The Manual of Discipline in the Light of Statutes of Hellenistic Associations <?page no="83"?> References A L L E G R O , J . M. 1968 Qumrân Cave 4. Vol. I (4Ql58-4Ql86). DJDJ V. Oxford. A P P E L B A U M , S. 1974 The Organization of the Jewish Communities in the Diaspora. In The Jewish People in the First Century: Historical Geography, Political History, Social, Cultural and Religious Life and Institutions. Vol. I. S. S A F R A I & M. S T E R N , Eds. Assen: 464-503. B A C H T , H. 1956 Antonius und Pachomius. Von der Anachorese zum Cönobitentum. 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Das Stichwort der postbaptismalen Sünde von Christen markiert ein Kernpro‐ blem der paulinischen Rechtfertigungslehre: Unter der Voraussetzung, daß die Rechtfertigung der Christen umfassend gültig ist und ihre eschatologische Rettung beinhaltet (1Thess 1,10; Rm 5,1; 8,33ff. usw.), stellt sich die Frage, ob und wie sich mögliche Sünden von Christen einerseits zu dieser Rechtfertigung verhalten und wie sie sich andererseits auf ihr Gerichtetwerden (Rm 2,12ff.; 14,10; 2Kor 5,10) auswirken, wenn denn die Taten der Menschen im Endgericht unparteiisch und unbestechlich (vgl. Rm 2,11; äthHen 63,9 etc.) offengelegt werden. In dieser Frage sind zumindest drei wichtige, jeweils umstrittene Themenfelder wie in einem Knoten geschürzt: Zunächst steht das paulinische Verständnis von Rechtfertigung insgesamt zur Debatte, insbesondere aber die beiden doppelten Verhältnisbestimmungen, die unter den Stichworten „Recht‐ fertigung aus Glauben - Gericht nach Werken“ bzw. „doppelte Rechtfertigung (in der Taufe und im Endgericht)“ verhandelt werden. Daneben steht korre‐ spondierend der Problemkomplex der Gerichtsvorstellung(en) bei Paulus, den die neuere Forschung auffallend stiefmütterlich behandelt hat. Zum gesamten <?page no="92"?> 1 Aus der Literatur ist wichtig: W. Beilner, Weltgericht und Weltvollendung bei Paulus, in: H.-J. Klauck (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung (QD 150), Freiburg u. a. 1994, 85-105; E. Brandenburger, Gerichtskonzeptionen im Urchristentum und ihre Voraus‐ setzungen. Eine Problemstudie, SNTU 16 (1991), 5-54; H. Braun, Gerichtsgedanke und Rechtfertigungslehre bei Paulus (UNT 19), Leipzig 1930; K. P. Donfried, Justification and Last Judgment in Paul, ZNW 67 (1976), 90-110 (mit der älteren Literatur); V. Fabrega, Eschatologische Vernichtung bei Paulus. Ein Beitrag zur Erhellung des apoka‐ lyptischen Hintergrunds, JAC 15 (1972), 37-65; G. Forkman, The Limits of the Religious Community (CB.NT 5), Lund 1972; I. Goldhahn-Müller, Die Grenze der Gemeinde. Studien zum Problem der Zweiten Buße im Neuen Testament unter Berücksichtigung der Entwicklung im 2. Jh. bis Tertullian (GTA 39), Göttingen 1989; G. Harris, The Beginnings of Church Discipline: 1 Corinthians 5, NTS 37 (1991), 1-21; D. W. Kuck, Judgment and Community Conflict. Paul’s Use of Apocalyptic Judgment Language in 1 Corinthians 3: 5-4: 5 (NT.S 66), Leiden 1992; G. W. H. Lampe, Church Discipline and the Interpretation of the Epistles of the Corinthians, in: W. R. Farmer et al. (edd.), Studies Presented to J. Knox, Cambridge 1967, 337-361; L. Mattern, Das Verständnis des Gerichtes bei Paulus (AThANT 47), Zürich 1966; K. Müller, Gott als Richter und die Erscheinungsweisen seiner Gerichte in den Schriften des Frühjudentums. Methodische und grundsätzliche Vorüberlegungen zu einer sachgemäßeren Einschätzung, in: H.-J. Klauck (Hg.), Weltgericht und Weltvollendung (QD 150), Freiburg u. a. 1994, 23-53; C. J. Roetzel, Judgement in the Community. A Study of the Relationship between Eschatology and Ecclesiology in Paul, Leiden 1972; H. Schuster, Rechtfertigung und Gericht bei Paulus, in: G. Hoffmann, K. H. Rengstorf (Hgg.), Stat Crux Dum Volvitur Orbis (FS H. Lilje), Berlin 1959, 57-67; K. Stendahl, Rechtfertigung und Endgericht, LuR 11 (1961), 1-10; E. Synofzik, Die Gerichts- und Vergeltungsaussagen bei Paulus. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung (GTA 8), Göttingen 1977; N. Walter, Die Botschaft vom Jüngsten Gericht im Neuen Testament, in: R. Rittner (Hg.), Eschatologie und jüngstes Gericht (FuH 32), Hannover 1991, 10-49; N. 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Wenn man die in Frage stehende Verhältnisbestimmung von Rechtfertigungs- und Gerichtsaussagen nicht für 92 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="93"?> 2 Etwa durch die Annahme, die Gerichtsvorstellungen seien ein „nicht überwundener jüdischer Rest“ (beispielsweise Lietzmann und Kuss), der für Paulus ohne jedes theolo‐ gische Gewicht sei. Reste dieser ansonsten weithin überwundenen Position finden sich etwa bei Roetzel, Judgement (s. Anm. 1), 178: „it is a distortion of Paul’s thought to view justification by faith and judgment in a dialectical relationship.“ 3 Das war das prägnante Ergebnis von H. Braun (Gerichtsgedanke [s. Anm. 1), 90 ff.), der in dieser Frage bei Paulus Inkonsequenz bzw. eine bleibende Unausgeglichenheit diagnostizierte. 4 P. Wernle, Sünde bei Paulus (s. Anm. 1), 109 (dort gesperrt). 5 Windisch, Entsündigung (s. Anm. 1), 219 f. Windisch hat Wernles Ansatz modifiziert und stärker differenziert. Aber auch er hält es für bezeichnend, daß Paulus „den Hauptgedanken der Vergebungsbitte des Vater-Unser“ nicht kennt oder daß der Zusatz εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν in der paulinischen Herrenmahlsparadosis fehlt. 6 Zur Auseinandersetzung der Sündlosigkeitstheorie mit der reformatorischen Theologie vgl. Windisch, a.a.Ο. 524 ff. S. auch Wernle (ebd.): Die Reformatoren deuteten Rm 8,1 „so, dass der Christ von der Verdammnis des Gesetzes befreit sei, auch wenn er sündige …“ (statt „weil er nicht mehr sündigt“). 7 Synofzik, Vergeltungsaussagen (s. Anm. 1), 108. S. betont - zu Recht-, daß die Recht‐ fertigungsaussagen sowohl präsentische als auch futurische Aspekte einschließen, geht jedoch - zu Unrecht - davon aus, daß es sich bei diesem einheitlich gedachten Rechtfertigungsgeschehen immer darum handele, daß Sünder (sola fide und sola gratia) gerechtgesprochen werden. Charakteristisch ist die Auskunft, die Rechtfertigungsaus‐ sagen widersprächen „nicht den Gerichtsaussagen, sondern setzen diese voraus … Gott von vornherein überflüssig 2 oder für grundsätzlich unlösbar 3 hält, dann bleiben zwei charakteristische Modelle: Das erste vermittelt die Rechtfertigungsmit den Gerichtsaussagen durch die Annahme faktischer Abwesenheit von Sünden bei Christen (im Sinn des posse non peccare): Daß der Christ dem Vernichtungsgericht entrissen werde, beruhe darauf, „daß er nicht mehr sündigt bis zur Parusie.“ 4 Diese Sicht, ein genuines Kind der liberalen Theologie, versteht die christliche Existenz von der grundsätzlichen Bekehrungserfahrung der Entsündigung her; die Sünde von Christen ist daher, zumal bei der starken Naherwartung, eigentlich eine un‐ mögliche Möglichkeit, auf jeden Fall aber „etwas Anormales und Ungehöriges“: Charakteristisch sei, daß Paulus ein Bewußtsein für die Sünde von Christen eben gar nicht entwickelt habe. 5 [58] Die Sündlosigkeitstheorie bezieht ihre besondere Brisanz aus dem Gegensatz zur lutherischen Paulusinterpretation, die die Existenz des Christen mit der Formel „simul iustus ac peccator“ erfaßt. 6 Unter dieser Voraussetzung läßt sich das in Frage stehende Verhältnis von Rechtfertigungs- und Gerichts‐ aussagen etwa mit folgender Argumentation bewältigen: Zwischen der Recht‐ fertigung der Christen und ihrem Gerichtetwerden bestehe deshalb kein Wider‐ spruch, weil der Christ immer Sünder sei und also immer - auch im Gericht! - der Gerechtmachung sola gratia bedürfe. 7 Christen würden demzufolge im 93 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="94"?> allein wirkt die Rechtfertigung des Menschen durch seine Gnade, da der Mensch Sünder ist und bleibt und stets des richterlichen Freispruches Gottes bedarf “ (ebd., Hervorhebung M. K.) - die Sünde der Christen kommt daher überhaupt nicht als eigenes Problem in den Blick. Vgl. außerdem die Beiträge von Schuster und Stendahl (s. o. Anm. 1). Endgericht nicht aufgrund ihrer Sündlosigkeit gerettet werden, sondern trotz ihres Sünderseins. Nun liegt auf der Hand, daß beide Ansätze dem Problem nicht wirklich gerecht werden: Auf der einen Seite ist - gegenüber der Sündlosigkeitstheorie - deutlich, daß Paulus natürlich durchaus mit Verfehlungen von Christen rechnet, und es ist aufschlußreich, daß ein großer Teil der Stellen, in denen das zukünftige Gericht thematisiert wird, in paränetischen Passagen seiner Briefe begegnet: Wären Christen nach Meinung des Paulus automatisch und prinzipiell sündlos, hätte er sich die Paränesen insgesamt und deren Motivation durch den Hinweis auf das Gericht im besonderen sicherlich sparen können. Auf der anderen Seite widerspricht die lutherische Lösung - auch im Gericht werden Christen als Sünder gerechtgesprochen - dem grundlegenden Verständnis des Endgerichts: Das Gericht hat im zeitgenössischen Judentum und im frühen Christentum nie eine gerechtmachende, sondern immer - nur - eine offenbarende Funktion. Es deckt die verborgenen Taten der Menschen auf und gibt die Täter den Folgen ihres Tuns anheim, aber es macht niemals (! ) aus Sündern Gerechte: Wer im Gericht als Sünder erfunden wird, kann nur verurteilt, nicht aber freigesprochen werden, weil anders Gott kein gerechter Richter wäre. So wenig Paulus eine permanente Buße kennt, die dem lutherischen „täglichen Zurückkriechen in die Taufe“ entspräche, so fremd ist ihm [59] die Vorstellung eines bleibenden Sünderseins der Christen - die Argumentation in Rm 6-8 läuft vielmehr auf den Erweis des genauen Gegenteils hinaus. Man wird also urteilen müssen, daß beide Modelle den Knoten aus Recht‐ fertigungs-, Gerichts- und Bußproblematik nicht eigentlich lösen, sondern mit dem starken Schwert liberaler Sittlichkeitsforderung bzw. lutherischer Dogmatik einfach durchhauen. Wer das nicht will, ist gehalten, ihn behutsam zu entwirren. Dabei ist es sinnvoll, mit einem eindeutig identifizierbaren losen Ende zu beginnen: Im Unterschied zur großen Mehrheit der Untersuchungen, die bei den paulinischen Rechtfertigungsaussagen einsetzen, halte ich es für erfolgversprechender, zunächst diejenigen Aussagen zu untersuchen, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Verfehlungen von Christen und ihrem Gerichtetwerden herstellen, und erst von da aus auch die anderen Themen in den Blick zu nehmen. 94 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="95"?> 8 Vgl. D. Zeller, Der Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1985, 68: „Die Frage, ob auch vom Christen im Endgericht Werke verlangt werden, kommt hier (sc. Rm 2,1-12) also noch zu früh.“ Mißverständlich ist die Behandlung von Rm 2,5 ff. durch Mattern (Verständnis des Gerichtes [s. Anm. 1], 123 ff.) unter der Überschrift „Das Gericht über Christen“. 9 Jes 66,15 f. LXX; Jub 9,15; 36,10; SibOr III 72 ff.; äthHen 10,6.13; 54,1 f.6; 90,24 ff.; PsPhilo, LAB 23,6; 38,4; 39,9; 63,4; PsSal 15,4 f. usw. (weitere Belege bei Kuck, Judgment [s. Anm. 1], 180 mit Anm. 155). I. Es sind, bei Licht betrachtet, vor allem drei Texte, in denen Paulus die Verfehlungen von Christen in einen eindeutigen Zusammenhang mit ihrem Gerichtetwerden bringt: In Rm 2 ist nicht von den Verfehlungen von Christen die Rede, 8 und da, wo etwa in den Schlußparänesen Verfehlungen von Christen genannt werden (z. B. Gal 6,1; 1Thess 5,14), ist nicht vom Gericht die Rede. Auch der kurze Hinweis, daß Christen sich im Gericht zu verantworten haben werden (2Kor 5,10), läßt keinen Schluß auf ihre Verfehlungen zu (zu Rm 14,10-12 s. u.). Was bleibt, sind drei Passagen, die sich nicht zufällig im 1Kor (und nicht im Rm) finden: 1. In 1Kor 3,5-15 kommt Paulus im Zusammenhang seiner Kritik an den korinthischen Parteiungen auf die unterschiedlichen Leistungen der Apostel zu sprechen und argumentiert zunächst, daß alle Apostel, er selbst eingeschlossen, nur Mitarbeiter und Diener Gottes und darum letztlich gleich oder gleichrangig sind. Paulus erweitert diese Überlegung im Bild vom Bau höchst charakteristisch dahingehend, daß es entsprechend der unterschiedlichen Baumaterialien auch unterschiedliche Qualitäten von Bauen gibt: Wie gut das Werk eines Apostels ist, ob er mit Gold, Silber und Edelsteinen oder mit Holz, Heu und Stroh gebaut hat, wird sich am jüngsten Tag zeigen: Denn das „Werk wird im Feuer offenbar werden, und das Feuer wird das Werk eines jeden prüfen, wie es ist. Wenn das Werk, das einer errichtet hat, Bestand hat, wird er Lohn empfangen; wenn das Werk verbrennt, wird er bestraft werden; er selbst wird gerettet werden, aber wie durch Feuer (οὕτως δὲ ὡς διὰ πυρός)“ (1Kor 3,13-15). [60] Da das „Feuer“ im Rahmen von Gerichtstexten im Judentum und im frühen Christentum ganz häufig das Mittel ist, mit dem Gott oder sein Stellvertreter das eschatologische Gericht als Strafe oder Vernichtung der Sünder vollzieht, 9 hat man verschiedentlich für 1Kor 3 den Schluß gezogen, daß auch Paulus davon ausgehe, daß der unqualifizierte Apostel diesem Gericht unterworfen sei. In diesem Verständnis entspräche das „Offenbarwerden des Werkes“ am Gerichtstag der typischen Funktion des Endgerichts, die zuvor verborgenen Taten der Menschen hervortreten zu lassen, aufgrund derer den 95 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="96"?> 10 H. Hollander, The Testing by Fire of the Builders’ Works: 1 Corinthians 3: 10-15, NTS 40 (1994), 69-104. 11 Außerdem etwa die Erzählung über Abraham in PsPhilo, LAB 6,16 ff., der von Babylo‐ niern in einen Feuerofen gesteckt wird; zur Strafe läßt Gott durch ein Erdbeben Feuer aus der Erde hervorkommen, das alle verbrennt: „Dem Abraham aber geschah nicht einmal die geringste Verletzung bei dem Feuerbrand.“ - PsSal 15,4: „Die Feuerflamme und der Zorn der Ungerechten berührt ihn (sc. den Gerechten) nicht.“ 12 Beispielsweise SibOr II 252 ff.; TestIss 5,21 ff.; VisEsr 3-10. 13 Vgl. TestAbr (Rez. A) 13: „Und er prüft das Werk der Menschen durch Feuer (δοκιμάζων τὰ τῶν ἀνθρώπων ἔργα). Und wenn das Feuer das Werk von jemandem verbrennt, nimmt ihn sofort der Gerichtsengel und trägt ihn fort zum Ort der Sünder, einem sehr bitteren Strafort. Aber wenn das Feuer das Werk eines Menschen prüft und es nicht berührt (μὴ ἅψεται αὐτοῦ), dieser Mensch ist gerechtfertigt und der Engel der Gerechtigkeit nimmt ihn und trägt ihn hinauf, damit er gerettet wird zum Los der Gerechten. Und so, gerechter Abraham, werden alle Dinge in allen Menschen durch Feuer und Waage geprüft (ἐν πυρὶ καὶ ζυγῷ δοκιμάζονται).“ 14 Vgl. Sach 13,9 und die sich anschließende Diskussion zwischen Hillel und Schammai bRHSh 16b/ 17a. Gerichteten Lohn oder Strafe zuerkannt wird. Dementsprechend besagte dann die Aussage, daß der unqualifizierte Apostel „gerettet würde, aber wie aus Feuer“, daß er der endgültigen Verurteilung nur ganz knapp, mit letzter Kraft entkäme. Dagegen wurde jüngst gezeigt, 10 daß es eine verbreitete und relativ konstante Tradition von Gerichtsaussagen gibt, in der das Feuer im Rahmen des jüngsten Gerichtes nicht das Mittel zur Bestrafung oder Vernichtung ist, sondern der Beurteilung der Taten dient. Diese Tradition gründet sich auf die verbreitete Vorstellung, daß Feuer dem Gerechten nichts anhaben kann; der bekannteste Beleg dafür ist die Erzählung von den drei Männern im Feuerofen (Dan 3). 11 In einem zweiten Schritt wird diese Tradition so mit dem Feuer des eschato‐ logischen Gerichts verbunden, daß das Feuer als Erprobung der Gerechten dient; hier begegnet dann oft die Vorstellung eines brennenden Flusses, der durchquert werden muß und der die Sünder verbrennt, während die Gerechten ihn unverletzt durchqueren. 12 In diese Tradition fügt sich dann die Vorstellung nahtlos ein, daß im Gericht die Werke der Menschen durch Feuer geprüft werden, also genau die Vorstellung von 1Kor 3, die ganz analog auch im Testament Abrahams vorliegt. 13 [61] Dieser traditionsgeschichtliche Hintergrund macht deutlich, daß des Apostels „Rettung, aber wie aus Feuer“ weder ein Purgatorium 14 bezeichnet noch sein Entkommen vor dem Vernichtungsgericht, sondern (lediglich) die Überprü‐ fung seiner Werke. Die Bildlogik der Erprobung (nicht: Läuterung! ) der Werke durch das Feuer besagt mithin nicht, daß der unqualifizierte Missionar nur knapp, „mit angesengten Haaren“ dem Vernichtungsgericht entgeht, sondern 96 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="97"?> 15 Das impliziert, daß der qualifizierte Apostel, dessen Werk der Feuererprobung stand‐ hält, nicht nur gerettet wird, sondern noch etwas zusätzlich erhält - was, sagt Paulus nicht. Die Vorstellung einer Feuererprobung der Werke im Gericht ohne substantielle Gefährdung des Täters ist auch bei Laktanz belegt: „Dann werden die, deren Sünden nach Gewicht oder Zahl überwiegen, mit dem Feuer in Kontakt kommen und ange‐ brannt werden (perstringentur igni atque amburentur). Die aber die volle Gerechtigkeit und die Reife der Tugend eingefärbt hat, werden jenes Feuer nicht spüren. Denn sie haben von Gott etwas in sich, das die Kraft der Flamme zurücktreibt und abweist …“ (Div. Inst. VII 21,6; vgl. dazu auch R. Heiligenthal, Werke als Zeichen [WUNT II 9], Tübingen 1983, 260 ff.). Eine analoge Vorstellung liegt äthHen 61,8 vor, wo ebenfalls die Werke der Heiligen gerichtet bzw. gewogen werden. Aus dem Kontext erhellt, daß diese eigenständige Gerichtsaktion nicht über eschatologisches Heil oder Unheil urteilt; vielmehr werden die himmlischen Wohnungen für die Auserwählten (deren Rettung außer Frage steht! ) ausgemessen (61,1-4) - es gibt also unterschiedlich gute Wohnungen, die je nach Qualität der Werke zugeteilt werden. Diese Vorstellung liegt m. E. auch 2Kor 5,10 zugrunde: Der Lohn, den die Christen für „τὸ φαῦλον“, das sie getan haben, bei ihrem Erscheinen vor dem Richtstuhl Christi erhalten, ist nicht Vernichtung: Wie der unqualifizierte Apostel stehen sie mit leeren Händen da bzw. bekommen nur mindere Wohnungen zugeteilt. 16 Beispielsweise PGM IV 1246 f.; V 335 f. Vgl. dazu K. Berger, C. Colpe, Religionsge‐ schichtliches Textbuch zum Neuen Testament (TNT 1), Göttingen 1987, 231 und die Kommentare. 17 Das Possessivpronomen, das einige Übersetzungen an dieser Stelle (5,5) bieten („sein Geist“: Einheitsübersetzung, Jerusalemer Bibel usw., allerdings nicht bei Luther), hat keinen Anhalt im Text (ἵνα τὸ πνεῦμα σωθῇ). daß er nach der Überprüfung seiner Werke „abgebrannt und mit leeren Händen“ dasteht - daß der unqualifizierte Apostel gerettet wird, steht hier also überhaupt nicht in Frage. 15 Dadurch wird das Ausgangsproblem verschärft: Denn da nach TestAbr 13 derjenige, dessen Werk verbrennt, verurteilt wird, erhebt sich die Frage, was denn den schlechten Apostel zur Rettung qualifiziert. 2. Weiter führt der Fall des Unzuchtsünders aus 1Kor 5. Paulus spricht hier das Urteil über einen Mann, der mit der Frau seines Vaters verkehrt. Für diese Unzucht wird der Blutschänder „dem Satan übergeben zum Verderben seines Fleisches, ἵνα τὸ πνεῦμα σωθῇ ἐν τῇ ἡμέρᾳ τοῦ κυρίου.“ Verschiedene Analogien aus magischen Texten 16 scheinen nahezulegen, daß die „Übergabe an den Satan“ kein geistiger Akt ist, sondern einen leiblichen Schaden für den Betroffenen impliziert, der durchaus seinen Tod miteinschließen kann. Strittig ist jedoch, worauf diese „Übergabe an den Satan“ eigentlich zielt, genauer: [62] wessen Geist als Folge dieser Übergabe eigentlich gerettet werden soll. 17 Zwei Deutungen sind denkbar und werden diskutiert: Nach der einen geht es Paulus hier um den Schutz der Gemeinde: Sie soll den Unzüchtigen an Satan übergeben, damit ihr Geist, also ihre eigene religiöse 97 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="98"?> 18 Beispielsweise vertreten von A. Y. Collins, The Function of „Excommunication“ in Paul, HThR 73 (1980), 251-263. 19 ] עהל [ ריכ תא חור חיה ] ד [ 4Q477, frgm. 2 col. II, Z. 5 f. nach E. Eshel, 4Q477: The Rebukes by the Overseer, JJS 45 (1994), 111-122. Die Lesung des „ כ “ in ] עהל [ ריכ ist jedoch unsi‐ cher; möglich ist auch ] הל [ ריס „entfernen“ (so Eisenman/ Wise): „Weil er den Geist der Gemeinschaft beseitigt hat.“ - Falls in col. II, Z. 8 ( בהוא תא ריש ורשב ) „ ריש “ phonetische Schreibung für „ ראש “ ist, könnte es sich hier ebenfalls um ein Inzestproblem handeln („er liebt seine leibliche Verwandtschaft“; Diskussion und andere Deutungen bei Eshel, a. a. O. 11 f.). 20 Der ὄλεθρος τῆς σαρκός wäre dann in Analogie zu Rm 8,13 zu verstehen als Tötung der Taten des Leibes (bzw. des Fleisches, wie einige Handschriften sachlich zu Recht korrigieren) durch den Geist. Identität bewahrt werde. Für diese Sicht 18 spricht zunächst, daß Paulus πνεῦμα und σάρξ nicht im Sinn einer dichotomischen Anthropologie verwendet, so daß beide zusammengenommen einen ganzen Menschen ergäben. Daneben zeigt der gesamte Kontext mit Tadel (5,2.6) und Aufforderungen (5,4.7 f.11.13), daß es Paulus hier um das Verhalten der Gemeinde geht. Dieses ekklesiologische Verständnis der Übergabe an den Satan erhält schließlich eine weitere Stütze durch eines der unlängst publizierten Qumranfragmente, in dem ein Gemein‐ deglied zurechtgewiesen wird, weil er „den Geist der Gemeinde verwirrt“ hat. 19 Analog ist hier die Vorstellung, daß die Gemeinde als ganze den Geist hat, der ihre religiöse Identität verbürgt, und daß dieser Geistbesitz durch das Verhalten eines Gemeindegliedes beschädigt werden kann. Diese Deutung ist jedoch belastet durch den Zusatz, daß der Geist am Tag des Herrn gerettet bzw. bewahrt werden soll, denn das läßt sich vom Geist der Gemeinde im Sinn ihrer religiösen Identität nun gerade nicht sagen: Wenn πνεῦμα sich auf die Gemeinde bezöge, müßte die Bewahrung von jetzt an bis hin zum Tag des Herrn stattfinden. Man wird also die traditionelle Deutung nicht von der Hand weisen, daß Paulus hier eine - wenn auch etwas befremdliche - Art seelsorgerlicher Maßnahme zugunsten des Unzuchtsünders intendiert: Es geht um die Rettung seines Geistes. Dabei sind σάρξ und πνεῦμα nicht anthropologisch zu verstehen, sondern theologisch qualifiziert: Was an dem Unzüchtigen sündige Sarx ist, muß (jetzt) vergehen, 20 damit sein Geist am Tag des Herrn gerettet werden kann: πνεῦμα wäre dann die Instanz, die die Identität des christlichen Individuums verbürgt, was ja den physischen Tod des Unzüchtigen durchaus miteinschließen kann (1Kor 15,42 ff.). [63] Nun sind diese beiden Deutungen keineswegs sich gegenseitig aus‐ schließende Alternativen: Wenn Paulus sich primär an die Gemeinde wendet, an deren Reinheit er interessiert ist und deren Duldung des Unzüchtigen er kritisiert, so kann das die Bestrafung des Sünders mit der Perspektive seiner 98 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="99"?> 21 S. dazu Harris, Church Discipline (s. Anm. 1), 19. 22 Diese Überlegung hätte eine zusätzliche Stütze, wenn der von Paulus betrübte „Bet‐ rüber“ (2Kor 2,2.5 ff.) mit dem Unzuchtsünder aus 1Kor 5 identisch wäre, wie es etwa Lampe angenommen hat (Church Discipline [s. Anm. 1], 354 mit der älteren Literatur); dafür spricht, daß beide charakteristischerweise anonym bleiben, obwohl ihre Identität sowohl dem Paulus als auch den Korinthern bekannt gewesen sein muß (zum Phänomen der Anonymisierung von Eigennamen vgl. D. Trobisch, Die Paulusbriefe und die Anfänge der christlichen Publizistik, Gütersloh 1994, 111 ff.). Daß Paulus gar nicht mit dem physischen Tod des Blutschänders gerechnet hat, hat kürzlich auch J. T. South, A Critique of the ‚Curse/ Death‘ Interpretation of 1 Corinthians 5.1-8, NTS 39 (1993), 539-561, wahrscheinlich gemacht. 23 διακρίνειν τὸ σῶμα ist kaum auf die Unterscheidung von sakramentaler und profaner Speise zu beziehen, sondern auf die Qualität der Gemeinde als ein Leib, vgl. zusam‐ menfassend M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen 1996, 306 ff. endzeitlichen Rettung mit einschließen. 21 Möglicherweise hat er noch nicht einmal seinen (physischen) Tod vor Augen, sondern rechnet damit, daß die gemeinsame Aktion der „Übergabe an den Satan“ eine Strafe ist, nach deren Verbüßung der Unzüchtige wieder zur Gemeinde stößt. 22 Gestützt wird diese Sicht durch die Analogie in 1Tim 1,20, wo Hymenaios und Alexander dem Satan übergeben werden, „ἵνα παιδευθῶσιν“ - hier ist die Übergabe an Satan ganz eindeutig eine korrigierende Züchtigungsmaßnahme und beinhaltet nicht das ewige Verderben der beiden. Das aber heißt: Die Deutung der „Übergabe an den Satan“ im Sinn einer Kirchenzuchtmaßnahme ist von Paulus zumindest auch gemeint. Für die Frage nach dem Verhältnis von Sünde und Gericht von Christen muß man also folgern: Trotz der offenkundigen Unzucht und trotz der Schwere des Vergehens (5,1! ) kann der Blutschänder eschatologische Rettung erwarten. Folgt man der Terminologie, dann müßte man formulieren: Die Übergabe des Blutschänders an Satan verhindert, daß seine Unzucht (5,1) sein πνεῦμα dauerhaft beschädigt; sie gewährleistet vielmehr den Bestand seiner christlichen Existenz und verbürgt seine Rettung im Endgericht. 3. Wie man sich dieses Modell der zeitlichen Bestrafung zum Zweck ewiger Rettung vorstellen kann, zeigt der dritte einschlägige Text, nämlich 1Kor 11,28 ff. Im Rahmen seines Tadels des falschen Verhaltens beim Mahl argumentiert Paulus, daß derjenige, der „den Leib nicht richtig beurteilt“, 23 sich „das Gericht ißt und trinkt“ (11,29). Als Beweis führt Paulus an, daß einige Gemeindeglieder in Korinth bereits krank, schwach oder sogar gestorben sind und wertet dies als einen Vollzug von Gericht: „Denn als solche, die vom Herrn gerichtet werden, werden wir erzogen (παιδευόμεθα), damit wir [64] nicht zusammen mit der Welt verurteilt werden (ἵνα μὴ σὺν τῷ κόσμῷ κατακριθῶμεν)“ (11,32). 99 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="100"?> 24 Mit dem Verb δοκιμάζειν greift Paulus einen technischen Ausdruck des antiken Vereinslebens auf: Die Dokimasie bezeichnet in zahlreichen hellenistischen Texten den Vorgang der Überprüfung, ob ein Mitglied wirklich „vereinstauglich“ ist (s. etwa IG II 2 1369, Z. 33; Dittenberger, Syll. 3 1109, Z. 32 ff. etc.). 25 Falls die Überlegung (s. Anm. 22) zutrifft, daß der Unzuchtsünder 1Kor 5 und der „Betrüber“ 2Kor 2 identisch sind, hat Paulus die „Übergabe an den Satan“, die er ja gemeinsam mit der Gemeinde vollzieht (1Kor 5,4), als Bestrafung durch die Gemeinde verstanden (ἡ ἐπιτιμία αὕτη ἡ ὑπὸ τῶν πλειόνων, 2Kor 2,6). Paulus unterscheidet also zwei Gerichtsinstanzen: Auf der einen Seite steht das Endgericht, dessen Funktion Verurteilung (also wohl: endgültige Vernich‐ tung) der Welt ist. Daneben rechnet Paulus mit einem bereits jetzt „durch den Herrn“ vollzogenen Gerichtetwerden mit der Folge von Krankheit und Tod; man kann diesem Gericht zuvorkommen und ihm entgehen, indem man sich selbst überprüft und - so ist natürlich zu ergänzen - sich dementsprechend verhält. 24 Charakteristisch ist, daß dieses Gerichtetwerden eine erzieherische Funktion besitzt, die sich - nimmt man Paulus wörtlich - auch auf die Kranken, Schwachen und bereits Verstorbenen bezieht! Die Funktion des „vom Herrn Gerichtetwerden“ ist daher sowohl Mahnung und Warnung für diejenigen, die noch gesund sind, als auch Züchtigung für die Kranken und Entschlafenen. Es ist gerade diese Züchtigung, die die eschatologische Rettung der so vom Herrn Gerichteten verbürgt, wie die Schlußfolgerungen in 11,31 f. unmißverständlich deutlich machen. Damit erweisen sich die Vorstellungen in 1Kor 5 und 11 als konsistent: Es entsprechen sich die Übergabe des Blutschänders an Satan „zum Verderben des Fleisches“ auf der einen Seite und Schwäche, Krankheit und Tod derjenigen Korinther, die den Leib nicht richtig beurteilen, auf der anderen. In beiden Fällen handelt es sich um eine in der Zeit und damit vor dem Endgericht vollzogene Bestrafung. Auch die Funktion dieser Bestrafung 25 ist in beiden Fällen identisch: Wie die beiden Finalsätze - „damit (sein) Geist gerettet werde am Tag des Herrn“ und damit „damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden“ - zeigen, soll die Bestrafung in der Zeit vor der endgültigen Vernichtung im Endgericht schützen. In beiden Fällen steht dieses zeitliche Strafgericht an Christen dem eschatologischen Vernichtungsgericht gegenüber (5,13; 11,32). Vorausgesetzt ist also, daß Christen - und zwar offensichtlich schlicht qua Christsein - aufgrund der Züchtigung davor bewahrt sind, zusammen mit der Welt verurteilt zu werden, auch wenn sie sich verfehlt haben und sogar dann, wenn diese Verfehlung eine Art von Unzucht ist, wie sie nicht einmal bei Heiden vorkommt. 100 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="101"?> 26 Es sei denn, man versteht κέκρικα (1Kor 5,3) in qualifiziertem Sinn und läßt παραδοῦναι V.5 davon abhängig sein (also: „ich habe ihn bereits verurteilt … daß er übergeben werden soll“): Paulus würde dann, etwa wie in 2Kor 5,20, als πρεσβυτής Gottes sprechen und das Züchtigungsgericht an Christi Statt vollziehen. Aber das bleibt vage, zumal bei diesem Verständnis eine Mitwirkung der Gemeinde ausgeschlossen ist (so etwa Roetzel, Judgement [s. Anm. 1], 118; H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther [KEK 5], Göttingen 12 1981, z. St.), was mit 5,13 kaum zu vereinbaren ist. 27 Vgl. aber auch die abschließenden Hinweise 5,12 f., die sich auf den unmittelbar voran‐ stehenden Abschnitt 5,1-5 beziehen, also keinem verlorenen „Vorbrief “ angehören: Der Aorist ἔγραψα (5,9.11) ist Briefstil und präsentisch zu übersetzen (gegen W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/ 1, Zürich u. a. 1991, z. St.; vgl. H. Lietzmann, An die Korinther (HNT 9), Tübingen 5 1969, z. St.). 28 Brandenburger, Gerichtskonzeptionen (s. Anm. 1), 5 und passim. Daß mir Brandenbur‐ gers eigener Versuch einer Kategorisierung jüdisch-frühchristlicher Gerichtsvorstel‐ lungen nicht vollständig einleuchtet, sei schon hier vermerkt (s. u. Anm. 43 und die Kritik bei Müller, Gott als Richter [s. Anm. I], 38 ff.). II. Bevor weitere Aspekte und die Reichweite dieses Konzepts erörtert werden, ist es sinnvoll, sich den traditionsgeschichtlichen Hintergrund vor Augen [65] zu führen, denn die Plausibilität dieser Konzeption eines doppelten Gerichtet‐ werdens ist weitgehend davon abhängig, ob sich dazu jüdische Parallelen und Analogien finden lassen. Dabei ist im Auge zu behalten, daß in 1Kor 5 die „Übergabe an den Satan“ überhaupt nicht als Gerichtsakt erscheint 26 und auch das Endgericht bestenfalls am Rande in der Formulierung „am Tag des Herrn“ angedeutet ist (5,5). 27 E. Brandenburger hat in einem bedenkenswerten Beitrag kürzlich nicht nur eine gründliche Behandlung der (gesamten frühchristlichen) Gerichtsvorstellungen als dringendes Desiderat angemahnt, sondern, sehr zu Recht, auch vor der verbreiteten Neigung von Neutestamentlern gewarnt, undifferenziert auch da von Gericht zu sprechen, wo sich keine (oder nur unzu‐ reichende) traditionsgeschichtliche und semantische Hinweise darauf finden. 28 Daß die Übergabe des Unzüchtigen an Satan tatsächlich einen Gerichtshinter‐ grund impliziert (und hier zu Recht mit berücksichtigt wird), ergibt sich m. E. aus der ganz analogen Konzeption in 1Kor 11 mit der eindeutigen, sowohl auf das Endgericht als auch die zeitliche Züchtigung bezogenen Gerichtsterminologie. Daß diese Einbeziehung gerechtfertigt ist, wird jedoch anhand des traditions‐ geschichtlichen Materials zu belegen sein. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist, daß das zeitliche Gericht nach 1Kor 11 die Funktion der παιδεία besitzt: Daß Gott den, den er liebt, züchtigt (Prov 3,12; hier παιδεύειν neben μαστιγοῦν! ), ist eine seit der älteren Weisheit geläufige Vorstellung. Solche Züchtigung durch Gott ist nicht nur auf Individuen 101 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="102"?> 29 So ist auch εἰς ἔλεγχον (PsSal 9,1 inscr.) zu verstehen: Die folgenden exhomologetischen Partien und die Gerichtsdoxologien machen deutlich, daß hier die „Überführung“ (von Sündern) gemeint ist. 30 Vgl. Bar 4,25; wichtig ist die Funktion der Züchtigung zur Selbstdokimasie bBer 5a: „Raba, nach anderen R. Chisda, sagte: Sieht jemand, daß Züchtigungen über ihn kommen, so untersuche er seine Handlungen, denn es heißt (Thr 3,40): ‚Wir wollen unseren Wandel untersuchen und prüfen, wir wollen uns dem Herrn zuwenden.‘ Hat er untersucht und nichts gefunden, so schreibe er sie der Vernachlässigung der Torah zu, denn es heißt (Ps 94,12): ‚Heil dem Manne, den du züchtigst, o Herr, und ihn aus deiner Torah belehrst.‘ Hat er auch dazu keinen Grund gefunden, so sind es sicherlich Züchtigungen der Liebe, denn es heißt (Prov 3,12): ‚Wen der Herr liebt, den züchtigt er.‘“ bezogen, sondern auch auf das Volk als ganzes, wobei sich wenigstens drei unterschiedliche Verwendungen identifizieren lassen: 1. Die Züchtigung ist ein Mittel, mit dem Gott Israel versucht und so den Gehorsam gegenüber den Geboten bzw. das Festhalten an den Verheißungen auf die Probe stellt. Diese Vorstellung begegnet bereits Jud 8,25 ff.: die gegenwärtige Unterdrückung durch die Assyrer wird in einer Linie mit den [66] Versuchungen (πειράζω) der Erzväter gesehen, sie ist keine Strafe (ἐκδικέω), sondern dient der Erprobung und der Mahnung (νουθέτησις). Obwohl hier die Metapher der Feuererprobung begegnet (8,27: ἐπύρωσεν εἰς ἐτασμὸν τῆς καρδίας αὐτῶν), fehlt im Kontext jeder Hinweis auf Gericht und Eschatologie. Ganz ähnlich ist die Züchtigung in SapSal 3,4 ff. verstanden als eine Erprobung (πειράζω, δοκιμάζω) durch Gott „im Schmelztiegel“, die erweisen wird, ob die Gerechten „seiner würdig“ sind (3,5). Demgegenüber erscheint die Vorstellung in PsSal 10 leicht verschoben, weil die Züchtigung mit der Rute (παιδεία; μάστιξ, 10,1 ff.) nicht nur eine Überprüfung ist (ἐλεγμός, 10,1), sondern daneben die Funktion hat, in Zukunft die „Wege der Gerechten gerade zu machen“ (also: Mahnung) und zugleich „von der Sünde zu reinigen“ (10,1). Hier ist die Züchtigung also nicht nur Erprobung des Gehorsams, sondern zugleich auch schon Reaktion auf vorangegangenen Ungehorsam. 29 Wichtig ist, daß der Vorstellung der Erprobung erstens die Kategorie der Erwählung zugrundeliegt, sei es in der Erwähnung der Erzväter ( Jud 8,26 f.) oder des Bundes (PsSal 9,9 ff.; 10,4) oder in der Gegenüberstellung von Gerechten und „den Völkern“ bzw. den Gottlosen (SapSal 3), und daß sie zweitens eine ausgeprägte paränetische Funktion besitzt: Die Erprobung ist „Mahnung“, 30 sie „schirmt die Wege der Gerechten vom Bösen ab“ und „macht sie gerade“ etc. 2. Sehr viel häufiger als die Züchtigung zur „Erprobung“ ist die Züchtigung als Reaktion auf zuvor begangene Sünden. Dabei sind ganz unterschiedliche Vor‐ 102 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="103"?> 31 Z. B.: Tob 3,2 f.; 13,2.5.16 (alle Zitate aus Tob nach LXX Mss. Vatic., Alex. diff. Sinait.); Bar 4,25; PsSal 8,23 ff. (hier mit der Wendung κρίνων τὸν Ἰσραηλ ἐν παιδείᾳ, 8,26), syrBar 1,5; 4,1; 6,9; 13,9; 79,2 usw. 32 syrBar 13,10; Sifre Dtn 32 (Finkelstein 56,7 ff.; par. MekhRJ baḥodeš 10 zu 20,23 [Horo‐ vitz-Rabin 240,1 f.]) von R. Aqiba: „Ein Mensch soll sich über die Züchtigung mehr freuen als über das Gute. Denn wenn ein Mensch Tag für Tag im Guten ist, wird ihm die Sünde, die er hat, nicht erlassen ( לחמנ ). Und wodurch wird sie ihm erlassen? Durch die Züchtigungen ( םירוסי )! “ 33 Vgl. etwa die Sühneterminologie SapSal 3,6 (Züchtigung ist „ὡς ὁλοκάρπωμα θυσίας“); MidrTeh 94,2 (zu 94,12): „R. Elieser lehrte: Vernehmt, daß die Schrift sagt: ‚Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er, so wie ein Vater den Sohn, an dem er Wohlgefallen hat‘ (Prov 3,12). Lies nicht ‚Wie ein Vater‘ ( באָ ְ כּ ), sondern ,Leiden unter Züchtigung’ ( ב ֵ א ְ כּ ). Was befähigt dich denn zur Sühne für deinen Vater im Himmel? Gib zu, daß es das Leiden unter der Züchtigung ist. R. Nehemiah lehrte, daß Züchtigungen gut sind, denn so, wie Opfer Sühne bewirken, so bewirken Züchtigungen Sühne … Leiden unter Züch‐ tigung ist für die Sühne besser als Opfer, denn Opfer kommen aus dem Eigentum eines Menschen, aber Züchtigungen fallen auf eines Menschen Körper …“ Vgl. auch Midr Mischle 13,24. 34 PsSal 10,1 (καθαρισθῆναι ἀπὸ ἁμαρτίας); 10,2; 18,5. Vgl. dazu auch die auf R. Meir (um 150 n. Chr.) zurückgeführte Tradition: „Ich will dich mit Leiden züchtigen in dieser Welt, um dich rein zu machen von deinen Sünden für die zukünftige Welt“ (PesR 151b, par. LevR § 29 [127b]; Tanch § 35). stellungen mit der Züchtigung verbunden: In einigen Texten ist der Bezug von Sünde und Züchtigung nur angedeutet, wenn beides nebeneinander genannt wird, 31 oder aber die Züchtigung ist explizit als Strafe für die Sünden verstanden (τιμωρία, 2Makk 6,12; ἐπιτιμία, SapSal 3,10). In aller Regel hat die Züchtigung dann die Funktion, die Sünden zu beseitigen. Das kann entweder allgemein als „Tilgung“ von Sünden ausgesagt werden (PsSal 13,10: ἐξαλείφω), es kann aber auch differenzierter davon die Rede sein, daß die Züchtigung [67] Verge‐ bung, 32 Sühne 33 oder Reinigung 34 von Sünden bewirkt. Dieses Nebeneinander ist aufschlußreich, weil es zeigt, daß die Vorstellung der „Züchtigung von Sünden“ so verbreitet und allgemein ist, daß kein spezieller (juridischer oder kultischer) Hintergrund damit verbunden sein muß. 3. Entscheidend ist schließlich, daß diese Züchtigung in Verbindung mit vorher begangenen Sünden auch in einen eschatologischen Rahmen gestellt und dann ausdrücklich als Züchtigung in der Zeit vom Endgericht unterschieden werden kann. Die zeitliche Züchtigung hat dann die grundlegende Funktion, vor der Vernichtung in diesem Endgericht zu schützen. Das Nebeneinander von Strafe und Vernichtung kommt besonders deutlich PsSal 13,5-7 zum Ausdruck: „Der Gottesfürchtige (εὐσεβής) erschrak wegen seiner Verfehlungen (παραπτώματα), daß er mit den Sündern (ἁμαρτωλοί) zusammen weggerafft werde; denn furchtbar ist die Vernichtung (καταστροφή) 103 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="104"?> 35 Philo, QuGen II 54 (nicht die gesamte Menschheit - die Mehrzahl derer, die unbeschreib‐ liches Falsch getan haben); syrBar 1,4 f.; 4,1 (diese Stadt/ dieses Volk - die Völker/ die Welt); 52,5 f. (Gerechte - eure Feinde); 83,5 (wir - die Völker); Tob 13,2 f. (Söhne Israels - Heidenvölker); Bar 4,6 (Israel - Völker); SapSal 3,4.8 ff. (Gerechte - Nationen; Völker; Gottlose); PsSal 13,5 (Fromme/ Gerechte - Sünder) usw. Wichtig sind die ἀσεβεῖς (SapSal 3,10), die keine Heiden, sondern Apostaten sind. 36 syrBar 1,4 („für einen bestimmten Zeitraum“); 4,1 (eine Zeitlang); 6,9 (eine Zeit - Ewigkeit); 44,8 (jetzt - Zukunft); 52,6 f. (jetzt Leiden - Lohn liegt bereit); 78,6 (jetzt - am Ende); 83,5 f. (heute - Ende). Vgl. auch Hebr 12,10 f. 37 Obwohl es diese Vorstellung gibt, vgl. 1QH V 16; CD XX 3 usw. des Sünders. Aber nichts von alledem wird den Gerechten berühren. Denn die Züchtigung der Gerechten (παιδεία τῶν δικαίων) in Unwissenheit (= die in Unwissenheit gesündigt haben) und die Vernichtung des Sünders sind nicht das‐ selbe! “ - In 2Makk 6,12-15 mahnt der Epitomator, „wegen der Heimsuchungen nicht mutlos zu werden, sondern zu bedenken, daß die Strafen (τιμωρία) nicht zum Verderben (ὄλεθρος), sondern zur Erziehung (παιδεία) unseres Volkes be‐ stimmt sind.“ - Weiter: Bar 4,5 f. (Israel wurde unter die Völker verkauft, jedoch οὐκ εἰς ἀπώλειαν); syrBar 13,10 (wurden gezüchtigt, damit ihnen vergeben werden könne); 78,6 („… leidet jetzt zu eurem Besten, so daß ihr am Ende nicht verurteilt und gepeinigt werdet“); PsSal 13,11 (aufgrund der Züchtigung währt das Leben „der Gerechten in Ewigkeit, die Sünder aber werden ins Verderben fortgerissen…“). Vgl. weiter syrBar 4,1; 44,4-9; 52,5-7; 79,1-3 usw. Das Konzept ist klar und einheitlich gedacht, folgende Elemente sind von Bedeutung: [68] a. Der Differenzierung zwischen Strafe bzw. Züchtigung und Vernichtung korrespondiert diejenige zwischen Israel und den Völkern. Diese Unterschei‐ dung, die in unterschiedlicher Terminologie begegnet, 35 ist insofern konstitutiv, als die Züchtigung Israels vor der Vernichtung „zusammen mit den Sündern“ bewahrt; die Trennungslinie zwischen Israel und den Heidenvölkern wird also gerade auch in der Art des jeweiligen Gerichts deutlich, und es kommt natürlich alles darauf an, diese besondere Qualität des Leidens wahrzunehmen. b. Die Funktion der Züchtigung zum Schutz vor Vernichtung setzt voraus, daß die Strafe nur eine vorübergehende Erscheinung ist; ganz häufig wird in diesem Zusammenhang betont, daß die Züchtigung nur „eine Zeitlang“ o. ä. andauert. 36 Dabei ist nie an eine Läuterung im Rahmen des Endgerichts gedacht, 37 sondern immer an eine innergeschichtliche Strafe. In der rabbinischen Rezeption dieser Vorstellung ist die eschatologische Umkehrung von Leiden/ Strafe daher ein so fester Topos geworden, daß Wohlergehen „in dieser Welt“ 104 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="105"?> 38 Z. B. in der mehrfach berichteten Anekdote von der Krankheit R. Eliesers (bSanh 101a Bar.): Im Unterschied zu den anderen Schülern Eliesers, die über seine Krankheit klagen, heißt es von R. Aqiba: „Solange ich gesehen habe, daß es dem Meister gut ging usw., dachte ich: ‚Vielleicht hat der Meister, behüte und bewahre, seinen Lohn bereits erhalten; nun ich aber den Meister in Schmerzen sehe, freue ich mich.‘“ Außerdem etwa pHor 3,5 (47c) 27-29: „Heil den Gerechten, die es wie das Geschick von Frevlern in dieser Welt trifft, weh den Frevlern, die es wie das Geschick von Gerechten in dieser Welt trifft“ - d. h. die Gerechten werden in der zukünftigen Welt entschädigt, während die Wohltaten für die Frevler auf diese Welt beschränkt sind; vgl. auch pHag (77d) 42 ff.; pSanh (23c), 30 ff.; bTaan 21a; bQid 40b „Gott gibt den Gottlosen reichlich Gutes in dieser Welt, um sie (dann) hinauszustoßen und erben zu lassen die unterste Stufe (der Gehinnom).“ Vgl. aber auch Philo, SpecLeg I 313 f. 39 syrBar 78,3 („der uns seit alters liebte und der uns niemals haßte, uns aber dafür um so lieber züchtigte“); 78,5 („ihr sollt eurer Väter für wert befunden werden“); Tob 13,10 (Söhne); Bar 4,5 (mein Volk); PsSal 8,27 (deine Treue ist mit uns); PsSal 10,4 (Herr wird seiner Knechte gedenken … ewiger Bund); PsSal 13,9 (Züchtigung wie Sohn der Liebe, wie Erstgeborenen); Jud 8,25 f. (Väter). Die rabbinische Exegese spricht daher ganz sachgerecht davon, daß „ein Bund für die Züchtigungen“ geschlossen wurde (MidrTeh 94,2 zu 94,12; par. MekhRJ baḥodeš 10 zu 20,23 [Horovitz-Rabin 240,8 f.]; Sifre Dtn 32 [Finkelstein 56,14/ 57,1, hier auf R. Nathan Berabbi Joseph zurückgeführt). Zu den „Züchtigungen der Liebe“ vgl. bes. bBer 5a (R. Sechora in der Auslegung von Jes 53,10). 40 Vgl. etwa Philo, QuGen II 54 (Gott, der die Sünder züchtigt, „läßt Böses nicht unge‐ straft“); syrBar 52,6; Tob 3,5; 13,12 ff.; PsSal 8,23 f.31 f.; 9,2; 10,5; 18,3.6 f. Ebenso bTaan 21a sowie die zahlreichen Hinweise darauf, daß man die Züchtigungen „lieben“ soll bzw. daß sie „wertvoll“ sind, vor allem in den Midraschim zum Thema „Züchtigung“: MidrTeh 94,2 (zu 94,12); Sifre Dtn 32; MekhRJ baḥodeš 10 zu 20,23 (s. o. Anm. 32) usw. 41 Das gilt auch dann, wenn verschiedentlich betont wird, daß die (zeitlichen) Züchti‐ gungen nicht der tatsächlichen Schwere der Vergehen entsprechen: syrBar 78,5 („denn geringer ist, was ihr erleidet als was ihr getan habt“); Tob 3,2 (als Bitte); SapSal generell problematisch sein kann, weil es Zweifel an der Erwählung durch Gott und dem Anteil „an der kommenden Welt“ aufkommen läßt. 38 c. Der genauen Verteilung von Vernichtung und Züchtigung auf die Völker und Israel entspricht es, daß der Vorstellung der Strafzüchtigung (ganz analog zu der „Züchtigung zur Erprobung“) regelmäßig die Kategorie des Bundes bzw. der Erwählung zugrunde liegt: Es ist, häufig in Auslegung von [69] Prov 3,12, ein Zeichen der Liebe, daß Gott sein erwähltes Volk züchtigt, so daß sogar von der „Züchtigung der Liebe“ gesprochen werden kann. 39 d. Es entspricht dem Gesamtbild, daß in engem Zusammenhang mit der Züchtigung ganz häufig Gerichtsdoxologien begegnen, die sich dann nicht nur darauf beziehen, daß die Züchtigung zu Recht ergeht, sondern die auch Gott als endzeitlichen Richter preisen. 40 Aus der Verbindung von Gerichtsdoxologien und Erwähnung des Bundes erhellt, daß die große Bedeutung dieser Tradition der Züchtigung darin liegt, daß der Anspruch an Gottes Gerechtigkeit, wirklich keine Sünde ungestraft zu lassen, 41 sich bruchlos mit seiner Heilsverheißung an 105 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="106"?> 3,5 (ὀλίγα παιδευθέντες μεγάλα εὐεργετηθήσονται); 13,10 (Schonung); Sifre Dtn 32 (Finkelstein 56,10 ff.: „Du und dein Herz, ihr wißt, daß die Werke, die du tatest, und die Züchtigungen, die ich über dich brachte, daß ich sie nicht über dich brachte entsprechend deinen Werken, die du getan hast“) usw. 42 Vergebung durch die Langmut Gottes, so etwa U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK VI/ 1), Zürich u. a. 1978, 197. Israel zum Ausgleich bringen läßt: Gerade darin, daß Gott Israel für seine Sünden straft und so vor der eschatologischen Vernichtung bewahrt, entspricht er dem Bund und hält seine Verheißung aufrecht. Der Epitomator des 2Makk begründet denn auch die Züchtigung Israels damit, daß es ein „Zeichen großer Gnade (sei), wenn die Gottlosen (in Israel) nicht lange Zeit in Ruhe gelassen werden, sondern sogleich der Strafe verfallen. Wenn der Herr auch bei den anderen Völkern langmütig zuwartet, bis sie das Maß ihrer Sünden erreicht haben, so wollte er mit uns nicht ebenso verfahren, damit er am Ende nicht an uns Rache nehmen müßte, wenn unsere Sünden aufs höchste gestiegen wären“ (6,13 f.). Die Vorstellung der „Langmut“, mit der Gott die Sünden der Völker erträgt, ist mit „ἐν τῇ ἀνοχῇ τοῦ θεοῦ“ Rm 3,26 direkt vergleichbar: Diese Wendung bezeichnet weder das Instrument, mit dem Gott [70] Sünden vergibt, 42 noch ist daran gedacht, daß die Zeit der Nachsicht Gelegenheit zur Umkehr geben soll (wie etwa Apc 2,21). Vielmehr ist ἀνοχή auf die Zeit der προγεγόνοτα ἁμαρτηματα zu beziehen: Gott hat diese Sünden hingenommen, um - so muß man wohl verstehen - in der „Jetzt-Zeit“ seinen „Zorn“ darüber umso drastischer zu offenbaren und darin seine Gerechtigkeit umso deutlicher zu erweisen. Diese traditionsgeschichtlichen Überlegungen machen deutlich, daß die besprochenen paulinischen Aussagen einen konsistenten Hintergrund besitzen. Abgesehen von Einzelheiten, die sich leicht aus dem Material ergeben, liegt der Ertrag dieser Überlegungen in einigen übergreifenden Aspekten zu den Gerichtsvorstellungen. So fällt zunächst auf, daß nur ein Teil (aufs Ganze gesehen ist es der kleinere) der Belege zur „zeitlichen Züchtigung“ die typische Gerichtsterminologie aufweist (etwa κρίνων τὸν Ἰσραηλ ἐν παιδείᾳ, PsSal 8,26 usw.); daß also solche Züchtigung als ein Richten Gottes verstanden wird, läßt sich semantisch allein kaum schlüssig belegen. Gleichwohl zeigen die zahlreichen (sowohl auf die Züchtigung als auch auf das Endgericht bezogenen) Gerichtsdoxologien, die auf die endgültige Vernichtung bezogene Gerichtster‐ minologie (ὀργή, καταστροφὴ τῶν ἁμαρτωλῶν usw.) sowie die durchgängige Gegenüberstellung von Züchtigung und endgültiger Vernichtung vor allem in den rabbinischen Belegen, daß die Deutung der Züchtigung als Züchtigungsge‐ richt sachgemäß ist; und man wird folgern müssen, daß die Gerichtserwartung 106 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="107"?> 43 Brandenburger, Gerichtskonzeptionen (s. Anm. 1), 22 ff. Allerdings bin ich der Ansicht, daß der Kategorie des „(kommenden) Zorns“ die notwendige Trennschärfe fehlt, denn erstens ist die Vorstellung vom Kommen des „Zorns“ sowohl innergeschichtlich als auch eschatologisch verstanden, und zweitens ergeht dieser Zorn nicht nur über die Feinde, sondern auch über die Auserwählten (dazu gleich). Gegen Müllers Einwände (a. a. O. [Anm. 1], 40), der letztlich nur die Gruppen (c) und (d) stehen läßt, halte ich jedoch die (textpragmatischen) Kennzeichen der Aussagen über das (vielleicht nicht ganz glücklich so genannte) „Heilsgericht“ für ausreichend deutlich, um diese Gruppe nicht schlankweg unter das „Vernichtungsgericht“ zu subsumieren. 44 Müller, a. a. O. 41 ff. so verbreitet und allgemein ist, daß sie auch da im Hintergrund steht, wo sie nicht ausdrücklich benannt ist. Das hat zur Folge, daß nicht nur der vorzeitige Tod einiger Gemeindeglieder nach 1Kor 11, sondern auch die „Übergabe an Satan“ nach 1Kor 5 tatsächlich als ein Gerichtsakt zu verstehen ist. Die im Kontext zu beobachtende, auf Reinheit bzw. Reinerhaltung zielende Trennung von allem Unreinen (vor allem 5,6 ff.; 6,1 ff.) wird verständlicher, wenn man sieht, daß die Züchtigung ja durchaus reinigende Funktion haben kann (s. o. Anm. 34): Versteht man die „Übergabe“ als Reinigungszüchtigung, wird auch die Annahme vollkommen unproblematisch, daß solche Strafe (ἐπιτιμία, 2Kor 2,6) die Wiederaufnahme des Unzüchtigen ermöglichen kann. Wichtiger ist der Beitrag, den die Vorstellung des „Züchtigungsgerichts“ für das Verständnis der frühjüdischen und frühchristlichen Gerichtskonzeptionen leistet. Für die dringende Aufgabe, die Fülle und Vielfalt der Aussagen sinnvoll zu differenzieren, liegt eine wichtige Vorarbeit vor: E. Brandenburger hat die verschiedenen Gerichtsaussagen semantisch und funktional unterscheidbaren Konzeptionen zugewiesen und dafür folgende Kategorien benannt: (a) Die Rede vom „(kommenden) Zorn Gottes“. (b) Das „Er‐ lösungs- und Heilsgericht“. (c) Das „Vernichtungsgericht“. (d) Das „Rechtsver‐ fahren vor dem Thron Gottes“ [71] und (e) das „universale Weltgericht“. 43 Eine Schwierigkeit dieser Klassifizierung liegt darin, daß diese Vorstellungen ganz offensichtlich völlig problemlos nebeneinander verwendet werden konnten. 44 Dabei ist die Verbindung von Aussagen über das geregelte Rechtsverfahren vor dem Thron Gottes mit denen über das Vernichtungsgericht weniger problema‐ tisch, denn hier ergeht das Gericht ja nur jeweils über Heiden, die Reiche, die Mächtigen usw., auch wenn unterschiedliche Schwerpunkte sichtbar werden. Schwieriger ist m. E. die letzte Gruppe des „universalen Weltgerichts“, das über alle Menschen ergehen kann - auch über die Auserwählten. Erklärbar wird ein solches Nebeneinander unter der Voraussetzung, daß Gott alle Vergehen - oder genauer: die Vergehen aller Menschen - richtet, wenn also 107 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="108"?> 45 Müller (a. a. O. 44) hat in diesem Zusammenhang von der „weltanschaulichen Rück‐ wand“ gesprochen, an die sich „die meisten jüdischen Gruppierungen anlehnten, ohne um die Einzelheiten ihrer sprachlichen Darbietung … kämpfen zu müssen.“ 46 Typisch für die Züchtigungsvorstellung sind: Der Bezug auf Prov 3,11; das Stichwort παιδεία/ παιδεύειν/ παιδευτής (12,7.9.11); der Hinweis auf die kurze Dauer der Züchti‐ gung (12,10 f.: πρὸς ὀλίγας ἡμέρας; πρὸς τὸ παρόν); die notwendige Zusammengehö‐ rigkeit von Sohnschaft und Züchtigung (12,7) sowie die Unterscheidung zwischen (gezüchtigten) Söhnen und (nicht gezüchtigten) „Bastarden“ (12,8). die Erwartung eines universalen Richtens Gottes den allgemeinen Hintergrund 45 der unterschiedlichen Gerichtsvorstellungen abgibt: Denn auf der einen Seite impliziert das „Züchtigungsgericht“, das über die Auserwählten (bzw. über Israel oder einen „Rest“) ergeht, die Ausnahmslosigkeit, mit der Gott Vergehen ahndet, wie die gerade hier begegnenden Gerichtsdoxologien und exhomologetischen Partien zeigen. Auf der anderen Seite ist hinreichend klar geworden, daß Gott die so Gezüchtigten vor der endgültigen Vernichtung im eschatologischen Gericht bewahrt und so seine Bundestreue unter Beweis stellt, ohne dem umfassenden Anspruch seiner Gerechtigkeit etwas zu nehmen; daß sich diese Bewahrung vor der eschatologischen Verurteilung dann in der Vorstellung konkretisiert, daß nur die Feinde Gottes bzw. Israels diesem Gericht unterworfen sind, kann nicht verwundern. Die Einsicht in die sachliche Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Kategorien von Gerichtsaussagen schränkt die Möglichkeit ein, ihnen eindeutig abgrenzbare textpragmatische Funktionen zuzuweisen. Gerade die Aussagen zum Züchtigungsgericht - mit ihrem einheitlichen Vorstellungsgehalt und der semantischen Kohärenz des zugehörigen Wortfelds - können je nach Kontext sehr unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Auf der einen Seite besitzt die Züchtigungsvorstellung (vor allem im Schema des sog. deuteronomistischen Geschichtsbildes) die parakletische Funktion der Leidensbewältigung (z. B. 2Makk 6; PsSal 13; die Belege aus syrBar usw.), auf der anderen Seite [72] kann sie aber auch zur Motivation von Paränese dienen (z. B. PsSal 10; Bar 4; bBer 5a usw.). Im Blick auf das gesamte Material ist es daher charakteristisch, daß parakletische und paränetische Aspekte eng miteinander verbunden sind und ineinander übergehen. Der argumentative Duktus von Hebr 12,4 ff. 46 ist ein schönes Beispiel dafür, wie beides - auf engstem Raum! - nebeneinander stehen kann: Die Aufforderung zum Ausharren in der Züchtigung (12,7), die ja parakletischen Charakter besitzt (12,5), mündet in die eschatologisch motivierte Mahnung, Heiligung zu erstreben und sich die Gnade Gottes nicht zu verscherzen (12,12 ff.). Man wird es von daher nicht überbewerten dürfen, daß die besprochenen Passagen in 1Kor 5 und 11 eine primär paränetische Funktion haben, zumal in der finalen Bestimmung 1Kor 5,5 ja ein parakletisches 108 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="109"?> 47 ὀργή: 1Thess 1,10; 5,9. - ἀπώλεια: 1Thess 5,9; Rm 2,12; 9,22; 1Kor 1,18; 2Kor 2,15; Phil 1,28; 3,19. - κατάκρισις/ κατάκριμα: Rm 5,18.21; 8,1; 1Kor 11,32; 2Kor 3,9.6. - θάνατος parallel zu κατάκρισις bzw. κατάκριμα: 2Kor 3,7 ff.; Rm 5,12 ff.; parallel zu ἀπώλεια: 2Kor 2,16. Zu den terminologischen Fragen vgl. zusammenfassend Mattern (s. Anm. 1), 59 ff. 48 Vgl. dazu Wilckens’ Exkurs „Das Gericht nach den Werken II (Theologische Interpre‐ tation)“, Rm I (s. Anm. 42), 142 ff., und Watson, Justified by Faith (s. Anm. 1), jeweils mit Lit. 49 Als Umkehr bzw. Konversion beispielsweise Mt 3,7.9a par.; Rm 2,5.8; 3,5; 5,9; 12,19; Eph 5,6; Kol 3,6; Apc 2,16 (Kommen); 14,10; 15,1.7 (gegenüber der Gerichtsszenerie Moment impliziert ist. Die funktionale Ambivalenz der Züchtigungsaussagen hat ihren inneren Grund darin, daß die für den gesamten Vorstellungskomplex unverzichtbare Bedeutung des Bundes in unterschiedliche Richtungen hin entfaltet werden kann. III. Vor diesem Hintergrund lassen sich die paulinischen Aussagen über Rechtfer‐ tigung und Sünde von Christen genauer ins Auge fassen. Dabei erlauben die grundlegenden Kategorien und Differenzierungen, die sich für die traditionsge‐ schichtlichen Analogien ergeben haben und die auch bei Paulus identifiziert werden können, weitere Aufschlüsse: 1. Unbeschadet der Vorstellungen, die im einzelnen mit dem Endgericht bei Paulus verbunden sind, ist deutlich, daß dieses Gericht - Paulus spricht von „Zorn“, „Vernichtung“ bzw. „Verurteilung“ - Tod im Sinn endgültiger Vernichtung bewirkt, wie die Parallelbzw. Gegenbegriffe zeigen. 47 Dabei gilt zunächst, daß nicht die Christen von diesem Vernichtungsgericht betroffen sind, sondern jeweils (nur) die nichtchristliche Menschheit. Eine wesentliche Differenzierung ist allerdings nötig: Denn der „Zorn“ bzw. der „Tag des Zorns“ (Rm 1,18 ff.; 2,5 ff.) wird ja nicht nur den (nichtchristlichen) Heiden angedroht, sondern auch den Juden bzw. Israel, dem jedoch nach Rm 11,25 ff. eschatologisches Heil verheißen ist - der „Zorn“ [73] kann also nicht einfach endgültige Vernichtung bedeuten. Ein Ausgleich dieser Spannung, die ja seit alters her Schwierigkeiten bereitet hat, 48 ist möglich, wenn man die genaue sprachliche Form der Gerichtsaussagen in Rm 2 und die Eigenart des „Zücht‐ igungsgerichts“ in Rechnung stellt. Denn die Rede vom „(kommenden) Zorn“ dient häufig als Motivation von Bekehrungsaufforderungen, impliziert daher sowohl Wahrnehmung der eigenen, verfehlten Existenz als auch die Chance, diesem „Zorn“ durch Bekehrung zu entgehen. 49 Auch wenn Paulus vom „Erweis 109 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="110"?> 20,11-15). S. dazu Brandenburger, Gerichtskonzeptionen (s. Anm. 1), 23 ff. und 36 ff. mit den Bemerkungen zum „prophetisch-eschatologischen Gerichtsverständnis“. 50 Zu den Verstockungsaussagen s. jetzt G. Röhser, Prädestination und Verstockung. Untersuchungen zur frühjüdischen, paulinischen und johanneischen Theologie (TANZ 14), Tübingen 1994, bes. 113 ff. Mit der Formulierung des „In-Wirkens“ erfaßt Röhser die Zuordnung von (zu verantwortender) Schuld und Vorherbestimmung, indem diese Raum und Rahmen für jene abgibt: Die Erwählung Israels umfaßt in heilsgeschichtlicher Perspektive auch sein „Straucheln“. des Zorns“ und den „Gefäßen des Zorns“ spricht (Rm 9,22), denkt er - trotz des harten Zusatzes „εἰς ἀπώλειαν“ - nicht einfach an eschatologische Vernichtung des unbußfertigen Israel. Denn der „kommende Zorn“ Gottes kann durchaus als Züchtigung im dargestellten Sinn verstanden werden, wie besonders deutlich Bar 4,8.25 zeigt, wo „ἡ ἐπελθοῦσα ὀργὴ τοῦ θεοῦ“ auf die (innergeschichtliche) „Züchtigung“ Israels bezogen ist und seine eschatologische Rettung gerade einschließt. Das aber heißt: Die Vorstellung eines „Züchtigungsgerichtes“ stellt die ent‐ scheidende traditionsgeschichtliche Voraussetzung dar, die es erlaubt, Gottes Zorngericht über Israel in Rm 2 und 9 bruchlos mit der Erwartung seiner eschatologischen Rettung zu verbinden. Und es ist evident, daß die für die Zücht‐ igungsvorstellung unverzichtbare Kategorie der Bundestreue Gottes gegenüber Israel und das Festhalten an seinen Verheißungen auch hier unabdingbare Voraussetzung ist. Denn die Rede von der πώρωσις Israels macht ja gerade deutlich, daß Israels Schuld und Straucheln innerhalb des von Gottes Vorherbe‐ stimmung gekennzeichneten Raumes der Erwählung zu lokalisieren sind und so diese Erwählung nicht außer Kraft setzen, sondern bestätigen. 50 Auch wenn das Bild vom Ölbaum das gegenwärtige Geschick des ungläubigen Israel nicht in Gerichts- oder Züchtigungsterminologie faßt, wird man das Aushauen der Zweige (Rm 11,17) doch im Sinn eines strafenden und innergeschichtlich sich vollziehenden ἀνταπόδομα (Rm 11,9) verstehen können. Die Wahrheit von Gottes Gericht ohne Ansehen der Person (Rm 2,2.11) besagt daher nicht, daß Juden wie Heiden in derselben Weise gerichtet (nämlich verurteilt) werden (und folglich die Erwählung Israels aufgehoben ist), sondern [74] daß alle Vergehen von Heiden und von Juden - gerichtet werden. Zu ergänzen ist dann sinngemäß: Israel wird für seine Verfehlung (in der Zeit) gezüchtigt, Heiden werden (im Endgericht) verurteilt. Die Innovation der heilsgeschichtlichen Konstruktion von Rm 9-11 liegt, so gesehen, weniger darin, daß Paulus eine Denkmöglichkeit für Gottes Festhalten an der Verheißung trotz Israels Schuld gefunden hat, als vielmehr in der positiven Funktion, die diese Strafe an Israel für die Heiden 110 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="111"?> 51 Auch dieser Aspekt ist durchaus traditionell, wie zuletzt Röhser gezeigt hat (a. a. O. 40 ff.). 52 Für Israel begegnet die ἁμαρτ-Terminologie nur, wo Paulus das vorchristliche Israel mit den Sünden der Heiden zusammenbringt, z. B. Rm 2,12; 3,9.23; Gal 3,22. 53 εὑρέθημεν … ἁμαρτωλοί 2,17 widerspricht dem nicht. Wenn man den Konditionalsatz aus philologischen Gründen nicht ohnehin als Irrealis verstehen will (so etwa R. Bultmann, Exegetica, Tübingen 1967, 394 f.), bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder läßt man die Rede an Petrus über 2,14 hinausreichen und sieht in dem „wir“ von 2,17 Paulus und Petrus zusammengeschlossen; zu verstehen wäre: „Wenn wir beide aufgrund unserer Tischgemeinschaft mit Heiden (natürlich zu Unrecht! ) als Sünder angesehen werden …“ (so etwa J. D. G. Dunn, The Epistle to the Galatians, London 1993, z. St.). Oder man hält (mit H. D. Betz, Der Galaterbrief, München 1988, z. St.) 2,17 für einen Teil der propositio, in dem zwei Bedingungen - die eine richtig (wir suchen in Christus gerecht zu werden), die andere falsch (wir werden als Sünder erfunden) - eine offenkundig falsche Schlußfolgerung (Christus ist ein Diener der Sünde) nach sich ziehen. In keinem Fall besagt der Konditionalsatz, daß Juden, Judenchristen oder Heidenchristen nach Meinung des Paulus Sünder wären. besitzt. 51 Und damit ist auch klar, daß Israels παράπτωμα (Rm 11,12) keine Sünde ist, die zur endgültigen Verurteilung führt. 2. Daß Paulus hier von Verfehlung statt von Sünde spricht, ist kaum Zufall. Denn der Differenzierung zwischen endgültiger Vernichtung und zeitlicher Züchtigungsstrafe entspricht ganz weitgehend die Sündenterminologie: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verwendet Paulus Derivate des Stammes ἁμαρτnur zur Kennzeichnung der Sünde der nichtbzw. vorchristlichen Menschheit. 52 Wenn Paulus dagegen von den Verfehlungen der Christen spricht, dann nennt er entweder die Vergehen direkt - also etwa Unzucht (1Kor 5), Götzendienst (1Kor 10), die Verfehlungen beim Mahl (1Kor 11) oder Unordentlichkeit (ἄτακτοι, 1Thess 5,14) - oder er redet allgemein von Verfeh‐ lung (παράπτωμα Gal 6,1) oder Unrecht (ἀδικία, 1Kor 6,8) usw. Obwohl die terminologische Zuordnung kein geschlossenes System erkennen läßt (schon die Umkehrung funktioniert nicht mehr), ist doch die Größenordnung der Verteilung signifikant. Im Hintergrund steht offenkundig die grundsätzliche Einsicht, daß ἁμαρτωλοί Heiden sind, nicht aber Juden oder Christen (Gal 2,15). 53 Anders gesagt: Was Gott an seinen Erwählten durch Züchtigung bestraft, sind streng genommen keine Sünden (ἁμαρτίαι), sondern Verfehlungen. [75] Der terminologischen Differenzierung zwischen ἁμαρτία und παράπτωμα etc. korrespondieren zwei weitere Einsichten: Zum einen impliziert die Zücht‐ igungsvorstellung ja die Korrekturmöglichkeit von Verfehlungen und Fehl‐ tritten, besitzt also ein stark paränetisches Moment. Die im Rahmen der Zücht‐ igungsvorstellung begegnende Forderung des Hebr nach „Heiligung“ (12,14) ist daher typisch und eröffnet den Blick auf entsprechende paulinische Aussagen, 111 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="112"?> 54 Etwa durch Übergabe des Blutschänders an Satan (1Kor 5,4 f.11), durch Selbstdokimasie (1Kor 11,28.31; Gal 6,4) oder durch wechselseitige Ermahnung innerhalb der Gemeinde (Gal 6,1 ff.; 1Thess 5,23 etc.). 55 παραστήσει (8,8) hier im Sinn von „vor den Richtstuhl Gottes bringen“ wie Rm 14,10; Act 27,24 (gegen W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/ 2, Zürich u. a. 1995, 259). also den gesamten Bereich der Ethik, der hier aus Raumgründen nicht eigens besprochen wird. Daneben ist zu erwägen, ob sich in dem Nebeneinander eines Gerichtet-Werdens durch Gott und durch Christus nicht sprachliche Spuren der Unterscheidung von Verurteilungs- und Züchtigungsgericht erhalten haben: Dieses findet innerhalb des Bereichs der Gemeinde statt und kann außer durch Christus (1Kor 11,32: κύριος) auch durch den Apostel bzw. die Gemeinde 54 selbst vollzogen werden, jenes aber ergeht über Außenstehende (1Kor 5,13). Die Rede vom βῆμα τοῦ θεοῦ (Rm 14,10) würde dann geringfügig andere Akzente setzen als die vom βῆμα τοῦ Χριστοῦ (2Kor 5,10). 3. Unter dieser Perspektive sind dann diejenigen Belege aufschlußreich, an denen Paulus die ἁμαρτ-Terminologie im Zusammenhang mit Verfehlungen von Christen verwendet, weil hier die Reichweite des Konzepts des „Züchtigungs‐ gerichts“ sichtbar wird. In 1Kor 8,12 wertet Paulus die Teilnahme an Mählern in paganen Deipnis‐ terien als Sünde gegen Christus und den schwachen Bruder, sofern dadurch das Gewissen des Schwachen seinerseits zu solcher Teilnahme verführt wird und er dadurch „zugrundegeht“; impliziert ist: Weil er, für den Christus doch auch gestorben ist, zu einem Verhalten verführt wird, das seinem Gewissen widerspricht. Da zuvor geklärt wird, daß das Essen an sich „nicht vor Gott bringt“, 55 liegt das eigentliche Problem in der Mißhandlung des Gewissens der Schwachen, was Paulus als Sünde gegen Christus im Sinn der Mißachtung seines Heilswerkes versteht. Wie sich Paulus diese Sünde denkt, ist aus der ganz analogen Argumentation in Rm 14 ersichtlich. Auch wenn es hier nicht um das Essen in heidnischen Heiligtümern geht, so ist doch klar, daß Essen in bestimmten Situationen ein σκάνδαλον für den „schwachen Bruder“ (14,13.20) sein kann, ein Zugrunderichten des Bruders, für den Christus gestorben ist (14,15). Solches Verhalten widerspricht nicht nur der οἰκοδομή der Gemeinde (14,19), es ist ein „Niederreißen des Werks Gottes“ (14,20). Nicht das Essen an sich (1 Kor 8,8), wohl aber das Essen in besonderen Situationen, das den Bruder zugrunderichtet, kann ἁμαρτία sein und Christen „vor dem Richtstuhl Gottes“ bringen (Rm 14,10), weil es letztlich eine Zerstörung [76] und Auflösung der Gemeinde zur Folge hat. Angesichts der starken Bewer‐ tungen, mit denen Paulus solches Verhalten belegt (ἁμαρτία, Zugrunderichten 112 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="113"?> 56 Die ἐχθροὶ τοῦ σταυροῦ τοῦ Χριστοῦ (Phil 3,18 f.) sind ehemalige Christen, zu denen jetzt aber jede Verbindung gekappt ist; sie gehen der ἀπώλεια entgegen. Daß Apostaten dieselbe (eschatologische) Strafe erleiden wie die Gottlosen, sagt schon SapSal 3,10. 57 ἑαυτοὺς διεκρίνομεν - ἐκρινόμεθα ist zu verstehen im Sinn von ἑαυτοὺς ἐδοκιμάζομεν (bzw. ἐπαιδευόμεθα) - κατεκρινόμεθα. 58 Denkbar wäre auch, daß in diesem Fall das eschatologische Gericht an fehlerhaften Christen analog zu 2Kor 5,10 (bzw. äthHen 61,8 etc., s. o. Anm. 15) als Gericht über ihre Werke zu verstehen ist. Paulus würde dann mit einer (wie auch immer vorzustellenden) Bestrafung, nicht aber Verurteilung rechnen. des Bruders, Niederreißen des Werkes Gottes), halte ich es für möglich, daß Paulus dabei nicht an das Züchtigungsgericht denkt, sondern an Verurteilung im Endgericht. In diesem Fall könnte der Gedanke zugrundeliegen, daß der, der die Gemeinde zerstört, wie ein Apostat bzw. die „Feinde des Kreuzes“ 56 handelt - und für solche bleibt nur endgültiges Verderben: Ein Verhalten, das direkt Apostasie ist oder von Paulus so gewertet wird, führt zur endgültigen Vernich‐ tung und läßt sich also nicht mehr durch ein Züchtigungsgericht korrigieren. Das Konzept des Züchtigungsgerichts findet eine Grenze, wo die Existenz der Gemeinde so zentral gefährdet ist, daß der Bund oder die Erwählung in „irreparabler“ Weise aufgehoben wird. Man wird allerdings nicht nur für den extremen Fall von Apostasie damit rechnen, daß auch Christen der eschatologischen Vernichtung anheimgegeben werden können. Vielmehr setzt Paulus offensichtlich voraus, daß auch die nicht durch das Züchtigungsgericht bestraften und korrigierten παραπτώματα von Christen diese Folge nach sich ziehen. Dafür sprechen außer den beiden Final‐ sätzen 1Kor 5,5; 11,32 (und der Feststellung 11,31! ) 57 vor allem die Mahnungen, darauf zu achten, daß man „am Tag des Herrn ohne Tadel“ erfunden wird (Phil 1,10 f.; 2,15; 1Thess 3,13; 5,23). 58 Der Übergang von Züchtigungs- und Vernichtungsgericht ist also grundsätzlich offen, was der paulinischen Paränese erst ihren vollen Ernst gibt: Erwählung oder Zugehörigkeit zur Gemeinde gewähren dem Christen keinen character indelebilis. Wohl aber - und zwar im Unterschied zu den Heiden - die Möglichkeit zur Korrektur von Verfehlungen, 113 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="114"?> 59 Analog etwa 1 Makk 7,23. Aufschlußreich ist besonders die „ἁμαρτία, ἣν οὐκ ἐποίησαν ὑπὲρ τὰ ἔθνη“ PsSal 8,13, denn sie wird hier (neben anderem) ebenfalls als Ιnzest charakterisiert (8,9); vor allem aber wird, wie bereits gezeigt, die Strafe für diese Sünde als Züchtigungsgericht an Israel erfaßt (κρίνων τὸν Ἰσραηλ ἐν παιδείᾳ, 8,26; σὺ παιδευτὴς ἡμῶν εἶ, 8,29; die typischen Gerichtsdoxologien 8,23 f.31 f.): Der Beter unterscheidet nicht zwischen einem „Rest“ und der massa perditionis Israels, sondern schließt sich selbst mit ein. Der Topos der „Sünde schlimmer als bei den Heiden“ gehört also durchaus als Kennzeichen der besonderen Schwere des Vergehens in das Konzept des Züchtigungsgerichts, beinhaltet daher aber gerade nicht die eschatologische Ver‐ urteilung. - Gleichwohl wird man sich die Verbindung des Unzüchtigen mit der Frau seines Vaters eher als Fehltritt oder als „trübes Liebesverhältnis“ vorstellen denn als offenes, eheähnliches Konkubinat (gegen Schrage, 1Kor 1 [s. Anm. 27], 372, der an einen „öffentlichen, bewußten und sozusagen provokativ-ideologischen Akt“ denkt; die Formulierung „trübes Liebesverhältnis“ stammt von Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/ New York 1975, 133). 60 S. die typischen Formulierungen: „schreckliche Erwartung des Gerichtes“, „Glut des Feuers (πυρὸς ζῆλος), das die Feinde verzehrt“ (10,27) bzw. „das Ende zum Verbrennen (τέλος εἰς καῦσιν)“ (6,8). Daß sich die Verweigerung der zweiten Buße ausschließlich auf Apostasie bezieht, machen Duktus und Terminologie von Hebr 6,4 ff. hinreichend deutlich, vgl. etwa die Kommentierung von E. Grässer, An die Hebräer (EKK XVII/ 1), Zürich u. a. 1990, 347 ff. und zwar selbst dann, wenn es sich, wie im Fall des Blutschänders, um eine Art von Unzucht handelt, wie es sie „nicht einmal bei Heiden“ gibt (1Kor 5,1). 59 [77] 4. Aus der Vorstellung vom „Züchtigungsgericht“ ergibt sich schließlich noch ein wichtiger Anhaltspunkt zum Verständnis der sog. „zweiten Buße“. Denn wenn dem Konzept der „Züchtigung“ nicht nur die Differenzierungen zwischen verschiedenen Gerichtsarten (Züchtigung - Verurteilung) und zwischen den davon Betroffenen („Erwählte“: Juden und Christen - Heiden) inhärent sind, sondern auch eine differenzierte Sündenterminologie (παραπτώματα, ἀδικίαι, ἀτάκτως περιπατεῖν usw. - ἁμαρτίαι), dann werden genau diejenigen Differen‐ zierungen sichtbar, die neben bzw. schon bald nach Paulus für die Bußdebatte bestimmend wurden. So läßt sich die Differenzierung 1Joh 5,17 - zwar ist jedes Unrecht (ἀδικία) Sünde, aber nicht jede Sünde führt zum Tod - als terminologische Klärung desselben Sachverhalts verstehen, daß Paulus einerseits mit Verfehlungen (ἀδικία, παράπτωμα) von Christen rechnet, die durch Züchtigung korrigiert werden können und dann nicht zur Verurtei‐ lung führen, während er ἁμαρτία weitgehend für die (endgültige bzw. nicht korrigierte) außerchristliche Sünde verwendet, die dann das Vernichtungsgericht nach sich zieht. Daneben zeigt auch die Behandlung des Bußproblems in Hebr 6, daß die prinzipielle Verweigerung der „Zweiten Buße“ sich zunächst auf Apostasie (6,6; 10,28) bezieht, nicht aber auf jede christliche Verfehlung schlechthin: Während der Hebräerbrief für Apostasie ganz deutlich das Verurteilungsgericht androht, 60 rechnet er offenkundig auch 114 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="115"?> 61 So etwa Goldhahn-Müller, Grenze (s. Anm. 1), 154. 62 Dasselbe gilt für Hebr: Daß sich keine Spuren einer terminologischen Differenzierung in „Absichts- und Irrtumssünden“ (nach Lev 4 f.; Num 15) oder in „läßliche und Todsünden“ (wie in der späteren Bußdebatte) finden (s. H. Löhr, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief, BZNW 73, Berlin/ New York 1994, bes. 22-68), besagt nicht, daß Sünde und Sünde einfach identisch sind: Neben Apostasie, für die es überhaupt keine Bußmöglichkeit gibt, stehen andere christliche Verfehlungen, auf die sich die Züchtigungen 12,4 ff. beziehen. 63 Gegen Goldhahn-Müller (a. a. O., bes. 379 ff.), die die Divergenz der Strömungen betont. Zwnindest ist deutlich geworden, daß Hebr oder 1Joh in der Frage der zweiten Buße nicht „rigoristischer“ sind als Paulus. mit anderen christlichen Defiziten, die dann die ausführliche Paränese in Hebr 12,4 ff.; 13,1 ff. nötig machen. Charakteristisch und durchaus analog zu Paulus ist dabei nicht nur die Züchtigungsvorstellung (12,4 ff.), sondern auch ihre paränetisch-parakletische Funktion und die Verbindung mit der Mahnung zur Heiligung bzw. der Warnung, der Gnade nicht verlustig zu gehen. Das Konzept des Paulus zur „Züchtigung“ postbaptismaler Sünden erweist sich als frühes Stadium desselben Prozesses, der im 2. Jh. zur Ausbildung des Bußinstituts geführt hat. Auch wenn bei Paulus die später notwendig gewordene prozessuale Regelung noch fehlt, ist doch deutlich, daß er dieselben theologischen Grundentscheidungen voraussetzt wie etwa der Hebr oder 1Joh: Daß Paulus keine Differenzierung von schweren und leichten Sünden [78] kenne bzw. nie über postbaptismale Sünden reflektiere, 61 ist zumindest miß‐ verständlich: Unterschieden sind zwar nicht die Arten der Sünde (im Sinne eines phänomenologisch distinkten Verhaltens), wohl aber der „Täterkreis“ und die Weisen, mit denen sie geahndet werden können (Züchtigung und Verurteilung) - und das schlägt sich dann auch in einer differenzierten Termi‐ nologie nieder, selbst wenn das Phänomen der Verfehlung identisch ist, wie gerade das Beispiel der πορνεία zeigt (1Kor 5,1 ff. neben den Lasterkatalogen 1Kor 6,9 f.; Gal 5,19 ff.! ). 62 Und daß Paulus über postbaptismale Sünden nicht reflektiere, wird man angesichts der differenzierten Argumentation in 1Kor 5 und 11 und des Bewußtseins, daß Apostasie oder nicht durch Züchtigung korrigierte Verfehlungen das Vernichtungsgericht nach sich ziehen, schon gar nicht sagen können. Die theologische Entwicklung der frühchristlichen „Kirchenbuße“ ist daher in kontinuierlicheren Bahnen verlaufen, als weithin angenommen wird, 63 und erweist sich als Ausgestaltung desselben Konzepts innergemeindlicher Züchtigung christlicher Verfehlungen bzw. „Sünden“ zum Schutz vor eschatologischer Vernichtung. 115 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="116"?> IV. Die Rezeption des Konzepts des Züchtigungsgerichts läßt gut erkennen, wie Rechtfertigungs-, Gerichts- und Bußaussagen bei Paulus einander zuzuordnen sind, und die Differenzierungen, die es mit sich bringt, erlauben eine genauere Wahrnehmung der Defizite der eingangs genannten Lösungen: Die Annahme der Vertreter der „Sündlosigkeitstheorie“, die eschatologische Rettung der Christen beruhe auf der faktischen Abwesenheit von Verfehlungen, verkennt den Ernst und den Realitätssinn, mit dem Paulus mit Verfehlungen von Christen gerechnet hat. Die tatsächlichen Fälle christlicher Verfehlungen sind dabei nicht einfach als „systemfremder Betriebsunfall“ - unerklärbar und „eigentlich unmöglich“ - zu beurteilen, sondern gehören schlicht zur menschlichen Wirklichkeit - eine Sicht, die Paulus mit der gesamten jüdischen und frühchristlichen Anthropologie teilt. Selbst wenn man davon ausgeht, daß für Paulus das posse non peccare der Christen möglich und normal [79] war, ist doch eindeutig, daß Paulus das Phänomen christlicher Sünden kennt, auch wenn er sie in der Regel so nicht nennt. Darauf weisen nicht nur die paränetischen Passagen mit den Forderungen nach Heiligung und Reinheit, um am Tag des Herrn „tadellos“ erfunden zu werden (Gal 6,1 ff.; 1Thess 3,13; 5,23; Phil 1,10 f.; 2,15 etc.), sondern vor allem die besprochenen Passagen 1Kor 5 und 11, die ja auf faktisches Fehlverhalten zurückblicken. Die Möglichkeit zur Rettung trotz solcher Verfehlungen beruht daher nicht auf einem besonders eindrücklichen Bekehrungserlebnis oder auf enthusias‐ tischer Naherwartung, sondern auf der Validität der Erwählung bzw. des Bundesverhältnisses und der darin implizierten Möglichkeit, Verfehlungen durch Züchtigung zu tilgen. Das Mißverständnis der Sündlosigkeitstheorie beruht zu einem guten Teil auf einer Fehleinschätzung von Rm 6-8 und der argumentativen Funktion dieser Kapitel im Gesamtaufriß des Rm-Briefs: Daß Paulus’ Darstellung der christlichen Existenz unter dem Stichwort des Lebens κατὰ πνεῦμα (Rm 8,4 ff.) für die Sünden von Christen keinen Raum zu lassen scheint und noch nicht einmal ihre Möglichkeit zu erkennen gibt, ist zunächst eine Folge der Grundsätzlichkeit, mit der er sich hier gegen den Vorwurf verwahrt, Heidenchristen seien als Heiden ipso facto Sünder (3,5 ff.; 6,1). Aufgrund des differenzierten Gebrauchs der Sündenterminologie wird man noch nicht einmal sagen können, daß Paulus hier nur die halbe Wahrheit sagt und die dunklen Seiten christlicher Existenz unterschlägt: Weil Christen als Erwählte tatsächlich keine ἁμαρτωλοί sind, gibt es für sie im Endgericht auch kein κατάκριμα (Rm 8,1). Systematischer Vollständigkeit halber wäre jedoch einzuschränken: Sofern sie nicht grundsätzlich abfallen und ihre (möglichen) 116 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="117"?> 64 Also all das, was seit einigen Jahren unter dem Stichwort „Bundesnomismus“ verhan‐ delt wird, s. vor allem E. P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (StUNT 17), Göttingen 1977, 490 ff. 65 Vgl. den auslegungsgeschichtlichen Überblick zu Rm 7 bei U. Wilckens (Rm II, EKK VI/ 2, 101 ff.). Die Verschiebungen in Luthers Interpretation von Rm 7 gegenüber Paulus hat jetzt gut herausgearbeitet B. Oberdorfer, Der suggestive Trug der Sünde. Rm 7 bei Paulus und Luther, in: S. Brandt u. a. (Hgg.), Sünde, Neukirchen-Vluyn 1996, 125 ff. 66 Dazu umfassend R. Hermann, Luthers These ‚Gerecht und Sünder zugleich‘, Gütersloh 2 1960. 67 Beispielsweise P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), Göttingen 2 1966, 228 ff. Verfehlungen durch Züchtigung korrigiert und gerichtet werden. So hat die Sündlosigkeitstheorie am Ende zwar sehr deutlich die erwählungstheologische Dimension von Rechtfertigung bei Paulus wahrgenommen, 64 nicht aber, daß das Konzept der Züchtigung bereits in der vorchristlich-jüdischen Tradition ein we‐ sentliches Element der Bundesvorstellung war, das den Sünden der Erwählten (und ihrer Tilgung) einen eigenen, angemessenen Stellenwert zugemessen hat - mit der Folge, daß die Verfehlungen von Christen als grundsätzliches Problem ausgeblendet wurden. Anders als die Sündlosigkeitstheorie hat die lutherische Tradition die Wirk‐ lichkeit der Sünde von Christen außerordentlich hoch veranschlagt. Luther hat bekanntlich Rm 7 mit der auf die antipelagianische Interpretation Augustins zu‐ rückgehenden Tradition als Beschreibung der christlichen Existenz verstanden. 65 Daß er dann den Christen mit der Formel simul iustus ac peccator [80] (und ihren Abwandlungen) bezeichnen konnte, 66 ist nur konsequent, bedeutet aber eine nicht unerhebliche Verschiebung gegenüber Paulus, der zwar mit Verfehlungen von Christen rechnet, diese aber nie als ἁμαρτωλοί/ peccatores hätte bezeichnen können: Luther und seine diversen (auch exegetischen) Nachfahren haben in ihrem radikalen Verständnis der Sünde von Christen die feine, gleichwohl entscheidende Distinktion zwischen der Sünde von Heiden-Sündern und den Verfehlungen von Christen nicht beachtet und daher auch nicht gesehen, daß diese anders geahndet werden als jene. Wenn man aber nicht zwischen Verurteilungs- und Züchtigungsgericht unterscheiden kann, gleichwohl aber an der uneingeschränkten Geltung von Aussagen wie Rm 5,1; 8,1 etc. festhalten will, dann läßt sich das Verhältnis von Rechtfertigung und Gericht letztlich nur durch die historisch unhaltbare Annahme einer doppelten Rechtfertigung 67 und damit einer - höchst ungerechten! - Gerechtsprechung von Sündern im Gericht lösen. Das aber bringt bekanntlich nicht nur erhebliche Schwierigkeiten für das Verständnis von Gottes Gerechtigkeit mit sich, sondern hatte auf lange Sicht auch zur Folge, daß den paulinischen Gerichtsaussagen ihre Kraft genommen 117 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="118"?> 68 Vgl. dazu etwa Wilckens’ Bemerkungen zur Rezeption von Rm 7 im Pietismus (a. a. O., s. Anm. 65, 110 f.). 69 69 A.a.O. 106 f. und letztlich das für Luther so ernsthafte Problem der Sünde von Christen verwässert wurde. 68 Stellt man dagegen das Konzept der Züchtigung mit seinen erwählungsthe‐ ologischen Implikationen und den dazugehörigen Differenzierungen (Sünde - Verfehlungen, Verurteilung - Züchtigung, Heiden - Erwählte) in Rech‐ nung, dann lassen sich Rechtfertigungs- und Gerichtsaussagen einander wi‐ derspruchsfrei zuordnen. Mehr noch: Die Züchtigungsvorstellung erweist als unnötig, was sich für U. Wilckens als „schwieriges hermeneutisches Problem“ darstellt, der meint, seiner eigenen exegetischen Einsicht entgegen an der Deutung von Rm 7 auf die christliche Existenz festhalten zu müssen, weil anders sich kaum eine Möglichkeit biete, „das Problem der im christlichen Leben ver‐ bleibenden Sünde theologisch (nämlich gratiologisch) ernstzunehmen.“ 69 Paulus hat (übrigens ja keineswegs als einziger) dieses Problem sehr wohl gesehen, ihm den von der Tradition vorgegebenen theologischen Stellenwert zugewiesen und es durchaus „gratiologisch“ gelöst, auch wenn für ihn die Superiorität der Gnade über die Sünde nicht darin besteht, daß beides in einem dialektischen Verhältnis zueinander steht, sondern darin, daß es mit der Züchtigung für die Verfehlungen von Christen eine Alternative zur Verurteilung im Endgericht gibt. 118 Sünde und Gericht von Christen bei Paulus <?page no="119"?> „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ Mahl und Mahldeutung im frühen Christentum Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ Mahl und Mahldeutung im frühen Christentum, in: P. Schmidt-Leukel (Hg.), Die Religionen und das Essen. Das Heilige im Alltag, München 2000, 37-69. In memoriam Christian Hartlich rect. port., 1968-1973 In allen christlichen Kirchen und Konfessionen steht im Mittelpunkt des Gottes‐ dienstes die liturgische Feier des gemeinsamen Mahls: Die orthodoxen Kirchen des Ostens sprechen vom „Opfer“ (prosphora), die katholische Tradition von der Eucharistie oder Meßfeier, die protestantische vom Abendmahl. Dabei ist das Mahl nicht nur ein Wesensmerkmal der christlichen Kirchen, sondern auch innerchristliches Unterscheidungsmerkmal: Wie dieses Mahl genau zu verstehen ist, welche religiöse Bedeutung ihm anhaftet und wie seine liturgische Gestaltung im einzelnen aussieht, ist zwischen den Kirchen und Konfessionen nicht erst seit der Reformationszeit umstritten. Das ist natürlich kein Zufall. Gerade weil das Mahl so wichtig und zentral ist für das jeweilige religiöse Selbstverständnis, ist es zum Kristallisationspunkt geworden, an dem sich die jeweilige christliche oder konfessionelle Identität entscheidet. Für das frühe Christentum läßt sich ein ganz ähnliches Phänomen beob‐ achten. Von den allerersten Anfängen an haben alle Christen - ganz gleich, woher sie kamen und durch welche paganen oder jüdischen Traditionen sie geprägt waren - ein gemeinsames, religiös ausgezeichnetes Mahl begangen. Es hat nie Christen gegeben, die sich [38] nicht zu einem Mahl versammelt haben. Zugleich spiegeln die frühchristlichen Texte eine große Vielfalt, was die religiöse Deutung des Mahls angeht. Das zeigen schon wenige Beispiele: Die Mahlgebete der Didache, einer Kirchenordnung vom Ende des ersten Jahr‐ hunderts, deuten das Mahl auf Leben, Erkenntnis, Einheit und Unsterblichkeit (Did 9,4; 10,2), die Einsetzungsworte des Neuen Testaments dagegen auf den „Leib“ Jesu und den „Neuen Bund“ hin (1Kor 11,24 f.). Oder: Während das Mahl nach den Einsetzungsberichten ein Gedenken des Todes Jesu ist, fehlt dieser <?page no="120"?> 1 Klassisch bei J. Jeremias: Die Abendmahlsworte Jesu. Göttingen 4 1967 (passim). 2 Der Wiederholungsbefehl fehlt z. B. in den Einsetzungsberichten des Mk- und des Mt-Evangeliums, obwohl sie - wie Hippolyt von Rom (am Ende des 2. Jahrhunderts) - einen Bezug zum Tod Jesu implizieren. Keine Rolle spielt der Tod Jesu dagegen in den Aspekt beispielsweise in den Angaben der Apostelgeschichte, nach denen das Mahl in endzeitlichem „Jubel“ gefeiert wird (Act 2,46). Oder, wieder anders: Sündenvergebung kann einerseits eine Wirkung des Mahls sein (so in Mt 26,28), andererseits aber auch als Voraussetzung für die Teilnahme am Mahl postuliert werden (Did 14,1). So gibt es bei aller Übereinstimmung in der Mahlpraxis große Unterschiede in der Deutung des Mahls. Das wirft eine doppelte Fragestellung auf: Einerseits ist zu klären, worin die einheitliche Mahlpraxis ihren Ursprung hat, andererseits muß sich zeigen lassen, wie sich die vielfältigen Deutungen dazu verhalten. Das Problem ist komplex. Denn obwohl die Deutungen als theologische Reflexion der konkreten Mahlpraxis gegenüber sekundär sind, handelt es sich ja nicht um beliebig veränderliche Zutaten. Auch wenn ein bestimmter Ursprung des Mahls keine ganz spezielle Deutung impliziert, so ist doch der Spielraum für solche Deutungen begrenzt, und sie müssen sich bei aller Verschiedenheit in einem durch den Ursprung definierten, einheitlichen Rahmen verstehen lassen. [39] Antike Vereinsmähler und der Ursprung des christlichen Mahls Ich beginne mit dem Problem des Ursprungs: Warum haben alle Christen schon der allerfrühesten Zeit ein gemeinsames, religiös ausgezeichnetes Mahl gefeiert? Die Frage ist nicht so schlicht wie sie sich auf den ersten Blick vielleicht aus‐ nehmen mag. Denn einige der naheliegend erscheinenden Antworten erweisen sich sehr schnell als unzureichend. Eine erste, von der Wissenschaft häufig geäußert, 1 besagt, Jesus selbst habe das christliche Mahl gestiftet und den Jüngern beim letzten Mahl in Gethsemane eine regelmäßige Wiederholung befohlen. In der Tat enthalten zwei der vier neu‐ testamentlichen Berichte vom letzten Mahl Jesu einen Wiederholungsbefehl: „Tut dies zu meinem Gedächtnis! “ (Lk 22,19; 1Kor 11,24 f.). Diese Bestimmung des Ursprungs des Mahls impliziert eine bestimmte Deutung: Es ist Gedächtnis des Todes Jesu, und dieser Aspekt wird auch ausdrücklich benannt: „Sooft ihr von diesem Brot eßt und aus diesem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn“ (1Kor 11,26). Allerdings läßt sich diese Deutung nur für einen Teil der frühchristlichen Mahlüberlieferung - aufs Ganze gesehen, ist es der kleinere - nachweisen; in vielen anderen Texten fehlt nicht nur der Wiederholungsbefehl, sondern auch ein Bezug auf den Tod Jesu. 2 Zur Erklärung der großen Vielfalt 120 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="121"?> Mahltexten der Apostelgeschichte, in den Mahlgebeten der Didache, bei Justin (1Apol 65 ff.) oder in den Mahlgebeten aus der Sammlung des Bischofs Serapion von Thmuis usw. 3 Für viele andere: B. Kollmann: Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier (GTA 43). Göttingen 1990 (mit Lit.). 4 Mähler Jesu mit Jüngern: Mk 2,13 ff. par.; Joh 13 f. usw.; mit Pharisäern: Lk 7,36 ff.; 11,37 ff.; 14,1 ff. usw.; mit Zöllnern und Sündern: Mk 2,13 ff.; Lk 15,2; 19,1 ff. usw. frühchristlicher Mahldeutungen taugt diese Antwort also nicht. Darüber hinaus ist es äußerst unwahrscheinlich, daß ein so weitverbreitetes und vielfältiges Phänomen nur einen einzigen, punktuellen Ursprung haben sollte. Der umge‐ kehrte Weg ist plausibler: Da die Berichte der Evangelien über die Einsetzung des Mahls zu einer Zeit entstanden sind, als es längst eine breite, vielgestaltige [40] Mahlpraxis gab, versteht man sie sehr viel leichter als Versuch, eine bestimmte Deutung dieses Mahls legitimierend festzuschreiben. Ein anderer Ansatz versucht die Schwierigkeiten der Annahme eines einma‐ ligen Stiftungsaktes zu vermeiden und versteht die frühchristlichen Mähler als Fortsetzung der Mahlpraxis Jesu insgesamt. 3 In der Tat berichten die Evan‐ gelien, daß Jesus immer wieder mit seinen Jüngern und Sympathisanten, vor allem aber mit Zöllnern und Sündern zusammen gegessen habe. 4 Auch hier ist eine bestimmte Deutung des Mahls impliziert: Die Mahlgemeinschaft Jesu mit Zöllnern und Sündern ist in den Evangelien verstanden als Ausdruck der grenzenlosen Liebe Gottes: „Ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder“, erwidert Jesus auf den Vorwurf, er würde mit den falschen Leuten essen (Mk 2,17). Zwar ist diese Antwort sehr viel plausibler als die Annahme eines einma‐ ligen Stiftungsaktes, bleibt historisch aber ebenfalls unbefriedigend. Denn abgesehen davon, daß es keine verläßlichen Kriterien gibt, anhand derer sich die Historizität der Evangelienüberlieferung nachweisen ließe, wird die Frage nach dem Ursprung nicht beantwortet, sondern nur verschoben: Wie sollte Jesus darauf gekommen sein, die Liebe Gottes zu Sündern und Zöllnern ausgerechnet durch ein gemeinsames Mahl zum Ausdruck zu bringen? Wäre diese Vorstellung charakteristisch ausschließlich für Jesus, dann ergäben sich dieselben Schwierigkeiten wie bei der Annahme einer einmaligen Stiftung: ein singulärer, monokausaler Ursprung nämlich. Wäre die Vorstellung, daß das Mahl eine grenzüberschreitende Einheit stiftet, allerdings weiter verbreitet, würde es sich erübrigen, die frühchristliche Mahlpraxis durch das „Nadelöhr“ der Jesusüberlieferung zu erklären. [41] Man muß also etwas weiter zurückgehen und grundsätzlicher nach antiken Analogien zum frühchristlichen Mahl fragen, die sowohl den Hinter‐ 121 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="122"?> 5 Vgl. dazu F. Poland: Geschichte des griechischen Vereinswesens. Leipzig 1909 (= Ndr. 1967); E. Ziebarth: Das griechische Vereinswesen. Stuttgart 1896 (= Ndr. Wiesbaden 1969); F. M. Ausbüttel: Untersuchungen zu den Vereinen im Westen des Römischen Reiches (FAS 11). Kallmünz 1982. 6 Die aristotelischen Philosophen in Alexandria beispielsweise trafen sich im „Mouseion“ (also in einem Musenheiligtum) zu einem Gemeinschaftsmahl (Strabo, Geogr. XVII 1,8). Zu den Philosophenzirkeln insgesamt vgl. B. Sauter: Museum und Bildung. Hohen‐ gehren 1994, S. 58 ff. Außerdem IG XII/ 3, 330, Z.61 ff. oder Poseidonios, fr. 10 FGrHist 87 usw. grund der Mahlpraxis insgesamt erhellen als auch die spezielleren Nachrichten über die Zöllner- und Sündermähler Jesu oder die Einsetzungsberichte beim letzten Mahl erklären können. Die Antwort ist positiv und heißt: Vereinsmähler. Es hat in der hellenistisch-römischen Antike tatsächlich eine Vielzahl von Genossenschaften oder Vereinen gegeben, die sich allesamt zu regelmäßigen, gemeinschaftlichen Mählern versammelt und so das gesamte soziale Leben zutiefst bestimmt haben. Da der Erklärungswert dieser Analogie stark vom Ver‐ breitungsgrad dieser Vereinsmähler abhängt, ist es sinnvoll, sich Hintergrund und Ausmaß dieses Gemeinschaftslebens 5 vor Augen zu führen: Der Verlust der politischen Eigenständigkeit der griechischen Städte im 4. Jahrhundert v. Chr. brachte einen Bedeutungsverlust derjenigen politischen und sozialen Institutionen mit sich, die das öffentliche Leben nachhaltig geprägt hatten. Dieser Niedergang der griechischen Stadtkultur wurde durch die Entstehung zahlreicher halböffentlicher und privater Vereine kompensiert, die die meisten Funktionen der Polis absorbierten. Diese Vereine deckten fast alle Aspekte des öffentlichen Lebens ab, vor allem aber ermöglichten sie, was die Polis in besonderer Weise ausgezeichnet hatte: die Erfahrung von Gemeinschaft. Das zeigen einige Beispiele, die sich nicht nur auf Griechenland, sondern auf die gesamte hellenistisch-römische Welt beziehen: Religion und religiöse Gemeinschaft fand zum ganz überwiegenden Teil in solchen Vereinen statt. Zwar gab es überall auch staatliche Kulte, aber die waren rein quantitativ deutlich in der Minderzahl. Die ganz überwiegende normale Alltagsreligiosität hatte ihren Ort in kultischen Vereinigungen. [42] Alle höhere Bildung (jenseits des privaten Elementarunterrichts) fand in philo‐ sophischen, naturwissenschaftlichen oder medizinischen Zirkeln statt, die sich zu regelmäßigen Vereinsmählern trafen. 6 Auch typisch kommunale Aufgaben - zum Beispiel die Aufstellung einer Feuerwehr oder die Instandhaltung der Wasserversorgung - wurden in der Antike von solchen Vereinen übernommen, die dann nicht nur diese Aufgaben erfüllten, sondern sich auch regelmäßig trafen. 122 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="123"?> 7 Zu den sog. collegia funeraticia vgl. Ausbüttel, a. a. O.; W. Liebenam: Zur Geschichte und Organisation des römischen Vereinswesens. Leipzig 1890 (= Ndr. Aalen 1974), S. 39 ff. 8 J. Vondeling: Eranos. Utrecht 1961; M. San Nicolo: Ägyptisches Vereinswesen zur Zeit der Ptolemäer und der Römer II (MBPF 2/ 2). München 2 1972. 9 Besonders aufschlußreich ist eine attische Gründungsurkunde, nach der sich mehrere „Freunde“ als Verein konstituieren (IG II 2 1369). Unter den weiteren epigraphischen Belegen vgl. etwa: InscrSmyma 720; InscrLykien 69; IG VII 3224 usw. Daneben gab es eine Vielzahl von Berufsverbänden, die in manchem den mit‐ telalterlichen Gilden ähnelten. In diesen Gemeinschaften wurden die gemein‐ samen wirtschaftlichen Interessen wahrgenommen, und zwar in regelmäßigen Versammlungen. Weit verbreitet waren Vereine, deren Mitglieder sich gegen‐ seitig ökonomische Unterstützung gewährten. Das bekannteste Beispiel sind die sogenannten Begräbnisvereine in Rom, 7 die für eine anständige Beerdigung ihrer Mitglieder Sorge trugen; aber auch sonst ist belegt, daß Vereine wie Genos‐ senschaftsbanken oder Versicherungen nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit funktionierten. 8 Selbst Freunde, die nichts anderes tun wollten, als nur einfach in fröhlicher Runde zusammenzukommen, gründeten einen Verein, gaben sich eine Satzung und hielten regelmäßige Treffen ab. 9 Das heißt, nahezu alle Funktionen sozialen Lebens, die ursprünglich von den öffentlichen Institutionen der Polis wahrgenommen wurden, verlagerten sich in die Vereine, was zu einem sprunghaften Anstieg ihrer Zahl führte. Umgekehrt boten diese Vereine die Möglichkeit, Gemeinschaft zu erfahren: Nachdem die große Masse der Bevölkerung nicht mehr an den zeitraubenden politischen Entscheidungsprozessen auf dem Marktplatz beteiligt war, boten diese Vereine die Möglichkeiten zu sozialen Kontakten außerhalb der eigenen vier Wände. Unabhängig von solchen Vereinsversammlungen gab es [43] überhaupt keine Möglichkeit für die Erfahrung von Gemeinschaft. Von allergrößter Bedeutung ist es, daß das Gemeinschaftsleben all dieser Vereine im wesentlichen aus einem regelmäßig abgehaltenen Gemeinschafts‐ mahl bestand. Wer immer also Gemeinschaft pflegen wollte, ganz gleich zu welchem Zweck, der traf sich mit anderen zum gemeinsamen Essen und Trinken. Das ist der Hintergrund auch der frühchristlichen Mahlpraxis. Wenn Jesus mit den Jüngern oder mit Sündern und Zöllnern Gemeinschaft haben wollte oder wenn sich frühchristliche Gemeinden - zum Beispiel in Korinth - zum Gottesdienst versammelten, wenn also christliche Religiosität insgesamt das Zusammenkommen der Gemeindemitglieder erforderte und sich nicht in privater Spiritualität erschöpfte, dann war das gar nicht anders möglich, als sich zu einem gemeinsamen Mahl zu treffen. Die Antike hat neben dem 123 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="124"?> 10 Die klassische Untersuchung nach allgemeinen religionsphänomenologischen (und nicht historischen) Kriterien ist F. Bammel: Das heilige Essen im Glauben der Völker. Gütersloh 1950. 11 Allerdings gehört es sich, daß Frauen (und Kinder) nicht mit den Männern auf der Kline liegen, sondern auf Stühlen oder Sesseln (gr. hypopodion, lat. subsellium) dabeisitzen. Sofern griechische Vasenbilder Frauen mit Männern auf Klinen zeigen, handelt es sich immer um Hetären. Gemeinschaftsmahl überhaupt keine alternativen Sozialformen entwickelt, in denen Gemeinschaft praktiziert und erfahren werden konnte. Die frühchristliche Mahlpraxis hat ihren Grund also in den ganz besonderen historischen Bedingungen der hellenistisch-römischen Gesellschaft. Der sach‐ liche Ursprung des christlichen Mahls liegt daher weniger in einer speziellen Opfermetaphorik oder in dem allgemein-religiösen Elementarsymbol des ge‐ meinsamen Essens, das in den meisten Kulturen begegnet, 10 als vielmehr in der ganz besonderen Struktur der antiken Polisgesellschaft - einer der zentralen Wiegen der westlichen Kultur überhaupt. Diese Erkärung des sachlichen Hin‐ tergrunds erstreckt sich auch auf die vorösterlichen „Sündermähler“ oder eine mögliche Stiftung des Mahls durch Jesus. Aber sie ist nicht davon abhängig, daß diese Ereignisse historisch sind. Anders gesagt: Die Darstellung der Gemein‐ schaft [44] Jesu mit Jüngern, Zöllnern, Sündern oder Sympathisanten erforderte die Form des gemeinsamen Essens. Dementsprechend lag es für die Christen auch nahe, die besondere Identität ihrer Gemeinschaft durch einen Bericht von der Einsetzung des Mahles durch Jesus ätiologisch festzuschreiben: Christliche Gemeinden haben sich in Analogie zu paganen Vereinen verstanden, zumindest mußten sie von ihren Zeitgenossen in dieser Weise wahrgenommen werden. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang, daß die Analogie zwischen an‐ tiken Vereinen und frühchristlichen Gemeinden auch eine Entsprechung der jeweiligen Mähler und ihrer Gestalt bedingt. Denn so kann man sich auch ein anschauliches Bild der Mahlgottesdienste machen: wann und wo sie stattfanden, welche typischen Probleme dabei auftraten, was gegessen und getrunken wurde, wer daran teilnahm, wie sie finanziert wurden usw. - kurz: wie diese Mähler eigentlich genau aussahen. Der folgende Abriß setzt diese Entsprechung zwischen paganem und christlichem Mahl immer voraus. Räumlichkeiten Entscheidend für die Vorstellung frühchristlicher Gottesdienste ist zunächst, daß alle antiken Gemeinschaftsmähler Gelage waren: Man saß nicht, sondern man lag zu Tisch. 11 Dafür gab es besondere Speisesofas, die sogenannten Klinen; sie besaßen am oberen Ende eine Erhöhung (wenigstens aber ein Polster), 124 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="125"?> 12 Vgl. dazu K.M.D. Dunbabin: „Triclinium and Stibadium“. In: W. J. Slater (Hrsg.): Dining in a Classical Context. Ann Arbor 1991, S. 121-148; J. Rossiter: „Convivium and Villa in Late Antiquity“ ebd. S. 199-214; B. Bergquist: „Sympotic Space: A Functional Aspect of Greek Dining-Rooms“. In: O. Murray (ebd.): Sympotica. Oxford 1990, S. 37-65. 13 Aus Chr. Börker: Festbankett und griechische Architektur (Xenia 4). Konstanz 1983, S. 20 (Abb. 2). auf der man sich abstützen konnte. Die Klinen sind immer in Form eines Hufeisens oder eines Halbkreises angeordnet; eine solche Klinenrunde heißt Triklinium, weil sie im einfachsten Fall aus drei über Eck gestellten Klinen bestand. Diese Gelageform ist durch unzählige bildhafte, archäologische und literarische Zeugnisse belegt. Abbildung 1: Rekonstruktion eines Bankettraums der Süd-Stoa auf der Athener Agora Die privaten Speisezimmer [45] der griechischen und römischen Häuser waren ebenso in dieser Triklinienform angeordnet 12 wie öffentliche Banketträume. Einen anschaulichen Eindruck vermittelt die Rekonstruktion eines Bankettraums der Süd-Stoa auf der Athener Agora (Abb. 1). 13 Deutlich zu erkennen sind die Polsterung der Klinen und ihre Erhöhung am Kopfteil. Die Symposiasten lagern halb auf dem Rücken, halb auf der Seite und stützen sich mit den linken Ellbogen ab. Plutarch, dessen „Gastmahlsfragen“ wir 125 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="126"?