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Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik

0513
2024
978-3-7720-5780-9
978-3-7720-8780-6
A. Francke Verlag 
Nazli Hodaie
Heidi Rösch
Lisa Theresa Treiber
10.24053/9783772057809

Wenn auch marginalisiert, stellt literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein randständiges Phänomen der Literatur dar. Vielmehr lässt sie sich in verschiedensten Epochen aufspüren und sie manifestiert sich in vielfältigen sprachlich-ästhetischen Formen. Dabei eröffnen Sprachmischungen, Hybridisierungen und Neuformierungen ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation. Im Fokus dieses Bandes stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit in Geschichte und Gegenwart, die auch hinsichtlich ihrer didaktischen Potenziale untersucht werden. Neben literaturwissenschaftlichen Perspektiven erörtern die Beiträge insbesondere literaturdidaktische Ansätze, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Texten ins Zentrum stellen. Dabei werden verschiedene Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektiert und/oder aus einer dominanzsprachkritischen Perspektive für den Literaturunterricht fruchtbar gemacht.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-7720-8780-6 L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M www.narr.de Wenn auch marginalisiert, stellt literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein randständiges Phänomen der Literatur dar. Vielmehr lässt sie sich in verschiedensten Epochen aufspüren und sie manifestiert sich in vielfältigen sprachlichästhetischen Formen. Dabei eröffnen Sprachmischungen, Hybridisierungen und Neuformierungen ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation. Im Fokus dieses Bandes stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit in Geschichte und Gegenwart, die auch hinsichtlich ihrer didaktischen Potenziale untersucht werden. Neben literaturwissenschaftlichen Perspektiven erörtern die Beiträge insbesondere literaturdidaktische Ansätze, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Texten ins Zentrum stellen. Dabei werden verschiedene Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektiert und/ oder aus einer dominanzsprachkritischen Perspektive für den Literaturunterricht fruchtbar gemacht. Hodaie Rösch Treiber Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik Nazli Hodaie • Heidi Rösch • Lisa Treiber (Hrsg.) <?page no="1"?> Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik <?page no="2"?> Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism Herausgegeben von / edited by: Till Dembeck (Luxembourg) Rolf Parr (Duisburg-Essen) Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Board: David Gramling (University of Arizona) Esther Kilchmann (Hamburg) David Martyn (Macalaster College) Brigitte Rath (Innsbruck) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Sandra Vlasta (Mainz) Dirk Weissmann (Toulouse) Band 6 <?page no="3"?> Nazli Hodaie / Heidi Rösch / Lisa Treiber (Hrsg.) Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik <?page no="4"?> DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057809 © 2024 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2627-9010 ISBN 978-3-7720-8780-6 (Print) ISBN 978-3-7720-5780-9 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0252-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® <?page no="5"?> 7 17 31 49 65 83 101 Inhalt Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber Einleitung. Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik . . . . . . . . . . . . Kritisch-theoretische Zugänge Esther Kilchmann Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit: Für einen strukturalistischen und poststrukturalistischen Lektüreansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Magdalena Kißling Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit. Verbindungslinien zwischen postkolonialer Literaturdidaktik und einer Didaktik literarischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textanalytische Zugänge Anna Maria Olivari „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martina Kofer Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ‚Muttersprachlichkeit‘ und Mehrsprachigkeit in Texten von Shida Bazyar, Rasha Khayat und Marica Bodrožić. Literaturwissenschaftliche Analyse und didaktische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ferenc Vincze Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Zierau „In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“. Zum dominanzkritischen, sprach- und diversitätssensiblen Potential literarischer Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 117 133 147 173 189 207 223 243 263 Astrid Henning-Mohr Das Verhältnis zur Welt - Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lisa Rettinger Trist, aber bunt schillernd. Zur Potenzierung der literarischen Vielschichtigkeit in Ein bisschen wie du. A little like you . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Laser Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktive und rezeptive Zugänge Annette Bühler-Dietrich Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Kasch Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit: Das Kettengedicht Renga von Octavio Paz, Jacques Roubaud, Edoardo Sanguineti und Charles Tomlinson sowie Hannes Bajohrs digitale Adaption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Baumann „Ich war etwas orientierungslos aufgrund der Verwendung persischer Wörter.“ Zum Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit in universitären DaF-Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Svetlana Vishek „Mama, es ist langweilig, wenn du dann so wie nachsprichst“ − Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern in mehrsprachigen Familien . Esa Christine Hartmann Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation: translinguales und multimodales Storytelling mit zweisprachigen Lehramtsstudierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abderrahim Trebak Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit am Beispiel der Übersetzungen arabischer Poesie ins Deutsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt <?page no="7"?> Einleitung Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber In literarischen Texten, so Robert Stockhammer, „ist sehr häufig mehr als ein Idiom im Spiel“ (2015: 147), wobei mehrsprachige Texte eher der Regel entspre‐ chen, während Monolingualität die Ausnahme darstellt. Diese Feststellung gilt nicht nur für Texte der postkolonialen oder der (post)migrantischen Literatur, sondern auch und vor allem für „ältere Texte, die einige kanonische Geltung besitzen“ (ebd.). Somit verkörpert literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein marginales Phänomen der Literatur, wohl jedoch ein marginalisiertes, eine Terra inco‐ gnita, der innerhalb einer nationalphilologisch kartografierten Literatur wie der deutschen die Aura des Unreinen und des Nicht-Zuordenbaren anhaftete (siehe Kilchmann 2012: 14); und dies - zieht man den nationalphilologischen Diskurs mit seinem Drang zur Herstellung eindeutiger Zugehörigkeitsverhält‐ nisse in Betracht - nicht unbegründet, denn die „heterolingualen Einschübe […] bilden […] einen Ort, an dem sich die ‚deutsche‘ Literatur immer schon fortschreibt von einer identitären Festlegung auf Nation oder Einsprachigkeit“ (Ette 2005: 181, zitiert nach Kilchmann 2012: 13). Mit literarischer Mehrspra‐ chigkeit gehen zudem neue, andere sprachlich-ästhetische Formen einher, die sich u. a. in Hybridisierungen, Grenzüberschreitungen, Neologismen und Neuformierungen manifestieren und dabei ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation eröffnen. Somit ist ihr sowohl ein ästhetisches Potential als auch ein dominanzkritisches Moment immanent. Die Auseinandersetzung mit ihr sollte daher „im Spannungsfeld von literarischem Experiment und Kulturbzw. Sprachkritik“ (ebd.: 12) erfolgen, sozusagen als genuin literarische Größe mit ästhetischem Anspruch, bei der „der Einsatz anderer Sprachen immer wieder [- sieht man vom Einbezug der Mehrsprachigkeit zur (Re-)Produktion von Dominanzverhältnissen ab -] die Vorstellung einer sprachlichen Einheit und damit die monolinguale Norm <?page no="8"?> durchkreuzt“ (ebd.). Wird jedoch die Untersuchung literarischer Mehrspra‐ chigkeit auf eine „germanistische Fremdwort-Bestimmung“ (ebd.: 12), womit Esther Kilchmann die an sich problematische Kategorisierung von Sprachen in fremd und eigen bezeichnet, reduziert, so wird der Effekt unterlaufen, den mehrsprachige literarische Texte in der Regel hervorrufen: diese „Trennungen zu hinterfragen und die Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit von Kategorien wie Nationalsprache, natürliche versus künstliche Sprache zu bedenken zu geben“ (ebd.: 12). Blickt man nun auf den Umgang mit mehrsprachiger Literatur im Kontext des schulischen Literaturunterrichts bzw. des literaturdidaktischen Studiums, dominiert jedoch ebendiese reduktive Perspektive. Die Relevanz literarischer Mehrsprachigkeit für den didaktischen Kontext - sollte sie überhaupt themati‐ siert werden - resultiert weniger aus ihrem ästhetischen Potential als vielmehr aus einem differenzbasierten Paradigma, das als Antwort auf die schulische migrationsbedingte Heterogenität fremde Sprachen wertzuschätzen angibt und diese aus diesem Grunde auch in Lehr-Lern-Kontexten berücksichtigt wissen will (siehe Kunz 2018; Oomen-Welke 2010 u. a.). Dabei wird auf Kategorien zurückgegriffen, die eher einer binären Perspektive auf Sprache(n) Vorschub leisten, statt den Blick auf (sprachliche) Zwischenräume und die neu entste‐ henden Deutungsmöglichkeiten zu richten. Der große Anklang von parallel zwei- oder mehrsprachigen (Bilder-)Büchern, um nur ein Beispiel zu nennen, im didaktischen Kontext ist möglicherweise auf diesen Umstand zurückzuführen, erhalten diese doch die Vorstellung nationalsprachlicher Entitäten aufrecht und verleiten dementsprechend dazu, didaktisch zu kontrastiv angelegten Maßnahmen zu greifen. So dominant diese Perspektive auf Mehrsprachigkeit im deutschunterrichtlichen Kontext auch ist, darf sie nicht über weitere Zugänge hierzu hinwegtäuschen, denen ästhetische oder dominanz- und hegemoniekri‐ tische Perspektiven zugrunde liegen. Analog zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Mehrsprachigkeit lassen sich mit Blick auf Litera‐ turdidaktik ebenfalls folgende drei Zugänge feststellen: 1. Systemund/ oder soziolinguistisch-sprachdidaktische Perspektiven, 2. kulturwissenschaftliche Perspektiven im Einklang mit den Cultural Studies und - in Ansätzen und eher am Rande - 3. ästhetische, poetologische und narratologische Perspektiven. Bei Konzepten, denen die erstgenannte Perspektive zugrunde liegt, überwiegt die Übertragung linguistisch-sprachdidaktisch orientierter, meist (wenn auch nicht ausschließlich) kontrastiv angelegter, mehrsprachigkeitsdidaktischer Überlegungen auf die Mehrsprachigkeit in der Literatur (siehe Grimm 2017 u.-a.). 8 Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber <?page no="9"?> 1 Diese Systematisierung basiert auf dem Vortrag „Hegemoniekritische Ästhetik: Lite‐ rarische Mehrsprachigkeit in der Migrationsgesellschaft“ im Rahmen der Tagung „Sprache(n) als Differenzkategorie in der Diversity Education reflektieren und thema‐ tisieren“ (27.-28. März 2023) an der Universität Magdeburg. Im Mittelpunkt kulturwissenschaftlich orientierter Zugänge steht meist die sog. Sprach(en)bewusstheit sowie Dekonstruktion und Dominanzkritik im literaturunterrichtlichen Kontext. Dies erfolgt z. B. im Zuge und mit dem Ziel der Reflexion und der sinnlichen Erfahrung sprachlicher Machtverhält‐ nisse, migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und migrationsbedingter Sprachlernprozesse im imaginären Raum und in der Gesellschaft (siehe Fil‐ singer/ Bauer 2021; Nagy 2018). Als relevant erweist sich hierbei auch das Erkennen der literarischen Funktion innerer und äußerer Mehrsprachigkeit und die Dekonstruktion sprachlicher Zuschreibungen und Wahrnehmungen (siehe Kofer 2023; Wizany 2021) einerseits und/ oder der sprachenpolitischen Funktion von Mehrsprachigkeit unter Rückgriff auf Postkoloniale Theorien (Othering, Hybridität, Zentrum und Peripherie; siehe Titelbach 2021) andererseits. Beide Zugänge indes beziehen die Legitimation zur Didaktisierung litera‐ rischer Mehrsprachigkeit aus migrationsgesellschaftlichen Sprach(en)verhält‐ nissen. Je nach paradigmatischer Verortung dominieren dabei Perspektiven, die die Sprach(en)vielfalt eher differenzorientiert oder eher dominanzkritisch didaktisieren. Das hegemoniekritische, migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit in den Blick nehmende Konzept LitLA (Literature und Language Awareness) verbindet dies allerdings mit einer ästhetischen Perspektive auf literarische Mehrsprachigkeit als Gegenstand einer literatur- und sprach(en)bewussten Bil‐ dung (siehe Rösch 2021). Dennoch sind Konzepte, die die ästhetische Dimension literarischer Mehrsprachigkeit in den Mittelpunkt stellen und diese aus dieser Perspektive heraus auch didaktisieren, eher marginalisiert. In ihrem Umgang mit Mehrsprachigkeit in Literatur legen sie den Fokus teilweise auf Verfrem‐ dungen und Deautomatisierungen, (Sprach-)Komik und Sprachklang und/ oder Sprachspiel (siehe Titelbach 2021) oder sie akzentuieren narratologische Zu‐ gänge (mehrsprachige Redeformen in Figurenrede bzw. Erzähler: innenbericht u. a.; siehe Rösch 2021). Literaturdidaktisch bisher nur am Rand berücksichtigt, eröffnen diese Perspektiven die Möglichkeit, literarische Mehrsprachigkeit im Kontext ästhetischer Bildung und damit im zentralen Aufgabenfeld der Literaturdidaktik zu verorten (für die oben genannte Systematisierung siehe Hodaie 2022, unveröffentlichtes Manuskript 1 ). Einleitung 9 <?page no="10"?> Vor dem Hintergrund vorangehender Überlegungen setzt sich der Sammelband mit literarischer Mehrsprachigkeit und ihrer Didaktik auseinander. Im Fokus stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehr‐ sprachigkeit und deren Didaktisierung aus einer Perspektive heraus, die die Relevanz literarischer Mehrsprachigkeit als genuin literarische Größe und somit für die Entwicklung literarischer Kompetenz bedeutsam in den Blick nimmt. Wir orientieren uns daher an literaturdidaktischen Ansätzen, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Werken ins Zentrum stellen, ihre verschiedenen Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektieren und die im Werk vorhandene oder im Umgang damit zu realisierende dominanzsprach‐ kritische Perspektive literaturdidaktisch gestalten. Die Beiträge des Sammelbands liefern neben kritisch-theoretischen und textanalytischen auch produktive und rezeptive Zugänge. Diese sind postmi‐ grantisch, macht- und linguizismuskritisch akzentuiert. Berücksichtigt werden unterschiedliche Gattungen und Genres, literaturhistorische Aspekte sowie Rezeptionssettings im Umgang mit literarischer Mehrsprachigkeit. Kritisch-theoretische Zugänge liefert zum einen der Beitrag von Esther Kilchmann, die zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit einen strukturalis‐ tischen und poststrukturalistischen Lektüreansatz vorstellt: Auf der Grundlage von Saussures Zeichentheorie beschäftigt sie sich mit sprachkritischen Fragen der Generierung von Bedeutung und der Beziehung von Wort und Ding sowie einer poetischen, mehrsprachigen und mehrdeutigen Umgestaltung der lautbildlichen Seite des Zeichens. Literarische Mehrsprachigkeit versteht sie als poetisch selbstreflexives Verfahren, in dem die Besitzbarkeit von Sprache sowie die Festschreibung von Bedeutung aufgebrochen und „Knotenpunkte der Mehrdeutigkeit wie der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit geschaffen“ werden. Zum zweiten entfaltet Magdalena Kißling Verbindungslinien zwischen postkolonialer Literaturdidaktik und einer Didaktik literarischer Mehrsprachig‐ keit: Ausgehend vom Umgang mit einem rassistischen Sprachgebrauch, der zu einer sprachlichen Desorientierung im Literaturunterricht führen kann, plädiert sie dafür, rassistische Sprache als Varietät des Standarddeutschen und damit als Teil der inneren Mehrsprachigkeit zu lesen, um den mehrsprachigkeitsdi‐ daktischen Ansatz zu stärken. Dazu stellt sie das Modell der Dechiffrierung rassistischer Sprache im Literaturunterricht vor, um einen distanzierten Zugang zu Sprache zu gewinnen, machtkritische Literaturzugänge zu öffnen und „Lite‐ raturbarrieren zu überwinden, die aufgrund sprachlicher Verletzung entstehen können“. 10 Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber <?page no="11"?> Die textanalytischen Zugänge greifen unterschiedliche Gattungen - vom Drama des 18. Jahrhunderts bis zum Comic - auf, fokussieren zum Teil einzelne Texte, um Formen, Wirkungen und didaktische Überlegungen bezogen auf literarische Mehrsprachigkeit aufzuzeigen. Anna Maria Olivari liest „[I]n undeutschen Büchern“, konkret Dramen im 18. Jahrhundert. Sie orientiert ihre Untersuchung an der historischen Diver‐ sitätsforschung und zeigt damit, dass Mehrsprachigkeit und Diversität keines‐ wegs auf gegenwärtige Literatur reduziert ist, sondern ein literaturgeschichtlich interessantes, wenn auch noch nicht ausreichend erforschtes Thema ist. Martina Kofer analysiert affektive und kulturpolitische Dimensionen von ‚Muttersprachlichkeit‘ und Mehrsprachigkeit in drei Gegenwartstexten mit Bezug zum Thema Migration. Nach der Skizzierung des historischen Normie‐ rungsprozesses von Einsprachigkeit, der eng mit der Biologisierung, Ideologi‐ sierung und Emotionalisierung des Konstrukts ‚Muttersprache‘ verbunden ist, wirft sie einen hegemoniekritischen Blick auf sprachliche Normsetzungen. Die Konstruiertheit von ‚Muttersprachlichkeit‘ und die - daraus und aus den Bewertungen ihrer Sprachlichkeit - emotionalen Konsequenzen für die Figuren resultieren in den ausgewählten Romanen. Diese Herangehensweise bietet auch die Grundlage für ihre didaktischen Überlegungen. Ferenc Vincze untersucht latente Mehrsprachigkeit in osteuropäischen, re‐ gionsbezogenen Romanen. Seine parallele und vergleichende Analyse offenbart den multikulturellen und mehrsprachigen Charakter dieser osteuropäischen Region, während die zahlreichen Übersetzungsszenen und die durch sie reprä‐ sentierte latente Mehrsprachigkeit auf die sprachliche Abgeschlossenheit der Region hinweisen. Er sieht in dieser Funktion latenter Mehrsprachigkeit eine transnationale Gemeinsamkeit, die er als transkulturelles Transferphänomen der dargestellten Region identifiziert. Cornelia Zierau fächert das dominanzkritische, sprach- und diversitäts‐ sensible Potential literarischer Mehrsprachigkeit anhand aktueller, (wie sie es nennt) interkultureller Literatur auf. Dabei spielen Kulturvermittlung und Sprachreflexion eine große Rolle, so dass die aufgezeigten Formen von lite‐ rarischer Mehrsprachigkeit zur „Sensibilisierung für Mehrsprachigkeit und damit zur Infragestellung eines monolingualen Habitus als dominantem Diskurs beitragen“ können. Astrid Henning-Mohr zeigt, wie die Übersetzung als ästhetische Vielstim‐ migkeit fungiert und damit einer literarischen Mehrsprachlichkeit zuzuordnen ist, die sich u. a. in Grenzüberschreitungen und Hybridisierungen manifestiert und dabei ästhetische Zwischenräume und erweiterte Deutungs- und Interpre‐ tationsmöglichkeiten eröffnet. Dies exemplifiziert sie am Beispiel Luis Sepúl‐ Einleitung 11 <?page no="12"?> vedas Der weiße Wal erzählt seine Geschichte mit einer übersetzten Tiersprache in einem übersetzten Kinderbuch aus dem Spanischen ins Deutsche. Lisa Rettinger analysiert die literarische Vielschichtigkeit in Lilly Axsters und Christine Aebis Ein bisschen wie du. A little like you. Sie beschreibt die mehrsprachige Oberfläche durch die Gestaltung der bilingualen Struktur des Bilderbuchs, die literarische Darstellung der Mehrsprachigkeit als Mischung zwischen parallelen, integrativen und translatorischen Formen, die Sprache als dynamisches System inszeniert und schließlich Sprache(n) bzw. Mehrsprachig‐ keit als identitäres Moment konstruiert. Björn Laser befasst sich mit Mehrsprachigkeit in Comics, Mangas und Graphic Novels. Er zeigt Beispiele für die Präsenz einer parallelen Mehrspra‐ chigkeit, für die Indikation, Evokation oder Subsumption der anderen Sprachen im Verhältnis zur Basissprache und der Substitution, wenn Figuren mit ihrem sprachlichen Repertoire als mehr- oder anderssprachig sichtbar bleiben. Die produktiven und rezeptiven Zugänge dokumentieren Schreib- und Literaturprojekte sowie empirische Studien zum Umgang mit mehrsprachiger Literatur in unterschiedlichen Settings. Annette Bühler-Dietrichs Projekt über die Kraft der Missverständnisse „Stille Post“ wurde 2022 im Literaturhaus Stuttgart vorgestellt. Es verfolgte das Ziel, drei deutschsprachige und drei französischsprachige Autor: innen ausgehend vom Kinderspiel Stille Post miteinander in Kontakt zu bringen. Dazu wurde ein Text immer nur bis zum/ zur nächsten Autor: in weitergeleitet. Er oder sie sollte aus dem erhaltenen Text einen Impuls aufnehmen und ihn im eigenen Text weiterverarbeiten. Im Beitrag werden die entstandenen Texte und deren Umgang mit Mehrsprachigkeit vorgestellt und daran Reflexionen zu ihrem Einsatz im Unterricht angeschlossen. Martin Kasch stellt eine Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit vor und nutzt dazu das Kettengedicht „Renga“, an dem diverse Lyriker: innen mit‐ gewirkt haben. Die dabei entstandene Vielfalt des Sprechens und der Sprachen korrespondiert mit einer Vielfalt an didaktischen Möglichkeiten, die neben ana‐ lytischen auch kreative Schreibaufgaben nahelegen, um „die in Renga angelegte Zirkulation der Sprachen weiterzuführen“. Beate Baumann befasst sich mit dem Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit mit DaF-Studierenden der Univer‐ sität Catania im Rahmen eines germanistischen Masterkurses. Die Grundlage bildet eine Auseinandersetzung mit Auszügen aus Nava Ebrahimis Roman Sechzehn Wörter (2019) in Hinblick auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit und sprachlicher Uneindeutigkeit, auch in Verbindung mit Übersetzungsaktivitäten, sprach- und kulturreflexiven sowie (kritischen) Bewusstwerdungsprozessen. 12 Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber <?page no="13"?> Dies zeigte sich als große Herausforderung zum Beispiel auch hinsichtlich eurozentrisch geprägter Perspektiven und ihrer (selbst)kritischen Reflexion. Svetlana Vishek untersucht die Rezeption von parallel deutsch-russischen Bilderbüchern in drei deutsch-russischsprachigen Familien. Es zeigt sich, dass ein parallel mehrsprachiges Bilderbuch neue Möglichkeiten für die sprachliche Gestaltung von Vorlesesituationen in mehrsprachigen Familien eröffnet und Ge‐ spräche über die Vorlesesprache provoziert. Allerdings scheint die sprachliche Parallelität auch Langeweile auszulösen und eine weitere Studie mit integrativ mehrsprachigen Bilderbüchern nahezulegen. Esa Hartmann nutzt Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation für ein translinguales und multimodales Storytelling mit zweisprachigen Lehramtsstudierenden im Elsass. Ihre kreative Aktions‐ forschung kombiniert den literarischen Ansatz der Bilderbuchforschung und den performativen Ansatz der Sprachdidaktik. Das Ergebnis des deutsch-fran‐ zösischen Storytelling-Workshops zeigt die Entfaltung ihrer kreativen Kom‐ petenzen für die spätere Lehrtätigkeit der Studierenden in multilingualen Lerngruppen. Abderrahim Trebak befasst sich mit der Stilistik und der Rhetorik der litera‐ rischen Mehrsprachigkeit am Beispiel der Übersetzung arabischer Gedichte ins Deutsche und ihrer Rolle in der universitären Didaktik des Arabischen. Anhand verschiedener Übersetzungsmethoden werden die Probleme der ästhetischen Übersetzung von Redensarten, Wortspielen und Stilmitteln beleuchtet. An dieser Stelle danken wir allen Beteiligten für ihre Unterstützung im Entste‐ hungsprozess des Sammelbandes, allen voran den Autor: innen, die ihn durch ihre Beiträge ermöglicht haben. Unser besonderer Dank gilt Frau Dr. Carmen Preißinger für ihre präzise redaktionelle Begleitung. Für die Erstellung des Personenregisters im Band möchten wir Frau Laura Lehmann unseren Dank aussprechen. Ebenfalls möchten wir dem Narr Francke Attempto Verlag und im Besonderen Herrn Tillmann Bub für die angenehme Zusammenarbeit danken. Wir sind zuversichtlich, dass dieser Sammelband mit seinen vielfältigen Perspektiven zur Weiterentwicklung der Diskussion um literarische Mehrspra‐ chigkeit und ihre Didaktik beiträgt. Literatur Filsinger, Ute/ Bauer, Susanne (2021). „Gebrochenesdeutschsprachigesraum“ als sprach‐ lichliterarischer Lernraum. Zur Gestaltung von Migrationsmehrsprachigkeit in ( Ju‐ gend-)Literatur zu Flucht und Migration. In: Titelbach, Ulrike (Hrsg.). Mehr Spra‐ chigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Einleitung 13 <?page no="14"?> Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band-7). Wien: Praesens Verlag, 69-97. Grimm, Lea (2017). Didaktische Potenziale mehrsprachiger Literatur. In: Scherf, Daniel (Hrsg.). Inszenierung literalen Lernens: kulturelle Anforderungen und individueller Kompetenzerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 170-179 . Kilchmann, Esther (2012). Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zur Einführung. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3 (2), 11-19. Kofer, Martina (2023). Literarische Mehrsprachigkeitsdidaktik. Potenziale für einen integrativen Deutschunterricht. In: Thielking, Sigrid/ Hofmann, Michael/ Esau, Mi‐ riam (Hrsg.). Neue Perspektiven einer kulturwissenschaftlich orientierten Literatur‐ didaktik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 215-230. Kunz, Lydia (2018). Kirsten Boie: Bestimmt wird alles gut. Ein Unterrichtsmodell für die Klasse 3 und 4. https: / / www.dtv.de/ _files_media/ downloads/ unterrichtsmodell-besti mmtwird-alles-gut-71802-1052.pdf (Letzter Zugriff: 09.05.2021) Nagy, Hajnalka (2018). Literarität und Literarizität in der Migrationsgesellschaft. Mehr‐ sprachige (Kinder- und Jugend-)Literatur für einen sprachaufmerksamen und domi‐ nanzkritischen Unterricht. leseforum.ch (2), 1-16. https: / / www.leseforum.ch/ sysMod ules/ obxLeseforum/ Artikel/ 625/ 2018_2_de_nagy.pdf (Letzter Zugriff: 31.10.2023). Oomen-Welke, Ingelore (2010). Der Sprachenfächer. Materialien für den interkulturellen Deutschunterricht in der Sek I. Berlin: Cornelsen. Rösch, Heidi (2021). Literature und Language Awareness (LitLA). In: Titelbach, Ulrike (Hrsg.). Mehr Sprachigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band-7). Wien: Praesens Verlag, 17-40. Stockhammer, Robert (2015). Wie Deutsch ist es? Glottamimetische, -diegetische, -pitha‐ none, und -aporetische Verfahren in der Literatur. Arcadia 50 (1), 146-172. Titelbach, Ulrike (Hrsg.) (2021). Mehr Sprachigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band-7). Wien: Praesens Verlag. Wizany, Thomas (2021). Leyla vor Sonnenaufgang. Ethnolekt und Dialekt im mehrspra‐ chigen Literaturunterricht. In: Titelbach, Ulrike (Hrsg.). Mehr Sprachigkeit. Unter‐ richtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band 7). Wien: Praesens Verlag, 117-138. 14 Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber <?page no="15"?> Kritisch-theoretische Zugänge <?page no="17"?> Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit: Für einen strukturalistischen und poststrukturalistischen Lektüreansatz Esther Kilchmann Abstract: This article presents a coherent approach to literary theory-based research on literary multilingualism that is distinct from linguistically based models of interpretation. In critical engagement with existing research, a new definition of literary multilingualism is proposed. Through the discussion of relevant theories by Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson, and finally Jacques Derrida, it is argued that literary multilingualism always means a literary shaping of the signifier and thus a programmatically aesthetic shaping of extra-literary multilingualism. Keywords: Literarische Mehrsprachigkeit, Literaturtheorie, Strukturalismus, Forma‐ lismus, Poststrukturalismus Literarische Mehrsprachigkeit lässt sich definieren als Umgang der Literatur mit der Vielfalt der Sprache und insbesondere mit ihren kulturhistorisch bedingten Manifestationen in den linguistischen Subsystemen von Nationalsprachen, So‐ ziolekten und Dialekten. Darunter fällt in der auf Georg Kremnitz (2015) zurück‐ gehenden Einteilung sowohl die aktive literarische Verarbeitung und kreative Gestaltung existierender Sprachvielfalt in Gestalt von textinternen Sprachwech‐ seln und -mischungen als auch der Einfluss außerliterarischer linguistischer Gegebenheiten wie Sprachbiografie, regionale Sprachsituation, Sprachpolitiken und -normierungen auf das Literaturschaffen. Aus dieser hier bewusst weit for‐ mulierten Definition wird zugleich ersichtlich, dass der Bezug von Literatur zu Mehrsprachigkeit erstens im Grunde ebenso umfassend ist wie jener zu Sprache überhaupt, und dass zweitens literarische Mehrsprachigkeit als Forschungsge‐ genstand am Schnittpunkt unterschiedlicher Disziplinen zu lokalisieren ist. Dazu gehören Soziolinguistik und Sprachgeschichte, insofern literarische Mehr‐ <?page no="18"?> 1 Dass sich in der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung Unterschiede zwischen national geprägten Wissenschaftskulturen zeigen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. In der germanistischen Mehrsprachigkeitsforschung sind insbesondere die genannten angelsächsischen Arbeiten rezipiert worden, während eine intensivere Rezeption etwa der umfassenden francophonen Forschung ein Desiderat darstellt. sprachigkeit immer auch in vielfältigem Austausch mit historisch-kulturellen linguistischen Prozessen und Situationen steht; Literaturwissenschaft, weil die literarische Verarbeitung von Mehrsprachigkeit immer mehr als eine bloß mi‐ metische Abbildung soziolinguistischer Gegebenheiten ist und eigenen Regeln narrativer, stilistischer, rhetorischer und intertextueller Verfahren folgt, wobei sie regellos sein kann, weil literarische Mehrsprachigkeit immer Teil genuin lite‐ rarischer Spracharbeit und deren Streben nach neuen Ausdrucksweisen ist; Kul‐ turwissenschaft, weil die literarische Spracharbeit wiederum nicht losgelöst von ihren jeweiligen sozialen und politischen Kontexten stattfindet, ohne freilich ganz darin aufzugehen. Hinzu kommen didaktisch, psychologisch und soziolo‐ gisch ausgerichtete Interessen an literarischer Mehrsprachigkeit. Entsprechend ist ihre bisherige Erforschung insgesamt durch ein interdisziplinäres Prisma und die damit verbundene Methodenpluralität gekennzeichnet. Ohne an dieser Stelle eine detailliertere Forschungsdiskussion leisten zu können, lässt sich die gegen‐ wärtige literarische Mehrsprachigkeitsforschung mit Fokus auf ihre Methoden wie folgt umreißen: In den Studien aus dem angloamerikanischen Kontext, na‐ mentlich von Yasemin Yıldız (2012) und David Gramling (2016; 2021), dominiert ein den Cultural Studies verpflichteter Ansatz, der literarische Mehrsprachigkeit aus aktueller gesellschaftskritischer Perspektive im Kontext von Identitätszu‐ weisungen und kulturellen Machtstrukturen interpretiert und ihre historische Verwobenheit in Konstruktionen nationaler Zugehörigkeit, in kulturelle In- und Exklusionsprozesse untersucht. Im deutschsprachigen Kontext ist eine Schwer‐ punktsetzung auf kulturellen, sozialen und linguistischen Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit zu beobachten, wie im von Till Dembeck und Rolf Parr (2017) herausgegebenen Handbuch, was auf methodischer Ebene eine Orientierung an linguistischen und sprachhistorischen Konzepten begünstigt. 1 Hinzu kommt die Erarbeitung von Typologien von unterschiedlichen Formen, Funktionen und Techniken mehrsprachigen Schreibens, wie sie jüngst von Natalia Blum-Barth (2021) vorgelegt wurde. Zu erwähnen ist ferner Dembecks (2014) Konzept der „Mehrsprachigkeitsphilologie“, das davon ausgeht, dass ein Text nie einsprachig ist, sondern immer schon in einem vielsprachigen Geflecht von intertextuellen und interkulturellen Einflüssen entsteht, die es sichtbar zu machen gilt. Neben diesen für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung allesamt wegweisenden Arbeiten wird das Feld von Einzelstudien zu Texten 18 Esther Kilchmann <?page no="19"?> aus regional-historisch mehrsprachigen Räumen und im Kontext von Migration beherrscht (siehe u. a. Schmeling/ Schmitz-Emans 2002; Helmich 2016; Leben 2019; Siller/ Vlasta 2020, die sich teils an den genannten Ansätzen orientieren, teils eigene Terminologien vorschlagen, sodass das Feld sich nicht nur hinsicht‐ lich der bearbeiteten Gegenstände, sondern auch der methodisch-theoretischen Ansätze als dynamisch oder, je nach Blickweise, unübersichtlich präsentiert. Dass im sich gegenwärtig konsolidierenden und ausdifferenzierenden Feld der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung bislang kein einheitlicher Untersu‐ chungsansatz durchgesetzt werden konnte, muss allerdings nicht unbedingt als zu beseitigendes Manko wahrgenommen werden. Vielmehr lässt es sich als Hinweis darauf lesen, dass der Untersuchungsgegenstand der literarischen Mehrsprachigkeit selbst spezifische Schwierigkeiten auf methodisch-theoreti‐ scher Ebene aufwirft. Sie entstehen daraus, dass sich einerseits allein durch die Aufmerksamkeit für den poetischen Umgang mit unterschiedlichen nationalen Sprachen eine große Nähe zu einem letztlich linguistisch fundierten Konzept von Mehrsprachigkeit ergibt, andererseits aber der literarische Text ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er von der Alltagssprache abweicht und sich der linguistischen Bestimmung so immer wieder entzieht (siehe Betten et al. 2017). Mit anderen Worten entwickelt jeder wahrhaft poetische Text sein eigenes Idiom, das Ähnlichkeiten zur Alltagssprache simulieren kann, deren Re‐ gelhaftigkeit (die soziolinguistische Forschung ja auch in kontaktsprachlichen Phänomenen nachweist) er aber auch beliebig brechen und neu erfinden kann (siehe Stockhammer et al. 2007). Damit haben wir gewissermaßen die Skylla und Charibdis literarischer Mehrsprachigkeitsforschung vor uns. Mehrsprachigkeit in der Literatur hauptsächlich unter Kriterien historisch-regionalen Sprachge‐ brauchs, kulturellen Sprachnormierungen und kontaktsprachlicher Modelle von Codeswitching bis translanguaging zu begreifen, macht sie letztlich zu einem Untergebiet der Soziolinguistik. Ein solcher Ansatz läuft Gefahr, die damit ver‐ bundenen narrativen Kunstgriffe und stilistisch-rhetorischen Überformungen aus dem Blick zu verlieren oder bestenfalls als Nebeneffekt zu bemerken. Litera‐ rische Mehrsprachigkeit auf der anderen Seite ausschließlich als Teil narrativer und poetischer Verfahren - etwa als Sprachspiel oder realitätserzeugenden Effekt in der Figurenrede - textimmanent zu betrachten, würde ihrer zu Recht von der Forschung betonten kultursemiotischen und politischen Dimension (siehe u. a. Sturm-Trigonakis 2007; Yildiz 2012; Dembeck 2017) nicht gerecht und wiese Mehrsprachigkeit als Unterkategorie rhetorisch-stilistischer Figuren ein Nischendasein zu. Dies gilt auch für ihre Subsumierung unter dem weiten Konzept der Intertextualität. Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit 19 <?page no="20"?> 2 Die deutsche Übersetzung von langage. langue und parole wird in der Forschungslite‐ ratur unterschiedlich gehandhabt. Ich folge hier Peter Wunderlis Neuübersetzung des CLG, in dem langage mit Sprache, langue mit Sprachsystem und parole mit Sprechen Das Gros der gegenwärtigen Forschung ist sich dieser Pole bewusst und versucht mit eigenen Segelsetzungen einigermaßen unbeschadet hindurch zu navigieren. Wenn es allerdings darum geht, nicht allein einzelne Erscheinungen literarischer Mehrsprachigkeit zu untersuchen, sondern übergreifend nach ihrer spezifischen Ästhetik zu fragen, ist dieses bestehende methodisch-theoretische ‚Sowohl-als-auch‘ letztlich unbefriedigend. Im Folgenden möchte ich deshalb den Vorschlag unterbreiten, von der Austarierung linguistischer und literatur‐ wissenschaftlicher methodischer Ansätze Abstand zu gewinnen und stattdessen theoretische Grundlagenarbeit für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung zu leisten. Dies erfordert eine Rekursion auf die Basis moderner Sprachwie Literaturtheorie im Strukturalismus und ihre Fortentwicklung in Formalismus und Poststrukturalismus. Aufgegriffen wird deshalb zunächst das auf Ferdi‐ nand de Saussure zurückgehende Konzept der Sprache, das dem Begriff der Mehrsprachigkeit, definiert als Koexistenz mehrerer zählbarer Sprachsysteme (langues) unter dem Dach menschlichen Sprachvermögens (language) (Coulmas 2018: 26), zu Grunde liegt. Anschließend an meine bisherigen Arbeiten (Kilch‐ mann 2012; 2016) soll so ein Lektüreansatz für literarische Mehrsprachigkeit vorgestellt werden, der sie grundsätzlich nicht als Sonderfall (relevant in spezifischen sozio-kulturellen Kontexten wie Migration, Minoritäten oder der DaF/ DaZ-Didaktik) begreift, sondern als integralen Teil von Sprache und somit auch ihrer literarischen Gestaltung und der Generierung von Bedeutung über Differenzverhältnisse. Nicht zuletzt zeigt sich dabei jene genuin sprachkritische bzw. -philosophische Dimension von Mehrsprachigkeit, auf die bereits Dieter Heimböckel (2013) und Arvi Serpp (2017) hinweisen. 1 Mehrsprachigkeit und die Arbitrarität des Zeichens bei Ferdinand de Saussure Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale ist für den Komplex der Mehrsprachigkeit deshalb von grundlegender Bedeutung, weil er eine Sprachtheorie vorlegt, die eine Unterscheidung von Ein- und Mehrsprachigkeit aufgrund der Annahme der Existenz einheitlicher und voneinander klar ab‐ grenzbarer und deshalb zählbarer Sprachen befestigt (siehe Stockhammer et al. 2007). In der kategorialen Unterscheidung von langage, langue und parole wird das Sprachsystem, la langue, zur „Bezugsgröße für alle anderen Erscheinungs‐ formen von Sprache“ (Saussure 2014: 61). 2 In der langue wird die allgemeine 20 Esther Kilchmann <?page no="21"?> übersetzt wird, füge aber zusätzlich die französischen Begriffe ein, um Unklarheiten durch die Verdeutschung zu vermeiden. menschliche Sprachfähigkeit (langage) realisiert in Gestalt eines konkreten, durch soziale Konvention gebildeten Systems von Zeichen, der dann auch die parole als Sprechen des/ der Einzelnen untergeordnet ist. Nun setzt Saussure langue selbstverständlich nirgends mit Standard- oder Nationalsprache gleich. Gleichwohl aber lässt sich folgern, dass die einzelne Nationalsprache eine historisch entstandene Formation der langue darstellt, da in ihr eine soziale Übereinkunft zur Verwendung bestimmter Zeichen für bestimmte Gegenstände besteht, die die Sprecher: innen zum Zweck der Kommunikation nutzen (siehe Kremnitz 1997). Die linguistische Mehrsprachigkeitsforschung hat diese An‐ nahme einer Zählbarkeit und eindeutigen Abgrenzbarkeit von Sprachen durch die Erforschung kontaktsprachlicher Phänomene wie translanguaging längst in Frage gestellt (García/ Wei 2014; Coulmas 2018). Auf das Modell Saussures zurückbezogen lässt sich argumentieren, dass (sowohl alltagssprachliche als auch literarische) Formen von Sprachwechseln und -mischungen zeigen, dass sich weder die allgemeine Sprachfähigkeit des Menschen (langage) noch die individuelle parole ausschließlich in vorgeformten Sprachsystemen (langue) realisieren muss, sondern sich gerade auch in vielfältigen Verschiebungen und Veränderungen derselben niederschlägt. Gerade mehrsprachige Literatur - im Grunde aber Literatur überhaupt - mit ihrem Streben nach immer neuen Ausdrucksformen widerlegt so Saussures (2014: 109) Annahme, dass niemand ein Interesse an einer Durchbrechung der von der Sprachgemeinschaft gesetzten Grenzen habe, da „jedes Volk […] im allgemeinen mit der Sprache zufrieden [ist], die es hat.“ Während der Fokus auf mehrsprachige Phänomene hier dazu geeignet ist, ein sprachtheoretisches Modell zu kritisieren, ist bislang weitgehend unbeachtet geblieben, dass Saussure selbst Mehrsprachigkeit - und, das sei hier nur beiläufig erwähnt, seine deutsch-französische Bilingualität - nutzt, um zentrale theoretische Einsichten seines Sprach- und Zeichenbegriffs zu formulieren. Im Cours de linguistique générale taucht Mehrsprachigkeit zwar nur am Rande auf, interessanterweise allerdings dort, wo die Beschaffenheit des Signifikanten ausgeführt und erörtert wird, wie dieser in seiner opaken Lautbildlichkeit in das System der Sprache als bedeutungsstiftend eingebunden ist. Saussure geht dabei zunächst auf die physikalischen Grundlagen von Sprache ein. Sie werden als Übermittlung von „Schallwellen vom Mund von A zum Ohr von B“ (Saussure 2014: 63) beschrieben, begleitet vom psychischen Prozess der Assoziation eines Lautbildes mit einem entsprechenden Konzept. Letzteres gelingt allerdings nur unter Sprecher: innen, die der gleichen Sprache Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit 21 <?page no="22"?> mächtig sind. Anderenfalls bleibt Sprechen und Hören ein rein physikalischer Akt, in dem lediglich unverständliche Laute ausgetauscht werden: „Wenn wir eine Sprache hören, die wir nicht kennen, nehmen wir sehr wohl die Laute wahr, aber aufgrund unseres Unverständnisses bleiben wir vom sozialen Ereignis ausgeschlossen“ (ebd.: 65). Damit wird bereits im CLG die Wahrnehmung einer fremden Sprache mit der ihrer erhöhten lautbildlichen Seite bei gleichzeitigem Schwinden des kommunikativen Nutzens enggeführt. Untersuchungen von Seiten der Fremdsprachendidaktik haben inzwischen einen entsprechenden Zusammenhang mit Blick auf Spracherwerb und language awareness bestätigt: In der fremden Sprache fallen Steffi Morkötter (2005) zufolge Laut- und Schrift‐ bilder, aber auch wörtliche Bedeutungen idiomatischer Wendungen stärker ins Auge. Der Blick auf Sprachvielfalt dient Saussure aber nicht nur dazu, seine grundlegende Unterscheidung von Lautbildlichkeit und Bedeutung darzulegen, auch für seine zentrale These von der Arbitrarität des Zeichens wird die Existenz verschiedener Sprachen als Beweis angeführt: Die Idee von ‚soeur‘ (‚Schwester‘) ist durch keine innere Beziehung an die Lautfolge s-ö-r gebunden, die ihr als Signifikant dient; sie könnte auch durch irgendeine andere wiedergegeben werden; das beweisen schon die Unterschiede zwischen den Sprachen und selbst die Existenz von verschiedenen Sprachen: Das Signifikat ‚boeuf ‘ (‚Ochse‘) hat auf der einen Seite der Sprachgrenze b-ö-f zum Signifikanten, auf der anderen o-k-s. (Saussure 2014: 106, Hv. i.-O.) Mehrsprachigkeit führt so nicht nur die Binarität des Zeichens, sondern auch seine Arbitrarität vor Augen. Ihr gegenüber erhält die Sprachgemeinschaft die Funktion, die Herstellung von Bedeutung zu konventionalisieren und zu regulieren und so die symbolische Ordnung zu erstellen und aufrechtzuerhalten. In der Funktion als Wächterin über sprachliche Konventionen erscheint sie als eine Art Zwangsgemeinschaft. Saussure (ebd.: 108) zufolge beschneidet die Gemeinschaft der Sprecher: innen einer nationalen Sprache die in der Arbitrarität des Lautbildes eigentlich angelegte Freiheit rigoros und ordnet sich Signifikanten wie Individuen unter. Die Wahrnehmung des Signifikanten in seiner Dinglichkeit muss dabei hinter seine feste Bindung an ein bestimmtes Signifikat zurücktreten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass nach Saussure eine Sprachgemeinschaft die Sprache (langue) als System zur möglichst eindeutigen Bedeutungsgenerierung verstärkt, während die Konfrontation mit anderen Sprachen gerade die Arbitrarität und lautbildliche Beschaffenheit des Signifikanten hervorhebt. In mehrsprachigen Konstellationen wird so sichtbar, dass der Signifikant nicht restlos im Signifizierten aufgeht und so die langue auf die langage als allen Menschen gemeinsame Fähigkeit zur Lautproduktion hin 22 Esther Kilchmann <?page no="23"?> wie auf die parole als Rede des Einzelnen öffnet. Diese Erkenntnis stellt im CLG eine Art Nebenprodukt von Saussures Theorie der Binarität und Arbitrarität des Zeichens dar, das sich aber für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung nutzen lässt. Zunächst lässt sich damit der bereits erwähnte Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstheit aus der strukturalistischen Theorie heraus belegen. Überdies kann damit aber auch die These einer spezifischen Ästhetik literarischer Mehrsprachigkeit weiter untermauert werden, weil nach Saussure gerade in Sprachwechsel und -mischung jene dingliche und mehrdeu‐ tige lautbildliche Seite des Zeichens betont wird, über die wiederum Poetizität erzeugt wird. 2 Mehrsprachigkeit und Poetizität im Formalismus und bei Roman Jakobson Die Frage nach der Poetizität, nach der theoretischen Erfassbarkeit literatur‐ sprachlicher Ästhetik, steht im Zentrum des zeitgleich mit Saussures Zeichen‐ theorie entstandenen Formalismus. Seine methodisch-theoretischen Ansätze sind für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung nicht nur deshalb von großer Wichtigkeit, weil sie linguistische mit literaturwissenschaftlichen Fra‐ gestellungen verbinden, sondern auch, weil darin die literarische Sprache in ihren Abweichungen von alltagssprachlichen Normen, in ihrer Materialität und Ästhetizität fokussiert wird (siehe Hansen-Löve 1978). Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, stellen insbesondere die Konzepte der Verfremdung, Abweichung und Poetizität ein griffiges Instrumentarium zur Untersuchung der ästhetischen Gestaltung von Mehrsprachigkeit dar, insofern sie literarische Sprachmischung als spezifischen Kunstgriff fassbar machen. In seiner grundlegenden Untersuchung „Kunst als Kunstgriff “ formuliert Viktor Šklovskij 1917 die These, dass Kunst und Literatur den schleichenden Prozess der Automatisation in der Wahrnehmung von Wirklichkeit unterbre‐ chen sollen. Ihre Aufgabe sei es, „die Wahrnehmung des Lebens wiederherzu‐ stellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen“ (Šklovskij 1984: 13). Dies könne durch das Verfahren der Verfremdung und der Komplizierung der Form bewirkt werden. Bei der Verfremdung gehe es darum, „die Dinge nicht beim Namen“ (ebd.: 22) zu nennen, was durch den Einsatz rhetorischer Figuren erreicht werde. Aber auch textinterne Mehrsprachigkeit erzeuge, wie Harald Fricke (1981: 32) und Elke Sturm-Trigonakis (2007: 154) betonen, einen Effekt der Verfremdung, insofern darin von der im einzelsprachlichen Zusammenhang er‐ warteten und automatisierten Bezeichnung abgewichen wird. Bereits Šklovskij (1984: 13) stellt eine Strukturähnlichkeit zwischen der poetischen Sprache, Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit 23 <?page no="24"?> die die Wahrnehmung vom Automatismus befreit, und einer fremden Sprache fest: „Nach Aristoteles soll sie [= die dichterische Sprache, EK] fremdartig und überraschend wirken; in der Praxis ist sie oft eine fremde Sprache“. Das Zitat bezieht sich auf Aristotelesʼ Poetik (1982: 71), in der „fremdartige Ausdrücke“ als dichterische Mittel begriffen werden: Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremd‐ artige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist. Während Aristoteles unter „fremdartigen Ausdrücken“ rhetorische Figuren versteht, erweitert Šklovskij die poetischen Mittel der Verfremdung explizit um die Mehrsprachigkeit und überblendet die ‚Fremdartigkeit‘ der poetischen Sprache mit der Verwendung fremder Sprachen. So führt er als Beispiele poetischer Praxis das Sumerische bei den Assyrern, das Lateinische des Mit‐ telalters und die Arabismen in der persischen Literatur ebenso an wie den in der russischen Literatur gebräuchlichen Wechsel zwischen Schriftsprache, Dialekten und Französisch. Šklovskij (1984: 23) zufolge ist die Sprachmischung somit ein „besondere[r] Kunstgriff, um die Aufmerksamkeit zu fesseln“. Die Verwendung schwer oder nicht verständlicher Sprachen trage dazu bei, eine „schwierige, bewußt gehemmte, gebremste Sprache“ (ebd.) zu erzeugen, die wiederum konstitutiv für die Dichtung überhaupt sei. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Interesse des Formalismus an der Mehrsprachigkeit ein doppeltes ist: Einmal wird textinterne Mehrsprachigkeit als Mittel zur Erzeugung von Verfremdung und Abweichung begriffen und somit als ein künstlerisches Verfahren angesehen, durch das der Effekt einer Entautomatisation von Wahrnehmung erzielt wird und so scheinbar bekannte Dinge und Sachverhalte neu gesehen werden können. Zum anderen wird die dichterische Sprache selbst mit einer fremden Sprache verglichen, insofern sie von der Alltagssprache abweicht und ungewohnte Ausdrücke findet. Ins Zentrum rücken dabei die Gestaltung des Signifikanten und seine Dinglichkeit. Eben hier setzt Roman Jakobsons Konzept der „poetischen Funktion“ an, das er im Anschluss an Saussure und den Formalismus entwickelt. In seinem Aufsatz Was ist Poesie? von 1934 betont er die „Eigengesetzlichkeit des Wortes“ und die „Autonomie der ästhetischen Funktion“ ( Jakobson 1979a: 78), die in der Dichtung zu Tage trete. Poetizität manifestiere sich dadurch, „daß das Wort als Wort und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objektes oder als Gefühlsausbruch empfunden wird“ (ebd.: 79). Mithin geht es hier um ein selbst‐ referentielles Moment, in dem das Wort jenseits seiner Benennungsfunktion in seiner (schriftlichen und lautlichen) Materialität wahrnehmbar wird und eben 24 Esther Kilchmann <?page no="25"?> dadurch die automatisierte Wahrnehmung von Wirklichkeit durchbrechen und das „Realitätsbewusstsein“ (ebd.) befördern kann. In Linguistik und Poetik (1960) wird die Frage nach der Poetizität wieder aufgegriffen und in die Bestimmung der sechs sprachlichen Funktionen integriert. Hier ist es die „poetische Funk‐ tion“, die die „Spürbarkeit der Zeichen“ ( Jakobson 1979b: 93) vermittelt und damit auch die „fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte“ (ebd.). Diese poetische Funktion spielt in allen sprachlichen Tätigkeiten eine Rolle, ist aber in der Dichtung vorherrschend und strukturbestimmend, insofern sie hier - so Jakobsons (ebd.: 94) zentrale These - „das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination [projiziert]“. Bezüglich des Verfahrens der textinternen Mehrsprachigkeit nun lässt sich festhalten, dass gerade darüber, dass ein Wort als anderssprachig aus dem umgebenden Text hervorgehoben wird, die Aufmerksamkeit auf seine lautbildliche Erscheinungs‐ form gelenkt wird. Erst dann wird es, je nachdem, wie vertraut die Leser: innen mit dem Idiom sind, auf seine Bedeutung hin transparent oder bleibt opak. Dieser Effekt darf insofern als ein poetischer nach Jakobson (1979a: 79) gelten, als dabei das Augenmerk auf den Signifikanten gerichtet wird und „das Wort als Wort“ hervortritt. Jurij Lotman (1975: 160) vergleicht in diesem Sinne das fremde Wort mit einem „Fremdkörper, der in eine gesättigte Lösung fällt, den Ausfall von Kristallen hervorruft, das heißt die Struktur des Lösungsmittels zum Vorschein bringt.“ Durch den selbstreferentiellen Verweis auf seine Sprachlich‐ keit macht das fremde Wort mithin auch den medialen Charakter des gesamten Textes kenntlich. Mehrsprachigkeit kann somit als eine Möglichkeit gelten, die poetische Wirkung eines Textes zu intensivieren. Jakobson (1979a: 68) selbst deutet eine solche Lesart der Funktion von Mehrsprachigkeit bezüglich der Erzeugung von Poetizität an, wenn er fragt: „Wie weit wäre die Befreiung der russischen Schriftsprache wohl gediehen, wenn nicht der Ukrainer Gogol gekommen wäre? “ Im Anschluss an die Verbindung von Mehrsprachigkeit mit der Wahrnehmung der Binarität und Arbitrartiät und des Zeichens bei Saussure wird in der Theorie der Formalisten und Roman Jakobsons literarische Mehrsprachigkeit als ästhetisches Verfahren der Abweichung, Verfremdung und Erzeugung von Mehrdeutigkeit sowie der Hervorhebung sprachlicher Dinglichkeit und somit von Poetizität überhaupt lesbar. 3 Poststrukturalistische Zugänge zur literarischen Mehrsprachigkeit In den untersuchten Theorien strukturalistischer Provenienz zeigte sich, dass mit der Diskussion insbesondere von textinterner Mehrsprachigkeit Fragen der Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit 25 <?page no="26"?> poetischen Materialität und Mehrdeutigkeit verbunden sind. Damit verbunden ist die Frage, inwiefern ästhetische Verfahren die eindeutigen Zuweisungen von Signifikant und Signifikat lockern können. Abschließend soll nun diskutiert werden, inwiefern ein poststrukturalistischer Ansatz zur Lektüre literarischer Mehrsprachigkeit hinzugezogen werden kann, der gerade am Signifikanten als Ausgang mehrdeutiger Bedeutungsgenerierung ansetzt. Dies bedeutet einmal mehr, theoretische Ansätze zur Erfassung literarischer Mehrsprachigkeit aus übergreifender Sprachtheorie bzw. -philosophie herzuleiten. Denn auch in den Schriften des linguistic turns mit ihrer zentralen Frage nach der Verfasstheit und Struktur von Sprache überhaupt spielt die Frage nach der Bedeutung der einzelnen Sprachen bzw. ihres Verhältnisses untereinander kaum eine Rolle. Trotzdem enthalten insbesondere die sprachphilosophischen Schriften Jacques Derridas vielfältige Ansatzpunkte für die Reflexion der Konstellation der Mehrsprachigkeit und der einzelnen Sprachen unter dem Gesichtspunkt umfassender Sprachkritik, die bislang vor allem mit Blick auf die Abhandlung Le monolinguisme de l’autre, dt. Die Einsprachigkeit des Anderen gewürdigt wurden. Bereits vor dem Hintergrund seines Grundlagenwerkes Grammatologie werden mehrsprachige Verfahren als Dekonstruktion der für die westliche Mo‐ derne prägenden monolingualen Sprach- und Textordnung lesbar. Derrida sieht gerade das Konzept der Muttersprache in der philosophischen Tradition der Schriftabwertung und der Hypostasierung des ‚lebendigen Wortes‘ verankert und somit als wesentlichen Teil des von ihm kritisierten Phonologozentrismus: Warum sollte die Muttersprache keine Geschichte haben oder, was auf dasselbe hinausläuft, ihre eigene Geschichte auf vollkommen natürliche, autistische Weise im eigenen Haus hervorbringen, ohne je von einem Draußen affiziert zu werden? (Derrida 1974: 73) Entgegen dieser Vorstellung der Natürlichkeit, Ahistorizität und Mündlichkeit von Sprache wird von Derrida bekanntlich deren Verfasstheit als écriture, als Schrift, postuliert. Ersetzt werden soll damit ein vorherrschendes Verständnis von Sprache, in dem diese als natürlich und von äußeren Einflüssen und Ver‐ mittlungsprozessen untangiert verstanden wird. Ordnet Derrida im obigen Zitat das kulturelle Konzept der Muttersprache dem zu dekonstruierenden Phonolo‐ gozentrismus zu, so sind es umgekehrt künstliche Sprachen und experimentelle poetische Verfahren, mit denen er sein Argument veranschaulichen kann, dass das sprachliche Medium kein vollkommen auf die Dinge hin transparentes ist und dass es als Schrift begriffen werden sollte (ebd.: 167). Daran anschlie‐ ßend lassen sich auch die die monolingualen abendländischen Textordnungen durchkreuzenden Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit als Kritik am Pho‐ 26 Esther Kilchmann <?page no="27"?> nologozentrismus verstehen. Mit Derrida wird darin eine Form der Bewegung in der Sprache erkennbar, durch die diese von ihrem vermeintlich festen und eindeutigen Signifikatsbezug gelöst wird. Das „Spiel aufeinander verweisender Signifikanten […], welches die Sprache konstituiert“ (ebd.: 16) wird gerade in der ästhetischen Eigendynamik mehrsprachiger Texte offensichtlich, in denen Signifikanten über nationalsprachlich normierte Grenzen hinweg auf poetischer Ebene miteinander korrespondieren. Literarische Mehrsprachigkeit generiert so eine erhöhte Einsicht in die Funktionsweise von Sprache überhaupt und kann deshalb selbst als Instrument eines dekonstruktiven Lektüreverfahrens gelten, das der monolingualen Norm Alterität und Heterogenität einschreibt. Der Frage nach der Einsprachigkeit und der eigenen Sprache bzw. der Sprache des Anderen im Kontext seiner Sprachtheorie wie seiner biografischen Erfahrung geht Derrida bekanntlich in seinem 1996 erschienen Essay Le mono‐ linguisme de l’autre ou la prothèse d‘origine nach. Ausgegangen wird darin von dem widersprüchlichen Befund: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige / die gehört nicht mir“ (Derrida 2003: 11). In der spezifischen bio‐ grafisch-historischen Konstellation tritt erneut Derridas sprachphilosophische Grundannahme zu Tage, die Expatriierung und Fortbewegung als wesentlich für Sprache (bzw. écriture) begreift. Aufgrund dieses Wesens der Sprache selbst kann niemand eine Sprache vollkommen beherrschen. Niemand kann sie als Eigentum besitzen oder auf ihr eine natürliche Identität begründen. Die universelle Ausgangssituation des Subjekts vis à vis der Sprache ist demzufolge die Erfahrung ursprünglicher Fremdheit. Die eigene Sprache ist immer schon die des Anderen, weil sich das Ich überhaupt erst im Eintritt in bereits bestehende, fremde Sprachen formieren kann. Sie ist aber auch die des Anderen, weil die Sprache immer im Austausch bleibt: Man spricht von jeher nur eine Sprache - und sie ist auf asymmetrische Weise, so daß sie immer dem anderen zukommt, einem vom anderen her wiederkehrt, vom anderen bewahrt wird. Sie ist vom anderen gekommen, beim anderen geblieben und zum anderen zurückgekehrt. (Ebd.: 69) Abschließend hält Derrida fest, dass es aus dieser Erkenntnis heraus monokul‐ turelle und nationalistische Aneignungen zu enttarnen und zu unterlaufen gelte. Die Nicht-Besitzbarkeit der Sprache solle in den Sprachen selbst lesbar gemacht werden, „die Schrift ins Innere der gegebenen Sprache“ (ebd.: 125) gerufen werden, was insbesondere in poetischen Gestaltungen erfolgen kann. Im Anschluss an die vorliegenden Ausführungen lässt sich ergänzen, dass sich die poetische Sprache dafür besonders eignet, weil in ihr die Möglichkeit (wo nicht im formalistischen Sinne Notwendigkeit) der Normabweichung gegeben Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit 27 <?page no="28"?> ist, weil sie, da sichtbar künstlich geformt, nicht den Anspruch der ‚natürlichen‘ Sprache vertreten kann, und gerade deshalb ein eigenes und vom Anderen her kommendes Idiom darstellt. Die literarische Mehrsprachigkeit verstärkt in gewisser Weise ebendiese Eigenschaft poetischer Sprache noch. Sie ist in besonderer Weise dafür prädestiniert, die Frage nach Eigentum bzw. Nichtbe‐ sitzbarkeit von Sprache, nach Identität von Sprache und nach der Spannung der Sprache zwischen Eigenem und Anderen anschaulich zu verhandeln und als eine grundlegende Erkenntnis an die vermeintlich ‚eine‘ und ‚reine‘ Sprache zurückzuspielen. Insgesamt wurde in vorliegendem Aufsatz ausgehend von strukturalistischer, formalistischer und poststrukturalistischer Theorie die These entwickelt, dass in mehrsprachigen Schreibweisen die signifikante Seite des Zeichens hervortritt und sich daran einerseits grundsätzliche sprachkritische Fragen der Generie‐ rung von Bedeutung und der Beziehung von Wort und Ding knüpfen lassen, andererseits an der signifikanten Materialität auch eine poetische, mehrspra‐ chige wie mehrdeutige Umgestaltung der lautbildlichen Seite des Zeichens ansetzten kann. Literarische Mehrsprachigkeit lässt sich so als poetisch selbst‐ reflexives Verfahren lesen, in dem nolens volens immer auch die Vorstellungen einer festen Besitzbarkeit von Sprache wie Festschreibung von Bedeutung qua eindeutiger Signifikats-Signifikanten-Bezüge unterlaufen wird. In der poe‐ tischen Gestaltung von Mehrsprachigkeit werden stattdessen Knotenpunkte der Mehrdeutigkeit wie der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit geschaffen. Literatur Aristoteles (1982). Poetik. Übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam. Betten, Anne/ Fix, Ulla/ Wanning, Berbeli (2017). Einführung. In: Betten, Anne/ Fix, Ulla/ Wanning, Berbeli (Hrsg.). Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin: De Gruyter, IX-XI. Blum-Barth, Natalia (2021). Poietik der Mehrsprachigkeit. Theorien und Techniken multilingualen Schreibens (= Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik 21). Heidelberg: Winter. Coulmas, Florian (2018). An Introduction to Multilingualism: Language in a Changing World. 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The hypothesis is that racially inflected language is not a historically developed norm of standard German, but rather a deviation from standard German and thus a specific form of inner multilingualism. This thesis will be developed in three steps. Therefore the article connects postcolonial didactics of literature and a didactics of literary multilingualism: After an overview of language-related approaches in German didactics, the article explores the linguistic-philosophical relationship between language, sub‐ jectivation and vulnerability in the literary context. Finally, it presents a teaching model for dealing with inner multilingualism in the context of literary follow-up communication. This model provides a possible answer to the question of how to deal with racially inflected language in the teaching of literature. Keywords: Mehrsprachigkeitsdidaktik, postkoloniale Literaturdidaktik, diversitäts‐ sensible Deutschdidaktik, sprachliches Trauma, rassistische Sprache, in‐ nere Mehrsprachigkeit, Poststrukturalismus. Didactics of literary multilin‐ gualism, postcolonial didactics of literature, diversity-sensitive German didactics, linguistic trauma, racist language, inner multilingualism, post-structuralism <?page no="32"?> Rassistisch flektierte Wörter wie das N-Wort, die in der deutschsprachigen Literatur in unterschiedlichen grammatischen Abwandlungen vielfach realisiert sind, begegnen Schüler: innen im Literaturunterricht häufig ungebrochen, wäh‐ rend ihr Gebrauch im öffentlichen Raum hitzig diskutiert wird. Angebracht werden im Wesentlichen zwei Positionen: zum einen die Verteidigung des Sprachgebrauchs mit dem Argument der Kunst- und Meinungsfreiheit (Art. 5 GG), zum anderen die Zurückweisung der Artikulation im öffentlichen Raum als diskriminierend (Art. 3 GG; AGG). Politisch ist die Streitfrage um den Gebrauch rassistisch flektierter Wörter ungeklärt und juristisch nicht eindeutig zu lösen, denn nicht nur stehen sich Artikel in Grundgesetz und Allgemeinem Gleichbe‐ handlungsgesetz in der Frage eines adäquaten Sprachgebrauchs entgegen, auch sind Fälle politisch verletzenden Sprechens im Kontext von Rassismus nicht justiziabel (vgl. Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2015: 18). Wie, so fragt der vorliegende Beitrag, kann der Literaturunterricht als ein Ort, an dem rassistisch flektierte Sprache wiederkehrend auftritt, sich also zu dieser politisch und juristisch vagen Kontroverse verhalten? Argumentativ ansetzen möchte ich an der Definition rassistisch flektierter Sprache, die gemeinhin als eine historisch gewachsene Norm des Standarddeut‐ schen gelesen wird. Dieser Lesart stelle ich eine Alternative entgegen und schlage vor, sprachlichen Rassismus als eine Abweichung vom Standarddeut‐ schen und damit als eine spezifische Form innerer Mehrsprachigkeit zu greifen. Ausgehend von dieser Begriffsdeutung stellt sich die Frage, inwiefern sich die gängigen Formen der Mehrsprachigkeit (innere/ äußere Mehrsprachigkeit, siehe Ossner 2006; additive/ integrative Mehrsprachigkeit, siehe Eder 2009; Mikota 2018), die im Rahmen der literarischen Mehrsprachigkeitsdidaktik produktiv gemacht werden, um das sprachliche Phänomen rassistisch flektierter Sprache erweitern lassen und eine mögliche Antwort auf die Frage geben, wie sich der Literaturunterricht zur sprachpolitischen Kontroverse unterrichtsmodellierend verhalten kann. Methodisch wähle ich hierfür einen sprachphilosophischen Zugang und lenke den Fokus auf die Trias Sprache, Subjektkonstitution und Verletzbarkeit. Nach einem kurzen Überblick über sprachbezogene Ansätze in der Deutschdi‐ daktik rekonfiguriere ich poststrukturalistische Überlegungen zur Subjektkons‐ titution, die das Verhältnis von Sprache und Verletzbarkeit beleuchten, auf unterrichtsmodellierende Überlegungen und stelle ein Modell zum Umgang mit innerer Mehrsprachigkeit im Kontext literarischer Anschlusskommunikation vor, das bestehende Ansätze literarischer Mehrsprachigkeitsdidaktik erweitern kann. 32 Magdalena Kißling <?page no="33"?> 1 Orte kulturtheoretischer Sprachreflexion innerhalb der Deutschdidaktik Einführungen in die Literaturdidaktik greifen die Inhaltsfelder Sprache und Mehrsprachigkeit als Thema nicht systematisch auf (siehe Bogdal/ Korte 2012; Kepser/ Abraham 2016; Leubner et al. 2016; Lütge 2019; Paefgen 2006). Kompe‐ tenzentwicklungen zu diesem Lernbereich, der Fragen der Language Awareness, des Sprachbewusstseins, der Sprachnormreflexion sowie der Mehrsprachigkeit umfasst, werden weitgehend innerhalb der Sprachdidaktik verhandelt (vgl. u. a. Neuland/ Peschel 2013: 124-127, 202; Ossner 2006: 53-59). Es verwundert daher auch nicht, dass die Perspektivierung von Mehrsprachigkeit als einem literarästhetischen Mittel, das historisch gewachsen ist und kein reines Migra‐ tionsphänomen repräsentiert, in der Literaturdidaktik keine nennenswerte Tradition aufweist (vgl. Wintersteiner 2006: 164 f.). Mit der fortlaufenden Ausdifferenzierung literaturdidaktischer Ansätze verschiebt sich die implizite Aufgabenverteilung zwischen Sprach- und Literaturdidaktik jedoch allmählich. Sprachreflexive Ansätze werden zunehmend auch für den Umgang mit literari‐ schen Texten und Medien aufgearbeitet. Grob lassen sich drei sprachbezogene Ansätze unterscheiden: Die subjektivierungskritischen Ansätze, die in der Tradition migrations‐ pädagogischer Theorien stehen (u. a. Mecheril et al. 2010; Mecheril 2016), zielen auf Subjektivierungskritik. Migrationsbedingte Benachteiligungen, die über Literatursprache produziert und tradiert werden können, gilt es über Relektüren sowie interkulturelle und mehrsprachige Texte zu durchbrechen und sprachlich ausgelöste Subjektprozesse, die im (schulischen) Alltagsdiskurs häufig auf Ein‐ deutigkeit und identitäre Fixierung ausgerichtet sind, zu multiperspektivieren (vgl. Dirim et al. 2013: 125). Literatur wird dabei maßgeblich als Instrument zur Reflexion gesellschaftsdominanter Diskurse begriffen. Ein anderer Literatur‐ begriff liegt den Ansätzen einer literarischen Mehrsprachigkeitsdidaktik zugrunde. Literatur lesen sie als Sprachkunst, die immer auch in kulturpolitische und gesellschaftskritische Diskurse eingebunden ist (vgl. Kofer 2023: 221 f.; Nagy 2018: 3). In der Folge wird das oft auf Migration reduzierte Phänomen der Mehrsprachigkeit als eine Form ästhetischer Ausdrucksweise untersucht. Mit dieser Schwerpunktsetzung grenzen sich die Ansätze von der Didaktik des Deut‐ schen als Zweitsprache ab (vgl. Kofer 2023: 221; Nagy 2018: 4) und stellen sich in die Tradition der interkulturellen Literatur- und der Fremdsprachendidaktik (vgl. Nagy 2018: 5). Im Zentrum einer postkolonialen Literaturdidaktik steht, Literatur als Kunstform lesen zu lernen, die sich im Spannungsfeld von Machtaffirmation und -subversion bewegt. Wissenschaftstheoretisch ver‐ Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit 33 <?page no="34"?> orten sich die Ansätze innerhalb der Postkolonialen Germanistik (u. a. Dür‐ beck/ Dunker 2014; Göttsche et al. 2017), weisen aber auch Prägungen aus der rassismuskritischen Forschung (u. a. Melter/ Mecheril 2009; Scharathow/ Leip‐ recht 2011) und der Kritischen Weißseinsforschung (Eggers et al. 2009; Wollrad 2005) auf. Im Fokus stehen Verfahren der diskursanalytischen Texterschließung und Modellierungen zum sprachreflexiven Unterrichtsgespräch, um Literatur‐ barrieren infolge rassistischer Figurendarstellung und Sprache abzubauen (vgl. Kißling 2020: 298-369; Kißling 2022; Rösch 2000, 2017). Zwischen diesen auf Sprache fokussierenden literaturdidaktischen Ansätzen deuten sich in der skizzenhaften Gegenüberstellung Verbindungslinien an: Gemeinsam sind ihnen die Anliegen, einen sprachsensiblen Lernraum im literaturvermittelnden Unterrichtsgespräch zu instituieren und literarische Dar‐ stellungsweisen als (spezifische) Darstellungsweisen historischer (Sprach-)Dis‐ kurse vermittelbar zu machen. Beobachten lässt sich zudem, und dieser Auf‐ fälligkeit möchte ich weiter nachgehen, dass alle Ansätze eine diskursive Unterscheidung zwischen Mehrsprachigkeit und (kolonial-)rassistischem Spre‐ chen vorzunehmen scheinen. Zwei Gründe sprechen meines Erachtens für eine Verbindung dieser sprach‐ lichen Diskurse auf didaktischer Ebene. Zum einen sind Fragen der Ein- und Mehrsprachigkeit historisch eng mit kolonialer Sprachpolitik verflochten. Mehrsprachigkeit, so zeigt Jacques Derrida, ist den Menschen durch die kolo‐ nialen Verhältnisse verloren gegangen. Der/ den eigene(n) Sprache(n) beraubt, sei der monolinguale Mensch in die absolute Übersetzung ohne Original geworfen (vgl. Derrida 1996: 117). Bezogen auf diese koloniale Geschichte erweist sich mehrsprachige Literatur als zentrale Kritik und Gegendiskurs zur imperialen Logik. Emily Apter (2013) schlussfolgert daraus, Vielsprachigkeit zur Regel zu erklären und mehrsprachige Texte nicht zu übersetzen, denn gerade in der Nichtübersetzung verweigern sie sich der Eingliederung in den einspra‐ chigen Diskurs der Mehrheitsbzw. Dominanzsprache. Literaturdidaktisch interessant ist diese postkoloniale Perspektive auf Mehrsprachigkeit, insofern sie den monolingualen Habitus an Schulen verkehrt und Mehrsprachigkeit als Ressource bei zeitgleicher Ausweisung der Einsprachigkeit als Defizit aus‐ weist. Rekonfiguriert für literaturdidaktische Fragestellungen erweist sich die postkoloniale Perspektive auf Mehrsprachigkeit daher als theoriebildend für Fragen der Textauswahl. So scheint sich im Verständnis Apters und Derridas insbesondere die integrative Mehrsprachigkeit, also die Kombination zweier oder mehrerer Sprachen, die in der Diegese oftmals unübersetzt bleiben (vgl. Mikota 2018: 67), gegenüber der additiven Mehrsprachigkeit, in der Geschichten 34 Magdalena Kißling <?page no="35"?> parallel zweisprachig erzählt werden (ebd.), für ein dominanzkritisches und sprachreflexives literarisches Lernen produktiv machen zu lassen. Zum anderen fügt sich in einer verbindenden Perspektive sprachbezogener Literaturdidaktiken rassistisch flektiertes Sprechen, mit dem sich primär die postkoloniale Literaturdidaktik befasst, als Baustein in eine literarische Mehr‐ sprachigkeitsdidaktik ein, insofern sich rassistisches Sprechen auch als eine spezifische Form der Mehrsprachigkeit lesen lässt: als Form der inneren Mehr‐ sprachigkeit und Varietät des Standarddeutschen, die der deutsche Kolonia‐ lismus für seine Zwecke genutzt hat. Innere Mehrsprachigkeit, verstanden als das Hervorbringen nationaler Sprachen von Dialekten, Soziolekten und Ethnolekten (vgl. Rösch 2017: 207), zeichnet sich u. a. durch strukturelle Entlehnungen, grammatische Abweichungen und lexikalische Neuschöpfungen zur Standardsprache aus (vgl. z. B. Kellermeier-Rehbein 2022: 74). Blickt man auf sprachliche Rassismen, die sich im Kontext des Kolonialismus ins Stan‐ darddeutsche integriert haben, fallen sprachliche Veränderungen auf zwei der genannten Ebenen auf: auf Ebene der Lexik und der Grammatik. Die Lexik des Standarddeutschen hat sich zum einen um Wörter zur Differenzziehung und Abwertung des kolonisierten Anderen erweitert und Neologismen wie das N-Wort aufgenommen (vgl. Arndt/ Hornscheidt 2004: 31). Zum anderen haben Wörter unter dem deutschen Kolonialismus semantische Neuaufladungen erfahren. So wurden Begriffe, die in europäischen Sprachkontexten bislang für das Tier- und Pflanzenreich gebräuchlich waren, auf den konstruierten kolonialen Anderen übertragen; ein Beispiel ist das Begriffspaar wild/ zivilisiert (vgl. Arndt 2015c: 121). Zudem wurden Synergien westlicher Sprachtradition zur Legitimation europäischer Vormachtstellung genutzt, wie im Fall der Sym‐ bolfarben weiß (rein) und schwarz (dunkel, böse) der christlichen Farbenlehre (vgl. Arndt 2015b: 653; Wollrad 2005: 19). Neben diesen lexikalischen Varietäten zeigen sich - insbesondere auch im literarischen Kontext - grammatische Auffälligkeiten. So manifestiert die einseitige Rassifizierung des kolonialen Anderen mit den adjektivischen Attributen braun, schwarz oder dunkel bei Nichtmarkierung der Situierung als weiß (vgl. Morrison 1992: 72) eine Differenz auf grammatischer Ebene, die der Objektivierung von Andersheit und der Normalisierung des Eigenen dient. Im Unterschied zu klassischen Varietäten sind rassistische Sprachpraxen in den Bereichen Lexik und Grammatik zwar als normalisierte Ausdrucksweisen in den standardisierten Sprachgebrauch übergegangen, werden aber in der Forschung als Ausdrucksvarianten des Deutschen problematisiert, weil sie mit einer diskriminierenden Konnotation einhergehen und potenziell verletzen können (siehe u. a. Arndt/ Ofuatey-Ala‐ zard 2015; Arndt/ Hornscheidt 2004). Entsprechend dieser Differenzziehung Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit 35 <?page no="36"?> zwischen Standarddeutsch und rassifizierter Varietät plädiere ich dafür, rassis‐ tisch flektierte Sprache im literaturunterrichtlichen Kontext als weitere Form der inneren Mehrsprachigkeit und nicht als normalisierten Bestandteil des Standarddeutschen zu lesen. Diesem letztgenannten Gedanken, rassistisch flektierte Sprache als eine spezifische Form der inneren Mehrsprachigkeit in die literarische Mehrspra‐ chigkeitsdidaktik zu integrieren, möchte ich vertiefend nachgehen und ein unterrichtliches Modell vorstellen, rassistische Wortkritik literaturunterricht‐ lich zu verhandeln. Das Modell basiert, wie nachfolgend deutlich wird, auf poststrukturalistischen Annahmen. 2 Warum Sprache verletzen kann: ein poststrukturalistischer Blick auf Sprache Um Sprache in ihrer Potenzialität zur Verletzbarkeit nachvollziehen zu können, zeichne ich - veranschaulicht an der Kurzgeschichte Der Spiegel von Jovan Nikolić - zentrale (post-)strukturalistische Argumentationslinien nach. In der Kurzgeschichte heißt es: Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Zigeuner. Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie in ihm, vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, etwas zu brennen beginnt. […] Seither bleibt er immer ein wenig länger vor dem Spiegel stehen, er wartet, dass dort, im Abbild seiner Gestalt, die Bedeutung dieses Wortes aufscheint und sich ihm entdeckt. Zugleich spürt er große Angst, er werde dort etwas Verhängnisvolles und Schmerzliches sehen, das die Seele für alle Zeit davontragen könnte, so dass er nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite des Spiegels er selbst und auf welcher jener dort steht, der ihm mit den eigenen Augen ansieht und den Fehler sucht. (Nikolić 2006: 13) Beschrieben wird ein Kind, für das infolge der Adressierung mit einem ras‐ sistischen Wort ein Konstituierungsprozess als defizitäres Subjekt beginnt. Nachvollziehbar wird dies mit Althusser (1977), der dem sprachlichen Konsti‐ tutionsprozess ein postmodernes Subjektverständnis zugrunde legt. Die erzählte Subjektkonstitution findet sprachlich durch eine ideologische Konfiguration statt, die das Kind zu einem immer-schon Subjekt fixiert (vgl. ebd.: 144). Gemeint ist damit, dass ein Kind, noch bevor es geboren ist, bereits vergeschlechtlicht, rassifiziert und klassifiziert ist. Das Subjekt begründet also über sprachliche Anrufung seine Existenz. Butler, die an Althusser anschließt, argumentiert, dass diese Anrufung von demselben nicht anerkannt werden muss, bildlich in 36 Magdalena Kißling <?page no="37"?> der Kurzgeschichte dargestellt mit dem nachgeworfenen Wort in den Rücken, das unverstanden bleibt. Sprachliche Subjektkonstitution kann ihr zufolge auch misslingen, insofern sie auf Schemata der „Intelligibilität“ (Butler 2010: 14) basiert, also auf Konzepten, die in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit denkbar sind. So sind beispielsweise Deutsche of Color nur intelligibel, wenn Deutschsein nicht implizit an die Norm Weißsein geknüpft ist. Der Junge aus der Kurzgeschichte erfüllt im Moment seiner Anrufung als Z. eine gesellschaftliche Norm nicht: die Norm, weiß zu sein. Sprachliche Anrufung misslingt in der Folge und das Subjekt wird verletzt und zwar verletzt im Sinn der sprachlichen Unterordnung. Auffällig ist an der Erzählung, dass das Kind die sprachliche Unterordnung wahrnimmt, ohne das Wort selbst zu kennen: „Er [der Junge] versteht das Wort nicht, spürt aber, wie in ihm […] etwas zu brennen beginnt“ (Nikolić 2006: 13). Das Z-Wort scheint eine verletzende Kraft auszuüben, metaphorisch ausgedrückt über die väterliche Hand, die ein generationelles Wissen über die verletzende Wirkung misslingender Anrufung weiterzugeben scheint. Diese Eigenschaft von Sprache zur Speicherung verletzender Semantik wird mit Derrida greifbar, der Sprache eine wiederholende Struktur zuspricht, insofern als sie sich aus einer Kette von Zitaten zusammensetzt (vgl. Derrida 2001: 39). Das Ritualisieren von Bedeutungen in einem Wort, das darin begründet liegt, dass Sprache auch über den Tod einzelner Rezipierender hinaus noch strukturell lesbar bleiben muss, um ihre Funktion zu gewährleisten (vgl. ebd.: 24), weist also ein strukturelles Merkmal des Zeichens aus (vgl. ebd.: 36). Das Gesagte überschreitet im Moment der Artikulation stets die Gegenwart, reicht in die Vergangenheit zurück und weist auf die Zukunft hinaus. Worte erfahren also ihre Bedeutung durch die in ihnen liegenden und in ihnen weitergetra‐ genen Geschichten, die in der Artikulation des Wortes wieder aufgerufen und gefestigt werden. Zugleich steckt in der zitathaften Wiederholung auch die Möglichkeit der Verschiebung, denn Wiederholungen gelingen Derrida zufolge nie ganz identisch. Sprachliche Wiederaufführungen verknüpfen sich vielmehr mit Andersheit („Iterabilität“, ebd.: 24), mit der Folge, dass Wörter mit der Zeit auch von ihrer Macht zu verletzen gelöst werden können (vgl. Butler 2006: 31); bekannte Beispiele semantischer Wiederaneignung sind die Ausdrücke „Krüppel“, „Kanake“ oder „Black“ im Kontext sozialer Bewegungen. Eine solche ermächtigende Wiederaneignung liegt im Fall der Kurzgeschichte nicht vor. Das Z-Wort scheint über das generationale Wissen sprachlicher Unterordnung seine verletzende Kraft nicht einzubüßen. Im Moment der Anrufung mit dem Z-Wort wird vielmehr die Summe abwertender Konnotationen präsent gerufen; Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit 37 <?page no="38"?> das Wort zitiert sich in der Reartikulation selbst („Selbstzitat“; ebd.: 129) und führt zu körperlicher Verletzung. Um diese Verknüpfung von sprachlicher Unterordnung mit physischem Schmerz nachzuvollziehen, ist folgende Passage aufschlussreich: „[S]o dass er [der Junge] nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite des Spiegels er selbst und auf welcher jener dort steht, der […] den Fehler sucht“ (Nikolić 2006: 13). Das Kind erlebt im Zuge der Anrufung mit den Z-Wort eine Desori‐ entierung: Es kann sich nicht mehr von seinem Spiegelbild unterscheiden, das ihn als defizitär bestimmt. Mit Kilomba gesprochen löst die sprachliche Adres‐ sierung einen Schock aus, der zu sprachlicher Desorientierung führt und die gesamte psychologische Organisation einschließlich Albträumen, Flashbacks und/ oder körperlichen Schmerzen beeinträchtigt (vgl. Kilomba 2010: 133). Die vergangenen Ereignisse, die generational weitergegeben werden, werden im Moment der sprachlichen Verwirrung neu erlebt, als wären sie Gegenwart. Die Adressierten sind im Moment der Anrufung einer unbekannten Zukunft ausgesetzt und kennen weder Zeit noch Ort der Verletzung selbst (vgl. Butler 2006: 13; Kilomba 2010: 133), d. h. sie begegnen der gesamten zitathaften Struktur des Wortes mit all seinen Semantiken entkontextualisiert und unsortiert. Diese Desorientierung innerhalb von Sprache bezeichnet Butler als Trauma, das sich als eine fortwährende Unterwerfung darstellt, insofern „die Verletzung mittels Zeichen, die die Szene gleichzeitig verdecken und reinszenieren, immer wieder durch[ge]spielt“ (Butler 2006: 64) wird. Butler macht hieran deutlich, dass Sprache nicht nur ein soziales Herrschaftsverhältnis widerspiegelt, sondern diese Herrschaft inszeniert und damit zum Vehikel der Wiederherstellung kolonialer Gesellschaftsstruktur wird (vgl. ebd.: 36). 3 Sprachliche Verletzung infolge innerer Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht Der poststrukturalistische Blick auf Sprache zeigt, dass Sprache durch ihre subjektkonstituierende Funktion potenziell verletzen kann. Sprache allgemein und insbesondere innere Mehrsprachigkeit im hier dargestellten Verständnis rassistischen Sprechens wird damit zur literaturunterrichtlichen Herausforde‐ rung. Blickt man auf die bestehende Debatte zum Umgang mit sprachlicher Verlet‐ zung, kristallisieren sich zwei didaktische Verfahrensweisen heraus, die sich in unterrichtsbegleitenden Lernwerken wiederfinden. Beide Ansätze gehen auf die Position zurück, dass rassistisch flektierte Sprache bei der Lektüre und im Unterrichtsgespräch zwar einen „Beigeschmack des Unerlaubten“ (Kilian 2003: 38 Magdalena Kißling <?page no="39"?> 53) hat, ein Austausch der Wörter aber keine Option sei, da ansonsten weder „die Historie noch der Bildungswert und die Autonomie der Kunst respektiert werden“ (Laudenberg 2015: 165). Das eine Verfahren setzt auf kommentierende Distanzmarker. Konkret bedeutet dies - hier am Beispiel von Lernwerken zu Goethes Drama Iphigenie auf Tauris aufgezeigt -, dass das rassistisch flektierte Wort „Barbar“ in Fußbzw. Endnoten als ein diffamierender Ausdruck erläutert wird (z. B. „unzivilisierter Wilder“ oder „geistige Schwerfälligkeit und kulturelle Defizite“; vgl. Jessing 2010: 17; Winkler 2010: 83). Das zweite Verfahren betont den Bedeutungswandel, der den rassistisch flektierten Begriffen unterliegt. Angeführt wird - hier erneut am Beispiel der Lernhilfen zu Iphigenie auf Tauris ausgeführt -, dass das B-Wort am Ende des 18. Jahrhunderts noch eine neutrale Bezeichnung darstellte und zu unterscheiden sei von der gegenwärtigen Kon‐ notation als „brutale, unzivilisierte, zerstörerische und menschenverachtende Wüstlinge“ (Bernhardt 2014: 79). Das B-Wort sei also bei Goethe nicht „abwer‐ tend gemeint“, sondern sei schlicht ein Ausdruck „der natürlichen Schönheit und einer anderen Lebensführung“ (ebd.: 62). In zweifacher Hinsicht bezeichne ich die bestehenden Verfahren als unge‐ nügend. Zum einen lassen sie junge Rezipierende mit der potenziellen Verlet‐ zungserfahrung, die der Lektüreprozess auslösen kann, didaktisch unbegleitet. Zum anderen sind die Erläuterungen etymologisch unscharf. Sprachliche Nor‐ malität wird mit gesellschaftlicher Normalisierung von Sprache gleichgesetzt, indem rassistisches Sprechen als Ausdruck des Standarddeutschen rezipiert und nicht als Varietät des Deutschen problematisiert wird. Rassistisch flektierte Begriffe waren zwar bis ins frühe 21. Jahrhundert geläufig, neutral und im Sinn der Verletzbarkeit unverdächtig sind sie aber zu keiner Zeit gewesen (siehe Arndt 2015a, 2015b; Randjelovic 2015). Im Gegenteil, Literatur setzt rassistisch flektierte Wörter als Trope ein, wie sich an zwei kanonischen Texten zeigt: In Goethes Iphigenie auf Tauris verlautet Thoas, dass „[d]er rohe Skythe, der Barbar, die Stimme [d]er Wahrheit und der Menschlichkeit [hört], die Atreus, [d]er Grieche, nicht vernahm? “ (Goethe 1988/ 1787: 1937 ff.) Die Schlagkraft seiner Äußerung funktioniert nur auf der Basis eines zeitgenössischen Wissens um die Höherwertigkeit der griechischen Kultur. Sie setzt ein rassistisches Wissen über den ungebildeten, unwissenden und unzivilisierten Taurer voraus. Vergleichbares zeigt sich in Goethes Götz von Berlichingen, in dem es heißt, dass sich der weiß situierte Protagonist Götz von seinen Verbündeten lossagt: „Sie sollen einen Zigeuner zum Hauptmann machen, nicht mich“ (Goethe 1988/ 1773: 375). Das Z-Wort dient dem Protagonisten in der metaphorischen Verwendung für Unzuverlässigkeit und unehrenhaftes Handeln als Abwertung Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit 39 <?page no="40"?> seiner Verbündeten bei zeitgleicher Aufwertung seiner selbst. Lesbar wird diese Trope erst über das Aufrufen antiziganistischer Stereotype. Ich möchte daher vorschlagen, die Reflexion rassistischer Sprache in Form von Wortkritik in die literarische Texterschließung einzuschließen und Funk‐ tions- und Wirkungsweisen dieser spezifischen Form innerer Mehrsprachigkeit zu untersuchen. Meine unterrichtsmodellierenden Überlegungen basieren dabei auf Butlers Ausführungen zum sprachlich ausgelösten Trauma. In Anlehnung an Freud, der über das Trauma schreibt, dass „[di]ese ganze Kette von patho‐ genen Erinnerungen […] in chronologischer Reihenfolge reproduziert werden [müsse]“ (Freud 1999: 9), konstatiert Butler, dass es keine Möglichkeit gibt, Sprache von ihren traumatischen Ausläufern zu reinigen und keinen anderen Weg, das Trauma durchzuarbeiten, als die Anstrengung zu unternehmen, den Verlauf der Wiederholung zu steuern. (Butler 2006: -66) So setzen auch meine Überlegungen an der Position an, Wörter nicht zu streichen. Im Kern geht es aber nicht um Fragen der Kunstautonomie, sondern darum auszuloten, wie Lernende einen kritisch-reflexiven Umgang mit litera‐ rischen Texten finden können, um sich von Sprache in ihrer diffamierenden Konnotation zu distanzieren und sprachliche Traumata im Kontext literarischen Lesens zu vermeiden. Folgt man Butler, begründet sich sprachliche Verletzung durch den Verlust des historischen Kontextes von Sprache und verlangt eine Neuorientierung innerhalb der Wortgeschichte. Das vorzuschlagende Unter‐ richtsmodell zielt folglich darauf, die Geschichte des Gebrauchs von Sprache in bestimmten Kontexten und zu bestimmten Zwecken nachzuzeichnen sowie die Mechanismen zu untersuchen, wie die Erzählungen um Wörter eingesetzt und stillgestellt wurden (vgl. ebd.: 63). Das Modell der Dechiffrierung (siehe Abb.1) basiert auf dieser Grundannahme zur Traumabearbeitung und weist einen möglichen Weg zur Entkopplung vom verletzenden Gehalt im Kontext literarischer Texterschließung aus. Es umfasst vier Schritte: 40 Magdalena Kißling <?page no="41"?> Abb.1: Modell der Dechiffrierung (Kißling 2020: 44) In einem ersten Schritt gilt es, den literarischen Text wortkritisch auf Formen innerer Mehrsprachigkeit zu prüfen. Zu beachten ist, dass die im Text vor‐ kommenden rassistisch flektierten Wörter unterrichtlich aufgegriffen und besprochen werden. Denn jede Nichtthematisierung lässt die Rezipierenden mit der sprachlichen Verletzung unbegleitet und stützt den Eindruck, dass die Ausdrücke selbstverständlich zur Sprachgebrauchsnorm gehören. In einem zweiten Schritt sind die kolonialen Sprechvarietäten unter Einbezug von altersgemäßem Additivmaterial einer genauen Wortanalyse zu unterziehen. Als Grundlage eignen sich hier kritische Lexika (z. B. Arndt/ Ofuatey-Alazard 2015). Ziel der Wortkritik ist es, für die Unterscheidung zwischen Fremd- und Eigenbezeichnung zu sensibilisieren und semantische Verschiebungen und Überlagerungen zu identifizieren, die sich im Zuge westlicher ‚Rassenlehre‘ herausgebildet und zu einer Variante innerer Mehrsprachigkeit geführt haben, um die gesamte Zitationskette, die im Wort gespeichert ist und dem Text als Trope dient, zu dechiffrieren. Auf dieser sprachreflexiven Basis sind drittens Funktions- und Wirkungsweisen der rassistisch flektierten Wörter auf Text‐ ebene zu reflektieren und die Wortkritik für vertiefende Figurenzeichnungen produktiv zu machen. Für die oberen Klassenstufen kann daran ein letzter Schritt anschließen: den (topischen) Einsatz rassistischer Wörter in ihrer Funk‐ tion als sprachliche Mittel kritisch zu reflektieren. Das Potenzial des Modells liegt darin, rassistisch flektierte Wörter als eine Form innerer Mehrsprachig‐ keit mit einer vertiefenden Textarbeit zu koppeln und die enge Verflechtung poetischer Sprache mit historischen Gesellschaftsdiskursen zu reflektieren. Die Tatsache, dass Sprache potenziell verletzen kann, erfordert zugleich einen Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit 41 <?page no="42"?> bedachten Worteinsatz. Als Faustregel gilt, das potenziell verletzende Wort im Unterrichtsgespräch nur dann zu reartikulieren, wenn es auch zum Gegenstand der Sprachreflexion gemacht wird. Grafisch ist dies in Form des horizontalen Balkens dargestellt. In anderen Fällen empfiehlt sich der Ersatz der rassistisch flektierten Wörter durch Eigenbezeichnungen (Schwarze Deutsche, Person/ Figur of Color) oder Sigle (N-Wort) gemäß des Ziels des Deutschunterrichts, ein Bewusstsein für Formen der Mehrsprachigkeit auszubilden und Lernende darin zu unterstützen, Varietäten des Standarddeutschen, die sich in heterogenen Lerngruppen realisieren, kontextspezifisch adäquat einsetzen zu können. 4 Fazit Mit dem Beitrag habe ich zu zeigen versucht, wie historisch geprägt Sprache ist und wie folgenreich sprachliche Desorientierung im literaturunterrichtlichen Kontext sein kann. Der gewählte Ansatz, rassistisches Sprechen nicht als Teil, sondern als Varietät des Standarddeutschen zu lesen, zielt darauf, Verbindungs‐ linien zwischen sprachbezogenen literaturdidaktischen Ansätzen sichtbarer zu machen und den mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansatz zu stärken, Sprachen im Plural - und damit eben auch innerer Mehrsprachigkeit in Ausgestalt rassistischer Sprache - mit vorgestelltem Modell der Dechiffrierung in den Literaturunterricht einzubinden. Das Modell kann eine mögliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage geben, wie sich die Literaturdidaktik zu der politisch kontrovers und juristisch vage geführten Debatte positionieren kann: Rassistische Sprachvarietäten im Kontext Literatur sind weder zu bagatellisieren noch (oberflächlich) durch Streichungen oder Umformulierungen zu umgehen. Vielmehr sind rassistisch flektierte Wörter systematisch zu dechiffrieren und vor dem Hintergrund ihrer Semantiken in ihrer Funktion und Wirkung als sprachliche Mittel zu reflektieren. Nicht nur können darüber sprachliche Trau‐ mata irritiert und ein distanzierter Zugang zu Sprache gewonnen werden, auch gelingt darüber, machtkritische Literaturzugänge zu öffnen und Literaturbar‐ rieren zu überwinden, die aufgrund sprachlicher Verletzung entstehen können. Literatur AGG: Bundesministerium der Justiz. Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz. https: / / www.gesetze-im-internet.de/ agg/ (letzter Zugriff: 17.10.2023). Althusser, Louis (1977). Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxis‐ tischen Theorie. Hamburg: VSA. 42 Magdalena Kißling <?page no="43"?> Apter, Emiliy (2013). Against World Literature. On the Politics of Untranslatability. London/ New York: Verso. Arndt, Susan (2015a). ‚Barbar_in‘/ ‚barbarisch‘. In: Arndt, Susan/ Ofuatey-Alazard, Nadja (Hrsg.). 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By giving examples of various forms of multilingualism within the dramatic text and literary field, e.g., eloquentia corporis, types of multilingualism (overt/ latent), specific function of some „foreign“ languages such as Italian, Yiddish, and English, the present article provides academic research on the topic of drama and multilingualism in the 18 th century with some starting points for future research. From the diversity-oriented perspective of the article it is possible, furthermore, to revise some assumptions on multilingualism in the 18 th century and to analyse canonical and non-canonical works and authors (e.g., Lessing, L.A.V. Gottsched, Ch. von Stein, and A. Halle-Wolfs‐ sohn). Keywords: Historische Diversitätsforschung, Drama, 18. Jahrhundert, Mehrsprachig‐ keit, jüdische Aufklärung, eloquentia corporis, commedia dell’arte Vergleicht man die Anzahl an Publikationen, die sich mit literarischer Mehrspra‐ chigkeit im Kontext der Moderne befassen, mit denen, die sich der vormodernen Zeit widmen, so könnte man den falschen Eindruck gewinnen, dass etwa dramatische Texte aus dem 18. Jahrhundert rein einsprachig sind. Hingegen gilt es in diesem Beitrag auszuloten, welche Formen Mehrsprachigkeit in der Dramatik der Aufklärungszeit annimmt und welche Funktion sie ausübt (siehe z. B. Kilchmann 2012; Conter 2017). Die methodische Kombination von Ansätzen <?page no="50"?> und Postulaten aus der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung und aus der historischen Diversitätsforschung soll die exemplarische und kursorische Analyse von vier kanonischen und nicht-kanonischen Dramen begleiten: Luise Adelgunde Victorie Gottscheds Das Testament (1745), Charlotte von Steins Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe (1798/ 99), Gotthold Ephraim Lessings Miß Sara Sampson (1755) und Aaron Halle-Wolfssohns Leicht‐ sinn und Frömmelei (1796). Literarische Mehrsprachigkeit - so die These des vorliegenden Beitrags - ist kein Phänomen, das ausschließlich in der modernen Zeit auftritt und nur im Kontext moderner Literatur solche vielfältigen und ausdifferenzierten Formen annimmt. Mit Blick auf die Vormoderne ermöglicht die Untersuchung von Mehrsprachigkeit neue, diversitätsorientierte Lektüren literarischer Werke. 1 Literarische Mehrsprachigkeit und Diversitätsforschung: Zum Stand der Forschung Vor der Analyse der ausgewählten Werke soll ein kurzer Überblick über den Stand der Forschung den methodischen Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags skizzieren. In der Einleitung wurde bereits erwähnt, dass zur Mehr‐ sprachigkeit von Dramen des 18. Jahrhunderts nur wenige Publikationen vorliegen. Diese Forschungslücke ist allerdings nicht nur in Bezug auf die genannte Epoche und die erwähnte Gattung zu beobachten, sondern im Rahmen literarischer Mehrsprachigkeitsforschung trotz der Bemühungen der letzten Jahre immer noch präsent: Forscher: innen, die in dem Bereich der literarischen Mehrsprachigkeit tätig sind, sprechen immer noch von einer „Terra incognita“ (z. B. Kilchmann 2012: 13, Hv. i. O.) der Mehrsprachigkeitsforschung in der Literaturwissenschaft oder weigern sich, diesbezüglich von einem Turn zu reden (z. B. Dembeck/ Parr 2017: 9). Betrachtet man zudem die Dramatik des 18. Jahrhunderts, so sind nur wenige Beiträge erschienen: Hierbei handelt es sich eher um Einzelinterpretationen als um umfassende Untersuchungen (siehe Conter 2014, 2017). Claude D. Conter wunderte sich 2017 (284 f. u. 289 f.), dass so wenige Beiträge zur mehrsprachigen Dramatik vorliegen, da doch Sprachvielfalt, Sprachvarietäten und Sprachstile für das Genre der Komödie geradezu charakteristisch seien. Die Untersuchung von Mehrsprachigkeit und Dramatik, so die Ansicht Conters (ebd.: 289), befinde sich noch immer an ihren Anfängen. Sieht man von seiner Analyse von Lessings Minna von Barnhelm ab (siehe Conter 2014: 256-262 u. 2017: 285 ff.), wird Mehrsprachigkeit im 18. Jahrhundert häufig auf die Form der Gelehrtensatire reduziert - die moderne Literatur sowie die Literatur der Gegenwart stellen immer noch bevorzugte 50 Anna Maria Olivari <?page no="51"?> 2 Das „post-“ ist hier hauptsächlich in einem temporalen Sinne zu verstehen, da es auf die verschiedenen Zeiteinteilungen der deutschen Sprachgeschichte Bezug nimmt. Felder literarischer Mehrsprachigkeitsforschung dar. Manfred Schmeling und Monika Schmitz-Emans (2002a: 18) schreiben diesbezüglich: „Was in der frühen Neuzeit ein gelehrter Scherz mit vorrangig satirisch-parodistischen Intentionen war, ist in der modernen Dichtung zu einem wichtigen Kompositionsprinzip geworden.“ Solche dichotomen Sichtweisen auf die vormoderne Literatur und Kultur werden auch im Rahmen der historischen Diversitätsforschung in Frage ge‐ stellt. Daher scheint die methodische Kombination von literarischer Mehrspra‐ chigkeitsforschung und historischer Diversitätsforschung, die auch in diesem Beitrag vorgeschlagen wird, sehr gewinnbringend. Die Diversitätsforschung konzentriert sich hauptsächlich auf gegenwärtige Kulturen und Literaturen. Jedoch kritisiert die historische Diversitätsforschung (siehe z. B. Florin et al.: 10) die Auffassung, die moderne Zeit sei divers oder sogar superdivers, wobei sich die vormoderne Zeit nur durch statische Bilder und den Rückgriff auf starre Kategorien und Differenzsetzungen beschreiben lasse. Auch anhand der zahlreichen Forschungsbeiträge, die sich mit modernen Texten befassen, könnte man schlussfolgern, Mehrsprachigkeit sei ein Merkmal nur von mo‐ dernen Gesellschaften und Kulturen, wohingegen die vormoderne Zeit nur einsprachig gewesen sei (siehe z. B. Schmeling/ Schmitz-Emans 2002b; Yildiz 2012; Blum-Barth 2021). 1985 widmet sich jedoch bereits ein Sammelband von Dieter Kimpel der Mehrsprachigkeit der deutschen Aufklärung und vertritt die Auffassung, Deutschland sei das ganze Jahrhundert lang ein mehrsprachiger Raum gewesen (vgl. Fabian 1985: 178). Warum allerdings im Anschluss an diesen Sammelband der Forschungsgegenstand, speziell im Medium des literarischen Werkes, weiterhin kaum mehr Berücksichtigung fand, bleibt eine offene Frage. 2012 plädiert Yasemin Yıldız (21) für eine postmonolinguale Sicht auf die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, d. h. für eine Beschreibung von Mehr‐ sprachigkeit, die auch das monolinguale Paradigma in den Blick nimmt. Zurecht betont sie, dass eine Untersuchung von Mehrsprachigkeit ohne Berücksichti‐ gung von Einsprachigkeit die Thematik lediglich oberflächlich behandle. Dabei beruft sich Yıldız (ebd.: 8 ff.) allerdings auf ein lineares Zeitnarrativ, das sie in drei Abschnitte teilt: Um 1800 wird die monolinguale Norm eingeführt, im 19. Jahrhundert bzw. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es sowohl eine einsprachige Zeit als auch Norm und im 20. Jahrhundert setzt sich erneut die Mehrsprachigkeit durch. Jedoch scheint bereits Johann Christoph Gottsched im 18. Jahrhundert aus einer postmonolingualen 2 Sicht heraus argumentiert „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert 51 <?page no="52"?> Allerdings verknüpft sich damit unweigerlich auch ein sprachideologisches Verständnis des Präfixes, das sich demnach zusätzlich als kritische Überwindung begreifen lässt. zu haben: Horst Dieter Schlosser (1985: 56) zufolge habe er „über den ,Ver‐ lust‘ einer ursprünglich wohl ganz Deutschland bestimmenden sprachlichen Einheitsnorm“ geklagt. Hochdeutsch sei bei ihm „so wie bei vielen anderen keine erst zu erfindende oder noch zu entwickelnde Sprache, sondern die ursprüngliche ,Hauptsprache‘ der Deutschen“ (ebd.: 57) gewesen. Das lineare Zeitnarrativ von Yıldız ist demnach wenig gewinnbringend, da es in jene Auffassungen einzuordnen ist, die die Moderne und Vormoderne bezüglich der Mehrsprachigkeit als Gegenpole betrachten. Der obigen Darstellung einiger Positionen aus der literarischen Mehrspra‐ chigkeitsforschung und aus der historischen Diversitätsforschung zufolge liegt es auf der Hand, dass eine Kritik an der starren Dichotomie von superdiverser, mehrsprachiger Moderne und eindimensionaler, einsprachiger Vormoderne bereits die Möglichkeit einer Kombination beider Forschungsparadigmen bietet. Ein weiterer Berührungspunkt zwischen den beiden Ansätzen stellt die Analyse dar, wie Identitäten und damit verbundene Differenzierungen in literarischen Texten sprachlich hervorgebracht werden. Es ist wohl bekannt, dass sich Iden‐ tität durch Abgrenzung erzeugen lässt, was zu vielen Differenzierungen führt: In Bezug auf Sprache tragen z. B. das Niveau der Sprachbeherrschung oder die Beherrschung von Fremdsprachen zur Identitätskonstruktion bei (vgl. Dembeck 2017: 27). Die historische Diversitätsforschung geht von der Annahme aus, dass diese Differenzierungen zu historisieren und als fluid, hybrid und relational aufeinander bezogen zu denken sind (siehe Florin et al. 2018: 22 ff.). Das schließt mit ein, Identitätskategorien zwar jeweils in ihrem historischen Kontext zu betrachten (siehe ebd.: 26), jedoch auch die spezifischen Einzelkonstellationen (z. B. Genre, Autor: in, weitere Identitätskategorien, mit denen sich die zu analysierende Differenzierung verschränkt) in den Mittelpunkt zu stellen (vgl. ebd.: 10; Nieberle 2018). Mit Blick auf die Literatur des 18. Jahrhunderts lassen sich beispielsweise Formen und Phänomene von Mehrsprachigkeit indizieren, die mehreren historischen Epochen gemein sind, aber auch einige, die nur oder hauptsächlich in dieser Zeit zu finden sind (vgl. Conter 2017: 281). Nachdem hier der Forschungsstand sowohl zur Mehrsprachigkeit der drama‐ tischen Literatur aus der Aufklärungszeit als auch zur historischen Diversitäts‐ forschung skizziert wurde, soll im nächsten Abschnitt die Kombination beider Forschungsparadigmen anhand des ausgewählten Korpus auf den Prüfstand gestellt werden. 52 Anna Maria Olivari <?page no="53"?> 2 Das Korpus der Analyse Als Erstes scheint wichtig hervorzuheben, dass dieser Beitrag keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann: Zwar nimmt er sich der Forschungslücke der Mehrsprachigkeit von Dramentexten aus dem 18. Jahrhundert an, jedoch muss er mit diesem Zweck einige wenige Formen und Phänomene sowie einige wenige Autor: innen und Werke exemplarisch auswählen. Dabei werden Texte angesprochen, die Eingang in viele Literaturgeschichten gefunden haben, und andere, die eher als nicht-kanonisch gelten. Ein Fokus lediglich auf kanonische Texte erweist sich aus mehreren Gründen als unzureichend und ungeeignet: z. B. aufgrund der starken Verschränkung von Hochtheater und populärem Theater in der Zeit, die dazu geführt hat, dass kanonische und nicht-kanonische Texte in regem Austausch standen. Darüber hinaus ist der reine Schwerpunkt auf kanonische Texte der angewandten diversitätsorientierten Perspektive ebenfalls nicht passend, da diese sich dem Kanon-Begriff gegenüber kritisch positioniert. In Bezug auf die ausgewählte Epoche wären, würde man sich ausschließlich auf kanonische Texte konzentrieren, beispielsweise die Werke von Frauen außer Acht gelassen (vgl. Nieberle 2018: 3). Da die Verbindung von Kanon und Macht genauso stark ist wie die Verbindung von Sprache und Macht, sollte eine diversitätsorientierte Perspektive auf mehrsprachige Texte die Kategorie des kanonischen Textes stets hinterfragen (siehe Manzeschke 2005). Im vorliegenden Analyse-Abschnitt wird auf folgende Phänomene und Texte eingegangen: erstens auf die Gelehrtensatire in Luise Gottscheds Das Testa‐ ment (1745), zweitens auf die Rolle der mehrsprachigen Commedia dell’arte in Charlotte von Steins Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe (1798/ 99), drittens auf latente Mehrsprachigkeit und die eloquentia corporis in Lessings Miß Sara Sampson (1755) und schließlich anhand von Aaron Halle-Wolfssohns Leichtsinn und Frömmelei (1796) auf Sprach- und Sozialkritik in der jüdischen Aufklärung. Somit werden exemplarisch Werke aus dem ganzen Jahrhundert sowie verschiedener Genres und Autor: innen angesprochen. - 2.1 Die Gelehrtensatire in Luise Gottscheds Das Testament Wie eingangs erwähnt, tritt in der Frühen Neuzeit Mehrsprachigkeit häufig in Form der Gelehrtensatire auf, was Schmeling und Schmitz-Emans zum Phänomen par excellence mehrsprachiger, vormoderner Literatur erheben. Diesem Gedanken zufolge soll in diesem Beitrag zunächst einmal mit der Gelehrtensatire begonnen werden, um dann jedoch in den darauffolgenden Abschnitten die Vielfalt weiterer Formen von Mehrsprachigkeit in literarischen „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert 53 <?page no="54"?> Texten der Vormoderne aufzuzeigen. Untersuchungsobjekt bildet hierfür Luise Gottscheds Lustspiel Das Testament (1745). Wie der Titel des Werkes bereits zum Ausdruck bringt, handelt das Stück von einem Testament, das „eine alte reiche Wittwe“ (Gottsched 1972: 83) in Präsenz eines Notars und der ganzen Familie niederschreiben möchte. Mehrere Familienmitglieder haben großes Interesse daran, so viel wie möglich von der „Frau Oberstinn von Tiefenborn“ (ebd.) zu erben, nicht zuletzt aufgrund von Heiratsplänen. Das Testament wird aber jene Figuren wie etwa Karoline belohnen, die keinen Anspruch auf das Erbe erhoben haben. Die Gelehrtensatire in Gottscheds Das Testament kreist um eine Figur, die wie der Capitano aus der Tradition der Commedia dell’arte stammt, nämlich um den dottore. Die Art von Mehrsprachigkeit, die mit dem dottore verbunden ist, bezeichnet Conter (2017: 281) als „genrespezifische[…] Funktion manifester Mehrsprachigkeit“. In der Commedia muss der dottore nicht zwangsläufig Arzt sein. Ebenso kann er Jurist sein, und stammt ursprünglich aus Bologna oder Padua. Bekannt ist der dottore - so Conter (ebd.) - „für seine Besserwisserei und sein gelehrtes Geschwätz“. Conter (ebd.) schreibt dazu weiter: „In einer Art ,Küchenlatein‘, einer Vermengung von Fach- und Fremdsprachen, befleißigt sich diese lächerliche Figur der übertriebenen Verwendung von Latinismen, um zu imponieren und seiner Person Bedeutung gegenüber anderen zu verleihen“. Noch in der Sächsischen Typenkomödie - und Gottscheds Das Testament ist eben diesem Genre zuzuordnen - taucht diese komische Figur auf. In Das Testament ist der falsche Gelehrte Arzt und trägt den Namen „Doctor Schlagbalsam“ (Gottsched 1972: 153) - in der Tat ist er aber der Verlobte der Oberstinn, der die Versuche der Familienmitglieder entlarven möchte, ihre Ärzte zu bestechen. Einige Familienmitglieder wollen sie dazu überreden, dass es aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands notwendig sei, so schnell wie möglich ein Testament aufzusetzen. Explizit erwähnt der Text die literarische Tradition, an der sich die Gestaltung dieser Figur orientiert, indem der Name Molière zu Wort kommt (siehe ebd.): Luise Gottsched rezipiert die Commedia dell’arte durch ihre französische Überlieferungslinie. Schlagbalsam scheint die lateinischen Begriffe des anderen Arztes, „D. Hippokras“ (ebd.: 153), z. B. „Malum ischiaticum“ (ebd: 156, Hv. i. O.) oder „Rheumatismus“ (ebd.: 154, Hv. i. O.), nicht verstehen zu können und versucht, sie ins Deutsche zu übersetzen. Dr. Hippokras selbst will das nicht tun, da er nach seinen Worten „ein Medicus, und kein Dollmetscher“ (ebd.: 155) ist. Ins Deutsche übersetzt scheinen die Krankheiten der Frau Oberstinn doch nicht so schlimm, sodass Schlagbalsam zum Schluss kommt: „Ich sehe noch nichts, woran sie krank gewesen ist, als 54 Anna Maria Olivari <?page no="55"?> an der griechischen Sprache“ (ebd.: 157). Es wird somit deutlich, dass er doch zumindest Sprachen einordnen kann. Es gilt nun kurz, diese Form der Gelehrtensatire zu diskutieren. Einerseits dient die Gelehrtensatire der sozialen Kritik an einer beruflichen Kategorie, die sich durch die Verwendung lateinischer Begriffe von Menschen mit einem an‐ deren Bildungsstatus abgrenzen möchte und als Konsequenz ihre Erkenntnisse nur unzureichend vermitteln kann. Patient: innen halten ihre Krankheiten für selten und unheilbar, weil sie die Fachterminologie nicht verstehen, und werden dadurch - daher der Bezug zu Molière - zu eingebildeten Kranken. Neben der sozialkritischen Funktion intensiviert der Verweis auf die mehrsprachige Com‐ media dell’arte, in der nicht nur mehrsprachige Figuren auftauchen, sondern auch der Körper als echte Sprache bewusst eingesetzt wird (siehe Tschörner 2003), die Mehrsprachigkeit des Werkes. Somit besteht Mehrsprachigkeit so‐ wohl manifest in den Sprachmischungen als auch latent eben durch den Einsatz von Typen wie den dottore. Darüber hinaus erzeugt diese Form eine gespaltene Rezeption des Publikums. In Bezug auf die ursprüngliche, dreisprachige Fassung von Wedekinds Lulu hebt Dirk Weissmann (2012: 81) zu Recht hervor, dass man nicht davon ausgehen kann, dass bei einer Aufführung des Stückes in einem überwiegend einsprachigen Land das ganze Publikum jeden andersspra‐ chigen Einschub versteht. Überträgt man diese Erkenntnis auf Gottscheds Das Testament, so kann festgehalten werden, dass sich sowohl beim Lesen als auch beim Zuschauen des Werkes mindestens zwei Möglichkeiten der Rezeption dieser Sprachmischungen ergeben. Auf einer ersten Ebene könnte es sein, dass ein Teil des Publikums womöglich die exakte Bedeutung der lateinischen Fachbegriffe nicht begreift, jedoch wohl die Komik der Szene, in der sich zwei Ärzte austauschen und sich wegen der abstrusen Fachterminologie nicht einig sind, nachvollziehen kann. Auf einer zweiten Ebene, d. h. bei der Rezeption durch ein Gelehrtenpublikum, das neben der lateinischen auch der Fachsprache mächtig ist, kann die Szene im Ganzen begriffen werden. Jedenfalls erzielt die Szene in beiden Fällen eine komische Wirkung, die ohne die mehrsprachigen Einschübe nicht möglich wäre. Im nächsten Abschnitt soll noch stärker auf die Rezeption der mehrsprachigen Commedia dell’arte in der deutschsprachigen Dramatik eingegangen werden, um - von der Gelehrtensatire ausgehend - die Vielfalt anderssprachiger Phänomene im 18.-Jahrhundert aufzuzeigen. „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert 55 <?page no="56"?> 3 An dieser Stelle sei nebenbei angemerkt, dass Gottscheds Forderung nach einer Vertrei‐ bung der Commedia dell’arte mit einer Vertreibung von Mehrsprachigkeit einhergeht und Haekel (2003: 103) zufolge als „ein Mythos der Theatergeschichtsschreibung“ zu betrachten ist. 2.2 Commedia dell’arte in Charlotte von Steins Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe Obwohl die Hochphase der Commedia dell’arte in der Regel bis um 1750 situiert wird (vgl. Hinck 1965: 6-13), spielt diese theatralische Tradition in Charlotte von Steins Lustspiel Neues Freiheits-System oder die Verschwörung gegen die Liebe, das zwischen 1798 und 1799 entstanden ist und dann posthum veröffentlicht wurde, immer noch eine Rolle. Das Zitat, das für den Titel des vorliegenden Beitrags verwendet wurde, stammt aus diesem Stück und bezieht sich auf die Bücher in der Bibliothek des Herrn Daval, die von seinem Bedienten für „undeutsch“ gehalten werden. Noch mehr als bei Gottsched orientiert sich das Stück an der Commedia: „Die viel beschworene Vertreibung des Harlekins durch [ Johann Christoph; AO] Gottsched und die Neuberin“ (Haekel 2003: 103) aus dem deutschen Theater findet (nicht nur) hier keinen Platz. 3 Die Handlung weist viele Ähnlichkeiten zu typischen Handlungsmustern der Commedia auf: Der reiche Herr Daval stellt sich gegen die Liebe ein und hat dazu eine Art philosophische Theorie entwickelt. Er versucht sogar, die Heiratspläne anderer Figuren zu verhindern. Die Einladung zweier Schauspielerinnen in sein Haus wird jedoch seine Liebesauffassung und seine Gefühle stark ins Wanken bringen. Die zwei Schauspielerinnen, Florine und Luitgarde, erscheinen jeweils als Harlekin und Scapin verkleidet. Florine hat im Vergleich zu Luitgarde eine bessere Ausbildung genossen, sodass sie italienische Texte vortragen kann. Daher die Bitte von Luitgarde: „Nun hör mich doch, sag mir ein italiänisch Verschen! “ (Stein 2006: 55) Luitgarde möchte eine Sentenz lernen, die zugleich „recht empfindsam[…]“ (ebd.) sein sollte: Somit weist sie gleichzeitig auf die Bedeutung der Sprache der Empfindsamkeit für das 18. Jahrhundert hin, eine Sprache, die man bei der Analyse der literarischen Produktion aus der Zeit wohl auch mitberücksichtigen muss. Florine erwidert: „Sag nach: o bella età de l’oro“ (ebd., Hv. i. O.), ein Zitat aus Guarinis Tragikomödie Il pastor fido (siehe ebd.: 96). Im Vergleich zu Luise Gottsched wird bei Charlotte von Stein eher die italienische Überlieferungslinie der Commedia angesprochen. Das Stück enthält viele metatheatralische Momente und intertextuelle Verweise. Der Bezug zur Commedia deutet zugleich auf das Spiel mit Sprachgrenzen, das für die Commedia typisch ist, als auch auf das Spiel mit Geschlechtergrenzen, das ebenfalls ein Merkmal des theatralischen Genres darstellt: Nicht zufällig erscheinen Luitgarde und Florine zunächst in Männerkleidung (siehe Aliverti 56 Anna Maria Olivari <?page no="57"?> 2008). Luitgarde hält die italienische Sprache für eine Chance, sich als Schauspie‐ lerin weiterzuentwickeln und soziales Ansehen zu erlangen. Mehrsprachigkeit erscheint dementsprechend als Potenzial, nämlich als Schlüssel zu sozialen Privilegien. Neben der italienischen Sprache weist das Stück noch zahlreiche andere Sprachmischungen auf: sowohl die französische als auch die Militär‐ sprache, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen, finden Erwähnung. Nachdem bis dahin hauptsächlich manifeste Mehrsprachigkeit thematisiert wurde, sollen im nächsten Abschnitt latente Mehrsprachigkeit und die eloquentia corporis diesem kurzen Überblick über Formen und Phänomene von Mehrsprachigkeit in der Aufklärungszeit als Untersuchungsobjekte dienen. - 2.3 Latente Mehrsprachigkeit und eloquentia corporis in Lessings Miß Sara Sampson Das Phänomen der latenten Mehrsprachigkeit beschreibt Giulia Radaelli (2011: 61) als „die häufigste Form von literarischer Mehrsprachigkeit überhaupt“. Trotz der puristischen Bestrebungen z. B. von Johann Christoph Gottsched gibt es im 18. Jahrhundert viele dramatische Texte, die etwa mehrsprachige Figurennamen verwenden, die nicht selten sogar an exponierter Stelle wie beispielsweise in den Titeln zu finden sind. Hier wären etwa in Lessings Œuvre Miß Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772) zu nennen. Conter (2017: 279) betrachtet Miß Sara Sampson als Beispiel für implizite latente Mehrsprachigkeit, die vorliegt, wenn „die gesprochene Sprache in einem Drama fiktionslogisch nicht mit jenem sprachlich-kulturellen Raum im Stück kongruiert, der die Kulisse bildet und die Handlung eines Textes bestimmt“. Schauplatz des Trauerspiels von Lessing ist bekanntlich ein Gasthof in England. Laut Conter irritiere diese Form latenter Mehrsprachigkeit die Theaterbesuchenden nicht. Grund hierfür sei, dass das Publikum im Theater einen Pakt mit dem Inszenierungskontext schließe, was dazu führe, dass, „[o]bgleich Namen und Orte als fremd und ausländisch wahrgenommen werden, […] der fiktionslogisch falsche Sprachgebrauch der Protagonisten nicht“ (ebd.) verwirrend wirkt. Die mangelnde Irritation mag für die Aufführung des Theatertextes nicht bestehen, jedoch ist sie im Moment der Lektüre präsent: Das Stück changiert durchgehend zwischen manifester Mehrsprachigkeit im Nebentext und latenter bzw. manifester Mehrsprachigkeit im Haupttext. Ein Beispiel aus Miß Sara Sampson: Marwood: Sie sehen mich sehr ungern wiederkommen. Mellefont: Ich sehe es sehr gern, Marwood, daß Ihre Unpäßlichkeit ohne Folgen gewesen ist. Sie befinden sich doch besser? (Lessing 1772: 117) „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert 57 <?page no="58"?> Selbstverständlich, je nach Grad der Beherrschung der englischen Sprache, kommt es im Moment der Lektüre des Textes zu kurzen Unterbrechungen im Lesefluss. Fremdsprachige Namen, in diesem Fall Marwood, werden im obigen Beispiel auch im Haupttext erwähnt. Nur wenn möglich, werden zumindest im Haupttext die Figurennamen den damaligen Regeln der deutschen Grammatik angepasst, so z. B. im folgenden Zitat: „Die Verrätherinn hat Arabellen bey sich“ (ebd.: 115). Greift man zudem auf eine Definition des Dramas als „virtuelle[n] Text, der das Stück und die Menge aller tatsächlichen und möglichen Aufführungen umfaßt“ (Eicher/ Wiemann 2001: 136), zurück, so wird deutlich, dass die überwiegend implizite latente Mehrsprachigkeit von Miß Sara Sampson diese zwei Aspekte der Aufführung, die dem Dramenbegriff innewohnen, in den Vordergrund stellt. Zuschauende passen sich demzufolge nicht gänzlich dem Inszenierungskontext an, sondern sie imaginieren zusätzlich einen Schauplatz in ihrem Kopf: Tatsächliche und mögliche Aufführung stehen gleichberechtigt nebeneinander. Was also für jeden Dramentext gilt, jedoch manchmal nicht wahrgenommen wird, kann durch Mehrsprachigkeit verstärkt werden. Nicht zufällig beschreibt Christoph Martin Wieland in seinen Briefen an einen jungen Dichter die Wirkung dieser Art von erfolgreichen Stücken aus dieser Zeit wie folgt: Bei den allermeisten Trauerspielen, Lustspielen, Dramen usw. womit wir seit Gott‐ scheds Zeiten unterhalten wurden, mussten wir uns bald nach Griechenland, bald nach Italien, bald nach Frankreich oder England […] versetzen lassen. Diese Ausländer waren, so zu sagen, das einheimische eigenthümliche Land unserer Tragödie (zit. in Conter 2017: 280). Wieland zufolge werden also ausländische Elemente mit in das deutsche Theater integriert, sodass Zuschauende über den deutschen Inszenierungskontext hinaus fremde Länder imaginieren und nach ihnen streben können. Wieland beschränkt diese Eigenschaft nicht nur auf Lessings Œuvre, sondern erhebt sie zum Merkmal der Dramatik seiner Zeit. Es gilt nun, Miß Sara Sampson hinsichtlich der Mehrsprachigkeit des Werkes aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. In Lessings Drama kommt einer weiteren Sprache eine große Bedeutung zu, die man bei der Untersuchung der Dramatik des 18. Jahrhunderts nicht aus den Augen verlieren sollte. Es handelt sich hierbei um die Körpersprache, genauer gesagt, um die eloquentia corporis. Alexander Kosenina hat sich der eloquentia corporis in seiner Studie von 1995 sehr ausführlich gewidmet und sie anhand von Beispielen aus Lessings 58 Anna Maria Olivari <?page no="59"?> Drama immer wieder veranschaulicht. Dies belegt folgendes Zitat aus Miß Sara Sampson sehr gut: Norton: […] Allein in ihrem Gesichte ist noch etwas anders als Mäßigung zu lesen. Kaltsinn, Unentschlossenheit, Widerwille---- (Lessing 1772: 113) Bereits dieses kurze Beispiel verdeutlicht, dass Gefühle nicht nur durch Wörter, sondern auch durch die Beschreibung der Mimik ausgedrückt werden: Die Körpersprache wird für genauso wichtig gehalten wie die verbale Sprache. Bezüglich der eloquentia corporis sei hier, wie bereits oben erwähnt, auf die Studie von Kosenina, die sehr ausführlich ist, verwiesen. Ihre kurze Erwähnung im Rahmen dieses Beitrags soll betonen, dass eine Untersuchung von Mehrspra‐ chigkeit in der Dramatik des 18. Jahrhunderts neben Französisch, Italienisch, Latein usw. auch diese Sprache mit in den Blick nehmen sollte. Indizien für die eloquentia corporis sind nicht nur den Regieanweisungen oder der Aufführung zu entnehmen. Vielmehr können bereits im Haupttext zahlreiche Anstöße für die Interpretation verzeichnet werden. Im nächsten Abschnitt soll wie im Fall von Charlotte von Stein wieder ein Stück aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert kurz angerissen werden, um aufzuzeigen, dass Mehrsprachigkeit auch in der Vormoderne zum Konstitutionsprinzip des Textes werden kann und sich nicht lediglich auf die Gelehrtensatire beschränkt. - 2.4 Sprach- und Sozialkritik in der jüdischen Aufklärung: Aaron Halle-Wolfssohns Leichtsinn und Frömmelei Das letzte Beispiel, das in diesem Beitrag vorgestellt werden soll, ist Aaron Halle-Wolfssohns Familiengemälde Leichtsinn und Frömmelei aus dem Jahr 1796. Glaubt man, dass nur in der modernen Literatur extreme Formen von Sprachmischungen möglich sind, dann wird die Überraschung beim Lesen dieses Stückes gewiss groß sein, wie die folgende Passage aus dem ersten Auftritt des Werkes deutlich macht: R`Chanauch: Nu weitr - - fragt der makschon [Fragende] „be-ma´i komipalgei“ [Um was geht die Auseinandersetzung] wudran kriegen sie sich? „Rabbi Eli’eser ßovar“ [Rabbi Eliezer ist der Meinung] - - (nachdenkend) dohß vrstaich nit, do mus bilti ßofek [zweifellos] e grais [Fehler] sain - efschor [vielleicht] machter Maharscho [Abkürzung für Rabbi Schmuel Edels] eppis [etwas] druf. (Halle-Wolfssohn 1995: 9; Anm. i.-O.) An diesem Zitat ist zu erkennen, dass in dieser Komödie neben hebräischen bzw. jiddischen Spracheinschüben auch regionale Varianten des damaligen Deut‐ schen in den Text integriert werden. Das Stück handelt von den Heiratsplänen „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert 59 <?page no="60"?> eines reichen Hausvaters, der seine Tochter mit dem Hausrabbi verheiraten möchte. Ihm ist auch der oben erwähnte Text zuzuschreiben. Seine Tochter ist jedoch gegen diesen Plan und zum Ende des Stückes entlarvt sich der Hausrabbi als moralisch fragwürdige Figur. Im Text sprechen die Figuren, die sich gut in die deutsche Kultur integriert haben, Hochdeutsch, während jene, die sich nicht gut integriert haben, Hebräisch, Jiddisch und Dialekt reden (siehe Och/ Strauss 1995). Das Stück, das im Rahmen der jüdischen Aufklärung entstanden ist, verfolgt daher durch die mehrsprachigen Elemente das Ziel einer Sprach- und Sozialkritik. Es regt durch die Mehrsprachigkeit des Textes zur Reflexion über die Wege einer gelungenen Integration an. Die Verschränkung von Sprache und Macht wird in diesem Stück besonders auffällig: Vermögen alleine reicht nicht aus, da die Beherrschung der Sprache eine zentrale Stellung einnimmt. Zugleich ergibt sich aber bei einer Betrachtung von Mehrsprachigkeit im Text auch die Möglichkeit, die soziale Kritik, die, wie der Titel Leichtsinn und Frömmelei explizit macht, mit einer moralischen Denunziation einhergeht, zu dekonstruieren. Der Hausrabbi z. B. besucht ein Bordell, also einen nicht rein jüdischen Ort, wo er trotz seiner fehlerhaften oder dialektalen Verwendung des Deutschen, das stets mit jiddischen Sprachelementen vermischt wird, von der dortigen Mätresse zwar verspottet, jedoch immerhin verstanden wird. Ob sich hier daher tatsächlich von gescheiterter Integration sprechen lässt, sei aufgrund der zwar witzigen, jedoch trotzdem gelungenen Kommunikationsversuche des Rabbi dahingestellt. Nach dieser kurzen, kursorischen und exemplarischen Analyse von vier Werken aus dem 18. Jahrhundert soll im nachfolgenden und letzten Abschnitt versucht werden, zu resümieren, welche Erkenntnisse sich für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung gewinnen lassen. 3 Resümee und Ausblick Im kleinen Rahmen dieses Beitrags wurde der Versuch unternommen, einige repräsentative Beispiele für Mehrsprachigkeit in der Dramatik des 18. Jahrhun‐ derts vorzustellen. Es handelt sich um ein Terrain, das für diese Art von Unter‐ suchungen genauso fruchtbar ist wie die Literatur der modernen Zeit: Latein, Französisch, Italienisch, Englisch, Jiddisch, Hebräisch, eloquentia corporis, die Sprache der Empfindsamkeit, Dialekte, Soziolekte, Idiolekte usw., das sind nur einige Beispiele für die Sprachen und die mehrsprachigen Phänomene, denen man nachgehen kann. Ein historischer Blick scheint bei der Analyse erforderlich und wichtig, um epochenspezifische Formen von Mehrsprachigkeit in den Fokus zu rücken. Ohne dabei den Zweck einer rein sozial-historischen Rekonstruktion 60 Anna Maria Olivari <?page no="61"?> von Literatur zu verfolgen, sollte also der historische Entstehungskontext Berücksichtigung finden. In diesem Beitrag wurde z. B. in den Blick genommen, zu welchem Zeitpunkt und in welchem Kontext das Stück geschrieben wurde. So konnte etwa beobachtet werden, dass die Commedia dell’arte samt ihrer cha‐ rakteristischen Mehrsprachigkeit noch im ausgehenden 18. Jahrhundert etwa bei Charlotte von Stein rezipiert wird. Sehr wichtig war zudem für die Analyse und Interpretation des Werkes im Auge zu behalten, dass Halle-Wolfssohns Leichtsinn und Frömmelei der jüdischen Aufklärung zuzuschreiben ist. Die dramatische Gattung eröffnet des Weiteren die Möglichkeit, die Rezep‐ tion mehrsprachiger Elemente auf vielen Ebenen der Kommunikationsstruktur eines Dramas unter die Lupe zu nehmen. Man kann sich beispielsweise die Frage stellen, wie diese bei der Lektüre des Stückes rezipiert werden, z. B. fremdspra‐ chige Namen in Lessings Miß Sara Sampson, die den Lesefluss kurzzeitig ins Wanken bringen. Welchen Schauplatz stellen sich die Lesenden im Kopf vor? Und wie sieht es diesbezüglich bei der Aufführung des Stückes trotz Bühnenbild aus? Die Analyse konnte zeigen, dass Mehrsprachigkeit sowohl beim Lesen als auch beim Zuschauen zum gleichberechtigten Nebeneinander mehrerer (tatsächlicher und imaginärer) Schauplätze führt. Dies kann für Irritationen sorgen, die allerdings gerade die latente Mehrsprachigkeit des Textes doch zum Vorschein bringen. Der vorliegende Beitrag lenkte aufgrund seines Umfangs und seines litera‐ turwissenschaftlichen Charakters den Fokus hauptsächlich auf Dramentexte: Eine umfangreiche Untersuchung sollte aber auch die Aufführung, z. B. durch Rezensionen, Skizzen oder Berichte aus der Zeit, stärker mitberücksichtigen. Aus diversitätsorientierter Perspektive könnte man in dem Fall etwa nicht nur untersuchen, wie Gelehrtensatiren je nach Bildungsstand damals rezipiert wurden, was in diesem Beitrag in Bezug auf Gottscheds Das Testament kurz angerissen wurde. Vielmehr könnte man sich zusätzlich die Frage stellen, wie diese Rezeption in puncto Geschlecht aussah, ob also die mehrsprachigen Elemente für ein weibliches Publikum eher eine Sprachbarriere darstellten oder doch im Ganzen verstanden werden konnten. Zum Themengebiet „Lite‐ rarische Mehrsprachigkeit und Dramatik des 18. Jahrhunderts“ besteht daher eindeutig ein zu behebendes Forschungsdesiderat, auf das der vorliegende Beitrag lediglich hinweist. Demnach sei als Letztes die Hoffnung ausgesprochen, dass die hier durchgeführte Untersuchung vertieft wird, was Potenziale sowohl für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung als auch für die historische Diversitätsforschung bietet. „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert 61 <?page no="62"?> Literatur Aliverti, Maria Ines (2008). An Icon for a New Woman: A Previously Unidentified Portrait of Isabella Andreini by Paolo Veronese. Early Theatre 11.2, 159-180. Anonym [L.A.V. Gottsched] (1972/ 1745). Das Testament, ein deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen. In: Gottsched, Johann Christoph (Hrsg.). Die deutsche Schaubühne. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741-1745. Mit einem Nachwort von Horst Steinmetz. Band. 6. Stuttgart: Metzler. Blum-Barth, Natalia (2021). Poietik der Mehrsprachigkeit. Theorie und Techniken des multilingualen Schreibens (= Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik 21). Heidelberg: Winter. Conter, Claude D. (2017). 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New York: Fordham University Press. „[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18.-Jahrhundert 63 <?page no="65"?> Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ‚Muttersprachlichkeit‘ und Mehrsprachigkeit in Texten von Shida Bazyar, Rasha Khayat und Marica Bodrožić Literaturwissenschaftliche Analyse und didaktische Überlegungen Martina Kofer Abstract: Using the example of recent novels by Shida Bazyar, Marica Bodrožić, and Rasha Khayat, the paper aims, on the one hand, to explore the significance of the historical and emotionalized concept of ‚mother tongue‘ for the characters as well as possible processes of reand deconstruction of the same, and, on the other hand, to investigate the emotional content and affective impact of literary multilingualism on the aesthetic level. Ideas for didacticization are based on the need to promote a critical awareness of the historical genesis of monolingualism or multilingualism and to include a critical perspective on the ideological construct of mother tongue in the context of a national-philological history of education. On the lite‐ rary-aesthetic level, the main focus is on the development of the affective dimension and the deconstructive effect of literary multilingualism in the texts as learning content. Keywords: Muttersprachlichkeit, literarische Mehrsprachigkeit, Emotionen, Postmig‐ ration, Khayat, Bazyar, Bodrožić Die Auseinandersetzungen mit der eigenen Mehrsprachigkeit und dem Er‐ werbsprozess der Zweitsprache sowie Erfahrungen von Bewertungen von Sprachen und Sprachkompetenzen im Zuge der Migration spielen in postmi‐ grantischen Texten eine zentrale Rolle (vgl. Cramer et al. 2023: 35-45; vgl. <?page no="66"?> Kofer i. Dr.). Dabei wird Sprache retrospektiv von den Figuren als Teil eines kul‐ turpolitischen und hegemonialen Machtsystems identifiziert, innerhalb dessen das ‚richtige‘ Sprechen von Sprache ebenso wie das Sprechen der ‚richtigen Sprache‘ als Auslöser für In- und Exklusionsmechanismen wahrgenommen und erfahren wird. Der Prozess der neu zu erlernenden Sprache kann dabei Diskriminierungs- und Inferiorisierungserfahrungen mit sich bringen, die neue Sprache kann jedoch auch einen Raum der Zuflucht nach traumatischen Erfah‐ rungen im Herkunftsland und neue Denk- und Interpretationsmöglichkeiten der eigenen Person und Erlebnisse eröffnen. Sie kann so auch als Mittel zur Selbstermächtigung und der Distanz zu Gewalterfahrungen verstanden werden (vgl. Kofer i. Dr.). In zweien von den drei hier diskutierten Texten kehren die ehemals nach Deutschland migrierten Erzähler: innen nach jahrelanger Abwesenheit in ihr Geburtsland zurück. Diese Reisen lösen bei ihnen emotionale Krisen aus, die mit ambivalenten Gefühlen wie Unsicherheit und Scham bei gleichzeitigen Momenten der Vertrautheit und intensiven Kindheitserinnerungen verbunden sind. Scham und auch Schuld empfinden sie insbesondere wegen der abhanden‐ gekommenen Kenntnisse ihrer ‚Muttersprache‘. Unbewusst spielen hier in der Kindheit erfahrene und erlernte Anforderungen und deterministische Implika‐ tionen von ‚Muttersprachlichkeit‘ eine Rolle, die sich in den Texten letztlich als der affektive Knoten im Zentrum des monolingualen Paradigmas (Yıldız 2012: 10), den die Figuren aufgrund ihrer mehrsprachigen (Nicht)Sozialisation erfahren, zeigen. Dieser affektive Knoten konstituiert sich durch gesellschaft‐ liche (sprachliche) Normsetzungen und Machtverhältnisse, den situativen und autobiographischen Kontext sowie das individuelle emotionale Erleben der Figuren. Am Beispiel der drei postmigrantischen Gegenwartsromane Nachts ist es leise in Teheran (2016) von Shida Bazyar, Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern (2016) von Marica Bodrožić und Weil wir längst woanders sind (2016) von Rasha Khayat zielt der Beitrag darauf ab, einerseits zu erkunden, inwiefern ‚Muttersprache‘ entsprechend der Muttersprachsemantik des 19. und 20. Jahrhunderts von den mehrsprachigen Figuren emotional positiv erfahren und als bedeutender identitärer und unvergänglicher Bestandteil ihrer selbst betrachtet oder gar als Konstrukt enttarnt wird. Andererseits soll mithilfe von Analysekategorien der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung un‐ tersucht werden, ob und welche Emotionen bei den Figuren durch einen Sprachwechsel in die ‚Muttersprache‘ ausgelöst bzw. in welchen Situationen ‚muttersprachliche‘ Einsprengsel im Text eingefügt werden. Dabei gehe ich mit Pavlenko (2005) davon aus, dass 66 Martina Kofer <?page no="67"?> the study of identities and emotions in linguistic decision making is concerned with the sociohistoric contexts that shape individuals’ subject positions, identity narratives, emotional evaluations, judgments, and subsequent actions. (ebd.: 200) Darauffolgende Überlegungen zur Didaktisierung gehen dabei von der An‐ nahme aus, dass es bedeutsam für jegliche Auseinandersetzung mit mehrspra‐ chiger Literatur ist, für die historische Entstehungsgeschichte von Einsprachig‐ keit bzw. Mehrsprachigkeit zu sensibilisieren, ‚Muttersprachlichkeit‘ als ein soziohistorisches Konstrukt zu begreifen und ein Bewusstsein für den ästheti‐ schen Gehalt von literarischer Mehrsprachigkeit zu schaffen. 1 ‚Muttersprache‘ als emotionalisiertes Konzept Der historische Entwicklungsprozess der Normierung von Einsprachigkeit ist eng verbunden mit der Biologisierung, Ideologisierung und Emotionalisierung des Konstrukts ‚Muttersprache‘. Vor allem im 18. Jahrhundert hat der Begriff ‚Muttersprache‘ „eine bemerkenswerte Karriere […] [vollzogen], die ebenso mit der Entwicklung des modernen Nationsgedankens wie mit der bürgerlichen Familie als Erziehungsgemeinschaft verbunden ist“ (Kilchmann 2019a: 81). „Sprache, Individuum und (nationale) Gemeinschaft werden [fortan nicht nur] als natürlich verbundene Größen gedacht“ (ebd.), sondern auch in eine intensive emotionale Beziehung zueinander gesetzt. Zum einen ist nun die Rede von den „emotionalen Qualitäten“ der ‚Muttersprache‘ (Ahlzweig 1994: 133 f.), zum anderen festigt sich die Vorstellung, dass Sprache untrennbar mit dem „Wesen des Sprechers“ (ebd.: 135) verbunden sei. Im Zuge der Napoleonischen Kriege geht es dann auch um eine (sprachliche) Abgrenzung und Ablehnung von allem ‚Fremden‘ und die Konstruktion des ‚Eigenen‘ auch in Form einer deutschen ‚Muttersprache‘, wie es u.-a. bei Ernst Moritz Arndt ersichtlich wird: Wer sieht - ich frage euch, Deutsche, und erinnere euch daran, damit ihr euch schämet - wer sieht anderswo die Erscheinung, die wir jeden Tag sehen können, daß von tausend Deutschen kaum einer richtig deutsch lesen und aussprechen kann? - So sorglos sind wir der eignen Vortrefflichkeit bei der Jagd nach dem Fremden und bei der Ueberschätzung des Fremden. (Arndt 1813: 72 f.) In der sogenannten Befreiungskriegslyrik wird die ‚Muttersprache‘ schließlich zum verbindenden, identitätsbildenden Element der Deutschen „über soziale und Standesgrenzen“ (Ahlzweig 1994: 146) hinweg. Dies gelingt vor allem, indem ‚Muttersprache‘ mithilfe einer metaphorischen Verbindung zu den drei gesellschaftlichen Pfeilern „Körper, Familie, Moral“ emotionalisiert wird (Weber 1991: 118). Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ,Muttersprachlichkeit' 67 <?page no="68"?> In dieser Zeit werden auch neue pädagogische Werte hinsichtlich ‚richtigen‘ Sprechens formuliert. Die Jugend soll sich nun „in der eigenen Sprache […] schön und edel auszudrücken wisse[n]“ (Docen 1814: 301). Damit einher geht bei Johann Christian August Heyse im selben Jahrzehnt eine Bewertung und Beurteilung ‚richtigen‘ Sprechens, das an das ‚Recht‘ auf natio-kulturelle Zuge‐ hörigkeit gebunden wird und dessen Erwerb wiederum eng an die Wertschät‐ zung der ‚Muttersprache‘ geknüpft ist: In allen deutschen Schulen wird jetzt, mehr als sonst, deutscher Sprachunterricht als wesentlicher Lerngegenstand mit Recht geschätzt und geübt. Die deutsche Jugend […] wetteifert unter sich, durch gegenseitigen Tadel und strenge Aufmerksamkeit auf sich selbst, die Reinheit und Richtigkeit ihrer Muttersprache immer allgemeiner zu machen, immer mehr überzeugt, daß es zwar keine große Ehre ist, richtig deutsch zu sprechen und zu schreiben, wohl aber die größte Schande, dies nicht zu können. […] Wohl uns, wenn wir alle, wenigstens jetzt in der ewig denkwürdigen Zeit der W i e d e r g e b u r t u n s e r e r D e u t s c h h e i t anfangen, als ä c h t e D e u t s c h e unsere Muttersprache, als das schätzbarste Vermächtnis unserer Voreltern, zu achten, als das einzige unter allen politischen Stürmen, die unser Vaterland schreckten, unauflöslich gebliebene Band, […] sie vor allen andern Sprachen ehren und immer gründlicher zu erlernen suchen! - Wer bey sonstiger Bildung des Geistes ihre gründliche Erlernung vernachlässigt und sich nicht schämt, sie, gleich seiner gewesenen Amme, unrein und unrichtig zu sprechen - wer sie verachtet, der verachtet auch seine Nation und ist nicht werth, ein D e u t s c h e r zu heißen. (Heyse 1814: 30-33, Hv. i.-O.) ‚Muttersprache‘ dient nun nicht mehr nur dem Zweck der sprachlichen Verein‐ heitlichung des Volkes und gilt nicht mehr nur als oppositionelle Kommunika‐ tionsform des Bürgertums, sondern wird auf eine Art und Weise personifiziert und autorisiert, dass es möglich wird, hier Gefühle wie Scham und Werte wie Achtung mit ins Spiel zu bringen. Es wird nun eine persönliche Verpflichtung und Verantwortung des Einzelnen gegenüber seiner ‚Muttersprache‘ formuliert, die nicht nur identitär, sondern auch sozial begründet wird. Auf emotionaler Ebene geraten Schüler: innen jetzt unter Druck: Denn die ‚Muttersprache‘ nicht ‚richtig‘ zu beherrschen und für den Erhalt ihrer ‚Reinheit‘ zu sorgen, bedeutet im Umkehrschluss nicht nur, exkludiert zu werden, sondern auch seine Vor‐ fahren nicht ausreichend zu respektieren. Darüber geht mit der personifizierten ‚Muttersprache‘ als „getreueste Dolmetscherin unserer Gedanken und Gefühle“ (ebd.: 30-33) das Versprechen einer immerwährenden Verlässlichkeit und engen Bindung einher. Die vermeintliche Treue der Sprache impliziert jedoch zugleich das Gefühl der Schuld und des Verrats, sollten die Heranwachsenden dieser 68 Martina Kofer <?page no="69"?> 1 Eine Ausnahme stellt der Band Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschen Gegenwartsliteratur von Marion Acker, Anne Fleig und Matthias Lüthjohann dar. ‚Muttersprache‘ nicht ebenso getreu sein, wie es am Textauszug von Arndt deutlich wird. Bis in die Gegenwart hinein ist ‚Muttersprachlichkeit‘ stark emotionalisiert. Zudem kann man aufgrund ihrer vermeintlichen Einzigartigkeit und ihres Erwerbs qua Geburt davon sprechen, dass sie mehr als ein Schicksal, dem die Sprecher: innen ausgeliefert sind, denn als selbstgewählte Sprache des Individuums wahrgenommen wird (vgl. Coulmas 1995: 120). 2 Emotionen und (mehrsprachige) literarische Ästhetik In der Literaturwissenschaft ist seit den 1990er Jahren ein zunehmend ausdif‐ ferenziertes Interesse für den Zusammenhang von Literatur(produktion) und Emotionen zu beobachten. Um dem affektiven Gehalt von ‚Muttersprachlich‐ keit‘ in den Texten auf die Spur zu kommen, ist vor allem die Forschungsfrage relevant, mit welchen sprachlichen Mitteln „Emotionen in literarischen Texten gestaltet [,] […] thematisiert und ausgedrückt bzw. repräsentiert werden“ (Winko 2019: 399). Dabei ist zu beachten, dass sich die literaturwissenschaftliche Forschung im deutschen Raum bisher lediglich auf ‚einsprachige‘ literarische Texte bezogen hat. Noch nicht erforscht ist meines Wissens, inwiefern Sprach‐ wechsel oder -mischungen zur Emotionalisierung eines Textes beitragen bzw. „how multilingual authors display emotion/ affect through use of literary mul‐ tilingualism (affective markers) combined with writer style“ (Chakravarty 2016: 157). 1 Sinnvoll für die Untersuchung des Zusammenhangs von Emotionen und Sprache bzw. Sprachlichkeit erscheint mir Simone Winkos Unterscheidung zwischen der Thematisierung von Emotionen und der Präsentation impliziter Emotionen. Während sie „Textstrukturen […], in denen propositionale Aus‐ sagen über Emotionen gemacht werden“ (Winko 2003: 116, Hv. i. O.) als Thematisierung bezeichnet, zielt der Begriff der Präsentation hingegen auf „die sprachliche Gestaltung von Emotionen […], die im Text durch implizite sprachliche und strukturelle Mittel umgesetzt sind“ (ebd.). Zu den Möglichkeiten der sprachlichen Gestaltung zählen zum einen die „lexikalische Benennung“ in Form von „prototypischen Emotionswörtern[n]“ (Hillebrandt 2011: 78) und zum anderen die „Formen nonverbaler Kommunikation“ (ebd.: 79), welche den Figuren vom Erzähler oder der Erzählerin zugeschrieben werden und die nicht zwingend „im Einklang mit der sprachlichen Äußerung der Figur oder des Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ,Muttersprachlichkeit' 69 <?page no="70"?> Erzählers“ (ebd.) stehen müssen. Als Formen nonverbaler Emotionsäußerung können z. B. körperliche Reaktionen wie Weinen oder Lachen sowie „körper‐ liche Zustände“ wie „Zittern und Erröten“ gelten (Schwarz-Friesel 2017: 354 f.). In den Bereich der verbalen Kommunikation gehören neben den prototypischen Emotionswörtern u. a. auch Interjektionen wie ach! (vgl. Hillebrandt 2011: 80) und Phraseologismen wie es kocht in mir oder ich möchte im Boden versinken (ebd.). Neben diesen linguistischen Analysekategorien können jedoch auch rheto‐ rische Stilmittel wie „Metaphern, Metonymien, Allegorien, Vergleiche etc. […] auf Emotionen verweisen“ (ebd.). Dabei finden sich in der Literatur oftmals eher außergewöhnliche, von den „konventionalisierten, alltagssprachlichen Bilder[n]“ abweichende Formen der Gestaltung des Ausdrucks von Emotionen (ebd.). Auch anderssprachige Einsprengsel können als Metapher fungieren, wie z. B. in Kemal Kurts Jugendroman Die Sonnentrinker der Begriff des Bodysurfing eine Lebensphilosophie der Gelassenheit des Protagonisten verbildlicht (Kofer 2017: 29). Sie können auch auf symbolischer Ebene Textaussagen verstärken, wie z. B. in der Erzählung Ambos Adelwarth von W.G. Sebald, in der das englische Wort sidewalks die Marginalisierung der Juden und Jüdinnen in der New Yorker Lower Eastside quasi verstärkend zum Ausdruck bringt, während im Gegensatz dazu das Wort Bürgersteig eher Zugehörigkeit symbolisieren würde (Kofer 2023: 225). Zu prüfen wären hier in Bezug auf mehrsprachige Texte beispielsweise, inwiefern Strategien des Affective borrowing literarisch genutzt werden, um Emotionen der Figuren zu repräsentieren. Als Affective borrowing bezeichnet Weinreich (1953) das Phänomen, dass zum Ausdruck von Emotionen Elemente aus einer anderen Sprache übernommen werden. Die ‚Muttersprache‘ ist dabei jedoch nicht zwingend die Sprache, die vom Individuum zum Ausdruck von Emotionen präferiert wird (vgl. Pavlenko 2005: 199 f.) und es muss berücksichtigt werden, dass „Sprachbiographien mit sehr individuellen emotionalen Mustern einhergehen“ (Ortner 2014: 167). So beruht [d]ie Auswahl der aktuell angewendeten Sprache […] [vielmehr] auf individuellen Faktoren (z. B. Kompetenz, Zeitpunkt des Erwerbs), kontextuellen Faktoren (z. B. Pres‐ tige) und sprachsystematischen Faktoren (z. B. Emotionswortschatz), insbesondere jedoch auf dem aktuellen Ausdrucksbedürfnis und auf der Entscheidung, wie dieses am besten erfüllt werden kann. (Ebd.: 167) Folgt man Winkos Unterscheidung mit einem Fokus auf literarischer Mehrspra‐ chigkeit und der Bedeutung von ‚Muttersprachlichkeit‘ für die Figuren, stellt sich die Frage, ob und welche Emotionen literarisch durch einen Sprachwechsel in die oder einer Konfrontation mit der ‚Muttersprache‘ durch die soziale 70 Martina Kofer <?page no="71"?> Umwelt ausgelöst werden und in welchen biographischen und soziohistori‐ schen Erfahrungskontext diese eingebettet sind. Im Sinne einer hegemoniekri‐ tischen Analyse wird dabei berücksichtigt, dass es „[k]ennzeichnend für alle emotionalen Phänomene ist, dass es sich hierbei um auf innere und äußere Erlebenskomponenten bezogene Bewertungen handelt“ (Schwarz-Friesel 2017: 354). Dabei können „[d]ie Zuordnungsvoraussetzungen für die Attribution eines Wertes zu einem Objekt […] auf subjektiven Erfahrungen der Wertenden beruhen, aber auch auf kollektivem, konventionalisiertem Wissen“ (Hillebrandt 2011: 93). Eine hegemoniekritische Analyse, die auch Hierarchisierungen und Wertungen von Sprache(n) miteinbezieht, richtet den Blick demnach einerseits auf die individuellen emotionalen Reaktionen der Figuren auf Sprache(n), andererseits werden aber auch die von den Figuren oder dem/ der Erzähler: in formulierten autobiographischen Erfahrungen mit Wertungen von Sprache(n) im sozialen Umfeld sowie in der Gesellschaft mitberücksichtigt. 3 Postmigrantische Verhandlungen von ‚Muttersprachlichkeit‘, Mehrsprachigkeit und Emotionen Im Folgenden sollen nun die sprachgeschichtlichen Ausführungen zur Emo‐ tionalisierung von ‚Muttersprache‘ sowie die kurz umrissenen literaturwissen‐ schaftlichen Erkenntnisse zur Thematisierung und Repräsentation von Emo‐ tionen in literarischen Texten zusammengebracht werden und am Beispiel dreier Texte der postmigrantischen Gegenwartsliteratur der Frage nachge‐ gangen werden, ob und mit welchen Emotionen die Figuren ‚Muttersprache‘ verbinden und wie diese an erfahrene und verinnerlichte Sprachnormen und frühere Wertungen des legitimen bzw. illegitimen Sprechens gebunden sind. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, ob die Figuren im adoleszenten Alter und retrospektiv ein selbstbestimmtes und eigendefinitorisches Verhältnis zu ihrer ‚Muttersprache‘ und ihrer Mehrsprachigkeit entwickeln und möglicher‐ weise die verinnerlichten Sprachnormen und -bewertungen dekonstruieren. Als Analyseraster wird dabei der affektive Knoten ‚Muttersprache‘ berücksichtigt, wie er oben vorgestellt wurde. - 3.1 Sprach(norm)brüche: Illegitimes Sprechen und Emotion Im Zuge ihrer Ankunft in Deutschland werden sich die Erzähler: innen der Romane Nachts ist es leise in Teheran und Weil wir längst woanders sind zunehmend darüber bewusst, dass die Beherrschung der deutschen Sprache quasi als Zugehörigkeitsbeweis gewertet wird, während ihre Familiensprachen Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ,Muttersprachlichkeit' 71 <?page no="72"?> als unbedeutend und wertlos erscheinen. Die Bewertung der Sprache(n) und der Sprachkompetenzen der Figuren kann dabei einhergehen mit einer Vermin‐ derung der kognitiven Fähigkeiten durch die Autoritäten der Bildungsinstitu‐ tionen, die wiederum an Prozesse des kulturellen Otherings und der stereotypen Vorstellungen über die Herkunftskultur gekoppelt sind. So erfahren die Ge‐ schwister Layla und Basil (Weil wir längst woanders sind ) nach ihrer Ankunft aus Saudi-Arabien durch ihre zukünftige Lehrerin eine Verminderung ihrer sprachlichen und schriftlichen Kompetenzen, die von einer eindimensionalen und stereotypen Assoziation von ‚arabischer Kultur‘ mit Bildungsferne zeugt. Der Erzähler Basil erlebt hier Subjektivierungs- und Inferiorisierungsproze‐ duren durch seine soziale Umwelt, die in ihm Gefühle der Scham und Schuld bewirken. Dieses Empfinden von Scham und Schuld aufgrund der eigenen Sprachigkeit muss nicht immer an das Erlernen der Zweitsprache in Deutschland gebunden sein, sondern kann sich auch schon im Herkunftsland entwickelt haben. So erzählt die Figur Marica in Sterne erben, Sterne färben rückblickend über die Unmöglichkeit ‚freien‘ und kreativen Sprechens und den Zwang, ‚richtig‘ und ‚rein‘ zu sprechen, den sie als Kind in einer Grenzregion des ehemaligen Jugoslawiens erfahren hat: Da wir zwischen Dalmatien und der Herzegovina aufwuchsen, lernten wir die Dia‐ lekte beider Gegenden. Einmal entzündete sich im dalmatinischen Dorf ein Gelächter an dem herzegovinischen Wort für Handtuch, peškir. Meine Schwester hatte es gesagt. Ich glaube, es gefiel ihr besser als das Wort ručnik, wie es im Hochkroatischen hätte richtig heißen müssen und wie die Leute in Dalmatien es auch gebrauchten. Zwei grundverschiedene Wörter waren das also, und je nachdem, in welcher Gegend wir das eine oder das andere sagten, wußte man gleich, ob wir Fremde oder Zugehörige sind. Natürlich geschah uns Kindern immer die Fremdheit, wir hatten immer das Gespür für sie; wie etwas aus der Luft kam sie über uns, und wir sagten, als seien wir gerade dafür mit einer Begabung auf die Welt gekommen, immer an der falschen Stelle das falsche Wort. […] Die Wörter waren uns in den ersten Jahren tiefste Weltmittler geworden, und ihretwegen liebte oder verstieß man uns. So erlebten wir es. So ist es für uns gewesen. Jedes Wort konnte leuchten. Oder ein häßliches Gesicht der Schuld tragen, mit schweren Gewichten, so daß wir verschwinden wollten und kaum die Nähe zu einem unserer spottbereiten Dörfler ertrugen. (Bodrožić 2016: 67 f.) 72 Martina Kofer <?page no="73"?