> 14 Plutarch, Quaestiones Convivales V 6 (679E) im Rahmen der Diskussion zum Thema Platzbedarf beim Symposion. 15 Chr. Börker, a. a. O., S. 29 (Abb. 13). 16 Plutarch, Quaest. Conv. V 5 (679A/ B). 17 Zu diesen Hauskirchen vgl. H.-J. Klauck: Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103). Stuttgart 1981. zahlreiche wichtige Informationen verdanken, beschreibt diese Gelagehaltung und führt aus, daß man zunächst beim Mahl mehr auf dem Bauch als auf der Seite liegt (um auf den Tisch sehen zu können) und daher mehr Platz benötigt als später beim Symposion, bei dem man mehr auf der Seite liegt. 14 Dieses Triklinium bot sieben Teilnehmern Platz (insgesamt gab es dort 15 solcher [46] Räume), die Klinen sind in U-Form aufgestellt und lassen eine Querseite frei. Wenn ein Mahl nicht im familiären Speisezimmer oder im Repräsentati‐ onsraum eines privaten Hauses stattfand, dann traf man sich in derartigen Räumlichkeiten. Es gab auch größere Gebäude oder ganze Gebäudekomplexe. Eines von vielen Beispielen ist das Deipnisterion des Asklepiosheiligtums in Troizen in der Argolis (Abb. 2). 15 Um einen großen Hof mit Peristyl sind vier kleinere Banketträume für je neun Mahlteilnehmer angeordnet. In [47] allen Triklinien ist in der Mitte der Sockel für den Schanktisch erkennbar, auf dem der Krater stand, in dem der Wein gemischt wurde. Wichtig ist die auf der Südseite des Hofes gelegene Halle, die durch drei Säulen abgestützt ist. Dadurch wird der Raum in vier Abschnitte unterteilt, in denen sich vier offene Triklinien mit 14 bis 17 Klinen befinden. Dieser Raum bot also Platz für bis zu 61 Personen. An dieser Halle läßt sich ein charakteristisches Phänomen beobachten: Bei steigendem Platzbedarf vergrößerte man nicht die Anzahl der Klinen innerhalb eines Trikliniums, sondern erhöhte die Anzahl der Triklinien. Am weitesten verbreitet waren Triklinien mit neun bis 15 Teilneh‐ mern. Warum sich dieses Maß durchgesetzt hat, erklärt wiederum Plutarch: In einem größeren Triklinium ist ein gemeinsames Gespräch der Symposiasten nicht mehr möglich, es entstehen dann kleinere Gesprächsgruppen von zwei oder drei Gästen; bei einer größeren Zahl von Symposiasten sei es daher besser, mehrere Triklinien einzurichten als die Einheit der Gesprächsrunde innerhalb eines solchen Trikliniums aufzugeben. 16 Wenn also die Evangelien berichten, daß Jesus mit den zwölf Jüngern das Passahmahl hielt, dann ist das ziemlich genau die ideale Größe für ein normales, schönes Symposion. Wenn sich christliche Gemeinden nicht gerade im Wohnzimmer eines Ge‐ meindemitglieds trafen, 17 dann muß man sich die Räumlichkeiten, in denen diese gottesdienstlichen Treffen stattfanden, ähnlich wie jene für Symposien vorstellen. Aus Korinth sind im Neuen Testament beispielsweise 17 Christen 126 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="127"?> Abbildung 2: Grundriß des Deipnisterions des Asklepiosheiligtums in Troizen/ Argolis namentlich bekannt. Wenn man noch eine gewisse Dunkelziffer dazuzählt und in Rechnung stellt, daß der eine oder andere Christ ja auch sein „Haus“ also Frau, Kinder und Sklaven zur Versammlung mitbrachte, dann kommt man sehr schnell auf eine Zahl, die sich beim besten Willen nicht [48] mehr in einem privaten Speisezimmer unterbringen ließ. In diesem Fall wurde solch 127 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="128"?> 18 Vgl. die Beschlüsse über Anmietung bzw. Bau von Vereinsräumen, z. B. SIG 3 987 (Chios, 4. Jahrhundert v. Chr.; hier mit dem Beschluß, die Gerätschaften des Vereins aus den Privathäusern in das neue Gebäude zu überführen); SB V 8267,25 ff.; CIL III 1174; VIII 2551 ff.; XIV 45. 424; IX 5177 usw. 19 Act 19,9; der Terminus, der häufig etwas ungenau mit „Lehrhalle“ übersetzt wird, heißt schale. Aber auch im Lateinischen ist schola kein Vorlesungsgebäude, sondern ein Vereinsraum, der mit Triklinien ausgestattet ist. 20 Das Gelage heißt gr. kōmos (oder symposion), lat. comissatio (oder convivium); dabei werden die Bezeichnungen symposion bzw. convivium auch als pars pro toto für die gesamte Mahlveranstaltung verwendet. 21 Was bei Vereinssyssitien verzehrt wurde, läßt sich nur noch bruchstückhaft rekon‐ struieren, vgl. dazu M. Klinghardt: Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen 1996, S. 55 ff.; besser informiert sind wir über die normale Kost in durchschnittlichen (auch ärmlicheren) Haushaltungen in Griechenland und in Rom (ebd. S. 50 ff.). 22 Aulus Gellius, Noctes Atticae XIII 11,6; Macrobius, sat. II 8,3; III 18,1 usw. Allerdings gab es gelegentlich vor Beginn des Mahls einen „Vortrunk“ (gr. propoma, lat. promulsis), der die Funktion eines Aperitifs hatte und deswegen besonders anregend sein sollte, vgl. etwa Phylarch, fr. 51 FGrHist 81; Cicero, Ad Fam. IX 16,8; 20,1. Dieser Aperitif war im Idealfall kein Wein (Wein auf nüchternen Magen ist ungesund! ), sondern mit Honig versetzter Süßmost (Cicero, Orat. II 282; Plinius, Nat. hist. XXII 114; Plutarch, Quaest. Conv. 655E/ 656B). ein Bankettraum angemietet. 18 Genau das berichtet die Apostelgeschichte für die Gemeinde in Ephesus: Als die Gemeinde wuchs, soll Paulus dort den Bankettraum eines gewissen Tyrannos angemietet haben. 19 Mahl und Libationszeremonie Wichtiger als die Räumlichkeiten ist, was darin vorging. Denn die Gemein‐ schaftsmähler, die regelmäßig am späten Nachmittag begannen und sich bis in den Abend hinein hinzogen, hatten immer dieselbe Gestalt: Am Anfang stand das gemeinsame Essen (gr. deipnon oder syssition, lat. cena), dann folgte eine religiöse Zeremonie mit einem gemeinsamen Gebet, und den Abschluß bildete das gemeinsame Trinkgelage. 20 Die Speisen, die zum Mahl aufgetragen wurden, unterschieden sich in Quantität und Qualität natürlich erheblich: Was auf der Speisekarte stand, war abhängig von den ökonomischen Möglichkeiten des Gastgebers oder der Teilnehmer. In der Regel wurden mehrere Gänge serviert, außer Gemüse und Salaten gab es bei Gemeinschaftsmählern fast immer auch Fleisch - dies übrigens im Unterschied zu den privaten Mahlzeiten, die man bei sich zu Hause im Familienkreis einnahm und die oft deutlich ärmlicher ausfielen. 21 Es gehörte zum guten Ton, während des Essens nicht zu trinken. 22 128 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="129"?> 23 An regelrechtem Eßbesteck kannte man nur Messer und kleine Löffel für bestimmte hochwertige Delikatessen wie Muscheln: In der Regel handelt es sich um Luxusgegen‐ stände. Normalerweise wurden die Speisen daher bereits in der Küche zerlegt und portioniert aufgetragen. 24 Zur Flötenbegleitung des Päan vgl. etwa Plutarch, Quaest. Conv. VII 8 (713A): „Die Flöte läßt sich nicht vom Tisch verdrängen, selbst wenn man es wollte; sie ist für die Spenden so notwendig wie die Kränze; und sie erklingt zum Päan an die Gottheit.“ Vgl. auch Sept. sap. conv. 5 (150D); Platon, Symp. 176E; Properz IV 6,8 usw. Wegen dieser Bedeutung der Flöte ist es verständlich, daß sich unter den Beamten zahlreicher Vereine auch professionelle Flötenspieler finden, z. B. IG IX/ 1 2 , 247. 248. 250; IG V/ 1, 209; IG XIV 617 (hier heißt er spondaulēs, also etwa: „Libationsflötist“); CIG 1798. 3068 usw. Wenn die Berichte über christliche Mähler immer wieder nur Brot und Wein erwähnen, dann heißt das nicht, daß es sonst nichts zu essen gegeben hätte, sondern nur, daß über Brot und Wein gebetet wurde. Die Römer und Griechen kennen kein Gebet zu Beginn des Essens, wohl aber die Juden, und die Christen haben es von ihnen übernommen. Das Mahl beginnt mit einem Gebet über einem [49] Stück Brot: „Und beim Mahl nahm er das Brot und sprach (darüber) den Segen. Dann brach er es und gab es ihnen …“ (Mk 14,22) - damit fängt das Mahl an. Das heißt, einer spricht für alle das Dankgebet für das Essen, das dampfend auf dem Tisch steht; er bricht das Brot in mehrere Teile und verteilt diese unter die Mahlteilnehmer. Die brauchen das auch, denn das Brot dient als Besteck, 23 mit denen man die Speisen auflöffelt oder auftunkt. Wer besonders gierig ist und vor dem Eingangsgebet anfangen will, verbrennt sich also die Finger, weil er noch kein Besteck hat. Nach dem Essen wurden die Tische abgeräumt und der Wein hereingebracht. Es folgte eine religiöse Zeremonie, die Libation oder Spende. Diese Libation fehlte in keinem Mahl. Es handelt sich dabei um ein Opfer, bei dem manchmal Speisereste, immer aber ein Schluck Wein dargebracht wurde: Alle tranken einen kleinen Schluck (noch unverdünnten) Weins aus einem gemeinsamen Becher, anschließend wurde meistens noch ein kleiner Schluck als Spende entweder auf den Boden oder ins Herdfeuer vergossen. Diese Libationszeremonie war von einem gemeinsamen Gebet begleitet, dem Päan. Das heißt, alle Symposien - nicht nur diejenigen, die von religiösen Gemeinschaften veranstaltet wurden - besaßen einen mehr oder weniger ausgeprägten religiösen Aspekt. Der Päan wurde immer von allen Teilnehmern unisono zur Flötenbegleitung rezitiert. 24 Das gibt es auch im frühen Chris‐ tentum: „Und (nach dem Essen) nahm er den Kelch und sprach (darüber) das Dankgebet und dann gab er ihn ihnen, und sie alle tranken daraus“ (Mk 14,23) In jüdischem Kontext und auch im frühen Christentum ist eine regelrechte Libation mit einem Gebet an Zeus und andere Götter natürlich undenkbar; 129 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="130"?> 25 Die wichtigsten Zeugnisse sind bei Klinghardt, a. a. O. S. 392 ff., zusammengetragen. 26 Platon, Lacon. fr. 71 PCG VII 462 f. (bei Athenaeus, Deipn. XV 665B-D). es wird durch ein Dankgebet [50] ersetzt. Auf griechisch heißt „Dank“ oder „Dankgebet“ eucharistia, und von daher hat das ganze Mahl seinen Namen. In den Berichten vom letzten Abendmahl ist es Jesus, der stellvertretend für alle betet; das ist charakteristisch für die Rolle des Gastgebers bei privaten Einladungen. Im frühen Christentum ist es zunächst die Gemeinschaft insge‐ samt, die das Gebet unisono rezitiert. Genau genommen wurde dieses Gebet - wie auch der Päan - nicht gesprochen, sondern gesungen, da die Antike alles gebundene Sprechen als Singen bezeichnet. Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Wenn in der Antike eine Gruppe von Menschen - also ein Chor - einen Sprechgesang rezitiert bzw. singt, dann ist das nie ohne rhythmische Bewegung zumindest der Hände denkbar. Das griechische Wort für diese Aktivität heißt choreuein, zu deutsch „tanzen“, und es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Hinweisen darauf, daß auch die Christen zu diesem wichtigen Gebet nach dem Mahl getanzt haben. 25 Symposion und Symposienunterhaltung An diese Libationszeremonie schloß sich dann regelmäßig das an, was man oft für das Wichtigste hielt und was in den Schilderungen meistens den größten Raum einnimmt: das Symposion, also das eigentliche Trinkgelage. Den Übergang vom Mahl über die Libation zum Symposion thematisiert ein Fragment des Komödiendichters (nicht des Philosophen) Platon, in dem sich zwei Sklaven unterhalten: „Haben die Herren schon fertig gegessen? - Fast alle. - Gut. Warum eilst du nicht und trägst die Tische fort? Ich will gehen und Lauge ausgießen. - Dann kehre ich aus. Nachdem ich die Spenden dargebracht habe, stelle ich den Kottabos bereit. Die Flöten für die Sklavin müßten zur Hand und eingeblasen [51] sein. Mach dich auf und gieße ägyptisches Parfum und Irisduft aus; ich bringe dann einen Kranz für jeden der Symposiasten. Ein neuer Mischkrug soll bereitet werden! - Es ist schon gemischt. - Lege dann den Weihrauch auf […] Die Libation ist bereits vollzogen, und sie sind weiter beim Trinken; auch das Skolion ist gesungen, und der Kottabos ist schon heraus. Ein Mädchen hat die Flöten und spielt eine karische Melodie für die Symposiasten; eine andere sah ich, die eine dreieckige Harfe hat, und sie sang dazu eine ionische Melodie.“ 26 Nach dem Mahl wurden die Tische abgeräumt und der Raum von Speiseresten gereinigt, bevor „die Spenden dargebracht“ werden können - das ist die 130 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="131"?> 27 Athenaeus, Deipn. X 426c; vgl. auch Aristophanes, Plut. 1133. Abbildung 3: Bankettszene (rf. Dinos aus Apulien, Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr.) Libationszeremonie mit dem Päan, zu der man die Flötenbegleitung benötigt. Außerdem erhalten die Symposiasten Kränze und Salböl, das über den Kopf gegossen und zur Erfrischung einmassiert wird. Danach beginnt das eigentliche Symposion: Weihrauch wird auf die Räucherpfannen gelegt und Wein gemischt, das heißt, er wurde mit Wasser verdünnt. Der Genuß von ungemischtem Wein galt als extrem gesundheitsgefährdend und barbarisch; Plutarch hält das Verhältnis von drei Teilen Wasser zu einem Teil Wein für eine harmonische Mischung, die „zum Schlaf führt“ (Quaest. Conv. III 9 [657d]), die Mischung 1: 1 ist dagegen noch gefährlich und „führt zur Verücktheit“. 27 Für das eigentliche Sym‐ posion sind mehrere Formen von Nachtischunterhaltung genannt: Der Kottabos ist ein beliebtes sympotisches Spiel, Skolien sind typische Symposienlieder, es wird (mit dem Doppelaulos und der Harfe) musiziert. Wie die Gestaltung des Symposions im einzelnen aussah, war natürlich stark von den Bedürfnissen und Möglichkeiten der jeweiligen Gesellschaft abhängig. Aber dank der zahlreichen literarischen, inschriftlichen und [52] bildlichen Zeugnisse kann man nicht nur ein ziemlich genaues Bild entwerfen, sondern 131 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="132"?> 28 Rotfiguriger Dinos aus Apulien, Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. (Brit. Mus., Inv. F 303). Die Abbildung ist entnommen aus: A. D. Trendall, A. Cambitoglu: The Red-Figured Vases of Apulia I. Oxford 1978, Taf. 107/ 2. 29 Cicero, In Pison. 27,67. S. auch Horaz, Sat. I 4,86. Bei „normalen“ Triklinien mit je drei Klinen vor allem bei Privateinladungen ergab das also neun Teilnehmer (Plautus, Stich. 487; Aulus Gellius, Noct. Att. XIII 11,2 usw.). auch zwischen weitverbreiteten, charakteristischen und weniger typischen Formen unterscheiden. Ein gutes Beispiel ist die Bankettszene auf einem rotfigurigen Dinos (Abb. 3). 28 Zu sehen sind drei Symposiasten, die zusammen auf einer großen Kline liegen; das war nicht unüblich, immerhin hat jeder sein eigenes Polster, um sich abzustützen. Allerdings hielt Cicero mehr als drei Symposiasten auf einer Liege nicht nur für unbequem, sondern auch für ungehörig, weil das gedrängte Liegen dem Verdacht sexueller Annäherung Vorschub leistete. 29 Die Kränze der Sym‐ posiasten und die Trinkgefäße sind eindeutige Indizien dafür, daß hier nicht ein Mahl abgebildet ist, sondern das Symposion nach der Libation. Auf den Tisch‐ chen [53] sind daher auch nicht die Speisen der Hauptmahlzeit zu sehen, sondern typische Bestandteile des Nachtischs, der während des Symposions gereicht wurde: Gebäck, Eier und ein Granatapfel (außerdem eine flache Siana-Schale und ein hochhenkliger Kantharos). Außerhalb des Bildausschnitts befindet sich links eine Flötenspielerin, rechts eine Sklavin, die gerade Weihrauch auf eine Räucherpfanne legt. Aufschlußreich ist, was die Symposiasten tun, denn der Künstler hat jeden der drei bei einer anderen typischen Nachtischaktivität dargestellt: Der mittlere Symposiast hält in der rechten Hand eine Kylix, eine flache Trinkschale, und zwar auf recht eigenartige Weise. So ist der Zeigefinger von unten durch den waagerechten Henkel gesteckt - der Symposiast hält sie im Schleuderwurf, also in der für das Kottabosspiel charakteristischen Haltung: Nachdem die Schale leergetrunken war, schleuderte man die Nagelprobe mit einer plötzlichen Bewegung in eine Metallschale, die frei schwingend an einem Ständer hing. Wer in die Schale traf und sie mit dem Weinrest in Bewegung setzte, hatte gewonnen. Der Kottabosständer ist hier allerdings nicht abgebildet. Der linke Symposiast hat keinen Becher in der Hand, sondern einen Myrten‐ zweig. Er ist bei einer anderen typischen Nachtischunterhaltung: Er singt. Es war üblich, daß - nach Libation, Päan und Bekränzung - ein Myrtenzweig herumgereicht wurde. Wer ihn bekam, mußte für alle ein Lied singen. Diese Lieder heißen Skolien und sind vom Päan deutlich unterschieden. Plutarch erklärt dazu (Quaest. Conv. I 5 (615a/ b]): „Man sang zuerst das Lied des Gottes, indem alle gemeinsam mit einer Stimme den Päan sangen. Darauf aber sang jeder der Reihe nach, wenn ihm der Myrtenzweig 132 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="133"?> 30 Cicero, Cato mai. XIII 45 f. Vgl. ebd. 46: „Es ist daher ganz richtig, daß die Alten die Trinkgelage ein Zusammenleben (convivium) nannten, weil es eine gemeinsame Lebensgestaltung war. Sie trafen damit die Sache besser als die Griechen, die das gleiche Geschehen als Zusammentrinken (compotatio = symposion) … bezeichneten.“ übergeben wurde … Manche sagen, daß der Myrtenzweig nicht der Reihe nach herumgegangen sei, sondern einem jeden von Kline zu [54] Kline weitergereicht wurde: Der erste, der gesungen habe, habe ihn zum ersten auf der zweiten Kline weitergegeben, jener zum ersten auf der dritten Kline; dann der zweite (Symposiast auf der ersten Kline) in gleicher Weise zum zweiten auf der zweiten Kline. Wegen dieser vielfachen Abwechslungen und Wendungen sei dann der Gesang selbst auch Skolion genannt worden“ - denn das griechische skolion heißt „unregelmäßig, krumm“. Es ist klar, daß bei dieser Aufführungspraxis schon mal Unordnung und Unruhe auftreten. Der rechte Symposiast hält eine Omphalosphiale, eine flache Trinkschale, mit dem Mischwein. Er trinkt also, und das ist natürlich das wichtigste. Aber er hat den Kopf gedreht und schaut ganz interessiert zu dem Symposiasten auf der nächsten Kline: Er unterhält sich. Daß diese Tischgespräche für viele das Wichtigste am Symposion waren, ist durch ungezählte Zeugnisse belegt. Cicero schreibt zum Beispiel einmal: „Ich habe das Vergnügen an den Gastmählern nicht nach den körperlichen Freuden (also: reichlich essen und gut trinken) bemessen, sondern mehr noch nach dem Zusammensein mit Freunden und dem Gespräch.“ Und er fährt fort: „Mir macht es bei meiner Freude am Gespräch sogar Vergnügen, wenn Gastmähler recht früh beginnen.“ 30 Die Darstellung der drei Symposiasten ist charakteristisch für die Unterhaltung während des Symposions. Da die Darstellung keinerlei erotische Aspekte enthält, die etwa für zahlreiche Darstellungen von Gelagen mit Hetären typisch sind, fällt die hier gezeigte Unterhaltung beim Symposion, in nichts aus dem Rahmen gutbürgerlicher Wohlanständigkeit: Spiel und Spaß, Gesang und Muse, Gespräch und Bildung. Auch wenn es auf den ersten Blick befremdlich ist: Da die Gottesdienste des frühen Christentums in den ersten beiden Jahrhunderten solche abendlichen Symposien waren, [55] muß man sie sich wohl ähnlich wie das hier Dargestellte vorstellen. Es gab also keine Kirchenbänke, sondern Speisesofas, die in Trikli‐ nienform aufgestellt waren. Es gab keinen Altar, sondern kleine Tischchen für jeden Teilnehmer. Es gab keinen Priester, der für die anderen die Messe zelebriert hätte, vielmehr haben alle gemeinsam gegessen, gebetet und getrunken. Es gab auch keinen Pfarrer, der eine Predigt gehalten hätte, sondern nur die 133 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="134"?> gemeinsame Unterhaltung und wechselseitige Belehrung beim Symposion, zu der jeder Teilnehmer etwas beizutragen hatte. Wenn es Schwierigkeiten bereitet, sich beispielsweise die korinthische Gemeinde bei ihrer gottesdienstlichen Versammlung so vorzustellen wie die drei Symposiasten auf diesem Vasenbild, darf man sich getrost den mittleren wegdenken - denn daß in den christlichen Versammlungen Trinkspiele veranstaltet wurden, ist nicht belegt. Aber der Rest stimmt; Gesang und Gespräch beim Wein sind wohl durchaus charakteristisch auch für einen christlichen Mahlgottesdienst. Paulus schreibt im 1. Korinther‐ brief: „Was soll also (beim Symposion) geschehen, Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, dann hat jeder von euch einen Psalm, jeder eine Belehrung, eine Offenbarung, eine Zungenrede, eine Übersetzung. Alles soll zur wechselseitigen Erbauung geschehen“ (1Kor 14,26). Das heißt; beim Symposion in Korinth gab es neben der Zungenrede auch Gesang und Unterhaltung; die hier als Lehre verstanden wird. Und jeder Teilnehmer trug etwas zur Unterhaltung und zur Freude seiner Mitchristen bei - Paulus sagt: zu ihrer Erbauung; Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, daß dieser Gottesdienst so anders aussieht als das, was uns vertraut ist. Und ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß auf den Tischchen beim Symposion [56] in Korinth Nachtisch stand und der eine Nüßchen knabberte, während der andere gerade einen Psalm sang oder eine Offenbarung mitteilte: Die Gestalt der Symposien - ganz gleich ob bei Griechen, Römern, Juden oder Christen - blieb über Jahrhunderte hinweg immer dieselbe. Schon lange vor der Entstehung des Christentums hatte das antike Gemeinschaftsmahl seine eigene ritualisierte Form gefunden. Pagane und christliche Deutungen des Gemeinschaftsmahls Die Tatsache, daß die frühchristlichen Mahlgottesdienste nichts anderes waren als ganz normale, verbreitete Symposien, beantwortet nicht nur die erste Frage nach dem Ursprung der christlichen Mahlpraxis, sondern es werden auch die sehr unterschiedlichen Mahldeutungen auf einem einheitlichen Hintergrund verständlich. Denn daß die Vereine in der hellenistischen und römischen Zeit die sozialen Funktionen der Polis ganz weitgehend absorbiert hatten, deutet nicht nur auf die Entstehung einer Sozialform hin, die sich sehr schnell verbreitete und bald die einzige Möglichkeit institutionalisierter oder gesellschaftlich möglicher Gemeinschaftserfahrung jenseits der Grenzen des Privathauses wurde. Diese 134 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="135"?> 31 Den Zusammenhang zwischen politischem und sympotischem Frieden thematisiert wiederholt Theognis (757-764; 773-782); vgl. dazu D. B. Levine: „Symposium and the Polis“. In: T.J. Figueira, G. Nagy (Hrsg.): Theognis of Megara: Poetry and the Polis. Baltimore-London 1985, S. 176-196. 32 Lukian, deor. dial. 13 (15). Der Streit um den besseren Platz („dieser Giftmischer soll über mir liegen? ! “) ist ganz typisch für die vorausgesetzte Symposiensituation, vgl. etwa Plutarch, sept. sap. conv. 3 (148F-149B); Dio Chrysost., Or. XXX 29 etc. Entwicklung brachte es auch mit sich, daß die Wertvorstellungen, die die ideale Bürgergemeinschaft der Polis ausgezeichnet hatten, in zunehmendem Maß auf diese Vereine übertragen wurden - und auf ihr Gemeinschaftsleben in den Symposien. Der Niedergang der griechischen Poliskultur, die zunehmende Unübersichtlichkeit, die immer größer werdenden ökonomischen Gegensätze und die sich immer stärker ausprägende soziale Schichtung hatten dazu geführt, daß man das Symposion als den [57] - einzigen! - Ort ansah, an dem eine vollkommene, ideale Gemeinschaft noch möglich war: Das Gemeinschaftsmahl wurde zur konkreten Utopie und „absorbierte“ all diejenigen Wertvorstellungen, die in der Polisgemeinschaft nicht - oder nicht mehr - zu verwirklichen waren. Es gibt also eine ganz stabile Mahlideologie mit einem relativ festen Bestand an Wertvorstellungen. Und das christliche Mahl hat mit seinen paganen Ana‐ logien nicht nur die äußere Form des Gemeinschaftsmahls gemein, sondern partizipiert grundsätzlich auch an dieser Ideologie, die ihm anhaftet. Man könnte sagen: Die unterschiedlichen Deutungen des frühchristlichen Mahls sind zu verstehen als je und je besondere Akzentuierungen dieser allgemeineren, weitverbreiteten Mahlwerte. Die große Ähnlichkeit zwischen griechisch-römi‐ schen und christlichen Deutungen des Mahls ist dabei nicht im Sinne einer Nachahmung zu beurteilen, sondern eher als Zeichen für eine gemeinsame Zugehörigkeit zu einer ganz breiten Mahlkultur. Ich möchte das an einigen Beispielen kurz veranschaulichen: Friede, Eintracht und Freundschaft Die wichtigsten Werte, die ein gelungenes Mahl auszeichnen, sind die Eintracht und Freundschaft der Mahlteilnehmer untereinander, also die Abwesenheit von Streit und Zwietracht. Daß das Mahl diese Werte zum Ausdruck bringt, ist in unzähligen Texten bezeugt. 31 Der Satiriker Lukian hat in seinen „Göttergesprächen“ ein Symposion der olympischen Götter geschildert. Als es da zwischen Asklepios und Herakles zu einem Streit über den besseren Platz kommt, fährt der Götterväter Zeus barsch dazwischen: „Bei Tisch darf Streit nicht sein! “ 32 Nein, natürlich nicht - denn der Streit hebt die Gemeinschaft, die das Symposion verkörpert, auf: Es gehört 135 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="136"?> 33 Anakreon, fr. 96 DIEHL = 1 WEST. Daß beim Symposion nicht vom Krieg gesprochen werden soll, sagt auch Xenophanes (fr. 1 Diels/ Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker): Man soll nicht von mythischen Schlachten reden oder von „tobendem Bürgerzwist; dann darin liegt kein Nutzen. Aber der Götter allzeit fürsorglich zu gedenken ist gut.“ 34 Did 14,1 f. Das Opfer, von dem hier die Rede ist, ist das Dankopfer des gemeinsamen Gebets (das ist ganz weit verbreiteter Sprachgebrauch), nicht aber eine rituelle Opfer‐ handlung. 35 Jud 12; Ignatius von Antiochien, Smyrn 8,2: „Es ist nicht erlaubt, ohne den Bischof zu taufen oder ein Liebesmahl zu. halten“ (wörtlich „eine Liebe veranstalten“ - agapēn poiein) usw. sich [58] noch nicht einmal, daß man bei Tisch über Streit und Krieg redet. Bei Anakreon, dem Meister der sympotischen Dichtung, heißt es in einem Skolion „Den liebe ich nicht, der beim Trinken, wenn der Krater gefüllt ist, von Streit und tränenreichem Krieg spricht. Sondern den (liebe ich), der die glänzenden Gaben der Aphrodite mit den Musen vermischt und lieblichen Frohsinns gedenkt.“ 33 Man muß desweg über Liebe und Liebesdichtung - also: die Gaben der Aphro‐ dite und die Musen - reden; aber nicht über Krieg und Streit, weil das Symposion der Ort der Eintracht und der Liebe ist, an dem Streit keinen Platz hat. Dazu auch ein christliches Beispiel: In der Didache, einer Gemeindeordnung vom Ende des ersten Jahrhunderts heißt es: „An jedem Herrentag, wenn ihr zusammenkommt, brecht das Brot und sagt Dank, nachdem ihr zuvor eure Übertretungen bekannt habt, damit euer Opfer rein sei. Jeder aber, der Streit mit seinem Nächsten hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich ausgesöhnt haben, damit euer Opfer nicht entweiht werde! “ 34 Wie wichtig Eintracht beim Mahl auch für Christen war, zeigen noch andere Texte. Die Apostelgeschichte zum Beispiel erzählt, wie die erste Gemeinde in Jerusalem täglich zusammen kam, einmütig das Brot brach und „voller Jubel und Einfalt des Herzens“ aß (Act 2,46). „Einfalt des Herzens“ steht hier für Eintracht: Das Herz dieser Christen war nicht gespalten und „hintenherum“. Man hielt die Eintracht beim Mahl für so charakteristisch, daß das christliche Mahl insgesamt auch agape, also „Liebe“ heißen konnte. 35 [59] Gleichheit Solche Eintracht war nur zu gewährleisten, wenn die Mahlteilnehmer ihr Verhältnis untereinander als gleich empfanden. Diese Gleichheit war gerade deshalb ein so hoher Wert des Mahls, weil sie außerhalb nicht bzw. nicht mehr existierte. Diese Differenz zwischen dem gesellschaftlichen Rang der Mahlteilnehmer außerhalb und ihrer Gleichheit beim Symposion hat Plutarch 136 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="137"?> 36 Plutarch, Quaest. Conv. I 2 (616F). 37 Gleichheit (isotēs) bzw. Gleichverteilung (isonomia) ist der Höchstwert, an dem Platons staatstheoretische Entwürfe orientiert sind. Da aber eine absolut-distributive Isonomie („allen dasselbe“) anarchisch ist (Pol. VIII 558c), wird an ihre Stelle eine relativ-propor‐ tionale Isonomie gesetzt („jedem das, was ihm seiner Tugend nach zusteht“: Nom. 765E-758A) - schon Platon konnte also das Gleichheitsideal nicht mehr ungebrochen durchhalten; vgl. dazu J. Derbolav: Von den Bedingungen gerechter Herrschaft. Studien zu Platon und Aristoteles. Stuttgart 1979, S. 18-61. 38 Vgl. dazu das Material bei Klinghardt, a. a. O. S. 78 ff.; S. 139 ff. beschäftigt. Er führt dazu aus, daß das Symposion „demokratisch und kein herausgehobener Platz wie eine Burg sei, in der die Reichen zu Tisch liegen und das gemeine Volk knechten“. 36 Das Symposion ist also ein ideales Gegenbild zu den realen gesellschaftlichen Differenzen. Besonders schön kommt das an Lukians Symposienregeln zum Ausdruck: „Jedermann soll sich dort niederlegen, wo er gerade ist. Rang, Geschlecht oder Reichtum sollen das Recht zur Erstzuteilung nicht beeinflussen. Alle sollen den gleichen Wein trinken, und weder Magenprobleme noch Kopf‐ schmerzen dürfen dem Reichen als Vorwand dienen, als einziger etwas Besseres zu trinken. Die Fleischportionen sollen für alle gleich sein. Die Diener sollen niemanden bevor‐ zugen […] Weder sollen dem einen große, dem anderen kleine Portionen vorgesetzt werden, noch dem einen Schinken, dem anderen Schweinsbacken. Stattdessen: Gleichheit für alle! “ (Saturn. 17) Lukian entwirft in seinen Saturnalia, aus denen dieses Stück stammt, ein sozi‐ alutopisches Programm: Die Differenz zwischen der realen gesellschaftlichen Erfahrung und dem Mahl, das die ideale Gemeinschaft repräsentiert ist also konstitutiv. 37 Die Themen, die Lukian anspricht sind nicht zufällig, sondern benennen die vorprogrammierte Sollbruchstelle sympotischer Eintracht: Streit um [60] Plätze sowie um bessere bzw. größere Anteile am Mahl. Wenn gerade diese beiden Problembereiche in der Literatur wieder und wieder diskutiert werden, 38 liegt dies daran, daß hier die außerhalb der Gemeinschaft existie‐ renden sozialen und ökonomischen Differenzen sich im Symposion selbst niederschlagen: Soll die Mahlgemeinschaft die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Teilnehmern exakt widerspiegeln, oder soll sie eher ein Gegenbild dazu entwerfen und die Unterschiede nivellieren? Auch im Neuen Testament werden diese beiden Probleme - Platzwahl und Speiseanteile - anhand des Stichworts „Unterschiede machen“ thematisiert. 137 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="138"?> 39 Vgl. dazu Chr. Burchard: „Gemeinde in der strohernen Epistel. Mutmaßungen über Jakobus“. In: D. Lührmann, G. Strecker (Hrsg.): Kirche (FS G. Bornkamm). Tübingen 1980, S. 315-328. 40 Da diese Rekonstruktion des Ausgangsproblems und der paulinischen Lösung nicht unbestritten ist, verweise ich auf die ausführliche Begründung in Gemeinschaftsmahl, S. 275-332, wie Anm. 21. Eine enge Analogie zu Problem und Lösung berichtet Xenophon von einem Mahl des Sokrates (Mem. III 14). 41 Lukian, Saturn. 17; vgl. auch, was Strabo über die nabatäischen Königsmähler schreibt: Der König sei so volksnah (demotikos), daß er sich nicht bedienen läßt, sondern sich selbst und manchmal sogar seine Gäste bedient (Geogr. XVI 4,26). Der Jakobusbrief warnt beispielsweise vor der Bevorzugung von Reichen bei der Ge‐ meindeversammlung: Wenn man dem Reichen einen guten Platz auf der Kline anbietet, dem Armen dagegen einen minderen Sitzplatz auf einem bereitgestellten Sessel oder gar nur einen Stehplatz, dann macht man „untereinander Unterschiede“ ( Jak 2,2-4) - genau das aber darf in einer idealen Gemeinschaft nicht der Fall sein. 39 Ein anderes Problem hat Paulus für das Mahl der korinthischen Gemeinde ausgemacht. Dort brachte jeder seine eigenen Speisen von zu Hause mit, um sie im Rahmen des gemeinsamen Gottesdienstes zu verzehren. Das war insofern nicht ungewöhnlich, als solche Gemeinschaftsmähler ja ohnehin aus den Beiträgen der Teilnehmer finanziert wurden - entweder direkt durch Naturalien oder indirekt durch Beitragszahlungen. Aber die korinthische Praxis hatte zur Folge, daß die Armen ärmlich aßen, die Reichen reichlich: „Die einen sind angeheitert, die anderen hungern“ (1Kor 11,21). Paulus tadelt dieses Verhalten, denn auf diese Weise mußten ja die sozialen und ökonomischen Differenzen in die Mahlgemein‐ schaft eindringen und so zwischen den Teilnehmern offenbar werden (1Kor 11,19). Er fordert daher, daß die Korinther sich gegenseitig „annehmen“ (1Kor 11,33), daß also alle Gemeindemitglieder ihre mitgebrachten Speisen allen [61] zur Verfügung stellen, sie untereinander aufteilen und gemeinsam verzehren. Paulus bestreitet nicht, daß es Arme und Reiche in der Gemeinde gibt, er intendiert auch keine grundsätzliche Lösung; vielmehr ist er ausschließlich daran interessiert, daß diese Unterschiede im Mahl nicht sichtbar werden dürfen, weil sie sonst die Gemeinschaft gefährden. 40 Das Mahl nivelliert also Differenzen, die außerhalb existieren und schafft so eine Gleichheit der Teilnehmer. Besonders drastische Formen nimmt dieses Konzept an, wenn die Standesunterschiede nicht nur aufgehoben, sondern umgekehrt werden, wenn also, „der Reiche seine Haussklaven bedient und seine Freunde ihm aufwarten helfen.“ 41 Dieses Phänomen ist auch aus den Evangelien bekannt: Nach dem Lukasevangelium kam es beim letzten Abendmahl zwischen den Jüngern zum Streit darüber, wer von ihnen der Größte sei. Da sagte Jesus zu ihnen: 138 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="139"?> 42 Empedokles, fr.147 (Diels/ Kranz I 13 , 370). Nach einem Komödienfragment des Aristo‐ phon (fr. 12 PCG V 9 f., bei Diogenes Laert. VIII 38) erwarten die Pythagoreer, mit Pluto (also: in der Unterwelt) zu speisen usw. 43 (Ps)Platon, Axioch. 371D (X 610 Hülser). „Die Könige der Völker herrschen über sie, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es so nicht sein! Sondern wer unter euch der Größere sein will, der sei es als der Kleinere und der Vorgesetzte als der Diener! “ (Lk 22,24 ff.). Und im Johannesevangelium gibt Jesus selbst ein Beispiel für die Umkehrung der sozialen Rangfolge innerhalb der Mahlgemeinschaft Zu Beginn des Mahls wäscht er seinen Jüngern die Füße - verrichtet also eine niedere Sklavenarbeit - und sagt dann zu ihnen: „Versteht ihr, was ich getan habe? Ihr nennt mich Lehrer und Herr. Und ihr tut recht daran, denn ich bin es. Wenn ich nun euch die Füße gewaschen habe als euer Lehrer und Herr, dann müßt ihr euch auch untereinander die Füße waschen. Denn ich habe ein Vorbild gegeben; wie ich euch getan habe, so tut auch ihr untereinander“ ( Joh 13,12-15). [62] Daß Johannes und Lukas das Problem des Rangstreits (anders als Markus und Matthäus! ) gerade im Rahmen des Mahles diskutieren ist also ganz typisch: Das Mahl verkörpert die ideale Gemeinschaft. Gerade weil dieser Wert tradi‐ tionell so eng mit dem Mahl verbunden ist, legt sich für diese Situation die Aufhebung der Differenz sonstiger Statuserfahrungen oder gar die exemplari‐ sche Umkehrung der Standesunterschiede nahe. Konkrete Utopie Das Mahl ist also eine konkrete Utopie: Es gibt, trotz aller gesellschaftlichen Ungleichheiten, solche vollkommene Gemeinschaft tatsächlich - wenn auch nur begrenzt im Rahmen des Symposions. Es verwundert daher nicht, daß das gemeinsame Mahl als Metapher für umfassendes Heil überhaupt verwendet werden konnte und endzeitliche Hoffnung ausdrückt. So gibt es in Griechenland die Vorstellung, wonach die Seelen der Verstorbenen zu „Herdgenossen und Tischgefährten der Unsterblichen werden“. 42 Und in einer pseudo-platonischen Schrift ist davon die Rede, daß die Frommen im Jenseits „heitere Trinkgelage veranstalten und Festschmäuse, die sie sich selber hergerichtet haben; da herrscht unvermischte Freiheit von Kummer und ein angenehm lustvolles Leben.“ 43 Die attische Komödie hat diesen Topos in zahlreichen Schilderungen Schlaraffenland-ähnlicher Unterweltschmausereien aufgegriffen, in denen die Fülle der Speisen mit der real erfahrenen Ärmlichkeit kontrastiert. 139 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="140"?> 44 Z. B. (äth)Hen 62,14; (slav)Hen 42,3; (syr)ApcBar 29,3 ff. usw. Rabbinische Belege bei H. L. Strack, P. Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch IV/ 2. München 3 1961, S. 1154 ff. Das antike Judentum kennt die analoge Erwartung einer idealen postmor‐ talen Mahlgemeinschaft: Die Gerechten werden in einem „messianischen Gast‐ mahl“ mit den Erzvätern oder mit dem Messias selbst zu Tisch liegen. 44 Dieselbe Vorstellung ist auch im frühen Christentum bezeugt. Im Anschluß an die Belehrung über [63] Gleichheit und Dienen beim Mahl sagt Jesus zu den Jüngern: „Ich will euch das Reich des Vaters vererben, wie es der Vater mir vererbt hat, damit ihr essen und trinken werdet an meinem Tisch in meiner Königsherrschaft! “ (Lk 22,30). Und wenn Paulus schreibt: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17), dann meint er damit nicht, im Eschaton gäbe es nichts zu essen. Vielmehr stellt er klar, daß die im Reich Gottes erwartete Tischgemeinschaft nicht in erster Linie der Sättigung dient, sondern eine vollkommene Realisierung der traditionellen Mahlwerte Friede, Freude und Gerechtigkeit ist. Einsetzungsberichte Der Bedeutungsgehalt des frühchristlichen Mahls ergibt sich aber nicht nur aus den Analogien zu den typischen Problemen und den allgemeinen Wertvorstel‐ lungen in Verbindung mit dem Mahl, sondern auch aus den Einsetzungsworten, denn die enthalten ja eine ganz direkte - wenn auch nicht unmittelbar verständ‐ liche - Deutung des Mahls. Unterschiedliche Fassungen Es gibt im Neuen Testament insgesamt vier unterschiedliche Berichte über das letzte Mahl Jesu, in denen die sogenannten Einsetzungsworte zitiert werden. Drei davon finden sich in den synoptischen Evangelien (bei Matthäus, Markus und Lukas), einer im ersten Brief des Paulus an die Korinther. Obwohl es große Ähnlichkeiten zwischen diesen Einsetzungsberichten (und den darin enthaltenen „Deuteworten“) gibt, ist keiner mit dem anderen [64] identisch. Die Forschung war natürlich immer daran interessiert, unter diesen unterschied‐ lichen Fassungen den „ursprünglichen Wortlaut“ zu finden, also genau die Worte zu rekonstruieren, die Jesus bei seinem letzten Mahl benutzt hat. Dieser Versuch muß scheitern, da es keine Kriterien gibt, anhand derer sich die Historizität beweisen ließe: Was Jesus bei seinem letzten Mahl wirklich gesagt hat, läßt sich nicht einmal wahrscheinlich machen. Die vier Berichte sind daher 140 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="141"?> als gleichwertige Ausformungen frühchristlicher Theologie zu verstehen. Ich konzentriere mich im folgenden auf die paulinische Fassung, die bereits zur Sprache kam. Paulus erwähnt den Bericht von der Einsetzung des letzten Mahls im Zusam‐ menhang der angedeuteten Probleme und sieht in ihm ein Argument für seinen Vorschlag die Korinther sollten „einander annehmen“. Er schreibt: „Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, ein Brot, und indem er das Dankgebet sprach, brach er es und sagte: ›Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! ‹ Genauso nahm er nach dem Essen den Kelch und sprach: ›Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.‹ Denn sooft ihr von diesem Brot eßt und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“ (1Kor 11, 23-26). Wichtig ist, daß Paulus den Bericht über die Einsetzung des letzten Mahls benutzt, um den Korinthern eine bestimmte Interpretation ihres eigenen Mahl‐ gottesdienstes näherzubringen: Wenn sie durch ihr Mahl den „Tod des Herrn verkündigen“, dann passiert das offensichtlich in den Gebeten, die zu Beginn des Essens über dem Brot und danach bei einem Schluck Wein gesprochen werden. Es ist - für das gesamte frühe Christentum in den ersten [65] beiden Jahrhunderten - nicht erkennbar, daß der Einsetzungsbericht zitiert wurde oder daß er Teil der Gebete war. Trotzdem müssen diese Gebete in irgendeiner Weise den Tod Jesu thematisiert haben - wie, wissen wir nicht. Paulus sagt also zunächst nur: So, wie Jesus über Brot und Kelch gebetet hat, so sollt ihr das auch tun. Und der Dank, den ihr dabei formuliert, erinnert in irgendeiner Weise an den Tod Jesu. Die „Verkündigung des Todes Jesu“ ist für Paulus wichtig, weil es nach seiner Auffassung eine christliche Gemeinde in Korinth und anderswo überhaupt nur aufgrund des Todes Jesu gibt. Und das hat Konsequenzen für das Verständnis der Einsetzungsworte. Sie deuten die wichtigen Bestandteile des Mahls: Das Brot ist „mein Leib für euch“, der Kelch ist „der neue Bund in meinem Blut“. Die Einsetzungsworte illustrieren also die Bedeutung des gemeinsamen Mahls. Man hat schon viel verstanden, wenn man sieht, daß erstens nicht Brot und Wein, sondern Brot und Kelch gedeutet werden und daß zweitens der Kelch nicht auf das Blut Jesu hin gedeutet wird, sondern auf den Bund: Die metaphorische Bedeutung des Mahls hängt nicht am Wein, 141 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="142"?> 45 Natürlich lag die Analogie von Wein und Blut nahe (gleiche Farbe, gleiche Konsistenz). Sie ist später dann auch wirklich thematisiert und ausgeführt worden, z. B. bei Clemens von Alexandrien (Quis dives 23,4: „Ich bin dein Ernährer, da ich mich selbst als Brot der Unsterblichkeit gebe … und mich täglich als Trunk der Unsterblichkeit darbiete“; s. auch Paed. I 6,42,3 f.) oder bei Origenes (Hom. in Num. 16,9 zu 23,24: „Wir trinken das Blut Christi nicht nur beim sakramentalen Ritus …“). Die Annahme einer sakramentalen Präsenz setzt die alexandrinische Logoschristologie voraus - für Paulus ist eine entsprechende Vorstellung nicht erkennbar. sondern am Kelch. Der Wein, der sich vermutlich im Kelch befindet, wird hier überhaupt nicht erwähnt. 45 Die Deuteworte Das ist von Bedeutung für das Verständnis der Einsetzungsworte: Ein Vergleich zwischen den Mahlbestandteilen (Brot und Wein) und den physischen Bestand‐ teilen (Leib und Blut Jesu) ist offensichtlich gar nicht intendiert und wäre nur sehr gezwungen möglich. Die Worte „Das ist mein Leib für euch“ besagen daher nicht, daß die Jünger (oder die Korinther) zum Kannibalismus aufgefordert würden. Denn „Das ist mein Leib“ heißt nicht: „Das [66] ist ein Stück von meinem Körper, den ihr jetzt verzehrt“. Das Wort „Leib“ ist hier vielmehr wie ein Personalpronomen verwendet; das ist ein verbreiteter Sprachgebrauch. Jesus sagt also: Dieses Brot - das bin ich für euch. Man kann das etwa so paraphrasieren: Dieses Mahl ist für euch in Zukunft so entscheidend und lebenswichtig, wie ich es jetzt bin; und deshalb müßt ihr dieses Mahl auch immer wiederholen. Jesus erläutert also die große Bedeutung des Mahls für die Gemeinde, indem er das Brot, das dabei gegessen wird, mit sich selbst vergleicht. Das hat, nebenbei gesagt, die Konsequenz, daß die Wendung „für euch“ weder den Sühnegedanken („für euch geopfert“) noch die Kategorie der Stellvertretung („an eurer Stelle“) impliziert; gemeint ist schlicht: „euch zugute“. Analog zu dem Brot, über dem zu Beginn der Mahlzeit das Eingangsgebet gesprochen wird, wird auch der Kelch gedeutet. Es ist der Kelch, über dem das Dankgebet nach dem Essen gesprochen wird, das dem griechischen Päan entspricht. Wiederum ist die Aussage „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“ nicht unmittelbar verständlich. „Der neue Bund in meinem Blut“ heißt so viel wie: „Der neue Bund, der durch mein Blut geschlossen wurde.“ Im Alten Testament und im antiken Judentum ist die Vorstellung weit verbreitet, daß ein Bund durch Blut besiegelt und dadurch rechtskräftig wird. Der „neue Bund in meinem Blut“ heißt also: Der neue Bund, den Gott mit euch geschlossen und durch mein Blut (also: durch meinen Tod) besiegelt hat. Daß der Kelch dieser Bund ist, versteht man wohl am besten in dem Sinn, daß die Gemeinde ihren Teil dieser Bundesabmachung verwirklicht 142 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="143"?> 46 Für viele vgl. J. Hainz: Koinonia. Kirche als Gemeinschaft bei Paulus (BU 16). Regensburg 1982. 47 Ausführliche Begründung in Gemeinschaftsmahl, S. 306 ff., wie Anm. 21. und in Kraft setzt, insofern und wann immer sie zum Mahl zusammenkommt und aus diesem Becher trinkt. Zu beachten ist, daß der Kelch, über dem das Nachtischgebet gesprochen [67] wurde, häufig ein Gemeinschaftskelch war, aus dem alle Mahlteilnehmer der Reihe nach tranken. Auf diese Weise ergibt sich für Brot- und Kelchwort ein durchaus konsistenter Sinn des Einsetzungsberichts: Das christliche Mahl insgesamt wird gedeutet, und die beiden Metaphern (Leib und neuer Bund) zeigen, worin die religiöse Bedeutung dieses speziellen christlichen Mahles liegt. Dabei betonen beide Worte unterschiedliche Aspekte des Mahls. Das Brotwort sagt: Das christliche Mahl ist für die Gemeinde so wichtig, wie es Jesus jetzt beim letzten Mahl noch für die Jünger ist. Aber Jesus ist nach Karfreitag und Ostern ja nicht mehr anwesend. Die Differenz zwischen der Anwesenheit Jesu und seiner Abwesenheit wird sehr deutlich empfunden und nicht irgendwie spirituell kaschiert: Das Mahl ist Verkündigung des Todes Jesu „bis er kommt“, also: bis er am Ende der Zeit das Mahl mit der Gemeinde zusammen in seiner Königsherrschaft wieder feiern wird. Damit wird das Mahl für die Christen zu einer Art Ersatz für die Abwesenheit Jesu in der Zwischenzeit. Das Kelchwort besagt dagegen: Wenn ihr dieses Mahl begeht, dann setzt ihr damit euren Teil des neuen Bundes zwischen Gott und euch in Kraft. Damit der Bund wirksam wird, bedarf es also der Gemeinde als Gemeinde - und das passiert bei ihrer Zusammenkunft zu diesem besonderen christlichen Mahl. Einheit beim Mahl Paulus hat dieses Verständnis des Mahls, das in den Einsetzungsworten zum Ausdruck kommt, kurz zuvor in einem etwas anderen Zusammenhang ange‐ sprochen: „Der Segensbecher, über dem wir den Segen sprechen - ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Und das Brot, das wir brechen - ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? “ (1Kor 10,16). [68] Zunächst ist auch hier deutlich, daß neben dem Brot nicht der Wein gedeutet wird, sondern der Kelch: Kelch und Brot sind „Gemeinschaft des Blutes bzw. des Leibes Christi“. Diese Formulierung ist nicht eindeutig und manche verstehen „Gemeinschaft“ im Sinn von „Anteilhabe“, also etwa „Gemeinschaft mit dem Blut bzw. mit dem Leib“ Christi. 46 Ich halte dieses pointiert sakramentale Ver‐ ständnis für wenig wahrscheinlich 47 und paraphrasiere daher folgendermaßen: 143 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="144"?> „Der (gemeinsame) Segensbecher, über dem wir nach dem Mahl das Dankgebet sprechen - verbürgt er nicht unsere Gemeinschaft (untereinander), die aufgrund des Blutes Christi existiert (für die der Tod Christi also konstitutiv ist)? Und das Brot, das wir zu Beginn des Essens brechen und dabei das Dankgebet sprechen, stiftet es nicht unsere Gemeinschaft (die daher ja auch als ‚Leib Christi‘ bezeichnet werden kann, s. 1Kor 12,27)? “ Die Richtigkeit dieser Deutung ergibt sich aus der unmittelbaren Fortsetzung: „Weil es ein Brot ist, sind wir vielen ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1Kor 10,17) - es geht immer um die Gemeinschaft der Ge‐ meindemitglieder untereinander. Die Vorstellungen, die Paulus hier entwickelt, sind also mit denen des Einsetzungsberichts, den er ein Kapitel später zitiert, vollständig kongruent. In beiden Fällen thematisiert er die ganz traditionellen Mahlwerte Gemeinschaft und Einheit, hier allerdings in spezifisch christlicher Zuspitzung: Der neue Bund stiftet Frieden zwischen Gott und den Christen; diese entsprechen dem Bund, indem sie sich versammeln und dabei Gott loben. Bei dieser Versammlung ist die Gemeinschaft der Mahlteilnehmer das wichtigste: Die Christen gehören untereinander so eng zusammen, daß Paulus sie metaphorisch als „ein Leib“ bezeichnen kann. Und diese Gemeinschaft kommt darin [69] zum Ausdruck, daß sie von einem Brot essen und aus einem Kelch trinken. Das sind die Grundlagen des christlichen Mahls für diese Zeit: ein Gegenbild gegen die außerhalb der Gemeinde erfahrenen Standesunterschiede und die sonstigen sozialen Differenzierungen. Diese Gleichheit im Mahl herzustellen ist der Gemeinde aufgetragen, „bis er kommt“ - dann, bei der Wiederkunft Christi, erhält die christliche Mahlgemeinschaft eine neue Grundlage, denn dann werden die Christen am Tisch ihres Herrn in seinem Reich essen und trinken. Das frühchristliche Mahl ist also vollständig als Bestandteil der umfassenden Symposienkultur der griechisch-römischen Antike zu verstehen: Sowohl der Ur‐ sprung der einheitlichen Mahlpraxis der Christen (andere Gemeinschaftsformen gab es nicht) als auch die unterschiedlichen Deutungen werden auf diesem Hintergrund verständlich. Und es ist nachvollziehbar, daß die verschiedenen Deutungen des Mahls - nicht nur in den Einsetzungsberichten, sondern auch in anderen christlichen Mahltexten - unterschiedliche Akzentierungen dieser antiken Mahlideologie sind. Im Unterschied zu den paganen Mählern hat das christliche Mahl als religiöse Institution bis heute überdauert. Die sich verändernden sozialen Bedingungen und die theologischen Entwicklungen haben bereits in der alten Kirche zu nicht unerheblichen Verschiebungen der Mahldeutung geführt. Diese Veränderungen waren notwendig, wenn das Mahl ein zentraler Aspekt christlicher Religiosität bleiben sollte. Aber seinen 144 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="145"?> Ursprung in den Strukturen der antiken Polisgemeinschaft können sie nicht verdecken: So ist das christliche Mahl ein Schlüssel für das Verständnis nicht nur des Christentums, sondern der westlichen Kultur überhaupt. 145 „Nehmt und eßt, das ist mein Leib! “ <?page no="147"?> 1 N I E T Z S C H E 1882; das Zitat stammt vom Ende des fünften Buches aus dem Abschnitt 381. Zur Frage der Verständlichkeit. 2 B E R G E R 1985, 22, mit dem Verweis auf die nichts sagenden Belege für das Lexem „Tanz“ im Neuen Testament (Mk 6,21 ff.; Lk 7,31 f.; 15,25). Das stark gestiegene Interesse am liturgischen Tanz dokumentiert die rund 1500 Titel umfassende Bibliographie, die im Internet-Portal „http: / / www.kirchentanz.de/ “ zusammengestellt ist; die zeitliche Verteilung der Titel belegt sehr genau das plötzliche Ansteigen des Interesses in den 1980er Jahren. Tanz und Offenbarung Praxis und Theologie des gottesdienstlichen Tanzes im frühen Christentum Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Tanz und Offenbarung. Praxis und Theologie des gottesdienstlichen Tanzes im frühen Christentum, in: Spes Christiana 15/ 16 (2004/ 05), 9-34. Ich wüßte nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit, sein ‚Gottesdienst‘.  1 1. Zur Fragestellung Eine Untersuchung zum gottesdienstlichen Tanz im frühen Christentum steht im Verdacht, einem Phantom nachzujagen, das es gar nicht gibt und das seine Existenz möglicherweise nur dem in den letzten Jahren deutlich gesteigerten Interesse am liturgischen Tanz verdankt: Es gibt keine direkten Zeugnisse. Eine einschlägige Arbeit konstatiert daher zum Neuen Testament lakonisch: „Tanz ist dort (natürlich) kein Thema.“ 2 Diese Lücke in der Bezeugung wiegt umso schwerer, als sie sich nicht durch entsprechende Informationen aus der patristischen Literatur schließen lässt. Zwar ist der Tanz für die Kirchenväter durchaus ein wichtiges Thema, aber sie kritisieren ihn bis zur vollständigen Ablehnung heftig. Im lateinischen Westen findet sich an der Wende vom 4. zum 5. Jh. die typische Klage: <?page no="148"?> 3 Gaudentius, Sermo 8 (MPL 20, 890A-B). 4 Ephraem, De abstinentia 5 (P. Zingerle, BKV 1 I, Kempten 1870, 414 f.). 5 Als Auswahl vgl. Clemens Alexandr., Paed II 40,2. - Ambrosius, De officiis ministrorum II 12,77; De virginibus III 6,26 f. - Joh. Chrysostomus, In Matth. hom. 48,1 - 49,3 (MPG 58, 491); Expos. in Ps. 41,2 (MPG 55,158) u. v. ö. 6 Zu den kirchenrechtlichen Verboten vgl. Laodicea, Can. 53 (Lauchert 1896, 77); Elvira (306), Can. 62 (Lauchert 1896, 23); Karthago, Cann. 12-30 (= Canones Africae 45-63, Mansi 1903, 735 ff.); Toledo (589), Can. 23; Const. Apost. VIII 32,9 (Funk I 534) etc. 7 A N D R E S E N 1974. 8 A N D R E S E N (1974) unterscheidet die „Ablehnung durch die offizielle Kirche“ (347 ff.) von der „Jüdische(n) Tanzfreudigkeit“ (350 ff.) und der paganen Tanztradition (354 ff.). Wo Leier und Flöte erklingen, wo schließlich alle möglichen Musikinstrumente vermischt mit den Zimbeln der Tänzer zusammenklingen, dort finden wir jene unglückseligen Häuser, die in nichts sich von den Theatern unterscheiden. [10] Ich kann nur sehr bitten: Mögen sie doch allesamt aus unserer Mitte verschwinden! Möge das Haus eines getauften Christen von dem Chor des Teufels (chorus diaboli) unbe‐ fleckt bleiben! Es sei stattdessen wahrhaft menschlich und gastfreundlich, geheiligt durch andauerndes Beten, erfüllt von zahlreichen Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern. 3 Und im syrischen Osten heißt es bei Ephraem, dass Gott dort mit den Engeln zugegen ist, wo Psalmengesang im Geist der Buße er‐ schallt …Wo aber Zithern erschallen und Tänze unter Händeklatschen stattfinden, dort ist Verblendung der Männer, Verderbnis der Weiber: Dort trauern die Engel und feiert der Teufel ein Fest. 4 Derartige Bewertungen finden sich noch sehr viel häufiger: Von Clemens von Alexandrien im 2. Jh. bis zu Johannes Chrysostomus und Ambrosius im 4. Jh. sind patristische Äußerungen, die den Tanz verdammen, Legion, 5 und auch die alten Rechtsquellen enthalten mit schöner Regelmäßigkeit Verbote des Tanzes. 6 Diese Quellenlage hat Carl Andresen (1974) zu der Annahme veranlasst, die Alte Kirche habe eine durchgängige Fundamentalkritik am Tanz geübt. 7 Andresen liest aus den patristischen Aussagen, dass Tanzen etwas wesentlich Unchristliches sei, ein jüdisches bzw. paganes Relikt, das mit den Konvertiten im 3. und 4. Jh. in das Christentum eingedrungen sei und deshalb theologisch bekämpft und verboten werden musste. 8 Im Horizont dieser Erklärung bliebe für gottesdienstliches Tanzen im frühen Christentum in der Tat kein Raum. Allerdings stellt uns diese Einschätzung vor eine Reihe von Fragen: Zunächst provoziert die apologetische Abgrenzung des christlichen von nichtchristli‐ chem, sakralem Tanz Misstrauen: Wie plausibel ist es, das Christentum hin‐ sichtlich des Tanzens so stark von seiner jüdischen und paganen Umwelt zu 148 Tanz und Offenbarung <?page no="149"?> 9 Außer den Zitaten von Gaudentius und Ephraem vgl. z. B. folgende Gegenüberstel‐ lungen: „[wahre] Religion lehren - Tanzen lehren“ bei Ambrosius (De virgin. III/ 6,26 f.); „Tanz ist des Teufels - Psalmengesang Davids“ ( Joh. Chrysost., Expos. in Ps. 41,2) usw. trennen? Wenn der (kultische) Tanz in der gesamten nichtchristlichen Antike so weit verbreitet war, warum nicht auch im Christentum? Damit verbindet sich ein Zweites: Die Annahme, im frühesten Christentum habe der Tanz keine Rolle gespielt und sei erst seit dem 2. Jh., besonders aber seit dem 3. und 4. Jh. durch die Begegnung mit der paganen Antike von außen „eingedrungen“, setzt mit dem Depravationsschema vom reinen Ursprung hin zur Kontamination durch pagane Bräuche ein erkennbar unhistorisches Geschichtsbild voraus. Drittens ist die Struktur der Texte [11] zu beachten, in denen die patristische Kritik am Tanz laut wird: Fast alle Aussagen sind antagonistisch formuliert und stellen dem chorus diaboli die christliche Hymnodie entgegen. 9 Diese Gegenüberstellung passt kaum auf eine grundsätzliche Kritik am Tanz, sondern weist eher auf die Intention, dass hier christlicher von nichtchristlichem Brauch deutlich geschieden werden soll. So gesehen, wäre das Hauptproblem gerade die Ähnlichkeit der Phänomene - wobei auffällt, dass nicht Tanz und Tanz, sondern Tanz und Hymnodie einander gegenübergestellt werden. Die Entsprechung von (paganem) Tanz und (christlicher) Hymnodie führt schließlich zu der Frage: Wie muss man sich beides eigentlich konkret vorstellen? Wenn sich der verworfene chorus diaboli und die christliche Hymnodie so ähnlich sind, dass sie zueinander in Konkurrenz treten können, ist nach den konkreten Situationen zu fragen, in denen beides seinen Platz hatte. Für die Frage nach dem gottesdienstlichen Tanz im frühen Christentum heißt das, dass man sich zunächst ein möglichst genaues Bild von dem verschaffen muss, was stark vereinfachend „Gottesdienst“ genannt wird. Erst dann wird es möglich sein, Aussagen über den Tanz zu treffen, der in diesem Rahmen stattfand. Methodisch geht es im Folgenden um die Erstellung einer charakteristischen Phänomenologie, die von den typischen Merkmalen ausgeht, die tatsächlich durch Quellen gesichert sind. Auf diese Weise entsteht ein typisches, überindivi‐ duelles Bild, das als Plausibilitätsbasis auch für den Bereich dient, für den direkte Zeugnisse fehlen: Das Allgemeine und Verbreitete besitzt grundsätzlich größere historische Wahrscheinlichkeit als Besonderheiten und Abweichungen, die vor dem Hintergrund der allgemeinen Rezipientenerwartung nicht stillschweigend vorausgesetzt sein können, sondern gesondert begründet sein müssen. Dabei wird, anders als im Schema der progressiven Depravation, das frühe Chris‐ tentum als integraler Teil der antiken Kultur verstanden. Ich werde mich daher bemühen, für die wichtigen Aspekte die Quellen wirklich zu nennen, und ich 149 Tanz und Offenbarung <?page no="150"?> 10 D O U G L A S 1992; D O U G L A S A N D P E R R Y 1985; A L L M A N 2000. 11 Vgl. S H E E T S -J O H N S T O N E 1980, 112: “The imaginative space of dance is created space.” beschränke mich dabei nicht auf christliche Texte, sondern nenne jeweils auch pagane und jüdische Beispiele. Unter diesen methodischen Prämissen ist der Gang des Folgenden vorge‐ zeichnet: Zunächst muss kurz die Gestalt des Gottesdienstes im frühen Chris‐ tentum skizziert werden (2.), in dessen Rahmen der Tanz verortet werden soll. Dadurch lässt sich das gottesdienstliche als sympotisches Tanzen verstehen, was bereits recht konkrete Rückschlüsse auf die Praxis des Tanzens zulässt (Chortanz und -gesang; Reigentanz im Rahmen des Mahlabschlussgebets). Im Anschluss an die Rekonstruktion der Praxis soll dann (3.) der weitere traditionsgeschichtliche Zusammenhang beschrieben werden, der das theologische Profil deutlicher hervortreten lässt, bevor am Ende (4.) einige Ergebnisse die allgemeinere theologische Bedeutung des Tanzes charakterisieren. [12] 2. Sympotischer Gottesdienst und Tanz Die entscheidende Frage, die zu beantworten ist, wenn man den gottesdienst‐ lichen Tanz im frühen Christentum verstehen will, ist daher die nach der Gestalt des Gottesdienstes in den ersten zwei Jahrhunderten. Es ist eine re‐ lativ junge Entwicklung, dass sich die Forschung um die äußere Gestalt der gottesdienstlichen Versammlungen bemüht und sie nicht mehr als Adiaphoron gegenüber ihrer abstrakten „Bedeutung“ vernachlässigt. Vielmehr machen die vordergründigen Aspekte des Gottesdienstes seine primäre theologische Bedeutung aus: Die Räumlichkeiten, in denen sich die Gemeinde traf; wer (und in welcher Zahl) daran teilnahm; zu welchen Zeiten man sich traf; wer diese Treffen auf welche Weise finanzierte; und vor allem: welche ritualisierte Abfolge von Handlungen diese Treffen besaßen - all diese Aspekte bestimmen unmittelbarer und in höherem Maß als nachgängige theologische Reflexion, was als „Gottesdienst“ erfahren wird. 10 Erst wenn man ein hinreichend klares Bild von diesen gottesdienstlichen Zusammenkünften hat, kann man den Tanz als Teil dieses Ganzen verstehen. Gerade für unsere Fragestellung ist die Bedeutung des äußeren Setting ja schon daran erkennbar, dass Tanz eine bestimmte Raumerfahrung voraussetzt, weil der Tanz Raum füllt und strukturiert 11 - für die Wahrnehmung des Phänomens ist es ein großer Unterschied, ob in einem Dorfgasthaus, einem Ballsaal, einer Diskothek oder in einer mittelalterlichen Kathedrale getanzt wird. 150 Tanz und Offenbarung <?page no="151"?> 12 So schon S C H W E I T Z E R 1981, 246 f., der richtig, wenn auch harsch, urteilt: „Das Danksa‐ gungsmahl … ist die einzige gottesdienstliche Feier der ältesten Zeit. Reine Wortgot‐ tesdienste kennt sie nicht. Alles Beten, Weissagen, Verkündigen und Lehren geschieht im Rahmen der Danksagung bei der Mahlfeier … Jeder Versuch, für die Urgemeinde ein Nebeneinander von Mahlfeier und Wortgottesdienst anzunehmen, führt zu einem Gefasel, bei dem zur Erklärung der uns erhaltenen Nachrichten über den ältesten christlichen Kult die unsinnigsten Behauptungen gewagt werden müssen.“ Ausführlich zur Gestalt der frühchristlichen Mähler jetzt K L I N G H A R D T 1996 und 2000; S M I T H 2003. 13 Eine Ausnahme stellen nur die jährlichen Taufversammlungen am frühen (Oster-)Morgen dar, aber auch für diese ist der Bezug zur abendlichen cena gut bezeugt, vgl. Plinius, Ep. X 96,7 (ante lucem … rursusque coeundi ad capiendum cibum); Justin, 1Apol 65.67; ActThom 121.133.158; Hippolyt, Trad. Apost. 21 (B O T T E 44 ff.; kopt. XVI T I L L / L E I P O L D T 16 ff.; aeth. XXII N D U E N S I N G 106- 127); Tertullian, Cor. 3 (CSEL 70, 158: „Das Sakrament der Eucharistie, das vom Herrn zur Zeit des Abendessens allen anvertraut wurde, empfangen wir außerdem in Versammlungen vor Tagesanbruch.“). 2.1 Die sympotische Gestalt des Gottesdienstes Bis etwa zur Mitte des 3. Jh. waren alle gottesdienstlichen Zusammenkünfte der Christen, über die wir auch nur halbwegs auswertbare Informationen besitzen, Mahlversammlungen: Man versammelte sich zu einem gemeinsamen Mahl - oder gar nicht. 12 Die gottesdienstlichen Treffen der Christen, die das Neue Testament voraussetzt (z. B. 1Kor 11-14; Jak 2 usw.) und die für das 2. Jh. (Did; Plinius; Justin; Irenäus; Clemens Alex. usw.) und frühe 3. Jh. (Tertullian; Hip‐ polyt; apokryphe [13] Apostelakten usw.) bezeugt sind, waren durchweg solche Gemeinschaftsmähler, die am späten Nachmittag bzw. am Abend stattfanden. 13 Das Mahl, das in Form eines Gelages eingenommen wurde, besaß immer eine zweiteilige Gestalt: Das eigentliche Essen (gr. δεĩπνον, lat. cena) wurde von einer religiösen Zeremonie abgeschlossen, bei der man die Libationen spendete und ein gemeinsames Gebet, den Paian, sang. Diese Zeremonie markierte den wichtigsten Einschnitt, weil erst jetzt Wein aufgetragen wurde (zum Mahl selbst wurde nicht getrunken), von dem man zunächst die Trankopferspenden ausbrachte bzw. alle Teilnehmer einen Schluck (ungemischt) tranken. Auch wenn Libationen in jüdischem und christlichem Kontext natürlich fehlen, ist doch ein entsprechendes Gebet, das diese religiöse Handlung begleitet und auszeichnet, sehr gut belegt, nämlich das Dankgebet nach dem Essen. Auf diese Libationszeremonie folgte ein Trinkgelage (griech. συμπóσιον, lat. comissatio, convivium), zu dem der Wein mit Wasser gemischt und an alle Sym‐ posiasten ausgeschenkt wurde. Viele Texte erwähnen das Mahl nur kurz oder setzen es stillschweigend voraus (auch wenn es nie gefehlt hat). Der Grund dafür ist, dass die soziale und kulturelle Bedeutung des Mahls besonders im zweiten Teil zum Ausdruck kam, weswegen häufig die ganze Mahl- und Gelageveranstal‐ tung als Symposium bezeichnet werden konnte. Dieses eigentliche Symposion 151 Tanz und Offenbarung <?page no="152"?> 14 Vgl. als Beispiel Cicero, Cato mai. XIII 45 f.: „Ich habe das Vergnügen an den Gastmählern nicht nach den körperlichen Freuden [also: reichlich essen und gut trinken] bemessen, sondern mehr noch nach dem Zusammensein mit Freunden und dem Gespräch … Mir macht es bei meiner Freude am Gespräch sogar Vergnügen, wenn Gastmähler recht früh beginnen.“ 15 Die wichtigsten antiken Beschreibungen bei Lukian, De salt.; Athenaeus, Deipn. I (20D-22E); Pollux, Onomast. IV 95-105. Unter den wissenschaftlichen Beschreibungen sind wichtig: L A T T E 1913; W E E G E 1926; T Ö L L E 1964; W E B S T E R 1970. 16 Vgl. L A W L E R 1964; K I T T O 1955. 17 Vgl. Plato, Leg. 815 A/ B; Xenophon, Anab. VI 1,1-13; Athen. XIV (631B). war ausgezeichnet durch eine Vielfalt unterhaltsamer Aktivitäten mit hoher sozialer Bedeutung: Die Quellen bezeugen u. a. Geschicklichkeitsspiele und Rätsel, Gesang und Rezitation von Gedichten, Lesungen und Mimus, daneben natürlich vor allem das Tischgespräch, 14 das häufig lehrhaften Charakter hatte - und natürlich Tänze. Diese Unterhaltung war stark agonistisch geprägt: In dem Maß, in dem die Teilnehmer untereinander wetteiferten, wurde Sozialprestige dargestellt und behauptet. Man versteht von hier aus, warum verschiedentlich sowohl für Privateinladungen als auch für Vereinsmähler ein Symposiarch erwähnt wird, der als eine Art Schiedsrichter dafür Sorge zu tragen hatte, dass zwischen den Symposiasten kein Streit ausbrach und das Gelage in geordneten Bahnen vonstatten ging. In organisierten Gruppen war die Symposiarchie häufig einem eigenen Funktionär übertragen, der den reibungslosen Ablauf des Symposions zu gewährleisten hatte: Die Aufsichtsfunktion, die der Bischof (ἐπίσκοπος) nach den frühen [14] christlichen Quellen (in der Did, bei Ignatius, Justin und Hippolyt) wahrnahm, entspricht sehr genau diesen paganen Paral‐ lelen. 2.2 Sympotische Tänze Dieser Hintergrund erlaubt die Eingrenzung: Gottesdienstlicher Tanz konnte nur sympotischer Tanz sein, und der musste seinen Ort nach dem eigentlichen Mahl, also entweder während der Libationszeremonie oder während der co‐ missatio, haben. Dadurch ist auch die Vielfalt von Tanzformen, die für die griechisch-römisch Antike bezeugt sind, 15 erheblich eingeschränkt: Alle drama‐ tischen Chortänze in Tragödie (Emmeleia), Satyrspiel (Sikinnis) und Komödie (Kordax) 16 scheiden als Analogie aus, ebenso die orgiastischen Dithyramben, die zur Begleitung vor allem von Schlaginstrumenten getanzt wurden und my‐ thologisch wie genealogisch eng an den Dionysos- und den Magna-Mater-Kult gebunden waren, die Pyrrhiche, der Waffentanz zur Ausbildung und Darstellung körperlicher Geschicklichkeit, 17 sowie die Schreit- und Stampftänze, die ihren Platz in kultischen Prozessionen hatten. 152 Tanz und Offenbarung <?page no="153"?> 18 Od. 8,370 ff.: Bei den Phäaken ruft Alkinoos zwei besonders geschickte Tänzer zur Vorführung. Den agonistischen Charakter solcher Tänze bezeugt eine Oinochoë vom Dipylon (Athen, Nationalmus. 192), deren Inschrift sie als Preis für den besten Tänzer ausweist. Noch Athenaeus nennt die Namen berühmter Tänzer. 19 Quaest. conv. I 5 (615A/ B); die zugrunde liegende Etymologie ist σκόλιον von σκολιός = krumm, ungleichmäßig. Vgl. Artemons Unterscheidung zwischen dem chorischen Gesang des Paian, dem monodischen Skoliengesang aller und danach nur derer, die sich darauf verstehen (fr. 10 FHG IV 342, bei Athen. XV 694B/ C). 20 Vgl. dazu K Ä P P E L 1992; zum Ganzen s. K L I N G H A R D T 1996, 99-129. Damit bleiben für das sympotische Setting nur die häufig agonistisch aus‐ geführten Einzeltänze als Teil der Nachtischunterhaltung, die von Homer bis in die Kaiserzeit bezeugt sind, 18 und der allgegenwärtige Reigentanz (χορóς). Beides ist hinreichend bezeugt, und beides ist auch mit Gesang verbunden, was für unsere Fragestellung wegen der erwähnten Parallelisierung von chorus diaboli und christlicher Hymnodie bei Gaudentius u. a. von Bedeutung ist. Einzeltänze/ Einzelgesang sowie Reigentanz/ Chorgesang haben dabei ihren sehr genau unterscheidbaren Ort und ihre je eigene Funktion. Plutarch erklärt dazu: Man sang [sc. nach dem Mahl, zu Beginn des Symposions] zuerst das Lied des Gottes, indem alle gemeinsam mit einer Stimme den Paian sangen. Darauf aber sang jeder der Reihe nach, wenn ihm der Myrtenzweig übergeben wurde … Manche sagen, dass der Myrtenzweig nicht der Reihe nach herumgegangen sei, sondern einem jeden von Kline zu Kline weitergereicht wurde: Der erste, der gesungen habe, habe ihn zum ersten auf der zweiten Kline weitergegeben, jener zum ersten auf der dritten Kline; dann der zweite (Symposiast auf der ersten Kline) in gleicher Weise zum zweiten auf der [15] zweiten Kline. Wegen dieser vielfachen Abwechslungen und Wendungen sei dann der Gesang selbst auch Skolion genannt worden. 19 Die Unterscheidung ist wesentlich: Der Paian ist als Teil der Libationszeremonie ein hochfeierliches (Mahlabschluss-)Gebet, das alle Teilnehmer unisono rezi‐ tieren. 20 Das Skolion ist Teil der Akroamata, also der Unterhaltung, zu der alle Teilnehmer etwas zur wechselseitigen Erbauung beitragen. Was Plutarch hier über den Gesang der Skolien mitteilt (sie werden einzeln und der Reihe nach gesungen, alle beteiligen sich), deckt sich ziemlich genau mit den Regelungen, 153 Tanz und Offenbarung <?page no="154"?> 21 1Kor 14,26 ff. regelt erkennbar Einzelbeiträge, nicht das, was die Gemeinde als ganze tut. Dabei ist „jeder“ (ἕκαστος) distributiv zu verstehen (s. die Komm.): Zwar hat nicht jeder einen Psalm, eine Lehre, eine Offenbarung, eine Zungenrede, eine Übersetzung, aber jeder trägt irgendetwas bei, der eine dies, der andere das. 22 Als Beispiel aus dem Judentum sei auf die Mahlversammlung der Therapeuten ver‐ wiesen, die „alle der Reihe nach einen Hymnus in der gebührenden Ordnung (τάξις)“ singen (Philo, Vit. cont. 80); Philo betont, dass jeder (ἕκαστος) seinen Hymnus beiträgt. Für die Alte Kirche mag das Zeugnis Tertullians (Apol. 39,18) stehen: „Ein jeder (quisquis) wird aufgefordert, aus den heiligen Schriften oder nach eigenem Vermögen Gott Lob zu singen.“ 23 Belege bei K L I N G H A R D T 1996, 108 f. 24 Beschrieben beispielsweise von Plutarch, Quaest. conv. IX 15 (747Bff.). Vgl. L A W L E R 1954; S I T T L 1890, 224-252. die Paulus der korinthischen Gemeinde vorschreibt, 21 und ist auch sonst breit bezeugt. 22 Ob zu diesem monodischen Gesang, der in der Regel von einem Saiteninstru‐ ment - Phorminx, Lyra oder Kithara - begleitet wurde, auch getanzt wurde, muss offen bleiben: Direkte Zeugnisse fehlen dafür sowohl für die christliche wie die außerchristliche Antike. Aber die grundsätzliche Ausrichtung dieser Skolien, der heiteren, anakreontischen Stimmung Ausdruck zu verleihen, würde gut passen, so dass man es nicht ausschließen sollte. 2.3 Paiangesang und -tanz Sehr viel deutlicher liegt der Fall beim Paian, also dem Gebet, das während der religiösen Zeremonie nach dem Mahl und vor dem eigentlichen Symposium rezitiert wurde. 23 Es wurde von allen Mahlteilnehmern im Chor gesprochen bzw. genauer gesagt, gesungen, denn für die Rezitation rhythmisch gebundener Texte lässt sich die Unterscheidung von Sprechen, Sprechgesang und Singen nicht aufrechterhalten. Wichtiger ist, dass die chorische Rezitation eines Textes in der Antike nicht ohne Bewegung vonstatten ging: Das griechische Verb χορεύειν, das die Aktivität eines Chores (χορός) beschreibt, bezeichnet den Chorgesang ebenso wie den Chortanz. Man muss sich dabei vor Augen halten, dass die Bewe‐ gungen, die den Tanz ausmachten, oft nur geringfügig waren. Die antike Mu‐ siktheorie [16] unterschied sehr genau zwischen den einzelnen Elementen des (Chor-)Tanzes: Tanzschritte und -bewegungen (φοραί), Körperhaltungen und Gesichtsausdruck (σχήματα) sowie Handbewegungen und Gebärden (δείξεις) - all das wird, einzeln oder auch zusammen, als Tanzen (χορεύειν) bezeichnet. 24 Das bedeutet, dass, wo immer der Gesang oder die Rezitation eines Chores erwähnt wird, der Tanz mitzudenken ist - und umgekehrt. Es kann daher nicht 154 Tanz und Offenbarung <?page no="155"?> 25 In dem Protokoll eines delphischen Technitenvereins, FD III/ 2, Nr. 48, Zeilen 21 ff. (τοὺς αἰσομένους τοὺς τε παιᾶνας καὶ τὸν χόρον). Tanz zum Paian ist noch viel häufiger belegt, vgl. vor allem Plutarch, De EI, 389B; Theognis 777 ff.; weiteres bei V O N B L U M E N T H A L 1942, 2351 ff. 26 Vgl. Cicero, Orat. III 197 (Gesang zur Flötenbegleitung); Horaz, Ep. II 1,86 usw. Besonders deutlich ist Livius I 20,4, demzufolge die Salier „singend mit Tanzschritten und feierlichem Tanz durch die Stadt ziehen (per urbem ire canentes cum tripudiis sollemnique saltatu)“ u.ö. 27 Etymologie Salii von saltare, vgl. Ovid, Fast. VIII 387 (iam dederat Saliis a saltu nomina dicta / armaque et ad certos verba canenda modos). 28 Erhalten sind beispielsweise die Akten von 218 n. Chr. (CIL VI 32388 = P A S O L I 1950, Nr. 88b, Z. 31 ff.): „Dort eingeschlossen (32) bewegten sich die Priester (sacerdotes), aufgegürtet, nachdem sie die Textbüchlein (libelli) in Empfang genommen hatten, ein Gebet hersagend (carmen descindentes) im Tanzschritt (tripodaverunt) zu folgenden Worten: enos Lases iuvate …“ [folgt Text des Gebets]. 29 Zu den Therapeuten vgl. C O N Y B E A R E 1895; W E N D L A N D 1896. Die viel verhandelte Frage, ob die von Philo geschilderten Therapeuten historisch oder eine (pythagoreisch gespeiste) literarische Fiktion sind, kann hier auf sich beruhen: Er präsentiert sie als idealen Typos mit Vorbildfunktion, vgl. S Z E S N A T 1998; B E R G M E I E R 1993, 42 ff. überraschen, dass auch die charakteristische Wendung „die Paiane und den Tanz singen“ bezeugt ist. 25 Die Verbindung von Chorgesang und -tanz ist auch sonst charakteristisch. Ich erwähne dazu aus dem paganen Bereich nur zwei römische Beispiele. Das ist zunächst das älteste römische Kollegium der Salii, dessen Priester einen charak‐ teristischen Tanz aufführten, zu dem sie ein Lied sangen, bzw. ein Lied sangen, zu dem sie tanzten. 26 Obwohl der Tanz für die Salier so charakteristisch war, dass sie nach Ovid u. a. von ihm ihren Namen erhielten, 27 erwähnen einige der Zeugnisse nur ihren Gesang und belegen so die Zusammengehörigkeit. Das andere Beispiel ist das kaiserzeitliche Kollegium der fratres Arvales, deren Festprotokolle für einige Jahre inschriftlich erhalten sind. Am Haupttag des Festes führten die Priester in einem abgeschlossenen Raum einen Tanz auf, zu dem sie aus Textbüchern ein gemeinsames Gebet sangen. 28 Diese Identität von Chorgesang und -tanz ist auch für das Judentum bezeugt; besonders aufschlussreich ist Philos Beschreibung des nächtlichen Gottesdienstes der Therapeuten am Mareotis-See (Vit. cont. 83-89). 29 Nach ihrem gemeinsamen Mahl erheben sich Männer und Frauen, bilden zwei Chöre mit zwei Chorführern (ἡγεμὼν καὶ ἐξάρχης). Dann singen sie verschiedene Hymnen zu Gott, zuerst abwechselnd, dann in einem Chor vereinigt. Diese Hymnen werden gesungen, während die Therapeuten tanzen: Sie bewegen ihre Hände und Füße rhythmisch (ἐπιχειρονομοῦντες καὶ 155 Tanz und Offenbarung <?page no="156"?> 30 Die Abfolge der Pannychis von Mahl - Symposium - nächtlichem Tanz ist auch sonst belegt, etwa für die Pannychis der Panathenaeen (Euripides, Heracl. 778 ff.), bei Heliodor, Aethiop. I 10 (13 Bekker) oder Plutarch, De prof. virt. 5 (77E/ F); Quaest. conv. 55 (227B) usw. 31 H. e. II 17,18. Im Folgenden zählt Euseb diese Merkmale auf und nennt neben der Enkratie ausdrücklich „die Nachtwachen mit den frommen Übungen am großen Fest und die bei uns üblichen Hymnen“, bei denen „ein einziger nach dem Takt würdevoll vorsingt, die Übrigen still zuhören und nur am Schluss der Gesänge mit einstimmen“ (17,21). 32 Zum Beispiel Tos. Sota VI 3. Die unterschiedlichen Weisen der šema’-Rezitation wurden heftig diskutiert, vgl. das Material bei S T R A C K U N D B I L L E R B E C K 1961, IV/ 1, 189-207. Normalerweise wird diese Rezitationsweise auf Jes 6,3 zurückgeführt, z. B. im Sepher Ha-Razim (ed. M. M A R G A L I O T H , Jerusalem 1966), 90 Z. 179 f.: „Sie stehen eine Hälfte gegenüber der anderen, die eine Hälfte singt, die andere singt die Respons.“ ἐπορχούμενοι) und bewegen [17] sich dann in einem gegenläufigen Reigentanz (στροφάς τε τὰς ἐν χορείᾳ καὶ ἀντιστροφὰς ποιούμενοι). 30 3. Tanz, Gebet und Inspiration Die Bedeutung dieser Schilderung kann kaum überschätzt werden, denn zu Beginn des 4. Jh. (also zu der Zeit, aus der die meisten tanzkritischen Stimmen stammen) war Euseb von Cäsarea wegen der „auffälligen Merkmale, die sich nirgends sonst als nur in der christlichen, evangelischen Religion finden“ 31 davon überzeugt, dass die Therapeuten christliche Mönche waren. Indem Euseb den gottesdienstlich-sympotischen Tanz der Therapeuten als zweifelsfrei christlich identifiziert, lässt sich Philos Bericht indirekt als Zeugnis für den gottesdienstlichen Tanz im Christentum verstehen. Ich nehme diesen sehr ausführlichen Bericht als Leitfaden, um daran einige wichtige Aspekte zu zeigen. 3.1 Antiphonischer Gesang und Tanz Unter der Voraussetzung, dass Chortanz Chorgesang ist und umgekehrt, sind zunächst die verschiedenen Weisen zu bedenken, unter denen ein einstimmiges Gebet bzw. ein monodischer Gesang denkbar sind, weil das Rückschlüsse auf die Art des Tanzes zulässt. Philo nennt zuerst den antiphonischen Wechselgesang zweier Chöre. Antiphonischer Wechselgesang ist aus jüngerer Zeit beispiels‐ weise für die Rezitation des šema’-jisrael im synagogalen Gottesdienst bezeugt, für die der himmlische Lobpreis der Engel als Vorbild dient. 32 Weiter verbreitet als der abwechselnde Gesang zweier Chöre ist jedoch der Wechsel zwischen einem Vorbeter und dem chorischen Responsorium. Philo hat diese Form vor Augen, wenn er als Vorbild für den Tanzhymnus auf das Schilfmeerlied aus Exodus 15 verweist (Vit. cont. 82), wo Miriam mit allen Israeliten hymnodiert 156 Tanz und Offenbarung <?page no="157"?> 33 Zum Beispiel Plinius, Nat. hist. XXVIII 12; Q. Curtius Rufus IV 13,48; Livius IV 21,5; V 41,3 (praefari carmen) u. v. ö. Für den jüdisch-christlichen Bereich vgl. etwa 2Makk 1,24 ff. und die entsprechend in Abschnitte gegliederten Gebete der Sammlung in Const. Apost. VII 36 f. Weiteres Material ist gesammelt und besprochen bei K L I N G H A R D T 1999, 4 ff. 34 Die komplette Aneignung des Gebets durch die Respondierenden ist im rabbinischen Judentum verschiedentlich behandelt worden, wobei aller Ton darauf liegt, dass das Amen-Respons genauso zählt wie das ganze vorgesprochene Gebet, vgl. DtnR VII 1; bBer 53b („Größer ist der, der ‚Amen‘ antwortet, als der, der die Benediktion spricht.“); NumR IV 20. Weitere Beispiele für responsorische Gebete sind etwa die Hosianna-Rufe der Sukkot-Litanei (hier auch mit Tanz) sowie die Kyrieeleison- oder Halleluja-Litaneien, letzteres z. B. bei Hippolyt, Trad. Apost. 25 (B O T T E 66) als sympotisches Gebet: „Nachdem der Bischof den Kelch dargebracht hat, betet er einen der zum Kelch passenden Alleluja-Psalmen. Alle sprechen es [sc. das Alleluja] gleichzeitig mit. Wenn man [später] die Psalmen rezitiert, sollen alle das Alleluja sprechen.“ Hier ist das Nebeneinander von monodischer Gebetsrezitation und Aneignung des Gebets durch gemeinsame Responsion deutlich. Zum Ganzen vgl. K L I N G H A R D T 1996, 457 ff. 35 Athanasius, Apologia ad imperatorem Constantium 16 (S Z Y M U S I A K 105, 14 ff.): μίαν καὶ τὴν αὐτὴν μετὰ συμφωνίας τῶν λαῶν γενέσθαι τὴν φωνήν. Vgl. auch Cyprian von Antiochien, Confessio 17: „Darauf gingen wir in die Kirche und sahen den Chor, der einem Chor himmlischer Gottesmenschen glich oder einem Chor von Engeln, der Gott einen Lobgesang anstimmt. Ein hebräisches Wort fügten sie jedem Vers bei mit einer Stimme (Ἑβραϊκήν τε λέξιν ἑκάστῳ στίχῳ ἀπαγαγόντες μιᾷ φωνῇ), so dass man glauben mochte, sie seien nicht [eine Vielheit von] Menschen, sondern ein zu einer Einheit zusammengefasstes vernünftiges Wesen, das einen wunderbaren Klang ertönen lässt.“ 36 Ich folge der Ausgabe L I P S I U S U N D B O N N E T 1898; Seiten- und Zeilenzahlen nach dieser Ausgabe. Neben dem Kommentar von J U N O D U N D K A E S T L I 1983 sind aus der Literatur wichtig: V A N U N N I K 1983; A U F D E R M A U E R 1988; B O W E 1999; D E W E Y 1986. und tanzt. Diese Gebetsform ist vor allem für das öffentliche Gebet im Raum der Politik belegt: Ein Vorbeter (lat. monitor) spricht den Gebetstext vor, die Menge wiederholt den [18] Text. 33 Etwas anders organisiert ist die (abschnittsweise) Rezitation des Gebetsformulars durch den Vorbeter, die mit einer Chatimah oder einer Doxologie endet, worauf der Chor mit einer Amen- oder anderen Respon‐ sion antwortet. 34 Athanasius betont in seiner Apologie für Konstantin, dass die Amenresponsion des Kirchengebets dazu führt, dass „Gott schnell erhört“, weil ja „ein und dieselbe Stimme in Wohlklang aus dem Volke emporstieg.“ 35 Nun lässt sich von den hier genannten Belegen nur für das von Hippolyt genannte Hallel-Gebet mit Halleluja-Respons (aufgrund der sympotischen Si‐ tuation) auch ein dazugehöriger (Hallel-)Chortanz annehmen. Daher ist das große Gebet in den Johannesakten 94-96 von Bedeutung, weil es genau diese Gebetsform als Tanz beschreibt. 36 Unmittelbar vor seiner Verhaftung, also an genau der Stelle, an der die Evangelien das letzte Mahl mitteilen, schart Jesus seine Jünger um sich, um einen „Hymnus an den Vater zu singen“. Er lässt 157 Tanz und Offenbarung <?page no="158"?> 37 ActJoh 94 (p. 197,11-16). 38 ActJoh 94 (p. 197,17-21). 39 ActJoh 95 (p. 197,22-198,13). 40 J U N O D U N D K A E S T L I 1983, 644: „certainement une pratique liturgique de l’Eglise ancienne.“ 41 Plutarch, De EI, 389 A. Vgl. Philochoros (FGrHist 328 F 172, bei Athen. XIV 628A): „Die Alten sangen bei ihren Spenden keine Dithyramben, sondern wenn sie Libationen darbrachten, ehrten sie den Dionysos mit Wein und Trunkenheit, den Apollon (Paian) aber in ruhiger und guter Ordnung.“ 42 Vgl. z. B. noch: 1Clem 34,7: „Auch wir wollen deshalb, in Eintracht am selben Ort versammelt (ἐν ὁμονοίᾳ ἐπὶ τὸ αὐτὸ συναχθέντες), wie aus einem Munde (ὡς ἐξ ἑνὸς στόματος) beharrlich zu ihm rufen…“ - AscJes 7,15 (et cantabant una voce) und 9,28 (et adoraverunt eum una voce cantantes) - Ignatius, Eph 4,1 f. (ἐν τῇ ὁμονοίᾳ ὑμῶν καὶ die Jünger sich an den Händen fassen und einen Kreis bilden, stellt sich dann in die Mitte und fordert sie auf: „Antwortet mir mit Amen! “ 37 Es folgt ein längerer Hymnus, der mit einer ausführlichen Doxologie - neben dem Vater und dem Geist wird ausdrücklich auch die Gnade (χάρις) genannt - beginnt 38 und dann im Hauptteil in 24 kurzen Zeilen den Grund des Dankes benennt, die jeweils mit einer Amen-Responsion enden. 39 [19] Hier ist sehr gut erkennbar, wie Hymnodie und Tanz zusammengehören, und zwar gerade in der Form eines Vortänzers/ Vorbeters und dem respondierenden Chorreigen. Die rubrizistischen Bemerkungen regeln die Choreographie: Der Vortänzer steht in der Mitte, der Chor im Kreis um ihn herum; da sich alle Tänzer an den Händen fassen, kann der Tanz nur ein Schreit- und Reigentanz sein. Diese Rubriken und die Tatsache, dass der Hymnus für den Fortgang der Handlung nicht notwendig ist, machen wahrscheinlich, dass sich hier tatsächlich liturgische Praxis spiegelt. 40 3.2 Gemeinsames Gebet und Chorreigen Die andere Weise für Chortanz und -gesang, die Philo für die Therapeuten erwähnt, ist die Vereinigung aller Tänzer zu einem großen Reigen. Das ist nicht weiter problematisch. Schwierig sind eher die technischen Fragen, wie eine große Zahl von Sängern/ Tänzern gemeinsam einen monodischen Hymnus singen und tanzen kann, weil hier Text, Melodie und Rhythmus festliegen müssen. Das ist genau die Situation, die Plutarch zum einstimmigen Paian beschrieben hatte, für den, im Gegensatz zum leidenschaftlich-unruhigen Di‐ thyrambus, Musik in wohlgeordnetem Maß erforderlich ist. 41 Anders als mit ruhigem Metrum ist ein einstimmiges Gebet, genauer: ein monodischer Hymnus mit Tanz, auch nicht vorstellbar, vor allem, wenn man an die anspruchsvollen Texte von Pindar, Bakchylides u. a. denkt. Dieses Gebet der Gruppe „mit einer Stimme“ ist in zahlreichen christlichen Texten belegt und steht auch hinter der Schilderung der Eintracht der Urgemeinde (Apg 2,42). 42 Das einstimmige Gebet 158 Tanz und Offenbarung <?page no="159"?> συμφώνῳ ἀγάπῃ … ᾄδεται) - ApcPetr IV 19 (Fragmente aus Akhmîm, ed. K L O S T E R M A N N 10,1 f.): „Die dort wohnten, trugen die gleiche Glorie und mit einer Stimme priesen sie den Herrn voll Freude an diesem Ort (μιᾷ φονῇ τὸν κύριον θεὸν ἀνευφήμουν εὐφραινόμενοι ἐν ἐκείνῳ τῷ τόπῳ).“ - Gregor v. Nazianz, Carm. lib. II, sect. I 1, 280 (MPG 37, 991): Die Engelschöre würden „zwar aus vielen Mündern, aber trotzdem mit geeinter Stimme singen (πολλῶν ἐκ στομάτων ξυνὴν ὄπα γηρύοντες).“ 43 Neben den libelli mit dem Gebetsformular für den Chorreigen der Arvalbrüder (s. o. Anm. 28) vgl. z. B. Ovid, Fast. VIII 387 (ad certos verba canenda modos); Plinius, Nat. hist. XXVIII 11; Seneca, Ep. 67,9; Cicero, Nat. deor. II 10; De har. resp. 23; Macrobius, Sat. III 9,3; Juvenal, Sat. VI 392; Arnobius, Adv. nat. IV 31 usw. Das Material ist besprochen bei K L I N G H A R D T 1999, 6 ff. 44 Neben dem kanonischen Psalmenbuch verweise ich nur auf PsSal, die zahlreichen Beispiele aus Qumran sowie die rabbinischen Gebetsformulare für die Hauptgebete oder die Sammlung in mBer. 45 An erster Stelle ist natürlich das Unser-Vater zu nennen; dazu treten die großen Gebetssammlungen (OdSal; Hippolyt, Trad. Apost.; Serapion von Thmuis; Const. Apost. VII usw.) sowie die Hymnologien von Ephraem, Synsesius, Ambrosius, Prudentius u.a. 46 Für dieses fordert Origenes ausdrücklich, bei dem gewohnten Formular zu bleiben (Dial. c. Heracl., ed. S C H E R E R [SC 67], Paris 1960, 62 ff.). Seine theologische Begründung deckt sich z. B. mit Servius, In Virg. Aen. VII 120: in precationibus nihil esse ambiguum debet. 47 Zur Rekonstruktion des Did 9 f. vorausgesetzten Mahles (Vortischgebete über Becher und Brot - Mahl - Nachtischgebet(e) - Symposium mit Hymnologie) vgl. Klinghardt 1996, 379 ff. ist intensiver und hat daher eine größere Wirkung. Für diese Gebete muss es also Formulare gegeben haben. Sie sind nicht nur für den griechisch-römischen Bereich belegt, 43 [20] sondern auch für das antike Judentum 44 und natürlich das frühe Christentum. 45 Hier sind gerade die Formulare für das eucharistische Dankgebet wichtig, 46 da sein Ort zwischen Mahl und Symposion genau der Position entspricht, die der Paian einnimmt. Ein frühes Formular für dieses Gebet ist in der Mahlagende Didache 10 er‐ halten, 47 für das die rubrizistischen Angaben weiteren Aufschluss ermöglichen. Folgende Aspekte sind für unseren Zusammenhang wichtig: (a) Das Gebet ist ausweislich der einleitenden Rubrik (Did 10,1) ein Nachti‐ schgebet, das wie die Vortischgebete als Dankgebet in der 1. pers. pl. ausgeführt ist. Die Stellung des Salbölgebetes in 10,8 kopt. deutet an, dass an dieser Stelle - also nach dem Nachtischgebet - das eigentliche Gelage begann, zu dem Parfum ausgegeben wurde. (b) Durch die Doxologien (10,2.4.5) ist das Gebet erkennbar in drei relativ eigenständige Abschnitte unterteilt, für die zwingend jeweils ein Amen-Respons vorauszusetzen ist, auch wenn es hier wie in den Vortischgebeten nicht im Formular erwähnt wird. (c) Das Gebetsformular ist verpflichtend und wird von allen gebetet, wie die Ausnahmeregelung für die Propheten am Ende (10,7) zeigt. (d) Nach der letzten abschließenden Doxologie folgen zwei Zeilen (10,6aα/ β), die also nicht mehr Teil des Gebets sein können, 159 Tanz und Offenbarung <?page no="160"?> 48 Ausführlich begründet bei K L I N G H A R D T 1996, 387 ff. 49 Zum Beispiel Sota V 4; pSota 5,6 (20c); Mekhilta R Jishmael II 6 (115 Horovitz-Rabin); Mekhilta R. Shimon Ex 14,31 (70 Epstein-Melamed) u.ö. Vgl. dazu G R Ö Z I N G E R 1982, 99 ff.; S C H Ä F E R 1972, 66. die aber (im Unterschied zu 10,6b) auch nicht Teil der Rubriken sind. Am ehesten handelt es sich bei der Charisinvokation („Es komme die Gnade, diese Welt vergehe“) und der Hosannazeile („Hosanna dem Sohn/ Gott Davids“) um den Text von Hymnen(anfängen), die an dieser Stelle zu singen vorgeschrieben werden. 48 Wichtig ist an diesem Szenario, dass hier, ganz ähnlich wie es Philo für die Therapeuten darstellt, verschiedene Formen von Hymnodie aufeinander folgen: Für das Nachtischgebet liegt die abschnittsweise Rezitation durch einen Vorbeter und Aneignung durch Amen-Responsion nahe; die nächste Analogie wäre das Tanzlied der Johannesakten. Danach folgte noch weitere Hymnodie, über deren Aufführungspraxis sich nichts ermitteln lässt, die aber - wiederum ganz analog zu den Johannesakten - mit einer Charis-Invokation beginnt. Auch wenn die eucharistische Agende in Didache 9 f. den Tanz nicht erwähnt, lässt er sich doch aufgrund der Analogien bei Philo und in den Johannesakten durchaus wahrscheinlich machen. [21] 3.3 Musen, Nymphen, Chariten: Tanz und Inspiration Diese Überlegung muss zwar Vermutung bleiben, lässt sich aber noch ein Stück weiter erhärten, wenn man die Charis-Invokation (10,6a) in ihrer theo‐ logischen Bedeutung mit einbezieht. Schon bei Philo vermittelte die Abfolge von antiphonischem und Doppelreigentanz eine Form gesteigerter Inspiration: Zum Tanz singen die Therapeuten „voller Gottbegeisterung“ (ἐπιθειάζοντες, Vit. cont. 84), ihr zweichöriger, antiphonischer Chortanz ist ein Trinken „von dem ungemischten Wein der göttlichen Liebe“ (Vit. cont. 85) und führt zu dem Doppelreigen nach dem Vorbild des Schilfmeertanzes, der die Tänzer mit Ekstase füllte (ἐνθουσιοῦντες, Vit. cont. 87), so dass sie sich in einem Zustand „schöner Trunkenheit“ (καλὴ μέθη) befinden (Vit. cont. 89). Dieser Hinweis auf den Schilfmeertanz ist wichtig, weil Exodus 15 in der jüdischen Tradition als Grundtext für das Phänomen kollektiver Inspiration dient: Nicht Miriam allein, sondern das ganze Volk, Männer und Frauen, waren vom Heiligen Geist erfüllt, 49 was im Licht von Johannes 3,15 f. die Realisierung einer eschatologischen Verheißung darstellt. Der Tanz vermittelt die Geistesgabe und inspiriert, wobei das Element der Vereinigung der beiden Chöre eine erkennbare Steigerung darstellt. 160 Tanz und Offenbarung <?page no="161"?> 50 „Und sie hauchten mir eine weissagende Stimme ein, damit ich rühme, was sein wird und was vorher war, und sie forderten mich auf, das Geschlecht der Seligen zu preisen, der Ewigseienden …“ (Theog. 31 ff.). 51 Zum Beispiel Properz (Eleg. III 5,20): Der Dichter reiht sich in den Reigentanz der Musen ein: musarumque choris implicuisse manus. Bei Theokrit (Id. V 92) ist die Musenweihe durch die Begegnung des Dichters mit Nymphen nachgebildet, die ihn „Edles gelehrt“ hätten; das verbindende Element von Musen und Nymphen ist der Chorreigen. Das wird hinreichend deutlich bei Vergil, Ecl. 10,54, wo der Tanz (lustrare) des Dichters mit den Nymphen mit der Museninvokation zu Beginn korrespondiert (10,1: extremum tunc, Arethusa, mihi concede laborem). 52 Text bei P E E K 1955; die Inschrift enthält vier Spalten auf zwei Blöcken. Diese Darstellung enthält einige typische Elemente, die uns auch in anderen Texten begegnen: (1) Inspiration durch Integration in einen Chor, bei der (2) eine Einheit von Männern und Frauen hergestellt wird, die (3) trotz der erotischen Sprache von entsprechenden Assoziationen frei ist und (4) sich in einem gesteigerten Bewusstseinszustand ausdrückt. Dabei ist natürlich für unsere Fragestellung nach dem gottesdienstlichen Tanz von Bedeutung, dass dieses nicht nur in einem sympotischen (also: gottesdienstlichen) Rahmen geschieht, sondern auch mit breiter sympotischer Metaphorik („ungemischter Wein der Gottesliebe“; „schöner Rausch“ usw.) beschrieben wird. Diese Elemente bilden einen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang, der sich auch dann noch hin‐ reichend klar identifizieren lässt, wenn nicht alle Aspekte aufgeführt werden. Um ihn zu verdeutlichen, nenne ich noch einige weitere Texte. Das grundlegende Element ist die Inspiration durch Partizipation an einem Reigentanz. In der griechisch-römischen Antike ist die Vorstellung weit ver‐ breitet, dass beispielsweise Dichter durch die Musenweihe zu ihrer Dichtung befähigt werden. Ein herausragendes Beispiel ist dabei die ungewöhnlich lange und intensive Museninvokation zu Beginn von Hesiods Theogonie (1-115! ): Die Musen, die gern singen, tanzen und einmütig sind (Theog. 60 f.), verleihen dem Dichter zugleich mit der Dichtkunst die Fähigkeit „Wahres zu verkünden“ (Theog. 22 bis 28), [22] zu der ausdrücklich prophetisches Wissen gehört. 50 Auch wenn hier nicht ausdrücklich gesagt wird, wie diese Inspiration vonstatten geht, ist doch der Hinweis auf den Tanz der Musen deutlich genug: In der zugrunde liegenden Traditionslinie jedenfalls ist die Verbindung von Musentanz und -inspiration ausgeprägt. 51 Wie der Zusammenhang genauer zu denken ist, zeigt das Beispiel der Musenweihe des Dichters Archilochos, die im Rahmen des Gründungsnomos eines Vereines zur Verehrung des Archilochos unter dem Schutz des Apollon und des Dionysos aus dem 3. Jh. v. Chr. berichtet wird: 52 Archilochos begegnet einer Gruppe junger Frauen, die mit ihm scherzen (παίζειν) und lachen; die Frauen verschwinden auf wunderbare Weise. Archilo‐ 161 Tanz und Offenbarung <?page no="162"?> 53 Vgl. dazu L U S C H N A T 1973/ 74. 54 Die Jungfrauen haben „entblößte Schultern“, „aufgelöstes Haar“ und erscheinen „wild“ (ἔξω τοὺς ὤμους; τὰς τρίχας λελυμέναι; ἄγριαι sim. IX 9,5). Hermas geniert sich zunächst, bei den Frauen zu nächtigen (IX 11,3), schläft dann aber mitten unter ihnen, nachdem sie ihre Gewänder auf die Erde gelegt haben (IX 11,7) usw. 55 Zu Chortanz und Gesang der Chariten vgl. Aristophanes, Ran. 324 f.; Xenophon, Symp. 7,2; Euripides, Phoen. 788 (Chariten als χοροποιοί,); Pollux IV 9; Plutarch, Mus. 14 (1136A); Pindar, Nem. 6,39 u. v. ö. Zu bildlichen Darstellungen der tanzenden Chariten vgl. E S C H E R 1899, 2165 ff. Zum Nymphenreigen vgl. Timaios (FGrHist 566 F 32, bei Athen. VI 250A): In Sizilien sei es üblich, „den Nymphen in jedem Haus Opfer darzubringen und bei ihren Standbildern Pannychides zu veranstalten und berauscht um die (Bilder der) Göttinnen herum zu tanzen (θυσίας ποιεῖσθαι κατὰ τὰς οἰκίας ταῖς Νύμφαις καὶ περὶ τὰ ἀγάλματα παννυχίζειν μεθυσκομένους ὀρχεῖσθαί τε περὶ τὰς θεάς).“ 56 Die inspirierende Funktion der χάρις/ der Chariten gerade zur Hymnodie ist verschie‐ dentlich belegt, vgl. beispielsweise: Aristophanes, Ran. 879 f.; Hom. Hymn. 25,4.6; 30,7; Hesiod, Theog. 96; s. dazu K E Y S S N E R 1932, 67 f. Vor allem bei Pindar begegnet dieses Konzept, z. B. Nem. 4,6 f.; 9,54; 10,1; Ol. 9,27; Isthm. 3,8 usw.; Ol. 14 auf einen Bürger aus Orchomenos, wo der Charitenkult besonders intensiv gepflegt wurde (S C H W A R Z E N B E R G 1966, 7 ff.), besingt die Chariten insgesamt. chos findet vor sich eine Lyra, erschrickt und verliert die Besinnung. Später wird aufgrund der Erfüllung eines delphischen Orakels sichergestellt, dass dieses Zusammentreffen tatsächlich eine Musenweihe war (A II, Z. 50-53). Diese paganen Texte besitzen im Bericht von der Begegnung des Hermas mit den zwölf Jungfrauen eine wichtige frühchristliche Analogie (PastHerm, sim. IX 10,6 bis 11,8). 53 Der „Hirte“, die Offenbarergestalt dieser Schrift, übergibt Hermas an zwölf Jungfrauen, die ihn küssen, umarmen und mit ihm um den Turm herumtanzen; Hermas fühlt sich verjüngt, scherzt (παίζειν) mit den Jungfrauen und nächtigt schließlich zusammen mit ihnen beim Turm. Die unübersehbaren erotischen Züge 54 dieses Geschehens werden gleich mehrfach aufgefangen: Hermas übt große Zurückhaltung und will erst gar nicht bei den Jungfrauen übernachten (sim. IX 11,2), dann beten die Jungfrauen und er die ganze Nacht über (sim. IX 11,7), schließlich antwortet Hermas auf die Frage des Hirten am nächsten Morgen, ob die Jungfrauen Hermas „etwas getan hätten“, dass er nur „Worte des Herrn“ gegessen habe (sim. IX 11,8). Interessanterweise werden vier Jungfrauen als „besonders herrlich“ (ἐνδοξότεροι, sim. IX 10,7) herausgehoben, ohne dass diese Vierergruppe erkennbar eine weitere Rolle spielt; verständlich wird dieser Hinweis, wenn sich die Vierzahl auf die Chariten (χάριτες) bezieht, die ja, ähnlich den Musen oder den Nymphen, einen besonders [23] engen Bezug zu Gesang und Tanz haben 55 und ebenfalls zu Dichtung bzw. Gesang inspirieren. 56 162 Tanz und Offenbarung <?page no="163"?> 57 Dass diejenigen, die bei einer Pannychis wachbleiben, ein Geschenk erhalten, ist wiederholt berichtet, z. B. Iatrokles (bei Athen. XIV 647C: Kuchen); Kallimachos (Athen. XV 668C; aus der Komödie „Pannychis“); Eubulos, fr. 2 PCG V 189 (drei Bänder, fünf Äpfel und neun Küsse für die, die wach bleiben). 58 Die Nüchternheit ist aus apologetischen Gründen wichtig, weil sich Philo der Entspre‐ chung der therapeutischen Pannychis zu den Bakcheen bewusst ist (Vit. cont. 85) und sie ausführlich mit paganen Symposien kontrastiert (Vit. cont. 40-63). In der Begegnung mit den Jungfrauen wird Hermas auf die Belehrung durch den Hirten am folgenden Morgen vorbereitet; die Gemeinschaft mit den Jungfrauen erweist ihn als würdig und befähigt ihn zum Offenbarungsempfang: Seine Würdigkeit wird dadurch etabliert, dass er in einem umfassenden Sinn keusch und rein geblieben ist und nur auf nachhaltiges Drängen der Jungfrauen hin die Nacht mit ihnen verbracht hat. Befähigt ist er zum Offenbarungsemp‐ fang, weil er in Tanz und Gebet die ganze Nacht hindurch von den Jungfrauen „Worte des Herrn gegessen“ hat. 3.4 Tanz und Inspiration: Der traditionsgeschichtliche Zusammenhang Mit der Jungfrauenszene aus dem Hirten des Hermas ist der letzte wichtige Text vorgestellt, der es erlaubt, den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang so herzustellen, dass das theologische Profil der Aussagen über den Tanz sichtbar wird. Ich führe die wichtigsten Verbindungslinien in lockerer Folge auf und beginne mit den Analogien zwischen Philo und dem Hirten des Hermas. (1) Gemeinsam ist zunächst die Verortung des Inspirationsgeschehens in einer Pannychis, einer religiösen Nachtfeier. Wichtig ist daran die Betonung, dass das Geschehen die ganze Nacht hindurch andauert, die Teilnehmer aber trotzdem nicht müde werden. Für die Therapeuten betont Philo ausdrücklich, dass sie am Ende der ganzen Nacht wacher sind als zuvor (Vit. cont. 89), für Hermas wird es daran deutlich, dass er einmal sagt, er habe bei den Jungfrauen geschlafen (ἐκοιμήθην, sim. IX 11,6), daneben aber betont, dass er ununterbrochen mit ihnen gebetet habe (ἀδιαλείπτως προσηυχόμην, sim. IX 11,6). Das Wachbleiben im Rahmen eines Symposiums ist ein häufig genannter Wert, 57 weil der Al‐ koholgenuss [24] dem Einschlafen Vorschub leistet. Insofern geht es beim Wachbleiben um andauernde Nüchternheit, was für Philo gerade wegen der Rausch-Metaphorik von Bedeutung ist. 58 (2) Eine zweite Verbindung stellen die erotischen Assoziationen dar, die durch die Vorstellung des gemeinsamen Reigentanzes geweckt werden. Da sich sowohl Philo als auch der Hirt des Hermas durchaus Mühe geben, sie zu korrigieren, stellt sich natürlich die Frage nach ihrer literarischen Funktion. Einen Hinweis 163 Tanz und Offenbarung <?page no="164"?> 59 Euripides, Bakch. 188 ff. (der Greis Teiresias fühlt sich jung und nimmt am Tanz teil) - Aristophanes, Ran. 330 ff. („Greisen selbst regt sich das Knie, und sie schütteln der Sorgen und der bleichenden Jahre Last vom Haupte, verjüngt durch die heilige Festlust.“); nach 409 ff. gehören zu diesem Tanz auch erotische Motive und παίζειν (Ran. 385 ff.) - Wie παίζειν Ausdruck kindlich-unbeschwerter Freude ist, zeigen noch die παιδικοὶ ὕμνοι in einem Paian des Bakchylides (fr. 4, Z. 80 Maehler 116). 60 Vgl. J U N O D U N D K A E S T L I 1983 (z.St.). S C H Ä F E R D I E K (1971, 156) übersetzt: „*Mit dem Wort* habe ich (*) alles verspottet und bin durchaus nicht *verspottet worden.“ Die Asterisken zeigen seine Schwierigkeiten, die vor allem daher rühren, dass er ἔπαιξα offensichtlich als Form von ἐπαισχύνομαι (wie in der zweiten Vershälfte) versteht. 