> Die starken und nachwirkenden Emotionen, die bei den beiden Schwestern durch die Sanktionierungen ihrer sprachlichen Kreativität und Unbesorgtheit ausgelöst werden, zeigen sich im Roman durch eine außergewöhnliche emotio‐ nale Metaphorik. Dabei kann der Gebrauch von Metaphern zum Ausdruck von Emotionen in literarischen Texten als ein Zeichen für das oftmals schwierige persönliche Unterfangen einer Figur, starke Emotionen sprachlich auszudrü‐ cken, gewertet werden (Winko 2003: 105). So verbildlicht das Verb „entzünden“ die Verletzungen, die die Schwestern durch Gelächter und Beschämen emp‐ finden. Noch deutlicher werden die emotionalen Konsequenzen für die kindli‐ chen Sprecher: innen anhand der Personifizierung und Wertung der Worte, die sich in der metaphorischen Wendung „hässliches Gesicht der Schuld“ oder dem Attribut „leuchtend“ ausdrücken und die nach ihrem Empfinden über Ein- und Ausschluss in die dörfliche Gemeinschaft entscheiden können. Scham und Schuld, die durch das Sprechen einer (‚falschen‘) Sprache oder das (‚falsche‘) Sprechen einer Sprache ausgelöst oder erinnert werden, müssen dabei als Gefühle verstanden werden, die durch gesellschaftliche (sprachliche) Normsetzungen und im Kontext von kulturpolitischen Machtverhältnissen entstehen, mit denen das Individuum korreliert. Denn Scham gilt als eine „relationsbezogene, selbstreflexive Emotion“, „die das erlebende Subjekt auf die bewertende Wahrnehmung der eigenen Person durch bedeutsame andere ausrichtet“ (Röttger-Rössler 2019: 230). Sie bezeichnet einen „Prozess der Selbst‐ reflexion durch die Augen der anderen“ (ebd.), wobei hier negative Bewertungen durch eben diese anderen antizipiert werden: Schamgefühle lassen sich also als empfundener Anerkennungsverlust, als Angst vor sozialer Exklusion definieren, sie binden die Einzelnen somit in die Norm- und Wertgefühle ihres sozialen Umfeldes ein. Auf der Ebene subjektiver Erfahrung wird Scham als ein äußerst negatives Gefühl erlebt, das Menschen weitgehend zu vermeiden suchen, was sie zur Einhaltung sozialer Regeln und Werte motiviert. (Ebd.) Diese Definition von Scham lässt sich hier auch auf das Schamgefühl der Figuren hinsichtlich ihres ‚falschen‘ Sprechens übertragen. Dabei stehen die kindlichen Protagonist: innen in einer emotionalen und dependenten Bindung zu den Bewerter: innen ihrer Sprachkompetenzen oder den Urteilenden über legitimes und illegitimes Sprechen, was den Druck nur zusätzlich erhöht. - 3.2 Emotionale Ambivalenz von ‚Muttersprachlichkeit‘ Wie nachhaltig die erlernten sprachlichen Normen und Wertsetzungen wirken, zeigt sich vor allem in späteren Wiederbegegnungssituationen mit der ver‐ Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ,Muttersprachlichkeit' 73 <?page no="74"?> lernten ‚Muttersprache‘. So holt das Gefühl der Scham und Schuld, das die Protagonist: innen im Zuge von ‚falschem Sprechen‘ entwickelt haben, sie bei ihrem Besuch im Geburtsland wieder ein. Dies wird von der Figur Basil in Weil wir längst woanders sind explizit mit dem propositionalen Gefühlswort „schämen“ thematisiert: Der Klang der Sprache fühlt sich seltsam an, ich habe die weichen, fließenden Worte ewig nicht gehört, nicht in dieser Art und Weise. Ich bilde mir ein, Häppchen der Sätze zu verstehen, „Haddarat El-Musafirin“ - Verehrte Reisende. Für viel mehr reicht es nicht, und ich schäme mich ein wenig. (Khayat 2016: 29) Es zeigen sich in den Romanen Nachts ist es leise in Teheran und Weil wir längst woanders sind ähnliche emotionale Reaktionen und Konflikte bei den Figuren Laleh (Nachts ist es leise in Teheran) und Basil (Weil wir längst woanders sind ). In beiden Romanen waren die Eltern aus politischen Gründen gezwungen, quasi über Nacht das Land zu verlassen und nach Deutschland zu fliehen. Die Kinder wurden dabei notgedrungen über die Gründe des plötzlichen Aufbruchs im Unwissen gelassen und hatten keine Möglichkeit, sich von ihren Verwandten zu verabschieden. Laleh und Basil kämpfen bis ins Erwachsenenalter mit dem Gefühl, verlassen und betrogen worden zu sein. Als sowohl Laleh als auch Basil Jahre später ihre Verwandten im Geburtsland wiedersehen, verspüren beide eine starke Verunsicherung durch die wiederkehrenden Kindheitserinnerungen und die emotionalen Reaktionen der Angehörigen vor Ort. Auf literarischer Ebene können dabei die Wechsel in die arabische und persische ‚Muttersprache‘ als Form des Affective borrowing gewertet werden, durch welches in Form von Zärtlichkeitsbekundungen, Kosewörtern und Höflichkeitsfloskeln in arabischer oder persischer Sprache die starke emotionale Bewegung der Familienmitglieder repräsentiert wird. Im Gegensatz dazu drückt sich die starke emotionale Bewegung Basils im Text hier nicht durch proposale Emotionswörter bzw. Verbalisierungen, sondern durch Körpersprache aus: „Ya Basha, ya Basil“, ruft der Alte und schlurft vor zum Auto, um mir die Tür zu öffnen. Als ich aus dem klimatisierten Wagen steige, schlägt mir die Abendhitze schwer entgegen. „Ahlan, Ahlan, ya Basha. Du hast dich gar nicht verändert, Mabrook, mabrook ya Akh al-Aroosa! “ Ich schüttele ihm zitternd die ledrige, faltige Hand und nehme seine Glückwünsche entgegen. Ich will etwas sagen, aber die Worte bleiben irgendwo im Mund hängen. Meine Kehle ist rau und trocken und das Atmen fällt mir schwer. Mein Arabisch will nicht raus, die Worte wehren sich und ecken an, nur ein ganz leises „Shukran, Allah yesalimak“ bringe ich zustande. (Khayat 2016: 37 f.) 74 Martina Kofer <?page no="75"?> Die ‚Muttersprache‘ löst so zunächst als „Sprache der Kindheit“ (vgl. Bodrožić 2016: 62) intensive emotionale Erinnerungen bei Basil aus, die auch Marica in Sterne erben, Sterne färben reflektiert: „Vielleicht rührt die erste erlernte Sprache bei jedem Menschen an ein verschüttetes Gefilde von Gerüchen, Farben, erstmalig gelebten Sehnsüchten“ (ebd.: 61). Diese müssen nicht immer positiv sein, sondern können auch mit traumatischen Erfahrungen einhergehen, wie an allen Figuren der drei Romane deutlich wird. So erinnert sich die Figur Marica in Form des eher außergewöhnlichen Bilds des Krokodils im Herzen und der alltagssprachlichen Metapher des sprengenden Brustkorbs an einen intensiven Schmerz, den sie empfand, wenn sie die ‚Muttersprache‘ als Kind im neuen Land hörte: Kaum hatte ich drei, vier Wörter aufgeschnappt, kroch im Herzen ein Krokodil herum, und ein Druck in der Brust schien meinen Brustkorb sprengen zu wollen. Ich habe nie genau verstanden, warum das Geschehen noch mehr weh tat, wenn ich es in der ersten Sprache, in der Sprache meiner Kindheit beschrieben bekam. Das Deutsche rührte mich auch. Aber mehr lenkte es mich in dieser Zeit ab. (ebd.: 30) Auffällig ist hier zunächst die Distanz zum Konzept und Begriff ‚Muttersprache‘, den die Erzählerin vermeidet und stattdessen von „Sprache meiner Kindheit“ oder „der ersten Sprache“ spricht. Zudem wird eine exklusive emotionale Beziehung zur ‚Muttersprache‘ ausgeschlossen, da auch „[d]as Deutsche“ die Erzählerin „rührte“. Die Empfindungen der Figuren in den Romanen zeigen dabei Parallelen zu den Aussagen eines Interviews, das Aneta Pavlenko mit einer aus Russland kommenden Einwanderin in den USA führte und die von ihrem Verhältnis zur ‚Muttersprache‘ sprach: The words of my native language, Russian, brim with intimacy and familiarity. They are permeated with memories of my childhood and youth, friendships and intimate relationships, happiness and disappointments. For me, Russian has no neutral words - each one channels voices, each one inspires feelings. Yet it is also a language that attempted to constrain and obliterate me as a Jew, to tie me down as a woman, to render me voiceless, a mute slave to a hated regime. To abandon Russian means to embrace freedom. I can talk and write without hearing echoes of things I should not be saying. (Pavlenko 2005: 22) So wird auch in den Romanen deutlich, dass die auditive Wahrnehmung der ‚Muttersprache‘ nicht nur mit Geborgenheit und Liebe, sondern auch mit dem Schmerz des Verlusts assoziiert wird, der von den Kindern vergessen werden wollte und der bei der Rückkehr ins Geburtsland wieder an die Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ,Muttersprachlichkeit' 75 <?page no="76"?> Oberfläche tritt. Während die Figuren Basil und Laleh mit sich und ihren ‚Muttersprachen‘ hadern und den Mangel in sich selbst suchen, findet Marica jedoch im Erwachsenenalter zu einem selbstbestimmten und neuen Verständnis ihrer Mehrsprachigkeit und ihres sprachlichen Wissens, das sie schließlich als Befreiung empfindet. So sieht sie im Deutschen die Möglichkeit eines Neuanfangs: Das Größere der Freiheit ist mir im Deutschen möglich geworden, gerade durch den Entzug alles Vertrauten. Die Baumnamen wollten alle noch einmal neu gelernt sein. Die Linde hieß jetzt nicht mehr lipa, auch ihr Geruch wurde noch stärker als einst auf den Höfen der kleinen Jahre […]. (Bodrožić 2016: 18) Von der Norm und den Wertungen des ‚richtigen Sprechens‘ und der einen ‚richtigen Sprache‘ sowie von der Entscheidung für eine Sprache kann sich Marica allerdings erst als Erwachsene befreien: Als ich begann, das Französische zu erlernen, bemerkte ich, wie unter der feinen deutschen Wetterwörterschicht, unbekümmert und fern jeder Formhaftigkeit, mein unmittelbarer dalmatinischer Dialekt lebte, einzelne herzegovinische Wörter in meinen Gedanken auftauchten, das Kroatische, das einstige Serbokroatische, auch osmanisch Klingendes aus der Gegend meiner Mutter, die in der Nähe von Mostar zur Welt gekommen ist. Was in mir als Kind gefiebert und gearbeitet hatte, zeigte sich hier. So zeigt sich hier bei Marica eine „Loslösung von der biografisch wie künstle‐ risch als einschränkend empfundenen Norm der Einsprachigkeit“ (Kilchmann 2019b: 80) und eine Lust am Mischen und der Dynamik und Hybridität von Sprachen, die bei den anderen Figuren nicht festzustellen ist. Dennoch beginnen auch diese, dem Mythos ‚Muttersprache‘ zu misstrauen. - 3.3 ‚Muttersprache‘ als „Trugschluss“ und Schein Die ‚Muttersprache‘ zeigt sich hier darüber hinaus, wie an den verstärkt nonverbalen Emotionsäußerungen der Figur Basil deutlich wird, gerade nicht als „die getreueste Dolmetscherin der Gedanken und Gefühle“, sondern als außerordentlich unverlässlich und trügerisch, wie es auch die Figur Laleh in Nachts ist es leise in Teheran bei ihrer Rückkehr nach Teheran erfährt: Alle um mich herum schauen auf mich, reden mit mir, hören mir zu, werden plötzlich still, wenn ich mich traue, zu antworten, meine stolpernden persischen Worte an sie zu richten. […] 76 Martina Kofer <?page no="77"?> Als ich auf dem Stuhl sitze, nennt sie mich Azizam, fragt mich, in welcher Form ich meine Augenbrauen haben möchte, und ich antworte leise, Ich weiß nicht. Sage es mit dieser Stimme, die kindlicher wird, wenn sie Persisch spricht, weil ich inzwischen weiß, dass ich einen Akzent habe, dass man mir anhört, dass da was nicht stimmt mit mir und meinen Worten. Wo ich doch dachte, was ich als Kind konnte, das kann ich auch jetzt noch. Aber entweder konnte ich es als Kind gar nicht richtig oder das war ein Trugschluss, und es bringt auch nichts, sich kindlicher zu stellen, aber eine bessere Lösung ist mir noch nicht eingefallen. (164) Laleh macht hier die Erfahrung der Vergänglichkeit und der Möglichkeit des Verlusts von ‚Muttersprache‘ und ahnt schon, dass sich die Zeitlosigkeit der ‚Muttersprache‘ als „Trugschluss“ erweist. Dabei hat sie die sprachliche Norm insofern internalisiert, als dass sie selbst das Sprechen mit Akzent, das sozial als ‚unrichtiges‘ und ‚unreines‘ Sprechen gewertet wird, als ein Merkmal von Differenz, Nichtzugehörigkeit und ‚Fremdheit‘ fürchtet. Die Verunsicherung, die mit dem individuellen Empfinden und der erlernten Norm der nicht zu verlernenden ‚Muttersprache‘ einhergeht, wird hier versucht, mit einer Selbst‐ inferiorisierung auszugleichen, was jedoch als Scheinlösung erkannt wird. Laleh wird sich zunehmend bewusst, dass es ihr - trotz der emotional engen Bindung an die familiären Bezugspersonen - an sozialem Wissen mangelt, um auf die sprachlichen Emotionsäußerungen der Norm entsprechend zu reagieren. Nach Simone Winko gehört dazu ein „von kulturellen Normen geprägtes Wissen darüber, in welchen Situationen ein Mensch welche Emotionen fühlen sollte und welche Form des Ausdrucks als angemessen gilt“ (Winko 2019: 397 f.). Diese Erfahrung macht Laleh im Austausch mit ihren Familienangehörigen im Iran, wobei sie hier vor allem Unsicherheit empfindet, wie sprachlich auf die Emotionsäußerungen zu reagieren ist. Dabei wird ihr auch bewusst, dass die sprachlich-kulturelle Erwartung/ Norm nicht im Einklang mit ihren tatsächlich empfundenen Gefühlen ist: Du bist so schön, wie schön sie ist, wie schön ihr Gesicht, sagen die Frauen und zwinkern Mama zu, reißen mich aus meinen Gedanken. Ich weiß nicht, was man dazu sagt, sagt man, Danke, sagt man, Das stimmt doch alles überhaupt nicht, sagt man einfach nichts und schweigt? Mama, die für mich antwortet, weil es so lange dauert, bis mir die persischen Worte einfallen, sagt, Eure Augen sehen es schön. Eine Floskel, auf die sie warten, wenn sie Dinge sagen, die wie Komplimente klingen, obwohl sie auch Lügen sein könnten, die man zu jedem sagt. Nur ich kenne sie nicht, die Standardsätze. Wo hätte ich sie auch lernen sollen? Dabei würde ich auch gerne wie Mama sagen, Eure Augen sehen es schön, aber es würde sich falsch anfühlen, denn es wäre nachgeplappert. […] Na klar Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ,Muttersprachlichkeit' 77 <?page no="78"?> sehen eure Augen es schön, will ich schreien, weil es endlich etwas Wahres wäre. (Bazyar 2016: 140 f.) Laleh enkodiert dabei die Emotionsäußerungen auf Persisch insofern bewusst falsch, als dass hier eine Wort-für-Wortübersetzung und Enkodierung eher ihrem ambivalenten emotionalen Empfinden entspricht. So wird deutlich, dass „[t]atsächlich empfundene Emotionen und Emotionsmanifestationen […] nicht gleichzusetzen [sind]: Emotionen werden in der Regel den Emotionsregeln ad‐ äquat manifestiert“ (Hillebrandt 2011: 39). Dies wird besonders an der Reflexion der Telefonate des Kinds Laleh mit ihrer Großmutter ersichtlich: Zu dem Zeitpunkt war mir auch schon klar, dass wir nicht einfach nur in Urlaub gefahren waren, dass auch das eine Lüge der Erwachsenen gewesen war. […]. Aber es gab keine Puppe und keinen Urlaub und keine Hühnersuppe, und ich war so wütend, dass Madar Bosorg nicht da war, dass ich dachte, sie ist eine fiese, fiese, alte Frau, die Hühner schlachten lässt und Kinder wegschickt, und dass ich ihr das sagen werde, am Telefon. Aber als ich später mit ihr telefoniert habe, und ich weiß nicht, vielleicht war ich vier oder sieben oder dreizehn, und ihr das sagen wollte, da saßen Mama und Papa neben mir und diktierten mir, was ich sagen soll. Kheyli mamnun, merci, musste ich sagen, vielen Dank, es geht mir gut, Kheyli mamnun, be hame salam beresoonin, ein Gruß an alle. Dabei wollte ich sagen, Ihr habt uns allein gelassen, aber da saßen Mama und Papa neben mir, sie wirkten klein, sahen selbst aus wie Kinder, und da habe ich es gelassen. (Bazyar 2016: 137) Während hier Laleh ihre Emotion sehr direkt durch das prototypische Emoti‐ onswort „wütend“ ausdrückt, erscheint das Persische auf der semantischen Textoberfläche in Form der Routineformeln Kheyli mamnun und be hame salam beresoonin. Der Sprachwechsel verweist hier auf die Kluft zwischen dem ‚wahren‘ emotionalen Erleben der Erzählerin (Wut, Empörung) und der normativen Erwartungshaltung durch die Eltern, während die Floskelhaftigkeit auch hier auf den ‚Schein‘ und die Täuschung, die Laleh durch die Familie erfahren hat und mit der sie auch die Familie täuschen muss, verweist. Deutlich wird die emotionale und dependente Bindung an die Figuren, die bewirkt, dass Laleh sich der Sprecher: innengruppe gegenüber sprachlich loyal verhält. In allen Texten wird deutlich, dass die ‚Muttersprache‘ nicht die Sprache ist, die mit positiveren Emotionen assoziiert wird. Vielmehr zeigt sich, dass der Kontext des Erwerbs und die hier erfahrenen Sprachnormsetzungen und repressiven Maßnahmen eine entscheidende Rolle dafür spielen, wie ‚Mutter‐ sprache‘ von den Sprecher: innen wahrgenommen wird. Darüber hinaus spielt der emotionale Erfahrungsraum, der mit der Sprache zusammenhängt, eine 78 Martina Kofer <?page no="79"?> Rolle. Wurden Erfahrungen von Verlust, Traumata etc. in der ‚Muttersprache‘ erfahren, zeigt sich hier eine größere Hürde, diese wieder zu sprechen. 4 Didaktische Überlegungen und Ziele In den Texten zeigt sich, dass die individuellen Emotionen, die durch sinnliche Erfahrungen mit der ‚Muttersprache‘ hervorgerufen werden, mit dem jeweiligen situativen - auch kulturellen - (sprach)biographischen Kontext und gesell‐ schaftlichen Normsetzungen und Machtverhältnissen verwoben sind. Diese Verwobenheit bezeichne ich hier in Anlehnung an Yasemin Yıldız als den ‚affek‐ tiven Knoten Muttersprache‘ (vgl. Yıldız 2012: 10) Für eine Thematisierung des emotionalisierten Konzepts ‚Muttersprache‘ ist es von daher wichtig, seine emo‐ tionalen und ideologischen Implikationen als „historische Artefakte“ und nicht als „transhistorische Konstanten“ zu vermitteln (vgl. ebd.). Die Deutschdidaktik müsste sich im Sinne eines kritischen Umgangs mit ‚Muttersprache‘ der Aufgabe stellen, „das ‚national Eigene‘ zu dekonstruieren und die Vielfalt der Einflüsse nicht nur historisch nachzuweisen, sondern […] als das Merkmal von kultureller und literarischer Entwicklung darzustellen“ (Wilkens/ Neumann 2003: 85). Denn das Konzept ‚Muttersprache‘ ist als Teil einer konstruierten „natio-ethno-kultu‐ rellen“ Wir-Identität (Mecheril 2010: 14) zu verstehen, deren Reproduktion eine plural und postmigrantisch ausgerichtete Deutschdidaktik ablehnen sollte (vgl. Hodaie 2022: 137). Zu berücksichtigen sind vielmehr sprachliche „Vielheiten, Brüche und Widersprüche“ (ebd.) postmigrantischer Identitäten, die sich auch in den Texten gezeigt haben. Diese können im Unterricht als solche thematisiert und in Beziehung gesetzt werden mit der historischen Entstehungssituation des Konzepts ‚Muttersprache‘ und seiner Transformationen. Der zusätzliche Fokus auf die Emotionen der Figuren ermöglicht, dass die Analyse nicht rein auf der sprachgeschichtlichen und kulturideologischen Ebene verläuft, sondern den Fokus auch auf die literar-ästhetische Umsetzung richtet. Dabei spielt mit Bezug auf eine mehrsprachige literarische Ästhetik die Frage, wie Emotionen sprach‐ lich und literarisch im Text repräsentiert werden und inwiefern anderssprachige Einsprengsel oder mehrsprachige Figurenrede Emotionen auslösen oder im Sinne des Affective borrowing eingesetzt werden, eine entscheidende Rolle. Dazu müssen Schüler: innen zunächst lernen, Sprachwechsel und anderssprachige Einsprengsel im literarischen Text nicht zu überlesen, sondern sie bewusst wahrzunehmen, zu enkodieren „und sie dann als künstlerisches Stilmittel und Teil der Fiktionalität des Textes zu analysieren“ (Kofer 2023: 218). So kann der Analysefokus auf die von den Figuren empfundenen Emotionen und die Form ihrer literarischen Darstellung hier als Brücke zum Verständnis individueller Affektive und kulturpolitische Dimensionen von ,Muttersprachlichkeit' 79 <?page no="80"?> Auswirkungen von Sprachdominanzen und der literar-ästhetischen Wirkung von Mehrsprachigkeit genutzt werden. Um das individuelle emotionale Erleben der Figuren im Zusammenspiel mit ihrem sprachlichen Handeln differenziert und in seiner Ambivalenz begreifbar zu machen, ist es dabei notwendig, kontextuelle und historische bzw. diskursive Zusammenhänge zu verdeutlichen. Als Lernziele können vor diesem Hintergrund formuliert werden: ● Die Schüler: innen erkennen, dass lebensweltliche Mehrsprachigkeit und die empfundene Neugier und Freude an mehr Sprachen oftmals durch die Normierung und Hierarchisierung von Sprache(n) begrenzt wird, ● die Schüler: innen erkennen, dass Schuld- und Schamgefühle, die die Figuren wegen ‚falschen‘ Sprechens empfinden, weniger mit individueller Inkom‐ petenz statt mit sozialen Normsetzungen und Bewertungsmechanismen von Sprache in Zusammenhang stehen, ● die Schüler: innen erkennen, dass ‚Muttersprache‘ nicht zwangsläufig die Sprache ist, die am besten beherrscht wird und mit der sich Emotionen am besten ausdrücken lassen, ● die Schüler: innen erkennen, dass narrative Verfahren literarischer Mehr‐ sprachigkeit als Mittel eingesetzt werden können, um Gefühlsambivalenzen der Figuren darzustellen, ● die Schüler: innen erkennen, dass der Sprachwechsel selbst einen emotio‐ nalen Konflikt der Figur darstellen kann. Eine solche Zielsetzung im Unterricht würde zum einen die literar-ästhetische Analyse von Mehrsprachigkeit und Emotionen in den Mittelpunkt stellen, zum anderen aber auch einen hegemoniekritischen Blick auf sprachliche Normsetzungen, die Konstruiertheit von ‚Muttersprachlichkeit‘ und die auch emotionalen Konsequenzen für die Figuren, die aus diesen Normsetzungen und den Bewertungen ihrer Sprachlichkeit resultieren, schulen. Literatur Acker, Marion/ Fleig, Anne/ Lüthjohann, Matthias (Hrsg.) (2019). Affektivität und Mehr‐ sprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr Francke Attempto. Ahlzweig, Claus (1994). Muttersprache - Vaterland. Opladen: Westdeutscher Verlag. Arndt, Ernst Moritz (1813). Über Volkshaß und den Gebrauch einer fremden Sprache. Leipzig: Fleischer. Bazyar, Shida (2016). Nachts ist es leise in Teheran. Köln: Kiepenheuer und Witsch. 80 Martina Kofer <?page no="81"?> Bodrožić, Marica (2016). Sterne erben, Sterne färben. 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New York: Fordham University Press. 82 Martina Kofer <?page no="83"?> Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen Ferenc Vincze Abstract: In contemporary German, Romanian and Hungarian literature, a tendency of multilingualism representations can be shown, whose different forms can be grasped in the poetic and stylis-tic structure of the works. The paper focuses on the question of how the selected prose works (Cătălin Dorian Florescu: Der kurze Weg nach Hause, Radu Ţuculescu: Povesti‐ rile mameibătrîne, and Sándor Zsigmond Papp: Gyűlölet) stage latent multilingualism. Methodo-logically, the emergence and presentation of the Romanian, Hungarian and German lan-guages will be examined, and these phenomena will be compared. These novels recurrently stage latent multilingualism as a thematically and poetically emphasised element, and thereby a heterogeneous or hybrid identity and culture is also brought to the fore. Literary multilin-gualism research and transculturalism serve as a theoretical background, and the article shows that the stagings of latent multilingualism can also be interpreted as cultural transfer phenomena. Keywords: Latente Mehrsprachigkeit, Transkulturalität, Interkulturalität, Migrations‐ literatur, Sprach-wechsel, Sprachmischung 1 Interkulturelle Aspekte der Mehrsprachigkeit Mehrsprachigkeit ist in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen For‐ schungsthema der inter- oder transkulturellen literaturwissenschaftlichen Un‐ tersuchungen geworden. In Bezug auf die Forschungsperspektiven und -ergeb‐ nisse, die nach wie vor zahlreich sind, lässt sich grundsätzlich feststellen, dass die Forschungsfragen zur literarischen Mehrsprachigkeit im Wesentlichen <?page no="84"?> aus zwei Hauptperspektiven konzipiert werden. Wie Bianka Burka in ihrer Monographie zum Werk von Terésia Mora darlegt, befasst sich die eine Per‐ spektive mit dem sprachlichen Hintergrund der Autorinnen und Autoren, ihrem Sprachwechsel, ihrer mehrsprachigen literarischen Kunst, die andere mit Inhalt, Form und Typologie der Mehrsprachigkeit in literarischen Texten (vgl. Burka 2016: 36), d. h. mit den poetischen Funktionen und Lösungen für die Darstellung der Mehrsprachigkeit. Viele Interpretationen betonen aber auch, dass die Erforschung von Mehrsprachigkeit grundsätzlich auch durch die Notwendigkeit motiviert ist, kulturelle Differenzen zu erfassen (vgl. Dembeck 2017a: 17), und dass unter der Ägide der interkulturellen Germanistik - wie Esther Kilchmann betont - die Untersuchung der Funktionen anderer Sprachen in deutschen literarischen Texten, sei es literatur- oder kulturwissenschaftlich, zunehmend an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Kilchmann 2012: 13). Die ungarische Literaturwissenschaft, die auch aus einer vergleichenden Perspektive das Verhältnis von Kulturen und Sprachen untersucht, hat sich wie die deutsche Literaturwissenschaft in den letzten zwanzig Jahren auf die Erforschung der literarischen Mehrsprachigkeit konzentriert. Während jedoch der deutsche literaturwissenschaftliche Diskurs seine Fragen im Wesentlichen aus der Perspektive des Konzepts der Interkulturalität als Phänomen und Ansatz formuliert, orientiert sich der ungarische literaturwissenschaftliche Diskurs vor allem an Wolfgang Welschs Konzept der Transkulturalität und versucht vor allem, die literarischen Phänomene der Mehrsprachigkeit entlang dieses Konzepts zu beschreiben (siehe Welsch 2017). Wenn Zoltán Németh im Einleitungstext des Studienbandes mit dem Titel Transzkulturalizmus és bilingvizmus az irodalomban [Transkulturalität und Bilinguismus in der Lite‐ ratur] den Einfluss der Transkulturalitätsperspektive auf die Denkweise der ungarischen Literaturwissenschaft und ihre Möglichkeiten erörtert, weist er im Wesentlichen darauf hin, dass dieser theoretische Rahmen die Möglichkeit eröffnet, aus dem Bereich der nationalen Kultur und Literatur herauszutreten, und andere Wege der Kanonisierung sowohl für einzelne Autor: innen und Kunstwerke als auch für ungarische (Minderheiten-)Literaturen, die früher als Inselphänomene dargestellt wurden, bietet (vgl. Németh 2018: 14 ff.). Im Rahmen dieses theoretischen Ansatzes wurde die Untersuchung der literari‐ schen Mehrsprachigkeit zu einem Schwerpunkt, was unter anderem durch die zwei thematischen Zeitschriftenausgaben deutlich wird, die 2022 in englischer (Görözdi et al. 2022) und ungarischer (Kovács Kiss 2022) Sprache erschienen sind und die die bisherigen ungarischen Forschungen teilweise zusammenfassten. Neben der deutschen und ungarischen Literaturwissenschaft hat auch die rumänische Literaturwissenschaft ein großes Interesse an inter- und transkul‐ 84 Ferenc Vincze <?page no="85"?> 1 Vgl. „The problem is compounded by the difficulties Romanian-language writers from the Republic of Moldova, Bukovina, or the Serbian sector of the Banat region have faced historically in their struggle to integrate into Romanian literature. Conversely, one might ask if Romania’s Hungarianand German-language poets or novelists could be included in the Romanian literary system, or if Romanian writers from Serbia’s Timoc Valley are part of Serbian literature. Moreover, once we begin to wonder along these lines, the inherited definitions of this European area’s national literatures and national literary histories no longer seem dependable either, and so we are compelled to further ask: How helpful are such notions and representations in the twenty-first century? “ (Diaconu 2019: 135) turellen Phänomenen einerseits und an der Darstellung der Mehrsprachigkeit im rumänischen Kontext andererseits gezeigt. Ein herausragendes Beispiel ist der auf Englisch erschienene Band Romanian Literature as World Literature, in dem Mircea A. Diaconu auf die Komplexität der Literaturgeschichtsschreibung multikultureller Regionen und die Zugehörigkeit der dort produzierten Literatur hinweist 1 und die Charakteristika osteuropäischer Literaturen prägnant zusam‐ menfasst: „Extraterritorialism, intraterritorialism, and frequently also biif not plurilingualism: these are the three main attributes simultaneously characte‐ ristic of every modern-era East European ethnic or minority literature“ (Diaconu 2019: 137). In dieser kurzen Aussage ist neben der Regionalität natürlich auch die Zwei- oder Mehrsprachigkeit ein unausweichlicher Bestandteil, und gerade dieser Text, der die rumänische Literatur problematisiert, macht die Wahl des Themas und des Textes für diese Studie einfacher zu argumentieren. Wie die deutschen, ungarischen und rumänischen literaturwissenschaftli‐ chen Ansätze zeigen, taucht die literarische Repräsentation von Mehrsprachig‐ keit in diesen literarischen Diskursen aus den Perspektiven der interund/ oder transkulturellen Fragestellungen auf. Die Interpretationen konzentrieren sich vor allem auf die andere(n) oder fremde(n) Sprache(n), die in den deutschen, un‐ garischen oder rumänischen literarischen Texten vertreten sind. Eine parallele, vergleichende Analyse der mittel- und osteuropäischen Literaturen ist in der Forschung bisher kaum zu finden. Betrachtet man jedoch die Literaturen dieser Region - wofür die Feststellung von Johann Strutz auf den Alpen-Adria-Raum bezogen, dass „die literarische Situation […] sowohl in regionaler als auch in nationaler Hinsicht vom Nebeneinander, Kontakt und Konflikt verschieden‐ sprachiger Kulturen mitbestimmt [wird]“ (Strutz 1996: 181), auch gültig sein kann - und die literarischen Texte, die diese Region repräsentieren, so kann man sagen, dass diese drei Sprachen historisch und gesellschaftlich eng miteinander verbunden waren und sind, was durch die mehrsprachigen Darstellungen in den literarischen Texten bestätigt wird. In der vorliegenden Studie werde ich Pro‐ satexte untersuchen, die die andere(n) Sprache(n) in einer wechselseitigen, aber Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen 85 <?page no="86"?> 2 Dabei ist es wichtig, auf die Unterscheidung zwischen „Migrantenliteratur“ und „Migra‐ tionsliteratur“ hinzuweisen, wie Heidi Rösch es tut: „Migrationsliteratur definiert sich in Abgrenzung zu Migrantenliteratur nicht entlang der Autorenbiographie, sondern wird vom konkreten (Einzel-)Werk hergedacht, das sich auf Migration bezieht. Es kann sein, dass ein Autor oder eine Autorin (mit oder ohne Migrationshintergrund) nur ein migrationsliterarisches Werk verfasst und die anderen Werke dieses Label nicht verdienen - wie Rainer Werner Fassbinder mit seinen frühen Filmen Katzelmacher (1969) und Angst essen Seele auf (1974), die sich mit Diskriminierung in der Migrations‐ gesellschaft befassen. Migrationsliteratur bezeichnet also - ähnlich wie das Konzept der Exilliteratur - nicht zwangsläufig das Gesamtwerk. Da deutlich mehr Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund migrationsgesellschaftliche Themen aufgreifen, ergibt sich eine große Schnittmenge zwischen Migrations- und Migrantenliteratur. Dennoch ist und bleibt Migrationsliteratur als „Literatur der Betroffenheit“ (Biondi und Schami 1981) eine Literatur, die Betroffenheit auf individueller, kollektiver, vor allem aber migrationsgesellschaftlicher Ebene zum Ausdruck bringt“ (Rösch 2019: 339). auch latenten Weise als die Andere(n) oder den Fremden darstellen. Ich werde versuchen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die in diesen literarischen Darstellungen von Mehrsprachigkeit zu beobachten sind, zu identifizieren und aufzuzeigen. Das interpretierte Korpus umfasst die Romane von Cătălin Dorian Florescu Der kurze Weg nach Hause, Radu Țuculescu Povestirile mameibătrîne und Sándor Zsigmond Papp Gyűlölet. Bei der Analyse der oben genannten Romane unter dem Gesichtspunkt der Mehrsprachigkeit ist kurz zu erwähnen, dass diese Texte zum einen auch unter dem Aspekt multikultureller Konstruktionen von Regionen interpretiert werden können, zum anderen thematisieren zwei von ihnen die Migration, d. h. Auswanderung und Einwanderung sowie die Rückkehr in die zurückgelassene Heimat. In diesem Zusammenhang kann man den Begriff „Migrationsliteratur“ 2 verwenden. Die Erwähnung der multikulturellen Konstruktionen von Regionen und der Migrationsliteratur, d. h. literarischer Werke, die die Migration selbst thematisieren, ist darum wichtig, weil die in diesem thematischen Rahmen dargestellten Situationen die Mehrsprachigkeit in den untersuchten Texten motivieren: Radu Ţuculescus Roman spielt im Wesentlichen im Raum (in einem fiktiven Dorf) einer kleinen ungarischen Gemeinschaft in einem mehrheitlich rumänischen Umfeld. Cătălin Dorian Florescus Text schildert die Rückkehr eines jungen rumänischen Mannes, der zuvor in die Schweiz emigriert war, nach Rumänien, einschließlich Timisoara, und wird auf dieser Reise von seinem Schweizer Freund begleitet. Die Rückkehr nach Rumänien bildet auch den Rahmen für die Geschichte des Protagonisten, der zuvor in Zsigmond Sándor Papps Roman nach Ungarn emigriert war. Der multikulturelle Raum und der Migrationshintergrund sind also entscheidend für die thematische Rahmung dieser Texte, und bei der Konstruktion dieser Räume bzw. der Skizzierung 86 Ferenc Vincze <?page no="87"?> 3 Vgl. „Als Sprachwechsel ist zu bezeichnen, wenn in einem Text Segmente, die unter‐ schiedlichen Idiomen zuzuordnen sind, aufeinander folgen, wohingegen man von Sprachmischung bei solchen Texten oder Textteilen sprechen kann, in denen zwei Idiome zu unterscheiden sind, ohne dass sie sich einzelnen Segmenten zuordnen ließen“ (Dembeck 2017b: 125). 4 Vgl. „In der Beschreibung von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede muss auf die Differenz zwischen latenter und manifester Mehrsprachigkeit zurückgegriffen werden, wie sie Giulia Radaelli entworfen hat“ (Dembeck 2017c: 167). von Migrationshintergründen spielt die Mehrsprachigkeit, genauer gesagt die Beziehung zwischen den Sprachen, eine bedeutende Rolle. Im Hinblick auf die Interpretation der oben genannten Prosatexte ist es wichtig zu betonen, dass sich der Umfang der Analyse auf die Untersuchung von Sprachrepräsentationen beschränkt: Bei den analysierten Texten geht es mir in erster Linie um die Rea‐ lisierung von latenter Mehrsprachigkeit. Daher konzentriere ich mich bei der Analyse auf die poetischen Techniken und Praktiken, die die Struktur und die Prosasprache dieser Texte durch die Darstellung der latenten Mehrsprachigkeit prägen. Die hier zugrunde liegende Analyseperspektive der vergleichenden Untersuchung bringt - aufgrund meiner Hypothese - solche transkulturellen Phänomene der Mehrsprachigkeitsrepräsentationen hervor, wodurch kulturelle und literarische Transfererscheinungen identifiziert werden können. Was die Mehrsprachigkeit in erzählenden Texten betrifft, so lassen sich meh‐ rere Kategorien unterscheiden, wie z. B. Sprachwechsel und Sprachmischung 3 oder Mehrsprachigkeit in der Figurenrede (vgl. Dembeck 2017c: 167-192), von denen einige in diesen Texten beispielhaft dargestellt werden können. Der Fokus der vorliegenden Studie liegt jedoch auf der Darstellung latenter Mehrsprachig‐ keit, da alle drei Romane diese Form zur Darstellung einer anderen Kultur und einer anderen Sprache nachdrücklich wählen. Till Dembeck (ebd.: 167), der sich unter anderem auf den Ansatz von Giulia Radaelli (vgl. 2011: 61) bezieht, weist darauf hin, dass man zwischen manifester und latenter Mehrsprachigkeit 4 unterscheiden muss, indem man die Äußerungen der Figuren kategorisiert. Während sich die erste unter anderem durch den bereits erwähnten Sprach‐ wechsel oder die Sprachmischung manifestiert, wird die zweite durch zahlreiche Beispiele der Praxis der Übersetzung oder deren Reflexion in einer anderen Sprache veranschaulicht, wobei letztere, wie Giulia Radaelli es ausdrückt, auf den ersten Blick einsprachig an der Oberfläche des Textes ist: Latente Mehrsprachigkeit dürfte die häufigste Form von literarischer Mehrsprachig‐ keit überhaupt sein. Ein Text ist immer dann latent mehrsprachig, wenn andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind; er weist also auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf. (ebd: 61) Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen 87 <?page no="88"?> 5 Hier verwende ich den Begriff von Martínez und Scheffel: „Anders als im Fall der faktualen Erzählung bezeichnen die herkömmlichen Begriffe ‚Erzähler‘ bzw. ‚Leser‘ im Fall der fiktionalen Erzählung also nicht notwendig eine bestimmte männliche oder weibliche Person, sondern sind grundsätzlich als neutrale Bezeichnungen für eine Rolle zu verstehen, die auf ganz verschiedene Weise ausgefüllt werden kann (insofern sind die schwerfälligen, aber neutralen Formulierungen ‚narrative Instanz‘ bzw. ‚narrativer Adressat‘ in der Sache treffender […]“ (Martínez/ Scheffel 2012: 88). 6 Vgl. „Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man aus dem Text erschließen kann, dass ein Gespräch in einer anderen Sprache als derjenigen geführt wird, in der der Text geschrieben ist, dies aber nicht explizit erwähnt wird. Ein Aufsatz von Meir Sternberg aus den 1980er Jahren hat ausführlich und wirkmächtig erläutert, dass es viele Verfahren gibt, anderssprachige Rede so wiederzugeben, dass sie auch einem hypothetischen einsprachigen Leser verständlich bleibt. So kann Mehrsprachigkeit an der Textoberfläche latent bleiben, zugleich aber unübersehbar sein“ (Dembeck 2017c: 167 f.). 7 Ausführlicher zu Rückkehrerzählungen Centner (2021) Auch wenn die Einsprachigkeit der Textoberfläche unbedingt berücksichtigt werden muss, darf man den/ die ideale Leser: in, den/ die der Text konstituiert und der/ die durch diese Lösung als im Wesentlichen einsprachig vorausgesetzt wird, nicht außer Acht lassen. So schafft der Text einen narrativen Adressaten (vgl. Martínez/ Scheffel 2012: 88) bzw. eine narrative Adressatin, 5 der/ die nur eine Sprache versteht, wobei ihm/ ihr die andere Sprache fremd und unvertraut ist, und durch das Erkennen der latenten Sprache wird der/ die Adressat: in mit seiner/ ihrer Einsprachigkeit, d. h. mit der Erfahrung der Mehrsprachigkeit konfrontiert. In diesen Fällen findet eine Reflexion über die andere Sprache oder sogar über einen scheinbar nicht expliziten Sprachwechsel statt, während der Text selbst sozusagen monolingual bleibt. Denn auf der Ebene der tatsächlichen Erfahrung wird die andere Sprache nicht wahrnehmbar, wie Dembeck (2017c: 167 f.) betont. 6 In diesem Aufsatz werde ich daher Repräsentationen der so definierten latenten Mehrsprachigkeit erörtern und mich dabei auch auf das Verhältnis dieser Repräsentationen zum Narrativ der Texte konzentrieren. 2 Die sprachliche Erfahrung von Rückkehrerzählungen Die Romane von Cătălin Dorian Florescu und Zsigmond Sándor Papp sind auf der thematischen Ebene durch die Betonung der Rückkehrerzählung 7 spekta‐ kulär miteinander verbunden, da der Plot beider Romane von der Inszenierung der Rückkehr des Protagonisten in seine frühere Heimat, d. h. sein Heimatland, gerahmt wird. Während Ovidiu, der Protagonist von Der kurze Weg nach Hause (Florescu 2002), von Zürich über Budapest nach Temeswar kommt, um seine Heimatstadt zu besuchen, kehrt die Hauptfigur von Gyűlölet [Hass] (Papp 2018), 88 Ferenc Vincze <?page no="89"?> Márton Loboncz, zunächst nach Rumänien zurück, um an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen, und besucht dann eine fiktive Stadt namens Dreghin, um nach den Spuren seines lange verloren geglaubten Vaters zu suchen. In beiden Fällen schaffen die Reise und der Wechsel des Landes eine Situation, in der aus der Perspektive des Protagonisten eine von der Romansprache abweichende, andere Sprache auftaucht. Ein wichtiger Unterschied ist jedoch in der anderen Sprache zu erkennen, die aus der Perspektive der beiden Figuren gezeigt wird: Während die Geschichte von Ovidiu, wie sie im Roman erzählt wird, zeigt, dass seine Muttersprache Rumänisch ist, ist die von Márton Loboncz Ungarisch. Der homodiegetische Erzähler des deutschen Textes erzählt also in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache, und es ist tatsächlich die Sprache, die in der verlassenen Heimat gesprochen wird, nämlich Rumänisch, die die andere Sprache ist. Für den Erzähler des ungarischen Textes sind es die räumliche Umgebung der Ankunft und die Sprache dieser Umgebung, die die Fremdheit ausmachen. Insofern ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Romanen das Verhältnis der Protagonisten zur rumänischen Sprache, denn während sie in dem einen Fall für die Heimat, die Muttersprache steht, repräsentiert sie im anderen Fall Fremdheit, das Anderssein. Während in Florescus Roman in den ersten beiden Kapiteln (Mangalia, Zürich) rumänische Wörter auftauchen und der Text des Romans somit Sprach‐ wechsel und Sprachmischung in der Figurenrede sowie in der Narration ein‐ setzt, spielt eine der ersten markanten Szenen in Budapest. Ovidiu verrät dem Mädchen, das er dort kennenlernt, nicht seine rumänische Herkunft, sondern bezeichnet sich als Schweizer, und in der Enthüllung der eigenen Sprache und damit der eigenen Identität werden das Verschweigen der eigenen Sprache und die Gründe dafür offengelegt: »Ich weiß, daß du kein Schweizer bist«, sagte sie. »Ich weiß es, weil Luca viel über euch geredet hat. Du hast mich belogen.« […] Ihr Blick bohrte sich weiter in mein Fleisch, das Herz zerschmetterte meinen Brust‐ korb, und kein Fernseher war in der Nähe. Ich mußte gleich sagen, daß ich Angst gehabt hatte. Weil Ungarn Rumänen nicht mochten. Und daß ein bißchen davon an uns hängenbleiben würde. »Und du hast mich zappeln lassen, obwohl du es wußtest«, sagte ich statt dessen. »Und du mich glauben lassen, was du wolltest.« »Du kennst die Antwort.« »Du wolltest mir gefallen mit deinem Schweizersein.« (Florescu 2002: 106 f.) Es ist das Verschweigen der eigenen Identität und damit der Sprache, das hier in den Vordergrund tritt und die latente Mehrsprachigkeit vorwegnimmt, die Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen 89 <?page no="90"?> später in den Mittelpunkt rücken wird. Das Schweigen, das die Beziehung zu der weiblichen Figur des Zitats, Zsófia, bestimmt, wird durch die imaginierte negative Vorahnung der eigenen Identität aus der Perspektive des Anderen beeinflusst, wie der zitierte Ausschnitt belegt. Darüber hinaus wird die mehr‐ sprachige Bedeutung der Szenen in Budapest durch das Nebeneinander zweier latenter Sprachen (und dadurch der mit diesen Sprachen verbundenen Kultur und historischen Ereignisse) bestimmt, während beide Sprachen eigentlich nur an der Oberfläche des Textes in Form von Namen (Zsófia, Ovidiu usw.) präsent sind und ansonsten durch die Vermittlung des Deutschen verdeckt werden. Später, im Timişoara-Kapitel, in der Szene des Grenzübergangs, wird die Vermischung der Sprachen und die erzählte, d. h. die latente Mehrsprachigkeit, wieder teilweise offenbart, wenn wir Ovidius Gespräch mit dem Grenzbeamten zwar auf Deutsch lesen, aber es eindeutig auf Rumänisch geführt wird, wie auch im Dialog zwischen Luca (Ovidius Freund) und der Grenzbeamtin deutlich wird: Luca meinte, das sei aber nett, und als er hörte, daß sie das Geld nicht angenommen hatte, stieg er aus dem Wagen und holte aus dem Kofferraum eine Packung Damen‐ strümpfe. Er schob sie ihr durch die kleine Luke zu. »Do you want this? Wie sagt man es auf rumänisch (sic! )? « fragte er mich. »Ciorapi de damă.« »Do you want ciorapi de damă? « »Yes.« (Florescu 2002: 157) Dieses Zitat macht die Darstellung von Mehrsprachigkeit in mehrfacher Hin‐ sicht spannend. Zum einen wird das rumänische Textelement ‚ciorapi de damă‘ bereits in der Erzählung der Szene explizit aufgelöst, bevor es im Dialog auftaucht, zum anderen handelt es sich um ein typisches Beispiel für Sprach‐ wechsel und Sprachmischung in der Figurenrede unter Einbeziehung einer Vermittlungssprache, nämlich des Englischen. Abgesehen davon, dass diese Szene deutlich auf Lucas Anwesenheit und, nicht zufällig, auf Lucas mangelnde Rumänischkenntnisse hinweist, unterstreichen die Erläuterung (Übersetzung) der Damenstrümpfe, mit denen der Grenzbeamte korrumpiert wird, und die Nicht-Erläuterung der englischen Textelemente auch die bereits erwähnte Geste der Konstruktion: Hier geht es um einen sich in einer globalisierten, von Englisch als Lingua Franca geprägten Welt befindenden narrativen Adressaten, der Englisch, aber nicht Rumänisch versteht. Die Hervorhebung von Lucas Rolle kann deshalb wichtig werden, weil es ihre Präsenz ist, die die latente Mehrsprachigkeit im weiteren Verlauf der Handlung immer wieder erfahrbar macht. Ab diesem Zeitpunkt ist Luca eine konstante Figur in der Geschichte, in der dem Erzähler weder die Erzählsprache (Deutsch) 90 Ferenc Vincze <?page no="91"?> 8 Die Interpretierbarkeit der Übersetzung als Komprimierung, als Auslassung, wird an mehreren Stellen des Romans entscheidend sein; später wird z. B. die Erzählung eines Bekannten über die revolutionären Ereignisse ebenfalls in komprimierter Form in zwei oder drei Sätzen übersetzt, so dass ihre Nuancen und Details im Prozess der Übersetzung verloren gehen. Vgl.: »Was sagt er? « fragte Luca. »Er sagt, daß am ersten Tag, als hier geschossen wurde, fast hundert Menschen starben, Kinder, Frauen und alte Leute. Es wurde beliebig aus Helikoptern und Panzern geschossen. Auch dort unten starben welche« (Florescu 2002: 207). noch die Sprache eines Großteils der Dialoge (Rumänisch) fremd ist. So wird die Mehrsprachigkeit letztlich immer wieder durch Lucas Anwesenheit erfahren, vielfach in Form von thematischen Reflexionen über die Übersetzung, die an der Textoberfläche erscheinen und über das Dolmetschen. Eine der ersten latenten Formen der Darstellung der rumänischen Sprache ist die Tramperszene an der Grenze, die sich bis zur Ankunft in Arad fortsetzt. Die ganze Zeit über unterhält sich der Anhalter mit Ovidiu auf Rumänisch und erzählt auf Rumänisch einen Teil der Ereignisse der Revolution von 1989 und dann vom März 1990 in Târgu Mures. Aber Ovidiu vermittelt Luca all dies nur teilweise oder gar nicht. Ein wichtiges Element dieser Vermittlungs- oder Übersetzungsszene ist, dass der Text den Sprachwechsel nur auf der inhaltlichen Ebene anzeigt, so dass die andere Sprache nur latent erscheint: »Wo sind wir hier gelandet, Luca? « fragte ich leise. »Der redet nur über Köpfe spalten, Messer wetzen, verkrüppeln und verwüsten.« Luca zuckte die Achseln. »Das ist furchtbar«, ergänzte ich auf rumänisch. »Furchtbar und im Fernsehen«, fuhr Popa atemlos fort. »Das gab’s früher nicht.« (Florescu 2002: 163) Das auf die Frage an Luca folgende Resümee, also der Satz über das Töten, Stechen und Zerstören, fasst die Erzählung des Anhalters über die Ereignisse in Târgu Mures über mehrere Seiten hinweg sehr prägnant zusammen, wobei das Zitat auch den Sprachwechsel vom Deutschen ins Rumänische zeigt, der - anders als beim Dialog mit dem Grenzer auf Englisch - an der Oberfläche des Textes nicht ersichtlich ist. Während hier der Sprachwechsel deutlich gemacht wird, ist die Tatsache der Übersetzung weniger deutlich; wir können nur vermuten, dass der Satz, der von Elend und Mord spricht, als Überset‐ zung der Erzählung verstanden werden kann. 8 Dies wiederum zeigt auch den (Nicht-)Zugang Lucas zur Gegenwart, zum Inhalt der laufenden Dialoge sowie die Verantwortung des Übersetzers, d. h. des Ich-Erzählers. Die Rolle der Übersetzung bei der Gestaltung der Szenen und ihrer Erfahrung prägt später die Dialoge des Besuchs bei den Verwandten und deren Erzählung. Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen 91 <?page no="92"?> 9 Vgl. „Die Tante redete ununterbrochen, hin und wieder übersetzte ich es Luca, der unruhig war wie ein kleines Kind und überall hinschaute, nur nicht vor sich“ (Florescu 2002: 185). Es ist Lucas Anwesenheit, die die Leser: innen ständig daran erinnert, dass all das, was er liest, in einer anderen Sprache stattfindet, zu der Luca - im Gegensatz zu den Leser: innen - nur einen teilweisen oder begrenzten Zugang hat. Es ist dieser begrenzte Zugang und damit insbesondere die Reflexion der (Häufigkeit der) Übersetzung, 9 die die latente Mehrsprachigkeit hervorbringt, die Florescus Roman, insbesondere das Kapitel über Timişoara, kennzeichnet. Die latente Mehrsprachigkeit ist also durch die thematischen Darstellungen der Übersetzung, des Dolmetschens und durch die Reflexionen darüber mar‐ kiert. Und all dies konstruiert auch die Identität des Erzählers, der sehr gute Kenntnisse in beiden Sprachen hat. Denn nicht er, Ovidiu, ist es, dem ständig In‐ formationen fehlen, weil er die andere Sprache nicht beherrscht, sondern Luca, der ständig von den Dialogen oder dem Verständnis der erzählten Geschichten ausgeschlossen ist, weil er kein Rumänisch kann. Die Erzählung der Rückkehr rahmt auch die Darstellung der Mehrsprachig‐ keit in Zsigmond Sándor Papps Roman Gyűlölet. Die Narration dieses Textes ver‐ läuft in zwei Strängen: Zum einen haben wir den Ich-Erzähler, der die Geschichte der Gegenwart erzählt, und zum anderen in diesen Erzählstrang eingebettete oder ihn immer wieder unterbrechende Erzählpassagen über die Vergangenheit, deren distanzierenden, emotionslosen Erzähler wir erst gegen Ende des Romans mit der Person des ehemaligen Ich-Erzählers, also des Protagonisten Márton Loboncz, identifizieren können. Nach der Begräbniszeremonie reist Márton, der aus Ungarn nach Rumänien zurückkehrt, um an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen, in die fiktive rumänische Stadt Dreghin, um nach Spuren seines Vaters zu suchen. Während z. B. in Florescus Roman die rumänische Sprache im deutschen Text in bestimmten Wörtern (Namen von Speisen, Gegenständen etc.) auftaucht, findet sich in Papps Text außer in Personen- und Ortsnamen keine Spur des Rumänischen, so dass man hier noch nachdrücklicher von einer latenten, d. h. erzählten Mehrsprachigkeit sprechen kann. Während in dem oben analysierten Text die inhaltlichen Reflexionen über die Übersetzung den Wechsel zwischen den Sprachen markierten, finden wir hier eine Lösung, die die Repräsentation des Anderen, d. h. der fremden Sprache, durch die ungarische Sprache aufzulösen sucht. Felismerem benne a tegnapi nőt. Máskor nem tennék ilyet, de most nincs más választásom. - Jó napot. Elnézést, hogy szólítom, de segítene? 92 Ferenc Vincze <?page no="93"?> Ijedten hátralép. Az arcom még mindig nem lehet túl bizalomgerjesztő. - Nem, ne ijedjen. Csak egy kis segítség lesz. - Mit akar? - Tegnap utaztunk együtt. Vonaton. Én vagyok a turista. Tudja, kivel beszélgetett. (Papp 2018: 73) [Ich erkenne die Frau von gestern. Ich würde das kein anderes Mal machen, aber ich habe keine andere Wahl. - Guten Tag. Entschuldigen Sie, dass ich anspreche, aber könnte mir helfen? Sie weicht erschrocken zurück. Mein Gesicht ist immer noch nicht vertrauenserwe‐ ckend. - Nein, Sie braucht kein Angst haben. Es ist nur ein klein Hilfe. - Was wollen Sie von mir? - Wir gestern zusammen sind gereist. Mit dem Zug. Ich bin der Tourist. Weißt, mit wem gesprochen haben.] In dem zitierten Dialog führt der Protagonist einen Dialog mit einer rumänisch‐ sprachigen Figur und die Äußerungen von Márton Loboncz repräsentieren das Rumänische durch eine normabweichende ungarische Sprache. Der Text verweist also auf die Präsenz einer anderen Sprache durch die Verfälschung der Grammatik oder des Stils sowie auf die Schwierigkeit und Problematik, sich in dieser Sprache auszudrücken. Auch wenn die rumänische Sprache an der Oberfläche des Textes nicht explizit auftaucht, hebt die entstellte Darstellung des Ungarischen diese Art der Repräsentation von Mehrsprachigkeit aus der Kategorie der eindeutig latenten Mehrsprachigkeit heraus, da das entstellte Ungarisch ebenso wie die explizite Darstellung die Aufmerksamkeit auf das Vorhandensein einer anderen Sprache als der ungarischen lenkt. Hier werden in der Figurenrede die Kategorien der manifesten und der latenten Mehrsprachig‐ keit vermischt, und diese Art der Darstellung ermöglicht es den Leser: innen, den Text zu verstehen und gleichzeitig den Unterschied (den Sprachwechsel) wahrzunehmen. Neben dieser Art von Lösung ist die Mehrsprachigkeit meist latent vor‐ handen, was sich in vielen Fällen auch auf der Reflexionsebene zeigt: - Egyre jobban beszélsz románul. - Belejöttem. Lassan visszatér minden - mondom. - Ha maradnál még, talán az akcentusod is eltűnne. (Papp 2018: 431) [- Du sprichst immer besser Rumänisch. - Ich fange an, es zu verstehen. Langsam kommt alles zurück, sage ich. - Wenn du länger bleiben würdest, würde dein Akzent vielleicht verschwinden.] Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen 93 <?page no="94"?> Mielőtt aláírom, még megkérdem, ami már rég a nyelvemen van, hogy sok ilyen esetük volt már? Hogy idegeneket megtámadnak? A rendőr, aki engem kérdezett, hirtelen bőbeszédű lesz, nem is nagyon tudom követni. Ha jól sejtem, valami olyasmit mond, hogy ne aggódjak, Dreghin a látszat ellenére biztonságos hely, ezt mutatja minden statisztika… (ebd.: 72) [Bevor ich unterschreibe, frage ich Sie etwas, das mir schon lange auf der Zunge liegt: Hatten Sie viele dieser Fälle? Angriffe auf Fremde? Der Polizist, der mich gefragt hat, wird plötzlich wortreich, ich kann ihm nicht ganz folgen. Ich nehme an, er sagt etwas in der Art, dass ich mir keine Sorgen machen soll, Dreghin ist trotz des Anscheins ein sicherer Ort, das zeigen alle Statistiken…] Es gibt einen signifikanten Unterschied in der Darstellung der rumänischen Sprache zwischen den beiden letzten Zitaten. Im letzteren Fall ist die reflek‐ tierte Sprachkompetenz auch in der Darstellung der erzählten, d. h. latenten, sprachlich nicht realisierten Mehrsprachigkeit präsent. Zum einen wird der Verweis auf das Sprechen in einer fremden Sprache zum konkreten Beispiel, zum anderen erscheint das Nicht-Verstehen der Sprache des Anderen, was auch die Authentizität bestimmter Aussagen des Erzählers in Frage stellt. Was die Darstellung der Mehrsprachigkeit in den Romanen Der kurze Weg nach Hause und Gyűlölet betrifft, so zeigen beide im Wesentlichen die Präsenz der anderen Sprache in Szenen der Heimkehr oder der Rückkehr in die Heimat, und beide mischen auch teilweise Modalitäten manifester und latenter Mehrsprachigkeit. Diese Modalitäten sind nicht einfach Darstellungen von Mehrsprachigkeit, sondern tragen wesentlich zur Charakterisierung des Erzählers bei. Während der Erzähler in Florescus Roman Muttersprachler ist und Rumänisch versteht, was durch die zahlreichen Übersetzungs-/ Dolmetschs‐ zenen untermauert wird, spricht der Protagonist, also der Ich-Erzähler, in Papps Roman nicht gut und versteht die andere Sprache manchmal nicht vollständig, so dass er Verständigungsprobleme hat. 3 Die Mehrsprachigkeit in einer multikulturellen Region In Radu Ţuculescus Roman Povestirile mameibătrîne [Geschichten der alten Oma] (Ţuculescu 2006), der in rumänischer Sprache verfasst ist, ist die Text‐ oberfläche fast vollständig einsprachig und eine andere Sprache ist nicht explizit vorhanden. In den Geschichten der Titelfigur, der alten Oma (mameibătrîne), erfahren die Leser: innen die Geschichte von Petra, einem fiktiven ungarischen 94 Ferenc Vincze <?page no="95"?> 10 Kalotaszeg ist eine ungarische Mikroregion mit eigener Tracht und eigenen Bräuchen innerhalb der Großregion Siebenbürgen in Rumänien. Dorf in Kalotaszeg. 10 Der Schauplatz des Romans ist meistens das Dorf selbst, nur zwei Geschichten führen uns auf einen anderen Platz, einmal auf den Markt in Feketetó, was als Referenz und Verortung verstanden werden kann, ein anderes Mal zum Arzt im Nachbardorf. Wie die Figuren des Romans verlässt auch die alte Oma das Dorf nie, was sich in den von ihr erzählten Geschichten widerspiegelt, die sich meist in den Häusern, Höfen, Gärten und sogar auf der Straße abspielen. Die Geschichten werden vom Ehemann (Radu) der Enkelin der alten Frau, der der Ich-Erzähler ist, angehört und erzählt, so dass die alte Frau in vielen der geschilderten Situationen Radu von den verschiedenen Bewohnern des Dorfes erzählt, oft von ihren wunderbaren und seltsamen Geschichten. Eine andere Variante dieser Geschichten trifft man im zweiten Kapitel des Romans, in dem Radu allein durch das Dorf spaziert und mit den Dorfbewohner: innen ins Gespräch kommt. Der Erzähler erzählt also zum einen die Geschichten der alten Oma und zum anderen die verschiedenen Varianten der Geschichten der Dorfbewohner: innen, und diese Konfrontation der Geschichten verunsichert nun die früheren Lektüren. Die Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichten wird in erster Linie durch die Unterschiede zwischen den Erzählungen der alten Frau und denen der Dorfbe‐ wohner: innen untergraben, aber es ist ebenfalls notwendig, die persönliche und auch dargestellte Leseerfahrung der alten Frau zu erwähnen. Mamabătrînă nu reţine niciodată numele autorilor, ba nici chiar titlul cărţilor. Declară, de asemenea, că uită imediat tot ce a citit, dar asta e o cochetă minciună. De numeroase ori am ascultat-o, uimit, povestind cu atîta viaţă-n vorbe, de parcă şi ea fusese de faţ- la cele întîmplate. Pagini din Cehov, Marquez, Saint-Éxupery, Boccaccio dar mai ales Gogol şi Bulgakov. Nu reţinea nici numele personajelor, cu atît mai puţin denumirile geografice. Reţinea întîmplarea, povestea, caracterele, fizionomiile, conflictele… Aluneca printre ele, cu bucuria unui schior la slalom uriaş. (ebd.: 40) [Die alte Oma erinnert sich nie an die Namen der Autoren, nicht einmal an die Titel der Bücher. Sie behauptet auch, dass sie alles, was sie gelesen hat, sofort wieder vergisst, aber das ist eine kokette Lüge. Oft habe ich ihr zugehört und gestaunt, wie sie mit so viel Leben in ihren Worten erzählte, als wäre sie selbst dabei gewesen. Seiten aus Tschechow, Marquez, Saint-Éxupery, Boccaccio, aber vor allem Gogol und Bulgakow. Sie konnte sich nicht an die Namen der Figuren erinnern, geschweige denn an die geografischen Namen. Er erinnerte sich an die Handlung, die Geschichte, die Figuren, Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen 95 <?page no="96"?> die Physiognomien, die Konflikte… Er glitt durch sie hindurch mit der Freude eines Skifahrers in einem Riesenslalom.] Wiederholt auftauchende Autor: innen und Buchtitel machen die Leser: innen, die in vielen Fällen in den erzählten Geschichten z. B. Textteile, Figuren oder Motive der oben zitierten Bücher und Autor: innen erkennen können, gegen die Originalität der erzählten Geschichten misstrauisch. Die Funktion der intertex‐ tuellen Anspielungen steht in engem Zusammenhang mit der Desorientierung, die durch die Unterschiede zwischen den Geschichten der Dorfbewohner: innen und der alten Oma hervorgerufen wird, da Intertexte diese Desorientierung noch verstärken. Doch während die aus zwei unterschiedlichen Perspektiven er‐ zählten Geschichten (alte Oma und Dorfbewohner: innen) und die entdeckbaren Intertexte die Authentizität der Erzählung und der Geschichten der alten Oma in Frage stellen, beginnt die Darstellung der Mehrsprachigkeit die Authentizität des homodiegetischen Erzählers des Romans in Frage zu stellen. Der multiethnische Charakter der Region lässt sich in erster Linie aus den Namen der Figuren ableiten, und wenn wir die Region referenziell identifizieren, können wir die Anwesenheit verschiedener Kulturen und Sprachen (hauptsäch‐ lich Ungarisch und Rumänisch) vermuten. Der vermittelnde Erzähler des in rumänischer Sprache verfassten Romans ist Radu, der sowohl durch seinen Namen als auch durch die einzige Reflexion des Romans auf die Sprache mit rumänischer Herkunft identifiziert werden kann: Mamabătrînă nu ştie să rostească în limba română decît cîteva cuvinte. Da, bine, bani, pămînt, plouă, nu… Cam atît. Vorbeşte limba maghiară, limbă pe care a vorbit-o o viaţă întreagă, şi înainte şi după război. Prin urmare, mamabătrînă îmi povesteşte în limba maghiară, o limbă pe care eu o înţeleg aproximativ şaizeci la sută. Restul completez de la mine. Îmi imaginez. În cazul meu, e convenabil şi fascinant totodată. Completez ceea ce nu pricep, fantazînd după bunul plac, străduindu-mă a continua povestea, întîmplarea ciuntită, a-i umple golurile, prin deducţii mai mult ori mai puţin logice. Întregesc portretele, uneori reinvent îndu-le. E un joc, de fapt, care-mi produce şi transpiraţie şi nelinişte dar şi bucurie. Dacă aş fi înţeles fiecare cuvînt al mameibătrîne, jocul n-ar mai fi existat, iar eu m-aş fi trezit în chingile unei expuneri exacte care trebuia doar transcrisă, copiată conştiincios. Avantajul nu mai era de partea mea. (ebd.: 87) [Oma kann nur ein paar Worte auf Rumänisch sagen. Ja, gut, Geld, Land, Regen, nein… Das warʼs. Sie spricht Ungarisch, eine Sprache, die sie ihr ganzes Leben lang gesprochen hat, vor und nach dem Krieg. Also erzählt mir die alte Oma auf Ungarisch, eine Sprache, die ich zu etwa sechzig Prozent verstehe. Den Rest fülle ich selbst aus. Ich stelle mir das vor. In meinem Fall ist das sowohl bequem als auch faszinierend. Ich 96 Ferenc Vincze <?page no="97"?> fülle aus, was ich nicht verstehe, phantasiere, was ich will, versuche, die Geschichte fortzusetzen, die Geschichten, die Lücken zu füllen, durch mehr oder weniger logische Schlussfolgerungen. Ich fülle die Porträts aus, manchmal erfinde ich sie neu. Es ist in der Tat ein Spiel, das mich ins Schwitzen bringt und ängstlich, aber auch freudig stimmt. Hätte ich jedes Wort der Oma verstanden, hätte es das Spiel nicht gegeben, und ich hätte mich in der Fessel einer exakten Darstellung befunden, die nur noch abgeschrieben, gewissenhaft kopiert werden musste. Der Vorteil wäre nicht mehr auf meiner Seite.] Die explizite Reflexion über Mehrsprachigkeit in dieser Passage betrifft die sprachlichen Kompetenzen sowohl der alten Frau als auch des Erzählers: Die alte Frau spricht kein Rumänisch und der Erzähler versteht nicht alles auf Ungarisch. Die logische Schlussfolgerung ist, dass die beiden Figuren einander nur begrenzt verstehen, was sowohl die Authentizität als auch den thematischen und motivi‐ schen Inhalt aller von der alten Oma erzählten und von Radu vermittelten Ge‐ schichten in Frage stellt. Die Situation des sprachlichen Unverständnisses setzt auch die bisherigen Erkenntnisse außer Kraft, dass die Geschichten, die von der alten Mutter und den Dorfbewohner: innen als unterschiedlich erzählt werden, nicht unbedingt unterschiedlich sind, und dass der Unterschied durch sprachli‐ ches Unverständnis verursacht sein kann. Die Hinzufügung von persönlichen (meist aus dem Bereich der Weltliteratur stammenden) Leseerfahrungen zu den eigenen Geschichten könnte ohne diese einzige Reflexion über die Sprache als Merkmal der Erzählweise und Erzählkonstruktion der alten Mutter identifiziert werden. Diese erzählerischen Kommentare können aber durch den Hinweis auf die Problematik des (Miss)Verstehens auch als erzählerische Gestaltungstechnik von Radu verstanden werden. Insofern hat die Art und Weise der Darstellung der Mehrsprachigkeit in Ţuculescus Roman eine bedeutende Funktion für den Gesamttext, da sie sowohl Fragen nach der Verlässlichkeit des Erzählers aufwirft als auch die Konstruiertheit und die intertextuellen Spiele und Vernetzungen des Romantextes erkennbar und reflektierbar macht. 4 Konsequenzen der Repräsentationen der latenten Mehrsprachigkeit Die analysierten Romane präsentieren im Wesentlichen Darstellungen einer latenten Mehrsprachigkeit, und in den meisten Fällen machen diese Darstel‐ lungen nicht nur auf die Präsenz einer anderen Kultur und Sprache in den ausgewählten Texten aufmerksam. Natürlich konstruiert jeder Text durch diese Darstellungen ein Bild des/ der Anderen, des/ der Fremden, dessen/ deren Sprache und Erzählungen nur teilweise verstanden werden. Latente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen - ausgewählte Funktionen 97 <?page no="98"?> Die Inszenierungen der Mehrsprachigkeit lenken die Aufmerksamkeit auch auf die Rolle und die Bedeutung der Vermittlung und des Vermittlers bzw. der Vermittlerin zwischen den Sprachen, der/ die in vielen Fällen auch die Erzählstruktur des Textes in erheblichem Maße prägen. Die Vermittlungsbzw. Übersetzungsszenen thematisieren im Wesentlichen auch das Nichtverstehen der Sprache des/ der Anderen (siehe die Textauszüge aus dem Roman Gyűlölet), und es ist ein charakteristisches Merkmal aller drei Romane, dass sprachliches Un- oder Teilverständnis die Darstellung von Übersetzungsszenen rechtfertigt, die in unterschiedlichem Maße auch die Struktur der Romane auf der Ebene der Handlung organisieren Der Vermittler - also Dolmetscher - der Schlüsselszenen in Der kurze Weg nach Hause ist Ovidiu, der die Erzählungen der verschiedenen Figuren, die in rumänischer Sprache z. B. über die rumänische Revolution von 1989 und ihre Ereignisse sprechen, knapp und ohne Details für Luca, der kein Rumänisch versteht, übersetzt. In diesen Teilen des Romans ist es gerade die Praxis des Übersetzens/ Dolmetschens, die die zunächst ausführlich und später knapp zusammengefassten Geschichten nebeneinanderstellt und auf die damit verbundenen Unterschiede und Diskrepanzen aufmerksam macht. Während in diesem Text die Rolle der Vermittlung und ihre Funktion betont wird, wird in Ţuculescus Roman Povestirile mameibătrîne die vermittelnde Rolle des Ich-Erzählers hervorgehoben und die latente Mehrsprachigkeit durch die Reflexion über sprachliches Unverständnis in den Vordergrund gestellt. In Florescus Roman betraf die Darstellung der Mehrsprachigkeit im Wesentlichen die Struktur eines einzelnen Kapitels und die Problematik der Vermittlung von referenziellen historischen Ereignissen, während in Ţuculescus Text die Darstellung einer latent anderen Sprache sowohl Verständnisfragen aufwirft als auch die Kompositions- und Erzählebene des gesamten Romans beeinflusst. Die ungarischen und rumänischen Sprachkompetenzen von Radu und der alten Frau, oder genauer gesagt die Defizite dieser Kompetenzen, lenken die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie der Romantext konstruiert ist, auf das Netz intertextueller Anspielungen, und machen gleichzeitig den Vermittler und Erzähler der Geschichten unzuverlässig. Die Repräsentation von Mehrsprachigkeit kann sowohl in der Migrationslite‐ ratur als auch in der regionsbezogenen Literatur als Merkmal für interkulturelle Begegnungen angesehen werden. In den behandelten Romanen bringt die Darstellung der latenten Mehrsprachigkeit auch die Problematik der sprachli‐ chen Verständigung mit sich, die, wie wir gesehen haben, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der sprachlichen Vermittlung - der Übersetzung und des Dolmetschens - und gegebenenfalls auf ihre Rolle und Funktion bei der Kom‐ 98 Ferenc Vincze <?page no="99"?> position des Textes und der Entwicklung der Handlung lenken kann. Meines Erachtens können diese Szenen auch als transkulturelle Phänomene identifiziert werden, die im Prinzip in der Darstellung der Beziehungen zwischen Kulturen und Sprachen wiederkehren und in vielen Fällen dazu dienen, eine andere Perspektive aufzuzeigen. Eine parallele und vergleichende Analyse dieser Texte offenbart den multikulturellen und mehrsprachigen Charakter dieser osteuro‐ päischen Region, aber gerade die zahlreichen Übersetzungsszenen und die durch sie repräsentierte latente Mehrsprachigkeit scheinen auch auf die sprachliche Abgeschlossenheit der Region hinzuweisen. Die transkulturell geprägte Frage nach den Repräsentationen der latenten Mehrsprachigkeit zeigt uns nicht nur die poetischen Praktiken der behandelten Romane, die transnationale und vergleichende Annäherungsweise bietet uns auch eine solche gemeinsame Leseerfahrung von verschiedenen Literaturen, in der die durch die latente Mehrsprachigkeit strukturierten Übersetzungsszenen eine bedeutende kultur‐ wissenschaftliche Funktion haben. Diese Funktion - nämlich die Akzentuierung der kulturellen und meistens auch sprachlichen Abgeschlossenheit - der ana‐ lysierten Szenen kann als transkulturelles Transferphänomen der dargestellten Region identifiziert werden, da diese Funktion nicht nur für eines, sondern für alle drei literarischen Werke charakteristisch ist. Literatur Burka, Bianka (2016). Manifestationen der Mehrsprachigkeit und Ausdrucksformen des ,Fremden‘ in deutschsprachigen literarischen Texten: Exemplifiziert am Beispiel von Terézia Moras Werken. Tübingen: Narr Francke Attempto. Centner, Jasmin (2021). Journey of no return? Narrative der Rückkehr im Kontext von Gewalt und Vertreibung im 20. und 21.-Jahrhundert. Berlin: J.B. Metzler. Dembeck, Till (2017a). 1. Sprache und Kultur. In: Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.). Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 17-25. Dembeck, Till (2017b). 1. Sprachwechsel/ Sprachmischung. In: Dembeck, Till/ Parr, Rolf (Hrsg.). 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In Emine Sevgi Özdamars and Zé do Rocks narratives, multilingualism is integrated in quite different ways: from an explicit switch to different languages over a latent use to an or‐ chestration and playful handling of languages. To decipher these different forms of literary multilingualism is one aim of this article. Furthermore, in the literary analyzes the functions of such multilingual writing will be explored. It causes irritation and gives the reader the possibility to question dominant perspectives of a monolingual habitus. Even more, such kind of literature enables a critical view on dominant social and cultural structures and beliefs. To show this potential of multilingual writing is another aim of this article. Keywords: Literarische Mehrsprachigkeit, Dominanzkritik, Subversivität, interkultu‐ relle Literatur, Emine Sevgi Özdamar, Zé do Rock 1 Einleitung Die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit in migrationsbezogenen bil‐ dungspolitischen und pädagogischen Diskursen ist nicht neu. Bereits 1994 kritisierte Ingrid Gogolin den „monolingualen Habitus“, der unseren Bildungs‐ <?page no="102"?> systemen bis heute innewohnt und einen offenen Zugang zur Mehrsprachigkeit einer postmigrantischen Gesellschaft verstellt. Gerade im Kontext von Migra‐ tion und Zuwanderung wird diese häufig weiter diskriminiert und marginali‐ siert, wie das folgende Zitat zeigt: [I]n Wahrheit beherrschen wir durchaus jede Sprache für sich. Nur ist es eben manchmal einfacher, sich das jeweils passende Wort aus der Sprachenvielfalt heraus‐ zupicken, als lange umständlich drum herumzureden. Sprache lebt. Wir operieren genauso souverän mit den uns vertrauten Sprachen wie der Manager (! ) im Büro (! ), der im Meeting (! ) über das Marketing (! ) brainstormt (! ). (El Masrar 2010: 69) Während die Integration englischer oder französischer Begriffe in den deut‐ schen Wortschatz als völlig legitim angesehen wird, wird das Code-Switching z. B. zwischen dem Türkischen, Polnischen, Italienischen, Arabischen und Deut‐ schen bei Migrant: innen häufig als Problem angesehen bis hin zur Pathologi‐ sierung als sogenannter „doppelseitige[r] Halbsprachigkeit“ (Erel 1999: 182). Inci Dirim, Ulrike Eder und Birgit Springsits (2014: 131) kritisieren in dem Zusammenhang, dass Schüler: innen mit Zuwanderungsgeschichte häufig „als Menschen mit defizitärer (weil unvollständiger) Identität“ angesehen werden. Das schlägt sich z. B. in der Kinder- und Jugendliteratur in inferiorisierenden Darstellungen nieder. Sie stellen zur Disposition, „ob mit dem Einbezug von Mehrsprachigkeit und wie auch immer verstandener ‚Multikulturalität‘ der Inferiorisierung ‚Einhalt geboten‘ werden kann“ (ebd.: 135). Dementsprechend stellt sich hier nun die Frage, was Literatur und der Literaturunterricht bezüglich einer differenzierteren Wahrnehmung von Mehr‐ sprachigkeit leisten kann: ● Inwiefern kann (interkulturelle) Literatur für Mehrsprachigkeit sensibili‐ sieren - im linguistischen Sinne von mehr Sprachaufmerksamkeit, aber auch kulturreflexiv und dominanzkritisch? ● Kann literarische Mehrsprachigkeit als Strategie gelesen werden, dem ‚An‐ deren‘ dominanzkritisch und diversitätsorientiert eine Stimme im Diskurs zu geben und/ oder diese zu erhalten? ● Inwiefern irritiert Mehrsprachigkeit in literarischen Texten in einem po‐ sitiven Sinne? Werden dadurch neue Wissensarchive freigelegt, Wahrneh‐ mungs- und Wahrheitsrituale irritiert sowie Diskurse verschoben und erhält 102 Cornelia Zierau <?page no="103"?> 2 Der Begriff der Postmigration wird hier im Sinne Naika Foroutans verwendet. Er geht aus den Überlegungen hervor, dass sich das Thema Migration „zu einem Meta‐ narrativ entwickelt [hat], das vielfach als alles erklärende Kategorie herangezogen wird: Bildungsrückstände, Kriminalität, soziale Transferleistungen, Wohnungsnot, Geschlechterungleichheit, Antisemitismus und viele sozialstrukturelle und -kulturelle Probleme mehr“ (Foroutan 2021: 12 f.). Dabei verdecke „die Omnipräsenz des Migrati‐ onsdiskurses“ jedoch nur den zentralen Konflikt um „Aushandlung und Anerkennung von Gleichheit als zentralem Versprechen der modernen Demokratien […]. […] Um die Probleme zu erkennen, die derzeit Gesellschaften polarisieren, müssen wir hinter die Migrationsfrage schauen, also postmigrantisch denken. Dazu ist es erforderlich, den Fokus auf gesellschaftspolitische Kernkonflikte um Anerkennung, Chancenge‐ rechtigkeit und Teilhabe zu lenken, die als umkämpfte politische Güter auch von Migrant*innen und ihren Nachkommen beansprucht werden“ (ebd.: 13 f.). Literatur somit die Funktion eines erweiterten kulturellen Gedächtnisses postmigrantischer 2 und postkolonialer Gesellschaften? Folgt man Yoko Tawada, einer aus Japan nach Deutschland migrierten Autorin, ermöglicht Mehrsprachigkeit genau solch eine Erschließung neuer, anderer Welten, die sie als kosmische „schwarze Löcher“ metaphorisiert: „Für mich ist es wichtig, dass ich in der Muttersprache und gleichzeitig in einer anderen Sprache schreibe. Dadurch, dass ich in zwei Sprachen schreibe, entdecke ich ständig schwarze Löcher im Gewebe der Sprachen“ (Yoko Tawada in Kloepfer/ Matsunaga 2000: 2). Diese aufgeworfenen Fragen sollen im Folgenden leitend sein. Dabei werden zunächst Begrifflichkeiten und Formen von literarischer Mehrsprachigkeit herausgearbeitet und anschließend auf ihre Funktionen und Wirkungen in Texten von Emine Sevgi Özdamar und Zé do Rock hin analysiert. Abschließend komme ich zusammenfassend auf die eingangs gestellten Leitfragen zurück und zeige das dominanzkritische und sprachsensible Potential von literarischer Mehrsprachigkeit im Umgang mit Diversität auf. 2 Begrifflichkeiten und Formen von literarischer Mehrsprachigkeit Wie in Bezug auf die linguistische Mehrsprachigkeit zeigt auch die aktuelle literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Mehrsprachig‐ keit „eine perspektivische[.] Umkehrung: Nicht die mehrsprachige Literatur ist das Sonderphänomen, sondern die einsprachige“ (Martyn 2014: 40, Hv. i. O.). Nach Yasemin Yıldız ist „Einsprachigkeit eine Erfindung des europäischen 18.-Jahrhunderts“ (Blum-Barth 2021: 11): With the gendered and affectively charged kinship concept of the unique „mother tongue“ at its center, however, monolingualism established the idea that having one „In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“ 103 <?page no="104"?> language was the natural norm, and that multiple languages constituted a threat to the cohesion of individuals and societies. Even as they supported the study of other languages, late eighteenth-century German thinkers such as Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt, and Friedrich Schleiermacher spearheaded the view that one could properly think, feel, and express oneself only in one’s „mother tongue.“ This notion of the mother tongue has been in turn a vital element in the imagination and production of the homogenous nation-state. (Yildiz 2012: 6 f.; vgl. auch Dembek 2014: 16) Auch David Martyn (2014: 40) sieht in Herders Konstrukt der Muttersprache „den Schlüssel zu einem historischen Verständnis des Phänomens literarischer Einsprachigkeit“. So sähe Herder in der Verwendung der Muttersprache in der Dichtung einen Garanten, um die nach de Saussure verbürgte Arbitrarität von Zeichen und Bezeichnetem möglichst außer Kraft zu setzen: [W]enn in der Poesie der Gedanke und Ausdruck so fest aneinander kleben: so muss ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiste Ansehen, und Gewalt über die Worte, die größeste Känntnis derselben, oder wenigstens eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit noch nicht Gesetzlosigkeit werde und ohne Zweifel ist dies die Muttersprache. (Herder 1985: 407, zitiert nach Martyn 2014: 43) Yoko Tawada (2003: 15) scheint auf dieses Zitat zu antworten und macht damit literarisch den zeitgemäßen Perspektivwechsel auf Mehrsprachigkeit deutlich: Am Ende ihrer Erzählung Von der Muttersprache zur Sprachmutter spricht die Erzählfigur von einem „Heftklammerentferner“, der in mehrsprachigen Kontexten und in der Fremdsprache wirksam wird: In der Muttersprache sind die Worte den Menschen angeheftet, so dass man selten spielerische Freude an der Sprache empfinden kann. Dort klammern sich die Gedanken so fest an die Worte, dass weder die ersteren noch die letzteren frei fliegen können. In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklam‐ merentferner: Er entfernt alles, was sich aneinanderheftet und sich festklammert. Dieser Vergleich veranschaulicht, dass das Prinzip der Arbitrarität von Zeichen und Bezeichnetem seine Bedeutsamkeit vor allem dann entfaltet, wenn wir unsere gewohnte Sprachheimat verlassen, wie es Fremd- und Zweitsprachen‐ lernende tun. Hier beginnt man, die Verbundenheit von bestimmten Bezeich‐ nungen mit ihren Objekten zu hinterfragen, zu verfremden und ggf. neu zu kontextualisieren. Genau hierin wird im Unterschied zu Herder die Möglichkeit zur kreativen Entfaltung gesehen. Nach Till Dembeck (2017) gibt es generell „No Such Thing as a Monolingual Text“, eine These, die insbesondere Sinn macht, wenn Mehrsprachigkeit nicht 104 Cornelia Zierau <?page no="105"?> nur in einem externen, interlingualen Sinn als Mehrsprachigkeit verschiedener Nationalsprachen verstanden wird, sondern auch intralingual in Form unter‐ schiedlicher Sprachvarietäten: Doch im Laufe der neueren Geschichte des Denkens über Sprache wird schließlich auch noch die Idee von der Einzelsprache als einem geschlossenen, ‚organischen‘ Ganzen unhaltbar. Jede Einzelsprache scheint ihrerseits aus verschiedenen Sprachen zu bestehen, die sich im aktuellen Sprachgebrauch oft durchdringen, in jedem Fall durch ihre Unterschiedlichkeit aber bewirken, daß die Sprachpraxis der Angehörigen der entsprechenden Sprachgemeinschaft babylonisch-vielschichtigen Charakter an‐ nimmt. Wer eine Sprache spricht, beherrscht mehr als eine Sprache, das klingt nur im ersten Moment widersinnig - solange, bis man sich daran erinnert, daß es Grup‐ pensprachen, Fachsprachen, Soziolekte gibt - und daß jeder wie selbstverständlich davon auszugehen pflegt, Berufs- und Interessengruppen, Standesangehörige und soziale Schichten, aber auch einzelne Sprecher seien durch besondere Redeweisen charakterisiert. (Schmeling 2002: 14) Dementsprechend wird im Fachlexikon Deutsch als Fremd- und Zweitsprache Mehrsprachigkeit auch in dieser doppelten Ausrichtung definiert: Sie „be‐ zeichnet den Umstand, dass einer Person […] oder einem System […] mehrere Sprachen zur Verfügung stehen. Fasst man den Begriff sehr weit, so ist jeder Mensch mehrsprachig, da er schon in seiner Muttersprache über mehrere Varietäten (muttersprachliche M.) verfügt“ (Haider 2010: 207). Mehrsprachigkeit im weiteren - intralingualen - Sinne ist damit die Fähigkeit, sich verschiedener Sprachvarietäten zu bedienen und sich in seiner Artikulationsweise kommuni‐ kativen Situationen anzupassen. Diese können z. B. regional, fachsprachlich, generationen-, milieu- oder geschlechtsspezifisch geprägt sein. Mehrsprachig‐ keit im engeren - interlingualen - Sinne ist hingegen das Vermögen, mehrere (National-)Sprachen zu sprechen. Beide Varianten von Mehrsprachigkeit - die inter- und intralinguale - spielen in literarischen Texten eine Rolle. Im Sinne dieses erweiterten Verständnisses von Mehrsprachigkeit lassen sich dementsprechend auch unterschiedliche Diversitätskategorien wie z. B. Geschlecht oder Milieu-/ Schichtzugehörigkeit und deren Repräsentation in literarischen Texten erschließen. Mit Blick sowohl auf die Förderung von Sprachaufmerksamkeit als auch auf Diversitätsorientie‐ rung und Dominanzkritik werden Schüler: innen somit für die Ausdrucksva‐ rianz sowie Identifizierungswie auch Differenzierungsmacht innerhalb einer Sprache sensibilisiert. Auch wenn die vorherigen Ausführungen verdeutlichen, dass Einsprachig‐ keit ein Konstrukt ist und es eigentlich keine einsprachige Literatur gibt, scheint „In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“ 105 <?page no="106"?> es - so Giulia Radaelli (2014: 178 f.) - aktuell noch „kein Konzept von Mehrspra‐ chigkeit zu geben, das sich von jeder Einsprachigkeit verabschieden kann“. Na‐ talia Blum-Barth (2021: 11) spricht deshalb von „Einsprachigkeit als eine für die literaturwissenschaftliche Analyse mehrsprachiger Texte notwendige Fiktion“. Sie definiert literarische Mehrsprachigkeit „auf der Textebene als Ergebnis des mehrsprachigen Schreibens […]. Sie bedeutet die Präsenz einer anderen, von der Basissprache des Textes differenten Sprache im literarischen Werk“ (ebd.: 63). Dabei unterscheidet sie „zwei Bedeutungsebenen des Begriffs […]. Im weiteren Sinne subsumiert ‚literarische Mehrsprachigkeit‘ alle Erscheinungsformen vom fremdsprachigen Zitat über fremdsprachige Einsprengsel und Sprachmischung bis zu Mehrsprachigkeit im literarischen Text“ (ebd.: 93). In diesem Sinne habe es schon immer mehrsprachiges literarisches Schreiben gegeben (vgl. auch Schmeling 2002: 18; Dembek 2014: 15 ff.). Eine zweite Bedeutungsebene knüpft sie an die veränderten Rahmenbedin‐ gungen in Zeiten der Globalisierung, des Postkolonialismus und der (Post)Mi‐ gration: Im engeren Sinne lässt sich der Begriff ‚literarische Mehrsprachigkeit‘ für die sprach‐ liche Charakterisierung der Texte verwenden, die mit Bezug auf Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel der Autoren entstanden sind. […] Die Differenzierung trägt dem Umstand Rechnung, dass Texte der Migrantenliteratur und der neuen Weltliteratur unter veränderten Rahmenbedingungen verfasst werden. (Blum-Barth 2021: 93) Diese engere Form literarischer Mehrsprachigkeit steht auch hier in diesem Beitrag im Fokus. Dementsprechend gestaltet sich mehrsprachiges Schreiben „vor dem Hintergrund von zwei und mehr Sprachen“, wobei das „Ergebnis nicht unbedingt ein [auf der Textoberfläche] mehrsprachiger Text“ sein muss (ebd.: 63). Denn Blum-Barth unterscheidet in Anlehnung an Radaelli u. a. eine manifeste und latente Form von Mehrsprachigkeit. Während die „[m]anifeste literarische Mehrsprachigkeit […] an der Oberfläche des Textes als Verwendung einer anderen Sprache“ (ebd.: 70) erscheint und sich in Sprachwechsel und Sprachmischung äußern kann, ist die „[l]atente literarische Mehrsprachigkeit […] in der Tiefenstruktur des Textes verortet“ (ebd.: 77). Nach Radaelli (2011: 61) ist „[e]in Text […] immer dann latent mehrsprachig, wenn andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Er weist also auf den ersten Blick eine einsprachige Oberfläche auf.“ Heidi Rösch (2011: 97 f.) spricht in dem Zusammenhang von einem translingualen Sprachgebrauch: Wenn Emine Sevgi Özdamar türkische Sprichwörter, Koransuren etc. in deutscher Sprache in den Text integriert, lässt sich ein translingualer Sprachgebrauch ausma‐ chen. Dies sind Formen von Interlingualität, die den Gebrauch mehrerer Sprachen 106 Cornelia Zierau <?page no="107"?> oder Sprachvarietäten innerhalb einer Sprache nicht nur dokumentieren, sondern ihn auch kommentieren, reflektieren oder überhaupt erst neu schaffen. Nach Blum-Barth (2021: 87) gibt es noch eine dritte Form von Mehrsprachigkeit, die „exkludierte[.] Mehrsprachigkeit“, bei der „eine andere Sprache genannt, aber nicht verwendet [wird]: Sie findet keinen Eingang in die Sprache des Textes.“ Die Sprachmischung ist nach Schmeling (2002: 17) grundsätzlich ein „Akt der Grenzüberschreitung, der Nichtanerkennung einer bestimmten Spielregel“. Dabei vermag gerade die latente und translinguale Form von Mehrsprachig‐ keit subversiv und dominanzkritisch auf bestehende Herrschafts- und Macht‐ strukturen innerhalb der dominanten Sprache und Mehrheitsgesellschaft zu reagieren: Anders als bei manifester Mehrsprachigkeit lassen sich bei latenter Mehrsprachigkeit Aspekte wie Marginalisierung und Subversivität der Sprachen, das an den Postkolo‐ nial-Diskurs angelehnte Phänomen der sprachlichen Mimikry sowie Sprachpolitik und -ideologie insgesamt veranschaulichen. […] So gesehen kann latente Mehrspra‐ chigkeit als Spur der verdrängten bzw. unterdrückten Sprache in der Sprache des literarischen Werkes aufgefasst werden.“ (Blum-Barth 2021: 84) Im Folgenden wird nun an Beispielen aus der interkulturellen Literatur genauer untersucht, welche der hier vorgestellten Formen von Mehrsprachigkeit mit welchen Funktionen und Wirkungen vorkommen. Dabei wird insbesondere das hier postulierte subversive und dominanzkritische Potential literarischer Mehr‐ sprachigkeit beispielhaft an Texten von Emine Sevgi Özdamar und Zé do Rock in den Blick genommen. Als ein weiteres wesentliches Gestaltungselement beider Autor: innen wird dabei Komik sichtbar, mit der sie auf Dominanzverhältnisse in Sprache und Gesellschaft reagieren. 3 Literarische Mehrsprachigkeit und Kulturvermittlung in interkultureller Literatur am Beispiel von Texten von Emine Sevgi Özdamar und Zé do Rock - 3.1 Emine Sevgi Özdamar: Schwarzauge in Deutschland Mehrsprachiges Erzählen kennzeichnet Emine Sevgi Özdamars gesamtes Werk. In der hier gewählten Erzählung Schwarzauge in Deutschland finden wir Bei‐ spiele von manifester wie latenter Mehrsprachigkeit, die auf unterschiedlichen Formen von Übersetzung basieren: „In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“ 107 <?page no="108"?> Mein erstes Theaterstück war ‚Karagöz in Alamania‘, 1982. Das bedeutet in Deutsch: ‚Schwarzauge in Deutschland‘. (Özdamar 2001: 47) Einer sagte: ‚Dieser Weg hat uns unsere fünf Seelen weggenommen.‘ (ebd.: 48) Im ersten Beispiel haben wir als Übersetzungsprinzip eine - so Blum-Barth (2021: 157) - „Parallelität der Sprachen“, indem Karagöz als Schwarzauge und Alamania als Deutschland übersetzt werden. Dabei ist allerdings zu berücksich‐ tigen, dass Alamania nicht die korrekte Übersetzung für Deutschland ist, das wäre Almanya. Die gewählte Übertragung Alamania macht aber auf ein typi‐ sches Wortbildungs- und Lautprinzip des Türkischen aufmerksam: keine Dop‐ pelkonsonantenbildung bzw. Konsonanten durch sogenannte Sprossvokale wie hier das a zwischen l und m zu trennen. Bereits in dieser kleinen Verfremdung der Übersetzung vermittelt uns der fremdsprachliche Ausdruck einen Einblick in ein anderes Sprach- und Lautsystem. Man kann hier mit Blum-Barth von einer „Sprachinszenierung“ sprechen, „eine bewusste Darstellung der Sprache, ihre Zurschaustellung“, wobei „häufig die Phonetik der Sprache graphematisch inszeniert“ wird (ebd.: 121). Den Ausdrücken „Schwarzauge in Deutschland“ und „Dieser Weg hat uns unsere fünf Seelen weggenommen“ bleibt trotz Übersetzung ins Deutsche die Fremdheit der anderen Sprache inhärent. Mehrsprachigkeit kommt hier zwar als Übersetzung vor, diese ‚Übersetzung‘ reibt sich aber mit dem deutschen Sprachgebrauch und erhält somit ihr Fremdheitspotential. Damit liegt hier eine „verdeckte Übersetzung [bzw.] Sprachlatenz“ vor (ebd.: 168). Beide Ausdrücke machen zudem auf spezifische sozio-kulturelle Erfahrungen des Lebens als sogenannte Gastarbeiter: innen in Deutschland aufmerksam: Die aus den Mittelmeerregionen stammenden Arbeitskräfte wurden häufig stereotyp als Menschen mit dunklen Augen, als „Schwarzauge“ wahrgenommen und bezeichnet - Özdamar nimmt von daher eine verfremdende Selbstaneig‐ nung dieser Zuschreibung vor, die darüber hinaus eine komische Brechung enthält, die deutlich wird, wenn die türkische Bezeichnung „Karagöz“ hinzuge‐ zogen wird. Denn wer sich im türkischen literarischen Feld auskennt, weiß, dass Karagöz ein Protagonist des türkischen Schattenspiels ist und mit seinem Partner Hacivat in humorvoller Weise gesellschaftliche und personelle Miss‐ stände vorführt (vgl. auch Kofer/ Zierau 2019: 129). Die zweite Aussage - „Dieser Weg hat uns unsere fünf Seelen weggenommen“ - bezieht sich auf die zahlreichen tödlichen Autounfälle, die während der Urlaubsreisen auf der Balkanroute zwischen Deutschland und der Türkei pas‐ siert sind. Diese Route ist insbesondere bei türkischen Kulturschaffenden ein literarisches wie auch filmisches Motiv, z. B. in Fatih Akins Roadmovie Im 108 Cornelia Zierau <?page no="109"?> Juli, in Selim Özdogans gleichnamigem Roman und in Güney Dals Roman Europastrasse-5. Diese Textbeispiele haben also durchaus die Tiefe eines schwarzen Lochs, wie Yoko Tawada es formuliert hat, und bieten die Möglichkeit, über litera‐ rische Mehrsprachigkeit neue Wissensarchive zu entdecken, wie auch einer kritischen Durchbrechung dominanter und stereotyper Wahrnehmungen des Gastarbeiter: innendaseins, indem quasi in Form eines Perspektivwechsels nicht nur die dem deutschsprachigen Text latent zugrundeliegende türkische Sprache an die Oberfläche kommt, sondern damit auch Aspekte und Facetten türkischer und ‚Gastarbeiter: innen‘kultur und -geschichte. Das charakterisiert auch die Erzählung insgesamt, in der es um die Inszenierung eines Theaterstücks über ‚Gastarbeiter: innen‘ geht: „Wir machen etwas Besonderes! Zum ersten Mal ein Theaterstück über Türken“ (Özdamar 2001: 50). Diese sprachlatenten Formen des Übersetzens, bei denen eine „kritische, fremdheitserhaltende Übersetzungsperspektive“ eingenommen wird, die auch als „Handlungsformen des Sich-selbst-Übersetzens“ angesehen werden können (Bachmann-Medick 2018: 270 f.), führen somit zu einer „andere[n] Art der [kulturellen] Übersetzung, der es darum geht, in der eigenen Sprache das Fremde als Fremdes auszustellen und mit seinen Eigenarten transparent werden zu lassen“ (Hofmann 2020: 74). Dabei erscheint „Kultur […] nicht mehr länger als ‚originale‘ und besondere Lebenswelt, sondern als ‚hybride‘, unreine, vermischte Erfahrungs- und Bedeutungsschichtung“ - so Doris Bachmann-Medick (2018: 249). In Form der exkludierten Mehrsprachigkeit greift Özdamar (2001: 49) das identitätsstiftende Potential des sogenannten ‚Gastarbeiterdeutsch‘ auf: „Die Toten in den Särgen, wir zu acht im Zugabteil, die gemeinsame Sprache Deutsch. Es entstand fast ein Oratorium, und die Fehler, die wir in der deutschen Sprache machten, waren wir, wir hatten nicht mehr als unsere Fehler.“ Auch hier findet ein Perspektivwechsel und eine Umwertung statt, indem dieses gemeinsame ‚Gastarbeiterdeutsch‘ zu einem Oratorium erklärt wird. Im späteren Verlauf der Erzählung wird das ‚Gastarbeiterdeutsch‘ noch einmal aufgegriffen und als Varietät des Deutschen explizit gemacht: Der Intendant war ein netter Mann, er liebte die Arbeit. Als eine Schauspielerin sagen musste: „Ich bleiben zurück - Mein Mann Alamania Alaman Frau ficken - bleiben,“ sagte er: „Bitte sagen Sie das Wort nicht, sonst denken alle Deutschen, die türkische Poesie bestände aus solchen Wörtern.“ „In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“ 109 <?page no="110"?> Daraufhin sagte die Schauspielerin in der Generalprobe: „Mein Mann, Alamania, Alaman Frau fincken - bleiben…“ (ebd.: 52) An dem übergriffigen Verhalten des Intendanten, der sich hier als Sprach‐ wächter hervortut und bezüglich der Theaterarbeit Herrschaftsansprüche stellt, wird über die humoristische Verballhornung in der Überführung von „ficken“ in „fincken“ Dominanzkritik ausgeübt. Der Intendant wird als eine Art Gutmensch vorgeführt - „er war ein netter Mann und liebte seine Arbeit“ -, dem seine Vorbehalte gegenüber der Theaterarbeit der türkischstämmigen Regisseurin aber deutlich anzumerken sind: „sonst denken alle Deutschen, die türkische Poesie bestände aus solchen Wörtern.“ Sein Verhalten gipfelt darin, dass er vor der Premiere des Stücks ein Flugblatt an die Zuschauer: innen verteilen lässt: „Manchmal werden Sie sich im Verlauf des Stückes fragen: Wo ist nun wo? Sind wir in der Türkei, sind wir in Alamania? … Vielleicht haben Sie einige Mühe, sich die Szenen zu gliedern, sie sind nicht logisch geordnet wie in den uns vertrauten Theaterstücken …“ (ebd.: 52 f., Hv. CZ). Auch hier findet mit der Fremdsetzung des Stücks durch den Intendanten eine Herabsetzung statt. Diese wird jedoch geschickt konterkariert, indem dem Text des Intendanten der inszenierte und dementsprechend irritierende Begriff „Ala‐ mania“ untergeschoben wird, wodurch hier noch eine weitere Funktion dieser Sprachinszenierung deutlich wird: Über den Begriff wird ein Dritter Raum mar‐ kiert, nämlich der Menschen, die im Zuge der ‚Gastarbeiter: innen‘anwerbung nach Deutschland gekommen sind. Diese ‚fehlerhafte‘, nicht eins zu eins-Über‐ setzung von Deutschland und Almanya markiert somit diese Verschiebung hin zu einem hybriden Raum und zeigt, dass auch die sprachinszenierende Form der Mehrsprachigkeit das Potential hat, dominanzkritisch auf Machtstrukturen hinzuweisen und diese zu durchbrechen, was im Folgenden am Beispiel der literarischen Mehrsprachigkeit bei Zé do Rock noch deutlicher wird. - 3.2 Zé do Rock: fom winde ferfeelt Das Prinzip der Sprachinszenierung kennzeichnet in weiten Teilen das Werk des Autors mit dem Künstlernamen Zé do Rock (vgl. dazu auch Blum-Barth 2021: 121 ff.), mit bürgerlichem Namen Claudio Matschulat. Er wurde 1956 in Porto Alegre, Brasilien, geboren. Ende der 1970er Jahre startete er eine mehrjährige Weltreise, die er in seinem ersten Buch fom winde ferfeelt (Erstveröffentlichung 1995) beschreibt. Seit 1992 lebt er in München, wo er als Autor und Kabarettist arbeitet. Eine Besonderheit seiner Literatur ist ihre Schreibweise: Seine Bücher sind in satirisch verfremdeten Spielarten des Deutschen verfasst. In fom winde ferfeelt, 110 Cornelia Zierau <?page no="111"?> 3 Vgl. ausführlicher zu Zé do Rock: Zierau (2021: 119-136). das hier im Fokus steht, verwendet Zé do Rock (vgl. http: / / zedorock.net/ inde xd) „ultradoitsh“, eine Deutsch-Variante mit vereinfachter und nahezu phone‐ tischer Rechtschreibung und das sogenannte „kauderdeutsh“, einer Art „Welt‐ deutsch“, das „lexikalische und orthographische Impulse aus verschiedenen Sprachräumen auf[nimmt] und somit dem Deutschen den emanzipatorischen Charakter einer plurizentrischen Sprache“ verleiht (Kurlenina 2010: 274). Fom winde ferfeelt folgt Kurlenina zufolge einem „poetische[n] Prinzip“, nach dem alle Texte Zé do Rocks funktionieren: „dem des Sprachexperiments auf der thematischen Folie des autobiographischen Reiseberichts“ (ebd.: 280). Denn - wie der Erzähler ironisch anmerkt -, „[d]a es sehr langweilig ist, ein Buch nur über Sprache zu schreiben und erst recht zu lesen, kriegst du meine Autobiographie im Doppelpack“ (Zé do Rock 2004: 11). In dieser Kopplung von Autobiographie und Sprachexperiment lässt sich nach Bachmann-Medick (2018: 270 f.) - ähnlich wie wir es bei Özdamar in Bezug auf die Sprachlatenz gesehen haben - ebenfalls eine „Handlungsform[…] des Sich-selbst-Überset‐ zens“ erkennen, über die sich der Ich-Erzähler, der als „welt-strolch“ in Parodie auf die Rechtschreibreform eine „links-shreibreform“ vornimmt, subversiv in die deutsche Sprache einschreibt: Es gibt einen Aspekt in der deutschen Sprache, der sicher reformiert werden könnte: die Rechtschreibung. Eine internationale Expertenkommission hat in den 80er Jahren Vorschläge für eine solche Reform veröffentlicht. Dagegen erhob sich ein solcher Ent‐ rüstungssturm, daß jetzt nur eine sehr gemilderte Version vorliegt. […] Meine Version ist radikaler und ich nenne sie ‚Ultradeutsch‘. Da ein komplettes Änderungspaket große Anstrengungen erfordert, werde ich zwei Änderungen pro Jahr durchführen. […] Am Anfang werden die Rundherum-Schikanen wie Zeichensetzung und Silben‐ trennung behandelt, danach die Buchstaben selbst - zuerst die dringenden, dann die weniger dringenden Fälle. Wie auch immer: Da es sehr langweilig ist, ein Buch nur über Sprache zu schreiben, und erst recht zu lesen, kriegst du meine Autobiografie im Doppelpack. Please fasten your seatbelt and have a good trip. (Zé do Rock 2004: 10 f.) Ich möchte mich hier allerdings auf das Prinzip des „kauderdeutsh“ konzen‐ trieren, 3 nach Kurlenina (2010: 285) eine uneinheitliche Technik, die bei Beschreibungen fremder Sprachen und Kulturen eingesetzt wird und von einer orthographischen Parodie über Aufnahme einiger weniger markanter grammatikalischer Züge einer Sprache […] bis hin zu einer weitgehenden Pidginisierung der deutschen Grammatik reicht. „In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“ 111 <?page no="112"?> An einem Auszug aus dem Kapitel di balkanisirung der helden (Zé do Rock 2004: 122) soll aufgezeigt werden, wie der reisende Protagonist sich an die Aussprache der jeweiligen Sprache des Gastlandes anpasst. Hier reist er von Griechenland in die Türkei: di helenisson gebite im oston wirkon son zimlich orientalis. Söbald ma di grenze richtung Byzantion überssritton hat, merkon das nich nur die augon söndern auch die öron, die nase und der mund söfört, ma is im orient. Natürlich is allis vermischt, und wenn ma vöm östen kömmt wirkt di Türkiye westlich. Neben Elementen der vereinfachten und phonologisierten Rechtschreibung des „ultradoitsh“, wie z. B. der konsequenten Kleinschreibung und der Weglas‐ sung des Dehnungs-e, werden im Sinne des „kauderdeutsh“ phonologische Aspekte des Griechischen („oston“, „wirkon“, „überssritton“, „augon“) aufge‐ griffen, die sich mit Grenzübertritt zur Türkei mit Merkmalen des türkischen Lautsystems, wie häufiger Gebrauch von Umlauten und zunehmender Vokal‐ harmonie („öron“, söfört“, „vöm östen“), vermischen. Je tiefer der „welt-strolch“ in das Land eintaucht, desto stärker wird die Identifikation mit der Sprache: „manchmal können di türken döytş. ‘sprechen si döytş? ’ ‘ia, einigermaszen.’ ‘wö kömmen si her? ’ ‘aus Brasil.’ ‘Brasil? wö is das? näe Frankfürt oder Berlin? ’“ (ebd.: 123). Selbst türkische Buchstaben wie das „ş“, das dem deutschen „sch“ entspricht, werden übernommen. So entstehen hybride Sprachmischungen, die Kurlenina (2010: 285) als „Weltdeutsch“ bezeichnet und die sie als Ausdruck eines/ einer Weltbürger: in versteht, der/ die nationalen (Sprach-)Begrenzungen überwindet: „Kauderdeutsh dient satirischen Zwecken, schafft aber zugleich ein hybrides ‚Weltdeutsch‘, das die Identität des kosmopolitischen Erzählers ausdrückt und stiftet“ (ebd., Hv. i. O.). Damit wird, so Viti Mariano und Lorke (2019: 96) ein „auf Nationalidentitäten basiertes Kulturverständnis […] durch das kreative hybridisierende Sprachspiel hinterfragt“. Über diese Sprachexperimente und -inszenierungen bekommen die Leser: innen darüber hinaus Einblicke in die Funktionsweisen unterschiedlicher Sprachen, was auch zum eigenen Experimentieren einlädt. Sie enthalten zudem eine dominanzkritische Perspektive: So versteht Zé do Rock „die Abweichungen von dem muttersprachlichen Sprechen […] nicht als Mängel, sondern macht sie gerade zum Kernpunkt seiner literarischen Kreativität“ (ebd.: 279). Damit wird mit Blick auf die eingangs vorgestellte Debatte um das Konstrukt Muttersprache dieser hier literarisch eine Absage erteilt und der Mehrsprachigkeit, Hybridität und Wandelbarkeit von Sprachen in globalisierten, postkolonialen und postmi‐ grantischen Gesellschaften das Wort geredet. Zudem wird - ähnlich wie im Umgang mit der Varietät des ‚Gastarbeiterdeutsch‘ in Emine Sevgi Özdamars 112 Cornelia Zierau <?page no="113"?> Erzählung - hier die identitätsstiftende Funktion von Akzenten betont, was dafür sensibilisieren kann, dass Akzente einen Teil von Identität ausmachen und nach Viti Mariano und Lorke (2019: 102) deshalb „nicht als Störfaktor bei der Kommunikation in der Fremdsprache wahrgenommen werden“ sollten. In den satirischen mehrsprachigen Inszenierungen findet, so Vera Kurlenina (2010: 298), also eine Auseinandersetzung mit der „sowohl für die postkoloniale, als auch für die Migrationsliteratur wichtige[n] Frage nach der Sprachmacht und der Thematik der Kulturvermittlung“ statt. Über die inszenierte intralin‐ guale literarische Mehrsprachigkeit setzt sich der Autor so humorvoll mit der deutschen Sprache auseinander und macht sichtbar, dass Einsprachigkeit in (post)migrantischen und globalisierten Gesellschaften lediglich ein Konstrukt und nicht gelebte Wirklichkeit ist. 4 Fazit und Ausblick: Das dominanzkritische und sprachsensible Potential literarischer Mehrsprachigkeit im Umgang mit Diversität Komme ich nun zu den eingangs gestellten Leitfragen zurück, um die Funk‐ tionen und Wirkungen von literarischer Mehrsprachigkeit abschließend zu beurteilen. Alle hier aufgezeigten Formen von literarischer Mehrsprachigkeit können zu einer Sensibilisierung für Mehrsprachigkeit und damit zur Infrage‐ stellung eines monolingualen Habitus als dominantem Diskurs beitragen. Im linguistischen Sinne können diese Elemente genutzt werden, um Sprachreflex‐ ivität zu fördern: Insbesondere in einer mehrsprachigen Lebensumgebung werden Kinder und Jugend‐ liche häufig veranlasst, auf sprachliche Phänomene bewusst einzugehen. Sie stolpern über Missverständnisse oder falsch verwendete Begriffe, werden aufmerksam auf Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen […] und entwickeln Hypo‐ thesen über Sprachen und Sprachenlernen […] (Budde et al. 2012: 33). Diese Prozesse können durch mehrsprachige Texte im Literaturunterricht gezielt initiiert werden und somit die Sprachaufmerksamkeit von Schüler: innen erhöhen. Insbesondere die Formen der latenten Mehrsprachigkeit Emine Sevgi Özdamars und die Sprachexperimente und -inszenierungen Zé do Rocks laden dazu ein. Darüber hinaus kann über mehrsprachiges Schreiben aber auch den von Dirim, Eder und Springsits (2013) kritisierten inferiorisierenden Darstel‐ lungen entgegengewirkt werden, indem wie im Umgang mit dem sogenannten ‚Gastarbeiterdeutsch‘ und den hybriden Sprach- und Akzentmischungen Zé do Rocks defizitäre Darstellungen verhandelt und neue Identifikationsangebote geschaffen werden. „In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“ 113 <?page no="114"?> Über literarische Mehrsprachigkeit können kulturreflexive Prozesse angeregt werden, über die sich neue Wissens- und Erfahrungsräume öffnen, wie z. B., wenn in Emine Sevgi Özdamars Erzählung über das Wort „Schwarzauge“ auch die Geschichte des ‚Gastarbeiter: innen‘daseins in Deutschland sowie das Schat‐ tenspiel als ein Genre des türkischen literarischen Feldes aufgerufen werden. Die Texte repräsentieren somit die Vielfalt und Hybridität postmigrantischer und postkolonialer Gesellschaften, was durch die manifest wie latent mehrspra‐ chigen Begrifflichkeiten und die Sprachinszenierungen besonders unterstrichen bzw. erst bewusst gemacht wird. Dabei wird nicht nur - im Sinne von Ulrike Eder (2009: 32 f.) - eine „Fiktion der Fremdheit“ erzeugt, sondern auch ein Perspektivenwechsel vollzogen und ein neuer Blick auf Mehrsprachigkeit frei, indem sowohl ein dominanter monolingualer Diskurs unterlaufen als auch kulturelle Diversität signalisiert und diese nicht ‚wegübersetzt‘ wird. Über die verschiedenen Formen von literarischer Mehrsprachigkeit werden so - im Sinne Tawadas - „schwarze Löcher“ als neue Wissensarchive geöffnet. Diese gezielt im Literaturunterricht herauszuarbeiten, lässt ein neues und erweitertes kulturelles Gedächtnis postmigrantischer und postkolonialer Ge‐ sellschaften sichtbar werden, in dem die Dominanz der Mehrheitsgesellschaft aufgebrochen und ein gleichberechtigteres, sprach- und diversitätssensibleres Neben- und Miteinander zum Vorschein kommt. Literatur Akin, Fatih (2000). Im Juli. Bachmann-Medick, Doris (2018). Translational Turn. In: Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.). Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt, 239-288. Blum-Barth, Natalia (2021). Poietik der Mehrsprachigkeit. Theorie und Techniken des multilingualen Schreibens (= Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik 21). Heidelberg: Winter. Blum-Barth, Natalia (2020). „[W]enn man schreibt, muss man […] die anderen Sprachen aussperren“. Exkludierte Mehrsprachigkeit in Olga Grjasnowas Roman Gott ist nicht schüchtern. In: Siller, Barbara/ Vlasta, Sandra (Hrsg.). 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Als solche kann sie auf das Feld der Mehrsprachigkeit im postmigrantischen Raum verweisen, ist aber nicht daran gebunden, da ihr eigentliches Interesse der sprachlichen Gemachtheit von Verstehen und Nicht-Verstehen geschuldet ist. Das Verhältnis zur Welt - Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals Astrid Henning-Mohr Abstract: Literary multilingualism is a part of, but not identical with, linguistic multilingualism. Luis Sepúlveda translates the voice of the white whale by making its specificity and idiosyncrasy stylistically tangible. In this experientiality, literary multilingualism is found as an aesthetic endeavour. The article presents translation as a variant of literary multilingualism without having to speak in foreign lexemes. Instead, narrative means can be used to transport the „speaking of the others“ in such a way that it retains its autonomy and yet becomes comprehensible. Keywords: Literarische Mehrsprachigkeit, Komparatistik, Übersetzung, Stimme, Luis Sepúlveda Zafer Şenocak (2011: 17) schreibt in seiner Erzählung Deutschsein: „Jedes Gespräch, das mehr sein möchte als ein Zusammentreffen von Monologen, ist Übersetzung“. Übersetzung gleicht somit einem Mehr an Sprache. Das Verb ‚übersetzen‘ macht gleichzeitig deutlich, dass dazwischen etwas ist, ein Prozess, eine Bewegung. Auf diesen Prozess will ich meine Aufmerksamkeit richten, der hier nicht als Zeichen einer anderen Lexik und Grammatik zutage tritt, sondern als eine Aushandlung, derer es literarischer Mittel bedarf, die im Folgenden Mehrsprachlichkeit 1 genannt werden. <?page no="118"?> Ich werde im Folgenden zeigen, wie die Übersetzung als ästhetische Vielstim‐ migkeit fungiert und damit einer literarischen Mehrsprachlichkeit zuzuordnen ist, die neue, andere sprachlich-ästhetische Formen [erkennt], die sich u. a. in Hybridisie‐ rungen, Grenzüberschreitungen, Neologismen und Neuformierungen manifestier[t] und dabei ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation eröffne[t]. (Zentrum für Migrations- und Integrationsstudien 2022: o.S.) Dafür soll im ersten Teil die Verbindung von Übersetzung und literarischer Mehrsprachlichkeit ausgeführt und anschließend am Beispiel Luis Sepúlvedas Der weiße Wal erzählt seine Geschichte mit einer übersetzten Tiersprache in einem übersetzten Kinderbuch aus dem Spanischen ins Deutsche veranschau‐ licht werden. 1 Übersetzung und Mehrsprachlichkeit Kinderliteraturbezogenes Übersetzen erfuhr lange Zeit eine gar stiefmütterliche Behandlung. Entweder wurde die Kinderliteratur (im Folgenden KJL) wegen ihres Adressat: innenkreises als ‚Sonderfall‘ eingestuft, weil pädagogische und diskursive Praktiken die Übersetzung von ihrem Ausgangstext so entfremden würden, dass von einer Übersetzung eigentlich nicht mehr die Rede sein könne (vgl. O’Sullivan 2000: 179). Ohne Frage existieren kinderliterarische Besonderheiten, die O’Sullivan mit Rückgriff auf Reiß zusammenfasst als Asymmetrie, da Erwachsene etwas übersetzen, das von Erwachsenen für Kinder und Jugendliche geschrieben wurde. Des Weiteren üben Vermittlungsinstanzen der KJL „Druck auf den Übersetzer aus[…], Tabus zu beachten und pädagogische Prinzipien zu achten“ (vgl. O’Sullivan 2000: 180). Auch möglicherweise geringeres Weltwissen der Kinder beeinflusst eine Übersetzung (vgl. ebd.). Dennoch müssen auch kinder‐ literarische Übersetzungen an die Ansprüche an Allgemeinliteratur gekoppelt werden. Vor allem dann, wenn die Übersetzung eine deutlich erkennbare Cross-Over-Literatur ist, wie dies bei Sepúlveda der Fall ist. Denn unabhängig vom konkreten Lesenden - wovon ohnehin zu abstrahieren ist, wenn bedacht wird, dass Literatur nicht nur für den konkreten zeitgenössischen Lesenden gedacht ist - gilt immer noch, dass auch KJL Literatur ist und damit an künstle‐ rischen und literaturwissenschaftlichen Kriterien zu erfahren und zu bewerten ist. Das behauptet auch Reiß, der es darum geht, bei einem kinderliterarischen Text ebenfalls das Wesentliche und Textbestimmende des Ausgangstextes zu 118 Astrid Henning-Mohr <?page no="119"?> 2 Sigmund Freud prägte den Begriff Traduttore - Traditore! (Übersetzer - Verräter! ). 3 Vgl. Rowohlts Übersetzung von Winnie the Pooh und deren vergleichende Analyse bei O’Sullivan 1994. erhalten (vgl. Reiß 1971: 3, zitiert nach O’Sullivan 2000: 180). Wenn also auch für kinderliterarische Übersetzungen theoretische Fragen des Übersetzungsvor‐ gangs bedeutend werden, so dürfen wir die Übersetzung der KJL nicht nur pädagogisch, sondern auch stilistisch erfassen und erkennen in der Praxis zwi‐ schen Ausgangstext und Zieltext ein Mehr an Sprache, das über das Gemeinte und Bezogene im Ausgangstext ebenso hinausgeht, wie über die Wissensformen im Zieltext. Wie zeigt sich nun dieses Mehr an Sprache in der kinderliterarischen Über‐ setzung? In der KJL begegnet uns Übersetzung sowohl als manifeste wie auch als latente Mehrsprachigkeit: Manifest ist sie, wenn eine andere Sprache explizit erfahrbar ist, etwa durch Sprachwechsel, was mit der Übersetzung einer Figurenrede erfolgen kann. Meist gelten Übersetzungen jedoch als latent mehrsprachig, da die Ausgangssprache vom Lesenden nicht direkt erkannt wird (vgl. Radaelli 2011: 54 ff.), obwohl sie die Lesart in einer vorgenommenen Interpretationsentscheidung maßgeblich beeinflusst (vgl. O’Sullivan 1994). Kilchmann wie Weinkauff stellen mit Rückgriff auf Sigmund Freud fest, dass die literarischen Übersetzer: innen immer ‚Verräter‘ seien 2 (vgl. Weinkauff 2013b: 13; Wieselberg 2021: o.S.). Im Prozess der Übersetzung werden sie Entsprechungen suchen, Sprachbilder des Originals unterlaufen, Klang und Reim verändern oder sprachliche Tiefe und Mehrdeutigkeit eliminieren. Oder sie müssen im Falle der Orientierung an der Originalsprache riskieren, dass „das Zielpublikum die Übersetzung nicht versteht“ (Weinkauff 2013b: 13). Der Übersetzungsprozess vollzieht sich irgendwo dazwischen, meint also schon an dieser Stelle ein Mehr an Sprache, ist er doch selten sichtbar und bedeutet dennoch eine ständige Dekonstruktionsleistung, welche die Widersprüche und Differenzen nie völlig ausräumt, sich aber der Verständigung immer weiter annähern könne (vgl. Prunč 2007: 256 f.). In Übersetzungen finden sich daher häufig Analogien und indirekte Bezüge zur ersten Sprache (häufig bei der Über‐ setzung von Lyrik erkennbar) (vgl. O’Sullivan 2000: 190 ff.). Manchmal können diese Bezüge bis zur Unkenntlichkeit getilgt sein: Dann wurde der Prozess der Übersetzung abgebrochen, wie dies bei Enid Blytons Hanni und Nanni der Fall ist, in welchem nicht einmal mehr die Namen auf den englischsprachigen Ausgangstext verweisen. Wenn aber die fremde Stimme als indirekte Rede bei genauem Hinsehen erfahrbar ist, so ist darin ein Mehrsprachigkeitsprozess erkennbar. 3 Mehrsprachigkeitsprozess deshalb, weil 1) dem übersetzten Text eine andere Sprache vorausgeht und 2) die Übersetzung auch bedingt, dass Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals 119 <?page no="120"?> 4 Zur ausführlichen Auseinandersetzung um Übersetzungstheorie und -praxis und ihrer historischen Genese siehe O’Sullivan (2000: 172 ff.). mit ihr immer etwas aus der übersetzten Sprache in die Übersetzungssprache aufgenommen wird, was in der einen Sprache nicht vorhanden ist (z.B.: zeigt die englische Unterscheidung von Sky und Heaven eine Mehrfachbedeutung des Wortes Himmel an, die im Deutschen zwar mitgedacht aber nicht ausgesprochen erkenntlich wird). Da aus der Sprachtheorie bekannt ist, dass sich Bedeutung meist auch erst in einer spezifischen sprachlichen Form herstellt (Apel 1983: 2, zitiert nach O’Sullivan 2000: 172 f.), müsste dementsprechend auch der Übersetzungsvorgang diese Bedeutung, die aus der Ausgangssprache kommt, transportieren. Benjamin beschreibt dies folgendermaßen: Sie [die Aufgabe des Übersetzers - AHM] besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals geweckt wird. (Benjamin 1923/ 2010: 16) Die (semantische) Übersetzung (vgl. Sepp/ Bloemen 2020: 235), die sich als Nachhall der Ausgangsin der Zielsprache bemüht, 4 stellt somit eine Form der Aushandlung von Bedeutungen, eine „interaction between literatures“ (Her‐ mans 1985: 11) dar, deren Ähnlichkeiten und Verschiebungen die Übersetzungs‐ instanz überprüfen muss. Zu dieser Überprüfung gehört auch die Frage, unter welchen Bedingungen die Intention der Autor: inneninstanz übersetzt werden soll. Wer ist die Zielgruppe? Welche Ansprüche bestehen an Literatur für diese Gruppe? Gibt es nur eine Adressierung oder mehrere? Welches Fremdver‐ ständnis mutet der Übersetzende der Zielgruppe zu? (vgl. O’Sullivan 1994: 132 f.) Welche Erklärungen oder metasprachliche Verfahren zeigt die Übersetzung an etc.? (vgl. O’Sullivan 2000: 181) Wenn der literaturwissenschaftliche Blick auf Übersetzungen diesen Prozess betrachtet, so können Übersetzungen ungeachtet ihres Transfers von lexikalischen Systemen monologisch sein, wenn Semantik und Form der Originalsprache aufgrund der impliziten Adressat: innenwahl in kulturellen Praktiken, Semantiken und Inhalt angeglichen werden. Redlinger spricht in diesem Zusammenhang von einem „Übertönen der Stimme des Erzählers der Übersetzung“ (Redlinger 2015: 42). Dieses Übertönen verursacht ein Verstummen der Originalsprache durch Tilgung erklärungsbedürftiger Elemente. Oft handelt es sich dabei um sprachlich und kulturell spezifische Phänomene, wie etwa Sprachstile und Wortwitz, die sich Leserinnen und Lesern eines anderen […] Sprachraums aufgrund fehlender Entspre‐ chungen oft nur durch langwierige metasprachliche Erklärungen erschließen würden. (ebd.: 43 f.) 120 Astrid Henning-Mohr <?page no="121"?> Dass sich das Übertönen in der KJL zugunsten eines dialogischen Übersetzens peu a peu auflöste, verdankt sich insbesondere den Arbeiten von Emer O’‐ Sullivan zum dialogischen Übersetzen (dialogisch meint hier das sprachliche Verhandeln von Weltsichten und Bedeutungen). Ihre Frage: „[w]as […] für den jungen Leser geeignet [ist], wieviel Fremdheit (und ich möchte hier hinzufügen: Wie viel sprachliche Fremdheit) verträgt er, […]“ (O’Sullivan 1991: 5) bezieht ein Mehr an Sprache, das über die eigene Sprache hinausgeht, ein, reduziert die ‚fremde Welt im Text‘ nicht nur auf die Mitteilungsabsichten des Textes, sondern auch auf das Kunstfertige der Sprache, jenes Mehr an Sprache, welches das Kunstwerk und die Literatur als solche bestimmt und von der reinen Mittei‐ lungsabsicht unterscheidet. Kurz: Emer O’Sullivan fügt der kinderliterarischen semantischen Übersetzung auch eine Übersetzung der Form hinzu. Um diese Form in der KJL-Übersetzung, die hier aufgrund ihres ästhetisch-stilistischen Gehalts Mehrsprachlichkeit genannt ist, stärker zu fassen, greife ich folgend auf Benjamins Übersetzungsbegriff zurück, dessen Überlegungen zur Sprache das Wesentliche eines Kunstwerks in den Fokus nehmen und in ihrer Übertragung auf die KJL eben dieses spezifisch Künstlerische an Kinder zu vermitteln anstrebt. Diesem spezifisch Künstlerischen haftet nun auch immer das Fremde an, sei es das Verfremden alltäglicher Gewissheiten im Kunstwerk oder ein Transfer fremder Formen, Blicke oder Weltanschauungen. Benjamins „Echo des Originals“ (1923: 16) ist nichts weniger als die Sichtbarmachung eines ästhetischen Mehrsprachlichkeits- und Mehrdeutigkeitsprozesses, der das Spiel zwischen den Sprachen als erhebliches Prinzip der Literatur betrachtet (vgl. Kilchmann 2012) und das Fremde im Kunstwerk zum Vorschein kommen lassen will. 2 Benjamins Echo des Originals und Bachtins Dialogizität unsere übertragungen auch die besten gehn von einem falschen grundsatz aus. sie wollen das indische, griechische, englische verdeut‐ schen anstatt das deutsche zu verindischen, vergriechischen, verenglischen, sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks (Benjamin 1923: 20) Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals 121 <?page no="122"?> 5 An dieser Stelle danke ich Esther Kilchmann und Thomas Boyken für diesen Verweis. 6 Hier in seinem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916). Benjamins Verweis auf das Verhältnis der Übersetzenden zur Sprache rückt also von der Mitteilung des Kunstwerks (in unserem Fall sind es die meist pädagogischen Aussagen, die vermeintlich übersetzt werden sollen) ab und betont als Wesentliches der Dichtung das „[U]nfaßbar(e), [G]eheimnisvoll(e)“ (Benjamin 1923: 9). In Anlehnung an Jakobson ist dieses Geheimnisvolle wohl das spezifisch Poetische, das sich eigentlich nicht übersetzen lässt (vgl. Jakobson 1971: 118). Es ist der Ton, der nachhallt, wenn das Gemeinte in einer Sprache gefühlt, aber nicht kognitiv erfasst werden kann. Auch wenn Benjamins sprachphilosophische Überlegungen nur wenige konkrete Hinweise auf eine Übersetzungsarbeit geben, so lässt sich dennoch festhalten, dass es Bedingungen gibt, welche die Übersetzbarkeit eines Textes im Sinne des poetischen Nachhalls des Originals, im Sinne einer dialogischen Übersetzung ermöglichen. 5 Um die Beziehung zwischen den Sprachen als Nachhall der einen in der anderen Sprache zu erhalten, müssten die Übersetzenden auf ein unfassbares Mehr der Dichtung hinweisen und nicht nur das Gemeinte, sondern auch die Art und Weise des Meinens, d. h. die Beziehung zum Gemeinten darstellen (vgl. Benjamin 1923: 14). Dialogische Übersetzung heißt damit, die Beziehung der einen Sprache zu dem übersetzten Wort und zur anderen Sprache deutlich zu machen, 6 auf die Lücken, Brüche, Leerstellen, phonetischen, lexikalischen und semantischen Klüfte zu verweisen, über die dann Brücken gebaut werden können. Statt sich auf die Kardinalfrage nach der Höherwertigkeit von Original oder Zielsprache einzulassen, übernimmt die Frage nach der Dialogizität der Über‐ setzung den Nachhall der fremden Sprache und verändert damit die Zielsprache gleich mit. Die deutsche Bezeichnung des Himmels erfährt z. B. erst in der Übersetzung ins Englische ihre Vollständigkeit, da dort die Doppeldeutigkeit des Wortes offensichtlich und benannt wird. Auf diese Weise werden die literarischen Mittel der Ausgangssprache beibehalten. Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers. Um ihretwillen bricht er morsche Schranken der eigenen Sprache: Luther, Voß, Hölderlin, George haben die Grenzen des Deutschen erweitert. (ebd.: 19) An dieser Stelle tritt Bachtins Konzept der Dialogizität in den Übersetzungspro‐ zess und in den Mehrsprachlichkeitscharakter einer Übersetzung ein. In seiner Beziehungsanalyse der Stimmen innerhalb eines Textes erfasst Bachtin jene Texte als monologisch, in denen den Protagonist: innen nur zukommt, innerhalb 122 Astrid Henning-Mohr <?page no="123"?> der Wirklichkeit zu agieren, die ihnen von der Erzählinstanz gegeben würde, in einer dialogischen Ordnung agieren Erzählinstanz und Figuren gleichberechtigt (vgl. Martínez 1996: 433). Übertragen auf die Übersetzung bedeutet das, dass eine dialogische Übersetzung auf die Mehrperspektivität und die Bedeutungs‐ aushandlung verweist. Dass dies mit Literatur grundsätzlich zu erfassen ist, liest sich bereits bei Foucault, der die literarische Sprache als von vornherein besonders geeignet erachtet, um die Bedeutungen, Wahrheitsaussagen und Diskurse der Übersetzungssprache zu verlassen, und damit aus deren kulturellen Übereinkünften herauszutreten: Die Literatur ist nicht die Sprache, die so sehr zu sich selbst findet, dass sie in hellem Licht erstrahlt, sondern die Sprache, die sich am weitesten von sich selbst entfernt, und wenn sie ihr Wesen enthüllt, indem sie aus sich heraustritt, so zeigt sich in dieser plötzlichen Klarheit eher ein Abstand als eine Rückwendung, eher eine Zerstreuung als eine Rückkehr der Zeichen zu sich selbst. (Foucault 1966: 672) Als literarisches Mittel, das über das Monologische oder Dialogische eines Textes entscheidet, fungiert bei der Übersetzung die Entscheidung über die Adressierung und über die polyvalenten Wortbedeutungen (vgl. O’Sullivan 1994: 132). Bedeutungen der Sprache unterliegen dabei kulturellen Praktiken und Übereinkünften und müssen im Dialog verhandelt werden. Als ein „fremder Ausdruck für das Bekannte“ (Radaelli 2011: 262) wird die Bedeutungsaushandlung in der Literatur nicht erst seit Brecht sichtbar und erweist sich dort als Ort der Verfremdung und damit der Verdoppelung der Sprache - als Mehrsprachlichkeit. Die Verdoppelung der Sprache ist damit ein Charakteristikum des Literarischen. Eine dialogische und auf das Mehr an Sprache bezogene Übersetzung müsste auch in der KJL die Normabweichungen besonders in den Blick nehmen (vgl. Bloemen/ Sepp 2020: 243). Ich möchte nun am Beispiel Sepúlvedas und Zurbrüggens aufzeigen, wie die sprachliche Normabweichung in der Übersetzung eine literarische Mehrsprach‐ lichkeit als Beziehung der Sprachen zueinander erfahrbar macht. Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals 123 <?page no="124"?> 7 Inwieweit das Folgende bereits im spanischen Original zu lesen ist, kann ich als nicht Spanisch-Verstehende nicht feststellen. Von Weinkauff findet sich allerdings ein Artikel zum Übersetzen bei Sepúlvedas Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte im mehrsprachigen Medienverbund. Zurbrüggen war auch damals der Übersetzer und Weinkauff stellt fest, dass dessen Übersetzung dem spanischen Original recht nahekommt, weshalb auch für diese Zusammenarbeit davon ausgegangen werden kann (vgl. Weinkauff 2013a: 69). 3 Sepúlvedas mondfarbener Wal - das Echo der tierischen Stimme 7 Wie bereits erwähnt, lässt sich KJL nicht homogenisieren - die Übersetzung eines Gedichts unterliegt anderen sprachlichen Auflagen als die eines Sach‐ buches. Im Folgenden untersuche ich eine kinderliterarische (doppelte) Über‐ setzung einer Erzählung, die aufgrund ihres intertextuellen Gehaltes leicht als Cross-Over-Literatur erkannt werden kann. Luis Sepúlvedas Geschichte des weißen Wals rekurriert auf den Text von Melville und die damit verbun‐ dene legendengleiche Waldarstellung, die als kulturelles Gedächtnis im west‐ lich-amerikanischen Raum vorausgesetzt werden kann. Auf diese Weise tritt Sepúlveda als erstes in einen Dialog mit dem Autor Melville bzw. dessen Text, der hier allerdings nicht neu erzählt wird. Stattdessen behält sich Sepúlveda die (übersetzerische) Freiheit vor, den Sinn Melvilles so auszulegen, dass der Wal hier als Protagonist fungiert. Allein darin muss das vorliegende Buch schon als dialogisch im Sinne Bachtins gelesen werden und trägt bereits in seinem Konzept ein Mehr an Sprache in sich, da hier die Verlagerung auf die Sprache des Wals dem Archetext ein Mehr - eine weitere Sprache - hinzufügt (vgl. Bachtin 1990: 92). Sepúlvedas Wal ist zwar grundsätzlich implizit übersetzt; das bedeutet, dass wir davon ausgehen, dass der Wal Walisch spricht, auch wenn wir ihn auf Deutsch lesen. Aber ein winziger Hinweis auf die manifeste Übersetzung findet sich im Prolog. In diesem, der als „Die alte Sprache des Meeres“ betitelt ist, trifft eine Erzählinstanz, die nur für diesen Prolog auftaucht, auf einen Jungen der Lafkenche (ein indigenes Volk in Südamerika). Der Junge gibt dem Erzähler nach einem kurzen Dialog eine Muschel: „Halt sie an dein Ohr, dann wird der Wal zu dir sprechen“ (Sepúlveda/ Zurbrüggen 2020: 11 im Folgenden als Sigle SZ). Der Wal ist also nicht direkt verstehbar, einige Menschen benötigen ein Transferinstrument, ein Mittel der Übersetzung, durch welches der Wal verstehbar wird. Damit erkennt Sepúlveda die Stimme des Wals als etwas an, das übersetzt werden muss, das also eine eigene Stimme und Sprache besitzt. Was nun folgt, ist eine Geschichte des weißen Wals von ihm erzählt, in seiner Sprache und Stimme. Willi Zurbrüggen wählt dafür eine besonders lyrische 124 Astrid Henning-Mohr <?page no="125"?> Sprache des Wals, in der - als verfremdeter Erzählduktus - die Fremdheit der Sprache erhalten bleibt. Ich, der Wal von der Farbe des Mondes, lebe im Meere, das begrenzt ist vom Land, an dem das Licht des Tages seinen Anfang nimmt, und dem Horizont, hinter dem die Sonne versinkt, um den Sternen ihren Platz zu überlassen. (SZ: 19) Beim Lesen entwickelt sich eine Stimme des Wals, der nicht wie die Men‐ schen spricht, obwohl wir hier seine Worte lesen können. Benjamins Echo ist somit eher durch die ästhetischen Mittel erfahrbar, als durch einen schnell erkennbaren Sprachwechsel. Die Stimme des Wals ist gekennzeichnet durch eine Verfremdung der Rede und ihre damit verbundene Verschiebung des Sprechens ins Ungewohnte. Somit wird eine doppelte Übersetzungserfahrung ermöglicht: Einmal eine (unbewusste) aus dem Spanischen und eine, die sich als Anderssprachigkeit durch das Buch trägt, obwohl sie Buchstaben und Wörter nutzt, die ad hoc verstehbar sind: Die Sprache des Wals, die selbstverständlich nicht die gleiche sein kann, wie die der Menschen, wenn es darum geht, SEINE Geschichte zu erzählen, benötigt spezifische Formen des Echos. Um dies zu verdeutlichen, betont Sepúlveda zuerst ein anderes Kommunikationsorgan als den Mund. Das (ver)fremdete Sprechwerkzeug stellt die Grundbedingung für ein anderes Sprechen dar, welches einer Übersetzung bedarf: Das Sprechen mit den Augen Bereits in seinem früheren Kinderbuch vom Kater Zorbas transferiert Sepúl‐ veda die Sprachunterscheidung von Tier und Mensch dadurch, dass er ganz folgerichtig die Katzen nicht sprechen, sondern miauen lässt (im Original maullar) (vgl. Weinkauff 2013a: 70). In dieser lexikalischen Abgrenzung wird die Übersetzung erfahrbar, es ist offensichtlich, dass das Miauen eine Übersetzung gebraucht hat, um es mit der Menschensprache verstehen zu können. Ähnliches trifft auch auf den weißen Wal zu: In der Erzählung besitzt dieser eine Kommunikationsfähigkeit, die ihm im Archetext der Geschichte - in Moby Dick - noch rundheraus abgesprochen wurde. Dort hatte das erlebende Ich Ismael behauptet, dass der „Wal […] keine Stimme […] [habe], von seinem erstickten Röcheln durch sein Blasloch einmal abgesehen, […]“ (Melvill/ Jendis 2020: 556). Bei Sepúlveda erhält das Auge für die Kommunikation eine herausragende Rolle: Ich begab mich an seine Seite (des Wals, der von einer Harpune getroffen wurde - AHM) und schwamm langsam, suchte sein Auge, damit es sich in meinem spiegelte. (…) In ihnen spiegelt sich, was wir sehen, und auch das, was wir gesehen haben. Im Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals 125 <?page no="126"?> Auge des Grindwals sah ich, dass der Schaft in seinem Rücken von einem Wurfspeer stammte, einer Erfindung der Menschen. Im Auge des Grindwals sah ich, dass der Wurfspeer seine Lunge durchbohrt hatte und er kaum noch atmen konnte. Im Auge des Grindwals sah ich eine Warnung: Die Menschen begannen Jagd auf uns zu machen. (SZ: 33 f.) Während also im Archetext zwischen Walfängern und den Walen keine Kom‐ munikation zustande kam, weil erstere die Kommunikationsorgane des Wals nicht zu kennen vermochten, verweist Sepúlveda mit einer Neudeutung der Kommunikationsorgane auf deren Sprechfähigkeit. Diese ist so gestaltet, dass der Wal sich nicht nur unterhalten kann, sondern auch über die Fähigkeit verfügt, im Gestern, Heute und der Zukunft zu denken und zu sprechen. Der Wal kann also sprechen, seine Stimme ist vernehmbar. Diese erste und grundlegende Funktion hat die virulente und breite Darlegung des Kommuni‐ kationsorgans. Aber bringt das andere Organ auch eine andere Sprache hervor und wenn ja, wie ist diese übersetzbar? Dafür ist ein Blick auf den Modus des Sprechens erkenntnisreich: Indirekte Rede Mit Waldenfels und dem Rückgriff auf Genette geht die indirekte Rede, die größtenteils für den Wal eingesetzt wird, immer etwas über ihren Sachinhalt hinaus (vgl. Waldenfels 1999: 12) und taugt daher „in besonderem Maße dazu […], Fremdes zur Sprache zu bringen, ohne es in die jeweilige Sprache einzuge‐ meinden“ (ebd.: 12). Denn in der indirekten Rede ist immer die andere Rede vorhanden, sei es im über-jemanden-Reden oder im unterschwelligen Mitspre‐ chen des Anderen (vgl. ebd.: 12). Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Rede sich verdoppele (vgl. ebd.: 12). Bei Sepúlveda wird der Wal mit seiner indirekten Rede zu einem Übersetzer, in dessen Rede wir das Echo der anderen Wale, indigenen Völker und Walfänger mithören. Seine Übersetzungen finden sich, wenn der Wal sich das Verhalten der Menschen übersetzt, z. B. indem er einen Angriff eines Schiffs auf ein anderes als Begrüßung interpretiert - eine freudlose zwar, aber eine Begrüßung (vgl. SZ: 27 f.): Auch dies war ein stolzes Schiff mit vom Wind geblähten Segeln. […] ich fragte mich, wie eine Begegnung von Menschen auf dem Meer wohl vonstattenging. Wenn wir Wale uns zusammenfinden, […] schwimmen wir im Kreis, springen, lassen uns auf dem Rücken wieder ins Wasser fallen […]. Die Freude über unser Zusammentreffen zeigt sich in lautem Prusten […]; in unseren Gesängen und Pfiffen und den Klicklauten, […]. Wie würden die Menschen ihre Freude der Begegnung zeigen? Als das schnellere 126 Astrid Henning-Mohr <?page no="127"?> Schiff das erste erreichte, hörte man ein lautes Geräusch, so mächtig wie das Poltern der schwarzen Wolken während eines Gewitters, schreckenerregender als der Blitz, der die Luft zerreißt […]. Und das war der freudlose Gruß, den die Menschen sich sandten. (SZ: 27) Überhaupt sind die Begrifflichkeiten der Menschen sorgsam verfremdet. Wir lesen zwar, wie die Menschen Kennzeichen ihrer beider Welt nennen, doch in der Fokalisierung des Wals wird diese Nennung nicht einfach übernommen, sondern als fremd erfahrbar gemacht. Statt Bezeichnungen gibt es Beschrei‐ bungen. Die Leser: innen können wissen, was gemeint ist, und können dennoch die andere Sprache erfahren, sie bleibt als Hintergrund gewiss, wenn der mondfarbene Wal z. B. sagt: […] denn dort, wo das Festland endet, vereinigt sich das Meer, in dem ich lebe, mit einem anderen, an dem ich noch nie war und zu dem ich auch nie hinschwimmen werde, denn dort sind die wütenden Wellen mächtiger und stärker als jede andere Kraft, und die Gefahr, an den Felsen zerschmettert zu werden, ist sehr groß. Die Menschen nennen diesen Ort, an dem zwei Meere sich treffen, Kap Horn, und wenn sie den Namen aussprechen, schaudern sie. (SZ: 26, Hv. AHM) Der Wal übersetzt sich und die Sprache der Menschen also so, dass die Sprache der anderen immer noch gehört werden kann. Auf diese Art und Weise sagt der Wal mehr als er wirklich sagt (vgl. Waldenfels 1999: 11). Das Echo der Menschen in seiner Übersetzung nimmt uns Leser: innen die Gewissheit, genau zu wissen, was Menschen warum tun, zum Beispiel jagen, um zu essen, für Mocha Dick, um der Dunkelheit zu entfliehen (vgl. SZ: 37) - die Übersetzung als indirekte Rede verfremdet ein menschliches Wissen und übersetzt es neu. Erzählzeit Als literarisches Mittel der Übersetzung nimmt im vorliegenden Werk die Erzählgeschwindigkeit einen breiten Raum ein. Die ursprüngliche Verbunden‐ heit von Mensch und Wal wird im Echo des Wallebens als Raffung, als eine Parallelität erzählt. In dieser Raffung deutet sich die Langsamkeit der Historie an, die dem menschlichen Auge verborgen bleibt, weil der Mensch nicht mit den Augen der Wale zu sehen im Stande ist (SZ: 33). Ergänzt durch eine Illustration, die ein Walauge zeigt, in dem sich ein Drei‐ master spiegelt, verweisen die rhetorischen Wiederholungen auf Jahrhunderte altes und den Menschen nicht (mehr) zugängliches Wissen. In Zeitraffung wird hier eine dauerhafte Wiederkehr des immer Gleichen erzählt. Auch die Zeitraf‐ fung, in der die Generationenabfolge der Menschen erzählt wird, trägt zu der Ausbreitung der erzählten Zeit bei. Zusätzlich ergänzen ausführliche Verweise Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals 127 <?page no="128"?> auf das immer wiederkehrende Warten die fühlbare Ausweitung der erzählten Zeit im Verhältnis zur Erzählzeit. Dieses Verhältnis macht die Walstimme nahezu hörbar: als bedächtig und geduldig mit einem Ewigkeitsausdruck. Das Echo des Wals und seiner Verbindung zu den Menschen ist nicht in konkreter Mehrsprachigkeit in der Literatur zu vernehmen, sondern explizit durch eine Erzähltechnik der Mehrdeutigkeit - nämlich dem Spiel mit erzählter versus Erzählzeit. Aber nicht nur in der Erzählzeit ist die Erzählstimme der impliziten Überset‐ zung zu hören, sondern auch im Namen des Wals, der im Titel nicht genannt wird und damit bereits auf eine Abwandlung der menschlichen Zuschreibung anspielt. Der Name Die Benennung von Dingen und Lebewesen beinhaltet stets einen Hinweis auf die Rolle der Übersetzung im konkreten Werk. Ob Phonetik, Letter oder überhaupt ein Name, in jedem Fall ist dieser, so Weinkauff und Glasenapp (2014: 211), ein Hinweis auf die Übersetzungsstrategie. Der Name Mocha Dick ist eine Übersetzung aus dem Originalbericht über die Walsichtung, die sich nicht auf Melville bezieht, sondern auf den Wal, dessen Berichte Melville erst zum Schreiben animiert haben (vgl. Reynolds 1839: 383). Im Konkreten kann die Übersetzung des Namens in einer aufmerksamen Betrachtung des Sprach‐ transfers mit „klanglichen, rhythmischen und syntaktischen Merkmalen [der] […] Ausgangsschrift“ (Weinkauff/ Glasenapp 2014: 211) vertraut machen und den Sprachklang transportieren. Ob Mocha oder Mocha Dick - die Betonung (im Sinne von Pronunciation) bedingt ein kurzes Innehalten, ein Nachdenken über den Namen, er läuft nicht mehr so schnell von der Zunge wie Moby Dick. Dieses kurze Innehalten ist das kurze Bedenken des Wortes, seiner Einordnung und seiner Aussprache - ein Innehalten, das auch immer ein Bedenken dessen ist, wovon hier gerade die Rede sein soll. Dadurch wird der fremde Name nicht einverleibt, sondern wird markiert als etwas, das fremd und neu in die übersetzte Sprache eintritt. Zusammenfassung der Übersetzung des Wals Wir hören also in Zurbrüggens Übersetzung den Übersetzungsvorgang aus der Walsprache, die Sepúlveda schuf. Über die Übersetzung aus dem Spanischen hinaus bleibt das Original der lyrischen Walsprache erhalten. Im intertextuellen Verweis hören wir darüber hinaus den Archetext Melvilles. Insgesamt ist im literarischen Prozess neben der latenten Mehrsprachigkeit des Textes (Spa‐ nisch-Deutsch) eine Mehrsprachlichkeit erfahrbar geworden, die nicht über den 128 Astrid Henning-Mohr <?page no="129"?> Autor oder über fremdsprachige Lexeme wahrnehmbar ist. Der Sprachwechsel ist dabei nicht offensichtlich, nicht im fremden Wort erkennbar, sondern er erfolgt durch literarische und erzählerische Mittel. Diese Mittel knüpfen mit ihrem permanenten Verweis auf Uneindeutigkeiten und Mehrdeutigkeiten an die Mehrsprachlichkeit an (vgl. Kilchmann 2016: 45). Konklusion Übersetzung als Mehrsprachlichkeitsprozess in der KJL Die Übersetzung der Tierstimme konstruiert die nichtmenschliche Umwelt. Im Gegensatz zur verbreiteten Anthropomorphisierung der Tiere in der KJL oder dem Verstummen der Tiere im Archetext Moby Dick folgt Zurbrüggens Übersetzung einer Absicht des Originaltextes - nämlich die Stimme des Wales hörbar zu machen. Bei einer solchen Absicht, die als ‚Echo des Originals‘ angenommen werden kann, bedarf es dabei auch eines neuen Blicks auf die Sprache der Tiere (vgl. Lindenpütz 2000: 737). Dabei geht es nicht nur darum, die Intention des Autors aus dem spanischen Originaltext zu erfassen, sondern die Sprache des Wals in der Übersetzung mitzutragen. Bei Sepúlveda erhält der Wal eine ganz eigene Würde, von der Ewers feststellt, dass sie eine Eigenständigkeit besitzt (vgl. Ewers 2013: 7), die sich tendenziell in der lyrischen Sprache widerspiegele. Auf diese Weise wird die Übersetzung zu einem Mehr an Sprache, die „‚Übersetzung‘ als Konzept wird so zu einer Metapher der Vermittlung von Ideen, Auffassungen, Normen und Werten“ (Sepp 2020: 61 f.). Sepúlveda als Autor der „vergessenen Stimmen“ (Simmen 2022: o.S.) reiht sich dabei ein in eine Literatur, in der das Sprechen der Anderen eine Frage der Norm und des Ausschlusses ist. Das mit der Übersetzung solcher „vergessenen Stimmen“ dieselben nicht gleich wieder in eine Norm einverleibt werden, ist eine hohe Kunst, wie wir selbst oft im Sprachgebrauch feststellen. Dennoch zeigt die dominanzkritische Analyse von Sprache, dass das Sprechen jener vergessenen (im doppelten Wortsinn) oder marginalisierten Sprecher: innen in anderen Zungen erfolgt und sich der Normsprache immer wieder entzieht. Als solches Entziehen, das gleichzeitig die Normsprache ändert, ist die Übersetzung als literarische Mehrsprachlichkeitspraxis ein wichtiges Instru‐ mentarium des Sprechens der Marginalisierten. Als ihre Strategie übernimmt die Übersetzung nicht nur einen Transfer linguistischer Elemente, sondern transferiert Mehrdeutigkeiten in die Normsprache und macht damit die Norm variabel, bespielbar. Im Sinne Waldenfels kann das Fremde damit erfahrbar werden, weil es als eine Rede oder Handlung von etwas Anderem erkennbar ist (vgl. Waldenfels 1999: 10). Übersetzungen von KJL durch Erwachsene bedürfen ein Eintauchen in die „karnevalistische Welt“ der Kinder. Statt die Mitteilung in den Mittelpunkt der Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals 129 <?page no="130"?> Übersetzung zu stellen und damit Start und Ziel des übersetzten Wortes als ausreichend zu erachten, gilt es die Betonung des Prozesses als Spiel mit der Sprache erkenntlich zu machen (vgl. Redlinger 2015: 38; Kilchmann 2016). Das Spiel der Sprache auszumachen, bedeutet für die lesenden und hörenden Kinder wie Erwachsenen, das Mehr an Sprache erfahren zu können. Didaktisch bietet damit die Übersetzung eine Ressource der Mehrsprachigkeitskompetenzen, in‐ itiiert durch eine Erfahrung der Mehrsprachlichkeit von Literatur, pädagogisch initiiert sie eine Teilhabe von zweisprachigen Kindern, indem ein wesentlicher Aspekt der Schule (die Sprache) als per se mehrdeutig und mehrstimmig erfahren wird und literarisch zeigt die Übersetzung die Unabschließbarkeit der Sprache, die weniger auf ein Überwinden von Zweisprachigkeit zielt, als den Prozess desselben zu einem wesentlichen und lustvollen Dauerzustand zu machen. Esther Kilchmann, die in ihrer aktuellen Studie Freuds Übersetzungs‐ tätigkeit untersucht, stellt fest, dass „Übersetzung […] zu etwas [wird], in dem man immer über Grenzen hinweggehen kann“ (vgl. Wieselberg über Kilchmann 2021: o.S.). Über die Grenzen der Sprache ebenso wie über die Grenzen der eigenen Sicht auf Dinge, Phänomene, Menschen oder Wale … Literatur Bachtin, Michail (1990). 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In this context, literary complexity (Germ.: Vielschichtigkeit) is to be understood as the interplay between linguistic ambiguity, literary exploration of the possibilities and limits of language, and the intertextual embedding of poetic signs and their interdependencies. In its confrontation with different languages, literary multilingualism emphasizes the structure and dynamic character of language and enhances intertextuality. Through its meta-discourse on the structure of multilingual texts, the picture book Ein bisschen wie du. A little like you promotes language awareness. At the same time, it emphasizes the reality of a multilingual person or ‚language‘ as a signifier of identity in its autodiegetic narration. Keywords: intertextuality, ambivalence, multilayered, complexity, language systems, hierarchies, deconstruction, multilingual picture book, multilingual iden‐ tity Die Beschreibung eines Gegenstandes, Sachverhaltes oder Subjekts als ‚viel‐ schichtig‘ akzentuiert die Komplexität des Bezeichneten. Zunächst verweist das Adjektiv anschaulich auf die ‚vielen Schichten‘, die dem Bezeichneten inhärent sind. Es ist eben nicht ‚einschichtig‘, sondern der Begriff illustriert visuell die heterogene, vielfältige, facettenreiche und verschiedenartige Beschaffenheit (vgl. Duden 2023). ‚Vielschichtigkeit‘ als Konzept respektive Eigenschaft ist auf verschiedene Kontexte übertragbar, so wird von vielschichtigen Problemen <?page no="134"?> 1 Im Beitrag wird von einem weiten Textbegriff ausgegangen, der sowohl literarische Texte als auch andere mediale Erzeugnisse (Hörspiel, Film etc.) miteinbezieht. ‚Text‘ impliziert folglich die Bild- und Tonebene. 2 Vgl. Köppe und Winko 2013: 127-132 sowie Stiegler 1996: 327-332. Um ein Zusam‐ mendenken von Literatur, Geschichte und Gesellschaft zu ermöglichen, werden hier alle Formen kultureller Zeichensysteme als Text begriffen (Generalisierung). Ziel der literaturtheoretisch-ontologischen Strömung, als deren Vertreter: innen u. a. Kristeva gilt, ist es, die Beziehung zwischen Texten (jegliche kulturelle Zeichensysteme) sowie ihre dynamische gegenseitige Durchdringung zu beschreiben/ erforschen. Dabei wird eine eindeutige Sinnbildung (Textauslegung) im Sinne der hermeneutischen Tradition negiert - eine Nähe zur Dekonstruktion nach Derrida zeigt sich (vgl. Fußnote 3). Es ließe sich diskutieren, inwiefern diese Öffnung und Negation eines eindeutigen Sinns eine weitere Dimension der Vielschichtigkeit widerspiegelt (bezogen auf immer neues Lesen; Bedeutung der Rezipierenden). (Konfliktforschung), vielschichtigen Texten 1 (Literaturwissenschaft) oder von Vielschichtigkeit als Merkmal von ‚Identität‘ gesprochen. Budde (vgl. 2012: 11) bezeichnet in diesem Zusammenhang auch Personen als vielschichtig. Den hier kurz eingeführten Begriff der Vielschichtigkeit möchte ich nachfol‐ gend für eine konstruktive Auseinandersetzung mit mehrsprachigen Texten in Anschlag bringen. Die zugrundeliegende These ist, dass mit der Mehrspra‐ chigkeit bzw. durch die Interaktion differenter Sprachsysteme der ohnehin vieldimensionale, literarische Text eine (ästhetische) Erweiterung erfährt. Aus‐ gehend von einer literaturtheoretischen Perspektive stellt der Beitrag zunächst ‚Vielschichtigkeit‘ als Merkmal literarischer Texte heraus (1). Neben Überle‐ gungen zur Mehrdeutigkeit von Sprache wird hier insbesondere Kristevas Intertextualitätsverständnis 2 - als ein mögliches Modell textueller Vielschich‐ tigkeit - berücksichtigt. In einem zweiten Schritt gilt es, den theoretischen Zugang mit der Analyse eines mehrsprachigen Bilderbuches zu verknüpfen (2). Anhand des Beispiels Ein bisschen wie du. A little like you (Aebi et al. 2018) wird Mehrsprachigkeit als erweiternde Dimension literarischer Vielschichtig‐ keit nachgewiesen und es werden die textimmanenten ästhetischen Verfahren analysiert. 1 Der vielschichtige Text Begreift man die kleinste Einheit des poetischen Textes, das literarische Wort, mit Julia Kristeva als heterogen und seinen Sinn als prozesshafte, momentane Setzung (vgl. Suchsland 1992: 64-69), ergibt sich „nicht ein Punkt (ein fest‐ stehender Sinn) […], sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen“ (Kristeva 1972: 346, Hv. i. O.). Diese Überlagerung bzw. ‚Vielschichtigkeit‘ lässt sich als besondere Qualität literarischer Texte feststellen und resultiert, folgt man 134 Lisa Rettinger <?page no="135"?> 3 Hier zeigt sich die Nähe der ontologischen Intertextualität zum Poststrukturalismus, der die Möglichkeit eines eindeutigen Sinns negiert und Text als vom Schreibenden (Autor: in) losgelöst/ offen begreift (vgl. Berressem 2013: 619 ff.). der Perspektive der Intertextualität, aus der Interaktion mehrerer (Text-)Dimen‐ sionen. Abb. 1: Eigene Darstellung nach Kristeva 1972 Zunächst lässt sich das Wort zwischen Autor: in und Leser: in verorten. Mit der Loslösung des Zeichens aus seinem Entstehungskontext öffnet es sich für differente Sichtweisen, die sich infolge der Überlagerung von Autor: innen- und Rezipierenden-Diskursebene ergeben. 3 Das Wort ‚gehört‘ beiden Subjekten gleichermaßen und Ambivalenzen werden möglich (vgl. ebd.: 347 f.). Darüber hinaus entspinnt sich ein Dialog zwischen dem Wort und anderen vorausge‐ henden sowie gegenwärtigen Texten (hier jegliche kulturelle Zeichensysteme). Das Wort entsteht folglich nicht isoliert, sondern in einem dialogischen Prozess als Auseinandersetzung mit Bestehendem. Sowohl die diskursbedingte Ambiva‐ lenz als auch die dialogische Wortgenese führen dabei zu einer Vielschichtigkeit des literarischen Wortes (Textes). Denn „das Wort (der Text) ist Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen läßt“ (ebd.: 347 f.). Heterogenität, Mehrdeutigkeit und Pluralität werden so zu einem wesentlichen Bestandteil in der Rezeption literarischer Texte. Denn „die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen“ Zur Potenzierung der literarischen Vielschichtigkeit 135 <?page no="136"?> 4 Ein Beispiel für dieses Spiel mit sprachlicher Mehrdeutigkeit diskutieren Bauer et al. (2010: 29 ff.), wenn sie anhand von Romeo and Juliet die unterschiedlichen Facetten der Aussagen von Juliets Amme und Romeo herausarbeiten und das literarische Bedeutungsspiel offenlegen. (ebd.: 348, Hv. i. O.). Nimmt man das ‚zumindest‘ in den Ausführungen Kristevas ernst, lässt sich feststellen, dass literarische Texte infolge des Zusammenspiels von diskursbedingter Ambivalenz und dialogischer Wortgenese vielmehr ein plurales Lesen ermöglichen. Neben diesem Blick auf die relationale Einbettung des poetischen Wortes gilt es auch die sprachliche Beschaffenheit literarischer Zeichen zu betrachten. Sprache als ihr Fundament ist mehrdeutig. So beschreiben Berndt und Kammer (2009: 13) Ambiguität als eine dem Sprachsystem notwendige inhärente Struktur. Die Mehrdeutigkeit von Sprache zeigt sich (linguistische Perspektive), wenn ein Satz mehr als eine Deutung zulässt (z. B. Markus umarmt seine Frau und Paula auch.) oder ein Ausdruck (Signifikant) mehrere Inhalte (Signifikate) impli‐ ziert (z. B. Gericht). Folglich lassen sich Wörter als „kleinste bedeutungstragende Elemente, auch [als] die kleinsten ambiguitätsfähigen Einheiten überhaupt“ (Bauer et al. 2010: 47, Hv. i. O.) beschreiben. Sowohl auf der Wortals auch auf der Satzebene sind Mehrdeutigkeiten demnach strukturell möglich (vgl. ebd.: 13). Bedeutend ist hierbei, dass sich das vielschichtige Potenzial der Sprache erst mit der Entdeckung durch die Rezipierenden entfaltet. Das heißt, ohne ein Subjekt mit Ambiguitätskompetenz bleibt das Mehrdeutige unentdeckt (ebd.: 13, 20). Im Unterschied zur Kommunikationssituation, die ein gegenseitiges Verstehen a priori setzt und somit eine Disambiguierung missverständlicher Aussagen in den Vordergrund rückt (Rückfrage, Kontextualisierung des Gesagten etc.), spielen literarische Texte mit der in der Sprache vorhandenen Mehrdeutigkeit (vgl. ebd.: 65). Literatur inszeniert und visualisiert demnach sprachliche Mehrdeu‐ tigkeiten und macht so Bedeutungsspielräume sichtbar. 4 Diese auf Ambiguität beruhenden Sprach-Spiele lassen sich als ein Aspekt der poetischen Auseinan‐ dersetzung mit Sprache begreifen. Neben der Visualisierung der ‚sprachlichen‘ Möglichkeiten kann Literatur darüber hinaus auch die Grenzen, Schwierig‐ keiten und den Konstruktcharakter von Sprache offenlegen. Beispielsweise findet sich die Reflexion der Mehrdeutigkeit von Sprache (Sprachskepsis) - u.-a. in der Sprachkrise des 20.-Jahrhunderts (vgl. Lickhardt 2020: 158 f.) - auch literarisch bearbeitet in Hofmannsthals Chandos-Brief (1902). Sprache wird hier als normiertes System entlarvt und ihre (Un-)Fähigkeit zur Darstellung von subjektivem Empfinden diskutiert. Literarische Texte sind vielschichtig und Vielschichtigkeit ist zugleich ein ihnen zugrundeliegendes Strukturprinzip. Dies spiegelt sich auch in der Zusam‐ 136 Lisa Rettinger <?page no="137"?> 5 Englischer Text und Igbo-Zitate von Henrie Dennis sowie konzeptionelle Beratung durch Jaray Fofana. 