61 Auch in Lk 1,44 ist das „Hüpfen in Freude“ (ἐσκίρτησεν ἐν ἀγαλλιάσει) Ausdruck des Geistbesitzes (vgl. Lk 1,41). gibt der Musenreigen der Archilochosinschrift, der ja dieselben Motive andeutet: Archilochos verliert das Bewusstsein vor lauter Freude in dem Moment, in dem der Tanz mit den jungen Frauen ihm körperlich nahe kommt, erkennt aber erst im Nachhinein, dass dieser Tanz kein erotisches Erlebnis war. Die erotischen Aspekte haben daher die Funktion, die Intensität der Inspirationserfahrung, die eine gleichsam körperliche Dimension besitzt, zum Ausdruck zu bringen. (3) Diese vitale, erotisierende Erfahrung wird mit dem geradezu technisch gebrauchten Begriff παίζειν (in der Bedeutung „scherzen, spielen, tändeln, herumalbern“) bezeichnet, in dem immer wieder auch das Verjüngungsmotiv mitschwingt. 59 Genau dieser Begriff begegnet auch im Tanzlied der Johanne‐ sakten, und zwar in Bezug auf den Logos: Ich habe einmal ganz und gar mit dem Logos getanzt (ἔπαιξα), und ich bin überhaupt nicht beschämt worden. Ich bin gehüpft (ἐσκίρτησα), du aber erkenne Alles, und wenn du es erkennst, sprich: Ehre sei dir, Vater. - Amen (ActJoh 96, p. 199,4-6). Diese Zeile (198,4) ist notorisch schwierig und hat Anlass zu allerlei Konjekturen gegeben. 60 Der hier dargelegte traditionsgeschichtliche Zusammenhang zeigt aber, dass παίζειν an dieser Stelle erwartbar ist und ganz sachgemäß verwendet wird. Der Tanz bzw. die Tändelei mit dem Logos, die Jesus hier von sich aussagt, ist eine Inspirationsaussage, die vom Bildgehalt der Metaphorik den Aussagen der Zeugung durch das Pneuma (z. B. Lk 1,35) nahe steht: Die Geistbegabung geschieht [25] hier auf dieselbe Weise wie die Inspiration des Archilochos, die Ekstase der Therapeuten oder die mystische Erfahrung des Hermas mit den Jungfrauen - durch Tanz. Jesu „Hüpfen“ (σκιρτάω) ist dann zu verstehen als eine Art des Pneumaerwerbs und Ausdruck des Pneumabesitzes zugleich. 61 Dieses „tänzerische Geheimnis“ sollen die Jünger erkennen - und dann mit einem Lobpreis reagieren. 164 Tanz und Offenbarung <?page no="165"?> 62 ActJoh 95 (p. 198,3): ἡ χάρις χορεύει. Vgl. B O W E 1999, 95. 63 Das Verb αὐλῆσαι ist hier typisch, weil die Flötenbegleitung - im Unterschied zu der Begleitung durch Saiten- und Schlaginstrumente - notwendig zum Paian gehört, vgl. Plut., Quaest. conv. VII 8 (713A): „Die Flöte lässt sich nicht vom Tisch verdrängen, selbst wenn man es wollte; sie ist für die Spenden so notwendig wie die Kränze; und sie erklingt zum Paian an die Gottheit.“ - Plut., Sept. sap. conv. 5 (150D) - Plato, Symp. 176E - Properz, Eleg. IV 6,8 (die Flöte „spendet“ Töne zum Wein) u.ö. Vgl. auch die Symposiendarstellung mit Flötenspieler bei D Ö L G E R 1928, Taf. 240. 64 ActJoh 95 (p. 198,3-7). 65 ActJoh 96 (p. 198,14-17; 198,22-199,3). (4) Es ist dabei kein Zufall, dass der Tanz, den die Jünger um Jesus aufführen, im Hymnus selbst mehrfach thematisiert wird, und zwar charakteristischer‐ weise nach der kurzen Bemerkung „die Charis tanzt“, die aus dem Schema Vorbeter-Protasis mit Amen-Respons herausfällt und weder Teil des Gebets‐ formulars noch eine rubrizistische Bemerkung ist, sondern am ehesten ein Kommentar des Erzählers. 62 Im Anschluss daran heißt es: Ich will die Flöte blasen, 63 tanzt alle! - Amen […] Die eine Ogdoas preist zusammen mit uns. - Amen. - Die Zwölfzahl tanzt in der Höhe. - Amen. - Der Tanzende gehört zu dem All. - Amen. - Wer nicht tanzt, versteht nicht, was geschieht. - Amen. 64 [Und der dritte Hauptteil, in dem keine Amen-Responsorien mehr vorkommen, beginnt wieder mit einer Deutung des Tanzes: ] Ich gehorche meinem Tanz. Sieh dich selbst in mir, dem Redenden. Wer sieht, was (er als Tanzender) tut, schweige über meine Geheimnisse. Der Tanzende erkennt, was ich tue. Denn dein ist dieses Leiden des Menschen, das ich erleiden werde. [Es folgt eine längere Abhandlung über das Leiden, das mit der Aufforderung zum Erkennen endet: ] Erkenne das Leiden, und du wirst das Nicht-Leiden haben. Was du nicht weißt, will ich selbst dich lehren. Ich bin dein Gott, nicht der des Verräters. Ich will heilige Seelen auf mich ausrichten (ῥυθμίζεσθαι). Erkenne das Wort der Weisheit… Das meine wollte ich erkennen. 65 Die Bedeutung der Charis ist offenkundig, und die Wendung „die Charis tanzt“ macht hinreichend klar, dass „Gnade“ hier im konkreten Sinn der Charitenin‐ vokation mit dem Ziel der Inspiration thematisiert wird. Denn das Ziel dieses Charis-Tanzes ist das Verstehen der μυστήρια Jesu, vor allem die soteriologi‐ sche Dimension seines Leidens („denn dein ist dieses Leiden, das ich leiden werde“). Die Aufforderung, über diese Geheimnisse Schweigen zu bewahren, kennzeichnet [26] diesen Erkenntnisgewinn als Offenbarungswissen, das durch die Teilnahme am Tanz selbst vermittelt wird: „Wer nicht tanzt, versteht nicht…Was du nicht weißt, will ich selbst dich lehren“ - zu ergänzen wäre sinngemäß „indem wir in einem Tanz verbunden sind.“ Der Tanz selbst stellt also das Medium dar, durch das Offenbarungswissen vermittelt wird. Es ist 165 Tanz und Offenbarung <?page no="166"?> 66 Did 9,5: „Niemand soll von eurer Eucharistie essen oder trinken als die auf den Namen des Herrn Getauften.“ 67 Seit L I E T Z M A N N (1955, 229) hat man das Maranatha verschiedentlich als Teil des Dialogs zwischen Liturg und Gemeinde in Analogie zu den späteren Liturgien verstehen wollen, was aber erhebliche willkürliche Eingriffe in den Didache-Text voraussetzen würde. Ich habe dargelegt, dass das Maranatha eher eine Drohung ist, die die Warnung vor unwürdigem Genuss sanktioniert (K L I N G H A R D T 1996, 402 ff.). 68 ὅσα Did 10,7 (in der Jerusalemer Handschrift); es geht also nicht um beliebige Gebete, wie Kopt. voraussetzt (ὡς) und N I E D E R W I M M E R 1989, 205 annimmt. daher verständlich, dass die Partizipation am Tanz eine bestimmte Würdigkeit voraussetzt („Ich bin dein Gott, nicht der des Verräters“), dabei aber zugleich auch herzustellen scheint: ῥυθμίζεσθαι bezeichnet nicht nur die Gleichförmig‐ keit der Tanzbewegung, sondern auch die Übereinstimmung der ψυχαὶ ἁγίαι mit ihrem Vortänzer Jesus. (5) In diesem Horizont gewinnt die Charis-Invokation im sympotischen Hymnus nach dem Dankgebet Didache 10,6a entlang der Stichworte Würdigkeit, Offen‐ barungswissen und Inspiration bzw. pneumatische Begabung Profil. Deutlich ist zunächst, dass die Unwürdigen ausgeschlossen sind. Die Rubrik am Ende der Vortischgebete schränkt den Kreis auf die Getauften ein, 66 am Ende des hymno‐ logischen Formulars heißt das Kriterium Heiligkeit: „Wenn jemand heilig ist, soll er kommen, wenn er es nicht ist, soll er Buße tun. Maranatha“ 67 (10,6b). Die verlangte Heiligkeit hat ausweislich der Umkehraufforderung eine moralische Qualität und entspricht den „heiligen Seelen“ im Tanzlied der Johannesakten. Auch die Erlangung von Offenbarungswissen wird in den Didache-Gebeten thematisiert: Gleich drei Mal verweist die Formel „welches/ welchen du uns kundgetan hast durch deinen Knecht Jesus“ (Did 9,2.3; 10,2) auf diese Offenba‐ rung. Allerdings wird überhaupt nicht deutlich, wo und wie der παῖς Jesus der eucharistischen Gemeinde den heiligen Weinstock Davids (9,2), Leben (9,3) sowie Erkenntnis, Glaube und Unsterblichkeit (10,2) kundgetan hat (γνωρίζω): Da es keinen Einsetzungsbericht gab, bleiben nur die Gebete selbst als Vermitt‐ lungsinstanz für diese Gaben. Dafür spricht zunächst, dass 10,2 zwischen den realen Speisen (für alle Menschen) und der „geistlichen Speise und Trank“ (πνευματικὴν τροφὴν καὶ ποτόν) unterschieden wird, die der Gemeinde „durch deinen Knecht Jesus geschenkt“ sind. Zu geistlicher Speise - und damit: zur Gabe des Lebens (10,3) - werden Brot und Wein aber gerade durch die Gebete: Der in den Gebeten formulierte Dank ist insofern selbstreferenziell, als erst das Gebet die Wirkung hervorruft, für die es dankt. Das erklärt die Verpflichtung auf die vorgegebenen Gebetsformulare, über die nur die Propheten hinausgehen dürfen (Did 10,7). 68 Da diese Erlaubnis zu weiterführendem Gebet erst nach 166 Tanz und Offenbarung <?page no="167"?> 69 Nach der Namensetymologie im Hebräischen ׇ הנּ ַ ח (channāh) von ן ַ נ ׇ ח (chānan/ Gnade erweisen) bzw ן ֵ ח (chēn/ Gnade). Philo hat diese Namensetymologie mehrfach benutzt, vgl. Immut. 5, Migr. Abr. 196 und besonders Somn. I 254 f. 70 In Somn. I 254 bezeichnet Philo Hanna ausdrücklich als Prophetin und Prophetenmutter (ἡ προφῆτις καὶ προφητοτόκος Ἄννα). 71 Ebr. 145 f. Die Analogie von pneumatischer Ekstase und Trunkenheit ist verbreitet. Sie liegt z. B. der Logik der Hanna- und der Pfingsterzählung zugrunde (1Sam 1,12-14; Act 2,13). 72 Vgl. z. B. Plutarch, Def. orac. 40 (432E/ F), der dem prophetischen Pneuma eine ganz ähnliche Wirkung zuschreibt. 73 Quaest. Rom. 112 (291A): ἄοινος μέθη καὶ ἄχαρις. den Hymnen(anfängen) [27] 10,6a gegeben wird, erstreckt sich die Verpflich‐ tung auf feste Formulare also auch auf diese Hymnodie. Die Konzession zu weiterführendem Gebet für die Propheten ist möglich, weil sie „im Geist reden“ (11,7). Das impliziert, dass andere Christen, die nicht aus gleichsam beruflichen Gründen über prophetischen Geist verfügen, auf die entsprechenden Formu‐ lare angewiesen sind, die ihre pneumatische Hymnodie gewährleisten. Die Charisinvokation hat dabei die Funktion, dieses pneumatisch-inspirierende Moment auch für die (am ehesten chorisch vorzustellende) Hymnodie nach dem Dankgebet sicherzustellen. (6) Ein letzter Aspekt ist die Verbindung von Tanz und Ekstase, die bereits in Philos Therapeutenschilderung sichtbar wurde. Unter dem Gesichtspunkt der tanzenden Charis (ActJoh) bzw. der Charisinvokation in Didache 10,6a erhält diese Verbindung noch mehr Profil. Denn in seiner Schrift über die Trunkenheit deutet Philo die Gestalt der Hanna (1Sam 1) als Allegorie der Charis, und zwar zunächst aufgrund ihres Namens. 69 In diesem Zusammenhang, der erklären soll, woher Hanna-Charis die Fähigkeit zur Prophetie besaß, 70 führt Philo aus, dass es die Gabe der Charis ist, die auf Menschen eine enthusiasmierende Wirkung besitzt und darin einem berauschenden Getränk ähnelt. 71 Die Analogie von Trunkenheit und pneumatischer Ekstase, die auch sonst bezeugt ist, 72 ist von Bedeutung, weil sie traditionell eng mit dem rauschhaften Tanz im Rahmen des Dionysoskultes verbunden ist. Dabei ist die rauschhafte Ekstase der Bakcheen keineswegs immer die Folge der Trunkenheit, Plutarch beschreibt sie als „Trunkenheit ohne Wein und ohne Anmut“, 73 weil die Bakchantinnen (bitteren) Efeu essen. Im Gegensatz dazu ist die Ekstase der Hanna bzw. der Therapeuten nicht ἄχαρις, sondern geradezu eine Folge der Charis. Denn wenn eine Seele von der Charis erfüllt ist, gerät sie sogleich in einen freudigen Zustand, lächelt und hüpft. Denn sie ist bakchantisch verzückt (βεβάκχευται), so dass sie vielen 167 Tanz und Offenbarung <?page no="168"?> 74 Die Belege sind gesammelt und besprochen bei L E W Y 1929, 1-34. 75 Zum Beispiel hat Hannas Gebet zur Folge, dass der Nous das Gefängnis der Körperlich‐ keit verlässt und nach seinem Aufstieg zu Gott der Schau der Ideen teilhaftig wird (Ebr. 152). 76 Sir 24,21; die Metaphorik ist weit verbreitet, vgl. Prov 9,2 ff. (LXX); Sir 15,3; das rabbinische Material bei S T R A C K U N D B I L L E R B E C K 3 1961, II 433 ff.; 482 ff.; 492; 614; 752. 77 Prob. lib. 12 (ἄκρατος διδασκαλία … μεθύειν τὴν νηφάλιον… μέθην). 78 Diese Aspekte sind auch in den anderen Belegen enthalten: Archilochos verliert durch das erotisch wilde Tanzen die Besinnung, wird aber dadurch zum Dichter „auf höherer Bewusstseinsstufe“ - sit venia verbo - initiiert. Hermas hält die Jungfrauen zunächst für „wild“ (ἄγριαι, sim. IX 9,5), betet dann aber (nur) mit ihnen und „isst Worte des Herrn.“ Ungeweihten betrunken, im Rausch und von Sinnen erscheint (μεθύειν, παροινεῖν, ἐξεστάναι) (Ebr. 146). Philo verwendet die dionysische Terminologie, zu der auch das Tanzen gehört, weil er an der ekstatischen Verzückung interessiert ist, die für ihn aber weder ohne Anmut (ἄχαρις) ist noch Ausdruck von alkoholischer Trunkenheit. Er hat dafür das Oxymoron vom nüchternen Rausch (νηφάλιος μέθη) geprägt, das er verschiedentlich [28] aufgreift. 74 Auffällig ist dabei, dass diese Metaphorik häufig in Verbindung mit Weisheit oder Erkenntnis steht 75 und darin der mit dem Charitentanz verbundenen Inspiration entspricht: So, wie Hermas „Worte des Herrn“ isst, indem er mit den Jungfrauen tanzt, stillt die Weisheit den Hunger und den Durst derer, die von ihr trinken. 76 So, wie die Therapeuten durch den Tanz enthusiasmiert sind, am Ende ihrer durchtanzten Nacht aber nüchtern und wacher sind als zuvor, so berauscht die unvermischte Lehre der Weisheit zu nüchterner Trunkenheit. 77 So gehen hier Rausch und Erkenntnis, Ekstase und Weisheit bruchlos inein‐ ander über. 78 Theologisch aufschlussreich ist daran nicht, dass die unkontrol‐ lierbaren Aspekte von Tanz und Ekstase durch Weisheit und Erkenntnis domes‐ tiziert erscheinen. Vielmehr ist umgekehrt offensichtlich gerade die ekstatische Erfahrung des Tanzes angemessen, um Inspiration und Offenbarung bzw. den Erwerb von Weisheit und Erkenntnis auszusagen. Die reiche, sympotische Metaphorik, die in diesem Zusammenhang immer wieder begegnet, verweist am Ende auf den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: Die theologischen Aspekte des gottesdienstlichen Tanzes werden nur dann verständlich, wenn man die Gelagesituation dieser Gottesdienste im Auge behält. 168 Tanz und Offenbarung <?page no="169"?> 79 Die literarischen Zeugnisse können nicht einfach als Beleg genommen werden. Neben dem Tanzlied der ActJoh wären noch zu nennen: Die Erwähnung des Tanzes bei Melito, Hom. in Pasch. 80 (L O H S E 1958, 29: sympotische Festfreude und Tanz) und die Schilderung des Reigentanzes in Methodius’ Symposium (9,2), wo die Jungfrauen um ihre Chorführerin Thekla einen Reigentanz tanzen und dazu einen 24-strophigen Hymnus singen. 80 Zum Beispiel: Der Tanzhymnus des der Barbeolo-Gnosis zugehörigen 1. Buches Jeû 41 (S C H M I D T U N D T I L L 1905, 297 ff.; die voranstehenden rubrizistischen Angaben in Kap. 40 sind im Cod. Brucianus mit einer Zeichnung versehen, die die Aufstellung zum Reigentanz verdeutlicht, a. a. O. 296); Theodoret berichtet von einer Sekte der Messalianer (Euchiten), die davon überzeugt war, dass jeder Christ einen Teufel im Leib habe, der erst durch Beten ausgetrieben und dann durch das Stampfen des Tanzes am Boden zertreten werden müsse (Haer. fabul. comp. [MPG 83, 429 ff.]); s. A N D R E S E N 1974, 357 usw. 81 So A N D R E S E N (1974, 358), der das Tanzlied in eine Linie mit dem „spätantiken Myste‐ rientanz“ stellt. 4. Einige Ergebnisse (1) Auch wenn gottesdienstlicher Tanz im frühen Christentum nicht direkt, etwa durch liturgische Vorschriften o.Ä. belegt ist, 79 ist er doch erkennbar kein Phantom. Das Urteil der älteren Forschung, die Alte Kirche sei durchweg „tanzkritisch“ gewesen, krankt vor allem am Mangel konkreter Anschauung, wie denn die Praxis der frühesten Gemeindeversammlungen in der Zeit vor den großen Liturgien seit dem 4. Jh. ausgesehen hat. Die Frage, ob es gottesdienst‐ lichen Tanz gegeben hat oder nicht, entscheidet sich in erster Linie an der Gestalt der Gottesdienste. Die grundlegende und möglicherweise irritierende Einsicht ist am Ende [29] weniger die Existenz von gottesdienstlichen Tänzen als die Gestalt der Gottesdienste als Mahl- oder genauer Gelageversammlungen, in deren Rahmen sie gehören. Dieses Bild, das ich kurz skizziert habe, reicht dabei mindestens bis ins 3. Jh., wenn man Eusebs Zeugnis mit hinzunimmt, der die therapeutischen Pannychis mit ihren Reigentänzen für eine monastische Eucharistiefeier hält, bis zum Beginn des 4. Jh. Dasselbe gilt auch da, wo Tanzen innerhalb des Christentums, aber für häreti‐ sche Gruppen belegt ist. 80 Auch das Tanzlied der Johannesakten ist wegen seines „doketisch-gnostischen Charakters“ dem Antagonismus tanzfreie Orthodoxie vs. tanzende Häretiker zum Opfer gefallen. 81 Diese Differenzierung verlagert aber die orthodoxe Kritik künstlich in einen Bereich, den die Väter so kaum gesehen haben: Nicht das Tanzen an sich wird kritisiert, sondern das, was es für diese Gruppierungen bedeutet. (2) Man versteht allerdings, was die Tanzkritik der patristischen Literatur umgetrieben hat: Wenn für rechtgläubige Christen die Abgrenzung von Heiden 169 Tanz und Offenbarung <?page no="170"?> 82 Petronius, fr. 92 (B A E H R E N S 1882, 96): „nos quoque confusis feriemus sidera verbis / fama est coniunctas forius ire preces.“ 83 Servius, In Virg. eccl. V 73. und von Häretikern soteriologisch notwendig ist, dann gilt das in besonderer Weise für die Abgrenzung beim Tanz. Denn der Tanz ist ja nicht nur Teil einer religiösen Versammlung, sondern er stellt eine besonders intensive Form des Gebets dar: Wer mit Heiden oder mit Häretikern tanzt, macht sich mit ihnen auf eine besonders wirkungsvolle Weise gemein. Wenn man mit der sprichwörtlichen Faustregel Singen für eine gesteigerte Form des Gebets hält (bis orat, qui cantat), dann müsste man im Licht der hier besprochenen Zeugnisse sagen: ter orant, qui saltant. Die Intensivierung religiöser Erfahrung im Tanz hat dabei zwei Aspekte. Zum einen verbindet der Chortanz, genau wie das gemeinsame una-voce-Gebet, die Tänzer zu einer Einheit, die offensichtlich stärker empfunden wird als das gemeinsame Mahl oder das einstimmige Gebet. Je stärker diese Einheit zum Ausdruck kommt, desto intensiver und wirkungsvoller ist das Gebet: „Wir werden sogar die Sterne erreichen, wenn unsere Worte vereint sind, denn es heißt, dass vereinigte Bitten schneller ihr Ziel erreichen.“ 82 Zum anderen haben die erotischen Assoziationen des Tanzes (die besonders in den ausdrücklich gemischtgeschlechtlichen Tänzen zum Ausdruck kommen: Archilochos; Philo; ActJoh) deutlich gemacht, dass die körperliche Erfahrung eine eigene Bedeutungsdimension besitzt: [30] Dass in der Religion getanzt wird, hat darin seinen Grund, dass unsere Vorfahren von keinem Teil des Körpers wollten, dass er ohne religiöse Empfindung bleiben sollte. Denn der Gesang gehört zur Seele, der Tanz zur Bewegung des Körpers. 83 So gesehen ist das Tanzen tatsächlich ein „Beten mit den Beinen“ (H. Heine), eine im umfassenden Sinn ganzheitliche, religiöse Erfahrung. (3) Die Zeugnisse haben gezeigt, dass der Tanz nicht in erster Linie religiöse Gefühle oder religiöses Bewusstsein zum Ausdruck bringt (also etwas Inneres nach außen trägt und sichtbar macht), sondern dass er diese religiöse Erfahrung in besonderer Weise vermittelt und so Inspiration und Offenbarung bewirkt. Wenn man bei der Vorstellung vom Innen und Außen bleibt, müsste man sagen, dass der Tanz in erster Linie das Medium ist, durch das etwas von außen nach innen vermittelt wird. Dieser Aspekt ist theologisch von größter Bedeutung, weil er die Frage nach dem Geistempfang beantwortet. Bekanntlich setzt das NT zwar voraus, dass alle Christen den Geist empfangen, erklärt aber nicht, wie dies geschieht. Noch schwieriger ist dabei, wenn es nicht um individuellen, sondern um kollektiven 170 Tanz und Offenbarung <?page no="171"?> 84 K L I N G H A R D T 1996, 163 ff. 85 Diese Analogie wird verschiedentlich deutlich: In PastHerm werden die Jungfrauen einmal als „heilige Geister“ und „göttliche Kräfte“ bezeichnet (sim. IX 13,1), einmal ausdrücklich als Tugenden (sim. IX 15,2). Vor allem Philo hat die Filiation der Tugenden aus der Frömmigkeit im Bild des Reigens begründet (Sacr. 20 ff.) und den Charitenreigen ausdrücklich mit dem Tugendreigen identifiziert (Vit. Mos. II 7). Seneca schließlich fasst den Charitenreigen als Allegorie für die Tugenden (Benef. I 3,2 ff.). Pneumabesitz geht, wie ihn Paulus etwa in 1Kor 12,3 voraussetzt: Wer immer das Bekenntnis „Jesus ist der Herr“ spricht, kann das nur im Heiligen Geist tun. Die Texte über die Inspiration durch den Tanz machen deutlich, dass diese inspirierende Geisterfahrung eine Folge davon ist, dass sich Menschen in den Chorreigen einreihen, der ihnen also immer „vorausliegt“. (4) In erstaunlich hohem Maß zeigen die Texte über den Tanz ein Gespür für die ästhetische Dimension, die sich in der Rolle der χάρις erweist. Ich habe diesen Begriff meist unübersetzt gelassen, weil χάρις und das deutsche „Gnade“ seman‐ tisch nur partiell äquivalent sind: Zwar gehört die dominante Konnotation von Gnade, die man gemeinhin bei der Lektüre des Neuen Testaments substituiert (etwa „Geschenk“ bzw. der Gegensatz von „Recht und Gnade“) wesentlich zum semantischen Gehalt von χάρις hinzu, aber sie lässt den ästhetischen Aspekt des Angenehm-Freundlichen nicht deutlich werden, der auch dazugehört. Dieser Aspekt wird durch das lateinische gratia im Sinn von „Grazie“ oder „Charme“ besser deutlich. Die Charisinvokationen, die im Umfeld der Tanztexte begegnen, haben mit dem Bild des Charitenreigens, dessen nächste Analogien der Tanz der Nymphen und Musen ist, gerade diesen Aspekt personifiziert, der, wiederum nicht zufällig, eine sympotische Verankerung besitzt: Ein gelungenes Gelage ist in erster Linie durch Grazie oder Charme bestimmt. 84 Theologisch ist an dieser Vorstellung des Charitenreigens von Bedeutung, dass er mehrere Aspekte zwanglos und sehr anschaulich miteinander verbindet: Das Moment der geschenkhaften Unverfügbarkeit, indem die Chariten den Tänzer in ihren Reigen integrieren; die [31] moralische Dimension des Guten, die vor allem in der Entsprechung von Chariten- und Tugendreigen deutlich wird: Wer mit den Chariten tanzt, tanzt auch mit den Tugenden und umgekehrt; 85 und die ästhetische Dimension, indem Heil als etwas Schönes und Angenehmes erfahren wird. Diese umfassende religiöse Erfahrung des Charitenreigens ist die Erfahrung des sympotischen Tanzes. (5) Die religiöse Erfahrung des Tanzes besitzt schließlich eine noëtische Dimen‐ sion: Dass Tanzen das Denken oder die Wahrnehmung verändert, ist schon in den Museninvokationen vorausgesetzt (bei der Archilochos das Bewusstsein 171 Tanz und Offenbarung <?page no="172"?> verliert und es dann auf neue Weise erlangt). Darauf weist auch die Erwäh‐ nung von Erkenntnis (γνῶσις) und Weisheit (σοφία) hin, die durch den Tanz erworben werden (Philo, Did, ActJoh). Dieser kognitive Aspekt wird durch die ekstatischen Züge nicht eingeschränkt, sondern intensiviert. Dabei wird Ekstase nicht orgiastisch gedacht (wie man es sich für die dionysischen Dithyramben vorstellt), sondern besitzt eine „gemessene Form“. Dieses Zusammenspiel von Innovation, kognitiver Erkenntnis, Unverfügbarkeit und Außer-sich-Erfahrung wird in der theologischen Tradition als Offenbarung bezeichnet. Wenn man das Neue Testament nicht isoliert betrachtet, sondern seine Aussagen in ihrem religionsgeschichtlichen Horizont liest, wird deutlich, dass der Tanz im frühen Christentum ein Medium für Offenbarung in diesem Sinn war. Literatur Wichtige Quellen: ActJoh: Richard A. Lipsius und Max Bonnet (Hrsg.): Acta Apostolorum Apocrypha II/ 1. Leipzig: Mendelssohn 1898. Athenaeus: The Deipnosophists. With an English Translation by Ch. B. Gulick. LCL. Cambridge, Mass.: Harvard University Press; London: Heinemann1927-1941. Baehrens, Emil: Poetae Latini minores IV. Leipzig: Teubner 1882. Bakchylides: Lieder und Fragmente. Griechisch und deutsch. Herwig Maehler (Hrsg.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968. Didache: Klaus Wengst (Hrsg.): Schriften des Urchristentums II. Didache (Apostellehre), Barnabasbrief, Zweiter Klemensbrief, Schrift an Diognet. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, 3-100. [32] FD III/ 2: M. 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November 2010 Im Zusammenhang seiner Ausführungen über das christliche Mahl in 1Kor 10 f. verwendet Paulus das Stichwort „Leib“ (gr. to sōma) drei Mal, jeweils an entscheidenden Stellen seiner Argumentation (10,16 f.; 11,23.29). Was sōma hier bedeutet - und: ob es an allen drei Stellen dieselbe Bedeutung hat -, ist alles andere als eindeutig und in der Forschung umstritten. Die Hauptfrage heißt: Ist to sōma als Bezeichnung der sozialen Dimension der Gemeinschaft ekklesi‐ ologisch konnotiert? Oder bezeichnet to sōma den Körper Jesu und ist in erster Linie christologisch zu verstehen? Kompliziert wird diese Hauptfragestellung dadurch, dass an allen Stellen zwischen der sozialen und der christologischen Dimension von sōma eine Beziehung besteht. Strittig ist also, wie genau diese Beziehung zu bestimmen ist. Eckart Reinmuth hat diese Beziehung als Geschichte des gefolterten Körpers Jesu beschrieben, für die der „gebrochene Körper“, das „vergossene Blut“ und der „Tod Jesu“ jeweils narrative Abbreviaturen seien, und daraus gefolgert: Diese Geschichte, die letztlich die Geschichte Gottes mit den Menschen sei, benenne im Unterschied zu allen anderen Begründungsroutinen den unableitbaren Ursprung der Gemeinde und ihrer sozialen Identität. Im Unterschied zu seinen Überlegungen gehe ich davon aus, dass das, was sōma heißt, sich nicht in erster Linie von einer Geschichte her bestimmt, also von einer Größe, die erzählt oder <?page no="178"?> 1 Vgl. O. Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b-25, in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 203-240: 220 mit Anm. 98. gewusst wird, sondern von dem Mahl, das rituell erfahren wird. Das Ritual des Gemeinschaftsmahls liegt dieser spezifischen Erzählung voraus: Paulus hat das Mahl ebenso wenig „erfunden“ wie die Korinther, und auch die Mähler Jesu, einschließlich seines letzten, haben diese rituelle Form von Gemeinschaft bereits vorgefunden. In diesem Sinn ist die Erzählung vom Tod Jesu, die Paulus mit den narrativen Abbreviaturen hier evoziert, gegenüber der habituellen Erfahrung in der Tat sekundär. Die Unterschiede - für die Argumentation in 1Kor 10 f. ebenso wie für das Verständnis von sōma - sind auf den ersten Blick gering, aber folgenreich. Sie hängen in jedem Fall von dem Verständnis des Gemeinschaftsmahls und seines rituellen Charakters ab. 1. Das Mahlritual und seine Probleme Am Anfang steht daher eine Analyse der korinthischen Mahlprobleme und des paulinischen Lösungsvorschlags, denn damit hängt das Profil der theologischen Argumentation unmittelbar zusammen: Es sind gerade diese spezifischen Pro‐ bleme, die sōma als zentralen Begriff für die Lösung empfehlen. In 1Kor 11 tadelt Paulus die Spaltungen, die sich während des Mahls ergeben, weil sich die Gemeindeglieder zwar zu einem gemeinsamen Mahl treffen, dazu aber jeweils ihre eigenen Speisen mitbringen und diese dann selbst verzehren. Obwohl alle zum Essen in einem Raum zusammenkommen (epi to auto, V. 20), entsteht keine Gemeinschaft, die nach Paulus’ Einschätzung diesen Namen verdient: Da alle ihre eigenen Speisen verzehren, werden die sozialen Unterschiede sichtbar. Anstelle eines wirklich gemeinsamen Mahls nehmen die Korinther ihr eigenes, individuelles Abendessen ein. Auch wenn dies in einem gemeinsamen Rahmen geschieht, bleibt es am Ende doch das jeweils eigene Abendessen (to idion deipnon V. 21). Weil die einen mehr (und vermutlich: bessere) Speisen mitbringen als andere, werden die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich sichtbar: Die Habenichtse (hoi mē echontes V. 22) bleiben hungrig, die anderen sind gut gesättigt und „betrunken“ (V. 21). Das Sichtbarwerden der sozialen Differenzen beim Mahl versteht Paulus als eine „Beschämung“ der Armen und als Aufhebung der Gemeinschaft. Soweit die Rekonstruktion der Ausgangssituation. An diesem Verständnis sind einige Aspekte wichtig: (a) Das Phänomen der „Beschämung“ setzt voraus, dass gleichzeitig und in einem Raum gegessen wurde, auch wenn dabei ver‐ schiedene Speisen zum Verzehr kamen. 1 Das heißt: prolambanein besitzt hier 178 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="179"?> 2 Belege bei M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996, 289; Hofius, a. a. O., 218. 3 Vgl. z. B. G. Bornkamm, Herrenmahl und Kirche bei Paulus, in: ders., Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze II (BEvTh 28), München 3 1970, 138- 176; H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief (NTA N. F. 15), Münster 1982, 291 ff.; G. Theissen, Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse von 1 Cor. XI 17-34, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 2 1983, 290-317. 4 Gegen M. Konradt, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin/ New York 2003, 406 ff., der an der Vorstellung eines ungleichzeitigen Beginns festhalten will und auch eine räumliche Trennung des Mahls der Reichen und der Armen erwägt. Aber Paulus verortet das kritisierte Verhalten zweifelsfrei in einem Mahl, zu dem alle an einem Ort zusammenkommen (11,20 f.). Die Hartnäckigkeit, mit der sich die Annahme eines „Voressens“ der Reichen hält, ist ebenso ärgerlich wie unverständlich: Sie hat das gesamte sozialgeschichtliche Material gegen sich, das an keiner Stelle erkennen lässt, dass es so etwas gegeben hat, vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl 281 ff.; D.E. Smith, From Symposium to Eucharist. The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003, 13-172; H. E. Taussig, In the Beginning Was the Meal. Social Experimentation and Christian Identity, Minneapolis 2009, 21-54. Angesichts der eindeutigen Verteilung der Belege fällt die Beweislast denen zu, die ein zeitversetztes Essen als Grundproblem annehmen; methodisch wäre es geboten, diese Annahme nicht nur durch Hinweise auf die Sekundärliteratur, sondern durch Quellenbelege zu untersetzen. (wie auch sonst häufig) 2 keine temporale Bedeutung und heißt nicht „(eine Speise/ ein Mahl) vorwegnehmen“, sondern schlicht: „(Speisen) einnehmen/ zu sich nehmen“. Die früher verschiedentlich geäußerte Vermutung, dass es in Korinth zu einem „Voressen“ der Reichen gekommen sei oder dass die Ha‐ benichtse erst später oder getrennt von den Reichen gegessen hätten, 3 ist unhaltbar: [52] Sie widerspricht dem Text und ist auch sozialgeschichtlich völlig unwahrscheinlich. Die Annahme eines „ungeregelten“ (also: ungleichzeitigen) Mahlbeginns ist gerade nicht durch irgendwelche Zeugnisse belegbar. 4 - (b) Wenn prolambanein V. 21 keinen temporalen Sinn trägt und Paulus nicht ein separates Essen kritisiert, gibt es auch keinen Grund, seine Lösung des Problems (11,33) temporal zu deuten. Paulus schlägt nicht den Reichen vor, auf die Armen zu „warten“, sondern empfiehlt, dass alle sich gegenseitig „annehmen“ (gr. ekdechesthai): Alle sollen die zum gemeinsamen Mahl mitgebrachten Speisen der Einzelnen wie bei einer „potluck party“ untereinander aufteilen und sich gegenseitig bewirten. - (c) Der Hinweis auf die „eigenen Häuser“ (V. 22.34) besagt daher auch nicht, dass Paulus das Sättigungsmahl vom sakramentalen Mahl abgetrennt und in die Privathäuser verlegt wissen will, sondern nur, dass der Aspekt des Sattessens bei dem Herrenmahl nicht im Vordergrund stehen darf, weil anders man sich „zum Gericht isst oder trinkt“ (V. 34). Der Ablauf des 179 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="180"?> 5 Die komplexe Struktur der paulinischen Begründung wird vor allem an den verwen‐ deten Konjunktionen deutlich: Causale (11,23.26.29), konsekutive (11,27.30.33) und finale (11,32.34); zur Analyse vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl, 303 ff. von Paulus kritisierten Mahls in Korinth (V. 20) ist daher derselbe, den er selbst auch für seine Lösung im Auge hat (V. 34) und den er für das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern (V. 23-25) voraussetzt: Es handelt sich um ein Sättigungsmahl mit der auch sonst ausnahmslos bezeugten Abfolge (Eingangsgebet -) Mahl - Libationshandlung - Symposion. Jede Vermutung einer anderen Abfolge würde eine Sonderlösung substituieren, der die überwältigende Menge der Zeugnisse entgegensteht und die deshalb völlig unwahrscheinlich ist. Tatsächlich wurde dieser Ablauf der christlichen Mahlfeiern erst im 3. Jh. verändert. - (d) Legt man diesen Ablauf zugrunde, dann leuchtet ein, dass es nicht nur nach dem Mahl eine Libationshandlung gab, die von einem Gebet (über dem Libationsbecher) begleitet war, sondern dass auch am Anfang ein Mahleröffnungsgebet über dem Brot stand: Weil das Brot als Essbesteck diente, begann das Mahl mit seiner Verteilung. 2. Die Mahlteilnehmer als Ein Leib Von dieser Rekonstruktion des Ausgangsproblems (11,17-22) und der empfoh‐ lenen Lösung (11,33 f. ) ist die Begründung (11,23-32) zu unterscheiden, mit der Paulus die Korinther davon überzeugen will, dass die „Beschämung“ der Habenichtse theologisch gefährlich ist, weil sie dem Sinn des Herrenmahls entgegensteht. Die Begründung setzt ein mit der Herrenmahlsparadosis (11,2- 25), die mit dem Anamnesisbefehl darauf aufmerksam macht, dass das christ‐ liche Mahl in der Folge des letzten Mahls Jesu Verkündigung seines Todes ist (11,26). Beides reicht allerdings als Begründung nicht aus: Wäre dies der Fall, hätte Paulus sich das Folgende (11,27-32) ja einfach schenken können. 5 Dies konnte er nicht, weil der Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und dem richtigen Verhalten der Korinther beim Mahl nicht so ohne weiteres erkennbar ist. Das aber heißt: Weder der „stiftungsgemäße“ Vollzug des korinthischen Mahls in Analogie zum letzten Mahl Jesu noch das Bewusstsein, mit dem Mahl „den Tod des Herrn zu verkündigen“ gewährleisten für sich genommen den von Paulus intendierten „gemeinsinnigen“ Charakter des Mahls. Beide Elemente sind notwendige, aber nicht hinreichende Elemente des Arguments. Diese entscheidende Verbindung leistet erst der Hinweis, dass „der Leib zu unterscheiden“ sei (11,29: diakrinein to sōma). Aber was heißt „Den Leib unterscheiden“? Da das Ausgangsproblem nicht in einer Geringschätzung des sakramentalen Charakters des Mahles besteht (son‐ 180 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="181"?> 6 So z. B. die Einheitsübersetzung, Wilckens u. a. Vgl. jetzt zu Recht dagegen N. Baumert, Koinonein und Metechein. Eine umfassende semantische Untersuchung (SBB 51), Stuttgart 2003. dern darin, dass alle ihre eigenen Speisen verzehren), und da Paulus umgekehrt auch nicht Ehrfurcht vor den Sakramenten einfordert (sondern die gegenseitige Bewirtung), kann sich diese „Unterscheidung des Leibes“ nicht auf den Respekt vor der sakramentalen Qualität der Mahlelemente als „Leib Christi“ o.ä. beziehen - auch nicht darauf, dass die Korinther die „pure Körperlichkeit des Gefolterten“ und „ihre Präsenz im Mahl“ verkennen und deshalb Defizite ihres Gemeinsinns in Kauf nehmen. Der Foltertod Jesu gibt nicht eo ipso zu erkennen, inwiefern er die von Paulus eingeforderte Gemeinschaft der Korinther zu begründen in der Lage ist: Er ist nicht an sich gemeinsinnig. Am nächsten liegt daher, den zu unterscheidenden Leib auf die Gemeinschaft der Esser zu beziehen: Sie sollen sich selbst als „ein Leib“ verstehen. Der „Leib“ ist nicht, was die Gemeinde isst (eine besondere, sakramentale Speise), sondern was sie ist: eine korporative Einheit. Dass sōma in 11,29 diese korporative Qualität der sozialen Einheit aussagt, wird auch an der ganz analogen [53] Verwendung des Wortes in 1Kor 10 deut‐ lich. Hier argumentiert Paulus gegen die Teilnahme von Christen an paganen Kultmählern. Nachdem er sichergestellt hat, dass Anteilhabe an derselben Speise und an demselben Trank Einheit und daher Heil gewährleistet (10,1-4), sowie in 10,5-13 die Wüstengeneration als warnendes Beispiel für die Aufkündigung dieser Einheit angeführt hat, zieht er in 10,14 ff. die Konsequenz. Die Korinther sollen pagane Kultmähler meiden („Götzendienst“! ), weil dies die Einheit ihres eigenen Mahles aufheben würde: Der Segensbecher ist die Gemeinschaft des Blutes Christi, das Brot ist die Gemeinschaft des Leibes Christi (10,16). Zur Vermeidung von Missverständnissen sei gleich hinzugefügt, dass die Ausdrücke koinōnia tou haimatos bzw. sōmatos tou Christou nicht „Teilhabe an …“ bedeuten können. 6 Es geht nicht um „sakramentale Teilhabe“ an Christus oder an seinem Tod. In beiden Ausdrücken ist die Verbindung von „Gemeinschaft“ einmal mit „Blut Christi“, einmal mit „Leib Christi“ zwar syntaktisch parallel, nicht aber se‐ mantisch gleichbedeutend: Die „Gemeinschaft des Blutes“ ist die Gemeinschaft, die aufgrund des Blutes - also des gewaltsamen Todes Jesu - existiert. Von der „Gemeinschaft des Leibes“ lässt sich jedoch nicht sagen, dass die Gemeinde eine Einheit aufgrund des (dahingegebenen? ) Körpers Christi ist. Denn Paulus führt sehr deutlich im nächsten Satz aus, dass „wir vielen ein Leib sind, weil wir alle an dem einen Brot teilhaben (metechein)“ (10,17). Deutlicher als hier lässt sich nicht sagen, dass to sōma nicht den Körper Jesu, sondern die Gemeinschaft der Esser bezeichnet. 181 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="182"?> 7 Aus diesem Grund reicht es nicht auszusagen, dass die Feier des Gemeinschaftsmahls das „stärkste Sinnbild christlicher Gemeinschaft“ sei (Reinmuth). Cum grano salis formuliert: Die Einheit der Gemeinschaft basiert nicht auf der Einschreibung in die‐ selbe Körpergeschichte, sondern: die Einheit des Leibes entsteht durch Einverleibung desselben Brotes, an dem alle teilhaben. 8 Belege und weitere Lit. bei Klinghardt, a. a. O., 310 ff. Mit Blick auf den gesamten Zusammenhang ab 10,1 muss man wohl sagen, dass Paulus zirkulär argumentiert. Denn im Grunde führt er aus: Eine Ge‐ meinschaft, die gemeinsam isst (10,3), ist eine Gemeinschaft, die gemeinsam isst (10,16 f.). Dass die zugrundeliegende Denkfigur (nicht das ausgeführte Argument) tautologisch ist, ist nicht von ungefähr. Paulus kann eine soziale Gemeinschaft gar nicht anders denn als Mahlgemeinschaft denken: Die Einheit einer Gruppe ist ihr gemeinsames Mahl. 7 Dass diese Einheit anhand des einen Brotes demonstriert wird, ist - wie die religions- und traditionsgeschichtlichen Analogien zeigen 8 - nicht nur in hohem Maß charakteristisch, sondern erläutert auch das Verständnis der „Unterscheidung des Leibes“ in 11,29: Weil alle an dem einen Brot Anteil haben und es unter sich aufteilen, werden sie zu einem Leib. Wenn Paulus die Korinther in 11,29 zur Anerkennung ihrer besonderen sozialen Qualität als korporative Einheit auffordert, dann intendiert er genau dieses Verhalten: Dass sie sich gegenseitig Anteil an den mitgebrachten Speisen geben. 3. Mein Leib für euch Damit bleibt zum Schluss die Erwähnung von sōma im sog. Brotwort der Herrenmahlsparadosis: Weil Paulus Tradition zitiert, ist zumindest denkbar, dass sōma hier eine andere Bedeutung hat. Aber das ist nicht der Fall, wie die Parallelität zum sog. Becherwort zeigt. Bevor man nach dem Sinn der Deutungen („mein Leib“; „neuer Bund in meinem Blut“) fragt, ist es wichtig zu wissen, was genau durch sie gedeutet wird. Längst ist erkannt, dass das Brotwort sich nicht auf das Brot, sondern auf den gesamten Gestus der Mahleröffnung bezieht. Ganz analog dazu deutet das sog. Becherwort nicht den Inhalt des Bechers (mutmaßlich Wein), sondern den „Segensbecher, den wir segnen“ (10,16), also den Becher, der im Rahmen der Libationshandlung nach dem Mahl (und vor dem Symposion) vergossen (gelegentlich auch einmal getrunken) wurde. Beide 182 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="183"?> 9 Der „Segensbecher, den wir segnen“ bezieht seine besondere Qualität also in erster Linie aus dem Ritual, nicht aber aus der Verbindung mit der Lebenshingabe Jesu (gegen M. Karrer, Der Kelch des neuen Bundes. Erwägungen zum Verständnis des Herrenmahls nach 1 Kor 11,23b-25, BZ 1990 198-221: 215): In jedem antiken - paganen, jüdischen, christlichen - Mahl wird der Libationsbecher „gesegnet“. 10 Vgl. LSJ s.v. spondē. So heißt beispielsweise die olympische Waffenruhe „hai olympiakai spondai“ (Thuk. V 49). Besonders schön bringt Aristoph., Acharn. 186-196 zum Aus‐ druck, dass die Spende und der dadurch besiegelte Friede ein und dasselbe sind. 11 Jer 31(38),34 LXX: Aufgrund der Internalisierung der Gebote werden „alle mich kennen“, was in der Folge die Unterschiede zwischen Groß und Klein nivelliert. Handlungen, die Mahleröffnung und die Libation, waren von Gebeten (ganz analog zu Did 9 f.) begleitet. 9 [54] Im Zitat der Überlieferung vom letzten Mahl deutet Jesus den Libations‐ becher und sagt: „Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut.“ Dass die Libation der Bund ist (also nicht: ihn versinnbildlicht, repräsentiert o.ä.), ist nicht ungewöhnlich. Im Griechischen sind Libationen anlässlich eines Friedens‐ schlusses zum Synonym für diesen Friedensschluss geworden: Die Libation ist der Friede, den sie besiegelt. 10 Genau so ist die Deutung des Becherworts zu verstehen: Der Libationsbecher, d. h. der Vollzug der Libation, ist der neue Bund. Inwiefern dieser Bund durch das Blut Jesu ermöglicht wurde, führt Paulus nicht aus; aber dies tut er auch an zahlreichen anderen Stellen nicht, an denen er die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu nur erwähnt, sie aber nicht erläutert. In jedem Fall ist klar, dass Paulus zwischen der Ermöglichung des neuen Bundes durch den Tod Jesu und seiner konkreten Realisierung im Mahl unterscheidet. Der neue Bund, der nach Jer 31(38 LXX) - und im Unterschied zu Ex 24 - gerade die Gleichheit der menschlichen Bundesgenossen betont, 11 konstituiert sich im Mahlritual und gewährleistet dadurch die Einheit der Mahlgemeinschaft. Ganz analog dazu ist auch die Deutung des Mahleingangs zu verstehen: Wenn Jesus den Mahleröffnungsgestus der Verteilung des Brotes als „mein Leib für euch“ deutet, dann ist damit gemeint, dass die Einzelnen, die sich zum Mahl niederlassen und von diesem einen, gemeinsamen Brot essen, zu einem Leib werden: Die Gemeinschaft entsteht im Mahl und als Mahlgemeinschaft. Diese neue Qualität kommt „euch zugute“ - mehr ist aus dem „für euch“ nicht herauszulesen: Dass das Brot „gebrochen“ wird, trägt keine Betonung, sondern ist unvermeidlich und geschieht in jedem Mahl. Das gebrochene Brot verweist nicht auf den gebrochenen Körper Jesu: Der Tod Jesu ist weder im Eröffnungsgestus noch in der Deutung des „Brotwortes“ präsent. Die entscheidende Einsicht besteht m. E. darin, dass weder Paulus selbst noch das von ihm zitierte Traditionsstück von 11,23-25 davon ausgehen, dass sich 183 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="184"?> 12 Zu sōma als Metapher sozialer Einheit vgl. M. Klinghardt, Unum Corpus. Die genera corporum in der stoischen Physik und ihre Rezeption bis zum Neuplatonismus, in: Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS Klaus Berger), Tübingen 2000, 191-216. die sog. Deuteworte auf die „Mahlelemente“ beziehen: Nicht Brot und Wein sind die herausgehobenen Haftpunkte der Deutung, sondern das Ritual selbst. 4. Die Unverfügbarkeit der Gemeinschaft im Ritual Nach meiner Überzeugung bezeichnet sōma an allen drei der genannten Stellen die korporative Einheit der Gemeinde als ein Leib; dass dies auch jenseits der Fragen des Mahls gilt, sei hier nur angemerkt. 12 Darüber hinaus sind vor allem drei Fragekreise spannend - und natürlich strittig: 1.) Der erste betrifft den Tod Jesu als gemeinschaftsfundierendes Ereignis. Dass Paulus dem Tod Jesu eine entscheidende und unverzichtbare Funktion für die Bestimmung christlicher Identität zuweist, steht außer Frage, wie ja nicht zuletzt die Herrenmahlsparadosis sehr deutlich zeigt. Aber der Tod Jesu ist nicht automatisch „gemeinsinnig“: Dass er nicht nur die individuelle Identität jedes einzelnen Christen definiert, sondern auch die Gemeinschaft der Christen untereinander begründet, ergibt sich nicht unmittelbar. Dazu bedarf es der vermittelnden Kategorie des Mahls, das nun in der Tat - lange vor und lange nach Paulus - die entscheidende Instanz war, in der die Antike Gemeinschaft erfahren hat. Diese Verbindung von Mahl und Tod Jesu zeigt Paulus, indem er den Tod Jesu in der Deutung der Libation als Begründung des Neuen Bundes benennt. Der Tod Jesu ist die Voraussetzung für den Neuen Bund, der bei der Libation in Kraft gesetzt und Wirklichkeit wird. Es ist gewiss bezeichnend, dass diese zentrale Verbindung ihren rituellen Ort während des Mahls in der ganz besonders herausgehobenen Libationszeremonie hat: Dies ist traditionell der Ort, an dem die kollektive Identität versichert und, so lässt sich vermuten, in den Gebeten auch express gemacht wurde. Wie solche Libationsgebete zur Fundierung religiöser Gemeinschaften in christlichem Horizont ausgesehen haben, zeigt vor allem Did 10 - allerdings ohne den Tod Jesu zu erwähnen. Während Paulus den Tod Jesu im Zusammenhang der Libation erwähnt, kommt er im Zusammenhang der Mahleröffnung nicht vor: Dass die Gemeinde zu einem Leib wird, konnte Paulus auch ohne die Erwähnung des Todes Jesu denken. Aber nicht ohne das Mahl. 2.) Ein zweiter Aspekt hängt damit eng zusammen. Wenn Eckart Reinmuth argumentiert, dass die christliche Gemeinschaft letztlich auf der Geschichte des gefolterten Körpers Jesu basiert, dann legt er dafür die Kategorie der Erzählung zugrunde, die erzählt, erinnert oder auch vergessen werden kann. Der 184 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="185"?> Umstand, dass [55] Paulus im Zusammenhang des Todes Jesu ausdrücklich zur anamnēsis auffordert (11,24 f.), scheint seine Ansicht zu bestätigen. Allerdings versteht Paulus die Erinnerung an den Tod Jesu nicht als mnemonischen Akt des Gedenkens, sondern fordert zu einem rituellen Handeln auf: „Tut dies …! “ Der Modus der „Erinnerung“ ist rituelle Vergegenwärtigung, indem beim Mah‐ leröffnungsritus bzw. der Libation die Wirkungen dieses Geschehens in Kraft gesetzt werden. Anders gesagt: Paulus hätte nicht direkt formulieren können, dass die Korinther an der Geschichte des gefolterten und getöteten Körpers Jesu teilhaben sollen. Vielmehr haben sie Teil an dem einen Brot (1Kor 10,17), das sie zu einer Gemeinschaft macht. Die für die Fundierung der Gemeinschaft grundlegende Kategorie ist das Ritual, nicht eine Geschichte. 3.) Ein letzter Aspekt betrifft die weitreichende Frage der Begründbarkeit von Gemeinschaften: Welche Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass sie, allen Eigeninteressen zum Trotz, den für Zusammenhalt und Fortbestand nötigen Gemeinsinn entwickeln? Reinmuth verweist völlig zu Recht auf die Tabuisierungen und Transzendierungen, die die Unhintergehbarkeit von Be‐ gründungsprozessen sicherstellen, und deutet an, dass die frühchristliche Ge‐ meinschaftsbegründung in der Geschichte Gottes in Christus darin einzigartig sei, dass sie den „Begründungsroutinen reichsrömischer Macht zuwider“ lief. Dies trifft vermutlich zu, ist m. E. aber wenig aussagekräftig. Denn für Paulus liegt die primäre Gemeinschaftsbegründung im Mahl und seinem rituellen Vollzug. Dadurch ruft er Wertvorstellungen und Verhaltensnormen ab, zu denen auch die Gemeinschaft der Mahlteilnehmer und ihr Selbstverständnis als eine korporative Einheit gehören. Weil dieser Wertekanon längst kulturelles Allgemeingut war, konnte es über das angemessene rituelle Verhalten einer Gruppe im Mahl keine Diskussionen geben: Der gesellschaftliche Habitus stellt die primäre und unvordenkliche Transzendierung der Gemeinschaft dar. Die Verknüpfung dieses rituellen Habitus mit der Geschichte Jesu und seines Todes, die Paulus im sog. Becherwort vornimmt, ist demgegenüber in der Tat sekundär und auch verzichtbar - wie beispielsweise die Mahlgebete der Didache zeigen, die ohne diesen spezifischen Begründungszusammenhang auskommen. Literaturverzeichnis Baumert, N., Koinonein und Metechein. Eine umfassende semantische Untersuchung (SBB 51), Stuttgart 2003. Bornkamm, G., Herrenmahl und Kirche bei Paulus, in: ders., Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze II (BEvTh 28), München 3 1970, 138-176. 185 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="186"?> Hofius, O., Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b-25, in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 203-240. Karrer, M., Der Kelch des neuen Bundes. Erwägungen zum Verständnis des Herrenmahls nach 1 Kor 11,23b-25, BZ 1990, 198-221. Klauck, H.-J., Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Unter‐ suchung zum ersten Korintherbrief (NTA N. F. 15), Münster 1982. Klinghardt, M., Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996. —, Unum Corpus. Die genera corporum in der stoischen Physik und ihre Rezeption bis zum Neuplatonismus, in: Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS Klaus Berger), Tübingen 2000, 191-216. Konradt, M., Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin/ New York 2003. Smith, D.E., From Symposium to Eucharist. The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003. Taussig, H.E., In the Beginning Was the Meal. Social Experimentation and Christian Identity, Minneapolis 2009. Theissen, G., Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse von 1 Cor. XI 17-34, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 2 1983, 290-317. 186 Gemeindeleib und Mahlritual <?page no="187"?> 1 Mt 26,27 f.: πίετε ἐξ αὐτοῦ πάντες, τοῦτο γάρ ἐστιν τὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης τὸ περὶ πολλῶν ἐκχυννόμενον εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν. 2 Nur als Beispiel verweise ich auf den letzten umfassenden Mt-Kommentar von Ulrich Luz, der die vier Verse Mt 26,26-29 auf knapp 30 Seiten behandelt, die beiden Deute‐ worte 26,27 f. gerade mal auf drei Seiten (L U Z [2002], 93-122; 114-116). 3 J E R E M I A S [1935]; eine breite Wirkung hatte die dritte, überarbeitete und stark erweiterte Auflage (J E R E M I A S [1960]). Bund und Sündenvergebung Ritual und literarischer Kontext in Mt 26 Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Bund und Sündenvergebung. Ritual und literarischer Kontext in Mt 26, in: M. Klinghardt, H. Taussig (Hg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum / Meals and Religious Identity in Early Christianity, Tübingen 2012, 159-190. 1 Das Mahl in ritueller Praxis und narrativem Diskurs Zu den besonders herausragenden und wirkmächtigen Mahldiskursen im frü‐ hesten Christentum gehören die vier Berichte über das letzte Mahl Jesu. Eine zentrale Rolle spielen dabei die sog. Deuteworte über dem Brot und dem Becher: Seit dem 3. Jh. sind sie an exponierter Stelle Teil der liturgischen Formulare der Eucharistiefeier und dienen bis heute der rituellen Selbstvergewisserung (und natürlich: Abgrenzung) christlicher Gemeinden. Im Folgenden wird das sog. Becherwort des matthäischen Mahlberichts daraufhin untersucht, wie darin ein Entwurf der religiösen Gruppenidentität sichtbar wird. Mt berichtet, dass Jesus bei diesem letzten Mahl den Becher nahm, das Dankgebet sprach und die Jünger aufforderte: „Trinkt alle daraus! Denn dies ist mein Bundesblut, für viele vergossen zur Vergebung der Sünden.“ 1 Was das mt Becherwort - im Ganzen und in seinen Teilen - bedeutet, scheint sich weithin von selbst zu verstehen. Jedenfalls zeigt ein Blick in die gängigen Kommentare, dass diese (wenigstens im Blick auf die Rezeptionsgeschichte) doch einigermaßen zentrale Aussage kaum als besonderes exegetisches Problem wahrgenommen wird. 2 Zu dieser Beobachtung passt, dass die letzte (deutsch‐ sprachige) monographische Untersuchung der sog. „Deuteworte“ schon über 70 Jahre zurückliegt. 3 [160] <?page no="188"?> 4 Vgl. L U Z [2002], 114 mit Anm. 91. 5 So in der Einheitsübersetzung [1984]. Vgl. aber auch „my blood, the blood of the covenant“ in der New Jerusalem Bible [1985] bzw. „my blood, that of the (new) 1.1 Inhaltliche Fragen Nun ist bekanntlich nichts schwerer zu erklären als das Selbstverständliche. Denn die Erklärung, die historisch differenzierte Explikation zumal, erfordert eine Distanz zum Gegenstand, die dessen Selbstverständlichkeit aufhebt und in der Regel gar nicht leicht fällt. Dies gilt, wie unmittelbar einleuchtet, in besonderem Maße für die durch liturgische Gewöhnung vertrauten Deuteworte. Dabei enthält das mt Becherwort eine ganze Reihe von Aspekten, bei denen die jeweiligen syntaktischen Bezüge und in der Folge auch der semantische Gehalt (im Einzelnen und im Ganzen) keineswegs klar sind. Hier ist also genauere Klärung vonnöten: Was bedeutet zunächst (2.) der Umstand, dass Jesus die Jünger aus einem Becher trinken lässt (πίετε ἐξ αὐτοῦ πάντες)? Dieser Umstand ist häufig als besonders auffällig und erklärungsbedürftig empfunden worden, 4 und er ist für die Frage der Identitätskonstruktion entscheidend. Inwiefern kann Jesus sodann (3.) sagen, dass der Becher, aus dem er alle zu trinken auffordert, "mein Bundesblut ist“ (τὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης ἐστίν)? Unklar ist dabei nicht nur die Beziehung zwischen dem Becher und dem Bundesblut, sondern auch die Frage, worauf sich das Attribut „vergossen für viele“ (τὸ περὶ πολλῶν ἐκχυννόμενον) eigentlich bezieht. Denkbar sind zunächst zwei Möglichkeiten, nämlich entweder auf „mein Blut“ (τὸ αἷμά μου) oder auf das Demonstrativum „dies“ (τοῦτο) und damit auf den Becher (τὸ ποτήριον, vgl. 26,27). Von der Beantwortung dieser Frage ist schließlich (4.) auch das Verständnis der finalen Bestimmung „zur Vergebung der Sünden“ (εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν) abhängig. Hier ist schon syntaktisch nicht klar, auf welches der vorangehenden Satzglieder sie sich bezieht (auf den Trinkbefehl? den Becher? das Blut? den Bund? ). Erst bei einer genauen Zuordnung lässt sich dann auch klären, wer als Subjekt und wer als Nutznießer dieser Sündenvergebung gedacht ist. Angesichts dieser Fragen überrascht es dann auch nicht, dass sich unter‐ schiedliche Deutungsmöglichkeiten teilweise auch in den Übersetzungen nie‐ dergeschlagen haben. Zwei Auffälligkeiten sind zu notieren. So bereitet die doppelte Determinierung von τὸ αἷμα durch das Possessivpronomen (μου) und durch das Attribut (τῆς διαθήκης) offensichtlich Schwierigkeiten (mein Blut des Bundes? das Blut meines Bundes? ); sie werden gelegentlich durch eine Wiederholung des Nomens umgangen („mein Blut, das Blut des Bundes“), 5 [161] 188 Bund und Sündenvergebung <?page no="189"?> covenant“ in der Darby Bible [1884/ 1890]. Diese Eintragung des „neuen“ Bundes (τῆς καινῆς διαθήκης) beruht auf der Lesart des Textus Receptus und findet sich auch in anderen älteren Übersetzungen, z. B. Luther [1912]; Elberfelder [1905]; King James [1611]; (Revised) Webster [1833/ 1995]. 6 So z. B. Young's Literal Translation [1862/ 1898]; American Standard Version [1901]; New International Version [1984]; (New) Revised Standard Version [1952/ 1989]; New American Bible [1977/ 1995]; New Jerusalem Bible [1985]. 7 Beispielsweise: (New) King James [1611/ 1982]; (Revised) Webster [1833/ 1995]; Darby Bible [1884/ 90]; Douay-Rheims American [1899]; New American Bible [1970; rev. ed. 2011]. Die beiden Letztgenannten lösen das Partizip ἐκχυννόμενον in einen futurischen Relativsatz auf („which shall/ will be shed …“) und betonen auf diese Weise die Identität des Becherinhalts mit dem (zum Zeitpunkt des Mahles ja noch gar nicht vergossenen) Blut Jesu. 8 G E E R T Z [1983]. 9 K L I N G H A R D T [1996]; S M I T H , D. E. [2003], im Anschluss an S M I T H , D. E. [1980]. die syntaktisch eine explikative Funktion hat: „Mein Blut, nämlich das Blut des Bundes.“ Der unklare Bezug des Attributs τὸ … ἐκχυννόμενον hat sich in englischsprachigen Übersetzungen niedergeschlagen: Einige übersetzen „which is poured“ und lassen damit offen, ob sich die Wendung auf den Becher oder auf das Blut bezieht; 6 andere stellen durch die Übersetzung „which is shed“ einen eindeutigen Bezug auf das Blut Jesu her. 7 1.2 Methodische Fragen: Mahlpraxis und Mahldiskurs Zur Beantwortung dieser Fragen sollen die in den letzten 15 Jahren gewonnenen ritualgeschichtlichen Einsichten zum frühchristlichen Mahl fruchtbar gemacht werden. Dies führt zu dem methodischen Problem, das durch die Stichworte „Praxis“ und „Diskurs“ gekennzeichnet ist: Die ritualgeschichtliche Rekonstruk‐ tion antiker Mähler in der griechisch-römischen Welt basierte auf einer Fülle so‐ zialgeschichtlicher Einzeldaten, die zu einer „dichten Beschreibung“ 8 verwoben wurden und so einen gemeinsamen Phänotyp des antiken Gemeinschaftsmahls sichtbar werden ließen. Das ideale Modell dieses Mahls - ein abendliches Gelage mit den drei Teilen: Essen, Libationszeremonie und nachfolgendem Symposion - lässt sich über einen sehr langen Zeitraum hinweg nachweisen, und es erstreckte sich über alle kulturellen, ethnischen und religiösen Differenzierungen der antiken Welt hinweg. 9 Die Einsicht in die weite Verbreitung und die große Stabilität der rituellen Form des Mahls erwies sich für das Verständnis der frühchristlichen Mahlpraxis in verschiedener Hinsicht als grundlegend und hat eine Reihe wichtiger Erkenntnisse zutage gefördert. Dazu gehörte vor allem die Erhellung der zentralen Funktion des Mahls für [162] die Konstituierung 189 Bund und Sündenvergebung <?page no="190"?> 10 Das zeigt sich besonders an den Kriterien für die Teilnahme bzw. der sozialen Hierarchie von Mahlgemeinschaften, s. K L I N G H A R D T [1996], 61-97, sowie an den Wertvorstel‐ lungen, die mit einem gelungenen Mahl verbunden werden (ebd. 153-174). Die für die Konstituierung wichtige Frage von Exklusion und Inklusion ist besonders von Dennis Smith aufgegriffen worden (vgl. S M I T H , D. E. [2003], Register s. v. „social bonding - social boundaries“). 11 Vgl. T A U S S I G [2009]; A L -S U A D I [2011]. von Gemeinschaften, 10 aber auch die methodische Weiterentwicklung der Fra‐ gestellung zur Ritualanalyse. Die phänomenologische Typisierung des Mahls hat das Mahlritual in den Vordergrund gerückt: Das Mahl besitzt als solches (und nicht nur aufgrund sekundärer Zuschreibungen) eine eigene Semantik, die sich ritualanalytisch erheben lässt. 11 Vor allem durch diese Hinwendung zur Ritualtheorie geriet ein methodisches Problem besonders scharf in den Fokus: Unsere Kenntnisse über christliche Mähler und über ihre paganen Analogien verdanken sich vielen individuellen Texten über Rituale. Aber „Map is not Territory“, und Ritualdiskurse sind nicht ri‐ tuelle Praxis. Im Hintergrund steht das aus Ethnologie und Sozialwissenschaften bekannte Problem der Objektivierung: Es gab nicht „das“ Mahl in der Antike, sondern nur die vielfach unterschiedlichen Ausprägungen einer Mahlkultur, die steten Wandlungen und Abänderungen unterworfen war. Für die literarischen Mahldiskurse kommt hinzu, dass sie in der Regel nicht den Anspruch haben, Rituale genau zu schildern; vielmehr folgen Texte über Mähler ihrer je eigenen diskursiven (argumentativen oder narrativen) Logik. Besonders bei den neutes‐ tamentlichen Berichten vom letzten Mahl Jesu besteht die Gefahr, dass diese Unterscheidung zwischen dem Mahlritual und seiner literarischen Präsentation übersehen wird: Ein Verständnis dieser Erzählungen als Einsetzungserzählungen bzw. der in allen vier Fassungen enthaltenen Deuteworte als Einsetzungsworte (verba institutionis) impliziert (mehr oder weniger bewusst) das historische Urteil, dass die frühchristliche Mahlpraxis auf einen "Stiftungsakt“ durch Jesus zurückgeht und diesem i. W. entsprach. Dies ist insofern nachvollziehbar, als die Anamnesisbefehle des lk und des paulinischen Mahlberichts (Lk 22,19; 1Kor 11,24 f.) die Stiftung einer andauernden rituellen Praxis durch Jesus explizit machen. Allerdings enthalten der mk und der mt Bericht vom letzten Mahl Jesu keine Anamnesisbefehle: Ihnen fehlt die explizite Klammer zwischen der „Stiftung“ durch Jesus und der angenommenen rituellen Praxis der Rezipienten. Die Mahlberichte Mk 14,17-25 und Mt 26,20-29 sind daher keine Ätiologien, sondern Teil der Erzählung über Jesus, und die darin enthaltenen Deutungen von Brot und Becher sind keine „Einsetzungsworte“: Ihr semantischer Gehalt bestimmt sich daher zunächst aus dem literarischen Kontext [163] des jeweiligen 190 Bund und Sündenvergebung <?page no="191"?> 12 Abweichungen von der üblichen und erwartbaren Mahlpraxis in diskursiven Darstel‐ lungen, also etwa satirische Überzeichnungen wie bei Trimalchios Mahl (Petron. 26-79) oder Kontrastierungen wie in Lukians νόμοι συμποτικοί (Sat. 16-18), haben dann eine eigene literarische Funktion und setzen die Kenntnis dessen, was „normal“ ist, bei den Lesern voraus. 13 Mt erwähnt als Speise dieses Mahls Brot (ἄρτος) und nicht die nach den mischnischen Bestimmungen für ein Passamahl zu erwartende ungesäuerte Mazza (ἄζυμον). Zeigt dies, dass er den Passaaspekt des Mahls gezielt unterlaufen wollte? Dies würde voraussetzen, dass die mischnischen Regeln für das Passamahl in die neutestamentliche Zeit zurückdatiert werden können (so vor allem J E R E M I A S [1960], 9-82), aber das ist sehr fraglich. 14 Mt 9,9-13: Mahl mit den Zöllnern und Sündern; 14,13-21: Speisung der 5000; 15,32-39: Speisung der 4000; 26,6-13: Salbung in Bethanien. Auch in der Erzählung von der Erzählzusammenhangs. Zugleich müssen die Deutungen, die die Evangelisten Jesus in den Mund legen, für die intendierten Rezipienten vor dem Hintergrund ihrer Alltagskenntnis von Mählern oder ihrer eigenen rituellen Praxis wenigs‐ tens so verständlich sein, dass die Mahlerzählungen sich in die kulturelle Matrix der allgemeinen Mahlpraxis einfügen. 12 Methodisch ist es daher geboten, die Rekonstruktion der rituellen Praxis und die Analyse des narrativen Diskurses über das Mahl so zusammenzubringen, dass die ritualgeschichtlichen Einsichten für das Verständnis der neutestament‐ lichen Texte - in diesem Fall: des mt Becherwortes - fruchtbar werden, ohne deren spezifische narrative Bestimmungen zu vernachlässigen. Die Aufgabe besteht also darin, die ritualgeschichtlichen Erkenntnisse zu antiken Mählern auf die Texte zurückzuwenden und sie für deren Interpretation zu nutzen. Dabei kann die ritualgeschichtliche Information dem Text nichts hinzufügen, was dieser nicht schon immer enthielte. Aber sie kann dazu verhelfen, Aspekte an ihm wahrzunehmen, die bislang durch andere Interpretationen verdeckt waren. 2 „Trinkt alle daraus! “: Die rituelle Funktion des Gemeinschaftsbechers Mt erzählt, dass Jesus mit seinen Jüngern das Passamahl einnahm (26,17.19). Dieser besondere Anlass für das Mahl spielt allerdings später keine Rolle mehr. Das Passafest liefert lediglich den Rahmen, in dem Mt dieses letzte Mahl Jesu verortet, nicht aber den Deutungshorizont, der ein besonderes Verständnis dieses Mahles bestimmen würde: Obwohl die Deuteworte zu Brot und Becher dafür Gelegenheit geboten hätten, aktivieren sie keine Bedeutungsaspekte, die nicht auch für jede andere Mahlsituation zuträfen. Dass das Mahl ein Passamahl war, ist demnach für das Verständnis nicht entscheidend. 13 Wichtiger ist, dass Mt schon zuvor einige Male davon berichtet hatte, wie Jesus mit seinen Jüngern [164] und anderen gemeinsam gegessen hatte. 14 Die Leser 191 Bund und Sündenvergebung <?page no="192"?> Heilung der Schwiegermutter des Petrus (8,14-17) deutet der Hinweis διηκόνει αὐτῷ auf ein Mahl hin. 15 Diese Metaphorik, die etwa Mt 4,2-4 zugrunde liegt, ist längst traditionell, vgl. etwa Am 8,1 ff.; Jer 15,16; Jes 55,1 ff.; Prov 9,2 ff. (LXX); Sir 15,3 (die Weisheit bietet ἄρτος συνέσεως); 24,21; Did 10,2 (γνῶσις); Phil. LA II 86; III 175; sacr. 86 usw.; weitere Belege bei B O R G E N [1981], 99-146. Zum Hintergrund der Verwendung dieser Metaphorik in den beiden Speisungserzählungen vgl. K L I N G H A R D T [2002]. 16 Neben 4,3 f. (Steine zu Brot: der Mensch lebt nicht nur ἐπ’ ἄρτῳ) vgl. 15,21-28 mit der Diskussion über τὸν ἄρτον τῶν τέκνων sowie 16,5-12 mit der Deutung der Speisungserzählungen, die das „Brot“ auf die „Lehre der Pharisäer und Sadduzäer“ bezieht. 17 Der Gen. abs. ἐσθιόντων δὲ αὐτῶν sollte nicht präsentisch-durativ („während sie aßen“) aufgelöst werden: Gemeint ist nicht, dass Jesus (irgendwann) im Verlauf des Mahl das Brot nahm usw. Die Erwähnung des Austeilungsgestus und des Segens über dem Brot stellen sicher, dass der Mahlbeginn ins Auge gefasst ist: ἐσθιόντων δὲ αὐτῶν heißt daher soviel wie "beim Essen“ oder „beim Mahl“. 18 K L I N G H A R D T [1996], 51 mit Anm. 35. kennen jedoch nicht nur Jesu Praxis gemeinsamer Mähler, sondern sie wissen auch, dass Jesus anhand von Mählern bzw. dem Bild des Mahls Fragen der Gemeinschaftskonstitution erörtert hat. Dabei steht an erster Stelle das Problem der Gruppenzugehörigkeit (14,13-21; 15,32-39), auch in der Zuspitzung auf die Frage von Inklusion und Exklusion (9,9-13; 22,1-14). Noch wichtiger ist, dass der mt Jesus die traditionelle Metaphorik „Speise für Lehre“ 15 auf das „Brot“ des Mahles angewendet und daran grundsätzliche Fragen des Gemeinsinns exemplifiziert hatte. 16 Wie 15,21-28 bzw. 16,5-12 zeigen, entspricht der zum Mahl versammelten Gemeinschaft ein gemeinsamer Wissensbestand, der in dem „Brot“ symbolisiert ist. Schon bevor Mt vom letzten Mahl Jesu erzählt, wissen seine Leser aus der vorangehenden Lektüre (wenn nicht schon aufgrund ihres eigenen Weltwissens), dass das Mahl gemeinschaftskonstituierend ist, dass Jesus daher am Bildmaterial des Mahls Fragen des Gemeinsinns erörtern und in diesem Zusammenhang auch Speisen symbolisch deuten kann. In seiner Erzählung vom letzten Mahl, die enge Übereinstimmungen mit der mk Vorlage aufweist, erwähnt Mt zuerst das Brot: „Beim Mahl 17 nahm Jesus Brot, sprach den Segen, brach es, gab (es) den Jüngern und sagte: ‚Nehmt, esst! Dies ist mein Leib! ‘“ (26,26). Die Verteilung des Brotes ist der normale Mahleröffnungsgestus; es diente den Mahlteilnehmern als Besteck, mit dem sie die Speisen aufnehmen konnten. Messer und Gabel waren unbekannt, Löffel gab es nur für den (sicher nicht repräsentativen) Genuss von Austern 18 - wer zu essen anfing, bevor das Brot ausgeteilt war, verbrannte sich die Finger an den 192 Bund und Sündenvergebung <?page no="193"?> 19 14,19 f.: λαβὼν τοὺς πέντε ἄρτους … ἀναβλέψας εἰς τὸν οὐρανὸν εὐλόγησεν καὶ κλάσας ἔδωκεν τοῖς μαθηταῖς τοὺς ἄρτους, οἱ δὲ μαθηταὶ τοῖς ὄχλοις. καὶ ἔφαγον πάντες καὶ ἐχορτάσθησαν. Vgl. 15,33-37. 20 K L I N G H A R D T [1996], 99-111. 21 Z. B. Gell. XIII 11,6; Macr. Sat. II 8,3; III 18,1 u. ö. 22 Vgl. K I R C H E R [1910/ 1970], 13 ff. Noch zur Zeit Neros konnte Petronius Trimalchios Indezenz dadurch kennzeichnen, dass bei seiner cena gegen alle Etikette schon während des Essens kräftig gezecht wurde (Petron. 34; 60). Vgl. auch P A U L I N G [2012]. 23 L A M P E [1991], 186. Speisen [165] Da Mt diesen Austeilungsgestus schon früher erwähnt hatte, 19 war diese Selbstverständlichkeit den Lesern nicht nur aus ihrer Alltagserfahrung plausibel, sondern auch aus der Lektüre vertraut. In strenger Parallelität zum Mahleröffnungsgestus der Austeilung des Brotes schließt Mt unmittelbar den Bericht über die Verteilung des Bechers an. Im Unterschied zum Brot bzw. zum Austeilungsgestus wird der Becher in Mt hier zum ersten Mal überhaupt erwähnt. Die Erwähnung des Bechers sowie die Aufforderung, dass alle daraus trinken sollen, werden für die Leser also nicht aus dem literarischen Kontext verständlich: Was damit genau gemeint ist, ergibt sich nur aus dem kulturellen Wissen darüber, was bei Mählern typischerweise geschieht. An dieser Stelle hilft folglich nur eine ritualgeschichtliche Rekon‐ struktion weiter. 2.1 Der Becher nach dem Mahl Ihrem kulturellen Wissen zufolge mussten die ersten Rezipienten annehmen, dass zwischen dem Brot- und dem Bechergestus ein komplettes Mahl lag: Alles andere wäre höchst ungewöhnlich und, gemessen an der allgemeinen Mahl‐ praxis, unbedingt erklärungsbedürftig gewesen. Man kann davon ausgehen, dass in der Regel nicht schon während des eigentlichen Mahls, sondern erst während des Symposions getrunken wurde. Darauf weist einerseits der Über‐ gang vom Mahl zum Symposion mit der Libationszeremonie und dem Gesang des Paeans hin: Die Mischung des Weins erfolgte regelmäßig, nachdem das eigentliche Mahl beendet und die Tische abgetragen waren. 20 In der Kaiserzeit scheint sich diese strenge Aufteilung allerdings gelockert zu haben, und es gibt wiederholt Klagen, 21 dass schon während des Essens getrunken wurde. Auch wenn der Rekurs auf „die gute alte Zeit“ ein literarischer Topos ist, gibt es Hinweise, die zwar eine Veränderung der Mahlkultur bestätigen, zugleich aber den Anspruch bekräftigen, dass der Wein erst zur Libation auf den Tisch kommen sollte. 22 Die [166] Einschätzung, dass in der Kaiserzeit „nicht nur zum Nachtisch, sondern während der ganzen Mahlzeit getrunken“ wurde, 23 verallgemeinert individuelle Devianzen von einer als gültig empfundenen Regel. 193 Bund und Sündenvergebung <?page no="194"?> 24 1Kor 11,25; Lk 22,20: μετὰ (δὲ) τὸ δειπνῆσαι. Vgl. Did 10,1: μετὰ δὲ τὸ ἐμπλησθῆναι; diese rubrizistische Angabe qualifiziert das Nachtischgebet als Gebet während der Libation, s. Κ L I N G H A R D T [1996], 418-427. 25 So schon zu Recht J E R E M I A S [1960], 81 Anm. 9. 26 Vgl. etwa Hom. Od. 3,341 (ἐν πυρὶ βάλλον); Cato agr. 132; Serv. Aen. I 730 u. a. 27 Τοῦτο τὸ ποτήριον … τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον; vgl. dazu im Einzelnen und mit weiteren Belegen K L I N G H A R D T [2012]. 28 Vgl. auch das Gebet μετὰ δὲ τὸ ἐμπλησθῆναι, Did 10,2-6; zu den Mahlgebeten und der vorausgesetzten Eucharistie in der Did vgl. K L I N G H A R D T [1996], 375-492. Dass die ansonsten bezeugte genauere Verortung der Becherhandlung „nach dem Essen“ 24 im mt (und mk) Mahlbericht fehlt (Mt 26,28; Mk 14,22), besagt daher nicht, dass für Mt das letzte Mahl Jesu nur aus einer „sakramentalen Doppelhandlung“ bestanden hätte, sondern dass er die allgemeine und selbst‐ verständliche Mahlpraxis voraussetzt: Er rechnet damit, dass die Leser den Becher im Verlauf des Mahlrituals ohne Weiteres korrekt als einen Becher nach dem Mahl identifizieren können. 25 Diese Identifizierung des Bechers ist wichtig, wenn auch problematisch. Denn wenn in einer Mahlschilderung ein Becher (nach dem Mahl) besonders erwähnt wird, handelt es sich in aller Regel um den Becher, mit dem die Libation vollzogen wurde, also die Trankspende, die auf den Boden oder ins Herdfeuer ausgegossen wurde. 26 Die Libation markierte den Übergang vom Mahl zum Symposion, und sie wurde von dem noch ungemischten Wein ausgebracht. Die technischen Bezeichnungen für die Libation implizieren durchweg den Vorgang des Ausgießens (σπονδή; λοιβή/ libatio; χοή): Wie bei anderen Speise‐ opfern auch, wurde ein Teil des Getränks dem normalen Genuss entzogen, der Gottheit als Gabe geweiht und ihr sichtbar übereignet. Der libierte Wein wurde also gerade nicht getrunken. Im Zusammenhang der neutestamentlichen Mahlüberlieferung bezeichnet der Becher „nach dem Mahl“ im lk Mahlbericht (Lk 22,20) genau diesen Libationsbecher: Von ihm wird gesagt, dass er „für euch ausgegossen“ wird. 27 Da die Libation, wie jedes andere Opfer auch, von einem Gebet begleitet war, liegt es nahe, dass auch Paulus diese Verbindung von Libationsbecher und Eulogie vor Augen hatte, wenn er von dem „Becher des Segens, den wir segnen“ (1Kor 10,16) schrieb. 28 [167] 2.2 Die Proposis Allerdings betont Mt 26,28 (wie Mk 14,23) im Unterschied zu Lk 22,20 ausdrück‐ lich, dass der Becher getrunken wurde. Der Vorstellungshintergrund, den die Leser für diesen Becher substituieren müssen, ist also nicht der einer Libation. Was dann? 194 Bund und Sündenvergebung <?page no="195"?> 29 Die folgenden Bemerkungen beziehen sich nur auf die Proposeis, die während des Symposions getrunken wurden. Daneben ist gelegentlich ein πρόπομα vor Beginn des Mahls bezeugt, das zu den Vorspeisen gereicht werden konnte, weswegen diese insgesamt auch als προπίνειν bezeichnet werden konnten, z. B. Alexis, fr. 263 PCG II 168 (= Athen. II, 59 f./ 60a); Mart. Epigr. V 78,3 u. ö. Zu diesen Aperitifs, die eine andere rituelle Funktion haben als die sympotischen Proposeis, vgl. K L I N G H A R D T [1996], 58-60. 30 Vgl. K I R C H E R [1910/ 1970], 34-38; 59-69 (mit der älteren Lit.). Ich selbst hatte den Unterschied von Libation und Proposis durch die terminologische Unterscheidung zwischen einer Mahlabschluss- und einer Gelagelibation deutlich zu machen versucht (K L I N G H A R D T [1996], 105 f.). Diese terminologische Differenzierung war insofern wenig glücklich, als die Proposis nicht vergossen wird und daher keine Libation darstellt. Die folgenden Überlegungen korrigieren diesen Sprachgebrauch und präzisieren das Phänomen. 31 Z. B. Hesych., s. v. ἀγαθοῦ δαίμονος: τὸ πόμα τὸ μετὰ τὸ δεῖπνον ἄκρατον. Vgl. auch Theophrast (bei Athen. XV, 693c/ d): „Den ungemischten Wein, der nach dem Mahl gereicht wird, den man den Glück-auf-Vortrunk nennt (Ἀγαθοῦ Δαίμονος πρόποσις), nimmt man nur in kleinen Portionen zu sich, wie um sich durch das Kosten an seine Kraft und die Gabe des Gottes zu erinnern. Man schenkt ihn aus nach der Sättigung (μετὰ πλήρωσιν), damit das Quantum sehr gering sein kann…“ Unproblematisch ist, dass Athen. XV, 693b von der Agathodaimonmischung (κρᾶσις) spricht, dann aber nur wenige Zeilen später den ungemischten Agathodaimon (Ἀγαθοῦ Δαίμονος ἄκρατος) erwähnt: Bevor der Agathodaimon-Krater gemischt wurde, wurde ein Schluck des noch ungemischten Weins getrunken. 32 Vgl. D E U B N E R [1919], 391 f. Der Hauptbeleg (Philochoros fr. 5 FGrHist 328) trägt diese weitreichende These jedoch nicht. Auch andere Gottheiten bzw. Heroen sind bezeugt, z. B.: Harmodios (Antiphanes fr. 3 PCG II 315 =Athen. XV, 692 f.); Hermes (Hesych., s. v. Ἑρμῆς); Götter allgemein (Xen. an. IV 3,13; Athen. XV 47); olympische Götter und Heroen (Aischylos fr. 55 TrGF III 177; Schol. Pindar Isthm. VI 10) usw. Die Antwort gibt der vielfach bezeugte Brauch des "Vorab- oder Zutrinkens“ (πρόπομα; πρόποσις; προπίνειν), der hier im Anschluss an die Quellen als Pro‐ posis bezeichnet wird. 29 In der älteren Literatur wurde die Proposis nicht genau von der Libation unterschieden und als Unterform der Libation behandelt. 30 Diese phänomenologische Unschärfe ist insofern verständlich, als Proposis und Libation zwei wichtige Aspekte gemein haben: Beide wurden von dem noch ungemischten Wein (ἄκρατος) aus dem Krater geschöpft, 31 und beide waren reli‐ giös ausgezeichnet. Der religiöse Charakter der Proposis zeigt sich darin, dass sie in griechischen Zeugnissen nach verschiedenen Gottheiten bezeichnet wurde; am weitesten verbreitet sind Zeus Soter, Hygieia und Agathodaimon. Man hat daraus (wenn auch kaum zu Recht) auf eine feste Ordnung geschlossen. 32 Diese Gottheiten sind erkennbar hypostasierte Konkretionen allgemeinerer Werte [168] Heil, Gesundheit, Glück. Für die Frage nach der sympotischen Gemeinschaftskonstruktion sind folgende Aspekte des gemeinsam getrunkenen Bechers in Mt 26,28 von Bedeutung: 195 Bund und Sündenvergebung <?page no="196"?> 33 Die Zahl der Kratere - und damit der möglichen Proposeis - hängt von den individu‐ ellen Gewohnheiten und vom Trinkkomment ab. Eubulos (fr. 93 PCG V 244 = Athen. II, 36b/ c) hält drei Kratere für ein vernünftiges Maß. Dass auch mehr getrunken wurde, ist das Thema des Fragments, das die Folgen exzessiven Alkoholgenusses in der Gruppe anschaulich darstellt. 34 Vgl. etwa: Xenarchos (fr. 2 PCG VII 793 = Athen. XV, 693b/ c): „Da fange ich doch an, ein bisschen einzunicken. - Ja, die vom ungemischten Agathodaimon ausgeschenkte Schale, die ich getrunken habe (τἀγαθοῦ Δαίμονος … ἄκρατος ἐκποθεῖσα φιάλη), hat mir den Rest gegeben. - Und mich hat der Zeus Soter glatt versenkt.“ - Nikostratos, Pandrosus (fr. 18 PCG VII 84 = Athen. XV, 693b): „Auf, sie soll mir schnell einen Agathodaimon einschenken und den Tisch aus dem Weg schaffen. Denn ich bin reichlich gesättigt. Aber einen Agathodaimon nehme ich noch.“ - Alexis (Athen. XV, 692 f./ 693a): „Gieß ihm einen Zeus Soter ein, bei weitem der für Sterbliche nützlichste der Götter. - Der Zeus Soter wird mir nicht gut tun, wenn ich platze! - Sei stark und trink! “ usw. 1. Im Unterschied zur Libation, die nur einmal ganz zu Beginn des Sympo‐ sions dargebracht wurde, konnte es mehrere Proposeis geben, und zwar jeweils dann, wenn ein neuer Mischkrug aufgetragen wurde. 33 Da zur Pro‐ posis ungemischter Wein getrunken wurde, bestand hier noch deutlicher als beim Genuss von Mischwein die Gefahr der Alkoholisierung: Dass der ungemischte Wein der Proposis den Symposiasten zuviel werden konnte, ist ein Topos, den aus naheliegenden Gründen vor allem die Komödie verschiedentlich aufgegriffen hat. 34 2. Soweit die Quellen zu erkennen geben, war die Proposis ein Trunk, den üblicherweise alle Symposiasten gemeinsam zu sich nahmen. Nimmt man Theophrast beim Wort (s. o. Anm. 31), dann vermittelt die Proposis den durch die jeweilige eponyme Gottheit repräsentierten Wert. Wenn die Proposis ein „Kosten von der Kraft und der Gabe des Gottes“ (γεῦσις τὴν ἰσχὺν αὐτοῦ καὶ τὴν τοῦ θεοῦ δωρεάν) ist, wird die Vorstellung einer symbolischen Anteilgabe im Sinn der (sit venia verbo! ) Theophagie deutlich: Der Zeus Soter gibt Heil, der Agathodaimon Glück und die Hygieia Gesundheit. 3. Wie vor allem die Belege aus der Komödie zeigen, konnte diese religiöse Konnotation der Proposis stark in den Hintergrund treten. Sie war ver‐ mutlich [169] nur selten wirklich bewusst, und noch seltener wird sie als Mittel zur Aneignung von Heil verstanden worden sein. Vielmehr zeigen zahlreiche Belege, dass sich die Symposiasten die Proposis und das durch sie repräsentierte Heil (wortwörtlich) gegenseitig „zutranken“: Die Proposis fungiert als Zueignung eines Wertes, weswegen der Empfänger in aller 196 Bund und Sündenvergebung <?page no="197"?> 35 Z. B. Alexis = Athen. XV, 692 f./ 693a: ἔγχεον αὐτῷ Διός γε τήνδε Σωτῆρος; Nikostratos = Athen. XV, 693a: μετανιπτρίδ’ αὐτῷ τῆς Ὑγιείας ἔγχεον; Plaut. Stich. 707.710 (propino tibi salutem plenis faucibus); Terent. Eun. 1086 (vobis propino). 36 Zu den Toasts auf die Gesundheit vgl. etwa Plaut. Pers. 776; Ov. fast. II 637 u. ö. Vgl. dazu insgesamt M A U [1900], 614 f. 37 Lukian, Sat. 18. 38 Athenaeus hat einiges gesammelt (Athen. V, 193a; X, 432c-e, darunter besonders aufschlussreich: Kritias fr. 6 B W E S T ); daneben z. B. Xen. an. VII 3,26; Demosth. or. XIX 128; Plut. Alex. 39,2 (ἐγὼ δέ σοι μεστὸν ἀκράτου προπίομαι); Plut. Arist. 21,5 u. a. 39 Zur Reihenfolge des Zutrinkens vgl. Plut. qu. conv. I 2 (s. u. Anm. 43). Die Reihenfolge hängt eng mit der Gelageordnung zusammen, wenn jeder seinem rechten Tischnach‐ barn zutrinkt (πίνειν ἐπὶ δεξιά) oder wenn von der ersten Kline „abwärts" getrunken wurden (bibere ab summo) usw.; vgl. mit vielen weiteren Belegen M A U [1900], 613 f. 40 Unterschiedliche Quantitäten der Hygieia-Proposis bei Martial I 71; IX 93,4; XI 36,7; Athen. VI, 254a u. ö. Belege für Trinkmaße von einem bis zu neun cyathi bei M A R Q U A R D T [1879], I 335, wobei der cyathus ca. 0,045 l fasste (M A U [1900], 615). 41 Z. B. das Ehrendekret eines unbekannten Koinon aus Stratonikeia in Karien mit dem Beschluss, den Wohltätern des Vereins „lebenslang die doppelte Portion zu geben; immer diejenigen, die Schatzmeister werden, sollen dafür Sorge tragen, dass ihnen bei den Mählern zugetrunken wird (ἐπιμέλειαν δὲ ποιεῖσθαι τοὺς ἀεὶ γεινομένους ταμίας ὅπως ἂν προπείνηται αὐτοῖς ἐν τοῖς δείπνοις)“ (IStraton. 801, Z. 12-16). Regel im Dat. commodi angeführt wird. 35 Wenn die Proposis wie ein Toast wirkt, versteht man die verbreitete Trias ohne Weiteres als Wünsche für Heil, Glück und Gesundheit. 36 4. Erst aus dieser Perspektive wird die hohe soziale Funktion der Proposis für sympotische Gemeinschaften deutlich: Sie diente der sozialen Stratifi‐ kation und markierte das soziale Prestige, das ein Mahlteilnehmer einem anderen zubilligte. Neben anderen sozialen Funktionen (etwa: der Darstel‐ lung von Freundschaft) 37 war die Proposis in erster Linie eine Ehrung, wie zahlreiche Beispiele aus dem Kontext privater Mähler zeigen. 38 Die differenzierte Darstellung hierarchischer Sozialbeziehungen fand nicht nur in der Reihenfolge Ausdruck, in der solche Proposeis ausgebracht wurden, 39 sondern auch in der Menge: Da der Wein mit einem (sehr kleinen) Schöpflöffel ausgeschenkt wurde, 40 war die implizierte Ehrung nicht nur genau quantifizierbar, ihre Größe war auch für alle Anwesenden, die beim Ausschenken zusahen, sichtbar. Im Kontext von Vereinsmählern war dies naheliegend und völlig unproblematisch, weil hier die Ehrung verdienter Mitglieder - eben auch durch die Zuerkennung einer Proposis 41 - zu den besonders häufig bezeugten Aktivitäten [170] während des Symposions gehörte: Viele Vereine, vor allem seit der frühen Kaiserzeit, besaßen eine hochdifferenzierte Sozialstruktur, derer sie sich während ihrer Vereinssym‐ posien immer wieder versicherten. Diese differenzierte Abstufung der 197 Bund und Sündenvergebung <?page no="198"?> 42 Die Unterscheidung von verschiedenen Gruppen (dann jeweils gleichrangiger) Gäste diskutiert Plin. epist. II 6. 43 Plut. qu. conv. I 2 (616b): οὐδὲ προπίεται ἑτέρῳ πρὸ ἑτέρου ὁ ἑστιῶν. 44 Men. Theophor. fr. 3 (Körte/ Thierfelder I 103 = Athen. XI, 504a): τὸ πρῶτον περισόβει ποτήριον … ἀκράτου. 45 Poll. Onom. VI 31: κύλιξ μετανιπτρὶς ἡ ἐπὶ πᾶσιν. 46 Zum „Händewaschen nach dem Essen“ vgl. K L I N G H A R D T [1996], 48 mit Anm. 17-19. 47 Vgl. in diesem Sinn Diphilos fr. 70 PCG V 94 (= Athen. XI, 487a), der den μετανιπτρίς‐ Becher als Agathodaimon- und Zeus-Soter-Proposis identifiziert; beide werden häufig als eponyme Gottheiten des ersten Kraters genannt. S. auch Nikostratos (= Athen. XV, 693a; s. o. Anm. 35). Ehrenbezeugungen konnte aber auch Schwierigkeiten bereiten, wenn die Teilnehmer (oder einzelne Gruppen von Teilnehmern) an einem Mahl sich als Gleiche betrachteten und an dieser sympotischen Gleichheit auch in‐ teressiert waren. 42 Dies zeigt vor allem Plutarchs einschlägige Behandlung dieses Problems im Rahmen der Gelageordnung: So, wie die Zuweisung der unterschiedlich ehrenvollen Plätze beim Mahl unvermeidbar ist, weil nicht alle Teilnehmer auf demselben Platz liegen können, so nötigt auch der Brauch der wechselseitigen Ausbringung von Toasts den Gastgeber dazu, bei der sozialen Anerkennung der Mahlteilnehmer Unterschiede (διαφοραί) zu machen, obwohl er dies vielleicht gar nicht will, weil sie ihm (etwa: als seine Freunde) jeweils gleicher Ehren wert sind: Er kann ja nicht allen gleichzeitig zutrinken. 43 5. Vor diesem Hintergrund sind dann diejenigen (nicht gerade zahlreichen) Zeugnisse interessant, die davon reden, dass die Symposiasten die Proposis aus einem gemeinsamen Becher zu sich nehmen. So heißt es bei Menander: „Lass unter ihnen schnell kreisen den ersten Becher Ungemischten.“ 44 Der „erste Becher Ungemischter“ impliziert eine Proposis vom ersten Krater, dem danach noch weitere Becher mit „Ungemischtem“ folgen werden. Analog dazu erklärt Pollux, dass die (Trink-)Schale nach der Waschung „für alle“ sei. 45 Die technisch gebrauchte Bezeichnung der Schale als μετανιπτρίς bezieht sich auf die Waschung, die normalerweise direkt im Anschluss an das Essen und vor Beginn des Symposions stattfindet. 46 Die Schale „nach dem Händewaschen“ bezeichnet also die erste Proposis, 47 und sie ist „für alle“, wird also unter den Anwesenden herumgereicht. Für ein idealtypisches [171] Symposion müsste man sich also vorstellen, dass nach der feierlich vollzogenen Libation und noch vor der Mischung des ersten Kraters eine solche Proposis von allen Teilnehmern aus einem gemeinsamen Gefäß getrunken wurde. Nur am Rande sei erwähnt, dass 198 Bund und Sündenvergebung <?page no="199"?> 48 Z. B. Philostr. Ap. 8,12; vgl. dazu die Erläuterung bei K L I N G H A R D T [2012], 43 Anm. 47. 49 Mt 26,27: πίετε ἐξ αὐτοῦ πάντες; Mk 14,23: καὶ ἔπιον ἐξ αὐτοῦ πάντες. Überlieferungs‐ geschichtlich geht das gemeinsame Trinken aus einem Becher auf den Becher im Mahlbericht des lk „Kurztextes“ Lk 22,17 (καὶ διαμερίσατε εἰς ἑαυτούς) zurück, der im Unterschied zu Lk 22,19 f. auch von den „Westlichen“ Handschriften D it (ad ff 2 i l) [sy] bezeugt ist. Eine Begründung für das höhere Alter des Kurztextes kann hier nicht geleistet werden, aber es ist deutlich, dass der „Gemeinschaftsbecher“ ein gemeinsames Element für Mk 14,23; Mt 26,27; Lk 22,17 (D it [sy]) ist. 50 Z. B. S C H Ü R M A N N [1975], 76-78. das gemeinsame Trinken aus einer Schale auch für die weiteren Kratere belegt ist. 48 Diese Belege für einen gemeinschaftlichen Proposis-Becher stellen die wich‐ tigste ritualgeschichtliche Analogie zu dem Gemeinschaftsbecher im (mk-)mt Mahlbericht dar. 49 Sie zeigen nicht nur, dass das gemeinsame Trinken aus einem Becher zwar selten, aber keineswegs einzigartig war - sofern man dem ritual‐ geschichtlichen Hintergrund der Proposis Rechnung trägt. In diesem Fall ergibt sich dann auch der Sinn: Normalerweise dient die Proposis in sympotischen Gemeinschaften dazu, dass sich die Teilnehmer gegenseitig Ehren zuerkennen; durch diese Anerkennung des sozialen Status der Einzelnen innerhalb der Gruppe gibt sich die Gruppe selbst eine differenzierte Binnenstruktur. Wenn die Proposis nach Mt 26,28 in einem einzigen rituellen Gestus von allen Jüngern gemeinsam aus einem Becher getrunken wird, impliziert dies die Anerkennung gleicher Ehren für alle. Diese aktive Nivellierung sozialer Differenzen stellt die Lösung für Plutarchs Problem der unmöglichen Gleichheit dar: Ein stärkerer ritueller Ausdruck sozialer Gleichrangigkeit ist kaum denkbar. Die angebliche Singularität des Gemeinschaftsbechers ist verschiedentlich als Hinweis auf die Historizität sowohl des mk-mt Mahlberichts im Ganzen als auch der Deuteworte im Besonderen aufgefasst worden: Die angenommene Unableitbarkeit des Ritus erkläre sich nur aus der historisch einmaligen Situa‐ tion, und die verlange dann auch eine Erklärung des Außergewöhnlichen. 50 Der ritualgeschichtliche Hintergrund legt eine andere Erklärung nahe: Der gemeinsame Becher ist nicht einzigartig, wohl aber ungewöhnlich. Mt erklärt diese Besonderheit (gegen seine mk Vorlage: Mk 14,23), indem er den Trink‐ befehl vor [172] die Deutung des Bechers stellt und diese mit kausalem γάρ anschließt: Das Deutewort liefert eine Begründung für den ungewöhnlichen Gemeinschaftsbecher. Es steht daher zu erwarten, dass das „Deutewort“ die besonderen Implikationen des Trinkbefehls dann auch sachlich entfaltet und erklärt, wie genau die Herstellung von Gleichheit zu denken sei. 199 Bund und Sündenvergebung <?page no="200"?> 51 Für diese Deutung vgl. stellvertretend für viele andere L U Z [2002], 114 z. St. 52 Vgl. H E I L [1991], 117-124. 53 Als Beispiele für ungezählte andere vgl. L E R O Y [1973], 43-53; L A N G [1993], 199-212; C H I L T O N [1994], 109-130; K N Ö P P L E R [2001], 272-288 (bes. 280) u. a. 54 Da das Blut Jesu zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vergossen ist, würde diese Deutung einen Bruch der narrativen Erzählfolge darstellen. Denkbar wäre ein solcher Zeitsprung, wenn Mt - in, mit und unter seiner Erzählung vom letzten Mahl Jesu - auf die liturgische Praxis seiner Rezipienten abzielte; aber dafür gibt es keine Hinweise (s. u. zur „Kultätiologie“). 55 Sieht man einmal davon ab, dass eine solche Aufforderung in einem jüdischen Umfeld undenkbar wäre, bleibt ja das Grundproblem, dass die Jünger den Becher trinken sollen, bevor Jesu „Blut vergossen“ wird. 56 Die Targume zu Ex 24,8 lassen eine Sühnopfervorstellung anklingen, vgl. TgOnq Ex 24,8: „Mose nahm das Blut und sprengte es auf den Altar, um für das Volk Sühnung zu schaffen, und er sprach: Siehe, das Blut des Bundes, den JHWH mit euch auf Grund aller dieser Gebote geschlossen hat“ (ähnlich TgPsJ), vgl. B I L L E R B E C K [1961], 991 und A L L I S O N [1993], 258. Allerdings wird das Blut nicht getrunken, sondern an den Altar gesprengt. 57 L U Z [2002], 114 (Hervorhebungen M. K.). 3 „Dies ist mein Bundesblut“ In aller Regel bezieht man die Aussage „Dies ist mein für viele vergossenes Bundesblut“ auf das Vergießen des Blutes Jesu und versteht sie als Hinweis auf seinen bevorstehenden gewaltsamen Tod. 51 Diese Deutung scheint sich für die Rezipienten des MtEv insofern nahezulegen, als bereits in der Wehe-Rede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer eine entsprechende Wendung auf das Martyrium der Propheten verweist: "Alles gerechte Blut, das vergossen ist (αἷμα δίκαιον ἐκχυννόμενον) auf der Erde, soll über euch kommen“ (23,35). Sofern man „Blut vergießen“ im Sinn des gewaltsamen Todes als semantischen Leitbegriff für die Interpretation wählt, wäre diese Linie noch über 27,3-10.24 f. weiter hinauszuziehen. 52 Für das Becherwort wird diese fast ubiquitäre Deutung dann meistens in opferbzw. sühnetheologischen Kategorien entfaltet: Das vergossene Blut Jesu wird zum Bild des chattat-Opfers, das die Sühnung (und auf diesem Wege auch: die Vergebung) der Sünden bewirkt. 53 Ein Bezug der Wendung „mein für viele vergossenes Bundesblut“ auf den gewaltsamen Tod Jesu ist jedoch nicht nur unwahrscheinlich, 54 er ist mit Blick auf den Trinkbefehl (26,27) völlig unmöglich, weil Jesus selbstverständlich nicht zum Trinken seines Blutes auffordern kann. 55 Stellt man diesen Einwand in Rechnung, ist man zu einem gedanklichen Umweg gezwungen. So gelte beispielsweise die Implementierung der Opfertheologie bzw. der Gedanke des [173] Sühnopfers 56 „nur für Jesu Tod, auf den sich αἷμά μου allein bezieht, nicht aber für den davon abgelösten eucharistischen Ritus.“ 57 Diese Erklärung 200 Bund und Sündenvergebung <?page no="201"?> 58 Zum Problem vgl. knapp L U Z [2002], 106-112. 59 Analog dazu ist auch das Brotwort eine Erläuterung der Aufforderung Jesu (λάβετε φάγετε, 26,26). Ein Bezug von 26,26 auf das „Brot“ ist zwar philologisch möglich, aber wenig wahrscheinlich, weil sich das neutrale Demonstrativum τοῦτο grammatikalisch nur schwer auf das maskuline ἄρτος beziehen lässt. Inwiefern das Nehmen und Essen des ausgeteilten Brotes als „mein Leib“ verstanden werden kann, muss hier offen bleiben. 60 B E R G E R [1994], 279-291, bes. 287 f. Vgl. auch B E R G E R [1995], 187-191; B E R G E R [1998], 195-219. löst das Problem jedoch nicht, sie verschärft es: Wenn der eucharistische Ritus vom Tod Jesu „abgelöst“ ist, leuchtet nicht ein, dass eine Beschreibung dieses Ritus den Hinweis auf den Tod noch enthalten sollte. Um den Zusammenhang vom Tod Jesu und dem Mahl zur Geltung zu bringen, müsste man 26,27 f. etwa folgendermaßen paraphrasieren: „Trinkt alle aus diesem Becher, denn er dient zur Vergebung eurer Sünden, weil er meinen Sühnetod symbolisiert, nämlich mein Blut, das für viele vergossen (werden) wird.“ Das wirft allerdings die Frage auf, wieso gerade der Proposis- Becher den Tod Jesu symbolisieren soll. Die Theologiegeschichte hat sich bekanntlich vor allem seit dem 16. Jh. an diesem Problem abgearbeitet und ihre konfessionellen Kontroversen auf das syntaktische Verständnis der Kopula ἐστίν hin zugespitzt. 58 Alle diese Interpretationsansätze zur Erklärung des „Bundesbluts“ kranken (nicht erst seit dem 16. Jh.) daran, dass sie ihre eigenen Voraussetzungen in den Text eintragen: Der mt Jesus deutet ja nicht seinen Tod, sondern den Becher, sofern τοῦτο (V. 28) auf ποτήριον (V. 27) referiert. Aber selbst dies ist nicht wahrscheinlich. Sieht man genau hin, dann bezieht sich die Deutung nicht eigentlich auf den Becher, sondern auf den rituellen Vorgang, zu dem der Trinkbefehl auffordert: Wie das Brotwort, erläutert auch das Becherwort die Handlungsfolge. 59 In diesem Fall begründet Jesus den nichtalltäglichen Umstand, dass sich alle Jünger die Proposis aus einem gemeinsamen Becher zutrinken sollen. Auf diese Weise kommt man zu einem Verständnis, das Klaus Berger 1994 erstmals vorgestellt hatte. 60 Demzufolge wird der Bund nach (Mk und) Mt nicht durch den Tod Jesu, sondern durch das gemeinsame Trinken aus dem Becher geschlossen. Die durch die Wendung τὸ αἷμα … τῆς διαθήκης sichergestellte [174] Gemeinsamkeit zwischen dem letzten Mahl Jesu und der Bundesschluss‐ zeremonie von Ex 24 liegt also nicht in dem gemeinsamen Stichwort „Blut“ und schon gar nicht in einer dafür vorauszusetzenden Tötung. Der Vergleichspunkt ist vielmehr der Vorgang der Konstitution einer Gemeinschaft: Der (mk-)mt Mahlbericht erzählt von einem Bundesschluss durch Wein, genauer: durch das gemeinsame Trinken des Proposis-Bechers. Dies entspricht exakt der ritualge‐ 201 Bund und Sündenvergebung <?page no="202"?> 61 H O F I U S [1998], 318 Anm. 17, bekannte dazu: „Schlechterdings ratlos stehe ich vor der Interpretation von K. Berger“ (mit Bezug auf B E R G E R [1995]). Diese Ratlosigkeit hat es offensichtlich verhindert, diesen Ansatz überhaupt zu diskutieren. 62 Vgl. etwa Gen 49,11 (πλυνεῖ ἐν οἴνῳ τὴν στολὴν αὐτοῦ καὶ ἐν αἵματι σταφυλῆς τὴν περιβολὴν αὐτοῦ), syrBar 29,5 f.; 36,3; 37,1; 39,7 f.; Joh 2,1-11. 63 Vgl. B A U E R [1988], 1393a, s. v. ποτήριον (1): „Der Becher steht metonymisch für das, was er enthält.“ 64 Vgl. etwa L Ü H R M A N N [1987], 239: In Mk 14,24 meine „τοῦτο den Wein als Inhalt des Kelches […], denn nur der kann in eine Beziehung zu Blut gesetzt werden.“ Zu Lk 22,20 vgl. W O L T E R [2008], 707 f.: „Das ‚Blut‘ […] ist die semantische Schnittmenge, die den ‚Becher‘, den ,(neuen) Bund‘ und den Tod Jesu miteinander verbindet. In Bezug auf den schichtlichen Funktion des Gemeinschaftsbechers, wie sie zuvor beschrieben wurde. Diese Interpretation unterscheidet sich nicht unerheblich von dem verbrei‐ teten Verständnis des Becherworts, das den Bund durch das am Kreuz ver‐ gossene Blut Jesu konstituiert sieht: Es gibt keine Verbindungslinien, die als Verständnisbrücken zwischen den Ansätzen dienen könnten. 61 Die folgenden Bemerkungen wollen daher die beiden Ansätze auch nicht miteinander harmo‐ nisieren, sondern den möglichen Bedeutungsgehalt der Wendung τοῦτο γάρ ἐστιν τὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης vor dem hier entfalteten ritualgeschichtlichen Hintergrund des Bechers erkunden. 3.1 Blut und Wein: Konsistenzanalogie und Becher-Inhalt-Metonymie Blut und Wein sind im hellenistischen Judentum mit einer Fülle religiöser Aspekte verbunden, bilden darin aber keine semantische Schnittmenge: Wäh‐ rend Blut (wie Wasser) häufig eine reinigende und deswegen auch sühnende Funktion besitzt, wie vor allem die kultischen Vorschriften zum Reinigungsopfer zeigen, steht Wein vor allem für die messianische Fülle und als Zeichen für das Kommen des Messias, 62 aber er dient nicht als Mittel für Sühne oder Reinigung. Aus diesem Grund verweist man gelegentlich auf die Analogie von Wein und Blut in Konsistenz und Farbe: In beiden Fällen handelt es sich um eine rote Flüssigkeit. Die angenommene Konsistenzanalogie dient als symbolische Klammer zwischen dem Wein im Becher und dem am Kreuz vergossenen Blut. Da diese Argumentation eine Beziehung von Wein und Blut intendiert, muss sie eine Becher-Inhalt-Metonymie voraussetzen, weil der Text ja gar nicht den Wein, sondern nur den Becher erwähnt. 63 Das betrifft nicht nur das mt [175] Becherwort, sondern auch dessen synoptische Parallelen: Die Auslegungen zeigen, wie unverzichtbar die metonymische Redeweise für die Deutung des Bechers ist, wenn es denn um das Blut Jesu und um seinen Tod gehen soll. 64 Aber diese Denkfigur ist aus mehreren Gründen schwierig. Denn 202 Bund und Sündenvergebung <?page no="203"?> Becher wird das Blut durch den Wein repräsentiert, denn was beide gemeinsam haben, ist die rote Farbe […] Erst der Inhalt des Bechers lässt die Handlung zum ‚neuen Bund‘ werden, weil allein er die Verbindung zum Tod Jesu herstellt“ (alle Hervorhebungen M. K.). 65 L U Z [2002], 116 Anm. 101. 66 Vgl. beispielsweise Cyrill Hierosol. cat. mystag. 4,3: „Also nehmen wir mit Gewissheit teil (μεταλαμβάνω) am Leib und am Blut Christi. Denn im Vorbild (τύπος) des Brotes wird dir der Leib gegeben, im Vorbild des Weines wird dir das Blut Christi gegeben, damit du durch die Teilhabe (μεταλαβῶν) am Leib und Blut Christi ein Leib und ein Blut mit Christus wirst" (136,14 ff. ed. Röwekamp, FC 7); vgl. 4,9 (ebd.142,9 ff.): „Dies hast du nun gelernt, davon bist du überzeugt: Das, was wie Brot aussieht, ist kein Brot (ὡς ὁ φαινόμενος ἄρτος οὐκ ἄρτος ἐστίν), auch wenn es solches für den Geschmack ist. Und das, was wie Wein aussieht, ist nicht Wein - auch wenn der Geschmack es will -, sondern Blut Christi (καὶ ὁ φαινόμενος οἶνος οὐκ οἶνός ἐστιν, εἰ καὶ ἡ γεῦσις τοῦτο βούλεται, ἀλλὰ αἷμα Χριστοῦ).“ Interessanterweise hebt Cyrill Farbe und Konsistenz als Analogie von Blut und Wein auch in diesem Zusammenhang, der ja die enge Entsprechung behandelt, nicht hervor! 67 Z. B. Ps.-Athan. serm. fid. fr. 76, Z. 6 (S C H W A R T Z , E. [1925]): „Als er nun das Mysterium vollzog, sprach er den Lobpreis und sagte: ‚Trinkt alle daraus! Dies ist das Blut des neuen der Becher kann nur dann metonymisch für den Wein stehen, wenn „es nicht in erster Linie auf das ankommt, was er enthält! “ 65 Vor allem aber würde eine Metonymie das Verständnis des nächsten Kontextes extrem belasten. Denn in diesem Fall müsste man annehmen, dass Jesus zwar vom Becher spricht (26,27: ποτήριον), aber eigentlich den Wein meint. Im nächsten Vers (26,28) würde er diesen nur metonymisch mitgedachten Wein metaphorisch als sein Bundesblut deuten. Unmittelbar im Anschluss spricht Jesus jedoch nicht-metonymisch und nicht-metaphorisch davon, dass er von jetzt an nicht mehr vom „Gewächs des Weinstocks“ trinken werde (26,29: γένημα τῆς ἀμπέλου). Die Annahme eines doppelten Wechsels von metonymischer zu nicht-metonymischer und von me‐ taphorischer zu nicht-metaphorischer Redeweise strapaziert die Anforderungen an die Lesefähigkeit weit über jedes vertretbare Maß hinaus und ist völlig unplausibel: Die Kelch-Inhalt-Metonymie versagt mithin als Hilfskonstruktion, um das Blut Jesu als Bezug für das Deutewort doch irgendwie wahrscheinlich zu machen. Dies zeigen dann auch die patristischen Auslegungen der neutestamentlichen Mahltexte. Obwohl die Eucharistie vor allem seit dem 3. und 4. Jh. sehr pointiert sakramental verstanden wurde und obwohl gelegentlich sogar davon die Rede ist, dass Jesus „sein Blut zu trinken gab“, spielt die Konsistenzanalogie von Wein und Blut keine entscheidende Rolle. 66 Tatsächlich kommt die Konsistenzanalogie von Wein und Blut kaum über das (schon längst traditionelle [176] Bild des „Traubenblutes“ kaum hinaus: Das Bewusstsein für die grundlegende Differenz von Wein und Blut war immer sehr deutlich vorhanden. 67 Weder die Konsis‐ 203 Bund und Sündenvergebung <?page no="204"?> Bundes, das für euch vergossen ist! ‘ Da ja nun der Wein nicht das Blut des Herrn ist, sondern des Weinstocks (καίπερ οὐκ αἷμα τοῦ κυρίου ἐστὶν ὁ οἶνος, ἀλλὰ τῆς ἀμπέλου), deswegen sagte der Herr über seinen eigenen Leib (σῶμα): ‚Ich bin der Weinstock! ‘ Blut geht nämlich nicht hervor aus dem Geist der Gottheit des Logos, sondern aus dem, der den Menschen trug.“ 68 Z. B. Epiph. anaph. Gr. (G A R I T T E [1960], 299 Z. 20): „Trinkt alle daraus, dies (ohne γάρ! ) ist mein Blut des Neuen Bundes das für euch und viele vergossen ist zur Vergebung der Sünden“; Greg. Naz. in einer Liturgie (PG 36, 716, Z. 23): „Trinkt alle daraus; dies ist mein Blut des neuen Bundes, das für euch und viele vergossen ist zur Vergebung der Sünden; tut dies zu meinem Gedächtnis …“; Basil. bapt. (PG 31, 1576,20); Basil. hom. spirit. (PG 31, 1437,4 f.); Ps.