6 Im Folgenden wird das Buch im Fließtext unter Verwendung der Sigle E.A. zitiert. Die Seitenzahlen wurden dem Text durch die Autorin hinzugefügt, um eine Nachvollzieh‐ barkeit der Analyse zu gewährleisten. Die erste inhaltliche Seite des Textes (Portrait Terry/ In diesem Buch erzähle ich…) entspricht Seite-1. menschau der ontologischen Intertextualität und den literarisch festgehaltenen Gedanken zur Sprache. Die Vielschichtigkeit zeigt sich einerseits als Ausloten der sprachlichen Möglichkeiten (Ambiguität) und zugleich als Diskussion der Grenzen bzw. Unzulänglichkeiten. Während die Thematisierung des sprachli‐ chen Fundaments insbesondere das Wort fokussiert (vgl. Abbildung 1) und so das Mehr an Bedeutung (graphisch akzentuiert im hochgestellten Plus) sowie die subjektiven Sichtweisen berücksichtigt, zeigt sich mit dem Intertex‐ tualitätsverständnis Kristevas die Vielschichtigkeit auf einer weiteren Ebene. Infolge der diskursbedingten Ambivalenz sowie der dialogischen Wortgenese wird die relationale Verflechtung des literarischen Wortes manifest. Durch seine Loslösung vom Kontext als Situierung zwischen Autor: in und Leser: in bei gleichzeitiger Durchdringung von anderen Texten (hier gedacht als kultu‐ relle Zeichensysteme) ergeben sich weitere Schichten des literarischen Wortes respektive Textes. Infolgedessen wird ein plurales Lesen - verstanden als immer wieder neues, nicht abgeschlossenes Lesen - nicht nur durch die sprachliche Ambivalenz, sondern auch durch die intertextuelle Vielschichtigkeit möglich. Literatur lässt sich resümierend als vielschichtig beschreiben. Wie nachfol‐ gend am Beispiel zu zeigen sein wird, erweitert die Mehrsprachigkeit die vorhandene literarische Vielschichtigkeit: Die Interaktionen unterschiedlicher Sprachsysteme akzentuieren dabei die sprachliche Beschaffenheit von litera‐ rischen Zeichen. Zugleich potenziert sich mit weiteren Sprachen auch die intertextuelle Verflechtung des literarischen Textes infolge der Ausweitung der dialogischen Wortgenese auf weitere kulturelle Zeichensysteme. Das heißt, mit der Mehrsprachigkeit nimmt die textuelle Vielschichtigkeit zu, die sich auch in ‚neuen‘ ästhetisch-narrativen Verfahren widerspiegelt. 2 Mehr-Sprache in Ein bisschen wie du. A little like you Das Bilderbuch Lilly Axsters und Christine Aebis 5 erzählt aus der Perspektive eines neunjährigen Kindes, Terry, vom Verlust Mom Chiomas, die als „aller‐ größte Superheldin, […], big mommy, auntie“ (Aebi et al. 2018: 1) 6 bezeichnet wird. Neben der Trauer, dem Umgang mit dem Tod sowie den Erinnerungen an die Verstorbene sind dem Text Themen wie Heranwachsen, Migration und Zur Potenzierung der literarischen Vielschichtigkeit 137 <?page no="138"?> Identität inhärent. Bereits hier zeigt sich eine inhaltliche Vielschichtigkeit, der bunt schillernde Facettenreichtum, der zu pluralen Lesarten einlädt. Vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses wird nachfolgend die Mehrsprachigkeit des Bilderbuches fokussiert. - 2.1 Mehrsprachige Oberfläche Das Cover des Bilderbuches akzentuiert die formgebende Mehrsprachigkeit. Titel und Paratexte sind Englisch und Deutsch, wobei die Nachrangigkeit der englischen Sprache eine scheinbare Hierarchie suggeriert. Der Titel spielt mit dieser Setzung und die differente Farbgebung der Sprachen begünstigt ein aufeinanderfolgendes Lesen: Ein bisschen wie du. A little like you. Doch bereits hier werden etwaige sprachpolitische Machtpositionen dekonstruiert (vgl. Eder 2015: 144 f.; Vishek 2019: 26). Denn wird der Titel der Sprachlogik folgend Zeile für Zeile gelesen, heißt es: Ein A bisschen little wie like du you. Die Sprachen fließen ineinander und nur die gelbe bzw. blaue Schriftfarbe markieren die andere Lesart und die differente Sprachzugehörigkeit. Wie der Titel spielt der Text generell mit seiner zweisprachigen Struktur. Die Farbwahl und die Positionen des Textes folgen keinen Regeln: Jede Sprache erscheint bunt und an allen Orten. Der erste Blick legt demnach nahe, dass der Text formal die Gleichrangigkeit der beiden Sprachen illustriert. Das hier erläuterte sprachlogisch-visuelle Spiel der Titelgestaltung - die Interaktion aus Farbigkeit, Position und Sprachlogik - lässt sich als Sinnbild für den Diskurs um Sprach- und Machtpositionen in mehrsprachigen Texten interpretieren (vgl. Anselm 2018: 48 f.). Auf vielschichtige Art und Weise spie‐ gelt das Cover so mögliche plurale Lesarten wider und zugleich bietet der weitere Verlauf des Textes eine Dekonstruktion etwaiger die Form betreffender Sprachhierarchien. Gerade durch die Mehrsprachigkeit können hierarchische Strukturen ästhetisch aufgegriffen und wie in Axters und Aebis Text demaskiert werden. Das Zusammenspiel aus Medium (Bilderbuch) und Mehrsprachigkeit potenziert so die literarische Vielschichtigkeit und öffnet den Text auch durch das ästhetische Spiel für neue diskursive Aushandlungsprozesse. - 2.2 Literarische Darstellung der Mehrsprachigkeit Der erste Eindruck der sprachsensiblen Gestaltung des Bilderbuches wird durch die Analyse der Textebene fundiert. So spielt das Bilderbuch mit Formen textueller Mehrsprachigkeit. Während die ersten drei Seiten parallel mehr‐ sprachig sind (vgl. Eder 2009: 15-22) und sich diese Realisierungsform auch 138 Lisa Rettinger <?page no="139"?> 7 Die eher statische parallele Mehrsprachigkeit wird durch den Text aufgebrochen. Zwar erinnert die Darstellungsform weiterhin an eine parallele Darstellung von Mehrspra‐ chigkeit, aber durch Lücken, zusätzliche Details usw. wird der Text in Bewegung gesetzt, weswegen hier von einer Dynamisierung gesprochen wird. wiederholt (vgl. E.A.: 10 f., 17, 28 f., 36 f., 40 f., 46, 54), bricht der Text mit dieser parallelen Darstellung von Mehrsprachigkeit und geht in eine Sprach‐ mischung über (vgl. Eder 2009: 22-30). Im Büro „things still look familiar… Manches ist noch unverändert… …her notes on the post-it… …the shadow of Mom Chioma’s microphone… …die auf den Büchern abgelegten Kopfhörer…“ (E.A.: 4 f.). Der schweifende Blick Terrys - in der Interpunktion spürbar - ist geprägt durch einen Sprachwechsel, wobei die einzelnen soeben genannten visuellen Aspekte nur in einer Sprache erscheinen (vgl. auch E.A.: 8 f.). Im Anschluss an dieses Ineinanderfließen der Sprachen (stream of consciousness) folgen Passagen, in denen die parallele Mehrsprachigkeit dynamisiert wird. 7 Zwar enthalten Deutsch und Englisch alle wesentlichen Informationen, aber die Erzählzeitpunkte differieren und manche Details werden exklusiv in einer Sprache berichtet. Nur im Englischen wissen wir, dass Terry bei der Nachricht über den Tod die „favorite pair of shoes“ (E.A.: 13) anhatte, oder dass Mom Chioma die Boxershorts auch unter ihrem „church dress“ (E.A.: 19) trug. Ein weiterer Aspekt, angeregt durch die Dynamisierung, ist das Offenlegen von Sprachdiskrepanzen. Die durch Soziolekt beeinflussten Redewendungen Terrys finden sich ausschließlich im Englischen: „do-it-yourself tailoring corner“ (E.A.: 6), „x-mas“ (E.A.: 7), „kicked the bucket“ (E.A.: 12). Sie illustrieren den individu‐ ellen Sprachgebrauch der autodiegetischen Erzählfigur. Im Deutschen hingegen fallen die verwendeten Anglizismen auf: „Blogs“ (E.A.: 10), „Boxershorts“ (E.A.: 19), „video-chatten“ (E.A.: 33), „Toaster“ (E.A.: 51). Diese Worte illustrieren die Mechanismen der Sprachmischung respektive die gegenseitige Beeinflussung von Sprachen. Die Mehrsprachigkeit des Textes eröffnet folglich zwei differente Perspek‐ tiven. Zunächst lässt sich die variierende Darstellung ähnlich wie in der mehr‐ sprachigen Oberfläche als Diskurs über die Machart von mehrsprachigen Texten lesen. Die Grenzen der unterschiedlichen Darstellungsformen - parallel/ additiv; Sprachmischung/ integriert (vgl. Eder 2009: 15-30; vgl. Rösch 2014: 151 ff., 157 f.) - verwischen, werden bespielt und in ihrer Gegenüberstellung werden die sprachlichen Möglichkeiten bzw. Grenzen demonstriert. Bezugnehmend auf die literaturtheoretischen Überlegungen fügt das Mehrsprachige dem literari‐ schen Sprach-Diskurs bzw. -Spiel so eine weitere Dimension hinzu. Nicht nur die Einzigartigkeit mancher sprachlichen Formulierungen wird sichtbar, auch Mechanismen wie Sprachmischung werden im ästhetischen Verfahren der Zur Potenzierung der literarischen Vielschichtigkeit 139 <?page no="140"?> 8 In diesen Passagen kommt Mom Chioma in direkter, erinnerter Rede auch selbst zu Wort (vgl. E.A.: 17-22, 28 f., 34-37, 42-45, 59). 9 Neben Mehrsprachigkeit als identitärem Moment greift das Bilderbuch die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache, Narration und Geschlecht auf. Für Terry wird konsequent auf die Verwendung von Pronomen verzichtet und die Bildebene zeigt uns das Kind mit Ohrringen (vgl. E.A.: 1), mit kurzen und langen Haaren (vgl. E.A.: 16, 28 f.) sowie mit allen Arten von Kleidern und Accessoires. Das Geschlecht ist für die Erzählung unbedeutend und bleibt eine Leerstelle, die nicht gefüllt werden muss. 10 Ein Beispiel hierfür sind die Parataxen, welche den Tod berichten. Durch die zweispra‐ chige Dopplung des Inhalts wird die Drastik des Todes illustriert (vgl. E.A.: 12). Konfrontation greifbar. Dieser in Axters und Aebis Text angelegte Metadiskurs über differente, mehrsprachige Darstellungsformen akzentuiert gerade in der variierend gestalteten Konfrontation ‚Sprache‘ als dynamisches System. - 2.3 Sprache(n) als identitäres Moment Neben dieser Offenlegung des Konstruktes ‚Sprache‘ illustriert der mehrspra‐ chige Text am Beispiel von Terry die Realität einer mehrsprachigen Person - ohne Machtgefälle, ohne Grenzen zwischen Englisch und Deutsch (vgl. Vishek 2019: 26 f.). Terry erzählt autodiegetisch vom Verlust der geliebten Bezugsperson, erinnert sich 8 und berichtet vom Umgang mit dem Tod. 9 Wie vielschichtig Mehrsprachigkeit dabei erscheint und eingesetzt wird, zeigte die bisherige Auseinandersetzung mit dem Bilderbuch. Manchmal wird derselbe Aspekt zweifach zur Sprache gebracht und so betont, 10 teilweise gehen die Sprachen in einer Syntax nahtlos ineinander über. Werden diese Befunde mit der Erzählperspektive zusammengedacht, lässt sich Terry als eine mehrsprachige Person identifizieren. Aus der Perspektive der Mehrsprachigkeitsdidaktik zeigt sich dieser Aspekt in der Sprachenverwendung (vgl. Gogolin 2017: 108): Das Sprechen Terrys illustriert Englisch und Deutsch als gemeinsame Alltagsspra‐ chen (vgl. Riehl 2014: 14f.; vgl. Geist 2021: 77) und die Sprachmischung porträ‐ tiert als fließender, dynamischer sowie kreativer Prozess, dass Terry „ihr (ge‐ samt)sprachliches Repertoire“ (Geist 2021: 80) nutzt. Auch Wei akzentuiert die Bedeutung der Sprachmischung, denn mehrsprachige Personen „do not think in a specific, named language separately“ (Wei 2018: 18 f.). Auf der inhaltlichen Ebene wird die Mehrsprachigkeit der Protagonist: in nicht auserzählt. Lediglich die Strukturebene als autodiegetisch-mehrsprachige Erzählsituation gibt Hin‐ weise: Etwa während Terrys Blick begleitet durch eine Sprachmischung durch die Wohnung schweift oder wenn Mom Chioma Terry adressiert und innerhalb eines Satzes die Sprache wechselt (Code-Switching): „Leaving somewehere and arriving elsewhere can sometimes be tiring […] but it’s worth it, believe me, 140 Lisa Rettinger <?page no="141"?> 11 Neben Grjasnowa sei hier auch auf die Aktivistin Kübra Gümüsay (2020: 21) verwiesen, die ähnliche Ansichten vertritt. 12 Zum Zusammenhang von Sprache und Identität: Mehrsprachigkeit als identitätsstif‐ tendes Moment wird in den Texten Grjasnowas (2021) und Gümüsays (2020) (subjektiv geprägt) diskutiert. Horstmeier et al. (2022: 54) heben die heterogene Begriffsdefinition von ‚Identität‘ je nach Disziplin hervor und beschreiben sie aus sprachlich-kultureller Perspektive als Summe von Teilidentitäten. Kresić (2016: 16) betont, dass ‚Identität‘ in‐ folge eines dynamischen, andauernden sprachlichen Konstruktionsprozesses entsteht. 13 Auch Gümüsay (2020: 9 f.) teilt diese Ansicht. 14 Als Sprachbewusstheit wird eine mentale Disposition verstanden, auf deren Grundlage sprachliche Äußerungen erfasst werden können (vgl. Wildemann et al. 2018). Terry, glaub mir, es lohnt sich“ (E.A: 59). Der Text präsentiert sich folglich nicht nur in der Form einer mehrsprachigen Oberfläche bzw. Narration, sondern Mehrsprachigkeit wird als identitäres Moment der autodiegetischen Erzähler: in inszeniert - als eine (narrative) Realität, die keiner expliziten Thematisierung bedarf. Mit der Darstellung der mehrsprachigen Figuren (Terry, Mom Chioma) verdeutlicht Axters und Aebis Text folglich den Zusammenhang von Sprache und Identität. Diesen Aspekt diskutiert auch die Autorin Olga Grjasnowa in Die Macht der Mehrsprachigkeit (2021): Ich selbst habe manchmal das Gefühl, in jeder Sprache eine andere Persönlichkeit zu haben. Auf Russisch bin ich witziger, auf Deutsch aufgeräumter, sachlicher, und auf Englisch zwar eingeschränkt in meinen Ausdrucksmitteln, aber viel freier und entspannter […]. (ebd.: 12) Das Zitat illustriert eine sprachlich bedingte Identitätskonstruktion, die sich auch in einer Verknüpfung von Sprache und Emotion niederschlägt (vgl. ebd.: 11 f.). 11 Sprache wird hier zum Ausdruck und Abbild individueller Vielschich‐ tigkeit. 12 Zugleich thematisiert Grjasnowa die Möglichkeit, Grenzen zu über‐ schreiten (vgl. ebd.: 11). 13 Erst durch das Sprechen mehrerer Sprachen werden Unzulänglichkeiten einer adäquaten Beschreibung des Erlebten sichtbar. Das heißt, mit dem Mehr an Sprache wird - wie auch in der These aufgegriffen - Vielschichtigkeit potenziert. Nicht nur die Identität wird um eine Facette berei‐ chert, es entsteht auch eine Sprachbewusstheit als Wissen um die Potenziale der Sprachen. 14 Die Zusammenführung von Identität und Mehrsprachigkeit berei‐ chert demnach literarische Texte und verstärkt die Grundmomente literarischer Zeichen, indem sie den Konstruktcharakter von Sprachen hervorhebt und die diskursive Rahmung bzw. die intertextuellen Bezüge pluralisiert. Die Erweiterung des dialogischen Horizonts - bei Kristeva gedacht als relationaler Rahmen, der die Wortgenese bedingt - zeigt sich abschließend auch Zur Potenzierung der literarischen Vielschichtigkeit 141 <?page no="142"?> 15 Eine ausführliche Diskussion und Studie des Übersetzens von kinderliterarischen Texten bietet insbesondere Emer O’Sullivan (2000). Zum Zusammenhang von Über‐ setzen und mehrsprachigen Texten siehe auch Rösch (2014: 146 ff.). in Axters und Aebis Text. Hier spiegelt der Soziolekt der Sprecher: innen die Beeinflussung der Rede und damit des literarischen Zeichens durch ein Mehr an kulturellen Zeichensystemen wider. Wie die bereits angeführten soziokulturell gefärbten Redewendungen (z. B. kicked the bucket, cutie) zeigen, erfährt der intertextuelle Rahmen mit der Mehrsprachigkeit eine Öffnung, die im Falle des Bilderbuchs zu einer indirekten Charakterisierung der Figuren durch ihre Sprachenverwendung führt. - 2.4 Darstellung von Übersetzungsstrategien Die beiden soeben diskutierten Perspektiven - die Beschaffenheit mehrspra‐ chiger literarischer Texte (Metadiskurse) und die literarische Inszenierung der Mehrsprachigkeit als identitäres Moment - werden nun um einen Blick auf das Übersetzen als (Teil-)Aspekt der Mehrsprachigkeit ergänzt. In seinem Spiel mit mehrsprachigen Darstellungsformen demonstriert der Text durch seine Machart unterschiedliche Übersetzungsstrategien. Neben der wörtlichen Übersetzung (vgl. Passagen zur parallelen Mehrsprachigkeit) spielt er auch mit freieren Formen des Übersetzens (vgl. Passagen zu dynamisierter paralleler Mehrsprachigkeit/ Sprachmischung): Als ich klein war, hat Mom Chioma Didi für mich genäht, die ‚erste Wiener Wollpuppe mit einem ausgeprägten Sinn für Modefragen‘. When I was about four years old, Mom Chioma introduced me to Didi, ‚The one and only self-sewn dangling doll, made of wool and wisdom‘. (E.A.: 34 f.) Beide Versionen thematisieren das verwendete Material (Wolle) und stellen heraus, dass Didi ein selbstgenähtes Geschenk der Verstorbenen ist. Der Fokus im Deutschen und Englischen weicht jedoch voneinander ab: Während die englische Beschreibung der Stoffpuppe das Selbstgemacht-Sein akzentuiert, thematisiert die deutsche Passage das Nähen nebenbei und betont das Modebe‐ wusstsein der Puppe. Die ausgewählte Passage akzentuiert exemplarisch, wie ein Metadiskurs angeregt wird, der Rezipierenden vor Augen führen kann, welche Verschiebungen und Veränderungen mit dem Übersetzen einhergehen können. 15 142 Lisa Rettinger <?page no="143"?> 16 Lediglich die Bebilderung der Geschichte Mom Chiomas und die Bilder, die Terry zeigen, stellen hier eine Abweichung dar (vgl. E.A.: 1, 10 f., 16-20, 27-31, 40-43, 47, 53, 60). Die Bildebene spiegelt überwiegend Terrys Blick wider - auf den 60 Seiten finden sich neun reine Textseiten; die verbleibenden 51 Seiten präsentieren auf insgesamt 31 Seiten Terrys Blick. 2.5 Die Bildebene Infolge der autodiegetischen Erzählsituation lässt sich die Bildebene überwie‐ gend als Visualisierung des Blickes von Terry beschreiben. 16 Sie zeigt, was Terry sieht, und bildet so das Fundament für die Gedanken und Äußerungen. Das heißt, die Bilder führen die sprachlichen Disparitäten synthetisierend zusammen. Durch die Darstellung der Geschichte in Form des Mediums ‚Bil‐ derbuch‘ sehen wir durch Terrys Augen alles, was anschließend mehrsprachig kommentiert und berichtet wird. Wir sehen das festliche Kirchen-Kleid Mom Chiomas, das die Boxershort verbirgt (vgl. E.A.: 19). Als Synthese zeigt sich die Bildebene ebenfalls im zuvor zitierten Puppenbeispiel: Beide sprachlichen Facetten - das Modebewusste (deutsch) wie das Selbstgemacht-Sein (englisch) - finden sich in den Illustrationen wieder. Didi, die Fashion-Puppe wird uns mal mit einer Fliege, einem Tutu oder mit Crocks präsentiert (vgl. E.A.: 37, 38 f., 56 f.). Andere Bilder halten das Nähen Didis und der Kleidung in Schnittmustern, mit Stecknadeln, Stoffen, Reißverschlüssen und Scheren fest (vgl. E.A.: 34 f.). Auch die liegengelassenen Lieblingsschuhe Terrys bei der Nachricht des Todes, die lediglich im Englischen thematisiert werden, fängt die Bildebene ein (vgl. E.A.: 13). Mit der Darstellung der Schuhe erfolgt zugleich ein visueller Bruch, es scheint, als wäre Terry aus dem Hellen kommend mit der Nachricht über den Tod Mom Chiomas im Dunkeln verschwunden. Neben der zusammenführenden Funktion bzw. als Grundlage der sprachlichen Äußerungen illustriert gerade das letzte Beispiel, dass die Bildebene zugleich die Emotionen der Protagonist: in einfängt. In der Visualisierung des Blickes transportieren die Bilder neben der mehrsprachigen Lebenswelt Terrys auch die Gefühlsebene. Dunkle, gedeckte Farben zeigen die ausgeräumte Wohnung und unterstreichen so den Verlust und die zurückbleibende Leere (vgl. E.A.: 2, 52-55, 58 f.). Andere Bildseiten porträ‐ tieren die leblosen, zurückgelassenen Gegenstände (Stillleben) und illustrieren den Stillstand, der mit dem Tod einhergeht (vgl. E.A.: 6-9, 12, 26, 32, 34 f., 46, 49 ff.). Diese eher trist anmutenden Momentaufnahmen werden aufgebrochen durch die Farbigkeit der Erinnerungen - die Seiten, die Mom Chioma bebildern, wirken lebhaft und dynamisch (vgl. E.A.: 17 ff., 40-43). Gleiches gilt für die Darstellungen Terrys. In beiden Fällen wird in der variierenden, vielfarbigen Darstellung der Personen ihre vielschichtige, facettenreiche Identität hervorge‐ Zur Potenzierung der literarischen Vielschichtigkeit 143 <?page no="144"?> 17 Zur allgemeinen Gestaltung von Sprachenvergleichen im Unterricht siehe z. B. Vali et al. (2021). Zur Language Awareness siehe Luchtenberg (2017). hoben und textuell bekräftigt: „Du bist genau richtig, so, wie du bist“ (E.A.: 28). „You are on point, Terry, just cool, just you“ (E.A.: 29). 3 Fazit und Ausblick Durch die Beschäftigung mit mehrsprachigen, literarischen Texten ergibt sich ein enormes Potenzial sowohl für den Literaturals auch den Sprachunterricht - nicht zuletzt, um dem Normalfall sprachlicher Vielfalt und der vielschich‐ tigen Heterogenität im Klassenzimmer gerecht zu werden (vgl. Peuschel und Burkard 2019: 26). Dabei sollte mehrsprachige Literatur stets sensibel in den Unterricht eingebettet und nicht infolge ihres sprachfördernden Potenzials ‚missbraucht‘ werden (vgl. Vishek 2019: 24). Wie auch die Analyse zeigte, können Sprachenvergleiche, Sprachmischungen sowie Übersetzungen zur För‐ derung von Sprachbewusstheit (Language Awareness) beitragen - gerade die in Axters und Aebis Text angelegten Metadiskurse bieten sich hierfür an. 17 Das heißt, mehrsprachige Literatur kann die literarischen Zeichen inhärente vielschichtige Spracharbeit potenzieren, indem die Konfrontation sprachliche Grenzen und Möglichkeiten offenlegt. Zugleich wird mit der Mehrsprachigkeit der intertextuelle Rahmen erweitert, denn eine Auseinandersetzung mit der literarischen Mehrsprachigkeit, exemplarisch gezeigt an Terrys Soziolekt, kann (inter-)kulturelles Lernen anregen (vgl. Scherer/ Vach 2019; vgl. Hodaie 2014: 146). Literatur Aebi, Christine/ Axster, Lilly/ Dennis Henrie/ Fofana, Jaray (2018). Ein bisschen wie du. 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Stauffenburg: Tübingen, 117-140. 146 Lisa Rettinger <?page no="147"?> Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic Björn Laser Abstract: Multilingualism has an important however widely overlooked role in the history and present practice of comics. At the same time comics have a specific potential for exploring multilingualism in scholarly as well as in didactic contexts. The article provides an overview on forms and functions of multilingualism in comics founded on their multimodal semiotics. This is illustrated with examples from 1970’s and 1980’s graphic literature by and on migrant workers and with graphic novels on refugees and migration from the 2010’s. The core idea is that comics have the means to make languages, language varieties and language hierarchies visible in their social positioning and in their incomprehensibility and that this makes the aesthetic approach to multilingualism similar to the life-world experience. Keywords: Comics, Graphic Novels, Mehrsprachigkeit, Multimodalität, Sprachhierar‐ chien, Sichtbarkeit, multilingualism, multimodality, language hierarchy, visibility <?page no="148"?> 1 Die Zahl hinter dem Schrägstrich gibt das Panel auf der Seite an. 2 Der folgende Überblick ist ausführlicher dargestellt in Laser 2024: 186-197. Die Aufzählung ist nicht abschließend und die Gründe sind grundsätzlich miteinander kombinierbar. 3 Das prominenteste Beispiel hierfür sind wohl die Katzenjammer Kids des deutsch-ame‐ rikanischen Comic-Pioniers Rudolph Dirks (1877-1968; vgl. Braun/ Eckhorst 2022), der sich nicht nur stilistisch und motivisch am Vorbild von Wilhelm Buschs Max und Moritz orientiert (Knigge 2016: 6), sondern seine Figuren auch mit einem artifiziellen Duktus 1 Feldskizze: Comics und Mehrsprachigkeit Abb. 1: Goscinny/ Uderzo (2014: 30/ 8) 1 Comics sind zweifellos von Mehrsprachigkeit geprägt: In Western-Comics machen Schusswaffen „Paw“ statt „Peng“, getroffene Figuren rufen „Aargh! “, und in der Nähe der mexikanischen Grenze lässt sich auch schon einmal ein „Por Dios! “ oder „Caramba! “ vernehmen (z. B. Giraud/ Charlier 1990: 37). Wenn Abenteuerreisen in fremde Länder gehen, finden sich dort Inschriften in fremden Sprachen und Zeichen (z. B. Hergé 1985: 30), und wenn die Handlung in der klassischen Antike situiert ist, wird nicht nur totgeglaubtes Latein in Sinn‐ sprüchen kurzzeitig lebendig (z. B. Goscinny/ Uderzo 2014: 17/ 2): Auch nationale Stereotype zeigen sich in lexikalischen oder typografischen Besonderheiten (vgl. Stoll 1977: 97-104), so dass in Abb. 1 auf engstem Raum „Belgisch“, „Griechisch“, „Britisch“ und „Gotisch“ als fingierte Sprachen erscheinen. Comics können aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Formen mehrsprachig sein. 2 Einige Gründe liegen in der historischen Entwick‐ lung der Kommunikationsform: So exponieren Comics zunächst die sprachliche Vielfalt des US-amerikanischen Einwanderungsmilieus, in dem sie als Massen‐ medium entstehen (vgl. Schikowski 2014: 34-40; Stuhlfauth-Trabert/ Trabert 2020: 76). 3 Dann sind Comics über Jahrzehnte von Genres dominiert, die die 148 Björn Laser <?page no="149"?> versieht, der durch wiederkehrende phonographemische und lexikalische Elemente ‚deutsch‘ markiert ist. Protagonisten in fremde Länder und Welten führen. Klassische Abenteuer, Science Fiction, Western und Superhelden sind voller Situationen, die Mehr‐ sprachigkeit zumindest nahelegen (und oft erstaunlich einsprachig gestaltet werden). Und schließlich sind Comics in weiten Teilen der Welt und auch im deutschsprachigen Raum in der Regel übersetzt und damit mindestens latent mehrsprachig (vgl. Blum-Barth 2021: 77-80). Andere Gründe lassen sich mit Funktionen von Mehrsprachigkeit in Co‐ mics identifizieren, sowohl werkexternen als auch werkinternen. Werkexterne Funktionen von Mehrsprachigkeit (in dem Sinne, dass sie außerhalb des Er‐ zählten und des Erzählens verortet werden können), sind die Erweiterung des Publikums und die Erweiterung der Sprachkenntnisse des Publikums. Motivation, das Publikum zu erweitern, gibt es vor allem, wenn es um die internationale Sichtbarkeit von Comics geht, die nicht von vornherein auf Englisch, Französisch oder Japanisch veröffentlicht werden. Kauranen (2020) arbeitet ausgehend von finnischen Comicproduktionen verschiedene Formen des multilingualen Publizierens systematisch auf, von einer beigefügten, vom Comic selbst getrennten Übersetzung über die Untertitelung der Panels bis hin zu verschiedenen Formen der Integration der verschiedenen Sprachfassungen in den Comic, etwa durch Dopplung der Sprechblasen. Abb. 2 zeigt ein Beispiel aus dem in Hamburg erscheinenden Periodikum Spring. Abb. 2: moki (2021: 87 [Ausschnitt]) Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 149 <?page no="150"?> 4 An dieser Stelle danke ich Robyn Johnson, UC Riverside, für den Hinweis auf die Rolle von Comics beim Erhalt von indigenen Sprachen Nordamerikas. 5 Für den Hinweis auf diese Arbeiten und weitere konstruktive Anregungen danke ich dem Berliner Comic-Kolloquium und speziell Matthias Harbeck. 6 So auch der übereinstimmende Befund in Ben-Rafael/ Ben-Rafael 2012: 143; Liimatainen 2020: 185 und 2021: 135; vgl. Laser, 2024: 185. Derart gestaltete Publikationen haben natürlich auch das Potenzial, die Kennt‐ nisse des Publikums in oder zu den beteiligten Sprachen zu erweitern. Comics werden auf verschiedene Weise zur Förderung sprachlicher Kompetenzen eingesetzt: im Fremd- und Zweitsprachenunterricht (vgl. Oppolzer 2022), zur Stärkung und Sichtbarmachung von Minderheitensprachen (z. B. Peter‐ hans/ Schönett 2022) 4 oder zur Förderung von Bilingualität wie etwa in Les aventures de Kazh oder Die Abenteuer von Kazh (Guetz 2018), wo sich eine in der Bretagne ausgesetzte Katze von einer deutsch-französischen Familie adoptieren lässt. Der Vater spricht meist Deutsch, die Mutter Französisch und die Kinder sprechen beides. Hier verbindet sich das in den Paratexten formulierte externe Anliegen mit der internen Gestaltung: Mehrsprachigkeit in Comics dient u. a. zur Wiedergabe mehrsprachiger Lebenswelten und mehrsprachiger Kommunikationspraxis (z. B. auch in Schwarz 2020). Weitere - werkinterne - Funktionen von Mehrsprachigkeit (in dem Sinne, dass sie sich auf das Erzählte oder die Erzählweise beziehen lassen) sind z. B. die räumlich-zeitliche Situierung des Geschehens oder die ethnolinguale Kennzeichnung von Charakteren. Ab‐ gebildete Texte auf Verpackungen, Werbetafeln, Büchern oder Handydisplays tragen grundsätzlich „auschlaggebend zur Vermittlung von Lokal- und Zeitko‐ lorit der Geschichte“ bei (Liimatainen 2021: 168). Wo der eingangs zitierte Western-Comic spielt, wird nicht nur in den Bildern deutlich, sondern auch an Namen von Orten und Figuren, an Interjektionen, Onomatopoetika oder an Merkmalen der Figurenrede (vgl. Giraud/ Charlier 1990; siehe auch Ben-Ra‐ fael/ Ben-Rafael 2012: 147). Superheldinnen und -helden zeigen ihre Herkunft, indem sie für einzelne Ausrufe oder Routineformeln ins Russische, Deutsche, Französische oder Jiddische wechseln (vgl. Burman 2016; Dowling 2010; Walshe 2018). 5 Fremdsprachige Liedtexte kommentieren das Geschehen und öffnen eine zusätzliche Sinnebene (z. B. in Tietäväinen 2011/ 2014; vgl. Nikkilä 2020). Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten und Realisationen von Mehrspra‐ chigkeit in Comics überrascht es etwas, wenn in der recht umfangreichen Comic-Forschung die Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit bisher nur eine geringe Rolle spielt. 6 Beiträge finden sich verstreut in verschiedenen Rich‐ tungen: Neben der eben erwähnten sprachlichen Charakterisierung von Super‐ held: innen und der mehrsprachigen Publikationspraxis sind dies vor allem die 150 Björn Laser <?page no="151"?> Leistung von Typografie und Schrift und die Beschäftigung mit neueren Graphic Novels zum Thema Flucht und Migration (Nikkilä 2020; Schmitz-Emans 2016; Trabert 2020; Rösch 2022). Letzteres wird der dritte Abschnitt dieses Beitrags aufgreifen. Im Anschluss an diese einleitende Feldskizze beschäftigt sich der zweite Abschnitt zunächst mit den semiotischen Möglichkeiten von Comics, die Vielsprachigkeit von Räumen und Situationen darzustellen. Der dritte Abschnitt erkundet die Umsetzung dieser Möglichkeiten an einigen Bespielen aus grafischer „Gastarbeiterliteratur“ der frühen 1980er Jahre und aktuellen Graphic Novels. Überlegungen zu Angeboten des Nicht-Verstehens leiten über zu einem kurzen didaktischen Ausblick in Abschnitt 4. 2 Semiotik: Simultanität des Linearen Die einleitend angesprochenen Beispiele haben schon gezeigt, dass mehr- und anderssprachiger Text in Comics an unterschiedlichen Stellen auftreten kann: in Geräuschsignalen, in Ausrufen, in Figurenrede (d. h. in der Regel in Sprech‐ blasen) oder in abgebildetem Text, der als Teil der piktorial dargestellten er‐ zählten Welt erscheint. Des Weiteren kann Anderssprachigkeit oder sprachliche Differenz unterschiedlich signalisiert werden: durch die tatsächliche Präsenz verschiedener sprachlicher Systeme oder Subsysteme, durch typografische, phonographemische oder lexikalische Markierungen oder auch durch Hinweise in Figurenrede oder Erzählstimme darauf, welche Sprachen gesprochen werden. Im Folgenden geht es um die semiotischen Möglichkeiten von Comics im Umgang mit Mehrsprachigkeit: zunächst um den multimodalen Charakter der Comics (2.1), dann um das besondere Verhältnis von Raum und Zeit in ihnen (2.2) und schließlich um die Formen, in denen Mehrsprachigkeit in Comics auftritt (2.3). - 2.1 Multimodalität Sprachhandlungen in Comics sind visuell kontextualisiert: Man sieht in der Regel die Situation, in der kommuniziert wird, und das nicht nur punktuell, sondern im Verlauf. Es ist der multimodale Charakter von Comics, der es ihnen erlaubt, Anderssprachigkeit in verschiedener Form zu integrieren und auf verschiedene Weise mehrsprachig zu sein. Auf die umfangreiche Literatur zur Semiotik und Multimodalität von Comics kann hier nur verwiesen werden (z. B. Krafft 1978; Cohn 2013; Bateman/ Wildfeuer 2014; Packard 2016). Ein einfaches Konzept der Multimodalität aus dem Kontext der Medienlinguistik soll ausreichen, um das Wesentliche zu erfassen. Mit Ulrich Schmitz lassen Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 151 <?page no="152"?> sich fünf Hauptmodi annehmen, in denen Zeichen sinnlich übermittelt werden und die sich in Kommunikaten verbinden: gesprochene Sprache, geschriebene Sprache, statisches Bild, bewegtes Bild und Audio - also nicht-sprachliche Geräusche und Musik (2015: 8 ff.). Im klassischen gedruckten Comic zeigen sich somit zwei der fünf Modi: geschriebene Sprache und statische Bilder. Diese beiden Modi sind aber nicht nur schlicht miteinander verbunden, indem etwa Bilder Texte zeigen und Textfelder Bildformen bestimmen. Sie werden auch genutzt, um die anderen Modi darzustellen: Onomatopoetika, Noten oder Sterne signalisieren Geräusche und Musik. Gesprochene Sprache zeigt sich in Sprechblasen und ihrer Positionierung, in Merkmalen konzeptioneller Mündlichkeit in den Sprechblasentexten, in der typografischen Nachahmung paraverbaler Merkmale (etwa von Lautstärke durch Schriftgröße) und dadurch, dass sprechende Personen mit Gestik, Mimik, Körperhaltung und Blickrichtung abgebildet werden. Bewegte Bilder erscheinen zunächst als Bewegung in Bil‐ dern, indem etwa schreitende Figuren abgebildet werden, die in dieser Position lebensweltlich nicht verharren könnten und deren Vorwärtskommen zudem durch Wölkchen und Bewegungslinien verdeutlicht wird (s. Abb. 1). Hinzu kommt die Bewegung zwischen den Bildern, im sogenannten Gutter, die in der Rezeption induktiv erzeugt wird (vgl. McCloud 1993: 63-72). Für die Kommu‐ nikationsform Comic entscheidend ist die letztere, zusammen mit dem Umstand, dass dies alles: Geräusch, Gespräch, Bewegung aufbewahrt ist in der dreifaltigen Statik von Text, Bild und Seitenarchitektur. Für die Mehrsprachigkeit im Comic ist entscheidend, dass es dieses einfache Modell der Multimodalität ermöglicht, die verschiedenen Zeichen und Anzeichen von Mehrsprachigkeit - wie Zeichen im Comic überhaupt - unterscheidend zu verorten. So lässt sich z. B. in Abb. 3 der spanische Liedtext dem Audio und die Sweat-Shirt-Aufschrift der Grafik zurechnen und darüber wiederum erklären, dass in Ville Tietäväinens Werk Unsichtbare Hände die Anderssprachigkeit von Figurenrede, Liedtexten und abgebildetem Text unterschiedlich behandelt wird (Näheres dazu in Abschnitt 3.2). 152 Björn Laser <?page no="153"?> Abb. 3: Tietäväinen (2014: 33/ 1-2) - 2.2 Zeit als Raum Das Spannungsverhältnis von Statik und Bewegung korrespondiert mit dem von Nebenordnung und Abfolge in der vermutlich meistzitierten Definition von Co‐ mics als „juxtaposed pictorial and other images in deliberate sequence“. So heißt es in Scott McClouds Standardwerk Understanding Comics, das bekanntlich selbst ein Comic ist (1993: 9). Die sequenzielle Anordnung steuert die Rezeption und damit die Wahrnehmung zeitlicher Verhältnisse: Was in einer Bildfolge in Leserichtung vor dem aktuellen Fokus steht, ist die Vergangenheit, was danach kommt, ist die Zukunft. Allerdings sind Vergangenheit und Zukunft in den vorangegangenen und folgenden Bildern immer noch oder schon sichtbar (ebd.: 104). Durch die Nebenordnung bekommt die Zeit einen räumlichen Charakter, den sie nicht mehr loswird. Mit diesem Charakter lässt sich nicht nur spielen, indem sich z. B. eine Figur über die Panelränder hinweg von sich selbst Geld aus der Zukunft leiht (ebd.: 105). Grundsätzlich können räumliche Verhältnisse als zeitliche Verhältnisse interpretiert werden. Ein in die Breite gezogenes Panel verlängert eine Sprechpause (ebd.: 100 ff.). Figuren, die sich in Leserichtung bewegen, gehen in eine Situation hinein, entgegen der Leserichtung gehen sie wieder heraus (vgl. z. B. Hergé 1985: 53-62). Ein Schiff befindet sich, die entsprechende Leserichtung vorausgesetzt, kurz nach der Abfahrt am linken Rand einer ganzseitigen Darstellung und kurz vor der Ankunft am rechten (Tan 2014). Die Leserichtung bestimmt auch, in welcher Reihenfolge Sprechblasen als Gesprächsbeiträge aufgenommen werden. Zeit vergeht nicht nur zwischen Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 153 <?page no="154"?> 7 Zu den Anführungszeichen: Man mag für das letzte vorchristliche Jahrhundert zwar ein halbwegs standardisiertes Griechisch annehmen, aber keine Sprachen oder Varietäten, die sich sinnvoll als Gotisch, Belgisch, Britisch oder auch Gallisch bezeichnen ließen. Aus Sicht der Glottapithanonie, der Glaubwürdigkeit der geschilderten sprachlichen Verhältnisse (vgl. Stockhammer 2015), ist die entscheidende Frage tatsächlich, in welcher Sprache Gallier und Römer sich so problemlos verständigen, welche Sprache also die Römer sprechen, wenn sie keine lateinischen Sentenzen von sich geben. Zur Rolle der lateinischen Zitate in Asterix siehe Stoll 1977: 104-108. Panels, sondern auch in Panels (vgl. McCloud 1993: 95) und lässt sich dort sogar in eine Schleife biegen (s. Abb. 4). Abb. 4: Goscinny/ Uderzo (2014: 20/ 9) In Abb. 1 findet sich ein ganzer Gesprächsverlauf, von den Wortspielen des Belgiers bis zu den Ausrufezeichen der römischen Offiziere. Zugleich bleiben aber die Gesprächsbeiträge in den Sprechblasen präsent und damit in diesem Fall auch die verschiedenen (Pseudo-)Sprachen samt ihrer Positionierung zuein‐ ander. „Belgisch“ und „Britisch“ erscheinen im gleichen Schrifttyp wie die (un‐ markierte und nie benannte) gallo-römische Basissprache des Asterix-Kosmos, während „Griechisch“ und „Gotisch“ typografisch abgesetzt sind, aber nur der Gote einen Übersetzer braucht. 7 Im statischen Bild zeigt sich eine Inszenierung von kultureller Nähe und Distanz. In der Simultanität des Linearen werden in mehrsprachigen Verläufen mehrsprachige Konstellationen sichtbar. 154 Björn Laser <?page no="155"?> 8 Wenn hier von „nicht-grafischer Literatur“ einerseits und von „Comics“ andererseits die Rede ist, geht es natürlich nicht darum, Comics den Status von Literatur zu- oder abzusprechen, sondern zunächst um den Umstand, dass Comics eine eigene Kom‐ munikationsform mit spezifischer Modalität sind, die im Verlaufe ihrer historischen Entwicklung in verschiedener Weise mit anderen Kommunikationsformen verbunden war oder verbunden wurde. Von Anbeginn gab es vielfältige Wechselwirkungen mit dem Film (siehe hierzu Alexius 2022). Für den deutschsprachigen Raum ist eine Entwicklung festzustellen von den 1950er und 1960er Jahren, in denen Comics neben anderen seriellen Druckwerken dominant als „primitive Literaturform“ (Baumgärtner 1965) angesehen wurden, über eine wahlweise affirmative oder kulturkritische Rubri‐ zierung als „Massenmedium“ in den 1970ern (v. a. Fuchs/ Reitberger 1971; Baumgärtner 1979) hin zu einem Anschluss an die (bildende) Hochkunst (paradigmatisch Moulin 1993), der sich an Frankreich orientiert, wo Comics schon früher zur „neunten Kunst“ erhoben worden waren (Lacassin 1971), und der sich vielleicht am deutlichsten in der Benennung von Verlagsprojekten zeigt wie der Edition ComicArt (im Carlsen Verlag, ab 1983) oder der Edition Kunst der Comics (ab 1988). Ab den 2000ern wechselt der Legitimationsdiskurs, immer verbunden mit dem selektiven Abheben einiger Comics von der „Massenzeichenware“ (Drechsel et al. 1975), von der Kunst zur Literatur, häufig unter der Verwendung des Labels „Graphic Novel“, wie es sich im Anschluss an Will Eisners A Contract with God (1978) entwickelt hat bzw. von Eisner entwickelt wurde (siehe hierzu Levitz 2015 und Braun 2021; zur Begriffsgeschichte von „Graphic Novel“ siehe Blank 2014). 9 Walshe (2018) adaptiert seinerseits eine Taxonomie aus Bleichenbachers Untersuchung von Mehrsprachigkeit in Hollywood-Filmen (2008). Die Entwicklung der Kategorien in Auseinandersetzung mit Walshe (2018) und Stockhammer (2015) ist ausführlicher beschrieben in Laser 2024: 201-208. Dort werden auch die Grenz- und Übergangsbe‐ reiche zwischen den Kategorien genauer dargestellt. Zum exemplarischen Vergleich mit Natalia Blum-Barths Einteilung in manifeste, latente und exkludierte Mehrsprachigkeit siehe die folgenden Fußnoten. 2.3 Eine kurze Typologie Dass in den Sprechblasen von Abb. 1 verschiedene Sprachen repräsentiert sind, wird auf unterschiedliche Weise verdeutlicht: „Belgisch“ und „Britisch“ durch lexikalische Marker, „Griechisch“ und „Gotisch“ durch Typografie. Während es für Mehrsprachigkeit in nicht-grafischer Literatur an Klassifizierungsvor‐ schlägen nicht mangelt (z. B. Blum-Barth 2021: 61-104; Dembeck/ Parr 2020: 123-232), gibt es für den Umgang mit Mehrsprachigkeit in Comics bisher kein etabliertes Kategoriensystem: d. h. keines, das die semiotischen Möglich‐ keiten der Comics berücksichtigt und von ihrer einleitend skizzierten mehr‐ sprachigen Praxis ausgeht. 8 Im Folgenden werden anschließend an Walshe (2018), der Formen des (Pseudo-)Code-Switchings in Marvel-Comics untersucht, sechs Grundkategorien vorgeschlagen, zwischen denen jeweils Übergangsphä‐ nomene anzunehmen und die miteinander kombinierbar sind: 9 Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 155 <?page no="156"?> 10 Was Blum-Barth dazu führt, das, was hier als metasprachlich indiziert bezeichnet wird, als Inquit und Sprachverweis der exkludierten Mehrsprachigkeit zuzurechnen (2021: 77). Stockhammer spricht in solchen Fällen dagegen von Glottadiegesis (2015: 150): Parasprachliche Indikation durch Typografie, Klammern o.ä. wird bei Blum-Barth wie bei Stockhammer nicht berücksichtigt. 1. Präsenz: Verschiedene Sprachen erscheinen als sie selbst. Sie können unübersetzt bleiben, wie in Abb. 2 parallel sichtbar sein oder übersetzt werden, innerhalb der Erzählung z. B. durch andere Figuren, außerhalb der Erzählung z. B. in Untertiteln. 2. Indikation: Dass eine andere Sprache verwendet wird, wird außerhalb des Äußerungsinhalts angezeigt, parasprachlich z. B. durch Typografie, metasprachlich z. B. durch Hinweise in Figurenrede oder Erzählstimme. Die Äußerung selbst erscheint unmarkiert in der Basissprache. 10 3. Evokation: Dass eine andere Sprache verwendet wird, wird innerhalb der Äußerung angezeigt durch Modifikation der Basissprache (z. B. phonogra‐ phemische Verschiebungen, syntaktische Interferenzen, Phraseologismen oder lexikalisches Code-Switching). 4. Subsumption: wie 3., nur wird hier durch die Modifikationen nicht ange‐ zeigt, dass eine andere Sprache verwendet, sondern dass eine Sprache als L2 verwendet wird. Die Varietät der Figurenrede wird der Basissprache also als L2 untergeordnet - wie z. B. in der linken Sprechblase in Abb. 5. Einerseits werden Figuren so als mehrsprachig kompetent gezeigt, andererseits wird die L2-Varietät in der Regel durch Reduktionen von der L1 abgehoben und erscheint daher als defizitär, häufig verbunden mit einer entsprechenden Positionierung der Figuren (z. B. der „einheimischen“ Träger bei Hergé 1985). 5. Substitution: Was eigentlich in einer anderen Sprache gesprochen oder geschrieben wird, erscheint unmarkiert in der Basissprache. Dass die Basissprache hier eine andere Sprache repräsentiert, ergibt sich aus dem Zusammenhang, so dass die Figuren mit ihrem sprachlichen Repertoire als mehr- und anderssprachig sichtbar bleiben; so z. B. die Figuren in Abb. 5, die in deutscher Übersetzung aus dem Finnischen nicht nur L2-Spanisch, sondern auch L1-Spanisch und Arabisch sprechen. 156 Björn Laser <?page no="157"?> 11 Elimination geht damit über das hinaus, was Blum-Barth als exkludierte Mehrspra‐ chigkeit ansieht. Die liegt nach Blum-Barth vor, „wenn im Text eine andere Sprache erwähnt oder thematisiert wird, ohne dass sie die Basissprache des Textes beeinflusst und auf sie einwirkt“ (2021: 85). Da in diesem Fall die andere Sprache im Erzählten erscheint, wird er hier der Indikation zugerechnet (siehe die vorige Fußnote), im bei Blum-Barth nicht behandelten Fall, dass die Basissprache ohne expliziten Hinweis andere Sprachen repräsentiert, der Substitution. Bei der Elimination wird die erzählte Welt selbst einsprachig, wo sie in der Logik der histoire mehrsprachig sein müsste. Da Blum-Barth literarische Mehrsprachigkeit als „Ergebnis literarischen Schreibens“ (2021: 63) definiert und an Techniken und Verfahren bindet, „die ein Autor anwendet, um im Kontext der ihm zur Verfügung stehenden Sprachen literarisch tätig zu sein“ (ebd.), fällt diese Art des Verschwindenlassens von Sprachen wohl gar nicht in ihren Gegenstandsbereich. Das, was hier unter Präsenz gefasst wird, entspricht dagegen weit‐ gehend Blum-Barths manifester Mehrsprachigkeit - bis auf die Verballhornungen und phonetischen Transkriptionen (ebd.: 74 f.), die hier, da die Sprachen nicht unmarkiert als sie selbst erscheinen, zur Evokation oder Subsumption gerechnet werden, je nachdem, was die Modifikationen in den Äußerungen signalisieren sollen. Mit Untertitelung von Bildern, abgebildetem Text und Text, der im Audio erscheint, haben Comics allerdings zusätzliche Möglichkeiten der Manifestation. Phänomene wie Lehnübersetzungen und Inkorporierungen, die Blum-Barth unter latenter Mehrsprachigkeit fasst (ebd.: 79-82), werden hier als lexikalische oder phraseologische Markierungen der Anders- oder Mehrsprachigkeit kategorial nicht von anderen Interferenzsignalen getrennt und daher wie die Verballhornungen und phonetischen Transkriptionen ebenfalls der Evokation/ Subsumption zugeschlagen. Abb. 5: Tietäväinen (2014: 96/ 2) Elimination: Wie 5., nur ist nicht erkennbar, dass andere oder verschie‐ dene Sprachen gesprochen werden. Situationen oder ganze Erzählwelten werden monolingualisiert. Mehrsprachigkeit verschwindet. 11 Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 157 <?page no="158"?> 12 So weist die Rede der Apachen im schon angeführten Western-Comic die gleichen Merkmale auf, egal ob sie untereinander, mit Mexikanern oder mit US-Amerikanern sprechen (Giraud/ Charlier 1990: 3, 5, 47). Während in der Sachlogik der erzählten Welt entscheidbar sein sollte, ob eine L1 oder L2 gesprochen wird und welche, geht es hier wohl allein um eine ethnolinguale Differenzmarkierung. Dass hier, wie auch z. B. bei „chinesischen“ Figuren in Lucky Luke (Morris/ Goscinny 1988: 42/ 9) das sprachlich Unmögliche die Lektüre nicht ernstlich zu hindern scheint, erklärt sich wohl vor allem aus den Rezeptionskonventionen, mit denen man Comics als „Welt“ (Baumgärtner 1965, 1979) oder „Kosmos“ (Knigge 2009) begegnet. Ob mehrsprachige Situationen nach 5. einsprachig dargestellt oder nach 6. zu einsprachigen gemacht werden, wird sich nicht für jeden Einzelfall trennscharf klären lassen. Ob phonographemische und lexikalische Markierungen nach 3. eine andere Sprache oder nach 4. eine andere L1 der sprechenden Figur signalisieren, ist gelegentlich unentscheidbar. 12 Gerade an solchen Übergängen sollte sich die Orientierungsfunktion der Kategorien erweisen. 3 Beispiele In aller Kürze sollen Möglichkeiten der Mehrsprachigkeit in Comics an einigen Beispielen aufgezeigt werden: aus grafischer „Gastarbeiterliteratur“ (3.1), aus aktuellen Graphic Novels zum Thema Flucht und Migration (3.2) und zu Perspektiven, Mehrsprachigkeit in Comics von diesen Themenkomplexen zu lösen (3.3). - 3.1 Grafische „Gastarbeiterliteratur“ Spätestens seit Feridun Zaimoglus Frontalangriff auf „‚Müllkutscher-Prosa‘, die den Kanaken auf die Opferrolle festlegt“ (1999: 12), steht deutschsprachige Literatur der 1970er und 1980er Jahre, die von, mit und über Migrantinnen und Migranten verfasst wurde, in keinem guten Ruf und die Bezeichnung „Gastarbeiterliteratur“ in der Regel in Anführungszeichen (vgl. ebd.: 11). Dass in diesem Zusammenhang auch Comics und Cartoons entstanden sind, ist bisher weitgehend unbeachtet geblieben (vgl. Kesper-Biermann, i.V.). Zwei auch im Hinblick auf ihre Mehrsprachigkeit recht unterschiedliche Werke seien hier kurz vorgestellt. In beiden sind verschiedene Sprachen als sie selbst präsent, aber sie sind es an unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlicher Funktion. Das erste stammt von Dragutin Trumbetaš, trägt den Titel Gastarbeiter und erschien zuerst 1977 bei der Büchergilde Gutenberg. Typisch für die in Anfüh‐ rungszeichen historisch eingefriedete „Gastarbeiterliteratur“ ist die Begleitung der Publikation durch einen Mentor, in diesem Fall Gerhard Zwerenz, der 158 Björn Laser <?page no="159"?> einleitend die Rede vom „Gastarbeiter“ kritisch seziert. Trumbetaš kam in den 1960er Jahren als - dann: so genannter - Gastarbeiter nach Frankfurt a. M., war aber zuvor in Kroatien schon als Lyriker und Illustrator tätig. Nun ist er, so Zwerenz, „ein Arbeiter, der nebenbei malt“ oder auch „ein Maler, der nebenbei arbeitet“, in jedem Fall einer, „der unter uns lebt und dennoch fremd ist“, „mit einer Zeichenkunst, die wir gerne übersehen würden, machte sie sich nicht so bemerkbar“ (Trumbetaš 1981: 7). Zwerenz sieht Trumbetaš in der Tradition von George Grosz, und schön ist wirklich nicht, was Trumbetaš in seinen Einzelbildern darstellt: Baracken, Fabrik, Rotlicht, Suizid, hässliche Menschen und hässlicher Sex. Sprache erscheint in Form von Bildlegenden, also paratextuell, und in der Grafik. Die Bildlegenden am unteren Seitenrand sind viersprachig in Deutsch, Kroatisch, Italienisch und Türkisch, wobei die kroatische Version im Impressum als Übersetzung gekennzeichnet ist und nicht von Trumbetaš selbst stammt. Auch die Einleitung ist - in dieser Reihenfolge - in diesen Sprachen abgedruckt. Zur Funktion der Mehrsprachigkeit in der Publikation wird begleitend nichts gesagt, auch nicht zur Sprachenauswahl. Na‐ heliegend ist die Vermutung, dass es um Zugänglichkeit geht, also um die oben in Abschnitt 1 angesprochene Erweiterung des Publikums. Allerdings dürfte es angesichts der Veröffentlichung in einem Buchclub mit einem recht über‐ sichtlichen anderssprachigen Angebot weniger um die tatsächliche Distribution gegangen sein als um die symbolische Positionierung und die Sichtbarkeit von Einwanderungssprachen. Dagegen sind Texte, die in den Grafiken abgebildet sind, in der Regel deutsch und durchgehend unübersetzt. Sie stellen damit aus der Perspektive der Migrationssprachen ein nicht sofort erschließbares Sinnreservoir dar: eine nur deutschsprachig zugängliche Finsternis, denn die ganze Bosheit von Trumbetašs Darstellungen ergibt sich oft erst aus diesen Texten, etwa in Abb. 6 oder in einer Gürtelschnalle mit der Aufschrift „Geld mit uns“ (1981: B 41). Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 159 <?page no="160"?> 13 Für den Hinweis auf dieses Werk danke ich Peter Seibert, Bonn. Abb. 6: Trumbetaš (1981: B 37 [Ausschnitt]) Das zweite Beispiel ist der Foto-Comic Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen, der auf einem gleichnamigen Spielfilm der Schweizerin Gertrud Pinkus beruht. 13 Dieser wiederum beruht auf einem siebenstündigen Tonband‐ protokoll, in dem eine Einwanderin aus Süditalien ihre Geschichte erzählt. Da die Protagonistin unter allen Umständen anonym bleiben wollte, wurde der Film nach ihrer Erzählung mit italienischen Emigrantenfamilien gedreht, die auch im Fotoroman zu sehen sind (Pinkus 1983: 4). Erzählt wird von Maria, die ihrem Mann nach Frankfurt folgt. Die Erzählstimme in den Blocktexten ist italienisch. Die meisten Figuren sprechen ebenfalls Italienisch. Übersetzt wird das Erzählte und Gesprochene in Untertiteln, wenn Deutsch gesprochen wird, ins Italienische. Die Erzählung in den Panels folgt konsequent der sprachlichen Situation Marias in Deutschland: von der Begrüßung durch ihren Ehemann über die Demütigung, die sie empfindet, als sie sich beim Einkaufen kaum verständigen kann, bis zum Sprachwechsel der Kinder, der dazu führt, dass Maria nicht mehr alles versteht, was diese sagen (Abb. 7). Marias Deutsch bleibt dabei, durch defektive Morphologie und Syntax gekennzeichnet, als rudimentäre L2-Varietät erkennbar, was sie, außer in den Gesprächen mit einer türkischsprachigen Kollegin, auf der machtferneren Seite einer asymmetrischen Konstellation verortet - auch wenn es Maria gegen Ende des Bandes gelingt, ihre Gehaltsabrechnung erfolgreich bei einer Bank zu reklamieren. Durch die beige‐ fügten Übersetzungen wird das deutsch- oder italienischsprachige Publikum 160 Björn Laser <?page no="161"?> nicht nur in die Lage versetzt, die Perspektive der Figur nachzuvollziehen, sondern auch die kommunikative Gesamtsituation zu erfassen, in der sich die Figur befindet: ein mehrperspektivischer Blick auf mehrsprachige Praxis. Abb. 7: Pinkus (1983: 39/ 7) - 3.2 Aktuelle Graphic Novels Der Übergang von Trumbetaš und Pinkus zu aktuellen Graphic Novels aus dem Themenkreis Flucht und Migration zeigt nicht nur die Bandbreite des Themas. Er ermöglicht auch den Anschluss an Werke, die in jüngster Zeit unter der Perspektive der Mehrsprachigkeit behandelt worden sind: Unsichtbare Hände von Ville Tietäväinen (2014; vgl. Nikkilä 2020; Rösch 2022) und Nino Bullings Im Land der Frühaufsteher (2012), in dem Mehrsprachigkeit, wie Florian Trabert in seiner Analyse feststellt, ein dominierendes Merkmal ist (2020: 114). Das Land der Frühaufsteher ist - laut Eigenwerbung - Sachsen-Anhalt. Die Protagonistin Paula kommt in Kontakt mit Geflüchteten und besucht sie in ihren Unterkünften, um einen dokumentarischen Comic anzufertigen. Zu Beginn der Handlung fährt Paula nach Halle, um dort ihren Freund Farid aus Mali zu treffen. Sie besucht einen Afro-Shop und begegnet dort zunächst einmal Misstrauen. Die französische Sprache stellt eine erste Verbindung her, aber es braucht eine Weile und einen Skizzenblock, bis das Eis gebrochen ist (vgl. Bulling 2012: 6-21). Später findet in einer Flüchtlingsunterkunft in Halberstadt eine längere Unter‐ haltung in der westafrikanischen Sprache Mòoré statt (ebd.: 48 ff.). Während Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 161 <?page no="162"?> französische Passagen untertitelt sind, bleibt Mòoré unübersetzt, sodass man als Leser: in ohne Sprachkenntnisse in die sprachliche Situation der Protagonistin versetzt wird. Man kann nur versuchen, einzelne Wörter zu identifizieren und den Kontext zu erschließen und ist letztlich darauf angewiesen, dass ein Anwesender erklärt, was besprochen wurde (ebd. 50 f.; vgl. Trabert 2020: 116). Die Präsenz verschiedener Sprachen in den Sprechblasen bei Bulling - neben den genannten kommt auch noch Englisch vor - entspricht nicht nur ihrer Präsenz in den geschilderten Situationen. Sie erlaubt auch eine reflektierende Auseinandersetzung mit den Sprachen und ihren Konstellationen. Dass sich mehrsprachige Kommunikationssituationen auch nachvollziehen lassen, wenn nur die Basissprache der Publikation verwendet wird, wurde unter 2.3 mit einer Abbildung aus Ville Tietäväinens Unsichtbare Hände gezeigt, (Abb. 5). Unsichtbare Hände, im Original Näkymättömät kädet, ist kein dokumentari‐ scher Comic, sondern ein fiktionales Werk. Erzählt wird die Geschichte von Rashid, der mit seiner kleinen Familie in einem Blechverschlag auf dem Haus seiner Eltern in Marokko lebt und sich, weil er sonst keine Perspektiven sieht, auf die Harraga, die illegale Überfahrt nach Europa macht. Das Buch beginnt mit einem französischen Motto: „Deux rives, un rêve“ - zwei Küsten, ein Traum: der Werbeslogan einer Fähre zwischen Tanger und Algeciras, die in den 1970er Jahren über die Ostsee fuhr und „Zehntausende Finnen auf der Suche nach einem besseren Leben nach Schweden“ brachte (2014: [3]). Dies ist die einzige Stelle im Band, die mit einer Fußnote übersetzt wird. Auch Tietäväinens Werk ist, wie Nikkilä detailliert zeigt, „far from mono‐ lingual“ (2020: 199). Die Darstellungsstrategien und die Funktionen der Mehr‐ sprachigkeit unterscheiden sich aber deutlich von denen bei Bulling. In der Figurenrede werden die gesprochenen Sprachen substituiert, also von der Ba‐ sissprache repräsentiert: Maghrebinisches Arabisch, Spanisch und Katalanisch erscheinen in der Originalausgabe finnisch und in der deutschen Ausgabe deutsch. Anderssprachige Lexeme, die gelegentlich auftauchen, lassen sich den Figuren als Code-Switching zurechnen (z. B. 32/ 1-2, 78/ 4). Als sie selbst präsent sind Sprachen dagegen dort, wo sie dem Audio, der Geräuschkulisse, verbunden werden können wie Spanisch in Liedtexten (32 f., 157) und Arabisch im Muezzin-Ruf (23). Unübersetzt erscheinen auch Texte, die sich innerhalb der erzählten Welt auf Schildern, Plakaten, Verpackungen usw. befinden. Auffällig ist hier, dass diese Texte in der marokkanischen Umgebung fast völlig fehlen (Nikkilä 2020: 210). In der spanischen Umgebung finden sich solche Inschriften dagegen häufiger. Sie dienen dort nicht nur der Authentizität der erzählten Welt, sondern haben zum Teil auch kommentierende Funktion wie z. B. das Graffito „¡Trabajo libertar! “ am Zaun der Obst- und Gemüseplantage, das an 162 Björn Laser <?page no="163"?> 14 „Arbeit macht frei! “ wäre allerdings korrekter mit „¡El trabajo liberta! “ übersetzt. Hinweis von Tom Reipschläger, Bangkok. die NS-Parole „Arbeit macht frei! “ erinnert (81/ 1; vgl. Nikkilä 2020: 209 f.). 14 In ähnlicher Weise reichern die spanischen Liedtexte die Erzählung an (ebd.: 202-205), und mehr noch tun dies die Songtexte des finnischen Sängers Jamppa Tuominen. Finnisch ist nicht nur die Originalsprache der Publikation, sondern auch Teil der erzählten Welt. Die Schlager erklingen von einer Musikkassette, die dem Mauretanier Ely gehört, der sie später Rashid schenkt. Im Original sind das Finnische der histoire und das Finnische des discours nur modal voneinander unterschieden. In der deutschen Übersetzung wurde - auf Wunsch des Autors - das Finnische der histoire, also in den Songtexten, belassen (ebd.: 220). Ohne Kenntnisse des Finnischen lässt sich jetzt nur erahnen, dass Interpret und Titel nicht zufällig gewählt wurden, insbesondere das Stück, das Rashid auf seinem letzten Weg begleitet (vgl. ebd.: 218). - 3.3 Möglichkeiten des Nicht-Verstehens Als im Prolog das Boot, in dem Rashid nach Spanien übersetzt, in die gefährliche Nähe eines Frachtschiffs gerät, erscheint ein Text auf Bambara, einer Sprache, die vor allem in Mali gesprochen wird. Eine Schwangere singt ihrem ungebo‐ renen Kind vor. Auch diese Sprache wird im Comic nicht übersetzt, sie wird nicht einmal identifiziert, so dass für die meisten Leser: innen die Töne ebenso fremd bleiben wie für Rashid (Tietäväinen 2014: 8; Nikkilä 2020: 201). Gelegentlich scheinen in Comics durch Mehrsprachigkeit Zumutungen des Nicht-Verstehens gewagt zu werden, denen in anderen Kommunikationsformen engere Grenzen gezogen sind, und zwar dadurch, dass fremdsprachige (oder genauer: für das angenommene Publikum fremdsprachige) Passagen in Comics stärker kontextualisiert sind als in monomodal schriftlichen Texten. Zum einen ist Kommunikation sichtbar eingebettet in eine Kommunikationssituation, indem sprechende Personen abgebildet werden mit Gestik, Mimik, Körperhaltung und Blickrichtung. Zum anderen können fremdsprachige Elemente an unterschiedli‐ chen Positionen im multimodalen Kommunikat erscheinen: im Hintergrund der Handlung, dem Audio verbunden als Liedtext oder Hintergrundgeräusch oder der Grafik verbunden als abgebildeter Text. Das heißt: Es ist mehr zu verstehen, und es ist zugleich besser zu verstehen, was nicht unbedingt verstanden werden muss. Anders als in Film oder Hörspiel ist die nicht verstandene oder nicht ohne Weiteres zu verstehende Sprache nicht flüchtig. Sie bleibt optisch präsent Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 163 <?page no="164"?> 15 Entsprechend der japanischen Leserichtung beginnt die Zählung oben rechts. 16 Für Hinweise und Beispiele aus dem Manga-Bereich danke ich Jorina Aurelia Laser. und damit sowohl als Nichtverstandenes als auch dem potenziellen Verstehen weiterhin zugänglich. Diese Präsenz kann sich auch in anderen Zeichen oder Zeichensystemen manifestieren. Die Mangaseite in Abb. 8 zeigt dafür zwei verschiedene Formen. Zum einen werden, wie hier in den Panels 2 und 3, 15 bei westlichen Ausgaben japanischer Mangas Onomatopoetika regelmäßig im Original belassen und durch Übersetzungen ergänzt. Dies mag technische Gründe haben, trägt aber zweifellos auch zur ‚japanischen‘ Anmutung der erzählten Welt bei. Mit Kla‐ witter (2015) lässt sich hier von ästhetischer Resonanz sprechen. Abb. 8: Kakash/ Baba/ Kiryu (2021: [153]) 16 Zum anderen signalisieren in den Panels 1 und 2 Sterne und Punkte in den Sprechblasen der Mutterspinne eine unbekannte Sprache. Während man den ja‐ panischen Silbenzeichen (Katakana in diesem Fall) die übersetzten Soundwords als Signifikate zurechnen kann (wenn auch nicht muss), scheinen die Sterne 164 Björn Laser <?page no="165"?> und Punkte als Zeichen tatsächlich leer zu sein. Tatsächlich tritt hier aber an die Stelle des Signifikats eine „Sinn-Reserve“ (Klawitter 2015: 41), und diese kann abhängig vom Zeichentyp unterschiedlich spezifisch sein: von reinen Anzeichen der Unverständlichkeit wie im Beispiel über mehr oder minder systematische Pseudo-Codes (z. B. in Fournier 1990; Wiesner 2015) bis hin zu interpretierbaren z. B. „ägyptischen“ Piktogrammen einer- und der Verwen‐ dung fremder Schriftsysteme andererseits (vgl. Goscinny/ Uderzo 2014: 18f.; Hergé 1985: 11). Eine entsprechende Sinnreserve stellen auch fremdsprachige Elemente in vertrauten Schriftsystemen zur Verfügung: Man versteht, dass es etwas zu verstehen gibt, auch wenn man es nicht unbedingt versteht. Da das multimodale Werk insgesamt zugänglich bleibt, nähert sich in diesem Punkt nicht nur die ästhetische Erfahrung der lebensweltlichen an. Es bietet sich auch Gelegenheit, sich vom traditionellen Ideal, dass mehrsprachige Texte eines in gleicher Weise mehrsprachigen Publikums bedürften (vgl. Knauth 2011: 17), zu lösen. 4 Didaktische Ausblicke Dass bei der Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit in Comics der Themenkreis Flucht und Migration in den Blick gerät oder umgekehrt von diesem aus Mehrsprachigkeit in Comics auffällt, ist sicherlich nicht zufällig, aber auch nicht zwangsläufig. Grundlegender können Comics durch das multimodal bedingte Verhältnis von Simultanität und Linearität mehrsprachige Kommunikation zugleich im Verlauf darstellen und in der sprachlichen Konstellation präsent halten. Sie eignen sich daher in besonderem Maße für Analyse und Ausdruck mehrsprachiger Praxis sowie zur kritischen Auseinandersetzung damit, wie Sprachen positioniert und gewertet werden (z. B. Bulling 2012: 73-81; vgl. Tra‐ bert 2020: 116 ff.) oder wie L2-Varietäten stilisiert und welchen Figuren sie zu‐ geordnet sind (z. B. Pinkus 1983; Hergé 1985: 22-37). Grundlegender ist auch aus den im vorigen Abschnitt genannten Gründen das Risiko des Nichtverstehens geringer, und zwar in doppeltem Sinne: als Risiko, dass etwas nicht verstanden wird, und als Risiko der Frustration, wenn etwas nicht verstanden wird. Bei einer sprachlich komplexen und vielfältigen Graphic Novel wie Unsichtbare Hände ist eine ideale Rezipientin in dem Sinne, dass ihr sprachliches Repertoire sich mit dem der Lektüre deckt, ein sicherlich seltener Fall, und offenkundig ist die Rezeption des Werkes nicht auf das Eintreten dieses Falles angewiesen. Sprach‐ lich heterogene Werke können gerade in sprachlich heterogenen Lerngruppen zeigen, dass Verstehen und Nicht-Verstehen ein skalares und kein antonymes Verhältnis haben: Niemand versteht alles, aber die meisten verstehen etwas und Potenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic 165 <?page no="166"?> mitunter etwas anderes, so dass Rezeptionsvorgänge transparent das werden, was sie sind, nämlich individuell, und sich zugleich ergänzen. Und zeigen, dass es ästhetisch wie epistemisch nicht notwendig ist anzunehmen, etwas erschlösse sich nur dann oder überhaupt, wenn man es ganz verstünde. Literatur Alexius, Christian (2022). 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The experience of different languages while growing-up, moving, or migrating, and the writers’ reflections on and play with multilingualism make a discussion of these texts relevant to the present volume. Addressing the relationship between misunderstanding, joy, and pain in forms of communication between dif‐ ferent languages and contexts, the essays and stories form an attractive and online-accessible resource for the Germanor French-language classroom. The chapter focuses on the relationship between misunderstanding, power, and history with respect to different historical and geographical contexts and proposes different ways of using the texts in the classroom. Keywords: Bremer, Gümüşay, Horňáková Civade, Tchak, Utler, Wajsbrot, Kindheit, Missverständnis, Übersetzung, Macht, Geschichte, childhood, misunders‐ tanding, power, history, translation 1 Einleitung Mehrsprachigkeit ist eine Quelle von Missverständnissen. Das Schreibprojekt Stille Post am Literaturhaus Stuttgart wollte sprachliche und kulturelle Miss‐ verständnisse beleuchten. Entstanden ist eine Textsammlung, die online frei zugänglich und für den Unterricht geeignet ist. Im Folgenden werde ich das Projekt, seine Texte und deren Umgang mit Mehrsprachigkeit vorstellen, um daran Reflexionen zu ihrem Einsatz im Unterricht anzuschließen. <?page no="174"?> 2 Das Projekt 2022 fand am Literaturhaus Stuttgart das Schreibprojekt Stille Post statt, ein deutsch-französisches Projekt über die Kraft der Missverständnisse. Das von Stefanie Stegmann, der Leiterin des Literaturhauses, und mir konzipierte Projekt hatte zum Ziel, drei deutschsprachige und drei französischsprachige Autor: innen ausgehend vom Kinderspiel Stille Post miteinander in Kontakt zu bringen. Bei diesem Spiel wird ein Satz von einer Person zur anderen geflüstert und am Ende der Reihe laut ausgesprochen, mit allen Veränderungen, die der Weg hervorgebracht hat. Diese Form wollten wir für das Projekt insofern abwandeln, als Texte weiterwandern und sich ändern würden. Der Prozess war ergebnisoffen. Teilgenommen haben der togoische Schriftsteller Sami Tchak, der den Aufschlag machte, die türkeistämmige Journalistin Kübra Gümüşay, die tschechische, in Frankreich lebende Autorin und Malerin Lenka Horňáková Civade, die auf Französisch schreibt und sich selbst ins Tschechische übersetzt, die Lyrikerin und Übersetzerin Anja Utler, die französisch-jüdische Autorin und Übersetzerin Cécile Wajsbrot und die aus Kroatien stammende, schon lange in Deutschland lebende Schriftstellerin und Übersetzerin Alida Bremer. Die Texte von jeweils 1000 Wörtern wurden in der Schreibsprache des/ der Autor: in verfasst und anschließend ins Französische oder Deutsche von meiner Kollegin Françoise Joly (ins Französische) und von mir (ins Deutsche) übersetzt. Die Mehrsprachigkeit und die Herausforderungen der Übersetzung, welche die Texte thematisierten, gingen somit ins Projekt selbst ein. Freigestellt war den Autor: innen, ob sie eine Erzählung oder einen Essay schreiben wollten. Hier hat sich die Gattung im Laufe des sechsmonatigen Prozesses verändert und wechselte von der fiktionalen Erzählung zum autobiographischen Essay. Bei der Überlegung, wie die Texte schließlich ans Publikum kämen, abgesehen von der einmaligen Präsentation im Literaturhaus Stuttgart, entstand die Idee, die Texte als Podcasts zur Verfügung zu stellen. Jede: r Autor: in las also ihren/ seinen Text in der Originalsprache ein. Jetzt stehen alle eingelesenen Texte auf dichterlesen.net und alle Originaltexte wie auch ihre Übersetzungen auf TOLEDO, der Plattform des Deutschen Übersetzerfonds, zur Verfügung. Nicht nur die schriftliche Mehrsprachigkeit, sondern auch die unterschiedliche Arti‐ kulation von Sprachen und Wörtern kommt so zu Gehör, etwas, das die Texte wiederum bereits vor ihrer technischen Aufnahme selbst reflektiert haben. Nur ein Merkmal der Textsammlung entstand in gewisser Weise von selbst: Dass ein Autor und fünf Autorinnen schrieben, war nicht so geplant, ergab sich aber im Laufe der von Ab- und Zusagen geprägten Kontaktaufnahme mit den Autor: innen. 174 Annette Bühler-Dietrich <?page no="175"?> Seine Präsenz im Sammelband Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik verdient das Projekt, weil die entstandenen Texte aufgrund ihrer Länge und ihres Inhalts sehr gut für den Unterricht in Sekundarstufe I und II geeignet sind. Sie können frei heruntergeladen werden und sie machen mehrfach Mehrspra‐ chigkeit und Kindheit zum Thema, knüpfen also auch darin an die Lebenswelt der Jugendlichen an. Entsprechend des Kinderspiels Stille Post wurde ein Text immer nur bis zur nächsten Autor: in weitergeleitet. Das ganze Projekt stand allen Autor: innen erst zur Verfügung, als es fertig war. Aufgabe war es, aus dem erhaltenen Text einen Impuls aufzunehmen und ihn im eigenen Text weiterzuverarbeiten. Dass sich trotz dieses Verfahrens über die Texte hinweg ähnliche Themen etablierten und das Tschechische in drei Texten thematisiert wurde - und zwar bei Horňáková Civade, dann bei Utler und schließlich bei Bremer, die den Text Utlers nicht kannte - war eine Überraschung für uns. Dass Kindheit und Jugend/ Studienzeit mehrfach wiederkehrten - Kindheit bei Gümüşay, Horňáková Civade, Wajsbrot und Bremer, Studium bei Utler und Bremer, ist dagegen weniger überraschend, wenn man an viele sprachbiographische Essays mehrsprachiger Autor: innen denkt, wie sie beispielsweise in Barbara Sillers und Sandra Vlastas Sammelband Literarische Mehrsprachreflexionen (2020) abgedruckt sind. Erstaunt hat es uns dennoch, dass die Bitte, sich über sprachliche und kulturelle Missverständnisse zu äußern, eben nicht zu den großen politischen Stellungnahmen geführt hat, sondern zu autobiographischen Erinnerungen oder zu fiktionalen Szenen. Gleichermaßen erwartbar und doch unerwartet war, dass diese sprachlichen Missverständnisse und Fehldeutungen zumeist mit einer Verschiebung zwi‐ schen den Sprachen einhergehen. 3 Die Texte Im Unterschied zu allen anderen untersucht Sami Tchaks Anfangstext „Das Schaf “ Missverständnisse, die nicht auf Mehrsprachigkeit beruhen, sondern auf kulturellen Codes einerseits, auf physischen Einschränkungen wie Schwerhö‐ rigkeit andererseits. Ort von Tchaks Erzählung ist das Dorf Tèdi, ein fiktives Dorf in Togo, das den generischen Namen für „Dorf “ in der Sprache Tem trägt und dem der Autor gerade einen Roman gewidmet hat. Im Roman kommt ein weißer Ethnologe ins Dorf, um dessen Praktiken zu studieren (Tchak 2021). In der Erzählung aber ist das Dorf unter sich, versammelt sind das Dorfoberhaupt, die Ältesten und der Alte Amadou, der wegen eines Viehdiebstahls angeklagt ist. Bei seiner Selbstverteidigung verwendet der Alte Amadou Bezeichnungen für seine Familienverhältnisse, die dem Ältestenrat nicht mehr geläufig sind - Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar 175 <?page no="176"?> erst allmählich erinnert sich einer der Ältesten, dass Kindschaftsbeziehungen nicht allein an Verwandtschaft ersten Grades gebunden sind, dass also auch die Kinder der Geschwister des Alten Amadou als seine Kinder gelten. Insofern der Alte Amadou selbst keine Kinder hat - auch von einer Frau ist nicht die Rede -, ist er bereits eine Anomalie im Dorf. Darüber hinaus hinkt er, was den Diebstahl unerklärlich macht, und er hört schwer. Auch diese körperlichen Gebrechen unterscheiden ihn von seiner Umwelt. Vor allem aber weigert er sich, die kolonial auferlegte Chronometrie und die koloniale Logik von Ver‐ wandtschaftsbeziehungen zu akzeptieren. Als das Dorfoberhaupt ihm vorhält, dass er vor fünf Tagen zurückgekommen sei, innerhalb des Zeitraums des Diebstahls, antwortet er: „Also war ich nicht da, denn ich hatte fünf Tage lang nicht geschlafen, ich hatte nur zwei Nächte Schlaf bekommen“ (Tchak 2022). Für die Zahl der Tage gilt so die schlafend verbrachte Nacht und nicht die chronometrische Zeit. Gleichermaßen stößt seine Aussage über seinen dritten Sohn bei den Ältesten auf Verwunderung, bis einer von ihnen die Logik erkennt: „Die Dorfältesten wechselten Blicke. Einer von ihnen sagte: ‚Es stimmt, die Kinder seines Bruders sind seine Kinder, also hat er, selbst wenn er nie Kinder gehabt hat, mehrere‘“ (ebd.). Obwohl der Alte Amadou am Ende als schuldig erkannt wird, ist der Richtspruch des Dorfoberhaupts milde. Ob er je das gestohlene Schaf bezahlen wird, bleibt am Ende offen, doch das soziale Gleichgewicht im Dorf ist wiederhergestellt. Tchaks kurzer Kommentar zu seiner Geschichte betont das Potential von Missverständnissen: Die menschliche Sprache, alle Formen der Kommunikation, die mit ihr verbunden sind, bringen Missverständnisse hervor. Aber manche Missverständnisse können eine Art Reichtum bilden, sie öffnen ungeahnten Bedeutungen die Tür und bringen dabei eine Art unwillkürlichen Humor hervor. Das daraus entstehende Lachen ist manchmal ein sozialer Schatz, nötig für den Umgang mit Konflikten. (ebd.) Reichtum, Humor, aber auch Subversion und Trauer sind Eigenschaften der Missverständnisse, die die folgenden Texte des Spiels mit Blick auf mehrspra‐ chiges Missverstehen entfalten. Der metasprachliche Blick auf Sprache, der mit diesen Situationen einhergeht, trifft dabei sowohl die Erstals auch die Zweitsprache der Texte. Kübra Gümüşays Buch Sprache und Sein (2020) spricht über die Ein- und Ausschlussbedingungen von Sprachen in Deutschland. Präzise schildert sie das Verhältnis von Sprache und Macht und das Bedürfnis, einen Sprechort wählen zu können, ohne von außen auf eine Position festgelegt zu werden: „Freies Sprechen bedeutet die Emanzipation von einer Sprache, die uns nicht vorsieht - 176 Annette Bühler-Dietrich <?page no="177"?> indem wir sie verändern, anstatt uns zu erklären, indem wir sie anders nutzen, um in ihr zu sein“ (Gümüşay 2020: 159, Hv. i. O.). Ihr Buch verbindet persönliche Erfahrungen als türkeistämmige muslimische Journalistin und Aktivistin in Deutschland mit literarischen und kulturwissenschaftlichen Beiträgen anderer Autor: innen, die sie im Zitat aufgreift. Auch sie thematisiert die Hierarchie von Sprachen in der Mehrsprachigkeit, ein wesentlicher Kritikpunkt mehr‐ sprachiger Autor: innen an der Haltung von Gesellschaft und Lehrkräften in Deutschland (vgl. ebd: 35-38). Für Stille Post hat Gümüşay eine Kurzgeschichte verfasst, eine Gattung, die sie gelegentlich verwendet (2023), die aber hinter ihrem journalistischen Werk zurücktritt. „Eine komische Geschichte“ ist gerade nicht komisch. Hier tut das Missverständnis weh, öffnet den Spalt zwischen Aynur und ihrer Tochter Tuba weiter. Aynur ist noch immer fremd in Deutschland: Diese dunkle Welt mit dieser groben Sprache, den harten Regeln, den ungewohnten Gewohnheiten und dem ganzen „Nein, nein, nein! “, durch das sie sich vorsichtig, verschreckt und verunsichert ihren Weg bahnte. (Gümüşay 2022) Gümüşays Aufzählung mündet in der Metonymie aller aufgezählten Elemente, die die Welt Aynur dunkel erscheinen lassen, im wiederholten „Nein“. Als ob die deutsche Sprache und auch die Gesellschaft sich in diesem einen Wort ver‐ dichteten. Als wir den Text im Seminar besprachen, bestätigte meine Studentin Rabia T. genau das: Charakteristisch für Deutschland seien aus türkischer Sicht das Wort und der Klang von „Nein“. Doch nicht „Nein“ realisiert hier schließlich den Ausschluss, sondern eben „eine komische Geschichte“. Ausgerechnet im Wort „Comic“/ „komik“ prallen die Bedeutungen aufeinander: „Tuba hatte ‚Comic‘ gesagt. Aynur aber hatte ‚komik‘ verstanden. ‚Komik‘ war Türkisch und bedeutete ‚komisch‘. Ihre Tochter hatte aber Deutsch gesprochen. Sie hatte sich eine Comic-Geschichte gewünscht“ (ebd.). Aynurs Wunsch, ihrer Tochter bei der Integration in die Klassengemeinschaft zu helfen, führt zur schmerzhaften Erkenntnis ihrer eigenen Ausgeschlossenheit. Dass diese Kluft sich unvermutet am Rand auftut, zeigt, wie vermint das Terrain ist, gerade auch im privaten Raum. Aus dem Kuchen, den Aynur für die Schule backen will, um Tubas Kontakt zu den anderen Kindern zu fördern, wird bei Lenka Horňáková Civade eine Reflexion über das Essen und den Bauch. Aus Aynurs Rückblick auf die durch den Kaiserschnitt verpasste Geburt der Tochter wird bei ihr das Inuit-Märchen über eine Mutter, die sich für ihr Kind opfert. Statt um Türkisch und Deutsch geht es nun um Russisch und Tschechisch und um den Status, der Sprachen zugeschrieben wird oder den sie für sich einnehmen. Über die russische Sprache Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar 177 <?page no="178"?> schreibt die tschechisch-französische Autorin: „Sie war eine Kategorie für sich, mit einem eigenen, unstrittigen Platz. Fremd und überall gegenwärtig“ (Horňáková Civade 2022). Der Zwang, diese Sprache zu erlernen und keine andere, führt aber auch zu „Neugier“ (ebd.) auf das andere Schriftsystem und die neuen Laute und zu einer neuen Aufmerksamkeit auf die Erstsprache, besonders auf Lexik und Phonetik: Zwischen Russisch und Tschechisch verschieben sich die Bedeutungen von Bauch, Leben und Welt und führen die Autorin zu einer Reflexion über den titelgebenden Bauch und das Essen und damit zu dem zitierten Inuit-Märchen. Das anfängliche Verschränken der Lexeme zweier Sprachen schafft so einen Bedeutungszusammenhang, der Bauch, Leben und Welt verknüpft und deren Zusammengehörigkeit herausstellt. Was sich lautlich zunächst als falsche Freunde erweist, zeigt sich über die narrative Verknüpfung als existentieller Zusammenhang. Dieser wird zwar über die Sprachverschiebung geschaffen, doch bekräftigt wird er sowohl im eingefügten Märchen wie auch im Tun: Alles, was sie [die Großmutter] nicht mit Worten ausdrücken kann, ist auf diesem Teller, und ich, ich kann ihr meine eigene Liebe nur zeigen, wenn ich alles verschlinge, was sie für mich zubereitet. Ihr zu sagen, dass ich sie liebe, macht keinen Sinn. Das sind nur Worte. Essen, das ist ein Beweis. (ebd.) Essen als Möglichkeit der Beziehung zum anderen, da, wo Sprache nicht genügt, eröffnet einen Kontaktraum. Dass „langue“ im Französischen die Sprache und die Zunge benennt, stellt den Zusammenhang zwischen Sprechen und Essen im Wort her - auch wenn sich beide in der Gleichzeitigkeit ausschließen: Mit vollem Mund spricht man nicht. Wenn dieses Angebot der stellvertretenden Kommunikation im Essen ausgeschlagen wird, wie bei Tubas Pausenbrot, das die Mitschülerinnen nicht wollen, dann, so Gümüşays Kurzgeschichte, kann vielleicht eine Geschichte helfen, die sich wie der Comic zwischen Wort und Bild ansiedelt. Gümüşays Schlaglicht auf die lautliche Verschiebung zwischen „Comic“ und „komik“ setzt sich als dem Lautlichen inhärentes Missverständnis über Horňáková Civades „Vom Bauch“ zu Anja Utlers „Vom Klang der Gärten und Könige“ fort. Zunächst betont Utler, Lyrikerin und Übersetzerin, die Produkti‐ vität des Missverstehens, die aus der noch unvollständigen Sprachbeherrschung resultiert. Als deutsche Studentin lernt sie Tschechisch und Russisch nach dem Ende der Sowjetunion: „Denn obwohl ich in großer geographischer Nähe zur Tschechoslowakei aufgewachsen war, war der Klang slavischer Sprachen in meiner Kindheit abwesend: Wir führten gerade alle zusammen das Stück 178 Annette Bühler-Dietrich <?page no="179"?> Eiserner Vorhang auf “ (Utler 2022). Erst über das Studium nähert sie sich so der benachbarten Sprache und reflektiert diesen Prozess wie folgt: Wir Lernende verglichen also die Klangvorstellungen, die wir uns von den neu er‐ lernten Wörtern machten, mit dem, was wir hörten, und versuchten, das Bekannte ins Unbekannte so einzusortieren, dass sich irgendwie vorstellbare Sätze ergaben. Diese spekulierende Suche nach einem Verstehen war öffnend und produktiv, geradezu unwiderstehlich. (ebd.) Im Kontext des Studiums ist dieses Verfahren ein Spiel, das Missverständnis kann wegen seiner Kreativität bewahrt und weitergereicht werden (ebd.). Über ihren Lieblingssatz äußert sie: Mein all-time-favourite unter den kolportierten Missverständnissen lautet: „Král dubu je pták“ - „Der König der Eiche ist ein Vogel“. Ein herrlicher Satz. Er ließ sich bestaunen und in Zeichnungen übersetzen, vor allem aber konnte man ihn gut singen, denn er entstammt einer tschechoslowakischen Protesthymne aus den späten 1960er Jahren, Král a klaun, Der König und der Clown. (ebd.) Doch Utler trägt die wahre Wortkombination nach: „Denn in Wirklichkeit beginnt Karel Kryls Song mit dem Vers ‚Král do boje táh‘ - ‚Ein König zog in den Krieg‘“ (ebd.). Sie schlägt damit den Bogen vom studentischen Wortspiel zur Kriegsrealität 2022, um im Folgenden die Kehrseite des Spielerischen, das Beunruhigende auszuloten. Die Kluft im Verstehen, die Tchaks Dorfälteste hu‐ morvoll schließen und die Aynur und Tuba trennt, zeigt sich nun als Bedrohung gegenüber dem Bedürfnis nach Verstehen und dessen Parametern, die alle Elemente gesprochener Rede umfassen: „Es genügt dabei allerdings nicht, den Klängen einer Sprache die richtigen Bedeutungen zuzuordnen. Entscheidend sind ebenso Intonation und Klang einer Stimme“ (ebd.). Trotzdem, so Utler, ist auch bei aller Korrektheit der Worte und Laute Verständnis nicht garantiert: „Die gelingenden Entschlüsselungsvorgänge legen ein blankes Nichtverstehen bloß, das sich verbreitet, vertieft und den ganzen Körper erfasst“ (ebd.). Dass hierin noch einmal die aktuelle Kriegssituation durchdringt, zeigen Utlers Verweis auf die deutsche Geschichte und der Abschluss des Essays mit Bezug auf Putin. Missverstehen als nicht nur kognitives, sondern physisches, affektives Geschehen kehrt bei ihr wieder und echot darin Aynurs Verzweiflung über das missverstandene Wort „Comic“. Geht es um gesprochene Sprache, zumal um die gesprochene Fremdsprache, so geben Intonation und Klang nicht nur über den Inhalt der Aussage und die Haltung Auskunft, sondern auch über die Herkunft des/ der Sprecher: in wie auch des/ der Zuhörer: in. An dieser klanglichen Ebene der Sprache setzt Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar 179 <?page no="180"?> 1 Sasha Marianna Salzmann verwendet in Außer sich (2017) das Jiddische als Sprache der Urgroßeltern, die sich innerhalb der Sowjetunion in dieser Geheimsprache der Zwischenkriegszeit zu erkennen geben. Cécile Wajsbrots „Bei mir bist du…“ an. In ihrem Essay reflektiert sie über ihr Aufwachsen zwischen verschiedenen Sprachen und ihre Wahrnehmung des Schlagers „Bei mir bist du shein/ schön“ in den späten 1950er Jahren. Utlers Protesthymne wird hier ersetzt durch den Schlager der 1930er Jahre, dessen Geschichte Wajsbrot in einem Abschnitt ihres Textes entfaltet. Die französische Autorin polnisch-jüdischer Herkunft verbindet in ihrem Essay persönliche Sprachenbiographie mit der Geschichte des genannten Schlagers. Die Uneindeutigkeit des Hörens - heißt es im Lied „shein“ oder „schön“ - fällt mit dem Ausschluss des Jiddischen aus der öffentlichen Sprachenpolitik nach 1933 zusammen: Ein paar Jahre später - die Szene in Italien wie die in der Metro spielen am Ende der Fünfzigerjahre - war der dem Jiddischen aufgedrückte Stempel geblieben, die affektive Verbundenheit auch, wenn auch die seltenen Personen, die es sprechen konnten, es irgendwie heimlich taten, im Schutz ihrer vier Wände. (Wajsbrot 2022) Da die Kenntnis des Jiddischen verrät, dass man als Sprecher: in persönlich oder genealogisch dem Holocaust entronnen ist, spielen bei der Wahrnehmung der Sprache nicht nur Sprachkompetenz und Sprachprestige oder geographische Herkunft, sondern auch die Herkunft aus einer bestimmten Geschichte, um deren Verdrängung die Gesellschaft der 1950er Jahre sich aktiv bemühte, eine Rolle. 1 Doch wie Wajsbrot aufzeigt, schmuggelt sich das Jiddische resistent in der kleinen lautlichen Verschiebung von schön zu shein ins Lied, selbst zur Zeit der nationalsozialistischen Besatzung Frankreichs. Was während des Nationalsozialismus gewaltvoll getrennt wurde - die Sprachverwandtschaft zwischen dem Jiddischen und Deutschen - wird in Wajsbrots Familie neu verknüpft: - ich muss dazu sagen, meine Großmutter wollte, dass ich Deutsch im Gymnasium lernte, damit ich Jiddisch verstehen könne, ein durchaus ungewöhnliches Vorgehen in den Sechzigerjahren in Familien, die von der Deportation betroffen waren, ich muss auch dazu sagen, ich verstehe noch heute das Jiddische durch das Deutsche, mit Ausnahme einiger Wörter, die ich in der Kindheit gehört habe - (ebd.) Wajsbrot liefert diese Information in einem langen Einschub, der Deutsch als Weg zum Jiddischen darstellt und damit eine gewaltsame Trennung neu überbrückt. Als Gegenbewegung zur Deportation lernt Wajsbrot die Sprache der Trennung, Deutsch, zur neuen Verbindung und kodiert sie als Schwester 180 Annette Bühler-Dietrich <?page no="181"?> des Jiddischen um. Dass Wajsbrot Übersetzerin aus dem Deutschen und Engli‐ schen ins Französische ist und in ihrem literarischen Werk Reflexionen über Übersetzen und Zeitgeschichte verbindet (Wajsbrot 2020/ dt. 2021), zeigt, wie diese Arbeit an der Sprache ein privater wie politischer Akt ist. Mehrsprachigkeit konnotiert sowohl Bereicherung wie auch Beunruhigung. Wajsbrot setzt die kindliche Suche nach einer Ursprache an den Anfang ihres Es‐ says, Utler fokussiert die nachhaltige Verstörung aufgrund der Verschiebung, die durch die zunächst französische Transkription russischer Laute im deutschen Text beim übersetzten Essay Horňáková Civades entstanden ist. Diese Gefahr steht im Gegensatz zur Harmonie der Sprachen im „inneren Sprachbaum“, den Alida Bremer wiederum in der Kindheit anpflanzt. Im freien Spiel mit verschiedenen Sprachen wird sichtbar, was sonst nur Sprachhistoriker: innen auffällt: der etymologische Zusammenhang. Wurzeln, die Wörter haben Wurzeln, und alle Sprachen wachsen an einem einzigen, aber verzweigten Baum, so erklärte es uns mein Vater, der selbst gerade erst diese Erkenntnis gewonnen hatte. (Bremer 2022) Die Entdeckung sprachlicher Verwandtschaften zwischen dem Tschechischen und Kroatischen, die anlässlich des Empfangs einer vor dem russischen Ein‐ marsch geflüchteten Familie stattfindet, ist hier die genaue Gegenbewegung zum ausschließenden Missverständnis: Als Geste des Willkommens und des Aufnehmens des Fremden sucht die Familie sprachliche Gemeinsamkeiten mit den Gästen. Allerdings weicht diese Verwandtschaft in der sozialen Realität der ausschließenden Kategorisierung. Bremers Erfahrung bei ihrer Ansiedlung in Deutschland ist dabei mit Aussagen von Autorinnen wie Kübra Gümüşay verwandt: Statt ihres breiten Sprachenreichtums wird nur ihr mangelhaftes Deutsch wahrgenommen: „Doch mit dem Umzug nach Deutschland verlor der Sprachbaum seine magische Kraft. Ich musste nur noch Deutsch können, wenn ich hier leben wollte“ (ebd.). Bremer verbindet ihre Situation mit der deutschen Sortierung von Fremden in unterschiedliche, klassenunabhängige Kategorien, die vom Status der Herkunftssprache abhingen: […] so hießen alle Zugezogenen aus der Türkei oder aus Jugoslawien Ausländer, egal ob sie wie ich studierten oder ob sie auf dem Bau schufteten. Franzosen oder Amerikaner, Engländer oder Niederländer wurden dagegen mit dem Namen ihrer Länder bezeichnet. (ebd.) Während Bremers Reflexion über Sprache und Macht in Wajsbrots Essay vorgebildet ist und beide Autorinnen die Herkunft aus einem Sprachgemisch betonen, ist Bremers Rückkehr zum Tschechischen überraschend. Für Stille Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar 181 <?page no="182"?> 2 Das Langgedicht entstand außerhalb des Projekts Stille Post. Es gerät in den Artikel, weil ich es gerade ins Deutsche übersetzt habe. Die inhaltliche Übereinstimmung ist aber so überzeugend, dass ich es einbeziehe. 3 Ngobi greift hier Ngũgĩ wa Thiongos Kritik am Englischen als Literatursprache afrikanischer Länder auf (Ngũgĩ wa Thiongo 1986). Post ergänzt sie damit jedoch eine weitere historische Bedingung von Mehrspra‐ chigkeit, die Flucht aus den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang am Ende des Prager Frühlings. Die Präsenz des Tschechischen wie auch des Russischen und der kyrillischen Schrift in den Texten von Horňáková Civade, Utler und Bremer versieht diese Stille Post mit der historischen Signatur des andauernden russisch-ukrainischen Krieges und zeigt, dass Koinzidenzen symptomatisch sind und die Wahl der Sprachen in der Mehrsprachigkeit historisch bedingt ist. Ein weiterer Aspekt, der mit Blick auf die russische Sprache verhandelt wird, ist die Position der Kolonialsprache: „Sie war eine Kategorie für sich, mit einem eigenen, unstrittigen Platz. Fremd und überall gegenwärtig“ (Horňáková Civade 2022). Ob die Figuren bei Tchak in Tem sprechen oder in Französisch, sagt der Text nicht, anzunehmen ist, sie sprechen Tem. Jedenfalls verwenden sie den Referenzrahmen des Französischen in der Bezeichnung von Genealogie, was zum Missverständnis führt. Bei Tchak bleibt es humorvoll, eine Haltung, die er auch für seinen durchaus schalkhaften Roman in Tèdi verwendet, wenn er als Erzählstimme einen französischen Ethnologen wählt. In einem anderen Text eines postkolonialen Autors, Kagayi Ngobi, steht jedoch die selbstzerfleischende Anklage im Vordergrund: 2 Because I hate this English language too - This thorny carcass Gutted in my vocal cords, Piercing my cultural growth, Injecting me with imported Misunderstandings of me - (Ngobi 2019: 16) Nicht nur die staatliche Macht, die sich im Ausschluss von Sprachen äußert, sondern auch die Internalisierung sprachlicher Vorherrschaft wird hier im Falle des ugandischen Autors thematisiert, für den Englisch als Amtssprache dazu führt, dass ihm die Missverständnisse von außen eingeimpft werden. 3 Ähnlich, erklärt Bremer, hat sie sich eine Sprachnorm zu Eigen gemacht: „Ich hoffte, dass der Fluch der Fremdheit mit besseren Sprachkenntnissen verschwinden würde […]“ (Bremer 2022). Auch dieser Fluch der Fremdheit zeigt sich als wiederkehrendes Thema, so bei Gümüşay, Wajsbrot und eben Bremer. Bremers 182 Annette Bühler-Dietrich <?page no="183"?> abschließende Bemerkung, „dass Deutsch viel mehr kann, als nur unfehlbar zu sein“ (ebd.), lässt die Stille Post auf einer hoffnungsvollen Note schließen. Ein Autor wie Tomer Gardi zeigt seit Broken German (2016), dass auch ein gebrochenes/ zerbrochenes Deutsch als Literatursprache verständlich ist und hinterfragt damit die Norm, die Verständigung und Prestige an umfassende grammatikalische, lexikalische und syntaktische Korrektheit bindet. 4 Der Übersetzungsprozess Wenngleich die obigen Zitate den deutschsprachigen Texten entnommen sind, liegen alle Texte auch auf Französisch vor. Die Aufgabe, die mehrsprachigen Texte in die jeweils andere Projektsprache zu übersetzen, führte zu Stolper‐ steinen und kreativen Lösungen, von denen ich ein paar anekdotisch anführen möchte. Abgesehen davon, wie man einen „chef de village“ adäquat übersetzt, ein Dorfoberhaupt, ein Dorfoberster, ein Dorfältester, und wo ein „vestibule“ eben im togoischen Dorf kein Vestibül, keine Vorhalle ist, hat Sami Tchak eine weitere Aufgabe eingeschmuggelt. Denn der „Vieux Amadou“ sollte eigentlich, in korrektem Französisch, ein „vieil Amadou“ sein, der alte Amadou. Eine Nachfrage beim Autor aber ergab, dass es sich keineswegs um einen Fehler handelte. Die Lösung, der Alte Amadou zu schreiben, entstand analog zu den Berufsbezeichnungen, die im Deutschen vorangestellt werden. Ein anderes Pro‐ blem stellten die Familienbezeichnungen im Türkischen dar: Aus dem Kontext des Textes geht hervor, dass „Anne“ die Mutter bezeichnet und „Baba“ den Vater. Alle folgenden Kombinationen können als Bezeichnungen der Großeltern erschlossen werden und werden von der Autorin nicht erklärt. Da Gümüşay dies für den deutschen Text so setzte, gab es kein Glossar. Für die französischen Leser: innen jedoch fügte meine Kollegin Françoise Joly ein Glossar an. Dies lässt auf die größere Vertrautheit mit dem Türkischen in Deutschland als in Frankreich schließen. Bei meiner Übersetzung von Horňáková Civades Text kam es dann zu dem von Anja Utler bemerkten Fehler in der lautlichen Transkription: Natürlich funktioniert „jiznie“ als lautliche Umschrift für das russische Wort „Leben“ nur auf Französisch, später habe ich es zu „schisni“ korrigiert. Interessant an dem Fehler ist, dass ich vergessen hatte, die Phonetik des Wortes zu übersetzen - was Anja Utler auffiel, weil sie Tschechisch kann. Die Grenzen meiner Mehrsprachigkeit waren in diesem Fall die Grenzen meiner Übersetzung - was ich allerdings hätte merken müssen. Schließlich bot der Text Wajsbrots eine eigene Herausforderung: Im ersten Abschnitt redet sie von der kindlichen Entdeckung einer Ursprache, nämlich des Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar 183 <?page no="184"?> Französischen, am Beispiel des Wortes Schuh/ chaussure. Damit die Bedeutung der Situation erhalten bleibt, kann das Wort nicht übersetzt werden. Damit die Szene verständlich wird, muss das Bild aber auch auf Deutsch klar werden, auch wenn das Kind gerade nicht zwischen den Sprachen wechselt. Für die Übersetzung wurde deswegen einmal das Wort übersetzt und die folgenden Male auf Französisch beibehalten - in der Hoffnung, deutlich zu machen, dass sich für das Kind die Situation der Übersetzung in diesem Moment nicht stellt. 5 Didaktische Überlegungen Metasprachliche Reflexion liegt nicht nur im letzten Beispiel, sondern in vielen Texten von Stille Post vor. Insofern es sich um bewusst gestaltete literarische Texte handelt, können sie gerade für die Förderung von Literature und Language Awareness eingesetzt werden, wie dies Heidi Rösch entfaltet: […] so dass es bei LitLA um Wissen über, Wahrnehmung von und Sensibilisierung für Formen, Strukturen, Funktionen und Gebrauch sowie Erwerb, Vermittlung, Reflexion und In-Beziehung-Setzen von Sprache/ n in Literatur/ en geht. (Rösch 2021: 25) Meine Favoriten hierfür sind die Texte von Gümüşay und Wajsbrot. „Eine komische Geschichte“ ist besonders geeignet, weil es Mehrsprachigkeit ver‐ schiedentlich aufgreift. Nicht nur Comic/ Komik hört Aynur anders, auch die Schulform Gymnasium wird in der Rede ihrer Nachbarinnen zu „Jimmy Lazim“, ein Name, der einen bedrohlichen Mann - einen amerikanischen Cowboy viel‐ leicht - konnotiert und somit die Ängste auf eine Person statt auf eine Institution verschiebt. In der Verschiebung bekommt das Gymnasium ein bedrohliches Gesicht, und Aynurs Gedankenrede löst das Rätsel erst nach einigen Zeilen auf. Während der/ die Leser: in aus dem Kontext erschließen kann, was „Jimmy Lazim“ ist - es fällt das Stichwort „Klassenausflüge“, kann Aynur aus Tubas Wunsch gerade nicht herauslesen, ob komisch oder Comic gemeint ist. Eine komische Geschichte - mehr dazu führt Tuba erst aus, als die Mutter das falsche Papier bringt und darin das Missverständnis offenlegt. Hinsichtlich der Language Awareness kann somit der Zusammenhang von Semantik und Kontext ebenso bearbeitet werden wie die türkischen Verwandtschaftsbezie‐ hungen erarbeitet werden können. Literarisch lässt sich - je nach Klassenstufe - herausarbeiten, warum Gümüşay Familienbezeichnungen auf Türkisch ver‐ wendet, wie Türkisch hier zur Sprache der Kommunikation und des Trostes 184 Annette Bühler-Dietrich <?page no="185"?> 4 In Sprache und Sein schreibt die Autorin über das Türkische: „Es ist die Sprache, deren Klang mir vertraut war, noch bevor ich geboren wurde. Die Sprache, in der ich von meiner Mutter, meinem Vater, meiner Familie geliebt wurde […].“ (Gümüsay 2020: 27) Dieses Zitat könnte Schüler: innen als Anhaltspunkt gegeben werden, möglich ist auch die Arbeit mit einem Sprachenporträt (vgl. Krumm 2010). 5 Darin ist Cécile Wajsbrots Verhältnis zum Deutschen dem Katja Petrowskajas verwandt (vgl. Bühler-Dietrich 2019). wird, 4 wie aber auch für Aynur eine Sollbruchstelle aufgrund eines kleinen Details bricht und eine Distanz sichtbar wird, die sie mit der Geburtssituation verbindet. Was als „komische Geschichte“ angekündigt wird, endet mit dem Schock der Einsamkeit von Mutter und Tochter in ihrer jeweiligen Welt. Auch diese Ambiguität literarischer Texte kommuniziert Gümüşays Kurzgeschichte gut. Da literarisches Lernen weiterhin sowohl mit sprachlicher Aufmerksamkeit wie mit Identifikation zu tun hat (vgl. Spinner 2006), bietet gerade die Figur Tubas für die Schüler: innen einen Anknüpfungspunkt. Gleichzeitig fördert die überwiegende Fokalisierung aus der Sicht Aynurs die Perspektivübernahme - nicht nur die Gefühle des Kindes, sondern auch der Mutter werden so für die Schüler: innen nachvollziehbar. Der stufenweise Aufbau des Textes - a. Tubas Ankunft und die Gedanken Aynurs, b. Tubas Begründung ihres Weinens und der Austausch zwischen Aynur und Tuba, c. die Suche nach einer Lösung und deren Umsetzung, schließlich das Scheitern der Lösung - erlaubt es den Schüler: innen auch, die Dramaturgie des Textes zu erfassen. Wajsbrots Text verweist im Unterschied dazu auf eine heutigen Kindern weniger geläufige Sprache, Jiddisch, und deren genannten historischen Hinter‐ grund, verbindet aber auch objektive Recherche zum Schlager mit der persönli‐ chen Kindheitserinnerung. Den Übergang zwischen beiden Diskursarten bildet der oben zitierte lange Einschub, in dem die Autorin von ihrem deutschen Spracherwerb spricht, wobei sie das Verhältnis des Deutschen und Jiddischen zweimal als „Verwirrung“ bezeichnet. Der Einschub funktioniert als Stolperstelle im Text, es ist eine Art Stolperstein, ähnlich den ins Pflaster eingelassenen, denn hier verweist sie im Wort „Deportation“ auf die getöteten Familienmitglieder. Wajsbrots Deutsch, das die Autorin heute mit leicht französischem Akzent spricht, ist so auch ein Platzhalter für das Jiddische, das in der Geschichte des Kindes zuerst da war und das sich in der Latenz bewahrt. Das Deutsche als „Decksprache“, in Analogie zur „Deckerinnerung“ Freuds (Laplanche/ Pontalis 1992: 113 f.), bewahrt und verbirgt. 5 Diese doppelte Kodierung von Sprache mag sich auch in anderen Sprachen wiederfinden wie auch in der Sprachpraxis der Schüler: innen. Bei frankophonen Autor: innen ist es nicht ungewöhnlich, dass ihre Erstsprache den Rhythmus und die Tonalität ihre Verwendung des Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar 185 <?page no="186"?> 6 Ein bekannter Fall ist Ahmadou Kourouma. Auch Raharimanana meinte unlängst, er schreibe im Rhythmus des Madagassischen, wenn er Französisch schreibe (Raharima‐ nana 2023). Französischen beeinflusst. 6 Wajsbrots Text als Reflexion über die Verwendung und Verwendbarkeit von Sprachen bietet hier also sowohl inhaltliche Punkte für die Auseinandersetzung im Unterricht wie auch ästhetische Phänomene, die herausgearbeitet werden können. Wie oben erwähnt, führte die Versuchsanordnung des Spiels zu Korrespon‐ denzen zwischen den Texten, die erst auf den zweiten Blick sichtbar werden. Nur im Fall Utlers ist der Rückbezug explizit. Die Reflexion, was die Texte in ihrer Thematisierung von Missverständnissen motivisch und konzeptionell verbindet, ließe sich auf der Ebene von Language wie auch von Literature Awareness durchführen. Die doppelte Funktion von Sprache - Gemeinschaft zu stiften und Trennung zu bewirken - wird dabei in allen Texten erkennbar. 6 Schluss Ausgangspunkt des Projekts Stille Post war die Debatte um Sprache, Repräsenta‐ tion und Macht, um das Verletzungspotential von Sprache und die Anstrengung benachteiligter Gruppen, Sprache „anders [zu] nutzen, um in ihr zu sein“ (Gümüşay 2020: 159). Mit der Corona-Pandemie nahm, so sah es Lukas Bärfuss, der gesellschaftliche Konflikt zu: „Von Tag zu Tag wuchs das Misstrauen. Der Mitmensch wurde vom Konkurrenten zum Feind. […] Gemeinsam Lösungen zu entwickeln wurde kaum mehr versucht“ (Bärfuss 2020: 169). Schon im Antrag stellten wir vor die Betonung des Konflikts die kreative Annäherung an das Andere, im Zitat Yoko Tawadas: „In meinem Postkasten liegt eine Sendung aus Frankreich. […] Ich sehe das Wort ‚du‘. […] Ein ‚du‘, das man nicht kennt, kann alles bedeuten“ (Tawada 2002: 32 f.). Die poetische Offenheit der Bedeutung und das spielerische Missverstehen standen so von Anfang an neben der gesellschaftlichen Praxis der Grenzziehung und dem mühevollen Versuch, solche Grenzen zu durchbrechen, um gemeinsame Lösungen und nicht nur Lösungen der Mächtigeren zu suchen. Wenngleich wir diesen Referenzrahmen unserer Recherche den Teilnehmer: innen in kürzerer Form bekannt gemacht haben, nutzten alle die Offenheit des Spiels dafür, Schnittpunkte des Poetischen und Politischen auszuwählen. In einem Gespräch mit Raharimanana anlässlich der zweisprachigen Lesung seines Romans Revenir/ Zurückkehren (2018/ dt. 2022) meinte der madagassische Autor unlängst, die Gewalt der Kolonialisierung sei keine abstrakte, auch nicht für die nach der Unabhängigkeit Geborenen. Sie ist in die Genealogie der Familien eingeschrieben und wirkt sich mittelbar oder unmit‐ 186 Annette Bühler-Dietrich <?page no="187"?> telbar auf die Heutigen aus (Raharimanana 2023). Auch die Texte aus Stille Post zeugen von Erfahrungen des Ausschlusses und der Dominierung, aber auch von der Sehnsucht nach Gemeinsamkeiten und den schmerzhaften wie lustvollen Erfahrungen des Missverständnisses. Diese Stille Post lässt sich so schließlich nicht nur analysierend und interpretierend im Unterricht aufgreifen, sondern auch weiterschreiben, um darin die Spracherfahrungen der Schüler: innen zum Sprechen zu bringen. Literatur Bärfuss, Lukas (2020). Die Krone der Schöpfung. Essays. Göttingen: Wallstein. Bremer, Alida (2022). Mein Sprachbaum. https: / / www.toledo-programm.de/ talks/ 5552/ mein-sprachbaum (letzter Zugriff: 31.03.2023). Bühler-Dietrich, Annette (2019). Sprache als Bemühen, das Gleichgewicht zu gewinnen. Katja Petrowskajas Vielleicht Esther. In: Acker, Marion/ Fleig, Anne/ Lüthjohann, Mat‐ thias (Hrsg.). Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr Francke Attempto, 219-239. Gümüşay, Kübra (2023). Website, Informationen „Autorin“. https: / / kubragumusay.com/ de/ about/ (letzter Zugriff: 31.03.2023). Gümüşay, Kübra (2022). Eine komische Geschichte. https: / / www.toledo-programm.de/ t alks/ 5538/ eine-komische-geschichte. Une histoire comique. Übersetzt von Françoise Joly. https: / / www.toledo-programm.de/ talks/ 5542/ une-histoire-comique (letzter Zu‐ griff: 31.03.2023). Gümüşay, Kübra (2020). Sprache und Sein. München: Hanser Berlin. Horňáková Civade, Lenka (2022). Vom Bauch. In aller Unschuld. 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Stille Post - ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar 187 <?page no="188"?> Raharimanana (2018). Revenir. Paris: Payot & Rivages. Dt: Zurückkehren. Übersetzt von Annette Bühler-Dietrich. Berlin: Noack & Block 2022. Rösch, Heidi (2021). Literature und Languge Awareness. In: Titelbach, Ulrike (Hrsg.). Mehr Sprachigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe. Wien: Praesens Verlag, 17-38. Salzmann, Sasha Marianna (2017). Außer sich. Berlin: Suhrkamp. Siller, Barbara/ Vlasta, Sandra (Hrsg.) (2020). Literarische Mehrsprachreflexionen. Wien: Präsens Verlag. Spinner, Kaspar (2006). Literarisches Lernen. Praxis Deutsch 200, 6-16. Stille Post. Audiodateien auf dichterlesen.net. https: / / www.dichterlesen.net/ veranstaltun gen / detail/ default-23241a9d6d4c79f04efd0de8f4539ba0/ (letzter Zugriff: 31.03.2023). Tawada, Yoko (2002). Überseezungen. Tübingen: Konkursbuchverlag. Tchak, Sami (2022). Das Schaf. 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Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit: Das Kettengedicht Renga von Octavio Paz, Jacques Roubaud, Edoardo Sanguineti und Charles Tomlinson sowie Hannes Bajohrs digitale Adaption Martin Kasch Abstract: Renga is a multilingual chain poem that was composed by Octavio Paz, Jacques Roubaud, Edoardo Sanguineti and Charles Tomlinson in the basement of a Parisian Hotel in 1969. The poem consists of 27 sonnets in which four languages - Spanish, French, English and Italian - are impressively interwoven. Recently, the German poet and essayist Hannes Bajohr has designed an impactful digital adaptation of Renga that contains and rearranges the original version and existing translations, including the German one. My paper especially focuses on the didactic potential of Renga. Taking the analysis of multilingual chaining and circulation of poetic language as a basis, I discuss possibilities on how Renga might be used to teach literature at school. Keywords: Renga, Kettengedicht, Paz, Roubaud, Sanguineti, Tomlinson, Bajohr, Ou‐ lipo, Mehrsprachigkeit, potentielle Literatur, digitale Literatur 1 Ein Sprachengeflecht im Schulkeller „Renga: Schule, Bahnsteig, Wartesaal“. Diese kleine Kette aus Räumen knüpft der mexikanische Schriftsteller Octavio Paz (1971/ 1983: 115 f.) in einem Essay, der in der erstveröffentlichten französischen Fassung mit dem Titel Centre Mo‐ bile (dt.: Bewegliches Zentrum  1 ) überschrieben ist. Es ist eine kleine Topographie <?page no="190"?> 2 Zu Helmlé als Übersetzer von Oulipo vgl. ausführlich Gipper (2014). 3 Eine Liste aller Oulipo-Werke findet sich unter https: / / oulipo.net/ fr/ bo (letzter Zugriff: 10.08.2023). 4 Heidi Rösch (2020: 11) verwendet den Begriff der „poetische[n] Mehrsprachigkeit“ für Werke, die Mehrsprachigkeit als „Gestaltungselement“ nutzen. Als „integrative Mehrsprachigkeit“ bezeichnet Rösch (ebd.) dabei poetische „Verfahren“, die ohne „Übersetzung“ operieren. Renga kann als ein Sonderfall angesehen werden, insofern hier implizite Übersetzungsbewegungen in den poetischen Prozess eingeschrieben sind, wie gleich zu sehen sein wird. im Zeichen literarischer Mehrsprachigkeit, insofern der Essay einem vierspra‐ chigen Sonettzyklus mit dem Titel Renga (1971) vorangestellt ist, den Paz im Jahr 1969 zusammen mit drei anderen namhaften Lyrikern in Paris verfasst hat. Bei diesen Mitstreitern handelt es sich um den Franzosen Jacques Roubaud, den Italiener Edoardo Sanguineti sowie den Briten Charles Tomlinson. Das Werk umfasst insgesamt 27 Gedichte, die in „vier Sequenzen“ (Paz 1971/ 1983: 119) angeordnet sind. Jede Sequenz, so erläutert Paz (ebd.) in seinem Essay, habe ihr eigenes „mood (Thema zu sagen wäre übertrieben)“, das jeweils einer der vier Dichter festgelegt habe. Paz selbst macht dabei den Anfang, wie anhand des ersten Sonetts der ersten Sequenz zu sehen ist, auf das gleich näher eingegangen wird. Die deutsche Übersetzung der 27 viersprachigen Sonette entsprang der Feder von Eugen Helmlé, der sich insbesondere als Übersetzer von Werken des Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle) einen Namen gemacht hat. 2 Bei dieser ‚Werkstatt für potentielle Literatur‘ handelt es sich um eine 1960 in Frankreich gegründete Literatengruppe, der interessanterweise auch Paz’ Kompagnon Jacques Roubaud angehörte. Obgleich Renga nicht als offizielles Oulipo-Werk figuriert, 3 wird es in der Forschung gerne in diesem Kontext gelesen (vgl. z. B. James 2016: 868 und Bloomfield 2016: 114). Als Incitamentum für Renga fungierte indes nicht Oulipo, sondern die gleichnamige Gedichtvariante aus dem alten Japan. Dieses traditionelle, japanische Renga entstand „zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert“ (Helmlé 1983a: 109) und wurde als Kettengedicht nach festen Regeln konzipiert (vgl. ebd.). Trotz intendierter Filiation ist das Pariser Renga von Paz & Co. jedoch kein mimetisches Projekt. „[E]s handelt sich nicht um das Renga der japanischen Tradition“, stellt Paz in seinem Essay klar, „sondern um seine Metapher, um eine seiner Möglichkeiten, eines seiner Abenteuer“ (Paz 1971/ 1983: 112). Die „Hauptcharakteristik“ dieses potentiellen Rengas liege darin, dass es „in vier Sprachen geschrieben wurde […] und doch einer einzigen: der der zeitgenössischen Dichtung“ (ebd.: 117). Besagte Ausgestaltung im Modus „poetischer Mehrsprachigkeit“ 4 korrespondiert dabei mit der Wahl einer neuen Gedichtform. An die Stelle des japanischen „Tanka“ tritt nun das „Sonett“ als dessen „westliches Äquivalent“ (Paz 1971/ 1983: 118). 190 Martin Kasch <?page no="191"?> 5 Zur Bedeutung des (urbanen) Raums in Renga vgl. insbesondere Clark (1992: 38-44). 6 Zur mythologischen Dimension in Renga s.a. Starrs (2017: 291). 7 Die Existenz einer Schule an dieser Stelle legen zumindest die Ausführungen auf folgender Schulhomepage nahe: https: / / www.ecole-sainte-clotilde.org/ historique.html (letzter Zugriff: 10.08.2023). Als Grund für diese Wahl führt Paz (ebd.) neben der überzeitlichen Aktualität dieser Gedichtform auch den Umstand an, dass das Sonett „wie das Tanka aus halb unabhängigen und trennbaren Einheiten“ (ebd.) gebildet wird. Es ist diese Form, die es den vier Dichtern ermöglicht, ihre Sprachen zu verketten. Renga verbindet aber nicht nur verschiedene Sprachen miteinander, sondern auch diverse physische Lokalitäten. 5 Die kleine, eingangs zitierte Raumserie „Schule, Bahnsteig, Wartesaal“ evoziert dabei die zentralen Stationen des Projekts. So verweist der „Wartesaal“ auf den Ort des gemeinsamen Schreibens, das „Untergeschoß eines kleinen Pariser Hotels“ (Helmlé 1983a: 109), in das sich die Vier für „eine knappe Woche“ (ebd.) zum Dichten zurückgezogen haben. Für Paz (1971/ 1983: 117) besitzt dieser Hotelkeller fast mythische Qualität. 6 So bezeichnet er ihn etwa als „magischen Keller“ (ebd.), als „unterirdische Kammer (Prosperine, Kalypso)“ sowie als „Matrix der Sprache“ (ebd.). Das Sou‐ terrain fungiert zugleich als Resonanzraum, in den sich diverse Geräusche der Pariser Umwelt einschreiben. Neben den Hotelgästen nennt Paz insbesondere die „Metrozüge“, die „ganz in der Nähe“ vorbeifahren (vgl. ebd.). Verdanken „Wartesaal“ und „Bahnsteig“ ihre Aufnahme in die kleine Raum-Kette wohl dieser akustischen Einschreibung, so wirkt die Nennung der „Schule“ als drittem Kettenglied zunächst etwas willkürlich. Recherchiert man jedoch die Lage des einstigen Renga-Hotels - es handelte sich um das „Hôtel St. Simon“ nahe des Boulevard St. Germain (vgl. Tomlinson 1972: 36) - so befand sich just in der Nachbarschaft wohl auch damals schon eine Schule. 7 Es ist gut möglich, dass Paz die „Schule“ schlicht deshalb erwähnt hat, weil die Stimmen vorbeilaufender Schulkinder ähnlich wie die Geräusche von Metro und Hotelbetrieb zu den Schreibenden nach unten in den Keller gedrungen sind. Dass die Nennung der Schule in Centre mobile aber in der Tat keinesfalls zufällig erfolgt, zeigt sich daran, dass sie noch ein weiteres Mal Erwähnung findet. So kommt Paz darauf nochmals in jener zentralen Passage seines Essays zu sprechen, in der er auch den Dichter-Keller beschreibt. Neben den oben bereits erwähnten mythologischen Anspielungen bezeichnet er diesen Keller augenzwinkernd auch als „Erdgeschoß der bestraften Schüler in der Schule“ (Paz 1971/ 1983: 117). Mit den „bestraften Schülern“ sind dabei freilich er selbst und seine Mitstreiter gemeint. Durch diese Einlassung verschränkt Paz interessanterweise den Bereich des Schulischen mit jenem der Mehrsprachigkeit und macht so Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit 191 <?page no="192"?> 8 Von „Heteroglossie“ mit Bezug auf Paz’ Œuvre (inklusive Renga) spricht bereits Dumitrescu (1995). implizit auf eine Verbindung aufmerksam, die in einschlägigen Forschungen zur Mehrsprachigkeit in letzter Zeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Die Linguistin Brigitta Busch (2021: 183) hat in ihrer vielbeachteten Studie Mehrsprachigkeit auf die multilinguale Prägung vieler Schüler: innen heutzutage hingewiesen und dabei zugleich moniert, dass die schulischen Strukturen darauf nicht immer adäquat vorbereitet sind (vgl. ebd.). Busch plädiert in der Folge für eine „Pädagogik der Heteroglossie“ (ebd.: 196 f.), wobei sie den Begriff der „He‐ teroglossie“ vom Literaturtheoretiker Michail Bachtin übernimmt (vgl. ebd.: 12). Busch (ebd.) interessiert daran insbesondere Bachtins Idee der „tatsächlichen Redevielfalt“ (Bachtin 1975/ 1979: 164), die dieser der Idee einer „einheitliche[n] Sprache“ (Busch 2021: 12) entgegenstelle. Im Lichte Bachtins fasst Busch (ebd.: 13) „Mehrsprachigkeit“ deshalb nicht als eine „Vielzahl von Einzelsprachen“, sondern als „Konglomerat“. Ein ähnlich heteroglossisches Geflecht knüpfen auch Paz und seine Mitstreiter, wenn sie in der Pariser Unterwelt ihre Sprachen verschränken. 8 Dass sie ihr Sprachengeflecht interessanterweise auch mit der Sphäre des Schulischen verweben, ja den Ort des Schreibens gar als schulischen Ort imaginieren, ist Anlass genug, das didaktische Potential von Renga näher zu beleuchten. Dabei wird sich zeigen, dass sich dieses nicht zuletzt aus den selbstauferlegten Regelstrukturen des Projekts speist, die nun zunächst genauer beleuchtet werden sollen. 2 Ratte, Regel und Rotation der Sprachen Es war nicht die „Absicht“, so Paz (1971/ 1983: 112) zu Beginn von Centre mobile, sich „eine literarische Gattung anzueignen“. Vielmehr sei es das Ziel gewesen, „ein System zur Hervorbringung poetischer Texte funktionieren zu lassen“ (ebd.; s. a. Clark 1997: 224). Doch wie funktioniert ein derartiges System, welche Regeln und Gesetze liegen ihm zugrunde? Die Frage nach den formalen Strukturen ist in Renga eng mit dem Namen Jacques Roubaud verbunden. Als „Mathematiker der Crew“ - so erinnert Helmlé (1983b: 141) in seinem Nachwort zur Übersetzung - hatte Roubaud das „Permutationssystem“ entwickelt, „nach dem sich die Poeten für jedes Sonett neu gruppierten“. Und Tomlinson (1972: 35) bemerkt: „Once we had accepted Mr. Roubaud’s system of permutations and followed Señor Paz’s majestic lead, the poem was the thing“. Ein Grund, warum sich gerade Roubaud dem Renga-Reglement annahm, war wohl nicht zuletzt die bereits erwähnte Mitgliedschaft bei Oulipo 192 Martin Kasch <?page no="193"?> 9 Zum Eintrittsdatum vgl. https: / / www.oulipo.net/ fr/ oulipiens (letzter Zugriff: 10.08.2023). (siehe auch Luhn 2022: 71). Besagte ‚Werkstatt für potentielle Literatur‘, der Roubaud schon seit 1966 angehörte, 9 hat sich nicht zuletzt durch ihre Arbeit mit kreativen Formzwängen (contraintes) einen Namen gemacht. Erhellend ist hierfür Roubauds Essay L’auteur oulipien (1991), in dem er die Bedeutung dieser Regeln für die literarische Praxis beleuchtet. So ist der „oulipotische[ ] Autor“ für Roubaud gerade „derjenige, der (wie es heißt) ‚als Ratte selbst das Labyrinth konzipiert, aus dem herauszufinden seine Aufgabe ist‘ “ (Roubaud 1991/ 1996: 40). Dabei gehe es nicht um ein Gelingen, sondern um „den Genuß seiner Autorenfreiheit“ (vgl. ebd.). Dieses Axiom von Freiheit durch Formzwang ist auch für Paz bedeutsam: „Obgleich von Regeln beherrscht“, heißt es in Centre mobile mit Blick auf das klassische, japanische Renga, „[…] war es nicht sein Ziel, der persönlichen Spontaneität Fesseln anzulegen, sondern im Gegenteil einen Freiraum aufzutun, damit sich das Genie eines jeden Einzelnen äußern konnte“ (Paz 1971/ 1983: 115). Interessanterweise ist es somit die freiwillig gewählte Beschränkung, die zur poetischen Freiheit verhilft. Dies gilt gleichsam für das Renga von Paz und seinen Mitstreitern, findet sich doch auch hier eine Art ‚Rattenregel‘ bzw. eine Art räumliche contrainte. So begeben sich die vier Dichter freiwillig „für eine knappe Woche“ (Helmlé 1983a: 109) in unterir‐ dische „Klausur“ (ebd.). Dort bewegen sie sich zwar nicht durch ein Labyrinth, aber sie „durchlaufen“ schreibend eine „Spirale“, wie Paz (1971/ 1983: 117) die gemeinsame Renga-Praxis beschreibt. Diese zirkuläre Geste affiziert auch den poetischen Diskurs. So definiert Paz die Schreibbewegung im klassischen Renga etwa als Kreisbewegung: „[I]m wechselseitigen Turnus schreibt jeder Dichter eine Strophe, auf die der nächste eingeht, wobei seine Intervention mehrere Male erfolgt: eine Rotationsbewegung läßt allmählich den Text hervortreten“ (ebd.: 112 f.). Im Vorwort der englischen Übersetzung von Renga wird diese Zirkulationsbewegung explizit mit einem Ballspiel verglichen: „As in the renga a poet ,passes the ball‘ to the second who passes it to the third“ (Roy 1971/ 1972: 13). Diese Spiel-Metapher erinnert an jene, die der Philosoph Michel Serres ver‐ wendet, um die Entstehung von Kollektiven beim Ballspiel zu erklären: „Der hin- und herlaufende Ball webt […] das Kollektiv“, schreibt Serres in seiner „Theorie des Quasi-Objekts“ (Serres 1980/ 1987: 348). Besagte ,Quasi-Objekte‘ sind für Serres besondere Objekte, die sich wie etwa der Ball zwischen Individuen be‐ wegen und diese durch „Zirkulation“ zueinander in Beziehung setzen (vgl. ebd.: 346 f.). Solch eine interpersonale Zirkulation durchzieht auch das Pariser Renga, obgleich es hier lexikalische Elemente sind, die wie ,Quasi-Objekte‘ kursieren. Zudem zirkulieren sie nicht nur zwischen Personen, sondern auch zwischen den Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit 193 <?page no="194"?> 10 Eugen Helmlé hat das Sonett für die deutsche Fassung (vgl. Paz et al. 1971/ 1983: 122) wie folgt übersetzt: (Der Abdruck der Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft GbR Helmlé.) Die Sonne läuft über kaltstarre Knochen: in der unterirdischen Kammer: Schwangerschaften: die Münder der Metro sind schon Ameisenhaufen. Der Traum hört auf: die Sprachen beginnen: und es taut auf der Dinge gebärdenlose Sprache sobald der Schatten, versammelt unter der senkrecht aufgerichteten Lippe der Säulenriffelung seinen Tintenfleck in die Furchen des verwitterten Steins schickt: Denn der Stein ist vielleicht ein Weinstock der Stein auf den Ameisen ihre Säure spritzen, ein Wort ausgearbeitet in dieser Grotte Fürsten, Grab und Schrein, ich hob Gespensterspucke auf: meine Kiefer zerbissen ihre Silben aus Sand: ich war Reliquie und Klepsydra für die Fensterscheiben des Westens: Sprachen und erzeugen so ein mehrsprachiges, poetisches Geflecht wie bereits das Eingangssonett demonstriert. - I 1 1--- El sol marcha sobre huesos ateridos: en la cámara subterránea: gestaciones: las bocas del metro son ya hormigueros. Cesa el sueño: comienzan los lenguajes: - 5--- and the gestureless speech of things unfreezes as the shadow, gathering, under the vertical raised lip of the columns’ fluting, spreads its inkstain into the wrinkles of weathered stone: - -10 - Car la pierre peut-être est une vigne la pierre où des fourmis jettent leur acide, une parole préparée dans cette grotte - - Principi, tomba e teca, sollevavo salive de spettri: la mia mandibola mordeva le sue sillabe di sabbia: ero reliquia e clessidra per i vetri dell’ occidente: - - (Paz et al. 1971: 42) 10 194 Martin Kasch <?page no="195"?> 11 Zur Weitergabe dieser und anderer Lexeme im ersten Sonett vgl. auch Starrs (2017: 291 f.), der diesen Prozess in Rekurs auf Paz’ Begriff der „gestación“ (V. 2) als „crea‐ tive ,gestation‘ of poetic words“ (ebd.) bezeichnet. Paz eröffnet dieses Sonett auf Spanisch und evoziert in der ersten Strophe fast ein photographisches Moment: „die Sonne“ („el sol“) dringt in die „unterirdische Kammer“ („cámara subterránea“) ein und belebt nicht nur die „Münder der Metro“ („bocas del metro“), sondern auch „die Sprachen“ („comienzan los lenguajes“). Das Lexem ‚Sprache‘ fließt sodann weiter zu Tomlinson und wird zu Beginn der zweiten Strophe in die Wendung „and the gestureless speech of things unfreezes“ eingewoben. 11 In der Folge wird aus Mündlichkeit dann Schriftlichkeit, insofern sich der „Schatten“ („shadow“; V. 6) im „wheathered stone“ (V. 8) einschreibt. Passend zur erwähnten Ballspiel-Analogie zirkuliert das Lexem „Stein“ dann weiter: Aus „stone“ wird bei Roubaud sodann „pierre“ in der dritten Strophe (s. a. Starrs 2017: 291 f.). Zugleich bleibt die Verbindung mit der Vokabel „Sprache“ bestehen, ist der Stein doch auch „une parole preparée dans cette grotte“ (V. 11). Bei Sanguineti in der vierten Strophe wird aus der „Grotte“ dann u. a. die „tomba“ (V. 12), also das „Grab“, das zusammen mit „reliquia“ (V. 14) wieder auf die „unterirdische Kammer“ bei Paz zu rekur‐ rieren scheint (s. a. Starrs 2017: 291). Das Lexem „clessidra“ (V. 14) schließlich, das auch ,Wasseruhr‘ bedeuten kann, resümiert im letzten Vers sinnbildlich das Durchfließen der Lexeme und ihre mehrsprachliche Transformation in den lyrischen Behältnissen der Strophen. Diese lexikalische Fließbewegung ist genau besehen eine poetische Form der Mediation zwischen Sprachen und Strophen, die das traditionelle Verständnis von Sprachmittlung jedoch übersteigt. Die Didaktikerin Andrea Rössler (2009: 160) etwa fasst Mediation u. a. als „adressaten-, sinn- und situationsgerechte Übermittlung von Inhalten“. Im Falle von Renga fungiert die Mittlung fremdsprachlicher Substrate indes in erster Linie als kreatives Incitamentum im Prozess des Dichtens. So ist die poetische Mittlung im Kettengedicht denn auch stets ein Weitertragen lexikalischer ,Quasi-Objekte‘ im Modus dichterischer Transformation. Es ist diese im Akt poetischer Zirkulation entstandene, quasi-dialogische Struktur, die Bezüge zu etablierten literaturdidaktischen Positionen erlaubt, etwa zu Volker Frederkings (2010) Entwurf eines „identitätsorientierten Literaturunterrichts“. Für Frederking ist Literatur insofern prädestiniertes Medium zur Begegnung mit kultureller Vielfalt, als sie im Akt des Lesens interpersonale Erfahrungsräume zu eröffnen vermag (vgl. insbesondere ebd.: 430 f.). Auch für Renga ist eine solche Öffnung konstitutiv, mit der Besonderheit jedoch, dass diese bereits in die Genese der mehrsprachigen Textur eingeschrieben ist. So ist das Weiterflechten Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit 195 <?page no="196"?> 12 Zu einer Kritik am Deutschen als „sprachliche[] Norm“ in der Schule sowie dem Versuch ihrer Überwindung mit dem Konzept des „Schulsprachprofils“ vgl. die Überlegungen von Hodaie (2020: 36). 13 Zu einer Lektüre von Renga als „hybrid creole“ und damit als Gegenmodell zum Konzept einer „national language“ vgl. Clark (1992: 34 f.). 14 Diesen Hinweis verdanke ich Nazli Hodaie. 15 Das Modell ist eine Adaptation von Jürgen Krefts (1977) „4-Phasen-Modell“ (vgl. Frederking 2010: 440 f.). des eigenen Textes stets Verflechtung mit dem Text des Vorgängers. Mehr noch: Während das Deutsche auch bei Frederking (wenn auch implizit und aufgrund seiner deutschdidaktischen Perspektive) in gewisser Weise als ,Normsprache‘ fungiert, 12 manifestiert sich in Renga ein vielsprachiges Gewebe, in dem das Deutsche - und auch das nur unter Mitberücksichtigung von Helmlés Überset‐ zung - nur eine Sprache unter vielen ist. 13 Und während Frederking mit seinem Rekurs auf mögliche Alteritätserfahrungen bei der Lektüre (vgl. z. B. ebd.: 431) systematisch betrachtet noch einem differenzlogischen Paradigma verpflichtet bleibt, 14 evoziert Renga die heteroglossische Verflechtung der vier Sprachen und Stimmen in einem einzigen poetischen Gewebe. Dieser kollektiven, mehrsprachigen Geste sind nun auch die folgenden me‐ thodisch-didaktischen Überlegungen für den Oberstufenunterricht verpflichtet, die im Sinne Paz’ bewusst im Zeichen der Praxis entworfen werden. „Nicht eine Idee von der Poesie, sondern ihre Praxis“ hatte Paz (1971/ 1983: 112) mit Blick auf das klassische Renga formuliert. Frederkings (2010: 441) „3-Phasen-Modell“, das dieser seinem identitätsorientierten Entwurf zugrunde legt, 15 soll uns im Sinne dieses handelnden Ethos nun behelfsmäßig als Strukturierungshilfe für die folgenden didaktischen Überlegungen dienen - und dies trotz oder gerade aufgrund der oben reklamierten Unterschiede. Denn im Lichte unserer hetero‐ glossischen Perspektive soll das Modell nun gleichsam auf ein mehrsprachiges Konzept hin erweitert werden. 3 „Nicht eine Idee von der Poesie, sondern ihre Praxis.“ (Paz): Didaktische Zugänge - 3.1 Erste Annäherungen an das Gedicht Im Zentrum der „ersten Phase“ seines Unterrichtsmodells steht für Frederking (2010: 443) der „subjektive Zugang“ zum literarischen Gegenstand. Hier sollen die Lernenden „die Möglichkeit erhalten, sich zunächst aus ihrem ganz persön‐ lichen Denk- und Erfahrungshorizont heraus mit dem Text zu beschäftigen“ (ebd.). Geht man in Rekurs auf die eingangs erwähnte Studie von Brigitta 196 Martin Kasch <?page no="197"?> Busch (2021: 183) von „[p]ostmigrantisch und mehrsprachig geprägte[n] Le‐ benswelten“ bei vielen Lernenden aus, so könnte sich bei dieser ersten Fühlung‐ nahme mit Renga noch jenseits des Verstehens eine mögliche Identifikation mit dem mehrsprachigen Gepräge, ja dem mehrsprachigen „Gesicht des Ge‐ dichts“ ereignen, wie man es in kreativer Anverwandlung eines Titels des Literaturwissenschaftlers Georg Witte (2006) nennen könnte. Während Witte mit dieser Wendung auf die „Phänomenalität des poetischen Textes“ (ebd.: 173) hinweist, besteht der zentrale ‚Gesichtszug‘ von Renga in seiner mehrsprachigen Konstitution, die quasi spiegelbildlich die Mehrsprachigkeit gegenwärtiger Lebenswelten evoziert. Ein „Angesehenwerden“ (ebd.) durch das multilinguale Antlitz des Gedichts ist vermutlich auch dann noch im Spiel, wenn die in der Lerngruppe vorhandenen bzw. schulisch erworbenen Sprachkenntnisse nicht oder nur partiell mit jenen von Renga korrespondieren. Selbst wenn Lernende keinen mehrsprachigen Hintergrund haben, scheint im vielsprachigen Gesicht von Renga die Mehrsprachigkeit gegenwärtiger Lebenswelten auf. Im Falle einer Erstbegegnung mit z. B. dem Eingangssonett des Werkes, stellt sich dabei jen‐ seits der Literarizität des Textes vermutlich zunächst ein Oszillieren zwischen (partiellem) Verstehen und Nichtverstehen bestimmter Teile des Gedichts ein, deren Ausprägung von den individuellen Sprachkompetenzen der Lerngruppe abhängt. Die vier im Werk verwendeten ‚Schulsprachen‘ erscheinen dabei nur als Momentaufnahme. So spricht Paz selbst mit Blick auf das Pariser Renga von einem „ersten Versuch“, der wohl in Zukunft durch weitere Rengas in vielen anderen Sprachen ergänzt werde (vgl. Paz 1971/ 1983: 118). Wie aber nun ließe sich im Unterricht ausgehend von der vorliegenden Fassung eine Permeabilität für weitere, in einer Lerngruppe vorhandene Spra‐ chen realisieren? Helmlé (1983b: 121) hat in seinem Nachwort mit Blick auf Fragen zukünftiger Übersetzungen von Renga den Vorschlag gemacht, jeweils eine der vorliegenden Sprachen „einzudeutschen“. Obgleich dieser Vorschlag nicht als didaktischer gemeint war, ließe er sich als solcher nutzen - gerade auch jenseits des von Helmlé anvisierten Deutschen. Vielmehr wäre das Deut‐ sche nur eine mögliche, aber keineswegs die einzige Sprache, in die man im Rahmen der Unterrichtsvorbereitung Renga-Elemente übertragen könnte. Je nach sprachlichen Ressourcen der Lehrkraft ließe sich das mehrsprachige ‚Gesicht des Gedichts‘ zumindest partiell an das mehrsprachige Profil der jeweiligen Lerngruppe anpassen. Für die Lehrkraft ist dies fraglos aufwändig, im Rahmen einer fächerübergreifenden Projektarbeit zu Renga aber denkbar. Diese potentielle Pluralität der Sprachen korrespondiert bei der ersten Textbegegnung sodann mit der von Frederking (2010) für die erste Phase antizipierten Pluralität der „Rezeptionsrichtungen“ (vgl. ebd.: 443). Bezogen auf Renga könnte hier Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit 197 <?page no="198"?> neben möglichen Zugängen zur multilingualen Gestalt des Textes etwa auch darüber spekuliert werden, ob und wenn ja wie die mehrsprachigen Teile des Sonetts überhaupt miteinander korrespondieren. Eröffnet die Lehrkraft dabei der Lerngruppe, dass das vorliegende Sonett bloß als Auftakt einer größeren Sequenz fungiert, können ausgehend davon etwa Vermutungen angestellt werden, wie und in welchen Sprachen der Text wohl voranschreiten mag. Diese Spekulationen können sodann in der zweiten Unterrichtsphase aufgegriffen werden, die man in Rekurs auf Frederkings Modell (ebd.: 441) als jene der „[o]bjektivierenden Texterschließung und -analyse“ bezeichnen könnte. - 3.2 Multilinguale Mediationen In jener zweiten Phase von Frederkings Modell geht es nun um die „umfassende analytische Durchdringung des literarischen Textes“ (ebd.: 443). Hier solle auch Raum sein für die Erarbeitung „transbzw. intertextuelle[r] Bezüge“ (ebd.). Im Falle von Renga bieten sich dafür sowohl historische als auch systematische Reflexionen aus Paz’ aufschlussreichem Essay Centre Mobile an. Ein möglicher Ausgangspunkt für textanalytische Zugänge ist z. B. die zuvor aufgeworfene Frage nach der Progression des Renga-Gewebes. Dieser Zugang ist insofern interessant, als sich das Geflecht genau besehen nicht nur der Einsprachig‐ keit entzieht, sondern auch einer eindimensionalen Lektürerichtung seiner insgesamt 27 Sonette. So offeriert das Werk gleich zwei Leserichtungen, eine „vertikale Lektüre“ und eine „horizontale“, wie Paz (1971/ 1983: 120) in seinem Essay erläutert. Beide Textebenen werden gut mittels der Strukturübersicht verständlich, die dem Werk vorangestellt ist. I 1 I 2 I 3 I 4 I 5 I 6 I 7 II 1 II 2 II 3 II 4 II 5 II 6 II 7 III 1 III 2 III 3 III 4 III 5 III 6 III 7 IV 1 IV 2 IV 3 IV 4 IV 5 IV 6 - - Paz et al. (1971: 41) Paz beschreibt dieses Textgewebe treffend als „vier Wortströme, die sich simultan ergießen und zu einem Netz von Anspielungen zusammenfügen“ (ebd.: 119 f.). Es sei ein „Körper mit vier Elementen, in ständigem Wechsel befindlich, ein Körper mit vier Stimmen“ (ebd.: 120). Um diesem Korpus auch im Unterricht Kontur zu verleihen, könnte zunächst das Eingangssonett ana‐ 198 Martin Kasch <?page no="199"?> 16 Zur Verwendung des Arrangements von Klein und Wilneder (2015) für die Arbeit mit dem fünfsprachigen Oulipo-Text 35 Variations (Perec et al. 2000) vgl. Kasch (2023: 135 f.). 17 Edwards (1988: 119) scheint einen ähnlichen Vorschlag zu machen, wenn er über ein „translators’ renga“ nachdenkt. Sprachmittlung erscheint für unsere Zwecke indes geeigneter. lytisch erschlossen werden. Der Fokus sollte dabei auf den für das lyrische Gewebe konstitutiven Lexem-Zirkulationen zwischen Strophen und Sprachen liegen, die wir zuvor als kreative Form der Sprachmittlung beschrieben haben. Die Praxis der Mediation ist genau besehen an dieser Stelle auch didaktisch nutzbar. Mittlerweile sind viele Lernende durch den Fremdsprachenunterricht mit Sprachmittlung vertraut, zudem eignet sich Mediation gut für die Reali‐ sierung mehrsprachiger Unterrichtsarrangements im Literaturunterricht. Ein Beispiel dafür ist etwa das „fächerverbindende[] Lyrikprojekt“ von Erwin Klein und Judith Wilneder (2015), in dem lyrische Texte aus verschiedenen Sprachen zunächst „arbeitsteilig“ (ebd.: 104) in Gruppen erschlossen und sodann vergleichend (vgl. ebd.: 101) in einer „lingua franca“ (ebd.: 105) gemittelt werden. Ein ähnliches Arrangement wäre auch für die Arbeit mit Renga denkbar. 16 Bei der Erarbeitung des Eingangssonetts könnten die Lernenden je nach vorhandenen Sprachressourcen gleichsam arbeitsteilig vorgehen (vgl. ebd.: 105) und sich zunächst die entsprechenden Strophen erschließen - bei Bedarf auch mittels eines von der Lehrkraft konzipierten Unterstützungssystems. In einem zweiten Schritt könnten diese Arbeitsergebnisse sodann in einer für die jeweilige Lerngruppe adäquaten lingua franca an die anderen Gruppen gemittelt werden, 17 wobei die Progression des lyrischen Gewebes beachtet werden sollte. Klein und Wilneder (ebd.: 104) votieren in ihrem Unterrichtsvorhaben für Spanisch als lingua franca. Bei der Arbeit mit Renga bietet sich indes eine größere Wahlfreiheit an. Hier sollten je nach Ressourcen der Lerngruppe neben den etablierten Schulsprachen auch andere möglich sein. Paz’ Wunsch nach Erweiterung des Renga um zusätzliche Sprachen kann so über einen Umweg erfüllt werden, indem das Sprachengeflecht des Ausgangstextes im Akt der Mediation quasi performativ weiterwuchern kann. Nimmt man bei der Mittlung wie erwähnt die Zirkulation lexikalischer ,Quasi-Objekte‘ in den Blick, so ließe sich im Falle des ersten Sonetts etwa jene Korrespondenz zwischen dem von Paz evozierten ,Erwachen der Sprachen‘ (V. 4) und dem von Tomlinson in seiner Weiterverarbeitung ersonnenen ‚Auftauen einer Dingsprache‘ (V. 5) beleuchten. Auch für diese Phase bestünde im Rahmen der Unterrichtsvorbereitung die Möglichkeit, in Anlehnung an Helmlés oben erwähnten Vorschlag bestimmte Sprachen mit Blick auf das individuelle Sprachenprofil der Lerngruppe zu Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit 199 <?page no="200"?> 18 Eine weitere, mehrsprachige und nicht minder interessante Renga-Adaption für die kreative Übersetzungspraxis ist das Projekt Renga-O, das die Oulipo-Forscherin Camille Bloomfield im Jahr 2015 für das oulipoaffine Übersetzerkollektiv OUTRANSPO in Anlehnung an Paz’ Renga konzipiert hat und das mittels diverser Übersetzungsregeln (contraintes) realisiert wurde. Online einsehbar unter: https: / / remue.net/ renga-o-la-for me-japonaise-du-renga-revisitee-par-l-outranspo (letzter Zugriff: 10.08.2023). 19 Bajohrs Projekt entstand im Rahmen der Translation Games (2020), die von Anna Luhn und Lea Hintze im Exzellenzcluster Temporal Comunities der FU Berlin konzipiert wurden. Das daraus entstandene „kollektive Journal zu Renga“ versammelt neben Bajohrs Projekt noch weitere, inspirierende Experimente. Online einsehbar unter: h ttps: / / www.toledo-programm.de/ journale/ 1226/ translation-games#renga-schreiben-re nga-lesen-bersetzung-als-modus (letzter Zugriff: 10.08.2023). 20 Auch dieses Video ist Teil der Translation Games und online einsehbar unter: https: / / www.youtube.com/ watch? v=WKGPI7Bq0l8 (letzter Zugriff: 10.08.2023). ergänzen bzw. kürzere Passagen notfalls auch „einzudeutschen“ (Helmlé 1983b: 121). Eine ganz andere Möglichkeit, das Deutsche in das mehrsprachige Geflecht des Kettengedichts zu integrieren, zeigt indes der Gegenwartsautor Hannes Bajohr mit seiner digitalen Weiterentwicklung von Renga, der wir uns nun abschließend zuwenden wollen. - 3.3 Von der Sprachenkette zum Sprachengemisch Jenes Ethos der Praxis, das Paz im Renga-Dichten erkennt, bestimmt auch die letzte Phase bei Frederking (2010: 444), in der es um die produktive „Aneignung“ der literarischen Gegenstände geht. Für kreative Adaptionen von Renga gibt es bereits Vorläufer. Neben Jeffrey Schwartz’ (1984) bereits aus den 1980er Jahren stammenden Überlegungen zur Nutzung des Renga-Modus für das einsprachige, kreative Schreiben ist eines der jüngsten und zugleich interessantesten Beispiele sicherlich das Renga-Projekt von Hannes Bajohr. 18 Teile des Projekts wurden kürzlich als Buch unter dem Titel Renga Anger (2022) publiziert, seine ursprüng‐ liche Form ist jedoch eine digitale, genauer gesagt die von Bajohr erzeugte Internetseite http: / / n9.cl/ renga (Bajohr 2020a; s. a. Luhn 2022: 71). 19 Wie Bajohr (2020b) selbst in einem Erklärvideo 20 erläutert, hat er darin sowohl das vierspra‐ chige Renga-Original als auch die existierenden Übersetzungen des Werks ins Französische, Spanische, Englische und Deutsche eingearbeitet: „Mein Renga benutzt alle diese Versionen, um aus den einzelnen Zeilen dieser Übersetzungen auf einer Website im Browser dynamisch neue Renga-Abschnitte zu generieren“ (ebd.: 0: 22’-0: 32’). Bajohrs Programm überführt besagte Renga-Versionen aber nicht nur in eine digitale Fassung, sondern fügt auch ein aleatorisches Moment hinzu. Denn: „Das Skript wählt aus den einzelnen Rengas zufällig einige aus und fügt aus ihnen ein Sonett zusammen“ (ebd.: 1: 14’-1: 24’). In der letzten 200 Martin Kasch <?page no="201"?> 21 Vgl. https: / / hannesbajohr.de/ wp-content/ uploads/ 2020/ 10/ renga_DE.html (letzter Zu‐ griff: 10.08.2023). Auch dieser Titel ist auf der Website in allen Sprachen hinterlegt. 22 Der Abdruck des Sonetts erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Hannes Bajohr und des Verlags edition taberna kritika. Phase des Programms, die auf der Website als „Mehrsprachige Version (2020)“ bezeichnet wird, 21 ist im Unterschied zum Original aus dem Jahre 1971 nun auch Helmlés deutsche Übersetzung eingeschrieben, wie exemplarisch anhand des folgenden Sonetts ersichtlich wird, das auch in der Buchpublikation Renga Anger abgedruckt ist. 1----5-----10 --- day of rest it is mud in caffeine oggi, Pop-poet, in questa cripta, per questo jeu de mots]: Boden treibt ein Zungenbaum Äste, verschlingen sich Stimmen, la lueur au cœur de la nuée qui fera naître -où chantent les fontaines suaves de l’ultraviolet your lips are chapped: underground, saying: Je cherche une valise. And I saw c’est la femme donnée, la présence non mythique -Nicht Gegenstände noch Anekdoten, sondern Töne, ihre Spuren (with un ilozoiste conscient, etc.: and all the same table): measure and dreams: through the conduit of stone -entre su imagen y tu rostro: die mit pastoralem Sonnenbier geduschten Scheiben: sa tache d’encre dans les rides de la pierre vieillie: - (Bajohr 2022: 65, Hv. i.-O.) 22 Didaktisch interessant ist Bajohrs digitale Bricolage neben dem Rekurs auf Helmlés Übersetzung aber insbesondere aufgrund ihrer systematischen Pro‐ gression. Wie Anna Luhn (2022: 72) in ihrem Epilog zu Renga Anger bemerkt, geht es dabei um eine „Potenzierung des poetischen Spiels“. Bajohr lasse „die Sprachen in ihrer Neuanordnung nun nicht mehr Strophe auf Strophe, sondern Vers auf Vers, Schlag auf Schlag folgen“ (ebd.). Für Luhn, die in Bajohrs Projekt zurecht eine Affinität zu Oulipo erkennt (vgl. ebd.: 71 f.), geht diese Neustrukturierung auch mit formalen Modifikationen einher: „Aus dem Kettengedicht wird ein Knäuelgedicht. Hier spricht jeder mit jedem“ (ebd.: 74). Bajohrs Sprachenknäuel kommt dabei genau besehen jener eingangs bereits skizzierten Idee von Mehrsprachigkeit als „Konglomerat“ noch näher, die Busch (2021: 13) in Rekurs auf Bachtin skizziert hat. Während Bajohr jedoch digital und quasi in Einzelarbeit operiert, bleibt für didaktische Zugänge weiterhin Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit 201 <?page no="202"?> 23 Das zuvor erwähnte Übersetzungsprojekt von Bloomfield (2015) scheint dies zu versu‐ chen, obgleich in einer für didaktische Kontexte wohl zu umfangreichen Form. So wurde das Projekt eine ganze Woche lang durchgeführt (vgl. ebd.: o.S.). 24 Luhn (2022: 72) deutet die „Leerstelle“ von Sanguineti als „stille Verweigerung“, am Ende der mehrsprachigen Sequenz wieder in die Einsprachigkeit zu gehen. jene physische Verortung des Renga bedeutsam, die wir zuvor als räumliche contrainte beschrieben haben. Bereits Paz (1971/ 1983: 120) hat gegen Ende seines Essays die Bedeutung des Dichtens als Akt räumlichen Miteinanders hervorgehoben. Mit Blick auf das Schreiben „zusammen mit andern [sic! ] in der Öffentlichkeit“ (ebd.) spricht er gar von der „Konstruktion eines anderen Raums, in dem sich das Pluralwort äußert, Ort des Zusammenflusses der verschiedenen Stimmen, Ströme, Traditionen“ (ebd.). Wie nun aber ließe sich diese räumliche Prämisse auch didaktisch umsetzen? Wichtiger als bloße Nachahmungen - etwa in Form eines Ausflugs mit der Lerngruppe in einen (Schul-)Keller - scheint die Umsetzung der strukturellen Elemente dieser contrainte. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des Arrangements durch die Lehrkraft, sollte das Ziel in jedem Falle die Etablierung eines räumlich und zeitlich definierten, kollektiven Schreibgefüges sein, in dem sich im Sinne Paz’ die verschiedenen Sprachen und Stimmen der Lerngruppe verschränken können. 23 Als methodi‐ scher Rahmen bietet sich für die kreative Applikation das zuvor bereits etablierte Arrangement der Sprachmittlung an. Denn wie auch immer die Lehrkraft die Permutation der Sprachen ausgestalten möchte, bei einem Sprachenwechsel ist die Mediation bereits geschriebener Passagen gleichsam Voraussetzung für ein (kreatives) Weiterschreiben. Dies gilt auch und gerade im Falle einer mehrsprachigen Anlage im Sinne Bajohrs, da hier der Sprachenwechsel ja bereits nach jedem Vers erfolgt. Doch welchen konkreten Ausgangspunkt für ein Weiterknüpfen durch die Lerngruppe böte sich an? Hierzu scheint insbesondere das bereits eingangs er‐ wähnte Ende von Renga interessant, das Luhn (2022: 72) treffend als „Leerstelle“ bezeichnet hat. Produziert hat diese Lücke Edoardo Sanguineti, da nur er kein einsprachiges Sonett am Ende der Sequenz ablieferte (vgl. ebd. sowie Helmlé 1983b: 141). 24 Als Anknüpfungspunkt für ein Weiterschreiben im Unterricht böte sich genau besehen der von Tomlinson und Paz verfasste ‚Rand‘ dieser Leerstelle an, also jene beiden noch davor stehenden Strophen der vierten Sequenz. „I have become four voices that encircle / a common object, defining a self / lost in spiral of selves, a naming“ (V. 10-12), heißt es dort zunächst in Tomlinsons Terzett, das sich fast wie ein methodischer Paratext zum gemeinsamen, krea‐ 202 Martin Kasch <?page no="203"?> 25 Carbo (1977: 353) liest diese Verse als „revelation of the [poetic] process itself as an analogue of primitive ritual dance“. tiven Weiterschreiben liest. 25 So explizieren diese Verse jenes Pluralwerden der eigenen Stimme im Akt der ,Umkreisung‘ eines ,gemeinsamen‘ lyrischen ,Ob‐ jekts‘, jene Zirkulation lexikalischer „Quasi-Objekte“, wie wir die Renga-Praxis in Rekurs auf Serres beschrieben haben. Mittels kreativer Schreibaufgaben, deren Ausgestaltung die Lehrkraft mit Blick auf die Bedürfnisse der Lerngruppe selbst festlegen kann, wird den Lernenden die Möglichkeit gegeben, diese mehrsprachige Zirkulation nun selbst fortzusetzen. Ein Maximieren des Spra‐ chenwechsels im Modus von Bajohrs „Vers auf Vers“ (Luhn 2022: 72) ermöglicht im Rahmen solcher Aufgaben gar, ein heteroglossisches „Knäuelgedicht“ (ebd.: 74) zu erschaffen, ein Sprechen „jeder mit jedem“ (ebd.). Diese Vielfalt des Sprechens und der Sprachen korrespondiert, resümierend betrachtet, auch mit einer Vielfalt an didaktischen Möglichkeiten. Dazu gehört nicht nur, das mehrsprachige „Gesicht“ (Witte) von Renga als ein Emblem für das vielsprachige Antlitz gegenwärtiger Lebenswelten zu lesen, sondern auch die poetische Architektur dieses Stimmengeflechts näher zu beleuchten - sei es nun in Form analytischer Zugänge oder im Modus kreativer Schreibaufgaben, die es ermöglichen, die in Renga angelegte Zirkulation der Sprachen weiterzuführen. In welcher Form auch immer diese Weiterführungen realisiert werden: Dass sich Renga dabei prinzipiell auf eine Potenzierung der Sprachen öffnen lässt, ja allen Sprachen der Welt gleichsam Raum zu geben vermag, eben das scheint Paz mit seinen letzten beiden Versen schon antizipieren zu wollen, in denen es - in Helmlés Übersetzung - heißt: „vom Osten zum Westen zum Norden zum Süden drüber und drunter / fließen die Sprachen dahin“ (Paz et al. 1971/ 1983: 140). Literatur Bachtin, Michail (1975). Das Wort im Roman. In: Bachtin, Michail. Ästhetik des Wortes. 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Based on a literariness-oriented examination of excerpts from Nava Ebrahimiʼs novel Sechzehn Wörter the question will be explored in particular, to what extent dealing with linguistic ambiguity and hybridity can trigger linguistic and cultural reflexive activities and (critical) awareness processes and promote the development of intercultural and symbolic competences, which are inc‐ reasingly important not least in the context of a broader discourse on education. Keywords: Literarische Mehrsprachigkeit in DaF, Literarizität, Übersetzung, Sprach‐ aufmerksamkeit, sprach- und kulturbezogene Reflexion und Bewusstheit, symbolische Kompetenzen 1 Einleitung Das Thema der literarischen Mehrsprachigkeit ist in einem vorwiegend litera‐ turwissenschaftlichen bzw. literaturdidaktischen Kontext verortet und steht insbesondere in den letzten Jahren hoch im Kurs, was sich an zahlreichen, zunehmend thematisch ausdifferenzierten Publikationen dokumentieren lässt (siehe u. a. Blum-Barth 2015, 2020, 2021; Dembeck/ Parr 2017; Kilchmann 2012, <?page no="208"?> 1 Zur Rolle der Literatur im DaF-Unterricht siehe u.-a. Schiedermair (2017). 2021; Kremnitz 2015; Radaelli 2011, 2014). Ebenfalls höchster Beliebtheit erfreut sich seit geraumer Zeit das Forschungsfeld der Mehrsprachigkeit in der Ange‐ wandten Linguistik sowie in der Zweit- und Fremdsprachendidaktik. May (2014) und Sugiharto (2015) sprechen hier sogar von einem „Mehrsprachigkeits-Turn“. Dennoch scheint die literarästhetische Dimension von Texten für fremdsprach‐ liche und kulturelle Lernprozesse eher selten Berücksichtigung zu finden. In diesem Beitrag wird sie jedoch im Mittelpunkt stehen. Ziel ist es, die Möglichkeiten eines sprachsensiblen Umgangs mit mehrsprachigen Texten der sogenannten interkulturellen Literatur (siehe Hofmann/ Patrut 2015) in einem universitären DaF-Unterricht auszuleuchten, der an mehrsprachigkeitsdidak‐ tischen, kontrastiven und interkulturellen Prinzipien ausgerichtet ist. Dabei sollen im Folgenden zunächst die zentralen Aspekte einer literarizitätsorien‐ tierten Didaktik im DaF-Kontext sowie die Bedeutung des Übersetzens für sprachsensible Zugangsweisen zu solchen Texten aufgezeigt werden. Vor dem Hintergrund dieses theoretisch-wissenschaftlichen Bezugsrahmens fand näm‐ lich die Auseinandersetzung mit Auszügen aus Nava Ebrahimis Roman Sechzehn Wörter (2019) statt, mit denen sich DaF-Studierende der Universität Catania im Rahmen eines germanistischen Masterkurses beschäftigten. Insbesondere gilt das Interesse hierbei der Frage, inwieweit der Umgang mit Mehrsprachigkeit und sprachlicher Uneindeutigkeit auch in Verbindung mit Übersetzungsaktivi‐ täten sprach- und kulturreflexive sowie (kritische) Bewusstwerdungsprozesse auszulösen vermag, die letztendlich die Grundlage für die Entwicklung von interkulturellen und symbolischen Kompetenzen bilden. Dies soll exemplarisch anhand einiger introspektiver Daten veranschaulicht werden, die einen Einblick in die sprach- und kulturreflexiven Überlegungen seitens der Studierenden eröffnen und entsprechende Schlussfolgerungen in Bezug auf die Ausbildung interkultureller und symbolischer Kompetenzen ermöglichen. 2 Prinzipien einer ästhetisch-literarizitätsorientierten Didaktik in DaF Der Einsatz von Literatur im Fremdsprachenunterricht 1 ist vielfach immer noch auf rein pragmatisch-funktionalistische Zielsetzungen des Spracherwerbs und der damit anvisierten sprachlichen Handlungskompetenz ausgerichtet. Dies lässt sich nicht zuletzt an den Vorgaben des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens ablesen, der der ästhetischen Sprachverwendung und damit insbesondere literarischen Texten zwar einen ästhetischen Eigenwert einräumt, 208 Beate Baumann <?page no="209"?> dabei aber den Fokus vor allem auf ihren „hohe[n] Bildungswert“ (GeR, Euro‐ parat 2001: 61) richtet. Dem versucht der 2020 erschienene Begleitband des GeR zwar gegenzusteuern, indem er der Arbeit mit kreativen Texten, d. h. auch mit Literatur, mehr Raum und eine vermeintlich größere Aufmerksamkeit zukommen lässt, doch auch dies erfolgt weiterhin ausschließlich mit Blick auf die kommunikativen Zielsetzungen der damit verbundenen Aktivitäten (vgl. Europarat 2020: 24). In den aktuellen Debatten über die Rolle der Literatur lässt sich jedoch seit einiger Zeit eine Neuorientierung feststellen, bei der die literarischen Texte selbst, ihre literarästhetische Sprache sowie die Erfahrung beim Umgang mit ihren sprachlichen Unbestimmtheiten und Mehrdeutigkeiten für sprachliche und kulturelle DaF-Lernprozesse im Mittelpunkt stehen (siehe Hille/ Schieder‐ mair 2021). So geht die von Michael Dobstadt und Renate Riedner entwickelte Didaktik der Literarizität, die sich als ein dezidiert fremdsprachendidaktisches Konzept versteht, von der Zentralität der Literarizität bzw. Poetizität als „Dreh- und Angelpunkt“ (Dobstadt 2009: 23) beim Umgang mit literarischen Texten aus und betont mit Verweis auf Jakobson, dass die poetische Funktion keineswegs nur literarischen Texten zu eigen ist, denn „[j]eder Versuch, die Sphäre der poetischen Funktion auf Dichtung zu reduzieren oder Dichtung auf die poeti‐ sche Funktion einzuschränken, wäre eine trügerische Vereinfachung“ ( Jakobson 1993: 92; siehe auch Dobstadt 2009: 23). Dementsprechend bedeutet ein literarizitätsorientierter Zugang zur Sprache, ihre sprachlich-ästhetische Dimension in den Mittelpunkt zu rücken. Dies impliziert, dass die Lernenden dazu angeregt werden, ihre Aufmerksamkeit auf das Zeichen als Zeichen zu richten, wodurch die vermeintlich enge Ver‐ knüpfung von sprachlichem Ausdruck und Bedeutung aufgelöst wird. Des Weiteren ermöglicht die Fokussierung auf die materiale Seite sprachlicher Äußerungen den vieldeutigen und unbestimmten Charakter derselben zu entde‐ cken und somit „Sprache als einen vielschichtigen Bedeutungsbildungsprozess“ (Dobstadt/ Riedner 2011: 110) zu erfahren. Auf diese Weise eröffnen sich auf semantischer Ebene neue, individuelle Interpretations- und Spielräume, die die Lernenden dazu auffordern, sich mit Sprache kreativ zu beschäftigen, da die „Sprachkreativität als grundsätzliche[s] Moment der Verschiebung von Bedeutung“ (Dobstadt/ Riedner 2014: 163) zu betrachten ist. In dieser Hinsicht stellt die Erfahrung der Komplexität und Vieldeutigkeit von Sprache den ersten grundlegenden Schritt zur Entwicklung einer Bewusstheit um ihren symbolischen, nicht gänzlich ausdeutbaren Charakter dar. Gerade durch die Wahrnehmung der „poetischen, gefühlsmäßigen und ideologischen Dimensionen von Texten“ (Kramsch 2011: 36) - und hierbei kommt dem Zum Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit 209 <?page no="210"?