-Athan. serm. fid. fr. 66, Z. 15 f. (S C H W A R T Z , E. [1925]: τὸ αἷμα τῆς καινῆς διαθήκης, οὐ τῆς παλαιᾶς) u. ö. 69 Orig. Ier. hom. 12,2 (GCS 6); vgl. auch Eus. dem. ev. 8,1,78 (GCS 23): „Nehmt, trinkt, dieses ist mein Blut, das für euch vergossen ist zur Vergebung der Sünden; tut dies zu tenzanalogie noch die dafür notwendige Voraussetzung der BecherInhalt-Me‐ tonymie können einen Bezug zwischen dem Becher und dem vergossenen Blut Jesu herstellen. 3.2 „Mein Blut des Bundes“: Zum Verhältnis von Bund und Blut Wenn der mt Jesus den gemeinsamen Proposis-Becher als „mein Blut des Bundes“ (τὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης) deutet, dann verweist er damit auf Ex 24,8 (ἰδοὺ τὸ αἷμα τῆς διαθήκης): Er ruft bei seinen Rezipienten die Kenntnis ihrer religiösen Tradition ab und macht damit deutlich, dass jetzt beim gemeinsamen Trinken der Proposis aus dem einen Becher etwas dem Bundesschluss am Sinai Analoges geschieht. Für die uns interessierende Frage, wie plausibel die angenommene Beziehung zwischen dem Bundesschluss und dem Tod Jesu ist, soll hier ein knapper Hinweis auf die altkirchliche Rezeption genügen. Tatsächlich wird das mt Becherwort selten korrekt zitiert: Die geringfügigen, aber gewichtigen Veränderungen sind Indizien für die semantischen Verschie‐ bungen, die zwischen dem Ausgangstext und seinen Deutungen liegen. Zwei unterschiedliche Akzente lassen sich dabei erkennen. Wenn Mt 26,28 korrekt - also mit der Wendung „mein Blut des Bundes“ (τὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης) - zitiert wird, dann wird in aller Regel der Gegensatz zwischen dem Altem (Sinai-)Bund und dem Neuen Bund hervorgehoben. 68 [177] Vom Neuen Bund ist allerdings, im Gegensatz zur pln-lk Fassung, bei Mt (und Mk) gar nicht die Rede: Die altkirchlichen Auslegungen haben die verschiedenen Fassungen ohne große Probleme konflationiert, natürlich zu Lasten der jeweils distinkten Vorstellungszusammenhänge, die dabei verlorengehen. Daneben steht eine breite Tradition, die das Deutewort ohne die Erwähnung des Bundes zitiert und dann etwa formuliert: „Nehmt, trinkt, dies ist mein Blut, das für euch vergossen ist zur Vergebung der Sünden.“ 69 Diese Unterschlagung des Bun‐ 204 Bund und Sündenvergebung <?page no="205"?> meinem Gedächtnis! “; vgl. Cyrill Hieros. cat. mystag. 4,1 zu 1Kor 11,23-32; der Text wird zunächst komplett und korrekt zitiert, aber dann heißt es im Rahmen der Auslegung: „In der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, nahm unser Herr Jesus Christus Brot, dankte, brach es, gab es seinen Jüngern und sagte: Nehmt, esst, das ist mein Leib. Er nahm auch den Kelch, dankte und sagte: Nehmt, trinkt, dies ist mein Blut.“ 70 Z. B. in der Basiliusliturgie (PG 31, 1637,46): πίετε ἐξ αὐτοῦ πάντες, τοὺτο μού ἐστι τὸ αἷμά τὸ(! ) τῆς καινῆς διαθήκης, τὸ ὑπὲρ ὑμῶν καὶ πολλῶν ἐκχυνόμενον εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν. Dieser „Trick“ setzt sich in modernen Übersetzungen fort (s. o. Anm. 5). 71 Der Neue Bund zeichnet sich gegenüber dem Sinaibund ja gerade dadurch aus, dass er nicht von äußeren Zeichen abhängt, sondern seine Wirkung durch die Internalisierung der Gebote erlangt, vgl. K L I N G H A R D T [2012], 50-52. desmotivs hat System. In den auf Vollständigkeit zielenden, vereinheitlichten Texten der liturgischen Formulare zeigt sich dies etwa an der syntaktischen Disjunktion von „mein Bundesblut“ in „mein Blut“ und „das Blut des Bundes“. 70 Sie hat die semantische Folge, dass die Deutung sich primär auf das Blut Jesu bezieht, das dann sekundär als „das Blut des Bundes“ expliziert wird. Diese Verdrängung des Bundesmotivs und die gleichzeitige Akzentuierung des Blutes, das dann nur das vergossene Blut Jesu sein kann, zeigt die Ent‐ fernung vom mt Text. Zugleich macht die Rezeptionsgeschichte mit ihren Veränderungen auf ein häufig übersehenes Problem aufmerksam: Wenn Jesus den Proposis-Becher als „mein Bundesblut“ deutet, dann wirft dies die Frage auf, von welchem Bund er überhaupt spricht. Einerseits verweist das Zitat aus Ex 24,8 auf die Bundeszeremonie am Sinai, andererseits hat die patristische Interpretation den eucharistischen Bund als Bund Jesu verstanden und ihn ohne Weiteres mit dem Neuen Bund aus Jer 31(38 LXX),31-34 identifiziert. Im Zusammenhang von Jer 31 ist jedoch bekanntlich gar nicht von Blut die Rede, 71 und der Verweis auf Ex 24,8 kann nur bedeuten, dass Jesus einen Bund wie den Sinaibund schließt. In jedem Fall setzt der Rekurs auf die israelitisch-jüdische Bundesthematik voraus, dass Gott derjenige ist, der den Bund schließt, nicht aber Jesus: Dass der Messias einen Bund schließt (noch dazu in der Analogie zum Sinai- oder dem Neuen [178] Bund), ist der Tradition völlig unbekannt. Aus diesem Grund ist es wahrscheinlich, dass Mt 26,28 die Anspielung auf Ex 24 ganz allgemein versteht und sie nur auf die Analogie des Vorgangs bezieht: So, wie die Besprengung mit Blut die Israeliten zu Bundespartnern macht und sie als ein Volk konstituiert, so konstituiert das gemeinsame Trinken der Proposis eine Beziehung zwischen den Jüngern. Der theonome Aspekt der alttestamentlichen Bundestexte fehlt hier: Das mt Becherwort sagt weder, dass Gott einen Bund mit den Jüngern schließt, noch dass Jesus und die Jünger durch einen Bund miteinander verbunden sind. Da nicht Jesus, sondern nur die Jünger 205 Bund und Sündenvergebung <?page no="206"?> 72 So für viele andere: J E R E M I A S [1960], 219-223; Jeremias versteht οἱ πολλοί als „Gesamt‐ heit“; aufgrund von (sehr wenigen) Belegen aus der Auslegungsgeschichte von Jes 52 f. seien die Heiden gemeint. 73 Vgl. etwa V O G E L [1996], 92-96 (mit Lit.). Für die mt Fassung ist auch in Rechnung zu stellen, dass das mk ὑπὲρ (πολλῶν) durch περί ersetzt ist. Ansonsten sind die Formulierungen viel zu weit entfernt, um eine solche Verbindung leisten zu können, vgl. L U Z [2002], 115 Anm. 100. 74 K L I N G H A R D T [2012], bes. 33-37. 75 B E R G E R [1998], 200: Der Wein wird „aus dem Becher in die Kehle der Teilnehmer gegossen.“ 76 Vgl. dazu Mt 9,17: ῥήγνυνται οἱ ἀσκοί, καὶ ὁ οἶνος ἐκχεῖται (im Sinn von „verschütten“); Apc 16,1: ἐκχέετε τὰς ἑπτὰ φιάλας τοῦ θυμοῦ τοῦ θεοῦ εἰς τὴν γῆν („ausgießen“). 77 Vgl. Hom. Il. 3,296 etc. den Becher trinken (πίετε ἐξ αὐτοῦ πάντες! ), liegt der Ton ausschließlich auf der Jüngergemeinschaft. 3.3 „Ausgeschenkt für viele“: Bezugsgruppe und Bezugsrahmen des Rituals Unklar ist schließlich auch, worauf sich das Attribut τὸ περὶ πολλῶν ἐκχυννόμενον bezieht und was es bedeutet. Üblicherweise wird die Wendung auf das Blut Jesu bezogen, das „für viele vergossen“ ist. In diesem Sinn kann man dann überlegen, ob „für die Vielen“ einen Stellvertretungsgedanken enthält und auf Jes 53,12; 52,14 (LXX) verweist. 72 Die Mehrheit der Exegeten hat dieses Ver‐ ständnis mit guten Gründen abgelehnt, 73 aber in aller Regel daran festgehalten, dass gleichwohl vom Vergießen des Blutes Jesu die Rede sei. Syntaktisch ist dies (im Unterschied zu Lk 22,20) 74 möglich; semantisch wahrscheinlich ist es, wie die voranstehenden Überlegungen zeigen, nicht. Worauf also bezieht sich τὸ ἐκχυννόμενον, wenn dafür weder das Vergießen des Blutes Jesu noch das Ausgießen des Bechers im Sinn einer Gusslibation in Frage kommen? Klaus Berger hat (zu Mk 14,22) erklärt, das „Ausgießen“ des Gemeinschafts‐ bechers diene dazu, eine Flüssigkeit von einer Quelle auf viele zu verteilen, so, wie nach Ex 24,8 das Blut des Bundes aus der einen Quelle der Gefäße auf viele Israeliten gesprengt würde (hier steht allerdings nicht das Verb ἐκχύνω, sondern κατασκεδάννυμι): Das „Vergießen“ wäre gleichbedeutend mit dem "Trinken“. 75 Diese Deutung scheint weit hergeholt, und sie ist auch nicht erforderlich [179] Denn ἐκχύνω heißt (wie das bedeutungsgleiche ἐκχέω) nicht nur „vergießen“ (im Sinn von „ausschütten, verschütten, auskippen“), 76 sondern auch „ausschenken“. 77 Gedacht ist dann offensichtlich an das Schöpfen aus dem Mischkrug, also an denselben Vorgang, der aus der Sicht der Empfänger 206 Bund und Sündenvergebung <?page no="207"?> 78 Zu diesem Verständnis von ἐγχέω vgl. Nikostratos, Pandrosus fr. 18 PCG VII 84 (Athen. XV 693b): „Auf, sie soll mir schnell ein ‚Glück auf! ‘ einschenken (ἐγχέασα … Ἀγαθοῦ Δαίμονος)! “ - Alexis (= Athen. XV 692 f./ 693a): „Gieß ihm einen Zeus Soter ein (ἔγχεον αὐτῷ Διός γε τήνδε Σωτῆρος)! “ 79 Der „ausgeschenkte Becher“ (τὸ ποτήριον τὸ … ἐκχυννόμενον) entspricht genau der „ausgeschenkten Schale“ (ἐκποθεῖσα φιάλη) bei Xenarchos fr. 2 (s. o. Anm. 34). „eingießen, einschenken“ (ἐγχέω) heißt. 78 Dieses ist insofern plausibel, als die Jünger den Becher von Jesus gereicht bekommen: Aus Sicht der Jünger ist ihnen der Becher „eingeschenkt“ (ἐγχυννόμενον), aus der Perspektive Jesu (der hier spricht), ist er „ausgeschenkt“ (ἐκχυννόμενον). 79 Dass Jesus diesen Becher als „ausgeschenkt für viele“ bezeichnet, lässt sich vielleicht als Hinweis verstehen, der die erzählte Zeit übersteigt und auf die Zeitebene der impliziten Leser verweist: Noch viele andere können dazukommen. Diese Bemerkungen zeigen die Unwahrscheinlichkeit eines Bezugs des Be‐ cherworts auf den Tod Jesu, ergeben aber gleichwohl ein kohärentes Bild: Der Becher, den Jesus den Jüngern reicht, ist die Proposis. Jeder antike Leser würde selbstverständlich davon ausgehen, dass dieser Becher (noch) ungemischten Wein enthielt, auch wenn das nicht gesagt wird. Indem die Jünger diesen Becher gemeinsam trinken, erkennen sie sich als Gleiche an und konstituieren sich auf diese Weise als eine Bundesgemeinschaft. Da der rituelle Akt des gemeinsamen Trinkens diese Gemeinschaft der Jünger herstellt, bereitet das so lange und so heftig umstrittene Verständnis der Kopula ἐστίν überhaupt keine Probleme mehr. Weder der Becher an sich noch gar die darin enthaltene Substanz „ist“ das Bundesblut. Vielmehr „ist“ (ἐστίν) das gemeinsame Trinken die Konstitution der Gemeinschaft, die darin der Bundesblutzeremonie von Ex 24 entspricht. In diesem Verständnis spielt der Tod Jesu für das Verständnis des Becherwortes keine Rolle. Zwar gehört der Tod Jesu als Element der Gesamterzählung zur Pas‐ sionsgeschichte, und die Leser wissen selbstverständlich spätestens seit den drei Leidensweissagungen (16,21; 17,22 f.; 20,18 f.), dass Jesus am Kreuz sterben wird. Der Bericht vom letzten Mahl Jesu setzt dieses Wissen auch ausdrücklich voraus, wenn Jesus unmittelbar im Anschluss an das Becherwort sagt, er werde [180] „von jetzt an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken“ (26,29). Aber gerade weil der Tod Jesu im narrativen Gefälle der Passionsgeschichte liegt und als imminenter Erwartungshorizont in der Erzählung vom letzten Mahl so deutlich präsent ist, ist das Fehlen gerade dieses Aspekts in den Deuteworten höchst auffällig. Um im „Becherwort“ zu erklären, was das gemeinschaftliche Trinken der Jünger aus dem einen Becher bedeutet, rekurriert Mt gerade nicht auf den Tod Jesu. Seine Ausleger sollten dies auch nicht besser wissen wollen 207 Bund und Sündenvergebung <?page no="208"?> 80 Vgl. dazu die technische Terminologie bei den Sündopfern (Lev 4,20.26.31.35; 5,10.13.16.18.26 LXX): Der Priester vollzieht die kultische Sühnehandlung (z. B. 4,20: ἐξιλάσεται περὶ αὐτῶν ὁ ἱερεύς), die intendierte Wirkung dieses Geschehens ist die Vergebung und wird im Pass. divinum ausgesagt (καὶ ἀφεθήσεται αὐτοῖς ἡ ἁμαρτία). 81 Vgl. R Ö H S E R [2002], 100 f. und künftig darauf verzichten, diese Deutungskategorie hier einzutragen: Der Tod Jesu kommt im Becherwort nicht vor! 4 „Zur Vergebung der Sünden“ Genau dieser Aspekt scheint aber für das Verständnis der finalen Bestim‐ mung große Schwierigkeiten zu bereiten. Denn das finale Attribut εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν im mt Becherwort ist der einzige Hinweis überhaupt in der gesamten neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferung, der auf eine sündentilgende Wirkung des Mahls schließen lassen könnte, wie sie für die Rezeptionsge‐ schichte so wichtig geworden ist. In diesem Zusammenhang ist zunächst daran zu erinnern, dass Vergebung im Sinn des Erlassens von Sünden (ἄφεσις) etwas anderes ist als (kultisch vollzogene) Sühne: Beides sind verschiedene Aspekte im Vorgang der kultisch verstandenen Tilgung von Sünden; sie werden auch terminologisch sehr genau auseinander gehalten. 80 Ansonsten steht Vergebung (ἄφεσις) gerade für die Möglichkeit einer nichtkultischen Beseitigung von Sünden, für die dann auch kein Opfer vollzogen wird und für die schon gar nicht ein wie auch immer geartetes „Blutvergießen“ notwendig ist. Schon von daher erscheint es proble‐ matisch, im mt Becherwort einen Bezug auf die sündentilgende Wirkung des Todes Jesu zu suchen. 81 4.1 Vergebung der Sünden bei Mt: Narrative Entfaltung Dies ist für die Leser des Mt allerdings auch gar nicht nötig: Im Unterschied zur rituellen Funktion des Proposis-Bechers, die sich für die Leser nur aus ihrer [181] Alltagserfahrung ergibt und für das Verständnis substituiert werden muss, wissen sie aus der vorangegangenen Lektüre ziemlich genau, was Mt meint, wenn er von ἄφεσις τῶν ἁμαρτιῶν spricht. Denn Mt hat dieses Thema mehrfach und intensiv behandelt, und er hat dabei (gegenüber Mk) eigene Akzente gesetzt, die für das Problem wichtig sind. 208 Bund und Sündenvergebung <?page no="209"?> 82 Die Etymologie ist nur im Hebräischen nachvollziehbar: Ιησους ex עשי . Die Bedeutung „JHWH hilft“ ist also durch σώσει τὸν λαὸν αὐτοῦ ἀπὸ τῶν ἁμαρτιῶν αὐτῶν sachlich umschrieben. 83 Mk 2,12b: … καὶ δοξάζειν τὸν θεὸν λέγοντας ὅτι οὕτως οὐδέποτε εἴδομεν. 84 Mt 9,8: ἐφοβήθησαν καὶ ἐδόξασαν τὸν θεὸν τὸν δόντα ἐξουσίαν τοιαύτην τοῖς ἀνθρώποις. 85 Mt 16,19: δώσω σοι τὰς κλεῖδας τῆς βασιλείας τῶν οὐρανῶν, καὶ ὃ ἐὰν δήσῃς ἐπὶ τῆς γῆς ἔσται δεδεμένον ἐν τοῖς οὐρανοῖς, καὶ ὃ ἐὰν λύσῃς ἐπὶ τῆς γῆς ἔσται λελυμένον ἐν τοῖς οὐρανοῖς. - 18,18: Ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ὅσα ἐὰν δήσητε ἐπὶ τῆς γῆς ἔσται δεδεμένα ἐν οὐρανῷ καὶ ὅσα ἐὰν λύσητε ἐπὶ τῆς γῆς ἔσται λελυμένα ἐν οὐρανῷ. Der erste Hinweis findet sich bereits in der Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel, der den Namen „Jesus“ über eine Volksetymologie 82 begründet: „Denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten“ (1,21). Wie diese verheißene Rettung ἀπὸ τῶν ἁμαρτιῶν aussehen wird und auf welche Weise sie in Kraft gesetzt werden soll, bleibt zunächst offen. Wie ein Stück später die Erzählung von der Heilung des Gelähmten (9,2-8) zeigt, geschieht dies dadurch, dass Jesus Sünden vergibt: Er erlässt Sünden (ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι, 9,2), tut also genau das, was in der gesamten jüdischen Tradition die Prärogative Gottes war. Wie der Fortgang der Erzäh‐ lung zeigt, bezieht sich der stumme Einwand einiger Schriftgelehrter auf die mutmaßliche Anmaßung Jesu, im Namen Gottes zu sprechen, der ja allein Sünden vergeben kann. Denn Jesus erweist durch die nachfolgende Heilung des Gelähmten, dass er tatsächlich die göttliche ἐξουσία zur Sündenvergebung besitzt - und zwar ἐπὶ τῆς γῆς (9,6). Die Pointe der mt Fassung dieser Erzählung liegt folglich in der Erklärung, dass die Vollmacht zur Sündenvergebung vom Himmel auf die Erde bzw. von Gott zu den Menschen kam. Dementsprechend betont dann auch der folgende Chorschluss die Verwunderung darüber, dass Gott den Menschen eine solche Vollmacht gegeben habe: Im Unterschied zu Mk, der hier einen christologischen Akzent setzt und vom Staunen über Jesus berichtet, 83 markiert Mt als das eigentlich Staunenswerte, dass diese göttliche Vollmacht den Menschen zugänglich ist. 84 Natürlich kann nicht jeder Mensch ohne weiteres beanspruchen, als Gottes Bevollmächtigter ἐπὶ τῆς γῆς zu agieren und Sünden zu vergeben: Als Legitimationsnachweis für die beanspruchte ἐξουσία dient ja die Heilung. Wenn die Vergebung der Sünden eine Möglichkeit der Menschen ist, dann versteht man ohne Weiteres, dass Mt daraus eine Aufgabe macht. Mt hat sie zwei Mal ausführlich behandelt, zum einen im sog. „Schlüsselwort“ an Petrus (16,19), [182] zum anderen in der engen Analogie dazu in der Gemeinderede (18,18). 85 Beide Texte greifen das Thema der Erzählung von der Heilung des Gelähmten auf und weiten es aus: Sie machen unmissverständlich klar, dass 209 Bund und Sündenvergebung <?page no="210"?> 86 Vgl. dazu B E R G E R [2006], bes. 326-333. die menschlichen Repräsentanten Gottes die Vollmacht zur Sündenvergebung „auf der Erde“ besitzen, die dann auch „im Himmel“ gilt. Die Übertragung der Schlüssel für die Basileia an Petrus hat ja gerade zur Folge, dass das Binden bzw. Lösen ἐπὶ τῆς γῆς auch ἐν τοῖς οὐρανοῖς Bestand hat. Dieselbe Verheißung gilt dann (mit denselben Formulierungen) auch den Jüngern nach 18,18. Insofern führen Mt 16 und 18 die Geschichte vom Vollmachtstransfer der Sündenvergebung vom Himmel auf die Erde weiter. Dies zeigt sich dann auch an den jeweiligen Autorisierungskonzepten: So, wie der Menschensohn die Legitimität dieser Vollmachtsübertragung durch die Heilung des Gelähmten erwiesen hat, so ist auch Petrus durch seine besondere Offenbarungserkenntnis dazu befähigt, wie der Makarismus 16,17 sowie die mit der Umbenennung verbundene „Felsenverheißung“ 16,18 belegen. 86 Für die Gemeinderede ist diese Übertragung der Vollmacht nicht unmittelbar mit dem Auftrag zur Sündenver‐ gebung verbunden, gleichwohl aber sichtbar: Sie liegt in der Beauftragung der Jünger als Erntearbeiter im Kontext der Aussendung (9,37; 10,1). Die Aussendungsrede nimmt dann auch die entscheidende Verhältnisbestimmung zwischen Jesus und den Jüngern vor: Kein μαθητής ist mehr als sein διδάσκαλος, so wie auch kein δοῦλος; mehr ist als sein κύριος (10,24). Aber den μαθηταί (bzw. den Sklaven) ist verheißen, dass sie so werden wie ihr Lehrer (bzw. ihr Herr, 10,25): Den Preis, den die Jünger dafür zu entrichten haben, benennen die Paränesen 10,5-23. Der Kontext der Gemeinderede macht sehr deutlich, worin Mt die eigentli‐ chen Probleme des Themas Sündenvergebung gesehen hat: Für ihn ist Sünden‐ vergebung nicht in erster Linie als Gabe von Interesse (also im Sinn eines Zuspruchs an die Jünger), sondern als Aufgabe, die den Jüngern aufgetragen und von ihnen zu bewältigen ist. Gerade aufgrund der ihnen verliehenen Vollmacht der Binde- und Lösegewalt ist diese Aufgabe durchaus schwierig: Sie ist tendenziell unbegrenzt (18,21 f.). Und sie misst den mit der Sündenvergebung beauftragten Jüngern ein hohes Maß an Verantwortung zu: Sünden, die sie nicht vergeben, bleiben auch im Himmel unvergeben. Umgekehrt bietet die Sündenvergebung der Jünger die Möglichkeit, einen „Bruder zu gewinnen“ (18,15). [183] Unter diesem Gesichtspunkt wird auch die Vergebungsbitte im Vater‐ unser mit dem schwierigen Verhältnis zwischen der Bitte (Mt 6,12a: ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν) und dem im Aorist gehaltenen Nachsatz (6,12b: ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν…) verständlich: Sie bittet um die Einlösung der Verheißung, dass die menschliche Sündenvergebung „auf der Erde“ auch „im Himmel“ Bestand 210 Bund und Sündenvergebung <?page no="211"?> habe. Der Nachsatz 6,12b ist daher keine Selbstempfehlung, mit der die Beter sich Gott andienen, auf ihre eigene Vergebung gegenüber Dritten verweisen und ihn dadurch zur Vergebung ihrer eigenen Sünden motivieren wollen. Die beiden Vershälften benennen mit der erbetenen Vergebung durch Gott (6,12a) und der (bereits geschehenen) Vergebung durch die Jünger (6,12b) keine struk‐ turellen Analogien, sondern nehmen zwei Aspekte (vielleicht auch: Stadien) desselben Vorgangs in den Blick. Man müsste also paraphrasieren: „Vergib du uns diejenigen Sünden, die auch wir uns schon vergeben haben.“ Trotz der Verheißungen 16,19; 18,18 bleibt diese Entsprechung von menschlichem und göttlichem Vergeben letztlich unverfügbar und muss erbeten werden. Auch wenn Vergebung von Menschen „auf der Erde“ zugesprochen werden kann und soll, kann sie nur von Gott ins Werk gesetzt werden. Dieses Verständnis hat zur Folge, dass die genannten Texte in erster Linie von einer wechselseitigen, gemeindeinternen Sündenvergebung sprechen. In diese narrative Entwicklung fügt sich schließlich auch das Becherwort im Bericht über das letzte Mahl ein. Das finale Attribut „zur Vergebung der Sünden“ bezieht sich weder auf die Sühnewirkung des vergossenen Blutes Jesu noch auf die (etwa mit dem Genuss des Sakraments verbundene) sündentilgende Wir‐ kung der Eucharistie: "Vergebung der Sünden“ qualifiziert vielmehr die durch den gemeinsam getrunkenen Proposis-Becher konstituierte Bundesbeziehung der Jünger: Die Einzelnen werden durch das Trinken des Bechers zu einer Gemeinschaft, die dazu bestimmt und dadurch ausgezeichnet ist, dass sich ihre einzelnen Glieder gegenseitig die Sünden vergeben. Auf diese Weise werden und bleiben diejenigen, denen ihre Sünden vergeben werden, Brüder. Die durch die Proposis gestiftete Gleichheit zwischen den Jüngern bleibt selbst dann erhalten, wenn sie dadurch verletzt wird, dass „dein Bruder gegen dich sündigt“ (18,15). 4.2 Sündenvergebung als Teil des Mahlrituals Dieses Verständnis lässt sich noch weiter untermauern. Denn das, was Mt im Becherwort narrativ entfaltet, besitzt in Did 14,1 f. eine rituelle Analogie in der Anweisung für die Durchführung des Gemeindemahls: [184] An jedem Herrentag versammelt euch, brecht das Brot und sagt Dank (κλάσατε ἄρτον καὶ εὐχαριστήσατε), indem ihr dazu eure Übertretungen bekennt (προσεξομολογησάμενοι τὰ παραπτώματα ὑμῶν), damit euer untadeliges Opfer rein sei (ὅπως καθαρὰ ἄμεμπτος ἡ θυσία ὑμῶν ᾖ)! Jeder aber, der Streit (ἀμφιβολία) mit seinem Nächsten hat, soll nicht mit euch zusammenkommen, bis sie sich ausgesöhnt haben (ἕως οὗ διαλλαγῶσιν), damit euer Opfer nicht entweiht werde (ἵνα μὴ κοινωθῇ ἡ θυσία ὑμῶν)! 211 Bund und Sündenvergebung <?page no="212"?> 87 Vgl. M C G O W A N [2012]. Anders L U Z [1985], 259 f., der sich dagegen wendet, 5,23 f. als realistische Konkretisierung der ersten Antithese zu verstehen: Er denkt nicht an die Teilnahme der Jünger am Gemeinschaftsmahl, sondern „historisiert“ und bezieht die Anweisung auf eine Opferwallfahrt (etwa aus Galiläa) zum Tempel. Das wäre dann in der Tat ein Beispiel, das einigermaßen unrealistisch ist. Sehr viel näher liegt aus verschiedenen Gründen (angeredet sind die μαθηταί; es geht um die Bereinigung des gestörten Verhältnisses zum ἀδελφός), dass Mt hier tatsächlich und der kultischen Terminologie (δῶρον; προσφέρω; θυσιαστήριον) zum Trotz daran denkt, dass Christen ihre Gaben zum gemeinsamen Mahl mitbringen. Die Exhomologese ist in das Ritual integriert und hat ihren Platz im Kontext der Dankgebete. Auch wenn dies weder in den Formularen Did 9 f. noch hier er‐ wähnt wird, kann man davon ausgehen, dass sie mit einer Vergebungsbitte kom‐ biniert ist. Sofern diese Vergebung nicht glaubwürdig von Gott erbeten werden kann, weil die Streithähne ihre ἀμφιβολίαι noch nicht beseitigt haben, dürfen sie nicht am Mahl teilnehmen. Auch hier ist also eine Entsprechung impliziert zwischen der Sündenbeseitigung unter den Gemeindegliedern (διαλλάσσομαι) und der, in Verbindung mit der Exhomologese zu denkenden, Vergebungsbitte gegenüber Gott. Entscheidend ist, dass das Mahl eine streitfreie Gemeinschaft abbildet. Was hier als direkte Anweisung für die Durchführung des Rituals gefasst ist, hat wiederum ein narratives Gegenstück in der Bergpredigt: Die Jünger, die ja seit Mt 5,1 f. angeredet sind, sollen sich versöhnen (διαλλάσσομαι), bevor sie „ihre Gabe zum Altar bringen“ (5,23 f.). Da die Didache die Kenntnis des Mt voraussetzt, kann man hier sehen, wie der narrative Diskurs über die Versöhnung mit dem „Bruder“ und die Regelung der rituellen Praxis miteinander zusammenhängen. Umgekehrt macht die Regelung aus Did 14 sichtbar, welche konkrete Vorstellung Mt gehabt haben konnte, wenn er davon spricht, dass ein „Bruder“ seine „Opfergabe zum Altar“ (δῶρον … ἐπὶ τὸ θυσιαστήριον) bringt: Die „Opfer“-Terminologie sollte da nicht irritieren, denn erstens bezeichnet ja auch die Didache das Gemeinschaftsmahl als Opfer (ἡ θυσία), und zum anderen beinhaltete das Gemeinschaftsmahl ja tatsächlich Opferrituale, wie nicht nur die Libationspraxis zeigt. 87 [185] Insgesamt wird daraus deutlich, dass diese Art der wechselseitigen Sündenvergebung unter den Mahlteilnehmern gerade für Mt zum Mahl dazuge‐ hören konnte. Er spricht im Becherwort nicht von der sündentilgenden Wirkung des Todes Jesu oder gar des Sakraments, sondern von der besonderen Qualität dieser Gemeinschaft, die durch den gemeinsamen Proposis-Becher konstituiert ist: Es handelt sich um eine Sündenvergebungsgemeinschaft. 212 Bund und Sündenvergebung <?page no="213"?> 88 B E R G E R [1984], 330 f.: „Die Abendmahlsberichte Mk 14,22-25; Mt 26,26-29 sind nur dann als Kultätiologien zu bezeichnen, wenn sich erweisen läßt, dass das Abendmahl in diesen Gemeinden schon regelmäßig gefeiert wurde. Beweisen läßt sich das für Markus nicht; für Mt ist ein Hinweis der Zusatz ‚zur Vergebung der Sünden‘“. Vgl. B E R G E R [1994], 284: „Da ein Wiederholungsbefehl nicht gegeben wird, ist auch der Charakter der Berichte als ‚Kultätiologie‘ zumindest fraglich (Mk und Mt).“ Dass der Zusatz „zur Vergebung der Sünden“ diese Beweislast nicht trägt, sollte deutlich geworden sein. 89 So die Alternative bei L U Z [2002], 116 f. 5 Mahlpraxis und Mahldiskurs: Einige Ergebnisse Die grundlegende Einsicht, die sich aus der (literarischen und ritualgeschicht‐ lichen) Analyse des Becherworts im mt Bericht vom letzten Mahl ergeben hat, besteht darin, dass Jesus in seiner begründenden Deutung nicht seinen Tod erklärt, auch nicht den Wein oder den Becher deutet, sondern das gemeinsame Trinken des Bechers, also einen Teil des Rituals selbst. Daraus ergeben sich einige Schlussfolgerungen. 5.1 Zum ätiologischen Charakter der Deuteworte Zunächst erlaubt diese Einsicht eine genauere Bestimmung der narrativ-dis‐ kursiven Funktion des mt Becherworts und - darüber hinaus - der anderen Deuteworte auch in den anderen drei Fassungen des Berichts vom letzten Mahl. Dass diese Worte über dem Brot bzw. über dem Becher nicht sinnvoll als Einsetzungsworte bezeichnet werden können, ist schon deutlich geworden: „Einsetzung“ impliziert ein historisches Ursprungsdatum für die christliche Mahlpraxis im letzten Mahl Jesu, das in dem Maß unwahrscheinlicher wird, in dem sich die große Verbreitung der Mähler als gemeinantike soziale Institu‐ tionen erweist. Die Worte über Brot und Becher bzw. die Berichte vom letzten Mahl sind bei Mt (und Mk) jedoch auch keine Kultätiologien. 88 Sie begründen keine spezifische Praxis, die sich im rituellen Verlauf von der Mahlpraxis anderer [186] Gruppierungen unterschieden hätte. Dies gilt zumindest für den mk und den mt Mahlbericht, die keinen Anamnesis- und Wiederholungsbefehl enthalten. Für 1Kor 11 ist das insofern anders, als Paulus ja ganz gezielt von der (korinthischen) Mahlpraxis auf das letzte Mahl Jesu zurückblickt; darüber hinaus fordern die beiden Anamnesisbefehle (1Kor 11,24 f.) zu einer entsprechenden Praxis auf. Analoges gilt dann auch für den Anamnesisbefehl im lk Langtext (Lk 22,19): Die Rezipienten sollen ihre eigene Mahlpraxis im Licht des Berichts vom letzten Mahl Jesu verstehen. In Mt (und Mk) bleibt der Bericht dagegen auf der Ebene der Erzählung. Die „Deuteworte“ erklären das erzählte Geschehen und sind daher tatsächlich „bloß erklärende Gleichnisse“, nicht aber selbst „Zuspruch“. 89 Als Erklärung auf 213 Bund und Sündenvergebung <?page no="214"?> 90 Für die Aussagen zur Sündenvergebung ist dies insbesondere an dem (stark konfessio‐ nell) geprägten Streit erkennbar, ob die Binde- und Lösegewalt ein privilegium Petri als vicarius Christi ist (das mit der apostolischen Sukzession auch auf seine Nachfolger übergeht), oder ob es - so die protestantische Lesart - eine Gabe an die Gemeinde insgesamt sei. Die narrative Dynamik zeigt, dass für Mt selbstverständlich beides gilt (vgl. dazu L U Z [1990], 475 f.). der Ebene der Erzählung sind diese Worte nicht selbst performative Rede. Die religiöse Wirkung haftet an der (erzählten) Teilnahme am Ritual, nicht aber an den Worten, mit denen Jesus dieses erklärt und begründet oder gar an der Geschichte, die Mt darüber erzählt. Der nichtätiologische Charakter der Mahlerzählung wird auch an der Bestim‐ mung „zur Vergebung der Sünden“ deutlich, die Mt in eine längere Erzähllinie einbettet: Die thematisch zusammengehörigen Aussagen über die Sündenver‐ gebung sind nicht einfach isolierte Statements, die je für sich zum Ausdruck bringen, was Mt zum Thema Sündenvergebung zu sagen hatte. Vielmehr fügen sich diese Aussagen mit dem Fortgang seiner Erzählung zu einem sich dynamisch entwickelnden Gesamtverständnis; es reicht von der programmati‐ schen Deutung des Namens Jesu (1,21) über den Nachweis, dass „Gott den Menschen solche Vollmacht“ zur Sündenvergebung gegeben hat (9,2-8) sowie die Schilderung der Weitergabe dieser Vollmacht zunächst an Petrus (16,17-19), dann an die Zwölf (18,18), bis zuletzt deutlich wird, dass die Gemeinschaft der zum Mahl versammelten Jünger sich durch Sündenvergebung auszeichnet. Die Dynamik der narrativen Entwicklung ist für die Erzählung des Mt-Evangeliums öfter reklamiert als wirklich gezeigt worden; mit Blick auf die Aussagen zur Sündenvergebung ist sie evident. Wenn man sie übersieht, bleiben die einzelnen Aussagen isoliert nebeneinander stehen und geraten in Spannung zueinander. 90 Erst der dynamisch-narrative Charakter der Gesamterzählung erschließt ihren Sinn. [187] Diese Erzählung weist über den Zeithorizont der in ihr erzählten Ereignisse hinaus und ist auf die Gegenwart der impliziten Leser hin transparent angelegt. Das literarische Konzept des Mt-Evangeliums hat die Unterscheidung zwischen der erzählten Situation und der impliziten Situation der Rezipienten sehr genau reflektiert und beide in ein differenziertes Verhältnis zueinander gesetzt. Am leichtesten lässt sich dieses Konzept am Verhältnis der zwölf (bzw. elf) Jünger der Erzählung zu den impliziten Lesern erkennen, die durch die „zu Jüngern gemachten Völker“ repräsentiert werden: Obwohl beide Gruppen sehr genau unterschieden werden, sind sie darin gleich, dass sie als Schüler (μαθηταί) „nicht über dem Lehrer“ sind, aber alle dem „Lehrer gleich werden“ können. Die impliziten Leser sind dazu insofern in der Lage, als die Jünger der Erzählung 214 Bund und Sündenvergebung <?page no="215"?> 91 Zum narrativen Konzept, das die Jünger der Erzählung und die Jünger „zweiter Ordnung“, die erst zu μαθηταί gemacht werden sollen, auf eine Stufe stellt, vgl. K L I N G H A R D T [2008], 27-37. 92 Eine Skizze bei K L I N G H A R D T [1996], 499-522; vgl. dazu M E S S N E R [2007]. sie all das lehren sollen, "was ich euch aufgetragen habe“ (Mt 28,20). 91 Das lite‐ rarische Konzept verlangt danach, die Jesuserzählung auf die Wirklichkeit der impliziten Rezipienten zu beziehen. Dies macht aus Mt 18 zwar keine „narrative Gemeindeordnung“ und aus Mt 26 kein Protokoll eines Mahlrituals. Aber die reflektierte Differenzierung zwischen Jüngern „erster“ und „zweiter Ordnung“ gibt zu erkennen, dass die Rezipienten die Schilderung des letzten Mahls Jesu als Zusage und Mahnung für ihre eigene Mahlgemeinschaft lesen können: Auch wenn der Bericht vom letzten Mahl kein ätiologischer Einsetzungsbericht ist, ist er als Teil der Gesamterzählung auf die Situation der impliziten Rezipienten hin durchsichtig; und er ist auch auf dieses Verständnis hin angelegt. 5.2 Ritualgeschichtliche Veränderungen Eine zweite Konsequenz bezieht sich auf die Veränderungen des frühchristli‐ chen Mahls, die sich vor allem seit dem 3. Jh. vollzogen haben. Dass diese Veränderungen zunächst die rituelle Gestalt des Mahls betreffen, ist keine neue Einsicht: Bekannt, wenn auch noch nicht hinreichend genau erforscht, sind der Wechsel vom abendlichen Gelage zur morgendlichen Eucharistiefeier, die progressive Fixierung ihrer liturgischen Gestalt, die Veränderung der Gemein‐ deversammlung von einem Sättigungsmahl zu einer Kommunion nur von Brot und Wein u. a. 92 Die Untersuchung des mt Becherwortes hat sehr deutlich gezeigt, dass diese ritualgeschichtlichen Transformationen mit theologischen Verschiebungen einhergehen. Diese theologischen Veränderungen betreffen das [188] Verständnis des Mahls insgesamt und lassen sich für die Interpretation aller „Deuteworte“ der vier Mahlberichte nachweisen. An der Auslegungsge‐ schichte des mt Mahlberichts lassen sie sich besonders gut studieren, weil dieser mit der finalen Bestimmung „zur Vergebung der Sünden“ einen eindeu‐ tigen Marker enthält, der es erlaubt, die Rezeption genau dieses Textes zu verfolgen. Die wichtigsten Parameter dieser theologischen Veränderung sind die Eintragung des Todes Jesu als entscheidendes Element der Deutung und, damit verbunden, die Zurückdrängung des Bundesgedankens. Vor allem aber hat diese Verschiebung zur Folge, dass die für Mt zentralen Teile des Rituals (Mahleröffnung und Proposis) durch die Mahlelemente Brot und Wein als Haftpunkte der Deutung ersetzt werden. Die Transformation der rituellen Gestalt des Mahls steht außer Frage und ist unbestritten. Schwierig ist dagegen die Realisierung der damit korrespondie‐ 215 Bund und Sündenvergebung <?page no="216"?> renden theologischen Veränderungen. Denn die Rezeption der immer selben neutestamentlichen Texte im Zusammenhang des Mahls scheint auch ein identisches Verständnis zu suggerieren. Dass dies ein Trugschluss ist, sollte deutlich geworden sein: Wenn es das Mahlritual nicht mehr in der Form des Sättigungsmahls (mit seinen Bestandteilen der Mahleröffnung, der Libation und/ oder der Proposis) gibt, dann muss sich notwendigerweise auch das Ver‐ ständnis der Deutungen verändern, die sich auf diese rituellen Akte beziehen. Die wesentliche Erkenntnis aus der Untersuchung der ritualgeschichtlichen Transformation seit dem 3. Jh. liegt daher in der Eröffnung einer neuen Perspektive auf die neutestamentlichen Texte und ihren semantischen Gehalt im Horizont normaler Mahlpraxis. Für das mt Becherwort hat diese Perspektive den Blick auf die Proposis und ihren ritualgeschichtlichen Hintergrund freigegeben, der zunächst die möglichen Rezeptionserwartungen erkennbar werden lässt: Normal und üb‐ lich wäre es gewesen, wenn im Zusammenhang der sympotischen Proposeis differenzierende Ehrungen ihren Platz gehabt hätten. An ihre Stelle tritt das Trinken aus dem einen Becher, das, gemessen an der Zahl und dem sachlichen Gewicht der Zeugnisse, wohl auch für die ersten Leser überraschend und erklärungsbedürftig war. Die sympotische Gleichheit, an der die mt Schilderung interessiert ist, ist weit mehr als das Fehlen der erwartbaren Differenzierungen der Sozialbezüge. Die Gleichheit wird vielmehr in einem einzigen rituellen Akt durch das gemeinsame Zutrinken aktiv hergestellt: Die Jünger erkennen sich wechselseitig die gleichen Ehren zu und etablieren sich auf diese Weise als Gemeinschaft von Gleichen. Der Ertrag der ritualgeschichtlichen Analyse besteht daher zunächst darin, die zentrale Bedeutung der Gleichheitsthematik und ihre spezifisch [189] rituelle Ausformung überhaupt wahrzunehmen. Was im Verständnis des Mt dieses Mahl (und dann eben auch die späteren, christli‐ chen Mähler, auf die hin es durchsichtig ist) in besonderer Weise auszeichnet, ist die Beseitigung von Unterschieden zwischen den Mahlteilnehmern. Diese Unterschiede, die in ungezählten Analogien außerhalb des NT als Rangunter‐ schiede und Statusdifferenzen erscheinen, sind hier religiös gefasst: Die Störung der sympotischen Gemeinschaft durch (unvergebene) Sünden. Für deren Be‐ seitigung ist hier nicht - noch nicht, wie die spätere Rezeptionsgeschichte zeigt - der Tod Jesu entscheidend, sondern die wechselseitige Vergebung durch die Mahlteilnehmer. Dass der Tod Jesu (oder auch andere Aspekte der Christologie) hier bestenfalls am Rand von Interesse ist (sind), ist eine der wichtigen Konsequenzen der Ritualanalyse für die Exegese. 216 Bund und Sündenvergebung <?page no="217"?> 5.3 Gemeinschaftsbecher und Sündenvergebung: Gemeinsinn Das mt Becherwort erklärt im Zusammenhang mit den anderen Aussagen zur Sündenvergebung, dass diejenigen, die den gemeinsamen Proposis- Becher trinken, zu einer besonderen Bundesbruderschaft werden. Sie ist dadurch ausgezeichnet, dass sich die „Brüder“ ihre Sünden gegenseitig vergeben. Weil Sündenvergebung ein Privileg Gottes und letztlich nur durch ihn möglich ist, funktionieren die sozialen Normen dieser Gemeinschaft nach himmlischen Spielregeln. Umgekehrt ist dieser Gemeinschaft verheißen, dass ihre sozialen Entscheidungen auch im Himmel Bestand haben werden. Sie ist daher eine „himmlische“ Gemeinschaft „auf der Erde“, in der weder der Verstoß gegen den Bruder noch eigensinniges Beharren auf dem eigenen Recht einen Platz haben: Sünden gegen den Bruder müssen bekannt werden, bevor man zum Mahl zusammenkommt; Sünden werden dann auch vergeben werden; und diese Sündenvergebung wird von Gott bekräftigt werden. Gerade angesichts der großen Bedeutung, die Mt der innergemeindlichen Disziplin zumisst (Mt 18), muss man dieses Gemeinschaftsideal als Utopie bezeichnen. Denn es reicht nicht aus, dem Bruder siebenmal zu vergeben: Es muss schon siebzigmal siebenmal sein (18,22). Dabei ist deutlich, dass sich dieses Verhalten strikt nach innen richtet: Es geht nicht um alle Sünden, die bekannt oder die vergeben werden müssen, sondern nur um das Verhältnis „unter Brüdern“. Das ist schwer genug, denn unbegrenzte Vergebungsbereitschaft läuft letztlich auf Rechtsverzicht hinaus. Der Gemeinsinn des gruppeninternen Rechtsverzichts wirkt dann auch auf die Selbstwahrnehmung der Individuen zurück; sie äußert sich in einer extrem selbstkritischen Haltung, wenn man sich denn zuerst [190] den Balken aus dem eigenen Auge ziehen muss, bevor man den Splitter im Auge des Bruders zur Kenntnis nehmen darf (7,3-5). In der Vorstellung des Mt ist die Forderung wechselseitiger Vergebungsbereitschaft die entscheidende Ressource für die Existenz der Jüngergemeinschaft. Sie bestimmt zum einen das von allen geteilte Konzept der idealen Gemeinschaft und bringt zum anderen zum Ausdruck, was der Einzelne für diese Gemeinschaft zu leisten bereit sein muss: Die Bereitschaft zur wechselseitigen Vergebung bestimmt die religiöse Identität nicht nur des Kollektivs, sondern auch der Individuen. Dieses Konzept des innergemeindlichen Rechtsverzichts ist nicht auf das Gemeinschaftsmahl beschränkt, kulminiert dort aber in besonderer Weise. Denn hier kommt der dynamische Prozess der Verlagerung der Vergebungs‐ vollmacht von Gott zu den Menschen an sein Ziel, weil alle, die an diesem Gemeinschaftsbecher teilhaben, diesen Vergebungsbund konstituieren und, so darf man hinzufügen, ihn im rituellen Nachvollzug je und je neu aktivieren. Die Transzendierung der eigenen sozialen Normen, ihre Geltung „wie auf Erden, so 217 Bund und Sündenvergebung <?page no="218"?> im Himmel“, beruht auf der Zusage Jesu (16,19; 18,18). Wie die Vergebungsbitte des Vaterunser zeigt, ist diese Entsprechung kein Automatismus und bleibt letztlich unverfügbar. Aber im Mahl wird die utopische Gemeinschaft von voll‐ kommen Gleichen realisiert. Mit dem gemeinsamen Proposis-Becher erkennen sich die Teilnehmer gegenseitig denselben ehrenvollen Status zu: als solche, die Sünden vergeben und die darin ihre Sünden vergeben bekommen. Literatur Allison, D. C. [1993]: The New Moses: A Matthean Typology, Minneapolis. Al-Suadi, S. 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Mit demselben Bezug auf τῷ αἵματι übersetzen auch: Elberfelder (1905; Rev. 1993); Zürcher (1931; 2007); Menge (1940); Schlachter (1951; 2000); Wilckens (1970); Einheitsübersetzung (1980); Münchener Neues Testament (1988); Bibel in gerechter Sprache (2006); Neue Genfer (2009). Der vergossene Becher Ritual und Gemeinschaft im lukanischen Mahlbericht 1 Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Der vergossene Becher. Ritual und Gemeinschaft im lukanischen Mahlbericht, in: EC 3 (2012), 33-58. In the word over the cup according to Luke’s account of the Last Supper (Luke 22: 20), the syntactically correct translation implies that the cup, not the blood, is poured out, thus indicating a libation. The paper explores the ritual form and functions of sympotic libations and, by this means, establishes a coherent understanding of the cup and its interpretation as the New Covenant. As a consequence, the so-called Eucharistic words refer to the main parts of the ritual rather than to the foodstuffs. This understanding first begins to change from the 3 rd century onward when the ritual form of the Eucharist as a real meal was gradually replaced by token meals. I. Eine Fehlübersetzung und ihre Gründe Im Langtext des lukanischen Mahlberichts lautet das Wort Jesu über dem (zweiten) Becher: Τοῦτο τὸ ποτήριον ἡ καινὴ διαθήκη ἐν τῷ αἵματί μου τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον (Lk 22,20b). Die gängigen deutschen Übersetzungen beziehen die Apposition τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον durchweg auf die unmit‐ telbar davor stehende Nominalwendung ἐν τῷ αἵματί μου und übersetzen: „Dieser Becher ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen ist.“ 2 Dieser Bezug der Apposition ist jedoch syntaktisch nicht korrekt: Würde sich die Apposition auf τῷ αἵματι beziehen, wäre die Kongruenz mit dem Bezugswort in Numerus, Genus und [34] Kasus erforderlich. In diesem Fall müsste die <?page no="222"?> 3 Dieser syntaktisch korrekte Bezug findet sich in einer Reihe neuerer englischer Übersetzungen: „This cup that/ which is poured out for you is the new covenant in my blood“, z. B. in: Revised Standard Version (1952); New American Standard Bible (1977); New Revised Standard Version (1989); English Standard Version (2001); New English Translation Bible (2004). So auch, als meines Wissens einzige deutsche Übersetzung, Berger/ Nord (1999): „Dieser Becher ist der neue Bund, gestiftet durch mein Blut; er wird für euch ausgeschenkt.“ 4 Vgl. B. Weiss, Die Evangelien des Markus und Lukas (KEK I/ 2), Göttingen 7 1885, 601 mit den älteren Vertretern, die einen Bezug der Apposition auf τὸ ποτήριον vertraten. 5 Nach BDR § 136 sind entsprechende Inkongruenzen innerhalb des NT nur in Apg bezeugt, wo sie - z. B. bei der Abweichung des Kasus - als „skizzenhafter Stil“ gewertet werden. 6 Vgl. dazu E. Mayser, Grammatik der griechischen Papyrusurkunden aus der Ptolemä‐ erzeit, Band I/ 1-II/ 3, bearb. von H. Schmoll, Berlin/ Leipzig 21970: II/ 1, 342 (Beispiele für die Apposition im Nominativ anstelle des obliquen Kasus); II/ 3, 22 und 35 (Beispiele für die Apposition im Maskulinum anstelle eines obliquen Femininum oder Neutrum). 7 Der wird in aller Regel an der kunstvollen Periode Lk 1,1-4 (vgl. BDR § 464) bzw. an der Fähigkeit zur Imitation des Septuagintastils festgemacht (vgl. J.A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke, Band 1: I-IX [AncB 28], Garden City [NY] 1981, 114 ff.). 8 Vgl. BDR § 1373. Hoffmann/ von Siebenthal § 261 ff. Apposition wie das Bezugswort im Dativ stehen und folglich τῷ … ἐκχυννομένῳ lauten. Der Nominativ der Apposition τὸ … ἐκχυννόμενον kann sich daher syntaktisch nur auf τὸ ποτήριον beziehen, so dass die korrekte Übersetzung lauten muss: „Dieser Becher, der für euch vergossen ist, ist der Neue Bund in meinem Blut“ oder genauer: „Dieser für euch vergossene Becher ist der Neue Bund in meinem Blut.“ 3 Dieses Übersetzungsproblem ist nicht neu. Vor allem die ältere Exegese hat einen Bezug der Apposition auf τὸ ποτήριον diskutiert bzw. vertreten. 4 Dass diese Frage kaum ins allgemeine exegetische Bewusstsein vorgedrungen ist, dürfte vor allem inhaltliche Gründe haben, denn der grammatikalische Befund ist recht eindeutig: Die Kongruenz zwischen Apposition und Bezugswort ist die Regel. Zwar kommen gelegentlich Inkongruenzen vor, 5 aber die sind Ausdruck der nichtliterarischen Sprache und daher vor allem in den alltagssprachlichen Papyri belegt. 6 Dem literarisch gebildeten Stil des Lk 7 mag man solche barbari‐ schen Solözismen nicht zutrauen, und es überrascht denn auch nicht, dass die Grammatiken zum neutestamentlichen Griechisch Lk 22,20b gerade nicht zu den Ausnahmen von der Regel der Kongruenz rechnen. 8 Neben der als Regel zu erwartenden Kongruenz zwischen Apposition und Bezugswort sprechen noch zwei weitere Beobachtungen für den Bezug von τὸ ἐκχυννόμενον auf τὸ ποτήριον anstatt auf τῷ αἵματι. Zunächst ist die Stellung der Apposition, die vom Bezugswort durch ἐν τῷ [35] αἵματί μου getrennt 222 Der vergossene Becher <?page no="223"?> 9 E. Schwyzer, Griechische Grammatik, Band II (HAW 2. Abt., I/ 2), München 1950, 615. 10 K. Goetz, Das vorausweisende Demonstrativum in Lc 22,19.20 und ICor 11,24, in: ZNW 38 (1939), 188-190. Reichhaltige Belege für dieses Phänomen bei R. Kühner/ B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Band II/ 1, Hannover/ Leipzig 3 1898 (Nachdruck 1966), 658 f. 11 Dies zeigt ein knapper Überblick über die Lk-Kommentare (die hier ohne Bemühen um Vollständigkeit durchgesehen wurden); das Problem wird nicht kommentiert in: F. Rienecker, Das Evangelium des Lukas (WSB), Wuppertal 2 1966; W. Grundmann, Das Evangelium nach Lukas (ThHK 3), Berlin 8 1978; W. Schmithals, Das Evangelium nach Lukas (ZBK.NT 3/ 1), Zürich 1980; G. Schneider, Das Evangelium nach Lukas, Band 2: Kapitel 11-24 (ÖTK 3/ 2), Gütersloh 2 1984; W. Eckey, Das Lukasevangelium. Unter Berücksichtigung seiner Parallelen, Band 2: 11,1-24,53, Neukirchen-Vluyn 2004. Vgl. auch M. Theobald, Paschamahl und Eucharistiefeier. Zur heilsgeschichtlichen Relevanz der Abendmahlsszenerie bei Lukas (Lk 22,14-38), in: ders. (Hg.), „Für alle Zeiten zur Erinnerung“ ( Jos 4,7). Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur (SBS 209), Stuttgart 2006, 133-180, bes. 139 f.172-177. - J.A. Fitzmyer, The Gospel According to Luke, Band 2: X-XXIV (AncB 28A), Garden City (NY) 1985, 1403 erwähnt das Problem, diskutiert es aber nicht und interpretiert das Vergießen des Blutes. ist, alles andere als ungewöhnlich. Gerade partizipiale Wendungen (wie τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον) bilden eine „leicht zu verselbständigende syntakti‐ sche Gruppe“, und solche Gruppenappositionen sind häufig als Hyperbaton angefügt: Sie stehen von ihrem Bezugswort „durch nicht lediglich formale Wörter getrennt.“ 9 Sodann ist der Bezug von Partizipien auf ein vorausweisendes Demonstrativum - in diesem Fall τοῦτο (τὸ ποτήριον) - überaus häufig. 10 Die Wendung τοῦτο τὸ ποτήριον … τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον ist also nicht nur nicht ungewöhnlich, sondern genau das, was die Regeln der griechischen Syntax erwarten lassen. Selbstverständlich ist es grundsätzlich denkbar, dass Lk sich „verschrieben“ und irrtümlich einen Solözismus produziert hat, auch wenn alle Wahrschein‐ lichkeit dagegen spricht. Aber jedes methodisch kontrollierte Verständnis von Texten, um das sich Exegese bemüht, muss Regelhaftigkeit voraussetzen, weil sich Kontingentes nicht rekonstruieren lässt. In diesem Fall heißt das: Da vergleichbare Solözismen nicht als strukturelles Merkmal der Sprache des Lk erweisbar sind (wie es etwa in Apg der Fall ist), bleibt diese Inkongruenz kon‐ tingent. Jeder Griechischlehrer würde daher seinen Schülern eine Übersetzung, die τὸ … ἐκχυννόμενον auf τῷ αἵματι anstatt auf τοῦτο τὸ ποτήριον bezieht, völlig zu Recht als Fehler anstreichen. Mit Blick auf diesen syntaktischen Befund ist es einigermaßen erstaunlich, dass dieses Problem häufig gar nicht zur Kenntnis genommen wird. 11 Noch erstaunlicher ist allerdings, dass diejenigen Ausleger, die diese Inkongruenz 223 Der vergossene Becher <?page no="224"?> 12 Z. B. E. Schweizer, Das Evangelium nach Lukas (NTD 3), Göttingen 1982; W. Wiefel, Das Evangelium nach Lukas (ThHK 3), Berlin 1988, 366: „(schließt) hart an“; J. Nolland, Luke 18: 35-24,53 (WBC 35C), Waco (TX) 1993; H. Klein, Das Lukasevangelium (KEK I/ 3), Göttingen 2006; M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008; F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, Band 4: 19,28-24,53 (EKK III/ 4), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 2009, 247. 13 Wolter, Lk (s. Anm. 12), 707: „ἐν τῷ αἵματί μου, τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον ist gram‐ matisch inkongruent (wenn man es genau nimmt, müsste es nicht τὸ … ἐκχυννόμενον, sondern τῷ ἐκχυννομένῳ heißen).“ Nolland, Luke (s. Anm. 12), 1054, deutet die Inkon‐ gruenz als „the ungrammatical product of the meeting of liturgical innovation with liturgical conservatism and delight in tight formal parallelism“ (sc. zur Formulierung in 22,19). 14 Klein, Lk (s. Anm. 12), 666 Anm. 29 (zu V. 20b): „Grammatikalisch unkorrekt, denn τὸ (Nominativ) schließt schlecht an τῷ αἵματι (Dativ) an, eher schon (sic) an τὸ ποτήριον.“ Verschiedentlich wurde diese Inkongruenz als Hinweis auf nicht-lk Ursprung von 22,19b.20 verstanden, vgl. K. Petzer, Style and Text in the Lucan Narrative of the Lord’s Supper (Luke 22.19b-20), in: NTS 37 (1991), 113-129, hier 120 mit Anm. 23. 15 Bovon, Lk (s. Anm. 12), 247, hält die Inkongruenz für „schwerfällig“ bzw. für „unge‐ schickt“ und erklärt: „Der Schriftsteller Roland Barthes hat einmal gesagt, die Übertre‐ tung beginne in der Grammatik. Sagen wir einmal: Die christliche Innovation beginnt mit der Umstellung der grammatikalischen Ordnung.“ Eine solche Hermeneutik würde jeder historisch-philologischen Auslegung den Boden entziehen und die biblischen Texte ihres kritischen Potentials berauben. 16 Vgl. etwa knapp O. Hofius, „Für euch gegeben zur Vergebung der Sünden“. Vom Sinn des Heiligen Abendmahls, in: ZThK 95 (1998), 313-337, hier 325. [36] notieren, 12 sie nicht als Anfrage an ihre Übersetzung und Interpretation verstehen, sondern als Fehler des Textes: Der inkongruente Bezug von τὸ … ἐκχυννόμενον auf τῷ αἵματι scheint so fraglos festzustehen, dass der Text an dieser Stelle entweder „ungenau“ 13 oder „unkorrekt“ 14 sein muss, wenn nicht sogar die falsche Grammatik als Ausdruck der „christlichen Innovation“ gewertet wird. 15 Über die Gründe für dieses Verständnis gegen den bezeugten Text lässt sich nur spekulieren: Sie werden in keinem der genannten Beispiele angegeben. Doch wird man nicht fehlgehen mit der Annahme, dass die inhalt‐ lichen Konsequenzen dafür verantwortlich sind, die in der Tat gewichtiger kaum sein können. Denn nach dem verbreiteten Verständnis, das τὸ … ἐκχυννόμενον auf τῷ αἵματι bezieht, würde der Neue Bund unmittelbar durch das Vergießen des Blutes Jesu, also durch seinen gewaltsamen Tod, in Kraft gesetzt. In diesem Fall besteht die wesentliche Aufgabe der Interpretation in der genauen Klärung der metaphorischen Beziehung zwischen dem vergossenen Blut, dem Neuen Bund und dem gedeuteten Becher. Die kirchliche Tradition hat dieses Problem weithin durch eine Becher-Inhalt-Metonymie 16 gelöst und das (vergossene) Blut Jesu auf den (im Becher enthaltenen) Wein bezogen: Gedeutet werde also das Getränk, dessen spezifische [37] Farbe und Konsistenz (rote Flüssigkeit) dann auch für das 224 Der vergossene Becher <?page no="225"?> 17 Ich lasse dabei die Frage unberücksichtigt, wie sich der „Langtext“, der den zweiten Becher mit dem fraglichen Becherwort erwähnt, zum „Kurztext“ der „Westlichen“ Handschriften (D it sy) verhält, in dem 22,19b.20 entweder ganz fehlen (D it) oder durch deutlich erkennbare Korrekturen (sy) unter Einfluss des „Langtexts“ auf unterschied‐ liche Weise nachgetragen sind: Unabhängig von der Frage nach der „Ursprünglichkeit“, die die Diskussion dieser Stelle nachhaltig geprägt hat, muss es für die vorliegende Formulierung des Becherwortes eine plausible Erklärung geben. 18 Gegen Klein, Lk (s. Anm. 12), 666 Anm. 29 (zu Lk 22,20b), der knapp dekretiert: „Aber der Becher kann nicht vergossen werden.“ Verständnis des Deuteworts konstitutiv sei. Indem der theologische Gehalt des Deuteworts solcherart auf das „Mahlelement Wein“ konzentriert wird, werden auch die langfristigen Konsequenzen für die Mahltheologie in der späteren Re‐ zeptionsgeschichte verständlich, die vor allem durch die konfessionell besetzten Schlagworte „Transsubstantiation“ und „Realpräsenz“ gekennzeichnet sind. Angesichts dieser hier nur skizzierten Deutung, deren Konturen seit dem 3. Jh. sichtbar zu werden beginnen, ist die Bevorzugung der syntaktischen In‐ kongruenz nachvollziehbar: Dass der Text das eigentlich Gemeinte ungeschickt oder gar falsch zur Sprache bringt, scheint näher zu liegen, als die Möglichkeit zu konzedieren, dass er in der Tat genau das gemeint haben könnte, was er sagt, selbst wenn dies etwas anderes wäre als das durch die Tradition Vertraute. Die folgenden Überlegungen versuchen, das „Gemeinte“ vom „Gesagten“ her zu erschließen und so das eigene Recht und Profil dieses Textes 17 gegenüber den (Um-)Deutungen der Tradition zu wahren. Ausgangspunkt ist daher die Frage, ob die Annahme der syntaktischen Kongruenz zwischen Apposition und Bezugswort nicht einen plausiblen Sinn ergibt. Dies soll anhand einer Ritualanalyse antiker Mähler geleistet werden (II.), bevor abschließend die Konsequenzen für das Verständnis von Lk 22,20 und darüber hinaus gezogen werden (III.). II. Das Vergießen des Bechers: Ritual und Ritualanalyse Unter der aus methodischen Gründen gebotenen Annahme, dass Apposition und Bezugswort kongruent sind, besagt Lk 22,20, dass nach dem Mahl der Becher ausgegossen wurde. Dabei stellt der Anamnesisbefehl 22,19b sicher, dass dieser Bericht vom letzten Mahl Jesu die rituelle Praxis der Rezipienten reflektiert und stützt. Das Vergießen des Bechers muss also für die Rezipienten nicht nur im Blick auf die erzählte Handlung einen Sinn ergeben, sondern auch im Horizont ihrer eigenen Mahlpraxis [38] plausibel sein. Dass während eines gemeinsamen Mahles ein Becher „vergossen“ wurde, ist in ritualgeschichtlicher Hinsicht durchaus normal und erwartbar. 18 Die Wendung τὸ ποτήριον … τὸ … 225 Der vergossene Becher <?page no="226"?> 19 M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen 1996, 21-174; vgl. auch zusammen‐ fassend M. Klinghardt/ T. Staubli, Art. Essen, gemeinsames, in: F. Crüsemann u. a. (Hg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 116-123; dies., Art. Essens‐ gewohnheiten, ebd. 123-135. Die grundlegende These ist inzwischen verschiedentlich aufgegriffen worden, vgl. D.E. Smith, From Symposium to Eucharist. The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003, passim; H. Taussig, In the Beginning Was the Meal. Social Experimentation and Early Christian Identity, Minneapolis 2009, bes. 21-54. 20 Die übliche Bezeichnung ist σπονδή bzw. libatio, aber auch andere Bezeichnungen sind bezeugt, vor allem λοιβή (von λείβω = tröpfeln) und χοή (von χέω = gießen). Zur Terminologie vgl. J. von Fritze, De libationibus veterum Graecorum, Diss. phil. Berlin 1893, 4 f.; J. Casabona, Recherches sur le vocabulaire des sacrifices en grec des origines à la fin de l’époque classique, Aix-en-Provence 1966, 231-297. Zur Libationspraxis vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 101 ff. 21 Vgl. K. Kircher, Die sakrale Bedeutung des Weines im Altertum (RGVV IX/ 2), Gießen 1910 (Nachdruck Berlin 1970), 13 ff. Erst für die Zeit des frühen Prinzipats ist das Trinken schon während der cena bezeugt. Aber noch zur Zeit Neros charakterisiert Petronius Trimalchios Indezenz dadurch, dass bei seiner cena gegen alle Etikette schon während des Essens kräftig getrunken wird (Sat. 34; 60). 22 Vgl. dazu die kurzen Notizen in den literarischen Darstellungen der Philosophensym‐ posien: Plat., Symp. 176a; Xen., Symp. 2,1; Plut., Sept. Sap. Conv. 5 (150d). Auch andere, weniger bekannte Beispiele der antiken Symposienliteratur (z. B. Plutarchs „Gastmahlsfragen“, Methodius’ Symposion oder auch die spätantike Coena Cypriani) konzentrieren sich auf das Geschehen während der comissatio und vernachlässigen Mahl und Libationszeremonie fast völlig. ἐκχυννόμενον wird daher bei den ersten Rezipienten keine Verwunderung geweckt haben: Die Libation beim Mahl war ein fester Bestandteil der Alltags‐ kultur und gehörte selbstverständlich zur antiken Mahlpraxis. Deren Kenntnis gibt den unverzichtbaren Horizont für das Verständnis des Becherwortes ab. 19 Die Libation 20 hatte ihren unverzichtbaren Platz in allen griechisch-römi‐ schen Mählern, die bei geringfügigen Unterschieden im Einzelnen einem festen, so gut wie nie variierten Schema folgten. Sie bildete den Abschluss des eigent‐ lichen Mahls (δεῖπνον; cena), während dessen üblicherweise nicht getrunken wurde, 21 und leitete zu dem abschließenden Symposion (πότος; comissatio, convivium) über. Dass Jesus das Ausgießen des Bechers „nach dem Mahl“ deutet, passt also exakt in den Rahmen des kulturell Erwartbaren. Die Erhebung der ritualgeschichtlichen Daten zur Libationspraxis in Gemeinschaftsmählern ist dadurch erschwert, dass diese wie das eigentliche Mahl auch - in den literarischen Symposiendarstellungen in der Regel nicht geschildert, sondern häufig nur einfach erwähnt wird: Die Kargheit der Äußerungen setzt die Selbst‐ verständlichkeit des [39] kulturell Nichthinterfragten voraus. 22 Gleichwohl 226 Der vergossene Becher <?page no="227"?> 23 Die Bemerkungen in Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 101 ff., sind hier zu präzisieren und teilweise zu korrigieren. 24 Die enge Zusammengehörigkeit von Mahl und nachfolgender Libation zeigt sich auch daran, dass man, wenn man nur zum Mahl und nicht zum Symposion bleiben wollte, die Mahlgesellschaft erst nach den Spenden verließ, wie es beispielsweise Plutarch von Perikles bei dem Festmahl anlässlich der Hochzeit seines Vetters berichtet (Plut., Pericl. 7). Vgl. auch Eurip., Ion. 1032 f. 25 Vgl. dazu etwa die Schilderungen des Übergangs von Mahl zu Symposion bei Plat., Lacon. fr. 71 PCG VII 462 f. = Athen. XV, 665b-d; Philyllios, fr. 3 PCG VII 376 = Athen. IX, 408 g. Als Beginn des Symposions wird die Libation verstanden bei Schol. Arist. Vesp. 85; Pollux, Onom. VI 100 u. a. Zum Problem vgl. Kircher, Bedeutung (s. Anm. 21), 14 f. mit Anm. 5. 26 Zum Vergießen in das Feuer vgl. etwa Hom., Od. 3,431 (ἐν πυρὶ βάλλον). Für römische Verhältnisse sind die Angaben zur Weinspende für Iuppiter Dapalis (den „Schmaus“- Iuppiter) in Cato, Agr. 132 wichtig: „Wasche die Hände, dann nimm den Wein (und sprich): ‚Schmaus-Iuppiter, sei geehrt durch diesen Schmaus, der dir darzubringen ist, sei geehrt durch den auf die Erde gegossenen Wein (vino inferio).‘“ Der folgende Zusatz „Vestae, si voles, dato“ gibt nicht zu erkennen, ob hier eine zweite Spende an die göttliche Hüterin des häuslichen Herdfeuers empfohlen wird, oder ob die Iuppiterspende anstatt auf den Boden auch in das Herdfeuer (ἑστία/ vesta) gegossen werden kann. S. auch Servius, Ad Aen. I 730. 27 In dem erwähnten Komödienfragment des Platon (Lacon., fr. 71 PCG VII 462 f. = Athen. XV, 665b-d) unterhalten sich zwei Sklaven über die Aufgaben am Ende des Mahls: Neben der Aufhebung der (Speise-)Tische, Bereitstellung des Kottabos für die sympotische Unterhaltung, Verteilung von Parfum und Kränzen für die Symposiasten lassen sich die zahlreichen Einzelhinweise zu einem konsistenten Gesamtbild zusammensetzen. 23 1. Die sympotische Libation hatte ihren idealtypischen Platz in einer rituell (mehr oder weniger deutlich) herausgehobenen eigenen Zeremonie nach dem Mahl und vor dem Beginn des Symposions. Auf diese Weise markiert sie die grundsätzliche Zusammengehörigkeit und Unterscheidung von Mahl und Sym‐ posion: Einerseits bildet sie den Abschluss des eigentlichen Mahls, 24 andererseits bezeichnet sie, nachdem die Tafel abgetragen und der Wein hereingebracht war, den Beginn des Symposions. 25 Die Semantik der technischen Bezeichnungen für die Libation (σπονδή; λοιβή/ libatio; χοή) deutet auf die Form, in der sie vollzogen wurde: Der Wein wurde vor der Mischung mit Wasser vergossen, entweder auf den Boden oder in das (Herd-)Feuer. Auch diese Form des Vollzugs wird in der Regel stillschweigend vorausgesetzt und nur selten genauer erläutert. 26 Der Vollzug der Libation als Ausgießen der Trankspende ist unmittelbar einsichtig, wenn Sklaven die Libation (stellvertretend [40] für die Symposiasten) vollziehen oder wenn für die Libation kein Trink-, sondern ein Opfergefäß verwendet wird, also etwa die patera.  27 227 Der vergossene Becher <?page no="228"?> gehört dazu auch die Darbringung der Libation (σπονδὰς παραχέω). Bei der cena des Trimalchio vollzieht ein Sklave die Libation mit der patera (Petronius, Satyr. 60,8). 28 Vgl. dazu M. Klinghardt, Prayer Formularies for Public Recitation: Their Use and Function in Ancient Religion, in: Numen 46 (1999), 1-52, bes. 20-24. Vgl. dazu auch die erklärende Beschreibung bei Plut., Quaest. Conv. I,5 (615a/ b). 29 Vgl. Hom., Il. 1,471; Xen., Symp. 2,1 (hier mit der formelhaften Wendung „ἔσπεισαν καὶ ἐπαιάνισαν“; s. auch Xen., Anab. VI,1,5 f.; Kyroup. IV,1,6); Plut., Quaest. Conv. I,1 (615b); VII,8 (713a); IX,14 (743c); Athen. IV,149c: μετὰ δὲ τὸ δεῖπνον σπονδὰς ἐποιοῦντο; VI,250b: μετὰ τὸ δεῖπνον ἐκεῖνοι … παιάνων … ᾖδον u.ö. 30 Die Zeugnisse aus Vereinen sind wichtig, weil diese eine enge sozialgeschichtliche Analogie zu frühchristlichen Gemeinden darstellen. Vgl. etwa: Zeus-Hypsistos-Verein (P. Lond. VII 2193, Z. 9: ἐν ἀνδρῶνι κοινῶι σπένδοντες εὐχέσθωισαν etc.); Dionysische Techniten aus Eleusis (IG II 2 1338: σπονδὰς καὶ παιᾶνας ἐπιτλεĩ [! ]); Athenische Techniten in Delphi (FD III/ 2, 47, Z. 9); Delphischer Technitenverein (FD III/ 2, 48, Z. 21 ff.) u.v.ö. 31 Zur Flötenbegleitung des Paean s. z. B. Plat., Symp. 176e; Plut., Quaest. Conv. VII,8 (713a); Sept. Sap. Conv. 5 (150d); Properz, Eleg. IV,6,8 (tibia Mygdoniis libet eburna cadis). Die für die Kultpraxis unverzichtbare Funktion der Flötenmusik erläutert z. B. Plin., Nat. XXVIII,3,11; vgl. zum Problem Klinghardt, Prayer Formularies (s. Anm. 28), 16 f. 32 1 Kor 10,16: τὸ ποτήριον τῆς εὐλογίας ὃ εὐλογοῦμεν. Vgl. auch das Gebet „μετὰ δὲ τὸ ἐμπλησθῆναι“ Did 10,2-6 (zu den Mahlgebeten und der vorausgesetzten Eucharistie in der Did vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl [s. Anm. 19], 375-492) usw. 33 προπίνειν/ πρόποσις als Ausdruck der Freundschaft: Lukian, Sat. 18; als Ehrung/ Toast: Athen. V,193a; X,432c-e; Kritias, fr. 6 D.; Xen., Anab. VII,3,26; Demosth., XIX,128; Plut., Alex. 39,2 (ἐγὼ δέ σοι μεστὸν ἀκράτου προπίομαι); Plut., Arist. 21,5 u.v.ö. In den griechischen Zeugnissen ist die Libation häufig mit dem Gesang des Paeans verbunden, einem Gebet, das von allen Mahlteilnehmern gemeinsam unisono rezitiert wird. 28 Diese Zusammengehörigkeit ist so allgemein und selbstverständlich, dass sie nur gelegentlich erwähnt wird, und zwar sowohl in literarischen Mahlschilderungen 29 als auch in epigraphischen Zeugnissen über Vereinsmähler. 30 Diese Verbindung der Libation mit Gebet/ Gesang aller Sym‐ posiasten unterstreicht den pointiert religiösen Charakter dieser Zeremonie, der auch darin zum Ausdruck kommt, dass der Paean zur Flötenbegleitung vor‐ getragen wurde. 31 Diese Libationszeremonie nach dem Mahl unter Einschluss des gemeinsamen Gebets stellt die wichtigste ritualgeschichtliche Analogie zu den christlichen Zeugnissen über das eucharistische Gebet nach dem Mahl dar: Wenn Paulus vom „Becher des Segens, den wir segnen“, spricht, dann hat er genau diese Verbindung von Libationsbecher und Eulogie vor Augen. 32 [41] 2. Von der sympotischen Libation zu unterscheiden ist die Proposis. Damit ist ein Vortrunk oder Vorab-Becher (πρόπομα) bezeichnet, der vor der Mischung der einzelnen Kratere getrunken wurde. 33 Das Nebeneinander von Libation und Proposis hat vor allem in der älteren Literatur gelegentlich zu Unklarheiten 228 Der vergossene Becher <?page no="229"?> 34 Vgl. Kircher, Bedeutung (s. Anm. 21), 34-38.59-69 (mit der älteren Lit.). Ich selbst hatte den Unterschied von Libation und Proposis durch die terminologische Unterscheidung zwischen einer Mahlabschluss- und einer Gelagelibation deutlich zu machen versucht (Gemeinschaftsmahl [s. Anm. 19], 105 f.); das ist insofern wenig glücklich und hier zu korrigieren, als die Proposis nicht vergossen wird und im strengen Sinn keine Libation darstellt. 35 Zu den Mischungsverhältnissen vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 114 f. Die Erklärung, dass man in Griechenland „für das normale Trank-O(pfer) … gemischten Wein“ nahm ( J.N. Bremmer, Art. Opfer III, DNP 8 [2000], 1244), ist nicht zutreffend. 36 Vgl. etwa Theophrast (bei Athen. XV,693c/ d): „Den ungemischten Wein, der nach dem Mahl gereicht wird, den man den Glück-auf-Vortrunk nennt (Ἀγαθοῦ Δαίμονος), nimmt man nur in kleinen Portionen zu sich, wie um sich durch das Kosten an seine Kraft und die Gabe des Gottes zu erinnern. Man schenkt ihn aus nach der Sättigung (μετὰ πλήρωσιν), damit das Quantum sehr gering sein kann …“ Hesych., s.v. ἀγαθοῦ δαίμονος: τὸ πόμα· τὸ μετὰ τὸ δεῖπνον ἄκρατον. Unproblematisch ist, dass Athenaeus XV,693b von der Agathodaimonmischung (κρᾶσις) spricht, dann aber nur wenige Zeilen später den ungemischten Agathodaimon (Ἀγαθοῦ Δαίμονος ἄκρατος) erwähnt: Bevor der Agathodaimon-Krater gemischt wurde, wurde ein Schluck des noch ungemischten Weins getrunken. 37 Vgl. L. Deubner, Paian, in: Neue Jahrbücher für das Klassische Altertum, Geschichte und Deutsche Literatur 22 (1919), 385-406, hier 391 f. Der Hauptbeleg (Philochoros, fr. 5 FGrHist 328) trägt diese weitreichende These nicht. geführt, weil die Belege für beide Phänomene unter das Stichwort Libation subsumiert wurden. 34 Die Vereinnahmung der Proposis-Belege für die Libation ist zwar verständlich, weil beide im selben Rahmen zu Beginn des Symposions bezeugt sind und auch sonst Ähnlichkeiten aufweisen; gleichwohl lassen sie sich phänomenologisch und funktional hinreichend genau unterscheiden. Gemeinsam ist beiden Phänomenen zunächst, dass sie vor der Mischung des Weins durchgeführt wurden: Man goss den Wein in den Krater, nahm davon die Libation und mischte erst danach den Wein mit (einer größeren Menge) Wasser. 35 Aber auch für den „Vorab-Trunk“ nutzte man ungemischten Wein; der wurde allerdings nicht vergossen, sondern getrunken. 36 Libation und Proposis sind sich außerdem darin ähnlich, dass sie beide religiös ausgezeichnet sind. Für die Libation wurde die Begleitung durch den feierlichen Paean bereits erwähnt; diese Verbindung von Opferhandlung und Gebet belegt die enge Entsprechung zwischen der sympotischen und den häufig bezeugten kultischen Libationen im Rahmen sakraler Opferfeiern. Für die Proposis zeigt sich [42] der religiöse Charakter darin, dass sie nach verschiedenen Gottheiten bezeichnet wird. In griechischen Zeugnissen sind Zeus Soter, Hygieia und Agathodaimon so weit verbreitet, dass man daraus auf eine feste Ordnung geschlossen hat, wenn auch kaum zu Recht. 37 Unklar ist, welchen Aufschluss diese Bezeichnungen im Einzelnen ermöglichen. Denn die genannten Gottheiten sind erkennbar 229 Der vergossene Becher <?page no="230"?> 38 Vgl. die Erklärung zu „Agathodaimon“ in Schol. Aristophanes, Vesp. 525: „Es war Sitte, wenn man den Tisch gerade aufheben will, sich ein ‚Glück-auf ‘ zuzutrinken (ἀγαθοῦ δαίμονος ἐπιρροφεῖν).“ 39 Z. B. Alexis = Athen.XV, 692 f./ 693a: ἔγχεον αὐτῷ Διός γε τήνδε Σωτῆρος; Nikostratos = Athen. XV,693a: μετανιπτρίδ’ αὐτῷ τῆς Ὑγιείας ἔγχεον u.v.ö. 40 Vgl. z. B. ein Dekret aus Stratonikeia in Karien mit dem Beschluss, einem verdienten Vereinsmitglied eine Proposis (προπίνειν) als Ehrung zukommen zu lassen (Inscr. Straton. 801, Z. 15). 41 Die Zahl hängt natürlich vom Trinkkomment ab. In einer Komödie des Eubulos (fr. 93 PCG V 244 = Athen. II, 36b/ c) werden drei Kratere als „vernünftig“ bezeichnet; dass auch mehr getrunken wurde, ist das Thema des Fragments: „Drei Krüge Wein, und mehr nicht, stell ich auf / Vernünftigen Zechern (τοῖς εὖ φρονοῦσι): Der Gesundheit gilt / Der erste, den sie trinken; Liebe weckt / Und Lust der zweite; schon der dritte lädt / Zum Schlaf, wer weise heißen will, geht heim, / hat er den inne; denn der vierte ist / Unmaß, nicht unser mehr, der fünfte brüllt, / Sechs heißt schon: Nachtlärm, sieben: blaues Aug, / Acht: kommt der Büttel, neun: die Galle steigt, / Zehn macht Verrückte, sinnlos schlägt man hin - / Zuviel geschüttet in ein klein’ Gefäß / Stellt leicht dem Trinkenden der Wein ein Bein“ (hier in P. von der Mühlls genialer Übersetzung, in: Xenophon, Das Gastmahl, hg. usw. von G.P. Landmann, Hamburg 1957, 93). 42 Dementsprechend häufig findet sich dieses Motiv in der Komödie, vgl. etwa: Xenarchos (fr. 2 PCG VII 793 = Athen. XV,693b/ c): „Da fange ich doch an, ein bisschen einzunicken. - Ja, die Schale vom ungemischten Agathodaimon, die ich getrunken habe (τἀγαθοῦ Δαίμονος … ἄκρατος ἐκποθεῖσα φιάλη), hat mir den Rest gegeben. - Und mich hat der Zeus Soter glatt versenkt.“ - Nikostratos, Pandrosus (fr.18 PCG VII 84 = Athen. XV,693b): „Auf, sie soll mir schnell ein ‚Glück auf! ‘ einschenken und den Tisch aus dem Weg schaffen. Denn ich bin reichlich gesättigt. Aber ein ‚Glück auf! ‘ nehme ich noch.“ - Alexis (Athen. XV,692 f./ 693a): „Gieß ihm einen Zeus Soter ein, bei weitem der für Sterbliche nützlichste der Götter. - Der Zeus Soter wird mir nicht gut tun, wenn ich platze! - Sei stark und trink! “ usw. hypostasierte Konkretionen allgemeinerer Werte: Heil, Gesundheit, Glück. So weit erkennbar, ist die Proposis nicht mit einem Gebet verbunden, sondern hat den Charakter eines Toasts, den die Symposiasten sich gegenseitig ausbringen. 38 Die Adressaten der Proposis, die regelmäßig im dativus commodi angeführt werden, sind nicht die eponymen Gottheiten, sondern in der Regel andere Mahlteilnehmer. 39 Mit Blick auf die ungezählten Belege für Ehrungen, die in hellenistisch-römischen Vereinen gerade während des Symposiums vorge‐ nommen wurden, 40 wird die Funktion der Proposis für die soziale Strukturierung sympotischer Gemeinschaften deutlich. Schließlich hat der Umstand, dass wäh‐ rend der comissatio mehrere Kratere gemischt wurden, 41 zur Folge, dass auch mehrfach eine Proposis getrunken werden konnte, wie das Nebeneinander der verschiedenen Proposis-Bezeichnungen deutlich macht; das konnte manchem dann schon einmal zu viel werden. 42 [43] Im Unterschied dazu gibt es nur eine sympotische Libation unmittelbar im Anschluss an das Mahl. 230 Der vergossene Becher <?page no="231"?> 43 Menand., Theophor. Fr. 3 (Koerte/ Thierfelder I 103 = Athen. XI,504a): τὸ πρῶτον περισόβει ποτήριον … αὐτοῖς ἀκράτου. Der „erste Becher Ungemischter“ impliziert eine Proposis vom ersten Krater, dem danach noch weitere Becher mit „Ungemischtem“ folgen werden. 44 Pollux, Onom. VI,31: κύλιξ μετανιπτρὶς ἡ ἐπὶ πᾶσιν. 45 Zum „Händewaschen nach dem Essen“ vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 48 mit Anm. 17-19. 46 Dies bestätigt ein Fragment des Diphilos (fr. 70 PCG V 94 = Athen. XI,487a), der den μετανιπτρίς-Becher als Agathodaimon- und Zeus-Soter-Proposis identifiziert; beide werden häufig als eponyme Gottheiten des ersten Kraters genannt. 47 Z. B. Philostr., Vit. Apoll. 8,12: „μεσούσης τῆς κύλικος“ schläft Telesinos ein und träumt. Das ist nicht unmittelbar verständlich: Die Zählung als μέση κύλιξ impliziert die Reihe der Kratere, am ehesten in der Trias Zeus Soter - Agathodaimon - Hygieia. Da aber Telesinus nicht während des zweiten Kraters, sondern während der zweiten Kylix einschläft, ist an eine Proposis zu denken, die von diesem Krater ausgebracht wurde. Da kaum anzunehmen ist, dass Telesinus in dem Moment vom Schlaf niedergestreckt wird, als er eben trinken wollte, ist hier die Vorstellung einer Trinkrunde vorausgesetzt und die Kylix das Gefäß, aus dem alle trinken. Die sehr freie Übersetzung von F.C. Conybeare (Flavius Philostratus, The Life of Apollonius of Tyana, Band II [LCL 17], Cambridge [MA]/ London 1989, trifft in der Sache genau: „just as the middle cup in honour of the good genius was being passed round“ - die angenommene Situation entspricht dem Beleg aus Menander, s. Anm. 43). 48 Das Verteilen des „ersten“ Bechers Lk 22,17 (καὶ διαμερίσατε εἰς ἑαυτούς) verweist dagegen auf ein anderes Phänomen als die Proposis während des Symposions. Denn verschiedentlich ist ein Aperitif bezeugt, der vor Beginn des Mahls zu den Vorspeisen gereicht wurde und ebenfalls als „Vorab-Trunk“ bezeichnet werden konnte (vgl. Martial Ein letzter Aspekt der Proposis muss hier noch genannt werden: Es gibt eine ganze Reihe von Zeugnissen, nach denen sie von allen Symposiasten gemeinsam aus einem Becher getrunken wurde. So heißt es bei Menander: „Lass unter ihnen schnell kreisen den ersten Becher Ungemischten.“ 43 Zu dieser Vorstellung passt die Erklärung des Pollux, dass die (Trink-)Schale nach der Waschung „für alle“ sei. 44 Die technisch gebrauchte Bezeichnung der Schale als μετανιπτρίς bezieht sich auf die Waschung, die normalerweise direkt im Anschluss an das Essen und vor Beginn des Symposions stattfindet. 45 Die Schale „nach dem Händewaschen“ bezeichnet also die erste Proposis, 46 und sie ist „für alle“, wird also unter den Anwesenden herumgereicht. Für ein idealtypisches Symposion müsste man sich also vorstellen, dass nach der feierlich vollzogenen Libation und noch vor der Mischung des ersten Kraters eine solche Proposis von allen Teilnehmern aus einem gemeinsamen Gefäß getrunken wurde. Nur am Rande sei erwähnt, dass das gemeinsame Trinken aus einer Schale auch für die weiteren Kratere belegt ist. 47 [44] Dass die Symposiasten gemeinsam aus einem Becher von dem noch ungemischten Wein trinken, ist natürlich für Mk 14,23 καὶ ἔπιον ἐξ αὐτοῦ πάντες par. Mt 26,27 πίετε ἐξ αὐτοῦ πάντες von Bedeutung. 48 Diese besondere Form des 231 Der vergossene Becher <?page no="232"?> V,78,3: Vorspeise insgesamt heißt „προπίνειν“; Petron. Satyr. 34,1: mulsum als Aperitif). Allerdings sind die Zeugnisse nicht ganz klar, weil die Bezeichnung des Aperitifs auf die Vorspeisen insgesamt übergegangen ist. Aus diesem Grund ist auch die einzige Stelle, die davon spricht, dass ein solcher „Vortrunk (πρόπομα) herumgereicht wurde“ (Phylarch, fr. 51 FGrHist 81 = Athen. II,58c), keine Analogie zur Verteilung des Bechers von Lk 22,17: Das πρόπομα besteht aus Speisen. Die Verteilung des Bechers Lk 22,17 lässt sich nur im Rahmen einer literar- und textgeschichtlichen Analyse klären, die hier nicht geleistet werden kann. 49 Zum Larenopfer nach der Mahlzeit s. etwa Verg., Aen. I,723 ff.; VIII,238; Hor., Sat. II,2,124 (Ceres). Den Verlauf schildert schön Petronius, Satyr. 60,3-7: Nach der cena werden Apophoreta verteilt, dann werden die mensae secundae aufgetragen und ein Toast auf Augustus ausgebracht (Sat. 60,3-7); „inzwischen traten drei Burschen in gerafften weißen Tuniken ein; zwei davon stellten Laren mit Kapseln um den Hals auf die Tafel, einer reichte eine Schale Wein herum und litaneite: ‚Der Himmel sei uns gnädig‘ (dii propitii)“ (60,8). So weit ist diese Schilderung ganz typisch, die satirische Überzeichnung besteht darin, dass Trimalchio, ungehobelt maßloser Parvenu, auch sein eigenes Porträt verehren lässt. 50 Zur mola salsa, einer Mischung aus Getreideschrot und Salz, vgl. J. Marquardt, Das Privatleben der Römer, Band I, Leipzig 1879 (Nachdruck Darmstadt 1975), 318 f.327. Die zur privaten Verwendung notwendigen silbernen Salzfässer sind verschiedentlich erwähnt (Val. Maximus IV,4,3; Plin., Nat. XXXIII,153; Hor., Od. II,16,13; Persius Flaccus, Sat. III,25; im öffentlichen Kult: Arnobius II,67). Da die mola salsa bei allen (öffentlichen) Speiseopfern verwendet wurde, zeigt sich der enge Zusammenhang von Privat- und Opfermählern. Vorab-Trunks verbindet die Proposis mit der Libation und macht zugleich die Notwendigkeit ihrer Unterscheidung deutlich: Wie auch sonst hat diese Form der Proposis in erster Linie die Funktion, die soziale Dimension der Einheit der sympotischen Gemeinschaft darzustellen; wie in den Belegen zur Libation hat sie ihren Ort direkt nach dem Mahl vor der Mischung des ersten Kraters. Es ist von daher ganz charakteristisch, dass die sog. Becherworte in den Berichten vom letzten Mahl Jesu sich einmal auf eine (gemeinsame) Proposis beziehen (Mk 14,23; Mt 26,27), das andere Mal (Lk 22,20) auf die Libation. 3. In methodischer Hinsicht sind zwei Bemerkungen wichtig. Zunächst ist das Missverständnis zu vermeiden, als seien die Libation bzw. die Proposis im Rahmen von gemeinschaftlichen Gelagen eine spezifisch griechische Sitte, von denen die römischen Verhältnisse zu unterscheiden sind. Die Zeugnisse, die für die spezifisch römischen Verhältnisse dramatisch kärglicher sind als für griechische, lassen allerdings eine Reihe von Eigenheiten erkennen: Zum einen spielt eine Rolle, dass die sympotische Libation in der Regel mit dem Larenopfer im Anschluss an die Mahlzeit verbunden ist, das in griechischen Zeugnissen natürlich fehlt. 49 Ähnliches gilt [45] auch für die Verwendung der mola salsa im Rahmen der (öffentlichen und häuslichen) Speiseopfer. 50 Wie in 232 Der vergossene Becher <?page no="233"?> 51 Die Unterschiede, die wahrgenommen wurden, betreffen vor allem den Trinkkomment (z. B. Cic., Tusc. V,41,118), das namentliche Zutrinken (Cic., Tusc. I,40,96) sowie die Beteiligung von Frauen an der comissatio (Cic., Verr. II,1,66); vgl. K. Dunbabin, Ut Graeco More Biberetur. Greeks and Romans on the Dining Couch, in: H. Sigismund Nielsen/ I. Nielsen (Hg.), Meals in a Social Context, Oxford 1998, 81-101. 52 Als Beleg sei nur auf die Einschätzung verwiesen, dass Athenaeus (am Ende des 2./ Anfang des 3. Jh.) dieselbe Vorstellung von einem gelungenen Symposion hat wie Xenophanes von Kolophon rund 700 (! ) Jahre zuvor, dessen elegisches Fragment (fr. 1 Diels/ Kranz = Athen. XI,462c) er zustimmend zitiert, vgl. Klinghardt, Gemeinschafts‐ mahl (s. Anm. 19), 170. 53 An Petronius’ satirischer Schilderung gelingt die Gegenprobe, weil hier die typischen Elemente (z. B. Herumreichen der patera; Gebetsruf; Präsenz der Laren usw.) ohne weiteres von den individuellen Auffälligkeiten (das Trinken beginnt schon während des Essens und sorgt für den ungeregelten Übergang, in dem die Libation fast unter‐ geht; Trimalchio lässt sein eigenes Bild mit denen der Laren verehren usw.) klar unterschieden werden können. allen Fragen der römischen Religionsgeschichte ist auch für die Durchführung des Symposions die Verhältnisbestimmung zu den griechischen Gegebenheiten problematisch, auch wenn Unterschiede gerade für die comissatio thematisiert wurden. 51 Allerdings tangieren diese Differenzierungen die hier interessierende Frage nach der Libationspraxis in der Zeit des frühen Prinzipats kaum. Denn gerade für die kulturelle Prägung in den (östlichen) Provinzen sind die spezifisch römischen Verhältnisse nicht charakteristisch: Die archivarischen Notizen, die Athenaeus aus älteren griechischen Schriftstellern gesammelt hat, stimmen hinsichtlich der ritualgeschichtlichen Aspekte i. W. mit dem Bild überein, das auch Plutarchs sympotische Schriften zeichnen. 52 Schließlich ist natürlich zu beachten, dass diese knappe Skizze idealtypisch ist und auf einer „dichten Beschreibung“ beruht, die sich unschwer durch zusätzliche Zeugnisse noch weiter „verdichten“ ließe. Dies bedeutet auf der einen Seite, dass bestimmte Differenzierungen der Libationspraxis, die es mit Sicherheit gegeben hat, gar nicht sichtbar werden. Auf der anderen Seite jedoch erlaubt diese dichte Beschreibung die Erfassung des Typischen und Allgemeinen. 53 Gerade die große Spannweite des Materials [46] zeigt, dass die ritualisierte Praxis des Gemeinschaftsmahls mit seinen einzelnen Bestandteilen Ausdruck eines kulturellen Habitus ist, der die sozialen Konventionen prägt: Für die griechisch-römischen Verhältnisse der frühen Kaiserzeit ist die Libation im Rahmen eines Gemeinschaftsmahls nicht nur normal und erwartbar, sondern schlicht selbstverständlich. 233 Der vergossene Becher <?page no="234"?> 54 Als Beispiele für viele sei verwiesen auf D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987, 239: In Mk 14,24 bezeichne „τοῦτο den Wein als Inhalt des Kelches, denn nur der kann in eine Beziehung zu Blut gesetzt werden“ (Hervorhebung M.K.); Wolter, Lk (s. Anm. 12), 707 f.: „Das ,Blut‘ … ist die semantische Schnittmenge, die den ,Becher‘, den ,(neuen) Bund‘ und den Tod Jesu miteinander verbindet […] Erst der Inhalt des Bechers lässt die Handlung zum ,neuen Bund‘ werden, weil allein er die Verbindung zum Tod Jesu herstellt“ (Hervorhebung M.K.). 55 Der Becher (τὸ ποτήριον) wird auch 1 Kor 11,26; 10,16 genannt. Zu Lk 22,15-18 gebietet das schon genannte textgeschichtliche Problem Zurückhaltung. III. Lk 22,20b als Deutung der Libation Der so skizzierte ritualgeschichtliche Hintergrund der Libationspraxis zeigt, dass der syntaktisch gebotene Bezug von τὸ … ἐκχυννόμενον auf τὸ ποτήριον (Lk 22,20b) auch inhaltlich einen ausgezeichneten Sinn ergibt: Lk lässt Jesus tatsächlich vom Ausgießen des Bechers sprechen. Die zentrale Einsicht der Ritualanalyse besteht darin, dass Jesus nicht den Wein, also ein Mahlelement, deutet, sondern die Libation als Teil des Rituals. Dieses Verständnis hat weit‐ reichende Implikationen für die Interpretation der theologischen - insbes. ekklesiologischen - Bezüge des Deuteworts über dem Becher, aber auch darüberhinausgehend für das Verständnis der anderen Mahlberichte und der frühchristlichen Mahltheologie insgesamt. 1. Die Libation als Teil des Rituals: τὸ ποτήριον τὸ ἐκχυννόμενον Wenn Jesus in dem sog. Becherwort nicht den Wein, sondern die Libation als Teil des Mahlrituals deutet, dann erübrigt sich die verbreitete Annahme einer Kelch-Inhalt-Metonymie, die in den üblichen Deutungen (nicht nur des lukani‐ schen Becherwortes) als entscheidende und unverzichtbare Klammer zwischen dem Becher und seiner Deutung gesehen wird. 54 Eine Becher-Inhalt-Metonymie ist zwar philologisch möglich, für das Verständnis [47] aber weder notwendig noch gar naheliegend: Nicht der Wein ist wichtig, sondern die Libation als Teil des Rituals. Auch im Blick auf die sog. Becherworte der anderen Mahlberichte (Mt 26,27 f.; Mk 14,23 f.; 1 Kor 11,25) ist dies nicht unwichtig, denn der Wein wird in keinem dieser Texte genannt. Man sollte ihn daher auch nicht ohne Not als logisches Subjekt substituieren, auf das sich die Bestimmung durch das Prädikatsnomen bezieht. Denn die nächstliegenden Aussagen über den Wein, die in der neutes‐ tamentlichen Abendmahlsüberlieferung begegnen, sprechen gegen eine solche Becher-Inhalt-Metonymie: Im sog. „eschatologischen Vorbehalt“ (Mk 14,25 par. Mt 26,29) 55 sagt Jesus, dass er vorerst nicht mehr ἐκ τοῦ γενήματος τῆς ἀμπέλου trinken werde. Würde das unmittelbar vorangehende Deutewort über dem 234 Der vergossene Becher <?page no="235"?> 56 Aus diesem Grund ist auch einer der wenigen Versuche, das Vergießen des Bechers ernst zu nehmen, nicht weiterführend: J. Pascher, Der Kelch in den Texten der römischen Messliturgie, in: LJb 10 (1960), 217-226, hier 218, hat den Becher Lk 22,20b auf das Vergießen des Blutes im Tempelkult bezogen und das Vergießen des Bechers im Kontext des Mahles als Analogie zu der kultischen Opferhandlung amTempel interpretiert, bei der das Blut der Opfertiere aufgefangen und dann an den Altar „gegossen“ wird. Dieses Verständnis (das genau besehen nicht das Vergießen des Bechers, sondern das des Blutes deutet) ist theologisch problematisch und exegetisch unhaltbar - es vermengt sehr verschiedene traditionsgeschichtliche Linien miteinander: Das Blut des Passalamms, den Bundesschluss nach Ex 24,8 (der ohne weiteres mit dem Neuen Bund aus Jer 31 gleichgesetzt wird) sowie die levitischen Bestimmungen, das bei der Opferung von Tieren anfallende Blut an den Altar zu gießen. Schon dieser letzte Aspekt zeigt die Schwierigkeit der Deutung, denn das Ausgießen des Blutes an den Altar impliziert, dass das Blut der Opfertiere immer in Gottes Verfügungsgewalt bleibt: Es kann also gerade nicht denjenigen zugutekommen, die das Opfer vollziehen (lassen). Man kann daher gerade nicht sagen, dass das Blut „ὑπὲρ ὑμῶν“ o.ä. vergossen werde. Becher tatsächlich metonymisch den Wein bezeichnen, müsste man annehmen, dass Jesus diesen Wein als sein Bundesblut deutet und im nächsten Satz sagt, dass er davon nicht mehr trinken werde. Diese Interpretation setzt voraus, dass Jesus (a) den Wein meint, obwohl er vom Becher spricht, (b) diesen Wein wegen seiner Konsistenz und Farbe, von denen ebenfalls nichts gesagt ist, metaphorisch als sein Bundesblut qualifiziert und (c) im nächsten Satz den Wein nicht-metaphorisch als Getränk erwähnt. Das Verständnis, dass Jesus den Libationsbecher als Teil des Rituals deutet, kommt ohne diese komplexen Voraussetzungen aus, die erhebliche Anforderungen an die Leseleistung stellen würden. 2. Die Nutznießer der Libation: ὑπὲρ ὑμῶν Wenn Jesus nicht den Wein, sondern die Libation deutet, verschieben sich die metaphorischen Bezüge zwischen dem Becher und seiner Deutung ganz erheb‐ lich. Zunächst ist klar, dass nicht Jesu Blut ὑπὲρ ὑμῶν vergossen ist, sondern der Becher: Alle (aus anderen Gründen ohnehin problematischen) Versuche, hier eine opferkultische Deutung des Todes Jesu zu assoziieren, sind daher obsolet. 56 Das Vergießen des Bechers ὑπὲρ ὑμῶν besagt [48] zunächst nichts anderes, als dass die Libation „für euch“ ausgebracht wird: Die semantische Funktion von ὑπὲρ ὑμῶν ist daher zunächst einmal analog zu dem dativus commodi zu verstehen, der in zuvor genannten Beispielen für die Proposis in griechischen Texten begegnet (s. Anm. 39). Gleichwohl ist das Vergießen des Bechers ὑπὲρ ὑμῶν etwas anderes als ein Toast „Auf euer Wohl! “ Denn im Unterschied zum (gegenseitigen) Zutrinken, das insbesondere von der Proposis bezeugt ist, ist 235 Der vergossene Becher <?page no="236"?> 57 Vgl. Z. B.: Dion. Halic., Ant. 3,66,2 (σπονδάς τε ποιεῖται πρὸς αὐτοὺς ὑπὲρ εἰρήνης τε καὶ φιλίας); Fl. Arrian, Parth. fragm. 103 (Roos/ Wirth II, vgl. Suda, s.v. σπείσασθαι· ἐθέλειν Πάρθοις καὶ ὑπὲρ εἰρήνης σπείσασθαι); Ael. Aristid., Symm. II (502,16 Jebb σπένδοιτ’ ἂν μεθ’ ἡμῶν καὶ ὑπὲρ τῆς τῶν Ἑλλήνων ἐλευθερίας); Philostr., Vit. Apoll. 8,12 (ἔσπεισεν … ὑπὲρ σοῦ θαρρεῖν); Sopater, Diaeres. (Walz, Rhet. Graec. VIII 200,25 ff.): für Siegeszeichen (ὑπὲρ τροπαίων) und für den Sieg (ὑπὲρ τῆς νίκης); Hesychius s.v. φιλοτησία·πρόποσίς τις μετὰ τὸ δεῖπνον ὑπὲρ φιλίας usw. Diese und die folgenden Belege verdanke ich dem freundlichen Hinweis von Daniel Pauling (Dresden). Zu den sympotischen Werten vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 153-174. 58 Vgl. Menand., Dysk. 660 (ὑμεῖς δ’ ὑπὲρ τούτων, γυναῖκες, σπένδετε; hier ist allerdings aufgrund einer Textlücke nicht ganz klar, auf wen ὑπὲρ τούτων referiert. Deutlich ist jedoch, dass die Wirkung der Spenden dem Alten zugutekommen soll, der ins Wasser gefallen ist: εὔχεσθε τὸν γέροντα σωθῆναι, ebd. 661). Außerdem z. B. Sopater, Diaeres. (Walz, Rhet. Graec. VIII 237,27: χοὰς ἐνέγκωμεν, ὁ μὲν ὑπὲρ παίδων, ὁ δὲ ὑπὲρ γυναικός). 59 Thuc. V,47,1 (zum Abschluss des 100-jährigen Friedens zwischen Athen, Argos, Manti‐ neia und Elea: σπονδὰς ἐποιήσαντο … ὑπὲρ σφῶν αὐτῶν καὶ τῶν ξυμμάχων; s. V 47,8); Arrian, Anab. III,23,8 („für das ganze Söldnerheer“); Eus., Comm. Ps. (MPG 23, 948, Z. 46): Blut „ὥσπερ σπονδὰς ὑπὲρ τοῦ παντὸς ἔθνους ἐκδεδώκασιν.“ das Vergießen des Bechers nur von der Libation im Zusammenhang mit einer Invokation von Göttern belegt. Der Unterschied liegt in der Weise, auf die ein Bezug zwischen den Sym‐ posiasten und der Libation hergestellt wird. Während sich die Symposiasten die Toasts der Proposis gegenseitig direkt ausbringen können (also etwa im Sinn von „Dir zur Gesundheit! “ oder „Euch ein Glück-auf! “), ist als direkter Adressat einer Libation, die vergossen wird, nur die dabei angerufene Gottheit denkbar. Dass die Wirkung einer solchen Spende - beispielsweise für Zeus Soter, für Agathodaimon oder für Hygieia - den versammelten Symposiasten „zugute“ kommt, ist natürlich ohne weiteres denkbar, setzt allerdings immer die Vermittlung durch die angerufene Gottheit voraus. Dieser Vermittlungsaspekt zeigt sich deutlich an der Terminologie. Denn wenn ein indirektes Objekt der Libation mit der Formulierung ὑπέρ + Genitiv genannt ist, werden in aller Regel keine (Einzel-)Personen genannt, sondern Abstraktnomina, die aussagen, welche Wirkung den indirekten Adressaten zugutekommen soll. Es überrascht dann auch nicht, dass unter diesen Abstrakt‐ nomina häufig soziale Wertvorstellungen mit einem charakteristisch sympoti‐ schen Hintergrund belegt sind, also etwa Friede oder Freundschaft. 57 [49] Wenn die ὑπέρ-Formulierung Personen nennt, dann handelt es sich in den seltensten Fällen um Einzelpersonen, 58 sondern meistens um Kollektive bzw. Kollektivpersonen. 59 Diese Vorstellung liegt auch der „Spende für das Königshaus“ in 1 Esr 6,30 (LXX) zugrunde. Dieser Beleg zeigt darüber hinaus exemplarisch, wie das Verhältnis zwischen der Gottheit und menschlichen Nutz‐ nießern von Libationen zu denken ist: Dareios ordnet Sachlieferungen an den 236 Der vergossene Becher <?page no="237"?> 60 Zur theonomen Struktur des Bundes in der biblischen Überlieferung vgl. E. Kutsch, Neues Testament, neuer Bund? Eine Fehlübersetzung wird korrigiert, Neukir‐ chen-Vluyn 1978. 61 Jer 38,31 LXX: καὶ διαθήσομαι τῷ οἴκῳ Ισραηλ καὶ τῷ οἴκῳ Ιουδα διαθήκην καινήν. Dies ist bekanntlich der einzige Beleg für ἡ καινὴ διαθήκη in der biblischen Überliefe‐ rung, vgl. nur Theobald, Paschamahl (s. Anm. 11), 172 f. 62 Vgl. E. Grässer, Der Alte Bund im Neuen. Eine exegetische Vorlesung, in: ders., Der Alte Bund im Neuen (WUNT 35), Tübingen 1985, 1-134, hier 119 f.; M. Vogel, Das Heil des Bundes. Bundestheologie im Frühjudentum und im frühen Christentum (TANZ 18), Tübingen 1996, 83; Wolter, Lk (s. Anm. 12), 706 f. Tempel an, „damit Libationen (σπονδαί) dargebracht werden für den höchsten Gott (τῷ θεῷ τῷ ὑψίστῳ), zu Gunsten des Königs und seiner Nachkommen (ὑπὲρ τοῦ βασιλέως καὶ τῶν παίδων), und damit man für ihr Leben betet.“ Der direkte Empfänger der Spende ist Gott, der indirekte Nutznießer aber das Haus des Großkönigs. Die Gebete, die die Spenden üblicherweise begleiten, verbalisieren, welche konkrete Gabe Gott dem Königshaus zugutekommen lassen soll (περὶ τῆς αὐτῶν ζωῆς). Die Formulierung τὸ ὑπὲρ ὑμῶν ἐκχυννόμενον besagt daher nicht nur, dass die Nutznießer der Libation die versammelten Apostel (s. 22,14) sind. Sie impliziert zugleich, dass das ihnen zugedachte Gut von Gott in Kraft gesetzt wird und wahrscheinlich in dem die Spende begleitenden Gebet auch direkt benannt wurde. Dass die ὑπέρ-Formulierung die indirekten Adressaten als Nutznießer der Libation als kollektive Größe zur Sprache bringt, ist dabei durchweg typisch und charakteristisch. 3. Die Libation als ἡ καινὴ διαθήκη Im vorliegenden Fall ist dieser indirekte Bezug der Libation auf die Symposiasten durch die Deutung des Libationsbechers als Neuer Bund auch unmittelbar wahrscheinlich: Das logische Subjekt des Neuen Bundes [50] kann ja nur Gott sein als der, der den Bund gewährt, 60 während die Wirkung denen zugutekommt, mit denen dieser Bund geschlossen wird. Aber welche konkreten Vorstellungen werden hier durch ἡ καινὴ διαθήκη evoziert? Am nächsten liegt die Annahme eines traditionsgeschichtlichen Einflusses von Jer 31(38 LXX),31-34, weil hier (und nur hier! ) das Stichwort καινὴ διαθήκη aus dem lukanisch-paulinischen Becherwort direkt belegt ist. 61 Aber dieser Bezug auf Jer 31(38) ist verschiedentlich in Frage gestellt worden, weil hier (im Gegensatz zu der Bundesschlusszeremonie von Ex 24) das Blut für die Konsti‐ tuierung des Neuen Bundes keine Rolle spielt. 62 Sofern man den Bezug zwischen dem Becher und seiner Deutung in der metonymischen Wein-Blut-Relation sieht (s. Anm. 54), stellt das Fehlen des Blutes in Jer 31(38) ein Problem dar. Für dessen 237 Der vergossene Becher <?page no="238"?> 63 So plädiert etwa Wolter, Lk (s. Anm. 12), 706 f. dafür, die „häufig konstruierte Antithese gegenüber dieser Überlieferung (sc. Ex 24) zugunsten einer flexibleren Zuordnung aufzugeben“ und deutet den Zusammenhang in erster Linie von Ex 24 her. 64 S. Anm. 59. Dass die Libation (σπονδή), mit der ein Friedensschluss besiegelt wird, metonymisch für den solcherart besiegelten Frieden selbst steht, zeigt besonders schön Aristoph., Ach. 186-196: Der Athener Dikaiopolis bestellt sich bei dem Spar‐ taner Amphitheos einen „Separatfrieden“. Dieser bietet ihm überraschender Weise drei verschiedene Weine an: Gedacht ist dabei an unterschiedliche Libationen zum Friedensschluss, von denen der beste, der wie Nektar und Ambrosia schmeckt, ein langjähriger Friede zu Wasser und zu Lande ist. Lösung wurde vorgeschlagen, die καινὴ διαθήκη der lk-pln Libationsdeutung gar nicht oder nur am Rande von Jer 31(38) her zu verstehen, sondern, analog zur mt-mk Deutung (τὸ αἷμά … τῆς διαθήκης), auch hier die Bundesschluss‐ zeremonie Ex 24 im Hintergrund zu sehen. 63 Aber dieses Ausweichmanöver spielt nicht nur die klare sprachliche Entsprechung zu Jer 31(38),31 herunter, sondern nivelliert auch die deutlichen Unterschiede zwischen der lk-pln und der mt-mk Deutung des Libationsbechers. Diese Lösung zahlt nicht nur einen hohen methodischen Preis, sie ist auch unnötig. Denn wenn Jesus nicht das Vergießen des Blutes deutet, sondern den Libationsbecher, kann das Blut gar nicht der zentrale Haftpunkt der Deutung sein. Tatsächlich bedarf die Qualifizierung des Bechers als Neuer Bund gar nicht der metaphorischen Vermittlung über ein tertium comparationis oder über eine „semantische Schnittstelle“: Die Libation selbst ist als solche der Neue Bund. Die nächste Analogie zu diesem Verständnis sind die σπονδαί, die beim Abschluss eines Friedensvertrages [51] vergossen werden: Die Libationen selbst sind der Friede. 64 Da das Blut für die Qualifizierung des Bechers nicht konstitutiv ist, spricht alles dafür, ἡ καινὴ διαθήκη (Lk 22,20; 1 Kor 11,25) als eine gezielte Referenz auf Jer 31(38),31 zu verstehen. In diesem Fall bleiben zwei Beobachtungen wichtig. Zunächst ist in Erin‐ nerung zu rufen, dass Jer 31(38) den Neuen Bund zwar als Erneuerung der Bundesbeziehung zwischen Gott und dem Volk Israel versteht, wie die Wieder‐ holung der Bundesformel deutlich macht, daneben aber den Aspekt der sozialen Beziehungen der Israeliten untereinander ganz betont in den Blick nimmt (38,34 LXX): Die Internalisierung der Gebote, die allen in ihr Denken gegeben und auf ihr Herz geschrieben werden, macht die wechselseitige Belehrung überflüssig, so dass das Autoritätsgefälle zwischen Lehrern und Belehrten verschwindet: Der Neue Bund, in dem „alle mich kennen werden“, nivelliert die Unterschiede zwischen Groß und Klein. Im Unterschied zur Schilderung des Bundesschlusses in Ex 24, die ausschließlich an der „vertikalen“ Relation zwischen Gott und dem Volk interessiert ist, stellt Jer 31(38) die „Horizontale“ der sozialen Beziehung der Bundesgenossen untereinander stark heraus. Es ist daher auch nicht verwun‐ 238 Der vergossene Becher <?page no="239"?> 65 Zur Deutung der sozialen Spannungen in Korinth und zu der von Paulus vorgeschla‐ genen Lösung vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 275-331. Ich kann an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass verschiedentlich gegen diese Rekonstruktion geäußerte Einwände (vor allem zum nichttemporalen Verständnis von προλαμβάνειν 11,21 und ἐκδέχεσθαι 11,33) mich nicht überzeugen konnten; ich sehe keine Veranlas‐ sung zu einer Korrektur. 66 Jer 38,34 LXX: πάντες εἰδήσουσίν με ἀπὸ μικροῦ αὐτῶν καὶ ἕως μεγάλου αὐτῶν. Zum Problem von Gleichheit bzw. Isonomie im Rahmen von Symposien vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 158 ff. 67 Z. B. „die Männer, die in den neuen Bund kommen ( םישנאה רשא ואבּ תירבּבּ השדחה )“ o.ä.: CD 8,21; 19,33 f.; vgl. 6,19; 20,12 (der Bund im Land Damaskus ist תירבּ השדהח , 1QpHab 2,3 f.). Vgl. auch P.J. Gräbe, Der neue Bund in der frühchristlichen Literatur unter Berücksichtigung der alttestamentlich-jüdischen Voraussetzungen (fzb 96), Würzburg 2001, 59 ff. derlich, dass gerade dieser auf soziale Gleichheit zielende Aspekt des Neuen Bundes in der pln-lk Deutung des Libationsbechers eine wesentliche Funktion für den nächsten argumentativen bzw. narrativen Kontext besitzt: Für die pln Argumentation in 1 Kor 11,17-34 ist der Ausgleich zwischen den Hungernden und denen, die sich beim Herrenmahl den Bauch vollschlagen und dadurch die „Habenichtse“ beschämen (1 Kor 11,22), offenkundig: Paulus intendiert eine Lösung, in der die Angesehenen gerade nicht mehr herausstechen (11,19). 65 Die mit dem Neuen Bund nach Jer 31(38) verbundene Gleichheitsthematik passt also ausgezeichnet zu dem von Paulus behandelten Problem und seiner Lösung. [52] Auch im Kontext des lk Mahlberichts wird der Aspekt der Gleichheit der Mahlteilnehmer thematisiert, nämlich in der fast unmittelbar auf die Liba‐ tionsdeutung folgenden Erzählung vom Rangstreit der Jünger (Lk 22,24-27): Die Lösung „Wer bei euch ὁ μείζων ist, soll wie ὁ νεώτερος werden“ (22,26) erinnert deswegen kaum zufällig an die Formulierung der Wirkung des Neuen Bundes aus Jer 31(38). 66 Die Rede von der καινὴ διαθήκη im Becherwort bei Lk und Paulus rekurriert folglich auf genau diejenigen Elemente, die für die Wirkung des Neuen Bundes nach Jer 31 charakteristisch sind; man sollte die entsprechende traditionsgeschichtliche Beziehung daher nicht in Frage stellen. Dazu kommt als zweites, dass das Syntagma „Neuer Bund“ in der alttesta‐ mentlichen Überlieferung nur in Jer 31(38) begegnet, danach aber in einigen der in Qumran gefundenen Texte verwendet wird. Charakteristischerweise ist „Bund“ bzw. „Neuer Bund“ hier die Selbstbezeichnung der jeweiligen Träger‐ gruppe. 67 Auch wenn „Neuer Bund“ in dieser Verwendung andere Konturen besitzt als in Jer 31(38), korrespondiert dieses Verständnis durchaus mit den besonderen Aspekten des Neuen Bundes nach Jer 31: Als Gruppenbezeichnung betont die Rede vom Neuen Bund die „horizontale“ Dimension der sozialen Verbindungen zwischen den Bundesgenossen gegenüber der „vertikalen“ Di‐ 239 Der vergossene Becher <?page no="240"?> 68 Vgl. dazu etwa Röm 3,25; 5,6-10 (in 5,9 f. sind ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ und διὰ τοῦ θανάτου τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ semantisch gleichbedeutend); 14,15; 2 Kor 5,14 f.; 1 Thess 5,10. 69 Auch bei Paulus heißt κοινωνία τοῦ αἵματος τοῦ Χριστοῦ nicht „Anteilhabe am Blut Christi“, sondern bezeichnet (ganz analog zum hier entfalteten Verständnis des neuen Bundes bei Lk) die „Gemeinschaft, die aufgrund des Blutes (= gewaltsamen Todes) Christi“ existiert, wie die Entsprechung zu κοινωνία τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ mit mension der Gewährung des Bundes durch Gott. Der Neue Bund ist die Gemeinschaft derer, die durch Äquidistanz - genauer: durch gleiche Nähe - aller Bundesgenossen zu Gott ausgezeichnet und die deshalb untereinander grund‐ sätzlich gleich sind. Die Gruppenselbstbezeichnung als Neuer Bund impliziert die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen, denen diese Art der Gleichheit abgesprochen wird. 4. Der theologische Ort des Blutes und die Präsenz Christi Diese Hinweise auf die sozialen Implikationen des Neuen Bundes passen sehr gut in den Kontext des lk Libationsbechers, der ὑπὲρ ὑμῶν vergossen [53] wird: Der Genitiv benennt die anwesenden Jünger als diejenigen, denen die religiöse Wirkung der Libation „zugute“ kommt, während die Deutung der Libation als „Neuer Bund“ sicherstellt, dass diese positive Wirkung nicht von den Jüngern selbst, sondern von Gott in Kraft gesetzt wird. Dabei besagt die Apposition ἐν τῷ αἵματί μου, dass der Neue Bund seinen sachlichen Grund im gewaltsamen Tod Jesu hat. Wie Lk sich diesen Zusammenhang genau vorstellt, sagt er nicht. Dies tut Paulus in 1 Kor 11,25 auch nicht, obwohl er sich an anderer Stelle verschiedentlich über die Heilswirksamkeit des gewaltsamen Todes Jesu bzw. seines Blutes äußert. 68 Auf jeden Fall ist klar, dass zwischen dem Tod Jesu als der Voraussetzung für den Neuen Bund und der Libationshandlung als dem Akt seiner Ratifizierung durch die sympotische Gemeinschaft der Apostel zu unterscheiden ist: Nur die letztere steht im Fokus der Erzählung vom letzten Mahl Jesu. Wenn der Anamnesisbefehl die Mahlpraxis der ersten Rezipienten reflektiert, dann ist klar, dass diese sich selbst in der ritualisierten Wiederholung dieses Mahles als der Neue Bund verstehen können und sollen. Das bedeutet allerdings, dass der Tod Jesu zwar im Horizont der Erzählung, die ja auf die Passion Jesu zuläuft, präsent ist, aber für die Deutung des Libationsbechers nur eine mittelbare Rolle spielt - nämlich als Bedingung der Möglichkeit der Inkraftsetzung des Neuen Bundes. Dies gilt sowohl für die erzählte Welt als auch für die der Rezipienten, deren eigene rituelle Praxis aufgrund des Anamnesisbefehls immer mit im Blick ist: Lk geht nicht von einer wie immer gearteten sakramentalen Anteilhabe der Kommunizierenden am Blut Jesu aus. 69 An dieser Stelle werden die allgemeineren Implikationen 240 Der vergossene Becher <?page no="241"?> ihrer ekklesiologischen Deutung in 10,17 (ἓν σῶμα οἱ πολλοί ἐσμεν) eindeutig zeigt; vgl. dazu Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 307 ff. 70 Vgl. die knappe Invokation „Dii propitii“ bei Petronius, Satyr. 60,8 oder bei Servius, Ad Aen. I,730. 71 mensae primae: Gemeint sind die Tische der Hauptmahlzeit; vgl. die πρῶται τράπεζαι bei Plut., Quaest. Conv. 4,1 (723b). 72 Servius, Ad Aen. I,730: Graeci quoque θεῶν παρουσίαν dicunt. 73 Trad. Ap. 4 (224,13 ff. Schöllgen). Vgl. dazu Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 6 f.; A.B. McGowan, “Is There a Liturgical Text in This Gospel? ”: The Institution Narratives and Their Early Interpretive Communities, in: JBL 118 (1999), 73-87. 74 G. Theißen, Sakralmahl und sakramentales Geschehen. Abstufungen in der Ritualdy‐ namik des Abendmahls, in: M. Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität (QD 221), Freiburg/ Basel/ Wien 2007, 166-186, hier 176 mit Anm. 18. einer am konkreten Ritual orientierten Deutung des frühchristlichen Mahls erkennbar. Denn wenn diese Deutung eine sakramentale Anteilhabe an (Leib und) Blut Jesu unwahrscheinlich macht, dann scheint die theologisch zentrale und unverzichtbare Vorstellung der Präsenz Jesu zu fehlen. Tatsächlich hat diese Präsenzvorstellung ihren sehr konkret identifizierbaren Ort in der Libations‐ handlung, genauer in dem dabei gesprochenen Gebet: Da diese Gebete entweder überhaupt nur [54] knappe Invokationen waren 70 oder doch Invokationen als festen Bestandteil enthielten, ist mit einer Gebetspräsenz der Gottheit zwar nicht beim Mahl insgesamt, wohl aber bei der Libation zu rechnen. Servius jedenfalls kommentiert: „Auch bei den Römern pflegte Ruhe einzutreten, nachdem das Mahl verspeist und die ersten Tische 71 aufgehoben waren; denn das, was von dem Mahl geopfert wurde, wurde zum Herd gebracht und in das Feuer gegeben, und dann verkündete ein Knabe die ‚gnädigen Götter‘ (deos propitios), um den Göttern durch Schweigen Ehre zu erweisen. Diesen Sachverhalt … bezeichnen die Griechen auch als Anwesenheit der Götter.“ 72 Präziser lässt sich nicht ausdrücken, was göttliche Präsenz beim Mahl in der Antike heißen konnte. Allerdings sind wenigstens zwei Hinweise wichtig. Zunächst ist dabei vorausgesetzt, dass die Libationsinvokation ein Gebet ist. Im Hintergrund steht die Frage, ob und wann die Einsetzungsworte im eucharisti‐ schen Ritual rezitiert wurden. Das älteste Beispiel liefert bekanntlich die schwer datierbare Traditio Apostolica mit den Bestimmungen zur Eucharistiefeier bei der Bischofsweihe, bei der die Einsetzungsworte als Teil des Dankgebets (! ) nach dem Mahl rezitiert werden. 73 Im 2. Jh. ist die Rezitation der verba testamenti als Teil des liturgischen Formulars dagegen nicht nachweisbar. Auch der jüngste Versuch, eine Rezitation der Einsetzungsworte bereits für Justin wahrscheinlich zu machen, 74 ist nicht überzeugend: Justins Terminologie verweist genau auf die 241 Der vergossene Becher <?page no="242"?> 75 Theißen führt Just., 1 Apol. 66,4 an: In den als Analogie zur christlichen Eucharistie gewerteten Mithrasmysterien würden Brot und Wasser „mit bestimmten Sprüchen“ (μετ’ ἐπιλόγων τινῶν) gereicht; für eine „entsprechende Darreichung der Abendmahl‐ selemente mit Sprüchen kommen aber nur die verba testamenti in Frage, nicht das eucharistische Gebet; denn ein ‚Epilogos‘ ist kein Gebet, sondern ein Schlusswort“ (ebd.). Dagegen erweist z. B. Plut., Arist. 21,5 ἐπιλέγω als term. techn. für den Wei‐ hespruch bei der Proposis: ἔπειτα κρατῆρα κεράσας οἴνου καὶ χεάμενος ἐπιλέγει· προπίνω τοῖς ἀνδράσι τοῖς ὑπὲρ τῆς ἐλευθερίας τῶν Ἑλλήνων ἀποθανοῦσι. 76 Vgl. etwa Iren., Haer. 1,13,2: Der Gnostiker Markus erweitert eigenmächtig das Dank‐ gebet nach dem Mahl (τὸν λόγον τῆς ἐπικλήσεως). - Orig., Dial. (Scherer 62 ff., über das Gebet διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ): Nach Origenes soll man beim Gebet (εὐχόμενοι) bei den festgelegten Formeln bleiben. - Cyp., Unit. Eccl. 17: Die Novatianer verwenden bei der Eucharistie ein Gebet mit falschem Wortlaut (precem alteram illicitis vocibus facere). - Cyp., Ep. 75,10,5 (die sog. „Montanistin“ verwendet bei der Eucharistie die gewohnten Gebetsworte). Vgl. dazu Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 460 ff. 77 Die Frage ist jeweils, ob die Doxologie „durch Christus“ (διὰ τοῦ παιδός / διὰ Χριστοῦ / per quem o. ä.) an Gott vermittelt wird, oder ob Christus selbst „Ko-Adressat“ der Doxologie ist (z. B. in Const. Ap. VIII,39,3: μεθ’ οὗ σοι δόξα κτλ.). Vgl. zu den Doxologien Klinghardt, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 19), 442 ff. Invokation bei der Libation. 75 Angesichts der Quellenlage ist davon auszugehen, dass die Einsetzungsworte in den ersten zwei Jahrhunderten [55] (und überwie‐ gend auch noch weit darüber hinaus) nicht Teil des liturgischen Formulars waren, sondern ihren Platz in den theologischen Diskursen über das Mahl hatten. Im rituellen Vollzug wird das Mahl nicht durch die (konsekratorisch verstandenen? ) Einsetzungsworte gedeutet, sondern durch die Gebete, wie denn auch die häresiologischen Auseinandersetzungen zeigen, die sich auf die Verwendung falscher Gebetsformulare beziehen. 76 Wichtiger ist jedoch zweitens die Einsicht, dass Jesus im Rahmen der Erzäh‐ lung vom letzten Mahl nicht seine eigene Gebetspräsenz ins Auge gefasst haben kann: Es kann nur die Präsenz Gottes als desjenigen gemeint sein, der den Neuen Bund gewährt. Dies ist auch für die rituelle Praxis der Rezipienten anzunehmen. Denn eine Gebetspräsenz Christi würde implizieren, dass sich die Libationsinvokation an den himmlischen Christus richtet. Auch wenn es frühere Belege für das Gebet an Christus gibt, hat erst die Trinitätslehre dafür eine grundsätzliche theologische Voraussetzung geschaffen. Ansonsten gilt ganz überwiegend, dass Christus (und zwar gerade als himmlische Gestalt! ) nicht als Adressat, sondern als Mittler von Gebeten fungiert, wie ungezählte Doxologien mit wünschenswerter Deutlichkeit zeigen. 77 5. Ritual, Transzendenz und Gemeinschaft Diese letzten Überlegungen weisen bereits über das Verständnis nur von Lk 22,20 hinaus. Zu fragen ist daher, welche Folgerungen sich aus diesen 242 Der vergossene Becher <?page no="243"?> 78 In allen vier Fassungen: Mt 26,26b; Mk 14,22b; Lk 22,19b; 1 Kor 11,24. 79 So für viele J. Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart (SBS 210), Stuttgart 2006, 128. 80 Darauf macht Wolter, Lk (s. Anm. 12), 704, zu Recht aufmerksam und schlägt vor, das Neutrum τοῦτο (Lk 22,19b) „als Angleichung an τὸ σῶμα zu erklären.“ 81 So wiederum zu Recht Wolter, Lk (s. Anm. 12), 706: „Das in Jesus präsente Heil (wird) beim Brotbrechen in der christlichen Gemeinde im Modus der Erinnerung vergegenwär‐ tigt“ (Hervorhebung M.K.). Nimmt man den rituellen Charakter des Brotbrechens ernst, dann ist der „Modus der Erinnerung“ kein Akt mnemonischen Gedenkens, sondern der ritualisierte Nachvollzug: Gedeutet wird nicht das Brot, sondern das Ritual. 82 Aufschlussreich ist dafür die Unterscheidung zwischen Empfang und Feier der Eucha‐ ristie, da vor allem der tägliche Empfang in aller Regel mit einer Privatkommunion verbunden war; er ist zuerst im 3. Jh. bezeugt (z. B. Cyp., Dom. Orat. 18; Ps. Cyp., De Cent. [PL.S 1, 63,35 ff.] usw.) und damit rund 100 Jahre älter als das Aufkommen der täglichen Eucharistiefeier; vgl. R. Kottje, Das Aufkommen der täglichen Eucharis‐ Einsichten zum sog. „Becherwort“ bei Lk für das Verständnis der anderen Mahlberichte ergeben. Denn wenn Jesus in Lk 22,20 nicht ein Mahlelement, sondern das Ritual deutet, liegt die Vermutung nahe, dass dies auch sonst der Fall sein könnte. Für den gemeinschaftlich getrunkenen Becher Mk 14,23 und Mt 26,27 ist bereits deutlich geworden, dass auch hier mit dem Proposiskelch das Ritual gedeutet wird (s. o.). Ähnliches ist auch in den sog. Brotworten der Fall. Es ist verschiedentlich aufgefallen, [56] dass das Subjekt τοῦτο im sog. Brotwort 78 nicht speziell auf das zuvor genannte „Mahlelement“ Brot referiert, sondern auf den gesamten Vorgang der Mahleröffnung, der durch die Verben nehmen - danken - brechen - geben bezeichnet ist. Als Begründung wird die Inkon‐ gruenz zwischen dem Neutrum des Demonstrativums und dem Maskulinum des Bezugswortes (ὁ ἄρτος) angeführt. 79 Zwar ist das philologische Argument nicht belastbar, da solche Inkongruenzen zwischen Demonstrativa, die durch ein Prädikatsnomen bestimmt werden (wie in der Formulierung τοῦτό ἐστιν …), immer in einer doppelten Relation stehen und schon deswegen Inkongruenzen nach sich ziehen. 80 Aber auch wenn die Syntax hier keine Eindeutigkeit herstellt, legt doch die Textsemantik einen Bezug des Demonstrativums (τοῦτο) auf die gesamte Handlungsfolge des Mahleröffnungsritus nahe. 81 Auch wenn dieses Verständnis hier nur angedeutet werden kann, liegt es nahe, dass Jesus in allen vier erhaltenen Mahlberichten nicht die Mahlelemente Brot und Wein deutet, sondern das Ritual als solches, das durch die beiden wesentlichen, jeweils durch Gebete religiös ausgezeichneten Bestandteile der Mahleröffnung und der Libation zum Schluss repräsentiert wird. Dieses Ver‐ ständnis lenkt den Blick auf die entscheidenden Veränderungen des Mahlvers‐ tändnisses in der Alten Kirche. Denn als seit dem 3. Jh. die rituelle Form der Eucharistie als gemeinsames Sättigungsmahl zu verschwinden begann, 82 243 Der vergossene Becher <?page no="244"?> tiefeier in der Westkirche und die Zölibatsforderung, in: ZKG 82 (1971), 218-228, und präzisierend H. Hammerich, Der tägliche Empfang der Eucharistie im 3. Jh., in: ZKG 84 (1973), 93-95. 83 Auch wenn es noch ein langer Weg hin zu der Ausbildung der Transsubstantiationslehre war, sind deren Voraussetzungen in dieser Vorstellung schon erkennbar angelegt. fielen auch die beiden zentralen Mahlriten des Brotbrechens zu Beginn und der Libation am Ende des Mahls weg: Damit verlor die Mahltheologie ihren entscheidenden rituellen Kontext und die Haftpunkte der Deutung des Mahls im Mahleröffnungs- [57] und im Libationsgebet. Die notwendige Adaption der Mahltheologie an die sich verändernde Form des Rituals macht es erfor‐ derlich, dass nicht mehr die konkreten Mahlriten, sondern die Mahlelemente Haftpunkte der Deutung wurden: „Brot“ und „Wein“ wurden als Deutungsträger unabhängig von dem gemeinsamen Sättigungsmahl in neuen Ritualformen rekontextualisiert, wie sie sich in den liturgischen Formularen der spätantiken Messfeier zeigen. Dieser Transformationsprozess, der schon früher durch Deutungen des Mahls als „pneumatische Speise“ o.ä. vorbereitet war, eröffnet eine Reihe wichtiger Einsichten. Zunächst wird jetzt verständlich, warum die altkirchlichen Quellen so pointiert „Brot“ und „Wein“ auf den dahingegebenen Leib und das vergossene Blut Christi - mithin: auf den Tod Jesu deuten können. Die Auslegungstradition, die für das „Becherwort“ der Einsetzungsberichte eine Kelch-Inhalt-Metonymie als notwendiges (! ) Deutungselement substituiert (s. Anm. 54), korrespondiert mit dieser ritualgeschichtlichen Veränderung: Sie interpretiert eine Eucharistie, deren rituelle Gestaltung so erst seit dem 3. Jh. greifbar wird. Eine unmittelbare Folge der ritualgeschichtlichen Veränderungen war demnach eine „Christolo‐ gisierung“ der Mahltheologie. Denn wenn die Mahlelemente Brot und Wein als Leib und Blut Jesu gedeutet werden, dann erhält dieses Mahl seine religiöse Signifikanz durch die sakramentale Anteilhabe der Teilnehmer an Christus. Es ist genau dieser christologische Bezug, der den Transzendenzaspekt der Unverfügbarkeit des Heils - in der Sprache der Tradition: das extra nos - gewährleistet. Und es ist unmittelbar einsichtig, dass eine (wie auch immer konkret gedachte) 83 sakramentale Anteilhabe an Leib und Blut Christi in erster Linie dem einzelnen Kommunizierenden und nur auf diesem Umweg auch der eucharistischen Gemeinschaft als solcher zuteilwerden kann. In jedem Fall und unbeschadet von Unterschieden im Einzelnen ist die enge Entsprechung zwischen der rituellen Form der Eucharistie und ihrer theologische Deutung erkennbar. Je deutlicher dieser Zusammenhang zwischen dem theologischen Ver‐ ständnis der Eucharistie und ihren ritualgeschichtlichen Voraussetzungen wird, 244 Der vergossene Becher <?page no="245"?> 84 J. Z. Smith, To Take Place. Toward Theory in Ritual, Chicago 1987, 101; Taussig, In the Beginning (s. Anm. 19), 56 ff. desto klarer wird umgekehrt, dass die neutestamentlichen Zeugnisse ein anderes Bild zeichnen: Das Mahl ist ein reguläres Sättigungsmahl, dessen religiöse Deutung jedoch nicht an den Elementen „Brot“ und „Wein“, sondern an den Riten des Brotbrechens und der Libation [58] haftet. Aus diesem Grund ist der Zusammenhang zwischen der Gestalt des Rituals und seiner religiösen Bedeutung für die neutestamentlichen Zeugnisse anders zu bestimmen, als dies seit dem 3. Jh. üblich wurde. Zunächst lassen die hier vorgetragenen Überlegungen zum Vergießen des Libationsbechers erkennen, dass die Herstellung und Vergewisserung der so‐ zialen und religiösen Gruppenidentität im Ritual als Ritual stattfindet. Die kommunikative Funktion von Ritualen ist nicht von einer Explizierung der Ritualsemantik in deutenden Kommentaren abhängig, sondern von dem Ver‐ ständnis der rituellen Syntax, die durch die einzelnen Handlungssequenzen des Rituals generiert wird: Die kommunikative Kompetenz im Umgang mit dieser rituellen Grammatik wird durch Einübung erworben. Für die Ritualsemantik des frühchristlichen Mahls als Ganzes und der Libation im Besonderen hat sich gezeigt, dass die verbreitete Mahlkultur der griechisch-römischen Antike die längst habituell gewordene Matrix für das Verständnis des Gemeinschafts‐ mahls abgab: Das „christliche Mahl“ ist keine neue Erfindung, sondern eine Neuakzentuierung von längst Bekanntem. Dazu gehört in erster Linie, dass die Libation den entscheidenden Kulminationspunkt darstellt, der Fragen der sozialen Beziehungen der Teilnehmer untereinander fokussiert und deren Ide‐ allösung innerhalb der sympotischen Gruppe rituell darstellt. 84 Insofern fallen in der Libation die Konstituierung der Gemeinschaft und ihr unverfügbarer Grund unmittelbar zusammen: Wenn der Libationsbecher selbst der Neue Bund ist, dann werden die in der Erzählung erwähnten Apostel durch den Vollzug der Libation, also durch das Vergießen des Bechers, zu einer Gemeinschaft: Sie werden selbst dieser Neue Bund. Das Ritual des Gemeinschaftsmahls mit der Libation ist daher nicht Mittel zum Zweck (in der Sprache der Tradition: nicht medium salutis), sondern ist selbst der Zweck, ist selbst salus: Die soteriologische „Wirkung“ des Mahls ist die unverfügbare Konstituierung der Gemeinschaft im rituellen Vollzug. 245 Der vergossene Becher <?page no="247"?> Kanon Ταῦτα δὲ ἐγένετο μὲν οὐδέποτε, ἔστι δὲ ἀεί. (Salustios, De deis et mundo 4,9) <?page no="249"?> 1 W. W R E D E , Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Ver‐ ständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901 ( 4 1969); für die redaktionsgeschicht‐ liche Forschung zu Mk mag hier W. M A R X S E N , Der Evangelist Markus (FRLANT 67), Göttingen 1956, stehen. 2 Aristoteles, Poet. 10 (1452a 21). Auf die aristotelische Bestimmung episodischer Texte hat C. B R E Y T E N B A C H aufmerksam gemacht: Das Markusevangelium als episodische Erzählung. Mit Überlegungen zum „Aufbau“ des zweiten Evangeliums, in: F. H A H N (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums (SBS 118/ 119), Stuttgart 1985, 139-169. Boot und Brot Zur Komposition von Mk 3,7-8,21 Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, in: BThZ 19 (2002), 183-202. I. Zur Kompositionsanalyse im Markusevangelium 1. Das Problem der Komposition 100 Jahre nach William Wrede und rund ein halbes Jahrhundert nach dem Aufkommen der redaktionsgeschichtlichen Forschung 1 gehört die Einsicht, dass Gliederung und Gesamtintention des Mk einem theologischen Konzept folgen, zu den unbestrittenen Fixpunkten der Evangelienforschung. Ebenso unstrittig ist, dass das Geheimnismotiv, unbeschadet aller Modifikationen im Einzelnen, einen wichtigen Teil dieses theologischen Konzepts bildet. Aber an dieser Stelle hört der Konsens der Forschung auch schon auf. Denn wie dieses theologische Konzept genauer zu bestimmen sei und auf welche Weise es sich erheben ließe, ist keineswegs klar. Der Grund dafür liegt in der charakteristischen Reihung von Einzelperikopen, aus denen Mk besteht. Die relativ hohe Selbständigkeit der Perikopen ist zwar rezeptionsgeschichtlich eine Stärke, weil sie für die Applikation nur in einen neuen Kontext gestellt werden müssen, in literarischer Hinsicht aber ist sie zumindest problematisch. Denn für die Abfolge der Perikopen ist nicht ohne weiteres erkennbar, ob ein geschildertes „Ereignis infolge eines anderen Ereignisses eintritt oder nur nach einem anderen.“ 2 Das erste wäre eine gute Erzählung, das zweite dagegen ein Text, in dem „die Episoden weder nach der Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit aufeinander folgen. Solche <?page no="250"?> 3 Aristoteles, Poet. 9 (1451b 33). 4 Aus der Lit.: L. F. X. B R E I T , Suggestions for an Analysis of Mark's Arrangement, in: C. S. M A N N (ed.), Mark: A New Translation with lntroduction and Commentary (AB 27), Garden City 1986, 174-190; W. H. K E L B E R , Mark's Story of Jesus, Philadelphia 5 1987, 30-42; F R . G. L A N G , Kompositionsanalyse des Markusevangeliums, ZThK 74 (1977), 1-24; N. R. P E T E R S E N , The Composition of Mark 4: 1-8: 26, HTR 73 (1980), 184-217; G. R A U , Das Markus-Evangelium. Komposition und Intention der ersten Darstellung christlicher Mission, in: ANRW II 25/ 3, Berlin/ New York 1985, 2036-2257: 2096-2135; F. M. B. V A N I E R S E L , Mark. A Reader-Response Commentary (JSNT.S 164), Sheffield 1998, 110-126; E. K. W E F A L D , The Separate Gentile Mission in Mark: A Narrative Explanation of Markan Geography, the Two Feeding Accounts and Exorcisms, JSNT 60 (1995), 3-26. Weiteres in dem Sammelband von F. H A H N , a. a. O. (Anm. 2), mit Lit. 199 f. 5 Charakteristisch ist V A N I E R S E L s Stoßseufzer: „The structure of the third section of the first main part (i.e. 4,35-8,21) is less transparent than the reader would wish“ (a. a. O. [Anm. 4], 123). 6 N. R. P E T E R S E N , a. a. O. (Anm. 4), passim. 7 Zur leichteren Orientierung kennzeichne ich den jeweiligen Inhalt durch ein Stichwort der traditionellen Perikopenbezeichnung, ohne damit inhaltliche Bewertungen zu verbinden. Handlungen werden von den schlechten Dichtern aus eigenem Unvermögen gedichtet.“ 3 Die Frage ist also, ob Mk ein „schlechter Dichter“ ist, der einzelne Mosaiksteine ungeordnet zusammen wirft, oder ob die Einzelepisoden sich zu einer folgerichtigen, kohärenten Komposition verbinden und ein klares Mosaikbild erkennen lassen. Die literaturwissenschaftlich orientierte Exegese des narrative criticism hat letzteres entschieden behauptet und in den vergangenen 20 Jahren eine Reihe von [184] Rekonstruktionsversuchen vorgelegt, 4 die allerdings bislang noch kaum Niederschlag in der (deutschsprachigen) Kommentarliteratur gefunden haben. Ich versuche, die Linien der mk Komposition für einen größeren Ab‐ schnitt, nämlich für die rund um den See Genezareth angesiedelten Episoden in Mk 4-8, nachzuzeichnen. Dieser Abschnitt bietet sich für die Analyse der narrativen Struktur an, weil er eine ganze Reihe deutlicher Kompositionssignale besitzt, ohne dass die Struktur eindeutig wäre. 5 Zwei kurze Beispiele zeigen die Probleme. 2. Zwei Baupläne Norman Petersen 6 geht aus von den drei Erzählungen, die auf dem See im Boot spielen, 7 also 4,35-41 (Sturmstillung), 6,45-52 (Seewandel) und 8,13-21 (letzte Seeüberquerung), denen jeweils eine Szene „Jesus und die Menge“ vorangeht und eine Heilung nachfolgt, so dass sich drei gleichmäßig aufgebaute „Zyklen“ 250 Boot und Brot <?page no="251"?> 8 I. 4,1-34 (Gleichnisse) - 4,35-41 (Sturmstillung) - 5,1-20 (Besessener Gerasener); II. 6,30-44 (Speisung der 5000) - 6,45-52 (Seewandel) - 6,53-56 (Summar: Heilungen in Genezareth); III. 8,1-12 (Speisung der 4000) - Letzte Bootsfahrt (8,13-21) - Blindenhei‐ lung in Bethsaida (8,22-26). 9 Intervall 1: 5,21-43 (Tochter des Jairus und blutflüssige Frau), 6,1-6a (Ablehnung in Nazareth) und 6,6b-29 (Aussendung der Jünger). Intervall 2: 7,1-23 (Lehre über Reinheit), 7,24-30 (Syrophönizierin) und 7,31-37 (Taubstummer). 10 F. M. B. V A N I E R S E L , Mark, a. a. O. (Anm. 4), 123 ff. 11 A. 5,1-20 (Ablehnung Jesu durch die Gerasener), 5,21-43 (Tochter d. Jairus/ blutflüssige Frau), 6,1-6 (Ablehnung in Nazareth). B. 6,7-13 (Jünger: Aussendung), 6,14-29 (Tod des Täufers), 6,30-34 (Jünger: Rückkehr). C. 6,53-56 (Heilungen [ Juden], 7,1-23 (Belehrung über Reinheit), 7,24-37 (Heilungen [Heiden]). ergeben. 8 Zwischen diese drei „Zyklen“ seien zwei „Intervalle“ 9 eingeschoben, die durchweg auf dem Land spielen. Ohne auf Einzelheiten dieses Entwurfs einzugehen, wird doch schon an den Bezeichnungen deutlich, dass die mk Episoden keineswegs gleich gewichtet werden, sondern ihre Bedeutung dadurch erhalten, wie gut sie sich den zugrunde gelegten Seegeschichten zuordnen lassen: Für die Texte, die Petersen den drei „Zyklen“ zuweist, geht das noch leidlich, für das restliche, in den „Intervallen“ zusammengefasste Material dagegen kaum: Die Wahrnehmung einer Textgruppe als „Intervall“ ist nicht an ihrer eigenen Struktur orientiert (die in beiden Fällen auch nicht wirklich einsichtig wird), sondern an ihren Begrenzungen. [185] Auf andere Weise gliedert Bas van Jersel 10 diesen Abschnitt: Auch er geht von den drei Bootsszenen aus (wobei er 8,10-21 als eine Einheit sieht). Den dazwischen liegenden Partien (5,1-6,44; 6,53-8,9) sei gemeinsam, dass jeweils am Ende eine Speisungsgeschichte zu stehen komme (6,35-44; 8,1-9) und der verbleibende Rest aus insgesamt drei chiastischen Dreierstrukturen bestehe, in denen jeweils das erste und das letzte Glied aufeinander bezogen seien. 11 Auch hier bleiben am Ende mehr Fragen als Antworten: So ist beispielsweise nicht unmittelbar einsichtig, dass „Ablehnung Jesu durch die Heiden“ das dominierende Thema von 5,1-20 sei und mit 6,1-6a korrespondiere. Auch die Entsprechung zwischen den summarisch erzählten Heilungen in Genezareth (6,53-56) und den beiden ausgeführten Heilungsgeschichten in Tyros und in der Dekapolis (7,24-30.31-37) drängt sich keineswegs auf. Und schon die grundlegende Annahme von drei rahmenden Episoden, die auf dem See im Boot spielen, überzeugt kaum: Damit das Konzept überhaupt aufgeht, muss 8,10-21 - trotz der ausdrücklichen Einstiegsnotiz in 8,13 - als eine Einheit gewertet werden. Dass beide Entwürfe trotz einer Vielzahl guter Beobachtungen im Einzelnen am Ende nicht wirklich überzeugen können, liegt allerdings weniger an diesen 251 Boot und Brot <?page no="252"?> 12 Unstrittig ist die chiastische Struktur z. B. in 5,21-43 oder 6,7-30. Zu konzentrischen Kompositionen auf einer mittleren Ebene vgl. F. M. B. V A N I E R S E L , Concentric Structures in Mark 2,1-3,6 and 3,7-4,1: A Case Study, in: C. F O C A N T (Hg.), The Synoptic Gospels: Source Criticism and the New Literary Criticism (BETL 110), Leuven 1993, 521-530. Der Nachweis ist vor allem dann möglich, wenn der Handlungsfaden wieder aufgenommen wird; eine konzentrische Anordnung verwandter Themen (so erwogen z. B. für Mk 2,1-3,6) ist schon sehr viel schwerer nachweisbar. 13 N. R. P E T E R S E N , a. a. O. (Anm. 4), 193 ff. sieht den Anfang der Einheit in 4,1, das Ende in 8,26; das ist aufschlussreich, weil er das Boot als entscheidendes Kriterium sieht, 3,9 (und das heißt: 3,7-35) aber nicht berücksichtigt, da es nur „in anticipation of a contingency“ (194) eingeführt sei, aber erst ab 4,1 eine Rolle spiele (dazu gleich). F. M. B. V A N I E R S E L , Mark, a. a. O. (Anm. 4), 123 ff.: Anfang 4,35, Ende 8,21. Der unterschiedlichen Begrenzung scheinen kaum Grenzen gesetzt, als Beispiel nenne ich nur M. A. T O L B E R T , Sowing the Gospel: Mark's World in Literary-Historical Perspective, Minneapolis 1989, 311 ff., die 3,7-6,34 und 6,35-8,21 zusammenfasst. Einzelfragen als vielmehr an zwei grundsätzlicheren Problemen. Das erste ist das Bestreben gerade der neueren, literaturwissenschaftlich orientierten Arbeiten, formale Kompositionsmuster zu entdecken. So sind chiastische Struk‐ turen in der Abfolge von Einzelperikopen zwar für kleinere Einheiten ohne weiteres erkennbar, lassen sich aber als Strukturprinzip größerer Textteile kaum überzeugend nachweisen. 12 Die Wahrnehmung komplexer, symmetri‐ scher Strukturen auf einer Makroebene wie in den besprochenen Beispielen ist nur einer „Draufsicht“ auf den Gesamttext möglich und überfordert das Perzep‐ tionsvermögen bei einer „normalen“, progressiven Lektüre. Eng verbunden mit dem Problem symmetrischer Strukturen ist die Frage der Abgrenzung, mit der jede Analyse beginnt und endet, weil sich das inhaltliche Zentrum einer Einheit aus ihrer Peripherie ergibt und umgekehrt. Da Erzählungen im Unterschied zu diskursiven Abhandlungen nicht aus streng gegliederten Kapiteln bestehen, sondern aus sich überlagernden Erzählsträngen, ist von vornherein eher mit fließenden Übergängen zu rechnen als mit eindeutig erkennbaren Einschnitten: Wie unwahrscheinlich die Annahme einer symmetrischen Makrostruktur ist, zeigen die besprochenen Beispiele [186] auch dadurch, dass sie Anfang und Ende dieser Einheit unterschiedlich bestimmen. 13 3. Erzähllinien Der folgende Vorschlag ist daher stärker an inhaltlichen als an formalen Merkmalen orientiert. Er versucht den Erzähllinien des Textes enger zu folgen und dabei eine Beobachtung zur Geltung zu bringen, die für die geographischen und topographischen Angaben bei Mk längst erkannt ist: Es gibt eine Anzahl wichtiger Leitbegriffe, die über ihre denotative (lexikalische) Bedeutung hinaus mit zusätzlichen Bedeutungsaspekten konnotiert werden, sich mit dem Fort‐ 252 Boot und Brot <?page no="253"?> 14 Vgl. dazu C. B R E Y T E N B A C H , a. a. O. (Anm. 2), 145 mit der Anm. 6 gen. Literatur. 15 Die Sorge um mangelndes Brot war in den Speisungsgeschichten bisher nur an Land und nur für andere thematisiert worden. Umgekehrt hatte die Frage der Verpflegung bei den vorangehenden vier Seeüberquerungen (4,35 ff.; 5,21; 6,45 ff.; 8,10-12) keine Rolle gespielt. 16 Eine diachrone Lektüre rechnet hier mit redaktionellen Eingriffen, vgl. z. B. M. D. H O O K E R , The Gospel According to St. Mark, London 1991, 194 z. St., die „den offenkun‐ digen Mangel einer Verbindung“ zwischen V. 15 einerseits und V. 14.16 andererseits dadurch erklärt, dass V. 15 ein „unabhängiges Logion sei, das Mk an dieser Stelle in den Kontext eingeschoben“ habe; warum, bleibt unklar. gang der Erzählung 14 auch entwickeln und zueinander in Beziehung treten. So entsteht ein komplexes Bedeutungssystem, das zu beschreiben wäre. Die Auswahl der wichtigsten Begriffe ist in diesem Fall leicht, weil der Text selbst an einer Stelle ausdrücklich mehrere Einzelperikopen miteinander ver‐ netzt und dabei auf ein Verstehen verweist, das sich offenkundig auf komplexere Bedeutungsaspekte bezieht: Während der letzten Fahrt auf dem See Genezareth in 8,13-21 entspinnt sich der eigenartige, nicht unmittelbar verständliche Dialog, in dem Jesus pointiert auf die beiden Speisungsgeschichten verweist und den Jüngern mehrfach und heftig Unverständnis vorwirft. Ich entnehme dieser Perikope vorläufig nur einige grundlegende Hinweise: (1) Obwohl die Szene ausdrücklich im Boot lokalisiert ist (8,14), spielt dieses anschließend keine Rolle mehr und wird, ganz im Gegensatz zu den vorange‐ henden Episoden, im restlichen Evangelium überhaupt nicht mehr erwähnt. Das ist auffällig, weil das Boot für die geschilderten Ereignisse (also das Gespräch Jesu mit den Jüngern) auf den ersten Blick nicht konstitutiv ist. 15 (2) Auffällig ist auch die Bemerkung über das vergessene Brot in 8,14, denn einerseits ist Brot vergessen, andererseits ist welches vorhanden; abgesehen von der ungelenken Formulierung („und außer einem einzigen Brot hatten sie keines bei sich in dem Boot“), stört diese Bemerkung sachlich, weil sie die erzählökonomisch wichtige Sorge der Jünger (8,16 f.) verringert. (3) Die Warnung Jesu vor dem Sauerteig der Pharisäer und des Herodes (8,15) scheint den Kontext der Sorge der Jünger um das vergessene Brot (8,14.16) zu stören. 16 (4) Auffällig ist schließlich auch die Vehemenz, mit der das [187] Nichtverstehen der Jünger thematisiert wird: Die Jünger werden getadelt, weil sie nicht verstehen (8,17), nicht begreifen (8,17.21), weil sie nicht sehen, nicht hören, sich nicht erinnern (8,18) und ein verhärtetes Herz haben (8,17). Auffällig ist diese Kritik auch deshalb, weil die Erzählung am Ende nicht erklärt, was genau die Jünger hätten verstehen sollen. (5) Von Bedeutung ist schließlich noch die Präzision, mit der sich der Rückverweis (8,19 f.) auf die beiden Speisungsgeschichten bezieht: Die unterschiedlichen Wörter für die „Körbe“, in denen die Reste eingesammelt wurden, werden 253 Boot und Brot <?page no="254"?> 17 Der Verweis auf die Speisung der 5000 in 8,19 erwähnt, genau wie die Erzählung selbst (6,43), zwölf Körbe mit Resten und verwendet dabei das Wort κόφινος; dagegen verwendet der Verweis auf die Speisung der 4000 (8,20), genau wie zuvor in 8,8, das Wort σπυρίς. 18 Angesichts der Bedeutung der drei auf dem See spielenden Episoden in den genannten Gliederungsversuchen ist der Hinweis nicht überflüssig, dass die Struktursignale, die der Text selbst unübersehbar setzt, sich auf 6,30-44 und 8,1-9 beziehen, nicht aber auf 4,35-41 und 6,45-52. 19 5,2.18.21; 6,32. 6,34.54; 8,10.8,13. mit den genauen Zahlenangaben aufgegriffen. 17 Das schließt jeden Zufall aus: Mk schafft durch die Verbindung mehrerer Einzelepisoden sehr bewusst eine umfassende Struktur, die mindestens von 6,33 bis 8,21 reicht. 18 Diese Perikope am Ende der ganzen Einheit enthält alle wichtigen Stichworte, mit denen längere Erzähllinien miteinander verbunden sind und macht mit dem Hinweis auf das Verstehen hinreichend klar, dass die Ereignisse eine symbolische Tiefendimension besitzen. Die folgende Skizze dieser Erzähllinien zu den Themen „Boot“ und „Brot“ soll die narrative Struktur des Abschnitts durchsichtig machen. II. Boot 1. Zur Abgrenzung der Einheit Ich beginne mit dem Boot, das in zahlreichen Einzelepisoden des ganzen Abschnittes begegnet; mit ihm verbindet sich der längste Erzählfaden, der auch eine sinnvolle Abgrenzung der ganzen Einheit ermöglicht. Wichtig sind zunächst die drei Erzählungen, die auf dem See spielen und das Boot jeweils mehrfach erwähnen: Die Stillung des Sturms (4,35-41), der Seewandel (6,45-52) und die gerade erwähnte letzte Bootsfahrt (8,13-21). Daneben gibt es jedoch noch eine erstaunlich lange Reihe von Belegen, an denen die Erwähnung des Bootes überflüssig zu sein scheint und jedenfalls für die Ereignisfolge irrelevant ist. 19 Nun finden sich zwei vergleichbare Erwähnungen des Bootes bereits vorher: Im Zusammenhang der summarischen Erwähnung der großen, aus allen Landesteilen kommenden Menge fordert Jesus die Jünger völlig unvermittelt auf, ihm ein Boot bereit zu halten „wegen der Menge, damit sie ihn nicht bedrängen“ (3,9). Auffälligerweise benutzt Jesus das Boot dann gar nicht, um sich von der Menge zurückzuziehen. [188] Statt dessen führt die Erzählung zunächst vom See weg, erst auf den Berg, auf dem Jesus die Zwölf „macht“ (3,13-19), dann in ein Haus, in dem und um das herum die Beelzebuldebatte und die Auseinandersetzung um die wahren Verwandten spielen (3,20-35). Erst 254 Boot und Brot <?page no="255"?> 20 Etliche Handschriften lesen hier den Artikel und identifizieren auf diese Weise das Boot von 4,1 mit dem schon 3,9 erwähnten. Unerheblich ist dabei offensichtlich, dass 3,9 von einem „Bootchen“ (πλοιάριον) die Rede ist, in allen folgenden Belegstellen dagegen von einem Boot (πλοῖον): Nachdem deutlich ist, dass es sich um ein kleines Boot handelt, braucht der Diminuitiv nicht weiter verwendet zu werden. 21 Die Jünger nehmen Jesus ans andere Ufer mit „wie er im Boot war“ - also wohl: ohne dazwischen liegenden Landgang (vgl. F. M. B. V A N I E R S E L , Mark, a. a. O. [Anm. 4], 194). 22 Hervorgehoben z. B. von R. A. G U E L I C H , Mark 1-8: 26 (WBC 34); Dallas 1989, 203 z. St.: Der Szenenwechsel habe ein „dilemma of locale and audience“ zur Folge. 23 Dasselbe gilt für die summarische Notiz 4,34. Interessant ist in diesem Zusammenhang das bekannte Phänomen der unterschiedlichen Einleitungsformeln καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς (4,11.21.24), καὶ ἔλεγεν (4,9.26.30) und καὶ λέγει αὐτοῖς (4,13). Eine diachron orientierte Lektüre sieht in den unterschiedlichen Einleitungsformeln Hinweise auf Redaktion (καὶ ἔλεγεν αὐτοῖς) bzw. Tradition (καὶ ἔλεγεν und καὶ λέγει αὐτοῖς; vgl. z. B. H. W. K U H N , Ältere Sammlungen im Markusevangelium [StUNT 8], Göttingen 1971, 122 ff.). Bei synchroner Lektüre lesen sich die Signale anders: Die unterschiedliche Redeeinleitung mit und ohne indirektes Objekt (αὐτοῖς) signalisiert dann den Adressatenwechsel zwischen der Menge am Ufer und den Jüngern im Boot, die ja nach 4,33 f. beide angeredet bleiben; der ausdrückliche, erzählerisch aber nicht eingelöste Hinweis, dass Jesus den Jüngern „alle Gleichnisse auflöste“ (4,34) macht deutlich, dass an dieser Stelle auch die Leserinnen und Leser mit in den Blick genommen werden. mit einigem erzählerischen Abstand wird das 20 Boot wieder erwähnt (4,1): Jesus steigt wegen des großen Andrangs hinein, um vom Wasser aus die Menge auf dem Ufer zu belehren. Hier wird also das ursprüngliche Motiv für Jesu Forderung nach dem Boot (3,9b) erzählerisch eingelöst. Dadurch entsteht ein durchgängiges Erzählgefälle von 3,7 ff. hin zur Gleichnisrede; an deren Ende wiederum greift die Notiz vom Aufbruch (4,36) die 4,1 vorausgesetzte Situation auf. 21 Dass dadurch Unstimmigkeiten innerhalb der Gleichnisrede entstünden, 22 kann ich nicht erkennen: Wenn man den engen erzählerischen Rahmen in 4,1.36 beachtet, erweckt die spezielle Jüngerunterweisung (4,10) den Eindruck, dass Jesus mit erhobener Stimme zu der Menge am Ufer spricht und sich halblaut an die Jünger im Boot wendet. 23 Das Boot gibt also zunächst ein tragfähiges Kriterium für die Abgrenzung dieser Erzähleinheit ab; wie weit diese am Ende reicht, ist nicht ohne weiteres deutlich: Zum letzten Mal wird das Boot, das in Kap. 7 überhaupt nicht vorkommt, bei der Seeüberquerung 8,13(-21) erwähnt, danach überhaupt nicht mehr: Die folgende Notiz „und sie kommen nach Bethsaida“ (8,22) lässt offen, ob diese Ankunft im Boot oder zu Fuß geschieht, und damit bleibt auch der kompositorische Ort der Erzählung von der Blindenheilung in Bethsaida (8,22- 26) im Gesamttext unklar. Aber Klarheit ist vielleicht gar nicht intendiert, denn auch die weiteren Hinweise sind insgesamt ambivalent. Für die traditionelle Gliederung, die 8,22-26 noch zum Vorangehenden zieht und dementsprechend 255 Boot und Brot <?page no="256"?> 24 Die Eingangswendung 8,22 greift die Formulierung aus 7,33 wörtlich identisch wieder auf. Außerdem wird nur in diesen beiden Geschichten von einer magischen Handlung im Zusammenhang der Heilung berichtet (7,33; 8,23.25). 25 Vgl. die Stichworte aus 8,18 in 8,23-25 (Augen; sehen) und in 7,33 (Ohren; hören). Ohne die Erwähnung der magischen Praktiken wäre die wörtliche Entsprechung nicht so deutlich geworden. 26 Ich kann nicht erkennen, dass diese Zuordnung eine Kritik an den Jüngern impliziert, die schlechter dran sind als die geheilten Nicht-Jünger (z. B. R. C. T A N N E H I L L , Die Jünger im Markusevangelium - die Funktion einer Erzählfigur, in: F. H A H N [a. a. O., Anm. 2], 39-66; 58 f.). 27 Zur Rolle, die „der Weg“ in 8,27-10,52 für die geographische Gliederung des Mk spielt (8,27; 9,33 f.; 10,17.32 f.46.52), vgl. F. M. B. V A N I E R S E L , Locality, Structure, and Meaning in Mark, LingBibl 53 (1983), 45-54; dasselbe ausführlicher unter dem Titel „Markus - Geographie und Bedeutung“, in: D E R S ., Markus. Kommentar, Düsseldorf 1993, 272-300 (zuerst 1982). einen wichtigen Einschnitt in 8,27 annimmt (den auch das Druckbild des Nestle-Aland 27 zeigt), spricht zunächst, dass die Eingangswendung von 8,27 den Neubeginn deutlicher markiert als die von 8,22. Darüber hinaus weisen die beiden Heilungsgeschichten 7,(31)32-37 und 8,22.26 [189] so deutliche Ähnlichkeiten in Wortlaut und Gestaltung auf, die sie zugleich von anderen, vergleichbaren Texten unterscheiden, dass eine sehr enge Beziehung gerade zwischen diesen beiden Episoden unabweisbar ist. 24 Mit anderen Worten: Die Berichte von der Heilung des Taubstummen und des Blinden liegen wie ein Rahmen um den Vorwurf der Blindheit und Taubheit gegenüber den Jüngern 25 und qualifizieren diese so als Wahrnehmungsdefizite in einem sehr spezifischen Sinn. 26 Von daher gehört 8,22-26 sehr eng zu dem vorangehenden Abschnitt, in dem das Nichtverstehen der Jünger ja mehrfach thematisiert wird. Andererseits aber ist 8,22-26 nicht nur mit dem Vorangehenden verbunden, sondern wegen der Entsprechung zu 10,46-52 auch mit dem Folgenden. So rahmen die beiden Blindenheilungen in Bethsaida und Jericho den Abschnitt, der Jesus „auf dem Weg“ zeigt und die Notwendigkeit des Leidens thematisiert, 27 und machen in ihrer Unterschiedlichkeit die dazwischen liegende Entwick‐ lung deutlich: Die Heilung in Bethsaida erfolgt schrittweise, als stufenweise zunehmende Klarheit des Sehens, während die Sehfähigkeit des Bartimäus unmittelbar wieder hergestellt wird. Dem entspricht, dass Jesus den Geheilten in Bethsaida wieder nach Hause zurück schickt und ihm verbietet, „in das Dorf zu gehen“ (8,26: er soll also nicht missionieren); dagegen wird Bartimäus’ Fähigkeit zu sehen dadurch gedeutet, dass er „Jesus auf dem Weg folgt“ (10,52): Beide unterscheidet die Einsicht in die Notwendigkeit und die Dimension des Leidens, für die das Stichwort der Nachfolge steht. So wird man am Ende sagen müssen, dass 8,22-26 gerade aufgrund der genannten kompositorischen 256 Boot und Brot <?page no="257"?> 28 Die Übergangsfunktion von 8,22-26 hatte schon A. K U B Y , Zur Konzeption des Markus-Evangeliums, ZNW 49 (1958), 52-64: 63 f. betont. 29 Mt jedenfalls hat das Boot an etlichen Stellen einfach gestrichen, an denen es ihm für die Handlungsfolge verzichtbar erschien (vgl. die Parallelen zu Mk 5,2.18.21; 6,54; 8,10 [hier nur ἐμβάς]; 8,14). Ob diese Korrektur nur aus stilistischen oder aus inhaltlichen Gründen erfolgte, bleibt offen. 30 3,9; 4,36; 6,31 f.; 6,45; 6,54: Das Boot markiert den Unterschied zwischen dem Auftreten Jesu mit den Jüngern in der Öffentlichkeit und dem Rückzug in die Abgeschiedenheit. 31 Zur planmäßigen Komposition von 3,7-4,1, wo „Haus“ und „Boot“ eine vergleichbare Funktion haben, vgl. F. M. B. V A N I E R S E L , Concentric Structures, a. a. O. (Anm. 12), 523 ff. Elemente eine Verbindungsfunktion zwischen den beiden großen Abschnitten 3,7 bis 8,21 und 8,27 bis 10,52 besitzt, 28 zumal man ohnehin damit rechnen muss, dass Leserinnen und Leser verschiedene Entsprechungen und Zuordnungen wahrnehmen können. 2. Symbolische Konnotationen Das Boot erfüllt also eine wichtige kompositorische Funktion, die sich besonders an denjenigen Belegen zeigt, an denen das Boot keine für die Ereignisfolge [190] tragende Rolle spielt, 29 zumal den stilistisch ungelenk wirkenden Ein- und Ausstiegsnotizen: Hier ist das Boot nicht für den Fortgang des Plots wichtig, sondern trägt über seine denotative Bedeutung hinaus einen semantischen Mehrwert, an dem Mk in besonderer Weise interessiert ist. Eine Reihe von Beobachtungen sind wichtig: (a) Wenn man die gesamte Einheit mit 3,7 ff. beginnen lässt, dann ist die Parallelität zwischen der Auswahl der zwölf Jünger (3,13 ff.) und ihrer Aussen‐ dung (6,6 ff.) unabweisbar: Jesus beruft die Zwölf, „damit sie mit ihm seien und damit er sie aussende, um zu verkündigen und die Vollmacht zu haben, Dämonen auszutreiben“ (3,13 f.): Zuerst ist das Vorhaben benannt, dann wird die Ausführung berichtet. Dadurch gewinnt der gesamte Abschnitt 3,7 bis 6,6a den Charakter der Vorbereitung oder Zurüstung der Jünger zu dem eigentlichen Unternehmen „Aussendung“. Das Boot hat dabei die wichtige Funktion, diese beiden Aspekte „mit ihm sein“ und „Aussendung“ erzählerisch umzusetzen. Was die enge Gemeinschaft des „mit ihm Seins“ umfasst, wird im ersten großen Unterabschnitt 3,20 bis 6,6a geschildert. Das Boot ist der Ort, an dem Jesus mit den zwölf Apostel-Jüngern allein ist und sich von der Menge absetzt, wie wiederholt ausdrücklich festgehalten wird. 30 Es geht hier um den Gegensatz von „drinnen“ und „draußen“, der in 3,20-35 anhand des Hauses erzählt und 4,10-12 im Boot theologisch reflektiert wird 31 : Die „im Kreis“ um Jesus sitzen (3,34) bzw. im Boot mit ihm sind, erhalten die Auflösung der Gleichnisrede (4,10-12.33 f.). 257 Boot und Brot <?page no="258"?> 32 F. M. B. V A N I E R S E L , Mark, a. a. O. (Anm. 4), 193-267, stellt 4,35-8,21 unter das Stichwort „Crossing Boundaries“ und folgt damit der Charakterisierung, die vor allem W. H. K E L B E R in: Mark’s Story, a. a. O. (Anm. 4), 30-42 entwickelt hat. 33 5,31.37; in 5,40 werden die Jünger wieder als „die mit ihm (waren)“ bezeichnet, und zwar genau an der Stelle, als Jesus diejenigen aus dem Haus des Jairus hinausgeworfen hatte, die ihn verlachten. 34 Vgl. dazu die strukturellen Beobachtungen von B. K A H L , Jairus und die verlorenen Töchter Israels. Sozioliterarische Überlegungen zum Problem der Grenzüberwindung in Mk 5,21-43, in: L. S C H O T T R O F F / M.-T H . W A C K E R (Hg.), Von der Wurzel getragen (BIS 17), Leiden 1996, 61-78. Was das „mit ihm sein“ außerdem umfasst, zeigt die Sequenz von 4,35 bis 6,6a: Das Boot ist der Ort, an dem Jesus bei den Jüngern ist, obwohl sie das in der Gefährdung durch Wind und Wellen nicht gleich wahrnehmen: Die Frage „Habt ihr noch keinen Glauben? “ (4,40) impliziert die Kritik, dass die Jünger diese besondere Gemeinschaft, deren Jesus sie gewürdigt hat, noch nicht realisiert haben. Zugleich ist deutlich, dass die Gefährdung der Seeüberquerung die Folge des „mit ihm Seins“ ist, indem die Jünger mit Jesus erfahren, was es heißt, das Licht auf den Leuchter zu setzen und das Verborgene offenbar zu machen (4,21 f.). Der geheilte Gerasener auf der anderen, heidnischen Seite des Sees, die durch den Exorzismus so gewalttätig gereinigt wird, kann nicht im Boot „mit ihm sein“ (5,18 ff.): Das ist den Zwölfen vorbehalten, denen diese Fahrt als Anschauungsunterricht dient. (b) Gleichwohl erhält das Boot mit der Seeüberquerung 4,35-41 eine weitere Bedeutungsnuance: Es ist nicht nur der Ort der intimen Gemeinschaft mit Jesus, [191] die auch gegen den Augenschein bekräftigt wird, sondern das Vehikel, mit dem man „zu neuen Ufern“ aufbricht. Die häufig beschriebene Grenzüberschreitung 32 der Fahrt 4,35 ff. sollte dabei nicht überbewertet werden: Auch die Rückfahrt (5,21) geschieht ausdrücklich im Boot, und auch sie führt zu etwas Neuem, zu dem die Jünger - wiederum nur als Zeugen, nicht als Han‐ delnde 33 - mitgenommen werden: Die Heilung der beiden „Töchter“ (5,34.35) zeigt, wie aus der Menge und aus dem Haus die Integration der Geheilten in die neue Gemeinschaft geschieht. 34 Auch in der Nazareth-Episode (6,1-6a), die den ersten Teil abschließt, sind die Jünger nur Zeugen: Sie haben keine Funktion für die Handlung, die sich allein zwischen Jesus und den Bewohnern von Nazareth entwickelt, sind aber doch zu Beginn mit der charakteristischen Nachfolgeterminologie eingeführt und lernen so, dass aller Vollmacht zum Trotz Anstoß eine unvermeidbare Folge ist (6,3). (c) Schon hier sind nicht nur unterschiedliche Konnotationen für das Boot erkennbar, sondern auch die Entwicklung, in der dem Boot neue Bedeutungsa‐ spekte zugeschrieben werden; da die einfacheren Aspekte durchaus beibehalten 258 Boot und Brot <?page no="259"?> werden, ergibt sich eine zunehmende Komplexität der symbolischen Bedeutung: Am Anfang steht das Boot nur für die Möglichkeit des Rückzugs von der Menge (3,9, so wie später noch 6,31 f.; 6,45; 6,54). Als Jesus sich dann tatsächlich von der Menge am Ufer distanziert und im Boot niederlässt, tut er das mit den Jüngern zusammen (4,1): Sie sind „mit ihm“ im Boot, abgesetzt von der Menge am Ufer, und erhalten auf diese Weise die „Auflösung“ der verhüllten Belehrung (4,33 f.). Damit ist die Bedingung für vollständiges Verstehen und umfassende Belehrung genannt: Man muss bei Jesus im Boot sein. Dass das durchaus anspruchsvoll ist, wird ab 4,35 ff. deutlich, wo mit dem Boot erstmals der Aspekt der Gefährdung verbunden ist, die sich aus dem Aufbruch zu neuen Ufern ergibt (auch das ist noch in 6,45-52 nicht anders). Die Grundsymbolik des Bootes als Ort der engen Gemeinschaft zwischen Jesus und den Jüngern wird zusätzlich qualifiziert durch die Frage der Präsenz Jesu: Wenn das Boot der Ort der engen Gemeinschaft ist, dann ist die Gegenwart Jesu „im Boot“ auch dann gesichert, wenn er scheinbar abwesend ist (4,38). III. Brot Die erste Hälfte der ganzen Einheit (3,13 bis 6,6a) zeigt anhand des Bootes die erste Bestimmung des Jüngerseins und entfaltet narrativ, was es heißt „mit ihm zu [192] sein“. Die Jünger sind Lehrlinge, werden zuerst im engsten Kreis instruiert (3,20-4,34) und lernen als Hospitanten, was sie später selbst tun sollen (4,35-6,6a): Über den See fahren, unreine Geister austreiben, Kranke heilen und auch Ablehnung aushalten. Ab 6,6b lotet Mk die zweite Bestimmung aus, die eingangs durch die Stichworte „Aussendung mit Verkündigung und der Vollmacht zu Exorzismen“ (3,14) umrissen wurde. Das Boot bleibt auch in diesem zweiten Teil wichtig, scheint aber nicht so geeignet zu sein, um die Themen, die mit dem Stichwort „Aussendung der Jünger“ verbunden sind, zu entfalten. Denn das prägende Stichwort, das diesen Abschnitt dominiert und mit einem ganzen metaphorischen Feld verbunden ist, ist das Brot. Ich versuche, die allmähliche Erweiterung der Bedeutungsnuancen nachzuzeichnen, indem ich dem Gang der mk Erzählung folge. 1. Rückzug von der Menge Auffällig ist zunächst, dass zu Beginn der beiden Einheiten (3,20 ff.; 6,30 ff.) der Rückzug Jesu mit den Jüngern weg von der bedrängenden Menge in die Abgeschiedenheit damit begründet wird, dass sie keine Gelegenheit zum Essen mehr hatten. Dabei ist die Formulierung von 3,20 („sie konnten nicht einmal mehr Brot essen“) auffällig und auch im Griechischen nicht besonders glücklich, 259 Boot und Brot <?page no="260"?> 35 Zu dem analogen Fall 6,44 vgl. u. Anm. 39. weil „essen“ sonst durchaus ohne Objekt gebräuchlich ist. 35 Die Formulierung, dass Jesus und die Jünger nicht einmal Brot essen konnten, drückt mehr aus als das Ausmaß des Andrangs: Die andrängende Menge verhindert nicht die Sättigung, sondern die besondere, theologisch qualifizierte Gemeinschaft des „mit ihm Seins“. Die analoge Aussage 6,31 („sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen“), lässt das Objekt zwar weg, ist aber durch die nachfolgende Erzählung der Speisung der 5000 deutlich genug qualifiziert: Die gemeinsame Mahlzeit der Jünger mit Jesus ist entweder nur „im Haus“ (3,20) oder an einem „einsamen Ort“ (6,31) möglich, zu dem man extra im Boot hinfährt, nicht aber im Angesicht der bedrängenden Menge. Damit ist ein Konflikt benannt, der schon zuvor sichtbar war, jetzt aber unabweisbar wird: Das Verhältnis des Jüngerkreises zur Menge derer, die auf die Verkündigung reagieren und sich zu Jesus drängen; zuvor (und auch noch in 6,30 f.) war der gemeinsame Rückzug an einen einsamen Ort eine Möglichkeit, die enge Jüngergemeinschaft trotz des Erfolgs aufrecht zu erhalten. Aber wenn den Jüngern selbst aufgetragen ist zu verkündigen, Dämonen auszutreiben, Kranke zu salben und zu heilen (6,12 f.), wenn also nicht mehr Jesus eine Menge anzieht (wie in 3,20 durch die 3,11 f. summarisch berichteten Heilungen), sondern die Jünger selbst so erfolgreich sind, dass viele kommen und gehen (6,31), dann stellt sich die Frage, wie die enge Mahlgemeinschaft mit Jesus aufrecht erhalten werden kann. Dieser Konflikt betrifft den theologischen Ort der Jüngerexistenz und müsste seine Lösung in der Vereinbarkeit der beiden Pole „mit ihm sein“ und „Aussendung“ [193] finden. Dieses Problem ist das Thema der folgenden Doppelepisode, die sich an die Rückkehr der Jünger anschließt. Tatsächlich sind die Einzelszenen „Rückkehr nach der Aussendung“ (6,30 f.), „Fahrt nach einem einsamen Ort“ (6,32-34), „Speisung der 5000“ (6,35-44) und „Seewandel“ (6,45-52) erzählerisch so eng miteinander verflochten, dass eine einzige große Komposition von 6,30-52 entsteht. 2. Die Speisung der 5000 Die Fahrt an den einsamen Ort bleibt erfolglos, weil die Menge, die am Ufer vorausgelaufen ist, Jesus und die Jünger schon erwartet. Nachdem sich Jesus über die Menge erbarmt und sie belehrt hat, spitzt sich der Konflikt zu, denn erstens haben die Jünger immer noch nicht mit Jesus gegessen, und zweitens steht jetzt die Sättigung der Menge an. Die Konkurrenz um die Gemeinschaft mit Jesus zwischen einerseits den Zwölfen, die „mit ihm sind“ und die (nach 6,31) auf die intime Mahlgemeinschaft bauen können, und der Menge, die überhaupt 260 Boot und Brot <?page no="261"?> 36 Die waren zuvor bereits in 6,33 genannt. Der szenische Anschluss der Speisungserzäh‐ lung an die Aussendung und Rückkehr der Apostel ist sehr eng. 37 Vgl. Num 27,27; I Reg 22,17; II Chron 18,16; Jud 11,19; Ez 34,5.8 (vgl. 34,23). 38 Vgl. etwa Am 8,1 ff.; Jer 15,16; Jes 55,1 ff.; Prov 9,2 ff. (LXX: Die Weisheit mischt den Unverständigen einen Mischkrug mit ihrem Wein bzw. bereitet ihnen einen Tisch); Sir 15,3 (die Weisheit bietet ἄρτος συνέσεως); 24,21; Did 10.2 (γνῶσις). Philo, LegAll II 86; III 175; Sacr 86 usw. entfalten die Metapher vom himmlischen Manna im Kontext des Verstehens, die ähnlich auch in Joh 6 vorliegt (vgl. dazu mit weiteren Belegen P. B O R G E N , erst aufgrund der Aussendung der Apostel zustande gekommen ist, ist folglich ein Problem innerhalb der Jüngerexistenz. Jesus geht auf die Empfehlung der Jünger, die Menge in die umliegenden Dörfer 36 zu schicken, damit sie sich dort „etwas zu essen kaufen“ (6,36), nicht ein; statt dessen fordert er die Jünger auf: „Gebt doch ihr ihnen zu essen! “, worauf diese mit der Frage replizieren, ob denn sie „weggehen und für 200 Denare Brote kaufen und sie ihnen zu essen geben“ sollten (6,37). Das Ganze ist eine vielschichtige Missverständnisszene, die den johannei‐ schen Offenbarungsdialogen an literarischer Komplexität in nichts nachsteht. Wichtig sind folgende Aspekte: (a) Zunächst wird die Frage nach der intimen Gemeinschaft der Zwölf mit Jesus an einem einsamen Ort mit der Gelegenheit „zum Essen“, die ja die ganze Szene ausgelöst hat, dadurch beantwortet, dass jetzt die Jünger die Rolle der Gastgeber übernehmen und die Menge bewirten sollen: Anstatt die Alternative „mit ihm sein“ oder „wegschicken“ bzw. „weg‐ gehen“ zu übernehmen, weist Jesus die Jünger in ihre Verantwortung ein, diejenigen, die aufgrund ihrer Aussendung sich zu Jesus hinwenden, auch satt zu machen. (b) Das Motiv für die Zuwendung Jesu zu der Menge, die am Ende die Sättigung notwendig macht, ist ebenfalls aufschlussreich: Sie sind „wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (6,34). Das ist eine traditionelle Metapher 37 für die Orientierungslosigkeit aufgrund mangelhafter Lehre, der Jesus durch seine Lehre Abhilfe schafft. Da die Menge aus den umliegenden (jüdischen) Dörfern Galiläas kommt, beinhaltet diese Aussage eine Kritik an den jüdischen Autoritäten. Der zweimalige Verweis der Jünger auf die umliegenden Dörfer zur Abhilfe des Mangels (6,36.37b) läuft daher ihrer Aufgabe zuwider: Der Mangel der „hirtenlosen Schafe“ kann gerade nicht dort behoben werden, wo er entstanden ist; es nützt daher nichts, die Menge nach Hause zu schicken oder sie von dort her zu verpflegen. Die Beziehung zwischen [194] dem Mangel der Menge (Lehre zur Orientierung und Brot zur Sättigung), dem untauglichen Versuch der Jünger, diesen Mangel durch Brote aus diesen Dörfern beheben zu wollen, sowie der Speise, die der Menge am Ende zuteil wird, erhellt, dass Mk hier die weit verbreitete Metaphorik „Speise für Lehre bzw. Weisheit“ voraussetzt. 38 (c) Der Ausgangskonflikt - können denn die Jünger noch mit Jesus 261 Boot und Brot <?page no="262"?> Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo, Leiden 2 1981, 99-146). In der rabbinischen Literatur ist der Vergleich der Tora mit Brot bzw. Wein verbreitet (vgl. die Belege bei H. L. S T R A C K / P. B I L L E R B E C K , Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. München 2 1926-1956, II 433 ff.; 482 ff. u. ö.). Zur Lebensbrottradition JosAs 8,5; Did 9,3 etc. vgl. M. K L I N G H A R D T , Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996, 433-441. 39 Das Objekt τοὺς ἄρτους ist in einigen Handschriften unter dem Einfluss der synop‐ tischen Parallelen, die diese ungewöhnliche Formulierung aus stilistischen Gründen korrigieren (Mt 14,21; Lk 9,17), weggefallen. Mt und Lk haben die besondere symboli‐ sche Bedeutung der „Brote“ bei Mk nicht verstanden. die enge Mahlgemeinschaft pflegen, wenn sie missionieren und dabei großen Erfolg haben? - wird gelöst: Weder muss die Menge zurück geschickt (und damit der Missionserfolg der Jünger aufgehoben) werden, noch müssen die Jünger „von Jesus weggehen“, um sich in diesen Dörfern für die Speisung der Menge zu verproviantieren. Sie müssen nur das austeilen, was sie haben: So wenig es scheint, es reicht und „sättigt alle“ (χορτάζομαι, 6,42), „die die Brote  39 gegessen hatten“ (6,44) - es handelt sich dabei, wohlgemerkt, um die Brote der Jünger. Das ganze ist daher eine Einübung in die Mission: Die Jünger lernen, dass sie mit dem ihnen aufgetragenen Tun - verkündigen, exorzisieren, heilen - eine große Menge attrahieren, die sie selbst sättigen können. 3. Seewandel Der nächste wichtige Beleg stammt aus der Seewandelepisode (6,45-52), die szenisch wiederum sehr eng mit dem Vorangehenden verbunden ist: Die Jünger sollen allein im Boot nach Bethsaida vorausfahren, bevor noch die Menge entlassen ist. Der Gegenwind bereitet ihnen große Schwierigkeiten (6,48) und legt sich erst, als Jesus über das Wasser zu ihnen kommt und ins Boot steigt. Der Erzähler fügt - mit doppelter Verstärkung - eine Notiz über die große Bestürzung der Jünger an, „denn sie hatten nicht verstanden bei den Broten, weil ihr Herz verhärtet war“ (6,52). Hier sind zum ersten Mal die beiden großen Linien ausdrücklich so zu einander in Beziehung gesetzt, dass jeweils weitere Bedeutungen mit den Begriffen konnotiert werden: Nachdem die Jünger die erste große Seeüberquerung mit Jesus im Boot erlebt hatten (4,35 ff.) und nachdem sie dann von ihm (zunächst nur zwei und zwei: 6,7) mit großem Erfolg zur Verkündigung ausgesandt waren, sollen sie jetzt erstmalig auf eigene Faust über den See fahren. In beiden Fällen ist die [195] Präsenz Jesu problematisch: Das erste Mal ist er anwesend, ohne dass sich die Jünger der Implikationen dieser Anwesenheit gewahr sind (4,40 f.); das zweite Mal sind sie von seiner 262 Boot und Brot <?page no="263"?> 40 Wenn 6,52 christologisch als Unverständnis der Identität Jesu bestimmt wird (so für viele: D. L O H R M A N N , Das Markusevangelium [HNT 3], Tübingen 1987, 122), wird m. E. weder der Zusammenhang von 7,31 an und noch der Verweis auf „die Brote“ 6,52 wirklich erklärbar. 41 Eine Erläuterung fremder religiöser Praxis hätte in anderen Fällen sehr viel näher gelegen, z. B. zu der unmittelbar folgenden Qorbanpraxis (7,11). In Wirklichkeit setzt Mk bei seiner Leserschaft so gute Schriftkenntnisse voraus, dass die Reinheitspraxis da ohne weiteres eingeschlossen ist. Dass „die Exposition 1-5 … verhältnismäßig ausführlich (ist), pedantisch dabei in der umständlichen Wiederholung einzelner Wörter“ (D. Gegenwart überrascht und erkennen ihn erst, als er zu ihnen an Bord kommt (6,49 f.). Die eigenartige Kritik des Erzählers über das Nichtverstehen „bei den Broten“, die ja über die Seewandelepisode auf die Speisungsgeschichte zurückgreift, wird jetzt verständlich: „Bei den Broten“ hätten die Jünger lernen können, dass sie selbst dann, wenn sie als Missionare tätig sind und eine große Menge sättigen, in der Gegenwart Jesu bleiben; da ihr Brot ausreicht, müssen sie nicht von Jesus weggehen, um sich andernorts zu versorgen. Bei der selbständigen Fahrt über den See hätten sie genau diese Erfahrung fruchtbar machen sollen: Wenn sie als Missionare im Boot - dem Ort der Gegenwart Jesu - über den See fahren, dann haben sie Jesus in Form ihrer Verkündigung immer schon bei sich und haben keinen Grund zu erschrecken, wenn sie dies plötzlich wahrnehmen. Das gemeinsame Thema von 6,30-52 ist daher die Suffizienz der Verkündigung der Jünger, die gewährleistet, dass beide Aspekte des Jüngerseins (Nähe zu Jesus; Aussendung/ Mission) ungeschmälert realisiert werden können. 40 Ein kleines, aber wichtiges Detail ist an dieser Stelle wenigstens zu nennen: Die Jünger haben den Auftrag, nach Bethsaida hinüberzufahren (6,45). Aller‐ dings gelangen sie zusammen mit Jesus erst nach Genezareth (6,53-56), von wo summarische Heilungen berichtet werden. Das Ziel Bethsaida ganz im Norden wird erst in 8,22 ff. erreicht (dazu u. mehr). 4. Belehrung über rein und unrein Der nächste große Abschnitt, der den See für das gesamte 7. Kapitel verlässt, bringt wichtige, neue Aspekte zur Brotmetaphorik. Die große Einheit mit der Lehre Jesu über die Reinheit (7,1-23) wird eingeleitet durch die Beobachtung der Pharisäer und Schriftgelehrten aus Jerusalem, dass die Jünger „ihr Brot mit ungewaschenen Händen“ essen (7,2.5); die längliche Erläuterung des Erzählers über die jüdischen Reinheitsbräuche (7,3 f.) dient nicht dazu, den Leserinnen und Lesern eine unbekannte religiöse Praxis zu erläutern, sondern kontrastiert die unterschiedlichen Weisen „Brot zu essen“ bei den Jüngern auf der einen Seite und den „Pharisäern und allen Juden“ auf der anderen. 41 Zur Diskussion 263 Boot und Brot <?page no="264"?> L O H R M A N N , a. a. O. [Anm. 40], 126) hat seinen Grund nicht in literarischem Unvermögen, sondern in der Betonung der unterschiedlichen Speisepraxis (darauf beziehen sich auch die anderen Beispiele, 7,4b). In der Antike wird die Beschreibung von Gruppen bzw. die soziale Abgrenzung der eigenen von anderen Gruppen häufig anhand der unterschiedlichen Mahlpraxis dargestellt, vgl. M. K L I N G H A R D T , a. a. O. (Anm. 38), 155 ff.; 187 ff.; 434 ff. u. ö. 42 Der Erzähler interpretiert das Logion - ganz im Sinn der Belehrung, aber darüber hinaus gehend - als Reinerklärung aller Speisen. Diese Erklärung ist eine wichtige Ausweitung des Problems der ungewaschenen Hände, von dem die Debatte ihren Ausgang nimmt: Wenn nicht nur die Unreinheit, die an ungewaschenen Händen haftet, irrelevant ist, sondern auch der Unterschied zwischen reinen und unreinen Speisen, dann wird damit ein ganz zentrales Problem frühchristlicher Heidenmission obsolet. steht die Abweichung von der [196] Überlieferung der Alten (7,3.5), also soziale Devianz. Die Antwort Jesu an die Pharisäer und Schriftgelehrten bestätigt die unterschiedliche Praxis, kehrt aber den Vorwurf der Devianz um, indem er die Überlieferung der Alten als Abweichung von Gottes Gebot erweist (7,6-13). Die folgende Jüngerbelehrung (7,14-23) mit der Erläuterung des Logions über das, was in Wahrheit verunreinigt (7,15), kehrt vordergründig die jüdischen Maßstäbe um: Nicht was in den Menschen hineingeht, verunreinigt, sondern das, was aus dem Menschen herauskommt. Während das, was in den Menschen hineingeht, konkret auf die Speisen gedeutet wird, die verdaut und ausgeschieden werden, 42 wird das, was aus dem Menschen herauskommt und ihn verunreinigt, ethisch auf das Böse gedeutet. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig: Zum ersten erinnert die Bestimmung von 7,21 f. kaum zufällig an Jesu Definition für das Jüngersein: Die den Willen Gottes erfüllen, sind Bruder, Schwester, Mutter (3,35). Das Kriterium für Jüngerschaft ist daher die ethisch interpretierte Reinheit. Noch wichtiger ist: Nachdem schon zuvor in 6,33-44.45-52 das „Brot“ im Rahmen der traditionellen Speise-Lehre-Metaphorik eine symbolische Bedeutung besaß, lässt sich der Hinweis auf die Reinerklärung aller Speisen (7,19) kaum anders verstehen, als dass hier die Gültigkeit der Verkündigung bzw. Lehre mitgemeint ist. Im Blick auf 7,21 f. wird man verstehen: Mit der Grundregel über das, was in Wahrheit verunreinigt, erklärte Jesus alle Lehre bzw. Verkündigung für akzeptabel, solange sie zur Vermeidung des 7,21 f. genannten „Bösen“ anhält und zur Erfüllung des Willens Gottes auffordert. Das symbolische Verständnis von Speise als Lehre und die davon abgeleitete Vorstellung einer möglichen Verunreinigung durch Lehre spielt gleich noch eine wichtige Rolle (zu 8,13 ff.). 264 Boot und Brot <?page no="265"?> 43 Die εἷς-ἄρτος-Metapher ist weit verbreitet, s. außer I Kor 10,17 z. B. Diog. Laert. VIII 35; Jamblichos, VitPyth 86; Ignatius, Ep 20,2, sowie die Sammlungsbitte Did 9,4 mit ihrer Nachgeschichte (die Belege sind besprochen von L. C L E R I C I , Einsammlung der Zerstreuten. Literaturgeschichtliche Untersuchung zur Vor- und Nachgeschichte der Fürbitte für die Kirche in Didache 9,4 und 10,5 [LWQF 44], Münster 1966, 104 ff.); zum Ganzen s. M. K L I N G H A R D T , a. a. O. (Anm. 38), 310 ff. 44 7,1: Die Pharisäer und Schriftgelehrten (die wie 3,22 aus Jerusalem gekommen sind), „versammeln sich bei ihm“. Jesus wird nicht genannt, sondern durch das zurückver‐ weisende Pronomen eingeführt. 5. Gespräch mit der Syrophönizierin Die folgende Episode mit dem Gespräch zwischen Jesus und der syrophönizi‐ schen Frau entwickelt die Brotmetaphorik noch weiter. Hatte die Reinerklärung aller Speisen (7,19) eine wichtige Grenze zwischen Juden und Nichtjuden aufge‐ hoben, so erzählt Mk jetzt - wiederum mit deutlich symbolischer Tiefenstruktur - die Umsetzung dieser Implikation. Die Heilung der Tochter, um die die Syrophönizierin Jesus bittet, wird in dem Gespräch als Sättigung durch Brot benannt: Jesus weigert sich, die Tochter der Heidin zu heilen, weil das bedeute, den Kindern das Brot wegzunehmen und es den Hunden zu geben. Die Frau in‐ sistiert dagegen darauf, dass Hunde und Kinder (παιδία), Heiden und Juden, von demselben Brot satt werden. Nach 7,14-23 ist klar: Die Verkündigung/ Lehre, die zur Erfüllung des [197] Willens Gottes anhält, ist unteilbar, wie umgekehrt alle diejenigen als rein gelten, die in ihrem Herzen nichts Böses haben, das sie verunreinigt. Jesus akzeptiert das Argument und teilt der Mutter mit, dass der Dämon aus dem Kind (παιδίον) ausgefahren ist: Die Tochter der Heidin, im Gespräch durch die „Hündchen“ repräsentiert, wird in der Antwort Jesu zum „Kind“ und erhält auf diese Weise denselben Status wie die Juden, die im Gleichnis durch die „Kinder“ repräsentiert sind. Die Statusgleichheit der Ungleichen aufgrund der Teilhabe an einem Brot entspricht der traditionellen Metaphorik, 43 die Mk hier sicher bewusst aufgreift, um zu zeigen, dass die Verkündigung/ Lehre, die für Juden ausreicht, auch Heiden „sättigt“. 6. Speisung der 4000 Nach der Heilung des Taubstummen in der Dekapolis (7,31-36) werden die Jünger in 8,1 wieder in die Erzählung eingefügt. Der Aufbau der gesamten Szenenfolge ab 7,1 ist sehr überlegt und lässt auch kaum Veränderungen zu: Die Belehrung über Reinheit (7,1-23), die noch in Genezareth stattfindet, 44 markiert einen Übergang; sie erwähnt die Jünger (7,18) zum letzten Mal in Kap. 7. Das heißt: Nach der grundsätzlichen Klärung der Reinheitsfrage geht Jesus allein in heidnisches Gebiet (7,24: Tyros; 7,31: Dekapolis), so dass die Jünger die Heilungen von Nichtjuden (7,29 f.35) nicht mit erleben. Die Vertiefung 265 Boot und Brot <?page no="266"?> 45 σπλαγχνίζομαι 8,2 wie 6,34. 46 Diese engen literarischen Beziehungen machen die ältere These unwahrscheinlich, der zufolge die beiden Speisungsgeschichten eine getrennte Vorgeschichte in unterschied‐ lichen Sammlungen besessen hätten, s. z. B. P. J . A C H T E M E I E R , The Origin and Function of the Pre-Markan Miracle Catenae, JBL 91 (1972), 198-221; D E R S ., Toward the Isolation of Pre-Markan Miracle Catenae, JBL 89 (1970), 265-291. 47 τούτους und πόθεν; Mt verändert mit dem Satzbau die Logik und macht aus einem qualitativen ein quantitatives Problem: „Woher gibt es für uns in der Wüste so viele Brote (τοσοῦτοι ἄρτοι), um eine so große Menge (ὄχλον τοσοῦτον) satt zu machen? “ (Mt 15,33). 48 Ähnlich wie 6,41 tauchen hier dieselben Stichworte auf wie in der Schilderung des letzten Mahles (14,22): nehmen - danken - brechen - geben. Möglicherweise ist für moderne Leserinnen und Leser der eucharistische Anklang deutlicher als für die der Brot-/ Speisemetaphorik durch die Belehrung (7,1-23) ist nur an dieser Stelle sinnvoll: Sie setzt 6,30-52 voraus und dient ihrerseits als unabdingbare Voraussetzung für die narrative Entfaltung, dass die Heiden von demselben Brot gesättigt werden wie die Juden (7,24-30). Die Wiedereinführung der Jünger in die Erzählung (8,1-9) erweckt den Eindruck, dass die ganze Szene noch in der Dekapolis spielt und dass die Jünger als erprobte Fachleute für die Speisung großer Mengen Jesus helfen müssen. Der folgende Dialog greift dementsprechend auch erkennbar auf 6,33-44 zurück: Wieder „erbarmt“ 45 sich Jesu über die Menge, allerdings aus anderem Grund. Während die 5000 auf der jüdischen Seite des Sees „hirtenlose Schafe“ waren und der Orientierung durch Jesus bedurften, so handelt es sich jetzt um Leute, die „nichts zu essen“ haben (8,2) und die „von weit hergekommen“ sind (8,3b); beides kennzeichnet die Menge - wie die Tochter der Syrophönizierin, die auch weit ab wohnt und nichts zu essen hat - als Heiden. Der Hinweis Jesu, er könne die Menge wegen der Entfernung nicht hungrig nach Hause schicken (8,3a), bezieht sich auf den entsprechenden Vorschlag der Jünger in der ersten Speisungsgeschichte (6,36). [198] Die Jünger ihrerseits zeigen, was sie seit der ersten Speisung gelernt haben: Die Frage, ob sie weggehen und Brote kaufen sollten (6,37), stellen sie nicht mehr, das Problem der Vereinbarkeit von „Aussendung/ weggehen“ und „mit ihm sein“ ist für sie gelöst. Sie wissen auch, dass jetzt die Erwartung an sie gerichtet ist, die Menge zu sättigen. 46 Die Schwierigkeiten, die sich auftun, sind anderer Art und werden in der Frage 8,4 sichtbar: „Von woher kann jemand diese hier sättigen mit Broten in der Wüste? “ Die Frage impliziert aufgrund des demonstrativen „diese hier“ und durch die Fragepartikel „von woher“, 47 dass die Jünger sich nicht aus quantitativen Gründen zur Speisung außer Stande sehen („zu viele! “), sondern aus qualitativen: Für „diese (Heiden) hier“ meinen sie, keine Speise zu haben. Am Ende ist es wieder Jesus, der mit deutlich eucharistischem Gestus 48 die Brote 266 Boot und Brot <?page no="267"?> ersten Rezipienten, weil die Einsetzungsworte erst seit dem 3. Jh. in das eucharistische Formular eindringen und regelmäßig rezitiert werden. 49 Der Zielort Dalmanutha ist unbekannt, was schon früh zu verschiedenen Textvarianten führte, vgl. die Kommentare z. St. 50 Deswegen dürfen Opfergaben keinen Sauerteig enthalten (Lev 2,11), Sauerteig darf in der Passawoche nicht benutzt werden (Ex 13,3-7; Dtn 16,3 f.) und muss aus allen Häusern entfernt werden (Ex 12,15). 51 Mk zeigt die Assoziation „Herodes/ Gefährdung der Jünger durch Herodes“ ja bereits durch den Rückblick auf den Tod des Täufers, der in die Aussendungsperikope eingeschoben ist (6,14-29). durch die Jünger an die Menge austeilen lässt: Entgegen der Erwartung der Jünger sind ihre (8,5! ) Brote doch ausreichend, um die Menge der Heiden zu sättigen (χορτάζομαι, 8,8). 7. Pharisäerkritik und letzte Überfahrt Am Abschluss der Einheit stehen wieder zwei Bootsfahrten: Die erste (8,10-12) führt an das galiläische Ufer des Sees, 49 wo die Pharisäer von Jesus ein Zeichen vom Himmel fordern, ohne es zu erhalten. Dass diese Zeichenforderung sich unmittelbar an die Speisung der 4000 Nichtjuden durch die Jünger anschließt, liegt nahe: Die Heidenmission ist das eigentlich Unerhörte, obwohl das Problem in der Beelzebul-Frage (3,22-30) ein Pendant gleich zu Beginn dieses Abschnitts besitzt. Jesus verweigert ein Zeichen. Unmittelbar im Anschluss an diese Szene schildert Mk die letzte Überfahrt mit dem bereits erwähnten Dialog zwischen Jesus und den Jüngern über das fehlende Brot. Nach der bisherigen Entwicklung der Boots- und der Brotmetapher wird die Bedeutung der Szene durchsichtig: (a) Die Warnung Jesu vor dem Sauerteig der Pharisäer und des Herodes (8,15) impliziert die pharisäische Kritik an den Jüngern wegen ihrer Speisung der Heiden aus den bereits vorgetragenen Reinheitsgründen (7,2.5). Die Warnung vor dem Sauerteigbrot (ζύμη) der Pharisäer enthält eine feine, doppelte Ironie: Erstens ist [199] Sauerteig rituell weniger rein als ungesäuertes Gebäck, 50 was dem pharisäischen Reinheitsanspruch zuwider läuft. Zweitens aber ist hier die Metapher „Brot für Lehre“, die zuvor für die Jünger entwickelt wurde, auf die Pharisäer übertragen: Die Jünger sollen sich vor der Lehre der Pharisäer hüten, weil die ansteckend und minderwertig ist. (b) Ansteckend ist diese „Lehre“, also das Insistieren auf den Reinheitsbestimmungen, weil die Pharisäer ihr mit Hilfe des Herodes Geltung verschaffen könnten: Bereits in 3,6 treten Pharisäer und Herodianer gemeinsam auf, wenn sie beschließen, Jesus zu töten. 51 (c) Das Boot, in dem die ganze Szene spielt, hat überhaupt keine Funktion für den Plot, sondern ist ausschließlich wegen seiner komplexen symbolischen 267 Boot und Brot <?page no="268"?> 52 Gegen M. D. H O O K E R , Gospel, a. a. O. (Anm. 16), 195, die den Tadel Jesu V. 17 so versteht, als würden die Jünger nicht zuhören („why are you discussing the lack of bread, when I am talking about something quite different? “); tatsächlich reden alle - die Jünger, Jesus und sogar der Erzähler (V. 14)! - von demselben Sachverhalt. 53 Vgl. Anm. 27. Konnotationen wichtig: Es steht sowohl für die Nähe der Jünger zu Jesus wie für die Gefahr, der sie gerade aufgrund dieser Nähe ausgesetzt sind. (d) Die Berechtigung der Gefährdung wird anhand der Frage der fehlenden Brote diskutiert: Was vordergründig aussieht wie die Sorge, unterwegs hungern zu müssen, ist auf einer zweiten Ebene längst zu der Sorge geworden, keine Brote (8,16) - also keine ausreichende Lehre/ Verkündigung - zu haben. Diese Frage stellt sich insbesondere angesichts der pharisäischen Zeichenforderung und ihrer Lehre, vor der Jesus gerade gewarnt hatte: Lasst euch nicht davon anstecken! Die Sorge um die fehlenden Brote erscheint so als Befürchtung der Jünger, der pharisäischen Lehre nicht gewachsen zu sein; die Abfolge von 8,15- 17 ist daher stringent und sachgemäß. 52 (e) Dass diese Sorge unbegründet ist, deutet der Erzähler (! ) durch den Hinweis an, dass die Jünger Ein Brot (εἷς ἄρτος, 8,14) mit an Bord haben. Nach dem Bisherigen ist das die Lehre/ Verkündigung, die die Grund-Sätze von 7,15-23 berücksichtigt und die aufgrund von Jesu Interpretation der wahren Reinheit für Juden und für Heiden gleichermaßen geeignet ist. Der gezielte Hinweis Jesu auf die beiden Speisungen (8,19 f.) ruft genau diese Erfahrung ab: Die Jünger werden als unverständig kritisiert, weil sie die symbolische Bedeutung des Einen Brotes nicht realisieren. 8. Unverständnis und Ankunft in Bethsaida Die Episode schließt mit dem Vorwurf bleibenden Unverständnisses (8,21). Das dadurch entstehende narrative Disäquilibrium wird hier noch nicht gelöst, sondern trägt die Erzählung zunächst noch „auf den Weg“ (8,27) mit der Entfal‐ tung der Leidensthematik. 53 Seit 8,13-21 wird zunehmend deutlich, dass die Bestimmungen der Jüngerschaft - im Boot „mit ihm sein“ und die Aussendung zur Mission - [200] Gefährdung bedeuten. Das Unverständnis der Jünger, das weiterhin Thema bleibt, verlagert sich von hier an von dem, was „Brot“ bedeutet, auf die Notwendigkeit des Leidens; dem entspricht, dass das Verhältnis der Jünger zu Jesus überwiegend als „nachfolgen“ und nicht mehr als (im Boot) „mit ihm sein“ beschrieben wird. Dieser Übergang zum nächsten Abschnitt der Erzählung wird, wie gezeigt, durch die Blindenheilung 8,22-26 markiert. Diese Episode enthält einen letzten, nicht unwichtigen Rückverweis auf das Vorangehende, nämlich die Ortsangabe Bethsaida. Bethsaida war das Ziel, das die Jünger alleine ansteuern sollten (6,45), 268 Boot und Brot <?page no="269"?> 54 Gegen E. K. W E F A L D , a. a. O. (Anm. 4), passim. W E F A L D versteht (im Gefolge von E. S . M A L B O N , Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, San Francisco u. a. 1986, 28 f.) Bethsaida als pointiert heidnische Stadt und zieht daraus weitreichende Schlüsse für die Zuordnung von Mission unter Juden und unter Heiden. Aber das ist nicht erkennbar: Die ohnehin unsichere historische Geographie von Bethsaida (von Mk immerhin unter dem jüdischen Namen erwähnt, nicht unter dem griechischen „Julias“! ) ist nicht mit der literarischen Topographie des Mk identisch. 55 Andere wichtige Leitbegriffe, an denen sich Erzähllinien festmachen, sind etwa die geo‐ graphischen und topographischen Bezeichnungen sowie das Thema des „Verstehens“; in beiden Fällen geht es um Strukturen, die das ganze Evangelium umfassen. aber verfehlt hatten (Landung in Genezareth, 6,53). Die Fahrt, zu der Jesus die Jünger aufgefordert hatte, kommt also erst jetzt, nach der Behandlung der Reinheitsthematik sowie den Heilungen und der Speisung von Heiden, an ihr Ziel. Mk macht damit deutlich: Die eigenständige Mission, zu der die Jünger ausgesandt sind, ist erst dann komplett, wenn die Jünger verstanden haben, dass ihre Verkündigung auch die Heiden erreichen muss: Christliche Mission ist immer auch Heidenmission. 54 IV. Schluss Obwohl Mk aus einer Folge von Einzelepisoden besteht, schafft er eine Erzäh‐ lung mit durchgehenden Linien und umfassender Struktur: Für einen größeren Abschnitt des Evangeliums wurde deutlich, dass die einzelnen Ereignisse nicht einfach nacheinander erzählt werden, sondern mit Wahrscheinlichkeit, wenn nicht mit Notwendigkeit auf einander folgen: Aristoteles hätte Mk nicht zu den „schlechten Dichtern“ gerechnet. Die inhaltliche Folgerichtigkeit, die die Struktur der Einzelperikopen ausmacht, lässt sich nicht leicht beschreiben: Gefragt ist weniger der Bauplan eines Gebäudes als die Beschreibung eines Vogels im Flug. Für Mk 3,7-8,21 lässt sich der „Flugplan“ durch zwei Linien im‐ merhin andeuten, die durch die beiden Leitbegriffe „Boot“ und „Brot“ bestimmt sind. 55 Beide Begriffe erfahren im Verlauf der Erzählung eine Entwicklung, in der ihrer denotativen Bedeutung bzw. auch ihrer traditionsgeschichtlich vorgegebenen Metaphorik weitere Bedeutungsnuancen zuwachsen, und beide Begriffe stehen miteinander in Beziehung. Da eine Linie nur nachgezeichnet, nicht zusammengefasst werden kann, müssen hier ganz kurze Stichworte zur Erinnerung genügen: Eine bleibende Bedeutung des Bootes besteht darin, dass es der Ort ist, an dem die Jünger die enge Gemeinschaft mit Jesus erfahren und „mit ihm sind“: Im Boot [201] distanziert Jesus sich und die Jünger von der Menge, im Boot belehrt er die Jünger und mit dem Boot fahren sie, um miteinander zu essen. Zugleich 269 Boot und Brot <?page no="270"?> 56 Bereits in Mk 2,13-28 sind Fragen des gemeinsamen Essens (wer mit wem; unter wel‐ chen Bedingungen; wann und wo) nicht zufällig Gegenstand der Auseinandersetzung. Auch für die Tochter des Jairus ist auffällig, dass sie nach ihrer Wiederherstellung „etwas zu essen“ erhalten soll (5,43). dient das Boot für die Jünger dazu, dem Aussendungsauftrag Jesu entsprechend über den See zu neuen Ufern aufzubrechen. Das Boot hat die narrative Funktion, diese beiden auf den ersten Blick unvereinbar scheinenden Aspekte - in der Gegenwart Jesu sein und von ihm wegfahren - zusammenzubinden: Auch als Apostel sind die Jünger im Boot „mit ihm“. Erst der Verlauf der Erzählung zeigt dann, dass die Jüngerexistenz „im Boot“ auch gefährlich ist und Anlass zur Sorge gibt. In der durch das Brot repräsentierten Erzähllinie, die in dieser Deutlichkeit mit der ersten Speisung einsetzt, verbindet Mk zwei traditionelle Metaphern‐ felder: Brot bzw. Speise als Metapher für Lehre und das Eine Brot als Metapher für soziale Einheit. Da das gemeinsame Essen mit Jesus die heilvolle Gemein‐ schaft ausdrückt, bieten sich hier vielfältige Möglichkeiten für Assoziationen und Weiterentwicklungen an. 56 In dem besprochenen Abschnitt führen die As‐ soziationen bis zur Sauerteig-Metapher für die minderwertige, aber ansteckende Lehre der Pharisäer. Diese letzte Szene im Boot verbindet, wie zuvor schon (6,31 und) 6,45 ff., beide Erzähllinien miteinander. In 6,54 ff. und 8,13 ff. wird dabei das „Verstehen“ thematisiert. Es bezieht sich hier nicht auf das christologische Problem der Identität Jesu, sondern auf die Jüngerexistenz und was diese alles umfasst. Die betonte Frage am Ende - „Versteht ihr denn noch nicht? “ - signalisiert jedoch, dass es in der Tat noch mehr zu verstehen gibt, als dieser Abschnitt gezeigt hat: Man muss das Evangelium bis zum Ende lesen, um ganz zu verstehen. Zusammenfassung Die Leitbegriffe „Boot“ und „Brot“ repräsentieren je eigene Erzähllinien und erweisen Mk 3,7-8,21 als kohärente Einheit über die Hauptaspekte apostolischer Existenz (Mk 3,14: „mit ihm sein“ und „Aussendung“). Durch die Kombination und gegenseitige Beeinflussung dieser Erzähllinien werden die Leitbegriffe mit zusätzlichen Bedeutungsaspekten konnotiert. Dieser Prozess kulminiert in dem differenzierten Dialog über die „vergessenen Brote“ (8,13-21), dessen narrative Komplexität dem Problem frühchristlicher Heidenmission entspricht. The leading metaphors “boat” and “bread” each represent story lines; they establish Mk 3,7-8,21 as a coherent unit of the Markan narrative about major 270 Boot und Brot <?page no="271"?> aspects of apostleship (Mk 3,14: “to be with him” and “to be sent out”). The combination and mutual interpretation of these story lines increasingly connotes the leading metaphors with additional meaning. This process culminates in the sophisticated dialogue about the “forgotten loaves” (8,13-21); its narrative complexity matches the problem of early Christian Gentile mission. [202] Les mots clés «bateau» et «pain» représentent chacun des propres fils de narration et établissent Mk 3,7-8,21 comme étant une unité cohérente sur les aspects principaux de l'existence apostolique (Mk 3,14: «Être avec lui» et «L'envoi»). La combinaison et l'interprétation mutuelle de ces fils narratifs dénotent de plus en plus les métaphores auxquelles on ajoute du sens. Ce processus culmine dans un registre de dialogue sophistiqué sur les «pains oubliés» (8,13-21); la complexité narrative correspond au problème des premières missions Chrétiennes contre l’athéisme. 271 Boot und Brot <?page no="273"?> 1 Gutachten vom 11.10.1986 zu M. K L I N G H A R D T , Gesetz und Volk Gottes. Das lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums, WUNT 2.32, Tübingen 1988. 2 Tertullian, Marc I 19,4: separatio legis et evangelii proprium et principale opus est Marcionis. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Zitate von Tertullian aus Tertullian, Marc IV. „Gesetz“ bei Markion und Lukas Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : „Gesetz“ bei Markion und Lukas, in: D. Sänger, M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS Chr. Burchard, NTOA 57), Göttingen/ Fribourg 2006, 99-128. In dem minutiösen und sehr hilfreichen Gutachten, das Christoph Burchard zu meiner Dissertation über das lk Verständnis des Gesetzes erstellte, findet sich die Bewertung, „daß K. manchmal Probleme löst, die es ohne ihn gar nicht gäbe.“ 1 Diese Bemerkung bezieht sich kritisch (wenn auch freundlich abgemildert: „aber er tut es jedenfalls glänzend“) auf diverse Aberrationen und Phantastereien. Ich habe diese Kritik allerdings immer positiv verstanden. Denn neben der Lösung bekannter Probleme gehört das Aufspüren von Fragestellungen, die es zuvor „nicht gab“, zu den wesentlichen Funktionen von Wissenschaft. Ein Problem aus dem größeren Themenkreis „Gesetz bei Lukas“ hatte ich seinerzeit allerdings nicht zu lösen versucht, obwohl es im ursprünglichen Arbeitsplan enthalten war, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Lukas und Markion. Angesichts der Breite, die das Generalthema „Gesetz“ in Lk-Apg einnimmt, und mit Blick auf seine Bedeutung für die soziale und religiöse Selbstdefinition des Christentums gegenüber Juden und Heiden schien mir die Frage wichtig, warum Markion, dem Tertullian als Haupt- und Oberhä‐ resie die separatio legis et evangelii vorwarf, 2 für seine Bibelausgabe gerade dieses Lk-Evangelium gewählt haben sollte: Konnte das anders gehen, als durch umfangreiche Korrekturen am Lk-Text? Nun hat diese Fragestellung ihren Platz eher in der Markionals in der Lk-Forschung, und da ihre Bearbeitung außerdem den ihr ursprünglich zugedachten Raum bei weitem überstiegen hätte, fiel sie gleich der ersten Korrektur des Arbeitsplans zum Opfer. Die Berechtigung der Frage ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Wenn ich sie jetzt - allerdings aus anderer Perspektive - als Gratulations und Dankesgabe für Christoph Burchard angehe (und damit die Thesen meiner <?page no="274"?> 3 Das sind außer Tertullian vor allem Irenäus, Epiphanius und Adamantius. Wenn nicht anders angegeben, stammen im Folgenden die Angaben aus Epiphanius aus Haer XLII; Adamantius wird zitiert nach der Ausgabe von W.H. van de Sande Bakhuyzen (Hg.), Der Dialog des Adamantius Περὶ εἰς θεὸν ὀρθῆς πίστεως, GCS 4, Leipzig 1901 (danach die Seiten- und Zeilenangaben). 4 Irenaeus, Haer I 27,2.4; III 14,4; Tertullian, Marc I 1,5; IV 3-5; Epiphanius, Haer XLII 9,1; 10,2 u.v.ö. 5 A. V O N H A R N A C K , Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Neue Studien zu Marcion, Leipzig 2 1924 (= repr. Darmstadt 1996), 240*. 6 Irenaeus, Haer III 12,12; Tertullian IV 6,2. Epiphanius hatte seiner Behandlung von Markions Evangelium eine Liste seiner „Irrtümer" vorangestellt (XLII 3-8). Auch Harnack bietet eine Zusammenstellung der Motive, die seines Erachtens für Markions redaktionelle Änderungen verantwortlich seien, darunter die These, dass Christus „das Gesetz nicht erfüllt, sondern aufgelöst, den entscheidenden Gegensatz von Gesetz und Evangelium aufgedeckt und seine Erlösung allein auf den Glauben gestellt“ habe (Marcion, 64). 7 Irenaeus, Haer. I 27,4; III 12,12; Tertullian IV 6,2-4; Epiphanius, Haer XLII 9,5 f.; 10,3; 10,5; Adamantius, Dial II 18 (867a, p. 96,4 ff.). Dissertation einer Revision unterziehe), könnte ich den Anschein erwecken, erneut Probleme lösen zu wollen, "die es ohne mich nicht gäbe“. [100] In diesem Fall aber kann ich guten Gewissens auf eine Reihe älterer Vorgänger aus dem 18. und 19. Jh. verweisen, die das Problem ähnlich gesehen haben und deren Lösung ich hier nur erneut zur Geltung bringe. Wie sinnvoll der Versuch ist, deren Problemlösungen aufzugreifen, müssen Durchführung und Ergebnis zeigen. I Von den altkirchlichen Zeugen 3 für Markions Evangelium bis hin zu Adolf von Harnacks grundlegendem Markionbuch steht das Urteil, 4 dass dieses Evange‐ lium „nichts anderes sei als […] ein verfälschter Lukas“, 5 den Markion aus dog‐ matischen Gründen bearbeitet und durch Kürzungen „bereinigt“ hatte. 6 Interes‐ santerweise gelang den altkirchlichen Häresiologen ihre Bekämpfung Markions unter ausdrücklicher Zugrundelegung seines eigenen Evanglientextes, 7 so dass Tertullian am Ende seiner Überprüfung triumphierend feststellen konnte: "Ich bemitleide dich, Markion, du hast dich vergeblich abgemüht: Denn der Christus Jesus in deinem Evangelium ist meiner! “ (IV 43,9). Erstaunlich ist dabei, dass Markion zwar alles, was seiner Theologie - zu der ja auch der für ihn angenommene Antinomismus gehörte - nicht entsprach, aus seinem Evangelium gestrichen haben sollte, aber gleichwohl aus diesem 274 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="275"?> 8 Epiphanius XLII 10,3: Markion habe diese Passagen „aus Einfalt“ stehen lassen; vgl. Irenaeus I 27,2. Tertullian demonstriert Markions „Antinomismus“ übrigens mehrfach dadurch, dass er ihm die Streichung von Mt 5,17 (! ) aus seinem Evangelium vorwirft (IV 7,4; 9,15; 12,14). 9 Als erster hatte J.S. Semler 1783 und 1786 diese Ansicht geäußert, die in den fol‐ genden zwei Jahrzehnten mehrfach aufgegriffen, differenziert und entfaltet wurde, am gründlichsten von J.G. E I C H H O R N , Einleitung in das Neue Testament 1, Leipzig 1804, 40-78. In der Mitte des 19. Jh. haben diese Position vor allem vertreten: A. R I T S C H L , Das Evangelium Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas. Eine kritische Untersuchung, Tübingen 1846; F.Ch. B A U R , Kritische Untersuchungen über die Kanonischen Evangelien, ihr Verhältnis zueinander, ihren Charakter und Ursprung, Tübingen 1847 (= Ndr. Hildesheim 1999); A. S C H W E G L E R , Das nachapostolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner Entwicklung I, Tübingen 1846, 230 ff. 10 J. K N O X , Marcion and the New Testament. An Essay in the Early History of the Canon, Chicago 1942 (= repr. 1980). Die Gründe für die mangelnde Beachtung seiner These hat Knox später reflektiert, vgl. J. K N O X , Marcion’s Gospel and the Synoptic Problem, in: E.P. Sanders (Hg.), Jesus, the Gospels, and the Church (FS W. R. Farmer), Macon 1987, 25-31: 28. 11 M. K L I N G H A R D T , Markion vs. Lukas. Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles (erscheint in NTS). widerlegt werden konnte. 8 Bereits Tertullian bemerkte die Inkonsequenz dieser Argumentation und gab eine höchst gewundene Erklärung dafür: Marcion habe absichtlich manches stehen lassen, was seiner Theologie zuwidelief, um durch diese Inkonsistenz den Eindruck zu erwecken, er [101] habe überhaupt keine Bearbeitung vorgenommen (IV 43,7) - mit dieser Argumentation, die dem Gegner die eigene argumentative Schwäche anlastet, erweist sich der Jurist Tertullian als trickreicher Winkeladvokat. Es war vor allem diese Beobachtung, die am Ende des 18. und im 19. Jh. ver‐ schiedentlich zur Kritik der traditionellen Verstümmelungstheorie führte: Statt Markion als Bearbeitung des Lk zu verstehen, deutete man Lk als redaktionelle Erweiterung des von Markion benutzten Evangeliums. 9 Diese These, die im 20. Jh. noch einmal eindrucksvoll erneuert wurde, 10 ist offensichtlich unter der Wirkung von Harnacks Autorität als Markionkenner so weitgehend aus dem exegetischen Bewusstsein verschwunden, dass sie in der Einleitungsliteratur und den Lk-Kommentaren der letzten 50 Jahre so gut wie keine Spuren hinter‐ lassen hat. Ich habe die Annahme der Markionpriorität, die ich für überzeugend und tragfähig halte, an anderer Stelle 11 ausführlicher begründet, so dass ich mich hier auf wenige allgemeine Hinweise beschränken kann. 1. Am wichtigsten ist die Inkonsequenz der für Markion angenommenen Redaktion des Lk-Evangeliums. Dieses Argument rührt an die Grundlage; denn alle Vertreter der Lk-Priorität übernehmen den Ausgangspunkt der häresiologischen Markionkritik, dass dieser das kanonische Lk-Evangelium 275 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="276"?> 12 Tertullian IV 4,4. Interessanterweise gibt Tertullian diesen markionitischen Vorwurf zustimmend wieder, denn er leitet daraus die Lk-Priorität ab, weil Markion „ganz gewiss nicht so hätte argumentieren können, wenn er dies (sc. das kanonische Lk-Evangelium) nicht schon vorgefunden hätte.“ aus inhaltlichen Gründen bearbeitete, also ein redaktionelles Konzept besaß. Aber ein solches Konzept lässt sich aus dem Text selbst nicht erheben: Wie immer man die Schwerpunkte von Markions Theologie bestimmt, bleibt das (von Tertullian bis von Harnack unbestrittene) Phänomen, dass Markion einer‐ seits Widersprüche zu seinem Konzept hätte stehen lassen, andererseits aber vollkommen unverdächtige Aussagen gestrichen haben müsste. Tatsächlich stammen die Informationen, die zur Rekonstruktion von Markions Theologie verwendet werden, durchweg aus seinen „Antithesen“ (bzw. aus Tertullians Referat darüber), nicht aber aus dem angeblich "redigierten“ Bibeltext, an dem das theologische Konzept dann demonstriert wird. Damit ist weder bestritten, dass Markion eine Theologie vertrat, die erkennbar von der katholischen abwich, noch, dass sie sich in manchen [102] Punkten durch den von ihm benutzten Evangelientext begründen ließ, wohl aber, dass er sich diesen Text nach eigenem theologischem Gutdünken erst herstellte. 2. Den Ursprung von Markions Evangelientext stellt man sich in der Regel so vor, dass der „Pauliner“ Markion nach Gal 1,6 davon ausging, es gebe nur ein Evangelium (nämlich das paulinische), weswegen jedes weitere eine Verfälschung sein müsse (Gal 1,7). Er habe daher die kanonische Sammlung von vier Evangelien ipso facto für gefälscht gehalten und daher eines davon als ursprüngliches identifizieren müssen, das er außerdem noch von verfälschenden Zusätzen „reinigen“ musste, um „seinen“ Text zu erhalten - dem markioniti‐ schen Evangelium läge demnach nicht nur das LkEvangelium voraus, sondern das ganze Vier-Evangelien-Buch. Markion dagegen behauptete, dass das von ihm benutzte Evangelium älter und von der Kirche verfälscht worden sei. Am Ende steht Fälschungsvorwurf gegen Fälschungsvorwurf (Tertullian IV 4,1). Da zwischen beiden Texten fraglos eine redaktionelle Bearbeitung liegt, bleibt nur die Frage, in welcher Richtung sie eher vorstellbar ist: Von Markion zu Lk oder von Lk zu Markion? Tertullians Beschreibung dieser Redaktion zitiert den markionitischen Vorwurf einer Interpolation, bei der „das Evangelium von den Verteidigern des Judentums mit dem Gesetz und den Propheten zu einer Einheit verbunden wurde“. 12 Diese Formulierung lässt sich nur gewaltsam auf die angebliche Reinigung des Evangeliums von judaistischen Zusätzen beziehen, beschreibt aber recht passabel die kirchliche Redaktion, die Markions Evangelium zu einem Teil der kanonischen Bibelausgabe aus AT und NT gemacht hat. 276 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="277"?> 13 V O N H A R N A C K , Marcion, 61; ebd. 62, eine Aufzählung der Stellen. 14 Zu *9,54 f. nimmt V O N H A R N A C K an, dass der (längere) D-Text dem Text Markions entsprach (Marcion, 204*); diese Annahme basiert auf komplexen Voraussetzungen und ungeschützten Vermutungen; in den Textzeugen sind die Änderungen nicht belegt. Vgl. auch K. T S U T S U I , Das Evangelium Marcions. Ein neuer Versuch der Textrekonstruktion, AJBI 18 (1992) 67-132: 94. - Hier und im Folgenden verweist * vor der Stellenangabe auf den mutmaßlichen Text in Markions Evangelium. 15 Vgl. die angenommenen Zusätze zu: *9,41 [πρὸς αὐτούς]: Tertullian IV 23,2; Epiphanius 11,6 [Schol 19]; *16,28 f. [ἐκεῖ]; *18,20 [ὁ δὲ ἔφη]; *21,13 lautet in Tertullians Markion‐ referat (in martyrium utique) et in salutem (IV 39,4). 16 Epiphanius 11,6 [Schol 50], der an dieser Stelle sehr genau ist: προσέθετο ἐκεῖνος „ὁ πατήρ“ καὶ ἀντὶ τοῦ „τὰς ἐντολὰς οἶδας“ λέγει „τὰς ἐντολὰς οἶδα“. Obwohl Tertullians Markionreferat diesen Zusatz nicht bezeugt (IV 36,3), ist Harnacks Unentschlossenheit (Marcion, 226*) nicht nachvollziehbar, da er zu Recht Epiphanius’ Referat für das Evangelium noch „wichtiger als für das Apostol.[ikon]“ hielt und seinen Angaben „unschätzbaren Wert“ bescheinigt (Marcion, 180*). T S U T S U I , Evangelium, 116 erwähnt diese Stelle nicht einmal. 17 J.E.Ch. S C H M I D T , Das ächte Evangelium des Lucas. Eine Vermuthung, Magazin für Religionsphilosophie, Exegese und Kirchengeschichte 5 (1796) 468-520: 483. 3. Für die angenommene markionitische Redaktion des Lk ist es methodisch von größter Bedeutung, dass sich in Markions Evangelium so gut wie keine nicht-lk Texte finden: Markion hätte nach der herrschenden Ansicht nur gestri‐ chen, aber fast nichts hinzugefügt. Von Harnack hielt die Zahl der Zusätze für „so verschwindend gering, daß man skeptisch gegenüber den wenigen Fällen wird, in denen solche angenommen werden müssen.“ 13 In der Tat sind die meisten Abweichungen, bei denen Markion einen etwas umfangrei‐ cheren Text gehabt zu haben scheint, entweder aus den Zeugen gar nicht wirklich zu erheben 14 oder so geringfügig, dass sie für eine inhaltliche Redaktion nichts [103] hergeben. 15 Es bleiben allerdings zwei durch Epiphanius gut bezeugte Zusätze, die beide für unsere Fragestellung von Bedeutung sind: Epiphanius las bei Markion *18,19 (ὁ θεός) ὁ πατήρ, 16 was impliziert, dass der Vater Jesu Christi und der Gott der Gebote identisch sind. Für Markion *23,2 bezeugt Epiphanius zwei Änderungen (11,6 [Schol 69.70]): (τοῦτον εὕραμεν διαστρέφοντα τὸ ἔθνος ἡμῶν) καὶ καταλύοντα τὸν νόμον καὶ τοὺς προφήτας, sowie am Ende des Verses den Zusatz καὶ ἀποστρέφοντα τὰς γυναῖκας καὶ τὰ τέκνα. Dass Markion den falschen Zeugen den Vorwurf der Auflösung des Gesetzes sowie der Aufforderung zur Apostasie in den Mund gelegt haben sollte, wäre ja für das ihm unterstellte redaktionelle Konzept wichtig gewesen. Ein früher Kritiker der Lk-Priorität hatte die Inkonsequenz der angenommenen markionitischen Redaktion, die sich aus Beobachtungen wie diesen ergab, empört mit den Worten quittiert, Markion hätte dann ja „seinem Zwecke entgegen“ geändert. 17 Es ist in der Tat kaum glaubhaft, dass Markion - im Horizont des altkirchlichen Verstümmelungsvorwurfs - diese Art 277 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="278"?> 18 Die Vertreter der Lk-Priorität haben dieses Phänomen dementsprechend mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen (ohne dass dies Konsequenzen für ihre Grund‐ these hatte), vgl. V O N H A R N A C K , Marcion, 35 f.61.68-70.253 f.* usw.; H. V O N C A M P E N ‐ H A U S E N , Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968, 188 f. 19 Vgl. Th. Z A H N , Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I, Erlangen/ Leipzig 1889, 653 ff.; V O N H A R N A C K , Marcion, 21 f.40 ff.78 ff. usw. Vgl. dagegen C A M P E N H A U S E N , Ent‐ stehung, 184 ff. sowie (zu Markions Kenntnis der Evangelien) U. S C H M I D , Marcions Evangelium und die neutestamentlichen Evangehen. Rückfragen zur Geschichte der Kanonisierung der Evangelienüberlieferung, in: G. May/ K. Greschat (Hg.), Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung, TU 150, Berlin/ New York 2002, 67-77: 69-74. 20 V O N H A R N A C K , Marcion, 256* f. u.ö. Harnack begründet Markions ausdrückliche Ableh‐ nung von Apg mit der entsprechenden Bemerkung PsTertullian VI (Acta Apostolorum et Apocalypsim quasi falsa reicit, p. 223,1 f. Kroymann), die diese These aber kaum trägt. von Sympathie für „Gesetz und Propheten“ an den Tag gelegt haben soll. Von Harnacks Skepsis gegenüber markionitischen „Zusätzen“ ist wohl eher Ausdruck der Verlegenheit, dass diese Beobachtungen seinem eigenen Konzept widersprechen. Gleichwohl bleibt die Beobachtung richtig und wichtig, dass Markion die für ihn angenommene Redaktion nicht durch die Einfügung weiterer Texte gestützt haben sollte, denn ein solches Verfahren wäre in der Tat einzigartig: Alles, was wir über die redaktionelle Bearbeitung von Texten im nächsten Umfeld wissen, deutet darauf hin, dass inhaltliche Interessen vor allem durch ergänzende Korrekturen und Zusätze ausgedrückt werden. Das nächstliegende und hinreichend deutliche Beispiel ist das Verhältnis von Mk und Mt (nach einem der Modelle, die mit Mk-Priorität rechnen), aber man kann auch an das Verhältnis Jud - 2Petr oder Kol - Eph erinnern: Eine Redaktion, die keinerlei Zusätze macht, um das redaktionelle Konzept positiv zum Ausdruck zu bringen, wäre völlig singulär und ist von daher höchst unwahrscheinlich. 18 [104] 4. Die Vertreter der Lk-Priorität müssen postulieren, dass Markion nicht nur das Lk-Evangelium kannte, sondern auch andere Evangelien und Apg. 19 Vor allem die Verbindung von Lk-Apg stellt ein Problem dar, denn hier bleibt nur die Möglichkeit, dass Markion Lk in seiner kanonischen Gestalt - und das heißt: als Teil des Doppelwerks Lk-Apg - gekannt, dann aber diese Verbindung durch die Streichung des Lk-Prologs usw. gekappt und Apg „gezielt verworfen“ habe. 20 Vor allem von Harnack hat sich hier mit dem argumentativen Widerspruch sehr schwer getan, einerseits (und m. E. zu Recht) die kanongeschichtliche Priorität von Markions Bibelausgabe vor dem kanonischen NT anzunehmen, andererseits aber die Lk-Priorität vor Markions Evangelium zu vertreten. Seine Lösung lautet gezwungenermaßen, dass Lk-Apg schon als eigenständiges Doppelwerk, jedoch nicht als Teil des NT existiert hätte. Dies ist jedoch aus einer Reihe von Gründen mehr als unwahrscheinlich: In allen Handschriften erscheinen Lk und Apg 278 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="279"?