> 2 Siehe zu den z.T. miteinander konkurrierenden Begrifflichkeiten und den damit ver‐ bundenen Konzepten u.-a. Baumann (2018: 83 ff.). 3 Die von Hofmann und Patrut entwickelte Konzeption der interkulturellen Literatur geht davon aus, dass „vor allem in den gegenwärtigen Gesellschaften und Konstella‐ tionen die Konzepte des Eigenen und Fremden ihre Konturen verlieren, indem das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden erkennbar wird und so Zustände des Übergangs und der offenen Identität in den Blick kommen“ (Hofmann/ Patrut 2015: 12). Dabei werden auch Fragestellungen der Dekonstruktion und Asymmetrie von Machtpositionen, insbesondere in Bezug auf interkulturelle Begegnungen und Gender, in den Blick genommen und auf die Weise die multiperspektivische Beschaffenheit des literarischen Textes in den Mittelpunkt gerückt (siehe ebd.: 14-21). In engem Zusammenhang hiermit sind auch das Konzept der transkulturellen Literatur (siehe u. a. Schmitz 2009; Geiser 2015) zu sehen sowie eine Erweiterung der Perspektive um eine postmigrantische Dimension, die „nicht von vorneherein auf bestimmte Texte oder Textsorten begrenzt [ist], sondern […] sich prinzipiell auf alle Texte und Gattungen anwenden [lässt]“ (Schramm 2018: -91). 4 Blum-Barth (2015: 13) erwähnt in diesem Zusammenhang kreative sprachliche Ver‐ fahren wie Sprachlatenz, dialogischer Austausch der Sprachen, Sprachecho, Sprach- und Kulturcodierung, Wort- und Sprachspiel, Sprachmischung und Hybridisierung, Verschlüsselung und Verschachtelung, Entautomatisierung und Entmetaphorisierung sowie Übersetzung. Siehe hierzu auch Thüne (2017). Umgang mit Literatur eine bedeutende Rolle zu - können die Lernenden für die Komplexität menschlicher Kommunikation sensibilisiert werden, denn „[w]hat literature can bring to development of symbolic competence is precisely the sense that human communication is more complex than just saying the right word to the right person in the right manner“ (Kramsch 2006: 251). Insbesondere in der Beschäftigung mit der form as meaning sieht Kramsch das besondere Potenzial der Literatur begründet, denn „letzten Endes kann Sinn nur durch die Form konstruiert und vermittelt werden“ (Kramsch 2011: 40). Die Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit sprachlicher Äußerungen, die oftmals durch mehrsprachige Strukturen ausgelöst wird, erweist sich bei Texten der interkulturellen Literatur 2 , in der die Beschäftigung mit „Heteroge‐ nität, hybriden Äußerungen, Dialog und Anerkennung“ (Hofmann/ Patrut 2015: 8) eine zentrale Rolle spielt, 3 als besonders fruchtbar. Dies involviert auch die Ebene der in den Texten präsenten Sprache bzw. Sprachen und der daraus resultierenden manifesten, latenten und exkludierten Mehrsprachigkeit (siehe Blum-Barth 2021: 69), 4 die durch die „Inkorporierung der Erstsprache in die Literatursprache“ sowie die „Präsenz der ‚Erstkultur‘ in der ‚Zweitkultur‘“ (Blum-Barth 2015: 12) hervorgebracht wird und damit auch die Vielschichtigkeit der kulturellen Perspektiven, durch die sich diese Texte oftmals auszeichnen, zum Ausdruck bringt. 210 Beate Baumann <?page no="211"?> In dieser Hinsicht wird auch in kommunikativen, handlungsorientierten DaF-Lernkontexten die Einbeziehung von literarischen Texten und damit einer dezidiert sprachlich-ästhetischen Dimension zu einem entscheidenden Instru‐ ment für den Aufbau von interkulturellen und symbolischen Kompetenzen. Gerade Texte, die durch unterschiedliche Formen von Mehrsprachigkeit ge‐ prägt sind, werden von den Studierenden oftmals als irritierende Elemente rezipiert und erregen demzufolge ihre besondere Aufmerksamkeit (Baumann 2018: 151 ff.). Dies bewirkt nicht nur die Entwicklung einer „reflexive[n] Analysekompetenz“, sondern führt auch zu einer „sprachlich symbolischen Selbstbehauptung des Subjekts“ (Riedner 2015: 143) und stattet die Lernenden mit einer symbolischen Macht aus, die sie Konventionen überschreiten und neue symbolische Realitäten schaffen lässt (siehe ebd.: 138). 3 Die Bedeutung des Übersetzens für sprachsensible Zugangsweisen Vor einem solchen ästhetisch-literarizitätsorientierten Hintergrund kann auch dem Übersetzen, das sich ähnlich wie die Literatur in den letzten Jahren im DaF-Unterricht neu profilieren konnte, ein bedeutendes Potenzial zur Entwicklung einer Aufmerksamkeit für die Komplexität und Vieldeutigkeit sprachlicher Formen und ihres symbolischen Charakters zugeschrieben werden. Somit werden Übersetzungsaktivitäten zu einem regelrechten „Sensibilisie‐ rungstraining“ (Harden 2006: 69) für die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielsprache und demzufolge zu einer kontrastiven Bewusstmachungsstrategie (siehe Baumann 2021), durch die die Sprach(en)- und Kultur(en)bewusstheit sowohl in der Fremdals auch in der Erstsprache gefördert werden kann (siehe Königs 2010: 1042). Im Falle von interkulturellen literarischen Texten als Lerngegenstand spielt der Aspekt der Sprach(en)sensibilität eine bedeutende Rolle, zumal auch bei migrationsbedingt mehrsprachigen und mehrkulturellen Autor: innen die Fähig‐ keit, sich in der Sprache frei zu bewegen, gerade durch die Begegnung mit anderen Sprachen entwickelt und verfeinert werden kann. Auch hier finden Übersetzungserfahrungen statt, die als eine Art intrapersonale Übersetzung (siehe Baumann 2017: 2) zu verstehen sind sowie als Metapher für Dekodifi‐ zierungs-, Interpretations- und Verstehensprozesse, die die Autor: innen selbst vollziehen (siehe Ivančić 2016: 79). Andererseits sind es gerade die literarische Mehrsprachigkeit und die damit verbundene vielschichtige kulturelle Bedeutungshaftigkeit, die die Grenzen des traditionell harmonistischen Übersetzungsverständnisses offenlegen. Aus‐ Zum Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit 211 <?page no="212"?> 5 Zu den biographischen Informationen zur Person Nava Ebrahimis siehe den Eintrag „Ebrahimi, Nava“ im Munzinger Archiv (http: / / www.munzinger.de/ document/ 0000003 2483; letzter Zugriff: 24.08.2023). gehend von der komplexen Verschränkung der sprachlichen und kulturellen Dimensionen, die interkulturelle literarische Texte oftmals auf besondere Weise charakterisieren, lässt sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vor dem Hintergrund des Translational Turn (Bachmann-Medick 2014: 238) die Funktion der Übersetzung als Brücke zwischen den Sprachen und Kulturen in Frage stellen. Bachmann-Medick zufolge sind „Kulturen keine ‚originalen‘, in sich ge‐ schlossenen und damit voneinander getrennten Traditions- und Lebenswelten, die durch Brücken zu allererst zu verbinden wären“, sondern sie bestehen „immer schon aus ‚hybriden‘, unreinen, vermischten Erfahrungsschichten“ und sind demzufolge „in sich widersprüchlich, vielsprachig, selbst immer schon übersetzt und mit Fremdem vermischt“ (Bachmann-Medick 2015: 8). Betont wird dabei nicht nur die Zentralität der aus allgemeinen Überlegungen zu Sprache oder Linguistik hervorgegangenen kulturellen Dimension des Über‐ setzungskonzeptes (siehe Buden/ Nowotny 2009: 203), sondern auch Aspekte wie Asymmetrien im Kulturenkontakt, Macht und Ungleichheiten. Demgemäß stellt die Übersetzung eine „sozial und politisch reflektierte Kulturtechnik des Umgangs mit Differenzen“ (Bachmann-Medick 2015: 6) dar, der es in erster Linie darum geht, interkulturelle Kommunikationsprozesse transparent zu machen. Ausgehend von diesen Überlegungen sehen sich auch die Lernenden bei der Transposition der ausgangssprachlichen Äußerungen mit deren sprachlich-äs‐ thetischen und kulturellen Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit konfrontiert, was zweifelsohne eine „sprachliche und kulturelle Leistung hochkomplexer Art“ (House 2010: 323) impliziert. Dies lässt sich auch an den Aussagen der Studie‐ renden der Universität Catania im Rahmen ihrer Arbeit mit Nava Ebrahimis Roman Sechzehn Wörter erkennen, was nun im Folgenden darlegt werden soll. 4 Nava Ebrahimi und ihre Sechzehn Wörter Nava Ebrahimi, 1978 in Teheran geboren, machte selbst sehr früh die Erfahrung mit Migration und damit auch mit Mehrsprachigkeit. 5 Im Alter von drei Jahren kam sie mit ihren Eltern, die vor dem radikalislamischen Regime im Iran flüchteten, nach Köln, wo sie ihre gesamte Schullaufbahn absolvierte, als „mehr oder weniger immer die einzige Iranerin“ (Burgmer 2022). Nach dem Abitur studierte sie Volkswirtschaftslehre und Journalismus an der Universität zu Köln und arbeitete danach u. a. als Redakteurin bei der Financial Times Deutschland und der Kölner StadtRevue sowie als Nahostreferentin für die deutsche Außen‐ 212 Beate Baumann <?page no="213"?> 6 Zur Problematik des Terminus Muttersprache siehe u. a. Brehmer/ Mehlhorn (2018: 22). wirtschaftsförderung. Mit ihrem Umzug nach Graz, wo sie seit 2012 lebt, begann auch ihre literarische Karriere, und zwar mit dem 2017 veröffentlichten Debüt‐ roman Sechzehn Wörter, für den sie beim Österreichischen Buchpreis mit dem Debütpreis ausgezeichnet wurde. 2020 veröffentlichte sie ihren zweiten Roman Das Paradies meines Nachbarn und im Jahr darauf erschien ihr gemeinsam mit der Illustratorin Sabine Presslauer konzipiertes Buch Einander: Ein Buch, das Generationen verbindet. Dass ihre literarische Tätigkeit auf großes Interesse und Anerkennung stößt, bezeugen u. a. die Auszeichnungen mit dem Rotahorn-Li‐ teraturpreis (2020) und dem Ingeborg-Bachmann-Preis (2021). Sechzehn Wörter ist ein Familienroman mit autobiografischen Bezügen, in dem die Autorin vieles von dem aufarbeitet, was sie selbst erlebt hat und was sie auch heute noch beschäftigt. So beschließt die junge iranischstämmige Deutsche Mona anlässlich des Todes der Großmutter gemeinsam mit ihrer Mutter ein letztes Mal in ihre vermeintliche Heimat, den Iran, zu fliegen. Doch die Reise wird für Mona zu einer Konfrontation mit der eigenen Identität und Herkunft, die es für sie zu entdecken gilt. Die Annäherung an diese für sie fremde bzw. befremdliche Welt, mit der sie über ihre Familie jedoch auf enge Weise verbunden ist, erfolgt über die persische Sprache. Dies spiegelt sich bereits in der Struktur des Romans wider, denn jedes der sechzehn Kapitel trägt als Titel ein in persischen Schriftzeichen realisiertes Wort, da - so Nava Ebrahimi in einem Interview - der „Wortschatz […] viel über Familien und deren Geschichten erzählen“ (Hartner 2018) kann. So ergeht es auch der Protagonistin selbst, als sie sich von diesen sechzehn Wörtern aus dem Hinterhalt überfallen fühlt: Nie hatte ich es bisher geschafft, mich zu wehren, stets zwangen sie mir aufs Neue ihre Botschaft auf; da ist noch eine andere Sprache, deine Muttersprache, glaube ja nicht, die Sprache, die du sprichst, wäre deine Sprache. Regelmäßig war ich ihnen ausgeliefert, diesen Wörtern, die nichts mit meinem Leben zu tun hatten […]. (Ebrahimi 2019: 7) Hier manifestiert sich das Dilemma, dass das muttersprachliche Sprachsystem, das gemeinhin Vertrautheit und Kompetenz impliziert, 6 in einer unbestimmten Vergangenheit verankert ist und mit der aktuellen Lebensrealität der Erzählerin keine Berührungspunkte aufweist. Erst durch den Vorgang des Übersetzens gelingt der Erzählerin der Zugang zu ihrer Sprache und damit auch zu einem Teil ihrer sprachlichen und kulturellen Identität: Zum Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit 213 <?page no="214"?> Doch dann, einer Eingebung folgend, übersetzte ich ein Wort, und es war, als hätte ich es entwaffnet. […]. Mit einem Schlag verlor es die Macht über mich. Wie in einem Märchen, durch die Übersetzung hob ich den Bann auf, der auf dem Wort lag, und befreite mich aus der Geiselhaft. Wir waren nun beide frei, das Wort und ich. […] Im Unübersetzten hatte der Schwindel es sich herrlich einrichten können. (ebd.: 7 f.) Diesem „Schwindel“, den die persischen Wörter „all die Jahre lang befördert hatten“ (ebd.: 8), sind viele Menschen ausgesetzt, betont die Autorin in dem bereits oben erwähnten Interview: „Viele Menschen, die wie ich zweisprachig aufwachsen, übersetzen auch gar nicht, sondern leben zwischen den Sprachen, und die beiden Welten verbinden sich dadurch oft nicht“ (Hartner 2018: o.S.). Aber erst dann, wenn dieser „symbolic gap“ (Kramsch/ Huffmaster 2008: 294) zwischen Sprachen und Kulturen auf sensible und aufmerksame Weise erkundet wird, wandelt er sich zu einem Aushandlungsort hinsichtlich sprachlicher, kultureller und nicht zuletzt identitätsbezogener Fragen. Dies gilt nicht nur für die Protagonistin des Romans, sondern auch für die italienischen DaF-Studierenden, die im Masterkurs „Deutsche Linguistik und Übersetzung“ der Universität Catania zur Auseinandersetzung mit dieser symbolischen Lücke zwischen den Sprachen und Kulturen und damit auch zu entsprechenden sprach- und kulturreflexiven Handlungen angeregt wurden, was im Folgenden an einem ausgewählten Beispiel erläutert werden soll. 5 Sprach- und kulturreflexive Bewusstwerdungsprozesse am Beispiel von Chiara Dass von interkulturellen, durch unterschiedliche Formen von Mehrsprachig‐ keit geprägten Literaturtexten ein besonderes Potenzial für die Förderung von interkulturellen und symbolischen Kompetenzen ausgeht, konnte im Kontext empirischer Studien (siehe u. a. Baumann 2018, 2021) dokumentiert werden. Diese Kompetenzen begründeten auch das übergeordnete Lern- und Lehrziel des obigen germanistischen Masterkurses, in dem im Studienjahr 2020/ 2021 Texte von Rafik Schami, Yoko Tawada, Abbas Khider, Julya Rabinowich, Emine Sevgi Özdamar, Zé do Rock und Nava Ebrahimi behandelt wurden und mit denen sich die Studierenden (B2-Ausgangsniveau) aus einer sprachlich-ästhetischen Perspektive auseinandersetzten. Dabei gingen sie nicht nur Fragen nach, die die Beschreibung der sprachlichen Erscheinungen, die ihnen in den einzelnen Textauszügen aufgefallen waren, zum Inhalt hatten, sondern auch Aspekten auf emotionaler Ebene, z. B. Irritationsmomente bzw. Emotionen bei der Rezeption dieser ungewöhnlichen Sprachformen. Eine weitere zentrale Aufgabe bestand in der Übersetzung der Textauszüge in die italienische Sprache, wobei die Studie‐ 214 Beate Baumann <?page no="215"?> 7 Die hier verwendeten Namen wurden anonymisiert, zudem werden die Aufzeich‐ nungen der Studierenden in der Originalversion und daher auch mit diversen ortho‐ graphischen und grammatischen Normabweichungen wiedergegeben. renden ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Transposition der sprachlichen Stolpersteine, d. h. auf die Strategien und Entscheidungen zur Überwindung der sprachlichen und kulturellen „Lücke“ richten sollten. Die Konfrontation mit den Texten und der reflektierende Austausch darüber erfolgte in kooperativen Arbeitsverfahren, im Anschluss derer die Studierenden ihre Beobachtungen individuell auf einem entsprechenden Fragebogen schriftlich festhielten. So lassen die acht ausgefüllten Fragebogen, die zu Nava Ebrahimis Textauszug Khastegar aus ihrem Roman Sechzehn Wörter vorliegen, eine zum Teil äußerst intensive Beschäftigung mit den sprachlichen und kulturellen Elementen des Textes erkennen, wobei erwartungsgemäß die manifesten mehrsprachigen Elemente Khastegar, Anar und Azadi im Vordergrund stehen. Dies geht auch aus den Reflexionen von Chiara 7 hervor, die unmissverständ‐ lich auf die mehrsprachigen Strukturen hinweist: Dieser Text ist nicht von syntaktisch komplexen Strukturen geprägt und die Narration wird linear durch eine gleichgewichtige Distribution von Hypotaxe und Parataxe entwickelt. Deshalb liegt der auffällige Aspekt dieses Textes nicht so sehr in den syn‐ taktischen Strukturen, sondern vor allem in bestimmten lexikalischen Okkurrenzen, d. h. in der Verwendung von persischen Wörtern, wie Khastegar, Maman-Bozorg, Anar, Azadi. Ich bin über diese sprachlichen Formen gestolpert, da ich kein Persisch kenne. (F1) Es verwundert nicht, dass diese Elemente mit einer irritierenden Wirkung verbunden wurden, denn Chiara stellt fest, dass diese „Beispiele für explizite Mehrsprachigkeit […] nicht erklärt [werden], deshalb müssen die LeserInnen versuchen, autonom ihre Bedeutung zu identifizieren“ (F1). Dies veranlasst die Studierenden dazu, Strategien zu entwickeln, um die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens auch mit einer Bedeutung zu versehen. Die erste Strategie beschreibt sie folgendermaßen: „Ich musste mehrmals den Text lesen und autonom durch Überlegungen und Vermutungen die Bedeutung der persischen Begriffen rekonstruieren“ (F1). Im Laufe dieses Bedeutungskonstruktionsprozesses greift sie in erster Linie auf das semantische Textumfeld zurück, was in gewisser Weise eine weitere Strategie darstellt, wie aus den folgenden Überlegungen hervorgeht: Obwohl ich über die persischen Wörter gestolpert bin, die natürlich für eine Person, die kein Persisch kennt, irritierend sind und das Textverständnis erschweren könnten, Zum Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit 215 <?page no="216"?> konnte ich in einigen Fällen durch textuelle Inferenzen ihren semantischen Inhalt erfassen. z. B. wird das Wort Khastegar implizit durch die Geschichte am Anfang des Textes, durch folgende Sätze („Sie sind verheiratet? “, „Es gibt keine anständigen Khastegars mehr, sie rauchen entweder Tag und Nacht Opium, sind Muttersöhnchen oder arbeitslos oder alles zusammen,“ „Wenn sie irgendetwas von einem Khastegar erzählt, dann drohe ich ihr, ihn noch an der Türschwelle zum Teufel zu jagen“) und durch das Hauptthema des Textes selbst erklärt. Auch das Wort Anar war nicht so einfach zu ergreifen. Man versteht, dass es um Obst geht, aber es gibt keine genüge Details zu einer präzisen Erkennung des Wortes. Anar kann irgendwelches Obst sein, das sich schälen lässt und Kerne hat. Man kann nur Vermutungen machen. (F1) Im Falle des Wortes Azadi versucht Chiara aus der Untersuchung des struk‐ turellen und grammatischen Umfelds Rückschlüsse für die Bedeutungskon‐ struktion zu gewinnen, indem sie die Lokalpräposition „in“ als strategischen Ausgangspunkt für ihre Reflexion bestimmt. Dann allerdings wird ihr bewusst, dass dies in die Irre führen könnte, so dass sie letztendlich wieder auf die inhaltlichen Informationen im Textumfeld zurückgreift, die in diesem Fall der mehrsprachigen Form nachgelagert sind: Aber hat es einige Irritationsmomente gegeben. In einem ersten Schritt war z. B. der Satz „Gelegenheiten gibt es in Deutschland viele, dort, in Azadi“ ein bisschen schwieriger zu verstehen, weil das Wort Azadi auf Persisch ist und die deutsche Präposition „in“ an einer konkreten Lokalergänzung denken lassen könnte, als wäre Azadi eine Stadt. Nur nachdem ich diesen Teil und den folgenden Satz („Wenn junge Iranerinnen von Freiheit sprechen, […]) wiedergelesen hatte, konnte ich ihre Bedeutung verstehen. (F1) Die Hinterfragung der Eindeutigkeit und Ausdeutbarkeit, die durch diese mehrsprachigen Elemente ausgelöst werden, setzt also Reflexionen in Gang, die jedoch nicht nur auf die Zuordnung eines Signifikats ausgerichtet sind, sondern einen kreativen Interpretationsraum eröffnen, in dem die Ambiguität der sprachlichen Zeichen auch mit den damit in Zusammenhang stehenden kulturellen Deutungsmustern verhandelt wird, die Chiara aus einer entspre‐ chenden Perspektive zu ergründen versucht: Die Autorin führt im deutschen Text persische Wörter ein, um eine verfremdende Wirkung hervorzubringen. Sie will die LeserInnen irritieren und gleichzeitig sie in Berührung mit fremden exotischen Begriffen und Besonderheiten kommen lassen. Deshalb kommunizieren persische Wörter wie Khastegar, Anar und Azadi nicht nur ihre echte konkrete Bedeutung, d. h. Verlobte, Granatapfel und Freiheit, sondern 216 Beate Baumann <?page no="217"?> auch weitere Vorstellungen, die eng mit Iran zusammenhängen. z. B. signalisiert die Wiederholung des Wortes Khastegar die zentrale Rolle, die die Ehe in Frauenexistenz spielt: Frauen sollten darauf zielen, einen Khastegar schnell zu finden und dann heiraten. Ehe scheint als soziale Verpflichtung und aus diesem Grund spricht die Autorin auch von Azadi. Viele Iranerinnen kennen keine Freiheit, denn sie können nicht frei und autonom entscheiden, was mit ihrem eigenen Leben zu tun. Deshalb mitteilen diese persische Wörter auch Idee betreffend die kulturelle und soziale Lage im Iran. (F1) Die in diesen Überlegungen ersichtlichen zum Teil stereotyp anmutenden Wahrnehmungsmuster und auf kulturbezogene Dichotomien verweisenden Vorstellungen sind zweifelsohne durch die Rezeption des literarischen Textes hervorgebracht worden, bieten allerdings auch die Möglichkeit, sich nicht nur mit Fragen der Fiktionalität des Textes auseinanderzusetzen, sondern sich auch näher mit der Rolle der Frauen in den Jahren vor der Islamischen Republik zu beschäftigen, die sich in der aktuellen Situation - wie Nava Ebrahimi betont - auf der „Revolutionsstraße“ (Burgmer 2022) befinden. Zudem bildete die Arbeit mit den sprachlichen und kulturellen Aspekten des Textes die Grundlage für die anschließende Übersetzung, in der es Chiara vor allem um eine Äquivalenz der Wirkung zwischen Ausgangs- und Zieltext geht: Eine Übersetzung soll bei den LeserInnen dieselben Wirkungen als jene des Ausgangs‐ textes hervorbringen. Aus diesem Grund habe ich versucht, auch im Zieltext den verfremdenden Effekt des deutschen Textes zu erhalten, indem ich die persischen Wörter nicht übersetzt habe. Deshalb wurde auch die Übersetzung zum mehrspra‐ chigen Text. (F1) Zudem hat Chiara weitere zentrale Merkmale ausmachen können, die das ästhetische Profil des Textes prägen, wie beispielsweise die konzeptuelle Münd‐ lichkeit und die damit verknüpften umgangssprachlichen und phraseologischen Ausdrücke, die nicht nur eine „Schnittstelle von Sprache und Kultur“ (Berdy‐ chowska et al. 2017) darstellen, sondern sich im Rahmen von Translationsproz‐ essen aufgrund ihrer komplexen kulturellen Implikationen als eine regelrechte „Achillesferse“ (Palm 1997: 118) erweisen können. Dies bezeugen auch Chiaras Überlegungen, die sich bei der Übertragung in die italienische Sprache vor eine große Herausforderung gestellt fühlt: Eine Übersetzung soll die Intentionen und die Kennzeichen des Ausgangstextes reproduzieren, aber muss man gleichzeitig auf die Regeln und die Besonderheiten der Zielsprache achten, so dass die Übersetzung als Originaltext scheint. Deshalb habe ich versucht, einige Elemente des Textes, wie Phraseologismen und umgangssprachliche Zum Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit 217 <?page no="218"?> Ausdrücke, zu italianisieren. z. B. konnte ich die Ausdrücke „Machen Sie sich keine Gedanken“ und „[…] an der Türschwelle zum Teufel zu jagen“ nicht exakt Wort für Wort übersetzen, denn die Übersetzung würde nicht Italienisch klingen. Daher habe ich italienische Phraseologismen verwendet („Non si preoccupi“; „mandare all’inferno“). Dagegen habe ich die persischen Wörter nicht italianisiert, um die verfremdende Wirkung zu erhalten. (F1) Der sensible und zugleich sehr bewusste Umgang mit den fremdsprachlichen Strukturen wird auch auf die Zielsprache der Übersetzung, die in diesem Fall auch die Herkunftssprache der Studierenden darstellt und mit der gemeinhin weniger reflektierend umgegangen wird, übertragen, was Chiara zu der Er‐ kenntnis veranlasst, „übersetzen bedeutet auch, über die eigene Sprache nach‐ zudenken“ (F1). 6 Abschließende Überlegungen Welches Potenzial von einem sensiblen und kreativen Umgang mit (literari‐ scher) Mehrsprachigkeit - und zwar nicht nur mit der Fremdsprache Deutsch, sondern auch mit der Erstsprache Italienisch - auszugehen vermag, doku‐ mentiert Chiaras Feststellung auf sehr anschauliche Weise. Die sprachlichen Aushandlungsprozesse, die durch die literarische Mehrsprachigkeit initiiert wurden, erforderten eine kreative Herangehensweise, um die Undurchsich‐ tigkeit und Uneindeutigkeit der sprachlichen Zeichen zu interpretieren und mögliche Bedeutungen zu konstruieren. Dies galt nicht nur für den Umgang mit dem Originaltext, der aus der Perspektive der Studierenden in der Fremd‐ sprache Deutsch verfasst ist und zudem weitere fremdsprachliche Elemente und Strukturen enthält, die ihnen gänzlich unbekannt waren, sondern auch für das Italienische, dass ihnen vermeintlich vertraut ist. Des Weiteren verlangte der Umgang mit der Komplexität und Vieldeutigkeit der Sprache(n) ein hohes Maß an sprachlicher Sensibilität, Aufmerksamkeit und Reflexionsvermögen, was auch bei den anderen Studierenden zum Vorschein kam. Dabei wurden beispielsweise auch eurozentrisch geprägte Perspektiven (selbst)kritisch wahr‐ genommen und beleuchtet. Darauf weist insbesondere die Studentin Claudia hin: Die Worte der Apothekerin brachten mich dazu, darüber nachzudenken, wie voreinge‐ nommen die Europäer manchmal gegenüber den Ländern des Orients sind. Obwohl sie eine alte Frau ist und in einer patriarchalischen Gesellschaft lebt, ist ihre Perspektive modern. Ihr Rat an ihre Tochter ist beispielhaft. Ich dachte, wenn ich ihre Tochter wäre, wäre ich stolz. (F5) 218 Beate Baumann <?page no="219"?> Der gemeinsame Ausgangspunkt für die sprach- und kulturreflexiven Prozesse war die anfängliche Orientierungslosigkeit, die vor allem durch die manifeste literarische Mehrsprachigkeit ausgelöst wurde, wie es eine andere Kursteilneh‐ merin ganz explizit formulierte: „Ich war etwas orientierungslos aufgrund der Verwendung persischer Wörter“ (F7). Die sprachlich-ästhetische Auseinander‐ setzung mit diesen Formen, aber auch mit anderen sprachlichen und kulturellen Erscheinungen, die aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit nicht unmittelbar zugänglich waren, trugen dazu bei, die ambigue und symbolische Dimension von Sprache zu erfahren, deren Relevanz weit über den Rahmen des Fremdsprachenunterrichts hinausreicht. So konnten sich die Lernenden dazu ermächtigen, durch sprachsensible, kreative Verfahren den „symbolic gap“ (Kramsch/ Huffmaster 2008: 294) zu überwinden und damit ihre Handlungsfä‐ higkeit nicht nur in der Fremdsprache Deutsch entschieden zu erweitern. Literatur Bachmann-Medick, Doris (2015). Transnational und translational: Zur Übersetzungs‐ funktion der Area Studies. CAS-Center for Area Studies. FU Berlin Working Paper. h ttps: / / www.bachmann-medick.de/ wp-content/ uploads/ 2015/ 04/ WP_Bachman-Medic k_Webversion.pdf (letzter Zugriff: 31.01.2023). Bachmann-Medick, Doris (2014). Translational Turn. 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Using examples of family reading situations with German-Russian picture books and ethnographic conversation analysis (Deppermann 2000), different approaches of multilingual recipients to parallel multilingual texts are shown. The aim is to explore the limits and possibilities of parallel multilingualism in picture books for family reading situations in the context of multilingualism. Keywords: multilingual picture books, reading aloud in the family 1 Einleitung und Fragestellung Die Begegnung mit einem Bilderbuch ist in erster Linie eine Begegnung mit einer literarischen Erzählung. Texte und Bilder verschmelzen zu einer verhei‐ ßungsvollen Fantasiewelt und machen es möglich, in diese einzutauchen. Als literarisches Angebot ist ein Bilderbuch jedoch immer auch ein kulturrelevantes <?page no="224"?> Produkt, „mit dessen Hilfe große Gemeinschaften ihre Identität herstellen“ (Kepser/ Abraham 2016: 24). Literatur konfrontiert Leser: innen mit Weltan‐ schauungen und Wertvorstellungen und gibt Modelle vor, deren Reflexion die Einstellungen und Haltungen innerhalb einer Gemeinschaft beeinflussen. Somit beinhaltet die Rezeption eines Bilderbuches nicht nur die individuelle Ebene des literarischen Genusses, sondern auch die Ebene der Teilhabe „am gesellschaftli‐ chen Selbstverständigungsprozess“ (ebd.). Doch welches Selbstverständnis sug‐ gerieren mehrsprachige Bilderbücher, die mehrsprachig aufwachsende Kinder adressieren und die den Text parallel in verschiedenen Sprachen zeigen? Einerseits tragen sie der Tatsache Rechnung, dass viele Kinder im vorwiegend deutschsprachigen Raum mehrsprachig aufwachsen und können damit die Vor‐ stellung von Normalität der Einsprachigkeit durchbrechen. Andererseits scheint die sprachliche Parallelität dieser Kinderliteratur als Identifikationsangebot für mehrsprachige Kinder nicht unproblematisch: Einem mehrsprachigen Subjekt, das situationsabhängig und flexibel seine Sprachen einsetzt, diese kombiniert, vermischt und auch wechselt, und das aufgrund seiner sprachlichen Hybridität multiple Zugehörigkeiten aufweist, wird hier kein Platz eingeräumt (Hodaie 2018: 137). Um Grenzen und Chancen paralleler Mehrsprachigkeit in Bilderbüchern für die Rezeption von mehrsprachigen Leser: innen auszuloten, widmet sich dieser Beitrag der empirischen Analyse exemplarischer Vorlesesituationen mit parallel zweisprachigen Bilderbüchern in deutsch-russischen Familien unter folgenden Fragen: ● Welche Rolle spielt parallele Mehrsprachigkeit in Bilderbüchern für die Rezeption dieser in mehrsprachigen Familien? ● Welche Umgangsweisen mit paralleler Mehrsprachigkeit im Bilderbuch zeigen sich in familialen Vorlesesituationen? Grundlage sind Daten aus der laufenden Studie „Mehrsprachige Bilderbücher in mehrsprachigen Familien“ (Vishek 2021, 2023). Zunächst werden parallel mehrsprachige Bilderbücher als Teil des gesellschaftlichen Diskurses zum Thema Mehrsprachigkeit analysiert, um deren Identifikationsangebot differen‐ ziert zu betrachten. Danach wird die familiale Rezeption von drei parallel mehrsprachigen Bilderbüchern in drei Familien rekonstruiert, um die individu‐ ellen Umgangsweisen der mehrsprachigen Rezipient: innen mit der parallelen Mehrsprachigkeit im Bilderbuch exemplarisch aufzuzeigen. 224 Svetlana Vishek <?page no="225"?> 2 Parallele Mehrsprachigkeit im Bilderbuch als Teil des gesellschaftlichen Diskurses „…welches Menschenbild eine Gesellschaft überhaupt entwickelt, reflektiert und be‐ einflusst die in ihr entstandene Literatur“ (Kepser/ Abraham 2016: 31) Der Gedanke, dass Literatur als ein ‚Wissensspeicher‘ (ebd.: 28) betrachtet werden kann, in dem das kollektive Wissen einer Kultur über sich selbst gesammelt und verarbeitet ist (vgl. ebd.), begründet die Möglichkeit, Literatur als Teil von gesellschaftlichen Diskursen zu betrachten. In Anlehnung an Michel Foucault definiert Jürgen Spitzmüller (2005) den „Diskurs“ als Kommunikations- und Wissenssystem, das in historisch gewachsene Orientierungs- und Hand‐ lungsrahmen eingebettet ist. Inci Dirim und Paul Mecheril (2018) betonen die subjektkonstituierende Wirkung von Diskursen: Diskurse konstituieren beispielsweise das gesellschaftliche Verständnis davon, was Behinderung ist, was es heißt, ein anerkanntes Geschlechtssubjekt zu sein oder welche ‚Pflichten‘ damit einhergehen, Mitglied eines natio-ethno-kulturell kodierten Kon‐ textes zu sein (ebd.: 25 f., Hv.-i.-O.). Durch Wiederholung von zuschreibenden Adressierungen, wie etwa der signi‐ fikanten Unterscheidung zwischen Menschen als Frauen und Männern oder als Migrant: innen und Nicht-Migranti: innen, die sowohl in Alltagsgesprächen als auch in medialen Darstellungen sowie in politischen und wissenschaftlichen Diskursen stattfinden, kann der Eindruck erweckt werden, dass diese Unter‐ scheidungen als selbstverständlich und fraglos gerechtfertigt gelten würden (ebd.: 43 f.). Deswegen ist die Reflexion darüber, welche Zuschreibungen paral‐ lele Mehrsprachigkeit im Bilderbuch impliziert, gerade im literaturdidaktischen Kontext wichtig. Im Folgenden werden Diskurse rund um die parallel mehrsprachigen Bilder‐ bücher skizziert. Zunächst wird die Verlagsperspektive thematisiert, um die Motivation hinter der Publikation von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern zu beleuchten. Anschließend wird auf die (sprach)didaktische und sprachideo‐ logische Perspektive eingegangen, um die fachwissenschaftliche Bewertung der parallelen Mehrsprachigkeit im Bilderbuch nachzuzeichnen. Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 225 <?page no="226"?> 1 Dies betrifft jedoch nicht alle Verlage. So dürften beispielsweise die parallel mehr‐ sprachigen Bilderbücher des Baobab Verlages hier eine Ausnahme darstellen. Der Verlag setzt sich für kulturell vielfältige Kinder- und Jugendliteratur ein, indem er Kinder- und Jugendliteratur aus aller Welt publiziert und somit auch für die Vielfalt kultureller Ästhetik sensibilisiert. Dabei wirkt der Verlag mit seinen Aktivitäten auf eine Gesellschaft hin, „in der Kinder und Jugendliche jeglicher Herkunft, sozialer Schicht, ethnischer oder kultureller Zugehörigkeit die Möglichkeit haben, sich sozial zu verwurzeln, gehört zu werden, ohne Benachteiligung an der Gemeinschaft teilzuhaben und eine Zukunftsperspektive zu entwickeln“ (vgl. Baobab Books: 2023). Verlagsperspektive Schaut man sich den deutschsprachigen Bilderbuchmarkt an, so wird ersicht‐ lich, dass die parallel mehrsprachigen Bilderbücher unter der mehrsprachigen Kinder- und Jugendliteratur klar dominieren (vgl. Hodaie 2018). Nazli Hodaie konstatiert, dass „die Frage nach der Funktion von Mehrsprachigkeit aus der Verlagsperspektive […] unwillkürlich mit der zu erreichenden Zielgruppe ver‐ bunden [ist]“ (ebd.: 129). Am meisten sind mit parallel mehrsprachigen Bilder‐ büchern Menschen mit „Migrationshintergrund“ adressiert, denen Bilingualität zugeschrieben wird. 1 So gibt z. B. der Verlag Edition bili: bri als Ziel an, „zwei‐ sprachig erzogene Kinder in ihrer Sprachentwicklung in beiden Sprachen durch erzählende Kinderbücher zu unterstützen“ (Edition bili: bri 2023). Der Anadolu Verlag verfolgt ein ähnliches Ziel: „Damit soll den türkischstämmigen Kindern der bilinguale Spracherwerb erleichtert werden“ (Anadolu Verlag 2023). Auch der Talisa Kinderbuch-Verlag möchte Kinder, in deren Familien „Deutsch nicht als Muttersprache gesprochen wird, in ihrer Sprach- und Leseentwicklung […] begleiten“ (Talisa Kinderbuch-Verlag 2023). Diese Zielsetzungen verdeutlichen die sprachdidaktische Intention, die oft bei der Entstehung eines parallel mehr‐ sprachigen Bilderbuches mitschwingt. Doch diese Intention scheint sowohl aus der literaturdidaktischen als auch aus der sprachideologischen Perspektive nicht unproblematisch zu sein, wie weiter aufgezeigt wird. Sprach- und literaturdidaktische Perspektive Schon spätestens seit den 1980er Jahren war die Idee zunächst im angloameri‐ kanischen pädagogischen Diskurs präsent, mehrsprachige Bilderbücher zu pu‐ blizieren, um die Erstsprachen der Schüler: innen mit „Migrationshintergrund“ im Klassenraum einbringen zu können (vgl. Gawlitzek/ Kümmerling-Meibauer 2013). Auch heute wird der Beitrag der mehrsprachigen Bilderbücher sowohl für das sprachliche als auch für das interkulturelle Lernen in der Schule vielseitig diskutiert. Dabei wird ein großes Potential der mehrsprachigen literarischen 226 Svetlana Vishek <?page no="227"?> Texte betont im Hinblick auf den mehrsprachigen Spracherwerb, die Sprach‐ reflexion, die Sichtbarmachung der Sprachenvielfalt und die Thematisierung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit (Eder 2009; Rösch 2013; Vach 2015; Hoffmann 2018; Hodaie 2018). Während die Mehrsprachigkeit in Texten, in denen nur einzelne Textelemente in verschiedenen Sprachen widergegeben werden, als ästhetisch-stilistische Dimension beschrieben wird (Eder 2009; Mikota 2018) und ein hohes Ansehen in der Literaturwissenschaft genießt (Dembeck/ Uhrmacher 2016), stehen parallel mehrsprachige Texte oft in der Kritik: Sie wären ein genuin didaktisches Produkt, das Mehrsprachigkeit in‐ strumentalisiere (Störiko-Blume 2018) und zudem ein additives Verständnis von Mehrsprachigkeit evoziere (Hodaie 2018). Ein Vorteil der parallel mehr‐ sprachigen Bilderbücher bestehe darin, „dass das Original in seiner Sprache sichtbar“ sei (Rösch 2013: 154). So biete die parallele Mehrsprachigkeit unter anderem auch die Möglichkeit einer sprachvergleichenden Arbeit, die die konzeptionellen Unterschiede zwischen Original und Übersetzung verdeutlicht und metasprachliche Fähigkeiten anrege (vgl. ebd.). Sprachideologische Perspektive Die in der Verlagsperspektive ersichtliche sprachdidaktische Motivation von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern spiegelt die gesellschaftlich verbreiteten Sprachideologien, die mit der Vorstellung einheitlicher, abzählbarer und klar voneinander abgrenzbarer Sprachen einhergehen (vgl. Busch 2017: 39). Daraus erwächst ein additives Verständnis von Mehrsprachigkeit und „eine Orientie‐ rung an der einsprachigen Förderung jeweils getrennter Sprachen“ (Schnitzer 2017: 36). Die aktuellen soziolinguistischen Ansätze in der Mehrsprachigkeits‐ forschung widersprechen jedoch dieser Vorstellung. Das Verständnis von Mehr‐ sprachigkeit beruht demnach auf einer Auffassung von Sprache als sozialer Praxis und fokussiert die Fähigkeit der Sprecher: innen, sich zwischen den Sprachen zu bewegen. Dabei wird das Konzept von Sprachen als abzählbaren Einheiten zunehmend in Frage gestellt und stattdessen das Konzept des sprach‐ lichen Repertoires als integratives Ganzes diskutiert (Busch 2017; Schnitzer 2017; Hu 2018). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die meisten parallel mehrsprachigen Bilderbücher auf dem deutschen Buchmarkt sprachdidaktisch motiviert sind. Einerseits besteht der Anspruch, mehrsprachig aufwachsende Kinder in ihrer Sprachentwicklung zu unterstützen. Andererseits schafft dieses Literaturangebot sprachideologische Anrufungen, die Flexibilität und Ganzheit eines mehrsprachigen Repertoires außer Acht lassen. Doch wie wirkt sich dies im Moment der konkreten Rezeption aus? Aktuell gibt es wenige empirische Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 227 <?page no="228"?> 2 Die Auswahl der Bilderbücher war in erster Linie durch das Angebot des Bilderbuch‐ marktes bestimmt. Studien, die diese Frage betrachten. Die Studie, auf die folgend eingegangen wird, ist ein Versuch, empirisch fundierte Erkenntnisse zu diesem Thema zu gewinnen. 3 Rezeption von parallel zweisprachigen Bilderbüchern in mehrsprachigen Familien Ziel dieses Kapitels ist, die individuellen Umgangsweisen mehrsprachiger Rezipient: innen mit paralleler Mehrsprachigkeit im Bilderbuch exemplarisch aufzuzeigen. Zunächst wird die empirische Studie „Mehrsprachige Bilderbücher in mehrsprachigen Familien“ skizziert. Anschließend werden ausgewählte Vor‐ lesesituationen mit parallel mehrsprachigen Bilderbüchern analysiert. - 3.1 Studie „Mehrsprachige Bilderbücher in mehrsprachigen Familien“ Für die Durchführung der Studie wurde eine Bücherkiste mit 22 mehrspra‐ chigen Bilderbüchern zusammengestellt. Dabei wurden unterschiedliche Reali‐ sierungsformen der Mehrsprachigkeit im Buch berücksichtigt. Folgende parallel zweisprachig deutsch-russische Bilderbücher befanden sich in der Bücherkiste 2 : ● Abbatiello, Antonella (2012). Das Allerwichtigste. Самое важное. München: Edition bi: libri. ● Bauer, Jutta (2013). Die Königin der Farben. Королева цветов . Pulheim: SchauHoer-Verlag ● Hesse, Lena (2018). Kikeriki-Was? Кукареку-Что? München: Edition bi: libri. ● Kuhlmann, Torben (2018). Lindbergh. Die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus. Линдберг. Невероятная история летающего мышонка. München: Edition bi: libri. Die an der Studie teilnehmenden mehrsprachigen Familien bekamen die Bü‐ cherkiste für mehrere Wochen zur Verfügung gestellt und wurden gebeten, mindestens fünf Bücher gemeinsam zu lesen und diese Vorlesesituationen mit einem Diktiergerät zu dokumentieren. Auf Videoaufnahmen wurde bewusst verzichtet, um den natürlichen Verlauf der untersuchten Situation möglichst wenig zu beeinflussen. Um die familiale Vorlesesituation in ihrer Gesamtheit zu erfassen, wird in der Studie eine ethnographische Forschungsstrategie verfolgt. Zum Datenkorpus der Studie gehören die Gedächtnisprotokolle der 228 Svetlana Vishek <?page no="229"?> Forscherin zu Begegnungen mit den Familien, Interviews mit Eltern und mit Kindern sowie Audioaufnahmen von familialen Vorlesegesprächen. Die Vorlesegespräche wurden mit Hilfe der ethnographischen Gesprächsanalyse nach Deppermann (2000) analysiert. Andere Daten wurden in einer dichten Beschreibung (Geertz 1994) zusammengefasst und als ethnographisches Wissen in den Analysen von Rezeptionsprozessen berücksichtigt. Insgesamt haben sechs Familien mit unterschiedlichen sprachlichen Profilen an der Studie mitgewirkt. Im Rahmen der Erhebung wurden 51 Vorlesesituati‐ onen erfasst. 13 davon fanden mit den oben genannten parallel mehrsprachigen Bilderbüchern statt. Die deutsch-russischen Bilderbücher wurden in jeder Fa‐ milie für das Vorlesen ausgewählt, unabhängig davon, ob in der Familie nur Russisch oder nur Deutsch gesprochen wird, oder ob mehrere Sprachen für die Kommunikation genutzt werden. Tab. 1: Sprachliche Ausrichtung der Vorlesesituationen mit parallel mehrsprachigen Bilderbüchern In Tabelle 1 wird ersichtlich, dass in den meisten Familien parallel mehrspra‐ chige Bilderbücher nur in einer Sprache (Russisch - R oder Deutsch − D) vorgelesen wurden. Lediglich in drei Vorlesesituationen wurde die parallele Zweisprachigkeit des Textes aufgegriffen, sodass das Vorlesen in zwei Sprachen parallel stattfand (D/ R). Interessant ist, dass dies nur auf die Familien zutrifft, in denen auch im Familienalltag mehrere Sprachen aktiv genutzt werden. Das Vorlesegespräch fand dagegen seltener in nur einer Sprache statt. Die Dialoge zwischen den Kindern und ihren Eltern tragen oft Spuren ihrer lebensweltli‐ chen Mehrsprachigkeit. Meist sind es einzelne Wörter oder Sätze, für die die Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 229 <?page no="230"?> 3 Die Transkripte wurden in Anlehnung an GAT 2 (Selting et al. 2009) angefertigt. Die Transkriptionslegende ist im Anhang des Beitrags zu finden. 4 Alle Namen wurden pseudonymisiert. Sprecher: innen von einer in die andere Sprache wechseln (R/ D oder D/ R). In einzelnen Fällen ist die Mehrsprachigkeit des Vorlesegesprächs dadurch gegeben, dass der vorlesende Elternteil mit dem Kind Russisch spricht und das Kind ihm auf Deutsch antwortet (z. B. Familie E). Die Art und der Umfang des Sprachwechsels hängen sehr stark vom individuellen Sprachrepertoire sowohl der beteiligten Kinder als auch von dem der Eltern ab. Im Folgenden werden drei Vorlesesituationen vorgestellt (in Tabelle 1 her‐ vorgehoben), die Einblicke in die Vielfalt der individuellen Umgangsweisen der mehrsprachigen Rezipient: innen mit der parallelen Mehrsprachigkeit im Bilderbuch geben. Zunächst wird die jeweilige Familie kurz vorgestellt und auf die wichtigsten Besonderheiten ihres Sprachrepertoires eingegangen. Danach wird das jeweilige Bilderbuch bezüglich der Handlung und der sprachlichen Gestaltung skizzenhaft beschrieben. Im Anschluss werden die Vorlesesituati‐ onen im Hinblick auf die eingangs gestellten Fragen rekonstruiert. Auf Basis der Analyse von Form-Funktionszusammenhängen der Gesprächsbeiträge wäh‐ rend des Vorlesens werden Gesprächsthemen rekonstruiert und Rückschlüsse auf die gemeinsamen und individuellen Handlungszwecke der Gesprächsteil‐ nehmenden gezogen (vgl. Deppermann 2000). Diese Darstellung wird durch Transkriptionsauszüge veranschaulicht. Die Vorlesesituationen sind von wie‐ derholten Sprachwechseln zwischen Russisch und Deutsch gekennzeichnet. In den Transkriptausschnitten 3 wird das Gesprochene zur besseren Lesbarkeit nur in deutscher Sprache dargestellt. Die aus dem Russischen übersetzten Passagen werden kursiv und die vorgelesenen Passagen im Fettdruck gesetzt. - 3.2 Vorlesesituationen 3.2.1 Familie B und Lindbergh. Линдберг von Torben Kuhlmann Familienportrait Diese Vorlesesituation findet in einer in Dresden lebenden russischsprachigen Familie statt. Vater Kolja 4 ist als Flugzeugingenieur vor Jahren nach Deutschland ausgewandert. Sohn Igor ist 8 Jahre alt und wurde in Deutschland geboren. Sowohl der Vater als auch der Sohn beherrschen Deutsch auf einem hohen Ni‐ veau, Zuhause wird allerdings überwiegend Russisch gesprochen. Im Interview betont der Vater, dass der Erhalt der russischen Sprache bei seinen Kindern 230 Svetlana Vishek <?page no="231"?> für ihn sehr wichtig ist. Deshalb wird in der Familie viel vorgelesen und zwar ausschließlich auf Russisch. Das Vorlesen auf Deutsch empfindet der Vater als unangenehm, weil er sich seiner akzentbehafteten Aussprache bewusst ist und sich beim Vorlesen dementsprechend nicht wohlfühlt. Das Bilderbuch Das Bilderbuch handelt vom Abenteuer einer ungewöhnlichen Maus, die von dem Wunsch getrieben ist, die gefährlich gewordene Umgebung zu verlassen und dafür einen Flugapparat entwickelt. Am Ende geht ihr Traum in Erfüllung: Eines Tages verlässt die Maus mit ihrem Flugzeug ihr Versteck in Hamburg und landet schließlich in New York. Der Vergleich zwischen der Originalfassung des Textes und deren Überset‐ zung bringt spannende Erkenntnisse: Schon beim Untertitel fällt auf, dass der Ausdruck „abenteuerliche Geschichte“ nicht wortwörtlich übersetzt wurde. Obwohl das Wort „abenteuerlich“ auch eine wortgetreue Entsprechung im Rus‐ sischen hat, entscheidet sich der Übersetzer Evgeni Vishnevski für die Bezeich‐ nung „невероятная история“, was auf Deutsch mit „unglaubliche Geschichte“ übersetzt werden kann. Vergleicht man die Kapitelüberschriften, so lassen sich weitere Nuancen entdecken. So wird z. B. die Überschrift „Mit knapper Not“ mit der russischen Redewendung „Um Haaresbreite am Tod vorbei“ übersetzt. Für die kreative Wortschöpfung „Flugmaus“ hat der Übersetzer ein anderes Kompositum erfunden: „Mauschine“ (russ. мышина). Diese Beispiele verdeutlichen, dass der deutschsprachige Text und seine Übersetzung ins Russische semantische Unterschiede aufzeigen, welche Irritati‐ onspotential besitzen und damit weitere Deutungsspielräume eröffnen. Folglich kann ein bewusstes Vergleichen der zwei Textteile im parallel mehrsprachigen Bilderbuch die Aufmerksamkeit für die ästhetische Wirkung der sprachlichen Gestaltung in einer literarischen Erzählung schärfen und damit auch den literarischen Genuss intensivieren. Darin kann ein besonderes Potential des mehrsprachigen Erzählens in einem parallel mehrsprachigen Bilderbuch be‐ stehen. Ob dieses Potential in einer Vorlesesituation auch seine Entfaltung findet, hängt davon ab, inwiefern es von den Rezipient: innen erkannt und aufgegriffen wird, wie die folgende Vorlesesituation zeigt. Das Vorlesen Das Vorlesen in Familie B gestaltet sich als ein sehr interaktiver Prozess. Fast bei jeder Seite wird kurz innegehalten, um sich über die Geschichte auszutauschen. Die Interaktionsanlässe sind vielfältig. Dazu gehören das Herstellen von Paral‐ lelen zwischen der Welt des Protagonisten und der Welt des zuhörenden Kindes, Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 231 <?page no="232"?> die höreraktivierenden Fragen des Vaters und das gemeinsame Betrachten von textlosen Doppelseiten. Besonders intensiv ist der Austausch zum Handlungsort Hamburg. Immer wieder benennt der Vater auf den Bildern erkannte Orte, wie z. B. die Landungsbrücken. Im Gespräch werden häufig Personen aus dem Bekanntenkreis der Familie genannt, die offensichtlich in Hamburg wohnen. Die längsten Interaktionssequenzen ergeben sich jedoch beim Vorlesen des abschließenden Teils des Bilderbuches, in dem die wichtigsten Persönlichkeiten der Luftfahrtgeschichte vorgestellt werden. Wiederholt stoppt der Vater beim Vorlesen dieses Teils und reichert die im Bilderbuch knapp gehaltenen Texte mit eigenen ausführlichen Erläuterungen zu dem einen oder anderen Detail an. Wie bereits erwähnt, finden sowohl das Vorlesen als auch das Vorlesege‐ spräch überwiegend auf Russisch statt. Doch an einigen wenigen Stellen wird auch die Mehrsprachigkeit der Rezipienten sichtbar. Zum Beispiel, als der Vater versucht, die plattdeutsche Aussprache vorzuführen: <<betont plattdeutsch> hamburch (--) moin moin moin> oder auch, als die deutschsprachigen Schriftzüge auf den Bildern vorgelesen werden, die als Bestandteil der Illustration keine russischsprachige Übersetzung haben. Der deutschsprachige Ausgangstext findet dagegen zu keinem Zeitpunkt Beach‐ tung. Die Rezeption des parallel zweisprachigen Bilderbuches Lindbergh in dieser deutsch-russischen Familie ist durch eine Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten für Erinnerungen und Interessen sowohl für den vorlesenden Vater als auch für den zuhörenden Sohn gekennzeichnet. Der Bezug zum Handlungsort Hamburg und der berufliche Hintergrund des Vaters als Flugzeugingenieur sind die tragenden Säulen der Interaktion während des Vorlesens. Die Zweisprachigkeit des Buches wird in den Vorlesegesprächen dagegen kaum thematisiert. Doch erst das Vorhandensein des russischsprachigen Textes in diesem Bilderbuch macht das Vorlesen der Geschichte für den Vater überhaupt attraktiv, da er das Vorlesen von deutschsprachigen Bilderbüchern bewusst vermeidet. Somit schafft die parallele Zweisprachigkeit dieses Bilderbuches eine wichtige Bedin‐ gung für das Zustandekommen dieser Vorlesesituation. Für die imaginative Vergegenwärtigung der Geschichte spielt sie dagegen keine Rolle. Viel mehr ermöglichte die Kombination des russischsprachigen Textes mit den Illustra‐ tionen, die den Handlungsort als einen deutschsprachigen Raum beschreiben, eine Vergegenwärtigung von prototypischen Alltagserfahrungen der mehrspra‐ chigen Rezipienten. In dieser Kombination zwischen Text und Bild wird die Vernetzung zwischen der Familiensprache Russisch und dem deutschsprachigen Lebensumfeld der Familie widergespiegelt, was die Erfahrungshaftigkeit der Geschichte für die Rezipierenden möglicherweise intensiviert. 232 Svetlana Vishek <?page no="233"?> 5 Die Namen wurden durch Pseudonyme ersetzt. 3.2.2 Familie D und Die Königin der Farben. Королева цветов von Jutta Bauer Familienportrait An dieser Vorlesesituation sind drei Personen beteiligt: Julius (8), Kristian (10) und deren Mutter Olga. 5 Olga und ihr Mann sind vor ca. 20 Jahren als sogenannte Russlanddeutsche nach Deutschland eingewandert. Ihre beiden Söhne sind in Deutschland geboren. In der Familie wird sowohl Russisch als auch Deutsch gesprochen. Für die Kommunikation mit ihren Eltern bevorzugen die Kinder die deutsche Sprache, weshalb die Mutter sich große Sorgen macht und um den Erhalt der russischen Sprache ihrer Söhne bemüht ist. Dafür nutzt sie unter anderem auch russischsprachige Medien. Das Bilderbuch Im Bilderbuch geht es um die Königin Malwida und ihre Untertanen Blau, Rot und Gelb. Nacheinander befiehlt Malwida das Blau, das Rot und das Gelb zu sich, und jede Farbe huldigt ihr auf eigene Weise (vgl. Bauer 2013). Die ausdrucksstarken Illustrationen dominieren die Erzählung. Der Text ist auf das Notwendigste reduziert und umfasst maximal zwei Sätze pro Doppelseite. Die russische Übersetzung ist unter dem deutschen Text zu lesen. Das Vorlesen Der Einstieg in die Vorlesesituation ist durch mehrere Aushandlungsprozesse gekennzeichnet. In erster Linie geht es um die Auswahl des Buches. Dabei ist die Wahlentscheidung kaum von inhaltlichen oder gestalterischen Qualitäten der Bilderbücher bestimmt. Die Entscheidung über die Vorlesesprache, die direkt durch das jeweilige Buch vorgegeben wird, wird zum Dreh- und Angelpunkt der Aushandlung. Es kommt zu Divergenzen zwischen dem Wunsch der Kinder, auf Deutsch vorgelesen zu bekommen, und dem Wunsch der Mutter, auf Russisch vorzulesen. Die Mutter schafft durch ihre starke Favorisierung der russischen Vorlesesprache eine Zugehörigkeitsbzw. Nichtzugehörigkeitsadressierung, indem sie immer wieder betont: „auf deutsch könnt ihr doch selber lesen“ und damit die russische Sprache als die einzige gemeinsame Vorlesesprache indiziert. Sohn Kristian verdeutlicht jedoch, dass er nur dann am Vorlesen teilnimmt, wenn auf Deutsch vorgelesen wird. Die Situation entspannt sich, als Olga herausfindet, dass das von Kristian ausgesuchte Bilderbuch Die Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 233 <?page no="234"?> Königin der Farben zweisprachig ist. Das Vorlesen beginnt mit der folgenden Sequenz (Tab. 2): K eines morgens trat malwida die königin der farben vor ihr schloßtor M eines morgens trat malwida die kö (-) die königin der farben vor ihr schloßtor (-) schaut hier gibt es noch keine farben K <<engagiert zustimmend> ja (-) keine> <<laut rufend> blAU> sie rief ihre untertanen M sie rief ihre untertanen K das blau kam M das blau kam Tab. 2: Transkriptauszug Seite für Seite werden die Texte zuerst von Kristian auf Deutsch und dann von der Mutter auf Russisch vorgelesen. Die Mutter lacht immer wieder und kommentiert die Bilder. Kristian liest sehr engagiert vor und geht auf die Kommentare der Mutter ein, entweder mit einem kurzen Lachen oder mit einem bestätigenden Nachsprechen in russischer Sprache. Nach kurzer Zeit beginnt Julius, der jüngere Sohn, zu protestieren: „mama (-) es ist langweilig wenn du dann (-) so wie nachsprichst“. Unbeeindruckt lesen Kristian und die Mutter weiter in der gleichen Weise vor. Wenig später wiederholt Julius: „mama (-) es ist so langweilig (-) wenn kristian auf deutsch liest und dann sprichst du noch nach“. Kristian und Olga lesen weiter. Julius ist hörbar genervt: „<<f> nein (-) LASS das>“. Das Vorlesen geht jedoch unverändert weiter. Julius resigniert und wiederholt nur noch leise vor sich hin: „langweilig (-) langweilig (-) langweilig“. Ungefähr in der Mitte des Buches sagt Olga zu Kristian: „jetzt lese ich auf deutsch und du auf russisch“. Kristian meint nur „ok“ und legt los. Er liest flüssig und sehr aufmerksam. Nach zwei Seiten kommt wieder Julius mit der Bitte: „<<fragend> mama (-) kannst du bitte NUR auf russisch oder auf deutsch lesen>“. Olga fragt dann Kristian, in welcher Sprache er weiterlesen möchte. Dieser antwortet: „auf deutsch“ und liest dann das Buch alleine zu Ende vor. In dieser Vorlesesituation zeigt sich, dass die parallele Zweisprachigkeit des Bilderbuches von den Rezipient: innen unterschiedlich aufgenommen wird. 234 Svetlana Vishek <?page no="235"?> Kristian und seine Mutter beteiligen sich an dem mehrsprachigen Vorlesen hörbar gern. Es fällt auf, dass sich sogar die Positionierungen von Kristian und seiner Mutter in Bezug auf die Vorlesesprache im Verlauf der Vorlesesituation ändern. Obwohl Kristian am Anfang das Vorlesen auf Russisch vollkommen ausgeschlossen hat, wechselt er beim Vorlesen ohne Widerstand ins Russische, als seine Mutter ihn dazu bewegt. Auch die Mutter liest trotz ihrer starken Priorisierung der russischen Sprache auf Deutsch vor. Somit erweist sich das zweisprachige Buch an dieser Stelle als ein Medium, das die Notwendigkeit re‐ lativiert, sich auf nur eine Vorlesesprache festlegen zu müssen. Die Möglichkeit eines spontanen Sprachwechsels wird an dieser Stelle zu einem Kompromiss zwischen den unterschiedlichen sprachlichen Präferenzen der Beteiligten. Doch im Gegensatz zu Kristian empfindet sein jüngerer Bruder Julius, der an der Vorlesesituation nur zuhörend beteiligt ist, das zweisprachige Vorlesen als langweilig, ja kaum aushaltbar. Dies könnte darauf hindeuten, dass mehrmaliges Vorlesen desselben Inhaltes ihn beim Imaginieren stört. An dieser Stelle wird auch die Grenze der parallelen Mehrsprachigkeit deutlich. 3.2.3 Familie F und das Bilderbuch Kikeriki-Was? Кукареку-Что? von Lena Hesse Familienportrait Diese Vorlesesituation fand in einer Familie statt, in der vier Sprachen im Alltag gesprochen werden. Die Mutter kommt aus Indonesien, der Vater aus Russland. Ihre beiden Töchter (7 und 5 Jahre alt) sind in Deutschland geboren. Die Mutter spricht mit den Kindern indonesisch, der Vater spricht mit ihnen Russisch, die Kinder unterhalten sich untereinander meist auf Russisch oder auch auf Deutsch. Die Eltern sprechen miteinander Englisch. Beide Töchter können bereits lesen, sowohl in Russisch als auch in Deutsch. Das Bilderbuch Das Buch Kikeriki-Was? Кукареку-Что? handelt von einer Tiergeschichte, die sich in einer Großstadt abspielt. Der Hahn ist gerade vom Land in die Stadt gezogen und kräht nun jeden Morgen auf seinem Balkon. Seine Nachbarn - Ente, Esel, Hund, Ratte und Maus - wundern sich: „Kikeri-was? ! Was ruft er da bloß immer? “ (vgl. Hesse 2018). Am Ende löst sich das Rätsel: Kikeriki bedeutet dasselbe wie „quak-quak“, „piep-piep“ oder „wau-wau“. In diesem Bilderbuch ist Mehrsprachigkeit das zentrale Thema, das auf der Ebene der Tiersprachen erzählt wird. Die parallel zweisprachige Ausgabe eröffnet eine weitere Facette dieser Thematik: Obwohl Tiere überall auf der Welt ähnliche Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 235 <?page no="236"?> Tierlaute produzieren, werden sie in den verschiedenen Menschensprachen unterschiedlich wiedergegeben. So macht die Ente beispielsweise im Russischen „krja-krja“. „Quak-quak“ macht im Russischen der Frosch. Das Vorlesen Das Bilderbuch wurde von den Kindern zum Vorlesen ausgewählt. Dabei liest die jüngere Schwester den Titel auf Russisch vor: „kukareku“. Die ältere Schwester korrigiert sie: „nein (-) kukareku UND kikeriki“. Danach öffnet sie das Buch und fragt ihren Vater „<<fragend> soll ich zuerst auf russisch oder auf deutsch vorlesen>“. „wie du willst“, antwortet der Vater. Die Tochter beginnt auf Russisch vorzulesen, obwohl der russischsprachige Text auf der Seite unter dem deutschsprachigen Text platziert ist. Nachdem sie den deutschsprachigen Text auf der ersten Doppelseite zu Ende gelesen hat, blättert sie um und verkündet: „Jetzt lese ich wieder auf Deutsch und dann aber zweimal auf Russisch“. Offensichtlich meint sie mit dem „zweimal auf Russisch“ die Reihenfolge des Vorlesens der russischsprachigen Textteile. Sie gestaltet flexibel ihren Sprachwechsel beim Vorlesen, als ob sie damit auch Muster bildet: Russisch - Deutsch, Deutsch - Russisch, Russisch - Deutsch, und auf diese Weise mit der zweisprachigen Parallelität spielt. Während die Tochter vorliest, wird an einigen Stellen deutlich, dass sie beim Vorlesen sowohl den russischen als auch den deutschen Text gleichzeitig im Blick hat, wie z. B. beim Vorlesen der ersten Doppelseite. Im ersten Satz des deutschen Textes steht, dass das Huhn den Balkon seiner Wohnung im ersten Stock betrat. An dieser Stelle macht das Mädchen eine Pause und stellt auf Russisch irritiert fest, dass in der russischsprachigen Version „im zweiten Stock“ steht. Daraufhin erklärt der Vater, dass die Etagen im Russischen anders gezählt werden, denn der Begriff „Erdgeschoss“ existiert im Russischen nicht. An einer weiteren Stelle, auf der nächsten Doppelseite, wundert sich das Mädchen, warum am Ende der zweiten Zeile nach dem Wort „Kakao“ im deutschen Text „bestellt“, und im Russischen „Осёл“, also „Esel“ steht. Der Vater erklärt ihr kurz, dass es wegen der unterschiedlichen Satzstruktur so ist. Diese immer wieder beim Vorlesen entstehenden Irritationen, die das Mädchen bei selbstständigem Kontrastieren beider Texte verbalisiert, sind die Auslöser für den Austausch zwischen ihr und ihrem Vater bezüglich der strukturellen Besonderheiten der beiden Sprachen sowie bezüglich der kulturellen Besonderheiten, die mit den jeweiligen sprachlichen Räumen verbunden sind. Doch es ist nicht erkennbar, ob dieser Austausch zur Intensivierung der ästhetischen Wahrnehmung der 236 Svetlana Vishek <?page no="237"?> Geschichte beiträgt, denn mit diesen Interaktionen werden die für die literari‐ sche Erzählung des Buches weniger bedeutsamen Aspekte fokussiert. Interessanterweise wird die Thematik der Mehrsprachigkeit, die im Fokus der Handlung steht, im Vorlesegespräch zwischen Tochter und Vater an keiner Stelle aufgegriffen. Dagegen spielt die mehrsprachige mediale Beschaffenheit des Buches eine wichtige Rolle im Vorlesedialog. 4 Resümee Die drei vorgestellten Vorlesesituationen stehen exemplarisch für die jeweils unterschiedlichen individuellen Umgangsweisen der mehrsprachigen Rezip‐ ierenden mit parallel mehrsprachigen Bilderbüchern. Es zeigt sich, dass die parallele Zweisprachigkeit der Bilderbücher in erster Linie als ein Angebot der Vorlesesprache aufgegriffen wurde: ● In der ersten Vorlesesituation bedingt das Vorhandensein der russischen Sprache das Zustandekommen des Vorlesens, denn der Vater schließt das Vorlesen auf Deutsch vollkommen aus. ● In der zweiten Vorlesesituation fungiert die Zweisprachigkeit des Bilder‐ buches als Ausgleich der unterschiedlichen Präferenzen bezüglich der Vorlesesprache. Die Möglichkeit, beide Sprachen für das Vorlesen zu nutzen, relativiert die Notwendigkeit, sich nur auf eine Vorlesesprache festlegen zu müssen. ● Die dritte Vorlesesituation zeigt auf, wie das vorlesende Mädchen die eigene Fähigkeit, in beiden Sprachen vorlesen zu können, auslebt, und spielerisch mit dem Sprachwechsel beim zweisprachigen Vorlesen umgeht. Dabei orientiert sie sich beim Wechsel der Vorlesesprache nicht an der Reihenfolge der Sprachen, die im Bilderbuch vorgegeben ist (zunächst Deutsch, dann Russisch), sondern entwickelt einen eigenen Zugriff (Russisch - Deutsch - Deutsch - Russisch - Russisch - Deutsch). Damit wird deutlich, dass die parallele Mehrsprachigkeit trotz ihrer Binarität, Möglichkeiten für die mehrsprachigen Rezipient: innen eröffnet, die Vorlese‐ situationen flexibel, entsprechend ihres individuellen Sprachrepertoires zu gestalten. Hier zeigt sich, dass die eingangs vermutete einschränkende Wirkung sprachlicher Anrufungen von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern relativiert werden muss. Die sprachliche Ausrichtung der jeweiligen Vorlesesituation wird weniger vom Bilderbuch bestimmt, als vielmehr von dem an der Vorlesesituation beteiligten Elternteil und seinen sprachlichen Einstellungen. Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 237 <?page no="238"?> Gleichzeitig werden in der Rekonstruktion der vorgestellten Situationen auch Chancen und Grenzen der parallelen Zweisprachigkeit als literar-ästhetisches Angebot sichtbar: ● So verweben sich in der ersten Vorlesesituation mit dem Bilderbuch Lind‐ bergh die russische Vorlesesprache und der deutschsprachige Handlungsort zu den Alltagserfahrungen der Rezipienten, die die imaginative Vergegen‐ wärtigung der literarischen Geschichte für sie intensiviert. ● In der zweiten Vorlesesituation wird deutlich, wie das parallel zweisprachige Vorlesen vom nur zuhörenden Sohn als störend empfunden wird, denn es scheint für ihn eine unnötige Wiederholung der Geschichte zu sein. Doch interessant ist, dass diese sprachliche Parallelität seinen vorlesenden Bruder nicht daran hindert, sich an der Vorlesesituation mit Vergnügen zu beteiligen. Er genießt die durch die Aufteilung der Vorlesesprachen bedingte vorlesende Interaktion mit seiner Mutter. ● Auch in der dritten Vorlesesituation mit dem Bilderbuch Kikeriki-Was? ist das Kind als die Vorleserin aktiv beteiligt. Dabei führt die parallele Mehr‐ sprachigkeit im Moment der Rezeption mehr zum subjektiven ästhetischen Erleben als die literarische Geschichte selbst. Die beiden letzten Beispiele deuten darauf hin, dass das parallel zweisprachige Vorlesen als performativer Zugang auch eine Chance zum ästhetischen Erleben von Mehrsprachigkeit anbietet: Das laute Vorlesen ermöglicht stimmliches Ertasten von Sprache, die Wahrnehmung des spezifischen Klanges, der Intona‐ tionsmuster und Lautfolgen (vgl. Kertz-Welzel/ Comploi 2018). Weiterhin zeigt sich, dass das Vorhandensein eines Textes parallel in meh‐ reren Sprachen sprachreflexive Potentiale aufweist, die erst durch den Vergleich des Originaltextes mit seiner Übersetzung entstehen. Die semantischen Un‐ terschiede sensibilisieren für die sprachliche Ausdruckskraft sowie für die Verflechtung der Sprachen mit den jeweiligen Kulturräumen. Doch nicht immer führen diese Sprachvergleiche auch zur Intensivierung des literarischen Verstehens (wie die Vorlesesituation in der Familie F zeigt). Nur wenn diese Kontrastierung zur Entdeckung neuer Deutungsmöglichkeiten der literarischen Texte beitragen kann (wie die kurze Analyse des Bilderbuches Lindberg zeigt), weist sie auch literar-ästhetische Potentiale auf. Jedoch scheint die Entdeckung dieser keine Selbstverständlichkeit zu sein. In didaktischen Kontexten könnten dafür gezielte Impulse gegeben werden. Die vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass ein parallel mehrsprachiges Bilder‐ buch durchaus neue Möglichkeiten für die sprachliche Gestaltung von Vorlese‐ situationen in mehrsprachigen Familien eröffnet. Jedoch ließe sich durch die 238 Svetlana Vishek <?page no="239"?> 6 Die Kritik betrifft nicht alle parallel mehrsprachigen Bilderbücher. Die parallel mehr‐ sprachigen Ausgaben des Baobab Verlages dürften hier beispielsweise eine Ausnahme darstellen, da das Vorhandensein des Originaltextes in diesen Bilderbüchern als Teil der kulturellen Ästhetik des Ursprungslandes angesehen werden kann. Beispiele die Kritik bestärken, dass es sich um ein eher pädagogisch, vielleicht auch (sprach)politisch und weniger ästhetisch motiviertes Medium 6 handelt. Es ist zu vermuten, dass integrativ mehrsprachige Bilderbücher, die das Spiel mit Sprachenvielfalt als künstlerische Verwendung von Sprache aufgreifen, mehr Anknüpfungspunkte für mehrsprachige Lebensrealitäten bieten, was sich in familialen Vorlesesituationen zeigen könnte. Eine empirische Untersuchung der Rezeption von integrativ mehrsprachigen Bilderbüchern im deutsch-russischen Kontext wäre daher durchaus lohnenswert, war zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht möglich, da es hierfür schlichtweg kein Angebot auf dem deutschen Büchermarkt gibt. Transkriptionslegende akZENT Fokusakzent (-) kurze geschätzte Pause von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer (--) mittlere geschätzte Pause v. ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer <<hustend>> sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse mit Reichweite Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern 239 <?page no="240"?> Literatur Abbatiello, Antonella (2012). Das Allerwichtigste. Самое важное. München: Edition bi: libri. Anadolu Verlag (2013). https: / / www.anadolu-verlag.de/ UEber-uns/ (letzter Zugriff: 05.03.2023). Baobab Books (2023). https: / / www.baobabbooks.ch/ fileadmin/ PDF_JPG/ Baobab_Leitbil d.pdf (letzter Zugriff: 16.08.2023). Bauer, Jutta (2013). Die Königin der Farben. Королева цветов. 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Based on three picturebook stories by Tomi Ungerer, translingual and multimodal storytelling in the form of creative songwriting and musical performance was used in a digital transmedia creation to enable bilingual student teachers to collaboratively develop an engaging pedagogical me‐ dium for French-German creative literacy instruction in bilingual primary school classrooms. Keywords: Picturebooks, multilingual storytelling, multimodal storytelling, multilite‐ racies, digital transmedia creation, bilingual education, biliteracy acquisi‐ tion, Tomi Ungerer, bilingual creativity 1 Einleitung Mehrsprachige Kinderliteratur, die einen multimodalen Leseprozess initiiert, stellt ein bereicherndes pädagogisches Medium für den Erwerb von Literarität und Literalität im Kontext der mehrsprachigen Bildung dar (Bland 2020; Daly <?page no="244"?> et al. 2018; Ellis 2016; Gawlitzek/ Kümmerling-Meibauer 2013; Hélot et al. 2014; Mour-o 2015; Ommundsen et al. 2021; Wieler 2014, 2018). Der wissen‐ schaftliche und pädagogische Umgang mit mehrsprachiger Kinderliteratur und ihre experimentelle Erforschung an der Universität (Hartmann 2022; Hartmann/ Hélot 2021) spielt daher eine wesentliche Rolle für die berufliche Entwicklung von (bilingualen) Lehramtsstudierenden. Sprachliche Mediation, Erwerb metasprachlicher Kompetenzen, Literalisierung in zwei Sprachen - viele für den zweisprachigen Unterricht relevante Themen werden im didaktisch-me‐ thodischen Arbeiten mit mehrsprachiger Kinderliteratur in der bilingualen Lehrer: innenbildung gebündelt (Hartmann 2020a, 2022; Hartmann/ Hélot 2021). Die Entdeckung der pädagogischen Potentiale mehrsprachiger Bilderbücher, die vielfältige Erzählsituationen und -prozesse darstellen, kann Lehramtsstudie‐ rende dazu bewegen, neue pädagogische Ansätze für die Literalisierung und Literarisierung mehrsprachiger Lernender zu entwickeln, die literarische (Hélot et al. 2014) und ästhetisch-performative (Mentz/ Fleiner 2018) Perspektiven kombinieren. Des Weiteren hat die Forschung zum kreativen Schreiben und Erzählen gezeigt, dass die Literarisierung auch im Rahmen der universitären Lehrkräf‐ teausbildung in hohem Maße von der kollaborativen Praxis literarischer Aus‐ drucksformen für die Entwicklung kreativer Fähigkeiten (Healey 2013, 2015; Woods 2001) und imaginativer Handlungsfähigkeit (Anae 2014; Harper/ Kroll 2007; Munden 2013) profitiert. Lehramtsstudierende zum Erzählen von Ge‐ schichten anzuregen bedeutet nicht nur, künstlerische Erfahrungen mit der Materialität von Sprache zu ermöglichen (Vandermeulen 2011), sondern auch die Entwicklung der sprachlichen, kulturellen und beruflichen Identität der Lehramtsstudierenden durch kreative Formen des Selbstausdrucks zu fördern, die als Autoethnographien gelesen werden können (Bochner/ Ellis 2016; Spry 2011). Die Storytelling-Performance als künstlerisches Ergebnis dieser Erfahrung kann als pädagogische Ressource zur Förderung der Multiliterarität junger Lernender dienen (Bull/ Anstey 2019; Cope/ Kalantzis 2000, 2009; Hartmann 2022) und ermöglicht es Lehramtsstudierenden, Autonomie, Kreativität und kritisches Denken bei der Produktion von anregendem Lernmaterial zu ge‐ winnen. Darüber hinaus kann die Entdeckung der pädagogischen Potenziale des multilingualen und multimodalen Erzählens die Lehramtsstudierenden dazu anregen, neue pädagogische Ansätze für die Literarisierung in mehrsprachigen Klassen unter Verwendung von Kinderliteratur zu entwickeln. In der hier vorgestellten Studie wurde kreatives Songwriting und musikali‐ sche Performance im Rahmen einer digitalen Transmedia-Kreation als multi‐ 244 Esa Christine Hartmann <?page no="245"?> 1 Das Ergebnis dieses zweisprachigen Storytelling-Workshops kann in der Form einer digitalen Transmedia-Kreation unter folgendem Link eingesehen werden: https: / / ww w.youtube.com/ watch? v=IKKULhsZits 2 Das Adjektiv translingual bezeichnet einen Schreibprozess oder einen mehrsprachigen Text, in dem Phänomene des Code-switchings (Sprachwechsel) und des Code-mixings (Sprachmischung) vorkommen (Canagarajah 2013). Die Bezeichnung translingual wurde von dem Begriff des translanguagings (García/ Wei 2014) abgeleitet, der die natür‐ liche und individuelle Diskurspraxis mehrsprachiger Sprecher: innen kennzeichnet, die von Sprachmischung und Sprachwechsel geprägt ist. Unter pedagogical translanguaging (Cenoz/ Gorter 2021) werden pädagogische Ansätze verstanden, die den kreativen Sprachgebrauch mehrsprachiger Lernender fördern und die Praxis des translanguagings im Unterricht ermöglichen (Hartmann 2020b). modale Erzählform eingesetzt, um bilingualen Lehramtsstudierenden an der Universität Strasbourg die Möglichkeit zu geben, gemeinsam ein anspruchs‐ volles pädagogisches Medium für die deutsch-französische Literalisierung in bilingualen Grundschulklassen zu entwickeln. Der Inhalt dieser digitalen Sto‐ rytelling-Performance basiert auf drei Bilderbuchgeschichten des elsässischen Autors Tomi Ungerer. 1 Dieses Projekt wurde von folgenden Forschungsfragen geleitet: ● Welche Erkenntnisse können wir aus der Erforschung der translingualen 2 und transmedialen Genese einer Storytelling-Performance für kreative pädagogische Ansätze im mehrsprachigen Bildungskontext gewinnen? ● Welche pädagogischen Potenziale bieten translinguale und multimodale Erzählformen für den Erwerb von Mehrsprachigkeit und Mehrschriftlich‐ keit im zweisprachigen Unterricht? 2 Literarische Narrative im mehrsprachigen Kontext Aufgrund ihrer vielschichtigen Dimensionen stellen Bilderbücher eine leben‐ dige Ressource für die Literalisierung und Literarisierung bilingualer Lernender dar (Hartmann 2022; Ommundsen et al. 2021). Bilderbücher bilden einen wert‐ vollen Anreiz für kreatives Schreiben und Geschichtenerzählen im schulischen Kontext und sind gleichzeitig eine wichtige Ressource für kreatives Schreiben und multimodales Storytelling in der universitären Lehrkräfteausbildung (Hart‐ mann 2022). - 2.1 Bilderbücher als Medium für Literalisierung und Literarisierung Das Zusammenspiel von visuellen und verbalen Elementen in Bilderbüchern er‐ möglicht einen multimodalen Kompetenzerwerb (Hasset/ Curwood 2009; Küm‐ Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation 245 <?page no="246"?> merling-Meibauer 2013; Brown/ Hao 2022), der die Leserinnen und Leser zu aktiver Imagination und Bedeutungsbildung anregt und die Lesepraxis in eine ganzheitliche ästhetische Erfahrung verwandelt. Daher birgt interaktives und multimodales Erzählen von Bilderbuchgeschichten ein großes pädagogisches Potenzial für den Erwerb von Multiliteralität (Bull/ Anstey 2019; Ellis 2016; Mas‐ tellotto 2021), einer Kombination aus mehrsprachlicher, visueller und digitaler Literalität. Diese vorteilhafte multimediale Eigenschaft von Bilderbüchern kann durch multimodales Storytelling verstärkt werden, das den Erwerb visueller und verbaler Kompetenzen durch zusätzliche semiotische Elemente wie Geräusche, Gestik, Mimik, Bewegungen und Kostüme fördert. Auf der Seite der Lernenden erleichtern diese Elemente, die am Inszenierungs- und Aufführungsprozess von Bilderbuchgeschichten beteiligt sind, das Verständnis der Erzählung durch intersemiotische Mediation (Hartmann/ Hélot 2021). Die Verwandlung von Bilderbuchgeschichten in multimodale Erzählperformances durch kreatives Schreiben und Inszenieren stellt somit eine spannende pädagogische Erfahrung für zweisprachige Lehramtsstudierende dar und illustriert die performative Wende in der Literaturpädagogik (Mentz/ Fleiner 2018). - 2.2 Multimodale Narrative im mehrsprachigen Kontext Der Erwerb von Mehrsprachigkeit ist eng mit dem Multimodalitätsprinzip verbunden (Cope/ Kalantzis 2009; Jewitt 2009; Kress 2010; van Leeuwen 2017; Se‐ rafini 2010; Siegel 1995, 2006), das die nicht-linearen, interaktiven, dynamischen, visuellen und mobilen Merkmale literarischer Narrationen hervorhebt (Hasset/ Curwood, 2009). Die komplexe Dynamik, die zwischen den Versionen verschie‐ dener Sprachen (wie sie in zweisprachigen Büchern präsentiert werden), aber auch zwischen den Wörtern und Bildern, die mehrsprachige Bilderbücher zum Leben erwecken, entsteht, lädt zu sprach- und zeichenübergreifenden Leseerfahrungen ein (Hartmann/ Hélot 2021). In der Tat verweist Literalität heute nicht nur auf verbale Textkompetenzen, sondern schließt verschiedene semiotische Ausdrucksmöglichkeiten ein (Cope/ Kalantzis 2009; Jewitt 2009; Kress 2010; van Leeuwen 2017). Gemäß der Multimo‐ dalitätstheorie entsteht Bedeutung durch verschiedene Modi wie Bilder, Gesten oder Sprachen (Kress 2010; van Leeuwen 2017), die sich durch mehrere Zei‐ chensysteme hindurch bewegen, um Bedeutung zu erzeugen (Cope/ Kalantzis 2009; Siegel 1995, 2006). Dieser Prozess wird als Transmediation bezeichnet (Siegel 2006). In diesem Prozess der systemübergreifenden Bedeutungsentfal‐ tung werden verschiedene Zeichensysteme kombiniert, um „die Bedeutung 246 Esa Christine Hartmann <?page no="247"?> eines Zeichens durch ein anderes zu erweitern“ (ebd.: 69, Übersetzung EH). In einem multimodalen Storytelling-Prozess fördert die Transmediation das Textverständnis der mehrsprachigen Lernenden (Brown/ Hao 2022). - 2.3 Performative Narrative im mehrsprachigen Kontext Werden Bilderbuchgeschichten interaktiv vorgelesen, wird das visuelle und sprachliche Verständnis sowie das Hörverständnis der bilingualen Lernenden ganz besonders angeregt und somit der Spracherwerb gesteigert (vgl. ebd.). Mul‐ timodale Storytelling-Performances entwickeln einerseits die visuelle Literalität (visual literacy), d. h. das kognitive Erkennen und sprachliche Interpretieren von bildlichem Inhalt (Dehn 2019); andererseits helfen sie bilingualen Lernenden, Rhythmus, Intonation und Aussprache in L1 und L2 zu erlernen (Mastellotto 2021). Das inszenierte Vortragen von Bilderbuchgeschichten trägt folglich zur Entwicklung mündlicher Fähigkeiten, einem tieferen Verständnis von syntak‐ tischen und narrativen Strukturen (Mallan 1991) und zum lexikalischen Erwerb (Kirsch 2016) bei. Ferner kann die Anwendung verschiedener Erzählmodi die Literarität bilin‐ gualer Lernender entwickeln, indem die multimodale Darstellung struktureller Elemente von Geschichten (Figuren, Handlung, Schauplatz, Erzählperspektive) narrative Kompetenzen aufbaut und erweitert. Immersive und partizipative Geschichtenwelten, die durch verschiedene Medien vermittelt werden, regen bilinguale Lernende dazu an, Geschichten zu rezipieren, zu reproduzieren und auf transmediale Weise neu zu erfinden (Mastellotto 2021). 3 Kontext, Korpus, Design und Methode der kreativen Aktionsforschung Die durchgeführte Aktionsforschung besteht aus der Produktion einer trans‐ lingualen und multimodalen Storytelling-Performance als digitale Trans‐ media-Kreation, die den Titel Fabelhaft-Fabuleux trägt und von drei Bilderbü‐ chern Tomi Ungerers inspiriert wurde. Als wissenschaftliches Ziel wurde die didaktische Konzeption integrierter und translingualer Unterrichtsstrategien für den bilingualen Unterricht in zweisprachigen Grundschulen im Elsass angestrebt. Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation 247 <?page no="248"?> 3.1 Forschungskontext: die zweisprachige Lehrer: innenbildung Das hier vorgestellte Projekt wurde mit achtzehn zweisprachigen Lehramtsstu‐ dierenden an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Straßburg durchgeführt (N = 18). Zum Zeitpunkt der kreativen Aktionsforschung befanden sich die teilnehmenden Lehramtsstudierenden in der Mitte des ersten Jahres des bilingualen Masterstudiengangs, der auf ein dreijähriges Grundstudium in verschiedenen Fachbereichen aufbaut. Die Aktionsforschung wurde im Rahmen der Lehrveranstaltung „Didaktik der deutschen Sprache und Literatur für den bilingualen Unterricht“ durchge‐ führt. Die Arbeitssprachen der Lehrveranstaltung waren Deutsch und Franzö‐ sisch, daher wurden die beiden Sprachen in den translingualen Schreibprozess (Hartmann 2018) integriert, sodass das produzierte literarische Artefakt Phäno‐ mene des Sprachwechsels und der Sprachmischung aufzeigt. - 3.2 Das literarische Korpus: Tomi Ungerers Bilderbücher als Medium für eine digitale Transmedia-Kreation Der zweisprachige Bildungskontext im Elsass lädt besonders zur pädagogischen Auseinandersetzung mit elsässischen Kinderbuchautor: innen ein, wie z. B. Tomi Ungerer (1931-2019), dessen berühmte Bilderbücher sowohl Kinder als auch Erwachsene faszinieren. Die Sprachlichkeit der Bilderbücher Tomi Ungerers und ihre zugrunde liegende mehrsprachige Dimension sind eng mit dem Mehrsprachigkeitsver‐ ständnis und der mehrsprachigen Identität des elsässischen Bilderbuchautors verbunden (Benert 2017), der zwischen mehreren Sprachen aufwuchs. So be‐ herrschte der in Straßburg geborene Künstler nicht nur die drei Sprachen des Elsass - Französisch, Deutsch und Elsässisch -, sondern hielt sich auch lange in den Vereinigten Staaten auf, wo er sich die englische Sprache zu eigen machte. In einem Interview, das 1996 in der Revue des livres pour enfants veröffentlicht wurde, bekräftigt Tomi Ungerer nicht nur seine literarische Dreisprachigkeit, sondern auch das Prinzip der Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit (frater‐ nité), das seine drei kreativen Sprachen verbindet: Je n’ai pas de langue maternelle. J’ai simplement plusieurs langues fraternelles. D’ailleurs je suis trilingue; j’écris en anglais, en français, en allemand, et en plus, il faut ajouter l’alsacien. (Ungerer 1996: 48) Ich habe keine Muttersprache. Ich habe einfach mehrere geschwisterliche Sprachen. Ich bin übrigens dreisprachig: Ich schreibe auf Englisch, Französisch und Deutsch, und Elsässisch muss man ebenfalls hinzurechnen. (Übersetzung EH) 248 Esa Christine Hartmann <?page no="249"?> Die kommunikative und identitätsstiftende Funktion der Mehrsprachigkeit Un‐ gerers verbindet sich hier mit einem kreativen Ethos, indem Mehrsprachigkeit zu einem Postulat für literarische Schöpfung und Kreativität wird: Quand on est trilingue, on a une possibilité bien plus grande de jouer avec les mots, on peut trafiquer d’une langue à l’autre. (…) On peut s’amuser avec les langues, on peut les faire transpirer, les mettre au gril. Pour moi un coucher de soleil, je le ressens en français, en allemand, en anglais ou en alsacien, de cette façon je peux jouir de quatre couchers de soleil à la fois, au niveau astral, c’est pas mal! (ebd.: 48) Wenn man dreisprachig ist, hat man viel mehr Möglichkeiten, mit Worten zu spielen, man kann von einer Sprache in die andere wechseln (…). Man kann mit Sprachen Spaß haben, man kann sie zum Schwitzen bringen, sie auf den Grill legen. Ich kann einen Sonnenuntergang auf Französisch, Deutsch, Englisch oder Elsässisch erleben, so kann ich vier Sonnenuntergänge auf einmal genießen - auf astraler Ebene ist das nicht schlecht! (Übersetzung EH) Mehrsprachig zu sein bedeutet für Tomi Ungerer vor allem, kreativ zu sein. Mehrsprachigkeit vervielfacht nicht nur die sensorischen, kognitiven und psy‐ chologischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten oder, wie Tomi Ungerer es humorvoll formuliert, die beeindruckende Fähigkeit, „vier Sonnen‐ untergänge auf einmal zu genießen“, sie erhöht auch die schöpferische Kraft. Diese Kreativität, die sich aus der „Geschwisterlichkeit der Sprachen“ ergibt, die in Ungerers imaginärer Welt zusammenleben, wird somit zum schöpferischen Ursprung seiner Bilderbücher, die dadurch eine sprachliche Bedeutung erhalten. Vor dem Hintergrund des mehrsprachigen Schaffensprozesses des elsässi‐ schen Schriftstellers und der damit verbundenen Sprachlichkeit seiner Werke schienen uns drei Bilderbücher besonders interessant, um die intertextuelle Basis der digitalen Transmedia-Kreation darzustellen: Crictor, die gute Schlange (1958), Adelaide, das fliegende Känguru (1959) und Rufus, die farbige Fledermaus (1961). Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation 249 <?page no="250"?> Abb. 1: Drei Bilderbücher von Tomi Ungerer als Medium der digitalen Transmedia-Krea‐ tion Fabelhaft-Fabuleux (2022). Die Fabelwesen Rufus, Crictor und Adelaide verkörpern sprachliche, kulturelle und soziale Vielfalt als fröhliches Anderssein und thematisieren Diversität, Toleranz und Akzeptanz. Rufus, die Fledermaus, sieht das Leben in Schwarz und Weiß, bis er die wunderbare Welt der Farben entdeckt. Inspiriert malt Rufus seine Flügel an und erkundet das Universum des Tageslichts, bis ihm sein ungewöhnliches Aussehen Feindseligkeit und Ablehnung einbringt. Mit der Hilfe seines Freundes Dr. Arturo erholt sich Rufus schließlich von seinen Wunden, akzeptiert seine Andersartigkeit und kehrt glücklich in sein nächtliches Leben zurück. Das Känguru Adelaide wurde mit Flügeln geboren und erregte damit großes Aufsehen. Doch dank ihrer Einzigartigkeit erwartet sie ein abenteuerliches Leben: Sie folgt einem Flugzeug in den Himmel, besucht Paris, wird zum Star eines Variété-Theaters, rettet zwei Kindern das Leben und verliebt sich in ein anderes Känguru. Eines Morgens bringt der Postbote Madame Bodot ein Paket, in dem sich eine Boa Constrictor befindet. Die beiden werden beste Freunde und Crictor entpuppt sich als gute Schlange: Er bringt den Kindern das Lesen bei, spielt mit ihnen, rettet Madame Bodot vor einem gefährlichen Dieb und wird schließlich als Held der Stadt gefeiert. - 3.3 Das multimodale Design der digitalen Transmedia-Kreation Das Projekt wurde in sechs zweistündigen Seminareinheiten ( Januar bis Juni 2022) durchgeführt, die dem Verfassen des Songtexts, der Komposition der 250 Esa Christine Hartmann <?page no="251"?> Melodie, dem Einüben der Gesangsdarbietung und der Konzeption einer Cho‐ reografie gewidmet waren. Für die Produktion des musikalischen Video-Clips nahmen die Studierenden an einer dreistündigen Tonaufnahme im Tonstudio von Zweierpasch in Freiburg teil, bevor eine vierstündige Videoaufnahme in der Konzerthalle Le Grillen sowie vor Street-Art-Fresken in Colmar stattfand. Um eine ästhetisch-narrative Interaktion verschiedener semiotischer Ele‐ mente zu gestalten, wurde der kreative Schreibworkshop durch die Anferti‐ gung von drei visuellen Artefakten ergänzt, die die Bilderbuchgeschichten illustrieren: ein Aquarell für Rufus, eine Aquarell-Collage für Crictor und eine Acryl-Collage für Adelaide. Diese visuellen Kunstwerke wurden von vier Kalligraphien der Liedtexte (drei Strophen + Refrain) begleitet, die ebenfalls bei der Montage in den Clip integriert wurden. Auf diese Weise entstand ein interessantes visuelles, semiotisches und semantisches Zusammenspiel zwischen den Illustrationen der drei Bilderbuchgeschichten von Tomi Ungerer (Abb. 1), den Streetart-Fresken (Abb. 3) und der kalligraphierten Liedtexte (Abb. 4). Abb. 2: Illustration Rufus, die farbige Fledermaus © S. Gredel Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation 251 <?page no="252"?> Abb. 3: Performance des Refrains vor Streetart-Fresken in Colmar © Le Mur Colmar Abb. 4: Kalligraphierte Songtexte - 3.4 Forschungsmethode Das durchgeführte Projekt orientiert sich an der Methode der kreativen Aktions‐ forschung (Cox et al. 2021). Diese fokussiert das Erforschen kreativer Prozesse sowie den angestrebten Erwerb kreativer Kompetenzen. Dadurch analysiert dieser Forschungsansatz kreative Ausdrucksformen, die als Forschungsdaten ausgewertet und als autoethnographische Dokumente (Bochner/ Ellis 2016) interpretiert werden können. Um den kreativen Entstehungsprozess der digitalen Transmedia-Kreation zu dokumentieren, wurden alle Entwürfe und Notizen gesammelt und nach einem genetischen Ansatz (u. a. Hartmann 2018) analysiert, der die multimodale 252 Esa Christine Hartmann <?page no="253"?> und translinguale Genese der Storytelling-Performance erforscht. Die zur Er‐ forschung des Storytelling-Prozesses notwendige materielle Grundlage bestand in einem Kreativprotokoll, das alle künstlerischen Entwicklungen aufzeichnete. Zur Erstellung dieses Protokolls wählten die teilnehmenden Lehramtsstu‐ dierenden zunächst eine Projektleiterin, die für das graduelle Verfassen des Kre‐ ativprotokolls zuständig war, indem sie die verschiedenen Projektschritte sowie die Verteilung der gemeinsamen Arbeit aufzeichnete. Die teilnehmenden Stu‐ dierenden bildeten vier Gruppen: Gruppe eins war für die Bilderbuchgeschichte Crictor von Tomi Ungerer zuständig, Gruppe zwei widmete ihr kreatives Schreiben Rufus, Gruppe drei verfasste eine Strophe zu Adelaides Abenteuer und Gruppe vier entschied sich für die Arbeit am Refrain. Jede Gruppe bewahrte ihre Entwürfe der Songtexte auf und gab ihre Textproduktionen in ein gemeinsames Google-Dokument ein. Darüber hinaus erklärten sich drei Studierende bereit, die Illustrationen, Kostüme, Accessoires sowie das Make-Up zu gestalten und bewahrten ihre Notizen und Entwürfe zu dieser Tätigkeit auf einem gemeinsamen Google Doc auf. Ebenso wurden die verschiedenen Phasen der kollaborativen Textkompo‐ sition registriert und durch Screenshots festgehalten, um die Entwicklung des translingualen Songtextes zu verfolgen. 4 Forschungsergebnisse Im Kontext der literarischen Bildung wird kreatives Schreiben als ein Genre verstanden, das zur Kreation von literarischen Artefakten führt (Harper/ Kroll 2007). Dementsprechend wird der produzierte Text hier aus einer literarischen Perspektive analysiert, einschließlich einer genetischen Betrachtung der kolla‐ borativen Schreibprozesse, die die translinguale Textgenese beleuchten. - 4.1 Die transmediale Genese und ihre visuellen Symbole Die Studierenden hatten die Aufgabe, die drei Bilderbuchgeschichten Crictor, Rufus und Adelaide in eine translinguale Musikperformance zu verwandeln, die in Form eines Video-Clips veröffentlicht werden sollte. Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation 253 <?page no="254"?> Abb. 5: Projektion des Songtexts während der musikalisch-tänzerischen Performance Die Produktion des Videoclips entspricht daher einer transmedialen Genese, da sie fünf Modi in den kreativen Prozess integriert. Diese Modi wurden als symbolische Elemente in den Video-Clip eingearbeitet, um die verschiedenen Facetten der transmedialen Genese zu illustrieren und der Kreation eine refle‐ xive, metanarrative Dimension zu verleihen. So verbindet die transmediale Genese der digitalen Transmedia-Kreation 1. verbale Elemente in Form des translingualen Songtexts, der während der Aufführung an die Rückwand des Konzertsaals projiziert (Abb. 5) und in der Form von Kalligraphien am Anfang und Ende des Video-Clips integriert wurde (Abb. 4); 2. Audioelemente in Form der musikalischen Interpretation des Songtexts, wie es die Szenen der Studioaufnahme zeigen (Abb. 6); 3. visuelle Elemente wie die Illustrationen der drei Bilderbuchhelden, die in den Videoclip integriert wurden (Abb. 2); 4. gestische Elemente wie die Choreografie der Tanzperformance, die die Bedeutung des Textes durch Gestik (Abb. 7) und tänzerische Darstellung (Abb. 8) zum Ausdruck bringt, und deren Erarbeitung in der Form einer „Tanzprobe im Aufnahmestudio“ symbolisch in den Clip integriert wurde; 5. und schließlich die digitalen Medien, die die Produktion der akustischen und visuellen Elemente ermöglichten - diese werden im Clip durch ein Bild der digitalen Tonaufnahme symbolisiert - und die auch die Endfassung der digitalen Transmedia-Kreation tragen. 254 Esa Christine Hartmann <?page no="255"?> Abb. 6: Szene der Tonaufnahme im Studio Abb. 7: Gestische Interpretation des Verses: «Mein Herz schlägt gegen die Zeit» (Ade‐ laïde, 3. Strophe) Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation 255 <?page no="256"?> Abb. 8: Tänzerische Darstellung von Adelaides Flügeln: Verse «(Mais partout, on s’étonne) / De mes ailes, oui, ça détonne! » (Adelaide, 3. Strophe) - 4.2 Die Textgenese auf musikalischer Basis Das pädagogische Ziel dieser kreativen Aktionsforschung bestand darin, drei Bilderbuchgeschichten von Tomi Ungerer in ein neues literarisches Genre zu verwandeln - eine translinguale Musikperformance. Zu diesem Zweck bildeten die Studierenden vier Gruppen für kollaboratives kreatives Schreiben in den zwei Sprachen Deutsch und Französisch. Da die Studierenden die Bilderbuch‐ geschichten im vorangehenden Semester gelesen und analysiert hatten, waren sie mit dem literarischen und narrativen Inhalt der Bilderbücher vertraut. Zunächst wählten die Studierenden das Beat-Sample Anita Latina von The Gang aus, einen karibischen Reggeaton-Soundtrack mit einem La‐ tino-Rhythmus und einem regelmäßigen 4/ 4-Takt. Im nächsten Schritt ent‐ warfen sie die Gesamtkomposition des Liedes und schnitten den Soundtrack mit Hilfe eines digitalen Musikbearbeitungsprogramms. Die Gesamtkomposition des Songs umfasst drei Strophen (A1, A2, A3) und einen wiederkehrenden Refrain (B) sowie eine Bridge (C) für das Featuring von Zweierpasch, und könnte wie folgt schematisiert werden: A1 B A2 B A3 B C B. Dieser Songstruktur geht eine kurze instrumentale Einleitung voraus, während der Refrain (B) aus einem gerappten Part von Zweierpasch und einem Gesangspart der Studierenden bestand. 256 Esa Christine Hartmann <?page no="257"?> Entsprechend dieser dreifachen Liedstruktur und dem rhythmischen Takt-Muster musste jede Bilderbuchgeschichte an eine Strophe von 16 Lied‐ versen angepasst werden, wobei jede Strophe aus vier Einheiten aus jeweils vier Liedversen bestand. Dabei wurde folgende thematische Struktur gewählt: Strophe A1 erzählt die Heldentaten von Crictor, Strophe A2 evoziert die Farben von Rufus, Strophe A3 endet mit den Abenteuern von Adelaide. Um das Thema der Vielfalt musikalisch zu veranschaulichen, verkörperte jede Strophe eine einzigartige Komposition, indem sie eine individuelle Melodie annahm und Gesang- und Rap-Parts mischte, wobei die rhythmische Basis des Soundtracks unverändert blieb. Nach einem gemeinsamen Brainstorming wurde der Titel Fabelhaft-Fabuleux für die digitale Transmedia-Kreation gewählt. Anschließend begannen die vier Gruppen mit dem kollaborativen Verfassen der Songtexte, während sie den Soundtrack anhörten und versuchten, einen Rhythmus für ihre Verse sowie eine Melodie für ihre Strophen zu finden. Dieser integrierte Prozess der musikalischen und textlichen Komposition wurde in der visuellen Einleitung des Video-Clips durch die Kombination von Klavier und kalligraphierten Songtexten symbolisiert. Dieser transmediale Entstehungspro‐ zess von Text und Musik kann zu einer erhöhten Sensibilität für die Musikalität und den Rhythmus der Sprachen führen. Als sich die Komposition der Strophen in einem fortgeschrittenen Zustand befand, sangen die Studierenden sie gemeinsam und passten sie an den Rhythmus des Soundtracks an, während sie gleichzeitig eine Melodie kompo‐ nierten, die der Harmonie des Soundtracks entsprach. Manchmal passte der Text eines Liedverses nicht in den Rhythmus des Beats oder in die von den Studierenden komponierte Melodie und musste entsprechend geändert werden. - 4.3 Translinguale Dichtung: Fabelhaft-Fabuleux Während der Komposition des translingualen Songtexts machten die Mitglieder jeder Gruppe weder von Übersetzungen noch von Selbstübersetzungen Ge‐ brauch, sondern schrieben die Liedverse direkt in den beiden Sprachen Deutsch und Französisch, so dass wir von einer simultanen translingualen Genese sprechen können (Hartmann 2018). Das phonische Prinzip der Reimbildung dominierte hierbei die narrative Entwicklung der Verse, sodass eine genre-spe‐ zifische Textgenese zum Vorschein kam, die besondere Eigenschaften der Lyrikkomposition aufweist. Ein textgenetisches Merkmal der dichterischen Textkomposition ist das Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat (ebd.). Da im vorliegenden Fall die Homonymie der Reime (der Lautkörper des Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation 257 <?page no="258"?> Signifikanten) in der Textkomposition ausschlaggebend war, handelt es sich um eine lyrische Textproduktion (ebd.). Der Songtext Fabelhaft-Fabuleux kann somit als ein translinguales Gedicht betrachtet werden, das eine ausgewogene Sprachverteilung und einen regelmä‐ ßigen Sprachwechsel zwischen den Liedversen aufweist. Die in den Strophen lebendig werdende translinguale Erzählung entwickelt sich durch Reime, die den klassischen Reimschemata der Paarreime (AA BB CC), Kreuzreime (ABAB) und umarmenden Reime (ABBA) folgen. In der dritten Strophe, die Adelaide gewidmet ist, findet ein regelmäßiger Sprachwechsel statt, bei dem nach jedem Verspaar ein Code-Switching erfolgt: AA / / BB / / CC… Dieses Prinzip findet sich auch in den Versen 2-4 der zweiten Strophe wieder. In der ersten Strophe und im Refrain hingegen findet der Sprachwechsel zwischen den einzelnen Liedversen statt: A/ / A B/ / B Wenn zwischen den Verspaaren ein Sprachwechsel stattfindet (AA / / BB), sind die meisten Reime einsprachig, wie zum Beispiel in der dritten Strophe: „frei / Unabhängigkeit / / s‘étonne / détonne“ (AA / / BB). Einige inter‐ essante Konstellationen weisen dagegen translinguale Reimpaare oder trans‐ linguale dreifache Reime auf, wie „vor / Crictor / Constrictor“ (A/ / A/ / A) und „Brésil / Stil“ (B/ / B) in der ersten Strophe. Im Refrain erscheinen translinguale umarmende Reime: „gé‐ niaux / Rufus / fous / froh“ (A/ / B/ / B/ / A), wobei „Rufus / fous“ ein visueller Reim ist, da das -s am Ende des französischen Adjektivs „fous“ [verrückt] nicht ausgesprochen wird. Der letzte Vers des Refrains enthält das einzige englische Wort „fabulous“, das den Titel des Liedes widerspiegelt, und bildet somit einen dreifachen translingualen Reim: „Rufus / fous / fabulous“ (A/ / A/ / A). Des Weiteren bereichern Alliteration und Assonanz die phonische Analogie des Reimschemas. Einsprachige Alliterationen unterstreichen die Andersartig‐ keit der Fabelwesen, wie die Alliteration des konsonantischen Lauts [st] - „Stress / Stil“. Ebenso betonen translinguale Alliterationen die Kraft der Vielfalt und der Freundschaft, wie die Alliteration des Konsonanten [k]: „Kinder / com‐ portements / Kraft“ (Strophe 1). Translinguale Assonanzen unterstreichen die Akzeptanz von Rufusʼ Andersartigkeit, wie die translinguale Assonanz des Vokals [a]: „Tarturo / macht / klar / Anderssein / wunderbar / Avec / armure“ (Strophe 2). Werden Alliteration und Assonanz kombiniert, entsteht eine pho‐ nische und semantische Betonung. So wird in Strophe 2 die Alliteration des Konsonanten [w] mit der Assonanz des Vokals [a] kombiniert: „Rufus wurde langsam klar, dass seine Welt die Nacht war“. Strophe 3 zeigt eine noch reichere Kombination von Alliteration und Assonanz: „Deine / Zeit / weltweit; Wahre / weltweit, Tages/ du / Känguru / , genau / du! “ 258 Esa Christine Hartmann <?page no="259"?> Das multimodale Zusammenspiel von klanglichen, rhythmischen und ver‐ balen Elementen spielt eine wichtige Rolle bei der Textkomposition, wobei das Dichten in zwei Sprachen neue Möglichkeiten lexikalischer und phonischer Kombinationen ermöglicht. Die translinguale Poetik von Fabelhaft-Fabuleux ist reich an rhetorischen Elementen, die ein semantisches Netzwerk konstruieren und das sprachlich-thematische Universum der Bilderbücher von Tomi Ungerer unterstreichen. 5 Pädagogische Potenziale translingualer und multimodaler Narrative Die hier vorgestellte kreative Aktionsforschung, die der Entwicklung einer multimodalen Erzählform von Bilderbuchgeschichten gewidmet ist, kombiniert erstmalig zwei didaktische Ansätze - den literarischen Ansatz der Bilder‐ buchforschung und den performativen Ansatz aus der Sprachdidaktik - im deutsch-französischen Bildungskontext im Elsass. Dabei wird der kognitive und pädagogische Zusammenhang von visual literacy, Imagination und Sprachbil‐ dung erkundet. Der Erwerb von Multiliteralität impliziert das Erlernen des Lesens und Schreibens in mehreren Sprachen und in verschiedenen semiotischen Modi. Auf Kinderliteratur gestütztes translinguales und multimodales Storytelling erweist sich daher als ein wertvoller pädagogischer Ansatz für multilinguale Literalisierung. Die Durchführung von bilingualen Storytelling-Workshops an der Universität ermöglicht es Lehramtsstudierenden, ihre kreativen Kompe‐ tenzen für ihre spätere Lehrtätigkeit zu entfalten und innovative pädagogische Ansätze für das Mehrsprachen-Lehren und -Lernen in multilingualen Klassen zu entwickeln. Literatur Anae, Nicole (2014). ‚Creative Writing as Freedom, Education as Exploration‘: creative writing as literary and visual arts pedagogy in the first year teacher-education experience. Australian Journal of Teacher Education 39 (8), 123-142. Benert, Britta (2017). ‚Poethik polyglott‘: l’exemple de Tomi Ungerer. In: Aziz Hanna Patrizia Noel/ Seláf, Levente (Hrsg.). The Poetics of Multilingualism. Cambridge: Cam‐ bridge Scholar Publishing, 221-232. Bland, Janice (2020). 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German orientalist Hellmut Ritter developed Al Gurganiʼs maʼna (meaning) theory throughout Europe. In the German translation of Arabic poetry, this poetic (rhetorical) balāgha retains the lexical structure, but loses the stylistic-semantic structure and is presented as a completely normal sentence. This poses a stylistic problem in the translation of Arabic poetry into German; As an example, I give various trans-lations of the Arabic poetry Al Hamassa (Enthusiasm) by Abou Tammam translated by Friedrich Rückert (1846). My contribution focuses on the stylistics and rhetoric of literary multilingualism using the example of translations and transcriptions of Arabic prose into German. Keywords: Translation, German language, multilingualism, poetics, rhetoric, herme‐ neutics and Arabic stylistics In der arabischen Rhetorik wurde das Verhältnis zwischen „Wort“ und „Bedeu‐ tung“ von dem persischen Grammatiker, Rhetoriker und Literaturtheoriker Al-jurjānī in seinem Hauptwerk Asrār al-Balāghah („Geheimnisse der Wort‐ kunst“) stilistisch untersucht. Der Deutsche Orientalist Hellmut Ritter machte die Maana Bedeutungstheorie von Al-jurjānī in ganz Europa bekannt (vgl. Ait El Ferran 1990: 250). Al-jurjānī definierte „Īlm Al Maani“ (Wissenschaft von Be‐ deutungen) als „eine Lehre, unter der man die Bedeutung von Ausdrucksweisen und Redensarten versteht, um die Absicht oder Intention deren Autorin bzw. dessen Autor zu zeigen“ (Al-Hachemi 2002: 46). Bei der deutschen Übersetzung arabischer Poesie bewahrt diese poetische Balāgha (Rhetorik) ihre lexikalische <?page no="264"?> Struktur, verliert jedoch ihre stilistisch-semantische Struktur und wird als ganz normaler Satz vorgestellt. Hier wird die Bedeutung der sprachlichen und literarischen Mehrsprachigkeit für die Bewahrung der Ästhetik und Rhetorik in der Ausgangssprache deutlich; beispielhaft wird dies an der Übersetzung der Sammelschrift früharabischer Gedichte Al Hamassa („Die Begeisterung“) von Abu Tammam (übersetzt von Friedrich Rückert) verdeutlicht (vgl. Rückert 2004: 85). Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Beitrag mit der Stilistik und der Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit am Beispiel der Übersetzung arabischer Gedichte ins Deutsche und ihrer Rolle in der universitären Didaktik des Arabischen. Daher ist es angebracht zu zeigen, wie Mehrsprachigkeit zu einer besseren Übersetzung von Lyrik beiträgt und damit die Interkulturalität fördert. 1 Methoden der Übersetzung arabischer Prosa ins Deutsche Mehrsprachigkeit, Interkulturalität und kulturspezifisches Wissen spielen bei der Übersetzung literarischer Texte ins Deutsche eine wichtige Rolle. Dies wird in unterschiedlichen Übersetzungstheorien erwähnt. So stellt Goerges Mounin in seinem Werk Theoretische Probleme bei der Übersetzung fest: „Um den Sinn zu übersetzen, muss man in einer Prosa nicht nur die Wörter kennen, sondern den ganzen Kontext dieser Prosa beherschen“ (Mounin 1963: 234). Eine der ältesten und traditionsreichsten Formen des kulturellen Transfers ist außer der Bibel‐ übersetzung das Übersetzen literarischer Prosa. Mounins Übersetzungstheorie von der literarischen Prosa basiert auf der alten lateinischen und griechischen Übersetzungsmethode. In der literarischen Übersetzung von Poesie wird der Einfluss kulturspezifi‐ scher Bestandteile des Gedichtes entweder auf Einzelfallstufen analysiert, wie etwa in der stylistique comparée von Vinay-Malblanc, bei Katharina Reiss anhand der sog. Realia oder als ganzheitliche Theorie zur Übersetzung von Kultur in Texten bei Snell-Hornby. Katharina Reiss empfiehlt für inhaltsbetonte Texte Folgendes: Die Gedichte entweder inhaltlich-begrifflich oder mit ähnli‐ chen Sprachfiguren der Zielsprache zu übersetzen, mit einer in der Zielsprache üblichen Realien wiederzugeben, die in der Ausgangssprache sprachüblichen Metaphern ebenso zu behandeln und zu übersetzen wie bei den Sprichwörtern und Redewendungen (Reiss 1986: 43). Die Rhetorik der literarischen Mehrspra‐ chigkeit in der Poesie wird in den folgenden Übersetzungsmethoden verkörpert: 264 Abderrahim Trebak <?page no="265"?> 1.1 Methode der Realia Unter Realia werden die einzelkulturellen oder landesspezifischen Kriterien verstanden; dazu gehören: landeskundliche Begriffe, alltagskulturelle Begriffs‐ einheiten (Folklore, Mythologie), Alltagsrealien (Speisen, Getränke, Kleidung, Kopfbedeckung, Schmuck, Wohnung, Spiele usw.) sowie historische, gesell‐ schaftliche, politische und religiöse Begriffe (vgl. Henschelmann 1999: 144). „Für die Übersetzung im Bereich der Kulturkomponenten sind in der Literatur bisher am häufigsten die Realia, also die Ausdrücke der kulturspezifischen Lexik (Kulturspezifik im engeren Sinne), beschrieben worden. Ein besonderes Interesse galt dabei dem Phänomen der Nulläquivalente“ (ebd.). Dieses Übersetzungsproblem stand meistens in Verbindung mit sehr unter‐ schiedlichen Sprachräumen (wie bei deutsch-arabischen Übersetzungen) im Vordergrund, während für Deutsch-Französisch oder in der deutsch-englischen Übersetzungsforschung eher das Konzept der adaptierenden Kulturvermittlung unter dem geprägten Wort Voll- oder Teiläquivalenz im Mittelpunkt steht. Sprachlich betrachtet umfassen Realia-Bezeichnungen alle kulturspezifi‐ schen Wörter einschließlich fester Wortverbindungen, standardisierter Kol‐ lokationen (der Gesang der Vögel, das Röhren der Hirsche) und schließ‐ lich Wortverbindungen der Fachphraseologie (Konjunkturpolitik). Man kann eine terminologische Unterscheidung zwischen Realia und Realienlexem vor‐ nehmen. Die Realia ist die Bedeutung des Begriffs, der ausgedrückt wird. Das Realienlexem ist das sprachliche Zeichen, das die Realia kodifiziert. Wenn man eines dieser Wörter übersetzen will, kann man in der Kommunikationsgemein‐ schaft der Zielsprache oft keine Entsprechung der objektiven Wirklichkeit der Kommunikationsgemeinschaft der Ausgangssprache finden. Nach Kutz gibt es beim Übersetzen zwei Arten von Nulläquivalenzen (vgl. Kutz 2002: 131-154). Wenn es kein Abbild im Bewusstsein des/ der Empfänger: in der Zielsprache und kein sprachliches Zeichen dafür gibt, spricht man von denotativer Nullä‐ quivalenz, wie in diesem Prosasatz: „trauriger als Al-khansa bei Saghr’s Tod“. Al-khanssa war eine Poetin und Dichterin des siebten Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel. Im Jahre 613 wurde ihr Bruder Saghr von Mitgliedern eines anderen Stammes getötet. Sie trauerte in ihrer Dichtung um seinen Tod und wurde für ihre elegische Poesie berühmt. Die Nulläquivalenz besteht in den Realia der klassischen arabischen, dich‐ terischen mündlichen Wettbewerbe; zu dieser Zeit bestand die Rolle einer Dichterin bzw. eines Dichters auf der arabischen Halbinsel darin, Lob, Invektive oder Elegien zu schreiben und sie für den Stamm in öffentlichen mündlichen Wettbewerben aufzuführen. Al-khansa war die erste weibliche Dichterin, die bei Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit 265 <?page no="266"?> diesen Begegnungen Respekt und Ruhm erlangte. Die Realia hier ist Al-khansa und ihre Trauer um ihren Bruder Saghr. Die Übersetzung der arabischen Prosa erfolgt durch zwei Methoden bzw. Alternativen: Bei der ersten Methode werden die Sätze in der Prosa so genau wiedergeben, dass das Fremde darin in seiner Wesensart erhalten bleibt und die Übersetzung den Leser: innen als solche bewusst ist. Dies erfordert neben ausreichender Kenntnis der beiden Sprachen Deutsch und Arabisch gleichwer‐ tige Sentenzen am Ausgangs- und Zieltext. Die zweite Methode versucht den fremden Text nach der Kultur der eigenen Sprache nachzuahmen. Reiss äußert sich in ihrer Übersetzungstheorie hinsichtlich der Übersetzung von Prosa, dass es zulässig sei, beim Übersetzen die Ausgangssprache entweder inhaltlich-begrifflich oder mit analogen Sprachfiguren der Zielsprache wieder‐ zugeben, Metaphern und/ oder Sprichwörter in wörtlicher Übertragung oder mit in der Zielsprache üblichen Äquivalenten zu übersetzen und zum Beispiel eine von dem/ der Autor: in der Prosa selbst geschaffene Metapher wörtlich zu übertragen (vgl. Reiss 1986: 43). Besonders bei Gedichten muss der/ die Übersetzer: in Kenntnisse über Phrase‐ olexeme besitzen, um eine adäquate Übereinstimmung zwischen Ausgangstext und Zieltext zu erreichen. Gerade bei der Übersetzung von Idiomen und Phraseologismen ist es wichtig zu wissen, in welcher Form sie in die jeweilige Sprache eingebettet sind. Sie können Informationen über Varietäten der Aus‐ gangssprache enthalten, z. B. aus welcher sozialen Schicht die Protaginistin bzw. der Protagonist stammt, ob er/ sie umgangssprachlich, Dialekt oder die „Fussha“ (Hochsprache) spricht, welches Sprachregister er/ sie benutzt. - 1.2 Methode der „stylistique comparée“ Beim Übersetzen und Übertragen als interlingualem Kommunikationsvor‐ gang oder Transferprozess treffen zwei Sprachen aufeinander (Sprachenpaar). Wolfram Wilss stellt die Frage, wie man sprachlich operieren muss, um aus‐ gangs- und zielsprachliche Textintegration zu gewährleisten und interlinguale Strukturdivergenzen auf inhaltlich und stilistisch adäquate Weise zu neutrali‐ sieren (vgl. Wilss 1977: 62). Für eine wissenschaftliche Beschreibung der praktischen Lösungen beim Übergang von einer Sprache in die andere angesichts der verschiedenen potentiellen Entspre‐ chung in einem Sprachenpaar ist der von der „stylistique comparée“ vorwiegend in französischer Sprache entwickelte übersetzungstheoretische Ansatz grundlegend geworden. (Greiner 2004: 69) 266 Abderrahim Trebak <?page no="267"?> Die Vertreter: innen der „stylistique comparée“ initiieren eine systematische Beschreibung von Übersetzungsverfahren aufgrund des Vergleichs der Ober‐ flächenstrukturen von Sprachen. Bei der Übersetzungsanalyse deutscher und englischer Redewendungen in das Französische ist es nach Kenntnis des Äqui‐ valenzmodells hilfreich zu verstehen, mit welchen Mitteln und Techniken inner‐ halb des Übersetzungsprozesses operiert werden kann. So sind beispielsweise mit Alfred Malblanc verschiedene Übersetzungsverfahren unterscheidbar, die in der „stylistique comparée“ nach dem Schwierigkeitsgrad eingeteilt sind. In seiner Klassifikation unterscheidet Malblanc im Anschluss an Vinay/ Darbelnet vier Verfahren (ebd.: 73). - 1.3 Methode der Entlehnung D.h. die Übernahme eines Zeichens aus einer Sprache in eine andere. Die sprachliche Entlehnung ist neben Wortaufbau und Bedeutungswechsel eines der Hauptverfahren der Bezeichnungsfindung. Außerdem ist Entlehnung ein wichtiger Faktor im Sprachwandel. Als Beispiel dient hierfür die arabisch-ma‐ rokkanische Redensart: Ein Kopf, der sich nicht bewegt, ist ein Hügel. Ein Hügel gilt in der arabischen Sprache als Metapher für Dummheit bzw. ist ein Synonym für den Kopf, der nicht denkt. Die Übernahme dieses Zeichens aus dem Arabischen ins Deutsche wird von deutschen Leser: innen schnell verstanden. - 1.4 Methode der Lehnprägung Oder auch semantische Entlehnung (engl. und frz. „calque“), bei der nur die Bedeutung als neue oder zusätzliche Bedeutung auf ein vorhandenes Wort der Nehmersprache übertragen oder zur Wiedergabe dieser Bedeutung ein neues Wort mit den sprachlichen Mitteln der Nehmersprache gebildet wird. Zum Beispiel: Mäuschen wird auch einer, der Löcher gräbt oder Das Gössel ist ein guter Schwimmer. Erklärung auf Deutsch: Wie der Vater, so der Sohn. - 1.5 Methode der Äquivalenz Um eine wissenschaftliche Grundlage für Bibelübersetzungen zu schaffen, hat Nida in seinem Buch Toward a Science of Translating versucht, die Übersetzung analytisch zu beschreiben. Seine Erkenntnisse hat er zusammen mit C. R. Taber in Theorie und Praxis der Übersetzung (1969) didaktisch aufbereitet (vgl. Nida/ Taber 1969: 30). Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit 267 <?page no="268"?> Der/ Die Übersetzer: in muss sich um Gleichwertigkeit und nicht um Gleich‐ heit bemühen. So lautet die berühmte Definition des Übersetzens bei Nida und Taber: „Übersetzen heißt, in der Empfängersprache das beste natürlichste Ge‐ genstück zur Ausgangsbotschaft zu schaffen, erstens was den Sinn und zweitens was den Stil anbelangt“ (Nida/ Taber 1969: 57). Hier unterscheiden Nida und Taber zwei Typen von Äquivalenz: Erstens die formale Äquivalenz: Angestrebt wird die möglichst genaue Wiedergabe von Form und Inhalt des Ausgangstexts in der Zielsprache. Formale Aspekte wie Syntax, Wortstellung und/ oder Idiome sollen im Text wiedererscheinen. Und zweitens die dynamische Äquivalenz: Sie orientiert sich am Empfänger bzw. der Empfängerin, was bedeutet, dass bei zielsprachigen Leser: innen die gleiche Wirkung erzielt werden soll wie bei ausgangsprachigen Leser: innen. Die Forderung nach dynamischer Äquivalenz beinhaltet auch die Einhaltung der Zielsprachen-Normen: Die Übersetzung soll natürlich wirken und verständlich sein - also nicht als Übertragung er‐ kennbar sein. Nida sieht die Übersetzung nicht mehr als rein linguistischen Ko‐ dewechsel-Vorgang, sondern als kommunikationswissenschaftlichen Vorgang an, an dem drei wesentliche Faktoren beteiligt sind: Sender: in, Mitteilung und Empfänger: in. Das außersprachliche Konzept wird hierbei in Ausgangssprache und Zielsprache auf völlig unterschiedliche Weise realisiert, hat aber in beiden Fällen den gleichen Sinn. Bei idiomatischen Wendungen, Sprichwörtern und Kulturspezifika machen Übersetzer: innen oft von dieser Möglichkeit Gebrauch, zum Beispiel beim Sprichwort „Datteln nach Bassrah tragen“: Datteln „als Sinnbild der Esskultur“ in der arabischen Wüste im Vergleich zum Sprichwort „Eulen nach Athen tragen“: Eulen als „als Sinnbild der Weisheit“ für das Europäische Mittelmeer. - 1.6 Methode der Adaptation Es handelt sich bereits um eine freie Übersetzung, bei der Kulturspezifika der Ausgangssprache mit ähnlichen Kulturspezifika und Begriffen der Zielsprache in Beziehung gebracht werden. Die Begriffe Adaptation und Äquivalenz sind bei Malblanc nicht klar voneinander abgegrenzt. In der Zielsprache sind neben der Übersetzung in vielen Fällen ergänzende Verfahren (Periphrasen, Erklärungen etc.) notwendig. Zum Beispiel wurde die arabische Redensart „wissen, wo man Schulterfleisch isst“ mit der deutschen Redensart „wissen, wo Barthel den Most holt“ übersetzt; das bedeutet in beiden Redensarten gewitzt sein und Erfahrungen haben. 268 Abderrahim Trebak <?page no="269"?> Im Analyseteil erweist sich die Kenntnis der Übersetzungsverfahren nach Malblanc als hilfreich, um knapp beschreiben zu können, mit welcher Technik die Übertragung in die Zielsprache geschieht. 2 Probleme der Übersetzung von Redensarten in der Poesie Laut G. Mounin reicht es bei der Übersetzung eines Gedichts nicht aus, die Worte und die gesamte Bedeutung des Gedichts zu übersetzen, die Übersetzerin bzw. der Übersetzer muss auch den kulturellen und historischen Kontext des Gedichts kennen (vgl. Mounin 1963: 234). Als Beispiel wird vom arabischen Dichter Bekr Ben Elnattach überliefert: Eine weiße, die beim Aufstehen nach sich schleift ein Geflecht, das voll und dunkel sie umreift. Gleich als sie sei unter ihm ein steigender Tag gleich als sei es auf ihr ein Nachtschattenschlag. (Rückert 2004: 85) Um die sog. arabische Reimprosa am Ende des Verses in ihrer stilistischen Über‐ setzung zu bewahren, verwendete der deutsche Übersetzer zwei Redensarten: „ein steigender Tag“ und „Nachtschattenschlag“. - 2.1 Arabische Prosaübersetzung als ästhetisches Problem Bei verschiedenen arabischen Prosaübersetzungen geht der rhetorische Effekt in den von einigen Übersetzer: innen gewählten Wörtern verloren, wenn sie die Glieder zu einer Fügung verschmelzen. Ein Beispiel aus dem Arabischen von dem Dichter Bashar Ibn Bourd (714-784) lautet: Wenn du Kadha in der Wüste nicht trinkst, verdurstest du, und wer trinkt überhaupt reines Wasser? Das arabische Wort „Kadha“ bedeutet „unreines Wasser“ und wurde von Ibn Bourd verwendet, um die Geduld mit den Freunden zu beschreiben: Mit der Phrase „Wer trinkt überhaupt reines Wasser? “ soll auf perfekte Freunde angespielt werden. Aus der Suche nach Ähnlichkeit mit der Verwendung des kulturspe‐ zifischen Begriffs Kadha - das schmutzige Wasser der arabischen Wüste - resultiert die Evidenz der rhetorischen Figur. Semantisch ist die deutsche Übersetzung zwar korrekt, pragmatisch fehlt jedoch der rhetorische Effekt oder der ästhetische Klang wie er im Ausgangstext der arabischen Prosa zu finden ist. Eine Alternative wäre, den arabischen kulturspezifischen Begriff Kadha mit dem deutschen kulturspezifischen Begriff der saure Apfel zu übersetzen; hier sollte die Übersetzerin bzw. der Übersetzer die Äquivalenz-Methode verwenden Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit 269 <?page no="270"?> und infolge die Wortbildung verändern: „Wenn du nicht in den sauren Apfel beißt, verhungerst du, und wer von uns beißt überhaupt in den süßen Apfel? “ Der Poet nutzt an dieser Stelle eine Metapher bzw. eine Periphrase: natürlich gibt es reines Wasser bzw. süßen Apfel, aber es gibt keine perfekten Freunde. Ein anderes Problem, auf das die Übersetzerin bzw. der Übersetzer hier in den Übersetzungen von Prosa mehrmals gestoßen ist, liegt hauptsächlich an der rhetorischen Figur Paronomasie - auf Arabisch (jnas = Gleichwertigkeit). Als Spielart der Wortkomposition verbindet die Paronomasie Wörter miteinander, die syntaktisch und semantisch nicht zusammengehören, sich jedoch im Klang ähneln, wie zum Beispiel: Bi Kaddin wa Jahddin, im Deutschen „mit Ach und Krach“ oder Bi Taanni Salama wa Bi Souraa Nadama, im Deutschen „Eile mit Weile“. Der Klang verschwindet meist bei der Übersetzung, was ein sehr großes ästhetisches Problem ist, weil die so genannte Fassaha „Beredsamkeit“ eine Voraussetzung für die arabische Poesie ist. Fasaha bedeutet die Vermeidung von Grammatikfehlern, unkorrektem Satzbau, umgangssprachlichen Formulie‐ rungen, Neologismen, Häufungen gleichlautender Wörter sowie schwierig aus‐ zusprechender Wörter oder schwierig auszusprechender Laute und schließlich unpassender Wörter. Aus diesem Grund können wir viele Übersetzungen von arabischen Ge‐ dichten auch nicht als volle Übersetzungen ansehen, sondern es sind eher Über‐ tragungen der Bedeutung der Gedichte. Ein Beispiel ist folgende Übersetzung: Wer einen Missgünstigen fragt, kehrt unverrichteter Dinge (mit einer fließenden Träne) zurück. Hier stimmen Grammatik und Satzbau, aber nicht der Klang und die Lautgestaltung. Welche Rolle spielt dann die Rhetorik der Mehrsprachigkeit bei der Überset‐ zung arabischer Poesie ins Deutsche? Und welche Unterschiede - entweder in semantischer oder pragmatischer Hinsicht - entstehen im Hinblick auf die Wahl der Stilebene in diesen Übersetzungen? - 2.2 Die Rhetorik und das Wortspiel der Poesie In der vor-islamischen arabischen Poesie wurde das korrekte, reine Arabisch zu einem wichtigen Kriterium gesellschaftlicher Anerkennung. In seinem Buch Al Iiʼjaz wa Attajiz „Sprachliche Wunder und knappe Darstellung“ schrieb Al Taghlibi: „Die Schönheit eines Mannes liegt an seiner Zunge und die Schönheit einer Frau liegt an ihren Gedanken.“ Al Thaghlibi (961-1038) war ein Vertreter der arabischen Rhetorik. 270 Abderrahim Trebak <?page no="271"?> In diesem Sinne soll sich auch der für seinen rigorosen Regierungsstil bekannte arabische Kalif Al Hakim geäußert haben, als er erklärte: Wenn mich jemand um etwas bittet, was er dringend braucht, und fehlerhaft spricht, so zeige ich mich ablehnend, genauso wie wenn ich in einen sauren Granatapfel beiße, denn fehlerhaftes Reden ist mir verhasst. Bittet mich ein anderer um etwas, was er gar nicht unbedingt braucht, und spricht gutes Arabisch, so gehe ich darauf ein, weil seine Worte mich entzücken. (Stock 2005: 9 f.) Bisweilen wurde die vollendete Beherrschung des Arabischen sogar höher bewertet als das Bekenntnis zum Islam. Viele Sekretäre am Kalifenhof waren nicht etwa Muslime, sondern Christen. Die Beamten der Abbasiden-Dynastie wie unter dem Kalifat von Harun Al Raschid und seinem Sohn Al-Mamoun waren oft Nichtaraber, mussten aber die arabische Sprache und Dichtung beherrschen. Eine solche Sprachbegabung begnügt sich gewiss nicht mit einer grammatisch und lexikalisch fehlerfreien Ausdrucksweise, die genauso wie bei den Beduinen die Milch, deren Schaum abgeschöpft wurde, fasih (rein) genannt wird. Eine solche Sprachbegabung musste einen noch höheren Grad an Ausdrucksgewandtheit Balāghah erreichen, nämlich die vollendete Rhetorik der Redeweise (ebd.: 10). Als bestes Beispiel für Fasaha zitiert Al-Dschahiz in seinem Buch Kitab al-Bayan wa al-Tabyin „Buch der Eloquenz und Deutung“: Harbs Grab ist an einem öden Ort, es ist kein Grab in der Nähe von Harbs Grab. (ebd.) Fasaha bedeutet auch, dass sich aufgrund einer Häufung gleich- oder ähnlich‐ lautender Worte keine Zungenbrecher oder Schwierigkeiten beim Sprechen ergeben. Deshalb meinte Al-Dschahiz, dass niemand diesen Vers dreimal hin‐ tereinander rezitieren könne, ohne ins Stottern zu geraten. ُ ربَقو ٍ ب ْ ر َ ح ٍ ناكمب ٍ رفَق - َ سيَلو َ برُق ِ ربَق ٍ ب ْ ر َ ح ُ رْ بَق Bei der deutschen Übersetzung bewahrt dieser poetische Zungenbrecher die lexikalische Struktur, er verliert aber die stilistisch-semantische und wird als ganz normaler Satz vorgestellt. Genauso verhält es sich, wenn der deutsche redensartliche Zungenbrecher „Esel essen Nesseln nicht. Nesseln essen Esel nicht! “ ins Arabische übersetzt wird (Frey 1999: 31). Hier stellt sich das Problem der Übersetzung von Redensarten als stilistisches Spiel dar. Sentenzen und Wendungen in der Prosa können in literarischen Übersetzungen zum Problem werden, denn nicht jedes Bild, das in der Ausgangssprache funktioniert, lässt sich ohne Weiteres in die Zielsprache übertragen. Bevor nun die Problematik der Rhetorik bei der Peosie-Übersetzung weiter behandelt wird, ist es notwendig, Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit 271 <?page no="272"?> einen Blick auf die Stilmittel der Balāgha in der arabischen Sprache und Literatur zu werfen. - 2.3 Die Stilmittel der Balāghah Obwohl die Literaturkritik im arabischen Raum bis zum 10. Jahrhundert noch keine einheitliche Terminologie besaß und die Rhetorik noch keine Wissen‐ schaftsdisziplin war, existierte bereits der Begriff Balāghah, der zunächst nur einen hohen Grad an Redegewandtheit bezeichnete. Um diese zu erreichen, entwickelten die arabischen Gelehrten Stilprinzipien auf der Grundlage eines umfassenden rhetorischen Kategoriensystems, das sich nicht mit dem der europäischen Stilistik deckt. Dieses System nannte man Balāghah, ebenso wie den guten Still selbst. Ins Deutsche wird der Begriff meist mit Rhetorik übersetzt (vgl. Stock 2005: 4). Eine für die Entwicklung der arabischen Rhetorik wichtige Persönlichkeit war der Abbasiden-Prinz und Dichter Ibn Al Mu’tazz, der seine Berufung weniger in der Politik als in der Kunst gesehen haben soll. Sein Verdienst war es, nicht nur die grammatisch-logische Seite der Sprache, sondern mehr ihre rein ästhetischen Aspekte zu erfassen. In seinem Buch Kitab Al-Badii („Buch der Herrlichkeit“) trug er die bedeutendsten Stilfiguren zusammen, die bereits seine Vorgänger und seine Zeitgenossen untersucht hatten und illustrierte sie mit vielen Beispielen aus dem Koran, wobei er besonderen Wert auf ihre ästhetische Wirkung legte. Gleichfalls nicht auf die Dichtung beschränkt war Al-Askari, der Struktur und Stil von Dichtungen und Prosa in seinem Hauptwerk Al-Sinatain: Al Kitaba wa Shir („Die beiden Schreibkünste: Dichtung und Prosa“) untersuchte. Für seine Anforderungen an guten Stil reichte es nicht aus, dass Wort und Bedeutung übereinstimmten. Al-Askari erörterte die Qualität der Wörter und der Komposition, den eleganten Stil der Beschreibung, Prägnanz und Wortreichtum, Zitate und ihre Verfeinerungsmöglichkeiten, außerdem Vergleiche, Reimprosa und Parallelismen sowie schließlich noch die Mittel zur Verschönerung der Rede, wie Metaphern und Redensarten (Stock 2005: 6 f.). Das Verhältnis von Lafdh (Wort) und Maana (Bedeutung) wurde von Abdel‐ qahir Al-Jurjānī (gest. 1078) besonders genau untersucht. Dieser ursprünglich persische Dichter ist derjenige, der im 11. Jahrhundert zwei der wichtigsten Schriften zur arabischen Rhetorik verfasste. Al-Jurjānī bevorzugte genauso wie Ibn-Al mouʼtazz und Al-Askari in seinem Hauptwerk Asrār al-Balāghah („Geheimnisse der Wortkunst“) die ästhetische Betrachtungsweise und schuf damit ein Meisterwerk der literarisch-ästhetischen Schule. 272 Abderrahim Trebak <?page no="273"?> Der Deutsche Orientalist Hellmut Ritter, der Asrār al-Balāghah im Jahre 1959 ins Deutsche übersetzte, verbreitete die Die Maana - (Bedeutungs-)Theorie von Al-Jurjānī in ganz Europa: Erst die Īlm Al-Mâani, i.e. die Wissenschaft der Bedeutungen, ermöglicht das tiefere Verständnis der arabischen Dichtung und Literatur. Der schwierige und vieldeutige arabische Begriff Maana (Sinn, Bedeutung) wird hier anhand eines Standardwerkes der arabischen Literaturkritik, der Asrār al-Balāghah („Geheimnisse der Wortkunst“) des Abdalqahir Al-Jurjānī (gestorben 471/ 1079) untersucht, das Hellmut Ritter zur Übersetzung auserwählt hatte, da hier erstmals auf islamischem Boden ästhetische Urteile über Poesie psychologisch gegründet wurden (vgl. Ait El Ferran 1990: 23). Mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen untersuchte er unter anderem die Wirkung von Sprach‐ bildern, wobei er den sprachlichen und außersprachlichen Kontext nie aus den Augen verlor. Diese Art der Sprachkunst bezeichnete er als Balāghah. Ein qualitativer Sprung gelang erst Abi Bakr Al-Sakkaki (626/ 1229) aus Trans‐ oxanien. Basierend auf den Arbeiten seiner Vorgänger stellte er im dritten Teil seines Miftah Al Oulum („Schlüssel der Wissenschaften“) eine bahnbrechende rhetorische Theorie auf und begründete die bis heute übliche Einführung der arabischen Rhetorik, die die Balāghah in drei Gebiete unterteilte, in die er die einzelnen rhetorischen Figuren einordnete: Īlm Al Mâani „Wissenschaft der Bedeutungen“ Īlm Al Bayan „Wissenschaft der Darstellung“ Īlm Al Badì „Wissenschaft der Verschönerungen“ (Stock 2005: 7 f.) Da sich die arabische Rhetorik relativ eigenständig entwickelte, sind die von ihr definierten Stilmittel weder qualitativ noch quantitativ mit denen der westlichen Stilistik deckungsgleich. Manche Unikate wie z. B. der beduinische Morgenbzw. Abendgruß Īm Sabahan/ Īm Massaa (Īm sei gegrüßt), sind in der deutschen Stilistik schwer zu übersetzen (ebd.: 14). Diese unikate Begrüßungsform wird zitiert in den hochgeschätzten vorisla‐ mischen Gedichtsammlungen Al Muallakat von Antara Ibn-Saddad (6. Jahrhun‐ dert) in einem Liebesgedicht für seine Geliebte Aabla; übersetzt von Friedrich Rückert (2004: 145): Wo gibt es Trümmer, welche nicht umschweben Dichterlieder? Du standest lang und zweifelst, kennst du die Wohnung wieder? O Wohnung Abla’s in Dschiwâ, sag mir ein Wort verborgen! O Wohnung Abla’s, friedlich sei dein Abend und dein Morgen! Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit 273 <?page no="274"?> Die unikate Begrüßungsform [Īm] wurde von Rückert nicht übersetzt. Um die Rolle des Unikats Īmi (Imperativ für Femininum) in der Redensart „Īmi Sabahan“ etwa „Sei Dein Morgen begrüßt“ zu bedecken, nutzt Rückert das Stilmittel der Antithese und übersetzt das Wort anstatt mit „Tag“ mit „Abend“: „friedlich sei dein Abend und dein Morgen“. Die in der Arabistik gängigen Übersetzungen der arabischen Stilmittel mit deutschen Termini, die in den Redensarten verwendet werden, sind teilweise nicht korrekt, sondern können nur eine annähernde Vorstellung vermitteln. So ist z. B. die arabische rhetorische Figur Majaz (Überschreitung) weder unbedingt ein Tropos (dieser umfasst auch andere Stilmittel, wie die Hyperbel, die keinesfalls einem Majaz, sondern eher einer Mubalagha [Übertreibung] entspricht) noch eindeutig eine Metapher, die im Arabischen auch eine Istiaara [Ausleihe] sein könnte, dafür jedoch manchmal eine Metonymie, obwohl diese auch einer Kinaya (Periphrase) gleichkommen kann (vgl. Stock 2005: 24). Fazit In der deutschen Sprache bedeutet Rhetorik „Der zur Kunst gesteigerte Umgang mit dem Wort“ (Kugler 1842: 7). Der Begriff bedeutet übersetzt aus dem altgriechischen so viel wie „Kunst der Rede“ oder „Kunst der Beredsamkeit“. Das Wort „Rhetorik“ oder Beredsamkeit in der arabischen Sprache ist ein Substantiv, das vom arabischen Verb balagha abgeleitet ist und bedeutet, das Ziel zu erreichen. Der baligh (eloquente) Mensch ist nicht nur derjenige, der durch seine Muttersprache überzeugen und beeinflussen kann, sondern auch die Fähigkeit hat, sich einer anderen oder mehrerer Sprachen zu bedienen. Das kann sich in der Übersetzung sowohl auf die Muttersprache Deutsch bzw. die Ausgangssprache als auch auf die Fremdsprache Arabisch bzw. Zielsprache beziehen. In seinem Buch die Perlen der Balāghah definiert Ahmed Al-Hachemi (Al-Ha‐ chemi 2001: 46) „Īlm Al Mâani“ als „eine Lehre, unter der man die Bedeutung verschiedener arabischer Ausdrucksweisen versteht, und die Absicht oder Intention des Autors durch diese Ausdrucksweisen, Satzverknüpfungen und Wortstellungen darzustellen.“ Ilm Al Mâani entspricht etwa der klassischen Hermeneutik Schleiermachers: „Traditionell ist die Hermeneutik die Lehre der Interpretation und des Verstehens“ ( Jung 1997: 56). Im Mittelalter diente die Hermeneutik als Kunst der Auslegung der Heiligen Schrift, sie ist der Auffassung, dass der Text der bevorzugte Untersuchungsgegenstand der In‐ terpretation sei und stellt grundsätzlich wie Al-Hachemi die Frage: Welche Absicht hatte der Dichter bei der Auslegung solcher Texte? Die Rhetorik 274 Abderrahim Trebak <?page no="275"?> der literarischen Mehrsprachigkeit führt zu einem besseren Verständnis der Intentionen des/ der Poet: in durch die sogenannten Sentenzen, um damit solche poetischen Sentenzen besser übersetzen zu können. Es sind Sätze, die Weisheit enthalten. Sie bilden kein eigenes Ganzes für sich wie Sittensprüche, sondern sind einem größeren Werk entnommen, wie zum Beispiel aus einem Drama oder einem Roman. Sentenzen können Sprichwörter werden, wenn sie volksnah bleiben, und sie werden oft mit Sittensprüchen vermischt. Friedrich Schillers Sentenz „Die Axt im Haus erspart den Zimmermann“ im ersten Akt seines Dramas „Wilhelm Tell“ ist längst Sprichwort geworden, doch die meisten Leute denken bei seinem Gebrauch keineswegs mehr an seinen Urheber. Dasselbe gilt für den arabischen Ausdruck vom Poeten Al-Moutanabi, der in einem Gedicht sagte: „Nicht alles, was man wünscht, erreicht man, der Wind bläst die Schiffe in die ungewünschte Richtung“. Derlei Sentenzen in der Prosa werden zu Sprichwörtern, idiomatischen Wendungen, Redensarten, Redewendungen und gehören dank der Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit bei ihrer Übersetzung ins interkulturelle und weltweite Literaturerbe. In meinem Beitrag habe ich versucht, durch die unterschiedlich übersetzten Beispiele der arabischen Poesie ins Deutsche das Ziel der Beredsamkeit in der Zielsprache zu erreichen und damit die vollständige Mitteilung der Rhetorik der Mehrsprachigkeit zu zeigen. Dies wird in allen drei Teilen der arabischen Rhetorik verkörpert: Īlm Al Mâani „Wissenschaft der Bedeutungen“, Īlm Al Bayan „Wissenschaft der Darstellung“ und Īlm Al Badì „Wissenschaft der Verschönerungen“. Literatur Ait El Ferran, Mohamed (1990). Die Ma’na-Theorie bei Abdelqahir Al-Gurgani. Frankfurt am Main: Heidelberger Orientalische Studien. Al-Hachemi, Ahmed (2001). Gawahir al Balagha (Die perlen der Balagha), neu berarbeitet von Al Samili, Youssef. Beirut (Libanon): AL Maktaba Al Assria. Boldyrew, Alexius (Hrsg.) (1808). Dvae moallakat Antara et Hareth. Göttingen: Dieterich. Frey, Evelyn (1999). Kursbuch Phonetik. Lehrbuch und Übungsbuch. Leipzig: Max Hueber. Figal, Günter/ Gronolin, Jean/ Schmidt, Dennis J. in Zusammenarbeit mit Friederike Rese (Hrsg.) (2000). Hermeneutische Wege Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten. Tübingen: Mohr Siebeck. Greiner, Norbert (2004). Grundlagen der Übersetzungsforschung. Band-1: Übersetzung und Literaturwissenschaft. Tübingen: Narr. Henschelmann, Käthe (1999). Problem-Bewusstes Übersetzen. Tübingen: Narr. Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit 275 <?page no="276"?> Jung, Werner (1997). Neuere Hermeneutikkonzepte. Methodische Verfahren oder geniale Anschauung? - In: Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.). Neue Literaturtheorien. Eine Einfüh‐ rung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 159-180. Kugler, Franz (1842). Handbuch der Kunstgeschichte. Stuttgart: Ebner & Seubert. Kutz, Wladimir (2002). Interkulturelle Aspekte des Dolmetschens. Beitrag auf dem Saarbrücker Symposium im März 1999 über das Thema ‚Kultur und Translation‘. In: Thome, Gisela/ Giehl, Claudia/ Heidrun Gerzymisch-Arbogast (Hrsg.). Kultur und Übersetzung. Methodologische Probleme des Kulturtransfers ( Jahrbuch Übersetzen und Dolmetschen, Band-2). Tübingen: Narr, 131-168. Mounin, Georges (1963). Les problèmes théoriques de la traduction. Paris: Gallimard. Muth, Franz-Christoph (2003). Gedichte von Antara Ibn Shaddad al-'Absi. Wiesbaden: Bibliotheca Orientalis. Nida, Eugene A./ Taber, Charles R. (1969). Theorie und Praxis des Übersetzens, unter besonderer Berücksichtigung der Bibelübersetzung. New York/ Leiden: Weltbund der Bibelgesellschaften. Reiss, Katharina (1986). Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik, Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen. 3. Aufl. Mün‐ chen: Max Hueber. Rückert, Friedrich (2004). Hamasa - oder die ältesten arabischen Volkslieder. Gesammelt von Abu Temmam, übersetzt und erläutert von Friedrich Rückert, 2 Bände in einem Band. (Documenta Arabica, Teil 2: Ethnologie - Literatur - Kulturgeschichte). Hildes‐ heim: Georg Olms. Stock, Kristina (2005). Arabische Stilistik. Gebundene Ausgabe. Wiesbaden: Reichert. Wilss, Wolfram (1977). Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden. Stuttgart: Klett. 276 Abderrahim Trebak <?page no="277"?> Autor: innenverzeichnis Beate Baumann ist Professorin für Deutsche Sprache und Übersetzung an der Universität Catania (Italien) und Vize-Direktorin des interuniversitären Forschungszentrums POLYPHONIE (Genua-Catania). Arbeitsschwerpunkte: Didaktik des Deutschen als Fremdsprache, interkulturelle Studien, Ange‐ wandte Linguistik, empirische Methodenforschung sowie Mehrsprachigkeit und sprachliche Kreativität. Dr. Annette Bühler-Dietrich ist außerplanmäßige Professorin an der Univer‐ sität Stuttgart und an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg sowie Lite‐ raturübersetzerin. Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachiges und frankophones Drama und Theater von 1850 bis zur Gegenwart, Literatur und Migration, Literaturen aus und über Afrika. Esa Christine Hartmann ist Assoziierte Professorin für Deutsche Sprache und Literatur und zweisprachige Bildung (Französisch - Deutsch) an der Universität Straßburg (Frankreich) und assoziiertes Mitglied der Forschungsgruppe „Mul‐ tilinguisme, Traduction, Création“ am Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM/ CNRS Centre National de Recherche Scientifique) sowie Mitglied der Forschungseinheit Linguistique, Langues, Parole (LiLPa) der Universität Straß‐ burg. Arbeitsschwerpunkte: zweisprachige und mehrsprachige Kinderliteratur, mehrsprachiges Schreiben, Übersetzungsstudien, genetic criticism und Stilistik. Dr. Astrid Henning-Mohr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbe‐ reich Deutsch des Instituts für Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Univer‐ sität Halle. Arbeitsschwerpunkte: Literarische Mehrsprachigkeit, historische Kinder- und Jugendliteratur sowie Literaturdidaktik unter dem Vorzeichen des Zweitspracherwerbs. Dr. Nazli Hodaie ist Professorin für Deutsche Literatur und ihre Didaktik (Schwerpunkt migrationsgesellschaftliche Heterogenität) an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Arbeitsschwerpunkte: Literatur(-didaktik) der Postmigration, (literarische) Mehrsprachigkeit, Migration und Flucht in der Kinder- und Jugendliteratur, subjektivierungskritische Perspektiven auf Lite‐ ratur und Literaturdidaktik sowie Rassismus- und Orientalismuskritik. <?page no="278"?> Dr. Martin Kasch ist abgeordneter Studienrat am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: medienthe‐ oretische Zugänge zur Literaturdidaktik, Mehrsprachigkeit im Literaturunter‐ richt sowie digitale Literatur und ihre Didaktik. Habilitationsprojekt zur Theorie und Didaktik ,potentieller Literatur‘ (im Anschluss an OuLiPo). Dr. Esther Kilchmann ist Privatdozentin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Sie hat sich 2022 mit einer Studie zur Geschichte und Poetologie literarischer Mehrsprachigkeit habilitiert. Weitere Arbeitsschwer‐ punkte: Exilliteratur, Transkulturalität, Literatur und Gedächtnis sowie Avant‐ garde und Schriftästhetik. Dr. Magdalena Kißling ist Juniorprofessorin für Literatur- und Medi‐ endidaktik an der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte: kulturwis‐ senschaftlich orientierte Literaturdidaktik (Schwerpunkt Postkolonialismus, Rassismuskritik, Geschlechtervielfalt, Intersektionalität), diskursanalytische Texterschließungsverfahren, sprachreflexiver Literaturunterricht, literarische Mehrsprachigkeitsdidaktik, Medienverbunddidaktik, Serialitätsdidaktik. Dr. Martina Kofer ist akademische Mitarbeiterin im Bereich „Didaktik der deutschen Literatur“ an der Universität Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: postmi‐ grantische Literatur und ihre Didaktik, postkoloniale Literaturwissenschaft und -didaktik, Gender als Analysekategorie, intersektionale Textanalyse, literarische Mehrsprachigkeit, Kinder- und Jugendliteratur. Dr. Björn Laser ist Akademischer Oberrat für Sprachwissenschaft und Sprach‐ didaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Arbeitsschwer‐ punkte: Sprachreflexion und Grammatik, Pragmatik und Deutschunterricht, Diskurssemantik, Multimodalität und Comics. Dr. Anna Maria Olivari unterrichtet derzeit Deutsch und Englisch am Droste-Hülshoff-Gymnasium in Berlin-Zehlendorf. Arbeitsschwerpunkte: mu‐ sikliterarische Intermedialität, historische Diversitätsforschung, literarische Mehrsprachigkeit, deutschsprachige Dramatik des 18. Jahrhunderts, deutsch‐ sprachige Erzählliteratur des 20.-Jahrhunderts. Lisa Rettinger arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/ Ethik der Universität Augsburg. Im Rahmen ihres Dissertationsprojektes beschäftigt sie sich mit Figuren des Anderen, dem ethischen Potenzial von Literatur sowie literarischen Konstruktionen von Welt und deren Mehrdeutigkeiten (auch Mehrsprachig‐ keit). 278 Autor: innenverzeichnis <?page no="279"?> Dr. Abderrahim Trebak ist Associate Professor für Deutsche Sprache und Li‐ teratur (Deutsch als Fremdsprache) an der Handelshochschule E.N.C.G der Uni‐ versität Hassan II Casablanca. Er ist Koordinator des Moduls Kommunikation und Fremdsprachen. Arbeitsschwerpunkte: Übersetzung und Mehrsprachigkeit, Interkulturalität im Bildungssystem, Literaturdidaktik sowie Hermeneutik. Lisa Treiber ist abgeordnete Lehrerin (Lehramt an Grund-, Haupt- und Werk‐ realschulen) und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Dort forscht sie im Rahmen ihres Dissertationsprojektes zu handlungsleitenden Orientierungen von Lehramtsstudierenden hinsichtlich ihres Umgangs mit literarischer Mehr‐ sprachigkeit. Dr. Heidi Rösch ist Professorin für Interkulturelle Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe (seit 2020 i.R.). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Poetik der Mehrsprachigkeit, Literature und Language Awareness, Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeitsdi‐ daktik, Deutschunterricht und Lehrkräftebildung in der Migrationsgesellschaft. Seit ihrer Verrentung lehrt sie an der PH Karlsruhe, der Humboldt Universität zu Berlin und der Universität Hildesheim. Dr. habil. Ferenc Vincze ist Assistenzprofessor für ungarische Literatur im europäischen Kontext an der Universität Wien (Abteilung Finno-Ugristik). Ar‐ beitsschwerpunkte: Regionalitätsrepräsentationen der ungarischen, deutschen und rumänischen Literaturen, literarische Mehrsprachigkeit, transkulturelle Phänomene, comics studies. Svetlana Vishek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Grund‐ schulpädagogik/ Deutsch (TU Dresden). Arbeitsschwerpunkte: Mehrsprachig‐ keit, Lesesozialisation und Literarisches Lernen, (mehrsprachige) Kinder- und Jugendliteratur. Dr. Cornelia Zierau ist Oberstudienrätin im Hochschuldienst an der Univer‐ sität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte: Zeitgenössische Kinder- und Jugend‐ literatur, interkulturelle und diversitätssensible Literaturwissenschaft und -didaktik, sprachsensibler Literaturunterricht, literarische Mehrsprachigkeit, Lesedidaktik. Autor: innenverzeichnis 279 <?page no="280"?> Personenverzeichnis Abbatiello, Antonella-228 Acker, Marion-69 Aebi, Christine-12, 137 f., 140 f. Akin, Fatih-108 Al-Askari, Abu Hilal-272 Al-Dschahiz-271 Al-Hachemi, Ahmed-274 Al Hakim-271 Al-Jurjānī, Abdalqahir-263, 272 f. Al-Moutanabi-275 Al Mu’tazz, Abdallah Ibn-272 Al-Sakkaki, Abi Bakr-273 Althusser, Louis-36 Apter, Emily-34 Aristoteles-24 Arndt, Ernst Moritz-69 Axster, Lilly-12, 137 f., 140 f. Bachmann-Medick, Doris-109, 212 Bachtin, Michail-121 f., 124, 192, 201 Bajohr, Hannes-189, 200-203 Bärfuss, Lukas-186 Bauer, Jutta-228, 233 Bauer, Matthias-136 Bazyar, Shida-65 f. Benjamin, Walter-120 ff., 125 Ben-Rafael, Eliezer-150 Ben-Rafael, Miriam-150 Berndt, Frauke-136 Bleichenbacher, Lukas-155 Bloomfield, Camille-200, 202 Blum-Barth, Natalia-18, 106 ff., 155 ff., 210 Blyton, Enid-119 Boccaccio, Giovanni-95 Bodrožić, Marica-65 f. Bourd, Bashar Ibn-269 Boyken, Thomas-122 Brecht, Bertolt-123 Bremer, Alida-174 f., 181 f. Budde, Jürgen-134 Bulgakow, Michail Afanassjewitsch-95 Bulling, Nino-161 f. Burka, Bianka-84 Busch, Brigitta-192, 197, 201 Busch, Wilhelm-148 Butler, Judith-36, 38, 40 Carbo, Nicholas-203 Conter, Claude Dario-50, 54, 57 Dal, Güney-109 Dembeck, Till-18, 87 f., 104 Dennis, Henrie-137 Derrida, Jacques-17, 26 f., 34, 37, 134 Diaconu, Mircea A.-85 Dirim, Inci-113, 225 Dirk, Rudolph-148 Dobstadt, Michael-209 Ebrahimi, Nava-12, 207 f., 212-215 Eder, Ulrike-102, 113 f. Edwards, Michael-199 Eisner, Will-155 Elnattach, Bekr Ben-269 Fassbinder, Rainer Werner-86 Fleig, Anne-69 Florescu, Catalin Dorian-86, 88 f., 92, 94, 98 Fofana, Jaray-137 Foroutan, Naika-103 Foucault, Michel-123, 225 Frederking, Volker-195-198 <?page no="281"?> Freud, Sigmund-119, 130, 185 Fricke, Harald-23 Gardi, Tomer-183 George, Stefan-122 Glasenapp, Gabriele-128 Goethe, Johann Wolfgang von-39 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch-25, 95 Gogolin, Ingrid-101 Gottsched, Johann Christoph-51, 57 Gottsched, Luise-50, 53-56, 58 Gramling, David-18 Grjasnowa, Olga-141 Grosz, George-159 Gümüşay, Kübra-141, 174-178, 181-185 Gurgani, Al-263 Haekel, Ralf-56 Halle-Wolfssohn, Aaron-50, 53, 59, 61 Harbeck, Matthias-150 Heimböckel, Dieter-20 Helmlé, Eugen-189 f., 192, 196 f., 199, 201, 203 Herder, Johann Gottfried-104 Hesse, Lena-228, 235 Heyse, Johann Christian August-68 Hintze, Lea-200 Hodaie, Nazli-196, 226 Hofmann, Michael-210 Hölderlin, Friedrich-122 Horňáková Civade, Lenka-174 f., 178, 181 ff. Horstmeier, Marie-141 Humboldt, Wilhelm von-104 Ibn-Saddad, Antara-273 Jakobson, Roman-17, 24 f., 122, 209 Johnson, Robyn-150 Joly, Françoise-174, 183 Kammer, Stefan-136 Kauranen, Ralf-149 Khayat, Rasha-65 f. Khider, Abbas-214 Kilchmann, Esther-8, 84, 119, 122, 130 Kilomba, Grada-38 Kimpel, Dieter-51 Klein, Erwin-199 Kosenina, Alexander-58 f. Kourouma, Ahmadou-186 Kreft, Jürgen-196 Kremnitz, Georg-17 Kresić, Marijana-141 Kristeva, Julia-134, 137, 141 Kryl, Karel-179 Kuhlmann, Torben-228, 230 Kurlenina, Vera-111, 113 Kurt, Kemal-70 Laser, Björn-148, 155 Laser, Jorina Aurelia-164 Lessing, Gotthold Ephraim-50, 53, 57 f., 61 Lorke, Franziska-112 f. Lotman, Jurij-25 Luhn, Anna-200 ff. Luther, Martin-122 Lüthjohann, Martin-69 Malblanc, Alfred-267 ff. Martínez, Matías-88 Martyn, David-104 McCloud, Scott-153 Mecheril, Paul-225 Melville, Herman-124, 128 Molière-55 Mora, Terésia-84 Morkötter, Steffi-22 Mounin, Georges-264, 269 Németh, Zoltán-84 Ngobi, Kagayi-182 Nida, Eugene-268 Nikolić, Jovan-36 O’Sullivan, Emer-118-121, 142 Özdamar, Emine Sevgi 101, 103, 106 f., 109, Personenverzeichnis 281 <?page no="282"?> 111-114, 214 Özdogan, Selim-109 Papp, Sándor Zsigmond-86, 88, 92, 94 Parr, Rolf-18 Patrut, Iulia-Katrin-210 Pavlenko, Aneta-66, 75 Paz, Octavio-189-193, 195-200, 202 Petrowskaja, Katja-185 Pinkus, Gertrud-160 f. Putin, Wladimir-179 Rabinowich, Julya-214 Radaelli, Giulia-57, 87, 106 Raharimanana, Jean-Luc-186 Reipschläger, Tom-163 Reiß, Katharina-118, 264, 266 Riedner, Renate-209 Ritter, Hellmut-263, 273 Rock, Zé do-101, 103, 107, 110-113, 214 Rösch, Heidi-86, 106, 142, 190 Rössler, Andrea-195 Roubaud, Jacques-189 f., 192 f., 195 Rowohlt, Harry-119 Rückert, Friedrich-263, 273 f. Saint-Éxupery, Antoine de-95 Salzmann, Sasha Marianna-180 Sanguineti, Edoardo-189 f., 195, 202 Saussure, Ferdinand de-10, 17, 20-25, 104 Schami, Rafik-214 Scheffel, Michael-88 Schiller, Friedrich-275 Schleiermacher, Friedrich-104, 274 Schlosser, Horst Dieter-52 Schmeling, Manfred-51, 53, 107 Schmitz, Ulrich-151 Schmitz-Emans, Monika-51, 53 Schwartz, Jeffrey-200 Sebald, W.G.-70 Seibert, Peter-160 Şenocak, Zafer-117 Sepúlveda, Luis-12, 117 f., 123-126, 128 f. Serpp, Arvi-20 Serres, Michel-193, 203 Siller, Barbara-175 Šklovskij, Viktor-23 f. Snell-Hornby, Mary-264 Spitzmüller, Jürgen-225 Springsits, Birgit-102, 113 Stegmann, Stefanie-174 Stein, Charlotte von-50, 53, 56, 59, 61 Sternberg, Meir-88 Stockhammer, Robert-7, 155 f. Strutz, Johann-85 Sturm-Trigonakis, Elke-23 Taber, Charles-268 Taghlibi, Al-270 Tammam, Abu-263 f. Tawada, Yoko-103 f., 109, 186, 214 Tchak, Sami-174 ff., 179, 182 f. Thiongo, Ngũgĩ wa-182 Tietäväinen, Ville-152, 161 f. Tomlinson, Charles-189 f., 199, 202 Trabert, Florian-161 Trumbetaš, Dragutin-158 f., 161 Tschechow, Anton Pawlowitsch-95 Tuculescu, Radu-86, 94, 98 Tuominen, Jamppa-163 Ungerer, Tomi-243, 245, 247 ff., 251, 253, 256, 259 Utler, Anja-174 f., 178 ff., 182 f., 186 Vali, Sara-144 Viti Mariano, Thiago-112 f. Vlasta, Sandra-175 Voß, Johann Heinrich-122 Wajsbrot, Cécile-174 f., 180-185 Waldenfels, Bernhard-126, 129 Walshe, Shane-155 Wei, Li-140 Weinkauff, Gina-119, 124, 128 282 Personenverzeichnis <?page no="283"?> Weinreich, Uriel-70 Weissmann, Dirk-55 Welsch, Wolfgang-84 Wieland, Christoph Martin-58 Wilneder, Judith-199 Wilss, Wolfram-266 Winko, Simone-70, 77 Witte, Georg-197 Wunderli, Peter-20 Yıldız, Yasemin-18, 51 f., 79, 103 Zaimoglu, Feridun-158 Zurbrüggen, Willi-124, 128 f. Zwerenz, Gerhard-158 f. Personenverzeichnis 283 <?page no="284"?> ISBN 978-3-7720-8780-6 L I T E R A R I S C H E M E H R S P R A C H I G K E I T / L I T E R A R Y M U L T I L I N G U A L I S M www.narr.de Wenn auch marginalisiert, stellt literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein randständiges Phänomen der Literatur dar. Vielmehr lässt sie sich in verschiedensten Epochen aufspüren und sie manifestiert sich in vielfältigen sprachlichästhetischen Formen. Dabei eröffnen Sprachmischungen, Hybridisierungen und Neuformierungen ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation. Im Fokus dieses Bandes stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit in Geschichte und Gegenwart, die auch hinsichtlich ihrer didaktischen Potenziale untersucht werden. Neben literaturwissenschaftlichen Perspektiven erörtern die Beiträge insbesondere literaturdidaktische Ansätze, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Texten ins Zentrum stellen. Dabei werden verschiedene Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektiert und/ oder aus einer dominanzsprachkritischen Perspektive für den Literaturunterricht fruchtbar gemacht. Hodaie Rösch Treiber Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik Nazli Hodaie • Heidi Rösch • Lisa Treiber (Hrsg.)