> 21 Vgl. D. T R O B I S C H , Die Endredaktion des Neuen Testaments, NTOA 31, Fribourg/ Göt‐ tingen 1996, 40 ff.122 ff. 22 Vgl. F. B O V O N , Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1-9,50), EKK 3.1, Zürich/ Neukir‐ chen-Vluyn 1989, 33. Bovon sieht das Problem, gesteht aber, dass ihm das Fehlen des Verfassernamens „rätselhaft“ bleibe und postuliert einen ursprünglichen Titel als subscriptio am Ende von Apg, der bei der Trennung des zweiteiligen Werkes weggefallen sei. Spuren in der handschriftlichen Überlieferung gibt es dafür nicht. verteilt auf zwei unterschiedliche Teilsammlungen des NT (Evangelienbuch; Praxapostolossammlung), die jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit erst ein Produkt der kanonischen Ausgabe des NT darstellen. 21 Ihre Zusammengehörig‐ keit ergibt sich also nur durch die aufeinander Bezug nehmenden Prologe (Lk 1,1-4; Apg 1,1-3). Allerdings enthalten diese Prologe keine Verfasserangabe, obwohl sie sich vor allem für den ersten Band aus Gattungsgründen nahe legen würde und angesichts der Abgrenzung von den Versuchen der vielen Vorgänger sowie des betonten historiographischen "Ich“ geradezu zwingend zu postulieren wäre. 22 Für die Leser eines isolierten „Doppelwerkes“ Lk-Apg bliebe die Identität des Verfassers verborgen, für die Leser der Kanonischen Ausgabe ergibt sie sich jedoch für Lk problemlos aus der Uberschrift und lässt sich von da aus, aufgrund der Entsprechung der Prologe, auch auf Apg übertragen. Eine Lösung für dieses Dilemma bietet die hier vertretene Annahme, dass Markions Vorwurf einer kirchlichen Interpolation sachlich zutrifft, [105] durch die das von ihm benutzte Evangelium Teil der kanonischen Bibel aus AT und NT wurde, eine Reihe von redaktionellen Erweiterungen erfuhr und mit Apg zu einer literarischen Einheit fingiert wurde. II Die Falsifizierung der These der Lk-Priorität ist natürlich leichter als die Verifikation der umgekehrten Annahme der Markionpriorität: Angesichts der insgesamt problematischen Quellenlage kann dies nur durch den Nachweis gelingen, dass die Annahme einer Bearbeitungsrichtung von Markion zu Lukas mehr Probleme löst als schafft und die Unterschiede zwischen beiden Fassungen überzeugender erklärt als der umgekehrte Versuch. Die folgenden Überlegungen zu einigen der für das weitere Thema „Gesetz“ relevanten Texte verstehen sich als ein vorläufiger Beitrag zu diesem Nachweis und wollen vor allem über den Bestand des markionitischen Evangeliums in diesem Bereich informieren. 1. Relativ leicht lässt sich der Anfang von Markions Evangelium - und damit: die lk Redaktion - rekonstruieren, weil die wichtigen Quellen an dieser Stelle 279 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="280"?> 23 Tertullian setzt regelmäßig Lk *3,1a als Anfang von Markions Evangelium voraus (I 15,1; 19,2; IV 7,1) und behandelt bei seiner sukzessiven Widerlegung als nächsten Text *4,31-37 (IV 7,5 ff.), danach *4,16 ff. (IV 8,1); vgl. auch Epiphanius, Haer XLII 11,4-6; Adamantius, Dial II 19 (869a; p. 102,23); Hippolyt, Refut VII 31,5. Zur ausführlicheren Begründung vgl. K L I N G H A R D T , Markion. 24 Hier ist distanziert von „ihren“ Synagogen (4,15) die Rede wie später von der Syn‐ agoge "der Juden“ (Apg 13,5.42; 14,1; 17,1.10) - m. E. ist hier der Redaktor Lk zu hören. 25 Außer den Kommentaren vgl. U. B U S S E , Das Nazareth-Manifest Jesu. Eine Einführung in das lukanische Jesusbild nach Lk 4,16-30, SBS 91, Stuttgart 1978, 19 f. 26 Dies ist schon dadurch ausgeschlossen, dass Tertullian bei Markion ja *4,31-37 par Mk 1,21-28 vor *4,16 ff. las. Die Hinweise auf *4,31 ff. in IV 7,5 ff. (z. B. das Zitat *4,32 in IV 7,7) sind ebenso eindeutig wie das Referat von *4,16 ff. in IV 8,1 ff. 27 Tertullian erwähnt, dass Jesus „verjagt“, "gefangen“ und „an den Abhang gebracht wurde,“ aber „durch die Mitte entwich" (IV 8,2 f.). 28 Z. B. H. S C H Ü R M A N N , Zur Traditionsgeschichte der Nazareth-Perikope Lk 4,16-30, in: A. Descamps/ A. de Halleux (Hg.), Mélanges bibliques (FS B. Rigaux), Gembloux 1970, 187-205: 205. ausnahmslos übereinstimmen. 23 Da Markions Evangelium mit *3,1a begann, von dort direkt zu *4,31-37 überging und danach das Grundgerüst der Naza‐ rethperikope *4,16-30 bot, hätte Lk neben dem Prolog die gesamten „Kindheits‐ geschichten“ sowie die Täuferüberlieferung mit Taufe und Versuchung Jesu einschließlich des Stammbaumes ergänzt sowie 4,16-30 vor 4,31-37 gezogen. Vor allem diese Umstellung ist aufschlussreich, denn sie tut der narrativen Logik Gewalt an: Der Verweis auf das, "was in Kaphamaum geschehen war“ (4,23), ist nicht mehr durch eine vorangehende Erzählung gedeckt. Zwar versucht die Einfügung des Summars 4,14 f. 24 diesen Bruch zu kaschieren, aber nur mit mäßigem Erfolg, denn dass die Lehre von 4,15 auch Heilungen und Wunderzei‐ chen einschließt, wie sie 4,23.(25)27 vorausgesetzt sind, ist nicht unmittelbar einsichtig. Diese Umstellung mit ihrer programmatischen Intention und den Folgen für die Erzähllogik ist schon immer gesehen worden. 25 Allerdings hat Lk in [106] 4,16-30 nicht Mk (1,21-28 26 oder) 6,1-6a, sondern Markions Evangelientext redigiert: Über Mk 6,1-6a hinaus enthielt Markions Text Hinweise auf die Feindseligkeit der Nazarener Juden, ihr Tötungsvorhaben am Abhang und Jesu Entkommen, wie Tertullians Referat mit wünschenswerter Deutlichkeit zeigt. 27 Umgekehrt finden sich bei den alten Zeugen keinerlei Spuren von Lk 4,17-22.25-27; die Annahme einer nicht-mk Vorlage, zu der *4,16.23 f.28-30 rechnete, 28 hatte also den richtigen literarkritischen Instinkt, ohne jedoch die Quelle identifizieren zu können. Diese Beobachtungen sind aufschlussreich, denn wenn der redaktionelle Schritt nicht zwischen Lk und Mk liegt, sondern (wie Tertullians Angaben zeigen) zwischen Lukas und Markion, dann lässt 280 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="281"?> 29 G. S C H N E I D E R , Das Evangelium nach Lukas 1, ÖTBK 3.1, Gütersloh 1977, 107; vgl. K L I N G H A R D T , Gesetz, 236 f. 30 Vgl. nur F. N E I R Y N C K , Luke 4,16-30 and the Unity of Luke-Acts, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts, BEThL 142, Leuven 1999, 357-395; H. B A A R L I N K , Die Bedeutung der Prophetenzitate in Lk 4,18 f. und Apg 2,17-21 für das Doppelwerk des Lukas, ebd. 483-491; W. R A D L , Paulus und Jesus im lukanischen Doppelwerk. Untersuchungen zu Parallelmotiven im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte, EHS.T 49, Bern/ Frankfurt 1975, 82-100. Die Zusammenhänge sind angedeutet in K L I N G H A R D T , Markion. 31 Vgl. W. S T E G E M A N N , „Licht der Völker“ bei Lukas, in: C. Bussmann/ W. Radl (Hg.), Der Treue Gottes trauen (FS G. Schneider), Freiburg u. a. 1991, 81-97. sich die Annahme der Markionpriorität angesichts der narrativen Brüche, die sich durch die Umstellung von 4,16-30 und 4,31-37 ergeben, eigentlich nicht umgehen. Wichtiger ist, was die lk Redaktion hier intendierte. Die Einfügung von 4,17-22 stellt die Verbindung zur Gabe des Geistes bei der Taufe Jesu her (die bei Markion ja komplett fehlt! ) und liefert für die folgenden programmatischen Aussagen eine pneumatologische Begründung. Der so legitimierte Skopus von 4,16-30 liegt in der Erweiterung der Szene durch die Elia- und Elisabeispiele (1Kön 17; 2Kön 5) in 4,25-27: Die Tötungsabsicht der Nazarener Juden ist nicht - wie für Markions Text zu schließen ist durch die Unfähigkeit Jesu zur charismatischen Legitimation seines Anspruchs begründet, sondern durch die prononcierte Realisierung des Heils an Nichtisraeliten. Dass die lk Redaktion von 4,16-30 „sich nachweislich dem Tenor der lukanischen Theologie einfügt“, 29 ist keine neue Einsicht. Aber das Bild gewinnt eine neue Dimension, wenn man sieht, dass alle diese Elemente Teil einer planvoll aktualisierenden Redaktion des älteren Markionevangeliums sind. Von dieser Grundlage aus sind einige weitere Texte aus dem größeren Themenfeld Gesetz, Israel und Tempel zu befragen. 2. Jesu Ankündigung, dass sich das Heil nicht an Israel, sondern an Heiden realisiert (Lk 4,25-27), wird in Lk mehrfach aufgegriffen und bestimmt noch eine Reihe von kompositorisch zentralen Texten in Apg. 30 Der [107] redaktio‐ nelle Charakter dieses Aspekts wird deutlich, wenn man sieht, welche dieser Passagen bei Markion fehlten. Zunächst ist deutlich, dass Lk 1 mit der gesamten Geburtsgeschichte ja auch die Szene der Darstellung Jesu im Tempel in das markionitische Evangelium eingefügt hat: Die programmatische Weissagung Simeons im Nunc dimittis, dass Jesus das Licht zur Erleuchtung der Heiden und (zugleich und gerade darin) die Herrlichkeit Israels sei (2,32), ist erst Teil des redaktionellen Konzepts des Lk, das sich auch in Apg 13,47; 26,23 niedergeschlagen hat. 31 Das gleiche gilt dann auch für die Ankündigung, dass 281 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="282"?> 32 Vgl. dazu G. W A S S E R B E R G , Aus Israels Mitte - Heil für die Welt. Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas, BZNW 92, Berlin/ New York 1998, 146 f. 33 Vgl. folgende Stichworte in Tertullian IV 32,1 f.: parabola; ovis et dragma perdita; habuit - perdidit; requisivit … invenit … exultavit. Gegen T S U T S U I , Evangelium, 110 ist es mir nicht wahrscheinlich, dass auch die Schlussfolgerung über die Freude im Himmel über den umgekehrten Sünder 15,(8)10 hier stand: Die Wendung „exultare illius est de paenitentia peccatoris“ ist Teil von Tertullians Argumentation und stammt eher aus seiner Kenntnis des eigenen Texts. V O N H A R N A C K , Marcion, 219*: „Daß v. 10 getilgt war, ist nicht zweifelhaft.“ 34 Tertullian IV 33,1 fährt mit der Behandlung von Lk 16,1 ff. fort. Epiphanius 11,6 [Schol 42]: παρέκοψε. 35 T S U T S U I , Evangelium, 110, im Anschluss an Tertullian IV 32 der sich wegen dieser Inkonsistenz über Markion lustig macht. 36 Nach Tertullian IV 25,14 hatte Markion das Adjektiv aeterna gestrichen, während es für die parallele Frage des reichen Archon 18,18 bezeugt ist (IV 36,4); die lk Redaktion hat also die Frage der beiden bekehrungswilligen Juden nach den Bedingungen der Konversion (vgl. 3,10.14; Apg 16,30, dazu K L I N G H A R D T , Gesetz, 54, Anm. 30; 124 ff.) auch stilistisch aneinander angeglichen. Jesus als σημεῖον ἀντιλεγόμενον zum „Fall und zur Auferstehung vieler in Israel“ gesetzt sei (2,34), die ja ebenfalls durch die Erzählung in Apg eingelöst wird. 32 Da Lk 1 f. nach geläufiger Ansicht eine fertige Komposition darstellt, die Lk hier eingefügt hat, ist dieser Hinweis vielleicht nicht besonders aussagekräftig. Das ist jedoch anders bei der Komposition von Lk 15. Im jetzigen Kontext ist die Folge der drei Gleichnisse (15,4-6.8 f.11-32) erzählerisch eingeleitet durch das „Murren“ der Pharisäer über Jesu Tischgemeinschaft mit Sündern; darauf beziehen sich dann auch die Schlussfolgerungen 15,7.10. Für Markion sind beide Gleichnisse bezeugt, aber weder der Rahmen noch die Schlussfolgerungen. 33 Viel wichtiger ist, dass das Gleichnis vom verlorenen Sohn und seinem Bruder (15,11-32) komplett gefehlt hat: Tertullian übergeht es stillschweigend, Epipha‐ nius bezeichnet es ausdrücklich als „gestrichen.“ 34 Das passt zum Fehlen der Einleitung 15,1 f. und der Schlussfolgerungen 15,7.10: Die Redaktion zielt auf das Problem der Mitfreude der Pharisäer über die umgekehrten Sünder, das weder Markion noch Mt erwähnen. Die umgekehrte Annahme der Lk-Priorität hat üblicherweise größere Schwierigkeiten, die Beibehaltung von 15,4-9(10) zu begründen als die Streichung von 15,11-32, weil sie die Umkehr der Menschen „zu [108] ihrem ursprünglichen Besitzer, d. i. dem Schöpfergott“ 35 zum Ausdruck bringen würden. Das andere wichtige Gleichnis zu diesem Thema ist Lk 10,(25-28)29-37. Während die Frage des Gesetzeslehrers nach dem (ewigen) 36 Leben und Jesu (erste) Antwort (10,27 f.) gut bezeugt sind, fehlt jeder Hinweis auf den zweiten 282 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="283"?> 37 Epiphanms 11,6 [Schol 23] belegt 10,26.28; da Epiphanius nie ganze Texte, sondern nur den Anfang und das Ende von Perikopen mitteilt, lässt sich schließen, dass er bei Markion 10,29-37 nicht gefunden hatte. Tertullian IV 25,14-18 erörtert die Frage des Gesetzeslehrers und die Antwort Jesu Lk 10,25-27; 10,28 kann möglicherweise in der Bemerkung enthalten sein: itaque dominus, ut nec ipse alius, … nec aliud novum inferens praeceptum quam quod principaliter ad omnem salutem et utraque vitam facit“ (IV 25,15). Im Anschluss daran geht Tertullian direkt zu Lk 11,1-18 über (IV 26). 38 Vgl. K L I N G H A R D T , Gesetz, 136-155. 39 Tertullian IV 37,1: enimvero Zachaeus etsi allophylus. Vgl. dazu T S U T S U I , Evangelium, 118, V O N H A R N A C K Marcion, 227*, erklärt schlicht: „Getilgt waren die Worte καθότι καὶ αὐτὸς υἱὸς Ἀβραάμ“. 40 Vgl. Lk 3,8: ποιήσατε οὖν καρποὺς ἀξίους τῆς μετανοίας. S. dazu K L I N G H A R D T , Gesetz, 52 ff. Gesprächsgang (10,29.37). 37 Diese Weiterführung ist also lk Redaktion. Litera‐ risch ist diese Ergänzung sehr gelungen, weil sie die Struktur des ersten Ge‐ sprächsgangs (mit der Abfolge von Frage des Gesetzeslehrers - Gegenfrage Jesu - Antwort des Lehrers - abschließende Aufforderung Jesu), die im Unterschied zu Mk 12,28 ff. par. Mt 22,34 ff. bereits in der markionitischen Vorlage stand, aufgreift und genau nachahmt. Die theologische Leistung dieser Redaktion besteht in der ekklesiologischen Zuspitzung der Frage nach dem Heil: Es geht nicht darum, welches Gebot „erfüllt“ werden muss, sondern darum, auf wen man (und zwar: aus Gründen des Toragehorsams! ) zugeht und mit ihm eine Gemeinschaft bildet, innerhalb derer man das Leben findet. Die Pointe der jetzigen Fassung liegt in der Umkehrung der Frage 10,29 in 10,36 sowie in der Vorstellung, dass Israeliten wie der Gesetzeslehrer durch barmherzige (und das heißt hier wie sonst: finanzielle) Zuwendung an Nicht-Israeliten zu deren Nächsten werden können (γεγονέναι). 38 Unter diesem Gesichtspunkt ist schließlich auch noch zu erwähnen, dass auch die Qualifizierung des sich bekehrenden Zachäus als υἱὸς Ἀβραάμ bei Markion noch fehlte: Zwar ist die ganze Perikope 19,1-10 durch Tertullians Referat gesichert (IV 37), aber seine Kennzeichnung des Zachäus als allophylus macht es unwahrscheinlich, dass 19,9b bei Markion stand. 39 Die Betonung von Besitzverzicht anlässlich der Bekehrung - als Ausweis ihrer Gültigkeit (und Akzeptanz) - ist eine Besonderheit der lk Redaktion. 40 [109] 3. Die Frage, wie sich die Realisierung des Heils an Sündern und Heiden für Israel auswirkt, hat noch einen weiteren wichtigen Aspekt, der sich in den Gerichtsankündigungen zeigt, die mit der Ablehnung der Botschaft Jesu verbunden sind. Hier ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Während das Gleichnis vom großen Gastmahl (14,15-24), das mit der Einladung von den Straßen auf 283 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="284"?> 41 Z. B. G. S C H N E I D E R , Das Evangelium nach Lukas 2, ÖTBK 3.2, Gütersloh 1977, 317: „Die lukanische Fassung ist heilsgeschichtlich orientiert und spricht vom Gang des Heilsangebotes von Israel weg zu den Heiden.“ 42 Tertullians Referat bezeugt Teile von allen Versen (IV 31), auch von dem für unsere Frage wichtigen V.24 (IV 31,6: illos gustatores negat dominus). 43 Epiphanius 11,6 [Schol 41] kennzeichnet mit kurzen Zitaten sehr genau alle folgenden Aussagen als „gestrichen“ (παρέκοψε). Tertullian übergeht diese Verse. 44 Vgl. z. B. W A S S E R B E R G , Mitte, 71 ff. die Hinzunahme der Heiden gedeutet wird, 41 für Markion gut bezeugt ist, 42 hat das Logion 13,29 f., das wie ein Kommentar zu der Pointe 14,24 klingt, keine Entsprechung. Epiphanius teilt für 13,28 zwei Unterschiede mit: Markion habe „Abraham und Isaak und Jakob und alle Propheten“ durch „alle Gerechten“ und „ἐκβάλλειν ἔξω“ durch „κρατεῖν ἔξω“ ersetzt (11,6 [Schol 40]). Der gesamte folgende Abschnitt (13,29-35) hat gefehlt, 43 also die Verheißung, dass die Ersten die Letzten werden mit dem Wort von denen, die aus allen Himmelsrichtungen ins Reich kommen werden, die Warnung vor Herodes mit dem Hinweis, dass der Prophet in Jerusalem umkommen muss und das Wort über Jerusalem, das die Propheten tötet. Theologisch wichtig und charakteristisch für Lk ist die Verbindung von (a) dem Thema Heidenmission (13,29 f.), (b) der (daraus resultierenden? ) Drohung gegen das Leben Jesu (13,34) und (c) der Ankündigung der Zerstörung Jerusa‐ lems (13,35a). Die Frage, wie sich der heilsgeschichtliche „Übergang“ von Israel zu den Heiden bzw. die „Hinzunahme der Heiden zu Israel“ bei Lk verhält, ist bekanntlich in zahlreichen Texten vor allem in Apg ausgesprochen wichtig (bis hin zu dem kompositorisch betonten Schlusspunkt Apg 28,26-28), gleichwohl strittig, weil sich hier sehr ambivalente Aussagen finden. 44 Diese Ambivalenz lässt sich auch nach dem hier vorgeschlagenen Modell der Markionpriorität nicht durch einfache Aufteilung auf (markionitische) Tradition und (lk) Redak‐ tion beseitigen, aber es ergeben sich doch einige Gesichtspunkte hinsichtlich der Gewichtung der Texte. In Lk 11 fehlten bei Markion 11,30-32.49-51: Epiphanius zitiert aus *11,30 (ἡ γενεὰ αὕτη γενεὰ πονηρά ἐστιν), bezeichnet aber „das über Jona den Propheten“ als gefälscht und fährt fort, dass „das über Ninive, die Königin des Südens und Salomon“ fehlte (11,6 [Schol 25]). Das ist eindeutig genug, auch wenn Tertullian keine Angaben darüber zulässt. Auch das Folgende ist sehr uneinheitlich: Tertullian bezeugt für Markion das Bildwort über das Licht auf dem Leuchter (11,33), geht aber von da direkt zu 11,37 f. [110] über (Tertullian IV 27,1f) und bezeugt den größten Teil der Weherede gegen Pharisäer 284 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="285"?> 45 Tertullian las bei Markion aus *11,37 ff. die V.37-40 (IV 27,2); 41 (27,3); 42 (mit 43.46.47.52) (27,1); 42 (27.4.6); 43 (27,5); 46 (27,6); 47 f. (27,8). Epiphanius bezeugt *11,42a.47 (11,6 [Schol 26.27]). 46 Schwierig ist *11,42b, eine direkte Bezeugung fehlt. Im Zusammenhang seiner Behand‐ lung von *11,46 bietet Tertullian IV 27,6 ff. eine längere Belehrung darüber, dass die Kritik an der Zehntpraxis keine Kritik am Gesetz, sondern nur an der pharisäischen Heuchelei sei (IV 27,6). Der Hinweis auf die Zehntpraxis verweist auf 11,42(a) zurück. Allerdings wäre die Aussage 11,42b für seine Argumentatton mehr als willkommen gewesen; es scheint so, als hätte er diesen Satz bei Markion nicht gelesen. 47 Auslassungsvermerk Epiphanius 11,6 [Schol 55]. und Schriftgelehrte. 45 *11,47 ist auch durch Epiphanius bezeugt, der aber für 11,49-51 einen ausdrücklichen Auslassungsvermerk hat (11,6 [Schol 28]). So gibt es neben sicher bezeugten Partien (*11,1-23.27 f.29a.37-48. 46 52) und den eindeutig als fehlend gekennzeichneten (11,29b-32.49-51) noch eine Reihe, über die sich keine Aussage treffen lässt (11,24-26.34-36.53f). Dieses Bild macht deutlich, dass ein Teil der Schwierigkeiten bei der Interpretation von Lk 11 seine Ursache in der intensiven Bearbeitung dieses Kapitels hat. Deutlich ist aber das Interesse der lk Redaktion mit der massiven Androhung des Gerichts „an diesem Geschlecht“ (11,50 f.), und zwar in der Zuspitzung, dass es gerade Nichtisraeliten wie die Königin von Saba und die Niniviten sind (11,31 f.), die als Zeugen der Unbußfertigkeit Israels aufgeboten werden. Obwohl die Vorwürfe in 11,30-32.49-51 nicht identisch sind (Unbußfertigkeit; Propheten- und Apostelmord), gibt es mit 7,29 ff. eine Verbindung zwischen beiden Texten, die auf gemeinsamen Ursprung verweist (s. gleich). Zu dieser Gerichtsthematik gehört auch der Einzug Jesu in Jerusalem (19,29- 46) mit der pharisäischen Kritik an den Jüngern (19,39 f.) und vor allem der Dominus-flevit-Szene (19,41-44), die in 13,34 f. eine enge Sachparallele besitzt. Für die ganze Passage vermerkt Epiphanius ausdrücklich Auslassung bei Markion (11,6 [Schol 53]), was vor allem angesichts der konkreten Form der Gerichtsdrohung in 19,43 f. von Bedeutung ist. Es überrascht daher nicht, dass Epiphanius auch die ähnlich konkrete Ankündigung der Zerstörung Jerusalems 21,21-24 nicht gelesen hat (11,6 [Schol 59]). Da dasselbe auch für das Gleichnis von den bösen Winzern Lk 20,9-18 zutrifft, 47 sind drei große Texte über die Zerstörung Jerusalems erst durch die lk Redaktion Teil des Textes geworden, die überdies durch das Bild der (berstenden) Steine (19,40.44; 20,18 diff. Mk, Mt! ) und des verpassten Zeitpunkts (19,44: καιρὸς τῆς ἐπισκοπῆς σου; 21,24: καιροὶ ἐθνῶν) wechselseitig aufeinander bezogen sind. Das Bild rundet sich, wenn man dann noch hinzunimmt, dass auch das brutale Ende des Gleichnisses von den anvertrauten Minen (19,27), das wegen des Stichwortes ἐχθροί (anstelle des erwartbaren δοῦλοι) eher zu der folgenden Thematik der Auseinandersetzung 285 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="286"?> 48 19,27 ist weder bei Tertullian noch bei Epiphanius bezeugt. H A R N A C K S Urteil („muss getilgt worden sein“ [Marcion, 228*]), dem T S U T S U I zustimmt (Evangelium, 119), ist insofern begründbar, als Tertullian (IV 37,4) sich darum bemüht, zu zeigen, dass Gott ein strenger (will sagen: strafender, und nicht nur Ehren austeilender) Richter ist; hätte er 19,27 bei Markion gelesen, hätte er sich das kaum entgehen lassen. 49 Vgl. ausführlicher K L I N G H A R D T , Gesetz, 69 ff. 50 Mit Ch. B U R C H A R D , Zu Lk 16,16, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. v. D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 119-125: 121, Anm. 10, kann δοῦναι γνῶσιν σωτηρίας nicht Heilsvermittlung bedeuten. Wenn damit aber mehr gemeint ist als nur der Hinweis, dass nach ihm ein Stärkerer kommt (3,16), und wenn die Kenntnis des Heils wesentlich in der Kenntnis der Bedingungen für die Teilhabe daran besteht (3,10 ff.), dann ist der sachliche Unterschied nicht so groß. Ich bin daher immer noch der Ansicht, daß εὐαγγελίζεσθαι (3,18) mehr aussagt als nur „etwas öffentlich mitteilen“ (vgl. K L I N G H A R D T , Gesetz, 78 ff.107 Anm. 27). 51 Epiphanius zufolge habe Markion die Seligpreisung direkt auf Johannes bezogen (11,6 [Schol 8]). Anders Tertullian, der aus *7,23 schließt, dass die (zweifelnde) Anfrage des Täufers der Grund dafür sei, dass er als kleiner als der Geringste im Himmelreich bezeichnet werde (IV 18,8: quod tunc Ioannem minuit). Vgl. auch Adamantius, Dial II 18. [111] in Jerusalem als zur Logik des Gleichnisses passt, bei Markion nicht bezeugt ist. 48 4. Die Bedeutung der Gerichtsthematik erschließt sich schließlich auch von der Täuferüberlieferung her (vgl. 3,7-9), die bei Markion ohne Frage gefehlt hat: Da Markions Evangelium erst mit *3,1a.4,31 ff. anfing, geht die gesamte Darstellung des Täufers in Lk 1 und 3 auf Kosten der lk Redaktion, und damit eine ganze Reihe von wichtigen Zügen, die ich hier 49 nur anzudeuten brauche: Die priesterliche Abstammung des Täufers (Lk 1,5), die Betonung der Gesetzes‐ treue seiner Eltern (1,6), die erzählerisch dicht gewobene Parallelisierung seiner Geburt mit der Geburt Jesu, seine Funktion als „Wegbereiter“ (1,76), die darin besteht, "dem Volk das Heil kundzutun“ (1,77), sowie die Qualifizierung dieser Lehrfunktion als εὐαγγελίζεσθαι (3,18) 50 - all das hat bei Markion gefehlt und ist erst Teil der lk Redaktion. Dieser Befund lässt nach den anderen Täufertexten fragen, vor allem nach Lk 7 und Lk 16. Für Markion belegt ist die Täuferfrage *7,20 und die Antwort Jesu. Während Tertullian aus Markion *7,27 f. zitiert (IV 18,7), belegt Epiphanius für *7,23 ein anderes Verständnis 51 und erwähnt für *7,27 das Zitat aus Ex 23,20 (11,6 [Schol 9]). Nach der Täuferanfrage gehen sowohl Tertullian (IV 18,9) als auch Epiphanius (11,6 [Schol 10]) direkt über zur Behandlung von *7,36 ff. Von 7,29-35 findet sich keine Spur: Das argumentum e silentio, dass Markion diesen Abschnitt nicht hatte, lässt sich insofern wahrscheinlich machen, als Lk 7,30 direkt auf die Täuferpredigt 3,7 ff. zurückgreift, die bei Markion ja zweifelsfrei komplett fehlte. Die Konsequenz ist, dass die breit entwickelte Synkrisis zwischen Jesus 286 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="287"?> 52 Vgl. K L I N G H A R D T , Gesetz, 79; B U S S E , Nazareth-Manifest, 13 ff. 53 Tertullian IV 33 zitiert aus Lk 16 folgende Aussagen: *16,1-8 (durch Rückverweis in IV 33,2 hinreichend klar); *16,9b (IV 33,1); 16,11 f. (33,4); *16,13 f. (33,2); *16,16a (33,7); *16,17 (33,9); *16,18 (34,1). Nicht direkt bezeugt sind daher nur 16,10.15.16b. 54 IV 34,10-17 spricht mehrfach die Geschichte als ganze an und zitiert vor allem die Pointe *16,29. Von der christologischen Zuspitzung 16,30 f. gibt es keine Spuren. 55 B U R C H A R D , Zu Lk 16,16 (passim); K L I N G H A R D T , Gesetz, 14-29.78-96. und dem Täufer, die von der Kindheitsgeschichte bis Lk 7 reicht, auf das Konto der lk Redaktion geht, die hier Ansätze aus Markions Evangelium (*7,18-23.24- 28) breit ausgebaut und dazu auf die ebenfalls redaktionellen Texte aus Lk 3 zurückverwiesen hat. Ganz offenkundig spielt in diesem Zusammenhang [112] die Frage nach der Taufe ἐν πνεῦματι ἁγίῳ (3,16) eine entscheidende Rolle: Der Unterschied zwischen dem Täufer und Jesus besteht nach Lk 1 f. (1,35! ) und der zusammenhängenden Komposition von 3,16.21f; 4,1-13.14.16 ff. darin, dass das πνεῦμα (exklusiv) auf Jesus ruht (4,18.21), was ihn zu den programmatischen Aussagen 4,25 ff. befähigt, während der Täufer nicht nur nicht ἐν πνεῦματι tauft, sondern auch die Kunde, dass es ein solches πνεῦμα gibt, offensichtlich noch nicht einmal weitergegeben hat (Apg 19,1-7). 52 Damit wird die Funktionsweise der Synkrisis zwischen dem Täufer und Jesus im Rahmen der lk Redaktion verständlich: Der überbietende Unterschied zwischen beiden liegt in der Gabe des Geistes mit ihren universal-missionarischen Implikationen (zu 24,49 s. gleich), während sie darin übereinstimmen, dass das Gesetz die unabweisbare Forderung Gottes enthält und daher auch getan werden muss (3,7 ff.; 7,28 ff.; 10,28.37; 18,20). Neben Lk 3 und 7 ist 16,16-18 der dritte wichtige Täufertext, der für die Frage der heilsgeschichtlichen Periodisierung und das lk Porträt des Täufers als Gesetzesprediger zentral ist. Während die Täufertexte in Lk 3 und 7,29-35 bei Markion gefehlt haben, ist interessanterweise *16,16-18 schon für Markion be‐ zeugt. Tatsächlich hat Tertullian bei Markion den gesamten Zusammenhang von Kap. *16 mit nur wenigen Ausnahmen 53 gelesen, also auch die problematische Abfolge der Verse *16,16-18 und im Anschluss daran das Gleichnis von Lazarus und dem Reichen. 54 Tertullian bezeichnet die Abfolge von *16,18 und *16,19 ff. als überraschend (IV 34,10) und denkt sich die Lazarus-Parabel als Begründung für die Weitergeltung des Gesetzes. Angesichts der bekannten Schwierigkeiten bei der Interpretation von 16,16-18 55 sei hier mitgeteilt, wie Tertullian, dessen Scharfsinn ja bekannt ist, damit umgeht. Tertullian versteht den ganzen Zusammenhang als Text über die Ehe und Ehescheidung. Ihm ist zunächst wichtig, dass die Ehe - entgegen der markionitischen Askese - eine von Gott eingesetzte Ordnung ist, wie sich aus *16,18 ergibt: Jesus setzt die Ehe hier ja 287 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="288"?> 56 IV 34,2: „Denn du hast das andere Evangelium nicht überliefert und seine Wahrheit und seinen Christus, in dem er Scheidung verbietet und die damit verbundene Frage löst.“ 57 Dass diese Argumentation mit dem MtEv seinem Grundsatz, Markion aus seinem eigenen Text zu widerlegen, entgegensteht, scheint Tertullian nicht gestört zu haben - wenn er es denn wahrgenommen hat. 58 Tertullian versteht *16,18 also ziemlich genau in dem Sinn, den B U R C H A R D in seiner „Nachbemerkung 1998“ zu Lk 16,16-18 annimmt (Zu Lukas 16,16, 125): Herodias’ Ehe war nicht rite dirumptum. 59 Ob Tertullian den sog. „Stürmerspruch“ (16,16b) gelesen hat, lässt sich aufgrund seiner Angaben nicht sagen. Es ist denkbar, dass erst die lk Redaktion 16,16b aus Mt 11,12 in leicht veränderter Form ad vocem „Basileia wird verkündigt“ hierher gesetzt hat. voraus. Das eigentliche Problem besteht für Tertullian darin, die Aussage von der Unauflöslichkeit der Ehe *16,18 mit dem Scheidungsrecht des Gesetzes (Zitat aus Dtn 24,1) in Einklang zu bringen, zumal davon ja auch das kleinste Häkchen Bestand hat (*16,17). Er liest daher aus *16,16a die hermeneutisch grundlegende Differenzierung von Gesetz und Evangelium: „Siehst du den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium, Mose und Christus? Gut! “ (IV 34,1f). Weil Markion allerdings eine falsche [113] Bibel hat, 56 kennt er weder die göttliche Stiftung der Ehe (Mt 19,5 mit Zitat Gen 2,7) noch das Argument der Herzenshärte (Mt 19,8), das auf der Grundlage der Schöpfungsordnung das Scheidungsgesetz einschränkt und die Unauflöslichkeit der Ehe in der Lehre Jesu bestätigt. Damit bleibt für ihn nur noch das Problem, unter welchen Bedingungen Scheidung dann eben doch angebracht ist. Er löst es mit der Unzuchtsklausel Mt 5,32: Ein matrimonium non rite dirumptum bleibt bestehen, weshalb jede zweite Ehe in diesem Zusammenhang adulterium (hier in dem geläufigen Sinn von Bigamie) und daher gesetzwidrig wäre (IV 34,5). 57 Da auch die Tora für diesen Fall ein Ehehindernis sieht, folgert er, dass schon Mose die grundsätzliche Unauflöslichkeit der Ehe propagiert habe, was er durch Dtn 22,28 in Verbindung mit Mal 2,15 begründet: Das Wiederheiratsverbot *16,18 lege Mose ganz richtig aus. Aber auch Tertullian empfand *16,18 in diesem Kontext als erklärungsbedürftig, denn er bemüht sich zu zeigen, dass diese propositio nicht „plötzlich“ eingeführt worden sei (quia nec subito interposita est): „Ich muss nun aber auch dieses zeigen, woher der Herr dieses Urteil bezog und worauf er zielte“ (IV 34,8). Zur Erklärung verweist er auf Johannes’ Kritik an Herodes’ Ehe mit der geschiedenen Herodias (hier verstanden als Scheidung durch den Tod des Ehepartners), deretwegen dieser den Täufer habe hinrichten lassen (vgl. Lk 3,19 f.). 58 Die Deutung ist auf erstaunliche Weise konsistent: Das Gesetz gilt weiter (*16,17), wenn auch in differenzierter Weise (wie *16,16a[b] 59 deutlich macht), weswegen *16,18 nicht in Widerspruch zum Mosegesetz steht. Die Erwähnung des Täufers in *16,16a ist notwendig, weil dessen Kritik an Herodes’ Ehe deutlich macht, dass bereits das Gesetz die Differenzierung enthält, die Jesus (nach Mt 288 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="289"?> 60 Epiphanius XLII 9,2: οὐ μόνον δὲ τὴν ἀρχὴν ἀπέτεμεν … ἀλλὰ καὶ τοῦ τέλους καὶ τῶν μέσων πολλὰ περιέκοψε; 11,3: ὡς δὲ ἠκρωστηρίασται μήτε ἀρχὴν ἔχον μήτε μέσα μήτε τέλος ἱμάτιου βεβρωμένου ὑπὸ πολλῶν στηῶν ἐπέχει τὸν τρόπον. 61 11,6 [Schol 76] bezeugt *24,5-7 (vgl. dazu Tertullian IV 43,5); 11,6 [Schol 77] vermerkt für *24,25 eine andere Lesart; 11,6 [Schol 78] bezeugt mit anderer Lesart *24,38 f. (vgl. dazu auch Tertullian IV 43,6; Adamantius, Dial V 12) - danach bricht die Liste ab. 62 Anstelle der ἕνδεκα (24,9) und der ἀπόστολοι (24,9 f.) erwähnt Tertullian nur disci‐ puli, hat also wohl μαθηταί gelesen (IV 43,3: incredulitas discipulorum perseverabat). Allerdings hatte Markion *10,1 die Siebzig als ἀπόστολοι bezeichnet (Tertullian IV 24,1: adlegit et alios septuaginta apostolos super duodecim), die Lk nur als ἑτέρους ἑβδομήκοντα bezeichnet (vgl. den Hinweis von T S U T S U I , Evangelium, 71 ff.). 63 11,6 [Schol 77]: παρέκοψε τὸ εἰρημένον πρὸς Κλεοπᾶν καὶ τὸν ἄλλον, ὅτε συνήντησην αὐτοῖς τό „Ὦ ἀνόητοι καὶ βραδεῖς τῇ καρδίᾳ“. 5,32) ausführt. Tertullians Interpretation von *16,16-18 erklärt zwar nicht, wie die eigenartige Zusammenstellung *16,16-18 entstanden sein könnte (denn er setzt ja immer den kanonischen Kontext voraus); aber die Selbstverständlichkeit, mit der Tertullian *16,17 zitiert und in diesem Zusammenhang verwendet, zeigt deutlich genug, dass das markionitische Evangelium keineswegs antinomistisch war. 5. Ein letzter für unsere Fragestellung wichtiger Textkomplex ist das Ende des Lk, das ganz sicher anders aussah als die kanonische Fassung, wenn auch nicht ganz klar ist, wie. Epiphanius teilt zweimal mit, dass Markion nicht nur zu Beginn, sondern auch in der Mitte und am Ende gekürzt [114] hätte. 60 Allerdings gibt seine (sicherlich unvollständige) Liste der Änderungen am Schluss keine ausdrücklichen Auslassungsvermerke. 61 Auch Tertullians Referat, das gegen Ende ohnehin immer großzügiger wird, erlaubt keinen eindeutigen Aufschluss. Aus Lk 24 sind folgende Aussagen für Markion bezeugt: Aus 24,1-12 hat Tertullian bei Markion *24,1.3 f.6 f.9-11 62 gelesen (IV 43,1-5), *24,4-7 ist auch durch Epiphanius 11,6 [Schol 76] sichergestellt. Keine Spuren gibt es von 24,2.8.12; während 24,2 unproblema‐ tisch ist, gibt es gute Gründe dafür, dass die V.8.12 von Lk redaktionell eingefügt wurden. Die folgende Emmausepisode ist gut belegt: Aus Lk 24,13-35 ist für Markion *24,13-16.25 durch Tertullian gesichert (IV 43,3f), *24,18.25 f.30 f. durch Epiphanius (11,6 [Schol 77]), *24,25 f. darüber hinaus durch Adamantius (Dial V 12). Von den nicht belegten Passagen sind Aussagen, die *24,17.28 f. inhaltlich entsprechen, aus Gründen der narrativen Logik für Markion zu postulieren, ebenso eine wenigstens kurze Angabe über das Unverständnis der beiden Emmausjünger (in Entsprechung zu 24,19-24), das Jesus in *24,25 aufgreift (Tertullian IV 43,4); Epiphanius hat für das Gespräch eine Auslassung vermerkt. 63 Vermutlich auf lk Redaktion geht dagegen 24,33-35 zurück: 24,34 setzt die mutmaßlich redaktionelle Aussage 24,12 voraus, die ἕνδεκα 24,33 entsprechen 24,9. Die für unsere Fragestellung mit Abstand interessanteste Frage, ob 24,27 mit der Erwähnung 289 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="290"?> 64 Für die Vertreter der Lk-Priorität ist klar, dass Markion diese Aussage gestrichen haben musste, weil sie nicht in das ihm unterstellte Konzept passt, vgl. V O N H A R N A C K , Marcion, 239* („27 unbezeugt und sicher gestrichen“); T S U T S U I , Evangelium, 128 f. 65 In der Literatur heftig diskutiert wird *24,37, wo Markion mit hoher Wahrscheinlichkeit φάντασμα statt πνεῦμα las (Tertullian IV 43,6: phantasma; Adamantius, Dial V 12: φαντασία), weil Markion in *24,39 mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit πνεῦμα las. Die möglichen oder tatsächlichen theologischen Implikationen, die hier diskutiert werden, sind für unsere Fragestellung nur insofern von Belang, als sie nur bei Annahme der Lk-Priorität das (dann in der Tat kaum lösbare) Problem aufwerfen, aus welchen inhaltlichen Gründen Markion so inkonsistent formuliert haben sollte; vgl. dazu V O N H A R N A C K , Marcion, 239*; T S U T S U I , Evangelium, 129 ff.; M. V I N Z E N T , Der Schluß des Lukasevangelium bei Marcion, in: Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung, 79-94. 66 V O N H A R N A C K , Marcion, 240*. 67 Tertullian IV 43,9 zu *24,47: et apostolos mittens ad praedicandum universis nationibus. Dass sich ἀρξάμενοι ἀπὸ Ἰερουσαλήμ nicht bei Markion fanden, leuchtet mir (aus anderen Gründen als V O N H A R N A C K , Marcion, 240*) ein. Schleierhaft ist mir dagegen, mit welcher Begründung Harnack (ebd.) annimmt, Markion *24,47 habe die Worte (κηρυχθῆναι) µετάνοιαν εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν enthalten. Offensichtlich von hier aus ist diese Vermutung weiter gewandert, z. B. zu V I N Z E N T , Schluß, 84. von „Gesetz und Propheten“ bei Markion gestanden haben könnte, lässt sich leider nicht mit der gewünschten Sicherheit beantworten, 64 obwohl es Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Vers redaktionell (= lk) ist. Vom Rest des Kapitels sind für Markion bezeugt *24,37-39.41 (Tertullian IV 43,6-8; Adamantius, Dial V 12) bzw. *24,28 f. (Epiphanius 11,6 [Schol 78]). Die Erscheinung Jesu 24,36 ist daher zwingend vorausgesetzt. 65 Von *24,42 f. findet sich [115] eine Spur bei Eznik von Kolb, demzufolge die Markioniten ihre (Fleisch-)Askese damit begründet hätten, dass Jesus hier Fisch statt Fleisch gegessen habe. 66 Da von der gesamten Himmel‐ fahrtsszene nichts belegt ist, ist es wahrscheinlich, dass Markions Evangelium mit einem Sendungsbefehl am Ende der Erscheinungsszene geendet hatte, den Tertullian in seinem Markionreferat im Zusammenhang mit der Erscheinung des Auferstandenen vor den Jüngern als Letztes mitteilt, auch wenn der genaue Wortlaut unklar bleibt. 67 Auch wenn das Urteil in vielen Fällen unsicher ist, lassen sich für die lk Redaktion, die das gesamte Kapitel durchgreifend ergänzt und verändert hat, einige wichtige Annahmen wahrscheinlich machen. a. Zunächst hat die lk Redaktion eine Reihe von szenischen Verknüpfungen vorgenommen und aus der eher episodischen Reihung von drei Einzelperikopen in Markions Evangelium (*24,1-11.13-35.36-43.47) eine narrative Einheit von hoher Kohäsion und Komplexität geschaffen. Zwischen Grab- und Emmaus‐ szene hat Lk Petrus’ Gang zum Grab und Autopsie eingefügt (24,12). Das ist deswegen von Bedeutung, weil diese Ergänzung ein erzählerisches Gegenstück 290 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="291"?> 68 Ich habe den engen Zusammenhang anhand der Entsprechung von Lk 1,1-4 und Joh 21,25 angedeutet (K L I N G H A R D T , Markion). Beides gehört in das unmittelbare Umfeld der kanonischen Ausgabe. 69 S. bes. K. L Ö N I N G , Das Geschichtswerk des Lukas 1. Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse, Urban TB 455, Stuttgart u. a. 1997, 19-57. 70 Der Öffnung der Schrift (24,45: διήνοιξεν … τὰς γραφάς) korrespondiert die Öffnung der Augen (24,31: διηνοίχθησαν οἱ ὀφθαλμοί), die zuvor „gehalten“ waren (24,16: οἱ δὲ ὀφθαλμοὶ αὐτῶν ἐκρατοῦντο) und deshalb nicht „sahen“ (vgl. 24,24, über die Frauen am Grab: αὐτὸν δὲ οὐκ εἶδον): Wem die „Augen geöffnet“ werden, so dass er den Auferstandenen „sieht“, dem ist auch der „νοῦς geöffnet“, so dass er die Schrift richtig versteht - und umgekehrt. zu der entsprechenden Passage in Joh 20,3 ff. schafft, die deutlich macht, dass die lk Redaktion in großer Nähe zur Abfassung bzw. Redaktion von Joh steht. 68 Auch die Rückkehr der Emmausjünger nach Jerusalem ist - ausweislich der als Kohäsionsmerkmale zu wertenden Bezüge (24,34 auf 24,12; 24,33 auf 24,9) - eine redaktionelle Verbindung zwischen der Emmaus- und der Erscheinungsszene. b. In inhaltlicher Hinsicht fällt sodann auf, dass der ganze Themenkomplex des Wissens  69 um die Identität Jesu und die Notwendigkeit seines Leidens, der das gesamte Kapitel dominiert, redaktionell ist: In der Grabszene (24,1-9) ist 24,8 nachgetragen worden, was sehr gut dazu passt, dass der belehrende Dialog zwischen Jesus und den Emmausjüngern für Markion nicht bezeugt ist (24,19-24). Tatsächlich wird hier gleich mehrfach auf die Leidensankündigung Jesu referiert: In 24,6 fordern die Engel die Frauen ja nicht nur auf, sich an die Leidensankündigungen zu erinnern, sondern [116] sagen ihnen den Inhalt auch noch direkt vor (24,7), worauf 24,8 das Einsetzen der Erinnerung ausdrücklich feststellt. In 24,20 wird der sachliche Gehalt (zumindest der ersten Hälfte) der Ankündigung noch einmal im Mund der Emmausjünger wiederholt. Da die lk Redaktion besonders intensiv daran interessiert ist, was es über Jesus zu wissen gibt, wird man geneigt sein, ihr auch die Einfügung von 24,27 (ἀρξάμενος ἀπὸ Μωϋσέως καὶ ἀπὸ πάντων τῶν προφητῶν …) zuzuschreiben: Neben dem Erinnern an die Worte Jesu, das ein Zurückblättern im Evangelienbuch verlangt, werden hier die Schriften als hermeneutische Referenz eingeführt (διερμήνευσεν αὐτοῖς ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς). Dasselbe Thema ist auch in die Szene von der Erscheinung Jesu (24,36-49) eingefügt worden, die dadurch ein vollständig neues Profil erhält. Gleich mehrere Aspekte, die in den ersten beiden Szenen eingefügt wurden, werden aufgegriffen und im Mund Jesu vor allen Jüngern wiederholt: Die Leidensankündigung (die 24,44 zum dritten Mal innerhalb des Kapitels inhaltlich mitgeteilt wird! ), die Schrift als Grundlage des Verstehens (24,45, mit Rückbezug auf 24,27) sowie das Verstehen, das durch die Verbindung von beidem als „Öffnung der Augen“ erwähnt wird. 70 291 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="292"?> 71 Lk 1,4. Zum Prolog und seiner antimarkionitischen Funktion für die lk Redaktion s. K L I N G H A R D T , Markion. 72 Auch in 24,27 setzt die Formulierung ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς eine abgeschlossene Sammlung voraus. Die Hermeneutik, die hier impliziert ist, hat für unsere Fragestellung zwei wichtige Aspekte: Der Umstand, dass erst die Engel am Grab und dann Jesus inhaltlich gar nichts Neues mitteilen, sondern nur auf Bekanntes verweisen, das erinnert werden muss, macht zunächst deutlich, dass es hier nicht in erster Linie um den materialen Gehalt eines „christlichen Wissensbestandes“ geht, sondern um die Frage, wie man auf verlässliche Weise zu diesem Wissen gelangen kann. Genau diese Vermittlung von Zuverlässigkeit (ἀσφάλεια) hinsichtlich der Über‐ lieferung, in der der ideale Leser Theophilos unterrichtet wurde, ist dem Prolog zufolge die Absicht der Abfassung des Lk. 71 Die Antwort, die der Prolog auf diese Frage gibt, ist der Verweis auf dieses Evangelium: Gemeint ist - in erkennbarem Gegensatz zu den früheren Versuchen, die „viele unternommen haben“ - der lk redigierte Evangelientext, der, vermittelt durch den fiktiven Autor, durch Augenzeugenschaft, Nachforschung ganz von Anfang an und Genauigkeit autorisiert wird (Lk 1,2f). Die Antwort von Lk 24 schlägt einen weiteren Bogen: Das verlässliche Zeugnis ist in den Schriften Israels enthalten, die nur richtig gelesen werden müssen; und den Schlüssel zur richtigen Lektüre vermittelt erst die Belehrung durch Jesus. Das hermeneutische Konzept, das [117] hier entfaltet wird, enthält also zwei Elemente, die sich gegenseitig bedingen und gegenseitig stützen. Das ist einigermaßen erstaunlich, weil das Gefälle der Erzählung zwar nach einer Begründung von Passion und Auferstehung Jesu verlangt (die hier durch die Schriften gegeben wird), nicht aber nach einer Legitimation von Mosegesetz, Propheten und Psalmen: Diese Referenz erfüllt offenkundig eine Begründungsfunktion, die außerhalb der Erzählung liegt. Von hier aus wird der andere aufschlussreiche Aspekt dieser Hermeneia Jesu deutlich. Denn die durch ihn vermittelte „Öffnung des Verstandes zum Begreifen der Schriften“ (24,45) setzt ja einen fest umrissenen Bestand von Texten voraus, der hier bekanntlich zum ersten Mal mit den großen Teilsammlungen des AT auch genannt wird: Gesetz des Mose, Propheten, Psalmen (24,44). 72 Die Geschlossenheit der hermeneutischen Argumentation - nur der richtige (und das heißt: der lk) Jesus „öffnet“ die Schrift, nur die richtige Schrift (und das heißt: die Sammlung von Mosegesetz, Propheten und Psalmen) ermöglicht den Zugang zu diesem Jesus - legt es nahe, diesen Verweis auf die „Schriften“ selbstreferentiell auf das christliche Alte Testament zu beziehen: Beide Aspekte unterscheiden dieses Konzept von Markion, der keine Sammlung alttestament‐ licher Schriften kannte und dessen Evangelium auch keinen Jesus schildert, der 292 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="293"?> 73 Markions Evangelium besitzt ja aus Sicht des Lk am Anfang (*4,31-37.16-30) eine falsche Reihenfolge, und da die gesamte Kindheits- und Taufüberlieferung fehlt, beginnt es auch nicht ἄνωθεν. 74 Tertullian IV 4,4: Die hier angesprochene interpolatio bestünde dann nicht nur in der redaktionellen Verbindung von (Lk-) Evangelium mit Gesetz und Propheten in der Kanonischen Ausgabe (concorporatio legis et prophetarum), sondern auch in der Verfälschung des Textes, das diese concorporatio begründet. Tertullians Wiedergabe von Markions Vorwurf klingt wie ein direkter Kommentar zu Lk 24,27.44-46. 75 Die Unterschiede beziehen sich eher auf den Termin (Lk 24,50: in derselben Nacht; Apg 1,3: nach 40 Tagen) als auf den Ort (Lk 24,50: in der Nähe von Bethanien; Apg 1,12: Ölberg), weil Lk sich offensichtlich Betanien, Bethphage und den Ölberg als eine geographische Einheit denkt (19,29). Zur Art der Beziehung der beiden Himmelfahrtsszenen vgl. M.C. P A R S O N S , The Departure of Jesus in Luke-Acts. The Ascension Narratives in Context, JSNT.S 21, Sheffield 1987, der darauf hinweist, dass die Differenzen eine Folge der jeweiligen narrativen Funktion darstellen. Augen und Verstand zum Verstehen des Alten Testaments öffnet. So entspricht das Ende des Lk dem Prolog am Anfang: In beiden Fällen wird das Problem reflektiert, wie Zugang zu relevantem Wissen zuverlässig möglich ist, und in beiden Fällen enthält die Antwort Elemente, die am ehesten antimarkionitisch zu verstehen sind - im Prolog sind das die Verweise auf die Augenzeugen von Anfang an (οἱ ἀπ’ ἀρχῆς αὐτόπται), die richtige Reihenfolge (καθεξῆς) usw., 73 am Ende ist es der Verweis auf das AT, das für das Verstehen Jesu unerlässlich ist. Dieser hermeneutische Zusammenhang in Lk 24 zeigt sehr schön, wie Markions Vorwurf zu verstehen ist, das (kanonische Lk-) Evangelium „sei, verfälscht von den Verteidigern des Judentums, mit dem Gesetz und den Propheten zu einer Einheit verbunden worden, durch welche sie Christus auch von dorther erdichten.“ 74 c. Komplett neu geschaffen hat Lk schließlich den gesamten Rest des Evangeliums mit der Himmelfahrtsszene und der Rückkehr der Jünger nach [118] Jerusalem in den Tempel. Die Korrespondenz von Lk 24,50-53 mit Apg 1,9-11 schließlich schafft trotz der Unterschiede 75 eine beabsichtigte Brücke zum „zweiten Buch“. Das zeigen einige gemeinsame Elemente deutlich genug: Belehrung beim gemeinsamen Mahl (24,36 ff.; Apg 14); Hinweis auf die Zeu‐ genschaft vor allen Völkern bzw. bis an die Grenzen der Erde (24,48; Apg 1,8); die Aufforderung, Jerusalem nicht zu verlassen mit der Verheißung der Gabe des Geistes (24,49b; Apg 1,4). Dabei dienen die theologisch zentralen Aussagen der Belehrung Jesu (24,46-49) nicht nur als Ankündigung dessen, was dann in Apg erzählt wird, sondern schlagen mit dem Stichwort „Umkehr zur Sündenvergebung für alle Völker“ den Bogen zurück zu den programmatisch redigierten Aussagen der Täuferschilderung und der Nazarethperikope: Die Formulierung μετάνοια εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν (εἰς πάντα τὰ ἔθνη) ist typisch für 293 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="294"?> 76 Lk 1,77; 3,3 vom Täufer (κηρύσσων βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν) bzw. 4,18 f. im Mischzitat mit den Stichworten πνεῦμα (κυρίου) - ἄφεσις - κηρύξαι ἐνιαυτὸν κυρίου δεκτόν. 77 Apg 2,38; 5,31; 10,43; 13,38; 26,18. Zu 13,38 s. K L I N G H A R D T , Gesetz, 99 ff.; von meinem Versuch, die Formulierung ἄφεσις ἁμαρτιῶν … (καὶ) ἀπὸ πάντων ὧν οὐκ ἠδυνήθητε ἐν νόμῳ Μωϋσέως δικαιωθῆναι (Apg 13,38) als von Paulus unabhängig zu erweisen, würde ich in der Zwischenzeit deutlich abrücken. 78 Siehe oben mit dem Auslassungsvermerk bei Epiphanius 11,6 [Schol 53]. 79 Siehe dazu oben mit Anm. 31. die lk Redaktion von Markions Text 76 und macht durch die rekurrenten Belege in Apg die kohärente Zusammengehörigkeit der beiden Bücher deutlich. 77 Die Rückkehr der Jünger von Bethanien (24,50 ff.) markiert dabei ein weiteres wichtiges Kompositionssignal. Denn der Gang von Bethanien über den Ölberg nach Jerusalem in den Tempel wiederholt den Weg Jesu beim Einzug nach Jerusalem mit der Königsproklamation durch die Jünger (19,29 ff. mit 19,37 f.) und der Tempelreinigung (19,45-48), die den Tempel als Ort des Gebets und der Lehre qualifiziert. An dieser Stelle hatte die lk Redaktion den Pharisäerprotest und die Dominus-flevit-Szene mit der Ankündigung der Zerstörung Jerusalems eingefügt, die ebenfalls in Markions Evangelium fehlten. 78 Die Wiederholung des Weges von 19,29 ff. in 24,50 ff. zeigt sehr deutlich das redaktionelle Verfahren und Interesse: Das Königtum Jesu muss proklamiert werden. Wenn die Jünger dies nicht tun, werden die Steine schreien, was sie, in der Perspektive der lk Redaktion, ja auch sehr laut getan haben und darin zu Zeugen für Jesu Königtum geworden sind. Analog dazu steht die Proklamation der Jünger. Dass diese Proklamation gerade auf dem Weg vom Ölberg zum Tempel verortet wird, verweist dann auf die Entsprechung in Apg 1,4-14: Auch hier wird das Königtum [119] Jesu thematisiert (Apg 1,6-8), jetzt aber in der Zuspitzung, dass Jesu βασιλεία τῷ Ἰσραήλ gerade dadurch realisiert wird, dass die Jünger dieses Königtum „bis an die Enden der Erde“ proklamieren, und zwar ausgehend von Jerusalem (genauer: vom Tempel, Apg 22,17 f.), wo die Jünger im Gebet verharren (Lk 24,53; Apg 1,14). Damit ist deutlich: Dass Jesu Königtum über Israel sich gerade in der Erstreckung auf die Heiden realisiert, entspricht der zentralen Aussage des Nunc dimittis (Lk 2,32). 79 Dass die Bewegung, die die Heiden mit einbezieht, gerade vom Tempel ausgeht (Apg 1,6 ff.; 22,17 f.), erweist ihre Übereinstimmung mit den Verheißungen Israels. So ist die zentrale Stellung des Tempels am Ende des Lk das narrative Widerlager zu den programmatischen Aussagen in Lk 1 f. Dieses Wissen ist in den Schriften enthalten, muss aber durch die Hermeneia Jesu „aufgeschlossen werden.“ 294 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="295"?> 80 Zum Tempel allgemein s. M. B A C H M A N , Jerusalem und der Tempel. Die geogra‐ phisch-theologischen Elemente in der lukanischen Sicht des jüdischen Kultzentrums, BWANT 109, Stuttgart u. a. 1980, 315 ff.; zum Tempel speziell als Ort von Lehre und Gebet sowie in Verbindung mit Heidenmission s. K L I N G H A R D T , Gesetz, 276 ff. Zu Lk 24 und dem Übergang zu Apg s. auch W A S S E R B E R G , Mitte, 191 ff. 81 Z. B. die Angleichung von Lk 10,25 und Lk 18,18 als Frage nach dem ewigen Leben (s. o. Anm. 36). 82 M. G O O D A C R E , The Synoptic Problem. A Way Through the Maze, Sheffield 2001, 71 ff. Ein Beispiel ist etwa die Erzählung vom Tod des Täufers (Mk 6,14-29; Mt 14,1-12): Viermal wird Herodes in der mk Fassung als βασιλεύς bezeichnet; Mt korrigiert in 14,1, historisch zutreffend, in τετραάρχης übersieht diese Korrektur aber in 14,9, wo er aus Mk 6,29 βασιλεύς übernimmt. Die Erkenntnis dieser kompositionellen Zusammenhänge zwischen Lk und Apg sind allesamt nicht neu. 80 Aber sie gewinnen doch ein neues Gewicht, wenn man sieht, dass und wie die einzelnen Elemente in Markions Text, der im Vergleich zur kanonischen Fassung wie ein Torso erscheint, erst eingebaut wurden. Angesichts der hohen literarischen Komplexität und der Verknüpfung so vieler wichtiger Kompositionslinien in Lk 24, die allesamt in Markions Evangelium fehlten, fällt es sehr schwer, die traditionelle Sicht der Lk-Priorität aufrecht zu erhalten: Die Elemente, die die lk Komposition deutlich machen, finden sich fast durchweg in redaktionellen Partien. III Mit diesem Überblick über den Umfang von Markions Evangelium sollten wenigstens die Konturen der lk Redaktion erkennbar sein. Da ich das Material nur in groben Zügen aufgelistet und nicht wirklich detailliert analysiert habe, räume ich gerne ein, dass manches aufgrund der Zeugnislage nicht hinreichend sicher ist, anderes auch anders interpretiert werden könnte. Aber trotz mancher Unsicherheiten erlaubt das weitgehend in sich stimmige Gesamtbild einige Schlussfolgerungen, die sich (1.) auf das Profil der Redaktion und die Beurteilung des redaktionellen Gefälles beziehen, von wo aus sich dann (2.) auch inhaltliche Gesichtspunkte zur Beurteilung der Aussagen [120] zum Gesetz und ihrem historischen Ort sowie (3.) zu Markions Haltung zum Gesetz ergeben. 1. In den meisten Fällen ist eine lk Redaktion von Markions Text wahrschein‐ licher als die umgekehrte Annahme. Abgesehen von einigen kleineren Beobach‐ tungen 81 sind dabei vor allem die redaktionellen Differenzen in Lk 4 und 24 aufschlussreich. Für Lk 4,16-30.31-37 hat sich gezeigt, dass sich die Annahme der Lk-Priorität nicht mehr aufrechterhalten lässt. Vielmehr ist der redaktio‐ nelle Charakter von 4,16 ff. (mit seinen Zügen der „redactional fatigue“) 82 ja 295 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="296"?> 83 Zu nennen sind: Die hohe Rekurrenz der immer wieder aktualisierten Zeitangaben, die das gesamte Geschehen auf einen Tag verteilen (Lk 24,1.13.29.33.36), und zwar auf den „dritten Tag“ (vgl. 23,54.56; 24,1; der dritte Tag wird ausdrücklich genannt: 24,7.21); das beständige Gehen von und nach Jerusalem (24,1.9.12a.b.13.22.24.33.50.52), das man mit L Ö N I N G , Geschichtswerk, 33 ff., am besten als Bewegung auf der Suche nach Jesus bezeichnet, was im übrigen erklärt, wieso die Jünger 24,17 während der Belehrung durch Jesus stehen bleiben (ἐστάθησαν); und schließlich die gesamte Thematik des Wissens und Erinnerns (s. oben). 84 Es ist daher kein Zufall, dass beispielsweise Lönings narrative Analyse des Lk gerade mit diesen Passagen einsetzt (Geschichtswerk, 19-57.58-159) und hier sehr viel über‐ zeugender ist als in der Behandlung von Lk 5-9 (160-258). 85 Auch die umfangreiche Untersuchung von R. V O N B E N D E M A N N , Zwischen Doxa und Stauros. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium, BZNW 101, Berlin/ New York 1999, kann die literarischen Zusam‐ menhänge nicht gleichmäßig gut erklären. schon immer gesehen worden - allerdings für das Verhältnis Lk-Mk, nicht für das Verhältnis Lk-Markion. Für Lk 24 ist die hochkomplexe Komposition deutlich geworden, die ausweislich der zahlreichen Kohäsionsmerkmale 83 eine planmäßige Einheit darstellt, während die markionitische Erzählung (mit der Abfolge: Auffindung des leeren Grabes - Emmausjünger - Erscheinung des Auferstandenen in Jerusalem) zwar ohne Brüche ist, aber literarisch eher die Merkmale der episodischen als der thematischen Erzählung aufweist. Es wäre zwar grundsätzlich möglich, dass Markion die genannten Kohäsionsmerkmale beseitigt (oder wenigstens erheblich reduziert) und dadurch die komplexe Struktur seiner Vorlage aufgelöst hätte, aber das ist sehr unwahrscheinlich: Zwar könnte man Markion ein Motiv für die Streichung derjenigen Aussagen unterstellen, die das hermeneutische Konzept von Lk 24 stützen, nicht aber für die Streichung der Zeit- und Ortsangaben oder von Lk 24,12. a. Unter der Voraussetzung der Markionpriorität fällt auf, dass die hier bespro‐ chenen Texte auch untereinander in enger Beziehung stehen. Sie bilden ein ko‐ härentes Geflecht, verweisen aufeinander und interpretieren sich wechselseitig. Dabei sind die redaktionell besonders intensiv bearbeiteten Passagen zugleich diejenigen, die innerhalb des Lukasevangeliums am deutlichsten literarisch strukturiert sind: Die narrative Analyse zeigt gerade in den hier besprochenen Texten zu Beginn (Lk 1 f.; 3 f.) und am Ende (Lk 24) die Planmäßigkeit der Anlage, die sich demnach relativ leicht rekonstruieren [121] lässt, 84 während die literarischen Strukturmerkmale in anderen 5 Partien (vor allem im sog. Reisebericht) 85 sehr viel weniger deutlich ausfallen und dementsprechend kaum konsensfähige Urteile zulassen. Anders gesagt: Markions Text ist, mangels hinreichender Struktursignale, weniger gut erzählt als Lk. 296 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="297"?> 86 Außer K L I N G H A R D T , Gesetz, vgl. etwa C.L. B L O M B E R G , The Law in Luke-Acts, JSNT 22 (1984) 53-80; K. S A L O , Luke’s Treatment of the Law. A Redaction-Critical Investigation, AASF.HL 57, Helsinki 1991, 43-167; S.G. W I L S O N , Luke and the Law, MSSNTS 50, Cambridge 1983. 87 Diesen Vorwurf erhebt Tertullian immer dann, wenn Markions Text eine positive Haltung zum Gesetz zeigt: Nach IV 7,4 habe Markion dieses Logion „wie einen Zusatz gestrichen (hoc enim Marcion ut additum erasit; zu *4,31-37).“ - Nach 9,15 (Zusammenhang: Befehl an den Leprösen *5,14) habe Markion "sententiam Non veni legem dissolvere, sed adimplere“ aus seinem Evangelium gestrichen (erasisse). - 12,14: Tertullian führt zu Lk 6,6-11 aus, dass Jesus das Sabbatgebot in Kraft gesetzt habe und folgert: „Überall drängt er durch seine Taten auf: Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen! - auch wenn Markion ihm mit diesem Wort den Mund verstopft hat (si Marcion hac voce os ei obstruxit).“ 88 Unter den verschiedenen Möglichkeiten erscheint mir am wahrscheinlichsten, dass Tertullian schlicht die enge Verbindung von Mt 5,17.18 im Hinterkopf hatte und in der Parallele bei Markion *16,17 eine Entsprechung zu Mt 5,17 vermisste. Der narrativen Kohärenz entspricht eine inhaltliche: Eine auffällig große Zahl der lk Texte, die üblicherweise zum größeren Themenbereich „Gesetz“ diskutiert werden, 86 sind nicht in Markion, sondern erst in Lk enthalten und erweisen so ein konsistentes, redaktionelles Interesse. Da dieser Befund andererseits der traditionellen Annahme der Lk-Priorität entspricht, dass Markion ja alle entsprechenden Passagen gestrichen oder verändert hätte, sind all diejenigen Signale in Markions Text von Bedeutung, die nicht nur keine Spur von Antino‐ mismus zeigen, sondern die Geltung des Gesetzes theologisch begründen. An der Spitze steht die grundlegende Äußerung über die ewige Geltung von „Gesetz und Propheten“ (*16,17), die durch das Lazarusgleichnis und seinen Spitzensatz interpretiert wird (*16,29). Da dieser ganze Zusammenhang eindeutig bezeugt ist, verwundert Tertullians wiederholte Kritik, Markion habe das Logion von der Erfüllung von Gesetz und Propheten (Mt 5,17) gestrichen. 87 Wie immer dieser Widerspruch entstanden ist, 88 er zeigt, dass Markion den Text seines Evangeliums nicht in dem von Tertullian unterstellten Sinn rezensiert hat. Markions Text und das ihm unterstellte redaktionelle Konzept widersprechen sich an dieser Stelle diametral. Diese Inkonsistenz wird noch in Tertullians Ar‐ gumentation deutlich, der an dieser [122] Stelle zur Widerlegung Markions auf die mt Fassung des Ehescheidungs und Wiederheiratsverbotes zurückgreifen muss (s. o.). Auch Markions Text von *23,2 mit dem erlogenen Vorwurf, Jesus habe Gesetz und Propheten aufgelöst und das Volk zum Aufruhr veranlasst (s. o.), ist hier von Bedeutung: Denn unter der Voraussetzung der Lk-Priorität müsste man an‐ nehmen, dass Markion die seiner Theologie direkt widersprechende Äußerung redaktionell zu Lk hinzugefügt habe. Umgekehrt erfordert die Annahme der 297 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="298"?> 89 Vgl. dazu ausführlich K L I N G H A R D T , Markion. 90 Vgl. dazu die Rückverweise auf Lk 3 in Apg 1,5.22; 10,37; 11,16; 13,24 f.; 18,25; 19,2-5. 91 Z. B. Lk 2,46 ff.; 19,47; 24,53; Apg 2,46; 5,20 ff. usw. 92 Z. B. Lk 1,9-17; 2,32; Apg 1,6 ff.; 22,17 f. usw. 93 Vgl. die Übersicht von I.H. M A R S H A L L , Acts and the “Former Treatise”, in: B.W. Winter/ A.D. Clarke (Hg.), The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting, BAFCS 1, Grand Rapids 1993, 163-182. 94 Zum Problem vgl. J. V E R H E Y D E N (Hg.), The Unity of Luke-Acts, BEThL 142, Leuven 1999, und darin Verheydens einführenden Beitrag, in dem er die Diskussion um die gemeinsame Verfasserschaft kurzerhand für beendet erklärt (The Unity of Luke-Acts. What Are We Up To? , 3-56: 6, Anm. 13). 95 Vgl. M.C. P A R S O N S / R.I. P E R V O , Rethinking the Unity of Luke and Acts, Minneapolis 1993, 61 ff. Siehe jetzt auch J. S C H R Ö T E R , Die Apostelgeschichte und die Entstehung des Markionpriorität, hier eine Streichung durch die lk Redaktion wahrscheinlich zu machen. Das gelingt leicht, denn indem Lk die falschen Anklagen (Tempelwort und Auflösung von Gesetz und Propheten) streicht und dann in die entspre‐ chend gestaltete Anklage gegen Stephanus einfügt (Apg 6,14), legt er den ganzen Ton auf die (echten) Fragen nach der Gottessohnschaft (22,67-70) bzw. dem Königtum Jesu (23,3 f.), die Jesus beide bejaht. b. Interessanterweise erstreckt sich die inhaltliche Kohärenz der lk Redaktion über Lk hinaus auch auf Apg. Dabei zeigt sich die enge redaktionelle Verflechtung von Lk und Apg nicht nur in der Entsprechung der beiden Prologe (Lk 1,1-4; Apg 1,1-3) oder der beiden Himmelfahrtsszenen (Lk 24,50-53; Apg 1,9-11), sondern auch an denjenigen Querverbindungen, die zentrale Aussagen von Apg mit redaktionellen Partien in Lk verknüpfen. Und hier sind gerade die besprochenen Texte im Umfeld von Gesetz und Heidenmission von Bedeutung, also etwa diejenigen Linien, die in Lk 4,16-30 ihren kompositionellen Kulminationspunkt besitzen: 89 die Täufertradition, 90 die Aussagen zum Tempel als Ort von Lehre und Gebet 91 und zu seiner Funktion für die Heidenmission 92 und anderes mehr. Das heißt: Auch die wichtigen Aussagen in Apg zum größeren Themenbereich „Gesetz“ sind Teil desselben redaktionellen Konzepts wie ihre Entsprechungen in Lk. Damit ist nicht behauptet, dass Apg insgesamt erst durch den Redaktor von Markions Evangelium verfasst wurde, wohl aber, dass die kanonische Gestalt des „lk Doppelwerks“ erst durch eine einheitliche und vereinheitlichende Redaktion entstanden ist, die - für das Evangelium - Markions Text benutzt hat. Die Frage nach der Art der Zusammengehörigkeit 93 von Lk und Apg ist in jüngster Zeit mehrfach behandelt worden. Dabei ist die übliche Ansicht, dass Lk-Apg auf ein und denselben Verfasser zurückgehen und als [123] ein Werk in zwei Bänden konzipiert wurde, 94 verschiedentlich kritisiert worden, wobei die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gattungen von Lk und Apg eine wichtige Rolle spielt. 95 Für die 298 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="299"?> neutestamentlichen Kanons. Beobachtungen zur Kanonisierung der Apostelgeschichte und ihrer Bedeutung als kanonischer Schrift, in: J.M. Auwers/ H.J. de Jonge (Hg.), The Biblical Canons, BEThL 143, Leuven 2003, 395-429: 418-423. 96 So erinnert die Formulierung Apg 13,25 eher an Joh 1,26 f. als an Lk 3,16; analog dazu ist die Entsprechung von Lk 24,12 und Joh 20,3 ff. (s. oben). Verhältnisbestimmung ist von Bedeutung, dass Apg nicht nur Lk voraussetzt, sondern auch eine enge Beziehung zu Joh aufweist, so dass die Redaktion in großer Nähe zur Kanonischen Ausgabe steht. 96 Wenn man die Beobachtungen zusammennimmt und in Rechnung stellt, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Lk und Apg jemals als eigenständige Bücher zirkulierten, dann bietet die hier vorgeschlagene Annahme einer gemeinsamen Redaktion eine plausible und einfache Lösung. 2. Diese Beobachtungen zur Redaktion haben weit reichende Konsequenzen: Die lk Theologie des Gesetzes ist - zwar nicht in allen Einzelaussagen, wohl aber im Gesamtbild - etwa auf die Mitte des 2. Jh. zu datieren. Zwar glaube ich nicht, dass erst Markion das von ihm benutzte Evangelium verfasst hat; sehr viel leichter ist die Annahme, dass er einfach kein anderes kannte. Aber die lk Re‐ daktion weist an den herausgehobenen Stellen so deutliche antimarkionitische Spitzen auf, dass die gezielte Reaktion auf Markion zumindest ein Hauptmotiv dieser Redaktion war. Die antimarkionitische Intention kommt vor allem in dem oben skizzierten hermeneutischen Konzept zum Ausdruck, das den Prolog und das Ende des Lk prägt: Nur alle Schriften (24,27), also auch Mose, Propheten und Psalmen (24,44), gewährleisten die Sicherheit hinsichtlich der christlichen Überlieferung (1,4), die angesichts von „vielen Versuchen“ (1,1) offenkundig fraglich geworden ist. Die διήγησις, die der sich hinter dem Auctor ad Theophilum versteckende Redaktor unternimmt, unterscheidet sich dabei von den früheren Versuchen vor allem dadurch, dass sie, auf Augenzeugen gestützt, in der richtigen Reihenfolge (1,3) und ganz vom Anfang an (und das heißt nach Apg 1,21 f.: mindestens von der Johannestaufe an) berichtet: Alle diese Elemente richten sich gegen Markions zweiteilige Bibel, die ja keine „Schriften“ wie Mose, Propheten und Psalmen enthielt, und gegen sein Evangelium, das ja - aus der Perspektive des Lk - weder καθεξῆς noch ganz vom Anfang an berichtet, und das vor allem keinen Jesus porträtiert, der die Zusammengehörigkeit aller Schriften theologisch begründet. Wie [124] dieses Modell praktisch angewandt wird, zeigt etwa die Begründung des Aposteldekrets, zu der „Mose“ (15,21), die Apostel und Ältesten (15,22) und der Heilige Geist (15,28) als einstimmige Zeugen aufgerufen werden. a. Die antimarkionitische Intention erlaubt die Lösung der notorisch strit‐ tigen Frage, wie der historische Hintergrund der lk Aussagen zum Gesetz zu 299 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="300"?> 97 Z. B. S A L O , Treatment, 165: „Luke is not interested in individual legal commandments. However the law, as such, is certainly crucial for him.“ 98 H. H Ü B N E R , Das Gesetz in der synoptischen Tradition. Studien zur These einer progres‐ siven Qumranisierung und Judaisierung innerhalb der synoptischen Tradition, Witten 1973. 99 J. J E R V E L L , The Mighty Minority, StTh 34 (1980) 13-38; D E R S ., Luke and the People of God. A New Look at Luke-Acts, Minneapolis 1972. 100 W. S T E G E M A N N , Zwischen Synagoge und Obrigkeit. Zur historischen Situation der lukanischen Christen, FRLANT 152, Göttingen 1991. Ähnlich H. M E R K E L , Das Gesetz im lukanischen Doppelwerk, in: K. Backhaus/ F.G. Untergassmair (Hg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 119-133. Sein Versuch, den πατρῷος νόμος als apologetisches Bindeglied zwischen Juden und Heiden zu verstehen, überzeugt mich nicht, weil die Tradition der „väterlichen Gesetze“ ja die Übereinstimmung mit der jeweils eigenen Tradition stark macht. 101 K L I N G H A R D T , Gesetz, 306 ff. Ein Kritiker hat dieser Lösung bescheinigt, hier beginne „dann doch die Märchenstunde“ (Müller, BZ 34 [1990], 143). Auch wenn diese Kritik weniger freundlich formuliert ist als die eingangs zitierte von Christoph Burchard, hebt sie die methodischen Mängel zu Recht hervor. Allerdings halte ich an der Notwendigkeit fest, dass die genannten Ambivalenzen eine textpragmatische Funktion in einer identifizierbaren historischen Situation besitzen müssen. bestimmen ist. Denn obwohl das generelle Interesse des Lk am Gesetz deutlich ist, lässt sich ein inhaltliches Profil nur schwer ausmachen. 97 Damit hängt die Ambivalenz der Aussagen über das Verhältnis zu Israel zusammen, die am besten in der Schlussperikope von Apg (28,23-28[29]) sichtbar wird: Ist die erfolgreiche Mission unter Heiden eine Folge oder eine Voraussetzung der Verstockung Israels? Die Frage, auf die so verschiedene Antworten gegeben werden, lautet dementsprechend: Inwiefern konnte (bei traditioneller Datierung: ein bis zwei Generationen) nach Paulus die Heidenmission für Lk, der die zweite Hälfte von Apg ganz dem „dreizehnten Zeugen“ widmet, theologisch fraglich sein? Hat es eine „Re-Judaisierung“ gegeben, wie man früher glaubte? 98 Oder war das pharisäisch geprägte Judenchristentum, das Lk vor Augen stand, eine so „mächtige Minderheit“, 99 dass sie diese theologische Auseinandersetzung auch noch lange nach der grundsätzlichen Anerkennung der Mission unter Heiden erforderlich machte? Dient die Verhältnisbestimmung, die Lk anhand der Aus‐ sagen zum Gesetz trifft, eher dazu, nach innen die Leser ihrer jüdischen Wurzeln zu versichern, oder geht es um apologetische Abgrenzung vom Judentum oder zielt sie gar auf das Forum der paganen Öffentlichkeit? 100 Mein eigener Versuch, die Ambivalenz der Aussagen zum Gesetz zu interpretieren (und zugleich ihr erkennbar ekklesiologisches Interesse ernst zu nehmen), bestand in der Konstruktion einer soziologisch differenzierten Gemeindewirklichkeit, die ich dann historisch zu verorten versucht habe. 101 [125] 300 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="301"?> 102 Vgl. F. O V E R B E C K , Kurze Erklärung der Apostelgeschichte. Kurzgefasstes exegetisches Handbuch zum Neuen Testament von W.M.L. de Wette, Leipzig 4 1870; F. O V E R B E C K , Ueber das Verhältnis Justins des Märtyrers zur Apostelgeschichte, ZWTh 15 (1872) 305-349. F. Overbeck hatte diese Untersuchung als „Nachtrag“ zu dem Kommentar verstanden (Verhältnis, 305 f.). 103 Grundlegend Ph. V I E L H A U E R , Zum ‚Paulinismus‘ der Apostelgeschichte, in: ders., Auf‐ sätze zum Neuen Testament, ThB 31, München 1965, 9-27; D E R S ., Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft, ebd. 235-252. Die historische Verortung, die bei Overbeck weitgehend wertfrei ist, wurde bei Vielhauer und seinen Nachfolgern unter dem Eindruck der dialektischen Theologie zum Verdikt (s. dazu K L I N G H A R D T , Gesetz, 3 f.). 104 O V E R B E C K , Verhältnis, (passim). 105 Overbeck hat für seine Apg-Deutung ausführlich begründet, inwiefern die judenchrist‐ liche „These“ und die (durch Paulus vertretene) radikal heidenchristliche „Antithese“ in der durch (Lk-)Apg repräsentierten altkatholischen „Synthese“ miteinander vermittelt und aufgehoben seien, s. O V E R B E C K , Apg, XXIX-XXXV. 106 Deswegen hatte ich versucht, gerade an dieser Stelle eine historische Erklärung zu geben, was die Harmonisierung der wesentlichen Aussagen von Apg 15 mit Gal 2 erforderte (Gesetz, 204 ff.). b. Die Einsicht in die antimarkionitische Tendenz der lk Redaktion legt einen anderen Hintergrund nahe. Denn die Datierung rückt das gesamte Konzept in die Nähe der „altkatholischen“ Position, die etwa Franz Overbeck für Lk angenommen hatte 102 und die von der Lk-Kritik zur Mitte des 20. Jh. unter dem Schlagwort „Frühkatholizismus“ aufgegriffen wurde. 103 Franz Overbeck sah die entscheidende Nähe zwischen Justin und Apg darin, dass beide aus der Position eines mehr oder weniger gesicherten Heidenchristentums schrieben 104 und daher weniger prinzipiell mit dem Gesetz umgehen konnten als Paulus. Mir hatte seinerzeit weder das hier vorausgesetzte Geschichtsbild der Tübinger Schule eingeleuchtet, 105 noch hatte ich verstanden, warum in dieser altkatholi‐ schen (und das hieß: heidenchristlichen) Synthese die Aussagen zum Gesetz eine derartige Dominanz besitzen konnten: Ich fand, dass ethische Forderungen, die, wie etwa das Aposteldekret, kraft der eigenen (und nicht christlich oder christologisch reaffirmierten) Autorität der Mosetora erhoben wurden, nicht historisierend, sondern nur als Reflex aktueller Bedürfnisse verstanden werden konnten. 106 Vor dem Hintergrund der beginnenden Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit Markion verstehe ich die lk Redaktion mit ihrer Rückbesinnung auf und ihrer Geltendmachung von jüdischen Traditionen als Ausdruck der Einheit der Verheißungsgeschichte, die die Kirche für sich reklamiert: Nicht die Geltung bestimmter einzelner Forderungen der Tora innerhalb des Chris‐ tentums war das wirklich brennende Problem, wohl auch nicht die theologisch begründete Abgrenzung vom (nichtchristlichen) Judentum, sondern das mo‐ 301 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="302"?> 107 Zum Konzept der Kanonischen Ausgabe s. T R O B I S C H , Endredaktion, 71 ff. 108 So auch schon A. V O N H A R N A C K , Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament 6. Die Entstehung des Neuen Testaments und die wichtigsten Folgen der neuen Schöpfung, Leipzig 1914, 46: Apg sei „in gewisser Weise der Schlüssel zum Verständnis der Idee des kirchlichen Neuen Testaments und hat es zu dem Organismus, wie er vor uns steht, gemacht.“ 109 Also z. B. Apg 13,38 f. und 15,10. Zum paulinischen Charakter vgl. nur V I E L H A U E R , Paulinismus, 18 ff.; W I L S O N , Law, 59 ff. Ich selbst habe dem „paulinischen“ Charakter dieser Aussagen zu wenig Rechnung getragen (Gesetz, 9-123), wie Burchard zu Recht moniert hat (s. Anm. 1): „Ich finde, K. spielt Apg 13,38 f. und 15,10 zu sehr herunter.“ derne, gnostisierend „ungeschichtliche“ und einseitig paulinische Verständnis des Christentums, das Markion vertrat. Die Hauptreaktion dagegen war die Kanonische Ausgabe selbst, die die relevanten Schriften als Neues Testament mit dem Alten Testament verband und das paulinische Anathema gegenüber den Jerusalemer Lügenaposteln [126] (Gal 1,8; 2,4) dadurch entschärfte, dass deren Briefe gleichberechtigt neben die des Paulus gestellt wurden - einschließlich der ausdrücklichen Anerkennung der paulinischen Theologie durch „Petrus“ (2Petr 3,15). 107 Innerhalb des NT ist Apg vermutlich der Text, der diese Intention - durch die Weichzeichnung des Paulus, durch seine biographische Anknüpfung an Jerusalem usw. - am deutlichsten vertritt. 108 Zu dieser kanonischen „Domes‐ tizierung“ des Paulus gehört dann auch, dass Positionen, die durch ihren Inhalt oder den erzählerischen Rahmen als „paulinisch“ charakterisiert sind, ihren Platz in diesem Konzept erhalten 109 bzw. dass Paulus’ vernichtende Aussage über Petrus, der die Tischgemeinschaft mit den Heiden verweigert (Gal 2,12), durch die ausführliche Erzählung (Apg 10) mit ihrer Erläuterung (11,1-18) gekontert wird. Für die Aussagen zum Gesetz wird jetzt - neben der offenkundigen Betonung der verheißungsgeschichtlichen Kontinuität zu Israel - vor allem verständlich, dass wiederholt christliches Ethos mit dem Gesetz begründet wird. Ich nenne nur zwei Beispiele: Die wiederholt erhobene Forderung nach Besitzverzicht, bekanntermaßen ein zentraler Aspekt der lk Ethik, wird sehr unterschiedlich begründet: Auf der einen Seite ist der Verzicht auf Besitz Ausdruck des Glaubens und der Bekehrung (Lk 3,8; 18,22; 19,8 etc.), auf der anderen wird das Almosengeben theologisch ausdrücklich als Erfüllung des Gesetzes (z. B. Lk 10,30 ff.; 16,19 ff. usw.) bzw. sogar der Reinheitsforderung (Lk 11,42) verstanden. Tatsächlich aber scheint die Erfüllung des Gesetzes so wenig im Vordergrund zu stehen wie die Bekehrung: Besitzverzicht ist schlicht Ausdruck von Frömmigkeit (z. B. Lk 7,5; Apg 10,2), für die die Hinwendung zu Jesus ebenso selbstverständlich und unverzichtbar ist wie die Übereinstimmung mit der Forderung des Gesetzes. 302 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="303"?> 110 Die Bedeutung von πνικτόν ist unklar; mir leuchtet immer noch am ehesten ein, dass damit verschiedene Formen von Delikatessen gemeint sind, wie vor allem Athenaeus bezeugt (Deipn IV 147d; VII 295 f.; IX 396a; X 440b; außerdem Philo, SpecLeg 4,122; vgl. K L I N G H A R D T , Gesetz, 202 f., Anm. 43 f.). 111 O V E R B E C K , Verhältnis, 337. Ähnliches gilt wohl auch von den (theologisch unverzichtbaren und literarisch stark herausgehobenen) Forderungen des Aposteldekrets, die die Einheit von Juden und Heidenchristen in der Lebensführung konkretisieren sollen. Auffälligerweise sind die Anforderungen, die hier an die Lebenspraxis der Heidenchristen gestellt werden, ins‐ gesamt doch sehr maßvoll: Neben der ohnehin selbstverständlichen Enthaltung von Unzucht und Götzendienst wird hier noch der Genuss von Blut und Ersticktem 110 [127] verboten. Das heißt: Nur das Blutverbot ist als typisch jüdische Forderung zu identifizieren, der Rest ist, unterstellt man dem angesprochenen christlichen Milieu eine nur gemäßigt enkratitische Haltung, eigentlich selbstverständlich und jedenfalls nicht wirklich einschränkend. Begründet wird dieser Katalog von Selbstverständlichkeiten allerdings mit der ganzen Macht des Gesetzes: Weil das Gesetz grundsätzlich und auch für Heiden gilt, müssen alle diese Forderungen erfüllen (Apg 15,21). So lässt sich die lk Gesetzestheologie als eine Art interpretatio Iudaica von christ‐ lichem „Allerweltsethos“ verstehen. Die lk Redaktion der Aussagen zum Gesetz ist nicht in erster Linie daran interessiert, eine bestimmte Gesetzesobservanz zu implementieren und bestimmte, inhaltlich konkretisierbare Forderungen mit dem Gesetz zu begründen; vielmehr soll die Identität des Christentums in die Kontinuität der Verheißungsgeschichte Israels gestellt und dann auch in der konkreten Ausprägung der Lebenspraxis als gesetzeskonform erwiesen werden. c. Angesichts der „Principlosigkeit“, 111 mit der Lk die Aussagen zum Gesetz in Markions Evangelium redigiert, ist dann auch zu fragen, ob die separatio legis et evangelii tatsächlich Markions proprium et principale opus ist, das Tertullian ihm vorwirft. Diese Einschätzung beruht ja auf der Annahme der Lk-Priorität und bezieht sich darüber hinaus kaum direkt auf Markion, sondern gehört in die Diskussionslage zwischen der Kirche und den Markioniten an der Wende zum 3. Jh. Unsere Überlegungen haben gezeigt, dass Markion Lk gar nicht redigiert hat und dass er sich offensichtlich auch nicht an Spitzenaussagen über die Geltung des Gesetzes gestoßen hat - jedenfalls nicht in dem Maß, dass er sich dadurch zu einer Korrektur seines Evangeliums veranlasst fühlte. Dasselbe gilt möglicherweise auch für den markionitischen Apostolos, für den Ulrich Schmid in minutiöser Analyse gezeigt hat, dass das Maß der Abweichungen zwischen dem kanonischen und dem markionitischen Paulustext „weitaus geringer zu veranschlagen ist, als bislang angenommen“ und viele der vor allem 303 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="304"?> 112 U. S C H M I D , Marcion und sein Apostolos. Rekonstruktion und historische Einordnung der marcionitischen Paulusbriefausgabe, ANTF 25, Berlin/ New York 1995, 310. 113 Bei Justin fehlt der Vorwurf des Antinomismus, er notiert nur sehr knapp die Zwei-Götter-Lehre (1Apol 26,5); nach Irenaeus I 27,2 habe Markion behauptet, dass Jesus „Gesetz, Propheten und alle Werke des Gottes, der die Welt gemacht hat und den er Kosmokrator nennt, aufgelöst“ habe (dissolventem prophetas et legem et omnia opera eius dei qui mundum fecit, quem et Cosmocratorem dicit). 114 W.A. L Ö H R , Die Auslegung des Gesetzes bei Markion, den Gnostikern und den Mani‐ chäern, in: G. Schöllgen/ C. Schalten (Hg.), Stimuli (FS E. Dassmann), JAC.E 23, Münster 1996, 77-95: 80. von Adolf von Harnack angenommenen Textänderungen nicht nachweisbar sind. 112 Zumindest als Denksportaufgabe wäre zu erwägen, ob für den Apostolos nicht dasselbe gelten könnte wie für das Evangelium: Markion hätte dann nur einfach einen schlechten Paulustext besessen, der nachträglich redigiert und um die mentiones Abrahae erweitert wurde. Aber das bleibt Spekulation. Wichtiger ist vielleicht, dass die frühe Kritik an Markion nicht seinen Antinomismus hervorhebt, sondern die gnostisierende Zwei-Götter-Lehre. 113 Die Kritik der Häresiologen an diesem Dualismus [128] entzündete sich an dem Widerspruch, dass ihre Bibel ja die Identität von Schöpfer- und Erlösergott nicht nur dogmatisch behauptete, sondern sie ja auch - von Gen bis Offb - erzählte. So ist die „Trennung von Gesetz und Evangelium“ in erster Linie ein Problem der Trennung der jeweiligen Urkunden: Angesichts der Zwei-Götter-Lehre musste der Widerspruch zu Markions mangelhafter und „gefälschter“ Bibel evident werden. Und erst aus dieser Behauptung (im doppelten Sinn des Wortes) der einen Bibel erwuchs dann die separatio legis et evangelii in den dogmatischen Kategorien, die für von Harnacks Markio‐ ninterpretation so wichtig wurden. Angesichts dieser Überlegungen ist es mir zweifelhaft, ob man der markionitischen Interpretation des Gesetzes eine „eindrucksvolle Konsequenz und Geschlossenheit“ 114 bescheinigen kann: Die geht wohl eher auf die systematischen Fähigkeiten Tertullians als auf Markion selbst zurück. *** Auch wenn die hier vertretene Verhältnisbestimmung zwischen Markions Evangelium und Lk schon am Ende des 18. und Anfang des 19. Jh. gesehen wurde, könnten die Konsequenzen, die sich daraus für mich ergeben, in der ge‐ genwärtigen Diskussionslage doch wie die Lösung eines Problems erscheinen, das nur ich so wahrnehme. Das damit verbundene Risiko, kopfschüttelndes Un‐ verständnis zu ernten, nehme ich gerne auf mich, weil es die Voraussetzung für die Entdeckung neuer und weiterführender Einsichten ist. Zu den Einsichten, 304 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="305"?> die ich daran gewonnen habe, gehört die hier vorgestellte These: Sie hat zu einer gründlichen Korrektur meiner eigenen Sicht geführt und, zu meiner Überraschung, etliche Einwände bestätigt, die Christoph Burchard schon vor 20 Jahren geäußert hatte, deren Berechtigung mir erst jetzt einleuchtet. 305 „Gesetz“ bei Markion und Lukas <?page no="307"?> Natürlich, eine alte Handschrift! Die Briefe des Apostels Paulus im Codex Boernerianus Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Natürlich, eine alte Handschrift! Die Briefe des Apostels Paulus im Codex Boernerianus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden 55 (2006), 133-139. Der Codex Boernerianus mit den Briefen des Apostels Paulus ist eine der bemerkenswertesten Bibelhandschriften überhaupt. Die bilingue Handschrift ist im 9. Jh im Kloster St. Gallen entstanden und weist eine ganze Reihe von Besonderheiten auf: Der griechische Text gehört aufgrund besonderer Merkmale zu einer eng umgrenzten Handschriftenfamilie und geht auf eine sehr frühe Redaktion zurück. Er sticht durch einige Sonderlesarten, das Fehlen des Hebräerbriefes und vor allem durch die Zweisprachigkeit heraus. Die interlineare lateinische Übersetzung ist für den wissenschaftlichen Gebrauch über den griechischen Text geschrieben und macht so die iroschottische Entwicklung der Worttrennung erstmals für das Bibelstudium fruchtbar. Codex Boernerianus, containing the letters of the Apostle Paul, is one of the most remarkable Bible manuscripts. The bilingual manuscript which originated from the monastery of St. Gallen in the 9th century features a number of outstanding peculiarities: With a series of distinctive features, the Greek text can be assigned to a narrowly defined family of only a few manuscripts and can be traced back to a very early redaction of the majority text. Alongside some interesting variant readings and the lack of Hebrews, the bilingualism is the most striking feature. The interlinear Latin translation is written above the Greek text and was meant for scientific use. It is for the first time, that Bible studies made use of the seminal advantage of the lro-Scottish development of word separation. 1 Einleitung „Natürlich, eine alte Handschrift! “ Diese Worte stellte U M B E R T O E C O über seinen Mittelalterroman „Der Name der Rose“: Die genannte Handschrift lieferte E C O den roten Faden, an dem entlang er Antike und Mittelalter miteinander verknüpfte, über Kirchengeschichte und Bibelrezeption im Mittelalter infor‐ <?page no="308"?> 1 Einzelheiten zur Bindung und zu den Lagen bei [12, S. 51; 4; 6]. mierte, das Ganze mit einem Schuss Semiotik garnierte und alles in Form einer spannenden Geschichte servierte. „Natürlich, eine alte Handschrift“: Einen besseren Einstieg kann es nicht geben, um die Handschrift mit den Briefen des Apostels P AU L U S zu beschreiben, die sich heute unter der Signatur A. 145 b in der SLUB befindet und unter der Bezeichnung Codex Boernerianus bekannt ist. Denn alle genannten Elemente - von der Bibelrezeption über mittelalterliche Theologie bis hin zu Semiotik - sind nötig, um die Bedeutung des Boernerianus zu charakterisieren. 2 Beschreibung Der Boernerianus, der in der neutestamentlichen Textkritik unter der Sigle G 012 geführt wird, ist ein Pergamentkodex mit insgesamt 111 Blättern im Format von 25 cm x 19 cm. Auf den Blättern 2-100v enthält er, bei einem Schriftspiegel von ca. 17,5 cm x 13 cm und 20 bis 26 Langzeilen pro Seite, die Briefe des Apostels P A U L U S in der kanonischen Reihenfolge (Rm, 1/ 2Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1/ 2Thess, 1/ 2Tim, Tit, Phlm). Von dem nur lateinisch erhaltenen, pseudepigraphen Laodizenerbrief findet sich nach dem Phlm die Überschrift, aber kein Text; der Hebräerbrief, der in allen Ausgaben zu den Paulusbriefen gezählt wird, fehlt. Der Boernerianus ist in insgesamt 16 Lagen zu meistens acht Blättern gebunden. Von Anfang an bestanden einige Lagen aus eingeklebten Einzelblättern, am Ende sind aus den letzten Lagen etliche Blätter vermutlich bald nach der Fertigstellung herausgeschnitten worden; die Lagen zwei bis dreizehn sind auf der jeweils ersten Seite nummeriert (I-XII), die erste Lage ist unnummeriert. 1 Der griechische Text ist in einer westlichen Majuskelschrift abgefasst, bei der die Kolometrie durch farbige Initialen gekennzeichnet ist, die auch durch ihre Größe deutlich herausgehoben sind, aber nicht mit den Textzeilen identisch sind. Am auffälligsten ist, dass über dem griechischen Text von derselben Hand in kleiner, irischer Minuskel [14, S. 47-50] eine lateinische Interlinearübersetzung so eingetragen ist, dass sich die griechischen und lateinischen Wörter entspre‐ chen. Von derselben Hand sind nicht nur zahlreiche Marginalglossen eingetragen, sondern auf dem ersten und den letzten Blättern auch ein (bislang noch nicht edierter und identifizierter) lateinischer Kommentar zum Matthäusevangelium sowie auf der letzten Seite (fol. 111v) ein hymnisches Fragment (das so genannte 308 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="309"?> 2 Rm 1,1-5; 2,16-25; 1Kor 3,8-16; 6,7-14; Kol 2.1-8; 2Tim 2,12 f. Gebet des M A R C U S M O NA C H U S ). Der Text weist sechs größere Lücken auf, 2 deren erste gleich auf der ersten Seite erscheint. Offensichtlich haben diese Passagen in der Vorlage gefehlt und der Schreiber hat Platz gelassen, um den [134] Text später nachtragen zu können, was aber nicht geschehen ist. 3 Geschichte der Handschrift Die Angaben E K K E HA R D S IV. über die Geschichte des Klosters St. Gallen [11, Kap. 2; 33] und Hinweise aus anderen Handschriften [2] erlauben eine erstaunlich genaue Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Boernerianus. Wenn man die Angaben zusammennimmt, dann ergibt sich folgende Geschichte [4, 12]: In der Mitte des 9. Jh. unternahm eine Gruppe von iroschottischen Mönchen unter der Leitung ihres Bischofs M A R C U S eine Reise von den britischen Inseln nach Rom. Der Grund ist nicht ganz klar, denn zwischen der iroschottischen und der römischen Kirche gab es aufgrund der Sonderentwicklung der iroschotti‐ schen Kirche seit dem 5. Jh. eine Reihe von Unterschieden und Spannungen: Am auffälligsten war - neben grundlegenden Fragen wie der unterschiedlichen Kirchenstruktur (stark monastisch auf den Inseln, eher episkopal auf dem Kontinent) und der Bestreitung des römischen Primats durch die Iren - die unterschiedliche Form der Tonsur: Die Iroschotten trugen nicht die kontinentale Kranztonsur, sondern eine Quertonsur, bei der die vordere Schädelhälfte rasiert wurde. Was immer die Mönche in Rom wollten, sie brachten neben einer Reihe von Gewändern und anderen liturgischen Gegenständen auch etliche Handschriften mit, darunter einige griechische Bibelhandschriften. Das war eine Neuerung, denn die Iroschotten kannten nur die lateinische Bibel. Auf dem Rückweg trennten sich Bischof M A R C U S und sein Neffe M O E N G AL , der später den Namen M A R C E L L U S annahm, von den anderen und blieben im iroschottischen Kloster St. Gallen. Dass der Bischof nicht in die Heimat zurückkehrte und seine Gruppe schnöde im Stich ließ, sorgte für erhebliche Spannungen, die M A R C U S nur dadurch mildern konnte, dass er den weiterreisenden Brüdern umfangreiche Geld und Sachgeschenke machte und ihnen den Löwenanteil der in Rom erworbenen Gegenstände überließ. Was M A R C U S und M O E N G AL -M A R C E L L U S allerdings für sich behielten, waren die griechischen Handschriften, die einen wichtigen Grundstock der später berühmten Klosterbibliothek darstellten [9, 10]. Unter diesen Handschriften befand sich auch die (verlorene) Vorlage für den Boernerianus, die mit der 309 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="310"?> Sigle X bezeichnet wird; sie muss ebenfalls zweisprachig gewesen sein und den griechischen und den lateinischen (Vulgata-)Text nebeneinander auf ge‐ genüberliegenden Seiten enthalten haben [12. S. 51 ff.]. Von dieser Vorlage existiert eine weitere Abschrift, der so genannte Codex Augiensis (F 010). der kurz nach dem Boernerianus in dem ebenfalls iroschottischen Kloster Reichenau hergestellt wurde [12, S. 80 ff.; 6]. Die bilingue Handschrift X ließ wohl bei M A R C E L L U S , dem späteren Leiter der St. Galler Klosterbibliothek, den Plan entstehen, eine zweisprachige Ausgabe der wichtigsten Teile der Bibel zu erstellen: Neues Testament und Psalmen. Jedenfalls sind außer der Ausgabe der Paulusbriefe noch ein Psalter [2] und eine Ausgabe der Evangelien [5] erhalten. Der letzte, fehlende Teil des Neuen Testaments mit der Apostelgeschichte und den sieben Katholischen Briefen ( Jak, 1/ 2Pe, 1-3Joh, Jud), war auch fertig gestellt, wurde aber von einem Mönch aus Eifersucht verbrannt [4, 12]. Über die weitere Geschichte lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Wahr‐ scheinlich wurde der Boernerianus im 15. Jh. für die Nutzung auf dem Kon‐ stanzer oder dem Basler Konzil (1414 bis 1418 bzw. 1431 bis 1449) „ausgeliehen“ und nicht zurückgegeben. Für Konstanz spricht, dass das Kloster St. Gallen der Konstanzer Jurisdiktion unterstand, für Basel, dass sich auch andere St. Galler Handschriften hierher verirrt haben [2]. Erst im 17. Jh. gibt es wieder klare Spuren, die in die Niederlande führen: Vom Leidener Rektor P A U L U S J U NI U S ging der Boernerianus im Jahr 1676 in den Besitz von P E T E R F R AN Z über (dessen Name im vorderen Einband notiert ist), von wo er in eine Auktion gelangte, auf der sie der spätere Leipziger Theologieprofessor C H R I S TIAN F R I E D R I C H B O E R N E R , der Namenspatron, während einer Hollandreise ersteigerte. Im Jahr 1778 erwarb die Kurfürstliche Öffentliche Bibliothek zu Dresden den Kodex von B O E R N E R S Erben. In der Zwischenzeit hatte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Handschrift begonnen. Den Anfang machte R I C HA R D B E NT L E Y , Headmaster des angesehenen Trinity College in Cambridge, in dessen Bibliothek sich die Schwesterhandschrift, der Codex Augiensis (F 010), befindet. B E NT L E Y hatte trotz aller Unterschiede die Zusammengehörigkeit der beiden Handschriften erkannt und sich den Boernerianus nach Cambridge ausgeliehen: Dort ließ er (vermutlich von bedauernswerten Studenten) eine sehr sorgfältige Kopie anfertigen: Seiten- und Zeilenumbruch, Textanordnung, Buchstabenformen und -größen, Textabweichungen und Fehler sowie deren Korrekturen wurden peinlich genau graphisch kopiert. Die große Sorgfalt von B E NT L E Y S Kopie zeigt sich an den zahlreichen Kontrollvermerken am Rand, die sich vor allem auf die richtige Übertragung der Fehler der Vorlage beziehen. Ganz offensichtlich 310 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="311"?> war B E N T L E Y gar nicht in erster Linie am Textbestand oder gar am „Urtext“ interessiert, sondern an der Kolometrie und der bilinguen Textanordnung des Boernerianus. Es liegt auf der Hand, dass B E N T L E Y die Leihfrist erheblich überziehen musste: Er hatte den Boernerianus fast fünf Jahre (von 1719 bis 1724) in seinem Besitz, wollte ihn zwischenzeitlich für 200 Guineen kaufen und gab ihn erst nach kirchlich-politischer Intervention zurück. Kurz nachdem der Boernerianus von der Kurfürstlichen Bibliothek aufge‐ kauft worden war, erstellte C H R I S TIAN F R I E D R I C H M AT THA E I eine kritische Edition [3]. Auch er versuchte, mit typographischen Mitteln die auffällige Textvertei‐ lung und das irreguläre Erscheinungsbild nachzuahmen. Dem ausgeprägten Interesse an der Textanordnung trug dann die erste reprographische Faksimileausgabe im Jahr 1909 durch A L E XAN D E R R E I C HA R DT Rechnung [4]. Sie wurde von den kritischen Ausgaben des Neuen Testaments im 20. Jh. benutzt. Ihr Wert ist enorm, denn der Boernerianus wurde im Februar 1945 im Tiefkeller des Japanischen Palais während oder nach der Bombardierung Dresdens durch eindringendes Wasser schwer und teilweise bis zur Unleserlich‐ keit beschädigt. Allerdings ist R E I C HA R DT S Faksimile keine genaue Photographie, sondern eine retuschierte „Nachbildung“ (wie auch der Titel sagt): R E I C HA R DT hat nicht nur die farbigen Initialen an den Kolenanfängen verändert (was aufgrund der technischen Möglichkeiten notwendig war), sondern vor allem den lateinischen Text nicht mit aufgenommen und ihn am Ende vom Negativ der letzten Seite seiner Ausgabe wegretuschiert (siehe Bilder 1 und 2). Da für das Studium des Boernerianus seit fast 100 Jahren fast ausschließlich das Faksimile benutzt wird, ist dieser Text bis heute nicht ediert und identifiziert - das ist einer der Fälle, in denen der technische Fortschritt Wissenschaft eher verhindert. [135] 311 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="312"?> Bild 1. Die letzte Seite (fol. 100v) in R E I C H A R D T S reprographischem Faksimile. Nach dem Ende des Philemonbriefes folgt die Überschrift „An die Laodizener“. 312 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="313"?> Bild 2. Dieselbe Seite (fol. 100v) im Original: Nach dem Ende der Überschrift „An die Laodizener“ ist die Fortsetzung des lateinischen Matthäuskommentars zu sehen. 313 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="314"?> 4 Die Glossen des Boernerianus Angesichts der fast 800 erhaltenen Handschriften der Briefe des Apostels P A U L U S [8, S. 92], von denen viele sehr viel älter und im Textwert besser sind als der Boernerianus, ist die Frage berechtigt, worauf sich das große Interesse an gerade dieser Handschrift richtet. Eine Besonderheit sind zunächst die zahlreichen Randglossen, die zum allergrößten Teil von derselben Hand stammen, die auch den griechischen und lateinischen Text besorgt hat [16; 5, S. XXVI-XLII; 23, S. XXXIII-XXXVII; 20, S. 350-353]. Einige wenige verweisen auf den liturgischen Gebrauch von Textpassagen, ergeben aber kein vollständiges Lektionarsystem, was nicht verwundert, weil der Boernerianus vermutlich nie liturgisch genutzt wurde. Daneben gibt es etliche Glossen, die auf die aktuelle kirchliche Diskussionslage verweisen und den glossierten Bibeltext als Munition für die dogmatischen Auseinandersetzungen markieren. Manche dieser Glossen sind eher allgemeine Hinweise (etwa „gegen die Häretiker“ oder „gegen die Juden“), anderes ist spezieller, zum Beispiel die vier Glossen „contra grecos“, die auf die Streitigkeiten zwischen der West- und der Ostkirche im 9. Jh. verweisen. Besonders interessant sind insgesamt sechs Stellen, an denen der Schreiber den Namen goddiscalcos an den Rand geschrieben hat, wie etwa zu Rm 3,5 (fol. 4v), wo es heißt: „Wenn aber erst unsere Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes aufrichtet, was sollen wir dann sagen? Wäre Gott - um einmal sehr menschlich zu reden - nicht ungerecht, wenn er seinen Zorn walten lässt? “ Die Glosse bezieht sich auf den Mönch G O TT S C HAL K (ca. 803-869), der im Anschluss an A U G U S TIN eine radikale gemina praedestinatio vertrat, also die Auffassung, dass Gott die Menschen in freiem Ratschluss zu Heil und Unheil vorherbestimmt hatte, so dass ihr Verhalten gar keinen Einfluss auf ihr Heil hätte. G O T T S C HAL K S Thesen haben im Westfrankenreich zu einer heftigen Kontroverse geführt (und ihm 848/ 849 Verurteilung und Klosterhaft eingebracht), deren literarische Nachwehen bis um 860 nachweisbar sind. Unser Schreiber war von diesen Ereignissen offensichtlich noch betroffen und sah in Rm 3,5 einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte. Etliche weitere Glossen nennen wichtige Personen aus dem Kloster St. Gallen und seinem Umfeld [12, S. 65 ff.] - warum der Schreiber sie an den jeweiligen Stellen erwähnt hat, bleibt unklar: Sie öffnen ein Fenster in die Welt des 9. Jh., durch das wir aber nichts mehr sehen können. Das ist anders bei einer Glosse am 314 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="315"?> 3 R E I C H A R D T hat in seiner Einleitung zum Faksimile [4, S. 13], vermutlich nach [23, S. XXXIVf.], irrtümlich angegeben, dass sich die Glosse auf 2Kor 2,10-3,2 bezieht und darin Nachfolger gefunden, die nicht den Text, sondern nur seine Einleitung eingesehen haben. 4 Vgl. [22]; der Text lautet: Téicht doróim / mór saido becc torbai / INrí chondaigi hi‐ foss / manimbera latt nífog bai. Mór bais mór baile / mór coll ceille mór mire / olais airchenn … unteren Rand von fol. 23r (mit dem Text von 1Kor 2,10-3,2), 3 wo ein altirisches Gedicht steht (siehe Bild 3): [136] [137] Nach Rom zu gehen/ ist viel Mühe, wenig Nutzen! / Der König, den du hier unten suchst, / wenn Du ihn nicht mitbringst, findest Du ihn nicht! / Groß die Torheit, groß der Wahnsinn, / groß die Verderbnis des Sinns, groß der Irrsinn! […] 4 Man hat erwogen, dass diese Zeilen eine Erinnerung an die Romfahrt von M A R C U S und M O E N G AL -M A R C E L L U S darstellen [23, S. XXXIVf.]; vielleicht sind sie dem Schreiber bei der Lektüre von 1Kor 2,14 in den Sinn gekommen und drücken die Geringschätzung aus, die die irischen Mönche gegenüber der römischen Kirche empfanden: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nicht die Dinge des Geistes Gottes. Sie sind für ihn Torheit, und er kann sie nicht erkennen.“ 5 Die Familie des Boernerianus: D F G Was die Textkritiker an einer neutestamentlichen Handschrift natürlich in erster Linie interessiert, ist der (griechische) Text, den sie bietet. Und der ist beim Boernerianus und drei weiteren Handschriften charakteristisch anders als bei den restlichen knapp 800 Handschriften. Diese vier Handschriften, deren Zusammengehörigkeit durch etliche Leitvarianten und durch das Fehlen des Hebr evident ist, bilden eine Familie, deren verwandtschaftliche Beziehungen die Forschung seit jeher stark beschäftigt haben. Die nächste Verwandte, eine „Schwester“, ist der nach einem Reichenauer Abt benannte Codex Augiensis (F 010), der sich im Trinity College (Cambridge) befindet [6; 12, S. 80-87]: Wie der Boernerianus ist auch der Augiensis eine zweisprachige Ausgabe, bei der der griechische und lateinische Text allerdings in zwei Spalten nebeneinander geboten wird. Und wie der Boernerianus weist auch der Augiensis dieselben charakteristischen Lücken im griechischen Text auf. Vermutlich waren sie in der gemeinsamen Vorlage (also der „Mutterhand‐ schrift“ X, die M A R C U S und M O E N G AL -M A R C E L L U S nach St. Gallen brachten) durch Blattverlust entstanden. Diese Lücken, von denen eine gleich am Anfang begegnet, machen eine Handschrift zwar nicht völlig unbrauchbar, schränken ihren Wert aber doch ganz erheblich ein. Beim Augiensis hat dieses Defizit dazu 315 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="316"?> Bild 3. Codex Boernerianus (SLUB A. 145 b) mit den Briefen des Apostels Paulus, fol. 23r. Gut zu erkennen sind die farbigen Kolenanfänge, die Interlinearübersetzung und die Worttrennung. Die dreizeilige Glosse am unteren Rand ist das Spottgedicht. 316 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="317"?> 5 Vor allem die Buchstabenform erlaubt eine Datierung: Es handelt sich um eine so genannte Halb- oder bd-Unziale, bei der die Buchstaben b und d als Minuskeln ausgeführt sind [12, S. 17 ff.]. geführt, dass er nie wirklich benutzt wurde: Noch heute macht die Handschrift einen jungfräulichen Eindruck, alle typischen Benutzerspuren fehlen. Beim Boernerianus zeigt sich dasselbe Phänomen daran, dass schon kurz nach der Fertigstellung am Ende einige der unbeschriebenen Blätter für anderweitige Verwendung herausgeschnitten wurden, und dass die freien Blätter am Anfang und am Ende für die Niederschrift eines Matthäuskommentars „zweitverwertet“ wurden - mit einer wirklich wertvollen Handschrift geht man anders um. Die beiden „Schwestern“ (Boernerianus und Augiensis) haben noch eine entferntere „Tante“, den nach seiner Herkunft (Clermont) benannten Codex Claromontanus (D 06), der sich jetzt in Paris befindet [7, 21, 18]. Der Claromon‐ tanus ist ebenfalls eine Bilingue, die den lateinischen Text aber nicht (wie der Boernerianus) zwischen den Zeilen oder (wie X und der Augiensis) in gegenüberliegenden Spalten bietet, sondern auf gegenüberliegenden Seiten, so dass jedes Blatt auf der Vorderseite lateinisch, auf der Rückseite griechisch beschrieben ist. Die Entstehung des Claromontanus lässt sich aufgrund paläo‐ graphischer Kriterien 5 auf die zweite Hälfte des 5. Jh. datieren. Die so genannten Leitvarianten und das Fehlen des Hebr verbinden den Claromontanus mit den anderen Familienmitgliedern, aber er unterscheidet sich darin von ihnen, dass sein Text vollständig ist. Wenn man diese Beobachtungen zusammennimmt, dann lassen sich die Beziehungen dieser bilinguen Handschriften in einem Familienstammbaum erfassen: 1. Der Claromontanus (D 06) und die verlorene Handschrift X müssen auf eine gemeinsame (ebenfalls verlorene) Vorlage Z zurückgehen. 2. Der Claromontanus (D 06) hat eine Tochter, den nach seinem ursprüngli‐ chen Bibliotheksort (St. Germain) benannten Codex Sangermanensis (D abs1 ; E Paul ), der eine graphische Kopie von D 06 darstellt [1; 12, S. 34 ff.]. 3. X hat zwei Töchter, den Boernerianus (G 012) und den Augiensis (F 010). Aufregend ist dabei, dass die Stemmabildung mit nur zwei Schritten in eine sehr frühe Zeit führt, in der sich der Mehrheitstext noch nicht durchgesetzt hatte, also in das zweite, höchstens in das dritte Jahrhundert. Denn die Leitvari‐ anten reflektieren nicht einen minderwertigen Text, der durch Schreibversehen o. ä. beeinträchtigt ist, sondern eine Redaktion, also eine alternative Ausgabe. Abgesehen vom Fehlen des Hebr und von der Zweisprachigkeit - die für die „Großmutter“ Z im 2./ 3. Jh. sicher andere Gründe hatte als für den Boernerianus 317 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="318"?> 6 Auf fol. 23r des Basler Psalters findet sich die Notiz: „Ich habe bis hierher geschrieben. Hier beginnt jetzt Marcellus (hucusq[ue] scripsi híc Incipit ad Marcellu n[un]c).“ Die Glosse stammt von einem Schreiber namens M A R T I A N U S , der auch die Titelrevision dieser Handschrift besorgt hat, vgl. [2, S. XIIff.]. im 9. Jh. - zeigt sich das Profil der Ausgabe an charakteristischen Textvarianten, für die ich zwei Beispiele erwähne. Das erste ist die universale Adresse des Römerbriefs: Der Römerbrief ist in diesen Handschriften nicht (wie sonst immer) „An alle, die in Rom sind (pasin tois ousin en Rhome)“ adressiert, sondern „An alle, die in der Liebe sind“ (pasin tois ousin en agape), er richtet sich also an alle Christen, nicht nur an die römischen. Und obwohl die iroschottischen Mönche natürlich ganz genau wussten, wohin P AU L U S diesen Brief geschrieben hatte (in der Überschrift haben sie ja Rom als Adresse auch genannt), war es vielleicht eine kleine Genugtuung für sie, dass dieser wichtige Paulusbrief in ihrer Handschrift nicht speziell an die römischen Christen gerichtet war. Das zweite Beispiel ist die eher berüchtigte als berühmte mulier-taceat-Passage im 1. Korintherbrief, wo P A U L U S die Adressaten auffordert, dass die Frauen in den Versammlungen schweigen und - falls sie etwas wissen wollen - ihre Männer zu Hause fragen sollen (1Kor 14,34-36). Die Aussage ist nicht nur wegen ihrer Frauenfeindlichkeit anstößig, sondern auch exegetisch problematisch, weil sie den argumentativen Duktus stört, was verschiedentlich zu der Annahme geführt hat, dass diese Bemerkung ein nachträglicher Einschub ist. Die Handschriftenfamilie (Z X) D F G hat diese unglückliche Stellung korrigiert und die Passage ganz ans Ende des Kapitels geschoben - und damit Generationen von Exegeten Anlass zu Diskussionen über die Ursprünglichkeit der Lesart gegeben. [138] 6 Zweisprachige Bibelausgabe Neben diesen „Verwandten in vertikaler Linie“, die über den gemeinsamen grie‐ chischen Text sichergestellt sind, hat der Boernerianus Nachbarhandschriften, die zu derselben Ausgabe gehören. Das Unternehmen der Mönche in St. Gallen umfasste ja nicht nur die Paulusbriefe, sondern das ganze Neue Testament und die Psalmen. Von dieser Ausgabe sind neben dem Boernerianus erhalten ein Psalter [2], der sich in Basel befindet und Marcellus als einen der Schreiber nennt, 6 sowie der Codex Sangallensis [5], eine Evangelienausgabe in der Klos‐ terbibliothek St. Gallen. Alle drei Handschriften sind Interlinearbilinguen, an allen hat dieselbe Hand mitgearbeitet, alle drei sind in derselben Größe gefertigt und weisen eine vergleichbare Glossierung auf: Die zweisprachige Bibelausgabe war ein beachtliches Großprojekt. 318 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="319"?> 7 Zur Herkunft vgl. die Diskussion [12, S. 54 ff.]. Zur Herkunft des lateinischen Paulus‐ texts bei den Iren vgl. [13, S. 59-86]. Seine Bedeutung wird vor allem daran deutlich, dass der Boernerianus im Unterschied zu den Handschriften der Familie (Z X) D F G eine Interlinear‐ bilingue ist. Das hat Konsequenzen zunächst für den lateinischen Text. Im Unterschied zu D 06 und F 010, die den lateinischen Text jeweils in Scriptura continua auf einer eigenen Seite bzw. Spalte bieten und dazu den Vulgatatext nutzen, macht es die Wort-für-Wort-Übersetzung über der Zeile erforderlich, von diesem Vulgatatext abzuweichen: Der lateinische Text des Boernerianus ist eine eigene „wissenschaftliche“ Leistung, 7 was auch daran deutlich wird, dass in vielen Fällen mehrere lateinische Übersetzungsvorschläge für ein griechisches Wort geboten werden [15]. So stehen in der erwähnten Adresse des Römerbriefs (1,7, fol. 1r) über dem Wort agape (Liebe) zwei lateinische Entsprechungen (caritas und dilectio). Die synonymen Übersetzungsmöglichkeiten zeigen die semantische Breite des Ausgangswortes, für das dann nach Kontext die passende Übersetzung gefunden werden muss: Die Ausgabe zielt nicht auf einen eindeu‐ tigen Text, wie er etwa für liturgische Nutzung erforderlich wäre, sondern dient der wissenschaftlichen Ausbildung und der Förderung der philologischen Urteilsfähigkeit. 7 Worttrennung Eine wesentliche Voraussetzung der Interlinearübersetzung, die diese wissen‐ schaftliche Nutzung erst ermöglicht, ist die Worttrennung. Von der Antike bis ins Mittelalter wurden Texte in Scriptura continua verfasst, also in großen Textblöcken, bei denen die einzelnen Wörter nicht durch Zwischenräume getrennt waren. Was für moderne Leser zumindest gewöhnungsbedürftig ist - wie liest sich zum Beispiel: IMANFANGWARDASWORTUNDDASWORT‐ WARBEIGOTT ? -, war in der Antike deswegen kein Problem, weil der Leser sich den Text laut vorlas und die mentale Repräsentation des Gelesenen über das gesprochene Wort und das Gehör leistete: Die sinngebende Struktur des Textes entstand erst im Akt des Sprechens und Hörens. Beim „leisen“ Lesen muss die mentale Repräsentation des Textes dagegen visuell vermittelt werden - und dazu diente die Worttrennung. Das ist eine grundlegende Leistung, die D E R R IDA ’sche Dimension besitzt: Nicht die sichtbaren Zeichen der Buchstaben, sondern das Fehlen von Zeichen stiftet den Sinn von Texten; der unbeschriebene Raum zwischen den Zeichen ist dabei keine interpretatorische Leerstelle, die einen Freiraum für die subjektive Aneignung bietet, sondern ein Gerüst, das 319 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="320"?> 8 S E D U L I U S , In Donati Artem minorem [19, S. 14]: figura a fingo verbo oritur. ergo figura proprie dicitur limitatio quaedam membrorum seu formarum longitudine seu latitudine seu his omnibus consistens, dicta a fingendo, id est a componendo. 9 S E D U L I U S , In Priscianum (19, S. 73 - 75]. Eindeutigkeit und Objektivität intendiert. Neueren Untersuchungen zufolge [17] geht diese Leistung auf die iroschottischen Mönche zurück, in deren Hand‐ schriften seit dem 7./ 8. Jh. die Worttrennung durch Zwischenräume erstmals begegnet, bevor sich diese Praxis im 12. Jh. ganz weithin durchsetzte. S E D U LI U S S C O T U S hatte als erster die Bedeutung der Worttrennung erfasst und auf der Grundlage aristotelischer Logik begründet, indem er grammatikalische Sinneinheiten und Wörter als figurae mit einem unterschiedlichen Bedarf an beschriebenem Raum definierte: „figura kommt von dem Verb fingo (formen). Daher bezeichnet figura genau genommen die Begrenzung einer bestimmten Phrase, entweder hinsichtlich ihrer Gesamtheit oder ihrer Länge oder Höhe; was für fingo gesagt ist, gilt auch für compono (zusammensetzen).“ 8 Die figurae des geschriebenen Textes sollen daher die grammatikalischen Strukturen reflek‐ tieren, angefangen von cola über commata bis hin zu den partes als kleinsten Einheiten - zu Wörtern geformte Buchstabenblöcke. 9 Das eigentümliche Schriftbild des Boernerianus, das die Gelehrten seit dem frühen 18. Jh. so interessiert hat, wirkt wie die konkrete Umsetzung dieses Programms: Neben den durch große und farbige Initialen gekennzeichneten Kolen und ersten Ansätzen zur Zeichensetzung (gelegentliche Punkte zwischen einzelnen Worten) sind die partes das auffälligste Merkmal des Boernerianus. Die Bibelausgabe, zu der er gehört, ist die erste, die diese Worttrennung systematisch durchgeführt und wissenschaftlich genutzt hat. 8 Ausblick Am Ende zeigt sich also, dass der Boernerianus an der Schnittstelle von zwei herausragenden Besonderheiten liegt: Für den griechischen Text ist er (neben D 06) der wichtigste Repräsentant einer sehr alten, vom Mehrheits‐ text abweichenden Ausgabe. Für den lateinischen Text liefert er eine eigene, wissenschaftliche Übersetzung, die von der Vulgatatradition abweicht. Und die Interlinearübersetzung, die beides miteinander verbindet, markiert eine geistesgeschichtliche Revolution: die Einführung der Worttrennung in der Überlieferung des Bibeltextes, die hier zum ersten Mal sichtbar wird. Und nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass erst diese Worttrennung, die mit der interlinearen Bilingualität einhergeht, den Boernerianus zu einer echten Studienbibel macht, denn sie ermöglicht das „leise“ Lesen mit den Augen: Das 320 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="321"?> ist seither Voraussetzung und Kennzeichen eines jeden (wissenschaftlichen) Bibliotheksbetriebs. „Natürlich, eine alte Handschrift“: Mit U M B E R T O E C O S Handschrift kann der Boernerianus also in jeder Hinsicht mithalten, ganz abgesehen davon, dass es ihn ja tatsächlich gibt. Eigentlich fehlt nur eines: Der Roman dieser Handschrift muss noch geschrieben werden. [139] Literatur (a) Ausgaben [1] Belsheim, J.: Epistulae Paulinae ante Hieronymum Latine translatae ex codice Sangermanensi graeco-latino alim Parisiensi nunc Petropolitano. Christiania, 1885 [2] Bieler, L. (Hrsg.): Psalterium Graeco-Latinum. Codex Basiliensis A. VII. 3. Umbrae Codicum Occidentalium 5. Amsterdam, 1960 [3] Matthaei, C. F.: XIII epistolarum Pauli codex Graecus cum versione Latina veteri vulgo antehieronymiana olim Boernerianus nunc bibliothecae electoralis Dresdensis summa fide et diligentia transcriptus et editus … cum tabulis aere expressis. Accessit ex eodem codice fragmentum Marci Monachi. Meissen, 1791 [4] Reichardt, A.: Der Codex Boernerianus der Briefe des Apostels Paulus (Msc. Dresd. A 145b), in Lichtdruck nachgebildet. Leipzig, 1909 [5] Rettig, H. C. M.: Antiquissimus quatuor Evangeliorum canonicorum Codex Sangal‐ lensis Graeco-Latino interlinearis nunquam adhuc collatus ad similitudinem ipsius libri manu scripti accuratissime delineandam et lapidibus exprimendum curavit. Zürich, 1836 [6] Srivener, F. H.: An Exact Transcript of the Codex Augiensis, a Graeco-Latin Manuscript of St. Paul’s Epistels, Deposited in the Library of Trinity College, Cambridge … with a Critical Introduction. Cambridge/ London, 1859 [7] Tischendorf, C.: Codex Claromontanus sive Epistulae Pauli omnes Graece et Latine ex codice Parisiensi celeberrimo nomine Claromontani plerumque dicto sexti ut videtur post Christum saeculi. Leipzig, 1852 (b) Sekundärliteratur [8] Aland, K.; Aland, B.: Der Text des Neuen Testaments. Stuttgart, 2 1989 [9] Duft, J.: Die griechischen Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. In: ders.: Die Abtei St. Gallen I. Beiträge zur Erforschung ihrer Manuskripte. Sigmaringen, 1990. S. 56-61 [10] Duft, J.: Die irischen Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. In: ders.: Die Abtei St. Gallen I. Beiträge zur Erforschung ihrer Manuskripte. Sigmaringen, 1990. S. 33-55 321 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="322"?> [11] Ekkehardi IV.: Casus Sancti Galli. Ekkehard IV. St. Galler Klostergeschichten. Hrsg. u. übersetzt von H. F. Haefele. Darmstadt, 2 1989 [12] Frede, H. J.: Altlateinische Paulus-Handschriften. Vetus Latina 4. Freiburg, 1964 [13] Frede, H. J.: Pelagius - Der irische Paulustext - Sedulius Scottus. Vetus Latina 3. Freiburg, 1961 [14] Lindsay, W. M.: Early Irish Minuscule Script. St. Andrews University Publ. VI. Oxford, 1910 [15] Rönsch, H.: Die Doppelübersetzungen im lateinischen Text des cod. Boernerianus der Paulinischen Briefe. In: Zeitschrift für Wissenschaftliche Theologie 25 (1882), S. 488-517; 26 (1883), S. 73-98, 309-344 [16] Rönsch, H.: Zur biblischen Latinität aus dem cod. Sangallensis der Evangelien. In: Romanische Forschungen 1 (1883), S. 419-426 [17] Saenger, P.: Space Between Words. The Origins of Silent Reading. Stanford, 1997 [18] Schäfer, K.-Th.: Der griechisch-lateinische Text des Galaterbriefes in der handschrif‐ tengruppe D E F G. Köln, 1935 [19] Sedulius Scotus: In Donati Artem minorem. In Priscianum etc. Hrsg. Von Bengt Löfstedt. Corpus Christianorum Continuatio Medieavalis 40c. Turnhout, 1977 [20] Traube, L.: O Roma Nobilis. Philologische Untersuchungen aus dem Mittelalter. Abh. Königl.-Bayer. Akademie der Wissenschaften. I. Cl., XIX. Bd, II. Abt. München, 1891 [21] Vogels, H.-J.: Der Codex Claromontanus der Paulinischen Briefe. In: Wood, G. H. (Hrsg.): Amicitiae Corolla (FS J. R. Harris). London, 1933. S. 274-299 [22] Windisch, E.: Das altirische Gedicht im Codex Boernerianus und über altirische Zauberformeln. Königl.-Sächs. Gesellschaft der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Berichte über die Verhandlungen 42/ 5. Leipzig, 1890. S. 83-108 [23] Zimmer, H.: Glossae Hibernicae. Berlin, 1881 (c) Digitalisate Codex Boernerianus: SLUB Dresden, digital.slub-dresden.de/ id274591448 (Public Domain Mark 1.0) Faksimile von A. Reichardt: SLUB Dresden, digital.slub-dresden.de/ id435395769 (Public Domain Mark 1.0) 322 Natürlich, eine alte Handschrift! <?page no="323"?> * Martin Jehne (Dresden) und Thomas Schmeller (Frankfurt) zum Gruß! 1 Klassisch ist die Studie von F. Annen, Heil für die Heiden. Zur Bedeutung und Geschichte der Tradition vom besessenen Gerasener (Mk 5,1-20 parr.) (FThSt 20), Frankfurt 1976, 39-72. Demnach bestand die vormk Erzählung aus 5,2b.3b.4-7.9.11- 14.15b.16.19b. Vgl. auch J.P. Meier, A Marginal Jew. II. Mentor, Message, and Miracles, New York u. a. 1994, 651: „Without the panicky pigs and their dip in the deep, the environs of Gerasa … create no problem for the story“, was hier als Hinweis auf die Historizität verstanden ist. Neuerdings hat J. Ådna versucht, auch die Schweinepisode als historisch wahrscheinlich zu erweisen: The Encounter of Jesus with the Gerasene Demoniac, in: B. D. Chilton/ Evans (ed.), Authenticating the Activities of Jesus (NTTS 28/ 2), Leiden 1999, 279-301. 2 C.E. Arnold, Exorcism 101: What Can We Learn from the Way Jesus Cast Out Demons? , ChrTo 45 (2001) 58. - K. Blessing, Call not Unclean: The Pigs in the Story of the Legion of Demons, in: Proceedings. Eastern Great Lakes and Midwest Biblical Societies 10 Legionsschweine in Gerasa Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1-20 * Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Legionsschweine in Gerasa. Lokalko‐ lorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1-20, in: ZNW 98 (2007), 28-48. I. Fragestellung Die Erzählung vom Exorzismus des Besessenen im Land der Gerasener (Mk 5,1-20) ist geprägt von dem extravaganten Schicksal des unreinen Geistes, der in eine Schweineherde fährt, die sich in den See Genezareth stürzt und ertrinkt. Es ist gerade diese Extravaganz, die den Text in neuerer Zeit zu einem Paradebeispiel für den methodischen Streit zwischen historischer und ästhetischer Auslegung gemacht hat: Die historische Erklärung versucht, lite‐ rarkritisch eine älteste Schicht des komplexen Textes herauszuschälen, um so einen historischen Exorzismus plausibel zu machen, zu dem dann auch die Schweineepisode gehört haben soll, wie neuerdings erwogen wurde. 1 Wie so häufig, bleibt diese literarkritische Operation allerdings eine Erklärung für das Wachstum dieser Urfassung schuldig. Auf der anderen Seite hat gerade das expressive Bild der sich in den See stürzenden und ertrinkenden Schweine eine ganze Flut von ästhetischen, symbolischen und (tiefen)psychologischen Auslegungen angeregt. 2 Auch wenn man sich darauf verständigt, dass eine im <?page no="324"?> (1990) 92-106. - P.G. Horsfield, The Gerasene Demoniac and the Sexually Violated, St. Mark’s Review 152 (1993) 2-7. - D. Jasper, Siding with the Swine: A Moral Problem for Narrative, in: R. Detweiler/ W.G. Doty (ed.), The Daemonic Imagination: Biblical Text and Secular Story, Atlanta 1990, 65-75. - Ders., The Gaps in the Story: The Implied Reader in Mark 5: 1-20, SEÅ 64 (1999) 79-88. - C.S. LaHurd, Reader Response to Ritual Elements in Mark 5: 1-20, BTB 20 (1990) 154-160. - H. Merklein, Die Heilung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20): Ein Fallbeispiel für die tiefenpsychologische Deutung E. Drewermanns und die historisch-kritische Exegese, in: The Four Gospels 1992. FS Frans Neirynck (BEThL 100/ 2), Leuven, II 1992, 1017-1037. - A.J.R. Uleyn, The Possessed Man of Gerasa: A Psychoanalytic Interpretation of Reader Reactions, in: Current Issues in the Psychology of Religion, Amsterdam 1986, 90-96. Einen ganzen Sammelband zum Thema haben R. Detweiler und W.G. Doty (ed.) vorgelegt: The Daemonic Imagination: Biblical Text and Secular Story, Atlanta 1990. 3 S. vor allem Jasper, Gaps (s. Anm. 2). weitesten [29] Sinn ‚symbolische‘ Deutung auf der Ebene der Erstrezipienten historisch wahrscheinlich zu machen ist, 3 bleibt natürlich die Frage, welche textexternen Informationen bei Lesern vorausgesetzt werden können und wie sie für das Verständnis nutzbar zu machen sind. Aber dies ist gerade für den hervorstechenden Zug der sich in den See stürzenden Schweine bisher nicht gelungen: Die historisch-kritischen Ausle‐ gungen bleiben an dieser Stelle unangemessen blass, und dieses mangelnde Korrektiv scheint für eine gewisse Beliebigkeit der literarisch-symbolischen Interpretationen verantwortlich zu sein. Es sind in erster Linie drei miteinander zusammenhängende Aspekte, die hier relevant sind und die in der Vergangen‐ heit sehr unterschiedlich intensiv behandelt wurden: 1. Die Frage der Geographie und der Verortung der Erzählung „im Land der Gerasener“ ist schon durch die synoptischen Varianten als Problem vorgegeben und mehrfach thematisiert worden: Mt 8,28 lokalisiert die Erzählung im „Land der Gadarener“, während eine ganze Reihe von HSS in Lk 8,26 (und teilweise auch Mt 8,28) das „Land der Gergesener“ bietet. Da Gerasa mitsamt dem zur Stadt gehörenden Umland über 50 km vom See Genezareth entfernt liegt, mutet der kollektive Schweinesuizid (Mk 5,13) recht unwahrscheinlich an. Natürlich muss Mk das nicht gewusst haben, und seine literarische Topographie kann sich von der geographi‐ schen erheblich unterscheiden. Aber jede historische oder literarische Rekonstruktion, die ja nicht von Zufälligkeiten oder Versehen ausgehen kann, muss aus methodischen Gründen annehmen, dass Mk wusste, was er schrieb. Zumindest für die mt Fassung hat man genau dies auch erwogen und seine Lokalisierung als historisch-geographische Korrektur verstanden, um der Geschichte Plausibilität zu verleihen: Gadara liegt nur 324 Legionsschweine in Gerasa <?page no="325"?> 4 Vgl. dazu U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (8-17) (EKK 1/ 2), Zürich u. a. 1990, 32. In diesem Fall allerdings hätten die Schweine erst das tief eingeschnittene Yarmuktal durchqueren müssen, bevor sie sich von der Klippe (κρηµνός) der Golanhöhen hinunter in den See hätten stürzen können. Allerdings wäre dieser Sturz auch von Gadara aus nicht zu beobachten gewesen. 5 Th. Schmeller, Jesus im Umland Galiläas. Zu den markinischen Berichten vom Auf‐ enthalt Jesu in den Gebieten von Tyros, Caesarea Philippi und der Dekapolis, BZ NF 38 (1994) 44-66. - C. Cebulj, Topographie und Theologie im Neuen Testament. Anmerkungen zu einer komplexen Beziehung am Beispiel der Dekapolis, BN 105 (2000) 88-99. - E.S. Malbon, Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, Sheffield 1991. 6 Vgl. das Verbot des Genusses von Schweinefleisch Lev 11,7; Dtn 14,8; erst in der Mischna ist ein Verbot der Schweinezucht belegt (BQ VII 7). 7 In der Regel verweist man dann auf die Schilderung der Götzendiener in Jes 65,1-7 (mit den Stichworten „Grabhöhlen, Schweinefleisch, Götzendienst“), vgl. besonders E. K. Wefald, The Separate Gentile Mission in Mark: A Narrative Explanation of Markan Geography, the Two Feeding Accounts and Exorcisms, JSNT 60 (1995) 3- 26. Ähnlich auch A. Käser, Den Juden zuerst, aber auch den Heiden: ‚Mission‘ im Markusevangelium. Beobachtungen einer kompositionellen Lesung von Mk 4,35-8,26, ThBeitr 35 (2004) 69-80. Allerdings spielen religiöse Konnotationen in Mk 5 keine Rolle. 8 Wenn heidnische Unreinheit im Zusammenhang der frühchristlichen Mission verhan‐ delt wird, geht es immer um das Problem der Reinheit von Speisen (wie es ja auch, sehr rund 5 km südlich vom See Genezareth. 4 Die Frage nach der Lokalisierung des Geschehens ist deshalb von Bedeutung, weil sich seit einiger Zeit die Erkenntnis durchsetzt, dass die topographischen Angaben bei Mk [30] eine bewusste narrative Funktion tragen. 5 Von daher ist davon auszugehen, dass die Lokalisierung „im Land der Gerasener“ nicht einfach eine bloße historische Reminiszenz ohne semantische Funktion ist, sondern als gezielt eingesetztes Gestaltungsmittel verstanden werden muss. Aber worauf referiert Mk? Die übliche Antwort ist, dass Gerasa „am anderen Ufer des Sees“ (τὸ πέραν, 5,1) exemplarisch das heidnische Gegenüber zum jüdischen Gebiet bezeichnet. Aber warum wählt Mk dann das weit entfernt liegende Gerasa und nicht das geographisch näher liegende und für die Erzähllogik exakt passende Gebiet von Hippos auf dem Golan? Ist das nur Unkenntnis? 2. Mit der literarischen Topographie hängt der zweite Aspekt unmittelbar zusammen, denn die Unreinheit des Geistes (Mk 5,2) wird regelmäßig als generelles Zeichen heidnischer Unreinheit verstanden, etwa im Sinn von Apg 10. 6 Dadurch würde die ganze Erzählung zur grundlegenden und exemplarischen Schilderung der Beseitigung heidnischer Unreinheit durch Jesus und damit zur Inauguration der Heidenmission. 7 Allerdings passt diese Interpretation weder zu den charakteristischen Merkmalen der Erzählung selbst 8 noch zur größeren mk Komposition, die sehr betont und 325 Legionsschweine in Gerasa <?page no="326"?> prononciert, in Mk 7 f. der Fall ist! ). Aber dieser Aspekt spielt hier überhaupt keine Rolle. Eine Interpretation des Schicksals der Schweine in 5,13 in diesem Sinn stünde im Übrigen auch in erheblicher Spannung zu der grundlegenden Regel Mk 7,19! 9 Vgl. M. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002) 183-202. 10 Die Charakterisierung als „Schwank“ (z. B. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, EKK 2/ 1, Zürich u. a. 3 1989, 205) verkennt m. E. die Pointe. 11 Eine Ausnahme ist R. Dormandy, The Expulsion of Legion: A Political Reading of Mark 5: 1-20, ExpT 111 (2000) 335-337; s. auch u. Anm. 51-55. bewusst die Begegnung Jesu (und dann der Jünger) mit Nichtjuden erst in Mk 7 f. erzählt. 9 Wenn die Gerasener-Episode auf das Thema Heidenmission zielte, wäre der Komposition von Mk 6-8 die Spitze genommen, ganz abgesehen davon, dass weder die gewalttätigen Aspekte noch die Auffor‐ derung der Bewohner an Jesus, ihr Land zu verlassen, wirklich plausibel werden. Damit bleibt die Frage, warum [31] Mk hier eine so drastische Epipompe berichtet. 10 Wie der Vergleich mit der nächsten Parallele in Mk 1,23-28 zeigt, bedurfte es des Berichts einer Epipompe für die Wirkung des Exorzismus keineswegs: Eine schlichte Apopompe hätte genügt. Das macht die Frage nach der eigenen Bedeutung der Schweineepisode nur umso dringlicher. 3. Vor allem aber passt diese Deutung auf heidnische Unreinheit nicht zu dem Umstand, dass der Dämon seinen Namen als „Legion“ angibt, „denn wir sind viele (Mk 5,9), was in 5,13 quantifiziert wird („etwa 2000“). Abgesehen von dem gelegentlichen Hinweis, dass „Legion“ die Bezeichnung der größten Einheit des römischen Heeres in Divisionsstärke ist und für das große Ausmaß der Unreinheit steht, wird die militärische Implikation dieser Bezeichnung fast nie gedeutet. 11 Damit stellen sich folgende Fragen: Warum lokalisiert Mk diese Erzählung in Gerasa, das doch so weit vom See entfernt liegt? Wenn ihm Gerasa als Lokalisierung wichtig war, hätte Mk die Schweine dann nicht auf andere Weise zu Tode kommen lassen können, als sie in dem zwei Tagesreisen entfernten See ertrinken zu lassen? Und: Welche Rolle spielt die militärische Implikation der Selbstbezeichnung des unreinen Geistes? Ich nähere mich diesen Fragen, indem ich Mk beim Wort nehme und die genannten Aspekte als untereinander zusammenhängend und als bewusste Gestaltung verstehe. 326 Legionsschweine in Gerasa <?page no="327"?> 12 Vgl. G.W. Bowersock, Syria under Vespasian, in: ders., Studies in the Eastern Roman Empire, Goldbach 1994, 85*-92*. - Ders., Roman Arabia, Cambridge (Mass.)/ London 1983, 45-75. - B. Isaac, The Limits of Empire: The Roman Army in the East, Oxford 2 1990, 345-347. - A. Gebhardt, Imperiale Politik und provinziale Entwicklung. Unter‐ suchungen zum Verhältnis von Kaiser, Heer und Städten in Syrien in der vorseverischen Zeit (Klio.B NF 4), Berlin 2002, 21-83. 13 Vgl. Bowersock, Syria (s. Anm. 12). Für Gerasa vgl. jetzt zusammenfassend R. Raja, Urban Development and Regional Identity in the Eastern Roman Provinces, 50 BC - AD 250: Aphrodisias, Ephesus, Athens, Gerasa, Ph.D. Thesis, University of Oxford, School of Archaeology, 2005, 136-181. 14 Die älteste Stifterinschrift datiert auf das Jahr 22/ 23 n. Chr.: C.H. Kraeling, Gerasa. City of the Decapolis, New Haven 1938, 374 f., Nr. 2; zur Fertigstellung des Baues vgl. a. a. O. 365 f., Nr. 5. Vgl. außerdem: J.M.C. Bowsher, Architecture and Religion in the Decapolis: A Numismatic Survey, PEQ 119 (1987) 62-69. - A. Hoffmann, S. Kerner (Hg.), Gadara - Gerasa und die Dekapolis, Mainz 2002. - A. Lichtenberger, Kulte und Kultur in der Dekapolis. Untersuchungen zu numismatischen, archäologischen und epigraphischen Zeugnissen, Wiesbaden 2003. 15 Bowersock, Syria (s. Anm. 12), 90* (mit der gegenüber Kraeling verbesserten Lesung). Die Inschrift ist auf die Statthalterschaft des L. Ceionius Commodus datiert, der als II. Gerasa Im Licht der eindeutig auf einen römischen Truppenkörper verweisenden Selbstbezeichnung „Legion“ ist die erste Frage, ob - und wenn ja: wann - römische Truppenpräsenz in oder um Gerasa überhaupt belegt ist. Sie lässt sich nur im Zusammenhang mit der römischen Syrienpolitik während des 1. Jh. überhaupt beantworten. Während die römischen Aktivitäten mit ihren massiven Truppenkonzentrationen an der Parthergrenze in der Euphratregion Nordsyriens relativ gut bezeugt sind, 12 ist die politisch-militärische Präsenz im südsyrisch-arabischen Raum, für den die Dekapolisstädte noch einmal ein be‐ sonderes Problem darstellen, weit weniger klar. Klar ist nur, dass ab der Zeit des Tiberius ein beachtlicher Ausbau bestimmter Städte außerhalb des provinzialen [32] Kernlandes zu beobachten ist, vor allem in Palmyra, Bostra und Gerasa. 13 Für Gerasa ist dieser explosionsartige Ausbau seit der Mitte des 1. Jh. gesichert: Der alles überragende Zeustempel wurde seit etwa 20 n. Chr. gebaut. 14 Die weitergehende und sehr großzügige neue Stadtanlage mit dem eindrucksvollen und gut erhaltenen Cardo und den beiden Decumani muss später entworfen worden sein, da sie in Spannung zu dem älteren Plan steht: Der Cardo trifft in schiefem Winkel auf die Akropolis mit dem Zeustempel; diese Inkongruenz fand ihre stadtplanerische Lösung in dem charakteristischen ovalen Platz. Das Nordwesttor, auf das der nördliche Decumanus zuläuft und daher Teil der neuen Stadtplanung ist, datiert ausweislich einer griechisch-nabatäischen Bauinschrift auf das Ende der 70er Jahre. 15 Der wesentliche Ausbau der Stadt selbst ist von den 327 Legionsschweine in Gerasa <?page no="328"?> legatus Augusti pro praetore erwähnt wird (πρε[σβευτοῦ Σεβαστ]οῦ αντ[ιστρατήγου]); da die syrische Statthalterschaft wegen des Kommandos über mehr als zwei Legionen nur an Konsulare vergeben wurde und das Konsulat des Commodus in das Jahr 78 fällt, kommt damit nur die Zeit von 79-80 in Frage, in der der städtische Ausbau mit Cardo, den beiden Decumani, Stadtmauer und -toren vollendet wurde. Der nabatäische Teil der Inschrift (Kraeling, Gerasa [Anm. 14], Nr. 1) ist auf den 21. Siwan des 11. Jahres Rabbels (II.) datiert ( Juni 81), s. Bowersock, Syria 91* Anm. 54, unter Verwendung von Miliks (gegenüber Welles-Kraeling verbesserter) Lesung. Vgl. zur Datierung von Tor und Stadtmauer auch Raja, Development (s. Anm. 13) 152 f., die an eine Fertigstellung erst unter Trajan denkt. 16 Kraeling, Gerasa (s. Anm. 14), 39 ff.; Raja, Development (s. Anm. 13), 136 ff. Die Datierung ist wegen der nicht einheitlichen Bauinschriften nicht leicht. 17 Vgl. Isaac, Limits (s. Anm. 12), 345. 18 Das war die These Bowersocks (Syria [s. Anm. 12], passim), der daher den gerasenischen Ausbau auch erst auf die 70er und 80er Jahre datieren wollte und ihn als Teil eines umfassenden Sicherheitskonzepts verstand, das durch M. Ulpius Traianus, den Vater des gleichnamigen Kaisers und früheren Legaten der legio X Fretensis, angeregt und durchgeführt worden sei. Mit dieser Deutung hat sich Bowersock allerdings nicht durchgesetzt, vgl. Gebhardt, Imperiale Politik (s. Anm. 12), 61 Anm. 5. S. auch E. Dabrowa, The Frontier in Syria in the First Century AD, in: Ph. Freeman/ D. Kennedy (ed.), The Defence of the Roman and Byzantine East, Oxford 1986, 93-108. Ausgräbern allerdings früher datiert worden, auf die 60er oder schon die 50er Jahre. 16 Beides muss sich nicht widersprechen; allerdings scheint gesichert zu sein, dass die Arbeiten an Stadtmauer und Nordwesttor nicht vor Ende 80 n. Chr. abgeschlossen waren. Es ist dabei von Bedeutung, dass die frühe Ausbauphase, anders als etwa in Palmyra und in Bostra, nicht durch römische Behörden gefördert wurde. 17 Man kann daraus bei aller Vorsicht den Schluss ziehen, dass die nördlicheren Städte - Palmyra war strategisch wichtig, Bostra war nabatäische Hauptstadt [33] und wichtigster Warenumschlagplatz - für die Römer eine größere Bedeutung be‐ saßen als das südliche Gerasa. Vor allem ist nicht wirklich erkennbar, dass dieser urbane Ausbau eine wesentliche militärische Funktion im Rahmen der Grenz‐ sicherung gegenüber den Parthern besaß. 18 Aber angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung Gerasas an der Königsstraße ist eine militärische Präsenz der Römer nicht ausgeschlossen. Die Parallelen in Bostra und Palmyra zeigen, dass die Römer durchaus auch direkten Einfluss ausgeübt haben und am Ausbau und der Kontrolle der syrisch-arabischen Handelsstraße von Philadelphia über Gerasa und Bostra nach Palmyra sehr interessiert waren. Dieser Hintergrund ist wichtig für die Einschätzung der römischen Truppen‐ präsenz in Gerasa im 1. Jh. Epigraphisch ist die Stationierung der ala I Thracum Augusta durch die Grabinschriften von drei Angehörigen dieser Kavallerieein‐ 328 Legionsschweine in Gerasa <?page no="329"?> 19 Vgl. Kraeling, Gerasa (s. Anm. 14), Nr. 199 (= IGRR III 1374 = CIL III 14159): Toutenes. - Nr. 200 (= ZDPV 36 [1913], 262 f. = AE 1930 Nr. 90 = SEG VII Nr. 901 = Jones, JRS 18 [1928] 145 fig. 2): Ziemices. - Nr. 201 (= Jones, JRS 18 [1928] 144 f.): Doritses. Bei Kraeling findet sich zu allen drei Inschriften die Datierung ins 1. Jh. n. Chr. Vgl. außerdem E. Dabrowa, Les troupes auxiliaires de l’armée romaine en Syrie au Ier siècle de notre ère, DHA 5 (1979) 233-254: 235. - M. P. Speidel, The Roman Army in Arabia, ANRW 2/ 8 (1977) 687-730, hier 707 f. 20 M.G. Jarrett, Thracian Units in the Roman Army, IEJ 19 (1969) 215-224, listet neun Alen und 28 Kohorten, darunter eine cohors milliaria. 21 Vgl. folgende Zeugnisse: Die Augsburger Grabinschrift CIL III 5819 wird von P. A. Holder in die Zeit Domitians bzw. Trajans datiert (Studies in the Auxilia of the Roman Army from Augustus to Trajan [BAR.IS 70], Oxford 1980, 291 Nr. 834). Das rätische Militärdiplom CIL XVI 55 stammt aus dem Jahr 107 n. Chr. Vermutlich ist die Einheit auch auf dem ebenfalls rätischen Diplom aus dem Jahr 116 zu ergänzen; vgl. den Kommentar von M.M. Roxan, Roman Military Diplomas I-III, London 1978-94 (= RMD) zu RMD III, Nr. 155. 22 Stationierung in Noricum: RMD I, Nr. 3 (= AE 1974, Nr. 655). - RMD III, Nr. 155 (= AE 1993, Nr. 1240 = AE 1995, Nr. 1186). - CIL III 4806 (= ILLPRON 150: Weihealtar der Noreia). - ILLPRON 897. - CIL III 5654 (= 11795 = ILLPRON 900). - CIL III 11796 (= ILLPRON 901). 23 Vgl. Josephus, Bell. VII 17-19: Die meisten Auxiliareinheiten seien in ihre ursprüng‐ lichen Standorte verlegt bzw. aufgelöst worden. Allerdings denkt Josephus bei der Erwähnung von Auxiliartruppen in der Regel an Einheiten, die von den regionalen Klientelkönigen gestellt wurden. 24 Holder, Studies (s. Anm. 21), 159. Die Grabsteine sind die Nr. 831-833, a. a. O. 291. 25 A.a.O. 159. Vgl. die turma [Gai] Vesperi (Kraeling, Gerasa [s. Anm. 14], Nr. 200 = Holder [s. Anm. 21], Nr. 832) und tur[ma] Terenti (Kraeling, Nr. 201 = Holder, Nr. 831). Die entsprechenden Centuriennamen aus der legio V Macedonica finden sich CIL III 14155. 14156. heit bezeugt. 19 Die ala I Thracum Augusta gehörte zu den relativ zahlreichen thrakischen Auxiliartruppen, die im 1. Jh. n. Chr. ausgehoben wurden. 20 Die ge‐ rasenischen Zeugnisse sind die ältesten dieser Einheit, für das frühe 2. Jh. Ist ihre Stationierung in Rätien 21 und später in Noricum belegt. 22 Für unser Problem ist zunächst von Bedeutung, wann die Verlegung der Einheit [34] nach Rätien statt‐ fand bzw. bis wann die gerasenische Stationierung gedauert hat. P. A. Holder hat angenommen, dass die Verlegung der ala I Thracum Augusta im Zusammenhang der Truppenumstrukturierung unmittelbar nach dem jüdischen Krieg im Jahr 70 n. Chr. stattfand. 23 Er datiert die drei Grabsteine daher in die Zeit Neros, was eine römische Truppenpräsenz in der Dekapolis vor dem jüdischen Krieg voraussetzen würde. 24 Er argumentiert, dass die Bezeichnungen der turmae, denen die Gerasener Reiter angehörten, Namensparallelen in Centurien der legio V Macedonica besaßen, die während des jüdischen Krieges errichtet wurden. 25 Die Annahme, dass ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den (gerasenischen) Auxiliar- und den (judäischen) Kerntruppen bestehen müsse, 329 Legionsschweine in Gerasa <?page no="330"?> 26 Vgl. A. Lewin, The Organization of a Roman Territory: The Southern Section of provincia Arabia, in: E. Dabrowa (ed.), The Roman and Byzantine Army in the East, Krakau 1994, 109-116. 27 B. Isaac, The Decapolis in Syria, a Neglected Inscription, ZPE 44 (1981) 57-74. 28 Vgl. die Diplome aus dem Jahr 88: CIL XVI 35; JRS 29 (1939) 28 ff. 29 Zu Lappius vgl. J. Assa, Aulus Bucius Lappius Maximus, Akte des IV. Internationalen Kongresses für lateinische und griechische Epigraphik, Wien 1964, 31-39. 30 Vgl. A. Negev, The Nabateans and the Provincia Arabia, ANRW 2/ 8 (1977) 520-686; R. Wenning, Die Dekapolis und die Nabatäer, ZDPV 110 (1994) 1-35. 31 Zur Inschrift am Nordwesttor s. o. Anm. 15. 32 Es handelt sich um drei Inschriften am Südtheater von Gerasa, die auf die Jahre 153 bis 155 der pompeianischen Ära (= 90-92 n. Chr.) datiert sind; der ältesten zufolge hat der legatus Augusti pro praetore Lappius Maximus das Theater aufgrund eines Ediktes (ἐπίκριµα) geweiht. Zu diesen Inschriften vgl. J. Pouilloux, Deux inscriptions au théatre sud de Gérasa, SBFLA 27 (1977) 246-254; Une troisième dedicace au théatre sud de Gérasa, SBFLA 29 (1979) 276-278. ist wohl schlüssig, die Folgerung, dass die thrakische ala schon 70 n. Chr. nach Rätien verlegt worden sei, dagegen nicht: Die Sicherung des südsyrischen Verkehrsweges durch schnelle Reitertruppen gegen nomadische Räuber ist auch nach dem jüdischen Krieg im Rahmen der römischen Arabienpolitik eine sehr plausible Annahme. 26 Das gilt vor allem, wenn B. Isaacs Deutung der Dekapolis-Inschrift aus Madytos richtig ist, 27 derzufolge ein anonymer Ritter und ehemaliger Präfekt der in Syrien stationierten ala II Pannoniorum  28 um 90 n. Chr. unter dem syrischen Legaten A. Bucius Lappius Maximus 29 die Verwaltung der Dekapolis übernommen hatte. Demnach wäre die Dekapolis als Annex (προσθήκη) der Provinz Syria von einem ritterlichen Beamten verwaltet worden, ungeachtet der Geltung, welche die Nabatäer hier besaßen. 30 Die Annexion des Nabatäerreiches und die Errichtung der Provinz Arabia im Jahr 106 n. Chr. war offensichtlich der Endpunkt eines länger andauernden, planvollen Engagements. Auf jeden Fall ist das römische Engagement in der Dekapolis und [35] speziell in Gerasa durch Bauinschriften aus dem Jahr 80 am Nordwesttor 31 und aus den Jahren 90-92 am Südtheater 32 nachgewiesen. Die Frage, ob eine römische Truppenpräsenz in Gerasa über die Zeit des jüdischen Kriegs hinaus nachweisbar ist, muss also offen bleiben. Aber angesichts der Tatsache, dass die Römer ihr politisches und ökonomisches Engagement in Gerasa durch die Beteiligung an repräsentativen Bauten erst 10 Jahre nach dem Ende des Krieges öffentlich zu dokumentieren begannen, spricht doch einiges dafür, eine Truppenstationierung für diese Periode anzunehmen. 330 Legionsschweine in Gerasa <?page no="331"?> 33 J.D.M. Derrett, Contributions to the Study of the Gerasene Demoniac, JSNT 3 (1979) 2-17, hier 5 f. (mit Berufung auf einen Spezialisten für Schweineverhalten und einen Schweinezüchter: Anm. 17). Mit Blick auf typisches „pig behaviour“ ist es kaum nötig darauf hinzuweisen, dass Schweine erstens schwimmen können und zweitens nicht zu kollektivem Suizid neigen. 34 Tacitus, Ann. 13,35,4; E. Ritterling, Art. Legio, RE 12 (1924/ 25) 1186-1829, hier 1672; L.J.F. Keppie, Legions in the East from Augustus to Trajan, in: Ph. Freeman/ D. Kennedy (ed.), The Defence of the Roman and Byzantine East, Oxford 1986, 411-429, hier 415 f. 35 Philo, Leg.Gai. 207; Josephus, Bell. II 387; III 64-69. ΙΙΙ. Ertrinkende Schweine Unabhängig vom Problem der genauen Datierung der Stationierung der ala I Thracum Augusta in Gerasa ist immerhin von Bedeutung, dass es sich dabei um eine Kavallerieeinheit gehandelt hat. Das könnte einen Aspekt der Erzählung erklären, der vor allem J.D.M. Derrett beschäftigt hat, der feststellte, das Verhalten der Schweine sei, nachdem die unreinen Dämonen in sie gefahren waren, „utterly unpiglike“ gewesen: Wenn Schweine in Panik geraten, bilden sie keine Stampede, sondern fliehen einzeln in alle Richtungen. 33 Mk 5,13 weckt nicht die Assoziation einer vom furor daemonicus ergriffenen Schweineherde, sondern lässt eher an eine in geschlossener Formation chargierende Kavallerieeinheit denken. Allerdings bleibt damit offen, wieso nach Markus der Name des Dämons „Legion“ ist: Eine ala mit einer Sollstärke von maximal 480 Berittenen ist erkennbar etwas anderes als eine Legion mit einer Sollstärke von mindestens 5200 Mann (Mk 5,13 nennt immerhin 2000 Schweine), und sie heißt auch nie so. Die Selbstbezeichnung des Dämons (Mk 5,9) macht daher die Fahndung nach einer Legion erforderlich, auf die sich diese Bezeichnung beziehen kann, wobei es zunächst gleichgültig ist, ob diese Referenz eher historischer oder eher literarisch-symbolischer Natur ist: Die ersten Rezipienten jedenfalls mussten diesen Verweis verstehen können. [36] Wenn an den erwähnten Verwaltungs- und Stabilisierungsmaßnahmen in der Dekapolis römische Kerntruppen beteiligt gewesen sein sollten, dann kann es sich nur um Angehörige der in Judäa stationierten legio X Fretensis gehandelt haben, über deren Aktionen im jüdischen Krieg Josephus detailliert berichtet: Die Legion, die vor dem jüdischen Krieg in Zeugma am Euphrat stationiert war und von dort aus am Armenienkrieg 54-63 n. Chr. teilnahm, 34 wurde 66 n. Chr. mit der V Macedonica und der von Titus aus Griechenland herbeigeführten XV Apollinaris in Ptolemais-Akko vereinigt. 35 Unter dem Kommando ihres Legaten M. Ulpius Traianus (Bell. III 233 f.) war die X Fretensis in den Jahren 67 und 68 331 Legionsschweine in Gerasa <?page no="332"?> 36 67 n. Chr. war die X Fretensis an der Belagerung von Jotapata (Bell. III 233 f.) sowie an der Eroberung von Japha/ Joppa (III 289-306) beteiligt. Im folgenden Jahr nahm sie an der galiläischen Kampagne gegen Tiberias (III 447), Taricheae (III 462.485) und Gamala auf dem Golan (IV 13) teil, bevor sie in der Dekapolisstadt Skythopolis Winterquartier bezog (IV 87). 37 Josephus, Bell. V 42.69. Traianus war Legat spätestens von 66 bis 69, vgl. E. Dabrowa, Legio X Fretensis: A Prosopographical Study of its Officers (I-III c. A. D.) (Hist.E 66), Stuttgart 1993, 23 f.; B. Isaac, Vespasian’s Titulature in A. D. 69, ZPE 55 (1984) 143 f., denkt an einen früheren Zeitpunkt. Nach Traianus war A. Larcius noch im Jahr 69 Legat der Legion, vgl. Jos. Bell. VI 236 f.; CIL X 6659 = ILS 987; Dabrowa, a. a. O. 24-26. 38 Herodium (Josephus, Bell. VII 163), Machaerus (VII 210-215) und Masada (VII 252-406). 39 A. Gebhardt, Imperiale Politik (s. Anm. 12), 85; B. Isaac, Judaea after A. D. 70, JJS 35 (1984) 44-50; M. Kor, The Roman Army in Eretz-Israel in the Years A. D. 70-132, in: Ph. Freeman/ D. Kennedy (ed.), The Defence of the Roman and Byzantine East, Oxford 1986, 575-602. 40 Die Stationierung einer Vexillation ist für Caesarea Maritima durch eine Bauinschrift auf dem Aquaedukt gesichert (Dabrowa, Legio X [s. Anm. 37], 19); für Gadara s. u. Anm. 57. 41 Bowersock, Syria (s. Anm. 12) hat die Widmung der Inschrift überzeugend ergänzt: ὑπ[ὲ]ρ τῆς τῶν Σεβαστῶν σ[ωτηρίας καὶ νίκης] / [Τ]ραιανῆς … 42 Zur römischen Verwaltung von Syria Palaestina vgl. H.M. Cotton, Some Aspects of the Roman Administration of Judaea/ Syria-Palaestina, in: W. Eck (Hg.), Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserzeitlichen Provinzen vom 1. bis 3. Jahrhundert (Schriften des Historischen Kollegs 42), München 1999, 75-91; W. maßgeblich an der Eroberung Galiläas beteiligt. 36 Im folgenden Jahr führte Traianus die X Fretensis über Jericho nach Jerusalem, wo sie an der von Titus befehligten Eroberung Jerusalems entscheidenden Anteil hatte. 37 Nach dem Fall Jerusalems hatte die X Fretensis dort ihr Hauptquartier, von wo aus sie die Belagerung und Eroberung der restlichen Festungen der Aufständischen durchführte. 38 Danach war die X Fretensis in erster Linie mit der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung innerhalb der Provinz betraut, nicht aber mit Grenzsicherungsaufgaben. 39 Ihre Präsenz ist in mehreren Städten Judäas und - zumindest zu Beginn des 2. Jh. - auch in Gadara gesichert. 40 Ob die X Fretensis eine Beziehung zur Dekapolis und zu Gerasa besaß, lässt sich nicht wirklich beantworten: Hier hängt alles von der Datierung und der Art der römischen Präsenz in den 70er und 80er Jahren ab. [37] Für die Einschätzung ist es nicht unwichtig, dass die Bauinschrift am Nordwesttor einen Sieg des Traianus, des ehemaligen Legaten der X Fretensis, erwähnt; 41 ein Zusammenhang ist also denkbar. Eines allerdings ist deutlich: Keine der in Syrien stationierten Legionen lag näher am südsyrischen Gerasa als die judäische X Fretensis. Wenn im Raum Gerasa zur Wahrung der römischen Interessen im Zusammenhang mit der Ver‐ waltung der Dekapolis und dem Ausbau der südsyrischen Verkehrswege nach dem Ende des jüdischen Krieges eine militärische Präsenz notwendig gewesen sein sollte, dann wäre die Entsendung einer Vexillation der X Fretensis die nächstliegende und wahrscheinlichste Möglichkeit gewesen. 42 In Palästina je‐ 332 Legionsschweine in Gerasa <?page no="333"?> Eck, Rom und die Provinz Iudaea/ Syria Palaestina: Der Beitrag der Epigraphik, in: A. Oppenheimer (Hg.), Jüdische Geschichte in hellenistisch-römischer Zeit. Wege der Forschung: Vom alten zum neuen Schürer (Schriften des Historischen Kollegs 44), München 1999, 237-263. Zu den römischen Truppen in Arabia vgl. Speidel, The Roman Army (s. Anm. 19). 43 Vgl. den vorläufigen Bericht von M. Avi-Jonah, The Excavations at Sheikh Bader (1949), BIES 15 (1950) 19-24. Vgl. auch D. Barag, Brick Stamp-Impressions of the Legio X Fretensis, BoJ 167 (1967) 244-267, hier 247-250. 44 Erhalten sind: LX; LXF; LCXF; LEXFR; LEGXF; LXFRE; LEGXFR sowie Kombinationen von LXF u.ä. mit ANT bzw. ANTONINIANA (Barag, Brick Stamp-Impressions [s. Anm. 43], 253); der Bezug der Bezeichnung „Antoniniana“ zur X Fretensis ist nicht geklärt. 45 Barag, Brick Stamp-Impressions [s. Anm. 43], 255, Abb. 2 Nr. 1 und 2. 46 Vgl. dazu folgende Beispiele: (1) Eber auf Münzen der Aelia Capitolina: G.F. Hill, Catalogue of the Greek Coins of Palestine (Galilee, Samaria, and Judaea), London 1914, 82 Nr. 3 (Hadrian); 87 Nr. 29 (Antoninus Pius); vgl. pl. VIII/ 18; IX/ 8; L. Kadman, The Coins of Aelia Capitolina, Jerusalem 1956, 57 Nr. 6 und 33. - (2) Eber mit Neptun auf denfalls war die X Fretensis seit dem Ende des jüdischen Krieges allgegenwärtig. Unter den verschiedenen Möglichkeiten der konkreten Erfahrbarkeit römischer Truppenpräsenz spielen die visuellen Wahrnehmungen eine bedeutende Rolle, weil Legionsstandarten und -symbole in vielen Formen präsent waren. Neben den öffentlichen Inschriften waren vor allem mit Legionssymbolen versehene Münzprägungen oder Ziegelstempel eine das Alltagsleben bestimmende Form optischer Präsenz, und in dieser Hinsicht ist die X Fretensis ein besonders ergiebiges Beispiel, weil sich zahlreiche Beispiele erhalten haben. Das Hauptsymbol der X Fretensis war der Eber, der auf Ziegelstempeln, Münzprägungen und Gegenstempeln erhalten ist. Etliche Ziegelstempel der X Fretensis waren schon im 19. Jh. bekannt, aber der größte Fund wurde 1949 bei Ausgrabungen in Sheikh Bader, dem heutigen Givat Ram, gemacht, wo M. Avi-Yonah eine Legionsziegelei der X Fretensis ausgegraben hatte. 43 Neben zahlreichen Ziegeln verschiedener Formen mit unterschiedlichen Kürzeln der Legionsbezeichnung 44 gibt es auch einige Rundstempel, die unter einem ve‐ xillum und der Legende LEG·X·F[R? ] einen nach rechts laufenden Eber zeigen (s. Abb. 1). 45 [38] Diese Stempel stammen aus Jerusalem, waren aber mit Sicherheit weiter verbreitet und an allen Bauwerken zu sehen, an denen Abteilungen der legio X Fretensis mitgebaut hatten. Anders als die Ziegelstempel, die nicht datierbar sind und theoretisch aus allen Phasen der judäischen Stationierung der X Fretensis stammen können, sind die Münzen und Gegenprägungen, die den Eber als Legionssymbol zeigen, datierbar; sie stammen aus allen Phasen der Präsenz. Neben einigen (späten) Münzprägungen, die den Eber in Zusammenhang mit der Legionsstandarte der legio X Fretensis zeigen, 46 sind vor allem die zahlreichen Gegenprägungen aus 333 Legionsschweine in Gerasa <?page no="334"?> einer Münze von Neapolis (Trebonianus Gallus, 251-254 n. Chr.): S. Ben-Dor, Quelques remarques à propos d’une monnaie de Néapolis, RB 59 (1952) 251-252. - (3) Münze von Aelia Capitolina mit Eber von rechts nach links über vexillum (Elagabal): Hill, a. a. O., pl. XL/ 10; Kadman, a. a. O. 57, Nr. 128. - (4) Eber mit darüber fliegendem Adler mit vexillum und LXF (Herennius Etruscus, 249-251 n. Chr.): Kadman, a. a. O., Nr. 186. 47 Die ältesten Beispiele sind Stempel auf Münzen des Jahres 68 aus Caesarea, vgl. D. Barag, Countermarks on Coins of the Legio X Fretensis, in: A. Kindler (ed.), The Patterns of Monetary Development in Phoenicia and Palestine in Antiquity, Tel Aviv u. a. 1967, 117-125. 48 F. de Saulcy, Lettre à M. Léon Renier sur une monnaie antique contremarquée en Judée, RAr 20 (1869) 254. Vgl. dazu Ritterling, Legio (s. Anm. 34) 1671. 49 Die I Italica, die 69/ 70 n. Chr. aufgestellt wurde und in Moesien stationiert war, hatte den Eber und den Stier (Ritterling, Legio [s. Anm. 34], 1408); die II Adiutrix, die für den Bataverkrieg ausgehoben wurde und in Novimagus/ Nijmegen stationiert war, hatte den Pegasus und nur sehr gelegentlich den Eber (Ritterling, a. a. O. 1439); die in Illyrien stationierte XX Valeria Victrix hatte nur den Eber (Ritterling, a. a. O. 1769). 50 Plinius, Nat. Hist. 10,16. Die auf A. von Domaszewski zurückgehende Vermutung, dass der aper Quirinius repräsentiere (Die Religion des römischen Heeres, Westdt. Zs. für Geschichte und Kunst 14 [1895] 118-121), ist neuerdings von S. Dušanić und Ž. Petković in Frage gestellt worden, die den aper mit Ceres in Verbindung bringen (The Five Standards of the Pre-Marian Legion. A Note on the Early Plebeian militaria, Klio 85 [2003] 42-56). Ungeachtet der Zuschreibung an eine Gottheit ist ihre Beobachtung von Bedeutung, dass die Reihung der fünf theriomorphen Standarten bei Plinius (aquila, lupus, Minotaurus, equus, aper) die Gliederung des Heeres in drei Infanterie- und zwei (weniger geachtete) Kavallerieeinheiten widerspiegelt: Wie der equus repräsentiert der aper eine berittene Einheit. Noch die kaiserzeitlichen Gegenprägungen zeigen den Eber in vollem Galopp. 51 Th. Reinach, Mon Nom est Légion, REJ 47 (1903) 172-178, hat als erster diesen Zusam‐ menhang hergestellt: Die Schweinepisode repräsentiere die latente Aggression gegen die römischen Unterdrücker. Palästina von Bedeutung, weil sie bereits in die Zeit unmittelbar nach dem jüdischen Krieg datierbar sind. 47 Schon früh wurde die Ansicht geäußert, dass das Eber-Symbol gezielt für die judäische Besatzungslegion gewählt wurde, um die religiösen Gefühle der Juden zu beleidigen. 48 Das ist jedoch wenig wahrscheinlich, denn auch andere Legionen haben den Eber auf ihren signa, die in keinerlei Verbindung mit Judäa oder den Juden stehen. 49 Tatsächlich ist der aper eines der alten Legionssymbole aus der Zeit vor Marius, 50 das für die X Fretensis bei ihrer Gründung offensichtlich traditionell übernommen wurde. [39] Diese Beziehung zwischen dem Legionseber der X Fretensis und den Schweinen aus Mk 5 ist schon länger gesehen und gelegentlich zur Interpretation herangezogen worden. 51 Am ausführlichsten hat Gerd Theißen eine ‚politische Lektüre‘ von Mk 5 begründet. Er verweist nicht nur generell auf die Ebersymbolik der X Fretensis, sondern versteht auch die Aufforderung der Gerasener an Jesus, ihr Gebiet zu verlassen (Mk 5,17), als Reflex auf Ereignisse zu Beginn des jüdischen 334 Legionsschweine in Gerasa <?page no="335"?> 52 G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Freiburg/ Göttingen 2 1992, 117 f. Im Unterschied zu anderen Dekapolisstädten haben sich die Gerasener im Jahr 66 nicht an Judenpogromen beteiligt, sondern die Juden friedlich aus ihrem Gebiet ausgewiesen (Josephus, Bell. II 480). Vgl. M. Goodman, Jews in the Decapolis, Aram 4 (1992) 49-56. 53 So z. B. Merklein, Heilung (s. Anm. 2), 1028: „der römische Name des Dämons (dient), noch dazu in Verbindung mit den Schweinen, der weiteren Qualifizierung und Konkretisierung seines heidnischen Wesens.“ 54 Auch Theißen hält sie (trotz der von ihm betonten Beziehung von Mk 5,17 auf Josephus, Bell. II 480! ) für einen „geographischen Fehler“ (Lokalkolorit [s. Anm. 52], 116). 55 Merklein, ebd.; vgl. Theißen, Lokalkolorit [s. Anm. 52], 117: Der Dämon „wird ins Meer gejagt - vielleicht, weil man dort den Eingang zur Unterwelt vermutete, gewiß aber auch, weil der Wunsch, eine ganze Legion ins Meer zu jagen, sich so erzählerisch Ausdruck veschaffen konnte.“ 56 Ritterling, Legio (s. Anm. 34), 1671 und 1673. Alle caesarischen Legionen trugen den Stier im Wappen, das Tierkreiszeichen der Venus, auf die sich die gens Iulia zurückführte, vgl. L.J.F. Keppie, The Making of the Roman Army: From Republic to Empire, London 1984, 139. Krieges. 52 Wirklich durchgesetzt hat sich diese Deutung jedoch nicht, was vermut‐ lich zwei Gründe haben dürfte: Zum einen wird Mk 5 in erster Linie als Text über die Beseitigung heidnischer Unreinheit verstanden, was für die politischen Töne kaum Raum lässt. 53 Zum anderen wird die Lokalisierung der Episode in Gerasa 54 historisch nicht wirklich plausibel: Erstens ist der Bezug zu den Ereignissen des jüdischen Kriegs nicht so recht nachvollziehbar, denn die jüdischen Aktionen in der Dekapolis im Jahr 66 waren nicht antirömisch motiviert, wie denn auch die Römer in diese Auseinandersetzungen gar nicht eingegriffen haben. Und zweitens bleibt auch der Bezug zwischen dem gerasenischen Exorzismus und dem weit entfernten See Genezareth unklar. Die Folge ist, dass die Schweine eben doch wieder nur sehr allgemein als Repräsentation heidnischer Unreinheit verstanden werden, zu der dann die spezifisch militärischen Aspekte nicht passen: Die Assoziation heidnischer Unreinheit bedarf des militärischen Hintergrundes nicht. 55 Wenn aber die Beziehung zwischen den gerasenischen Schweinen und dem Legionseber [40] der X Fretensis für das Verständnis des Ganzen verzichtbar ist, bleibt sie am Ende insgesamt fraglich. Allerdings erlauben die Legionssymbole der X Fretensis noch weitere Auf‐ schlüsse, die eine spezifische Beziehung zu den gerasenischen Schweinen in hohem Maß wahrscheinlich machen. Denn die X Fretensis führte außer dem Eber noch eine Reihe weiterer Symbole in ihren Fahnen: Für keine andere Legion ist eine solche Fülle von Symbolen bezeugt. Neben dem Stier, der gelegentlich auftaucht und als Hinweis auf den caesarischen Ursprung der Legion gedeutet wurde, 56 fallen vor allem eine Reihe von Symbolen mit ausgesprochen mari‐ timem Charakter auf. Bezeugt sind Neptun, ein Kriegsschiff und ein Delphin. 335 Legionsschweine in Gerasa <?page no="336"?> 57 Prägung des Trebonianus Gallus, vgl. Ben-Dor, Remarques (s. Anm. 46). Vgl. auch die aus Gadara (oder vielleicht Skythopolis) stammende Inschrift aus dem Jahr 130 n. Chr. (CIL III 13589 = 14155 14 ); zur Herkunft dieser Inschrift vgl. B. Lifshitz, Legions romaines en Palestine, in: J. Bibauw (ed.), Hommages à Marcel Renard II, Brüssel 1969, 458-469, hier 460. 58 Vgl. Barag, Countermarks (s. Anm. 47), pl. IX, Nr. 8 und 14 bzw. 10 (LXF bzw. XF); pl. X, Nr. 12 und 13 (Schiff); pl. IX, Nr. 8, 9 und 11 (Eber mit Delphin). 59 Zuerst Th. Mommsen, Res Gestae Divi Augusti, Berlin 2 1883, 69; vgl. Ritterling, Legio (s. Anm. 34) 1671; Keppie, Making (s. Anm. 56), 16.138.208 f. Zur Geschichte der X Fretensis vgl. E. Dabrowa, Legio X Fretensis, in: Y. Le Bohec (ed.), Les Légions de Rome sous le Haut-Empire I, Lyon 2000, 317-325; ders., Legio X Fretensis (s. Anm. 37), 11-21. 60 Vgl. Appian, Bell. Civ. 5,464-467; Cassius Dio 49,5,3-5. Plinius’ Bericht von Octavians Selbstmordabsicht (Nat. Hist. 7,148) macht die Schwere dieser Niederlage deutlich. 61 Cassius Dio 49,9 f.; Appian, Bell. Civ. 5,489-503; ebd. 491 ist die infanteristische Kampftechnik mit dem harpax, einer Art Enter-Harpune, beschrieben; vgl. dazu H.D.L. Viereck, Die römische Flotte: Classis Romana, Herford 1975, 95 f. Der siegreiche Ausgang des Krieges gegen Sextus Pompeius war für Octavian von entscheidender Bedeutung, wie sich auch daran zeigt, dass Agrippa in der Folge hoch dekoriert wurde, vgl. Sueton, Aug. 25,3; Velleius Paterculus 2,81,3; Cassius Dio 49,14,3. Während Neptun, der auf der Münze aus Neapolis und einer Inschrift aus Gadara gut erkennbar ist, 57 auf den Gegenprägungen nicht eindeutig nachweisbar ist, sind die anderen Symbole vor allem auf Gegenstempeln eindeutig und sehr weit verbreitet. Die uns interessierenden Stempel finden sich vor allem auf Münzen aus Samaria-Sebaste, die zum großen Teil aus der Zeit Domitians stammen: Auf dem Obvers ist ein rechteckiger Gegenstempel (6 × 3 mm) mit LXF bzw. XF aufgebracht, auf dem Revers die große Galeere (6,5 × 4,5 mm) mit vier Rudern. Häufig findet sich auf dem Revers aber - allein oder mit dem Schiffsstempel - ein rechteckiger Stempel mit einem nach rechts laufenden Eber unter der Legende L·X·F über einem (nicht immer sofort erkennbaren) nach rechts schwimmenden Delphin (s. Abb. 2-4). 58 Die maritime Symbolik war für das Selbstverständnis der Legion entschei‐ dend und hängt unmittelbar mit dem Ehrennamen Fretensis zusammen. Sie bezieht sich auf die Beteiligung der Legion an Octavians sizilischem Seekrieg gegen Sextus Pompeius im Sommer 36 v. Chr. im Fretum Siculum, der Straße von Messina. 59 Nachdem Octavian zunächst bei Tauromenium vernichtend geschlagen worden und selbst nur knapp mit dem Leben davon gekommen [41] war, 60 brachten die beiden Seeschlachten von Mylae und Naulochus, in denen Octavians Truppen unter Agrippas Befehl als Marineinfanteristen gekämpft hatten, die entscheidende Wende. 61 Offensichtlich war die X Fretensis an diesen Schlachten maßgeblich beteiligt: Sie ist die einzige Legion, deren Name an diesen Seekrieg erinnert, und nur sie trägt die maritimen Symbole in ihren vexilla. Dieser Erfolg begründete auch noch nach Jahrzehnten des Einsatzes in küstenfernen Gebieten (Syrien, Armenien, Judaea) die bleibende Identität 336 Legionsschweine in Gerasa <?page no="337"?> 62 Diese Deutung bei A. Héron de Villefosse/ E. Michon, Musée du Louvre, département des Antiquités grecques et romaines. Acquisitions de l’année 1898, Bulletin de la Société Nationale des Antiquaires de France (1898) 418; (1899) 378. 63 CIL III 13589 (= 14155 14 ): Der Text der Inschrift lautet: Imp(eratori) Caes(ari) Traian(o) / Hadriano Avg(usto) / P(rimus) P(ilus) Leg(ionis) X Fr(etensis) et Coh(ors) I. 64 Auch hier ist die militärische Sprache deutlich: Zu der Formulierung in Mk 5,12 f. (πέµψον … ὡς δισχίλιοι) vgl. beispielsweise Josephus’ Bericht von der Entsendung Traians und einer Vexillation der X Fretensis nach Japha (Bell. III 289): Τραιανὸν … ἐκπέµπει παραδοὺς αὐτῷ … πεζοὺς δὲ δισχιλίους. Der Mk-Text klingt wie eine Parodie des Josephus-Berichts; allerdings sind Vexillationen von 2000 Mann auch sonst häufig erwähnt, z. B. Bell. II 610; III 68.500 u. ö. der X Fretensis, wie eine Weihung des primus pilus und der 1. Kohorte der X Fretensis für Hadrian bezeugt. Der Text der Inschrift ist gerahmt durch zwei stark herausgearbeitete figürliche Reliefs. Auf der rechten Seite ist Victoria, auf einen Schiffsschnabel tretend, dargestellt. 62 Links hat Neptun, den Dreizack in der einen, einen Fisch (Delphin? ) in der anderen Hand, seinen rechten Fuß auf ein Kriegsschiff gesetzt (s. Abb. 5). 63 Deutlicher als in dieser Weihung lässt sich die identitätsstiftende Bedeutung des lange zurückliegenden Seesieges für die Angehörigen der X Fretensis kaum präsentieren. Das Selbstbild, das diese maritimen Symbole propagierten, beinhaltete demnach, dass sich die Soldaten der Legion nicht einfach als aggressive apri verstanden, sondern zugleich den Anspruch erhoben, sich als ‚Eber‘ zu Lande und zu Wasser siegreich behaupten zu können. Es ist genau dieses Selbstbild, das die Legionsstandarten, Ziegelstempel und Münzen für jedermann sichtbar nach außen präsentierten. IV. Das Profil der Erzählung Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt die mk Exorzismuserzählung ihr beson‐ deres Profil, denn jetzt werden die ebenso charakteristische wie befremdliche Schweineepisode und die Zusammengehörigkeit ihrer einzelnen Elemente ver‐ ständlich: Die Tatsache, dass der unreine Geist „Legion“ heißt, weil er „viele“ ist; dass Jesus ihn in eine Herde von 2000 Schweinen beordert; 64 [42] dass diese Schweine in militärischer Formation galoppieren; und natürlich, dass die Legions-Eber, entgegen ihrem öffentlich propagierten Selbstbild, keineswegs wie Delphine oder Kriegsschiffe im Wasser zu Hause sind, sondern im See ertrinken: Drastischer lässt sich die Überwindung des unreinen Geistes in der Gegend von Gerasa durch Jesus kaum darstellen. Zugleich macht die Verbin‐ dung der Schweineepisode mit dem See Genezareth den Bezug zur Symbolik der X Fretensis plausibel. Für das Verständnis von Mk 5,1-20 ergibt sich damit eine Reihe von Folgerungen: 337 Legionsschweine in Gerasa <?page no="338"?> 65 Zum Zusammenhang von Truppenstationierung und urbanem Ausbau vgl. O. Stoll, Garnison und Stadt im römischen Syrien und der Arabia: Eine Symbiose im Spiegel städtischer Münzprägungen und der Epigraphik, in: ders., Römisches Heer und Gesell‐ schaft. Gesammelte Beiträge 1991-1999, Stuttgart 2001, 59-76. 66 Vgl. W.H. Kelber, Mark’s Story of Jesus, Philadelphia 6 1988, 30 ff.; Klinghardt, Boot (s. Anm. 9), 187 ff. 67 In Mk 7,24 ff. ist die heidnische Identität der Frau gleich mehrfach herausgehoben (als Griechin und Syrophönizierin, 7,26) und in der Geschichte selbst zum zentralen Thema geworden (Kinder - Hunde). In Mk 8,1-9 ist die Menge, in charakteristischem Unterschied zu 6,34 (führerlose Schafe), immerhin noch klar als nichtjüdisch zu 1. Die erste bezieht sich auf die historischen Umstände der Abfassung des Mk. Auch wenn die nachweisbare römische Truppenpräsenz in Gerasa (die ala I Thracum Augusta) möglicherweise schon in die Zeit vor dem jüdischen Krieg zurückreicht, setzt doch die Selbstbezeichnung des unreinen Geistes als „Legion“ und die damit verbundene Eber-Metaphorik die Stationierung der X Fretensis in der Provinz Judäa voraus: Die Schweineepisode gewinnt ihre Plausibilität erst in der Zeit nach 70 n. Chr. Stellt man die römischen Interessen an dem südsyrisch-arabischen Raum, die Etablierung der Dekapolis als προσθήκη der Provinz Syria und das ökonomische Engagement der Römer in Gerasa seit Anfang der 80er Jahre in Rechnung, dann lassen sich daraus noch weitere Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen besitzt eine Entstehung dieser Episode etwa seit 80 n. Chr. die größte Plausibilität, zum anderen wird verständlich, warum Mk den Exorzismus gerade in Gerasa lokalisiert. Hier konzentrierte sich das römische Engagement für den Ausbau und Aufschwung der südsyrischen Städte in der Dekapolis. 65 Dass Mk dabei das syrisch-nabatäische Gerasa und die apri der in Judaea stationierten X Fretensis miteinander verbunden hat, könnte durchaus auf einer historischen Reminiszenz beruhen: Es ist ohne weiteres denkbar, dass eine Vexillation der X Fretensis zeitweilig in Gerasa stationiert und an Bau- und Verwaltungsaufgaben beteiligt war. Für die Argumentation ist diese Annahme allerdings nicht notwendig: Wenn Mk aus galiläischer Perspektive schrieb, dann war ihm die Konzentration des römischen Engagements in Gerasa ebenso geläufig wie die Legionseber auf den Fahnen der X Fretensis, die er in dieser Erzählung in Szene setzte. [43] 2. Für die mk Komposition lag auf der „anderen Seite“ des Sees tatsächlich Heidenland - das zeigen die Überfahrten über den See mit hinreichender Deutlichkeit. 66 Allerdings zielt Mk 5,1-20 nicht primär auf die Beseitigung der Unreinheit heidnischer Götzendiener im Licht von Jes 65; es geht also nicht um die exemplarische Inauguration der Heidenmission durch Jesus. Denn anders als in Mk 7,24-30 oder 8,1-9 fehlt in 5,1-20 jeder Hinweis auf die religiöse Identität der Beteiligten. 67 Auch wenn man zumindest für die Schweinehirten 338 Legionsschweine in Gerasa <?page no="339"?> erkennen: Sie befinden sich in der „Wüste“ und sind „von weit her“. Dass umgekehrt ein πνεῦµα ἀκάθαρτον nicht auf spezifisch heidnische Unreinheit schließen lässt, zeigt Mk 1,23 ff. 68 Bei der Bitte der Gerasener spielt offensichtlich die Furcht vor den Römern keine Rolle, obwohl dies auf der Sachebene nahe gelegen hätte (vgl. Theißen, Lokalkolorit [s. Anm. 52], 117 f.) und sich auf der Bildebene auch kohärent hätte darstellen lassen, wie Mt 7,6b zeigt (Furcht, von Schweinen zerrissen zu werden). 69 Z. B. Gnilka, Mk I (s. Anm. 10), 200. (5,14a) vermuten kann, dass es sich in der Perspektive des Mk oder seiner ersten Rezipienten kaum um Juden gehandelt haben kann, wird die religiöse Identität weder für sie noch für den Geheilten oder die Stadtbewohner in irgendeiner Weise thematisiert. Vielmehr ist Mk am Gegensatz zwischen 5,3 f. und 5,17 interessiert. Obwohl die Gerasener die Besessenheit mit ihren gemeinschaftss‐ törenden Folgen wahrnehmen und zu bändigen (δαµάσαι)“ suchen, sind sie am Ende mit den Folgen des Exorzismus nicht einverstanden: Der Preis ist ihnen zu hoch, weswegen sie Jesus bitten, die Gegend zu verlassen. Auf der Ebene der Erzählung ist diese Bitte durch den Verlust ihrer Herden motiviert: Die Menschen aus der Stadt und den Gehöften fürchten den finanziellen Verlust. Diese ambivalente Haltung wird durch den politischen Hintergrund erklärbar: Die militärische Präsenz der Römer in der Dekapolis konnte durchaus als Störung des sozialen Lebens wahrgenommen werden, die nicht zu bändigen war. Aber für die Mehrheit - sicher nicht für den Geheilten - werden am Ende die ökonomischen Vorteile der römischen Präsenz überwogen haben, die gerade für Gerasa in den 70er und 80er Jahren so eindrücklich bezeugt ist. 68 3. Es ist aufgefallen, dass die Jünger in dieser Episode überhaupt keine Rolle spielen. 69 Tatsächlich ist dies aufgrund des größeren kompositorischen Profils auch gar nicht erwartbar. Denn Mk erzählt in einer groß angelegten Komposi‐ tion von 3,7 bis 8,21, wodurch die Existenz von Jüngern gekennzeichnet ist: Gemeinschaft mit Jesus („mit ihm sein“) und Aussendung zu Verkündigung und Exorzismus (3,14 f.). Von 3,20 bis 6,6a wird der erste Teil dieses [44] Programms entfaltet: Die Jünger sind „mit Jesus“. Das beinhaltet zunächst die Belehrung im Haus und im Boot (3,20-35; 4,1-34), danach (4,35 bis 6,6) erleben die Jünger als unbeteiligte Zeugen, was „Ausgesendet-werden“ beinhaltet: Die gefährliche Überfahrt zu neuen Ufern (4,35-41), die auch in heidnisches Gebiet führt; Exorzismus und Ablehnung durch die, die im weiteren Sinn davon betroffen sind (5,1-20); aber auch in der galiläischen Heimat garantiert die drastische Heilung und Auferweckung von Israelitinnen (5,21-43) nicht automatisch den Erfolg, auch hier erfahren die Jünger mit Jesus Ablehnung (6,1-6a). Erst nachdem die Jünger dieses Programm wie Hospitanten mitverfolgt haben, ohne selbst aktiv zu werden, werden sie in 6,6b zu eigenem Tun ausgesandt. Und erst ab 7,1 ff. 339 Legionsschweine in Gerasa <?page no="340"?> 70 Vgl. Klinghardt, Boot (s. Anm. 9), 191-200. 71 Vgl. die Liste der wichtigsten literarischen Auffälligkeiten bei Merklein, Heilung (s. Anm. 2), 1022. wird deutlich, dass die Aussendung sich auch auf Heiden bezieht, wobei nach der grundsätzlichen Klärung der entscheidenden Probleme (7,1-23) wiederum Jesus zuerst alleine agiert (7,24-37), bevor die Jünger zu eigenem Tun aufgefordert werden (8,1-9). 70 Im Rahmen dieser Komposition hat 5,1-20 also die Funktion, deutlich zu machen, dass keineswegs alle Menschen mit Begeisterung auf die Befreiung von unreinen Geistern reagieren: Manche leben sehr gut von ihnen. Die Intention dieser Erzählung ist daher eher pädagogischer als politischer Art: Intendiert ist nicht die Aufforderung zum Kampf gegen die römischen Besatzer. Vielmehr bekommen die Jünger - und mit ihnen: die Leser - gezeigt, dass Jesus zwar die römischen Legionsschweine ertränken und auf diese Weise gestörte Sozialverhältnisse wieder herstellen kann, gleichwohl aber abgelehnt wird. Mit anderen Worten: Trotz unbestreitbarer exorzistischer Vollmacht (die ja dann die Jünger selbst unter Beweis stellen: 6,13) ist der Erfolg der Mission noch lange nicht garantiert. Der Grund für den Misserfolg ist dabei, ganz analog zu 3,22 ff., nicht mangelnde Anerkennung der exorzistischen Vollmacht. Vielmehr macht Mk 5,1-20 deutlich, dass die Begleiterscheinungen solcher charismatischer Erweise für das nur mittelbar betroffene Umfeld der eigentlichen Adressaten der Verkündigung so irritierend und ihre Folgekosten so hoch sein konnten, dass man auf die Beseitigung verunreinigender und nicht zu bändigender Geister lieber verzichtete. 4. Wenn diese Deutung stimmt, dann sind alle literarkritischen Vorschläge zur Herausschälung einer ältesten Fassung obsolet: Für die Wirkung der mk Erzählung sind alle Elemente in gleicher Weise vonnöten. (a) Die eigenartige Rahmung der Schweineepisode durch die Schilderung der Situation des Besessenen, zu der ja auch die narrativen Isotopien von 5,3 f. (Bemühungen der Leute aus der Stadt um den Besessenen) und 5,14 ff. (Reaktion auf den Exorzismus) gehören, ist unverzichtbar, weil sie die primäre Intention der Erzählung im Zusammenhang der mk Komposition enthält. Aber dieser Rahmen wird nur durch die zentrale Schweineepisode gehalten und ist ganz auf sie ausgerichtet. [45] (b) Auch die eigenartigen Doppelungen und Inversionen 71 (V. 8 nach V. 7; die Entsprechung von V. 10 und V. 17; Trennung von V. 10 und V. 12) sind kein Hinweis auf Schnittstellen, die Wachstum anzeigen; es handelt sich vielmehr um Signale, die notwendig sind, um die zentrale Epipompe herauszustreichen: Die ist hier im Unterschied zu Mk 1,23 ff. notwendig, weil sie die Befreiung von 340 Legionsschweine in Gerasa <?page no="341"?> 72 Merklein, ebd. dem Legions-Dämon so ins Bild setzt, dass zugleich der Wunsch der Gerasener verständlich wird, Jesus möge ihr Gebiet verlassen. (c) Das Schicksal des Geheilten und sein abschlägig beschiedener Wunsch, mit Jesus ins Boot steigen zu dürfen, liegen im Rahmen der mk Komposition nahe: Einerseits ist klar, dass jemand, den Jesus auf so drastische Weise von seiner Besessenheit (bzw. Besatzung) befreit hat, sein Jünger werden und „mit ihm sein“ will (5,18: ἵνα µετ’ αὐτοῦ ᾖ): Das ist schließlich die erste Bestimmung des Jüngerseins (3,14: ἵνα ὦσιν µετ’ αὐτοῦ). Andererseits zielt aber die mk Komposition auf den Lernprozess der Zwölf, deren Erfahrungen hier den Leserhorizont reflektieren, so dass die Hinzunahme des Geheilten an dieser Stelle nur stören würde; immerhin tut er das, was am Ende von den Jüngern erwartet wird: Er verkündet, was an ihm geschehen ist (5,20). Dass die Schlusspassage so „auffallend zerdehnt“ 72 erscheint, ist folglich in der Dominanz der Gesamtkomposition begründet, in welche die Gerasenerepisode eingepasst ist. So gesehen geht Mk 5,1-20 völlig auf das literarische Konto des Mk: Der Text ist nicht durch Addition verschiedener „Quellen“ oder durch schrittweises Wachstum entstanden, sondern am ehesten als eine bearbeitende Nachschrift von Mk 1,23 ff. mit den für die Pointe wesentlichen Erweiterungen zu verstehen. 5. Am Ende zeigt sich also, dass Mk 5,1-20 durchaus symbolisch zu verstehen ist. Damit passt diese Perikope sehr gut zu ihrem näheren Kontext, in dem die Hinweise auf das Scheitern der Jünger in dem von Jesus inaugurierten Lernprozess (6,52; 8,17-21) ja auf die symbolische Tiefenstruktur der ganzen Einheit verweisen. Die symbolischen Konnotationen, die den Abschnitt 5,1-20 semantisch erschließen, entfalten ihre Wirkung allerdings nicht über seine Tiefenstruktur, sondern nur durch die Kenntnis textexterner Elemente, die zum kulturellen Wissen und zur visuellen Erfahrungswirklichkeit der ersten Rezipienten gehörten: Sie sind vom Verfasser gezielt eingesetzt und sollen von den Lesern bei ihrer Lektüre verstanden werden. Dabei muss die historisch-kri‐ tische Interpretation anhand der materiellen Kultur erst rekonstruieren, was die ersten Rezipienten bei der Lektüre der Schweineepisode ganz selbstverständlich substituiert haben: Dass die ertrinkenden Schweine die schwimmenden Legi‐ onseber der X Fretensis karikieren. 341 Legionsschweine in Gerasa <?page no="342"?> 73 Abb. unter: www.bible-history.com/ jewishtemple/ JEWISH_TEMPLEArchaeology.htm (22. März 2006). Zeichnung Gunther Wölfle. 74 Die Abb. 2-4 von Münzen unter: www.romancoins.info/ CMK-legionary-East.htm (22. März 2006). Zeichnungen Gunther Wölfle. [46] Abb. 1: Ziegelstempel der legio X Fretensis aus Jerusalem. 73 Rundstempel mit LEG·X[·F], darüber vexillum, darunter Eber nach rechts. Abb. 2: Revers mit zwei Gegenprägungen: Eber nach rechts über Delphin nach rechts; darüber L·X·F. Darüber gestempelt (auf dem Kopf): Rechteck mit vierrudrigem Schiff. 74 342 Legionsschweine in Gerasa <?page no="343"?> [47] Abb. 3: Gegenstempel (Ausschnitt): Rechteck mit Eber nach rechts unter L·X·F über Delphin. Abb. 4: Rechteckiger Stempel mit Eber nach rechts unter LXF über Delphin nach rechts (auf Revers). 343 Legionsschweine in Gerasa <?page no="344"?> 75 Abbildungen der Inschrift in: Ch. Clermont-Ganneau, Études d’archéologie orientale I, Paris 1880, 169. - G. Cornfeld, Daniel to Paul. Jews in Conflict with Graeco-Roman Civilization. Historical and Religious Background, Tel Aviv 1962, 347. Zeichnung Gunther Wölfle. [48] Abb. 5: Neptun auf der Weihinschrift für Hadrian CIL III 13589 (Ausschnitt). 75 344 Legionsschweine in Gerasa <?page no="345"?> 1 Zu den grundlegenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten gehören S. Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca (NY) 2 1980; G. Genette, Narrative Discourse Revisited, Ithaca (NY) 1988; W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636), München 3 1990; F. Kermode, Poetry, Narrative, Erlesenes Verstehen Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, in: ZNT 21 (2008), 27-37. 1. Wie Lesen bildet Lesen bildet. Die Lektüre vermittelt zunächst Informationen, die selbst dann innovativ sein können, wenn sie das schon immer Gewusste aufs Neue bestä‐ tigen oder an Altbekanntem neue Aspekte zeigen. Aber Bildung ist mehr als die Mehrung eines Wissensbestandes. Bildung entsteht, wenn die Leser sich nicht nur irgendwelche Sachverhalte aneignen, sondern sich zu dem, was sie lesen, auch selbst in ein Verhältnis setzen. Für das Verstehen der Evangelien war dieser zweite Aspekt immer gegeben, wie die breite Wirkungsgeschichte zeigt. Die folgenden Überlegungen zur Leserlenkung der Evangelien gehen davon aus, dass dieser Aspekt von „erlesener Bildung“ nicht nur eine gegenüber den Ausgangstexten beliebige Leistung kreativer Applikation darstellt, sondern von den Autoren intendiert war: Sie wollten nicht nur archivarisch Informationen (über Jesus, seine Geschichte usw.) sicherstellen, sondern auch das Selbstver‐ ständnis ihrer Leser verändern. Wenn die Auslegung damit rechnet, dass die Evangelien mit ihren Lesern rechnen, muss sie nach der impliziten Didaktik der Evangelien fragen, also nach den Wirkweisen, durch die sie bei ihren Lesern ein umfassendes Verstehen erzielen wollen. Nun ist die Antwort auf die Frage, auf welche Weise die Evangelien bei ihren Lesern Verstehen erzielen wollen, banal: Natürlich dadurch, dass sie ihre Geschichte gerade so erzählen, wie sie sie erzählen. Für die Beschreibung dieses »Wie« sind die grundlegenden Differenzierungen der Erzählanalyse, die in den letzten 20 Jahren in der Exegese Bedeutung gewonnen haben, ausgesprochen hilfreich. 1 Zunächst ist zwischen dem realen und dem impliziten Autor bzw. den <?page no="346"?> History, Oxford 1990. Charakteristisch für die exegetische Rezeption in den Evangelien sind etwa: M. A. Powell, What Is Narrative Criticism? , Minneapolis 1990 (mit der älteren Lit. zum Narrative Criticism); R. Helms, Gospel Fictions, New York 1988; W.H. Kelber, Mark’s Story of Jesus, Philadelphia 5 1987; D. Rhoads/ J. Dewey/ D. Michie, Mark As Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Minneapolis 2 1999; F. Kermode, The Genesis of Secrecy. On the Interpretation of Narrative, Cambridge (MA)/ London 1979; J.D. Kingsbury, Conflict in Luke, Minneapolis 1991 (s. Rez. Schneider, ThRev 88/ 1992); E.S. Malbon, Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, San Francisco u. a. 1986; Ph. Sellew, Composition of Didactic Scenes in Mark’s Gospel, JBL 108 (1989), 613-634; Ch.H. Talbert, Reading Luke. A Literary and Theological Commentary, New York 1982. realen und den impliziten Lesern zu unterscheiden: Über die Kommunikation zwischen dem realen Autor und den realen Lesern wissen wir so gut wie nichts, über die implizite Kommunikation dagegen eine ganze Menge, weil sie sich durch eine rezeptionsästhetische Analyse aus dem Text erheben lässt. Dabei sind die beiden Aspekte zu unterscheiden, die im Begriff „Rezeptionsästhetik“ miteinander verbunden sind: Auf der Seite der Textproduktion lässt sich die intendierte Lesestrategie an den ästhetischen Signalen des Textes ablesen; dafür stehen typische Parameter zur Verfügung, z. B. Lokalisierung (Zeit und Ort des Geschehens), Erzählstil, Charaktere, das Verhältnis von Erzählstimme (Diegesis) und Figurenrede (Mimesis), Erzählzeit und -tempo, Perspektive und vieles andere mehr. Auf der Rezeptionsseite geht es um den Prozess des Lesens selbst, also um die Frage, auf welche Weise aus diesen Signalen beim Lesen Sinn entsteht, welche Aktivitäten die Leser für diese Sinnkonstitution aufbringen müssen und wie sie ihre eigene Rolle in diesem Prozess bestimmen. »Verstehen« umfasst in rezeptionsästhetischer Hinsicht also sowohl das Wahrnehmen von Sachverhalten als auch ein Sich-Selbst-Verstehen der Leser - also genau die beiden Pole, die Bildung ausmachen: Lesen bildet. Es liegt auf der Hand, dass eine rezeptionsästhetische Beschreibung der Didaktik der Evangelien bei den (intendierten oder faktischen) Textsignalen einsetzen muss, die die Lektüre steuern, und klar ist auch, dass zwar erst die Summe aller Signale dieses Konzept konstituiert, aber nicht alle in derselben Weise dafür wichtig sind. Ich konzentriere mich daher auf besonders charak‐ teristische Passagen, in denen das Verstehen und die Rolle der Leser selbst thematisiert werden. Und ich beschränke mich (aus Raumgründen) auf zwei Evangelien (Mt und Mk), die sehr verschiedene rezeptionsästhetische Konzepte erkennen lassen. Dass dies für Mk eine größere Ausführlichkeit erfordert als für Mt, ist sachlich durch die höhere Komplexität des mk literarischen Konzepts begründet. 346 Erlesenes Verstehen <?page no="347"?> 2 Zum Redestoff bei Mt gegenüber Mk und Lk vgl. E.M. Boring (The Paucity of Sayings in Mark: A Hypothesis, SBL Seminar Papers 1977, Chico [Ca] 1977, 371-377: 377). 2. Explizite Leser als Hörer Jesu: Mt Wie in den meisten Erzählungen ist auch in Mt gerade das Ende aufschlussreich für das literarische Konzept des Ganzen. Der sog. Tauf- und [28] Missionsbefehl (Mt 28,16-20) fasst, wie die hier besonders dicht begegnenden Kohäsionssignale zeigen, wichtige Erzählstränge zusammen und vergegenwärtigt bei den Lesern die entscheidenden Elemente der ganzen Erzählung. Die Lokalisierung des Geschehens auf dem Berg in Galiläa verweist auf den Berg der Versuchung (4,8), den Ort der Bergpredigt (5,1) und der zweiten Speisung (15,29) sowie auf den Verklärungsberg (17,1.9) und etabliert eine theologische Höhenlinie, die die Zusammengehörigkeit dieser Elemente erweist. Wichtig ist ferner der Umstand, dass hier nicht von den Jüngern im Allgemeinen die Rede ist, sondern von den elf Jüngern: Die genaue Zahlenangabe reflektiert auf die Passionsgeschichte mit dem Verrat und dem Tod des Judas (26,14 ff.; 27,1-10), der aus dem Kreis der Zwölf Apostel ausgeschieden ist. Das Vollmachtswort (28,18) bestätigt, dass Jesus die universale exousia nicht durch Proskynese vor dem Teufel (4,8), sondern durch die gehorsame Erfüllung aller Gerechtigkeit einschließlich seines Todes erlangt hat; zugleich werden die Leser daran erinnert, dass der Grund‐ konflikt, der dem Plot der mt Erzählung Spannung verleiht, vom Anfang bis zum Ende eine Geschichte konkurrierender Machtansprüche ist (Mt 2; 27,11 ff.), die durch die Bestreitung der Vollmacht Jesu mehrfach aktualisiert wird (7,29; 9,6; 21,23-27). Die abschließende Zusage, dass Jesus alle Tage bis zur Vollendung des Äons mit den Jüngern ist (28,20), nimmt dagegen die grundlegende Bestimmung Jesu als des Immanuel nach 1,22 f. wieder auf. Diese hier nur angedeuteten Kohäsionsmerkmale machen deutlich, dass »Matthäi am Letzten« die literarische Anlage und das theologische Profil des ganzen Evangeliums sehr reflektiert zusammenfasst. Erst in dieser Perspektive erhalten zwei weitere Beobachtungen Gewicht, die sich direkt auf die Frage der Leserlenkung und der Didaktik des Mt beziehen. Wichtig ist zunächst, dass Mt - im Unterschied zu den anderen Evangelien - nicht dem Erzähler (narrative voice), sondern Jesus selbst das letzte Wort gibt. Das ist insofern charakteristisch, als Mt der Figurenrede Jesu (Mimesis) im Vergleich zu den Berichten über ihn (Diegesis) deutlich mehr Raum gibt als die anderen Evangelien. 2 Mt präsentiert Jesus in erster Linie als Lehrer, dessen Lehre in verbaler Instruktion besteht. Die zweite Beobachtung hängt damit unmittelbar zusammen: Neben den (elf) Jüngern der Erzählung werden alle Völker genannt, die zu Jüngern gemacht 347 Erlesenes Verstehen <?page no="348"?> 3 Vgl. dazu die Debatte zwischen H. Frankemölle (Die Sendung der Jünger »zu allen Völkern« [Mt 28,19]) und F. Wilk (Eingliederung von „Heiden“ in die Gemeinschaft der Kinder Abrahams) in ZNT 15 (2005), 45-59. 4 Ausweislich dieser Differenzierung ist auch eindeutig, dass die Sendung zu Israel für Mt eine abgeschlossene Phase der Vergangenheit darstellt; vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), EKK I/ 4, Neukirchen-Vluyn u. a. 2002, 451 zu 28,19. 5 U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 75 ff., spricht deshalb von einer »inklusiven Geschichte«. 6 Eine derart lange (drei Kapitel! ), ununterbrochene Rede ist für dramatische Erzähl‐ formen ein non liquet. Eine Untersuchung der dramatischen Repräsentation der Berg‐ werden sollen. Mt unterscheidet also die primären Apostel-Jünger, die Jesus berufen und ausgesandt hat - zuerst zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (10,6), dann zu allen Völkern (28,19) - von den sekundären Jüngern, die erst durch diese Apostel zu Jüngern gemacht werden. Diese sekundären Jünger besitzen kein Referenzobjekt im Text; vielmehr weist die Aussendung der Elf über den Zeithorizont der Erzählung hinaus in die Zukunft und damit in die Gegenwart der Rezipienten: Diese „sekundären“ Jünger sind die impliziten Leser des Mt. Unabhängig von der theologisch nicht unwichtigen Frage, ob panta ta ethne in Bezug auf das Volk Israel inklusiv oder exklusiv gemeint ist, 3 ist deutlich, dass Mt sich die Leserschaft seines Textes unter diesen Jüngern aus den Völkern denkt. Das Verhältnis dieser beiden Jüngergruppen ist komplex, aber deutlich reflektiert: Auf der einen Seite differenziert Mt genau zwischen diesen beiden Gruppen: Die Zwölf (Elf) begegnen nur in sehr bestimmten Situationen des Lebens Jesu und haben da ihren singulären, quasi historischen Ort: Im Rahmen der Aussendung zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (10,1; 11,1), 4 im Zusammenhang der einmaligen, unwiederholbaren Konstellation der Passions‐ geschichte (Einzug in Jerusalem, letztes Mahl und Verrat durch Judas) sowie in der abschließenden Sendung. Die Zwölf (Elf) sind eine unverwechselbare Gruppe, die aus der Perspektive der Leser unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Daneben erwähnt Mt über 50 Mal die Jünger, ohne sie weiter zu spezifizieren; diese Belege schließen in der Regel die Zwölf mit ein, sind aber auf die impliziten Leser-Jünger hin transparent: Sie heißen alle unterschiedslos mathetai. Mt hat dadurch die impliziten Leser als Adressaten der Lehre Jesu mit einbezogen. 5 Ein Paradebeispiel für diese Inklusion ist die literarische Anlage der Bergpredigt: In ihr werden die Adressaten - nach dem Rahmen sind es seine Jünger (5,1) - wieder und wieder angesprochen; allerdings werden sie nicht direkt genannt, sondern nur durch Pronomina bzw. flektierte Verbformen aktualisiert. Die große Länge der Bergpredigt - hinsichtlich der dramatischen Erzählanlage ein schwerer Qualitätsmakel! 6 - erweist sich rezeptionsästhetisch als [29] 348 Erlesenes Verstehen <?page no="349"?> predigt im modernen Film hat ergeben, dass neben der Kürzung die Unterbrechung der Rede durch Handlungssequenzen das häufigste und wirksamste Mittel für eine dramatische Wiedergabe darstellt, vgl. M. Goodacre, The Synoptic Jesus and the Celluloid Christ: Solving the Synoptic Problem Through Film, JSNT 80 (2000), 31-44. Vorteil und als wichtiges Element des literarischen Konzepts: Die fehlende dramatische Rückbindung der Bergpredigt an die erzählte Situation bewirkt eine Entkontextualisierung, die zur Folge hat, dass die impliziten Leser-Jünger die Anrede „ihr“ direkt auf sich beziehen müssen. Damit erklärt sich auch die Nivellierung des Autoritätsgefälles, das zwischen den beiden Gruppen von Jüngern besteht: Der Missionsbefehl verbindet sie nicht nur genealogisch miteinander, sondern setzt sie auch in eine Autoritäts‐ beziehung, indem die einen die anderen belehren sollen. Gleichwohl gilt für alle das Verbot, sich selbst Rabbi nennen zu lassen, denn nur einer ist euer Lehrer, ihr aber seid alle Brüder (23,8). Durch diese beiden Pole wird die Rezeption erkennbar gesteuert. Auf der einen Seite sind die Leser als direkte Adressaten der Lehre Jesu mit den erzählten Jüngern gleichursprünglich; da Jesus aber der einzige Lehrer ist, sind sie auch nicht von der Autorität ihrer missionarischen Lehrer abhängig. Auf der anderen Seite können und sollen die Rezipienten alles, was zu den Jüngern der Erzählung gesagt ist, auf sich selbst beziehen: Die Rezipienten-Jünger werden im Tauf- und Missionsbefehl also ihrerseits zu Mission und Belehrung autorisiert. So gesehen ist das rezeptionsästhetische Konzept des Mt ebenso genial wie schlicht: Der erzählte Jesus belehrt nicht nur die erzählten Jünger, sondern auch die impliziten Leser: Seine Lehre ist für beide identisch. Das hat vor allem zwei Konsequenzen. Zunächst sind die intendierten Leser des Mt genau genommen keine impliziten, sondern explizite Leser. Denn Mt weist ihnen durch die Zuordnung zu den erzählten Jüngern eine explizite Rolle zu und macht deutlich, dass sie die gesamte Lehre des mt Jesus direkt auf sich applizieren können und sollen. Damit hängt ein Zweites zusammen: Die Normen, die die mt Erzählung mit der Lehre Jesu transportiert, sind mit den Normen identisch, die bei den intendierten Lesern in Geltung stehen sollen: Sie sollen als Regulative rezipiert werden, nicht aber die Normativität als solche thematisieren. Aufgrund der Identität der erzählten Jünger mit den „explizit implizierten“ Lesern dürfen diese bei ihrer Lektüre auch keinen eigenen Sinn konstituieren, dessen Ziel‐ richtung sich von dem der Erzählung abkehren würde. Dieser Eindeutigkeit, mit der die Rolle der Leser festgeschrieben ist, entspricht die Eindeutigkeit der Lehre Jesu: Indem der mt Jesus über die Jünger der Erzählung hinaus auch die Leser direkt anspricht und belehrt, muss seine Lehre auch verständ‐ lich, klar und unmissverständlich sein. Diese systembedingte Eindeutigkeit 349 Erlesenes Verstehen <?page no="350"?> 7 Neben den Reflexionszitaten gehören zu diesen Vereindeutigungen z. B. Mt 16,12 (Erklärung, dass mit dem Sauerteig der Pharisäer ihre Lehre gemeint sei); 17,13 (Erklärung, dass Eliah in Johannes dem Täufer gekommen sei); 22,46 (erklärender Abschluss der Davids-Sohn-Frage) oder die Beseitigung von Unbestimmtheiten in Mk, z. B. die Ersetzung von Mk 6,52 durch das Bekenntnis Mt 14,33; Umstellung von Mt 13,12 (par. Mk 4,25) zwischen 13,11.13 (par. Mk 4,11a.b) u. a. m. Zur hermeneutischen Bedeutung, die das ästhetische Vergnügen der Entdeckung bei der Lektüre besitzt, vgl. W. Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (UTB 163), München 3 1994, 9. macht jene gewisse Humorlosigkeit unvermeidlich, mit der Mt auch noch die kleinste Pointe »weg-erklärt«, deren eigenständige Entschlüsselung dem Leser möglicherweise Vergnügen bereitet hätte. 7 Aber diese Eigenständigkeit hätte eine interpretatorische Freiheit sowohl vorausgesetzt als auch vermittelt: Sie würde den Leser dazu nötigen, seine eigenen Fähigkeiten gegenüber dem Text zu aktivieren und könnte ihn auf diese Weise den Restriktionen seiner Lebenswelt entheben. Aber diese Freiheit, die eigene Rolle im Prozess des Lesens selbst zu definieren oder gar zu verändern, überlässt Mt dem Leser nicht. Mt ist, unbeschadet der Fiktionalität des narrativen Gesamtcharakters, als Lehrbuch konzipiert. Sein [30] rezeptionsästhetisches Konzept spielt nicht mit dem Imaginationsvermögen der Leser, sondern weist ihnen eine eindeutige und eng begrenzte Funktion bei der Sinnkonstitution zu: Ihre Lese-Leistung besteht im gehorsamen Hören. 3. Implizites Lesen und Verstehen: Mk Dass Mt dieses literarische Konzept der Eindeutigkeit bewusst gewählt hat, zeigt der Vergleich mit Mk, auf dem Mt ja zu einem guten Teil beruht. Denn das mk Konzept zur Leserlenkung ist in mancherlei Hinsicht ein genaues Gegenstück zu Mt. Das fängt am Ende an: Während Mt das letzte, gewichtige und die Leserrolle explizierende Wort seinem Jesus in den Mund legt, gehört bei Mk das letzte Wort der Erzählstimme. Charakteristischerweise erklärt diese Stimme nicht nur nichts, sondern wirft aufgrund der Abruptheit des Endes - Die Frauen sagten niemandem etwas, sie fürchteten sich nämlich (16,8) - Fragen über Fragen auf: Wie haben die Jünger der Erzählung, die ja wiederholt durch Unverständnis und Unvermögen aufgefallen waren, am Ende von der Auferstehung Jesu Kenntnis erhalten? Und: Wie gelangt die Botschaft von der Auferstehung zu den Lesern, wenn Petrus und die anderen Jünger sie ihnen nicht weitergeben konnten? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man Mk von den Erscheinungsberichten bei Mt und den anderen Evangelien her liest. Liest man Mk für sich, dann bleibt hier bezüglich der impliziten Leser nur eine Unbestimmtheitsstelle, die 350 Erlesenes Verstehen <?page no="351"?> 8 Vgl. C. Breytenbach, Das Markusevangelium als episodische Erzählung. Mit Überle‐ gungen zum „Aufbau“ des zweiten Evangeliums, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums (SBS 118/ 119), Stuttgart 1985, 139-169. 9 M. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. darauf aufmerksam macht, dass der „implizite Leser“ weniger eine Typologie der möglichen Leser bezeichnet als vielmehr den im Text vorgezeichneten Akt des Lesens selbst, der die Aufgabe der Sinnkonstitution in hohem Maß dem Leser zuweist. In der Tat ist Mk ein Paradebeispiel dafür, wie der Verzicht auf eindeutige Leserlenkung dazu führt, dass die Leser in dem offenen Prozess der Lektüre eine aktive Rolle einnehmen. Das zeigt bereits die fragmentarische Erzählweise des Mk: In sehr viel höherem Maß als die anderen Evangelien reiht Mk autarke Ein‐ zelepisoden durch einfache Parataxe aneinander, ohne sie durch den narrativen Rahmen oder andere Elemente erkennbar miteinander zu verbinden. 8 Auf diese Weise bleiben den Lesern offensichtliche Deutungsstrukturen und Lesehilfen vorenthalten: Um dem Text einen Sinn abzugewinnen, müssen sie selbst Zusam‐ menhänge herstellen, innere Bezüge zwischen den Textsegmenten aufspüren, Mehrdeutigkeiten beseitigen und symbolische Konnotationen entschlüsseln. Gleichwohl sind die Sinnkonstitution und die Rolle, die die impliziten Leser in diesem Prozess einnehmen müssen, nicht beliebig, sondern durch eine narrative Strategie genau bestimmt, die sich anhand einer Reihe von Erzählsignalen auch nachzeichnen lässt. Als Beispiel wähle ich die Aussagen über das Nicht-Verstehen der Jünger, die ja schon seit W. Wrede als Angelpunkte der mk Darstellung erkannt sind. Unter diesen Texten ragen zwei besonders heraus (Mk 6,52; 8,17-21), die aufgrund einer Reihe von Gemeinsamkeiten deutlich aufeinander bezogen sind: An beiden Stellen werden die Jünger für ihr Nicht-Verstehen heftig getadelt (einmal durch den Erzähler, einmal durch Jesus), beide Male in Verbindung mit dem Vorwurf der Herzenshärte. In beiden Fällen bezieht sich das Nicht-Verstehen auf das Brot bzw. die Brote. Und in beiden Fällen lässt die Erzählung offen, was genau die Jünger eigentlich hätten verstehen sollen - ein erkennbarer Appell an den Leser, sich selbst einen Reim auf diesen Vorwurf zu machen. Da ich die Zusammenhänge an anderer Stelle ausführlicher begründet habe, 9 beschränke ich mich auf einige zusammenfassende Bemerkungen, die jedoch gleichwohl den Erzählfortschritt deutlich machen sollen. Diese beiden Unverständnistexte gehören zu der großen Erzähleinheit Mk 3,7-8,21, die rund um den See Genezareth spielt und durch die Berufung bzw. Aussendung der Jünger strukturiert ist. Der Erzähler erklärt (3,14), dass 351 Erlesenes Verstehen <?page no="352"?> 10 Am 8,1 ff.; Jer 15,16; Jes 55,1 ff.; Spr 9,2 ff. (LXX); Sir 15,3; 24,21; Philo, LegAll II 86; III 175; Sacr 86; Joh 6; Did 10,2 u.v.ö. Vgl. P. Borgen, Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo, Leiden 2 1981, 99-146; M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996, 433-441. das Jünger-Sein durch die beiden Aspekte „Mit ihm sein“ und „Aussendung (zu Verkündigung und Exorzismus)“ bestimmt sei. Die Erzählung von der Aussendung der Jünger (6,6 ff.) greift die Elemente der zweiten Bestimmung auf, so dass die ganze Einheit als narrative Einweisung in die Jüngerschaft zu verstehen ist. In diesem Rahmen sind die Jünger zunächst mit ihm. Die enge Gemeinschaft mit Jesus ist zunächst räumlich gefasst (3,20-35: im Haus; 4,1-34: im Boot) und unterscheidet die, die mit ihm sind, von denen draußen und qualifiziert sie als Adressaten seiner Lehre (3,31-35; 4,11): Sie sind zum Verstehen ausersehen, das ihnen [31] durch die Belehrung Jesu zuteil wird. Nach dieser Belehrung folgt eine Art Hospitationsphase (4,35-6,6a): Die Jünger begleiten Jesus (und sind auf diese Weise mit ihm) quer über den See und zurück, sie beobachten ihn bei Exorzismen, Heilungen und Verkündigung - also bei genau den Tätigkeiten, zu denen sie später selbst ausgesandt werden -, nehmen aber zunächst selbst keine aktive Rolle ein. Was die Jünger an ihrem Vorbild Jesus lernen, ist auch, dass er trotz großer und unbezweifelbarer Machttaten abgelehnt wird (5,17; 6,1-6a). Nach dieser Hospitationsphase sendet Jesus die Jünger zu ihren ersten eigenen Missionsversuchen aus (6,6 ff.), und in diesem Zusammenhang wird das erste Scheitern vermerkt. Es bezieht sich charakteristischerweise nicht auf die Fähigkeit zu Exorzismen und Heilungen (die nach 6,12 f.30 kein Problem darstellen), sondern auf die Sättigung der großen Menge, unter der man sich nach dem Bericht 6,30 f. die Adressaten der erfolgreichen Mission der Jünger vorstellt: Als Jesus die Jünger auffordert, die Menge zu sättigen, sehen sie nur die Möglichkeit, von Jesus wegzugehen, um … Brote zu kaufen und sie ihnen zu essen zu geben (6,37), was die Preisgabe der ersten Bestimmung des Jünger-Seins bedeuten würde. Erst als sie der Aufforderung Jesu nachkommen und ihre eigenen Brote austeilen, merken sie, dass diese für die Sättigung der großen Menge ausreichen. Spätestens von hier an wird die verbreitete Metaphorik Brot/ Speise für Lehre 10 vorausgesetzt: Die Jünger lernen, dass ihre Verkündigung einer großen Menge Orientierung geben kann. Aber es ist nicht diese symbolische Konnotation der Brote, die die Jünger nicht verstehen. Der Tadel des Erzählers bezieht sich auf ihr Erschrecken, als Jesus plötzlich bei ihnen im Boot ist (6,45 ff.): Hätten die Jünger bei den Broten verstanden (6,51 f.), wären sie nicht über seine plötzliche Gegenwart im Boot erschrocken. 352 Erlesenes Verstehen <?page no="353"?> 11 Das Stichwort »Überlieferung« (paradosis/ paradidomi) kommt gleich vier Mal vor: 7,5.8 f.13. 12 Mit Blick auf die Bedeutung, die das Hören im Kontext des Verstehens in diesem Zusammenhang hat, habe ich erhebliche Zweifel, ob der „Weckruf “ 7,16, der in einigen Textzeugen fehlt, tatsächlich eine sekundäre Eintragung ist: das Hören auf Jesus spielt hier wie in 4,9 in der Tat eine zentrale Rolle! Für die Leser bleibt zunächst unklar, was genau es bei den Broten zu verstehen gab. Anstelle einer Erklärung entwickelt Mk die Metaphorik des Brotes weiter: Die große Belehrung über Rein und Unrein (7,1-23), deren entscheidende Pas‐ sage sich wieder an die Jünger allein richtet (7,17 ff.), erhellt den Zusammenhang von Speise und Lehre auf komplexe Weise, an der zwei Aspekte wichtig sind: In der einleitenden Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten wird deutlich, dass der Umgang mit der Speise ein Problem der Überlieferung der Menschen  11 darstellt, an der die Kritisierten gegen Gottes Gebot festhalten: sie vertreten eine falsche Lehre. Sodann wird deutlich, dass nicht die Speisen einen Menschen verunreinigen, sondern das, was aus dem Menschen herausgeht (7,15). Im Zusammenhang mit dem vorangehenden Pharisäergespräch heißt das: Nicht Speise, sondern falsche Lehre verunreinigt; dass Jesus mit diesem Wort alle Speisen für rein erklärte (7,19b), ist eine Verstehenshilfe des Erzählers, die sich auf der Rezipientenebene erkennbar auf die Probleme der Heidenmission bezieht. Der entscheidende, hier nur angedeutete Sachverhalt wird im Folgenden narrativ entfaltet und von der syrophönizischen Frau metaphorisch auf den Punkt gebracht: Kindlein und Hündlein leben von demselben Brot (7,28). Die Frau hat ihr richtiges Verstehen gut formuliert: Jesus sieht sich wegen dieses Wortes zum Exorzismus veranlasst und befreit das Kindlein vom Dämon (7,29). Dass es hier tatsächlich um das richtige Verstehen und seine Formulierung geht (und nicht undifferenziert um Glauben wie in Mt 15,28), zeigt die anschließende Heilung des Taubstummen aus der Dekapolis, dem die Ohren geöffnet werden und der dann richtig redet (7,35): Diese Heilung verbindet die beiden Elemente, die in der Aufforderung Hört und versteht! (7,14) 12 bzw. in dem Wort (7,29) der Syrophönizierin noch getrennt benannt sind. Die Jünger hinken jedoch dieser Einsicht noch hinterher - und scheitern erneut bei der Sättigung der Menge (8,1-9). Allerdings sind sie nicht einfach unbelehrbar, sondern nur von der neuen Situation überfordert: Im Unterschied zur ersten Speisung wissen sie, dass es an ihnen ist, die Menge zu sättigen, und sie haben inzwischen auch verstanden, dass sie dazu nicht von Jesus weggehen müssen. Aber sie verstehen nicht, von wo her jemand diese hier in der Wüste mit Broten sättigen kann (8,4): Nach der Lokalisierung von 7,31 sind diese hier 353 Erlesenes Verstehen <?page no="354"?> 13 »Ansteckung« durch Sauerteig ist eine geläufige Metapher (vgl. Mt 13,33; Lk 13,21; 1Kor 5,6-8; Gal 5,9). Zum Aspekt der Verunreinigung durch Sauerteig vgl. Ex 12,15; 13,3-7; Lev 2,11; Dtn 16,3 f. Dass der Sauerteig (zyme) mit dem daraus gebackenen Brot identisch ist und auf die Lehre (didache) der Pharisäer verweist, hat Mt durchaus richtig verstanden (16,11 f.) - und einmal mehr eine Andeutung durch Erklärung beseitigt; in diesem Fall wird die Ironie überspielt, dass gerade die auf Reinheit dringenden Pharisäer eine »verunreinigende« Lehre vertreten. in der Wüste am ehesten Heiden in der Dekapolis. Der kompetente Leser ist den Jüngern hier einen Schritt voraus und weiß, dass Juden wie Heiden von ein und demselben Brot satt werden, wie denn auch der Fortgang der Geschichte erweist: Die Brote der Jünger reichen zur Sättigung auch dieser Menge aus. Die beiden folgenden Bootsfahrten (8,10-13.14-21) verschieben das Lernziel für die Jünger [32] ein weiteres Mal: Die erste Fahrt konfrontiert sie mit der Forderung der Pharisäer nach einem Legitimationszeichen, was nach der Speisung der Heiden insofern nachvollziehbar ist, als es ihre schon als falsch erwiesene Position von 7,1 ff. bestätigt: Im Unterschied zu den Jüngern haben die Pharisäer nichts dazugelernt, Jesus verweigert ein Zeichen. Die zweite Fahrt mit dem Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern zeigt jedoch, dass das daraus resultierende Konfliktpotential dadurch noch nicht beseitigt ist: Während sich die Jünger darüber Gedanken machen, dass sie keine Brote außer dem Einen Brot bei sich im Boot hatten (8,14.16), warnt Jesus sie vor dem Sauerteig der Pharisäer und des Herodes (8,15). Die Abfolge der Äußerungen erweckt den Anschein, als würden Jesus und die Jünger aneinander vorbeireden. Tatsächlich aber thematisieren alle Äußerungen die Implikation des einen Brotes für Juden und Heiden. Obwohl die Jünger doch gelernt hatten, dass ihre eigenen Brote auch für die Sättigung von Heiden ausreichen und dass es also nur ein einziges Brot geben kann, hat die pharisäische Legitimationsforderung eine neue Dimension ins Spiel gebracht: Es ist für die Jünger gefährlich, für Juden und Heiden ein und dasselbe Brot zu haben. Deswegen warnt Jesus vor dem (ansteckenden und verunreinigenden) Sauerteig(brot) 13 der Pharisäer und des Herodes, der hier (nach 3,6 und 6,14-29! ) als Konkretisierung der Gefährdung zu verstehen ist. Die Jünger haben zwar die Lehre Jesu (7,17 ff.) gehört und seine Taten gesehen (8,1-9), aber sie verstehen nicht (8,17), weil sie sich nicht an die beiden Speisungen erinnern (8,18), an denen sie hätten lernen können, dass es nur ein einziges Brot gibt: Das, das sie bei sich haben. Die abschließende Frage „Versteht ihr immer noch nicht? “ (8,21) ist ein vorausweisendes Signal: Das Verstehen, das (den Jüngern? den Lesern? ) an dieser Stelle noch fehlt, bezieht sich nicht so sehr darauf, dass es nur ein einziges Brot gibt, als vielmehr auf die Frage, wie diese Einsicht angesichts der 354 Erlesenes Verstehen <?page no="355"?> 14 Mk 8,27; 9,33 f.; 10,17.32 f.46.52. Zur Bedeutung des „Wegs“ in 8,27-10,52 für die topographische Gliederung des Mk vgl. B.M.F. van Iersel, Locality, Structure, and Meaning in Mark, LingBibl 53 (1983), 45-54. Bedrohung durch die Pharisäer realisiert werden kann. Der Lernprozess, der diese Einsicht vermittelt, ist durch die beiden Blindenheilungen (8,21-26; 10,46- 52) gerahmt. Die erste Heilung, markiert den Anfang des Verstehensprozesses: Der Blinde von Bethsaida kann zunächst nur undeutlich sehen, die Heilung ist ein Prozess, in dem Jesus nachbessern muss - und den Geheilten am Ende in sein Haus zurückschickt (8,26). Die Heilung des blinden Bartimäus führt dagegen sofort zu völliger Klarheit, die darin ihren Ausdruck findet, dass er Jesus auf dem Weg nach Jerusalem nachfolgt (10,52). Zwischen diesen beiden Blindenheilungen liegen die Belehrungen Jesu über die Notwendigkeit seines Leidens und über die Konsequenzen, die sich aus der Abfolge von Niedrigkeit und Herrlichkeit für die Jünger ergeben. Wie schon zuvor ist das, was Jesus sagt, nur im Kontext dessen verständlich, was über ihn erzählt wird (vor allem 9,1-8). Im Vergleich zu dem vorangehenden großen Abschnitt verschieben sich jedoch mit dem Gesamtthema auch die Topographie und die Basismetaphorik: Jesus ist nicht mehr am See als dem Ort der Jüngerberufungen (1,16-20; 2,13 f.; 3,7-19), sondern auf dem Weg, 14 der ihn nach Jerusalem in die Passion führt und auf dem ihm die Jünger nachfolgen; auch in diesem Abschnitt begegnet das Unverständnis der Jünger (wenn auch in anderer Terminologie), aber es bezieht sich jetzt auf andere Sachverhalte. Wenn man die Leseerfahrungen aus Mk 3-8 auf diesen Abschnitt übertragen darf, dann liegt nahe, dass sich auch hier Unverständnis und Verstehen der Jünger weiter dynamisch entwickeln. 4. Metaphernspiel und Konsistenzbildung: Leseleistungen Diese Beschreibung der Textsignale erlaubt es, jetzt auch schärfer die für die Sinnkonstitution von den Rezipienten geforderten Lese-Aktivitäten ins Auge zu fassen. Im Grunde sind zwei voneinander unterschiedene, gleichwohl eng miteinander verbundene Leseleistungen erforderlich: Die Wahrnehmung des übergreifenden Erzählzusammenhangs hinter der fragmentierten Darstellungs‐ weise und die Entschlüsselung der symbolischen Polysemie des gesamten Geschehens. Beide Aspekte sind im Verstehen der grundlegenden Leitmetaphern mitein‐ ander verknüpft: Für den vorgestellten Abschnitt sind dies neben dem Boot und später dem Weg vor allem das Brot. Allerdings besitzen diese Leitmetaphern neben der denotativen mehr als nur eine konnotative Bedeutung. So steht z. B. das Boot nicht nur - analog zum Haus in 3,20 ff. - für den Ort der engen 355 Erlesenes Verstehen <?page no="356"?> 15 Außer Brot/ die Brote gehören dazu etwa: essen; sättigen; Brocken; Speise; Sauerteig; Fische. Gemeinschaft und der Belehrung, sondern auch für [33] die Gefährdung bei der Fahrt über den See im Rahmen der Aussendung (4,35 ff.; 6,45 ff.; 8,14 ff.). Oder: Mit Brot ist durch die traditionelle Metaphorik Lehre konnotiert. Aber sowohl die Verzweigung des Wortfelds und seine Verbindung mit benachbarten Wortfeldern als auch die Dynamik der Erzählung machen eine einfache De‐ chiffrierung unmöglich und zeigen, dass die Bedeutungsebenen nicht einfach allegorisch aufeinander bezogen sind. Zunächst bestimmt die Leitmetapher Brot ein ganzes Wortfeld, 15 das seine Komplexität dadurch erhält, dass es durch - ebenfalls metaphorisch gebrauchte - benachbarte Begriffe erweitert ist: Diese beziehen sich beispielsweise auf die Subjekte des Essens (Kinder/ Hunde) oder auf die unterschiedliche Qualität der Speise, wobei der metaphorische Gehalt von Sauerteig(brot) in zwei ver‐ schiedene Richtungen entfaltet werden muss („durchdringen/ anstecken“; „rein/ unrein“). Ein einfaches Lexikon symbolischer Konnotationen wäre hier rasch überfordert. Sodann ist die metaphorische Bedeutungsebene in der kommentierenden Erläuterung des Erzählers in 7,19b verlassen: Der Hinweis, dass Jesus alle Speisen für rein erklärte, darf nicht als Metapher für Lehre verstanden werden, soll nicht der gesamte Zusammenhang ad absurdum geführt werden. Vielmehr müssen die Leser hier die denotative Bedeutung von Speisen substituieren und die Erläuterung - etwa im Sinn von Apg 10 f. - auf das Problem der Tischgemeinschaft in gemischten Gemeinden beziehen. Immerhin sind der überraschende Wechsel zur denotativen Bedeutung der Leitmetapher sowie der Umstand, dass die Erklärung unvermittelt der Erzählstimme in den Mund gelegt wird, deutliche Signale, die die Leser auf die Spur einer textexternen Referenz führen können. Und schließlich verändern sich die konnotierten Bedeutungsaspekte von Brot mit dem Fortgang der Erzählung, und zwar auch dann, wenn die Basis‐ metaphorik „Brot für Lehre“ aktualisiert wird. So lässt sich der Vorwurf des Erzählers denn sie hatten bei den Broten nicht verstanden (6,52) allein mit dieser Basismetapher gar nicht verstehen: Denn inwiefern hätte das Wissen, dass sie in der Lage sind, eine große Menge zu sättigen = zu belehren, die Jünger vor dem Erschrecken über die plötzliche Gegenwart Jesu bei ihnen im Boot bewahren sollen? Das Verstehen, das die Leser für den Zusammenhang bei den Broten von 6,35-44 erlangen müssten, ist höchst spezifisch und lässt sich aus dem vorangehenden Kontext allein nicht erheben, sondern muss mehrere 356 Erlesenes Verstehen <?page no="357"?> 16 Vgl. W. Iser, Akt des Lesens, 53. 17 Zu diesem Verständnis von eis ten Galilaian vgl. B.M.F. van Iersel, Mark. A Reader-Response Commentary ( JSNT.S 164), Sheffield 1998, z.St. Aspekte berücksichtigen: Aus dem vorangehenden Kontext ist zu erinnern, dass im ersten Fall von Seenot (4,35 ff.) Jesus bei den Jüngern im Boot war. Wenn die Leser diese Information mit der Einsicht aus der letzten Bootsfahrt verbinden, dass die Jünger ein einziges Brot bei sich im Boot haben und deshalb keine Furcht vor den Anfeindungen der Pharisäer zu haben brauchen (8,14 ff.), dann wird erkennbar, dass dieses Brot ihre Verkündigung repräsentiert, die Jesus selbst zum Inhalt hat - eine Einsicht, die im Bericht vom letzten Mahl noch einmal aufgegriffen wird: Jesus selbst ist das eine Brot (14,22). Wenn Jesus selbst das Brot ist, mit dem die Jünger Juden wie Heiden sättigen, dann ist damit natürlich der Bericht über ihn gemeint - also nichts anderes als die Erzählung des Mk selbst. Aus diesen Überlegungen zur Entschlüsselung der enkodierten Metaphorik ergeben sich zwei Folgerungen. Zunächst ist klar geworden, dass die Leitmeta‐ pher Brot ihre komplexe Polysemie erst im Verlauf der Erzählung erhält: Das metaphorische Verstehen setzt die Wahrnehmung übergreifender Textstruk‐ turen hinter der fragmentierten Textgestaltung voraus. Oder umgekehrt: Die Vielschichtigkeit der Metaphorik nötigt den Leser zur Konsistenzbildung. Beide Leseleistungen gehen Hand in Hand und etablieren die Sinngestalt des Textes. Vor allem aber ist deutlich, dass eine Erstlektüre diese Bedeutungsfülle gar nicht erschließen kann: Mk rechnet mit Mehrfachlesern, die zurückblättern bzw. noch einmal von vorne zu lesen beginnen. 16 Das aber heißt, dass bei der wiederholten Lektüre desselben Textes unterschiedliche Sinngestalten entworfen werden, die natürlich nie gleichzeitig realisiert werden können, wobei in der ästhetischen Strategie des Mk bereits eine Nötigung zur Mehrfachlektüre angelegt ist. Denn der zweimalige Hinweis, dass Jesus seinen Jüngern in [34] Galiläa  17 vorausgeht (14,28; 16,7) und sie ihn dort sehen werden, ist eine Referenz, die durch die Erzählung ja gerade nicht eingelöst wird: Sie verweist, ähnlich dem Missionsbefehl bei Mt, über den Zeithorizont des Evangeliums hinaus in die Gegenwart der Leser, die diese Aufforderung auf sich selbst beziehen sollen. Die Leser müssen nur zum Anfang des Buches zurückblättern, der in Galiläa spielt (1,14 ff.) - auf diese Weise werden sie selbst Jesus sehen und können ihm, wenn er ihnen vorausgeht, nachfolgen: nämlich im Vollzug der wiederholten Lektüre und im immer komplexer werdenden Verstehen. 357 Erlesenes Verstehen <?page no="358"?> 5. Kanonisches Lesen und Verstehen Diese Skizze hat die Unterschiede zwischen den literarischen Konzepten des Mt und des Mk deutlich werden lassen: Mt begrenzt die Interpretationsspielräume, expliziert die intendierte Rezeption, ist auf Eindeutigkeit bedacht und begründet den Anspruch des Textes gegenüber den Lesern mit maximaler Autorität: Mt lässt seinen Jesus direkt zu den Lesern sprechen. Der Text weist ihnen einen genau definierten Platz zu: Das Verhältnis zwischen beiden lässt sich als Kontrolle und Unterwerfung beschreiben. Mk steuert den Lesevorgang auf ganz andere Weise, ist aber nicht weniger effektiv: Sein literarisches Konzept ist durchaus elitär, weil es nur denen Zugang zum vollen Verstehen gewährt, die sich aktiv darum bemühen, die mehrfach lesen, die in der Lage sind, die Sinn‐ gestalt hinter der Textgestalt aufzuspüren und die Metaphern zu ergründen. Die Leser müssen ihren Platz gegenüber dem Text selbst finden und interpretierend erarbeiten. Aber wenn sie ihn gefunden haben, werden sie den Anspruch des Textes von sich aus bekräftigen, weil er sie durch seine ästhetischen Signale auf die Spur des Verstehens gelockt und im Entdeckungsprozess Freiheit gewährt hat. Der Text in ihrer Hand macht die Leser gleichursprünglich mit den Jüngern, sie hören nicht nur die Stimme Jesu, sondern sehen ihn selbst und folgen ihm verstehend nach. Die - zugestandenermaßen etwas holzschnittartig formulierten - Unter‐ schiede zwischen diesen beiden Konzepten verweisen auf ein wichtiges Pro‐ blem, das wenigstens noch angedeutet sei. Denn die Beschreibung der Text‐ signale und, daraus folgend, der implizierten Leseakte behandelt die beiden Evangelien als eigenständige und jeweils komplette Texte. Diese Annahme ist jedoch eine wissenschaftliche Fiktion, die zwar unter dem diachronen Gesichtspunkt der Textproduktion eine sinnvolle Annahme darstellt, die aber durch keinerlei Spuren in der Handschriftenüberlieferung erhärtet werden kann und der überlieferten Textgestalt nicht entspricht. Wichtiger ist: Für eine rezeptionsästhetische Fragestellung würde die Annahme, dass „Mt“ und „Mk“ eigenständige Texte seien, entscheidende Gesichtspunkte ausblenden. Denn tatsächlich „gibt“ es beide Evangelien nur als Teiltexte des gesamten NT, in dessen Rahmen sie seit dem 2. Jh. auch ausschließlich gelesen werden: Die unterschiedlichen literarischen Konzepte begegnen also immer schon als kom‐ plementäre Modelle, von denen keines exklusive Geltung beanspruchen kann. Dieses Nebeneinander ist aber nicht das zufällige Produkt eines ungesteuerten Wachstums- oder Sammlungsprozesses, sondern wiederum Teil einer literari‐ schen Strategie, in diesem Fall der Kanonischen Ausgabe des NT, die ihrerseits 358 Erlesenes Verstehen <?page no="359"?> 18 Der Terminus »Kanonische Ausgabe« verweist darauf, dass das NT in der heute bekannten Form in der Mitte des 2. Jh. von einem Herausgeber(kreis) ediert wurde, also ein redaktionelles Konzept besitzt. Vgl. dazu D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments (NTOA 31), Freiburg/ Göttingen 1996; M. Klinghardt, Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon, ZNT 12 (2003), 52-57. 19 Das Phänomen wird an dem programmatischen Titel des für die historische Kritik grundlegenden Werkes von J.S. Semler deutlich: In seiner »Abhandlung von freier Untersuchung des Canon« (Halle 1771) besteht die „Freiheit“ der Untersuchung darin, dass Semler die einzelnen Schriften aus der Verklammerung des kanonischen Konzepts herauslöste und historisch als autarke Einzeltexte verstand. Dass der redaktionelle Rahmen des Kanons nicht nur eine theologische Qualität darstellt (die für Semler und seine Zeitgenossen die historisch-individuelle Würdigung der einzelnen Schriften verhindert hat), sondern selbst einen eigenen, historischen Ort besitzt, ist darüber bis in die Gegenwart in Vergessenheit geraten. rezeptionsästhetisch beschrieben werden kann. 18 Die Wirkungsgeschichte des NT zeigt, dass die innerkanonischen Bezüge zwischen den einzelnen Schriften schon immer gesehen und interpretiert wurden. Erst die kritische Exegese hat mit ihrer „historischen“ Herauslösung der einzelnen Schriften aus diesem Referenzrahmen diese Zusammengehörigkeit aus dem Blickfeld verschwinden lassen. 19 Um dem Vorwurf des Rückfalls in eine vorkritische Interpretation zu wehren, beschränke ich mich für die rezeptionsästhetische Würdigung des redaktionellen Konzepts der Kanonischen Ausgabe daher auf diejenigen Signale, die nachweislich von der Edition intendiert waren und führe nur drei Beispiele für die Leserlenkung durch das editorische Konzept an. Eine der wichtigsten Lesehilfen, die die Herausgeber ihren Texten beigegeben haben, sind die Titel, die ja in den Evangelien auch die Autoren - „Matthäus“ und „Markus“ - nennen. Beide Angaben sind fiktiv, und beide sind gut gewählt, weil sie die jeweiligen rezeptionsästhetischen Modelle stützen. Die Autorenangabe in Mt verweist bekanntlich auf den Jünger „Matthäus“, der zu den Zwölfen gehört (Mt 9,9; 10,3): Aus der Leserperspektive ist es ein wichtiges Element, dass ein [35] Begleiter Jesu, der fast ganz von Beginn an - nach der Berufung der beiden Brüderpaare (4,18 ff.) ist Matthäus der fünfte namentlich Genannte - bei ihm war, als Gewährsmann die Richtigkeit dessen garantiert, was ich euch geboten habe (28,20). Das editorische Konzept der Kanonischen Ausgabe macht den impliziten Autor „Matthäus“ explizit und zeigt ihn als einen der „primären“ Jesusjünger, die am Ende im Missionsauftrag in ein Verhältnis zu den impliziten Lesern gesetzt werden. Im Unterschied zu „Matthäus“ ist „Markus“ kein Jünger Jesu und kommt auch im Text nicht selbst vor. Die Leser der Kanonischen Ausgabe können allerdings über ihn eine ganze Menge erfahren, wenn sie das ganze NT als einen kohärenten Text lesen, und ihn als Apostelschüler identifizieren, der sowohl mit Petrus als auch mit Paulus in 359 Erlesenes Verstehen <?page no="360"?> 20 Vgl. die kurze Zusammenfassung bei Klinghardt, Veröffentlichung, 60 f. Wichtige Informationen über „Markus“ gibt die Kanonische Ausgabe in Apg 12,12.25; 15,37 ff.; Phlm 24; Kol 4,10; 2Tim 4,11; 1Petr 5,13. Verbindung steht. 20 Die Distanz, die die Herausgeber auf diese Weise zwischen den Apostelschüler „Markus“ als fingierten Autor und Jesus bringen, passt wiederum zum literarischen Konzept des Mk: Denn wie glaubwürdig - und: wie wirkungsvoll - hätte einer der erzählten Jünger Jesu (also etwa Petrus, Jakobus oder Johannes) als impliziter Autor des Mk das Nicht-Verstehen der Jünger formulieren können, ohne jeglichen Anspruch des Textes vollständig zu desavouieren? Mit der Zuweisung an den Apostelschüler Markus behalten die Unverständnistexte ihre Funktion für die implizite Lesestrategie, zugleich aber wird für die Leser deutlich, dass der „Verfasser“ beste Verbindungen zu den ältesten und wichtigsten Aposteln besaß. Ein weiteres Element der Lesersteuerung der Kanonischen Ausgabe liegt in der Reihenfolge, in der sie die einzelnen Schriften anführt: Die Evangelien‐ sammlung beginnt immer mit Mt, gefolgt von Mk. Dieses Element, das bei der Auslegung so gut wie nie gewürdigt wird, gibt den Lesern der gesamten Ausgabe wesentliche Verstehenshilfen, für die ich nur zwei Beispiele nenne. Das erste ist die Bändigung der mk Unverständnistexte und ihrer anarchischen Implikation: Bevor der Leser hier seine Fähigkeiten bei der Sinnkonstitution ausprobiert und in der Entschlüsselung des Metaphernspiels seine eigene Rolle entdeckt, ist er - vorausgesetzt, er hat das Buch von Anfang an gelesen - durch die Schule des Mt gegangen und hat dort in genau zugewiesener Hörerrolle gelernt, was Jesus „wirklich“ gesagt hat: Die eng reglementierende Lektüre-Strategie des Mt fungiert so als Propädeutik für die elitären Interpretationsaufgaben, die Mk den Lesern abverlangt. Umgekehrt aber - zweites Beispiel - wirkt der Schluss des Mk nach der Lektüre des mt Erscheinungsberichtes in der Tat höchst abrupt. Zwar wissen die Leser aus Mt 28 von der Erscheinung Jesu vor den Jüngern. Aber genau deswegen fällt das Fehlen einer Entsprechung bei Mk besonders ins Gewicht - und verstärkt die Wirkung der Erscheinungsankündigungen (Mk 14,28; 16,7) als Appelle an den Leser. Wie wirkungsvoll die Anordnung mit der Abfolge Mt → Mk ist, könnte die Gegenprobe deutlich machen: die Auswirkung der Rezeptionssignale bei der Annahme einer Abfolge Mk → Mt würde zeigen, dass die literarische Wirkung vor allem des Mk sehr deutlich leiden würde. Ein letzter Hinweis bezieht sich auf den Ausgleich von Unterschieden zwi‐ schen den Evangelien im Rahmen der Kanonischen Ausgabe. Denn auch wenn die kanonische Lektürefolge von Mt und Mk den jeweiligen literarischen Konzepten entspricht, so springen doch die inhaltlichen Unterschiede stärker ins Auge als die Gemeinsamkeiten - ein Phänomen, das mit der Einbeziehung 360 Erlesenes Verstehen <?page no="361"?> 21 M. Klinghardt, Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513: 496-512; ders., „Gesetz“ bei Markion und Lukas, in: D. Sänger/ M. Konradt (Hgg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament. FS Chr. Burchard (NTOA 57), Göttingen/ Fribourg 2006, 99-128. 22 Die generalisierende, auf die impliziten Leser zielende Funktion von „Theophilos“ ist schon früh erkannt worden, vgl. etwa Origenes, Hom. in Luc. 1,6 [FC 4/ 1, 69]: „Vielleicht meint jemand von euch, Lukas habe sein Evangelium für einen bestimmten Theophilus (Freund Gottes) geschrieben. Ihr alle jedoch, die ihr uns reden hört, seid ‚Freunde Gottes‘, wenn ihr so seid, dass ihr von Gott geliebt werdet.“ Ähnlich Ambrosius, Expos. Ev. Luc. 1,11 (CSEL 32, 4,18). von Lk und Joh noch sehr viel deutlicher wird. Die Frage, wieso es nur einen Jesus, aber vier unterschiedliche Berichte über ihn im NT gibt, wirft solange keine Fragen auf, als diese Berichte jeweils für sich als autarke Texte gelesen werden. Aber wenn die Evangelien Teile eines Gesamttextes sind, entsteht ein Problem, auf das die kanonische Redaktion mit dem Versuch reagiert hat, die Lektüre in eine bestimmte Richtung zu steuern. Besonders deutlich sind diese Signale im Lukasprolog (Lk 1,1-4) und im Johannesepilog ( Joh 21,24 f.). Wiederum gilt, dass diese Signale ihre Wirkung für die kanonische Lektüre auch dann entfalten, wenn sie nicht beabsichtigt waren, sondern nur ein zufälliges Sinnpotential eröffnen. In diesem Fall aber lässt sich die Nähe dieser beiden so entfernten Texte und ihre wechselseitige Beziehung auch literarhistorisch auf der Ebene der Kanonischen Redaktion wahrscheinlich machen; den entspre‐ chenden Nachweis, dass Lk 1 (und 24) späte redaktionelle Texte sind, habe ich an anderer Stelle geführt und dort auch die Beziehung zwischen Lk 1 und Joh 21 erläutert. 21 Daher genügen hier nur Andeutungen. Kein anderer Text im NT macht die einzelnen Elemente, die den impliziten Lesevorgang konstituieren, in höherem Maß explizit als der Lukasprolog: [36] Der implizite Autor, der als Apostelschüler „Lukas“ fingiert wird und sich über das Querverweissystem der Kanonischen Ausgabe auch genau identifizieren lässt, spricht den impliziten Leser direkt mit dem sprechenden Namen The‐ ophilos („Gottesfreund“) an. 22 Der Prolog formuliert als Ziel der impliziten Kommunikation die Erkenntnis der Zuverlässigkeit des Wortes, in dem du unterrichtet wurdest (1,4), und untermauert seinen Geltungsanspruch durch die Versicherung, allem von Anfang sorgfältig nachgegangen zu sein und es in der richtigen Reihenfolge aufgeschrieben zu haben (1,3). Der Grund für diesen markanten und die Zustimmung der Leser erheischenden Anspruch wird im allerersten Satz genannt, der die Existenz anderer Evangelienschriften - die dann wohl die Zweifel an der Zuverlässigkeit der eigenen Tradition geweckt haben - voraussetzt. Lk will als Text gegen diese „anderen Versuche“, hinter denen mit hoher Wahrscheinlichkeit das markionitische Evangelium steckt, 361 Erlesenes Verstehen <?page no="362"?> verstanden werden und erklärt, dass es dazu eben eines weiteren, jetzt aber zuverlässigen Textes bedarf: Er begründet auf diese Weise die Vielfalt der kanonischen Evangeliensammlung. Der Johannesepilog dagegen begrenzt diese Vielfalt: Dass die ganze Welt die Bücher nicht fassen könnte, die man noch über Jesus schreiben müsste (21,25) bedeutet im Rahmen der Kanonischen Ausgabe: Vier sind aber wirklich genug! Diese Bemerkung erkennt daher einerseits die Vierfalt der kanonischen Evan‐ gelienüberlieferung an, schließt sie aber zugleich auch ab und reklamiert auf diese Weise, dass jetzt alles Entscheidende über Jesus selbst dann gesagt ist, wenn man noch endlos weiter schreiben könnte. So erklären diese beiden auf‐ einander bezogenen Texte, dass es zwar mehrere Evangelien in der Kanonischen Ausgabe gibt und geben muss, dass aber ihre Anzahl nicht beliebig, sondern abgeschlossen ist. Da beide Texte von einem Apostel und einem Apostelschüler stammen, bilden sie eine passende Ergänzung zu Mt und Mk. Die Kanonische Ausgabe hat also durch die typischen Zugaben zu den Texten (Titel mit Autorenangabe; Anordnung) sowie durch redaktionelle Bemerkungen innerhalb der einzelnen Texte (z. B. Lk 1; Joh 21) einen Referenzrahmen geschaffen, in dem die einzelnen Texte - in diesem Fall: die vier Evangelien - ihren sinnvollen, rezeptionsästhetisch verstehbaren Platz als Teile eines übergreifenden redaktionellen Konzeptes finden. Die ästhetischen Signale der Kanonischen Ausgabe intendieren eine komplementierende Lektüre, in der nicht nur die inhaltlichen Differenzen zwischen den einzelnen Evangelien aufgehoben sind, sondern auch die verschiedenen literarischen Konzepte als notwendige und sich ergänzende Leseweisen verstehbar werden. Wer die Evangelien auf diese Weise liest, wird nicht nur die unterschiedlichen Darstellungen Jesu kennen lernen und diverse Informationen über ihn auf‐ nehmen und verarbeiten, er muss die Evangelien auch zueinander in Beziehung setzen und sich selbst in unterschiedlichen Leser-Rollen positionieren. Am Ende haben die Leserinnen und Leser im Verlauf ihrer Evangelienlektüre ganz neue Lese-Fähigkeiten erworben und stellen fest: Lesen - auch der Evangelien - bildet. 362 Erlesenes Verstehen <?page no="363"?> Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext Konstruktion und Begründung von Gemeinsinn Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext: Konstruktion und Begründung von Gemeinsinn, in: M. Öhler (Hg.), Aposteldekret und antikes Vereinswesen. Gemeinschaft und ihre Ordnung (WUNT 280), Tübingen 2011, 91-112. Die im Titel dieses Beitrags genannte Hauptthese - dass nämlich das Apostelde‐ kret ein kanonischer Integrationstext sei - impliziert vor allem zwei miteinander zusammenhängende Behauptungen, die im Folgenden genauer auszuführen sind. Die erste bezieht sich auf das Problem des historischen Ortes des Apos‐ teldekrets und besagt, dass es erst auf der Ebene der kompletten Sammlung der neutestamentlichen Schriften verständlich wird. Die Verabschiedung des Dekrets ist demnach im Rahmen der in Act geschilderten Ereignisse nicht historisch, sondern geht erst auf die lk Darstellung zurück. Im weiteren Zusam‐ menhang dieser Frage ist (I.) das Problem der historischen Zuverlässigkeit des Act-Berichts mit den altbekannten, für unser Thema relevanten Teilaspekten zu behandeln: Wie verhalten sich die Berichte in Act 15 und Gal 2 zueinander? Kommt Act 15 der Wert einer eigenständigen Quelle neben Gal 2,1-10 zu? Wie ist der Bericht über das Aposteltreffen von Act 15 einschließlich der Verabschiedung des Dekrets auf den sog. „Antiochenischen Zwischenfall“ (Gal 2,11-14) zu beziehen? Im Zusammenhang dieser Fragen soll es in erster Linie um die lange vernachlässigte Frage nach den Quellen der Darstellung von Act 15 gehen: Deren Klärung ist die unabdingbare Voraussetzung einer Beurteilung des alten Vexierproblems der „Historizität“ des Act-Berichts. Auf der Grundlage der Quellenrekonstruktion lässt sich dann zeigen, dass die Darstellungsintention der Act-Erzählung tatsächlich eine kanonische Dimension besitzt, also erst auf der Ebene der Sammlung des ganzen Neuen Testaments wirksam wird (II.). Die zweite Behauptung - dass das Aposteldekret ein Integrationstext sei - scheint auf den ersten Blick selbstverständlich zu sein. Denn dass das Aposteldekret als integrative Lösung der Auseinandersetzung zwischen diver‐ gierenden Strömungen des entstehenden Christentums fungiert, ergibt sich ja mit wünschenswerter Deutlichkeit aus dem narrativen Rahmen in Act 15 selbst, da die Einigung auf die vier Forderungen als Lösung des Streits zwischen <?page no="364"?> 1 Ich nutze die Bezeichnung „Lk“ für den Verfasser von Lk-Act nur aus Gründen der Konvention und der Bequemlichkeit, nicht aus Überzeugung. 2 Den ersten Höhepunkt der Erforschung des Aposteldekrets sowie seiner Verortung in der Geschichte des frühen Christentums markiert die Tübinger Tendenzkritik, vgl. Holger Z E I G A N , Aposteltreffen in Jerusalem. Eine forschungsgeschichtliche Studie zu Galater 2,1-10 und den möglichen lukanischen Parallelen, ABG 18, Leipzig 2005, 24-36, der die Forschungsgeschichte zum Apostelkonzil jetzt umfassend aufgearbeitet hat. den judäischen Judenchristen und den syrischen Heidenchristen erzählt wird. Allerdings verschiebt sich die genauere Bestimmung der integrierenden Funk‐ tion des Dekrets, wenn Lk 1 nicht einfach berichtet, „was tatsächlich geschah“, sondern mit seiner Erzählung eine eigene Intention [92] verfolgt: Was genau soll hier eigentlich integriert werden? Sofern die Schilderung der Verabschiedung des Dekrets im Kontext von Act 15 eine kanonische Dimension besitzt, ist (III.) zu klären, worin die Integrationsleistung des Dekrets auf dieser Ebene genau besteht. Die These von der kanonischen Integrationsfunktion des Dekrets ist ebenso wenig neu wie der größte Teil der exegetischen Beobachtungen, die sie stützen. Tatsächlich wäre es auch kaum zu erwarten, in diesem Feld, das seit über 150 Jahren von der historischen Kritik intensiv beackert wird, 2 noch ein unberührtes Eckchen zu finden. Innovativ kann daher in erster Linie der methodische Zugriff zur Klärung der strittigen Fragen - zum historischen Ort des Dekrets, der Bedeutung seiner Forderungen und seiner literarischen Funktion - sein. Der hier vorgeschlagene methodische Zugang soll die Beantwortung dieser Fragen im Sinn der Eingangsthese plausibel machen und dann auch weitere Schluss‐ folgerungen zulassen. Im Hintergrund steht dabei das allgemeinere Interesse an der Klärung, auf welche Weise im frühen Christentum ein christlicher sensus communis konstruiert wurde. Denn dass sich Menschen verschiedener kultu‐ reller und religiöser Prägung zusammenfinden, ihre „eigensinnigen“ - je und je berechtigten oder zumindest nachvollziehbaren - Interessen hintanstellen und sich einem gemeinsamen Sinnangebot unterwerfen, ist ja alles andere als selbstverständlich. Im Rahmen der Act-Erzählung stellt das Aposteldekret (mit seiner Veranlassung, seiner Verabschiedung und Promulgierung) ein herausra‐ gendes Beispiel für eine solcherart verstandene Behauptung von „Gemeinsinn“ dar. Die weitere Fragestellung richtet sich daher auf die Funktionsweisen und Wirkungsmechanismen dieser speziellen und wichtigen Gemeinsinnsbehaup‐ tung. 364 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="365"?> 3 Ernst H A E N C H E N , Die Apostelgeschichte. Neu übersetzt und erklärt, KEK 3, Göttingen 7 1977, 121. I. Der historische Ort des Aposteldekrets Das historische Problem des Aposteldekrets ergibt sich vor allem aus dem Vergleich zwischen Act 15 und Gal 2,1-10: Wenn - wie die Mehrheit der Exegeten annimmt - beide Texte von demselben Ereignis handeln, dann liegt einer der wesentlichen Differenzpunkte darin, dass Paulus mitteilt, es sei ihm - außer der Kollekte - von den Jerusalemern „nichts auferlegt“ worden (Gal 2,6), während Act 15 die Verpflichtung der Heidenchristen auf die Forderungen des Aposteldekrets als Ergebnis der Verhandlungen [93] nennt und dies mit er‐ heblichem literarischen Aufwand stilisiert, die Kollekte aber gar nicht erwähnt. Zusammen mit der unterschiedlichen Zahl der Paulusreisen nach Jerusalem ist diese Differenz vermutlich der Punkt, an dem das zentrale Problem der Act-Forschung so klar zum Ausdruck kommt wie an keiner anderen Stelle: „Das lukanische Paulusbild stimmt nicht mit dem der paulinischen Briefe überein.“ 3 Angesichts der großen theologischen Bedeutung, die die Vereinba‐ rung zwischen Paulus und den Jerusalemer Aposteln über die Heidenmission sowohl für Paulus als auch für die Darstellung in Act besitzt, kulminieren in der Frage nach dem historischen Ort des Dekrets gleich mehrere wichtige und von der Forschung intensiv diskutierte Bereiche der Act-Forschung, vor allem zum „Geschichtswert“ und zum historiographischen Charakter von Act sowie, in Verbindung damit, zur Datierung und Chronologie der Geschichte des Paulus, zur Korrelation von Gal 2,1-10 mit Act 11 f., 15 oder 18, zum lk Paulusbild u. a. m. Angesichts der Bedeutung dieses Problems ist die Beobachtung einigermaßen irritierend, dass die Forschung der letzten Jahrzehnte die Frage nach den Quellen von Act ganz weitgehend ad acta gelegt hat. Mit Blick auf die stark historische Grundierung aller genannten Fragestellungen ist diese Vernachlässigung kaum nachvollziehbar: Ein historisches Urteil, das über seine Quellen und ihre Qualität nichts auszusagen vermag, ist im besten Fall unkritisch. Anstatt sich bei der Quellensuche auf so hypothetische Konstruktionen wie die von Harnack ins Spiel gebrachte „Antiochia-Quelle“ oder (für die Wir-Passagen) auf ein Reise-Intinerar zu stützen, liegt es sehr viel näher, die paulinischen Briefe als mögliche Quelle für die lk Paulusdarstellung ins Auge zu fassen: Da die Forschung Act und Paulus regelmäßig aufeinander bezieht und den einen Bereich im Licht des anderen versteht, drängt sich diese Option für die Bestimmung der Act-Quellen unmittelbar auf. In den eher seltenen Fällen vor allem der älteren Forschung bis etwa 1970, in denen die Quellenfrage erörtert 365 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="366"?> 4 So Ernst H A E N C H E N , Die Apostelgeschichte. Neu übersetzt und erklärt, KEK 3, Göttingen 7 1977, 121; in der älteren Literatur vertreten beispielsweise von: Adolf H A R N A C K , Die Apostelgeschichte, Beiträge zur Einleitung in das NT 3, Leipzig 1908, 220 f.; D E R S ., Neue Untersuchungen zur Apostelgeschichte und zur Abfassungszeit der synoptischen Evangelien, Beiträge zur Einleitung in das NT 4, Leipzig 1911, 69-71; Alfred W I K E N ‐ H A U S E R , Die Apostelgeschichte und ihr Geschichtswert, NTA 8/ 3-5, Münster 1921, 58-62; Otto B A U E R N F E I N D , Zur Frage nach der Entscheidung zwischen Paulus und Lukas, ZSTh 23 (1954), 59-88: 74; James O ‘N E I L L , The Theology of Acts in Its Historical Setting, London 2 1970, 28; Josef S C H M I D , Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 1973, 360 f. Neuerdings auch Markus Ö H L E R , Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, WUNT 156, Tübingen 2003, 436 (zu Gal als Quelle von Act 15). Mein eigener Versuch (mit Blick auf Act 13,38 f. und 15,10) ging in dieselbe Richtung (Matthias K L I N G H A R D T , Gesetz und Volk Gottes. Das lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums, WUNT II/ 32, Tübingen 1988, 214-224), überzeugt mich aber schon seit längerem nicht mehr, vgl. dazu die retractatio: Matthias K L I N G H A R D T , „Gesetz“ bei Markion und Lukas, in: D. Sänger, M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (FS Chr. Burchard), NTOA 57, Göttingen - Fribourg 2006, 99-128. 5 Wiederum vor allem in älterer Lit., Z. B.: John K N O X , Acts and the Pauline Letter Corpus, in: L. E. Keck, J. L. Martyn (Hg.), Studies in Luke-Acts, New York 1966, 279-287; Günter K L E I N , Die zwölf Apostel. Ursprung und Gehalt einer Idee, FRLANT 59, Göttingen 1961, 189-192; Christoph B U R C H A R D , Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Studien zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus, FRLANT 103, Göttingen 1970, 155-158. Wenigstens hinzuweisen ist auf die Gegenthese, derzufolge Act die Paulusbriefe voraussetzt, so vor allem Morton S. Enslin, der seine entsprechende ältere These nach den Debatten in den 1950-er und 1960-er Jahren mit guten Argumenten erneuerte: Morton S. E N S L I N , “Luke” and Paul, JAOS 58 (1938), 81-91; D E R S ., Again: Luke and Paul, ZNW 61 (1970), 253-271; etwas zurückhaltender: Andreas L I N D E M A N N , Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion, BHTh 58, Tübingen 1979, 171 f. 6 Vgl. beispielsweise Jacob J E R V E L L , Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1998, 404: „zweifellos berichten Apg 15 und Gal 2,1-10 von demselben Ereignis. Die Unterschiede können nur zeigen, dass Lukas unmöglich Gal 2 schriftlich vor sich hatte.“ S. neuerdings wird, steht am Ende zumeist das Urteil, dass Act die Paulusbriefe entweder nicht gekannt 4 oder nicht genutzt habe. 5 [94] Wenigstens einer der Gründe für diese Zurückhaltung dürfte gerade in den Differenzen zwischen Gal 2 und Act 15 liegen. 6 Dabei gerät aus dem Blick, dass es eine ansehnliche Forschungstradition gibt, die das Aposteltreffen von Gal 2 nicht mit der Jerusalemreise des Paulus nach Act 15, sondern entweder mit dem in Act 11,27-30; 12,25 oder mit dem 366 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="367"?> auch M. Ö H L E R , Barnabas 436: „Zu den Quellen (sc. von Act 15) ist zunächst festzuhalten, dass Lk den Galaterbrief nicht kannte. Die in wesentlichen Punkten abweichende Darstellung des Konvents sowie das Verschweigen des Konfliktes lassen die Annahme einer Abhängigkeit nicht zu.“ 7 Vgl. dazu umfassend Z E I G A N , Aposteltreffen (passim). 8 Zuletzt zusammengestellt von David T R O B I S C H , The Council of Jerusalem in Acts 15 and Paul’s Letter to the Galatians, in: Chr. Seitz, K. Greene-McCreight (ed.), Theological Exegesis. Essays in Honor of B. S. Childs, Grand Rapids - Cambridge 1999, 331-338. in Act 18,22 geschilderten Besuch korreliert 7 - je nach Korrelation verschieben sich dann die Koordinaten, die das lk Paulusbild bestimmen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die paulinischen Briefe als Quelle der Geschichte des Paulus in Act zu verstehen. Lk hätte dieser Überle‐ gung zufolge nichts anderes getan, als jeder andere Historiograph auch tut, näm‐ lich: die Einzeldaten seiner Quelle(n) in eine kohärente Erzählung zu integrieren. In diesem Fall ergibt sich eine Reihe sehr deutlicher Berührungen zwischen den Paulusbriefen und der Act-Erzählung, die teilweise bis in die Formulierungen hinein reichen. Dieser Versuch, Act als historiographische Interpretation der Daten aus den Paulusbriefen - vor allem der autobiographischen Angaben in Gal 1 f. - zu verstehen, ist ebenso [95] wenig neu wie die meisten der dafür relevanten Beobachtungen. 8 Ich begnüge ich mich daher mit einigen Hinweisen und gehe den Gal-Text von Anfang an durch. 1. Die erste enge Entsprechung betrifft die Verfolgungstätigkeit des Paulus in Gal 1,13 f. und Act 7,58-8,3. Am auffälligsten ist hier die Formulierung καθ´ ὑπερβολὴν ἐδίωκον τὴν ἐκκλησίαν τοῦ θεοῦ καὶ ἐπόρθουν αὐτήν (Gal 1,13): das Stichwort διωγμός taucht auch Act 8,1 auf (διωγμὸς μέγας ἐπὶ τὴν ἐκκλησίαν), nach 8,3 wird auch die verbale Formulierung deutlich (Σαῦλος δὲ ἐλυμαίνετο τὴν ἐκκλησίαν). Die Beteiligung an und Zustimmung zu der Steinigung des Stephanus (Act 7,58; 8,1a) scheint die Aussagen in Gal 1,14 (ὑπὲρ πολλοὺς συνηλικιώτας … περισσοτέρως ζηλωτὴς ὑπάρχων) bzw. Phil 3,6 zu kommentieren. 2. Auch im Bericht von der Berufung des Paulus gibt es Berührungen: Zunächst ist die Lokalisierung der Christophanie bei Damaskus zu nennen, die Gal 1,16 voraussetzt und Act 9,3 direkt mitteilt. Daneben fällt vor allem auf, dass Paulus die Christophanie als Offenbarung der Gottessohnschaft Jesu erklärt (Gal 1,16: ἀποκαλύψαι τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐν ἐμοί); das ist insofern aufschlussreich, als Paulus sonst ja durchaus in anderen Wendungen (mit einem jeweils anderen traditionsgeschichtlichen Profil) auf dieses Ereignis referiert: Dass er in dieser Vision speziell die Gottessohnschaft Jesu offenbart bekam, sagt er nur an dieser Stelle, und Act hat es eins zu eins von hier übernommen, wie die summarische Notiz seiner Verkündigung zeigt: οὗτός ἐστιν ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ (Act 9,20). 367 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="368"?> 9 Vgl. 2Kor 11,33 (ἐν σαργάνῃ ἐχαλάσθην διὰ τοῦ τείχους) mit Act 9,25 (διὰ τοῦ τείχους καθῆκαν αὐτὸν χαλάσαντες ἐν σπυρίδι). 10 Vgl. B U R C H A R D , Zeuge 158 f. mit Anm. 100, der 2Kor 11 als „traditionsgeschichtliche Wurzel“ von Act 9 bestimmt und den Bezug „als Folge mündlicher Überlieferung“ erklärt. Sein Urteil („Apg 9,24b-25 beruht also nicht auf 2.Kor 11,32 f., sondern … auf ‚Tradition des paulinischen Missionsgebietes’“ [Hervorhebung M. K.]) ergibt sich allerdings gerade nicht aus seinen Ausführungen, die auf die zunehmende Verbreitung und Kenntnis der Paulusbriefe hinauslaufen. 3. Ein dritter Komplex von Berührungen betrifft die Sequenz vom ersten Jerusalembesuch des Paulus nach der Berufung bis zum Transfer nach Syrien und Kilikien nach Gal 1,18-24. Act hat zunächst die Gliederung der Zeitstruktur übernommen und die Angabe μετὰ ἔτη τρία (Gal 1,18) in der Formulierung ὡς δὲ ἐπληροῦντο ἡμέραι ἱκαναί (Act 9,23) aufgegriffen. In Gal 1 begründet Paulus den Ortswechsel von Damaskus nach Kilikien nicht: Eine solche Motivation ist im Rahmen der narratio verzichtbar, weil Paulus nur daran interessiert ist, seine Kontakte zu den Jerusalemern darzulegen. Wenn man allerdings die Geschichte der Anfänge des Christentums erzählen (und dabei narrative Brüche vermeiden) will, sollte man nach einem Motiv für diesen Ortswechsel suchen - und findet dann in 2Kor 11,32 f. den Hinweis auf die Flucht aus Damaskus, bei der Paulus „in einem Korb durch die Mauer hindurch hinuntergelassen“ wurde; Lk hat dies jedenfalls so gesehen und dabei auch noch dieselbe Formulierung [96] übernommen. 9 Allerdings hat er die Feindschaft des Aretas, seinem eigenen redaktionellen Konzept (bzw. seinem Geschichtsbild) entsprechend, durch die Nachstellung der Damaszener Juden ersetzt. 10 In diesem Zusammenhang hat Lk aus Gal 1,21 nicht nur die allgemeineren Ortsangaben (τὰ κλίματα τῆς Συρίας καὶ τῆς Κιλικίας), die für das paulinische Darstellungsinteresse wiederum völlig ausreichen, aufgegriffen und durch die Nennung der Städte (Act 9,30: Tarsus; vgl. 11,24: Tarsus und Antiochia) präzisiert, er hat auch den Hinweis, dass Paulus den Christen in Judäa unbekannt blieb, durch die Hilfe der „Brüder“ erläutert, die ihn schnell weitergeschickt haben. Methodisch ist an dieser Stelle der Hinweis wichtig, dass Lk die Episode über die Flucht aus Damaskus „in einem Korb durch die Stadtmauer hinab“ nicht aus Gal, sondern aus 2Kor 11 kannte: Die Paulusdarstellung in Act beruht nicht nur auf den biographischen Angaben in Gal 1 f., sondern setzt die Kenntnis von mehreren Paulusbriefen voraus. 4. Auch die Berichte der folgenden zweiten Paulusreise nach Jerusalem sind in Gal 1 und Act wieder parallel. „Nach 14 Jahren“ (Gal 2,1) ist eine für Paulus ausreichend genaue Datierung: Er passt sie in den relativen Zeitrahmen der Auflistung seiner Jerusalembesuche ein. Für einen historischen Bericht ist dagegen die Verlinkung mit der allgemeinen - wenn möglich: der politischen - Chronologie (an der Lk ohnehin interessiert ist) ungleich wichtiger: Lk hat diese 368 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="369"?> 11 Für Weiteres vgl. z. B. Gerhard S C H N E I D E R , Die Apostelgeschichte I. Einleitung, Kom‐ mentar zu Kap. 1,1-8,40, HThK 5,1, Freiburg (Brsg.) 1980, 116 Anm. 75; M. E N S L I N , Again: Luke and Paul, ZNW 61 (1970), 253-271: 259-267. Datierung durch den Hinweis auf die Hungersnot unter Claudius geleistet und damit zugleich ein Motiv für die Reise der Antiochener nach Jerusalem geliefert (Act 11,28-30). Wie sehr sich Lk bemüht, die Angaben aus Gal 2 auszuschreiben und zu plausibilisieren, zeigt außerdem der Hinweis auf die Agabusweissagung „durch den Geist“ (Act 11,28), die die Aussendung von Paulus und Barnabas durch die antiochenische Gemeinde veranlasst: Lk verbindet auf diese Weise die durch Paulus betonte Vorgabe, er sei „aufgrund einer Offenbarung“ nach Jerusalem gereist (Gal 2,2) mit dem Interesse, die Überbringung von Geldmitteln εἰς διακονίαν (Act 11,29) nicht als Privatangelegenheit des Paulus dazustellen, sondern als Gemeindeaktion. Auf diese Weise hat sich Lk offensichtlich auch den paulinischen Hinweis auf die Kollekte (Gal 2,10: τῶν πτωχῶν ἵνα μνημονεύωμεν) erklärt. Von daher hat Act die Überbringung der Kollekte (Gal 2,10: ὃ καὶ ἐσπούδασα αὐτὸ τοῦτο [97] ποιῆσαι) ganz offensichtlich mit dem Unterstüt‐ zungsbesuch der Antiochener nach Act 11,27-30 identifiziert. 5. Die nächste Information in Gal ist der Bericht über den sog. „Antiochen‐ ischen Zwischenfall“, der sein Gegenstück in Act 15,1 f. hat. In beiden Fällen wird ein großer Streit dadurch ausgelöst, dass Christen aus Judäa in Antiochia eintrafen: Paulus deutet an, dass sie von Jakobus kamen (Gal 2,12: τινες ἀπὸ ᾿Ιακώβου), während Act 15,1 - aus gutem Grund - nur „einige von Judäa“ (τινες … ἀπὸ τῆς ᾿Ιουδαίας) erwähnt. Ihr Eintreffen verursachte eine große Auseinandersetzung, die nach Gal 2 zwischen Paulus auf der einen, Petrus, Barnabas und allen anderen Judenchristen auf der anderen Seite stattfand. Der Bericht in Act lässt Petrus an dieser Stelle ganz weg und gibt wegen der Wortstellung auch nicht so recht zu erkennen, dass auch Barnabas zu den Opponenten des Paulus gehörte. Der letzte Punkt, der an dieser Stelle wichtig ist, ist der Hinweis auf die Beschneidung: Dass in der Frage der Tischgemeinschaft des Petrus mit den Heidenchristen ihre Beschneidung zur Debatte steht, ist aus dem Kontext ohne weiteres ersichtlich, auch wenn das Problem an dieser Stelle nur durch die Erwähnung der Furcht „vor denen aus der Beschneidung“ (2,12) angedeutet ist. Act 15,1 hat also das Kernproblem dieser grundlegenden und heftigen Auseinandersetzung (στάσις καὶ ζήτησις οὐκ ὀλίγης) in der Beschneidungsforderung der Judäer (15,1) zutreffend erfasst. 6. Die hier genannten Beispiele für die engen Entsprechungen sollten genügen, um die Abhängigkeit des Act-Berichts von den biographischen Angaben der Paulusbriefe zu sichern. 11 Gleichwohl tendiert die Forschung ganz überwiegend dazu, diese Analogien auf andere Weise zu erklären, sofern 369 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="370"?> 12 Die Durchsicht einer eher zufälligen Auswahl neuerer Act-Kommentare ergab einen negativen Befund: Keiner von ihnen erwähnt die Beziehung zwischen Act 15,24 und Gal 2,12. Eingesehen wurden: Charles K. B A R R E T T , Acts II, ICC, London - New York 1998; Hans C O N Z E L M A N N , HNT 7, Tübingen ² 1972; Wilfried E C K E Y , Die Apostelgeschichte I, Neukirchen-Vluyn 2000; Jacob J E R V E L L , KEK 3, Göttingen 1998; Gerd L Ü D E M A N N , Das frühe Christentum, Göttingen 1987; Franz M U S S N E R , NEB 5, Würzburg ² 1988; Rudolf P E S C H , EKK 5/ 2, Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1986; Jürgen R O L O F F , NDT 5, Göttingen ² 1988; Gottfried S C H I L L E , ThHK 5, Berlin 1989; Gerhard S C H N E I D E R , Apostelgeschichte II, HThK 5,2, Freiburg 1982; Walter S C H M I T H A L S , ZBK.NT 3,2, Zürich 1982; Alfons W E I S E R , ÖTK 5,2, Leipzig 1985; Josef Z M I J E W S K I , RNT, Regensburg 1994. sie sie überhaupt als erklärungsbedürftiges Problem wahrnimmt. Um letzte Zweifel auszuräumen, verweise ich daher auf eine weitere Entsprechung, die die angenommene literarische Abhängigkeit zwingend beweist: Nach Gal 2,12 ist der inkriminierte Rückzug des Petrus von der Tischgemeinschaft mit den antiochenischen Heidenchristen dadurch veranlasst, dass „einige von Jakobus“ kamen und ihn das Fürchten lehrten. Damit gehört für Paulus auch Jakobus zu den „heuchelnden“ Bösewichtern. Der Dekretsbrief, den die Jerusalemer Apostel und Ältesten an die Heidenchristen in Syrien und Kilikien schicken, flicht an dieser Stelle dagegen die Bemerkung ein, dass diejenigen, die „von uns gekommen sind (τινὲς ἐξ ἡμῶν ἐξελθόντες)“ und den Streit veranlasst hatten, ohne Auftrag gehandelt haben: οἷς οὐ διεστειλάμεθα (Act 15,24). Dieser Hinweis, der in erster Linie den von Paulus namentlich genannten Jakobus exkulpiert, ist deswegen so bemerkenswert, weil sich aus Act 15,1 (τινες κατελθόντες ἀπὸ τῆς [98] ᾿Ιουδαίας) ein entsprechender Vorwurf überhaupt nicht ergibt: Lk lässt seine Jerusalemer Apostel also einen Vorwurf dementieren, den nur Paulus sehr pointiert gegen Jakobus erhoben hatte! Dass diese Entsprechung von der Forschung - wenn ich richtig sehe 12 - konstant übersehen wurde, hat seinen Grund wohl darin, dass Gal 2,1-10 fast durchweg mit Act 15,4-35 korreliert wird. Dieser Nachweis der Quellen, die der Act-Darstellung zugrunde liegen, erlaubt eine Reihe von Schlussfolgerungen mit Blick auf das Aposteldekret, die hier als kurze Zwischenbilanz zu nennen sind: 1. Der Act-Bericht beruht auf Angaben aus den paulinischen Briefen. Wie das kleine, aber deutliche Detail von der Flucht aus Damaskus in einem Korb durch die Mauer zeigt, setzt Act nicht nur den Gal, sondern (mindestens) auch den 2Kor, vermutlich aber wohl alle Paulusbriefe voraus. Das hat zunächst die Folge, dass der Wert von Act als eigenständige Quelle für eine Rekonstruktion der Geschichte des Paulus gegen Null tendiert. Denn falls Lk neben den Paulusbriefen noch andere Quellen zur Verfügung hatte, können wir sie nicht identifizieren. 370 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="371"?> 13 Diese Lösung ist nicht neu; sie wurde schon vor über 100 Jahren von William M. R A M S A Y , Paulus in der Apostelgeschichte, Gütersloh 1897, 127-145 [= St. Paul the Traveller and the Roman Citizen, London 1895, 152-177] vertreten und jüngst noch einmal von H. Z E I G A N repristiniert (Aposteltreffen in Jerusalem, 415-492). Beide gehen von der Zahl der paulinischen Jerusalemreisen aus und passen sie in einen chronologischen Rahmen - übersehen dabei jedoch, dass dieser chronologische Rahmen wiederum nur auf den Angaben der Apostelgeschichte sowie ihrer Eintragung in die Datierung der Paulusbriefe beruht. Mit Blick auf diese methodische Schwäche ist der Kritik des Rezensenten ( Jürgen W E H N E R T , ThLZ 131 [2006], 862-864) zuzustimmen. Dass allerdings die materiale These der Korrelation von Act 11 f. und Gal 2,1-10 „vom weiteren Gang der Forschung schnell überholt“ werde (W E H N E R T , a. a. O. 864) ist mit Blick auf die hier angewandte Methodik wenig wahrscheinlich. 2. Umgekehrt erlaubt diese Einsicht jedoch eine sehr präzise Zuordnung der Geschehensfolge der Act-Erzählung zu den aus den Paulusbriefen gewonnenen Informationen. Dies betrifft zunächst das Jerusalemer Aposteltreffen nach Gal 2,1-10: Bei seinem Versuch, die paulinischen Daten in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen und als kohärente Erzählung auszuschreiben, hat Lk die Ereignisse von Gal 2,1-10 nicht mit dem Act 15,3-35 geschilderten Jerusalembesuch korreliert, sondern mit dem „Kollektenbesuch“ in Act 11,27-30; 12,25. 13 Das Problem der Anerkennung des paulinischen [99] Heidenapostolats, das für Paulus im Mittelpunkt der Darstellung in Gal 2,1-10 steht, war für Lk ohne größeres Interesse - er übergeht es mit Stillschweigen, erwähnt aber doch genügend Details (die Veranlassung durch die Offenbarung; Überbringung einer Unterstützung der Antiochener für die Jerusalemer), um diese Identifizierung zu sichern. 3. Diese Identifizierung hat zur Folge, dass der heftige Streit zwischen Paulus und den „Heuchlern“ in Antiochia (Gal 2,11 ff.) dann eine sehr genaue Entsprechung in den Act 15,1 f. geschilderten Auseinandersetzungen findet. Die Versammlung von Act 15,4 ff., auf der das Aposteldekret beschlossen wurde, ist - wie das unveranlasste Dementi der Jerusalemer Apostel belegt - ein Treffen, von dem Paulus gar nichts berichtet. Nach meiner Einschätzung konnte Paulus davon auch nichts berichten, weil es dieses Treffen nicht gab. Lk hätte es also „dazuerfunden“ und die gravierende Auseinandersetzung in Antiochia zu einem Missverständnis degradiert: Die Act-Erzählung bemüht sich um den Nachweis, dass die von Paulus so bezeichneten „Emissäre“ des Jakobus gar keine waren und jedenfalls ohne seinen Auftrag gehandelt haben. Erst diese harmonisierende Act-Erzählung hat daher die heftige Auseinandersetzung, von der Paulus berichtet, zu dem gemacht, als was die Forschung sie zu bezeichnen pflegt: Zu einem vorübergehenden, in einem weiteren Treffen rasch wieder korrigierten „Zwischenfall“. 371 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="372"?> 14 So aber z. B. Bo R E I C K E , Der geschichtliche Hintergrund des Aposteldekrets und der Antiochia-Episode, Gal. 2,1-14, in: J. N. Sevenster, W. C. van Unnik (ed.), Studia Paulina. In honorem J. de Zwaan Septuagenarii, Haarlem 1953, 172-187: 175; August S T R O B E L , Das Aposteldekret als Folge des antiochenischen Streites. Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheit und Einheit im Gespräch der Kirchen, in: P.-G. Müller, W. Stenger (Hg.), Kontinuität und Einheit (FS Fr. Mußner), Freiburg (Brsg.) 1981, 81-104: 83; Anna Maria S C H W E M E R , Paulus in Antiochien, BZ 42 (1998), 161-180: 175 f.; Martin H E N G E L , Anna Maria S C H W E M E R , Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, WUNT 108, Tübingen 1998, 247.329 f.; Alexander J. M. W E D D E R B U R N , Paul and Barnabas. The Anatomy and Chronology of a Parting of Ways, in: I. Dunderberg et al. (ed.), Fair Play. Diversity and Conflicts in Christianity (FS H. Räisänen), NT.S 103, Leiden u. a. 2002, 291-310: 297-300; Markus Ö H L E R , Barnabas, 77-86; 444-454. Zum Ganzen s. H. Z E I G A N , Aposteltreffen 237 ff. 15 Dieses Ergebnis ähnelt der Lösung von A. S T R O B E L , Aposteldekret, und anderen - mit dem Unterschied allerdings, dass das Aposteldekret überhaupt nicht in die Zeit des Paulus gehört. 16 Vgl. dazu Matthias K L I N G H A R D T , Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern, TANZ 13, Tübingen 1996, bes. 21-174; Dennis E. S M I T H , From Symposium to Eucharist: The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003. Nur am Rande sei angemerkt, dass damit auch eine Verbindung des an‐ tiochenischen Streits mit dem Jerusalembesuch des Paulus nach Act 18,22 ausgeschlossen ist. 14 4. Bemerkenswerter Weise hat Lk in die Erzählung von dem Jerusalemer Treffen der Beteiligten, bei dem dieses „Missverständnis“ beseitigt [100] wurde, das Aposteldekret eingefügt. Für unsere Fragestellung ist damit klar, dass das Aposteldekret im Horizont der lk Darstellung nicht dazu dient, die - für Paulus so grundlegende - Frage der Erwählung der Heiden zu begründen: Es hat für ihn keine Funktion für die Konstituierung des einen Gottesvolkes aus Juden und Heiden. Es liefert lediglich die Regeln, wie sich die Kirche aus Juden und Heiden bei Tisch zu benehmen hat. 15 Das aber ist nicht wenig. Es ist schon deswegen nicht wenig, weil das Mahl - in frühchristlichen Gemeinden wie in allen anderen Sekundärgruppen der griechisch-römischen Antike - die Gemeinschaft abbildet, die es begeht. 16 Ob das Aposteldekret damit zu einem christlichen Vereinsnomos wird, der die sozialen und religiösen Grenzen der christlichen Gemeinde definiert, ist jedoch eine Frage, die noch zu klären sein wird. 5. Das eigenartige Phänomen des unveranlassten Dementis der Jerusalemer Autoritäten zeigt jedoch nicht nur die generelle Abhängigkeit der Act-Erzäh‐ lung von den Paulusbriefen im Sinn ihrer Quellenbasis. Die entscheidende Ein‐ sicht besteht darin, dass dieses Dementi seine literarische Funktion ja überhaupt nur im Kontext der Paulusbriefe entfalten kann. Der Bericht von Act 15 will also 372 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="373"?> 17 Zu dem dreifachen Bericht über die Berufung des Paulus in Act 9,3-19; 22,6-16; 26,12- 18 vgl. B U R C H A R D , Zeuge 51-136; Daniel M A R G U E R A T , The First Christian Historian. Writing the ‘Acts of the Apostles’, SNTS.MS 121, Cambridge 2002, 179-204. ganz eindeutig neben und mit den Paulusbriefen gelesen werden und versteht sich selbst als eine Art narrativer Kommentar dazu, der die Geschehensabläufe hinter den verstreuten brieflichen Informationen kohärent rekonstruiert und in diesem Zug auch naheliegende Missverständnisse beseitigt. Gerade, weil Act entscheidende Verstehenshilfen für die Lektüre des Gal und der anderen Paulusbriefe gibt, ist aber auch klar, dass diese hermeneutische Funktion nur im Rahmen einer gemeinsamen Ausgabe zielführend ist. Denn solange Gal un‐ abhängig von dem Act-Bericht gelesen wird, bleibt die Korrektur wirkungslos: Jakobus und die anderen Jerusalemer Autoritäten wären die „Heuchler“, als die sie Paulus darstellt - und die antiochenische Auseinandersetzung wäre kein korrigierbarer „Zwischenfall“, sondern das grundlegende, unüberbrückbare Zerwürfnis, als das es im Gal erscheint. [101] II. Die kanonische Dimension des Aposteldekrets Die Bedeutung des Aposteldekrets wird aber auch daran deutlich, dass Lk seine Forderungen gleich dreimal mitteilt (Act 15,19 f. 29; 21,25). Ähnlich prominent ist in Act sonst nur noch die Berufung des Paulus herausgestellt. 17 Um diese Bedeutung genauer zu erfassen, ist der weitere Begründungsrahmen zu beschreiben, in den das Dekret eingebunden ist. 1. Zunächst ist nach den Begründungsstrukturen zu fragen, in die die Verab‐ schiedung des Dekrets und seine Promulgierung eingebunden sind, weil die Dimension dieser Strukturen erkennen lässt, welche nicht in Frage gestellten Ausgangspunkte eigentlich dazu genutzt werden, eine Regel von so großer Tragweite wie das Aposteldekret zu implementieren. Methodisch liegt dieser Überlegung die These zugrunde, dass eine soziale Ordnung - eine Gruppe, eine Gemeinde, eine Stadt, eine Nation usw. - auf die Behauptung eines Potentials an Gemeinsinn angewiesen ist, wobei „Gemeinsinn“ sowohl den Sinn der Einzelnen für das Gemeinsame als auch das allen gemeinsame Sinnpotential umfasst. Dieser Gemeinsinn ist die entscheidende Ressource, die partikulare - also „eigensinnige“ - Divergenzen zu überwinden und soziale Ordnungen zu konstituieren in der Lage ist. Interessanterweise erscheint die Behauptung oder Mobilisierung solchen Gemeinsinns regelmäßig verschränkt in Diskurse oder Praktiken der Unverfügbarkeit. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, diese axiomatischen Elemente zu identifizieren und ihre Begründungsfunktion zu analysieren. 373 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="374"?> 18 Vgl. J E R V E L L , Apostelgeschichte, 393 f. 19 Gal 2,9: οἱ δοκοῦντες στῦλοι. Unabhängig davon, ob οἱ δοκοῦντες Distanz vermittelt, ist wichtig, dass Jakobus hier an erster Stelle genannt wird (s. Günter K L E I N , Galater 2, 6-9 und die Geschichte der Jerusalemer Urgemeinde, in: ders., Rekonstruktion und Interpretation. Gesammelte Aufsätze zum Neuen Testament, BEvTh 50, München 1969, 99-117: 107-109). 20 B U R C H A R D , Zeuge (passim); Richard J. D I L L O N , From Eye-Witnesses to Ministers of the Word. Tradition and Composition in Luke 24, AnBibl 82, Rom 1978. - In Act 14,4.14 finden sich zwei Ausnahmen von dieser Regel, in denen neben Paulus auch Barnabas als Apostel bezeichnet wird. Anstatt diese Belege durch quellen- oder textkritische a. Eine erste Autorisierung erfährt das Dekret durch die Personen, die für sein Zustandekommen verantwortlich sind. Das ist zunächst Jakobus, der mit starker Betonung sagt: „Ich urteile“ (ἐγὼ κρίνω, 15,19). Die Betonung der Autorität des Jakobus ist deswegen auffällig, weil sie (wie verschiedentlich aufgefallen ist) 18 im Rahmen der Act-Erzählung weder narrativ vorbereitet ist noch später wieder aufgegriffen wird. Natürlich weiß der Verfasser, dass Paulus - vielleicht mit spöttischem Unterton - Jakobus zu denen rechnet, die in Jerusalem als „Säulen“ Ansehen genießen. 19 Außerdem ist er ja derjenige, dessen Emissäre nach Gal 2,12 den Eklat allererst verursacht haben und der deswegen von diesem Makel befreit werden [102] muss. Aber gerade dieser Hinweis lässt Jakobus als wenig geeignet erscheinen, das Dekret zu inaugurieren: Die für Jakobus reklamierte Autorität findet innerhalb von Act (oder auch des Doppelwerks Lk-Act) keine rechte Begründung. Das ist ein erster Hinweis darauf, dass hier eine textexterne Referenz vorliegt. Denn natürlich ist dem Leser des ganzen NT sehr wohl bewusst, dass „Jakobus“ ja auch einen Brief verfasst hat, der gleichberechtigt neben denen der anderen Jerusalemer Apostel Petrus und Johannes (genauer: an ihrer Spitze) - und neben denen des Paulus - steht. Neben Jakobus spielen bei der Promulgation des Dekrets die Apostel und Ältesten eine entscheidende Rolle (15,22 f.) - obwohl diese Gruppen zwar zu Beginn der Verhandlung erwähnt werden, dann aber bei den eigentlichen Verhandlungen ganz in den Hintergrund treten. Vor allem die Erwähnung der Apostel ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, denn Act verwendet be‐ kanntlich einen sehr engen Apostelbegriff, der gleich zu Beginn des Act-Berichts definiert wird: Apostel kann nur sein, wer „die ganze Zeit mit uns zusammen war“, wer Augenzeuge des irdischen Jesus war „angefangen von der Taufe des Johannes“ und wer die Auferstehung Jesu bezeugen kann (Act 1,21 f.). Das ist eine ganze Menge, und es ist daher auch nicht überraschend, dass die Zahl dieser Apostel auf zwölf begrenzt ist: Paulus fällt bekanntlich durch das enge Raster dieser Definition und wird in Act dementsprechend auch so gut wie nie als Apostel bezeichnet. 20 Diese Historisierung des Apostolats macht „die Apostel“ 374 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="375"?> Überlegungen wegzuerklären (vgl. dazu S C H N E I D E R , Apostelgeschichte I, 221-232, bes. 228 mit Anm. 26), sollte man sie als Textsignale ernst nehmen. Denn sie machen deut‐ lich, was ohnehin wenig zweifelhaft ist: Dass nämlich Paulus im Verständnis von Act selbstverständlich ein Apostel ist. Mit dieser Einsicht verschiebt sich das Verständnis von Act 1,21 f. entscheidend: Dass der Apostolat exklusiv auf den Zwölferkreis der „Augenzeugen von Anfang an“ eingegrenzt ist, ist nicht die Ansicht von Act, sondern (nur) die des literarisch fingierten Petrus, dem diese Kriterien in den Mund gelegt sind. Act macht damit deutlich, dass die Bestreitung des paulinischen Apostolats durch die Jerusalemer Apostel, die aus den Briefen zur Genüge bekannt ist, nicht auf kleinliche Konkurrenz oder gar auf eine Ablehnung der paulinischen Theologie zurückzuführen ist, sondern auf ein Apostolatskonzept, das bei den Jerusalemern schon lange vor der Berufung des Paulus fest in Geltung stand: Auch wenn Act (u. a. durch Act 14,4.14) deutlich macht, dass dieses Konzept des exklusiven Zwölferapostolats keineswegs die eine „wahre“ Lösung darstellt, wird es eben doch zu einer „historisch“ nachvollziehbaren Größe. 21 Vgl. zusammenfassend M A R G U E R A T , The First Christian Historian, 109-128. 22 Vgl. Jacob J E R V E L L , The Law in Luke-Acts, in: ders., Luke and the People of God. A New Look at Luke-Acts, Minneapolis 1972, 133-151: 144; K L I N G H A R D T , Gesetz und Volk Gottes, 200 Anm. 40. zu einem singulären, uneinholbaren Phänomen der Vergangenheit. Die Exklu‐ sivität dieser Gruppe und die Kriterien, durch die sie konstituiert wird, stellen die Unverfügbarkeit des Apostolats dauerhaft sicher und entziehen ihn späteren Versuchen Dritter, sich selbst legitim als Apostel [103] zu bezeichnen: Genau darauf beruht die Autoritätszuschreibung, die Lk hier für die Verabschiedung und Promulgierung des Dekrets in Anspruch nimmt. b. Im Dekretsbrief wird eine weitere Instanz genannt, die eng mit dem Apos‐ tolatsverständnis verbunden ist. Dort heißt es lapidar: „Der Heilige Geist und wir haben beschlossen …“ (15,28). Auch diese Referenz ist aufschlussreich. Dass die Pneumatologie in Act eine besondere Rolle spielt, ist allgemein bekannt. 21 An dieser Stelle soll der kurze Hinweis genügen, dass die relevanten Belege, die dieses theologische Konzept i.W. konstituieren, sehr einseitig verteilt sind: Denn fast alle wichtigen Aussagen finden sich zunächst in Lk 1-3 und dann wieder in großer Dichte in Act. Das heißt: Der Großteil des Lk-Evangeliums fällt als Konstitutionsbasis der lk Pneumatologie aus. Die Bedeutung dieses Befundes wird gleich deutlicher werden, wenn wir die letzte wesentliche Begründung des Aposteldekrets ins Auge fassen. c. Denn direkt im Anschluss an die erste Formulierung der Dekretsforde‐ rungen begründet Jakobus seinen Vorschlag: „Denn Mose hat seit alten Zeiten in jeder Stadt seine Verkündiger, wenn er an jedem Sabbat in den Synagogen ver‐ lesen wird“ (15,21). 22 Diese Begründung ist in mehrfacher Hinsicht denkwürdig. Zunächst fällt auf, dass wegen des Hinweises auf die Lektüre am Sabbat eine jüdische Rezeption des Mosegesetzes vorausgesetzt wird. Tatsächlich aber geht 375 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="376"?> 23 Vgl. dazu K L I N G H A R D T , „Gesetz“ bei Markion und Lukas, 115-117. 24 Vgl. K L I N G H A R D T , Gesetz und Volk Gottes, 121-123. es im Zusammenhang der Schlichtung des antiochenischen Streits und der Etablierung der christlichen Mahlregeln um ein innerchristliches Problem. Hier bleibt eine Inkongruenz: Inwiefern kann die Verlesung des Mosegesetzes in den jüdischen Synagogen dazu dienen, die Geltung der Jakobusklauseln im Horizont christlicher Gemeinden begründen? Sodann ist klar, dass hier das Gesetz als schriftliches Dokument vorausgesetzt wird, das „gelesen“ wird. Die Bezeichnung „Mose“ für den ersten Teil der Bibel neben den anderen Kanonteilen „Propheten“ und „Psalmen“ findet sich bekanntlich zum ersten Mal überhaupt in Lk 24,44. 23 Und schließlich liegt der Bezug zwischen der pneumatologischen Autorisierung und der Begründung des Aposteldekrets mit „Mose“ auf der Ebene der lk Theologie erkennbar darin, dass die in Act 2 erzählte Gabe des Geistes die Jünger zu eigenständiger Schriftinterpretation befähigt - wie die erste Petrusrede mit der Auslegung des Joelzitats unter Beweis stellt. 24 Zuvor ist das Verständnis der Schrift Jesus allein vorbehalten, [104] weswegen er den Jüngern „alles darlegt, anfangend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (Lk 24,27) und ihnen „die Augen öffnet für das Verständnis der Schrift“ (Lk 24,45): Die Funktion der Jünger, die ihnen am Ende des Lk zugeschrieben wird, besteht in der Bezeugung dieser Übereinstimmung zwischen alttestamentlicher Weissagung und Erfüllung in Jesus - und genau dazu bedarf es der „Gabe, die mein Vater verheißen hat“, der „Kraft aus der Höhe“ (24,49). So erweisen sich am Ende die Begründungsstrukturen, die mit der Verabschie‐ dung und Promulgierung des Aposteldekrets verbunden sind, als Knotenpunkte der lk Theologie. Dieses Resultat ist nicht neu, aber es besagt an dieser Stelle zunächst für die Frage nach der Herkunft des Dekrets, dass es keine literarkri‐ tischen Anhaltspunkte gibt, die auf seine Herkunft aus einer anderen, uns unbekannten Quelle hindeuten würden: Das Aposteldekret ist gleichursprüng‐ lich mit der Herstellung der uns vorliegenden Endfassung des lk Doppelwerks. 2. Damit lässt sich das Problem der kanonischen Dimension des Dekrets noch weiter eingrenzen, weil sich der historische Ort der Abfassung des lk Doppelwerks m. E. noch recht konkret festlegen lässt. Im Hintergrund dieser Überlegungen steht eine These, die hier nur zu nennen, nicht aber im Einzelnen zu erläutern ist. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass das Evangelium, das im 2. Jh. Teil der Bibel Marcions war, nicht - wie überwiegend angenommen wird - eine Verstümmelung des kanonischen Lk-Evangeliums ist, sondern dass umgekehrt das kanonische Lk eine redak‐ 376 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="377"?> 25 Matthias K L I N G H A R D T , Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513; D E R S ., „Gesetz“ bei Markion und Lukas, 99-128. 26 So geht der gesamte Anfang (Lk 1,1-2,52; 3,1b.4-16) und das Ende (größere Teile von Lk 24) auf redaktionelle Ergänzungen zurück, aber auch andere Texte wie z. B. das Gleichnis vom Verlorenen Sohn. 27 Besonders wichtig: Im Unterschied zu der älteren Vorlage hat die lk Redaktion die Schilderung der sog. „Antrittspredigt Jesu“ (4,16-30) vor den Bericht vom Exorzismus in Kapernaum (4,31-36[37]) gezogen und auf diese Weise programmatisch herausgestellt, vgl. K L I N G H A R D T , Markion vs. Lukas, 497-512. 28 Am wichtigsten sind die aufeinander verweisenden Prologe (Lk 1,1-4; Act 1,1 f.) sowie der Hinweis auf die Himmelfahrt des Auferstandenen (Lk 24,51b; Act 1,9-11) - alle diese Texte gehören zur lk Redaktion. tionelle Erweiterung eines älteren Evangeliums ist, das sicher noch aus dem 1. Jh. stammt und das dann auch von Marcion rezipiert und in seine „Bibelausgabe“ aufgenommen wurde. 25 Der Text und das Profil dieses älteren Evangeliums lassen sich mithilfe der häresiologischen Referate noch einigermaßen genau rekonstruieren. Im Umkehrschluss kann dann auch sehr genau bestimmt werden, welche Elemente dieser lk Redaktion angehören: Sie hat den älteren Evangelientext um etliche Passagen ergänzt, 26 Einzelnes umgestellt 27 und etlichen Perikopen durch kürzere oder längere Ergänzungen ein anderes Gepräge geben. Vor allem hat diese Redaktion Lk und Act zu einem Doppelwerk verbunden und dabei wichtige redaktionelle Verbindungslinien [105] zwischen beiden Büchern geschaffen. 28 Diese Redaktion weist ein sehr deutliches antimarcionitisches Gepräge auf, wie vor allem der Prolog zeigt. Der Redaktor war sich also bewusst, dass er nicht irgendeinen älteren Evangelientext bearbeitete, sondern einen, der von Marcion rezipiert wurde. Interessanterweise sind diejenigen Elemente, die ich als Begründungsstrukturen für das Aposteldekret identifiziert habe, allesamt Teil der lk Redaktion, die sich nicht in dem älteren Evangelium finden, sondern erst in der Überarbeitung dieses Evangeliums und seiner Verbindung mit Act. Zu dieser Redaktion gehören (1) das lk Apostolatskonzept, (2) die grundlegende Bedeutung der Pneumatologie mit ihrer Funktion für die Hermeneutik, d. h. als Schlüssel für das christologische Verständnis der heiligen Schriften Israels, sowie (3) die Einführung von Mose, (neben Propheten und Psalmen) als Teil eines Buches, das gelesen und interpretiert wird. Die wichtigen Texte im Lk-Ev, die das theologische Geflecht dieser Konzeptionen konstituieren, sind fast durchweg redaktionell, und alle finden eine redaktionelle Fortsetzung in Act. Mit diesen Beobachtungen lässt sich der historische und theologische Ort des Aposteldekrets m. E. hinreichend genau beschreiben, für die hier nur drei Aspekte genannt seien: (1) Der erste bezieht sich auf die zeitliche Ansetzung: Die Redaktion, die das lk Doppelwerk schafft und zu der das Aposteldekret 377 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="378"?> 29 Mit der Annahme, dass die Sammlung der 27 Einzelschriften nicht das Resultat eines allmählichen, ungesteuerten Sammlungsprozesses ist, sondern auf eine verein‐ heitlichende Endredaktion zurückgeführt werden muss, folge ich David T R O B I S C H , Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, NTOA 31, Freiburg (CH) - Göttingen 1996. 30 1Kor 10,19-22, vgl. 10,21: οὐ δύνασθε τραπέζης κυρίου μετέχειν καὶ τραπέζης δαιμονίων. als integraler Bestandteil dazugehört, besitzt eine antimarcionitische Tendenz. Das impliziert eine zeitliche Ansetzung - auch des Aposteldekrets! - um die Mitte des 2. Jh. - (2) Als Reaktion auf Marcion und seine Bibelausgabe kommt diese lk Redaktion der Kanonischen Ausgabe - also der redaktionell gestalteten Editio princeps des NT 29 - zeitlich und sachlich sehr nahe, wenn sie mit ihr nicht gar identisch ist. In theologischer Hinsicht bedeutet dies, dass sich eine Theologie des NT im engeren Sinn vor allem im redaktionellen Konzept dieser Ausgabe finden lässt - und in dem von Lk-Act! - (3) Sofern diese Redaktion auf Marcion reagiert, wird auch verständlich, dass und warum das Gesetz in Lk-Act eine wichtige und positive Rolle spielt: Es fungiert als entscheidender Identitätsmarker für das kanonische Christentum, das die heilsgeschichtliche Kontinuität der christlichen Kirche mit Israel deutlich macht, ohne jedoch ein „Judenchristentum“ zu begründen, das durch eine (mehr oder weniger strikte) Gesetzesobservanz definiert ist. [106] III. Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext Diese letzten Überlegungen machen bereits deutlich, in welchen Kategorien das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext Profil gewinnt. Ich verweise hier nur auf zwei wichtige Aspekte. 1. Der erste bezieht sich auf die innerkanonische Funktion des Aposteldekrets. Denn es ist klar, dass das durch das Aposteldekret regulierte Problem der Grenzen der christlichen Tischgemeinschaft auch an anderer Stelle thematisiert wurde. Im NT stehen sich dazu zwei Aussagegruppen gegenüber: Auf der einen Seite weiß Paulus (wie gezeigt: verständlicherweise) nichts von dem Dekret, aber er behandelt doch das Problem des Götzenopferfleischs in einer Weise, die durchaus als ambivalent zu beschreiben ist. Denn er verbietet zwar die Gemeinschaft des „Dämonentischs“ (also: Teilnahme an anderen kultischen Mahlzeiten), 30 konzediert aber den Genuss von Fleisch, das vom macellum stammt und daher durchaus als εἰδωλόθυτον gelten kann (1Kor 8,1 ff.). Eine ähnliche Linie findet sich dann auch in den Pastoralbriefen, die der Redaktionsebene der Kanonischen Ausgabe ähnlich nahe stehen wie Lk-Act: 378 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="379"?> 31 1Tim 4,4. Es sei wenigstens angedeutet, dass sich der Kontext zumindest auch anti‐ marcionitisch verstehen lässt: Angesprochen sind Christen, die „in späteren Zeiten“ (4,1) vom Glauben abfallen und sich betrügerischen Geistern und Dämonenlehren zuwenden werden (ἐν ὑστέροις καιροῖς ἀποστήσονταί τινες τῆς πίστεως, προσέχοντες πνεύμασιν πλάνοις καὶ διδασκαλίαις δαιμονίων), weil sie von Heuchlern getäuscht werden. Dies trifft für die meisten der seit dem 2. Jh. ausgegrenzten „häretischen“ Gruppen zu; allerdings gehört zu den weiteren Kennzeichen dieser Leute die (auch für die Marcioniten bezeugte) Speiseaskese (4,3: ἀπέχεσθαι βρωμάτων), die mit dem Hinweis auf Gottes gute Schöpfung gekontert wird (4,4: ὅτι πᾶν κτίσμα θεοῦ καλόν) - das ist eines der Hauptschlagworte der antimarcionitischen Polemik. 32 Apc 2,24: οὐ βάλλω ἐϕ´ ὑμᾶς ἄλλο βάρος. Act 15,19: διὸ ἐγὼ κρίνω μὴ παρενοχλεῖν τοῖς ἀπὸ τῶν ἐθνῶν ἐπιστρέϕουσιν ἐπὶ τὸν θεόν. 33 Vgl. T R O B I S C H , Endredaktion, 136-147. Die Haltung der Pastoralbriefe ist in 1Tim 1,8 ff. gegenüber „Gesetzeslehrern“ grundgelegt, die die universale Geltung des Gesetzes fordern. Denen gegenüber wird festgehalten, dass das Gesetz zwar gut ist, sich aber nicht an Gerechte, sondern an Gesetzlose richtet. Für die Geltung von Speisegeboten unter Christen heißt das: „Keine Speise ist verwerflich, wenn sie mit Dank genossen wird“ (1Tim 4,4) 31 bzw. noch etwas steiler formuliert: „Für die Reinen ist alles rein! “ (Tit 1,15). Auf der anderen Seite findet sich in den Sendschreiben der Apc nach Pergamon (2,14) und Thyatira (2,20) eine scharfe Verurteilung von Unzucht und dem Genuss von Götzenopferfleisch. Diese Belege sind aus zwei Gründen von Bedeutung. Zum einen enthält das Sendschreiben nach Thyatira die Wendung „Ich lege euch keine weitere Last auf “ (2,24), die wohl [107] nicht zufällig an Act 15,19 erinnert. 32 Denn in beiden Fällen wird durch diese Formulierung die unverzichtbare Enthaltung von Götzendienst und Unzucht begründet. Unter der Perspektive, dass das Aposteldekret eine lk Formulierung auf der Ebene des Kanons ist, halte ich eine Bezugnahme auf Apc 2 für durchaus wahrscheinlich. Daneben sind die Verbote von Unzucht und Götzenopferfleisch in Apc 2 aber vor allem deshalb wichtig, weil sie im Sendschreiben nach Pergamon unter dem Stichwort der „Lehre Bileams“ zusammengefasst werden (Apc 2,14). Nun findet sich die Inkriminierung der „Lehre Bileams“ auch in 2Pe 2,15: Der 2Pe gehört, genau wie die Pastoralbriefe, mit Sicherheit in den Horizont der Kanonischen Ausgabe. 33 So stehen im NT also durchaus divergierende Positionen zu den zentralen Problemen (Götzendienst bzw. Götzenopferfleisch; Unzucht) nebeneinander - und zwar interessanterweise gerade in solchen Texten, die auf die Redaktion der Kanonischen Ausgabe zurückgehen (1Tim; Tit - Apc; 2Pe). Das Aposteldekret deckt beide Positionen ab. Denn einerseits lassen sich die Dekretsforderungen als Bekräftigung der Verurteilung der „Lehre Bileams“ verstehen, die hier durch 379 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="380"?> den einmütigen apostolischen Beschluss und die ganze Autorität von Tora und Heiligem Geist in Szene gesetzt wird. Auf der anderen Seite äußert sich Paulus zwar zu dem Problem der Unzucht in 1Kor 5 mit wünschenswerter Ein‐ deutigkeit, bleibt aber mit Blick auf das Problem des Götzenopferfleischs eher ambivalent: Seine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Situationen, in denen Götzenopferfleisch zum Verzehr kommt, wird in den späteren Texten nicht wieder erreicht. Die besondere integrative Leistung des Aposteldekrets besteht darin, stark divergierende Positionen zu den genannten Problemen zusammenzubinden. Dabei ist entscheidend, dass sich diese Positionen aus der Perspektive der Rezipienten der gesamten Kanonischen Ausgabe problemlos den Kontrahenten im antiochenischen Streit zuweisen lassen: Dem Paulus des Gal - und dem „Paulus“ der Pastoralbriefe! - stehen, literarisch repräsentiert durch 2Pe und Apc, die Jerusalemer Apostel „Petrus“ und „Johannes“ gegenüber. Die Kanoni‐ sche Ausgabe macht dadurch deutlich, dass keine der streitenden Parteien ihren Standpunkt einfach aufgegeben hat. Sie zeigt, dass die antiochenischen Akteure die apostolische Einheit nicht um belangloser Quisquilien leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben; vielmehr werden die divergierenden Positionen hinsichtlich der Problemfelder Unzucht und Götzenopferfleisch jeweils durch einen größeren diskursiven [108] Rahmen als legitim erwiesen. Die Verbote des Aposteldekrets zeigen daher die Legitimität und zugleich die Grenzen der strittigen Positionen auf. 2. Die zweite, wichtige Einsicht bezieht sich weniger auf die literarische Funktion des Dekrets insgesamt als auf den materialen Gehalt seiner einzelnen Forderungen: Denn wenn die literarische Funktion des Dekrets in erster Linie zur Rehabilitation der Konfliktparteien aus dem antiochenischen Streit dient, bleibt ja zu fragen, worin eigentlich der normierende Charakter der Einzelforderungen besteht. Und hier ergibt sich das - nur auf den ersten Blick verblüffende - Resultat, dass die Dekretsforderungen keine wirkliche Einschränkung für christliches „Normalverhalten“ in der Mitte des 2. Jh. bedeuten. a. Natürlich verbietet sich „Unzucht“ von selbst. Das höchst unpräzise Stich‐ wort πορνεία deckt dabei höchst unterschiedliche Spielarten von sexueller Devianz ab. Eine genaue Klärung ist nicht möglich - und sie ist m. E. auch gar nicht erwünscht. „Enthaltung von Unzucht“ heißt am Ende nur soviel wie „normales christliches Sexualverhalten“ im Sinn von „bürgerlichem“ Anstand. Da der Begriff πορνεία negativ konnotiert ist und von vornherein Devianz markiert, ist eine Position, die sich die Befürwortung von „Unzucht“ auf die Fahnen schreibt (wie es bei der inkriminierten „Lehre Bileams“ der Fall ist), ohnehin obsolet. 380 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="381"?> 34 Dies gilt insbesondere, wenn die Datierung der Apc in die Zeit Hadrians zutrifft, die Thomas W I T U L S K I , Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse, FRLANT 221, Göttingen 2007, mit guten Gründen vorgeschlagen hat. 35 Vgl. dazu den Beitrag von Fr. Avemarie in diesem Band! 36 Sofern damit tatsächlich ein konkretes Verhalten in den Blick genommen (und nicht nur die Liste aus Lev 17 f. aus Gründen der Schriftgelehrsamkeit komplettiert) wird, halte ich aufgrund des zeitgenössischen Sprachgebrauchs noch immer das Verständnis als Delikatesse (gedämpftes Fleisch) für eine naheliegende Lösung, vgl. K L I N G H A R D T , Gesetz und Volk Gottes, 202-204; zu ergänzen wären noch einige Belege aus Apicius. b. Ähnliches gilt für das Verbot der „Befleckung durch Götzendienst“. Selbst‐ verständlich ist Götzendienst tabu; auch Paulus ist hier ja eindeutig genug. Die konkreten Probleme, zu denen sich Paulus äußern musste - wie mit Fleisch vom macellum zu verfahren ist, wie man sich bei Privateinladungen zu verhalten hat - mussten in der Mitte des 2. Jh. längst geklärt worden sein, weil anders das soziale Leben von Christen dauerhaft gar nicht vorstellbar ist. Auch das Problem der gelegentlichen Teilnahme an paganen Kultfeiern dürfte zu dieser Zeit längst geklärt sein, da das Verbot des Paulus (1Kor 10,14-22) eindeutig ist und keine Zweifel aufkommen lässt. Es ist aber gut denkbar, dass gerade dieses Verbot für den Fall des mit gewissen Repressalien einhergehenden Kaiserkults neu in Erinnerung gerufen und eingeschärft werden musste. 34 c. Damit bleiben als mögliche Einschränkungen noch die Verbote von Blut und Ersticktem. Aber welcher Christ im 2. Jh. konnte diese Verbote als wirkliche Einschränkung empfinden, zumal beide Begriffe - ohne eine klärende halachi‐ sche Bestimmung - ja wieder höchst allgemein bleiben? 35 Das Blutverbot lässt sich ja doch ohne weiteres so verstehen, dass es zwar [109] die spartanische Blutsuppe untersagt, aber ein nicht rituell geschächtetes Stück Fleisch durchaus konzediert. Und was eigentlich mit πνικτόν gemeint ist, ist so unklar, dass sich noch nicht einmal Kohorten von Exegeten darauf einigen können. 36 So ist am Ende eine deutliche Ambivalenz zu verzeichnen. Auf der einen Seite schränken die Jakobusklauseln das christliche Leben gar nicht wirklich ein: Sie sind entweder so unscharf formuliert, dass sie kleinere Devianzen ohne weiteres mit abdecken, oder aber sie benennen schiere Selbstverständlichkeiten. Von ihrem materialen Gehalt her sind die Dekretsforderungen also ein höchst ungeeignetes Instrument, um die sozialen Grenzen der (Tisch-)Gemeinschaft konkret zu definieren. Irritierenderweise war genau dies aber die Funktion, die sich aus der literarischen Analyse ergeben hatte: Im Rahmen der Act-Erzählung ist das Aposteldekret eindeutig eine Reaktion auf den antiochenischen Streit und soll die Fragen, die dort für Unstimmigkeiten gesorgt hatten, dauerhaft lösen: Wer darf unter welchen Bedingungen mit wem essen? Tatsächlich liefern 381 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="382"?> 37 Franz O V E R B E C K , Ueber das Verhältnis Justins des Märtyrers zur Apostelgeschichte, ZWTh 15 (1872), 305-349: 337; damit gemeint ist der „Widerspruch zwischen der Bedingtheit der Gesetzesfreiheit der Heidenchristen und der Unbedingtheit der Geset‐ zesverpflichtung der Judenchristen“: Da für Lk die Gesetzesfreiheit der Heidenchristen unverrückbar feststehe, sei Gesetzesfrage ein Adiaphoron, mit dem man „gewisser‐ maßen spielen kann“ (ebd.). Vgl. auch die Einschätzung von Stephen G. W I L S O N , Luke and the Law, SNTS.MS 50, Cambridge 1983, 56 („ambiguity“) sowie K L I N G H A R D T , Gesetz und Volk Gottes, 2-5. die Dekretsforderungen die dafür notwendige materiale Trennschärfe gerade nicht. Das Aposteldekret lässt sich daher weder in materialer noch in formaler Hinsicht als präskriptiver Text verstehen: Es ist kein Vereinsnomos. Vielmehr beschreiben die Dekretsforderungen einen denkbar weiten Schirm, unter dem sich Christen sehr unterschiedlicher Couleur (und mit sehr unterschiedlichen Speisegewohnheiten) zusammenfinden konnten. Gerade deswegen fällt auf der anderen Seite der argumentative Overkill der Begründungsstrukturen auf: Das Mosegesetz und seine universale Rezeption an jedem Sabbat, der einmütige Beschluss aller Apostel und am Ende noch der Heilige Geist werden aufgeboten - und müssen für die Legitimierung von Selbstverständlichkeiten herhalten. Diese Ambivalenz - Franz Overbeck hat mit Blick auf die lk Aussagen zum Gesetz von einer „Principlosigkeit“ gesprochen 37 - erklärt sich aus dem kanonischen Horizont und seiner beson‐ deren, antimarcionitischen Intention. Nicht die Einhaltung [110] der im Dekret aufgestellten Normen für akzeptables, christliches Verhalten zwischen Juden- und Heidenchristen gewährleistet die Integration dieser Gruppen, sondern die Zustimmung zu den als unhinterfragbar dargestellten Kategorien, die zu ihrer Begründung verwendet werden. Anders gesagt: Das Aposteldekret selbst formuliert im materialen Gehalt seiner Forderungen Selbstverständlichkeiten, denen gerade deswegen gar keine soziale Bindekraft zukommt. Die eigentliche Behauptung - hier verstanden im doppelten Wortsinn als Angebot und als Sicherstellung - von Gemeinsinn, die das Aposteldekret in seinem literarischen Kontext leistet, liegt vielmehr in der Konstruktion der Begründungszusammenhänge und ihrer Anerkennung durch die Leser. In dieser Sicht formuliert das Aufgebot von Mosegesetz, Einheit aller Apostel (d. h.: außer Paulus auch die Jerusalemer! ) und Heiligem Geist eine Gemeinsinnsbehauptung, die auf einer anderen Ebene liegt als die Forderungen des Dekrets, die aber in der Situation im 2. Jh. sehr viel konkreter zu wirken vermag. Denn die Trias von Mosegesetz, apostolischer Einheit und Heiligem Geist benennt einen gemeinchristlichen Geltungsanspruch, der eindeutig jen‐ seits von Marcion, seiner Theologie und seiner Bibel liegt. So gesehen, dient die literarische Fiktion des Aposteldekrets und seiner Verabschiedung dazu, in 382 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="383"?> der historisierenden Erzählung „von den Anfängen“ diejenigen Begründungen zu verankern, die nicht zur Disposition gestellt werden durften und die gerade darin eine trennscharfe soziale Identität gewährleisten. Literatur A V E M A R I E , F R .: Die jüdischen Wurzeln des Aposteldekrets. 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Z M I J E W S K I , J., Die Apostelgeschichte, RNT, Regensburg, 1994. 385 Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext <?page no="387"?> 1 Das Zitat stammt aus der 19. Episode der zweiten Staffel der Fernsehserie „Dr. House“ mit dem Titel „House vs. God“ (zuerst ausgestrahlt 2007), in der Dr. House einen religiösen Heiler behandelt; über diesen unterhält er sich mit seinem Assistenten, Dr. Chase: (House) „God talks to him? “ - (Chase) „It’s not psychosis, he’s just religious. The only medical issue that showed up on the blood work is low sodium.“ - (House) „No. You talk to God, you’re religious. God talks to you, you’re psychotic.“ Inspiration und Fälschung Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel Zuerst erschienen als K L I N G H A R D T , M A T T H I A S : Inspiration und Fälschung. Die Trans‐ zendenzkonstitution der christlichen Bibel, in: H. Vorländer (Hg.), Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin/ New York 2013, 331-355. I. Evidenz und Plausibilität: Zur Rationalität der Inspiration „Wenn du mit Gott redest, bist du religiös. Wenn Gott mit dir redet, bist du verrückt.“ Mit dieser Differenzialdiagnose religiösen Verhaltens charakterisiert der Fernseharzt Dr. House 1 ein verbreitetes Verständnis des menschlichen Transzendenzverhältnisses, dessen Kern in der unterschiedlichen Beurteilung gottmenschlicher Kommunikation liegt: „Mit Gott reden“ ist insofern eine akzeptable Erscheinungsform des Religiösen, als sie im Sinn eines religiös raf‐ finierten Selbstgesprächs Ausdruck des menschlichen Selbstverhältnisses sein kann. Umgekehrt verbleibt die Behauptung, Gott rede mit den Menschen, gerade nicht innerhalb des frommen Selbstbewusstseins des Individuums, sondern wird in aller Regel gegenüber Dritten vertreten: Sie erheischt Zustimmung und reklamiert dafür zugleich eine maximale Autorität. Während man einem Beter immerhin zubilligen mag, sein „Reden mit Gott“ sei Ausdruck seiner Selbsttranszendierung und besitze in der Evidenz der subjektiven Glaubensge‐ wissheit eine unhintergehbare Wahrheitsinstanz, fehlt der Autorisierung einer Gemeinsinnsproposition durch die maximale Transzendenz gegenüber Dritten („Dies ist das Wort Gottes! “) eine vergleichbare Basis. Was Dr. House für pathologisch hält, wäre demnach nicht in erster Linie die Vorstellung, dass Gott überhaupt mit Menschen redet, sondern dass ein solcher Anspruch mit Blick auf bestimmte Inhalte gegenüber Dritten vertreten wird: Da diesem Anspruch <?page no="388"?> 2 Vgl. Martin Luther, Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520): (scriptura) „per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“ (WA 7,97,23 f.). 3 2Tim 3,16: πᾶσα γραφὴ θεόπνευστος (Vulgata: omnis scriptura divinitus inspirata). Die meisten Übersetzungen verstehen πᾶσα/ omnis distributiv: ‚Jede (einzelne von mehreren) Schrift(stellen)‘. Die weiteren Ausführungen legen dagegen ein kollektives Verständnis nahe: ‚Die ganze Schrift‘ (vgl. Anm. 50). 4 2Pe 1,20 f.: πᾶσα προφητεία γραφῆς ἰδίας ἐπιλύσεως οὐ γίνεται οὐ γὰρ θελήματι ἀνθρώπου ἠνέχθη προφητεία ποτέ. ἀλλὰ ὑπὸ πνεύματος ἁγίου φερόμενοι ἐλάλησαν ἀπὸ θεοῦ ἄνθρωποι. 5 Beispielsweise Philo, Migr. 14; Cherub. 124; VitMos 2,188 u. ö.; vgl. dazu Helmut Burkhardt, Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, 2. Aufl., Gießen 1992, S. 112-125. letztgültiger Wahrheit der unmittelbare Beweis des Geistes und der Kraft fehlt, ist er irrational - eben „verrückt“. [332] Nun gehört dieser pathologische Anspruch zu den zentralen Kenn‐ zeichen der christlichen Tradition, und zwar in einer deutlich verschärften Form: Sie rechnet nicht nur mit einzelnen Instanzen vergänglich-flüchtiger Wortereignisse, in denen Gott zu Menschen spricht. Vielmehr ist die Bibel als ganze das verbindliche Wort Gottes, das, verschriftlicht und in Buchform, quasi objektiviert vorliegt und damit eine prinzipiell universale Leserschaft anspricht: tolle, lege! Die Form, in der diese Transzendenzbehauptung breit rezipiert wurde, ist die Vorstellung von der Inspiration der Schrift. Sie war für die Geschichte der Hermeneutik von grundlegender Bedeutung, wie beispielsweise die Lehre vom dreibzw. vierfachen Schriftsinn in der Alten Kirche oder das protestantische Schriftprinzip mit seiner Annahme der claritas interna  2 belegen. Die Vorstellung der Inspiration der Schrift findet sich bereits im Neuen Testament selbst. Der zweite Timotheusbrief (2Tim) stellt fest, dass die „ganze Schrift von Gott eingehaucht“ und daher nützlich zur Belehrung sei. 3 Der zweite Petrusbrief (2Pe) erklärt etwas präziser den Vermittlungsweg der Inspiration: „Die gesamte Prophetie der Schrift entsteht nicht durch eigene Auslegung; denn noch niemals wurde eine Prophetie durch den Willen eines Menschen hervor‐ gebracht; sondern vom heiligen Geist getragen haben Menschen von Gott her gesprochen.“ 4 Diese Vorstellung einer Personalinspiration ist in der Antike weit verbreitet und gehört zu den geläufigen Elementen von Dichtung und Mantik. Auch die weitergehende Vorstellung, dass ein aufgrund der Theopnoie seines Autors entstandener Text selbst als inspiriert gilt, ist gut bezeugt. Im Bereich des frühen Christentums mag es genügen, hier auf Philo zu verweisen, der nicht nur die alttestamentlichen Prophezeiungen, sondern die gesamte jüdische Bibel - und zwar einschließlich der erzählenden Passagen - als inspirierte Orakelsammlung verstand. 5 Da diese Orakel für Philo nicht nur geheimnisvoll, 388 Inspiration und Fälschung <?page no="389"?> 6 Z. B. Philo, Praem. 55. 7 Vgl. Burkhardt, Inspiration (wie Anm. 5), S. 104 ff., mit weiteren Belegen, der auch auf den Zusammenhang zwischen Irrtumslosigkeit und hermeneutischer Methode auf‐ merksam macht: Die Behauptung der Irrtumslosigkeit auch von schwer verständlichen oder gar sinnwidrigen Texten erfordert deren allegorische Interpretation (ebd. S. 220, Anm. 183). 8 Gotthold Ephraim Lessing, „Über den Beweis des Geistes und der Kraft“ (1777), in: Werke und Briefe, Bd. 8, hg. von A. Schilson (DKV 45), Frankfurt a. M. 1989, S. 437-445, hier S. 443 f.: „Wollte man mich noch weiter verfolgen und sagen: ‚O doch! das ist mehr als historisch gewiß; denn inspirierte Geschichtsschreiber versichern es, die nicht irren können‘: So ist auch das, leider, nur historisch gewiß, daß diese Geschichtsschreiber inspiriert waren und nicht irren konnten. Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, sooft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüberhelfen, der tu es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet ein Gotteslohn an mir.“ sondern auch fehlerlos sind, 6 sind hier [333] die Idee der Irrtumslosigkeit der Schriften sowie der erstmals bezeugte Zusammenhang von „Schrift“ und „Wort Gottes“ bereits angelegt. 7 Die Inspirationsbehauptungen im 2Tim und im 2Pe sind also ziemlich pass‐ genaue Beispiele für das, was im weiteren religions- und geistesgeschichtlichen Umfeld des Neuen Testaments möglich war. Die kritische Forschung hat sie durchweg in diesem Sinn verstanden: Als vereinzelte Beispiele für die immer wieder einmal geäußerte Behauptung, dass diese oder jene Schrift inspiriert und daher Wort Gottes sei. Seitdem das historische Bewusstsein den „garstigen, breiten Graben“ aufgerissen hatte und an die Stelle der Gewissheit der Irrtumslo‐ sigkeit der Schrift die bloß historische Anerkennung des Inspirationsanspruchs der biblischen Autoren getreten war, 8 verlor auch die Inspirationslehre an Geltung: Sie erscheint als bloße Behauptung ohne Plausibilität. Schwerer wiegt: Ließe sich die Plausibilität des Transzendenzanspruchs tatsächlich konkludent erweisen, würde gerade dadurch sein Charakter der Unverfügbarkeit aufge‐ hoben. Das ist das Dilemma von Evidenz und Plausibilität der Transzendenz: Während sich das Widerfahrnis von Unverfügbarem in evidenter Unmittelbar‐ keit erschließt, kann die Transzendenzbehauptung gegenüber Dritten zwar durchaus plausibel und sogar „historisch gewiss“ sein, ist dann aber gerade dadurch von der Unmittelbarkeit der Evidenzerfahrung getrennt, dass sich die Angabe von (guten) Gründen vermittelnd zwischen den Anspruch und seine unmittelbare Anerkennung legt. Darauf zielen Lessings Urteil und die Diagnose von Dr. House: Die rationale, für Dritte nachvollziehbare Begründung eines Transzendenzanspruchs scheitert an sich selbst. [334] 389 Inspiration und Fälschung <?page no="390"?> 9 Grundlegend: Theodor Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/ II, Er‐ langen/ Leipzig 1889-1892; Adolf von Harnack, Das Neue Testament um 200. Theodor Zahns Geschichte des Neutestamentlichen Kanons, Freiburg i. Brsg. 1889; Adolf von Harnack, „Die ältesten Evangelienprologe und die Bildung des Neuen Testaments“, in: SPAW.PH 1928, Heidelberg 1928, S. 320-341; Hans von Campenhausen, Die Entste‐ hung der christlichen Bibel (BHTh 39), Tübingen 1968; Bruce M. Metzger, The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance, Oxford 1987. Zur Zahn-Harnack-Debatte vgl. zuletzt Christoph Markschies, „Epochen der Erforschung des neutestamentlichen Kanons in Deutschland. Einige vorläufige Bemerkungen“, in: Eve-Marie Becker/ Stefan Scholz (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin/ Boston 2012, S. 578-604. 10 Das Tridentinum hat im Jahr 1546 Umfang und Wortlaut der Vulgata für verbindlich erklärt, vgl. Sessio IV, Decretum De usu et editione sacrorum librorum (Heinrich Denz‐ II. Kanon und Transzendenz Da sich dieses Dilemma nicht lösen lässt, wäre schon viel gewonnen, wenn sich die Transzendenzbehauptung historisch plausibilisieren ließe. Man müsste dazu mit den Mitteln der historischen Kritik zeigen, dass die Inspirationsaussagen keine vereinzelten und sekundären Zuschreibungen, sondern der Bibel insge‐ samt strukturell inhärent sind. Der Weg, den die Forschung für diesen Nachweis eingeschlagen hat, führt über den Kanon. Das ist insofern angemessen, als sich die Transzendenzattribute der Bibel (Unbedingtheit, Geltungsanspruch, Irrtumslosigkeit) schon sehr früh mit der Vorstellung des verbindlichen Schrif‐ tenkanons verbunden hatten. Da hier in erster Linie die Unverfügbarkeit des Anfangs in Frage steht, bleibt dem historischen Urteil nur der Weg, die Ent‐ stehungsgeschichte dieser Schriftensammlung zu rekonstruieren und darin Transzendenzelemente auszumachen. Aus sachlichen Gründen ist es sinnvoll, sich dabei auf die Entstehung des Neuen Testaments zu konzentrieren. Die klassischen Kanontheorien bis zum Ende des 20. Jahrhunderts 9 sehen die historische Frage nach der Entstehung der Sammlung neutestamentlicher Schriften und die theologische nach ihrem unbedingten Geltungsanspruch in eins: Sie verstehen die Entstehung des Kanons als einen ungesteuerten, sich allmählich vollziehenden Prozess der Sammlung (und Ausscheidung) von Einzelschriften, denen „kanonische“ Geltung, also unbedingte Verbindlichkeit, zuerkannt wurde. Für diesen Prozess ist charakteristisch, dass es in der Alten Kirche keine Instanzen gab, die über die Geltung von Einzelschriften entscheiden oder gar den Umfang des Kanons „festlegen“ konnten. Dies ist erstmalig durch das Tridentinische Konzil geschehen, das den Umfang und die sprachliche Gestalt des Kanons in einer Situation verbindlich festschrieb, als seine ökumenische Geltung fraglich [335] geworden war. 10 Da es in der 390 Inspiration und Fälschung <?page no="391"?> inger/ Peter Hünermann, Enchiridium symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 43. Aufl., Freiburg i. Brsg. u. a. 2010, Nr. 1507). 11 Das Datum ergibt sich aus dem 39. Osterfestbrief des Athanasius von Alexandria aus dem Jahr 367 (PG 26, 1436-1440), der erstmals alle 27 neutestamentlichen Schriften in einem Katalog aufführt und deswegen - unbeschadet regionaler Sonderentwicklungen - als vorläufiges Enddatum des Sammlungsprozesses gilt. 12 Vgl. Adolf Martin Ritter, „Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons: Selbstdurch‐ setzung oder autoritative Entscheidung? “, in: Aleida Assmann/ Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, Mün‐ chen 1987, S. 93-99, der die Alternative zurückweist und postuliert, dass beide Aspekte zutreffen. 13 Vgl. Metzger, Canon (wie Anm. 9), S. 287: Die Kirche habe den Kanon nicht geschaffen, „but came to recognize, accept, affirm, and confirm the selfauthenticating quality of Alten Kirche keine entsprechende Autorisierung der Einzeltexte gab, beruht ihre Kanonizität auf ihrer Selbstdurchsetzung durch die Gewinnung faktischer Akzeptanz. Strittig ist dabei zwischen den verschiedenen Ansätzen nur, wel‐ ches Ausmaß dabei die gezielte Abwehr von Häretikern gespielt und wie lange dieser Sammlungs- und Ausscheidungsprozess gedauert habe; viele sind überzeugt, dass die Sammlung im 4. Jahrhundert vollständig vorlag. 11 Dieser Theorie zufolge haben sich Einzelschriften durchgesetzt und sind auf diese Weise Teil der Sammlung geworden, also etwa: Das Johannes-, nicht aber das Thomasevangelium; die Korintherbriefe des Paulus, aber nicht der des Clemens; die Acta Apostolorum, aber nicht die Paulus- und Theclaakten usw. Der Geltungsanspruch des biblischen Kanons als ganzem basiert auf der Geltung der in ihm versammelten Einzeltexte, die sich in ihrer faktischen, ökumeneweiten Durchsetzung erwiesen hat. Es ist von großer Bedeutung, dass dieses Konzept zwei offene Prozesse aufeinander bezieht. Denn so wenig es dieser Theorie zufolge von Beginn an eine fertige Sammlung von Schriften gab, so wenig gab es auch „die Kirche“, die erst allmählich in komplexen Inklusions- und Exklusionsprozessen entstand. Da